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German Pages [833] Year 2019
Hans-Jürgen Schrader
Literatur und Sprache des Pietismus Ausgewählte Studien
herausgegeben von Markus Matthias und Ulf-Michael Schneider
Arbeiten zur Geschichte des Pietismus Im Auftrag der Historischen Kommission zur Erforschung des Pietismus
Herausgegeben von Hans Schneider, Manfred Jakubowski-Tiessen, Hans Otte und Hans-Jürgen Schrader Band 63
Vandenhoeck & Ruprecht
Hans-Jürgen Schrader
Literatur und Sprache des Pietismus Ausgewählte Studien Mit einem Geleitwort von Bischöfin Petra Bosse-Huber Herausgegeben von Markus Matthias und Ulf-Michael Schneider
Vandenhoeck & Ruprecht
Die im Band versammelten BeitrÐge wurden fþr die Verçffentlichung þberarbeitet. Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet þber http://dnb.de abrufbar. 2019, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Gçttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschþtzt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen FÐllen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Siegel Johann Friedrich von Fleischbeins von seinem Testament (10. Mai 1774), mit freundlicher Genehmigung der Bibliothque cantonale et universitaire, Lausanne, Fonds des âmes intØrieures, Sign. TH 1417/02. Satz: 3w+p, Rimpar Vandenhoeck & Ruprecht Verlage j www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2197-0858 ISBN 978-3-666-57083-4
Inhalt
Zum Geleit
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Terminologische und historische Eingrenzungen: Pietismus – Radikalpietismus – philadelphische Bewegung . . . . . . . . . . . . . .
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Probleme der bibliographischen und editorischen Erschließung pietistischer Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Die Literatur des Pietismus – Pietistische Impulse zur Literaturgeschichte Ein Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Einleitung der Herausgeber Zu diesem Band
Vom Heiland im Herzen zum inneren Wort ,Poetische‘ Aspekte der pietistischen Christologie . . . . . . . . . . . . 115 Feindliche Geschwister? Der Pietismus als Widersacher und Weggefährte der Aufklärung. Sachverhalte und Forschungslage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 Sulamiths verheißene Wiederkehr Hinweise zu Programm und Praxis der pietistischen Begegnung mit dem Judentum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 Philadelphian Hope The Attitudes of Pietist Immigrants in Pennsylvania towards Jews . . . 205 Die Sprache Canaan, Auftrag der Forschung . . . . . . . . . . . . . . . 233 Pietistisches Publizieren unter Heterodoxieverdacht Der Zensurfall ,Berleburger Bibel‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261
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Inhalt
Lesarten der Schrift Die Biblia Pentapla und ihr Programm einer „herrlichen Harmonie Göttlichen Wortes“ in „Fünf=facher Deutscher Verdolmetschung“ . . . 285 „red=arten u[nd] worte behalten / die der Heil[ige] Geist gebrauchet“ Pietistische Bemühungen um die Bibelverdeutschung nach und neben Luther . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307 Hoburg, Christian (1607–1675) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347 „Reisset nieder ewer Inwendiges Babel / vnnd heuchelt nicht mit deroselben außwendig“ Christian Hoburg als Lektor in Lüneburg – Netzwerk und Schriften
. . . 353
„Misbräuche“, „ärgerliches Christenthumb“ und „teutscher Krieg“ Christian Hoburgs kirchenkritischer Pazifismus unter Herzog Augusts prekärer Protektion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 381 Madame Guyon, Pietismus und deutschsprachige Literatur . . . . . . . 419 Hortulus mystico-poeticus Erbschaft der Formeln und Zauber der Form in Tersteegens „Blumengärtlein“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 457 Zinzendorf als Poet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 489 Inspirierte Schweizerreisen
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 517
Conrad Beissels Ephrata-Gemeinschaft und seine Poesie Ein philadelphisch-mystisch-arkanes „Vorspiel der Neuen Welt“ . . . . 547 Traveling Prophets: Inspirationists Wandering Through Europe and to the New World Mission, Transmission of Divine Word, Poetry . . . . . . . . . . . . . . 575 Zores in Zion Zwietracht und Missgunst in Berleburgs toleranzprogrammatischem Philadelphia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 591 Carl, Johann Samuel (1677–1757) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 625 Johann Friedrich Haugs radikalpietistischer „Studenten=Gesang“ als „Anweisung zur Seligkeit in allen Facultäten“ . . . . . . . . . . . . . . 633
Inhalt
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Rezension zu Michaela Scheibe: Rekonstruktion einer Pietistenbibliothek. Der Büchernachlass des Johann Friedrich Ruopp in der Bibliothek der Franckeschen Stiftungen, Tübingen 2005 . . . . . 657 Kanonische neue Heilige Sammelbiographien des Pietismus und der Erweckungsbewegung . . . 665 „Werd ein Kind!“ im „Wunderhorn“ Pietistische Mitgiften an die Romantik . . . . . . . . . . . . . . . . . . 701 Vom ekstatisch-prophetischen zum magnetischen Beispielfall: Hemme Hayen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 731 Erfahrung der äußersten Anfechtung Die Sünde wider den Heiligen Geist (Mt 12,31) in literarischen Reflexen Pietismus-Studien Hans-Jürgen Schraders 1979–2018 Zu Sprache und Literatur des Pietismus, zu Einflüssen des Pietismus auf einzelne Werke und auf die Entwicklung der deutschen Literatur
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. 789
Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 799
Zum Geleit
Die hier vorgelegten Studien von Hans-Jürgen Schrader über Literatur und Sprache des Pietismus sind nur auf den ersten Blick einem Spezialthema gewidmet, dem sich keine akademische Disziplin so recht verpflichtet zu fühlen scheint. Für die moderne germanistische Literatur- und Sprachwissenschaft bleibt die religiöse Welt des Pietismus vielfach fremd und mit Frömmelei konnotiert, seine literarischen Hervorbringungen und sprachlichen Sonderterminologien gelten vielen als ein in sich völlig abgeschottetes Feld, dem man sich allenfalls aus bloß antiquarischem Interesse widmen könne. Theologie und Kirchengeschichte wiederum sind oft mehr an herausragenden Personen, Geschehnissen und Ideen interessiert, die für die historische Entwicklung der Wissenschaft und kirchlichen Institutionen bestimmend und für die Identifikation mit noch die Gegenwart bestimmenden Traditionen maßgeblich waren. Sobald man sich aber auf die Fülle der in diesem Sammelband vereinten Pietismus-Studien Hans-Jürgen Schraders einlässt, wird man schnell merken, dass hier methodisch wie sachlich ein einzigartiges und konsequentes Forschungsprogramm durchgeführt wird, das nicht nur kulturgeschichtlich außerordentlich bedeutsam und erhellend ist, sondern auch für das Selbstverständnis der (evangelischen) Kirchen und ihre historische Selbstvergewisserung theologisch notwendig bleibt. Kirche – und das muss man sich gewiss in kirchenleitender Position immer wieder vor Augen führen – wird getragen und bleibt lebendig gerade auch durch die vielen Menschen, die die ganze Stärke, Ausdauer und Kreativität ihres christlichen Glaubens nicht immer im Einklang mit der Institution Kirche meinten und meinen leben zu können. Getrieben von den religiösen Sinnfragen, nach der Tragfähigkeit des persönlichen Glaubens und der Funktion der Kirche, die auch in der verfassten Kirche zur Sprache kommen, müssen auch gerade solche nichtkonformen, nichtregulierbaren, und daher nur scheinbar am Rande stehenden Christen in der Kirche zu Worte kommen und mitreden können. Und niemals haben in der deutschen Kirchengeschichte wahrscheinlich so viele mitgeredet wie in den Aufbrüchen von Pietismus und Erweckungsbewegung vom späten 17. bis hinein in das beginnende 19. Jahrhundert. Die starke Durchdringung der deutschen Länder mit christlicher Religiosität erfolgte eigentlich erst mit dem Pietismus, und war vor allem dort dauerhaft, wo Gläubige sich ertüchtigt sahen, selbst das Wort zu
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Zum Geleit
nehmen, selbst Gott oder das Göttliche zu suchen; wo sie lernten, individuelle Erfahrungen und persönliches Gotterleben in Worte zu fassen und miteinander auszutauschen, und wo sie schließlich den Mut hatten, die dogmatisch erstarrte Bürgerlichkeit protestantischen Christentums zu sprengen und im wörtlichen Sinne radikal, also von den Wurzeln her, dem ursprünglichen Geist des Christentums zu folgen und nach ihm zu leben. Welchen geistlichen, geistigen und also kulturellen Reichtum uns diese oft gar nicht so ,stillen‘ Frommen ,im Lande‘ am Rande oder außerhalb der Kirche hinterlassen haben, ohne dass wir das in der Regel noch wissen oder wahrnehmen, das weisen die hier konzentriert ausgewählten Studien aus. Sie lassen alternatives und widerständiges Verhalten, Denken und Wahrnehmen zu Wort kommen, entdecken geistigen Austausch über konfessionelle, ständische und staatliche Grenzen hinweg, decken aufgenommene und weitergegebene Traditionsfäden auf und erschließen auf häufig überraschende und spannende Weise die Tiefendimensionen vom Barock über die Goethezeit bis ins 20. Jahrhundert hinein. Immer geht es dabei auch um die breitenwirksame Anreicherung oder Bereicherung unserer Sprach-, Denk-, Glaubens- und Lebenswelten durch diese gelegentlich wunderlich anmutenden Gottsucher, die dabei sich in der Welt doch gut genug auskannten, um dem verständlichen Kontrollbedürfnis der Herrschenden ein Schnippchen zu schlagen. Als ich im Jahre 1978 mein Studium an der Georg-August-Universität Göttingen aufnahm, durfte ich als Studentin erleben, wie der Germanist HansJürgen Schrader uns an seinen interdisziplinären Forschungen teilhaben ließ, uns dabei zugleich unterweisend wie für die Sache begeisternd. Diese Begeisterung hält bis heute bei mir an, und ich bin sehr dankbar für die vielfältigen Anregungen, tragenden Erkenntnisse und Zugänge zum christlichen Glauben, die Hans-Jürgen Schrader mir vermittelt hat. Ich wünsche dem Buch viele Leser – oder besser : ich wünsche vielen Lesern dieses Buch. Hannover, im Herbst 2018
Bischöfin Petra Bosse-Huber
Einleitung der Herausgeber
In der von der Historischen Kommission zur Erforschung des Pietismus verantworteten Reihe Arbeiten zur Geschichte des Pietismus werden gewöhnlich monographische Abhandlungen oder Tagungsbände veröffentlicht. Sie stellt damit – neben Pietismus und Neuzeit, dem Jahrbuch zur Geschichte des neueren Protestantismus – das zentrale Publikationsforum der wissenschaftlichen Erforschung dieser religiösen Erneuerungsbewegung dar. Wenn ihr 63. Band hiervon – freilich nicht erstmals – eine Ausnahme macht und die Pietismusstudien eines einzelnen Wissenschaftlers präsentiert, dann geschieht das um des besonderen Stellenwerts willen, den die interdisziplinäre Forschungsleistung des Genfer Germanisten Hans-Jürgen Schrader für die Pietismusforschung darstellt. Seine 1989 erschienene, aus der von seinem Lehrer Albrecht Schöne betreuten Dissertation an der Georg-August-Universität Göttingen hervorgewachsene große Monographie Literaturproduktion und Büchermarkt des radikalen Pietismus hat zunächst in mühseligsten Ermittlungen (noch ohne die heutigen Hilfestellungen elektronischer Kataloge und unter den Bedingungen getrennter Bibliothekssysteme in der Bundesrepublik und der DDR) die radikalpietistische Verlagsproduktion in den drei Zentren Offenbach, Idstein sowie Berleburg zusammengestellt und die Entstehungs- und Wirkungsgeschichte einer ihrer (mit je zwei Auflagen nacheinander in allen dreien produzierten) wichtigsten Publikationen, der von Johann Henrich Reitz, fortgesetzt durch Johann Samuel Carl und Johann Conrad Kanz, in schließlich sieben Teilen 1698–1745 herausgegebenen Historie Der Wiedergebohrnen, rekonstruiert. Damit hat sie unter der Fragestellung nach den Bedingungen der Möglichkeit des Erscheinens und der Verbreitung einer Literatur jenseits der im jeweiligen Territorium gültigen konfessionstheologischen Normen, die von Rechts wegen und nach den geltenden Zensurbestimmungen des Heiligen Römischen Reichs nirgends hätte gedruckt werden dürfen, einen ganzen Kontinent radikalpietistischen Schrifttums erschlossen und bereitgestellt. Darauf aufbauend hat Hans-Jürgen Schrader seit den frühen achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts und bis heute konsequent und ausgreifend bis in die Auswirkungen jenseits der Kernepoche des Pietismus in der Erweckungsbewegung des frühen 19. Jahrhunderts (literaturgeschichtlich also zwischen Aufklärung, Sturm und Drang und Romantik) ein Forschungsprogramm verfolgt, von dem die in diesem Band wieder vorgelegten Studien aus den
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Einleitung der Herausgeber
Jahren von 1979 bis 2016 ebenso eindrucksvoll Zeugnis ablegen wie die Ergebnisse der von ihm maßgeblich mitangeregten und mitverantworteten interdisziplinären Tagungen zu europäischen frömmigkeitsgeschichtlichen Parallelerscheinungen des Pietismus sowie zu seinen Wechselverhältnissen mit historischen Erscheinungen von Medizin, Musik, Literatur und Sprache, die in dieser Buchreihe früher dokumentiert worden sind. Schraders Pietismusstudien lenken die Aufmerksamkeit der literaturwissenschaftlichen wie der kirchengeschichtlichen Forschung mit Nachdruck auf die tiefgreifenden Wirkungen einer massenhaften religiösen Buchproduktion und -lektüre, die seit dem späten 17. Jahrhundert breiteste Kreise der deutschsprachigen Bevölkerung in den protestantischen Teilen des Alten Reichs und der Schweiz erfasst hat. In ihnen wurde dieses von den zuständigen Wissenschaftsdisziplinen trotz seiner unübersehbaren Einflüsse auf das Denken, Sprechen und die poetische Produktion mehrerer Generationen, ja Jahrhunderte, nur stiefmütterlich traktierte frömmigkeitliche Klein-, Gebrauchs- und Verbrauchsschrifttum als Schlüssel zur religiösen, sprachlichen und literarischen Kultur gerade auch ursprünglich eher illiterater Bevölkerungskreise erkannt und näher erschlossen. Damit wurde nicht nur die praktische Konsequenz des theoretisch längst über die Dichtungsgeschichte hinaus erweiterten Literaturbegriffs gezogen, sondern auch ein verlässlicheres Bild der Frömmigkeit und der auf ihr aufbauenden Literarisierung in den deutschsprachigen Ländern nachgezeichnet. Zugleich kamen damit die erstmals in großer Zahl zu schriftlicher Selbstäußerung und sogar zur Publikation gelangenden Frauen in den Blick. Schraders buch- und verlagsgeschichtliche Forschungen haben die sukzessive Erweiterung der Toleranzspielräume für das gedruckte Wort, zunächst für religiös heterodoxes Gedankengut herausgestellt und – tradierte Auffassungen über ein lückenlos funktionierendes Zensurregime relativierend – gezeigt, wie die von der kaiserlichen Bücherkommission in Frankfurt zu überwachende landesherrliche Buch- und Pressezensur zunehmend ausgehöhlt wurde. Mit den bis in die Erweckungsbewegung hinein florierenden pietistischen Sammelbiographien hat er die Bedeutung einer Gattung hervorgehoben, die einen nicht zu unterschätzenden Anteil daran hat, dass in der erzählerischen Literatur des 18. Jahrhunderts zunehmend Beschreibungen innerer Seelenzustände und Gefühlslagen zu beobachten sind. Seine Untersuchungen weisen darüber hinaus eindringlich auf Muster, Vorbilder und Fermente hin, die der Radikalpietismus der deutschsprachigen Literatur bei ihrer Ablösung von einem normativen Dichtungsverständnis und ihrer Hinwendung zu einer gefühlsbetont intuitiv-subjektiven Poetologie bereitstellte. Zugleich vergrößern sie schließlich ganz entscheidend die materialen Grundlagen und exponieren relevante Fragestellungen für eine erneuerte Sondierung der pietistischen Sondersprache, die seit der Pionierarbeit Der Wortschatz des deutschen Pietismus von August Langen, bei dem Hans-Jürgen
Einleitung der Herausgeber
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Schrader 1962 sein germanistisches Studium an der Universität des Saarlandes in Saarbrücken begonnen hat, kaum mehr nennenswerte Zuwächse zu verzeichnen hatte. Auch für die Kirchengeschichtsschreibung haben diese Arbeiten im Laufe der letzten Jahrzehnte (Hand in Hand insbesondere mit der Forschungsleistung Hans Schneiders zum radikalen Pietismus, mit dem es seit gemeinsamen Göttinger Assistententagen einen engen und freundschaftlichen Austausch gab) den Forschungsgegenstand und damit das historische Verständnis von Pietismus und Erweckungsbewegung vertieft und erweitert. Neben die Orientierung an den traditionsbildenden, kirchlich integrierten Patriarchen trat das Interesse für die weniger erfolgreichen, aber darum nicht weniger wirkungsvollen Dissidenten, für die religiös radikal denkenden und dabei meist schöpferisch sich aussprechenden Gottsucher. Zugleich weitete sich der Blick überhaupt von einer reinen Frömmigkeitsgeschichte auf die soziokulturellen Bedingungen und Auswirkungen der pietistischen Bewegung(en). Abgesehen von den innovativen Impulsen des Schraderschen Forschungsprogramms auf diesen Feldern zeichnen sich seine Arbeiten dadurch aus, dass sie allen verfügbaren Vorarbeiten bis in die entlegensten Veröffentlichungswinkel nachgehen und diese umfassend dokumentieren. Seine Aufsätze sind daher auch bibliographisch wahre und vor allem verlässliche Fundgruben. Mehr aber noch bieten sie fast immer präzis gefasste Wegleitungen zu Desideraten der Forschung, denen Literaturwissenschaft wie Kirchengeschichtsschreibung mit Gewinn nachgehen können. Die hier versammelten 28 Beiträge stellen eine Auswahl der Arbeiten HansJürgen Schraders zum engeren Komplex von Literatur und Sprache des Pietismus dar. Im Rahmen der Arbeiten zur Geschichte des Pietismus sollten von vornherein jene Studien ausgeschlossen bleiben, die dominant auf die Impulse und Reflexe des Pietismus in einzelnen Werken und bei Autoren der deutschsprachigen Literatur wie etwa Johann Wolfgang von Goethe (beispielsweise in dessen Werther, Faust oder Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten), Heinrich von Kleist (beispielsweise in dessen Erdbeben in Chili, Käthchen von Heilbronn oder Amphitryon) oder Wilhelm Raabe (in dessen Gedelöcke) orientiert sind. In den Band aufgenommen wurden Texte aus ganz unterschiedlichen Entstehungs- und Verwendungszusammenhängen: So stehen neben einem begriffsanalytischen Kapitel aus der Monographie Tagungs- und Kolloquiumsbeiträge und anderweitige Vorträge, in Zeitschriften publizierte Aufsätze, Handbuch- und biographische Lexikonartikel, auch eine Rezension. Sie werden hier, wo nötig vom Verfasser revidiert und aktualisiert, in durchgesehener Form präsentiert. Der Aufbau des Bandes folgt nicht der Chronologie ihrer Erstveröffentlichung, sondern systematischen Gesichtspunkten und fächert sich für die einzelnen Themenkomplexe vom Einführenden zum Spezielleren hin auf.
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Einleitung der Herausgeber
Die Reihe der Studien Schraders beginnt mit grundlegenden Klärungen und Abgrenzungen der Begriffe ,Pietismus – Radikalpietismus – philadelphische Bewegung‘ und aktualisierten Überblicksdarstellungen zur bibliographischen und editorischen Situation der pietistischen Literatur, zu ihren literarischen Leistungen, Gattungen und Textformen sowie ihrem Einwirken auf die deutschsprachige Literatur. Hierher gehört als konkrete Fallstudie die Untersuchung des für die Pietisten mehr als das Christus pro nobis zentralen spirituellen Arguments des Christus in nobis, das das eigene Herz – literaturgeschichtlich folgenreich – zum entscheidenden nicht nur spirituellen, sondern auch kreativen Kraftzentrum eines jeden göttlich (oder von gottgegebenem Genius) berührten Menschen macht. Zu diesen die Literatur und Sprache des Pietismus in ihrer Gesamtheit thematisierenden Darstellungen zählt auch die Problematisierung und fallweise Neujustierung des Verhältnisses von Pietismus und Aufklärung. Die in der bandeinleitenden Studie terminologisch und historisch eingegrenzte ,philadelphische Bewegung‘, eine Gemeinschaft aller Erweckten ungeachtet konfessioneller Grenzen, öffnet den Blick für die ideologiegeschichtlichen Vorprägungen einer (schon vor der Aufklärung eingeforderten) christlichen Toleranz der Pietisten gegenüber dem Judentum, die in zwei Beiträgen diesseits und jenseits des Atlantiks untersucht werden. Herausforderungen und Desiderata einer sachadäquaten Erfassung und Beschreibung der pietistischen Sonderterminologie werden sodann mit reichem Beispielmaterial als Vorgabe für die historische Linguistik umrissen, die dieses breite Forschungsfeld bislang fast unbeachtet gelassen hat. Drei Aufsätze gelten dem Umgang des Pietismus mit der Heiligen Schrift, sowohl in der Gesamtschau auf pietistische Bibelübersetzungen und deren Bedingungsmöglichkeiten als auch im konzentrierten Blick auf die prominent-signifikanten Beispiele der Biblia Pentapla und der ,Berleburger Bibel‘. Die Vorgeschichte des Pietismus sowie der römisch-katholische Quietismus sind mit umfassenden Untersuchungen zu Christian Hoburg und Jeanne Marie de Guyon einbezogen, deren Wirkung in Deutschland, wie gezeigt wird, weit stärker war als in ihrem Heimatland. Fallstudien zu Gerhard Tersteegen, dem Grafen Nicolaus Ludwig von Zinzendorf, Johann Friedrich Rock und Conrad Beissel beschreiben die besonderen Leistungen und Ausdrucksformen der pietistischen Lyrik. Von der minutiösen Nachzeichnung der Missionswanderungen und literarischen Bekundungen von ,Werkzeugen‘ der ,Wahren Inspirationsgemeinschaft‘ in der alten und neuen Welt, deren Gebaren im Zustand der inspirativen Entrückung und deren Spontanlyrik die spätere Geniekonzeption des Sturm und Drang präformieren, wird allgemeiner der Blick gelenkt auf die erbittert geführten Zwistigkeiten unter den Erweckten Berleburgs. In deren Zentrum stand der vom Philadelphier und Inspirierten zum fruchtbaren alchimistisch-medizinischen Erbauungsschriftsteller, Herausgeber einer Erwecktenzeitschrift und schließlich zum einflussreichen dänischen Hofarzt (Großvater des Grafen
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Einleitung der Herausgeber
Johann Friedrich Struensee) aufgestiegene Johann Samuel Carl, dem Schrader einen die bio-bibliographischen Kenntnisse erweiternden Lexikonartikel gewidmet hat. Mit dem vielstrophigem Studenten=Gesang des vom elsässischen Philadelphier zum Inspirierten und schließlich zum Übersetzer und Herausgeber der ,Berleburger Bibel‘ avancierten Johann Friedrich Haug wird die Trouvaille einer radikalpietistisch gedachten Studienreform an Universitäten vorgestellt, bevor die bibliothekarische Neuerschließung der in die Bibliothek der Franckeschen Stiftungen zu Halle integrierten Büchersammlung des ebenfalls elsässischen Philadelphiers Johann Friedrich Ruopp exemplarisch gewürdigt wird. Der Band wird mit einer Serie von Studien abgerundet, die von der Analyse originär pietistischer Denkformen und Argumente ausblicken auf die nur subkutan freizulegenden Wirksamkeiten in der Literatur vom späten 18. Jahrhundert über die Erweckungsbewegung und Romantik bis hin zu Georg Büchner und Thomas Manns später Erzählung Der Erwählte. Ein komplettes Verzeichnis derjenigen Studien Hans-Jürgen Schraders aus dem Zeitraum von 1979 bis 2018, die auf den Pietismus bezogen sind oder zumindest ausblicken, und ein Personenregister beschließen den Band. Im Anschluss an diese Einleitung legen die Herausgeber Rechenschaft ab über die Einrichtung des Bandes und geben Hinweise zu dessen Benutzung. Freundlich danken wir dem Verlagshaus Vandenhoeck & Ruprecht, insbesondere Frau Dr. Elisabeth Hernitscheck, für die vertrauensvolle und geduldige Zusammenarbeit in der Entstehungszeit des Bandes. Ein besonders herzlicher Dank geht an unsere ehemalige Kommilitonin Petra Bosse-Huber, die Vizepräsidentin und Bischöfin des Kirchenamtes der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und Leiterin der Hauptabteilung Ökumene und Auslandsarbeit, für ihr Geleitwort zu dieser Sammlung der Studien auch ihres germanistischen Lehrers. Wenn zwei seiner Schüler aus Göttinger Tagen, die beide zu ihren akademischen Erstlingsarbeiten von Hans-Jürgen Schrader angeregt wurden, den vorliegenden Band im Auftrag der Historischen Kommission zur Erforschung des Pietismus herausgeben, dann tun sie das als Zeichen der Würdigung der wissenschaftlichen Forschungsleistung ihres (und vieler anderer) akademischen Lehrers sowie als Zeichen ihres Dankes und der nun schon jahrzehntelangen engen Verbundenheit. Amsterdam und Hagen, im Herbst 2018 Markus Matthias
Ulf-Michael Schneider
Zu diesem Band
Die in diesem Band versammelten Studien Hans-Jürgen Schraders sollten grundsätzlich in ihrer geschichtlichen und anlassgebundenen Form erhalten bleiben und somit ihren Erstpublikationen entsprechen. Der Autor hat gleichwohl alle Aufsätze einer eingehenden Durchsicht unterzogen und dabei in Absprache mit den Herausgebern Forschungsbezüge und Referenzen der älteren Aufsätze punktuell auf den heutigen Stand gebracht, vor allem, insoweit in ihnen auf zum Zeitpunkt der Publikation noch nicht erschienene, jetzt aber längst greifbare Forschungsbeiträge verwiesen wurde. Vom Autor stärker überarbeitet wurden zum einen die den Band S. 19–62 eröffnenden grundsätzlichen Klärungen „Terminologische und historische Eingrenzungen: Pietismus – Radikalpietismus – philadelphische Bewegung“, die ursprünglich das Eingangskapitel der Monographie Literaturproduktion und Büchermarkt des radikalen Pietismus (1989, L 1) gebildet hatten, so dass sie hier ohne den dort binnenverweisenden Kontext lesbar werden. Zum anderen hat er besonders die Forschungsberichte der Überblicksdarstellungen „Probleme der bibliographischen und editorischen Erschließung pietistischer Literatur“ (S. 63–90) und „Die Literatur des Pietismus – Pietistische Impulse zur Literaturgeschichte“ (S. 91–114) in ihren bibliographischen Angaben und Hinweisen aktualisiert. In die zur Veröffentlichungszeit der Aufsätze, die an der Jahreszahl unter ihren Titeln sofort erkennbar ist, jeweils gültige Orthographie wurde nicht eingegriffen. Druckkonventionen in den zitierten Quellen zur Kennzeichnung von Umlauten (kleines ,e‘ über ,a‘, ,o‘ oder ,u‘) und doppelten Konsonanten (Verdoppelungstrich über ,n‘ oder ,m‘) wurden aus pragmatischen Gründen aufgelöst. Die je nach Publikationsorgan der Erstdrucke divergierenden Formvorgaben im Hinblick auf Hervorhebungen und bibliographische Nachweise wurden behutsam angeglichen. Dabei wurde auf eine konsequente Anwendung innerhalb eines Beitrags geachtet, ohne dass eine vollkommene Vereinheitlichung aller Anmerkungsapparate miteinander angestrebt werden konnte. Im Haupttext verweist die Kursive durchgehend auf Werktitel, während sie in den Anmerkungen den Blick auf die Verfasser lenken soll. Davon unberührt blieb natürlich ihre Funktion zur Markierung eines Schriftwechsels in den Quellenzitaten wie des Wechsels von Fraktur- zur Antiqua-Type bei fremdsprachigen oder noch als sprachliches Importgut empfundenen Pas-
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Zu diesem Band
sagen oder Wortteilen. Offensichtliche Druckfehler und Irrtümer in den Erstpublikationen wurden korrigiert. Zur Entlastung der Anmerkungen werden dort Bezüge auf eigene Studien des Autors und auch auf seine kritische Edition der Historie Der Wiedergebohrnen durchweg mit Hilfe eines Kurztitels sowie des Erscheinungsjahres und einer L[iteratur]-Nummer nachgewiesen. Beispiel: Schrader : Pietistisches Publizieren unter Heterodoxieverdacht (1988, L 14). Sind diese Arbeiten in den Sammelband aufgenommen, ermöglichen die den Kurztiteln beigegebenen Seitenzahlen in der hier aktuellen Paginierung ihr rasches Auffinden auch im Falle punktueller Querverweise. Bei Verweisen auf nicht erneut abgedruckte Aufsätze führen die Seitenzahlen zu den Belegstellen in den jeweiligen Erstdrucken. Alle Erstpublikationen werden in dem diesen Band S. 789–798 abschließenden Verzeichnis der „Pietismus-Studien Hans-Jürgen Schraders 1979–2018“ ausgewiesen, zu deren Nachweisen die L-Nummer der Kurztitel führt.
Terminologische und historische Eingrenzungen: Pietismus – Radikalpietismus – philadelphische Bewegung* [1989, L 1]
1. „Pietismus“ – Historische Abgrenzungen gegenüber teilverwandten „vor-“ bzw. „neupietistischen“ Traditionen Die Bezeichnungen für die historische Gesamterscheinung „Pietismus“ und die in ihr vereinigten Unter- und Sondergruppen sind von der kirchengeschichtlichen Forschung ganz überwiegend nicht post festum geprägt, sondern dem Sprachgebrauch des 17. und 18. Jahrhunderts entlehnt worden. Die umfassende Sammelbezeichnung Pietisten, ebenso aber auch differenzierende Benennungen wie Philadelphier, Herrnhuter, Chiliasten, Quietisten, Separatisten oder Inspirierte sind von der Kontroverstheologie der Zeit geprägt oder wenigstens popularisiert worden. Sie sollten die besonderen Frömmigkeitsformen bzw. dogmatischen Eigentümlichkeiten der entsprechenden Gruppen kennzeichnen. Die von den theologischen Gegnern durchaus mit pejorativem Beiklang verwendeten Benennungen wurden von den Betroffenen zumeist aber schon nach kurzer Zeit als positive, die eigene Frömmigkeitsnorm ausweisende Selbstbezeichnungen übernommen. Durch eine analoge Umbewertung ursprünglicher Scheltnamen haben sich ja auch einige in der Literaturwissenschaft eingebürgerte Gruppen- und Epochenbezeichnungen – wie Romantik oder Biedermeier – durchzusetzen vermocht. Der in die kirchengeschichtliche Forschung übernommenen, aus historischem Abstand freilich zum Teil präziser definierten Terminologie für die pietistischen Gruppierungen haben sich die einschlägigen historischen und germanistischen Arbeiten angeschlossen und haben damit sinnvollerweise auf die Etablierung verwirrend konkurrierender systematischer Neubezeichnungen verzichtet. Auch hier soll nicht einer andersartigen Begrifflichkeit für pietistische Gruppen und Theologeme das Wort geredet oder der vorhandenen ein veränderter Sinn untergelegt werden. Die Notwendigkeit, im Interesse einer * Zur Publikation im vorliegenden Band bearbeitetes Kapitel mit den (auch für seine Begrifflichkeit) grundlegenden terminologischen Bestimmungen und Abgrenzungen aus der Monographie des Verfassers, Literaturproduktion und Büchermarkt des radikalen Pietismus, Göttingen 1989 (L 1).
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Terminologische und historische Eingrenzungen
möglichst bezeichnungsscharfen Terminologie über deren Verwendung Rechenschaft abzulegen, resultiert also nicht aus Vorbehalten gegen die Abgrenzungen der hier hauptzuständigen Kirchengeschichtler oder aus Bedenken gegen die Übertragbarkeit ihrer Termini auf literarhistorische Studien. Insbesondere der Sammelbegriff Pietismus ist aber in der theologischen Historiographie selbst nicht immer einheitlich verwendet worden. Hinsichtlich seiner ungefähren zeitlichen Erstreckung ebenso wie bezüglich der Zugehörigkeit einzelner Autoren oder religiöser Gruppen bestehen Auffassungsunterschiede. Auch dieses Schicksal teilt der Pietismusbegriff mit der Mehrzahl geistesgeschichtlicher Epochenbezeichnungen. Deren Vieldeutigkeit und Randunschärfe haben ja häufig berechtigten Anlaß zur Klage gegeben. Als generalisierende Setzungen sollen sie eine Vielzahl gleichgerichteter gedanklicher bzw. künstlerischer Leistungen einer Zeit aufgrund spezifischer sie verbindender Hauptmerkmale zusammenfassen. Die gewonnenen Kennzeichen sind zwar kaum je imstande, eine herausragende Einzelleistung zureichend zu charakterisieren, doch vermitteln sie, solange ihre Verwendung auf die Epoche begrenzt bleibt, ein hilfreiches Vorverständnis der historischen und geistigen Voraussetzungen, die die Besonderheiten des einzelnen erkennen und abheben lassen. Alle Bezeichnungsschärfe geht aber verloren, wenn epochengebundene Begriffe von der Entstehungszeit oder den Beobachtungsobjekten, aus denen sie gewonnen wurden, abgelöst und auf Erscheinungen übertragen werden, in denen zu anderer Zeit verwandte Kernmerkmale neben völlig unvergleichbaren Tendenzen und Gehalten zu konstatieren sind.1 Im Gegensatz zur Mystik, die als ein in fast allen Religionen und zu unterschiedlichsten Zeiten virulenter – die ekstatische Seelenerfahrung der Vereinigung mit Gott bezeichnender – Frömmigkeitstyp2 weder regional noch epochal begrenzt ist, ist der Pietismus primär eine geschichtlich fixierbare Erscheinung. Deshalb sollte der Pietismusbegriff durch die historischen 1 Wie notwendig für eine präzise Fachterminologie die streng historisch begrenzte Anwendung literaturgeschichtlicher Periodisierungsbegriffe und der Verzicht auf typologisch-geschichtstranszendierende Übertragungen ist, hat Benno von Wiese schon in einem 1931 verfaßten Aufsatz betont (Zur Kritik des geistesgeschichtlichen Epochebegriffes. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literatur- und Geistesgeschichte 11 [1933], S. 130–144, bes. 136 ff.) Erneut hat Zdenko Sˇkreb bei der Herausarbeitung der dominanten historisch bedingten Kennzeichen realistischer Dichtung mit guten Gründen vor der ungeschichtlichen Verwendung von Epochentermini gewarnt: Das Selbstverständliche im Realismus. In: Lenau-Forum, Vierteljahresschrift für vergleichende Literaturforschung 5, Wien 1973, S. 1–13. Grundsätzliche Überlegungen zur inneren Konsistenz und zur Frage angemessener Abgrenzungen der Epochen, damit auch zur Aufschlußkraft der Periodisierungsbegriffe, entwirft der von Reinhart Herzog und Reinhart Koselleck herausgegebene Kolloquium-Berichtband: Epochenschwelle und Epochenbewußtsein, München 1987 (Poetik und Hermeneutik, Bd. 12), für die allgemeine Problematik im Blick auf den hier in Frage stehenden Zeitraum namentlich im Vorwort der Herausgeber, S. VII–X und in den Aufsätzen von Wilfried Barner, S. 3–51 und Reinhart Koselleck, S. 269–282. 2 Vgl. z. B. den umfänglichen Artikel „Mystik“ von Ruth Liwerski. In: Handlexikon zur Literaturwissenschaft. Hg. von Dieter Krywalski, München 1974, S. 341–349.
Pietismus – Radikalpietismus – philadelphische Bewegung
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Wissenschaften auch nur epochen-spezifisch verwendet werden. Über die ungefähre zeitliche Erstreckung dessen, was man bei aller Unterschiedlichkeit gruppenspezifischer oder individueller Eigenarten als historisch umgrenzbare Einheit mit dem Epochenbegriff Pietismus bezeichnen und damit gegenüber theologisch verwandten vorbereitenden oder nachfolgenden Strömungen abgrenzen sollte, besteht in der neueren Forschung prinzipielles Einvernehmen, wo immer sie sich um bezeichnungsscharfe Begrifflichkeit bemüht hat. Die Kirchengeschichtler des 19. Jahrhunderts hatten noch häufig die Propagatoren einer Reform des kirchlichen Lebens aus dem Geist individueller Frömmigkeit seit Johann Arndt (1555–1621) und die radikal spiritualistischen Kirchenkritiker des 16. und frühen 17. Jahrhunderts in Deutschland, England und den Niederlanden dem Pietismus zugeschlagen. Mehr oder minder metaphorisch findet sich eine solche – spezifisch besondere Eigenarten verdekkende – Übertragung des Pietismusbegriffs auf die internationalen theologischen Wegbereiter gelegentlich noch in neuesten Arbeiten.3 Heute sieht man jedoch im allgemeinen mit dem Entstehen einer rasch expandierenden religiösen Massenbewegung in den protestantischen Territorien Deutschlands, die frühere disparate und vergleichsweise noch wirkungsarme Reformanstöße und ausländische Anregungen aufgreift und einer langandauernden Breitenwirkung zuführt, eine frömmigkeitsgeschichtlich neue Qualität erreicht. Als Indiz für die Herausbildung der neuartig wirkmächtigen Strömung wird überzeugend die vielerorts gleichzeitig entstehende Gruppenbildung in den Collegia Pietatis angesehen (auf lutherischem Gebiet zuerst durch Philipp 3 Albrecht Ritschl rechnet in seiner „Geschichte des Pietismus“ (Bd. l, Bonn 1880) ebenso wie Heinrich Heppe (Geschichte des Pietismus und der Mystik in der reformierten Kirche namentlich der Niederlande, Leiden 1879) dem Pietismus wenigstens noch den niederländischen Präzisismus des 17. Jahrhunderts als integralen Bestandteil zu. Mit Berufung auf Heppe und Ritschl hat August Lang noch 1941 den Begriff ,Pietismus‘ auf den englischen Puritanismus und Independentismus des späten 16. und frühen 17. Jahrhunderts sowie auf den späteren Methodismus ausgedehnt und William Perkins (1558–1602) zum „Vater des Pietismus“ erklärt. (August Lang: Puritanismus und Pietismus. Studien zu ihrer Entwicklung von M. Butzer bis zum Methodismus, Neukirchen 1941 [Beiträge zur Geschichte und Lehre der reformierten Kirche, Bd. 6]). Darin ist ihm J.C. Trimp: Joost van Lodenstein als pietistisch dichter, Groningen – Djakarta 1952 gefolgt, der im ersten Kapitel einen guten Überblick über die niederländischen Vermittler zwischen Puritanismus und Pietismus gegeben hat. Noch in dem Sammelband der Referate einer Tagung von 1974 über den „Pietismus in den Niederlanden“ werden wiederholt vorbereitende und nachfolgende Frömmigkeitsbewegungen mit und ohne Anführungsstriche als „pietistisch“ bezeichnet (Pietismus und Reveil. Hg. von J. van den Berg und J.P. van Dooren, Leiden 1978, vgl. S. 105, 118). Inwieweit hinsichtlich der Übertragbarkeit des Pietismusbegriffs auf die früheren, theologisch vergleichbaren Strömungen auch des Auslands noch immer widersprüchliche Auffassungen bestehen, zeigen Dietrich Blaufuß: Spener-Arbeiten, Bern – Frankfurt 1975 (Europäische Hochschulschriften, R. 23. Bd. 46), S. 1, 195, Anm. 3 und 198, Anm. 3 und Hans Schneider: Der radikale Pietismus in der neueren Forschung. In: Pietismus und Neuzeit 8 (1982), S. 29; 9 (1983), S. 131. Zu den jüngeren Kontroversen um den „engeren“ oder „weiteren“ Pietismusbegriff und seine epochenbezügliche Anwendbarkeit vgl. im vorliegenden Band S. 140 f. und 398 f.
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Jacob Spener in Frankfurt 1670, auf reformiertem bereits 1665 in Mülheim/ Ruhr durch Theodor Undereyck). Auch Speners für diese Entwicklung richtungweisende Programmschrift Pia Desideria (1675) wird oft als epochales Dokument für den Beginn des Pietismus interpretiert. Entsprechend konnte Johannes Wallmann in seinem Forschungsbericht 1966 feststellen: In der Zurücknahme des Begriffs ,Pietismus‘ auf diejenigen Bewegungen, die sich gegen 1670 zuerst auf reformiertem, bald darauf auch auf lutherischem Boden bilden und um neue Formen der Frömmigkeitsübung mühen, kann man heute – anders als noch vor einem Menschenalter – eine zunehmende Übereinstimmung […] konstatieren.4
Die ungefähre Terminierung, derzufolge der eigentliche Pietismus mit dem letzten Drittel des 17. Jahrhunderts begonnen hat, entspricht offenbar auch dem zeitgenössischen Empfinden, daß man es mit einer neuartigen, relativ einheitlichen Bewegung zu tun hatte, die eine einigende Bezeichnung erforderte. Bekanntlich ist der „Pietisten-Name“ noch in den 1670er Jahren entstanden, teilweise auch schon binnen eines Jahrzehnts von den so Benannten als auszeichnende Selbstbenennung akzeptiert worden. Selbst, wo man um die angemessene Bezeichnung und die theologische Bewertung der Gruppe noch stritt, war man sich über ihren intentionalen und personalen Zusammenhalt, ihr Exklusivitätsbewußtsein und ihre rapide wachsende kirchenpolitische Macht vollkommen im klaren.5 4 Johannes Wallmann: Pietismus und Orthodoxie. Überlegungen und Fragen zur Pietismusforschung. In: Geist und Geschichte der Reformation, Hanns Rückert zum 65. Geburtstag, Berlin 1966 (Arbeiten zur Kirchengeschichte, Bd. 38), S. 420; wieder abgedruckt in: Zur neueren Pietismusforschung. Hg. von Martin Greschat, Darmstadt 1977 (Wege der Forschung, Bd. 440), S. 53–81. Zum Beleg seiner Feststellung benennt Wallmann dort die wichtigsten theologiegeschichtlichen Arbeiten, die das Problem der zeitlichen Abgrenzung des Frühpietismus erörtert haben. 5 Der Sachverhalt ist häufig dargestellt worden. Martin Schmidt hat ihn in seinem ,Pietismus‘Artikel im Handwörterbuch „Die Religion in Geschichte und Gegenwart“ (im folgenden RGG, 3. Aufl., Bd. 5, Tübingen 1963, Sp. 373 f.) konzis zusammengefaßt. Auf die Entstehungsgeschichte des bekannten, den Pietistennamen erstmals positiv popularisierenden Sonetts von 1689 ist u. a. Reinhard Breymayer: Pietistische Rhetorik als eloquentia nov-antiqua. In: Traditio – Krisis – Renovatio. Festschrift Winfried Zeller zum 65. Geburtstag, Marburg 1976, S. 258–272 ausführlich eingegangen, vgl. auch Dietrich Blaufuß: Bürgerschaft und Kirche im Pietismus. In: Bürgerschaft und Kirche. Hg. von Jürgen Sydow, Sigmaringen 1980 (Stadt und Geschichte. Bd. 7), S. 117 f. – Freilich hat es bei den Pietisten selbst und bei um den Kirchenfrieden besorgten Obrigkeiten Bemühungen gegeben, den (Zweifel an ihrer Rechtgläubigkeit und damit reichsrechtlichen Legalität nährenden) Pietistennamen zu verbieten (vgl. schon Speners „Gründliche Verteidigung“ von 1695 und die Spener-Biographie in Reitz: Historie Der Wiedergebohrnen. Neudruck [1982, L 2], Bd. 2, Teil V, 1717, S. 318 – entsprechende Bestrebungen Hedingers in Württemberg, die Eingang in die dortigen Pietistenedikte der 90er Jahre gefunden haben, referiert Christoph Kolb: Die Anfänge des Pietismus und Separatismus in Württemberg. In: Württembergische Vierteljahrshefte für Landesgeschichte. NF, 9. Jg. [1900], S. 58–60). Tatsächlich sind mehrere Verbote dieser Bezeichnung erfolgt. – Noch 1729 erhebt Christian Gerber (Zweyter Anhang zu der Historie der Wiedergebohrnen in Sachsen, Leipzig und Dresden 1729) Klage, daß ihm der ortho-
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Freilich hat man wiederholt geltend gemacht, daß der Anfang des Pietismus nicht aus der Konzeption eines grundlegend neuartigen theologischen Systems begründet werden kann. Nachgerade alle programmatischen Forderungen der Pia Desideria Speners und sogar ihr Titel, aber auch andere charakteristische Theologeme der Pietisten lassen sich vereinzelt bereits in den erbaulichen und thetischen Schriften der sogenannten Reformorthodoxen bzw. der Mystiker und Spiritualisten des früheren 17. Jahrhunderts belegen. Zum Teil können sie sogar noch darüber hinaus zurückverfolgt werden. Daß Spener sich selbst gar nicht als theologischer Neuerer verstanden wissen wollte, geht schon daraus hervor, daß er seine Programmschrift zunächst als Vorrede zur Postilla Johann Arndts publiziert hat, mit dem er sich in allen wesentlichen Belangen einig sah.6 Die Einrichtung spezieller Collegia Pietatis doxe Rezensent den schmähenden, durch die Obrigkeit in Sachsen inhibierten „Pietisten=Nahmen“ angehängt habe: „Er weiß ja wohl, daß von derselben das Wort Pietismus, und Pietist, so offt auf das schärffste, und noch vor einem Jahre in dem letzten Edicte, bey der Suspension, ja gar Remotion, verboten worden. […] Wie wäre es aber, mein Hr. Censor, wenn ich ihn in dem Hochpreißl. geheimen Raths=Collegio anklagte, als einen Ubertreter des Königl. Edicts, da er mich einen Pietisten nennet, welcher Spott=Nahme doch gar nicht mehr weder auf Cantzeln gehöret, noch in Schrifften gelesen werden soll.“ (S. 19 f., 23). Aber das sind schon Nachhutgeplänkel. Denn schon vor der Jahrhundertwende gibt es hinlängliche Belege, daß die Pietisten den ihnen beigelegten Namen gern als positives Synonym für die „Frommen“ oder „Wiedergeborenen“ akzeptierten, wie es programmatisch der Titel einer ihrer Erbauungsschriften kundtut: „Der Mit Heiligem Wandel und Gottseligem Wesen geschmückte Christ / Oder Rechtschaffene Pietist / Das ist: Kurtze Anleitung / Welcher Gestalt ein wiedergebohrnes Kind Gottes die Gottseligkeit ausüben; die Gottlosigkeit aber fliehen und meiden soll […] Einfältig / doch wohlmeynend / herfür gegeben von M. C. F. Zum andern mahl auffgelegt. – [o. O.] Im Jahr Christi / 1693.“ – In der Vorrede zu seinem 1696 publizierten Katechismus „Der Geöffnete Himmel“ betont auch Johann Henrich Reitz sehr zum Ärger eines orthodoxen Rezensenten: „Der Pietisten Nahme sey ein guter Nahme, der ihnen nicht unbillig gebühre.“ (Vgl. [Ernst Stockmann:] Kurtze Fragen aus der Kirchen=HISTORIA […], 8. Theil, Jena 1731, S. 36). Ein anderer Rezensent wirft Reitz gerade die exklusive Verwendung des Begriffs für die eigene Gruppe als Indiz typischer pharisäischer Scheinheiligkeit vor : „Der Name Pietisten / ist zwar ein herrlicher schöner Name / heissend die Frommen / so wollen einige unter den Lutherischen sich absonderlich nennen / und die jenige / so ihren Versamlungen und eigenre Weise nicht beywohnen und zustimmen / […] für Weltkinder und dergleichen halten und außschreyen […]. Ich wünsche von Hertzen daß wir alle rechte Pietisten seyn mögen / und in allen Stücken und Dingen uns beweisen als die Diener Gottes 2 Cor. 6/4.“ ([Johann Eberhard Scholl:] Eine einfältige kurtze Erforschung und Widerlegung […] Joh. Henrich Reitzens, o.O. 1699, S. 35 f.). 6 Auf diese Sachverhalte hat deutlich schon 1862 [Friedrich] A[ugust Gottreu] Tholuck: Das kirchliche Leben des siebzehnten Jahrhunderts, 2. Abt., Berlin 1862 (= Ders.: Vorgeschichte des Rationalismus. II. Teil, 2. Abt.), S. 37–40 hingewiesen. Zu seiner Liste der im 17. Jahrhundert vor Speners Programmschrift mit „Pia Desideria“ betitelten Bücher ist ein auf einen belgischen Jesuiten zurückgehendes, im ganzen 17. und frühen 18. Jahrhundert im katholischen, aber auch im protestantischen Raum in zahllosen Auflagen weitverbreitetes erbauliches Emblembuch zu ergänzen. Hermann Hugo: Pia Desideria Emblematis Elegiis & affectibus SS. Patrvm. illustrata, Antwerpen 1624. Wiederholt hat Martin Schmidt die zum Pietismus, besonders zu Spener und seinen „Pia Desideria“ hinführenden theologischen Entwicklungen beschrieben, detailliert v. a. in seinem Aufsatz: Speners Pia Desideria. Versuch einer theologischen Interpretation, zuerst 1951, jetzt in:
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für die „ernsthaften“ Christen ist sogar schon von den Reformatoren des 16. Jahrhunderts, nachdrücklich v. a. von Martin Bucer, empfohlen worden.7 Der Erweis weitgehender Abhängigkeit, ja eklektizistischer Epigonalität der pietistischen Theologie ist aber kein taugliches Argument für eine Ausweitung des Pietismusbegriffs auf vereinzelt präformierende Wegbereiter. Das epochemachende Ereignis ist weniger theologisch-qualitativ als wirkungsgeschichtlich-quantitativ faßbar. Deshalb wird man die in rascher Folge im ganzen Land Nachahmung findende Gründung frommer Konventikel innerhalb der Kirchengemeinden als den Ausgangspunkt anzusprechen haben, von dem an die eklektisch gebündelten Reformforderungen und -ansätze in eine neue gemeinschaftsbildende, damit politisch und gesellschaftlich relevante Bewegung mit relativ gleichartigen Intentionen und Äußerungen überführt worden ist. Darüber zu streiten, ob der Pietismus mit den Frankfurter Konventikeln Speners, der dem zeitgenössischen Bewußtsein als „Patriarch der Pietisten“ galt,8 begonnen habe oder schon fünf Jahre früher mit den aufsehenerregenden Mülheimer Versammlungen, die ebenso wie die Theologie ihres Begründers Theodor Undereyck schon charakteristisch pietistisches Gepräge zeigten,9 erscheint ebenso müßig wie Diskussionen um punktuelle Terminierungen anderer geistesgeschichtlicher Epochenbegriffe. Die Fehde darüber resultiert offenbar primär aus einem Prioritätsanspruch beider protestantischer Konfessionen auf diese geistes- und kirchengeschichtlich so bedeutsame Bewegung.
ders.: Wiedergeburt und neuer Mensch. Gesammelte Studien zur Geschichte des Pietismus, Witten 1969 (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus, Bd. 2), S. 129–168. Die neuere Diskussion ist im Forschungsreferat von Martin Greschat: Zur neueren Pietismusforschung. In: Jahrbuch des Vereins für Westfälische Kirchengeschichte 65, 1972, bes. S. 223–230 nachgezeichnet und seither durch die Aufsätze eines speziellen Themenbandes der Zeitschrift ,Pietismus und Neuzeit‘ (Bd. 4, 1977/78: „Die Anfänge des Pietismus“) erneut vermehrt und vertieft worden. 7 Detaillierte traditionsgeschichtliche Erörterungen dazu von W. van’t Spijker: Martin Bucer, Pietist unter den Reformatoren? In: Pietismus und Reveil (wie Anm. 3), S. 88–101. Die Pietisten waren sich ihrer Übereinstimmung mit reformatorischen Ideen Bucers durchaus bewußt und beriefen sich zur Propagierung ihrer Konventikel auf ihn. Das zeigt ihre programmatische Publikation seiner Gedanken über die Privatzusammenkünfte: Vertheidigung Der so genandten Collegiorum Pietatis, Hiebevor Von Martin Bucero […] auffgesetzet […]. Nunmehro zum andernmahl mit bessern Deutsch ist heraus gegeben worden. – [o. O.] 1692 (im ersten Band der Göttinger Streitschriftensammlung „Acta Pietistica“. Zu diesem wichtigen Quellenfundus vgl. Anm. 23). 8 Schmidt: Speners Pia Desideria (wie Anm. 6), S. 129 gibt für diese Benennung einen Beleg aus dem Jahr 1705. Vgl. zur programmatischen Funktion, die Speners Name für alle Pietisten hatte, auch Wolfgang Schmitt: Die pietistische Kritik der „Künste“. Untersuchungen zu einer neuen Kunstauffassung im 18. Jahrhundert, Diss. phil. Köln 1958, S. 8. 9 Darüber informieren grundlegend Max Goebel: Geschichte des christlichen Lebens in der rheinisch-westphälischen evangelischen Kirche. Bd. 2, Koblenz 1852, S. 300–312 und Albrecht Ritschl: Geschichte des Pietismus. Bd. 1, Bonn 1880, S. 371 f.; zu Undereycks Theologie und kirchengeschichtlicher Bedeutung vgl. v. a. Heiner Faulenbach: Die Anfänge des Pietismus bei den Reformierten in Deutschland. In: Pietismus und Neuzeit 4 (1977/8), bes. S. 205–220.
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Als Anfangstermin der pietistischen Epoche in Deutschland empfiehlt sich der Zeitraum um 1670 auch für literaturgeschichtliche Untersuchungen. Nicht nur im Interesse einheitlicher Begrifflichkeit sollten sie sich hier der kirchengeschichtlichen Datierung anschließen, sondern weil die ungestüme Ausbreitung pietistischer Argumente über die engen Zirkel weniger Theologen und Esoteriker hinaus auch literarisch und sprachgeschichtlich neue Fakten schafft, indem sie spezifische Gattungen und Ausdrucksformen zur Entfaltung bringt und alte Wörter, die bis zum Einsetzen der pietistischen Bewegung auf verhältnismäßig enge Kreise beschränkt waren, von ihr aufgenommen und zum sprachlichen Gemeinbesitz gemacht werden.10
Die früheren Anreger und Wegbereiter,11 die von den Pietisten rezipiert wurden, deren Ideen selektiv ihre theologischen Konzepte vorgeprägt, ihre literarischen Äußerungsformen, ihr Sprach- und Bildreservoir gespeist haben, sollten vom Pietismus selbst durch Begriffe abgehoben werden, die die unterschiedlichen Traditionsstränge und deren besonderen historischen Ort nicht verwischen. Dafür sind in der kirchen- bzw. literaturgeschichtlichen Forschung Bezeichnungen wie Barockmystiker, Spiritualisten, Vertreter der Reformorthodoxie und eine Vielzahl von spezifizierenden Begriffen eingeführt und definiert, die ihren jeweiligen theologischen Herkunftsbereich namhaft machen (vgl. z. B. die einschlägigen Artikel bzw. Stichwörter in der RGG). Der Barockforschung obliegt es, diese Begriffe inhaltlich noch genauer, als das bisher geschehen ist, auszuweisen und gegeneinander abzugrenzen. Der Begriff des Mystischen sollte für explizite Bekundungen der Vereinigungssehnsucht und der ekstatischen Einheitserfahrung mit dem Göttlichen reserviert bleiben; der Begriff des Spiritualismus als Sammelbezeichnung für all jene kirchenkritischen und heterodoxen Strömungen fungieren, die ihre Lehren auf besondere Eingebung oder einen nur den Erleuchteten erkennbaren (von der kirchlich-theologischen Exegese abweichenden) Schriftsinn gründen. Als Reformorthodoxie wären die irenischen Bestrebungen innerhalb der Konfessionskirchen des 17. Jahrhunderts anzusprechen, die die Förderung gemeindlicher und individueller Frömmigkeit als entschieden höherrangiges Ziel einer rechtgläubigen Theologie begreifen als die bloß intellektuelle Propagierung dogmatisch-konfessioneller Lehrunterschiede. 10 So Hans Sperber: Der Einfluß des Pietismus auf die Sprache des 18. Jahrhunderts. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literatur- und Geistesgeschichte 8 (1930), S. 508. Die älteren geistesgeschichtlich orientierten literaturwissenschaftlichen Arbeiten haben demgegenüber mit einem Pietismusbegriff von extremer historischer Unschärfe operiert. So unreflektierte Grenzverwischungen hat August Langen: Der Wortschatz des deutschen Pietismus, 2. Aufl., Tübingen 1968, S. 10 mit Recht zurückgewiesen. 11 Martin Schmidt nennt sie „Vorpietisten“ (RGG, Bd. 5, S. 328), „Vorläufer“ des Pietismus (ebd., S. 372; ebenso Langen: Wortschatz, wie Anm. 10, S. 399).
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Für eine Grenzziehung, die den Abschluß der pietistischen Epoche markiert, ist es – wiederum analog zu anderen geistesgeschichtlichen Periodisierungsbegriffen – noch schwieriger, einen zweifelsfrei plausiblen Fixpunkt anzusetzen. In den protestantischen Kirchen und Gemeinschaften bestehen ja bis heute mehr oder weniger festgefügte Gruppen und Tendenzen fort, die in ungebrochener Tradition das Erbe pietistischer Frömmigkeit festgehalten haben und weitertragen. Zufolge ihres Selbstverständnisses wie auch ihrer Einschätzung in den kirchenpolitischen Auseinandersetzungen des 19. und 20. Jahrhunderts wurden und werden sie fortdauernd als „pietistisch“ gekennzeichnet.12 Auch in ihrer literarischen Produktion, in den bevorzugten Gattungen wie den argumentativen, sprachlichen und bildlichen Darstellungsmitteln stehen sie in augenfälliger Tradition der pietistischen Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts.13 Das Fortbestehen solcher Traditionen würde aber niemanden auf den Gedanken bringen, das Zeitalter des Pietismus bis ins 20. Jahrhundert fortgesetzt zu sehen. Für eine plausible Endbegrenzung der Epoche muß wiederum ein wirkungsgeschichtlich-quantitatives Kriterium maßgeblich sein, also der Zeitpunkt bestimmt werden, zu dem der Pietismus aufgehört hat, eine in der Geistesgeschichte dominierende, unmittelbar initiatorisch wirkmächtige Signatur seiner Zeit darzustellen. 12 Martin Schmidt hat seinen Abriß der Geschichte des Pietismus überblicksartig bis ins 20. Jahrhundert ausgezogen (Schmidt: Pietismus, Stuttgart 1972 [Urban-Tb. Bd. 145], S. 7, 143–160), wobei er allerdings eine systematische Charakterisierung gegenwärtig fortwirkender pietistischer Gruppierungen, ihrer Theologie und Literatur nicht unternommen hat. Vorzustellen wären dabei außer klar umreißbaren, in durchgängiger Organisationstradition stehenden Gruppen wie den Herrnhutern, den Missions- und Bibelgesellschaften v. a. einige Freikirchen und die in den Volkskirchen gruppenmäßig nicht exakt abhebbaren Bekenntnis-, Evangelisations- und Gemeinschaftsbewegungen gewesen wie etwa die der modernen Theologie kritisch gegenüberstehende Richtung „Kein ander Evangelium“, die in der kirchenpolitischen Berichterstattung der Tagespresse als „pietistisch“ oder (wegen ihrer theologischen Kampfesfreudigkeit) – journalistisch-griffig – als „Pietcong“ bezeichnet zu werden pflegt. Einige programmatische Selbstäußerungen, die aber historische wie organisatorische Zusammenhänge größtenteils unerörtert lassen, bringen z. B. Aufsätze in den Sammelbänden: Die bleibende Bedeutung des Pietismus. Zur 250-Jahrfeier der von Cansteinschen Bibelanstalt. Hg. von Oskar Söhngen, Witten 1960 und: Theologie und Pietismus. Lebensberichte und Aufsätze. Hg. von Hans Kirchhoff, Neukirchen 1961. 13 In der von Otto Weber und Erich Beyreuther herausgegebenen Anthologie: Die Stimme der Stillen. Ein Buch zur Besinnung aus dem Zeugnis von Pietismus und Erweckungsbewegung, Neukirchen 1959, sind Texte aus verschiedenen von pietistischem Geist geformten Gruppierungen vom frühen 17. bis zum 20. Jahrhundert, überwiegend aus der Erbauungsliteratur, zusammengestellt. Als Beleg für die Konstanz der Gattungen pietistischer Gebrauchsliteratur sei eine Notiz aus der ,Frankfurter Allgemeinen Zeitung‘ vom 17. 7. 1976 (Nr. 155, S. 21) zitiert: „Langzeit-Bestseller Herrnhuter Losungen. Das von der evangelischen Brüderunität in Herrnhut und Bad Boll herausgegebene Losungsbuch mit Bibeltexten und Gebetsversen für jeden Tag ist jetzt vom Fachmagazin ,Buchreport‘ als Spitzenreiter aller Langzeit-Bestseller ermittelt worden. Das seit nahezu zweieinhalb Jahrhunderten erscheinende unscheinbare Bändchen, das in seiner Ausgabe für 1976 rund 200 Seiten umfaßt, wurde in 24 Sprachen übersetzt und erreichte eine Gesamtauflage von über 30 Millionen.“
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Die ungefähre Mitte des 18. Jahrhunderts wird in den meisten Arbeiten durchaus überzeugend als Phase eines deutlichen Erlahmens der expansiven, innovatorischen Kraft des Pietismus angesprochen.14 Bis zu diesem Zeitpunkt war die starr-dogmatische Orthodoxie weitgehend niedergerungen. Der geistige Führungsanspruch zwischen den anfänglichen Kampfgenossen und späteren Widersachern, Pietismus und Aufklärung, war weitgehend zugunsten der letzteren entschieden. In zahlreichen Territorien hatte sich der Pietismus wie in Brandenburg-Preußen zur kaum mehr legitimationspflichtigen Staatsreligion domestizieren lassen oder war wie in Württemberg in volkskirchlichem Andachtsbetrieb versunken. Damit aber war er weitgehend selbst zu einer geistigen Enge degeneriert, die der seiner letzten orthodoxen Gegner mit ihrer Dogmengläubigkeit und sinnentleerten liturgischen Konvenienz nicht mehr nachstand. Die Schärfe der reformatorischen Emphase, die breitenwirksame ethische Erneuerungskraft, die der Pietismus weit über den religiösen Bereich hinaus zu entfalten vermocht hatte, war fast überall gebrochen. Pietistische und orthodoxe Tendenzen verschmolzen in gemeinsamer Gegnerschaft gegen den Rationalismus in der „neologischen“ Theologie und Philosophie immer mehr zu einem untrennbaren Amalgam.15 Ein epochemachendes Ereignis, das diesen Niedergang des Pietismus ebenso deutlich markierte wie die Gründung der Collegia Pietatis seinen Anfang, gibt es nicht – es sei denn, man sähe den triumphalen Wiedereinzug des Aufklärers Christian Wolff 1740 in die Universität Halle, aus der er 20 Jahre früher durch pietistische Rankünen vertrieben worden war, oder den ebenfalls 1740 erfolgten Thronwechsel von pietistischen Preußenkönigen zu dem Rationalisten Friedrich II. als markante Indizien für das nahende Ende eines Zeitalters an.16 Die thetische und erbauliche Literatur, die mit vergleichbaren Intentionen und Argumentationsmitteln die Tradition des Pietismus nach der Jahrhundertmitte fortgesetzt hat, sollte mithin als spätpietistisch bezeichnet und so vom Schrifttum der expandierenden Massenbewegung abgesetzt werden.17 14 Eine dem stimmenstarken Streit um die „Anfänge des Pietismus“ analoge Auseinandersetzung über eine epochenbeschließende historische Grenzziehung ist nie geführt worden. Unstrittig ist aber in den kirchen- und geistesgeschichtlichen Darstellungen, daß der Pietismus bald nach der Mitte des 18. Jahrhunderts seine das Zeitalter dominierend mitbestimmende Prägekraft verloren hat. 15 Das Ergebnis haben Ernst Troeltsch: Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit. In: Die Kultur der Gegenwart. Hg. von Paul Hinneberg. Teil I, Abt. 4: Die christliche Religion, Berlin – Leipzig 1905, S. 421 und J[ohannes] Jüngst: Pietisten, Tübingen 1906 (Religionsgeschichtliche Volksbücher. IV. Reihe, Heft 1), S. 77 als „pietistische Orthodoxie“ bzw. „pietistische Neuorthodoxie“ bezeichnet. 16 In diesem Sinne hat schon Jean Marie Carr8: Le Pi8tisme de Halle et la philosophie des lumiHres (1690–1750). In: R8vue de synthHse historique. Bd. 75 (NS Bd. I), Paris 1913, S. 279–308 diese Ereignisse interpretiert, vgl. bes. S. 299, 303 f. 17 Der Begriff „Spätpietismus“ z. B. bei Schmidt: Pietismus (wie Anm. 12), S. 151; Langen: Wortschatz (wie Anm. 10), S. 12, 18, 451. Zugleich Überblick, Hinweis auf das bestehende
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Diese kategoriale Unterscheidung erscheint für literaturgeschichtliche Arbeiten besonders notwendig. Denn die Autoren, die nach der Jahrhundertmitte ihre schriftstellerische Arbeit noch dezidiert in den Dienst der Ausbreitung eines pietistisch verstandenen christlichen Ethos gestellt haben, sind in ihrem Schaffen meist bereits von den zum Sturm und Drang hinführenden poetologischen Entwicklungen beeinflußt, die selbst einen Teil ihrer Ausdrucksmöglichkeiten aus der säkularisierenden Transformation pietistischer Anregungen bezogen haben. Insofern sind die Äußerungen von Spätpietisten, die bereits mit den Dichtern der Geniezeit in Berührung geraten sind, wie Lavater oder Jung-Stilling, in vielen Zügen nicht mehr arglos als Belege für Form, Ideengut und Lexik pietistischer Literatur verwendbar, will man nicht Zirkelschlüssen über geistes- und sprachgeschichtliche Abhängigkeiten aufsitzen. Wohl müssen Geniezeit und Vorromantik in wesentlichen Momenten aus ihrem historischen Folgeverhältnis zum Pietismus verstanden werden; die Spätpietisten sind aber nicht mehr als deren Vorläufer anzusehen, sondern als bereits zugehörig zu dieser jüngeren, von neuen Erfahrungen geprägten und weitgehend in anderen Zungen redenden Generation. Die breitenwirksame Neubelebung pietistischen Geists im frühen 19. Jahrhundert – in Deutschland einerseits eine nationalreligiös-reaktionäre Parallelerscheinung zur politischen Restauration nach den Napoleonischen Kriegen, andererseits aber auch die Grundlage für das Entstehen zahlreicher auf sozialpolitischem Gebiet zukunftweisender Organisationen – wird in der Kirchengeschichtsschreibung meist als „Erweckungsbewegung“ gekennzeichnet.18 Der Begriff empfiehlt sich auch für die literarhistorische Einordnung des überreichen Schrifttums dieser Provenienz.19 Die ErweckungsbeForschungsdefizit und Information über die Forschungsliteratur bietet der Aufsatz von Martin Brecht: Der Spätpietismus – ein vergessenes oder vernachlässigtes Kapitel der protestantischen Kirchengeschichte. In: Pietismus und Neuzeit 10 (1984), S. 124–151. 18 Vgl. den gut informierenden, auch die zahlreichen Verbindungen zur Literatur- und Philosophiegeschichte der deutschen Romantik und Nachromantik beleuchtenden Artikel über die internationale „Erweckungsbewegung im 19. Jahrhundert“ von Erich Beyreuther in der RGG (3. Aufl., Bd. 2, 1958, für die Entwicklung in Deutschland bes. Sp. 623–629); ausführlicher ders.: Die Erweckungsbewegung, Göttingen 1963 (Die Kirche in ihrer Geschichte. Bd. 4, Lief. R. 1), S. R1–R48, zur deutschen Erweckungsbewegung S. R22–R45. – Auf die traditionsgeschichtlichen Zusammenhänge zwischen Spätpietismus und Erweckungsbewegung weist nachdrücklich hin: Dieter Narr : Berührung von Aufklärung und Pietismus im Württemberg des 18. Jahrhunderts. In: Blätter für württembergische Kirchengeschichte. Jg. 66/67, Stuttgart 1967, S. 265 f. Vgl. ferner Martin Schmidt: Pietismus (wie Anm. 12), S. 143–160. – Anthologie charakteristischer Quellen: Die Erweckungsbewegungen im 19. Jahrhundert. Hg. von Walter Wendland, Frankfurt/Main 1926 (Kirchengeschichtliche Quellenhefte. H. 24). 19 Zu seiner geistesgeschichtlichen Konzeption vgl. Wilhelm Lütgert: Die Religion des deutschen Idealismus und ihr Ende. Zweiter Teil: Idealismus und Erweckungsbewegung im Kampf und im Bund, Gütersloh 1923 (Beiträge zur Förderung christlicher Theologie. R. II, Bd. 5), bes. Kap. 2: „Die Berührungen zwischen Erweckungsbewegung und Idealismus“. – Der Terminus scheint mir weniger durch Fehlkonnotationen belastet, als der von August Langen (Wortschatz, wie Anm. 10, S. 12) gelegentlich verwendete eines „Biedermeierpietismus“. Die Literatur der Er-
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wegung hat in grundlegend veränderten historischen Konstellationen ihren Ursprung als der Pietismus und ist durch andere Erscheinungsformen gekennzeichnet. Sie markiert den Anfang der unabgeschlossenen Geschichte dessen, was Kirchen- und Literarhistoriker als „Neupietismus“ bezeichnen und damit begrifflich sinnvoll von dem nur partiell verwandten, geistes-, literatur- und sprachgeschichtlich ungleich wirkungsreicheren älteren Pietismus trennen.20 Es läßt sich also resümieren: Der Begriff ,Pietismus‘ sollte in der literaturwissenschaftlichen wie in der kirchengeschichtlichen Forschung als eine historisch definierte Kategorie zur Bezeichnung der innerprotestantischen religiösen Erneuerungsbewegung vom Schlußdrittel des 17. Jahrhunderts bis in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts verwendet werden. Als der Zeitraum der größten allgemeinpolitischen und auch speziell literaturgeschichtlichen Breitenwirkung ist das reichliche halbe Jahrhundert von den 1690er bis zu den 1750er Jahren anzusprechen. (Es sind dies eben die Jahrzehnte, in denen die Historie Der Wiedergebohrnen entstand und in sechsfach wiederholter Auflage beständig erweitert den Weg zu ihren Lesern fand.)
2. „Pietismus“ – Zur Frage der Einheitlichkeit der facettenreichen Gesamtbewegung. Kriterien einer operationalen Begriffsverwendung Eine andere Frage ist es, inwiefern die so historisch eingegrenzte, trotz unterschiedlicher in ihr zutage tretender Strömungen und Tendenzen in der weckungsbewegung, ihre Voraussetzungen und allgemeineren Wirkungen in der Dichtungsund Ideologiegeschichte des 19. Jahrhunderts sind von der Germanistik noch kaum in den Blick genommen. 20 Der Begriff „Neupietismus“ z. B. bei Schmidt: Pietismus (wie Anm. 12), S. 11, 156 u. ö. Eine sorgfältige Fallstudie zu Voraussetzungen, Theologie, Struktur und Sprache des neupietistischen Evangelisationsschrifttums unserer Tage gibt die Marburger theologische Dissertation von Holm Dieter Roch: Naive Frömmigkeit der Gegenwart. Eine kritische Untersuchung der Schriften Werner Heukelbachs, Marburg 1969 (Schriften des Instituts für wissenschaftliche Irenik der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt am Main. Bd. 11). Leider ist der darin betonte exemplarische Charakter der Untersuchungen für den „erwecklichen Jargon“ (S. 97 und 138) evangelisatorischer Sondersprache nicht durch Vergleichsanalysen erwiesen. Auch fehlen diachronische Vergleiche, die das Ausmaß an historischen Präformierungen im Argumentationshaushalt und in den Sprachmitteln dieser Literatur erkunden könnten. Angesichts verwandter Stilisierung und gleichartiger Funktion der häufigen psychographischautopsychographischen Bekehrungsgeschichten (S. 20 f., 124 f., 139 f.) sowie partiell gleicher charakteristischer Wortfelder des Herzens (S. 114 f.), der Wiedergeburt (S. 106 f.) und des Durchbruchs durch die enge Pforte (der zum gleichen perinatalen Metaphernsystem gehört; S. 110 f.), erscheint Rochs These (S. 112) fragwürdig, die Verwandtschaft dieser Literatur mit der der Erweckungsbewegung sei „eng“, mit der des Pietismus hingegen „äußerst gering“.
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Terminologische und historische Eingrenzungen
Forschung gemeinhin als Komplex begriffene Erscheinung überhaupt als eine Einheit gesehen werden kann, die die Zuwendung eines umfassenden Sammelbegriffs rechtfertigt. Daß es keinen in all seinen Kennzeichen mustergültig exemplarischen „Normalpietismus“ gebe, der einen sicheren inhaltlichen Maßstab auch für die Zuordnung oder Ausgrenzung von biographischen, theologischen oder literarischen Grenzfällen böte, ist wiederholt hervorgehoben worden.21 Aus den Divergenzen in manchen theologischen Positionen, territorialen und sozialen Ausprägungen sowie individuell-habituellen oder literarischen Äußerungsformen des Pietismus, vor allem aber aus krassen Unstimmigkeiten, die sich im Vergleich verschiedener geistesgeschichtlicher Charakterisierungen dieser Bewegung aufdrängen, haben zwei französische Germanisten in jüngerer Zeit sogar den Schluß gezogen, daß es eine durch charakteristische einheitliche Momente zusammengeschlossene Strömung „Pietismus“ im 17. und 18. Jahrhundert überhaupt nicht gegeben habe. Als solche habe man höchst uneinheitliche und widersprüchliche religionsgeschichtliche Tendenzen mittels eines geschichtsfernen Konstrukts erst im 19. Jahrhundert zusammengebunden und mit einem Einheitsbegriff etikettiert. Für was drein geht und nicht drein geht Ein prächtig Wort zu Diensten steht.22
[Faust, Vs. 1952 f.]
Dieser kühnen Hypothese steht nun allerdings der eindeutige Befund eines erdrückenden Quellenmaterials namentlich in den polemischen und apologetischen theologischen Schriften des späten 17. und frühen 18. Jahrhunderts 21 Dieser Befund ist schon zugespitzt formuliert bei J[ohannes] Jüngst: Pietisten (wie Anm. 15), S. 8. Vgl. z. B. Sperber: Der Einfluß des Pietismus (wie Anm. 10), S. 499; Schmidt: Pietismus, 1972 (wie Anm. 12), S. 160 f. Martin Greschat bezeichnet 1977 in seiner Einleitung zum Sammelband „Zur neueren Pietismusforschung“ (wie Anm. 4) die Einsicht, „daß es den Pietismus, auch den lutherischen Pietismus, nie gegeben hat“ als opinio communis heutiger Forschung. – Zur Diskussion der in der Kirchengeschichtsforschung exponiertesten Zuordnungs- bzw. Ausgrenzungsmodelle vgl. Schneider: Der radikale Pietismus (wie Anm. 3), Bd. 8, 1982, S. 21–31. 22 Die Hypothese ist zuerst in der Monographie von Jean Baptiste Neveux vorgetragen worden: Vie spirituelle et vie sociale entre Rhin et Baltique au XVIIe siHcle de J. Arndt / P. J. Spener, Paris 1967. Neveux hält die Vorstellung vom Pietismus als einer einheitlichen Gesamterscheinung für eine im Nachhinein geschaffene verzerrende Konstruktion und spricht deshalb (S. XXXII) von einem „mythe du pi8tisme au sens oF il s’agit bien d’un ph8nomHne complexe n8 de la volont8 d’affirmer / une certaine 8poque une originalit8 difficile / manifester dans les faits.“ – Die Hypothese vom Pietismus als einer tendenziösen Geschichtslüge aus dem Geist des 19. Jahrhunderts hat Michel Godfroid aufgegriffen und im ganzen zu bestätigen versucht: Le pi8tisme allemand a-t-il exist8? Histoire d’un concept fait pour la pol8mique. In: Etudes Germaniques 26 (1971), S. 32–45, neuerdings, übersetzt von Hartmut Köhler, auch in Greschats Sammelband „Zur neueren Pietismusforschung“ (wie Anm. 4), S. 91–110: Gab es den deutschen Pietismus? Geschichte eines zur Polemik geschaffenen Begriffs.
Pietismus – Radikalpietismus – philadelphische Bewegung
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unvereinbar entgegen.23 Denn die „Erweckten“ wußten über alle Auffassungsunterschiede und sogar internen Konflikte hinweg – ebenso wie ihre orthodoxen Gegner – sehr wohl, wer unter die pietistischen Brüder zu zählen war und wer nicht. Das schloß freilich Binnendifferenzierungen nicht aus. Seit 1711 hat der über plumpe Taktiken pauschaler Verdächtigungen und Verketzerungen weitgehend erhabene intellektuelle Führer der orthodoxen Partei, Valentin Ernst Löscher, die Pietisten wiederholt in drei Klassen unterschiedlicher Radikalität abgeteilt: Zu den ersten gehören die groben Pietisten / bey welchen der absorptivus Pietismus klar zu spüren ist / und welche sonst Hyper-Pietisten genennet werden / als G. Arnold / Hr. J.W. Petersen / J.C. Dippel […] J.H. Reitz / H. Horchius, und andere dergleichen. In der andern Classe stehen die Mittel=Pietisten oder Speneriani, und in der dritten die Crypto-Pietistae, die zum wenigsten nicht zulassen wollten / daß man wieder den Pietismum zeuge.24 23 Völlig zu Recht konstatiert Hans Schneider: Der radikale Pietismus (wie Anm. 3). Bd. 9, 1983, S. 132: „Der unabweisbare Eindruck der Zusammengehörigkeit der gesamten pietistischen Bewegung ist eine Beobachtung, die sich beim Studium pietistischer Quellen aufdrängt.“ Mustergültig deutlich wird das ausgeprägte Bewußtsein von der Zusammengehörigkeit aller Pietisten als einer über alle Schattierungen hinweg in wesentlichen Belangen und in der gemeinsamen Frontstellung gegen Orthodoxie und Gewohnheitschristentum intentionsverwandten Einheit bei einer Durchsicht der 560 Streitschriften und Traktate um den Pietismus, vornehmlich aus den 1690er Jahren, die als „Acta Pietistica“ (Sammelbezeichnung durch ihren Stifter, den Freiherrn Joachim Heinrich von Bülow, 1650–1724) in 12 voluminösen Quartanten in der SUB Göttingen stehen [88 Theol.pol. 184/1:1–12]. – Der gleiche Befund ergibt sich ebenso einhellig aus den im 18. Jahrhundert erscheinenden pietistischen Zeitschriften und orthodoxen Rezensionsorganen und Kirchengeschichten. 24 Valentin Ernst Löscher: Vollständiger Timotheus Verinus. 2. Teil, Wittenberg 1721, S. 72 f. – Ganz entsprechend hatte Löscher diesen Gedanken schon in den „Unschuldigen Nachrichten […] Auf das Jahr 1711“, S. 711 f. ausgeführt und daran die Bemerkung geknüpft: „Unter diesen 3. Classen findet sich nun diese unglückliche Connexion, daß / obwohl die Gelindern ein oder das andere mahl scheinen denen Gröbern abzulegen / so entschuldigen und recommendiren sie doch dieselben anderweit desto häuffiger. […] Ob man nun wohl die aus der andern / und sonderlich aus der dritten Ordnung gelinder tractiren muß / als die aus der ersten / wo würde man sich doch an GOtt und der Kirche versündigen / wenn man sie gestalten Sachen mit dem Elencho gantz verschonen wolte.“ (S. 712) – Eine ähnliche Stufenleiter, die allerdings umgekehrt mit dem kirchlichen Pietismus Spenerscher Spielart beginnt und zu Erscheinungsformen gesteigerter Radikalität fortführt, übernimmt auch ein in der Wahl seiner polemischen Mittel weniger zimperlicher „Orthodoxophilus“, der mit dem Pietismus in einem AlexandrinerLehrgedicht abrechnet, weil er hofft, durch die „Anmut“ der poetischen Form mehr Leser ansprechen und sie zugleich von der „Lesung nur lustiger / und wohl gar unnützlicher Historien / ja offt ärgerlicher Romainen“ abziehen zu können: „Die Ersten sind durchaus nach Speners Sinn gericht / Die Andern können nichts als ihre Zunge schärffen / Und wo Spenerus ja noch manchmahl leidlich spricht / So wollen sie das Kind gar aus dem Bade werffen. Die dritten aber führt der schwarze Höllen=Geist Mit Arnold / Petersen und Dippeln zum Verkehren / So gar / daß Zion nur ein Babel ihnen heist /
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Terminologische und historische Eingrenzungen
Zwar ist angesichts der Ungereimtheiten in einigen der Forschungsbeiträge und Kurzcharakteristiken, die Michel Godfroid auf der Suche nach dem Pietismus vergleichend herangezogen hat, sein Vorwurf nicht leicht von der Hand zu weisen, „que le pi8tisme est un concept vague et confus, mal d8fini tant pour la compr8hension que pour l’extension“.25 Aber daß das, was schon die Betroffenen und ihre Zeitgenossen als einheitliche Strömung mit grundsätzlich gleicher religiöser Zielsetzung, starkem Zusammengehörigkeitsbewußtsein und eng verwandten Äußerungsformen erkannt haben, sich in der Stellungnahme zu Einzelproblemen in verschiedene Facetten mit durchaus unterschiedlichen Wirkungsenergien differenzieren läßt, sollte nicht dazu führen, den operationalen Sammelbegriff ,Pietismus‘ über Bord zu werfen oder ihn so offen und inhaltsleer zu verwenden, wie Godfroid ihn am Ende faßt: als Summe der gesamten Vielfalt von Reaktionen des modernen Protestantismus dreier Jahrhunderte angesichts der „d8sacralisation du monde“.26 Eine Reihe von systematisch unvereinbaren Widersprüchen, die Godfroid scharfsinnig herausgearbeitet hat, kennzeichnen eben die Spannbreite dieser Bewegung, die sich ja nicht wie eine philosophische Schule auf der Grundlage eines logisch konsistenten Systems gebildet hat. Sie hat zugleich, oft sogar verquickt im Werk einzelner ihrer Vertreter, einerseits die Reformation vollenden wollen, sich andererseits mit einer Orientierung an der Urkirche manchen Theologemen und gewachsenen Traditionen des Protestantismus entgegengestellt. Sie hat mit ihrem Verlangen nach christlicher Lebenspraxis und persönlicher Erweckung zugleich Gemeinschaftsbildung und Individualisierung gefördert, zugleich perfektionistischen Eifer und passivische Mystik, zugleich Biblizismus und schriftferne Inspiration und Spekulation hervorgerufen. Sie war literarisch weitgehend epigonal und hat gleichwohl literarisch gewirkt, konnte nach Maßgabe regional unterschiedlicher Verhältnisse zugleich preußischen Untertanengeist und württembergisches Jakobinertum vorbereiten helfen. Bei Aussagen über dominante Kennzeichen oder individuelle Besonderheiten, besonders über spezifische Wirkungen, wird man so nie um gehörige, die jeweiligen Zusammenhänge klärende historische und Und sie dahero nichts als Teuffeley gebähren. Die führen ungescheut Fanaticismum ein / Und wollen jeden Schwarm zu Glaubens=Brüdern haben […].“ Idea Pietismi Oder Kurtzer Entwurff Von der Pietisten Ursprung Lehr und Glauben Durch ein Send=Schreiben in gebundener Rede gezeiget von Orthodoxophilo, Frankfurt – Leipzig, 2. Aufl. 1714, S. 11 f., vgl. S. (VI). Als Verfasser dieser erstmals 1712 publizierten Schrift hat Max Wieser : Der sentimentale Mensch, Gotha – Stuttgart 1924, S. 264, den streitbaren orthodoxen Theologen und Kirchenlieddichter Erdmann Neumeister benannt, ohne diese Zuweisung zu belegen. Die Datierung der Vorrede „Lichtenberg / d. 12. Mart. 1712“ spricht dagegen, denn von 1706 bis 1715 wirkte Neumeister als Superintendent in Sorau unter exponiert pietistischer Herrschaft und hatte noch nicht begonnen, seinen Verteidigungskampf gegen die Pietisten in Streitschriften auszutragen. 25 Godfroid: Le pietisme (wie Anm. 22), S. 34. 26 Ebd., S. 44 f.
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begriffliche Binnendifferenzierungen herumkommen – auch dies ein Faktum, das andere Epochenbegriffe mit dem des Pietismus gemein haben. Es ist nun keineswegs meine Absicht, die lange Reihe der Bemühungen um eine Zusammenstellung der dominanten, in ihrer Gesamtheit offenkundig einheitsstiftenden Kennzeichen pietistischer Theologeme und Argumente durch einen neuen Systematisierungsversuch zu verlängern. Auch soll hier nicht ein erneuter Überblick über geschichtliche Entwicklung und führende Gestalten, regionale Zentren und Sondertraditionen dieser Bewegung versucht werden. Über den Grundbestand einiger Theologeme hinaus erscheint für germanistische Arbeiten zunächst ein Zuordnungskriterium von besonderem Belang, auf das Wolfgang Schmitt in seiner Arbeit über Die pietistische Kritik der „Künste“ schon beispielhaft hingewiesen hat.27 Es ist die Teilhabe aller Pietisten an einer gegenüber den Nichtpietisten der gleichen Zeit im allgemeinen charakteristisch abgrenzenden Sondersprache, das konsistente System ihrer literarischen Vorbilder und Referenzen und die daraus folgende relative Geschlossenheit der ihre Literaturproduktion und -rezeption steuernden Wert- und Verhaltensnormen. So kennzeichnend diese Gemeinsamkeit der Vorbilder, der beständig in unterschiedlicher Intensität aktualisierten Argumentations- und Sprachmuster auch ist, reicht sie doch nicht in jedem Fall für eine klare Entscheidung aus, ob ein spezieller Autor oder Text dem Pietismus zugeschrieben werden kann. Denn stärker z. B. als bei dem zu trockener Gelehrsamkeitsäußerung neigenden Spener-Schüler und FranckeIntimus Joachim Justus Breithaupt sind in den Liedern und Erbauungsschriften etwa des Reformorthodoxen Heinrich Müller und selbst des aus pietistischer Frömmigkeit herkommenden antipietistischen Streiters Erdmann Neumeister spezifische Elemente derselben Erweckungstheologie und Frömmigkeitssprache bestimmend, die auch dem pietistischen Wortschatz zugrunde liegen.28 Ein, wie mir scheint, besonders wichtiges komplementäres Indiz für die im Grenzfall rein systematisch-theologisch kaum eindeutig zu beantwortende Fragen nach der Zugehörigkeit einzelner Gruppen, Personen oder literarischer Zeugnisse zum Pietismus hat der Historiker Hartmut Lehmann herausgestellt.29 Insofern nämlich die pietistische Theologie trotz ihrer zu allen Zeiten augenfälligen Unterschiedlichkeit „von den theologischen Lehren des übrigen Protestantismus“ „nie zu einem geschlossenen, von allen pietisti27 Schmitt: Die pietistische Kritik der Künste (wie Anm. 8), v. a. S. 12 f. 28 Vgl. z. B. die durch eine kenntnisreiche (auch sprachanalytische Fragen erörternde) Einleitung eröffnete Müller-Anthologie Rudolf Mohrs: Heinrich Müller : Gott ist mein Gut. Eine Auswahl aus den Geistlichen Erquickstunden, Stuttgart 1964 (Steinkopfs Hausbücherei, Bd. 31). Zu Neumeister vgl. Anm. 24. 29 Lehmann: Zur Definition des ,Pietismus‘. In: Zur neueren Pietismusforschung (wie Anm. 4), S. 82–90. (Ausschnitt aus Lehmanns Monographie: Pietismus und weltliche Ordnung in Württemberg, Stuttgart 1969, S. 14–19).
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schen Richtungen in allen Punkten anerkannten System ausgebaut“ wurde, führen sekundäre wissenschaftliche Zuordnungsentscheidungen, die „dem Pietismus eine enge theologische Definition zugrunde“ legen, notwendig zu dem den überlieferten Selbsteinschätzungen und Bekundungen von Zeitgenossen häufig widerstreitenden Versuch, „alle möglichen Spielarten als nichtpietistisch vom Pietismus zu trennen“. Lehmann plädiert deshalb dafür, bei der Zuweisung oder Ausgrenzung eher vom überlieferten historischen Bewußtseinsstand als von abstrakten, etwa den Äußerungen Speners oder der Hallenser entlehnten theologischen Maximen auszugehen, die oft schon bei den zur gleichen Gruppe gehörigen Patriarchen des Pietismus nur mehr modifiziert wiedererkennbar sind. Wesentliches Kriterium wäre die Eingebundenheit nicht nur in die gleiche geistesgeschichtliche Tradition, sondern auch in das soziale Kontaktsystem des Pietismus, letztlich die Frage, ob man sich aktiv zur pietistischen Partei hielt und von Gegnern und Freunden als ein Bruder unter den Brüdern angesehen wurde: Pietist war noch nicht, wer sittsam lebte und sich als Wiedergeborener betrachtete, sondern nur, wer auch von den Mitgliedern eines Konventikels als „Bruder“ bezeichnet und als Wiedergeborener akzeptiert wurde. […] Die Anrede „Bruder“ bezeichnete die Seelengemeinschaft der Erweckten und wurde in verschiedenen Gesellschaftsschichten benützt, von norddeutschen Adligen so gut wie von schwäbischen Bauern. Bruder war jedoch nicht nur das Mitglied des eigenen Konventikels, sondern auch das Mitglied in einem anderen Konventikel. Die religiösen Privatversammlungen waren zu manchen Zeiten und in manchen Gegenden sehr verbreitet, und ihre Mitglieder pflegten – durch Briefe und Besuche – so engen Kontakt, daß sich ihre Verbindungen wie ein Netz über die ganze Gesellschaft spannten. Dadurch entstanden vertrauensvolle Beziehungen zwischen weit entfernt lebenden Brüdern […]. Sie lebten in dem Bewußtsein, sich in Lebenswandel und Glauben von der Welt abgesondert zu haben, und hatten den festen Willen, sich auch künftig von der Masse der lauen Gelegenheitschristen, der Kirche und den anderen Formen des öffentlichen Lebens zu unterscheiden. Diese Sonderstellung, die von Gegnern des Pietismus als Heuchelei und Hochmut gebrandmarkt wird, drückte sich in manchen Zeiten sogar in ihrem Auftreten und in ihrer Kleidung aus.30
Der hier angesprochene, natürlich im gemeinsamen religiösen Wollen und gemeinsamen Argumentationsrepertoire begründete Zusammenhalt der gesamten pietistischen Partei, der Korpsgeist, mit dem sie sich als spirituell verbundene Gemeinschaft der Wiedergeborenen über alle Auffassungsunterschiede im Detail hinweg gegenüber den Nicht-Brüdern, den Indifferenten wie den Gegnern abgrenzten und untereinander zusammengehörig fühlten, 30 Lehmann, ebd., S. 85 f., vgl. die auch inhaltlichen Bestimmungen dieser pietistischen („subkulturellen“ bzw. richtiger „kontrakulturellen“) Übereinkunft bei Martin Scharfe: Die Religion des Volkes. Kleine Kultur- und Sozialgeschichte des Pietismus, Gütersloh 1980, v. a. S. 25 f., 54 und 67.
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ist ein aus den überlieferten Quellen bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts in allen Bereichen deutlich ins Auge fallender Tatbestand. Das die einzelnen durch besondere Meinungen und Formen der Religionsübung getrennten Gruppen und Individuen umfassende geschlossene Kontakt- und Kommunikationssystem, das den Pietismus einigt, wird auch in den Zeugnissen und Belegen, die meine hier vorgelegten Untersuchungen zu reflektieren haben, durchgängig erkennbar. Erst um die Mitte des 18. Jahrhunderts, als sich die unversöhnliche Abgrenzung zwischen den Lagern des Pietismus und der Orthodoxie bereits zugunsten auskömmlicherer Formen des Miteinander aufzulösen begann, entstanden im Familienstreit zwischen pietistisch orientierten Gruppen mancherorts gelegentlich frontenübergreifende Zweckbündnisse zwischen Pietisten und Orthodoxen – besonders zur Abwehr des als spalterisch-aggressiv und ordnungsgefährdend empfundenen exklusiven Missionseifers und Repräsentationsgebarens der Herrnhuter Brüdergemeine.31 Ungeachtet aller punktueller Streitigkeiten und aller Bemühungen um klare gruppenspezifische Abgrenzungen bleibt aber das Bewußtsein übergeordneter theologischer, sprachlicher und habitueller Gemeinsamkeit gegenüber den Nichtpietisten auch im Spät- und Neupietismus erhalten. Diese Erkenntnis spricht dafür, „Pietismus“ nicht ausschließlich als einen abstrakttheologisch definierten, sondern umfassender als einen sozialhistorisch fundierten, also in jedem Einzelfall auf den empirischen Befund des Quellenmaterials gegründeten Sammelbegriff zu verwenden.
3. „Radikalpietismus“ – Rechtfertigung des Begriffs; Zugehörigkeit zum Pietismus und Eigentraditionen Im Aufriß der Forschungsdesiderate in meiner Monographie Literaturproduktion und Büchermarkt des radikalen Pietismus (Kap. 1,4) habe ich zu begründen versucht, wieso der bisher weitgehend vernachlässigte Bereich des Radikalpietismus gerade für die Ermittlung der charakteristischen Sondertraditionen, der innovatorischen und literaturgeschichtlich wirkungsvollen Kennzeichen der pietistischen Literatur besondere Einsicht verheißt. Meine Übernahme des in theologischen wie in germanistischen Arbeiten gleicher31 Belege für das Zusammenwirken hallisch orientierter Pietisten (wie des Grafen Christian Ernst zu Stolberg-Wernigerode und des Frankfurter Seniors Johann Philipp Fresenius) mit Sachwaltern orthodoxer Prinzipien (wie dem auf die absolute staatskirchenrechtliche Souveränität seines Landesherrn bedachten isenburg-büdingenschen Staatsrat Christoph Friedrich Brauer) im Abwehrkampf gegen die sich ebenso als Sonderkirche wie als Staat im Staate formierende Herrnhutergemeinde sind zusammengetragen bei Hans Schneider: Christoph Friedrich Brauer und das Ende des Herrnhaag. In: Nikolaus Ludwig von Zinzendorf. Materialien und Dokumente, Reihe II, Bd. 18, Hildesheim – New York 1978 (Antizinzendorfiana V), S. 1–123.
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maßen eingeführten Begriffs „Radikalpietismus“32 impliziert bereits eine Stellungnahme zu der in der Forschungsliteratur lange umstritten gewesenen Frage, inwieweit die theologisch radikaleren, z. T. offen separatistischen Geister, inwieweit die Spiritualisten, Mystiker und Eiferer gegen alle konfessionellen Bindungen im ausgehenden 17. und im 18. Jahrhundert überhaupt legitimerweise dem Pietismus zuzuordnen sind. Daß der kirchenfromme Pietismus der Spener-Franckeschen Schule von gleichzeitigen separatistischen und, wie sie häufig apostrophiert werden, ungesunden, schwärmerischen, fanatischen, zerstörerischen Erscheinungen strikt getrennt gesehen werden müsse, daß die letzteren kein Bestandteil der pietistischen Bewegung gewesen seien, ist in der von pietistischem Geist geformten apologetischen Kirchengeschichtsschreibung bzw. Traditionsbesinnung geradezu beschwörend wiederholt worden. Das mag aus naheliegenden Berührungsängsten gegenüber Tendenzen erklärbar sein, von denen man fürchtete, sie könnten den Pietismus insgesamt in Mißkredit bringen und Zweifel an seiner konfessionellen Rechtgläubigkeit nähren.33 Eine klare Grenzziehung zwischen dem Pietismus und den pneumatisch-spekulativen, außer- oder gar gegenkirchlichen Geistern derselben Zeit wurde aber auch mit wissenschaftlich-systematischen Argumenten, nämlich mit der Begründung gefordert, beide Richtungen seien aus grundlegend anderen Traditionen erwachsen und infolgedessen in ihrem Ideengut deutlich unterschieden. Wohl am energischsten hat diese Forderung Rolf Christian Zimmermann vertreten, der im 1969 publizierten 1. Band seiner germanistischen Habilitationsschrift über Das Weltbild des jungen Goethe einen ungemein kenntnis- und materialreichen Beitrag zur Traditionsgeschichte hermetischer und pansophischer Ideen im deutschen 18. Jahrhundert vorgelegt hat. Die spekulativen Theologeme und Weltdeutungssysteme, das verbreitete Auftauchen eines „platonisch-hermetischen Christentums“ also, wie es die orthodoxen Widersacher 32 Der Begriff „Radikalpietismus“ oder „radikaler Pietismus“ ist in der theologischen Diskussion schon im 19. Jahrhundert verwendet worden (vgl. z. B. Wilhelm Bender: Johann Conrad Dippel, Bonn 1882, S. 12, 14 und ders.: Urkunden zur Geschichte des deutschen Pietismus […]. In: Theologische Arbeiten aus dem rheinischen wissenschaftlichen Prediger-Verein. Bd. 6, Bonn 1885, S. 35). Heute hat er sich als kirchengeschichtliche Sammelbezeichnung allgemein durchgesetzt, vgl. etwa das Kapitel „Der radikale Pietismus“ in Martin Schmidts Gesamtdarstellung: Pietismus (wie Anm. 12), S. 123–137 sowie die terminologischen Erörterungen bei Chauncey David Ensign: Radical German Pietism (c. 1675 – c. 1760), Diss. phil. [masch.] Boston 1955, S. 11 ff., 399 f. und besonders Hans Schneider: Der radikale Pietismus (wie Anm. 21), Bd. 8, 1982, S. 19 f., Bd. 9, 1983, S. 130–151. 33 Kirchenpolitisch motivierte Vorbehalte gegen traditionsgeschichtliche Bestimmungsversuche, die „mystisches und spiritualistisches Fremdgut“ als einen grundlegend wesentlichen Einflußfaktor für das Denken auch der kirchlichen Patriarchen des Pietismus namhaft machen, prägen noch die Sicht von Erich Beyreuther: Geschichte des Pietismus, Stuttgart 1978, vgl. v. a. das „Vorwort“, S. 10 und die nicht affektfreien „Schlußgedanken zur Pietismusforschung“, S. 347–350. Vgl. Hartmut Lehmanns Kritik der apologetischen Optik Beyreuthers in: Pietismus und Neuzeit 5 (1979), insbes. S. 238–241 und Schneider: Der radikale Pietismus (wie Anm. 21), Bd. 8, 1982, S. 15 f., 19.
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benannten und als besonders faule Frucht am Baum des Pietismus diagnostizierten,34 wollte Zimmermann als „ein geistesgeschichtliches Phänomen vor oder neben der Frömmigkeitsbewegung des Pietismus“ von dieser deutlich unterschieden wissen: So verbietet es sich, diese vom frühaufklärerischen Eklektizismus zu neuem Leben erweckten mystischen Traditionen, die dann während des ganzen 18. Jahrhunderts neben dem Pietismus herlaufen werden, diesem als einen deutschen „Radikalpietismus“ in die Schuhe zu schieben […]. Es handelt sich bei diesen Traditionen ihrem ganzen Wesen nach um philosophisches Treibgut, mit stark gemeinschaftsbildender Tendenz, das einmal – bei den Gläubigen – am christlich-konfessionellen Strand anlandet, das andere Mal – bei den Gebildeten – am philosophisch-säkularen. Es ist für ihr Wesen und ihre Verbreitung daher sekundär, daß im deutschen 18. Jahrhundert Geister, die dem pietistischen Frömmigkeitsideal nahestanden, zugleich das eine oder andere Philosophem dieser platonisch-hermetischen (oder böhmistischen) Tradition aufnahmen. Dadurch wird der Pietismus so wenig philosophisch und zum Geistesverwandten des sektiererischen Separatismus, wie dieser philosophische Separatismus wegen solcher Personalunionen gleich Radikalpietismus genannt werden dürfte. Die primäre, entscheidende Grenzlinie ist viel mehr die Separation, wie diese sich zwangsläufig aus der ganzen Tradition und dem ursprünglichen GeheimnisCharakter ihrer Philosopheme ergibt. […] So entpuppt sich der mystische Separatismus des deutschen 18. Jahrhunderts als die religiöse Spielart eines Separatismus, der einer viel älteren, nun bloß vom Eklektizismus wiederbelebten Tradition wesentlich und charakteristisch zugehört: jener […] hermetisch-platonischen.35
Schuld an der beklagten begrifflichen Grenzverwischung zwischen der kirchlichen Frömmigkeitsbewegung und den spekulativen separatistischen Geistern tragen nach Zimmermanns Auffassung die zeitgenössischen orthodoxen Glaubenswächter und dann besonders – „zum großen, langnachwir34 Vgl. die beiden Abhandlungen, die auf dem Höhepunkt des dogmatischen Streits um den Pietismus schon im Titel diese verketzernde Stoßrichtung zu erkennen geben, Ehregott Daniel Colberg: Das Platonisch=Hermetisches[!] Christenthum / Begreiffend Die Historische Erzehlung vom Ursprung und vielerley Secten der heutigen Fanatischen Theologie, unterm Namen der Parcelsisten / Weigelianer / Rosencreutzer / Quäcker / Böhmisten / Wiedertäuffer / Bourignisten / Labadisten und Quietisten, 2 Bde., Frankfurt – Leipzig 1690/91 sowie Friedrich Christian Bücher: Plato Mysticus in Pietista redivivus. Das ist: Pietistische Ubereinstimmung Mit der Heydnischen Philosophia Platonis Und seiner Nachfolger, Danzig 1699. – Die pietistische Abwehr dieses Angriffs erfolgte in einer von Spener programmatisch bevorworteten, im Halleschen Waisenhaus verlegten Schrift des Spiritualisten Balthasar Köpke: Sapientia Dei, In Mysterico crucis Christi abscondita. Die wahre Theologia mystica Oder ascetica […] In zwey Theil abgefasset […] Nebst Hrn. D. Phil. Jacob Speners Vorrede, Halle 1700. Vgl. Burkhard Weber : Zur Wirkungsgeschichte des Makarios bei Philipp Jacob Spener. In: MakariosSymposium über das Böse. Vorträge der Finnisch-Deutschen Theologentagung in Goslar 1980. Hg. von Werner Strothmann, Wiesbaden 1983 (Göttinger Orientforschungen. R. 1, Bd. 24), S. 226 f. 35 Rolf Christian Zimmermann: Das Weltbild des jungen Goethe. Studien zur hermetischen Tradition des deutschen 18. Jahrhunderts, Bd. 1: Elemente und Fundamente, München 1969, S. 25.
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kenden Schaden unseres Verständnisses des 18. Jahrhunderts“ – Albrecht Ritschls Geschichte des Pietismus, insofern sie nämlich gleichermaßen in polemischer Absicht Unzusammengehöriges gleichgesetzt und damit versucht hätten, „den Spenerischen Pietismus als eine neue Sekte zu verketzern, um ihn auf solche Weise billig wieder loszuwerden“.36 Für eine strikte kategoriale Sonderung von Pietismus und spekulativen, zur Separation neigenden Strömungen beruft sich Zimmermann auf Emanuel Hirsch, „der in seiner Geschichte der neuern evangelischen Theologie Pietismus und Separatismus wieder getrennt voneinander behandelt“.37 Nun hat Hirsch zwar beide Erscheinungen als eigenständige Traditionslinien vorgestellt, die Theologeme der radikalen Kirchenkritiker, die er in kaum aufrechtzuhaltender Simplifizierung einlinig auf die Vermittlungsinstanz Jacob Böhme zurückführt,38 aber gleichwohl als ein Randphänomen innerhalb der pietistischen Bewegung gesehen. Das macht schon seine – allerdings stark schwankende und entschiedene Zuweisungen bisweilen offenbar bewußt vermeidende – Terminologie deutlich, mit der er diese Gruppen benennt: Neben Begriffen, die die Frage des geistigen und personellen Zusammenhangs zum Pietismus unbezeichnet lassen wie „Radikalismus“ (S. 91, 208) oder „die aus dem kirchlichen Rahmen heraustretenden Bewegungen der pietistischen Zeit“ (S. 255), verwendet Hirsch in bezug auf dieselben Erscheinungen immer wieder Nomenklaturen, die sie als Teil der Gesamtrichtung ausweisen: „radikaler Pietismus“ (wiederholt auf den Seiten 208 f., 255, 277, 299) oder „pietistische Radikale“ (S. 226), „kirchenstürmerischer oder kirchenkritischer pietistischer Radikalismus“ (S. 238) oder „schwärmerischer Pietismus“ (S. 208, vgl. 201), schließlich „überkirchliche Pietisten“ (S. 274). Nicht als gegensätzlich zum Pietismus überhaupt stellt er sie also dar, sondern nur zu dessen dezidiert kirchlicher und innerhalb der Kirchen traditionsbildender Spielart. Eine solche Gegenüberstellung scheint unter systematischer, auf die Herausarbeitung theologischer Typen gerichteter Fragestellung durchaus berechtigt. Vom historischen Er36 Vgl. Zimmermanns umfängliche, auf das Problem des „Radikalpietismus“ bezogene Anmerkung S. 292–295, die mit Ritschls – bekanntlich in scharf antipietistischer Tendenz wertender – Gesamtdarstellung hart ins Gericht geht. 37 Zimmermann: Das Weltbild (wie Anm. 35), S. 25, vgl. 295 f. Mein kritischer Hinweis zu dieser Monographie bezieht sich allein auf den (ihre thematischen Beweisführungen kaum tangierenden) Versuch einer kategorialen Grenzziehung zwischen dem Pietismus und dem ihm vermeintlich nur sporadisch und akzidentiell zufließenden hermetischen Gedankengut. Zimmermanns fundamentale Aufdeckungsarbeit des Quellensubstrats für Goethes Denken und Bildlichkeit in der während seiner Frankfurter Krankheitskrise eklektisch adaptierten (übrigens weitgehend an radikalpietistischen Autoren nachgewiesenen) Tradition naturmystischer Vorstellungen bleibt in ihrem Verdienst davon unberührt. 38 Emanuel Hirsch: Geschichte der neuern evangelischen Theologie im Zusammenhang mit den allgemeinen Bewegungen des europäischen Denkens. Bd. 2 (3. Aufl., Gütersloh 1964), S. 209, 226–232, 238 f., 250, 255, 277, 299. Daß die Hochschätzung Böhmes „das einzige und durchgängige Kriterium dieses Separatismus ist“, hat Zimmermann (wie Anm. 35), S. 25 mit Recht bezweifelt. Zur Kritik der erörterten Thesen Hirschs und Zimmermanns vgl. analog auch Schneider: Der radikale Pietismus (wie Anm. 21), Bd. 8, 1982, S. 22–25.
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scheinungsbild und der Entwicklung des Pietismus in den verschiedensten Territorien her ist eine Ausgrenzung aber keinesfalls aufrechtzuerhalten. Zu Recht wurde bei der Erforschung der Einzelgestalten, gerade auch der geistigen Führergestalten des Pietismus, häufig auf den aus jeder umfassenderen Quellenanalyse hervorleuchtenden Tatbestand hingewiesen, daß bei den verschiedenen pietistischen Gruppierungen und selbst in der persönlichen und theologischen Entwicklung nahezu aller ihrer prominenten Vordenker die Grenzen zwischen konfessionsgebundener Kirchlichkeit und Positionen, die abseits oder gar in erklärtem Widerspruch zur legitimierten Kirchenlehre standen, verwischt sind und oft in der einen wie anderen Richtung überschritten wurden. Auch die radikalen Pietisten, bei denen Sonderlehren, asketisches Vollkommenheitsstreben und kirchenkritische Äußerungen vermehrt und ungehemmter hervortreten als bei den ängstlich um den Nachweis ihrer Rechtgläubigkeit bemühten, sind in das umgreifende System wechselseitigen Kontakts und gegenseitiger Verteidigung gegen orthodoxe Angriffe einbezogen. In der Formulierung ihrer religiösen Zielsetzungen haben sie sich von den kirchlichen Pietisten allenfalls graduell unterschieden. Mit dieser Feststellung sollen nicht die mystisch-asketischen, hermetischen und pneumatischen Tendenzen, die bei den Radikalpietisten besonders deutlich zutage treten, oder ihr Hang zu separatistischer Gemeinschaftsbildung als ursächliche Folge der Spenerschen Reformbemühungen reklamiert oder diese als Brutstätte der Schwarm- und Freigeisterei geziehen werden. Auch soll nicht bestritten werden, daß Ideentreibgut aus gleicher Tradition im 18. Jahrhundert fallweise auch in weltlichen Geheimgesellschaften „anlanden“ konnte, die nicht von pietistischen Zielsetzungen geleitet waren. Das spekulative Ideengut und der asketische Rigorismus, die ursprünglich auf biblische Bücher wie die Apokalypse, das Hohelied oder das JohannesEvangelium, auf neuplatonische, frühchristliche und kabbalistische Traditionen, auf mittelalterliche und frühneuzeitliche Mystik, Eschatologie, Kosmologie und Alchimie, auf Lehren vom „linken Flügel“ der Reformation (v. a. Schwenckfeld, Weigel) zurückgehen und die bei den Spiritualisten des 17. Jahrhunderts wie Böhme, Franckenberg, Kuhlmann oder Gichtel, bei Kirchenkritikern wie Arndt, Felgenhauer, Hoburg oder Breckling vielfältig vermittelt aufgegriffen und weitergedacht worden sind, gehören aber – neben entscheidenden Anregungen aus der innerkirchlichen Tradition – zweifellos wirkmächtig mit in die geistige Ahnenreihe des Pietismus. Freilich haben sich dessen führende Vertreter individuell in sehr unterschiedlichem Grade auf die hermetisch-spekulative Tradition berufen. Diejenigen aber, die solches Gedankengut maßgeblich ins 18. Jahrhundert vermittelt und ihm wohl erstmals zu größerer Breitenwirkung verholfen haben, sind ganz überwiegend nach eigenem Selbstverständnis und Verhalten wie nach dem Urteil ihrer Brüder und ihrer Gegner Teilhaber der pietistischen Partei gewesen. Mit Recht hat deshalb Gerhard Kaiser gegen
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Zimmermanns These geltend gemacht: „Der radikale Pietismus ist es, der den fruchtbarsten Nährboden des Hermetismus bildete.“39 Nach ihrer Selbsteinschätzung wie im allgemeinen Urteil der Zeitgenossen gehörten auch die radikalsten Außenseiter zu den „Pietisten“. Exemplarisch zeigt dies der Bericht des Führers der später nach Amerika emigrierten separatistischen Anabaptistengemeinschaft, Alexander Mack jr., über die seit dem Ende des 17. Jahrhunderts aus Württemberg, Hessen, der Kurpfalz und der Schweiz vertriebenen Exulanten. Ihnen hatte „der Herr einen Zufluchtsort oder ein kleines Pella in dem Wittgensteinerland“ gewiesen: Die aber aus der Verfolgung daselbst zusammenkamen, ob sie wohl durch mancherlei Meinungen unterschieden und auch in Sitten und Gebräuchen unterschiedlich waren, so wurden sie doch zuerst alle Pietisten genannt, sie selbst nenneten sich aber untereinander Brüder.40
39 Gerhard Kaiser : Säkularisation. In: ders.: Antithesen, Frankfurt 1973, S. 89 – ähnlich auch in ders.: Pietismus und Patriotismus, Frankfurt, 2. Aufl. 1973, S. XXV. – Breitestes Belegmaterial für diese Feststellung bieten nahezu alle Arbeiten zur Regionalgeschichte des Pietismus (vgl. z. B. Theodor Wotschkes zahlreiche, aus den Quellen gearbeitete Aufsätze zu den verschiedensten Regionen). Auf den Stand der theologischen und kirchengeschichtlichen Diskussion zur Frage der Zuordnung des Radikalpietismus ist 1972 Martin Greschats Literaturbericht „Zur neueren Pietismusforschung“ (wie Anm. 6) auf den Seiten 222–225, 240–244 und 251 ff. und ausführlicher noch Hans Schneider: Der radikale Pietismus (wie Anm. 21), Bd. 8, 1982, S. 16–31, Bd. 9, 1983 , S. 130–140, 143–151 eingegangen und zu dem überzeugenden Ergebnis gelangt, daß die theologisch radikalen Strömungen nicht vom Pietismus getrennt verstanden werden können. Vgl. schon Martin Schmidt: Evangelische Kirchengeschichte Deutschlands von der Reformation bis zur Gegenwart. In: Deutsche Philologie im Aufriß. Hg. von Wolfgang Stammler. Bd. 3, Berlin, 2. Aufl. 1962, S. 1778; ders.: Separatisten. In: RGG, 3. Aufl., Bd. 5, Tübingen 1961, Sp. 1704; ders.: Der Pietismus in Nordwestdeutschland. In: Jahrbuch der Gesellschaft für niedersächsische Kirchengeschichte 70 (1972), S. 178 und ders.: Die evangelischen Kirchen. In: Ökumenische Kirchengeschichte. Bd. 3, hg. von Raymund Kottje und Bernd Moeller, Mainz – München 1974, S. 61. – Es ist ein aufschlußreiches Indiz für die Richtigkeit dieser Feststellungen, daß die Bibliothek sogar des entschiedensten Befürworters lutherischer Rechtgläubigkeit unter den Patriarchen des Pietismus, Philipp Jacob Speners, mehr Werke von Schwenckfeld als von Luther selbst enthielt (vgl. Reinhard Breymayer : Zum Schicksal der Bibliothek Philipp Jacob Speners. In: Pietismus und Neuzeit 3 [1977], S. 77). 40 Zitat bei Friedrich Nieper : Die ersten deutschen Auswanderer von Krefeld nach Pennsylvanien, Neukirchen-Moers 1940, S. 124 aus dem „Chronicon Ephratense“ (gedr. 1768). – Daß sie sich als radikal-kompromißlose Vollender der pietistischen Reform verstanden, machen auch die Inspirierten in ihrer offiziellen Gemeindegeschichte offenbar : „Die Lehre der Gottseligkeit pflanzete Joh. Arnd, Hoburg, Spener, Arnold, Franck, Breithaupt usw. usw. unter vielem Widerspruch. […] Das war die Zeit der Pietisten, Gottseeligkeit zu üben. Die über der Gottseeligkeit hielten, musten Verfolgung leyden, wurden in Bann gethan, aus Kirchen ausgestossen, und aus ihren Vatterländern verjagt.“ – Kurze Historie der Inspirirten Und Inspirations=Gemeinden; Auf Teutsch: Der Propheten-Kinder […]. In: J.J.J. XVI. Samlung (Extracta, Bd. 16) 1772, S. 240. – Zinzendorfs Verhalten zu dieser extremsten spiritualistischen Sekte, die brüderlichen Kontakte des Inspiriertenführers Rock zu Halle, zu Württemberger Kirchenpietisten und zu Herrnhut lassen erkennen, daß Pietisten, die an ihrer lutherischen Rechtgläubigkeit keinen Zweifel aufkommen lassen wollten, bei allen Vorbehalten gegen
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Daß die Zeitgenossen radikalste Heterodoxe, Separatisten und Mystiker ebenso wie die im Schoß ihrer Kirchen wirksame Reformpartei als Pietisten bezeichneten, ist nicht nur Resultat der starr-orthodoxen Verketzerungspolemik, die die ganze Richtung durch pauschalierende Identifizierung mit den extremsten Außenseitern zu diskreditieren beabsichtigte.41 Im allgemeinen war man sich, wie Valentin Ernst Löschers oben zitierte Einteilung der Pietisten in Klassen von unterschiedlicher Radikalität zeigt, durchaus bewußt, daß in dogmatischen Fragen und Nebenmeinungen nicht alle vollauf übereinstimmten. Aber alle Lehrsätze, die man bei den Radikalen verwarf, fand man vereinzelt, z. T. in abgemilderter Form, auch sonst im Pietismus verbreitet und verteidigt, so daß eine theologische Abgrenzung der Gruppen und Individuen immer nur in bezug auf einzelne Lehrsätze, nicht aber grundsätzlich möglich schien.42 die Inspirationserscheinungen dieses Bewußtsein einer fundamentalen Gemeinsamkeit der Zielsetzung auch mit den „irrenden Brüdern“ durchaus teilten. 41 Ein besonders eklatantes Beispiel für diese Tendenz ist eine pseudonym publizierte antipietistische Kampfschrift, in der eine Chronique scandaleuse des Pietismus gegeben und versucht wird, krasseste Sonder- und Entartungserscheinungen als typisches Abbild der gesamten Richtung auszugeben. Durch die gehässige Kontrafaktur eines Katechismus wird hier schon (ähnlich wie in späteren „politischen Katechismen“, besonders der napoleonischen Ära) die Gegenseite mittels parasitärer Nutzung einer religiösen, für den Leser affektiv aufgeladenen Gebrauchsform als Hort aller Bosheit angeprangert, die in allen Punkten das göttliche Gebot geradezu auf den Kopf gestellt habe: Hartwig Bambamius [tatsächlich wohl Sebastian Edzardi]: Pietistischer Catechismus. – [Berlin-]Cölln 1706. Der bezeichnete Eingang (S. 3) lautet: „Das erste Haupt=Stück von den 10. Gebothen. 1. Wie heist das erste Pietistische Geboth? Antw. du solt andere Götter haben neben dem wahren Gott. Was sind das vor Götter / die man neben GOtt haben soll? Das sind die Teuffel / die wil man bey den Pietisten angebethet haben.“ (Zielt auf die v. a. von Johann Wilhelm Petersen verfochtene apojat\stasir-Lehre von der endlichen Wiederbringung aller Seelen, selbst der gefallenen Engel, zur grenzenlosen und allumfassenden Liebe Gottes.) – Noch im gleichen Jahr brachte der wegen irriger Lehren von der Taufe aus seinem Osnabrücker Predigtamt demissionierte Bernhard Peter Karl anonym eine Gegenschrift heraus, die mit gleichen Mitteln die Pietisten gegen orthodoxe Angriffe verteidigte: „Anti-Pietistischer Catechismus. Franckfurth/1706.“ (vgl. Unschuldige Nachrichten 1707, S. 436–461 und Christian Gottlieb Jöcher : Allgemeines Gelehrten=Lexicon, Bd. 2, Leipzig 1750, Neudruck: Hildesheim 1961, S. 2050). Eine charakteristische Summe der orthodoxen Pauschalverdächtigungen gegen den Pietismus als angebliche Wiederkehr aller denkbaren aus der Kirchengeschichte bekannten Irrlehren ist eine sechsseitige Flugschrift, die vermutlich auf einen lateinischen Traktat Samuel Schelwigs zurückgeht: „Ungefälschte Abbildung der heutigen Pietisterey / Aus ihren Haupt=Qvellen treulich heraus gezogen […] Pietismus per Anagr[amma]. Impius est […] Gedruckt zu Lißa / 1700.“ 42 Dies ist auch das Ergebnis der in der Diskussion um die Zusammenhänge von kirchlichem und schwärmerischem Pietismus zu Unrecht nahezu unberücksichtigt gebliebenen Analysen HansMartin Rotermunds zur Pietismus-Kritik Valentin Ernst Löschers. Rotermund: Orthodoxie und Pietismus, Berlin 1959 (Theologische Arbeiten. Bd. 13), S. 16 f., 96 f., bes. Kap. „Schwärmerischer und hallescher Pietismus“, S. 100–107, und „Von dem ,Spezial-Charakter‘ des Pietismus“, S. 113–118. – Analog konstatiert 1976 Richard Brinkmann: Goethes ,Werther‘ und Gottfried Arnolds ,Kirchen- und Ketzerhistorie‘. Zur Aporie des modernen Individualitätsbegriffs. In:
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Nicht nur wegen ihrer Zusammenarbeit und ihrer gleichen religiösen Zielsetzungen wurden also die verschiedenen radikalen Randgruppen als Teil des Pietismus empfunden, sondern auch, weil von ihnen (ungeachtet aller individuellen Unterschiede) ein charakteristischer Grundbestand von Lehren verbreitet wurde, der ihren Gegnern als wenigstens teilweise heterodoxieverdächtig und gefährlich erschien – und wo er zu kirchenpolitischen Verwicklungen führte – durch spezielle Erlasse oder Maßnahmen der Bücherzensur „gegen den Pietismus“ bekämpft wurde.43 Sieht man von der polemischen Formulierung der unter ihnen verbreiteten Sonderlehren und den Verdächtigungen ihrer religiösen Sozialkontakte ab, gibt der Artikel „Pietisten“ in Johann Michael Mehligs 1758 publiziertem Kirchen= und Ketzer=Lexicon wohl ganz angemessen wieder, welche Reichweite der Einheitsbegriff „Pietisten“ gewonnen hatte und wie man ihn begründete: Man verstehet unter dieser Benennung Leute, die unter dem Schein der Frömmigkeit, besondere Gebräuche und Lehrsätze haben. Anfänglich wurden Pietisten diejenigen genennet, welche An. 1689. zu Leipzig anfiengen besondere Collegia Pietatis, und Erbauungsstunden zu halten. […] Man kann zwar nicht sagen, daß diese Irrthümer allesammt von allen und jeden geheget worden; Sie sind aber doch alle unter ihnen anzutreffen gewesen, so daß einige Pietisten, von den angeführten Irrthümern diesen, andere wiederum andern beygepflichtet. Da nun aber diese Irrthümer der Pietisten meistentheils auch bey denen groben Fanaticis, Separatisten und Chiliasten gefunden werden, auch zum groben Fanaticismo, Separatismo und Chiliasmo leicht führen können, so hat man den Namen der Pietisten hernachmals so gar in öffentlichen Edicten allen denen beygeleget, welche der Obrigkeit Anordnung in Kirchensachen verworfen; das Ministerium schänden; den öffentlichen Gottesdienst für unnütz halten; das heilige Abendmahl nicht mit andern halten wollen; von der Taufe wenig halten; die Beichte und Absolution lästern; sich als vollkommen rühmen; innerliche Offenbarungen vorgeben; alle, die sich ihnen widersetzen, für Unwiedergebohrne halten; geheime Zusammenkünfte halten, und die Weiblein verführen; den Chiliasmum vertheidigen; Lachen und Tanzen für Sünde halten; an statt Versuche zu Goethe, Festschrift für Erich Heller, Heidelberg 1976, S. 171 die Notwendigkeit individueller Differenzierung der „Grade und Spielarten“ pietistischer Lehren und Frömmigkeit: „was man als Spezifika eines ,radikalen Pietismus‘ vermerkt hat, ist nicht auf diese Variante beschränkt, nur da entschiedener zu finden.“ 43 Arnd Müller : Zensurpolitik der Reichsstadt Nürnberg […]. In: Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Stadt Nürnberg, Bd. 49 (1959), S. 138 berichtet – terminologisch aufschlußreich – aus den Ratsverlässen: „Früh wandte sich der Rat gegen den Pietismus. Am 1. November 1703 werden die Prediger aufgefordert, Gutachten einzureichen, wie man dem neuen Sektierertum steuern könne. Dem Buchbinder Endter wird am gleichen Tage erlaubt, ohne Nennung seines Namens ein Werk ,gegen die Schwärmerei‘ zu drucken.“ – Entsprechend faßt Georg Andreas Will: Bibliotheca Norica Willana – Oder Kritisches Verzeichniß aller Schriften, welche die Stadt Nürnberg angehen. Teil 2, Altdorf 1773, S. 280 die Äußerungen der „Anabaptistae, Fanatici, Inspirati, Separatistae, Pietistae et simil.“ zu einer bezeichnenden Einheit zusammen.
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des Glaubens nur auf gute Werke dringen; die Kraft des Wortes und der Sacramenta von der Heiligkeit des Predigers herführen; dafür halten, daß Arbeiten einem Wiedergebohrnen unanständig sey ; und die ewige Strafe der Verdammten läugnen. Als die pietitische Streitigkeiten geführt wurden, beschuldigte man die Pietisten wegen ihrer Lehrsätze des Platonismi. S. Platonici. Auch nannte man sie Separatisten und Philadelphier.44
Auch der Begriff des Radikalpietismus kann sich also entschieden auf die Empirie des historischen Quellenmaterials stützen. Die zeitgenössischen normgebundenen Sammelbezeichnungen für diejenigen Kräfte, die die im Pietismus verbreiteten Ideen in radikaler Zuspitzung verfochten haben, Begriffe also wie „Hyper-Pietisten“, „Enthusiasten“, „Phantasten“, „Schwärmer“, „sektierische Schwarmgeister“, „Quäcker“, „Fanatiker“ oder „Ketzer“, sind natürlich wegen ihrer affektischen Wertbefrachtung für den Historiker keine taugliche terminologische Alternative. Aber auch die in der wissenschaftlichen Diskussion in die Debatte gebrachten präziser charakterisierenden Begriffe wie „Separatisten“ oder „Heterodoxe“45 können den Begriff des Radikalpietismus nicht ersetzen, sondern taugen nur zu einer Binnendifferenzierung. Denn sie sind enger, insofern sie nur ein mögliches Moment der Radikalisierung in den Blick nehmen. Die charakteristische Übersteigerung gemeinpietistischer Argumentations- und Sprachmittel bringen sie terminologisch gar nicht zum Ausdruck. Die Separation ist nicht ein notwendiges Kennzeichen des radikalen Pietismus. Selbst extrem heterodoxe Geister haben sich nicht durchweg von der Kirche gelöst oder die kirchliche Gemeinschaft 44 Johann Michael Mehlig: Historisches Kirchen= und Ketzer=Lexicon. Bd.1, Chemnitz 1758, Bd. 2. o.O., o. J., S. 377–380. – Ganz gleichartig hatte sich z. B. bereits 1703 der Loccumer Abt Gerald Walter Molanus in einem das Antipietisten-Edikt der Hannoverschen Regierung erläuternden Rundbrief an die Pastorenschaft des Landes erklärt: „Dieweil aber, wie die Schwärmer, Enthusiasten und Separatisten insgemein, also auch die sogenannten Pietisten nicht durchgehends einerlei Meinung führen, sondern deren einige bejahen, was andre ihresgleichen verneinen; hingegen diese vor wahr halten, was jene vergessen, so werdet Ihr sie jedoch aus folgenden notis characteristicis […] von den Rechtgläubigen zu unterscheiden wissen.“ Publiziert bei Rudolf Ruprecht: Der Pietismus des achtzehnten Jahrhunderts in den hannoverschen Stammländern, Göttingen 1919 (Studien zur Kirchengeschichte Niedersachsens, Bd. 1), S. 19 f. Sozialpsychologische Herleitungsmodelle für das Entstehen und die ständespezifischen Besonderheiten einer religiösen Radikalisierung in Epochen fragwürdig werdender Normen diskutiert Martin Scharfe: Religion und Ideologie. Kontrakulturale Aspekte in der empirischen Religionsforschung. Überlegungen zum Problem des religiösen Separatismus. In: Zeitschrift für Volkskunde 67 (1971), S. 173–202. 45 Die Sammelbezeichnung „Heterodoxe“ ziehe ich grundsätzlich gegenüber dem in kirchengeschichtlichen Arbeiten häufiger verwendeten „Schwärmer“-Begriff vor, weil sie eine Abweichung von dominanten Kirchenlehren nur konstatiert, ohne eine normative Wertung zu implizieren. – Die schon begriffslogische Unmöglichkeit, „Separatisten“ in kategoriale Opposition zu „Pietisten“ zu bringen, betont Peter Weidkuhn: Strukturlinien des baslerischen Pietismus. In: Schweizerisches Archiv für Volkskunde. 62. Jg., Basel 1966, S. 161 f. Die mit weiteren Fallbeispielen belegten Ausführungen Hans Schneiders: Der radikale Pietismus (wie Anm. 21), Bd. 9, 1983, S. 134–140 stimmen mit meinen nachfolgenden Erwägungen überein.
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verworfen.46 Den allen dogmatischen Fragen gegenüber völlig indifferenten, ihrem Vollkommenheitsideal z. T. in weltabgewandtem Einsiedlerleben nachstrebenden und dem öffentlichen Gottesdienst also fernbleibenden pietistischen Mystikern werden dagegen kaum in jedem Fall heterodoxe Lehrbegriffe nachzuweisen sein. Es ist hier nicht notwendig, im einzelnen auf die in der Forschung gelegentlich verwendeten spezifizierenden Begriffe für Sondergruppen oder Anhänger spezieller Lehren und Frömmigkeitsformen wie Mystiker, Chiliasten, Quietisten, Inspirierte, Anabaptisten einzugehen. Sie sind durch die Kirchengeschichte hinlänglich klar und unmißverständlich bestimmt; was sie jeweils besonders kennzeichnet, kann in den theologischen Lexika nachgeschlagen werden (vgl. v. a. die knappen Informationen der RGG). Auch die von mir gelegentlich verwendete terminologisch bewußt offene Sammelbezeichnung „Erweckte“, die das Selbstgefühl der bezeichneten Gruppen anspricht, ohne bereits Aussagen über historische, regionale, konfessionelle oder dogmatische Zugehörigkeit zu treffen, bedarf wohl keiner besonderen Begründung. Denn sie ist als gruppenübergreifende, nicht auf spezifische Erscheinungs- und Äußerungsformen eingegrenzte Benennung in der Fachliteratur seit mehr als einem Jahrhundert heimisch. Selbstverständlich impliziert sie nicht ein theologisches Urteil über die Angemessenheit der diese Gruppen über die „Gewohnheitschristen“ heraushebenden Selbsteinschätzung.47
4. Die „philadelphische Bewegung“ – Begriffserläuterung und historischer Überblick Anders als bei den übrigen (durch die kirchengeschichtliche Forschung hinlänglich definierten) Bezeichnungen für differente Gruppen innerhalb der pietistischen Bewegung bleibt es noch notwendig, den in Arbeiten zum radikalen Pietismus häufig verwendeten Terminus „Philadelphier“ näher zu erläutern. Die Forschungslage macht es in diesem Fall sogar erforderlich, über 46 Das gilt ebenso z. B. für Johann Wilhelm Petersen, der sich trotz seiner Entlassung aus dem Kirchendienst und seines vertrauensvollen Kontakts mit vielen Separatisten nicht von der kirchlichen Gemeinschaft abgelöst hat, wie sogar für den ekstatischen Visionär Johann Tennhardt, der gegen die Separation gewettert hat. Mit Recht schreibt Ensign: Radical German Pietism (wie Anm. 32), S. 400: „Thus it is clear that the term ,separatism‘ is not an acceptable synonym for ,radical Pietism‘“, wobei er freilich korrekt einschränkt: „The majority of radical Pietist were mild separatists.“ 47 Ausgangspunkt für die Übernahme in den wissenschaftlichen Sprachgebrauch war offenbar die vielbenutzte (scharf antipietistische) Abhandlung von Friedrich Wilhelm Barthold: Die Erweckten im protestantischen Deutschland während des Ausgangs des 17. und der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. In: Historisches Taschenbuch. Hg. von Friedrich Raumer. 3. Folge, Jg. 4 (1853).
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die reine Begriffserklärung hinaus Grundinformationen zur Herkunft, einigenden Ideologie und historischen Entwicklung der „philadelphischen“ Sammlungsbewegung zu resümieren. Namentlich die Geschichte der Reitzschen Historie Der Wiedergebohrnen, ihrer Entstehung und Fortsetzung, ihres Drucks und ihrer Verbreitung, ist personell aufs engste mit den führenden deutschen Propagatoren der Idee vom philadelphischen Christentum verknüpft gewesen. Aus der Untersuchung jener Kräfte, welche die Geschicke dieses Buchs gefördert haben, ist ein bisher unbekanntes Maß an kontinuierlich enger Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen geistigen Wegbereitern und regionalen Zentren philadelphischer Religiosität vom Ende des 17. bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts zu erkennen. Diese Verbindungen haben eine der entscheidenden Voraussetzungen für die Entwicklung des Bücherverkehrs im radikalen Pietismus und für seine literarische Wirkung geschaffen. Die bisherigen Arbeiten über die philadelphische Bewegung und ihre Bedeutung für den deutschen Pietismus haben zwar eine Fülle von Quellenmaterial und wichtigen Details bereitgestellt, konnten aber meist nur einzelne Gruppen als zeitlich und regional mehr oder weniger isolierte Phänomene erfassen. Durchweg haben sie deren enge personelle und theologische Verzahnung nicht vollständig zur Darstellung bringen können – v. a., weil sie nur unvollkommen aufeinander aufbauen, also nicht alle zur Sache bereits publizierte Information erschlossen haben.48 48 Vgl. zu der im folgenden resümierten Forschungssituation über die philadelphischen Gruppierungen in Deutschland Hans Schneiders Literaturbericht: Der radikale Pietismus (wie Anm. 21), außer dem allgemeinen Hinweis Bd. 9, 1983, S. 140 auch die vorangehenden Forschungsresümees über die beteiligten Personen und regionalen Zentren. – Die besten Informationen über die Ursprünge des philadelphischen Gedankens, die Gründung der philadelphischen Sozietät 1694 in London, ihre unmittelbaren Missionsaktivitäten und -wirkungen in Deutschland bis 1703 gibt Niels Thune: The Behmenists and the Philadelphians, Diss. theol. Uppsala 1948. Vgl. ergänzend die älteren Arbeiten von Max Goebel: Jane Leade und die Philadelphier. In: Real-Encyklopädie für protestantische Theologie und Kirche (RE). Hg. von [Johann Jakob] Herzog, 1. Aufl. . Bd. 8, Hamburg – Stuttgart 1857, S. 251–253; C. W. H. Hochhuth: Geschichte und Entwicklung der philadelphischen Gemeinden. In: Zeitschrift für die historische Theologie 35 (1865), S. 171–290 sowie die Monographie von Jürgen Büchsel: Gottfried Arnold. Sein Verständnis von Kirche und Wiedergeburt, Witten 1970 (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus. Bd. 8), S. 125–132. Eine detaillierte Darstellung der spekulativen Ideen der englischen Böhmisten, besonders der Jane Leade, geben auch Walter Nordmann: Im Widerstreit von Mystik und Föderalismus […]. In: Zeitschrift für Kirchengeschichte 3. Folge, Bd. 1 (= Bd. 50), 1931, S. 155–162 und v. a. Sigurd Nielsen: Der Toleranzgedanke bei Zinzendorf, Diss. theol. Marburg 1951, S. 16–34, der allerdings die Bedeutung ihres aufgezeichneten Bekenntnisses für das theologische Denken der deutschen Philadelphier überschätzt. Weitgehend isolierende Darstellungen der in Hessen am Anfang des 18. Jahrhunderts durch die Anregungen Henrich Horchs entstandenen meist schroff separatistischen Gemeinschaften und ihres Gedankenguts geben C[arl] W[ilhelm] H[ermann] Hochhuth: Heinrich Horche und die philadelphischen Gemeinden in Hessen, Gütersloh 1876, insbes. S. 101 ff. und Norbert Fehringer: Philadelphia und Babel. Der hessische Pietist Heinrich Horche und das Ideal des wahren Christentums, Diss. theol. Marburg 1971, S. IIf., 111–130. Besonders die philadelphischen Ak-
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Die wiederholten Versuche zur Sammlung aller Erweckten in (nach Apok 1,11 und 3,7–13, sowie dem griechischen Wortsinn: „bruderliebend“) sogenannten „philadelphischen Gemeinden“ sind für den gesamten radikal-reformerischen Pietismus und für die Geschichte seiner Literatur von erheblicher Bedeutung gewesen. Aus allen Kirchen und außerkirchlichen Gruppierungen sollten sich in ihnen alle diejenigen, die es mit dem Heil ihrer Seelen ernst meinten, zusammenschließen, unabhängig von konfessionellen Streitpunkten oder etwaigen „besonderen Meinungen“. Sie sollten gemäß der Prophezeiung Mt 24,31 bis zur Wiederkunft des Menschensohns „seine Auserwählten versammeln von den vier Winden“.49 Aufrufe und frühe Organisationsbestrebungen, ein neues Philadephia, eine unparteiische, d. h. über den Parteigeist der Kirchen und Sekten erhabene missionsaktive Christengesellschaft zu begründen, hatte es unter den von Jacob Böhmes Theosophie beeinflußten deutschen Spiritualisten schon in vorpietistischer Zeit wiederholt gegeben – ohne daß ihnen noch dauerhafter gemeinschaftsbildender Erfolg beschieden gewesen wäre. Ihre bekanntesten Propagatoren waren in den 30er Jahren des 17. Jahrhunderts Paul Felgenhauer,50 in den 60er Jahren Justinian Ernst von Weltz und Johann Georg tivitäten in Berleburg um 1700 und 1730 in ihren geistesgeschichtlichen Zusammenhängen werden untersucht bei Max Goebel: Geschichte des christlichen Lebens in der rheinisch-westphälischen evangelischen Kirche. Bd. 3, Koblenz 1860, S. 71–125; Viktor Pleß: Die Separatisten und Inspirierten im Wittgensteiner Land, Diss. lic. theol. [masch.] Münster 1921, S. 10–20, 77–96, ferner Ensign: Radical German Pietism (wie Anm. 32), S. 189–221, 321–355; Geoffrey Rowell: The Marquis de Marsay. A Quietist in ,Philadelphia‘. In: Church History 41 (1972), S. 62–66, schließlich Martin Brecht: Die Berleburger Bibel. Hinweise zu ihrem Verständnis. In: Pietismus und Neuzeit 8 (1982), S. 180 f., 188 f., 198 f. 49 Die ,Berleburger Bibel‘, das von philadelphischem Geist geprägte monumentale Übersetzungsund Kommentierungswerk, erläutert dieses „seine Auserwählten versammlen von den vier Winden“: „nämlich solche die mitten unter der Verwirrung aushalten und sich conserviren in der Erwartung des Menschen=Sohns […] Versammlen aus dem geistlichen Egypten, Babel und Sodom, damit sie nicht in den Gerichten und Plagen mit umkommen. […] Es wird hier eine generale Zusammensammlung verstanden, die nicht nur auf das Jüdische Land gehet / sondern auf die gantze weite Welt. Denn Die Kirche ist ein geistlicher Leib von zerstreuten Fremdlingen: l. Petr. 1,1. aber GOtt wird sie bey der Erscheinung Christi schon zusammen suchen aus allen Ecken, und aus allen 4 Theilen der Welt.“ – Der Heiligen Schrifft Fünffter Theil / oder des Neuen Testaments Erster Theil […] Nach dem Grund=Text aufs neue übersehen; Nebst der buchstäblichen und geheimen Erklärung […] nach der innern und äussern Haushaltung GOttes, Berleburg 1735, S. 256. – Zur toleranzgeschichtlichen Bedeutung dieses Theologems für das Verhältnis der radikalen Pietisten auch gegenüber den Anhängern außerchristlicher Religionsgemeinschaften, namentlich den Juden, vgl. Schrader: Sulamiths verheißene Wiederkehr (1988, L 15), im vorliegenden Band S. 169–204. 50 Über Felgenhauer, seine Missionsschriften (v. a.: „Geheimnis von dem Tempel des Herrn in seinem Vorhof […] am Dienst der sechsten Gemeine zu Philadelphia“, Amsterdam 1631), über seine spekulativ-medizinischen und theosophischen Aktivitäten und schließlich seinen Versuch, seit 1631 im niedersächsischen Bederkesa das apokalyptische Philadelphia zu verwirklichen, informieren insbes. Karl Kayser: Hannoversche Enthusiasten des siebzehnten Jahrhunderts. In: Zeitschrift der Gesellschaft für niedersächsische Kirchengeschichte 10 (1905), S. 51–62 und E. G. Wolters: Paul Felgenhauers Leben und Wirken, ebd. 54 (1956), S. 63–84 und
Pietismus – Radikalpietismus – philadelphische Bewegung
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Gichtel, der erste Editor einer Böhme-Gesamtausgabe.51 Eine breitere Wirkung konnte den philadelphischen Bemühungen erst seit dem Ende des Jahrhunderts zuteil werden, nachdem der stürmisch expandierende, unter massivem Gegendruck partiell radikalisierte Pietismus dafür den Boden bereitet hatte. Als wesentliche Anregung für die Verbreitung des philadelphischen Sammlungsgedankens in den Niederlanden und in Deutschland ist die 1694 in London gegründete „Philadelphische Sozietät“ der visionären Ekstatikerin Jane Leade und ihr propagandistisches Wirken auf dem Festland anzusprechen. Diese Londoner Sozietät war aus Theosophenkreisen hervorgewachsen, die seit der Jahrhundertmitte intensiv das spekulative Gedankengut des deutschen Barockspiritualismus, besonders Jacob Böhmes, rezipiert und weiterentwickelt hatten. Deutsche Böhmisten in Holland, besonders die Anhänger Gichtels, haben dafür gesorgt, daß die zahlreichen Schriften ihrer englischen Gesinnungsgenossen, John Pordage, Thomas Bromley und Jane Leade, übersetzt, gedruckt und unter den ihren metaphysischen Spekulationen und asketischen Forderungen gegenüber aufgeschlossenen deutschen Radikalpietisten verbreitet werden konnten.52 Einige Pietisten, die sich selbst 55 (1957), S. 54–97. Quellenkundig-detaillierte Aufschlüsse über Felgenhauers Leben, Werk und spekulative Verkündigung eröffnet auch das ihm gewidmete Kapitel in der Monographie von Hans Joachim Schoeps: Philosemitismus im Barock. Religions- und geistesgeschichtliche Untersuchungen, Tübingen 1952, S. 18–45: Gegründet auf sein philadelphisches Programm und seine eschatologische Spekulation wurde Felgenhauer zum richtungweisenden Vordenker auch der im Radikalpietismus aufgegriffenen Erwartung einer künftigen Erlösung, Heimführung und Verherrlichung des jüdischen Volks und zum Propagator einer christlich-jüdischen Bekennergemeinde. 51 Weltz publizierte 1664 unter dem Pseudonym Justinianus eine zusammen mit Gichtel verfaßte Schrift: Einladungstrieb zum herannahenden grossen Abendmahle und Vorschlag zu einer christ-erbaulichen Jesus-Gesellschaft. Vgl. Thune: The Behmenists (wie Anm. 48), S. 103–105. Auf die Zusammenhänge der geschichtstypologischen Auslegung der Apokalypse in den philadelphischen Kreisen mit der böhmistischen Tradition hat Ernst Benz: Zur Sprachalchimie der deutschen Barockmystik. In: Dichtung und Volkstum (N. F. des Euphorion) 37 (1936), S. 487 f. hingewiesen: „Philadelphia bezeichnet die wahre Kirche der Wiedergeborenen, die vollkommene Kirche der wahren Frommen, die Gemeinde der Endzeit.“ 52 Der Übersetzer dieser Traktate war Loth Fischer in Utrecht, gedruckt wurden sie bei Heinrich Wetstein in Amsterdam. Wie groß die Aufnahmebereitschaft für die philadelphischen Ideen aus England in den endzeitgespannten visionsgläubigen Pietistenzirkeln am Ende des 17. Jahrhunderts war, zeigt die Tatsache, daß Übersetzungen der Leade-Offenbarungen bereits vor dem Druck handschriftlich unter ihnen kursierten. Eine solche Abschrift (9 Textseiten) ist im 6. Band der Göttinger Acta Pietistica enthalten: Eine Botschafft an die Philadelphische Gemeinde wo Sie auch immer verstreuet sein mag den 30 t May St. Vet. 1695. Ihre Herkunft ist am Schluß dokumentiert: „Bezeugt durch Jane Leade zu London in Engellandt Dieses hat Herr Schönberg von Erfurt mit bracht von Herrn D. Brücknern.“ – Stark zerlesene Abschriften Leadescher Traktate wurden 1711 auch unter den Oberharzer Philadelphiern gefunden, konfisziert und in den Akten der Kirchenbehörde aufbewahrt. Vgl. Ruprecht: Der Pietismus (wie Anm. 44), S. 17 und 36. – Daß auch in Württemberg die philadelphischen Brüder aus der Umgebung zusammengerufen wurden, wenn unter ihnen „ein Brief von dem lieben Loth Fischern eingeloffen“ war, daß der Auftrag zu seiner Beantwortung eine besondere Ehre war, läßt
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als Mitglieder und Förderer des neuen Philadelphia begriffen, standen auch mit der Sozietät in England in persönlichem oder brieflichem Kontakt.53 In den philadelphischen Gemeinschaften, die sich als rein ideelle Geistesverbindung seit etwa der Jahrhundertwende vielerorts unter den Pietisten bildeten, sind die Schriften der englischen Böhmisten ebenso wie die Literatur aus der deutschen spiritualistisch-spekulativen Tradition umfänglich gelesen und diskutiert worden. Während aber die Londoner Sozietät im Herbst 1702 zur Formulierung fester Organisationsstatuten und eines verbindlichen Glaubensbekenntnisses auf böhmistischer Grundlage gelangte (es umfaßte u. a. ein Programm zur Sammlung in einer eindeutig separatistischen Sondergemeinschaft, Makrokosmos-Mikrokosmos-Spekulationen, Lehren von der himmlischen Sophia, die den Erweckten durchströmt und zu außerirdischer Leiblichkeit umschafft; eschatologische Heilslehren mit heterodoxen Aussagen über den mittleren Zustand der Seele nach dem Tode und ihre Erlösung nach der herrlichen Wiederkunft Christi sowie über den Anbruch des Tausendjährigen Reichs), haben die deutschen Philadelphier jede formale Institutionalisierung ihrer Geistgemeinschaft und jede Festlegung auf ein verpflichtendes Credo bewußt vermieden. Ebenso wie die kirchlichen Dogmen schienen ihnen auch metaphysische Spekulationen nicht zum Wesentlichen des Christentums zu gehören. Sie waren jedem als persönliche Überzeugung freizustellen, sollten aber die brüderliche Eintracht der Auserwählten nicht aufspalten. Abgesehen von dieser irenischen Grundüberzeugung und von grundsätzlichen Vorbehalten gegen jede Einengung des Geistes durch Menschensatzungen waren für die Scheu, der ideellen Verbindung durch sonderkirchliche Organisation und Bekenntnisartikel eine feste Struktur aufzuprägen, sicher auch Rücksichten auf die Konfessionsbestimmungen des Deutschen Reichs von Belang. Der Versuch der Londoner Sozietät, durch Entsendung ihres „Inspektors“ Johann Dittmar unter den philadelphisch gesinnten Freunden in Deutschland für organisatorischen Zusammenhalt und die Annahme gleicher Glaubenslehren zu werben, stieß dort jedenfalls auf einhellige Ablehnung und mißlang gänzlich – nicht nur wegen Dittmars ungeschicktem und anmaßendem Verhalten. Johann Adam Raab[e]: Der wahre und gewisse Weg durch die Enge † Pforte Zu JEsu Christo, o.O., o. J. [Nürnberg 1703], S. 636 erkennen. 53 In Briefverkehr mit Jane Leade und ihren Anhängern standen z. B. der Berliner Ober-Kammerpräsident Dodo von Knyphausen, der Johann Wilhelm Petersen schon um 1695 mit handschriftlichen Traktaten der Leade bekannt gemacht hatte (vgl. den autobiographischen Rechenschaftsbericht: Das Leben Jo. Wilhelmi Petersen, o.O. 1717, S. 297–300). Vgl. Thune: Behmenists (wie Anm. 48) und ebenso der Bietigheimer Arzt Dr. Brigel, der 1704 zusammen mit seinem Kollegen Johann Samuel Carl eine philadelphische Sozietät erweckter Mediziner des württembergischen Unterlands organisierte. Vgl. nach Berichten aus den Konsistorialprotokollen Christoph Kolb: Die Anfänge des Pietismus (wie Anm. 6), S. 240–242 und Heinrich Hermelink: Geschichte der evangelischen Kirche in Württemberg, Stuttgart – Tübingen 1949, S. 157 und 189 f.
Pietismus – Radikalpietismus – philadelphische Bewegung
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Der „Catalogus amicorum in Germania“ aus Dittmars Reiseinstruktionen gibt immerhin ein aufschlußreiches Bild, welche deutschen Pietisten den Londoner Auftraggebern als aktive Förderer philadelphischer Einigungsbestrebungen bekannt waren oder als potentielle umworben werden sollten.54 Außer bekannten Wortführern des Pietismus in der lutherischen und reformierten Kirche wie Philipp Jacob Spener in Berlin oder den Gießener Professoren Johann Heinrich May (einem vertrauten Förderer des Verfassers der Historie Der Wiedergebohrnen) und Johann Christian Lange (dem späteren Superintendenten und Bücherzensor in Idstein, wo zwei Auflagen der Sammelbiographie gedruckt wurden), enthielt diese Liste die literarisch aktivsten Propagandisten eines radikalen Pietismus. Gottfried Arnold in Quedlinburg (damals Hofprediger der Herzogin von Sachsen-Eisenach in Allstädt) war darin ebenso eingetragen55 wie Johann Wilhelm Petersen in Niederndodeleben bei Magdeburg nebst der von ihm geförderten Visionärin Rosamunde Juliane von der Asseburg. Dazu kamen etliche Vertreter dezidiert pietistischer und z. T. separatistischer Ideen aus Frankfurt und Umgebung. Neben Mitgliedern des von Spener begründeten, dann in radikalere Bahnen gelangten Konventikels nennt der „Catalogus amicorum“ einige wegen irriger Lehren beargwöhnte Theologen, die im Umkreis der Entstehungs- und Druckgeschichte der „Historie“ eine Rolle gespielt haben: Johann Henrich Reitz selbst, Henrich Horch, Conrad Bröske, Christian Fende. Schließlich sind dort auch schon Namen genannt, die später maßgeblich an der philadelphischen Verbindung in Württemberg beteiligt waren: „D. Brigel zu Wezlar, medicus.“56 und der Altdorfer Professor Georg Paul Rötenbeck. Die deutschen Philadelphier57 sind also nicht als eine festgefügte religiöse 54 Der vollständige „Catalogus amicorum in Germania“ der philadelphischen Sozietät ist aus der archivalischen Quelle (dem von Dittmar hinterlassenen „Apparatus ad historiam ecclesiae novam“ im Coburger Archiv) zuletzt publiziert bei Thune: The Behmenists (wie Anm. 48), S. 126. Dort wird S. 114–135 auch der zuverlässigste Bericht über Dittmars mißlungenes philadelphisches Missionsunternehmen in Deutschland gegeben. 55 Welche Bücher der englischen Philadelphier Jane Leade und John Pordage der radikale Pietist Gottfried Arnold in deutschen Übersetzungen besessen hat, hat Reinhard Breymayer: Die Bibliothek Gottfried Arnolds. In: Linguistica Biblica 39 (1976), S. 97 f. aus dessen Auktionskatalog zusammengestellt. 56 Vgl. Anm. 53. 57 Diese Namensform „Philadelphier“ ist bereits durch zeitgenössische Quellen bezeugt, z. B. in Johann Adam Raabes Autobiographie: Der wahre und gewisse Weg durch die Enge † Pforte, [Nürnberg 1703] (wie Anm. 52), Vorrede, S. 37, neben der Selbstbezeichnung „Filadelfer“ z. B. in der ,Berleburger Bibel‘, Bd. 7, S. 276, Kommentar zu Apk 3,9 oder in [Conrad Bröske:] Dritte Unterredung zwischen einem Politico und Theologo […], [Offenbach] 1698, S. 26. – Vgl. auch Johann Heinrich Jung-Stilling: Das Heimweh (Sämmtliche Schriften. Bd. 4), Stuttgart 1836, S. 514 und 522 f. Sie wurde von der Forschung früh übernommen und hat sich weitgehend durchgesetzt. Ich gebe ihr den Vorzug gegenüber dem in einigen neueren Arbeiten (z. B. bei Benz, Fehringer) eingeführten Terminus „Philadelphen“. Denn diese sprachliche Ableitung von vikadekvo_ (offensichtlich eine Analogiebildung zu „Philosophen“) ist begrifflich enger, bringt nur den Aspekt des Bruderliebenden, nicht aber das umfassendere Selbstverständnis einer
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Terminologische und historische Eingrenzungen
Sondergemeinschaft zu verstehen, deren Mitglieder durchgehend gleichförmigen Glaubenssätzen verpflichtet gewesen wären. Sie vertraten ja gerade das Konzept einer außerorganisatorischen irenischen Geistkirche für die Erweckten in allen Konfessionen, die in ihrer Konsequenz jegliche Trennung der Christenheit in Kirchen und Sekten überwinden wollte. Ebenso wenig wie eine im Detail klar umrissene Kennzeichnung aller ihrer Lehren ist eine randscharf abgrenzende Bestimmung der an ihr Teilhabenden möglich.58 Es gab ja keine Mitgliedschaft, die man förmlich erwerben oder aufkündigen konnte, sondern eine ausschließlich in der wechselseitigen Gewißheit begründete Gemeinschaft, als Berufene unter Gleichstrebenden vorbereitend am Bau des Reichs Gottes mitzuarbeiten. Deshalb findet man Äußerungen philadelphischer Sammlungsideen und die Zuwendung des Philadelphia-Namens bisweilen auch außerhalb der Gemeinschaften, denen dieses Idealbild ihren Zusammenhalt verlieh – bei einzelnen Vertretern eines staatskirchlichen Pietismus wie bei radikal-individualistischen Einzelgängern. Trotz aller von den Initiatoren durchaus beabsichtigten Randunschärfe lassen sich die großen einigenden Zielvorstellungen ebenso wie die Hauptzüge der historischen Entwicklung in Deutschland abstecken. Die beiden durchgängigen Hauptmotive sind in der Begriffserläuterung schon angedeutet worden. Das erste besteht in dem Ziel der ideellen Wiedervereinigung der in „Particular Kirchen“ zerstreuten entschiedenen Christen zu einer von Sektengeist, Gewissenszwang und proselytenmacherischem Eifer freien Liebesgemeinschaft. Das zweite Motiv ist in der typologischen Auslegung der apokalyptischen Prophezeiungen über die Gemeinden zu Sardes und Philadelphia auf die heilsgeschichtliche Situation der eigenen Gegenwart begründet: der Lehre vom fortgeschrittenen Verfall der Kirche und vom Erstehen der von Christus geliebten Gemeinschaft als Vorboten der letzten Zeit und der Wiederkunft des Herrn. In gespanntem Endzeitbewußtsein glaubte man sich „in den Tagen / da GOtt harret und noch Gedult hat / biß die Arche zugerüstet“59 sein werde und deshalb verpflichtet, die Schar der Erwählten ohne Verzug vollständig zusammenzubringen. Auf den gegenwärtigen Tag bezog man die Warnung der Offenbarung über Sardes:
Gemeinschaft zur brüderlichen Verwirklichung der apokalyptischen Gemeinde Philadelphia zum Ausdruck. 58 Johann Wilhelm Petersen widmet sein monumentales Werk ,LUSTGQIOM APOJATASTASEYS PAMTOM‘ programmatisch der „Philadelphischen Gemeine / Die auß dem Geist und Liebe gebohren […] Von der man nicht sagen kan / Sie ist hie / oder da / Und dennoch als eine Stadt auff dem Berge Allenthalben gesehen wird“. Bd. 1, „Pamphilia“ 1700, S.)(4. 59 [Wilhelm Christian Gmelin:] Das Geheimniß Der Boßheit und Gottseeligkeit, o.O. [= Idstein] 1712, S.)o( )o(r.
Pietismus – Radikalpietismus – philadelphische Bewegung
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Wann du nicht wirst wachen, so werde ich über dich kommen wie ein Dieb, und du sollst mitnichten wissen, welche Stunde ich über dich kommen werde.60
Die aus dem 2. und 3. Apokalypse-Kapitel gewonnene Geschichtsspekulation, der sich diese eschatologische Gewißheit verdankt, hat Norbert Fehringer in knapper Form treffend zusammengefaßt: die Heilsgeschichte hat nunmehr die ersten fünf Epochen der Kirche hinter sich gelassen (Ephesus, Smyrna, Pergamus, Thyatira, Sardes). Die letzte, vorangehende Epoche war also die Zeit des sardischen Christentums, gedeutet im Sendschreiben an die Gemeinde zu Sardes. Das sardische Christentum ist das tote, in seinen dogmatischen Formeln und seiner Orthodoxie erstarrte konfessionelle Zankchristentum, das durch ein philadelphisches Christentum überwunden werden soll: der Zusammenfassung aller wahren, wiedergeborenen Christen. Die Zeit der philadelphischen Kirche ist hier und jetzt angebrochen, sie vermag die bisher noch verschlossene Offenbarung aufzuschließen, sie wird mit einer neuen Ausgießung des Heiligen Geistes ausgerüstet. Sie wird das weltförmige, stolze Kirchenchristentum überwinden und den Anbruch des herrlichen Endreiches erleben.61
Besonders informativen Aufschluß über das verbindende Selbstverständnis der deutschen Philadelphier und ihr Konzept vom heilsgeschichtlich festgelegten Auftrag ihrer Gemeinschaft geben die Erläuterungen in den beiden aus diesen Kreisen hervorgegangenen kommentierten Bibelversionen zu den der philadelphischen Spekulation zugrunde liegenden Apokalypseversen. 1712 publizierte Henrich Horch (bereits nach dem Höhepunkt der ersten stürmischen Ausbreitung philadelphischer Gemeinschaften, an denen er maßgeblichen Anteil genommen hatte) seine einbändige Marburger Mystische und Profetische Bibel.62 Die in acht gewichtigen Folianten 1726–1742 von Johann Friedrich Haug und einem Stab gelehrter, durchweg radikalpietistisch exponierter Mitarbeiter edierte ,Berleburger Bibel‘, deren umfängliche Buchund Verskommentierungen die gesamte spiritualistische Tradition zusammenfassen, ist mit Recht als „the most monumental literary work of German 60 Apk. 3,3 zitiert nach der ,Berleburger Bibel‘, Bd. 7 (NT. Bd. 3), 1739, S. 271. 61 Norbert Fehringer: „Bleibet fest in der brüderlichen Liebe!“ Der Eschweger Heinrich Horche und die Anfänge des Philadelphentums in Hessen. In: Hessische Heimat. Jg. 1974, S. 161. – Eine ausführliche Darlegung und Begründung dieser Spekulation enthält ein Traktat von Henrich Horch: Schrifftmässige Untersuchung Der Send=Schreiben an die sieben Gemeine in Asien […], Herborn 1693, bes. S. 6–11, 63 ff. 62 Der vollständige, für den Geist der knappen Kapitel-Kommentare Horchs bezeichnende Titel lautet: Mystische Und Profetische Bibel / Das ist Die gantze Heil. Schrifft / Altes und Neues Testaments / Auffs neue aus dem Grund verbessert / Sampt Erklärung Der fürnemsten Sinnbilder und Weissagungen / Sonderlich des H. Lieds Salomons Und der Offenbarung J. C. Wie auch Denen fürnemsten Lehren / bevoraus die sich in diese letzte Zeiten schicken. – Marburg / Gedruckt bey Joh. Kürßner / Univers. Buchdr. 1712. Vgl. auch Horchs im selben Jahr erschienene irenische Schrift: „Filadelfia, das ist Bruderliebe unter den rechtschaffenen Gläubigen in denen so genannten Lutherischen und Reformirten Gemeinen ungeachtet der Streitfragen, welche dieselben untereinander haben“, Marburg 1712.
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Philadelphianism“ bezeichnet worden.63 Ihr 7. Band, der die Kommentare zur Apokalypse enthält,64 erschien nach dem zweiten – Anfang der 30er Jahre in Berleburg kulminierenden – kirchengeschichtlich bedeutsamen Höhepunkt der Bewegung, zu einer Zeit, als der Enthusiasmus, mit dem die philadelphische Liebesvereinigung einst angefangen worden war, endgültig zu erlahmen begann, als Friktionen und Verfallszeichen unübersehbar wurden und die hoffnungsfrohe Sicherheit der Anfangsjahre einer skeptischen Ernüchterung Platz zu machen begann. Aus den Kommentaren beider Bibeln exzerpiere ich die wichtigsten Kernpassagen zur Erläuterung der in der Offenbarung (Apk 3,7 ff.) angesprochenen „Gemeine zu Filadelfia“ und zu ihrer Auslegung als Typus der dem „sardischen“ Verfallszustand der Kirche jetzt mit heilsgeschichtlicher Notwendigkeit nachfolgenden universalen brüderlichen Erwecktengemeinschaft. Horchs Mystische und Profetische Bibel exegesiert: Hierauf bricht nun Filadelfia herfür / das ist brüderliebe / weil in diser gemeine die erste liebe sol wiederkommen / daß die glaubigen abermal ein hertz u. eine seele werden u. also der entstandene brüderzanck aufhören / der bisher so gar viel gutes verhindert u. die geöfnete thür zur ausbreitung der evangelischen warheit wieder zugeschlossen. Nun aber soll durch den schlüssel Davids eine solche offene thür gegeben werden / die niemand mag zuschliessen u. verkündiget werden ein ewiges evangelium / das niemand mehr wird hemmen / vielweniger unterdrücken können C. 14./16. U. zwar soll dises verkündiget werden allen völckern auff erden / da vorhin bey anfang der reformation es nur etlichen wiederfuhr C. 10/11. Endlich beschleust die laue Laodicea / darinn die Filadelfische liebe leider! wiederum verkülen wird / darum auch der Herr für der thür stehet / sein volck zu richten […].65
Weit detaillierter führt der 7. Teil der ,Berleburger Bibel‘66 das Selbstverständnis und die angenommene Verpflichtung der Philadelphier aus. Sie kommentiert den Begriff „Gemeine zu Filadelfia“: welcher Name Bruder=Liebe heisset, und ein vortreffliches Sinnbild ist der wahren Kirche, die eine Brüderschafft seyn soll, 1. Petr. 5,9. und eine Gesellschafft ausdruckt, die innig seyn muß. Zu bedauren ist nur, daß noch wenig von der wahren Kirch darin zu sehen. […] Willt du nun Theil hieran haben, so werde in dir selbst das Filadelfia, und sehe zu, daß du den Liebes=Geist empfangest, und aus der Gesellschaft derer ausgehest, die da sagen, sie seyen Christen und Bekenner, und sinds nicht, und daß 63 F. Ernest Stoeffler: German Pietism during the Eighteenth Century, Leiden 1973 (Studies in the History of Religions. Bd. 24), S. 210. 64 Der Heiligen Schrifft Siebender Theil / oder des Neuen Testaments Dritter Theil, Berleburg 1739, S. 273–279. 65 Mystische Und Profetische Bibel, 1712 (wie Anm. 62), S. M 4r des letzten Bogenalphabets (Vorrede zu Apk., Kap. 2 und 3: Erklärung zu den sieben Gemeinen in Asia). 66 Der Heiligen Schrifft Siebender Theil (wie Anm. 64), S. 273–279.
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kein Falsch in deinem Mund und Hertzen erfunden werde. So ist nun Filadelfia ein Bild von einem bessern Kirchen=Zustand: welches aber geistlich zu verstehen ist, wie es der Kirche gemäß ist, und sichs auch zu dem Namen Filadelfia schicket. Denn was ist und soll die Kirche anders seyn als eine Sammlung der Brüder? Durch Brüder aber werden nicht blos tugendhaffte Leute verstanden, sondern solche die aus Christi Tod und Auferstehung haben müssen Brüder werden. Denn es setzet die Wiedergeburt zum Grund. Und also wird eigentlich verstanden eine Versammlung der Wiedergebohrnen. [S. 273]
Neben dem spirituellen wird hier das den meisten philadelphischen Gemeinschaften eigene separatistische Moment, die Konzeption einer außerinstitutionellen Geistkirche, ganz deutlich. Sie wird gegen „die falsche Kirche“, gegen ihren nur äußerlichen Gottesdienst und ihre unheilige Allianz mit dem Machtapparat der weltlichen Obrigkeit abgegrenzt: Filadelfia muß anderst aussehen; das werdet ihr nicht hindern können: wie ihr auch mit aller eurer Macht doch nicht habt verhindern können, daß nicht ein und anderes Filadelfia schon hervorgebrochen; ihr habts doch müssen geschehen lassen. GOtt aber hat euch zeigen lassen, daß sein Arm doch hindurch gehet. [S. 274]67 Versuchet es doch einmal ihr Zäncker, und schliesset zu, wenn der HErr was öffnet, wenn der Schall des Evangelii durchbricht in groser Krafft! Ihr sollt es nicht zustopffen, wenn GOtt mit den Fluthen seiner Gnade und Liebe überfliesset; wenn er verkündigen lässet, was vorhin nicht so bekannt war. [S. 275]
Der noch schwachen und oft verachteten Geistkirche wird eine große heilsgeschichtliche Aufgabe zugewiesen und glanzvolle zukünftige Sichtbarkeit prophezeit: Die übrigen und wenigen in Sarden, denen der todte Sardische Zustand, ob er gleich das Leben schiene zu haben, unter Augen gestellet wird, daß sie denselben todten Zustand erkennen und zu Hertzen nehmen, die werden denn suchen sich zu sammlen, und bey den Schmertzen über diesen Zustand sich zu erwecken und zu ermuntern, sich nach dem eigentlichen Willen des Sohns GOttes aufzuraffen, und 67 Deutlicher noch stellt der Berleburger separatistische Theologe und Mitarbeiter am großen Bibelwerk Christoph Seebach die beiden Gemeinden, die staatsabhängige Zeremonienkirche der Lauen und die freie Geistkirche der erweckten Spiritualisten, einander gegenüber : „Uberall / wo man sich des Evangelii rühmet / und den Namen haben wil / als lebete man für GOtt / durch den Glauben / ist aber in Sünden todt / und besudelt seine Kleider mit einem fleischlichen / unheiligen und ungeistlichen Wandel / allda ist die Sardische Gemeine. […] Allerwegen / wo eine unpartheyische Bruderliebe / sammt einer offenen Thür zu den göttlichen Warheiten und Geheimnissen gefunden wird / alda ist die Philadelphische Gemeine.“ (Seebach: Vorstellung der sieben Gemeinen JEsu Christi / Oder / Der Kirche GOttes Unter dem Neuen Testament, Berleburg 1719, S.)(4r.) – Die von der philadelphischen Gemeinschaft zu überwindende sardische Kirche wird als die vom Staat getragene und im Absolutheitsanspruch ihrer Dogmen geschützte Bastion konfessioneller Intoleranz angeprangert, die „den fleischlichen Arm brauchet / Gewaltthätigkeit ausübet und über die Gewissen herrschen wil“. (Seebach: Die andere Vorstellung Der sieben Gemeinen JEsu Christi […], Berleburg 1719, S. 45).
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Terminologische und historische Eingrenzungen
sich zu verbinden, und zwar beständiglich und beharrlich, daß es gleichwohl durchbrechen und zu einem Glantz kommen wird, zum Zeugniß der gantzen Welt […]. Wie das kleine Gersten=Brödlein Gideons sich wältzet, und alles umwirfft, als ein Fürbild; ist zu sehen B. Richt. 6,10. c. 7,13,15. Die Filadelfische Gemeine ist im Anfang ein kleines Senffkorn: aber sie wächset zu einem grosen Baum, unter welchem die Vögel des Himmels ruhen. Sie bestehet anfänglich nur in den wenigen Namen zu Sarden, die ihre Kleider nicht besudelt haben: von welchen aber aus dem Kleinesten sollen tausend werden, und aus dem Geringsten ein mächtig Volck. Jes. 60,22. [S. 275] Der Glantz von Filadelfia wird auch der Welt selbst sehr in die Augen fallen. Auch die Egypter werden müssen einen Reverentz machen vor Israel. 2. Mos. 11,8. […] Es wird was Heiliges seyn, nicht vor die Götzen zu Rom, sondern vor die Kleinen. Die nun mehrentheils der Welt Fußschemel müssen seyn, denen muß die Welt doch noch zu fusse fallen. [S. 276]
Die Erfahrung zeigt den Kommentatoren jedoch, daß die philadelphische Gemeinschaft noch nicht vollends zum Abbild der wahrhaft evangelischen Kirche geraten ist, weil sich auch in ihr wieder „Eigen-Sinn“, Zwietracht, laues und heuchlerisch-„laodiceisches“ Wesen breitgemacht haben. Ihr bei Erscheinen des Bibelwerks sichtbar bedrohter Zustand führt zu der Diagnose, daß die gewonnene Sammlung erst eine Vorstufe der verkündigten Gemeinschaft war. Ihre Pioniere haben daher wachsam zu sein, soll nicht die geleistete Arbeit vergeblich und der Fortgang des Heilswerks schuldhaft gehemmt werden. Man kan ja wol sagen, daß zu unsern Zeiten etwas und ein Vorblick von Filadelfia gewesen, da sich keiner vor dem andern scheuen durffte: es war ein Hertz und eine Seele bey vielen. Das kan man aber jetzt nicht sagen, sondern wir stehen in der Schande, im Abfall; die gezeigte Crone stehet in Gefahr : es ist noch nicht erfüllet, was der Sohn GOttes hie verkündiget. Der Name Filadelfia ist zum Spott worden in vieler Spötter Schrifften. Und die das Wort annehmen, haben eben nicht allemal etwas davon im Hertzen: die Vaganten laufen beyher ; und man muß die Schmach auf die Schultern nehmen. [S. 227]
Geradezu beschwörend ostendiert der Kommentar die von dieser Krisis nicht beeinträchtigte Glaubenszuversicht auf das in Kürze in Erscheinung tretende neue Jerusalem: Das ist das rechte Filadelfia in seiner Erfüllung: vorher ist es noch in der Sammlung und Zubereitung. […] Diß ist die Gemeinde, die sich Christus auserwählt zur Braut, und mit welcher er im Hohen Lied unter so viel Liebes=caressen conversiret. O Filadelfia, wie gros und wie herrlich bist du! Deine Gemeine ist höher denn alle Gemeinen! Du bekommst einige Menge deren die zu Säulen werden in dem Hause GOttes. Die Feinde sollen kommen zu ihren Füssen: Sie sollen sehen, was die Bruder=Liebe für eine Macht habe, und wie sie von dem HErrn geliebet sey. Die Stunde
Pietismus – Radikalpietismus – philadelphische Bewegung
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der Versuchung kan sie nicht versuchen: sie sind versigelt, und bleiben versigelt ewiglich. [S. 278 f.]
Die einigenden Grundideen des Selbstverständnisses aller deutschen Philadelphier treten in den beiden typologischen Exegesen deutlich zutage: die überkonfessionelle und außerinstitutionelle christliche Liebesgemeinschaft und die Berufung zur Vorbereitung des nahenden endzeitlichen Gottesreiches.68 Weitergehende Charakterisierungen der Vorstellungen und Argumente, die ihr Tun, ihre literarische Wirksamkeit und die sprachliche Form ihrer Äußerung mitgeprägt haben, bedürften für die einzelnen Initiatoren und Gruppen näherer Spezifizierung. Dem radikalen Flügel des Pietismus sind zwar fast alle zuzuordnen; aber ebenso wie ihr Verhältnis zur kirchlichen Gemeinschaft war auch der Inhalt ihrer auf die eigene Zeit und die nahe Zukunft bezogenen eschatologischen Spekulationen verschiedenartig akzentuiert. Die brüderliche Gemeinschaft konnte als Sammlung aller Erweckten in den verschiedenen Kirchen und außerkirchlichen Gruppen verstanden werden oder enger – und dann mit ausgeprägt separatistischer Stoßrichtung – als Vereinigung nur derer, die aus verschiedenen Kirchen stammten, sich aber von ihnen getrennt hatten, um nicht durch die Gemeinschaft mit ,Unwiedergeborenen‘ Schaden an ihrer Seele zu nehmen. Aufgrund dieser separatistischen Auslegung entwickelten sich verschiedene philadelphische Gruppierungen, besonders die unter Horchs Einfluß in Hessen entstandenen, zu schroff antikirchlichen Sondergemeinschaften mit zum Teil abstruser Ideologiebildung. Diese nahmen schließlich auch sektentypische Organisationsformen an. In der von den Philadelphiern verfochtenen Lehre gelangten chiliastische Ideen, böhmistische Spekulationen und verschiedenartige spiritualistische Traditionen zu durchaus unterschiedlicher Bedeutung, so wie auch das Vertrauen auf Visionen, göttliche Einsprachen 68 Beide Argumente sind bündig zusammengefaßt in einem anonymen philadelphischen Bußruf an alle Menschen, „auß welchem Lande / in welchem Stande / Ampte und Beruffe / von was Religion“ (S. 24) sie auch seien: „Eines Filadelfisch=Gesinneten / Nach dem Lauff der jetzigen Vorsehung eingerichtete / Vermahnung An alle und allerley Gattung Menschen in der Welt. – Gedruckt im Jahr 1700.“ Da heißt es, „es sind die sechs tausend Jahre der Eitelkeit so weit vorbey / daß nichts mehr übrig ist / als nur eine geringe Vorbereitungs=Zeit / darinnen sich alles muß regen und bewegen zu der grossen Veränderung […] in Wiederherstellung der Menschen zur ersten Liebe / woraus sie gefallen seynd. […] das ist also das sichtbahre Werck das GOtt thun und von nun an anordnen will in der gantzen weiten Welt / nehmlich eine Philadelphiam oder Brüder=Liebe“ jenseits „von hergebrachten und ererbten religionen, Confessionen, Gebräuchen / Gewonheiten und dergleichen“ (S. 3–6; vgl. v. a. S. 20). Die 24seitige Oktav-Flugschrift ist zufolge der Rankenzierleiste ihrer Eingangsseite und der Überlieferung in einem Band mit Offenbacher Drucken mit hoher Wahrscheinlichkeit als ein Produkt Bonaventura de Launoys, des ersten Druckers der „Historie Der Wiedergebohrnen“ anzusehen. In einer kryptonym gezeichneten Dedikation zu seinem Nachdruck von Jane Leades Programmschrift „Ursachen und Gründe Welche hauptsächlich Anlaß gegeben / Die Philadelphische Societät aufzurichten“ (vgl. Schrader : Literaturproduktion [1989, L 1], S. 139) äußert Launoy 1698 ganz gleiche Ideen.
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und Zeichen zur Kommentierung oder sogar Ergänzung der biblischen Offenbarung keineswegs überall gleichmäßig ausgeprägt war. Die historische Entwicklung der philadelphischen Gemeinschaften und ihrer Gedanken kann hier nicht detailliert nachgezeichnet werden. Nur die einzelnen Stationen seien knapp umrissen. Dabei soll angedeutet werden, wo überall sich Berührungspunkte zur Geschichte der Reitz’schen Sammelbiographie ergeben, die zwar selbst nur bedingt als ein Dokument der philadelphischen Bewegung bezeichnet werden kann,69 die aber von deren Gedankengut beeinflußt, durch diese Bewegung gefördert und zu ihrer außerordentlichen Wirkung gelangt ist. Als erste wirkungsreiche Verfechter philadelphischer Ideen im deutschen Pietismus sind wohl die Eheleute Johann Wilhelm und Johanna Eleonora Petersen70 zu bezeichnen. Beide haben in ihren zahllosen thetischen und poetischen71 Publikationen wirksam die Idee einer formlosen, über den Konfessionen stehenden philadelphischen Geistes- und Gebetsgemeinschaft der Erweckten popularisiert.72 Schon seit 1677 waren beide führend an den Plänen 69 Die charakteristische Spekulation der Philadelphier über die apokalyptischen Gemeinden wird in der „Historie“ ebensowenig wie die Tradition der philadelphischen Sozietäten als mustergültig propagiert oder auch nur explizit herausgestellt. – In ihrem deutlich überkonfessionellen Konzept von der Gemeinschaft der Wiedergeborenen, ihrer Offenheit für radikalpietistische und spiritualistische Ideen stimmt sie aber mit den philadelphischen Zielvorstellungen überein, ohne daß das ein entschiedenes Hinausgehen über gemeinpietistischen Konsens erforderte (immerhin wird im Schlußlied zu Historie IV,9 die Gemeinschaft der Erweckten charakterisiert, „Wo sich die Lieb von Philadelphie findet“, während die Amtskirche als „Laodicäens Bild“ erscheint. Reitz: Historie Der Wiedergebohren. Neudruck [1982, L 2], Bd. 2, Teil IV, 1716, S. 136). Der Rezensent der orthodoxen „Unschuldigen Nachrichten“ macht Reitz denn auch zum Vorwurf, er habe in seiner Sammelbiographie lauter sonderbare Schwärmer als Wiedergeborene angepriesen, „sie mögen sich nun zu einer Religion bekannt haben zu welcher sie wollen, oder mögen wohl gar alle Religionen über den Haufen werffen, und eine neue philadelphische Gesellschaft und Gemeine haben aufrichten wollen.“ Auch, daß in dem Werk neben andern suspekten Vorbildern Thomas Bromley rühmend erwähnt werde, kreidet ihm die Rezension an. Fortgesetzte Sammlung Von Alten und Neuen Theologischen Sachen 33 (1733), S. 251 f., 259. 70 Zu knapper Information vgl. Schrader: Johann Wilhelm Petersen (1979, L 60). 71 Petersen war zeitweilig Professor Poeseos und Mitglied des Pegnesischen Blumenordens. Außer einem von Leibniz angeregten und bearbeiteten Großepos „Vranias“ (1720) hat er zur Verbreitung seiner Endzeitlehren auch eine Lyriksammlung „Stimmen Aus Zion“ (3 Teile, 1696–1701) verfaßt. 72 Vgl. außer der (oben Anm. 58) bereits zitierten Widmung seines thetischen Hauptwerks „LUSTGQIOM APOJATASTASEYS PAMTOM“, 3 Bde., 1700–1710, z. B. auch den „Sionitischen Zuruff“ und die „Vorrede“ seines im selben Verlag wie die ersten Auflagen der Reitzschen „Historie“ publizierten Traktats: „Die Hochzeit Des Lammes und der Braut / Bey Der herannahenden Ankunfft JEsu Christi / Durch ein Geschrey in dieser Mitternacht / zur heiligen Wache […]“, Offenbach o. J. [ = 1709], S.)(8V: „Auff! Jungfräulicher Geist in Philadelphia! Die Hochzeit gehet an / der Bräutigam ist da. […] Drum / Philadelphia / mit Fleiß sein Wort vernimmt.“ Ebd., S. b2r : „Wir sind in der Gemeine / die in der heiligen Offenbahrung Cap. 3 v. 7 Philadelphia heisset.“ Vgl. auch Petersen: Die gerührte Harffe Gottes über die heilige Apocalypsin, Frankfurt – Leipzig [recte: Idstein] 1719, S. 17 f., 25, 49–52, 73, 102 sowie ders.: Die von
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der ,Frankfurter Companie‘ beteiligt, den in Europa wegen ihres Bekenntnisses bedrängten Gläubigen im pennsylvanischen Philadelphia eine Heimstatt zu schaffen.73 Der Vorbereitung dieses Ziels einer nicht konfessionsgebundenen überseeischen Erwecktenkolonie diente noch um 1690 ein Versuch der Frau Petersen, aus dem Kreis ihres Lüneburger Konventikels eine „Patriarchische und Apostolische Gesellschafft“ oder „Philadelphische Gesellschafft“ ins Leben zu rufen.74 Insbesondere aber sind beide Eheleute durch ihre lebenslang un-
Christo für den Philadelphischen Engel gegebene offene Thüre, Frankfurt 1718 und ders.: Das Leben Jo. Wilhelmi Petersen, o.O. 1717 (wie Anm. 53), S. 389. Mit dem ebd., S. 244–252 erwähnten Betrüger aus England dürfte Johann Dittmar gemeint sein. – Thune: The Behmenists (wie Anm. 48) S. 133 hat bei seiner Darstellung der Bedeutung Petersens für die philadelphische Bewegung in Deutschland (S. 108–114, 133 f.) darauf hingewiesen, daß Petersens Einwände 1703 entscheidendes Gewicht für die Erfolglosigkeit der Bemühungen der Londoner Sozietät hatten, durch ihren Inspektor Dittmar den deutschen Brüdern eine Gemeindeorganisation und ein formuliertes Credo aufzuprägen. In dem der Forschung völlig unbekannt gebliebenen Nachruf auf seine Frau hat Petersen auf Dittmars Missionsbesuch Bezug genommen und dabei angedeutet, daß seine Frau mehr als er selbst dem Gedanken einer sektiererischen Sondergemeinschaft auf böhmistisch-spekulativer Grundlage Sympathie entgegenbrachte. Als aufschlußreiche Supplementärinformation über die englisch-deutsche Philadelphiergeschichte zitiere ich den Passus aus der Abschrift, die mir die Bücherei der Erweiterten Oberschule Zerbst (als es dort zu DDR-Zeiten noch keine Kopiermöglichkeit gab) von dem in ihrem Besitz befindlichen Exemplar angefertigt hat: J. W. Petersen: Meiner theuren und gottseligen Ehe=Liebsten Fr. Johanna Eleonara Petersen, gebohrnen von und zu Merlau, Heimgang zu Christo Jesu […], Leipzig, gedruckt bey Immanuel Tietzen [1724]. „Es kam einer aus Engelland / zu Sie / und stellte sich in einen Engel des Lichts / derselbige wartete auf mich mit seiner Familie: biß ich von Nürenberg wieder kam. j Als er nun nicht dachte / daß ich so bald kommen würde / und mich sahe / entsatzte er sich sehr / dabey ich merckete / daß es mit ihm nicht recht war / welches sich auch bald also fand. Als ich ihn nun aus meinem Hause wegwiese / hat er allerhand Lästerungen ausgesprenget; Aber er ist bald darauf / als ein Ertz=Lästerer / erkannt worden bey andern / die er / nach mir betrogen / wie ihn andere / die er zuvor betrogen hatte / also erkannt haben. Wir haben uns damit getröstet / was der Heyland zu der Philadelphischen Gemeine gesaget / daß es einige aus Satans=Schule geben werde / die sich für Bekenner ausgeben / da sies doch nicht wären / aber die sollten es sehen / daß Christus seine Philadelphier geliebet hatte / Die da sollten bewahret werden für die Stunde der Versuchung / die über den Welt=Creyß kommen würde.“ 73 Für die dazu nötigen Landkäufe auf amerikanischem Boden haben Johann Wilhelm und Johanna Eleonora Petersen auch Geld bereitgestellt, sind aber entgegen ursprünglicher Absicht nicht auch selbst ausgewandert. Vgl. dazu Schrader : Literaturproduktion (1989, L 1), S. 224 und die Literaturhinweise ebd., S. 475 f. 74 Ausführlich berichtet darüber Johann Heinrich Feustking: Gynaeceum Haeretico Fanaticum, Oder Historie und Beschreibung Der falschen Prophetinnen / Qväckerinnen / Schwärmerinnen / und andern sectirischen und begeisterten Weibes=Personen, Frankfurt – Leipzig 1704, S. 476–479. Die Ziele dieses offenbar erfolglosen Gründungsversuchs läßt Feustkings vermutlich auf Selbstzeugnisse gegründete Darstellung klar erkennen. Zunächst „wollen sie (die Pietisten) nach einem Ort forschen / da sie von aller dreyer Seiten Lehre / Glauben / Ceremonien / Leben und andern Babylonischen Greueln / abgesondert GOtt dienen können“. Deshalb „Wollen sie nicht mit den Babyloniern sich vermengen / sondern eine eigene colonia anbauen […] untereinander Brüder und Schwester seyn und heissen.“ Dort schließlich wollen sie „ihren eigenen Gottesdienst nach erster rechter Apostolischer Art einrichten / von allen Secten / Ce-
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gemein fruchtbare literarische Aktivität zur Verbreitung ihrer auf visionäre Erkenntnis gestützten endzeitlich-spiritualistischen Lehren (Chiliasmus-, Wiederbringungs- und Sophienspekulation)75 von maßgeblicher Bedeutung für die Argumentations- und Redeweise in den philadelphischen Kreisen wie im ganzen radikalen Pietismus gewesen. Persönlich hat sich Petersen auch nach seiner Entlassung aus dem Kirchendienst im Jahr 1692 nicht von der lutherischen Kirche abgesondert. Den separatistischen Gemeindegründungen in Westdeutschland stand er wohl auch skeptisch gegenüber. Er hat aber mehrere seiner heterodoxen Bücher in denselben Verlagen herausgebracht, in denen die Historie Der Wiedergebohrnen erschien. Mit deren Verfasser Johann Henrich Reitz hat er in vertrauter Korrespondenz gestanden. Als Prophet und erster Organisator philadelphischer Gemeinden ist in Hessen seit 1697 der bereits erwähnte Henrich Horch, ein amtsentsetzter Theologieprofessor der reformierten Hochschule in Herborn, hervorgetreten. Johann Henrich Reitz hat ihn anfänglich auf seinen Missionsreisen begleitet und unterstützt – wenn auch theologisch behutsamer, mit wacherer Skepsis gegenüber vorgeblichen Offenbarungen und Gesichten, ohne wie Horch alles Kirchenwesen in Bausch und Bogen zu verdammen, und frei von dessen pathologischer Ekstase. Reitz hat sich spätestens zurückgezogen, als diese freien Gemeinden in immer schrofferen Separatismus und schwärmerischeren Fanatismus gerieten, am krassesten ausgebildet bei der in sakraler Prostitution endenden ,Buttlarschen Rotte‘.76 Auch an den von philadelphischen Idealen geprägten Gemeinschaften, die sich in den letzten Jahren des 17. Jahrhunderts innerhalb der Kirche und gefördert durch die Landesherrschaft unter der geistigen Ägide des Hofpredigers Conrad Bröske im isenburgischen Offenbach bzw. des Wandermissionars Ernst Christoph Hochmann von Hochenau im wittgensteinischen Berleburg bilden konnten, ist Reitz kurzzeitig als freier Prediger beteiligt gewesen. Die zeitlich folgende separatistische Gemeinschaft, die sich als Teil der umfassenden philadelphischen verstand, trat seit 1702 im lutherischen Straßburg deutlich in Erscheinung. Dort mußte sie zwar schon bald darauf dem kirchlichen und obrigkeitlichen Druck weichen. Ihr und der ihr personell eng verbundenen, aus theosophischen und medizinisch-chymischen Kreisen hervorremonien und Adiaphoris gereiniget / wollen auch zu dessen Befoderung ihre eigene Druckerey halten / damit sie bloß für sich / und ihre Jugend drücken mögen / was noth ist.“ (S. 476 f.) 75 Ausführliche Darstellungen bei Walter Nordmann: Die theologische Gedankenwelt des pietistischen Ehepaares Petersen, Diss. lic. theol. Berlin 1929, Teildruck Naumburg und Obermöllern 1927, S. 27 ff.; ders: Im Widerstreit von Mystik und Föderalismus. In: Zeitschrift für Kirchengeschichte. 3. F., Bd. 1 (= Bd. 50), Stuttgart 1931, S. 159 ff. 76 Die Halleschen Pietisten verwahrten sich natürlich entschieden dagegen, mit solchen extremen Schwarmgeistern in einen Topf geworfen zu werden, wozu ihnen die Orthodoxen aber mit Hinweis auf pietistische Apologeten und gemeinsame Lehrirrtümer das Recht absprachen: „Untersuchung / ob die gottlose Buttlerische Rotte mit dem Nahmen der Pietisten könne beleget werden.“ In: Unschuldige Nachrichten 7 (1707), S. 668–670.
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gewachsenen und nur locker gefügten philadelphischen Sozietät in Württemberg entstammen aber Männer, die für die Fortführung und Verbreitung der Historie Der Wiedergebohrnen und für den radikalpietistischen Bücherverkehr später, als sie einander in der Wetterau und in Berleburg wiedertrafen, überragende Bedeutung gewonnen haben: die Brüder Johann Friedrich und Johann Jacob Haug, ferner Johann Samuel Carl und Andreas Groß. Sie sind die führenden Geister der zweiten Philadelphier-Generation geworden. Berührungen ergaben sich auch zwischen diesen Gruppen und den seit etwa 1702 bis in die 30er Jahre des 18. Jahrhunderts aktiven, von der Kirche verfolgten separatistischen Konventikeln des Oberharzes, die sich in Clausthal den Namen einer ,Philadelphischen Sozietät‘ oder ,Philadelphischen Brüderschaft‘ zulegten.77 Sie waren gleich den Berleburgern von Hochmann von Hochenau entflammt, wanderten z. T. ins Wittgensteinische aus, erhielten von dort Kuriere und Gesangbücher. Der entlassene Theologe Victor Christoph Tuchtfeld, der im Harz lange ihr Lehrer und Anführer gewesen war, wurde 1732 lutherischer Hofprediger und zugleich Seelsorger der katholischen Diaspora im reformierten Berleburger Land und Mitstreiter des dort von Haug und Carl initiierten philadelphischen Zusammenschlusses. Die bis zur Jahrhundertmitte fortbestehende Separatistengemeinschaft in Berleburg und die aus ihren unterschiedlichen Bekenntnisgruppen um 1730 mit engagierter Förderung des Grafen Casimir, der politischen und kirchlichen Lokalinstanzen erwachsene philadelphische Vereinigung sind zweifellos die historisch bedeutendste Mittelstelle für die literarische Wirkung radikalpietistischer und insonderheit philadelphischer Ideen gewesen. Von hier aus erging vor 1730 eine wiederholt gedruckte und vielbeachtete Philadelphische 77 Was man über diese Oberharzer Philadelphier weiß, findet sich bei Karl Kayser: Hannoversche Enthusiasten (wie Anm. 50), S. 69–71 und v. a., mit Korrekturen an Kayser, bei Rudolf Ruprecht: Der Pietismus in den Hannoverschen Stammländern (wie Anm. 44), S. 14–18, 25–72. Vgl. Martin Schmidt: Der Pietismus in Nordwestdeutschland. In: Jahrbuch der Gesellschaft für niedersächsische Kirchengeschichte 70 (1972), S. 166–170. Der führende Geist der Oberharzer Philadelphier, Victor Christoph Tuchtfeld, hatte bereits in Halle den öffentlichen Gottesdienst durch philadelphische Propaganda gestört (vgl. seine Schriften, Tuchtfeld: Die Bekehrung der Väter zu denen Kindern […]. Zur […] Errettung so vieler tausend Seelen, die unter den Menschen=Ordnungen und Satzungen gefangen gehalten werden […], o.O. 1723 und Tuchtfeld: Die Scheidung des Lichts und der Finsterniß […] Allen Gottesfürchtigen / in allen Secten und Religionen zur Prüfung […], o.O. 1724). Vor seiner Ansiedelung in Berleburg hatte er in Nürnberg vergebens versucht, eine philadelphische Gemeinde zu sammeln (Abwehrschrift: „Der Nürnbergischen Prediger treu-hertzige Vermahnung“, Nürnberg 1731 und Tuchtfelds Apologie: „Wie ich im Hertzen glaube, so Bekenne, thue, rede, schreibe und leide“, Frankfurt – Leipzig 1732; charakteristische Verteidigungsschriften „Von Einem Nicht Paulisch, nicht Kephisch, nicht Lutherisch, nicht Tuchtfeldisch, Sondern mit Paulo, Petro, Luthero und Tuchtfelden gesinneten Philadelphier Angestellte Genaue Forschung […] Zur Ermunterung der Philadelphischen Genossen […] Auf Unkosten der Philadelphischen Freunde“, Frankfurt – Leipzig 1732 und Philadelphus: Der Von einem reißenden Schaaf, Verfolgte Unschuldige Wolff […], o.O. 1732). – Für neuere Literatur zu Tuchtfeld vgl. jetzt Schrader : Lutherisch-reformierte Konfessionsirenik (2018, L 58), S. 99 f.
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Einladung zu einer gewissen Gebets=Versammlung im Geist, die das Ideal der streng außerinstitutionellen und überkonfessionellen Erwecktengemeinschaft im gesamten Pietismus neu belebte.78
78 Die „Philadelphische Einladung“ hat durch einen Abdruck in einer kirchlich-pietistischen Zeitschrift, den „Supplementa Der Auserlesenen Materien zum Bau des Reichs GOttes“. Bd. 1, 5. Sammlung, Leipzig 1738, S. 450–463 die größte Verbreitung gefunden. Dort wird S. 461 der Verfasser der „Geistlichen Fama“, also Johann Samuel Carl, als ihr Autor angegeben und S. 462 f. auf eine ursprüngliche Ausgabe offenbar als Berleburger Flugschrift („ein gedruckter Aufmunterungs= und Aufforderungs=Brief zur stillen Gebets= und Geistes=Versammlung“) verwiesen. Ein Exemplar dieser als verschollen geltenden Flugschrift, „Philadelphische Einladung zu einer gewissen Gebehts=Versammlung im Geist“ (4 Bl., mit dem handschriftlichen Vermerk „Impr. 1729 Majo.“) habe ich erst 2016 im Nachlass der Lausanner Quietistengemeinschaft auffinden können: BCU Lausanne, Fonds des .mes int8rieures, TS 1013/15–17 (vgl. dort. S. 4: „Und in dieser geheimen freyen und ungeformten Societät finden sich Seelen von allerley Gattung der Religion, Standes und Berufs, die Philadelphisch gesinnet sind, und die geheimen Wege erwählet und geschmäcket haben.“) – Die Wiedergabe der „Supplementa“ hatte bereits auf einem Nachdruck beruht, der 1730 in einem Andachtsbuch des Züllichauer Waisenhauses erschienen ist: „Schule des Heiligen Geistes. […] Nebst einer Philadelphischen Einladung zu einer gewissen Gebets=Versamlung im Geist. 188. 1730.“ Vgl. die Anzeige dieses Büchleins in: Zuverläßige Nachricht von den Büchern der Privilegirten Buchhandlung des Waysenhauses zu Züllichau, Züllichau (heute Sul8chow) 1740, S. 80 f. – Carl beklagt in diesem Aufruf (ich zitiere nach dem Originaldruck von Mai 1729) die Zerstreuung der Christen, die durch neue Organisationsformen kaum zu beheben wäre: „Und da man Unionen und Vereinigungen durch Sina"tische Gebote und vernünfftliche Satzungen, durch Zwang und Drang der Gewissen, suchet; macht man übel nur ärger“. Die Angehörigen aller Konfessionen und Sekten sollten sich auf die gemeinsame, von den Mystikern aller Konfessionen gleichartig erfaßte Herzenstheologie besinnen, in dem ihre „unsterbliche Seelen aus der Circumferentz der Meynungen und Passionen in das Centrum sich kehren, ihr Hertz suchen und finden zur Anbetung im Geist und in der Wahrheit, (2. Sam. 7,27.) die Zucht der Weißheit fassen, und sich derselben zur Abtödtung ohne Ausnahm unterwerffen“. (Flugschrift-Druck [s. o.], S. 1) Carl berichtet ferner, es habe „sich eine geraume Zeit her ein segenvolles Centrum der göttlichen Liebe und neuen Ernstes unter wahren Philadelphischen Gliedern von neuem eröffnet, welche nicht ohne verborgenen Winck GOttes einander einladen und auffordern zu der innerlichen Geistes=Versammlung“ (S. 3). „Begehret iemand das Register der Namen solcher verbundenen Glieder und Freunde zu sehen, der wisse, daß sie in dem Buch des Lebens geschrieben sind, mit ihren rechten Namen, den niemand kennet als der ihn empfähet.“ (S. 4). – Über den starken Widerhall, den diese „Philadelphische Einladung“ gefunden hat, berichtet Andreas Groß schon am 28. 1. 1730 in einem Brief an Zinzendorf (Büdingische Sammlung. Bd. 3, 17. Stück, Büdingen 1744, S. 645 f.): „Es lauffen viele gesegnete Proben und Zeugnisse ein auf die Philadelphische Einladung. Das obere Jerusalem arbeitet mächtig und würcket sänftiglich auf die innere Menschen, welche die geheime Wege erwehlet, und dem Gebet ergeben sind. Denn der HErr hat ein Reich und herrschet mitten unter seinen Feinden.“ Daß der philadelphische Sammlungsgedanke auch unter den aus der Berleburgischen bzw. der benachbarten Schwarzenauer Gemeinschaft nach Amerika emigrierten Separatisten und Sektierern, die mit der Heimat vielfältige geistige, literarische und buchhändlerische Verbindungen aufrecht erhielten, lebendig geblieben ist, zeigt eine vergleichbare philadelphische Einladung aus Germantown bei Philadelphia, die ebenfalls in der ,Büdingischen Sammlung‘ abgedruckt wurde: „Joh. Adam Grubers An= und Aufforderung an die ehmalig erweckte hier und dar zerstreute Seelen in Pensylvania, in oder ausser Partheyen, zur neuen Umfassung, gliedlicher Vereinigung, und Gebets=Gemeinschaft, dargelegt aus dringendem Hertzen eines um Heilung
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Hier erschien auch von 1730–1744 in dreißig Stücken (3 Bänden) eine eigene Zeitschrift als kontaktstiftendes Organ der philadelphischen Sammlung, die zunächst von Johann Samuel Carl, später von Johann Christian Edelmann und anderen herausgegebene Geistliche Fama. Bezeichnend genug erschien sie anfangs mit der fiktiven Ortsangabe „Philadelphia“, bereits 1732 gibt sie resignativer „Sarden“, später gelegentlich auch „Laodicea“ als ihren Druckort an – ein Zeichen, daß die Gemeinschaft ihren Optimismus, das neue Philadelphia vorzustellen, einzubüßen begann. Hier, im Umkreis der beiden letzten Auflagen der Historie Der Wiedergebohrnen, ist zum letzten Mal wirksam das gesamte Geistesgut der philadelphischen Spekulation manifest geworden. Zur Vervollständigung dieses knappen Überblicks bleibt noch nachzutragen, daß auch der Graf Zinzendorf, der schon in jungen Jahren in der von Hochmann geformten Ebersdorfer Schloßgemeine für philadelphische Ideen entzündet worden ist, seine Herrnhuter ,Brüdergemeine‘ lebenslang als Verwirklichung des neuen Philadelphia auf Erden verstanden hat. Wie maßgeblich die philadelphische Tradition seine Theologie geprägt hat, hat die jüngere Zinzendorf-Forschung, am detailliertesten die Arbeit von Sigurd Nielsen und der mustergültige Artikel von Hans Schneider, aufgedeckt.79 Allerdings hat der Graf aus dieser Tradition nur das Motiv der auf konfessionelle Toleranz gegründeten brüderlichen Liebesgemeinschaft, den Indifferentismus in dogmatischen Fragen adaptiert. Anstelle der eschatologischen Spekulation, die ja der Selbsteinschätzung der Philadelphier zugrunde lag, stellte er als „QuaderSteine“ und „Kütt“, auf die die Gemeinschaft gegründet sein sollte, Christi Verdienst und Blut ins Zentrum seines theologischen Denkens.80 Zinzendorfs Versuch, die Berleburger Philadelphische Sozietät 1730 zur Annahme fester Gemeindestatuten zu bereden und längerfristig in die Organisation seiner Brüdergemeine einzubinden, konnte kein dauerhafter Erfolg beschieden sein. Vereinzelte Nachzügler philadelphischer Äußerungen in noch nicht säkularisierter Form sind auch noch jenseits der Zeit auszumachen, in der die Historie Der Wiedergebohrnen Verbreitung fand. In der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts findet man sie besonders unter den Spätpietisten mit ihrer Neigung zu eschatologischen Spekulationen auf eklektischer Grundlage. Charakteristisch philadelphischer Einfluß wird etwa noch sichtbar, wenn Johann Bernhard Basedow 1767 und 1781 in Altona Gesangbücher für alle Kirchen und Sekten zur Förderung christlicher Bruderliebe herausgibt und wenn dort 1773, kurz nach seinem Fortgang, nochmals versucht wird, eine der Brüche Zions ängstlich bekümmerten Gemüths, im Jahr 1736.“ (Büdingische Sammlung. Bd. 3, 18. Stück, Büdingen 1744, S. 13–39.) 79 Vgl. die Zusammenstellung der wichtigsten Arbeiten zu dieser Frage bei den Literaturangaben zur philadelphischen Bewegung oben, Anm. 48. 80 Nielsen: Der Toleranzgedanke bei Zinzendorf (wie Anm. 48), S. 36 f. und Hans Schneider: Nikolaus Ludwig von Zinzendorf. In: Gestalten der Kirchengeschichte. Bd. 7: Orthodoxie und Pietismus. Hg. von Martin Greschat, Stuttgart 1982 S. 347–372.
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philadelphische Gesellschaft aufzurichten.81 Derselbe Geist regiert auch noch den philanthropischen Pfarrer im Steintal, Johann Friedrich Oberlin, den Pfleger des armen Jacob Michael Reinhold Lenz, wenn er seine Karten und Schemata der jenseitigen Welt entwirft und handschriftlich hinzufügt: Nach D. Pordage, J. Leade und einigen andern englischen Schriftstellern. „Prüfet alles“, sagt Paulus, „und das Beste behaltet.“82
81 Johann Adrian Bolten: Historische Kirchen=Nachrichten aus der Stadt Altona, Bd. 2, Altona 1791, S. 136 f. – In ihren überkonfessionellen Glaubensgrundsätzen sind weitgehende Übereinstimmungen zwischen dem philanthropischen Gymnasialprofessor Basedow und den philadelphischen Gruppierungen in Altona konstatierbar. Titel, Widmung und Vorrede eines von Basedow anonym edierten Gesangbuchs zum Gebrauch in den philanthropischen „Educationsinstituten“ und zur Privaterbauung zeigen deutliche Spuren philadelphischer Konfessionsirenik. [Johann Bernhard Basedow:] Allgemein=Christliches Gesangbuch für alle Kirchen und Sekten, Riga – Altona 1781. Vgl. dort besonders die Widmung, S. )(3 und )(5; die Vorrede, S. a 4vff., wo das Ziel genannt wird, „wegen der so sichtbaren Uebereinstimmung aller Christen über so viele, so wichtige und (ich möchte fast sagen) so zureichende Punkte, eine christliche Bruderliebe, die leider so sehr fehlt, unter ihnen [zu] stiften und unterhalten.“ Bereits 14 Jahre früher erschien vom selben Verfasser: „Ein Privat=Gesangbuch zur Erbauung für solche Christen, die verschiedenen Glaubens sind, (von J.[ohannes] B.[ernhard] Basedow) Altona 1767.“ (nachgewiesen im „Catalogus Bibliothecae Erdm. Gottwerthi Neumeisteri“, Hamburg 1771, S. 191.) – Vielleicht angeregt durch das Altonaer Beispiel bildete sich 1782 (nach Mitteilung der Augspurgischen Extra-Zeitung, Nr. 55) auch in Stockholm eine Gemeinschaft „der Gutgesinnte Brüder“, die „mystische, unverständliche Sätze […] aus den Schriften des Böhms und andern Schwärmern“ bezog und „nach der menschenfreundlichen Gewohnheit aller vorgeblichen Erleuchteten, die, so ihre Meynung nicht annehmen“, verdammten. „Das Haupt derselben ist ein Seidenwebers=Gesell, Namens Cellin, und sein Anhang gemeiner Pöbel.“ Publiziert bei Eberhard Buchner: Religion und Kirche. Kulturhistorisch interessante Dokumente aus alten deutschen Zeitungen (16. bis 18. Jahrhundert), München 1925, S. 266. Zentral bedeutsam ist philadelphisches Gedankengut im Spätpietismus auch noch für Jung-Stilling. Vgl. Max Goebel: Jung=Stilling als christlicher Volksschriftsteller. In: Protestantische Monatsblätter für innere Zeitgeschichte 15 (1859), S. 65 f. 82 Publiziert aus der Handschrift in der Stadtbibliothek Straßburg bei Alfons Rosenberg: J.F. Oberlin. Die Bleibstätten der Toten, Bietigheim [1973], S. 102 (vgl. 101–103). Im Elsässer Steintal gab es nach einem brieflichen Bericht Johann Friedrich Haugs schon 1704 philadelphisch gesinnte Separatisten (abgedruckt bei J[ohann] J[oachim] Zentgraff: Deß Evangelischen Kirchen=Convents in Straßburg Abgenöthigter Historischer Bericht […], Straßburg 1706, S. 173). Außer durch die Reminiszenz auf die führenden Geister der Londoner Philadelphischen Sozietät wird diese Tradition bei Oberlin auch durch den beigesetzten Bibelspruch 1Thess 5,21 erkennbar, der den radikalen Pietisten häufig dazu diente, gegen die Verketzerung von Lehrabweichungen, Wunderberichten und Offenbarungen zu warnen und sich selbst als unabhängig von den Zwängen des Konfessionalismus zu positionieren: „Prüffet alles / und das Gute behaltet.“ bzw. im griechischen Original „pamta dojilafete7 tk jakkm jat]wete. 1 Thess. 5,21.“, zit. nach: Des Württembergischen Prälaten Friedrich Christoph Oetinger Biblisches Wörterbuch. Neu herausgegeben […] von Dr. Julius Hamberger. Mit einem Vorwort von Dr. Gotthilf Heinrich v. Schubert, Stuttgart 1849, S. (II). Zur Topos-Bedeutung dieses Bibelzitats vornehmlich im radikalen Pietismus finden sich zahlreiche Beispiele bei Schrader: Literaturproduktion (1989, L 1), S. 385 f.
Probleme der bibliographischen und editorischen Erschließung pietistischer Literatur* [1988, L 16, ausblickhaft aktualisiert]
1. Bibliophobie und Bibliomanie im Pietismus Wäre es nach den frömmsten Wünschen der Pietisten gegangen, dann hätte man auf Bücher und alles sonstige menschliche Druckwerk verzichten können. Nicht einmal eine pietistische Literatur hätte es dann zu geben brauchen – und ein Referat über die Probleme ihrer bibliographischen Erschließung ließe sich folglich beenden, noch ehe es recht begonnen wäre. Was nur der Heilige Geist lehren und im Herzen der Gläubigen ausgebären könne, so war die Meinung, das lerne man nicht aus Büchern, nicht einmal aus einem intellektuellen Erfassen des Buchs der Bücher. Lesen und viel Wissen, selbst in den Materien des Glaubens, führe nur, wie der Jurist und Theosoph Johann Georg Gichtel erfahren hat, zu „Theologie / Gottgelehrtheit / oder vielmehr Matäologie / unnützem Geschwätz / I. Tim. 1/6.“ und damit zu konfessionellen Entzweiungen statt zur Konzentration auf das unum necessarium: Gleich wie nun solches Studiren zur Nachfolge Christi nichts nutzet (ja wohl gar schädlich offtmals erfunden wird) also im Kampf mit dem Satan helfen nicht einmal die fürtrefflichste Sprüche der Schrifft / wo nicht andre wesentliche Waffen / und Glaubens-Kräfften aus Gott vorhanden seynd. […] Alles was wir aus Büchern ins Gedächtnüß einführen / bestehet im Feur nicht / es muß selbsten in der Seelen ausgebohren werden.1
Eine Generation später äußerte der inspirierte Sattlermeister Johann Friedrich Rock in einer „stillen Hertzens-Einkehr“ dieselbe Bücherskepsis, als ihm seine Brüder eine Bibel und fromme Exempelsammlungen in sein Frankfurter Gefängnis brachten, in poetischer Form: * Beitrag für das Zweite Kolloquium der Deutschen Forschungsgemeinschaft zur bibliographischen Lage in der germanistischen Literaturwissenschaft unter Leitung von Wolfgang Martens am 24. September 1984 in der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel. 1 Reitz: Historie Der Wiedergebohrnen. Neudruck (1982, L 2), Bd. 1, III. Teil, o. O. [Offenbach] 1701, XIV. Historie von Johann Georg Gichtel, S. 200.
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viele Bücher lesen zu solcher Zeit […] vertreibt die Hertzens-Innigkeit Auch kein Buch erfreuet mich, Wann nicht habe wesentlich GOtt in meinem Hertzens=Grund Zur Erquickung alle Stund. Dieses ist das rechte Buch, Das ich schon so lange such: JEsus in dem Geist gebohrn, Ist vor allen auserkohrn.2
Ein zeitweiliger Verzicht sogar auf das gedruckte Gotteswort ist zwar nur bei extremen, zu Mystik und Prophetie tendierenden Geistern zu belegen. Wenn aber die Bibel ausgenommen wird, sind die Bekundungen einer generellen Bücherfeindschaft unter den Pietisten topisch. Sie betreffen im Grundsatz also nicht nur die ausnahmslos abgelehnten, edle Zeit vergeudenden weltlichen Lektüren. Der Schwabenvater Friedrich Christoph Oetinger etwa zeigte sich 1748/49 allein satisfait mit dem Stylo der Schrift. Meiner und aller Menschen Stylus thut mir kein Genüge. Wenn ich [in der Bibel] nur 3–4 Verse lese, so habe ich Gewißheit der divinit8 wegen der inimitabilit8.3
Schon 1693 schrieb der Pfarrer Samuel Schumacher aus dem durch seinen späteren dichtenden Amtsbruder Jeremias Gotthelf bekannt gewordenen schweizerischen Lützelflüh, er habe eine solche Liebe zu der H. Schrifft / daß ich alle meine Schulbücher in eine Kiste verschloß / die Bibel aber allein auf den Tisch stellte / als den Leuchter auff meinen Wegen. […] Hinweg nun mit allen Schulbüchern / hier ist das beste Buch unter allen Büchern. […] Die H. Schrifft hat alles was ich bedarff zu wissen; Das ist das Inventarium aller derer Bücher / die wir in Ewigkeit besitzen werden.4
Der Reformierte Johann Henrich Reitz gar sehnte sich 1698 nach dem künftigen „geistlichen Reich“, in dem Gedrucktes außer der Bibel nicht bloß in Kisten verschlossen, sondern vollends abgeschafft werden kann – und dafür meinte er sich sogar auf Luther berufen zu können. In dieser nicht mehr fernen herrlichen Zukunft, glaubte er, werde man 2 Johann Friedrich Rock: Zufällige Reimlein, Als ein Zeit-Vertreib, Beym Gefangen-seyn, Frankfurt, 19. Sept. 1726. In: J.J.J. XV. Sammlung, Das ist: Der XV. Auszug Aus denen Jahr-Büchern Der Wahren Inspirations-Gemeinschafften, o. O. 1764, S. 196 f. 3 Zitat aus einem Schreiben Oetingers an den Grafen von Castell zu Rehweiler. In: Des Württembergischen Prälaten Friedrich Christoph Oetinger Selbstbiographie. Hg. von Julius Hamberger, Berlin 1851, S. 16. 4 Reitz: Historie Der Wiedergebohrnen. Neudruck (1982, L 2), Bd. 1, III. Teil, 1701, XV. Historie Samuel Schumachers, S. 225.
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der Menschlichen Bücher wenig […] bedürffen / ja wohl gar / als unnützlich / als unnöthig / oder als unwahrhafftig und schädlich / verwerffen und verbrennen / indem alsdann die glaubige Kinder Gottes selbst werden seyn ein Buch oder Brieff / Christi / geschrieben / nicht mit Dinten / sondern mit dem Geist des lebendigen Gottes. […] Item / daß durch die Meng der Bücher der Christenheit übel gerathen sey. Welches der theure Mann Gottes Lutherus erkandt / und wider die Sünd=Flut der Bücher / als er redet / die doch damahlen nicht den hundertsten Theil so groß war als nun […] geschrieben […] in seiner Kirchen-Postill / Evang. Matth. 2. am H. 3. König Tag: Daß man aber hat müssen Bücher schreiben / ist schon ein grosser Abbruch und Gebrechen deß Geistes / daß es eh die Noth erzwungen hat / und nicht die Art ist des Neuen Testaments. Und wann wünschen hülfe / wäre kein besseres zu wünschen / dann daß schlecht alle Bücher abgethan wären / und nichts bliebe bey aller Welt / zuvor bey den Christen / dann die blosse lautere Schrifft oder Biblia.5
Leider aber, die Verhältnisse, die sind nicht so, die Not erzwingt’s, und – wie es in einem frühen Traktat des späteren Herausgebers der ,Berleburger Bibel‘ lautet – der Jammer ist zu groß / daß man ihn nicht genug beschreiben kan; und die Wehmuth darüber samt dem Affect, der sich zu des Menschen Heyl beweget […] wird denn auch groß / daß man sich nicht immer moderiren oder an sich halten kan.6
Selbstverständlich sind uns alle die erwähnten Wünsche und Programme zur Abschaffung der Bücher eben doch in Büchern überliefert, deren alle zitierten Autoren eine ganze Menge geschrieben haben, oft mit ausführlichen Apologien, die den potentiellen Nutzen gerade des hier Gedruckten in der geistlichen Not der Zeit beteuern. Philipp Jacob Spener, der durch sein praktisches, insbesondere aber auch durch sein literarisches Wirken anerkannte Begründer des lutherischen Pie5 Ein Kurtzer Begriff Deß Leidens / der Lehr / und deß Verhaltens Joh. Henrichs Reitzen. Außgefertiget Im Jahr Christi 1698, Offenbach [1698], S. 8. – Zeugnisse für dieselbe Argumentation kann Reitz auch aus der nachreformatorischen (englischen) Erwecktengeschichte beibringen: Historie Der Wiedergebohrnen. Neudruck (1982, L 2), Bd. 1, III. Teil, 1701, S. 103, VII. Historie von Richard Baxter: „Diese theure Seel hat viel gearbeitet / und viel Bücher geschrieben / jedoch bezeuget / daß er mit Luthero ein Blat aus der Bibel höher hielte / als aller Menschen Bücher / ja als die gantze Welt / und dahero gewünscht / daß / wofern durch Lesung seiner Bücher jemand die Bibel zu lesen versäumen solte / alle seine Bücher verbrannt würden.“ – Eine Reihe weiterer Belege für die programmatische Bücherkritik der Pietisten beleuchtet in ihrem Begründungszusammenhang mit asketischen Fundamentalvorbehalten gegen Wissen und Gelehrsamkeit Wolfgang Martens: Hallescher Pietismus und Gelehrsamkeit oder vom „allzu großen Mißtrauen in die Wissenschaften“. In: Res Publica Litteraria. Die Institutionen der Gelehrsamkeit in der frühen Neuzeit. Hg. von Sebastian Neumeister und Conrad Wiedemann, Wiesbaden 1987 (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung, Bd. 14), S. 497–523. Ebenso deutlich arbeitet er dort die apologetischen Gegenargumente zugunsten einer pietistischen Gelehrtenschulung (vor allem in Halle) heraus. 6 [Johann Friedrich Haug]: Erste Vorrede. In: THEOSOPHIA PNEUMATICA, oder / Geheime GOttes-Lehre, o. O. [Idstein/Ts.] 1710, S. E3r.
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tismus, hat denn auch seinem reformierten Schüler Reitz in den postum publizierten Letzte[n] Theologische[n] Bedencken im Wissen um die Schwäche des Menschen vorgehalten, sein Programm zur Austilgung aller menschlichen Bücher werde selbst für das chiliastische Zukunftsreich „wol zu weit gehen“: daß aber die kinder GOttes selbs lebendige bücher und briefe Christi seyn werden, hebet den gebrauch anderer bücher zum unterricht und erinnerung nicht auf.
Schließlich sei, wie ja Reitz selbst zu seinen Exempeln der Wiedergeborenen bemerkt habe, nicht zu leugnen, daß viel gottselige hertzen bekennen werden, daß einer durch dieses, der andere durch ein anderes buch, von GOtt kräfftig gerühret, zur bekehrung gelehret, oder noch sehr gestärcket, und also dieselbe von dem HErrn reichlich gesegnet worden sind.7
Nie zuvor, selbst nicht im Reformationszeitalter Luthers, und auch später nie wieder, sind so viele fromme Bücher geschrieben, kompiliert, übersetzt und auch gedruckt und gelesen worden wie in der Epoche des Pietismus, nie auch war der Trieb so groß, „den armen kommenden bußfertigen Sünder zu lieb / etwas auffzusetzen und drucken zu lassen“ – notfalls auf eigene Kosten – und das Gedruckte den Bedürftigen billig oder gar kostenlos auszuteilen.8 Wie im Kleinen und Privaten geschah das im Großen und Institutionellen, etwa in dem Traktatmissionsprogramm der Franckeschen Anstalten in Halle, viele kleine Kern-Schrifften zu ediren, wenn das Vermögen sich dazu finden solte, als welche bey dem gemeinen Volck den allergrößesten effect thun, wenn sie in recht großer Menge ausgestreuet werden, weil sie nicht viel kosten, und weil sie geschwinde können durchgelesen, auch leichter von dem, ders gelesen in andere Hände gegeben werden.9
Und tatsächlich drang dieses nahezu unübersehbare Massenschrifttum bei der direkt vom Pietismus berührten Bevölkerung (und das waren um die Mitte des 18. Jahrhunderts etwa 40 % aller Protestanten, knapp 20 % aller Deutschsprechenden) nicht nur tief, die Denk- und Sprachformen prägend, in bisher lektüreungewohnte Schichten vor. Die Bücher- und Traktatenflut löste vielmehr Kettenreaktionen neuer lite7 Philipp Jacob Spener: Letzte Theologische Bedencken / und andere Briefliche Antworten, Halle, 2. Aufl. 1721, 1. Teil, 1. Kap. Art. I Sectio XL, S. 233 f. 8 [Johann Adam Raabe]: Der wahre und gewisse Weg durch die enge † Pforte Zu JEsu Christo, o. O., o. J. [Nürnberg 1703], S. 480, vgl. auch S. 269, 417, 520, 553, 589. 9 AUGUST HERMANN FRANCKEs Schrift über eine Reform des Erziehungs- und Bildungswesens. DER GROSSE AUFSATZ. Hg. von Otto Podczeck, Berlin 1962, S. 153 (Abh. der sächs. Akad. der Wiss. zu Leipzig, Phil.-hist. Kl., Bd. 53, H. 3). – Der Abschnitt über die Schriftenmission vom Jahr 1704 in diesem Programm-Aufsatz geht auf den Verlagsleiter des Halleschen Waisenhauses, Heinrich Julius Elers, zurück. Vgl. ebd., S. 148, vgl. überdies Reitz: Historie Der Wiedergebohrnen. Neudruck (1982, L 2), Bd. 4, VII. Teil, 1745, VI. Historie, S. 144–166.
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rarischer Produktivität bis in Sozialgruppen hinein aus, die nach herkömmlicher Auffassung nicht einmal als alphabetisiert zu gelten hatten – bringt doch beispielsweise ein Wittgensteiner Bauer (vom „Schlechtenboden“ [= Christianseck]), Johann Jobst Hahn, 1717 ein „Büchlein“ heraus vom Licht / Glauben / Furcht Gottes / Liebe / Sanfftmuht / Demuht / Geduldt […] und wie die Sünde ein so böses Ding ist / und die Schlang mit ihrer List den Menschen immer sucht von Gott abzureissen […]. So habe ich diß Büchlein als ein klein Netz / wollen durch die Gnade Gottes außwerffen / ob ein oder ander möchten gewonnen gefangen werden / auß den wilden Sünden-Meer der Welt […]: dan ich habe mein von GOTT verliehenes Pfund nicht im Schweißtuch wollen behalten.10
2. Koordination und Zerstreuung: Pietismusforschung als Problem verschiedener Fachdisziplinen Die Erforschung des Pietismus und seiner Literatur, deren Autoren und Titel das Gesamtschrifttum der zeitgleichen und allgemein so viel bekannteren Aufklärung quantitativ um ein Vielfaches übersteigen, hat in den letzten Dezennien deutlich zugenommen. In vielen Teilbereichen hat diese Forschung zu grundlegender Revision und Vertiefung unseres Kenntnisstandes geführt. Johannes Wallmann, einer der ausgewiesensten theologischen Kenner der Epoche, namentlich des Frühpietismus, konnte schon 1972, zwei Jahre also ehe das Jahrbuch Pietismus und Neuzeit zu erscheinen begann, in einem Forschungsbericht feststellen: Wir befinden uns momentan in einer sehr intensiven Forschungsperiode. Es sind in den letzten Jahren mehr Bücher über den Pietismus erschienen als in dem halben Jahrhundert zuvor.11
Seither ist die Diskussion – zweifellos bedeutend gefördert durch das bislang in [bis 2018] 43 Bänden vorliegende Spezialorgan, doch nicht minder produktiv auch durch anderwärtige Publikationen – eher noch rascher ange10 Johann Jobst Hahn: Dieses mein Büchlein / Mit meinen Littern / Nennt sich ein GlaubensZeugnis Von JEsu Christo / Durch Lernung der Erfahrung Freywillig aufgesetzet, o. O. [Berleburg] 1717, S. 3 f. – Ebenso berichtet Christoph Schütz, „ein armer und geringer Handwercker und Leyen“ [Güldene Rose / Oder Ein Zeugnüs der Warheit von der uns nun so nahe bevorstehenden Güldenen Zeit des tausendjährigen und ewigen Reichs JESU CHRISTI, 3. Teil, o. O. 1727, S. 61], wie ihm seine (unter den Pietisten der Folgegeneration weit verbreitete) geistliche Lyrik „draussen im Feld hinter dem Pflug“ oder bei der Handwerksarbeit zugefallen sei, „und wann ich nach Haus kam / so satzte ich mich dann geschwind nieder / und schrieb solches Lied oder Reimen / daß mir den Tag über im Sinn geklungen hatte / geschwind auf“. Das kündlich grosse Geheimniß der Gottseeligkeit […] von einem Christlichen Schüler, o. O. 1728, S. 82. 11 Johannes Wallmann: Reformation, Orthodoxie, Pietismus. In: Jahrbuch der Gesellschaft für Niedersächsische Kirchengeschichte 70 (1972), S. 191.
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wachsen und droht angesichts der chronologischen wie geographischen Breite des Gesamtphänomens Pietismus, seiner ebenso großen Vielschichtigkeit wie Vielstimmigkeit, im Ganzen zunehmend unüberschaubarer zu werden. Der Spezialbereich der Pietismusforschung fächert sich dabei analog zu anderen auf weitgespannte Epochen gerichteten Wissenschaftssektoren geradezu unvermeidlich in immer speziellere Zuständigkeiten auf. Erschwert wird der Gesamtüberblick dadurch, daß zu der Diskussion all jene verschiedenen Fachdisziplinen beitragen, auf deren Studiengegenstand das primär frömmigkeitsgeschichtliche Phänomen Pietismus innovatorische Impulse, markante Richtungsänderungen und nachhaltige Langzeitwirkungen ausgeübt hat: außer selbstverständlich den theologischen Wissenschaften und der Germanistik auch die Geschichtswissenschaften, ebenso die politische wie die Wirtschafts- und Sozialgeschichte, die empirische Kulturwissenschaft, die Bildungs-, speziell Pädagogik-, Psychologie- und Philosophiegeschichte, die Musik- und die Medizingeschichte, die komparatistische Literaturwissenschaft und die buchgeschichtliche Forschung. Quantitativ, teilweise durchaus auch im Gewicht ihrer Erträge führend in dieser Diskussion ist naheliegenderweise die protestantische Theologie. Durch eine besondere Nähe zum Gegenstand und die älteste Fachtradition des Interesses an ihm werden von dieser Seite die informationshaltigsten Lexika und Handbücher geboten, werden die meisten und bestkoordinierten Anstrengungen unternommen um die historisch-biographische und ideengeschichtliche Gesamt- und Detailerforschung, um Quelleneditionen, aber auch um spezifische bibliographische Hilfsmittel. Dazu kommen die wesentlichen forschungsorganisatorischen Impulse und finanziellen Unterstützungen größerer Projekte seitens der Historischen Kommission zur Erforschung des Pietismus. Diese Kommission, gegründet 1964/65 als ein Fachausschuß evangelischer deutscher Kirchen (übrigens in West und Ost), betreibt eine systematische Forschungsförderung durch regelmäßige Planungstagungen, unterhält eigene Arbeitsstellen und gibt in eigener Verantwortung (fallweise auch mit Zuschüssen der Deutschen Forschungsgemeinschaft) ehrgeizige, zum Teil weit in die Zukunft gerichtete Publikationsreihen heraus: In dem bereits erwähnten Periodikum mit dem Obertitel Pietismus und Neuzeit (PuN) und den unterschiedlich weit gefaßten wahlweisen Untertiteln ,Jahrbuch zur Geschichte des neueren Protestantismus‘ bzw. ,Jahrbücher zur Geschichte des Pietismus‘ (seit 1974 im Luther-Verlag, Witten, seit Jg. 4 erschienen 1979 bei Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen) stellt sie das für den Gesamtbereich maßgebliche Forum bereit. Es enthält Aufsätze und Forschungsberichte (jeweils koordiniert zu Einzelbänden mit thematischem Schwerpunkt) und eine laufende Primär-, Sekundär- und Rezensionenbibliographie. Überdies verantwortet die Historische Kommission eine Monographienreihe ,Arbeiten zur Geschichte des Pietismus‘ (AGP) mit bislang [2018] 63 Bänden (Bde. 1–16 im Luther-Verlag, ab Bd. 17 bei Vandenhoeck), eine Editionenreihe ,Texte zur Geschichte des Pietismus‘ (TGP) (de Gruyter, Berlin und Vandenhoeck & Ruprecht, Göttin-
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gen) und schließlich eine Reihe zur Literaturerschließung ,Bibliographie zur Geschichte des Pietismus‘ (BGP, de Gruyter), die allerdings durch die zunehmende Funktionsübertragung gedruckter Bibliographien ins elektronische Medium nach drei Bänden eingestellt wurde. Auf die Details komme ich später zurück. Durch die solchergestalt koordinierten Anstrengungen ist in der protestantischen Kirchengeschichte der Zeitraum seit dem 17. Jahrhundert endlich einen Schritt aus dem Schatten der übergewichtigen Reformationsforschung herausgetreten, die allerdings auch noch fortdauernd die Interessen in diesem Fach dominieren wird. Für die erwähnte quantitative Asymmetrie der unterschiedlichen Wissenschaftsdisziplinen am Fachgespräch über den Pietismus ist übrigens außer den angedeuteten traditionellen, institutionellen und materiellen Ungleichgewichten zugunsten der Theologie der simple Sachverhalt mitbedingend, daß ein im akademischen Lehramt tätiger Kirchenhistoriker nicht allein einen gewichtigen Schwerpunkt seiner Forschungsarbeit auf die Erkundung des Pietismus gründen, sondern diesen Bereich auch mit einiger Regelmäßigkeit im universitären Unterricht zur Geltung bringen kann, während in der germanistischen Ausbildung Lehrveranstaltungen zu Literatur und Sprache des Pietismus seltene Ausnahmen bleiben müssen, und (noch immer) einschlägige Pilotstunden mit literaturwissenschaftlicher Fragestellung sich unter den Fachkollegen nur an vergleichsweise wenige Gesprächspartner richten können.
3. Spezifische Aufgaben der germanistischen Pietismusforschung – Grenzen der Hilfe durch kirchengeschichtliche Vorarbeiten Für die zu einem fundierten Verständnis der deutschen Literaturentwicklung vom Ausgang des Barock über die Goethezeit bis zur Romantik entschieden notwendig bleibende germanistische, d. h. literatur- bzw. sprachgeschichtliche und -analytische Pietismusforschung ist also beständig mit Grundlagen, Arbeitsinstrumenten (wie Texteditionen) und Hilfsmitteln (Lexika und Bibliographien) zu arbeiten, die sich ein anderes Fach geschaffen hat, legitimerweise nach Maßgabe und in der Auswahl seiner eigenen, durchaus anders gelagerten Interessen. In unseren eigenen Handbüchern und Lexika beispielsweise sind Informationen über die Schriftsteller und die bevorzugten literarischen Gattungen des Pietismus entweder gar nicht vertreten oder nur dürftig ausgeführt. Lediglich das Reallexikon hatte zum Zeitpunkt der Erstpublikation dieses Beitrags (1988) einen tauglichen Pietismus-Artikel, von August Langen, zu bie-
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ten.12 Unter den systematischen Stichwörtern der Sachwörterbücher sind Pietistica generell unterrepräsentiert. Die älteren Autorenlexika wie Wilhelm Koschs Deutsches Literatur-Lexikon (4 Bde., 2. Aufl., Bern 1949–1958) verzeichneten nur einen Bruchteil der pietistischen Schriftsteller in meist knappen Beiträgen. Für Grundinformationen wird man also stattdessen zu den informationshaltigeren, auch bibliographisch ausführlicheren Artikeln der theologischen Fachlexika greifen, am detailliertesten, häufig auch quellenkundigsten noch immer zu der großen, positivistischen RE (Realenzyklopädie für protestantische Theologie und Kirche, in dritter Auflage mit 24 Bänden bearbeitet von J. J. Herzog und A. Hauck, erschienen Leipzig 1896–1913), für knappe Information, auf neuerem Forschungsstand und mit aktuelleren bibliographischen Angaben, zur RGG (Die Religion in Geschichte und Gegenwart, 3. Aufl., 6 Bde. und Registerbd., Tübingen 1957–1965, seither in 4. völlig neu bearb. Aufl. unter dem Titel Religion in Geschichte und Gegenwart, 9 Bde. und Registerband, Tübingen 1998–2007), zur TRE (Theologische Realenzyklopädie, 36 Bde., Berlin 1976–2006, seit 2008 auch online, Studienausgabe 1993–2012). Dieses Lexikon wird allerdings, gerade für die germanistische Arbeit, die alte RE nicht ersetzen können, weil es weit stärker auf umfassendere monographische Artikel (z. B. ,Erbauungsliteratur‘) gegründet ist und die Vielzahl der pietistischen Autoren nur auswählend berücksichtigt. Die Frage aber, ob ein Autor (oder auch ein bestimmtes literarisches Genre) für wichtig genug erachtet wird, in den Blick gerückt zu werden – ein gleiches gilt noch viel stärker für Entscheidungen in der Auswahl der fachwissenschaftlichen Texteditionen und für die Dominanzen der Forschung –, ist selbstverständlich abhängig von Relevanzrahmen, die das Fach vorgibt und die den Interessen eines anderen nicht unbedingt gerecht werden. Die Germanistik hat ihr Augenmerk vorrangig auf die Erkundung pietistischer Breitenlektüre zu richten, auf Exempla für charakteristische und geistesgeschichtlich weiterwirkende Anschauungen (z. B. über den religiösen und innerweltlichen Auftrag des Menschen, über Einbildungskraft und Kunst), auf exponierte Beispiele der Selbstanalyse, auf typische, möglichst wenig durch kirchenpolitische Rücksichtnahmen abgemilderte oder durch Einflüsse aus Parallelströmungen vermengte Lexik und Metaphorik, auf explizite Impulse des Schreibens, auf herausragende literarische Leistungen (in Lyrik und Prosa) und auf die Entwicklung der Gattungen. Dabei muß ein genuin lite-
12 Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte. Begr. von Paul Merker und Wolfgang Stammler, 2. Aufl., hg. von Werner Kohlschmidt, Wolfgang Mohr [u. a.], 5 Bde., Berlin – New York 1958–1988; 3., neu konzipierte und bearb. Aufl. unter dem Titel: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, hg. von Klaus Weimar, Harald Fricke, Jan-Dirk Müller [u. a.], Berlin – New York 1997–2003, Sonderausgabe 2007. Seither gibt es Pietismus-Artikel in fast allen literaturgeschichtlichen Nachschlagewerken. Ein fachübergreifendes „Pietismus-Handbuch“, hg. von Wolfgang Breul und Thomas Hahn-Bruckart, für 2017 angekündigt, ist im Erscheinen.
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raturhistorischer Ansatz den Zugang zu weitgehend anderen Paradigmata gewinnen, als sie für die Theologen maßgeblich sind. Gleich wichtig für beide Fächer selbstverständlich ist die historisch-biographische Grundlagenforschung, die genaue Kenntnis der einzelnen konfessionell unterscheidbaren Gruppen und der Regionalgeschichte der pietistischen Bewegung. Das Interesse der Kirchenhistoriker ist aber vorrangig auf die theologisch-programmatische Erneuerung und auf traditionsbildende Momente innerhalb der Kirche gerichtet. Die Editionen und Forschungen konzentrieren sich also einerseits auf die durchsetzungskräftigsten Initiatoren der pietistischen Reform (wie etwa auf den mit behutsamer Vorsicht formulierenden Spener oder den sprachlich trockenen Francke, die mit ihrem fast ausschließlich lehr- und organisationsbezogenen Œuvre beide für germanistische Analysen weit uninteressanter sind als ihre spiritualistischen Vorläufer und ihre häufig kirchenpolitisch ungeschützter redenden Schüler). Sie konzentrieren sich andererseits auf die innerhalb der Kirche oder in teilweise bis heute fortbestehenden Gemeinschaften traditionsstiftenden Persönlichkeiten und Leistungen – auf pietistische „Väter“Gestalten wie Zinzendorf, Bengel, Oetinger, Hahn oder Blumhardt und auf Innovationen im Gottesdienst, in der Mission, in der kirchlichen Verwaltung. Das kirchengeschichtliche Interesse an Gattungsforschungen bleibt im wesentlichen auf die Predigtliteratur und das Kirchenlied begrenzt. Selbstzeugnisse und Biographien interessieren dort eher um ihres Quellenwerts willen als wegen ihrer sprachlich-literarischen Erscheinungsform oder Innovationskraft. Die durch ihre konsequente Übersteigerung pietistischer Grundforderungen und Anschauungen als Heterodoxe oder Separatisten am Rande oder außerhalb der kirchlichen Gemeinschaften verharrenden religiösen Außenseiter des sogenannten radikalen Pietismus rücken zwar wegen ihrer unbestreitbar engen geistigen und persönlichen Interaktionen mit dem gesamten kirchlichen Pietismus und seinen „Vätern“ (die großenteils wie Zinzendorf, Bengel oder Oetinger selbst radikale Phasen durchlaufen haben) zunehmend in den Blick der theologischen Forschung, doch bestehen weitgehend Ausgrenzungsneigungen und Berührungsängste fort. Die Schriften dieser zornigen Bußrufer und geistgetriebenen Propheten oder auch stillen mystischen Asketen und spekulativen Geister sind meist nur mühevoll zu recherchieren. Großenteils nämlich sind sie nicht in die der kaiserlichen Bücheraufsicht unterworfenen Messekataloge und in die von ihnen abhängigen Literaturverzeichnisse wie jene von Georgi oder Heinsius aufgenommen worden. Sie haben aber auf die Volksfrömmigkeit im 18. Jahrhundert entscheidenden Einfluß genommen und sind auch unter sprachlich-literarischem Gesichtspunkt besonders aufschlußreich, präformieren sie doch in noch ungeahntem Ausmaß die große dichtungsgeschichtliche Neuorientierung des späteren 18. Jahrhunderts.
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Gestatten Sie mir, ehe ich einen notwendig summarischen Überblick zu geben versuche über die speziellen bibliographischen Hilfsmittel und über die wenigen zuhandenen Werkeditionen, eine kurze für die Einschätzung des Nutzens und der Grenzen dieser Arbeitsmittel erforderte Erinnerung an einige Bereiche bereits geleisteter bedeutender Vorarbeit und an die noch zu bewältigenden Aufgaben unseres Faches in der Erforschung des Pietismus.13 Gemessen am allenthalben anerkannten Bedarf nach detaillierteren Einsichten sowohl in die literarischen Hervorbringungen der Pietisten selbst als auch besonders in die aus pietistischer Sozialisation resultierenden Veränderungen in den poetologischen Impulsen und Auffassungen, im Sprach- und Metaphernschatz der Dichtung des 18. Jahrhunderts, ist die germanistische Pietismusforschung noch immer vergleichsweise defizient. Gewichtige Erträge liegen vor für den unter dem Stichwort Säkularisation erfaßten Bereich der poetischen Transposition ursprünglich religiöser Empfindungen und Ausdrucksmittel auf innerweltliche Erfahrungen wie Liebe und Freundschaft, Natur und Dichtung oder das Nationalgefühl, die dadurch eine gewaltige Intensivierung an psychischer Energie, sprachlicher Kraft und Weihe erfuhren. Für eine ganze Reihe von Autoren des 18. und frühen 19. Jahrhunderts, die 13 In diesem Zusammenhang kann ich nur allgemein auf die bisherigen Arbeitsschwerpunkte und diejenigen Propria unseres Faches hinweisen, die am Rande oder außerhalb der kirchengeschichtlichen Forschungsinteressen liegen, von denen wir also kaum eine Erledigung aus theologischer Kompetenz erwarten können. Einen die Einzelleistungen spezifizierenden kritischen Bericht über germanistische Forschungsbeiträge bis zum Ende der 1980er Jahre habe ich zu geben versucht, Schrader: Literaturproduktion (1989, L 1), S. 23–48. Bezugzunehmen war in dieser nun auch schon eine Generation zurückliegenden Übersicht auf die älteren Forschungsberichte mit sprach- und literaturwissenschaftlichem Schwerpunkt: Detailliert und grundlegend in: August Langen: Der Wortschatz des deutschen Pietismus, (1. Aufl. 1954), 2. erg. Aufl. Tübingen 1968, Vorwort und Literaturbericht zur zweiten Auflage, Bibliographische Anmerkungen zum Vorwort, S. XI–XLVIII; Einleitung: Forschungsstand, Probleme, Methode, S. 1–19. – Auswählend akzentuierendes Resümee von Tadeusz Namowicz: Pietismus in der deutschen Kultur des 18. Jahrhunderts. Bemerkungen zur Pietismusforschung. In: Weimarer Beiträge 13 (1967), S. 469–480 sowie ausführlicher (von der seitherigen Diskussion aber kaum zur Kenntnis genommen) in ders.: Pietismus im Werk des jungen Herder, Diss. phil. [masch.] Warszawa 1970, S. 44–64, 382–390 [Das Exemplar dieser Abhandlung in der StUB Göttingen macht diese Arbeit auch im deutschen Leihverkehr zugänglich]. Die weit stattlichere Zahl der als bedeutsame Orientierungshilfen in den letzten Dezennien aus theologischer und historischer Warte vorgelegten Forschungsberichte sind zuletzt bibliographisch zusammengefaßt bei Dietrich Blaufuß: Spener-Arbeiten. Quellenstudien und Untersuchungen zu Philipp Jacob Spener und zur frühen Wirkung des lutherischen Pietismus, Bern [u. a.], 2. verb. u. erg. Aufl. 1980, S. XXIIf., 197 (Europäische Hochschulschriften. Reihe 23, Bd. 46). Großenteils sind sie abermals referierend erwähnt in der umfänglichen, durch ihren speziellen Skopus auch für den Literarhistoriker hochgradig aufschlußreichen Studie von Hans Schneider: Der radikale Pietismus in der neueren Forschung. In: Pietismus und Neuzeit 8 (1982) [erschienen 1983], S. 15–42 (hier bes. S. 15 und 21 f.). Fortsetzung: Pietismus und Neuzeit 9 (1983) [erschienen 1984], S. 117–151. Die ,Pietismus-Bibliographie‘ (im folgenden ,PB‘) in „Pietismus und Neuzeit“ (PuN, vgl. Anm. 19 und 21) gibt in ihrer ersten Rubrik jährliche Hinweise auf neue Forschungsberichte.
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von Bodmer und Klopstock über Goethe, Schiller und ihre Weggenossen bis hin zu Hölderlin, Novalis und Büchner fast alle durch Elternhaus und Erziehungsinstitute, durch Erbauungslektüre oder Freundeskontakte in prägende Berührungen mit dem Pietismus geraten sind, liegen Fallstudien der daraus resultierenden produktiven Einwirkungen oder auch Traumata vor. Diese Arbeiten unterscheiden sich allerdings erheblich in der Solidität der Kenntnisse über das zugrundeliegende religiöse Substrat. Die sprach- und literaturgeschichtliche ebenso wie die gattungssystematische Durchdringung des pietistischen Schrifttums selbst, immerhin des Massenlesestoffes zweier Jahrhunderte, steht hinter den Ansätzen zur Erforschung literarischer Folgewirkungen noch deutlich zurück und teilweise in den Anfängen. Dennoch ist bis 2018 außer in vereinzelten Detailerkundungen ein eher noch ausgeprägteres Desinteresse der Germanistenzunft an diesem Sektor ihrer Zuständigkeit zu konstatieren. Die germanistischen Quellensammlungen von Werner Mahrholz, Der deutsche Pietismus, Berlin 1921, und Marianne Beyer-Fröhlich, Pietismus und Rationalismus, Leipzig 1933,14 sind nach heutigen editorischen Erfordernissen ebenso wie in ihrer dürftigen (leider aber kanonbildenden) Auswahl unzulänglich. Für die Sprachgeschichte und historische Semantik hat insbesondere August Langen durch seine umgearbeitete Habilitationsarbeit Der Wortschatz des deutschen Pietismus (Tübingen, 1. Aufl. 1954, 2. Aufl. 1968) ein solides Fundament geschaffen, allerdings nur mit Blick auf den biblisch und mystisch geprägten Innerlichkeitswortschatz – ohne Berücksichtigung der ebenso wichtigen thetisch-polemischen und spiritualistisch-spekulativen Wortfelder der pietistischen Sonderterminologie. Auch fehlen [jenseits des Versuchs eines Neuimpulses auf diesem Forschungssektor, Schrader : Die Sprache Canaan (2004, L 35 und ausgeführter 2005, L 38; im vorliegenden Band S. 233–260)] noch differenzierende Wortschatzuntersuchungen zu den sprachlich durchaus divergierenden Gruppierungen und chronologischen Stadien. Hinsichtlich der im Pietismus dominierenden literarischen Gattungen sind grundlegende Ansätze insbesondere natürlich auf die am deutlichsten individuelles Erleben, psychologische Selbsterkundung und subjektives Empfinden zur Sprache bringenden Autobiographien gerichtet worden. Deren über den Kanon des Allbekannten hinaus bei weitem umfassendere Überlieferung von teilweise für den Literaturhistoriker höchst reizvollen und aufschlußkräftigen Zeugnissen ist jedoch erst in Bruchteilen ermittelt oder gar ediert. 14 Deutsche Literatur in Entwicklungsreihen, Reihe Deutsche Selbstzeugnisse, Bd. 7, Nachdruck Darmstadt 1970. – [Anstelle dieser nur mehr historisch relevanten Ausgabe sei jetzt verwiesen auf die von Theologen und Literaturwissenschaftlern erarbeitete mit 714 S. umfassende Sammlung zu den verschiedensten Wirkungsfeldern der Frömmigkeitsreform: Pietismus. Eine Anthologie von Quellen des 17. und 18. Jahrhunderts. Hg. von Veronika Albrecht-Birkner, Wolfgang Breul [u. a.], Leipzig 2017.]
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Einige davon, beispielsweise von August Hermann Francke, Gottfried Arnold, Johanna Eleonora Petersen, Johann Friedrich Rock, Friedrich Christoph Oetinger, Johann He[i]nrich Jung-Stilling, Christoph Blumhardt und Adeline Gräfin Schimmelmann, konnten immerhin in den beiden im Auftrag der Historischen Kommission zur Erforschung des Pietismus in der Evangelischen Verlagsanstalt, Leipzig, erschienenen Reihen Kleine Texte des Pietismus [KTP] (12 Bände, 1999–2008) und (als deren Neue Folge) Edition Pietismustexte [EPT] (bislang 12 Bände, 2010–2018) in wissenschaftlich-kritisch erstellten Texten, mit Kommentaren und Nachworten verfügbar gemacht werden; Übersicht in Historische Kommission zur Erforschung des Pietismus. Informationen [Geschichte. Tagungen. Projekte. Publikationen]. Hg. von Hans Otte, red. von Albrecht Philipps und Gudrun Diemert, Hannover: Amt der UEK / EKD 2017, S. 34 f. sowie in der jährlichen PuN-Bibliographie. Wichtige germanistische Pilotprojekte sind sodann auf dem Feld der Predigtliteratur unternommen worden, sehr wenige nur (ausschließlich autorbezogene, nicht systematische) erstaunlicherweise auf dem reichen Gebiet der pietistischen Lyrik. Gattungstypologisch noch kaum untersucht sind die eigentliche Erbauungsliteratur einschließlich der asketischen Propaganda und Exempelbiographik, das polemische und apologetische Schrifttum, die visionäre und inspirativ-prophetische Literatur, die Menge an exegetischen oder theosophisch-spekulativen Schriften, die Zeitschriften und die Briefliteratur. Richtungweisende Initialergebnisse sind erreicht worden durch gattungsübergreifende, insbesondere geistesgeschichtliche Analysen zu Fragen der Kunstanschauungen im Pietismus, vor allem der Einstellung zur poetischen Fiktion, zur Haltung gegenüber der rhetorischen Tradition, zur Legitimierung ästhetischer Sprachqualitäten aus der Bibelsprache, durch Ansätze auch zu Problemen der pietistischen Bibelübersetzungen und -kommentierungen. Für einige weitere Problemkreise, die auch dem spezifischen Interesse und Erkundungsauftrag der Literaturwissenschaft zugehören, sind die Fragestellungen und Methoden der an der Pietismusforschung beteiligten Nachbardisziplinen mit den unsrigen kongruent, so daß hier wie dort unternommene Untersuchungen einander vollgültig ergänzen können: etwa Untersuchungen zur pietistischen Druck- und Verlagsgeschichte, zur Zensurgeschichte und zum pietistischen Beitrag für die Erweiterung literarischer Toleranzfreiräume, zum Bücherbesitz der Pietisten und zum Einfluß der Frömmigkeit auf gewandelte Lesegewohnheiten (etwa mit der in breiten Bevölkerungsschichten bis heute nachwirkenden Folge, daß auch poetisch-fiktionale Literatur in der Erwartungshaltung des Erbaulichen rezipiert und beurteilt wird).
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4. Übersicht über neuere bibliographische Hilfsmittel Ein Überblick über die für germanistische Pietismus-Studien verfügbaren neueren bibliographischen Hilfsmittel trifft auf den bereits für die Grundlagenforschung und die Lexika skizzierten Befund: Die Grenzen der vom eigenen Fach gebotenen und der allgemeinbibliographischen Wegweiser sind schnell erreicht, und effektiver sind spezielle kirchengeschichtliche Handleitungen zu nützen. Die periodischen Allgemeinbibliographien zur deutschen Literaturwissenschaft wie Köttelweschs Bibliographie der deutschen Sprach- und Literaturwissenschaft, die Germanistik und die neue Internationale Germanistische Bibliographie von Hans-Albrecht und Uta Koch blicken zwar zunehmend über den engeren Bereich der Erschließung von Quellen und Forschungen zur poetischen Literatur hinaus, sie müssen sich aber angesichts von Massenschrifttumsphänomenen wie dem des Pietismus notwendig auf eine Auswahl konzentrieren, auf bekanntere Autoren, auf Titel von ersichtlich literarhistorischer Relevanz und bei der Auswertung fachfremder Organe meist auf die größeren und allgemein zugänglichen. Ähnliches gilt auch durchweg für die abgeschlossenen Barockbibliographien, in denen nur relativ wenige – vor allem poetisch produktive – Frühpietisten verzeichnet sind (zum gesamten 18. Jahrhundert gibt es vergleichbare Hilfsmittel ohnehin seit Goedeke nicht mehr). Für wichtige Teilbereiche immerhin, nämlich für die zahlreichen spiritualistischen und radikalpietistischen Bücher, die unter den Bedingungen des (auf die Reinerhaltung der drei reichsrechtlich zugelassenen Konfessionen gerichteten) Zensursystems nur im dänischen Königreich (also z. B. schon in Altona) oder in den Niederlanden publiziert werden konnten, sowie für die Menge an pietistischer Übersetzungsliteratur aus dem englischen Puritanismus und Nonkonformismus gibt es abgeschlossene Spezialbibliographien:15 Philip M. Mitchell: A Bibliography of 17th Century German Imprints in Denmark and the Duchies of Schleswig-Holstein. 3 Bde., Lawrence, Kans. 1969–1976. John A. Bruckner : A bibliographical Catalogue of Seventeenth Century German Books published in Holland, Den Haag – Paris 1971.16 Edgar C. McKenzie: A Catalog of British Devotional and Religious Books in German Translation from the Reformation to 1750, Berlin – New York 1997 (Bibliographie zur Geschichte des Pietismus, Bd. 2). 15 Die von Klaus Deppermann und Dietrich Blaufuß begründete, seither von verschiedenen Bearbeitern fortgeführte ,Pietismus-Bibliographie‘ (wie Anm. 19 und 21) der Zeitschrift „Pietismus und Neuzeit“ verzeichnet (jeweils eröffnet durch eine Rubrik „Bibliographien, Forschungsberichte“) seit 1974 jährlich die Neuerscheinungen für den Gesamtbereich des Pietismus (hier fallweise aufgerufen mit der Sigle PB – PuN-Bd.-Zahl – Titel – Nr.). 16 Vgl. dazu wiederholte Addenda-Nachweise in den „Wolfenbütteler Barock-Nachrichten“.
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Sehr viel vollständiger verzeichnet sind die Neuerscheinungen an Textausgaben, Reprints und Forschungsliteratur in Büchern und Aufsätzen, teilweise auch an Rezensionen, in den laufenden Bibliographien der beiden fachübergreifenden Epochenzeitschriften zum 17. und 18. Jahrhundert der Arbeitsstellen der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel. Die Wolfenbütteler Barock-Nachrichten, 1974–2016 erschienen, bringen annähernd in jedem ihrer drei bis vier Jahrgangshefte ,Bibliographische Informationen‘ zum gesamten Zeitraum des 17. Jahrhunderts. Dabei sind auch die Pietistica miterfaßt – ohne strikte Observanz der Epochengrenze (so sind gelegentlich auch Autoren, die erst im 18. Jahrhundert zu publizieren begonnen haben, wie Johann Friedrich Rock, oder gar die erst im 18. Jahrhundert geboren sind, wie Friedrich Christoph Oetinger, aufgenommen). Die in so vielen Einzelheiten etwas mühsam aufzusuchenden und durchzusehenden Bibliographien17 werden für die Jahrgänge 1–6 und 7–10 durch Sammelregister, seither durch Jahrgangsregister erschlossen. Für Forschungsarbeiten zur Literatur des Pietismus noch etwas unübersichtlicher, wenngleich vom erfaßten Zeitraum her für das Gros dieses Schrifttums zuständig, sind die ,Bibliographischen Berichte‘ in der seit 1977 jährlich in zwei Heften erscheinenden Wolfenbütteler Epochenzeitschrift Das achtzehnte Jahrhundert zu benutzen. Mißlich erscheint hier gerade die für andere Arbeitsbereiche zweifellos zweckmäßige Aufteilung der gesamten neu erscheinenden Literatur zu diesem Zeitraum in unregelmäßige Teilbibliographien für einzelne Wissenschaftssparten. Da jedoch die Frömmigkeitsbewegung in mehrere Disziplinen hineingewirkt hat, muß man hier, solange ein zusammenführendes Register fehlt, um einen Gesamtüberblick der neuzugänglichen Quellen und Forschungen zu erhalten, zumindest die folgenden (einander freilich vielfältig überlappenden) Teilberichte parallel konsultieren: 1. für die meisten einschlägigen Titel den allerdings ausschließlich nach Verfassernamen geordneten Bericht ,Zur protestantischen Kirchen- und Theologiegeschichte Deutschlands im 18. Jahrhundert‘; 2. die bislang in sechs Berichtsteilen vorliegende Sammlung ,Germanistische Arbeiten zum 18. Jahrhundert‘ von Reiner Marx, die neben der Allgemeinliteratur auch die Ausgaben und Studien nach den Autorennamen spezifiziert; 3. hilfsweise zusätzlich die ebenso gegliederten Fortsetzungsbibliographien der ,Arbeiten zur Philosophie im 18. Jahrhundert aus dem deutschen Sprachbereich‘ sowie 4. der ,Arbeiten zur Geschichte der Erziehung und des Bildungswesens im 18. Jahrhundert aus dem deutschen Sprachbereich‘, auch mit Verzeichnung von Studien zur Leserforschung.18 17 Wolfenbütteler Barock-Nachrichten. Bibliographische Informationen / Bibliographie zur Barockliteratur Jg. 1 (1974) – Jg. 43 (2016). 18 Das achtzehnte Jahrhundert. Zeitschrift der Deutschen Gesellschaft für die Erforschung des achtzehnten Jahrhunderts, Göttingen: Wallstein, seit 1977, mit bibliographischen Berichten [u. a.] zur Protestantischen Kirchen- und Theologiegeschichte, zu Germanistik, Philosophie, Erziehung und Bildungswesen.
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Über pietistische Autoren, die in alle diese Bereiche hineingewirkt haben (Francke, Bengel, Oetinger, Edelmann oder Zinzendorf), lassen sich Notifikationen an all diesen Stellen finden. Die Benutzung der Bibliographien beider Wolfenbütteler Zeitschriften empfiehlt sich für Arbeiten über den Pietismus besonders dann, wenn man umfassendere Forschungskontexte zum Gesamtzeitraum in den Blick nehmen will oder wenn man Literatur lediglich zu einzelnen pietistischen Autoren sammeln möchte. Sonst aber wird es weniger aufwendig und sicherer sein, für eine vollständige Titelerfassung zu der von Klaus Deppermann und Dietrich Blaufuß begründeten (aktuell von Christian Soboth und Oliver Seide verantworteten) ,Pietismus-Bibliographie‘ zu greifen, die seit 1974 jeden Jahrgang von Pietismus und Neuzeit beschließt.19 Hier findet man alles Schrifttum seit dem Erfassungsstichjahr 1971, das auch die Epochenbibliographien verzeichnen, die sich für die Pietistica ohnehin teilweise auf dieses speziellere Hilfsmittel stützen. Die partielle Mehrfachaufnahme der Titel in einander solcherart überschneidenden Bibliographien scheint übrigens trotz gelegentlich unvermeidlicher Doppelarbeit nützlich, zum einen, weil Spiritualismus und Pietismus als die wirkungsreichsten geistlichen Strömungen des 17. und 18. Jahrhunderts den Gelehrten, die diesen großen Zeitraum unter anderen Aspekten bearbeiten, nicht länger aus dem Blick gerückt bleiben sollten, und zum andern, weil Bibliographien mit Teilüberschneidungen einander wechselseitig nähren und so dem Benutzer schließlich ein möglichst komplettes Bild von Editionsleistung und Forschung eröffnen. So hat die seit 1977 erscheinende, auf herrnhutische Forschungen konzentrierte zweite Spezialzeitschrift für Pietismusstudien, Unitas Fratrum, seit ihrem Heft 26 (1989) eine eigene Bibliographie für die Belange der Brüdergemeine eingerichtet.20 Die Pietismus-Bibliographie in PuN ist in Sektionen geordnet,21 deren 19 Pietismus-Bibliographie (PB). Jährlich in: Pietismus und Neuzeit. Ein Jahrbuch zur Geschichte des neueren Protestantismus (PuN), seit 1974 (= PB 1), in bislang 43 Bänden. Dietrich Blaufuß verdanke ich Ratschläge und die kritische Durchsicht des vorliegenden Beitrags vor seiner Erstpublikation. 20 Unitas Fratrum. Beiträge aus der Brüdergemeine [seit Heft 5 unter dem Titel ,Zeitschrift für Geschichte und Gegenwartsfragen der Brüdergemeine‘], Hamburg, dann Herrnhut, seit 1977, bis 2016 75 Nummern [häufig als Doppelhefte]). Der Erfassungszeitraum der darin unregelmäßig erscheinenden Bibliographie beginnt mit dem Jahr 1987, zur Ergänzung von Dietrich Meyers Bibliographischem Handbuch (wie Anm. 23): Paul M. Peucker : Bibliographische Übersicht der […] Veröffentlichungen über die Brüdergemeine, seit H. 26 (1989), seit H. 53/54 (2004) übernommen von Claudia Mai und Gudrun Meyer. 21 Das gesamte Titelmaterial ist systematisch angeordnet in (für die späteren Bände z. T. veränderten oder aufgegebenen) Rubriken wie Bibliographien und Forschungsberichte – Sammelwerke – Quellen und Darstellungen zur Vorgeschichte des Pietismus – Der Pietismus in den Niederlanden – Gesamtwürdigungen des Pietismus – Theologie und Frömmigkeit – Sozial- und Staatslehre, Pädagogik – Spener, Francke und der Hallesche Pietismus – Württembergischer Pietismus – Zinzendorf und die Brüdergemeine – Gottfried Arnold und der radikale Pietismus – Tersteegen – Regionalgeschichte – Pietismus außerhalb Deutschlands – Ökumene und Mission
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Zuschnitt deutlich die kirchengeschichtlichen Forschungsschwerpunkte abbildet (Autoren, die nicht zu Halle, Württemberg oder Herrnhut gehören – bis auf Tersteegen alle Reformierten – fallen ungesondert in eine große Sammelrubrik „Regionalgeschichte“ oder – als Annex zum besterforschten Gottfried Arnold – unter den radikalen Pietismus). In der Titelaufnahme greift die sinnvollerweise schwerpunktmäßig auf das spätere 17. und das 18. Jahrhundert ausgerichtete Bibliographie, gleicher Interessenlage folgend, zunehmend sowohl konfessionskomparatistisch als auch chronologisch weit über den kirchengeschichtlichen Kernbereich des deutschen Pietismus hinaus, in den neueren Bänden „seit Johann Arndt“. Als „Vorgeschichte des Pietismus“ sind alle spiritualistischen Strömungen von der spätmittelalterlichen Mystik über das Reformationsjahrhundert bis zur Schwelle des Barock in einer Auswahl erfaßt, in der Phase zwischen Früh- und Spätpietismus auch nichtpietistische Heterodoxe und aufklärerische Weggenossen, aber auch Gegner. Jenseits dieser Zeit ist der gesamte Bereich des Neupietismus von der Erweckungsbewegung bis zu den evangelisatorischen Gemeinschaften des 20. Jahrhunderts aufgenommen. Im Ausland sind neben einer Sonderrubrik für die niederländische Nadere Reformatie, Präzisismus und Labadismus, nicht nur die deutschsprachigen Gruppierungen des 18. Jahrhunderts in Skandinavien und Rußland, die Exulanten in den Vereinigten Staaten und die Missionare in aller Welt einbegriffen, sondern auch verwandte Geister wie britisch-amerikanische Methodisten und Mennoniten. Für germanistisches Interesse sind außer den die Gesamterscheinung erschließenden Sparten und denen zu den Regionalgruppierungen vor allem die Rubriken von Belang, die Literatur zum Antipietismus, zu Übergängen in geistesgeschichtliche Parallelströmungen (Aufklärung und Idealismus) und insbesondere über „Die Bedeutung des Pietismus für Literatur und Kunst“ versammeln. Literaturwissenschaftliche Arbeiten sind, soweit sie nicht in den auf die Pietismusforschung konzentrierten Zeitschriften oder Sammelwerken erschienen sind, allerdings weit lückenhafter erfaßt als die theologischen. Die ursprüngliche Sonderung nach Quellen und Darstellungen ist aufgegeben, Rezensionen werden aber weiterhin (ohne Anspruch auf Vollständigkeit) nachgewiesen. Mit der anwachsenden Zahl der Bände vermißt man zunehmend einen Einbezug der Bibliographie in die Jahrgangsregister sowie zusammenfassende Mehrjahresregister. Bislang müssen für jede neu in den Blick genommene Fragestellung alle Bände erneut durchgesehen werden. An abgeschlossenen Personalbibliographien, selbst für die „Väter des Pietismus“, mangelt es sehr. Überwiegend bleibt man zunächst auf die Quellenund Literaturverzeichnisse der Forschungsliteratur angewiesen und ergänzend auf die Hilfsmittel des 18. Jahrhunderts selbst. (Einige Autoren wie Johann Jacob Moser und Johann Wilhelm Petersen haben sogar eigene Auto– Der Kampf gegen den Pietismus – Der Übergang zur Aufklärung, zur Erweckungsbewegung und zum Idealismus – Die Bedeutung des Pietismus für Literatur und Kunst – Rezensionen.
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Bibliographien veröffentlicht). Für die Werke und Briefe Speners blieb bis in jüngere Zeit die Bibliographie (auch mit der älteren Forschungsliteratur) im 3. Band von Paul Grünbergs Monographie von 1906 maßgeblich.22 Aktuellere Zuwege eröffnet jetzt die Homepage der Spener-Briefe-Ausgabe der Sächsischen Akademie der Wissenschaften. Für Zinzendorf hat Dietrich Meyer eine umfassende Bibliographie der Werke, Streitschriften und der Sekundärliteratur vorgelegt (bis 1975, Nachträge bis 1985).23 Für Francke hat Paul Raabe, unterstützt von Almut Pfeiffer, als sein „Abschiedsgeschenk an die Franckeschen Stiftungen“ (Vorwort, S. IX) zum Beschluss der schwierigen Aufbaujahre seiner ehrenamtlichen Direktion nach der deutschen Wiedervereinigung eine monumentale (durch Register trefflich erschlossene) Erfassung des Primärschrifttums vorgelegt.24 Bereits seit 1972 gab es einen Katalog der in Halle gesammelten handschriftlichen und gedruckten Predigten,25 seit 1983 ein Quellenrepertorium über die (Indien-)Missionsmaterialien der Franckeschen Stiftungen.26 Das wichtigste Verzeichnis pietistischer Primärliteratur, das auch die auctores minores eines ganzen, für die Literaturgeschichte des Pietismus hochbedeutsamen Territoriums erfaßt, steht als erster Band der von der Historischen Kommission herausgegebenen ,Bibliographie zur Geschichte des Pietismus‘ zur Verfügung. Gottfried Mälzer : Die Werke der Württembergischen Pietisten des 17. und 18. Jahrhunderts, Berlin – New York 1972 (Bibliographie zur Geschichte des Pietismus, Bd. 1).27
Aufgenommen sind 63 Autoren, die in Württemberg geboren sind oder längere Zeit dort gewirkt haben, jeweils mit einer dem Werkverzeichnis vorangestellten Notiz der biographischen Daten. Anonyma und Pseudonyma sind 22 Grünbergs Standardwerk Philipp Jakob Spener (Bd. 1: Göttingen 1893, Bd. 2: ebd. 1905, Bd. 3: ebd. 1906) wurde 1988 in Ergänzungsbänden zu Erich Beyreuthers Spener-Reprint nachgedruckt. Vgl. dazu Dietrich Blaufuß: Spener-Forschung. In: Pietismus-Forschungen. Hg. von Dietrich Blaufuß, Frankfurt am Main 1986, S. 13, Anm. 46. 23 Bibliographisches Handbuch zur Zinzendorf-Forschung. Hg. von Dietrich Meyer, Düsseldorf 1987. Ergänzungen in den seit H. 26 (1989) unregelmäßig erscheinenden Bibliographischen Übersichten der Zeitschrift ,Unitas Fratrum‘ (s. Anm. 20). 24 August Hermann Francke 1663–1727. Bibliographie seiner Schriften. Bearbeitet von Paul Raabe und Almut Pfeiffer, Halle – Tübingen 2001 (Hallesche Quellenpublikationen und Repertorien, Bd. 5) (783 S.). 25 Erhard Peschke und Friedrich de Boor, PB 1, Nr. 2. 26 Jürgen Storz, 1983, PB 10, Nr. 187. 27 PB 1, Nr. 3. – Mälzers Autorenliste ist nicht immer vollständig. Während sonst Radikale und Inspirierte wie Andreas Groß, Johann Georg Rosenbach, Eberhard Ludwig Gruber oder Johann Friedrich Rock aufgenommen sind, fehlt z. B. das Œuvre ihres literarisch nicht minder produktiven zeitweiligen Mitstreiters Johann Samuel Carl (zu dessen Werkverzeichnis vgl. meinen Artikel Schrader: Carl [1979, L 61], im vorliegenden Band S. 625–631). – Ergänzungen zu Mälzers Oetinger-Bibliographie gibt Reinhard Breymayer, PB 10, Nr. 129.
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zugewiesen, soweit sie durch Katalogeinträge oder andere Hilfsmittel (nicht immer korrekt) zu ermitteln waren. Besitzende Bibliotheken sind ausgewiesen. Ehe diese Reihe aufgrund teilweiser Funktionsübernahme durch elektronische Medien eingestellt wurde, kam noch eine weit detailliertere OetingerPrimärbibliographie hinzu: Die Werke Friedrich Christoph Oetingers. Chronologisch-systematische Bibliographie (1707–2014). Bearbeitet von Martin Weyer-Menkhoff und Reinhard Breymayer, Berlin – München – Boston 2015 (Bibliographie zur Geschichte des Pietismus, Bd. 3).
Vergleichbar umfassende Erschließungsarbeiten für andere, ähnlich wirkungsreiche Regionen des Pietismus ohne einen festen Gemeinschaftskern, für die reformierten Territorien, für Westfalen, für Frankfurt und die Wetterau, für die schlesischen Kleingrafschaften usw. stehen aus.28 Für die germanistische Pietismusforschung sind auch einige systematische Bibliographien von partiellem Belang, so etwa Martin Rößlers Bibliographie der deutschen Liedpredigt,29 die diversen Verzeichnisse der Leichenpredigtensammlungen, ihre von Rudolf Lenz herausgegebene Bestandsaufnahme (PB 8, Nr. 8a) und Fritz Roths Riesenunternehmen ihrer „restlosen Auswertung“ (wichtig für Personalia, Predigten, Leichabdankungen und Epicedien; vgl. PB 8, Nr. 10), schließlich Roland Folters Bibliographie der Nachlaßkataloge über Deutsche Dichter- und Germanistenbibliotheken30 und Reinhard Breymayers diverse bibliographische Teilaufschlüsselungen von in Auktionsverzeichnissen enthaltenen Beständen pietistischer Literatur.31
5. Zur Editionssituation Über die Lage des Editionswesens im Bereich des Pietismus, über die Verfügbarkeit pietistischer Quellen in Neuausgaben also, kann ich hier ebenfalls nur einen summarischen Überblick zu geben versuchen – konzentriert auf Gesamtwerke oder Werkkomplexe, nicht auf Einzelschriften. Insbesondere für 28 Verstreut finden sich einige neuere Personalbibliographien, z. B. für den Vorläufer des Pietismus Christian Hoburg, PB 10, Nr. 65, den Quietisten Pierre Poiret, PB 5, Nr. 11, den Hallenser Johann Caspar Schade (in: Dietrich Blaufuß: Spener-Arbeiten, 2. Aufl. 1980 [wie Anm. 13], S. 147–173) oder den Spätpietisten Johann Henrich Jung-Stilling, PB 3, Nr. 9. – Bereits älter ist die Primärbibliographie der für literatur- und besonders sprachgeschichtliche Studien bedeutsamen pietistisch-mystischen Lyrik und Prosa der deutsch-amerikanischen Siebentäger Täufer : Eugene E. Doll und Anneliese M. Funke: The Ephrata Cloisters. An annoted Bibliography, Philadelphia 1944 (Bibliographies on German American History, Bd. 3). 29 PB 4, Nr. 4, vgl. Rez. im selben Band, S. 332 f. 30 PB 3, Nr. 4. – Dort auch Nachweis der von Roland Folter aufgenommenen Pietistica. 31 Vgl. zum Gesamtprojekt PB 3, S. 180; vorliegende Einzelauswertungen ebd., Nr. 206a; PB 4, Nr. 123 und 211; PB 9, Nr. 14; PB 11, Nr. 4.
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den Literarhistoriker ist da die Situation eine grundlegend andere, ungünstigere, als er sie auf den meisten herkömmlicheren Forschungsfeldern vorfindet, wo er von den Anfängen der deutschen Literatur bis zur Gegenwart mit den in jeder wohlausgestatteten Institutsbibliothek verfügbaren, mehr oder minder kritischen und tauglichen Editionen seiner Untersuchungstexte arbeiten kann und ältere Originaldrucke in aller Regel nur noch auf Nebenwegen, für textkritische Detailprobleme oder Kontextforschungen, konsultieren muß. Was es an Neuausgaben pietistischer Texte gibt, ist ganz überwiegend nach theologiegeschichtlicher und kirchenhistorischer Relevanz ausgewählt. Da gibt es in erstaunlicher und rasch progredierender Breite höchst achtbare Leistungen, auch für uns entschieden nutzbringend namentlich in der Erschließung bisher ungedruckter Quellen und in den umfänglichen Kommentaren. Relativ unabhängig von den raren Originaldrucken der neuedierten Texte machen uns Literarhistoriker aber paradoxerweise eher die anastatischen Nachdrucke als einige der historisch-kritisch erarbeiteten Editionen. In diesen erscheinen die Texte nämlich, theologisch-fachspezifischen Grundsätzen folgend, häufig orthographisch-interpunktionell normalisiert und modernisiert. Damit aber gehen nicht allein Signale für die fundamentalen sprachgeschichtlichen Bedeutungsverschiebungen verloren, vielmehr werden Zitate zu solchen aus den noch nicht neuedierten Originalquellen nur mehr eingeschränkt kompatibel. Wie weitgehende Textverfälschungen sich aber nach dem heutigen Stand der Technik auch in Reprintausgaben einschleichen (häufig fehlende Satzzeichen, Buchstaben und diakritische Zeichen, bisweilen Auslassungen ganzer Wörter bei Blind- oder Schwachdrucken, dagegen zusätzliche Phantomzeichen aufgrund von Holzfasern, Farbdurchschlägen oder Erhaltungsschäden), wenn der Neudruck nicht aufgrund mehrerer Parallelexemplare buchstabengenau kollationiert und durch aufwendige Retuschierverfahren korrigiert wird, ist seit den von Erich Trunz zusammengestellten Begründungen der fortentwickelten Editionsprinzipien für die ,Deutschen Neudrucke, Reihe Barock‘ bekannt.32 32 Vgl. die Zusammenfassung der Argumente bei Erich Trunz: Rückblick auf 27 Bände der Deutschen Neudrucke, Reihe ,Barock‘. In: Johann Matthäus Meyfart: Tuba Novissima. Hg. von Erich Trunz, Tübingen 1980, S. 101*f., ergänzend siehe meine editorische Rechenschaft für die Neuausgabe von Johann Henrich Reitz’ „Historie Der Wiedergebohrnen“ (1982, L 2), Bd. 4, S. 200*f. Zur Gewährleistung eines den optimalen Überlieferungszustand reproduzierenden Drucks waren dort immerhin 51 Ganzseiten aus bogenweise besser erhaltenen Parallelexemplaren zu beziehen und überdies gegenüber dem photomechanisch erstellten Rohausdruck (der „Blaupause“) 1071 durch die Reprotechnik bedingte bzw. unausgleichbare Fehlerstellen (mittels Retusche) zu korrigieren. – Angesichts der eher auf preiswerte Bücherverbreitung als auf bibliophile Ausstattungen disponierten Papierqualitäten und Druckverfahren der oft aus leistungsschwachen Offizinen stammenden pietistischen Literatur erfordert deren kritischer
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Von den anspruchsvoll disponierten kritischen Gesamtausgaben der Opera kirchengeschichtlich bedeutendster Autoren seitens der Historischen Kommission zur Erforschung des Pietismus (in der TGP-Reihe)33 liegen mittlerweile etliche Bände vor: 1.
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Seit der Erstpublikation des vorliegenden Berichts vorangekommen ist die von Erhard Peschke34 begründete, von Udo Sträter und Christian Soboth fortgeführte Edition der Schriften und Predigten August Hermann Franckes (TGP, Abt. II). Sie umfasst jetzt die Bände 1: Streitschriften (Berlin 1981, 408 S.), 4: Schriften zur Biblischen Hermeneutik I (2003, 693 S.), 5: Schriften zur Biblischen Hermeneutik II (2018, 611 S.), 9: Predigten I (1987, 651 S.) und 10: Predigten II (1989, 639 S.). Zur Weiterführung der Francke-Ausgabe werden derzeit neue Konzepte erarbeitet. In der Reihe zu Franckes handschriftlichem Nachlaß (TGP, Abt. III) liegen vor Bd. 1: Der Briefwechsel Carl Hildebrand von Cansteins mit August Hermann Francke. Hg. von Peter Schicketanz (Berlin 1972) und (abgeschlossen) die Bände 2–6: Die Korrespondenz Heinrich Melchior Mühlenbergs, begründet von Kurt Aland und fortgesetzt von Beate Köster, Karl-Otto Strohmidel, Hermann Wellenreuther und Volker Depkat (1986, 1987, 1990, 1993 und 2002).35 Nikolaus Ludwig von Zinzendorf: Werke (TGP, Abt. IV) umfasst bislang Bd. 6/1: Katechismen. Hg. von Dietrich Meyer, Göttingen 2008 (581 S.), Bd. 7/1: Bibel und Bibelgebrauch. Hg. von Dietrich Meyer, Kai Dose und Jürgen Quack, Göttingen 2015 (523 S.) und Bd. 7/2 Zinzendorfs Übersetzung des Neuen Testaments. Hg. von Dietrich Meyer, Kai Dose und Hans Schneider, Göttingen 2015 (741 S.).
Neudruck freilich bei angemessener philologischer Kontrolle einen höheren Retuschieraufwand, als dies bei den meisten poetischen Texten derselben Zeit der Fall ist. 33 Die ehrgeizigen Reihenplanungen wies ein Spezialprospekt „Texte zur Geschichte des Pietismus“ des de Gruyter-Verlags von 1979 aus. Das davon dort und bei den im Verlag Vandenhoeck & Ruprecht angesiedelten Editionen bislang Erreichte ebenso wie die Zusammenstellung aller anderen im Auftrag der Historischen Kommission herausgegebenen Reihen incl. genauer Angaben über die Abfolge der Reihen- und Bandherausgeber liefert die oben (im Text, nach Anm. 14) bereits genannte Rechenschaftsbroschüre: Historische Kommission zur Erforschung des Pietismus. Informationen [Geschichte. Tagungen. Projekte. Publikationen]. Hg. von Hans Otte, red. von Albrecht Philipps und Gudrun Diemert, Hannover: Amt der UEK in der EKD 2017. 34 Peschke hatte zuvor bereits eine einbändige Auswahlpublikation vorgelegt, August Hermann Francke: Werke in Auswahl, Witten 1969. Franckes Lebensreflexionen („Leben=Lauff“ und „Kurtze Nachricht“) sind jetzt in den Editionsreihen der ,kleinen Texte‘ greifbar: Lebensläufe August Hermann Franckes. Hg. von Markus Matthias, Leipzig 1999 (KTP, Bd. 2); Neuausgabe: Lebensläufe August Hermann Franckes. Autobiographie und Biographie. Hg., kommentiert und mit einem Nachwort von Markus Matthias, 2., überarb. Aufl., Leipzig 2016 (ETP, Bd. 9). 35 Rezensionen sind in der ,Pietismus-Bibliographie‘ von „Pietismus und Neuzeit“ unter der Bandzahl und Nummer des ersten bibliographischen Nachweises der besprochenen Bücher leicht auffindbar.
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Die kritische Ausgabe der Werke von Gerhard Tersteegen (TGP, Abt. V) blieb bisher ein Torso und wird wohl die angestrebte Vollständigkeit nie erreichen. Erschienen sind nur Bd. 1: Geistliche Reden. Hg. von Albert Löschhorn und Winfried Zeller, Göttingen 1979 (XXI, 666 S.), Bd. 7/ 1 und 2: Briefe. Hg. von Gustav Adolf Benrath, Gießen – Göttingen 2008 (663, 605 S.) sowie Bd. 8: Briefe in niederländischer Sprache. Hg. von Cornelis Pieter van Andel, Göttingen 1982 (XXII, 312 S.). Die kritische Ausgabe des lyrischen Hauptwerks Geistliches Blumen-Gärtlein Inniger Seelen, hg. von Ute Mennecke, ist in dieser Serie in Vorbereitung. Eine textlich-zuverlässige kommentierte Auswahl aus den theologischen Schriften (z. T. mit Präsentation für verschollen gehaltener Werke) wurde jetzt in der Reihe Edition Pietismustexte vorgelegt: Gerhard Tersteegen: Abhandlungen zu Frömmigkeit und Theologie. Hg. von Johannes Burkardt, Leipzig 2018 (EPT, Bd. 12, 360 S.). Von Johann Albrecht Bengel: Werke und Briefwechsel (TGP, Abt. VI), kritisch ediert und kommentiert von Dieter Ising, konnten bislang nur zwei Bände mit der Korrespondenz der frühen Jahre vorgelegt werden, Bd. I: Briefe 1707–1722, Göttingen 2008 (874 S.) und Bd. II: Briefe 1723–1731, Göttingen 2012. Der Band mit den Briefen 1732–1741 ist in Vorbereitung. Von Friedrich Christoph Oetingers Werken stehen in der kritischen Ausgabe zu Gebote Bd. 1: Die Lehrtafel der Prinzessin Antonia. Hg. von Reinhard Breymayer und Friedrich Häussermann (Teil 1: Text, XVI, 266 S., Teil 2: Anmerkungen, XXXIII, 633 S.), Berlin – New York 1977, Bd. 2: die lateinische Theologia ex idea vitae deducta (1752/65), hg. von Konrad Ohly (Teil 1: Text, 299 S., Teil 2: Anmerkungen, 198 S.), ebd. 1979 sowie Biblisches und Emblematisches Wörterbuch, hg. von Gerhard Schäfer (Teil 1: Text, XL, 434 S., Teil 2: Anmerkungen, VIII 364 S.), ebd. 1979. Die Selbstbiographie wurde im selben Jahr 2010 zweimal kritisch ediert und kommentiert, zuerst in der besonders den alchimistischhermetischen Verweisen nachgehenden Dissertation von Ulrike Kummer : Autobiographie und Pietismus. Friedrich Christoph Oetingers Genealogie der reellen Gedancken eines Gottes=Gelehrten. Untersuchungen und Edition, Frankfurt am Main 2010, dann abermals mit weiterreichenden biographisch-kirchengeschichtlichen Aufschlüssen in der Reihe Edition Pietismustexte, Friedrich Christoph Oetinger : Genealogie der reellen Gedancken eines Gottes-Gelehrten. Eine Selbstbiographie. Hg. von Dieter Ising, Leipzig 2010 (EPT, Bd. 1, 272 S.). Außerdem erschienen in der TGP-Abteilung VIII, Einzelgestalten und Sondergruppen vom Württemberger Spätpietisten Philipp Matthäus Hahn (Hg. von Martin Brecht und Rudolf F. Paulus) als TGP, Bd. 1: Die Kornwestheimer Tagebücher 1772–1777 und Bd. 2: Die Echterdinger Tagebücher 1780–1790 (Berlin 1979 und 1983, 520 und 517 S.), vom Zürcher Johann Caspar Lavater zwei von Horst Weigelt besorgte Bände (TGP, Bd. 3 und 4) mit den Reisetagebüchern (Göttingen 1997, XI, 839 S. und VIII,
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401 S.), schließlich, wiederum aus dem Württembergischen Pietimus, TGP, Bd. 5: Beate Hahn Paulus: Die Thalheimer Wochenbücher 1817–1829, hg. von Ulrike Gleixner (Bd. 5, Göttingen 2007, XXVII, 322 S.). Nach langen Anlaufschwierigkeiten ist außerhalb der Texte zur Geschichte des Pietismus die von Johannes Wallmann in Angriff genommene große Edition der Briefe Philipp Jacob Speners36 mit der Übernahme in die Sächsische Akademie der Wissenschaften und ihrer Arbeitsstelle in den Franckeschen Stiftungen zu Halle (geleitet von Klaus vom Orde) produktiv wieder in Fahrt gekommen. Erschienen sind bislang in der Abteilung Briefe aus der Frankfurter Zeit 1666–1674 Bd. 1: 1666–1674 (Tübingen 1992), Bd. 2: 1675–1676 (1996), Bd. 3: 1677–1678 (2000), Bd. 4: 1679–1680 (2005) und Bd. 5: 1681 (2010), in der Abteilung Briefe aus der Dresdner Zeit (1686–1691) Bd. 1: 1686–1687 (2003), Bd. 2: 1688 (2009), Bd. 3: 1689 (2013) und Bd. 4: 1690–1691 (2017), schließlich ein Band mit Speners Briefwechsel mit August Hermann Francke 1689–1691 (2006). Auf der Grundlage seiner Erfahrung als langjähriger Mitarbeiter an dieser kritischen Edition hat Markus Matthias kommentierte Spener-Briefauswahlen vorgelegt.37 Eine größere, ausführlich kommentierte Werkedition mit mehrbändiger Herausgabe seiner Briefe hat außerhalb der TGP auch der württembergische Pietist der Erweckungsbewegung Johann Christoph Blumhardt gefunden.38 Die „Schwabenväter“ sind darüber hinaus mit Einzelwerkausgaben in größerer Zahl bedacht worden, teilweise in textlicher Bearbeitung für Gemeindegebrauch und Privaterbauung. Quantitativ herausragend sind dabei die Opera Bengels (NT-Übersetzung, PB 3, Nr. 141, das Gnomon, 2 Bde., PB
36 Vgl. die Erläuterungen Johannes Wallmanns: Überlegungen und Vorschläge zu einer Edition des Spenerschen Briefwechsels in: Pietismus und Neuzeit 11 (1985), S. 347. Der Progreß der Briefausgabe ist stets aktuell ersichtlich in ihrer Homepage www.edition-spenerbriefe. – Zum Problem einer umfassenden Spener-Gesamtausgabe vgl. außer dem Nachweis oben, Anm. 22 den Aufsatz von Dietrich Blaufuß: Speners Briefwechsel – ein editorisches Problem. In: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 39 (1987), S. 47–68. 37 Philipp Jacob Spener : Die Anfänge des Pietismus in seinen Briefen. Ausgewählt, zum Teil aus dem Lateinischen übersetzt und hg. von Markus Matthias, Leipzig 2016 (Edition Pietismustexte, Bd. 7). Ein weiterer thematisch gliedernder Auswahl-Band späterer Spener-Briefe ist vom selben Herausgeber in derselben EPT-Reihe in Vorbereitung. 38 Johann Christoph Blumhardt: Gesammelte Werke. Schriften, Verkündigung, Briefe. Göttingen, seit 1979: Reihe 1: Schriften. Hg. von Gerhard Schäfer. Bd. 1: Der Kampf in Möttlingen. Texte (1979), Bd. 2. Anmerkungen (1979). – Reihe 2: Verkündigung. Hg. von Joachim Scharfenberg und Paul Ernst. Bde. 1–5: Blätter aus Bad Boll. Faksimileausgabe mit Vorwort und Erläuterungen (1968–1974). – Reihe 3: Briefe. Hg. von Dieter Ising. Bd 1: Frühe Briefe bis 1838. Texte (1993); Bd. 2: Frühe Briefe bis 1838. Anmerkungen (1993); Bd. 3: Möttlinger Briefe 1838–1852. Texte (1997); Bd. 4: Möttlinger Briefe 1838–1852. Anmerkungen (1997); Bd. 5: Bad Boller Briefe 1852–1880. Texte (1999); Bd. 6: Bad Boller Briefe 1852–1880. Anmerkungen (1999); Bd. 7: Briefe; Verzeichnisse und Register zu Bd. 1–6 (2001).
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2, Nr. 246, die Send-Schreiben, PB 4, Nr. 148, Die Offenbarung des Johannes, PB 3, Nr. 140 und Werkauszüge, Vom heiligen Heimweh. Worte für alle Tage des Jahres, PB 8, Nr. 150) und Oetingers (zwei Ausgaben Gebete, PB 7, Nr. 126 und 8, Nr. 134, die Epistel-Predigten, PB 5, Nr. 137 und das Brevier Etwas Ganzes vom Evangelium, PB 9, Nr. 130) vertreten. 9. Unter den auf weitgehende Vollständigkeit disponierten, mit ausführlichen Einleitungen und Beigaben ausgestatteten Reprintausgaben ist zunächst der Nachdruck der ,Schriften‘ Speners zu nennen: Herausgegeben von Erich Beyreuther und Dietrich Blaufuß, umfaßt diese Ausgabe 16 Bände (in 38 Teilbänden).39 10. Gemischt aus Reprints und Neupublikationen ist das Mammutunternehmen der Zinzendorf-Ausgabe von Erich Beyreuther und Gerhard Meyer, das über die zunächst 1962–1972 publizierte Reihe der Hauptschriften in sechs Bänden hinaus in mehr und mehr unüberschaubaren Serien von Ergänzungsbänden, verschiedenen Materialien- und Dokumentenreihen, untermischt mit nachgedruckter alter und moderner monographischer und Aufsatzliteratur (eine ganze Serie allein zur tschechischen Brüder-Vorgeschichte) und mit einem kompletten Nachdruck der Zeitschrift für Brüdergeschichte (1907–1920), zu einem Monstrum von über 70 Bänden (z. T. überdies in mehreren Teilbänden) aufgebläht wurde, offenbar mit dem Ehrgeiz, nach und nach eine vollständige herrnhutische Handbibliothek in sich zu bergen.40 Aufschlußreich für den Abweichungsgrad literarhistorischer und kirchengeschichtlicher Interessen ist es, daß unter den Hauptschriften nur theologische Aufsätze, Predigten und Reden Zinzendorfs zu finden sind, während etwa die autobiographischen Reflexionen des Grafen (Erg.Bd. 4), seine Lyrik (Erg.-Bd. 2) und die für seine Sondersprache und seinen ästhetischen Umgang mit der Bibel höchst aufschlußreiche Teilübersetzung des Neuen Testaments (Erg.-Bd. 13) erst in Ergänzungsreihen aufgenommen wurden. 39 Philipp Jakob Spener : Schriften. Korrespondenz. Hg. von Erich Beyreuther und Dietrich Blaufuß, Hildesheim 1979–2015 (Schriften, Bd. 1–10; Korrespondenz, Bd. 11–16), vgl. die Detailangaben im Olms-Sonderprospekt für diese Edition („Jetzt komplett lieferbar“) cms.olmsonline.de. – Bd. 1 enthält die „Pia Desideria“ und kleinere Schriften bis 1668. Speners Programmschrift allerdings kann jetzt in ihrer kritischen Neuausgabe konsultiert und zitiert werden. Philipp Jacob Spener: Pia Desideria. Deutsch-lateinische Studienausgabe, hg. von Beate Köster, Gießen – Basel 2005 (nach der Spener-Studienausgabe, Bd. I,1, 1996). 40 Mit den Abteilungen Zinzendorf: Hauptschriften, 6 Bde., Hildesheim 1962–1972 – Ergänzungsbände zu den Hauptschriften, 12 Bände, Hildesheim 1964–1972 – Materialien und Dokumente in 4 Reihen; Reihe 1: Quellen und Darstellungen zur Geschichte der böhmischen Brüderunität, 5 Bde. (mehrere davon mit zusätzlichen Ergänzungsbänden), ebd. 1970–1982 – Reihe 2: Leben und Werk in Quellen und Darstellungen, 35 Bde. (z. T. in mehreren Teilbänden), ebd. 1971–2010 – Reihe 4: Gesangbücher, 6 Bde., ebd., 1977–1980. – Eine Übersicht über alle lieferbaren Bände gibt der elektronische Gesamtkatalog des Olms-Weidmann-Verlags, Hildesheim – New York.
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Durch ihren Einbezug in Zinzendorf-Materialien sind immerhin über die Gemeindegeschichte hinaus relevante Texte, eine vollständige, 1740–1744 erschienene, Herrnhuter-Zeitschrift (die Büdingische Sammlung, Erg.Bde. 7–9), die große Zahl pietistischer und aufklärerischer Streitschriften gegen die Brüderunität (Antizinzendorfiana 1–5 = Materialien-Reihe 2, 14–18 und J. A. Bengels Abriß der sogenannten Brüdergemeinde, Materialien-Reihe 2, 10) sowie die Menge der Brüdergesangbücher (Materialien-Reihe 4) leichter greifbar geworden, für die sich separat, d. h. ohne die Stütze fester Abonnements, wohl kaum ein Verleger gefunden hätte. 11. Abschließend sei noch auf die Reprint-Ausgaben wichtiger Werke Gottfried Arnolds (Unparteiische Kirchen- und Ketzer-Historie, 2 Bde., Hildesheim: Olms 1967; Das Geheimnis der göttlichen Sophia, Stuttgart: Frommann-Holzboog 1963 und Historie und Beschreibung der mystischen Theologie, ebd. 1969) hingewiesen, auf die sorgfältige, aus Nachdrucken und Ersteditionen zusammengesetzte Gesamtausgabe des vom radikalen Pietismus zur radikalen Aufklärung bekehrten Johann Christian Edelmann von dem Historiker Walter Grossmann (12 Bde., Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog 1969–1987), auf meine textgenetisch strukturierte komplette Neupräsentation der im 18. Jahrhundert verbreitetsten erbaulichen Biographiensammlung, Johann Henrich Reitz’ Historie Der Wiedergebohrnen (4 Bände, Tübingen: Niemeyer 1982 (Deutsche Neudrucke, Reihe Barock, Bd. 29/1–4) und schließlich auf den Reprint der Sämtlichen Schriften Jung-Stillings.41 Auf wissenschaftliche Editionen und erbauungsgerichtete Leseausgaben pietistischer Einzeltexte und -korrespondenzen kann ich hier nicht eingehen. Wie punktuell begrenzt auch immer das seit dem 19. Jahrhundert in Neuausgaben Verfügbare im Vergleich zur Gesamtüberlieferung noch ist, der dabei zu berücksichtigenden Autoren sind es zu viele. Ein Überblicksversuch verlöre sich ins Uferlose.
41 Johann Heinrich Jung’s, genannt Stilling […] sämmtliche Schriften, 13 Bde. und Erg.-Bd, Stuttgart 1835–1838, Reprint Hildesheim 1979. Seither entstand eine nützliche Auswahl seiner „Briefe“, ausgewählt und hg. von Gerhard Schwinge, Gießen 2002. Unter den Jung-StillingEinzelausgaben ragt durch Sorgfalt der Textherstellung und der Kommentierung Gustav Adolf Benraths vollständige Edition aller Teile der „Lebensgeschichte“ heraus, Darmstadt, 3. durchges. u. verb. Aufl, 1992. Eine neue kommentierte Anthologie seiner theologischen und erbaulichen Schriften liegt vor, Johann Heinrich Jung-Stilling: „… weder Calvinist noch Herrnhuter noch Pietist“. Fromme Populartheologie um 1800. Hg. von Veronika Albrecht-Birkner, Leipzig 2017 (EPT, Bd. 11).
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6. Einige Desiderata aus germanistischer Sicht Gestatten Sie mir aber noch einige Schlußüberlegungen zu Konsequenzen für die germanistische Pietismusforschung und einige Pia Desideria: Zu einer verbesserten Übersicht über die bereits greifbaren Forschungserträge, Hilfsmittel und Textausgaben des 20. und 21. Jahrhunderts bedürften wir besonders einer Auffüllung der bibliographischen Lücke von drei Jahrzehnten, die noch klafft zwischen dem Ende der Berichterstattung im Beiblatt der Theologischen Literaturzeitung, 1940/41, und dem Beginn der Titelerfassung in der ,Pietismus-Bibliographie‘ von Pietismus und Neuzeit, 1970/71. Diese Aufgabe fällt sicher vorrangig in die Kompetenz der kirchengeschichtlichen Bibliographie.42 Im Hinblick auf die für die spezifischen Fragestellungen unseres Fachs noch defiziente Editionssituation sehe ich bei aller Wünschbarkeit vermehrter Anstrengungen um die Neuausgabe einiger der markantesten Paradigmata aus den wichtigsten literarischen Gattungen und einiger der ausdruckskräftigsten Exempla solcher Texte, die durch Formkraft, Sprachmeisterschaft und Ideengehalt aus der Masse des reizlos Gleichförmigen im Schrifttum des Pietismus vulgaris herausragen (gerade an diesen Kriterien sind ja die beiden neuen, in der Evangelischen Verlagsanstalt Leipzig erscheinenden Reihen der Historischen Kommission, Kleine Texte des Pietismus [KTP, 12 Bde., 1999–2008] und Edition Pietismustexte [EPT, bisher 12 Bde., seit 2010] orientiert), trotz auch des Fortschritts von im Netz verfügbaren Digitalisierungen der Bibliotheksbestände auf lange Sicht noch kaum eine Perspektive für eine Unabhängigkeit von den raren Originaldrucken. Vordringlich scheinen mir hier philologisch kontrollierte und kommentierte photomechanische Neudrucke der im 18. Jahrhundert meistgelesenen Sammelbiographien und pietistischen Zeitschriften zu sein, weil sie mit relativ geringem Aufwand eine Vielzahl typischer Originaltexte verfügbar machen, dazu (in Neusatz) kommentierte Anthologien bedeutsamer Passagen aus der autobiographischen Literatur bzw. Gesamteditionen einiger umfänglicher Selbstzeugnisse und schließlich Sammlungen mit einer repräsentativen Auswahl pietistischer Lyrik. Im ganzen aber wird sich ein konsensfähiger Kanon der literaturwissenschaftlich belangvollsten Texte erst noch herausbilden müssen, so wie wir ihn – wenigstens als Basis allfälliger Revisionen – für alle anderen Epochen unserer Literaturgeschichte längst besitzen. Dafür gäbe es wirkungsgeschichtlich-quantitative und aus der Textanalyse gewinnbare qualitative Kriterien: einerseits objektive Daten über die herausragende Verbreitung einzelner Werke, andererseits die Feststellung mar42 Dietrich Blaufuß hat mich auf dieses Gravamen für die interdisziplinäre Pietismusforschung aufmerksam gemacht.
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kant zugespitzter Ausprägungen pietismusspezifischer Anschauungen, Sprach- und Formmerkmale und schließlich individuell hervorstechender poetisch produktiver Einzelleistungen. Nach meiner Beobachtung übrigens gibt es sogar eine weit stärkere Konvergenz zwischen Breitenwirkungen innerhalb der pietistischen Leserschaft und individuell exponierten Sprach- und Ideenleistungen, als man zunächst vermuten könnte. Eine Liste an allgemeinerbaulicher, radikal-spekulativer und ebenso radikal mystisch-asketischer Literatur, wie sie die Gottschedin im 6. Auftritt der 4. Handlung ihrer Pietisterey im Fischbein-Rocke43 von dem Bücherkolporteur Jacob den frommen Damen Glaubeleichtin, Seufzerin und Zanckenheimin feilbieten läßt, scheint mir (aufgrund der Durchsicht zahlreicher autobiographischer Lektürezeugnisse, Privatbibliotheksverzeichnisse und Verlags- und Sortimentskataloge für den Spezialmarkt der Erweckten) für die pietistische Lesekultur weit signifikanter als die unser Pietismusbild dominierenden Programmschriften von wenigen „Väter“-Gestalten der theologischen Erneuerer. Will man auf diesem Sektor subjektive Einschätzungen objektivieren, die Kanonbildung befördern und zugleich auch die Grundlage für eine komplette bibliographische Erfassung des gesamten pietistischen Schrifttums sichern, ist freilich zunächst, gerade im germanistischen Bereich, noch eine systematisch verstärkte Grundlagenforschung vonnöten. Von primärer Bedeutung erscheinen mir dabei die folgenden, in Teilen gewiß durch koordinierte Dissertationen auszumessenden Arbeitskreise: 1. sollten die verfügbaren bibliographischen Angaben über das genuin pietistische Schrifttum aus den zeitgenössischen Bücherverzeichnissen und Lexika zusammengestellt werden. In einem weiteren Arbeitsschritt müßten die so ermittelten Titel mit Hilfe der heutigen gedruckten Kataloge großer Bibliotheken, der Zentralkataloge und fallweise durch Autopsie über Fernleihe bibliographisch rektifiziert und mit Besitznachweisen versehen werden. Für die Messekataloge nach 1700 können dafür jetzt deren alphabetische Totalerschließungen in der Wolfenbütteler Arbeitsstelle zur Geschichte des Buchwesens das Fundament bieten. In Georgis Bücher-Lexicon, Jöchers und seiner Fortsetzer Allgemeinem Gelehrten Lexicon, den regionalen Schriftstellerlexika wie Strieder, den speziellen Theologen-Nachschlagewerken wie Moser und Neubauer oder SchwärmerLexika wie Johann Heinrich Feustkings GYNAECEUM HAERETICO FANATICUM von 1704 oder Johann Michael Mehligs Historischem Kirchenund Ketzer-Lexicon von 1758 ist eine alphabetische Gliederung ohnehin vorgegeben, zu Meusel und Hamberger/Meusel gibt es Register. Anonyma und Pseudonyma sind fallweise (wenn auch ohne sichernde Belege) bei Weller und Holzmann/Bohatta zugewiesen. 43 Luise Adelgunde Victorie Gottsched: Die Pietisterey im Fischbein-Rocke. Hg. von Wolfgang Martens, Stuttgart 1968 u. ö., S. 102–109 (Reclams Universal-Bibliothek, Nr. 8579 [2]).
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2. müßten zur Ermittlung der noch ganz unüberschaubaren Schätze an verstreut gedruckter Lyrik, Brief-, Tagebuch- und Andachtsliteratur die pietistischen Zeitschriften seit der Geistlichen FAMA (ab 1730) und der Sammlung Auserlesener Materien zum Bau des Reichs Gottes (ab 1730) bis hin zu Lavaters Erinnerer (1765–1767), den Baseler Sammlungen (seit 1783) und Jung-Stillings Der graue Mann (1795–1816) nach Autoren, Inhalten und Gattungen aufgeschlossen werden. Zusammengestellt werden sollten (zum Auffinden jener Pietistica-Titel, die nicht in die Messekataloge und Bücherverzeichnisse gelangt sind) aus diesen Zeitschriften auch die Buchnachweise und -rezensionen ebenso wie jene aus den Organen der Orthodoxie: seit 1701 den Unschuldigen Nachrichten (mit Registerbänden), später auch der Auserlesenen Theologischen Bibliothek, der Bibliotheca Historico-Philologico-Theologica oder Beckers Theologischem Büchersaal. 3. wäre zu gleichem Zweck, aber auch für Fragen der Bücherverbreitung, eine nicht mehr bloß sporadische Auswertung der Pietistica in den zahlreich erhaltenen Auktionsverzeichnissen pietistischer Privatbibliotheken zu wünschen, die mehrfach wiederkehrende Titelnachweise quantifiziert, und eine ebensolche Erschließung der von pietistischen Druckern und Verlegern teils original überlieferten, teils durch die jüngere buchgeschichtliche Forschung rekonstruierten Produktions- und Sortimentslisten. Nach dem Vorbild der Arbeiten zum Halleschen Waisenhaus, zu den Verlegern Beets und Luppius, de Launoy, Haug oder Marche müßte die Erforschung weiterer pietistischer Drucker und Distributionsunternehmungen vorangetrieben werden.44 44 Für Halle noch immer maßgeblich: August Schürmann: Zur Geschichte der Buchhandlung des Waisenhauses und der Cansteinschen Bibelanstalt in Halle a. S., Halle 1898, vgl. Hermann Bräuning-Oktavio: Die Anfänge der Buchhandlung des Waisenhauses in Halle. In: ,Ich dien‘. Festgabe zum 60. Geburtstage von Wilhelm Diehl, Darmstadt 1931, S. 196–215. Richtungweisend in der Präzision der Produktions- und Sortimenterfassung der beiden Spiritualisten- und Pietistenoffizinen und Verlage des Hendrick Beets (Henricus Betkius, Amsterdam) und seines Verlagsnachfolgers Andreas Luppius (Wesel – Duisburg) sind die beiden neueren Arbeiten von Willem Heijting: Hendrick Beets (1625?–1708), publisher to the German adherents of Jacob Böhme in Amsterdam. In: Quaerando, Bd. 3, Amsterdam 1973, S. 250–280 und Peter Jürgen Mennenöh: Duisburg in der Geschichte des niederrheinischen Buchdrucks und Buchhandels bis zum Ende der alten Duisburger Universität (1818), Duisburg 1970 (Duisburger Forschungen, 13. Beiheft), S. 95–130, 157–161, 293–307. – Die Geschichte der radikalpietistischen Druck- und Verlagsunternehmen in Offenbach (Druckerverleger Bonaventura de Launoy), Idstein und Berleburg (Verleger Johann Jacob Haug) mit Zusammenstellungen der dort offen oder heimlich hergestellten Literatur und Analysen der großenteils außerinstitutionellen Vertriebswege ist dokumentiert bei Schrader: Literaturproduktion (1989, L 1). – Einen Überblick über die Geschichte und die Erzeugnisse des Görlitzer Verlags Gottfried Marches gibt Leiv Aalen in der Einführung zum Neudruck des Herrnhuterperiodikums „Freywillige Nachlese“. In: Nicolaus Ludwig von Zinzendorf: Erg.-Bd. zu den Hauptschriften 11, Hildesheim 1972, bes. S. VII*–XXVIII*, XLIV*–XLVII* und CII*–CIV* – Entschieden nützlich sind die Register der Druck- und Vertriebsorte sowie der Drucker, Verleger und Buchhändler der Herrnhuterschriften und der „Antizinzendorfiana“ in Dietrich Meyers Zinzendorf-Bibliographie (vgl. Anm. 23).
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4. wäre wesentlicher Neuaufschluß über pietistische Literatur und ihre Verbreitung durch eine diesbezügliche Auswertung der Kataloge bzw. Buchbestände der noch erhaltenen (oder noch durch Auktionsverzeichnisse überschaubaren) pietistischen Adelsbibliotheken zu gewinnen. 5. schiene mir ein systematischer Überblick besonders über die (bei den Pietisten häufig autobiographischen) Personalia und die Epicedien in den Leichenpredigten (auf Gemeindemitglieder bzw. von Geistlichen) dieser Gruppierung von besonderem Wert. Einige dieser Desideria wären mit überschaubarem Aufwand mittelfristig zu erfüllen, andere mögen gegenwärtig noch im Bereich allzu frommer Wünsche bleiben. Der partiellen Ohnmacht unseres Faches auf diesem Sektor wird jedenfalls nicht so leicht abzuhelfen sein, wie in der Pietisterey der Gottschedin der Ohnmacht jener Frau Glaubeleichtin, die durch das bloße Anrufen mit den Namen ihrer pietistischen und mystischen Lieblingsautoren und einigen frommen Reizwörtern wieder auf die Beine zu bringen war : „Dieß ist ihre Artzeney! Schreyen sie brav mit mir : (Sie schreyt.) Arnold! Petersen! Lange! Gichtel! Francke! Tauler! Gnade! Wiedergebuhrt! Der innere Funcke! Die geistliche Salbung! Zum Hencker! so schreyen sie doch mit.“45
45 Gottsched: Die Pietisterey im Fischbein-Rocke (wie Anm. 43), S. 38.
Die Literatur des Pietismus – Pietistische Impulse zur Literaturgeschichte Ein Überblick [2004, L 34, ausblickend aktualisiert]
1. Der Rahmen: Frömmigkeitsgeschichtliche Grundlagen der literarischen Wirksamkeit Als die profundeste und breitenwirksamste religiöse Erneuerungsbewegung innerhalb der protestantischen Christenheit seit der Reformation ist der Pietismus des 17. und 18. Jahrhunderts (mit seinen bis heute gemeinschaftsbildenden Folgeerscheinungen) zunächst freilich weniger ein Faktor der Literarhistorie als ein Element der Kirchengeschichte, der Frömmigkeit und des sozialen Wandels.1 Der in konfessionalistisch-dogmatischer Kontroverstheo1 Den Überblick gründe ich, die ursprüngliche Anlage aktualisierend (so dass der Zugewinn an literaturgeschichtlich relevanter monographischer Pietismusforschung und an verfügbaren Werkausgaben auffindbar wird), auf meinen bereits auf literaturgeschichtliche Aspekte konzentrierten Artikel, Schrader: Pietismus (1993, L 63), vgl. den knapperen Abriss, ders.: Pi8tisme (1995, L 64). – Verwiesen sei ferner auf die ebenfalls vorrangig literatur- und kunstwissenschaftliche Fragestellungen exponierenden Überblicksartikel von August Langen: Pietismus. In: Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte. Bd. 3, Berlin – New York, 2. Aufl. 1977, S. 103–114; Martin Geck: Pietismus. In: Musik in Geschichte und Gegenwart, 2. Aufl., Bd. 7/ Sachteil, Kassel 1997, Sp. 1595–1598; Ulf-Michael Schneider: Pietismus. In: Goethe Handbuch. Hg. von Bernd Witte, Bd. 4: Personen, Sachen, Begriffe, hg. von Hans-Dietrich Dahnke und Regine Otto, Teil 2, Stuttgart – Weimar 1998, S. 850–852; Joachim Jacob: Pietismus. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Hg. von Jan-Dirk Müller, Berlin – New York 2003, S. 85–87; Reinhard Breymayer: Pietismus. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Hg. von Gert Ueding, Bd. 6, Tübingen 2003, Sp. 1191–1214. – Ferner verhelfen aus vorrangig theologischer Kompetenz zu geschichtlich-theologischen Gesamtüberblicken die Lexikonartikel: Martin Schmidt und Martin Stallmann: Pietismus. In: Religion in Geschichte und Gegenwart. 3. Aufl., Bd. 5, Tübingen 1961, Sp. 370–383; Burkhard Weber : Pi8tisme. In: Dictionnaire de spiritualit8, asc8tique et mystique, doctrine et histoire. Bd. 12/2, Paris 1986, Sp. 1743–1758; Martin Brecht: Pietismus. In: Theologische Realenzyklopädie Bd. 26 (1996), S. 606–631; Ders: Pietismus. In: Evangelisches Kirchenlexikon, 3. Aufl., Bd. 3 (1992), Sp. 1215–1220; Ders.: Pietismus. In: Lexikon der Aufklärung. Deutschland und Europa. Hg. von Werner Schneiders, München 1995, S. 316 f.; Udo Sträter : Pi8tisme. In: Dictionnaire Europ8en des LumiHres. Hg. von Michel Delan, Paris 1997, S. 871–874; Christian Peters: Pietismus. In: Lexikon für Theologie und Kirche. 3. Aufl., Bd. 8 (1999), S. 291–293; Johannes Wallmann, J. Steven O’Malley, Eberhard Winkler, Udo Sträter u. Andreas Feldtkeller : Pietismus. In: Religion in Geschichte und Gegenwart. 4. Aufl., Bd. 6 (2003), Sp. 1341–1354.
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logie und oft unerbaulicher Kanzelgelehrsamkeit erstarrten Verkündigung in den lutherischen bzw. (calvinistisch oder zwinglianisch) reformierten Amtskirchen wollten die Pietisten eine auf individuelle Herzenserneuerung und praktisches Tatchristentum gerichtete Seelsorge entgegenstellen und so die (nach ihrer Auffassung steckengebliebene) Reformation vollenden. Als das „unum necessarium“ der biblischen Botschaft für das Christenleben begriffen sie die Erweckung der Einzelseele, ihre „Umschaffung“ aus einer erbsündigen „Weltfrömmigkeit“ zum Gnadenstand des Teilhabens an der göttlichen Natur. Diese geistliche „Wiedergeburt“ (Zentralterminus der pietistischen Psychagogik nach Mt 18,3, Joh 3,3–11, Tit 3,5, 1Joh 3,9 und 5,4) sollte über die asketische Christusnachfolge des neuen Menschen hinaus ihre „Früchte“ erweisen im praktischen Liebeswerk einer neuen Gemeinschaft der wahrhaften Christen. Und darüber hinaus sollte sie missionarisch weiterwirken zur Verwandlung der Welt, zu einer Vorbereitung des nahegeglaubten Gottesreichs. Als christlich-fundamentalistische Frömmigkeitsreform steht so der deutsche Pietismus in engem Konnex mit europäischen Parallelströmungen unterschiedlicher konfessioneller Herkunft: Eine reiche Übersetzungsliteratur bekundet die geistigen und zum Teil personellen Verbindungen ebenso mit den englischen Puritanern, Independenten und Quäkern wie mit katholischen Mystikern: den belgischen Reformjesuiten, sodann den französischen Jansenisten und Quietisten und einzelnen italienischen oder spanischen Spiritualen, ebenso mit den reformierten Präzisisten der ,Nadere Reformatie‘ und den Labadisten der Niederlande wie mit den verfolgten Hugenotten und Camisarden aus Frankreich, später mit den Täufern, Methodisten und Freikirchen der Neuen Welt. In seinem Streben nach einer außerinstitutionellen, ,philadelphischen‘ Geistes- und Tatgemeinschaft aller ,Erweckten‘ ohne Ansehung ihres Konfessionsstatus oder etwaiger ,Sondermeinungen‘ hat der Pietismus zunächst innerhalb der Kirchen, bei grundsätzlich organisationsfeindlichen Separatisten und in neu entstehenden Sondergemeinschaften, sodann aber auch im politischen Denken, in der Philosophie und Literatur entscheidend das Gedankengut der Bekenntnistoleranz (auch gegenüber den Katholiken, teilweise sogar gegenüber dem nach biblischem Zeugnis wie Gen 49,10, Röm 11,25 ff. oder Apk 20,4 f. zur endzeitlichen Brudergemeinschaft berufenen Gottesvolk der Juden) befördert, schließlich die Idee einer (zunächst aufgrund dynastischer Interessen in Preußen verwirklichten) evangelischen Kirchenunion. Ebensowenig wie gegenüber den ausländischen Weggenossen war das Kerngedankengut des Pietismus gegenüber den früheren Bestrebungen um individuellen Glaubensernst und eine Kirchenreform an Haupt und Gliedern neu oder originell. Die hier aktualisierten Theologeme und Grundsätze erscheinen durchweg schon präformiert bei den als ,Zeugen der Wahrheit‘ offen oder (im Falle theologischen Enthusiasmus- oder Heterodoxieverdachts) versteckt zum Vorbild Gewählten: bei Mystikern des Spätmittelalters (bes. Johannes Tauler), bei den Spiritualisten am ,linken Flügel‘ der Reformation (Valentin Weigel,
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Martin Bucer, Kaspar von Schwenckfeld), im hermetisch-spekulativen Gedankengut der Pansophie (Paracelsus-Tradition und Jacob Böhme), bei Bußpredigern und Ekstatikern der Barockzeit (Paul Felgenhauer, Johann Valentin Andreae, Quirinus Kuhlmann, Friedrich Breckling, Christian Hoburg, Johann Georg Gichtel), nicht zuletzt bei den Kirchen- und Frömmigkeitsreformern der sogenannten „Reformorthodoxie“ (Johann Arndt, Paul Gerhardt, Theophil Großgebauer, Gottlieb Spizel). Was den Pietismus trotz solcher programmatisch-gedanklichen (weithin auch sprachlichen) Abhängigkeiten zu einer historisch halbwegs klar umgrenzbaren Erscheinung sui generis macht, was ihn trotz individueller, gruppentheologischer und regionaler Teildifferenzen zu einer Einheit und zu einem wirkmächtigen Faktor auch der Literaturgeschichte zusammenschließt, sind eher quantitativ als qualitativ bestimmbare Besonderheiten: Mit Philipp Jacob Speners (als des eigentlichen ,Vaters des Pietismus‘) Ausformulierung eines grundlegenden Kirchenreformprogramms (Pia Desideria 1675; zuerst als Vorrede zu Arndts Postille) nämlich setzt eine über ein Jahrhundert lang epocheprägende Breitenbewegung ein: Sie fasste die vorher nur disparat geäußerten Reformideen und Frömmigkeitsnormen zusammen und ließ sie durch massenhafte Teilhabe der Theologen und Laien zum kirchengeschichtlich vorherrschenden ,typus doctrinae et vivendi‘ werden. Bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts hatte der Pietismus größte Teile der evangelischen Kirchengemeinschaft durchdrungen und war auch theologisch zur tonangebenden Kraft geworden. Etwa 40 Prozent aller Protestanten, knapp ein Fünftel aller Deutschsprechenden überhaupt, können in dieser Zeit als vom Pietismus beinflusst angesehen werden. Mit dem Erlahmen ihrer geistig und kirchenreformerisch progressiven Kräfte, unter dem Einfluss der Säkularisation, geraten die ,Stillen im Lande‘ im Spätpietismus (Johann Henrich Jung, gen. Stilling, in den an pietistische Tradition anknüpfenden Zügen seines Werks und Wirkens auch der divergierendsten Anregungen folgende Johann Caspar Lavater) in die Defensive, doch konnten die romantische ,Erweckungsbewegung‘ (der etwa auch durch ihr literarisches Wirken Anstoßgebende wie Johannes Daniel Falk, Ludwig Theobul Kosegarten, Gotthilf Heinrich von Schubert, Johann Arnold Kanne zugehörten) und der evangelisatorische Neupietismus an die als Unterströmung nie abgerissene Tradition anknüpfen.2 2 Insofern auch jeder literaturgeschichtliche Zugang von einer Kontextualisierung im kirchen- und frömmigkeitsgeschichtlichen Rahmen der zu untersuchenden Texte auszugehen hat, seien hier grundlegende Orientierungshilfen resümiert: Jüngere Gesamt- und Epochendarstellungen: Johannes Wallmann: Philipp Jakob Spener und die Anfänge des Pietismus, Tübingen, 2. überarb. und erw. Aufl. 1986. – Martin Schmidt: Pietismus, Stuttgart – Berlin, 3. Aufl. 1983. – Erich Beyreuther : Geschichte des Pietismus, Stuttgart 1978. – Martin Scharfe: Die Religion des Volkes. Kleine Kultur- und Sozialgeschichte des Pietismus, Gütersloh 1980. – Johannes Wallmann: Der Pietismus, Göttingen 1990 (Die Kirche in ihrer Geschichte, Bd. 4, Lfg. O,1) – Geschichte des Pietismus. Hg. von Martin Brecht, Klaus Depper-
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2. Literarische Leistung und literaturgeschichtliche Wirkung des Pietismus Für die Literaturgeschichte hat der Pietismus eine ebenso epochebestimmende Bedeutung erlangt wie für die Kirchengeschichte. In keiner anderen Zeit sind religiöse Lesestoffe in vergleichbarer Menge geschrieben, verbreitet und rezipiert worden (1740 machten sie drei Viertel alles Gedruckten aus, 1780 noch immer ein Fünftel). Eine durchgreifende Schriftenverbilligung durch missionarische Schenkungen und durch technische Neuerungen (erstmals von der Cansteinschen Bibelanstalt verwendeter Stehsatz: eine Gesamtbibel kostete da nur noch 13, das Neue Testament gar nur zwei Groschen) brachte neben der Traktatenflut auch Druckwerke größeren Umfangs bis in vorher lektüreungewohnte Mittel- und Unterschichten. Die angstvolle Sorge ums Seelenheil bewirkte neuartige Leseimpulse, in nie gekanntem Ausmaß sogar die Motivation zum Niederschreiben und Publizieren der eigenen Seelenmann, Ulrich Gäbler und Hartmut Lehmann. Bd. 1: Der Pietismus vom siebzehnten bis zum frühen achtzehnten Jahrhundert, Göttingen 1993; Bd. 2: Der Pietismus im achtzehnten Jahrhundert, ebd. 1995; Bd. 3: Der Pietismus im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert, ebd. 2000; Bd. 4: Glaubenswelt und Lebenswelten, ebd. 2004. – Peter Schicketanz: Der Pietismus von 1675 bis 1800, Leipzig 2001 (Kirchengeschichte in Einzeldarstellungen, Bd. III/1). – Hartmut Lehmann: Tranformationen der Religion in der Neuzeit. Beispiele aus der Geschichte des Protestantismus, Göttingen 2007 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, Bd. 230). Bibliographien: Gottfried Mälzer: Die Werke der Württembergischen Pietisten des 17. und 18. Jahrhunderts, Berlin – New York 1972 (Bibliographie zur Geschichte des Pietismus, Bd. 1). – Klaus Deppermann und Dietrich Blaufuß, dann Udo Sträter, Christian Soboth [u. a.]: PietismusBibliographie. In: Pietismus und Neuzeit (PuN), Bde. 1–43, 1974–2017 (Period. Verzeichnis der Neuerscheinungen [Quellen, Forschungen, Rezensionen]). – Bibliographisches Handbuch zur Zinzendorf-Forschung. Hg. von Dietrich Meyer, Düsseldorf 1987. – Ulrich Bister : Bibliographie der Schriften J. J. Rambachs. In: Johann Jakob Rambach: Leben, Briefe, Schriften. Hg. von Ulrich Bister und Martin Zeim, Gießen – Basel 1993, S. 72–143. – August Hermann Francke 1663–1727. Bibliographie seiner Schriften. Hg. von Paul Raabe und Almut Pfeiffer, Tübingen – Halle 2001 (Hallesche Quellenpublikationen und Repertorien, Bd. 5). Die Werke Friedrich Christoph Oetingers. Chronologisch-systematische Bibliographie (1707–2014). Bearbeitet von Martin WeyerMenkhoff und Reinhard Breymayer, Berlin – München – Boston 2015 (Bibliographie zur Geschichte des Pietismus, Bd. 3). Forschungsberichte: Hans Schneider: Der radikale Pietismus in der neueren Forschung. In: Pietismus und Neuzeit Bd. 8 (1982), S. 15–42, ebd., Bd. 9 (1983), S. 117–151, vgl. Hans Schneiders Beiträge „Der radikale Pietismus im 17. Jh.“/„im 18. Jh.“ in: Geschichte des Pietismus, Bd. 1, S. 391–437; Bd. 2, S. 107–197. – Dietrich Blaufuß: Pietismusforschung. In: Jahrbuch der historischen Forschung 1987 [1988], S. 24–37. – Schrader : Probleme der bibliographischen Erschließung (1988, L 16) im vorliegenden Band S. 63–90. – Für literaturwissenschaftliche Belange außerdem: Forschungsberichte in den germanistischen Monographien (s. u.) von Langen, Namowicz und Schrader. Spezialzeitschriften: Pietismus und Neuzeit. Ein Jahrbuch zur Geschichte des neueren Protestantismus (PuN), Witten, dann Göttingen 1974 ff. (bisher 43 Bde.). – Unitas Fratrum. Zeitschrift für Geschichte und Gegenwartsfragen der Brüdergemeine, Herrnhut 1977 ff., zuletzt H. 75 (2016).
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führungen und Erfahrungen bis in den Kleinhandwerker- und Bauernstand, v. a. auch bei Frauen. Quellensammlungen: (* = Kirchengeschichtliche Quellenhefte): Der deutsche Pietismus. Eine Auswahl. Hg. von Werner Mahrholz, Berlin 1921. – * Ernst Zimmermann: Der Pietismus, Leipzig [1925]. – * Der Pietismus. Hg. von Ludwig Linß, Leipzig 1926. – * Der Pietismus. Hg. von Bruno Schremmer, Leipzig 1926. – Pietismus. Hg. von Theodor Pauls, Frankfurt 1927. – Pietismus und Rationalismus. Hg. von Marianne Beyer-Fröhlich, Leipzig 1933; Neudruck (im Folgenden abk. „ND“) Darmstadt 1970. – Der Pietismus. Hg. von Hans Urner, Gladbeck 1952, Berlin, 2. Aufl. 1962. – Die Stimme der Stillen. Hg. von Otto Weber und Erich Beyreuther, Neukirchen 1959. – Das Zeitalter des Pietismus. Hg. von Martin Schmidt und Wilhelm Jannasch, Bremen 1965, ND Wuppertal 1988. – Pietists. Selected Writings. Hg. von Peter C. Erb und F. Ernest Stoeffler, New York – London 1983. – Pietismus. Eine Anthologie von Quellen des 17. und 18. Jahrhunderts. Hg. von Veronika Albrecht-Birkner, Wolfgang Breul [u. a.], Leipzig 2017. Werkausgaben: In der Reihe „Texte zur Geschichte des Pietismus“ (TGP), Berlin 1972 ff. u. Göttingen 1979 ff., erscheinen durchweg noch unabgeschlossene kritische Neueditionen folgender Autoren (detaillierte Gesamtübersicht und Detailangaben zu den vorliegenden Einzelbänden in: Historische Kommission zur Erforschung des Pietismus. Informationen [Geschichte. Tagungen. Projekte. Publikationen]. Hg. von Hans Otte, red. von Albrecht Philipps und Gudrun Diemert, Hannover: Amt der UEK in der EKD 2017; systematischer Überblick in Schrader : Probleme der bibliographischen Erschließung, L 16, im vorliegenden Band S. 74, 80 f.): August Hermann Francke: Schriften und Predigten. Hg. von Erhard Peschke [u. a.] (TGP-Abt. II); Franckes handschriftlicher Nachlass (Briefe Cansteins und Mühlenbergs, TGPAbt. III); Nikolaus Ludwig von Zinzendorf: Werke (TGP-Abt. IV); Gerhard Tersteegen: Werke und Briefe (TGP-Abt. V); Johann Albrecht Bengel: Werke und Briefwechsel (TGP-Abt. VI); Friedrich Christoph Oetinger : Werke (TGPAbt. VII) sowie Einzelgestalten und Sondergruppen (Philipp Matthäus Hahn: Tagebücher, Beate Hahn-Paulus: Wochenbücher und Johann Caspar Lavater : Reisetagebücher ; TGP, Abt. VIII). – Als Ausgaben im photomechan. Nachdruckverfahren liegen komplett in 16 Bänden (38 Teilbänden) die „Schriften“ und „Korrespondenz“ Philipp Jacob Speners (Spener : Schriften. Hg. von Erich Beyreuther und Dietrich Blaufuß, Hildesheim 1979–2015) vor. Zu den Hauptschriften des Grafen Nicolaus Ludwig von Zinzendorf (Hg. von Erich Beyreuther und Gerhard Meyer. 6 Bde., Hildesheim 1962–72), erschienen umfängliche Serien von Ergänzungs-, Dokumente- u. Materialienbänden (zu Details vgl. Schrader : Probleme der bibliographischen Erschließung, L 16, im vorliegenden Band S. 85 f.). Für Speners Hauptwerke vgl. jetzt: Die Werke Philipp Jacob Speners. Studienausgabe. Hg. von Kurt Aland und Beate Köster, Bd. 1/1–2 Gießen – Basel 1996–2000. Rudimentär blieb eine Edition von
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Gottfried Arnolds Hauptschriften in Einzelausgaben (Stuttgart 1961/69). Abgeschlossen sind folgende Werkausgaben: Johann Christian Edelmann: Gesammelte Werke (ND bzw. Neueditionen. Hg. von Walter Grossmann. 12 Bde., Stuttgart 1969–1987). – Ulrich Bräker : Sämtliche Schriften. Hg. von Andreas Bürgi, Heinz Graber, Christian Holliger, Claudia Holliger-Wiesmann, Alfred Messerli, Alois Stadler. 5 Bde. München – Bern 1998–2010. Ältere Gesamteditionen: [Johann Conrad Dippel]: Eröffneter Weg zum Frieden […] Durch die […] sämtl. Schriften Christiani Democriti [hg. von Johann Conrad Kanz]. 3 Bde., Berleburg 1747. – Friedrich Christoph Oetinger : Sämmtliche Schriften [hg. von Karl (Christian) Eberhard Ehmann]. 11 Bde., Stuttgart 1852–64, Neudruck Stuttgart 1977 – Johann Heinrich Jung [-Stilling]: Sämmtliche Schriften. 14 Bde., Stuttgart 1835–38. Neudruck Hildesheim 1979. Neben der zeitlich parallelen Aufklärung ist der (literarisch sogar entschieden produktivere) Pietismus zum wirkungsvollsten Impuls aller literarischen und sprachlichen Innovationen vom ausgehenden Barock bis in die Goethezeit geworden. In ihren Anfängen sind Pietismus und Aufklärung im Kampf gegen orthodoxen Gewissenszwang und die vorrangig religiöse Zensurüberwachung des gedruckten Worts sogar gemeinsame Wege gegangen (der Aufklärungsphilosoph Christian Thomasius hat nicht nur gemeinsam mit August Hermann Francke das Deutsche erstmals als universitäre Unterrichtssprache installiert, sondern sogar eine Ausgabe des Mystikers Pierre Poiret besorgt und an Gottfried Arnolds Kirchen- und Ketzer-Historie mitgearbeitet). In der Dichtung der Physikotheologie (Barthold Hinrich Brockes: Irdisches Vergnügen in GOTT, Hamburg 1721–48) wie nach der Jahrhundertmitte im Gefühls- und Freundschaftskult der Empfindsamkeit sind aufklärerische und pietistische Impulse verschmolzen; die empfindsamen Kreise etwa der Fürstin Gallitzin in Münster oder Herders in Darmstadt sind dem Konventikelvorbild noch nahe.
3. Säkularisierend transponierte Literaturanregungen aus dem Pietismus Dichtungsgeschichtlich bedeutsamer ist, dass die Exponenten jener Epochenschwelle, die in der Literaturrevolution des Sturm und Drang gipfelt, fast durchweg aus pietistischen Elternhäusern, Erziehungsinstituten oder Mentorschaften hervorgewachsen sind. Entsprechende Einflüsse – oft zutiefst traumatisierende Intensivberührungen – sind, um nur die bekanntesten zu nennen, für Bodmer, Lessing, Klopstock und Wieland, für Lichtenberg, Hamann und Herder, für Goethe und Schiller, Lenz, Schubart, Kaufmann und Moritz, für die Hainbündler Voß, Stolberg und Bürger, für beide Jacobi, unter
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den Jüngeren für Kleist und Hölderlin nachgewiesen. Säkularisierte Wirkungen der oft nur mühsam überwundenen pietistischen Mitgift sind die neue Bedeutung des Individuums, seiner Seelenregungen und Orientierungsprobleme, besonders im Entwicklungsroman seit Wielands Agathon. Nicht minder wirksam wurde das religiöse Vorbild für den Kult des Genies (dem die radikal-pietistischen Visionäre und neuprophetischen Inspirierten den Boden bereitet hatten) mit seinem auszeichnenden Sendungsbewusstsein, seiner Skepsis gegen verordnete Normen und Regelvorschriften, und für die Übertragung religiöser Inbrunst auf neue Erlebnisbereiche (Natur, Freundschaft, Liebe, Vaterland). Im Gegensatz zur rhetorischen Konvention bricht sich seit Klopstock (sehr deutlich noch in der Erstausgabe von Goethes Die Leiden des jungen Werthers, 1774) eine von pietistischen Metaphern durchsetzte dynamische Empfindungssprache Bahn. Der in seiner Jugend durch quietistische Kreise um den Madame-Guyon-Anhänger (und weitschichtigen Goethe-Verwandten) Johann Friedrich von Fleischbein geprägte Dichter des halbautobiographischen Anton Reiser-Romans, Karl Philipp Moritz, wird mit seinem CMYHI SAUTOM oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde (Berlin 1783–93) zum Begründer der wissenschaftlichen Psychologie. Auch bei den Romantikern (vor allem bei Novalis, bei beiden Schlegel, Wackenroder und Tieck, Jean Paul, Schelling und Baader, Hegel und Schleiermacher, bei Gotthilf Heinrich von Schubert; später besonders bei Büchner und Justinus Kerner) sind pietistische Denkgrundlagen noch vielfältig anverwandelt, namentlich in der Aufnahme pansophischer Weltganzheitsspekulationen und in der Sakralisierung der Kunst. Der deutsche Sonderweg einer erbaulich-unheiteren Innerlichkeitskonzeption der Lektüre, einer mehr an identifikatorischem Nachvollzug, an ethischer Leitung und Herzensrührung als an ästhetischem Genuss, an spielerischer Konstruktion und erheiternder Zerstreuung interessierten Rezeption wäre ohne die lang nachwirkende Einflussmacht der pietistischen Verinnerlichung nicht denkbar.
4. Gattungen und Leistungen der pietistischen Literatur Das Wissen um eine so immense Wirkungspotenz des Pietismus in der Geschichte der deutschen Dichtung ist seit langem verbreitet, im Prinzip auch unumstritten. Durch die provokante Zuspitzung Heinz Schlaffers über die Produktivkraft des pietistischen Erbes, das die deutsche Literatur erstmals zu einem kaum je wieder erreichten weltliterarischen Rang angefacht habe, ist es bloß in einer literaturgeschichtlich nicht mehr bewanderten breiteren Öffentlichkeit wie neuartige Einsicht diskutiert worden.3 Das kaum überschau3 Heinz Schlaffer : Die kurze Geschichte der deutschen Literatur, München – Wien 2002, vgl. dazu beispielhaft die Besprechungen in großen Tageszeitungen wie Ulrich Raulff: Der rebellische
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bare pietistische Massenschrifttum selbst jedoch, die vorrangige Bildungsbasis zweier Jahrhunderte und der Quellgrund der umverwandelnden Partialaneignungen in der Dichtungsgeschichte, ist von der Literaturwissenschaft trotz einer bemerkenswerten Intensivierung des Interesses im letzten Jahrzehnt erst ansatzweise durchdrungen. Schon die Texte selbst stehen erst zu geringen Teilen in Neuausgaben bereit (seltener noch in wissenschaftlich solider Edition, die von den raren Originalen unabhängig machte, s. o.); mit Recht beendet Johannes Wallmann das Vorwort seiner Spener-Briefausgabe (Bd. 1, 1992, S. XIII) mit der Feststellung: „Bei der Erschließung der Quellen des Pietismus stehen wir noch immer in den Anfängen.“ Literaturwissenschaftlich orientierte Monographien und Studienbände zur Literatur des Pietismus und zu seiner literarischen Wirkung:4 August Langen: Der Wortschatz des deutschen Pietismus, Tübingen 1954, 2. Aufl. 1968. – Wolfgang Schmitt: Die pietistische Kritik der „Künste“. Untersuchungen über die Entstehung einer neuen Kunstauffassung im 18. Jh., Diss. phil. Köln 1958. – Gerhard Kaiser: Pietismus und Patriotismus im literarischen Deutschland, Mainz 1961, 2. Aufl., Frankfurt a.M., 1973. – Jörn Reichel: Dichtungstheorie und Sprache bei Zinzendorf. Der 12. Anhang zum Herrnhuter Gesangbuch, Bad Homburg – Berlin – Zürich 1969 (Ars poetica. Studien, Bd. 10). – Rolf-Christian Zimmermann: Das Weltbild des jungen Goethe. Studien zur hermetischen Tradition des deutschen 18. Jhs. 2 Bde., München 1969/1979. – Tadeusz Namowicz: Pietismus im Werk des jungen Herder, Diss. masch. Warschau 1970. – Dieter Gutzen: Poesie der Bibel. Beobachtungen zu ihrer Entdeckung und ihrer Interpretation im 18. Jh., Bonn 1972. – Joachim Dyck: Athen und Jerusalem. Die Tradition der argumentativen Verknüpfung von Bibel und Poesie, München 1977. – Günter Niggl: Geschichte der deutschen Autobiographie im 18. Jh., Stuttgart 1977. – Hans-Jürgen Schings: Melancholie und Aufklärung. Melancholiker und ihre Kritiker in Erfahrungsseelenkunde und Literatur des 18. Jhs., Stuttgart 1977. – Meinhard Prill: Bürgerliche Alltagswelt und pietistisches Denken im Werk Hölderlins, Tübingen 1983 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur, Bd. 10). – Waldtraut Ingeborg Sauer-Geppert: Sprache und Frömmigkeit im deutschen Mandarin. Heinz Schlaffers hochmütige Geschichte der deutschen Literatur. In: Süddeutsche Zeitung, 26. 2. 2002, S. 15; Hans-Jürgen Schings: Was wir brauchen? Pietistische Pfarrerssöhne! […] Heinz Schlaffers Literaturgeschichte. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19. 3. 2002, S. L15; vgl.: Kurt Wölfel: Von deutscher Kunst. Zur Verteidigung Heinz Schlaffers. In: Süddeutsche Zeitung, 12. 3. 2002, Feuilleton. Kritisches Resümee, auch des breiteren Medienrummels um den zum Event stilisierten Großessay, Wolfgang Adam: Heinz Schlaffer, Die kurze Geschichte. In: Arbitrium 20 (2002), S. 125–129. 4 Hier können über grundlegende monographische Forschungsbeiträge und Sammelbände hinaus nicht auch die Aufsätze von literaturgeschichtlicher Relevanz verzeichnet werden. Dafür verweise ich auf die jährlichen Pietismus-Bibliographien in PuN.
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Kirchenlied. Vorüberlegungen zu einer Darstellung seiner Geschichte, Kassel 1984. – Magdalene Maier-Petersen: Der „Fingerzeig Gottes“ […] Pietist. Religiosität […] an Selbstzeugnissen, Stuttgart 1984. – William E. Petig: Literary Antipietism in Germany during the First Half of the Eighteenth Century, New York – Bern – Frankfurt 1984. – Schrader : Literaturproduktion (1989, L 1), darin: Zum Stand der germanistischen Pietismus-Forschung, S. 23–48, 341–358, Kap. II. Terminologische und historische Eingrenzungen, S. 49–73, 359–386, dieses im vorliegenden Band S. 19–62. – Wolfgang Martens: Literatur und Frömmigkeit in der frühen Aufklärung, Tübingen 1989. – Hans-Georg Kemper : Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit. Bd. 5/1: Aufklärung und Pietismus, Bd. 6/1 Empfindsamkeit, Bd. 6/2 Sturm und Drang: Genie-Religion, Bd. 6/3 Sturm und Drang: Göttinger Hain und Grenzgänger, Tübingen 1991–2002. – Das Antlitz Gottes im Antlitz des Menschen. Zugänge zu Johann Kaspar Lavater. Hg. von Karl Pestalozzi und Horst Weigelt, Göttingen 1994 (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus, Bd. 31). – Gerhard Schwinge: JungStilling als Erbauungsschriftsteller der Erweckung, Göttingen 1994 (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus, Bd. 32) – Ulf-Michael Schneider : Propheten der Goethezeit. Sprache, Literatur und Wirkung der Inspirierten, Göttingen 1995 (Palaestra, Bd. 297). – Karl Philipp Moritz und das 18. Jh. Bestandaufnahme – Korrekturen – Neuansätze. Hg. von Martin Fontius und Anneliese Klingenberg, Tübingen 1995. – Ulrike Witt: Bekehrung, Bildung und Biographie. Frauen im Umkreis des Halleschen Pietismus, Tübingen 1996 (Hallesche Forschungen, Bd. 2) [v. a. Schlusskapitel: Lebensläufe und Selbstbilder]. – Martin Gierl: Pietismus und Aufklärung. Theologische Polemik und die Kommunikationsreform am Ende des 17. Jahrhunderts, Göttingen 1997 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, Bd. 129). – Joachim Jacob: Heilige Poesie. Zu einem literarischen Modell bei Pyra, Klopstock und Wieland, Berlin 1997 (Studien zur deutschen Literatur, Bd. 144). – „Geist=Reicher“ Gesang. Halle und das pietistische Lied. Hg. von Gudrun Busch und Wolfgang Miersemann, Tübingen – Halle 1997 (Hallesche Forschungen, Bd. 3). – Johann Erich Maier : Gnade und Ästhetik. Von der Wiedergeburt zur Gnadenpoetik, Frankfurt a.M. 1998 (Frankfurter Hochschulschriften zur Sprachtheorie und Literaturästhetik, Bd. 11). – Martin Hirzel: Lebensgeschichte als Verkündigung. Johann Heinrich Jung-Stilling – Ami Bost – Johann Arnold Kanne, Göttingen 1998 (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus, Bd. 33). – Johannes Demandt: Johannes Daniel Falk. Sein Weg von Danzig über Halle nach Weimar (1768–1799), Göttingen 1999 (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus, Bd. 36). – Paul Raabe: Separatisten, Pietisten, Herrnhuter. Goethe und die Stillen im Lande, Halle 1999 (Kataloge der Franckeschen Stiftungen zu Halle, Bd. 6). – Stefan Pautler : Jakob Michael Reinhold Lenz. Pietistische Weltdeutung und bürgerliche Sozialreform im Sturm und Drang, Gütersloh 1999 (Religiöse Kulturen der Moderne, Bd. 8). – Burkhard Dohm: Poetische Alchimie. Öffnung zur Sinnlichkeit in der Hohelied- und Bibeldichtung von der protestantischen Barockmystik bis zum
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Pietismus, Tübingen 2000 (Studien zur deutschen Literatur, Bd. 154). – Goethe und der Pietismus. Hg. von Hans-Georg Kemper und Hans Schneider, Halle – Tübingen 2000 (Hallesche Forschungen, Bd. 6). – Les pi8tismes / l’.ge classique. Crise, conversion, institutions, Villeneuve-d’Ascq (Nord) 2001. – Das Echo Halles. Kulturelle Wirkungen des Pietismus. Hg. von Rainer Lächele, Tübingen 2001. – Jansenismus, Quietismus, Pietismus. Hg. von Hartmut Lehmann, Heinz Schilling und Hans-Jürgen Schrader, Göttingen 2002 (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus, Bd. 42). – Christof Wingertszahn: Anton Reiser und die „Michelein“. Neue Funde zum Quietismus im 18. Jahrhundert, Hannover 2002. – Schreibsucht. Autobiografische Schriften des Pietisten Ulrich Bräker (1735–1798). Hg. von Alfred Messerli und Adolf Muschg, Göttingen 2004 (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus, Bd. 44). – Ruth Albrecht: Johanna Eleonora Petersen. Theologische Schriftstellerin des frühen Pietismus, Göttingen 2005 (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus, Bd. 45). – Isabelle Noth: Ekstatischer Pietismus. Die Inspirationsgemeinden und ihre Prophetin Ursula Meyer (1682–1743), Göttingen 2005 (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus, Bd. 46). – Interdisziplinäre Pietismusforschungen. Beiträge zum Ersten Internationalen Kongress für Pietismusforschung. 2 Bde. Hg. von Udo Sträter, Tübingen 2005 (Hallesche Forschungen, Bde. 17/1 und 17/2). – Neue Aspekte der Zinzendorf-Forschung. Hg. von Martin Brecht und Paul Peucker, Göttingen 2006 (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus, Bd. 47). – Rainer Lächele: Die „Sammlung auserlesener Materien zum Bau des Reichs Gottes“ zwischen 1730 und 1760. Erbauungszeitschriften als Kommunikationsmedium des Pietismus, Tübingen 2006 (Hallesche Forschungen, Bd. 18). – Hans Schneider : Der fremde Arndt. Studien zu Leben, Werk und Wirkung Johann Arndts (1555–1621), Göttingen 2006 (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus, Bd. 48). – „Singt dem Herrn nah und fern“. 300 Jahre Freylinghausensches Gesangbuch. Hg. von Wolfgang Miersemann und Gudrun Busch, Tübingen 2008 (Hallesche Forschungen, Bd. 20). Wort und Schrift – Das Werk Friedrich Gottlieb Klopstocks. Hg. von Kevin Hilliard und Katrin Kohl, Tübingen 2008 (Hallesche Forschungen, Bd. 27). – Alter Adam und Neue Kreatur. Pietismus und Anthropologie. Beiträge zum Zweiten Internationalen Kongress für Pietismusforschung 2005. 2 Bde. Hg. von Udo Sträter, Tübingen 2009 (Hallesche Forschungen, Bde. 28/1 und 28/2). – Der radikale Pietismus. Perspektiven der Forschung. Hg. von Wolfgang Breul, Marcus Meier und Lothar Vogel, Göttingen 2010 (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus, Bd. 55). – Jan Carsten Schnurr : Weltreiche und Wahrheitszeugen. Geschichtsbilder der protestantischen Erweckungsbewegungen in Deutschland 1815–1848, Göttingen 2011 (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus, Bd. 57). – „Der Herr wird seine Herrlichkeit an uns offenbaren“. Liebe, Ehe und Sexualität im Pietismus. Hg. von Wolfgang Breul und Christian Soboth, Halle 2011 (Hallesche Forschungen, Bd. 30). – „Aus Gottes Wort und eigener Erfahrung gezeiget“. Erfahrung – Glauben, Erkennen und Gestalten im Pietismus. Beiträge zum III. Internationalen Kongress für Pietismusforschung 2009. 2 Bde. Hg. von
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Christian Soboth und Udo Sträter, Halle 2012 (Hallesche Forschungen, Bde. 33/1 und 33/2). – Günter Niggl: Studien zur Autobiographie, Berlin 2012. – Joachim Telle: Alchemie und Poesie. Deutsche Alchemikerdichtungen des 15. bis 17. Jahrhunderts. Untersuchungen und Texte, 2 Bde., Berlin 2013. – Geschichtsbewusstsein und Zukunftserwartung in Pietismus und Erweckungsbewegung. Hg. von Wolfgang Breul und Jan Carsten Schnurr, Göttingen 2013 (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus, Bd. 59). – Antje Arnold: Rhetorik der Empfindsamkeit. Unterhaltungskunst im 17. und 18. Jahrhundert, Berlin – New York 2013. – Gerhard Schwinge: Johann Heinrich JungStilling (1740–1817), „Patriarch der Erweckung“. Beiträge aus 26 Jahren JungStilling-Forschung, Siegen 2014. – Tünde Beatrix Karnitscher : Der vergessene Spiritualist Johann Theodor von Tschesch (1595–1649), Göttingen 2015 (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus, Bd. 60). – Daniela Kohler : Eschatologie und Soteriologie in der Dichtung. Johann Caspar Lavater im Wettstreit mit Klopstock und Herder, Berlin 2015. – Hans-Georg Kemper : Hermetik – das „Andere“ im Luthertum. Zur Diskussion um die Anfänge deutscher Naturlyrik, Frankfurt 2016 (Zeitsprünge, Bd. 20,1/2). – Medizin- und kulturgeschichtliche Konnexe des Pietismus. Heilkunst und Ethik, arkane Traditionen, Musik, Literatur und Sprache. Hg. von Irmtraut Sahmland und Hans-Jürgen Schrader, Göttingen 2016 (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus, Bd. 61). – „Schrift soll leserlich seyn“. Der Pietismus und die Medien. Beiträge zum IV. Internationalen Kongress für Pietismusforschung 2009. 2 Bde. Hg. von Christian Soboth und Pia Schmid, Halle 2016 (Hallesche Forschungen, Bde. 44/1 und 44/2).
Über einen Kanon des literarisch Formgebenden, Markanten und Impulskräftigen innerhalb einer Fülle von öder Gleichförmigkeit ist die Diskussion noch kaum eröffnet. Denn freilich weicht das für die Literaturgeschichte Bedeutsame und Anstoßgebende vom kirchengeschichtlichen Kanon der (oft sprachlich trocken mit dogmatischer Vorsicht argumentierenden) theologischen Schulhäupter und Gemeinschaftsgründer ab. Die poetisch-poetologische Innovation wächst weit eher aus der ungeschützteren Konsequenz, aus der mystischen Inbrunst spekulativer und ekstatischer Eingebungen, aus der als göttlich inspiriert begriffenen Sprachgewalt der radikalen Einzelgänger hervor. Infolge des pietistischen Wahrheitsrigorismus, der alles Fiktionale als lügenhafte Verstellung brandmarkte, und einer kunstfeindlichen Tendenz, die Einbildung und Schönheit nur zur Konzentration auf seelische Erweckung bzw. Heiligung und auf den Bau des Gottesreichs zulassen wollte, die dagegen alles Unerbauliche, zerstreuend Unterhaltliche zurückwies als Vergeudung der vor Gott rechenschaftspflichtigen „edlen Zeit“ (vgl. dazu richtungweisend die Studien von Wolfgang Schmitt und von Wolfgang Martens), ist das Gattungsspektrum der pietistischen Literatur eingeschränkt. Der Niedergang von Theater, Oper, Erzähldichtung und weltlicher Lyrik in der ersten Hälfte des
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18. Jahrhunderts hat in dieser epocheprägenden Verbannung alles Belletristischen, Unterhaltlichen und ästhetisch Genießlichen ihre Ursache, so dass vor der impulsgebenden auch die massiv restriktive Wirkung des Pietismus auf die poetische Literatur im deutschen Sprachraum zu konstatieren und näher zu erforschen ist. An Fiktionalem war allein Johann Gottfried Schnabels Roman Wunderliche Fata einiger See-Fahrer, Nordhausen 1731–1743 [ = Die Insel Felsenburg] auch unter den Pietisten beliebt, aber nur, weil sich die Erzählung als ein frommes Selbst- und Gemeinschaftszeugnis, also als ein Realdokument göttlicher Führungen rezipieren ließ. Produktiv dagegen konnten sich jene Gattungen entwickeln, die erbauliche Seelenstärkung und Muster für das innerliche Leben darboten oder die individuelle Erfahrungen reflektierten, die Beglückungszustände und Anfechtungen, Gefühle und Stimmungen zergliederten. a) In der Erbauungsliteratur blieb, vielfältig neu aufgelegt, das Erbe an „alten Tröstern“ im Gebrauch: Johann Arndts Wahres Christentum oder Christian Scrivers Andachten fehlten in kaum einem Hausstand. Von pietistischen Autoren kamen Erinnerungen an urchristliche Gemeinschaftsvorbilder hinzu, v. a. aber psychagogische Vermahnungen zur Buße, zu Weltabkehr oder einem heiligenden Leben in entschlossener Christusnachfolge (z. T. auch in der Form emblematischer Sinnbildserien, die die Etappen des Seelenprogresses nachbilden), ferner „Schatzkästlein“ und Losungsbüchlein mit Bibelund Vätersprüchen oder Andachtsmeditationen, aus denen der Gläubige durch zufälliges „Aufschlagen“ oder „Däumeln“ Stärkung in der Not des Tages finden konnte. Die Grenzen der erbaulichen zur thetischen Literatur sind fließend. Zu dieser Textsorte gehören systematische Einprägungen der pietistischen Hauptforderungen, Schriften zur Kirchenreform, Kirchenkritik und Separatismuspropaganda, Polemiken gegen widrig Gesonnene in Amtskirche, konkurrierenden Gruppen und der „Welt“, Apologien verketzerter „Zeugen der Wahrheit“, Darlegungen schließlich der göttlichen Heilsökonomie (Poiret) oder der „via mystica“ (Tersteegen und noch Jung-Stilling), dazu spekulative Erneuerungen von Arkantraditionen (neuplatonische Einslehre und Christologie, kabbalistische Konzepte der Schöpfung und geistlichen Weltordnung, Sophienmystik, alchimistische, z. T. auch magische und elektromagnetische Theoreme, chiliastische Spekulationen wie die geistesgeschichtlich folgenreiche Lehre von einer endzeitlichen „Wiederbringung aller“ zum alliebenden Gott, die vielstimmig noch widerhallt von Klopstock über Goethe zu Schiller und Hölderlin). Zum Gattungsspektrum der erbaulichen Paränese gehören freilich auch die Predigtdrucke einer Unzahl pietistischer Geistlicher, auch die aus pietistischer Hochschätzung des Werts jeder Einzelseele erneuerte Tradition gedruckter Leichenpredigten. Das Angebot des Bücherkrämers im antipietistisch-satirischen Lustspiel der Luise Adelgunde Victorie Gottsched, Die Pietisterey im Fischbein=Rocke (Rostock, recte: Leipzig 1736, Auftr. IV,6; vgl. Wolfgang Martens’ Reclam-Neuausgabe seit 1968), gibt einen typischen Auszug pietistischer Lehr- und Erbauungslektüre.
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Lehr- und Erbauungsliteratur : Textsammlung: Pietismus. Eine Anthologie von Quellen des 17. und 18. Jahrhunderts. Hg. von Veronika Albrecht-Birkner, Wolfgang Breul [u. a.], Leipzig 2017. – Johann Arndt: Vier Bücher vom Wahren Christentum, Frankfurt a.M. 1605–10 [seit der Ausgabe Riga 1679 mit emblematischen Kupfern: „Sechs Bücher“, erweitert aus Traktaten und Briefen Arndts]. – Theophil Grossgebauer: Wächterstimme aus dem verwüsteten Zion, Frankfurt a.M. 1661. – Theodor Undereyck: Christi Braut / Unter den Töchtern zu Laodicaea. 3 Tle., Hanau 1670, Kassel, 2. Aufl. 1697. – Christian Scriver : Gottholds Zufällige Andachten, Leipzig 1671, 21. Aufl. 1737. – Philipp Jacob Spener : Pia Desideria, Frankfurt 1675/76. Deutsch-lateinische Studienausgabe, hg. von Beate Köster, Gießen – Basel 2005. – Christian Hoburg [Hoheburgk]: Praxis Arndiana. Das ist: Hertzens-Seuffzer / Uber die Bücher des Wahren Christenthums, Frankfurt a.M. – Leipzig 1696. – Gottfried Arnold: Unpartheyische Kirchen= und Ketzer=Historie, Leipzig – Frankfurt 1699. – Ders.: Die Erste Liebe der Gemeinen JESU Christi / Das ist: Wahre Abbildung der Ersten Christen, Frankfurt 1696. Kommentierte Neuausgabe (Auswahl). Hg. von Hans Schneider, Leipzig 2002 (Kleine Texte des Pietismus, Bd. 5). – [Samuel König]: Neue Klag Mosis. Von den Abweichungen […] der anfangenden Christen, [Offenbach] 1701, Berleburg, 2. Aufl. 1723. – Vernünftige und Schrifft=mäßige Untersuchung / Wie nöthig und heylsam […] die Bürgerliche Tolerantz in Religions-Sachen […] seye, [Offenbach] 1704. – Theosophia pneumatica, oder Geheime Gottes=Lehre. [Hg. von Johann Friedrich Haug], [Idstein] 1710. – Geschlechtlichkeit und Ehe im Pietismus. Hg. von Wolfgang Breul und Stefania Salvadori, Leipzig 2014 (Edition Pietismustexte, Bd. 5). – Pietas et eruditio. Pietistische Texte zum Theologiestudium. Hg. von Klaus vom Orde, Leipzig 2016 (Edition Pietismustexte, Bd. 8). – Christoph Matthäus Seidel: Hinterlaßne schriftliche Nachricht (in: Theologie pastoralis practica, hg. von J.A. Steinmetz). = Ders.: Pietistischer Gemeindeaufbau in Schönberg/Altmark 1700–1708. Hg. von Peter Schicketanz, Leipzig 2005 (Kleine Texte des Pietismus, Bd. 19) – W[enzel] Ludwig Graf Henckel: SchatzKästlein, Bestehend in auserlesenen Göttlichen Verheissungen, Greiz 1735. – Peter [= Pierre] Poiret: Die göttliche Haushaltung. 6 Bücher (7 Tle.), [Berleburg] 1735–42. – Gerhard Tersteegen: Von der wahren Beschaffenheit und Nutzen der sogenannten Mystick [Brief vom 9. Dez. 1735]. In: Geistliche FAMA, XXIX. Stück, [Berleburg] 1743. Ders.: Abhandlungen zu Frömmigkeit und Theologie. Hg. von Johannes Burkardt, Leipzig 2018 (Edition Pietismustexte, Bd. 12). – Georg Joachim Zollikofer : Andachtsübungen und Gebete, Leipzig 1785 (zahlreiche Aufl.). – Johann Caspar Lavater : Aussichten in die Ewigkeit 1768–1773/78. Hg. von Ursula Caflisch-Schnetzler, Zürich 2001 (Ausgew. Werke in hist.-krit. Ausg., Bd. 2). – Johann Henrich Jung, gen. Stilling: Berichtigung der gewöhnlichen Begriffe von der Mystik. Vorrede zu [J. Chr. Stahlschmidt]: Die Pilgerreise zu Wasser und zu Lande, Nürnberg 1799 (S. III–XXXVI); Johann Heinrich Jung-Stilling: „… weder Calvinist noch Herrnhuter noch Pietist. Fromme Populartheologie um 1800. Hg. von Vero-
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nika Albrecht-Birkner, Leipzig 2017 (Edition Pietsmustexte, Bd. 11). – Karl Weihe: Gottreich Ehrenhold Hartog […] in seinem Leben und Wirken geschildert. Neuausgabe Ders.: Was ist Pietismus? Das Leben und Wirken des Pfarrers Gottreich Ehrenhold Hartog (1738–1816). Hg. von Christof Windhorst, Leipzig 2010 (Edition Pietismustexte, Bd. 2). b) Das zentrale Medium gemeindlichen und privater Erbauung und Meditation blieb natürlich die Bibel, in deren Neuübersetzung (Reitz, Horch, Berleburger Radikalpietisten um Johann Friedrich Haug, Zinzendorf, Bengel, Hahn) und Kommentierung (von der auf die mystische Exegese der Mme. Guyon und der gesamten spekulativen Tradition gegründeten Aufschließung des vierfachen Schriftsinns in der ,Berleburger Bibel‘ bis zur kritischen Bibelwissenschaft Bengels, zuerst 1742 in seinem Gnomon Novi Testamenti) die Pietisten erstmals seit Luther neue Anstöße gegeben haben. Wenngleich Luthers Übersetzung (auch bei den Reformierten oder z. B. in der Sauer-Bibel der pietistischen und täuferischen Amerika-Exulanten) der meist genutzte Grundtext blieb, ermöglichte die Bereitstellung alternativer Wortlaute auch dem Laien ein schriftforschendes Vergleichen (programmatisch ausgeführt in den Vorreden zur Biblia Pentapla, die entgegen allen Zensurlizenzen im Reich die Versionen der verschiedenen Konfessionen im synoptischen Paralleldruck darbot – dabei erstmals auch eine „jüdisch-deutsche“ Version des Alten Testaments, aus dem Jiddischen transliteriert und marginal bearbeitet – gemeinverfügbar machte; vgl. dazu Schrader : Lesarten der Schrift [1996, L 20], im vorliegenden Band S. 285–305). Pietistische Bibelversionen (vgl. dazu jetzt Schrader : „red=arten u[nd] worte behalten“, [2014, L 53], im vorliegenden Band, S. 307–345): [Johann Henrich Reitz]: Das Neue Testament […] Auffs neue ausm Grund verteutschet, Offenbach 1703 (acht Aufl. bis 1738). Als Ergänzung dazu: [Gottfried Arnold]: Novi Testamenti Apocrypha, Büdingen 1723. – Biblia Pentapla, das ist: Die Bücher der Heiligen Schrifft […]. Nach Fünf=facher Deutscher Verdolmetschung (hg. von Johann Otto Glüsing). 3 Bde., Schiffbek 1710–12. – Mystische Und Profetische Bibel [= ,Marburger Bibel‘] (hg. von Henrich Horch), Marburg 1712. – Die Heilige Schrift […] Nebst Einiger Erklärung [= ,Berleburger Bibel‘] (hg. von Johann Friedrich Haug [u. a.]). 8 Bde., Berleburg 1726–42. – [Nicolaus Ludwig Graf v. Zinzendorf]: Eines abermahligen Versuchs zur Ubersetzung […] Neuen Testaments […] Erste Probe [„Probe-Testament“], 2 Tle., Büdingen 1739, 2. Aufl. 1744 und 1746; ND: Ders.: Hauptschriften, Erg.Bd. 13, Hildesheim 1978. – BIBLIA, Das ist: Die Heilige Schrift […], Nebst einem Anhang [sog. „Sauer-Bibel“ / „Sower-Bible“] (hg. von [Johann] Christoph Sauer), Germantown (Pennsylvania) 1743 (erster Nachdruck einer europäischen Bibel in Nordamerika: Luther-Text in der Revision des Halleschen Waisenhauses, mit Apokryphen nach der ,Berleburger Bibel‘). – [Johann Albrecht Bengel]: Das Neue Testament zum Wachsthum in der Gnade
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[…], Stuttgart 1753. – [Philipp Matthäus Hahn]: Die hl. Schriften der guten Botschaft […] oder das sogenannte neue Testament, [Eßlingen – Winterthur] 1777. c) Der einzige poetische Literaturbeitrag der Pietisten blieb aufgrund ihrer Fiktionsfeindschaft und Abwehr alles nicht für das religiöse Leben Dienlichen die geistliche Lyrik. Durch Gefühlsinnigkeit, sprachliche Kraft und Formbeherrschung ragen hier die zur Mystik und zeitweilig zum Separatismus neigenden Gottfried Arnold auf lutherischer sowie Joachim Neander und Gerhard Tersteegen auf reformierter Seite hervor. Der handwerkliche Autodidakt, Gründer, Prior und Poet der amerikanischen Ephrata-Gemeinschaft, Johann Conrad Beissel (dessen Musiktheorie noch Thomas Mann beeindruckt hat und im Doktor Faustus reflektiert ist), ist von Arnold abhängig. Ein Beispiel manieristischer Lyrik gab der Inspirierte Eberhard Ludwig Gruber (jede Strophe seiner JEsus=Lieder ist ebenso wie die Überschrift und SchlussSummation organisiert als Akrostichon des Jesus-Namens). Frauen trugen weit über ihre sonstige Präsenz im literarischen Leben der Zeit hinaus Bedeutendes bei, häufiger als in Buchpublikation (wie Margaretha Susanna von Kuntsch oder Zinzendorfs Großmutter Henriette Catharina von Gersdorf) allerdings verstreut in den pietistischen Zeitschriften und als Anhang zu ihren Bekenntnistraktaten oder in den Leichenpredigt-Drucken (verbreitet ist der Typus des brautmystischen Jesus-Seele-Gesprächs). Zinzendorfs eigene Gedichte, oft genialische, aber ungezügelt ausufernde Spontanproduktionen, waren zumeist zu adhortativem Gemeindegesang bestimmt. Auch das Kirchengesangbuch verdankt dem Pietismus eine wesentliche Erneuerung – fast ein Siebtel des Liedguts noch im Evangelischen Kirchengesangbuch (EKG, 1950–1993), deutlich weniger allerdings im aktuellen Evangelischen Gesangbuch (EG, seit 1993) ist pietistischen Ursprungs, zumeist allerdings in abmildernden Bearbeitungen. Lyrik: Lieder des Pietismus aus dem 17. und 18. Jahrhundert. Hg. von Christian Bunners, Leipzig 2003 (Kleine Texte des Pietismus, Bd. 6). – Joachim Neander: Glaub= und Liebes=Übung […]. Einfältige Bundes=Lieder, Bremen 1680, 2. Aufl. 1683, 3. Aufl. 1687; erw. Ausgabe [durch Gerhard Tersteegen] GOtt=geheiligtes Harfen=Spiel der Kinder Zions [1721], Cleve, 5. Aufl. 1768; ND Köln 1997 (mit Nachwort von Dietrich Blaufuß); Neuausgabe hg. von Oskar Gottlieb Blarr, Köln 1984; Krit. Ausg. u. Kommentar : Einfältige Bundeslieder und Dankpsalmen. Hg. von Rudolf Mohr, Leipzig 2002 (Kleine Texte des Pietismus, Bd. 4). – Gottfried Arnold: Göttliche Liebes=Funcken, Frankfurt 1698; ND in: Ders.: Sämtl. geistl. Lieder. Hg. K[arl] C[hristian] E[berhard] Ehmann, Stuttgart 1856. – [Eberhard Ludwig Gruber]: J. J. J. JesusLieder Für seine Glieder. 3 Tle., o. O. 1720–25; ND Eben-Ezer 1857. – Gerhard Tersteegen: Geistl. Blumen-Gärtlein Inniger Seelen, Frankfurt – Leipzig 1729 (mit: Der Frommen Lotterie 1732). Elberfeld, 13. Aufl. 1826; ND Stuttgart,
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17. Aufl. 1988; Gerhard Tersteegen: Ich bete an die Macht der Liebe. Eine Auswahl aus seinen Werken. Hg. von Dietrich Meyer. Geleitwort von Johannes Rau, Gießen – Basel 1997. – Margaretha Susanna von Kuntsch: Sämmtliche Geist= und weltliche Gedichte Nebst einer Vorrede von Menantes [Christian Friedrich Hunold], Halle 1720. – Henriette Catharine v. Gersdorf: Geistreiche Lieder, Halle 1729. – Johann Conrad Beissel: Mystische Und sehr geheime Sprueche. / Gottliche Liebes und Lobesgethöne. / Vorspiel der Neuen-Welt, Philadelphia, Pa. 1730–32. – Nicolaus Ludwig Graf v. Zinzendorf: Teutsche Gedichte, Herrnhut 1735. Barby, 2. Aufl. 1766; ND in: Ders.: Hauptschriften, Erg.-Bd. 2, Hildesheim 1964; Ders.: Geistliche Gedichte (hg. von Albert Knapp), Stuttgart – Tübingen 1845; Ders.: Er der Meister, wir die Brüder. Eine Auswahl seiner Reden, Briefe und Lieder. Hg. von Dietrich Meyer, Gießen – Basel 2000. – Philipp Friedrich Hiller : Geistliches Liederkästlein zum Lobe Gottes, Stuttgart 1762; „Gott ist mein Lobgesang“. Philipp Friedrich Hiller (1699–1769). Der Liederdichter des württ. Pietismus. Hg. von Martin Brecht, Metzingen 1999. – Geistreiches Gesang-Buch (hg. von Johann Anastasius Freylinghausen). 2 Tle, Halle 1704 und 1714. 2. Aufl. 1741. Edition und Kommentar. Hg. von Diane Marie McMullen und Wolfgang Miersemann, 6 Bde., Tübingen – Halle 2004–2013 – Christliches Gesang-Buch der Evang. Brüder-Gemeinen. 3 Tle., Herrnhut 1735, 3. Aufl. 1741 (ND in: Nicolaus Ludwig Graf v. Zinzendorf: Hauptschriften. Materialien-Reihe. Bd. 3, Teil 1–3, Hildesheim 1981; im Anhang zu Tl. 3: Gudrun Meyer-Hickel: Verfasserverzeichnis zum Herrnhuter Gesangbuch von 1735 [1–267], dazu: Joseph Theodor Müller : Hymnologisches Handbuch zum Gesangbuch der Brüdergemeine [Herrnhut 1916], ebd., Bd. 6, Hildesheim 1977). – Evangelisches Gesang-Buch der Gemeine in Ebersdorf (hg. von Friedrich Christoph Steinhofer), Ebersdorf 1742 – Paradisisches Wunder-Spiel, Ephrata, Pa. 1766. d) War schon in den pietistischen Gedichten das Bekenntnislied vorherrschend (mit bereits deutlichem Einfluss auf die goethezeitliche Wende der weltlichen Poesie zur Erlebnislyrik), so wurden doch die für die literarische Erneuerung folgenreichsten, mentalitätsgeschichtlich und sprachlich aufschlusskräftigsten Gattungen der pietistischen Literatur überhaupt die in großer Anzahl publizierten individuellen Lebens- und Erfahrungsberichte: Biographien, Autobiographien, Tagebücher und Briefliteratur. Die biographische Exempelliteratur (häufig mit integrierten Selbstäußerungen) wurde schon in der pietistischen Epoche in sogenannten „Sammelbiographien“ oder in Erbauungszeitschriften versammelt. Die früheste und wirkungsreichste Biographiensammlung war Johann Henrich Reitz’ Historie Der Wiedergebohrnen (7 Teile, sechs Auflagen zwischen 1698 und 1753, Neuedition aller Erstdrucke Tübingen 1982). Von den Einzeldrucken wurden durch zahlreiche Auflagen kanonisch z. B. das „Armellen-Leben“ einer mystisch erweckten katholischen Magd aus Frankreich und die asketische Musterbiographie einer Geistlichen-Tochter, der „Württembergischen Tabea“ Beata Sturm.
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Biographien / Sammelbiographien: Johann Henrich Reitz: Historie Der Wiedergebohrnen, zuerst 3 Tle., Offenbach 1698–1701. Bis zur 6. Aufl. erw. auf 7 Tle. [VI. u. VII. hg. von Johann Samuel Carl und Johann Conrad Kanz], Berleburg 1740–45/53. Krit. ND: Historie der Wiedergebohrnen (1982, L 2 [in Bd. 4, S. 127*–153* Überblick über die sammelbiographische Tradition bis zur Erweckungsbewegung; jetzt vollständiger Schrader : Kanonische neue Heilige, 2013, L 51, im vorliegenden Band S. 665–700]). – Gottfried Arnold: Das Leben Der Gläubigen, Halle 1701, 2. Aufl. 1732. – Lob Gottes im Munde der Jungen Kinder, [Offenbach] 1699. – Unterschiedliche Erfahrungs=volle Zeugnisse […] Von der […] Inspirations-Sache. [hg. von Christian Fende], o. O. 1715. – Erdmann Heinrich Graf Henckel: Die letzten Stunden einiger […] Verstorbenen Personen. 4 Tle., Halle 1720–33, 4. Aufl. 1746. – Christian Gerber : Historia derer Wiedergebohrnen in Sachsen. 4 Tle. u. 2 Anhänge, Dresden 1726–29, 4. Aufl. 1737. – [Gerhard Tersteegen]: Außerlesene Lebens-Beschreibungen Heiliger Seelen, Frankfurt – Leipzig 1733–53, Essen, 3. Aufl. 1784–86. – [Friedrich Christoph Oetinger]: Die Unerforschlichen Wege der Herunterlassung Gottes, Leipzig 1735. – Selige Letzte Stunden Einiger dem zeitlichen Tode übergebener Missethäter, 2 Teile [Ebersdorf] 1740, Jena, 2. Aufl. 1742, 3. Teil, Stuttgart 1753. – Ernst Gottlieb Woltersdorf: Der Schächer am Kreutz. – Das ist, Vollständige Nachricht von der Bekehrung […] hingerichteter Missethäter [1. Aufl. 1753/55], erw. 2. Aufl., 2 Bde., Bautzen – Görlitz 1761–1766. – Bekehrung unterm Galgen. Malefikantenberichte. Hg. von Manfred Jakubowski-Tiessen (Edition Pietismustexte, Bd. 3). – Immanuel Gottlob Friedrich Helmershausen: Biographia Piorum das ist Lebens=Beschreibungen Und Letzte Stunden, Gotha 1756. –„Mein Herz brannte richtig in der Liebe Jesu“. Autobiographien frommer Frauen aus Pietismus und Erweckungsbewegung. Hg. von Martin Jung, Aachen 1999. Zeitschriften: Geistliche Fama […] v. Göttl. Erweckungen. Hg. von Johann Samuel Carl [u. a.], 3 Bde., [Berleburg] 1730–44. – Sammlung Auserlesener Materien zum Bau des Reichs GOttes (Hg. von Traugott Immanuel Jerichow). 3 Bde., Frankfurt – Leipzig 1731–34 (verschiedene Fortsetzungsserien bis 1761). – Auszüge aus dem Briefwechsel der deutschen Gesellschaft. 3 Bde., Basel 1783–85. Fortgesetzt unter dem Titel: Sammlungen für Liebhaber christlicher Wahrheit, ebd. 1786–1912 (sog. ,Baseler Sammlungen‘, die Zeitschrift mit der längsten Erscheinungsdauer der deutschen Literaturgeschichte). In zahlreichen Ausgaben weitestverbreitete Einzelbiographien: Die Schule der reinen Liebe Gottes […] in dem Wunder=Leben Einer armen unwissenden Weibs=Person […] Armelle Nikolas [Frz. Original von der Ursulinin Jeanne de la Nativit8, dt. von Pierre Poiret], Regensburg 1708. – [Georg Conrad Rieger]: Die Württembergische Tabea (Beata Sturm), Stuttgart 1730, 3. Aufl. 1737, abermals in: Johann Arnold Kanne: Leben und aus dem Leben merkwürdiger und erweckter Christen, Teil 1, Bamberg – Leipzig 1816, S. 55–110.
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Bei den Autobiographien ist eine Entwicklung von eher nüchternen Rechenschaften des unter Gottes Leitung begriffenen äußeren Lebensgangs nach dem Typus der Gelehrtenautobiographie (Spener, Petersen, Bengel, Breithaupt, Lange, Moser, Spangenberg) zu einer Reflexion des inneren Lebens, seiner Gnadenführungen und Verlassenheiten konstatierbar, die, oft mit apologetischem Beiklang, das moderne Konzept eines sentimentalischen Subjekts präformiert (Beispiel: Anna Maria van Schurman, Johanna Eleonora Petersen, August Hermann Francke, Ezechiel Sangmeister, der Mystiker Marsay, später Oetinger, Bogatzky oder Jung-Stilling). Teilweise treten die Ereignisse des Lebensgangs sogar vollständig hinter die Bekenntnisdurchleuchtung des seelischen Erlebens zurück (gipfelnd in der Erfahrung des Gnadendurchbruchs der Wiedergeburt, oder, im mystischen Typus, in Momenten der fruitio Dei). Solche Autopsychographien wurden in erstaunlich großer Zahl auch bereits von erweckten Frauen und von Kleinhandwerkern publiziert – neben den genannten theologischen Schriftstellerinnen Schurman und Petersen etwa von der Gräfin Sophie Charlotte zu Stolberg-Wernigerode oder der Schweizer Pfarrerstochter Margret Zeerleder, geb. Lutz, vom inspirierten Sattler Johann Friedrich Rock oder (innerhalb umfassenderer thetischer Werke) von Ekstatikern wie dem Gelegenheitsbediensteten Johann Adam Raabe, dem Militärzeugmacher Georg Rosenbach, dem Perückenfabrikanten Johann Tennhardt, dem Schuster Johann Maximilian Daut, dem Küfer und Kleinbauern Christoph Schütz oder dem missionierenden Bauernsohn Johann Daniel Müller. Die Autopsychographie war auch die bevorzugte Form für Bekehrungsrechenschaften von Proselyten (wie dem als Johann Christoph Leberecht getauften Juden Abraham Herz) oder Malefikanten (jenseits der in speziellen Sammelbiographien versammelten Bezeugungen bekehrter Missetäter sind die bekanntesten die des hingerichteten Grafen Johann Friedrich von Struensee, einem Enkel des Radikalpietisten Johann Samuel Carl, und des in der Qual seines Kerkers zur Religion seiner Kindheit zurückfindenden Christian Daniel Friedrich Schubart). Noch Zinzendorfs und Johann Georg Hamanns Seelenerkundungen gehören diesem Typus zu, dessen säkularisierte Auswirkungen außer im psychologischen Roman sichtbar bleiben in der Genese der gleichermaßen gipfel- und wendepunktorientierten Gattung der Novelle (seit Goethes Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten und Wielands Das Hexameron von Rosenhain). Ansätze zur Säkularisation der frommen Lebens- und Seelenbekenntnisse zeigen sich schon früh in der Übertragung der psychisch-religiösen Selbstbeobachtung auf Gemüts- und Körperkrankheiten wie bei Adam Bernd. Die „Herrnhuter Schwester auf eigene Hand“, Susanna Katharina von Klettenberg, wurde nicht nur Mentorin für Goethes theosophisch-alchimistische Studien, sondern auch sein Vorbild der Bekenntnisse einer schönen Seele (Buch 6 von Wilhelm Meisters Lehrjahre), Idealbild einer undogmatischen weiblichen Frömmigkeit. Zeugnisse einer qualvollen Ablösung und Abrechnung gegenüber der pietistischen Gewissensprägung sind die gleichwohl dem eingeprägten Formmuster verpflichte-
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ten Autobiographien Johann Salomo Semlers oder Johann Christian Edelmanns, zum Teil auch Ulrich Bräkers. Autobiographien/Autopsychographien: Anna Maria van Schurman: EUJKGQIA seu Melioris Partis Electio, Altona 1673. Dt.: EUJKGQIA oder Erwählung des besten Theils, Dessau – Leipzig 1683. – Johanna Eleonora Petersen: Eine Kurtze Erzehlung / Wie mich die leitende Hand Gottes bißher geführet. Zuerst in: Dies.: I. N. J. Hertzens=Gespräch mit Gott. T1. 2, Plön 1689, S. 193–240. Erweitert: Leben Frauen J. E. Petersen, [Leipzig] 1718, 2. Aufl. 1729. Kommentierte Neuausg.: Johanna Eleonora Petersen: Leben. Hg. von Prisca Guglielmetti, Leipzig 2003 (Kleine Texte des Pietismus, Bd. 8). – Johann Caspar Schade: [Autobiogr. Skizzen]. In: Philipp Jacob Spener : Christliches Ehren=Gedächtnüß […] J. C. Schadens, Leipzig – Berlin 1698, S. 39–49. Ergänzt, 3. Aufl. 1698, Anhang, S. 1–12. – [Gottfried Arnold]: Offenhertzige Bekandnuß / Welche bey unlängst geschehener Verlassung Seines Academischen Ampts abgeleget worden, Offenbach 1699. Erweitert: Seel. Hn. Gottfried Arnolds […] Gedoppelter Lebens=Lauff, Leipzig – Gardelegen 1716. Ders.: Gießener Antrittsvorlesung sowie […] Gedoppelter Lebenslauf. Hg. von Hans Schneider, Leipzig 2012 (Edition Pietismustexte, Bd. 4). – [Johann] Georg Rosenbach: Wunder= und Gnaden=volle Bekehrung [1701], o. O. 1704. [Forts.]: Wunder= und Gnaden=volle Führung Gottes Eines […] Christo nachfolgenden Schaafs [1701–1704], o. O. u. J. [1705]. – Johann Adam Raab[e]: Der wahre und gewisse Weg durch die enge † Pforte Zu Jesu Christo, o. O. u. J. [= Nürnberg 1703]. – Philipp Jacob Spener : [Erstdr. der Autobiographie], in: Conrad Gottfried Blanckenberg: Das Leben der Glaubigen […]. Philipp Jacob Spener […] Leichen-Predigt, Frankfurt a.M. 1705, S. 22–33; ND in: Heinrich Anselm v. Ziegler und Kliphausen: Historischer Schau=Platz. 1. Forts., Leipzig 1718, S. 856–864. – Johann Friedrich Rock: Anfänge Des Erniedrigungs=Lauffs [1707, Forts. 1717]. In: EXTRACTA Aus dem allgemeinen Diario der Wahren Inspirations-Gemeinen. 12. Slg., o. O. 1751, S. 145–224. 14. Slg., o. O. 1761, S. 229–235. Kommentierter Neudruck (zus. mit kürzeren Selbstzeugnissen): Johann Friedrich Rock: Wie ihn Gott geführet und auf die Wege der Inspiration gebracht habe. Autobiographische Schriften. Hg. von Ulf-Michael Schneider, Leipzig 1999 (Kleine Texte des Pietismus, Bd. 1) – Johann Maximilian Daut: Helle Donner-Posaune, [Idstein] 1710. – Johann Tennhardt: Gott allein: soll die Ehre seyn […], [Idstein] 1710, 2. Aufl. 1710 (mit Forts.): Ders.: Worte Gottes, 1711. Ferner in: Zweytes Stück der Briefe Johann Tennhardts. Hg. von Tobias Eisler, 1730. – Das Leben Jo. Wilhelmi Petersen, Der Heil Schrifft Doctoris, o. O. 1717. – Das Leben Herrn Jo. Albrecht Bengels [lat.]. In: Erläutertes Würtemberg. Hg. von Johann Jacob Moser. T1. 1, Tübingen 1729, S. 211–226. – Joachim Just Breithaupt: [Autobiographie]. In: Memoria Caplatoniana […]. Nebst dem Curriculo Vitae Des […] D. Breithaupt. Hg. von Christian Polycarp Leporin, o. O. 1725, S. 35–112; ND in: Das Gesegnete Gedächtniß […] Joachim Just Breithaupts. Hg. von Gotthilf August
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Francke, Halle 1736, S. 95–146. – Egidius Günter Hellmund: Wetzlarisches Andencken […] unter der guten Hand Gottes, Wiesbaden 1726. – Christoph Schütz: Güldene Rose. 3 Tle., o. O. 1727, 2. Aufl. 1731, 3. Aufl. 1809. – Ders.: Geistliche Correspondentz, o. O. 1728. – Des seeligen Herrn August Hermann Franckens Bekehrungs-Historie [Erstdr.]. In: Altes und Neues aus dem Reich Gottes. [Hg. von Johann Jacob Moser], 3 Teile, Frankfurt – Leipzig 1733, S. 56–59. Neuausg.: Gustav Kramer : Beiträge zur Geschichte A. H. Francke’s, Halle 1861, S. 28–55; Lebensläufe August Hermann Franckes. Hg. von Markus Matthias, Leipzig 1999 (Kleine Texte des Pietismus, Bd. 2), 2. überarb. Aufl. Leipzig 2016 (Edition Pietsmustexte, Bd. 9). – Sophia Charlotte zu StolbergWernigerode: Aufsatz Ihre Bekehrung betreffend (1728). In: Denckmaal der Gnade Gottes [Leichenpredigt], Wernigerode o. J.; ND: Das gottselige Leben […] Sophia Charlotte, Gr. zu Stolberg, Halle 1764. – Adam Bernd: Eigene Lebens-Beschreibung, Leipzig 1738, [2 Forts.en] 1745; ND hg. von Volker Hoffmann, München 1973. – Heinrich Melchior Mühlenberg: Selbstbiographie, 1711–1743. Hg. von W. Germann, Allentown, Pa. 1881. – Wohlverdientes Ehren-Gedächtniß Herrn Johann Anastasii Freylinghausens, Halle 1740, S. 26–41. – [Margret Zeerleder, geb. Lutz]: Kurtzer Bericht […], auf was Weise […] mich die Barmhertzigkeit Gottes […] gezogen. In: Dies.: Glückseelige Freyheit, Neuwied 1740, S. 202–244, Bern, 2. Aufl. 1743, S. 13–56. – Joachim Lange: Lebenslauf, Zur Erweckung seiner […] Zuhörer, Halle – Leipzig 1744. – Nicolaus Ludwig Graf v. Zinzendorf: PEQI EAUTOU Das ist: Naturelle Reflexiones, 12 Stücke, o. O. 1747/48; ND in: Ders.: Hauptschriften. Erg.-Bd. 4, Hildesheim 1964. – Johann Salomo Semler : Lebensbeschreibung, 2 Bde., Halle 1748, 2. Aufl. 1781/82. – [Charles Hector Marquis St. George de Marsay]: Das Leben des Herrn St. de Marsay [1748]. In: System der höhern Heilkunde. Theoret. Teil. Hg. von [Ernst Joseph Gustav] de Valenti, 2. Abt., Elberfeld 1827, S. 153–392. – Johann Christian Edelmann: Selbstbiographie [1749–52]. Hg. von Carl Rudolph Wilhelm Klose, Berlin 1849; ND in: Ders.: Sämtl. Schriften. Hg. von Walter Grossmann. Bd. 12, Stuttgart-Bad Cannstatt 1976 (und einzeln, hg. von Bernd Neumann, ebd. 1976). – [Heinrich] Sangmeister : Das Leben und der Wandel des in Gott ruhenden Bruders Ezechiel Sangmeister. 4 Tle., Ephrata, Pa. 1825–27. – Johann Georg Hamann: Gedanken über meinen Lebenslauf [1758]. In: Ders.: Sämtl. Werke. Hg. von Josef Nadler. Bd. 1/2, Wien 1950, S. 9–54. – Des Württembergischen Prälaten Friedrich Christoph Oetinger Selbstbiographie. [1. vollst. Ausg.]. Hg. von Julius Hamberger, Stuttgart 1845. Neuausg. in Friedrich Christoph Oetinger : Leben und Briefe. Hg. von Karl Chr[istian] Eberh[ard] Ehmann, ebd. 1859. Ders.: Genealogie der reellen Gedancken eines Gottes-Gelehrten. Eine Selbstbiographie. Hg. von Dieter Ising, Leipzig 2010 (Edition Pietismustexte, Bd. 1). – Lebens=Geschichte Johann Jacob Mosers, von ihme selbst beschriben, [Offenbach] 1768; 3., stark verm. u. fortges. Aufl., 4 Tle., Frankfurt – Leipzig 1777–83. – Carl Heinrich von Bogatzky : Lebenslauf [1764–72]. Hg. von Albert Knapp, Halle 1801. – Johann Friedrich Graf von Struensee: Eigenhändige Nachricht […] von […] Ände-
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rung seiner Gesinnungen. In: Bekehrungsgeschichte des […] Struensee. Hg. von Balthasar Münter, Kopenhagen 1772, S. 281–312. – [Abraham Herz]: Merkwürdiger Lebens=Lauf eines […] getauften […] Israeliten, Johann Christoph Leberechts, Basel 1777. – Johann Heinrich Jung [gen. Stilling]: Lebensgeschichte, Berlin – Leipzig 1777, Heidelberg 1817. Neued. (mit weiteren autobiogr. Zeugnisssen) hg. von Gustav Adolf Benrath, Darmstadt 1976, 2. Aufl. 1984. – Philipp Matthäus Hahn: Lebenslauf. In: Ders.: Hinterlassene Schriften. Bd. 1., Heilbronn – Rothenburg 1828, S. 1–40. – Ulrich Bräker: Lebensgeschichte und Natürliche Ebentheuer des Armen Mannes im Tockenburg. In: Ders.: Sämtliche Schriften. Hg. von Johann Heinrich Füssli, Bd. 1, Zürich 1789. Krit. Neued.: Ders.: beschribung meiner leiblichen reiß und pilgerschafft. In: Ders.: Sämtl. Schriften, Bd. 1, 1998, S. 19–27, App. 750; Ders.: Lebensgeschichte. In: Ebd., Bd. 4, S. 357–557, App. 673–693. – Johann Daniel Müller [Pseud. „Meßias“]: Kleine Erzehlung meiner Leiden. In: Ders.: Das ewige Evangelium, o. O. 1778, 5, S. 79–126. – Lebenslauf […] August Gottlieb Spangenbergs [1784]. In: Archiv für die neueste Kirchengeschichte Bd. 2, St. 3, Weimar 1795, S. 429–82. [Abriss von 1789]: Ebd. Bd. 1, St. 3, Weimar 1794, S. 40–47. – Christian Daniel Friedrich Schubart: Leben und Gesinnungen. 2 Bde., Stuttgart 1791–93; ND Leipzig 1980. – [Johann Christian Stahlschmidt]: Die Pilgerreise zu Wasser und zu Lande, Nürnberg 1799; Teilabdr. in: Johann Arnold Kanne: Sammlung wahrer und erwecklicher Geschichten, 3. Teil, Nürnberg 1822, 2. Aufl. 1836. – Johann Wolfgang von Goethe: Träume und Legenden meiner Jugend. Texte über die Stillen im Lande [Anthologie von Dokumenten pietistischer Begegnung und Einwirkung, reflektierenden Selbstzeugnissen und Urteilen]. Hg. von Paul Raabe, Leipzig 2000 (Kleine Texte des Pietismus, Bd. 3). – Johann Arnold Kanne: Aus meinem Leben. In: Ders.: Leben und aus dem Leben merkwürdiger und erweckter Christen, Teil 1, Bamberg – Leipzig 1816, Anh., S. 263–296. – Johann Christian Meier : Selbstbiogr. In 15 Briefen [1811]. Teilabdr. in: Johann Arnold Kanne: Sammlung, 2. Teil, Nürnberg 1817, 2. Aufl. 1836, komplett erst in: Bremer Post. Hg. von Friedrich Mallet. Bde. 1–3, Bremen 1857–60. – Adeline Gräfin Schimmelmann: Streiflichter aus meinem Leben. Hg. von Jörg Ohlemacher, Leipzig 2008 (Kleine Texte des Pietismus, Bd. 12). Seltener im zeitgenössischen Druck überliefert sind die von vielen Pietistinnen und Pietisten geführten Seelentagebücher, die das tägliche Auf und Ab von geistlicher Dürre, Anfechtung und Beglückungsempfindung unmittelbarer zu Wort bringen. Auch sie sind ein schätzbares Zeugnis der Ausformung jener pietistischen Sonderterminologie („Sprache Kanaan“ vgl. meinen Aufsatz über die Eigenprägung und Wirkung der pietistischen Sprache, 2011, L 38, im vorliegenden Band S. 233–260), die zur psychozentrischen Dynamik der poetischen Gefühlssprache und zu ihrem Ringen um die präziseste Nuance der Empfindung hinführte. Entgegen naiver Erwartungen, ein doch subjektiv ehrlicher Ich-Bericht verbürge unverstellt die objektive Wahrheit, zeigen die
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Nahrechenschaften des Tagebuchs markante Divergenzen gegenüber den Autobiographien mit ihrem weit höheren Grad an modellhafter Stilisierung. Durchbruchsgewissheiten wie die im ferneren Rückblick so oft datierbare Wiedergeburt stellen sich immer erst post festum ein, im aktuellen Tagesresümee des Diarienschreibers gibt es sie nie. Hier kann nur vom Auf und Ab der Empfindung, von geistlicher Erquickung oder Dürre Rechenschaft gegeben werden. Unmittelbar bedeutsam für die Dichtungsgeschichte sind der engherzige Skrupelgeist im Tagebuch von Lenzens Vater oder die Seelendiarien auch literarisch produktiver Selbstbeobachter wie Zinzendorf und im weiteren Einflussbereich des Pietismus Lavater, Haller und Gellert. Tagebücher : Nicolaus Ludwig Graf v. Zinzendorf: Tagebuch 1716–19. In: Zeitschrift für Brüdergeschichte, Jg. 1/2 (1907/08). – Maria Elisabeth zu Stolberg: Tagebuch 1726–40. In: Der Ruhm Göttl. Gnade (Leichenpredigt). Hg. von Samuel Lau, Wernigerode 1741, S. 85–161; ND in: Sammlung erbaulicher Lebens=Geschichte gottseliger Personen, Berlin 1754, S. 612–696. – Die Merkmale der göttl. Güte […] Frauen Johannen Magdalenen v. Geusau. Hg. von Carl Heinrich von Bogatzky. In: Die Offenbarung der Herrlichkeit Gottes. Hg. von Benjamin Lindner, Salfeld 1745, S. 209–255. – Christian David Lenz [Vater des Dichters]: Tagebuch-Auszüge 1741/42. In: Baltische Blätter. Hg. von Johannes Kirschfeld. 2. Jg., H. 3 (Riga 1924), S. 99–105. – Auszüge aus Harttmanns Tagebüchern (1760–75). In: Karl Friedrich Harttmann. Ein Charakterbild. Hg. von G[ottlieb] F[riedrich] Harttmann, Stuttgart 1861, 2. Aufl. [1864]. – Christian Fürchtegott Gellert: Tagebuch aus dem Jahre 1761. Hg. von T. O. Weigel, Leipzig 1862, 2. Aufl. 1863. – Herrnhuter Indianermission in der Amerikanischen Mission. Die Tagebücher von David Zeisberger 1772 bis 1781. Hg. von Hermann Wellenreuther und Carola Wessel, Berlin 1995 (Selbstzeugnisse der Neuzeit, Bd. 3). – Johann Caspar Lavater : Geheimes Tagebuch. Von einem Beobachter seiner selbst, 2 Tle., Leipzig 1771–73; Ders.: Auszug aus seinem Tagebuch vom Jahre 1796, Zürich 1796; – Ders.: Unveränderte Fragmente. Hg. von Christoph Siegrist, Bern 1978; – Ders.: Reisetagebücher. Hg. von Horst Weigelt, Teil I: Studien- und Bildungsreise nach Deutschland 1763 und 1764, Teil 2: Reisen nach Süddeutschland 1778, in die Westschweiz 1785, nach Kopenhagen 1793, Göttingen 1997 (Texte zur Geschichte des Pietismus, Abt. VIII, Bde. 3–4); – Von der „Geniereise“ des Sommers 1774: Goethes Rheinreise mit Lavater und Basedow im Sommer 1774 – Dokumente. Hg. von Adolf Bach, Zürich 1923. – Philipp Matthäus Hahn: Die Kornwestheimer Tagebücher 1772–77. Hg. von Martin Brecht und Rudolf F. Paulus, Berlin – New York 1979; Die Echterdinger Tagebücher 1780–90. (Hg.: Dies.), in: Ebd. 1983; In Erwartung der Königsherrschaft Christi. Aus den Tagebüchern von Philipp Matthäus Hahn. Hg. von Gerhard Schäfer, Metzingen 1989. – Albrecht v. Haller : Tagebuch seiner Beobachtungen. Hg. von Johann Georg Heinemann. 2 Tle., Bern 1787, S. 219–319. – Ulrich
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Bräker: Tagebücher 1768–1798. In: Ders.: Sämtl. Schriften, Bde. 1–3, München [u. a.] 1998. Der intensive bekenntnishafte und seelsorgliche Briefwechsel der Pietisten (als gesuchte Ratgeber in allerlei Lehr-, Lebens- und Gewissensnöten haben darin Spener, Tersteegen, Jung-Stilling und Lavater herausragende Bedeutung gewonnen) bereitet die Briefkultur des späten 18. Jahrhunderts mit ihrer Überwindung des bis zur Jahrhundertmitte gattungstypischen starr-rhetorischen Formelwesens vor. Briefe: Philipp Jacob Spener : Theologische Bedencken – Spener : Letzte Theologische Bedenken. – Hist.-krit. Neued. der Briefe Speners, hg. von Johannes Wallmann, bisher 10 Bde. [Detailangaben s. Schrader : Probleme der bibliographischen Erschließung, L 16, im vorliegenden Band S. 84], Tübingen 1992–2016. – August Hermann Francke: Der handschriftl. Nachlaß, Bd. 1: Der Briefwechsel Carl Hildebrand v. Cansteins mit August Hermann Francke. Hg. von Peter Schicketanz, Berlin – New York 1972. – Die Korrespondenz Heinrich Melchior Mühlenbergs. Hg. von Kurt Aland und Hermann Wellenreuther, 5 Bde., Berlin – New York 1986–2002 (Texte zur Geschichte des Pietismus, Abt. III, Bd. 6, Francke: Handschriftlicher Nachlaß). – Gotthilf August Francke: Hertzliebe Mama. Briefe aus den Jenaer Studientagen 1719–1720. Hg. von Thomas Müller, Tübingen – Halle 1997. – Gerhard Tersteegen: Geistliche und erbauliche Briefe über das inwendige Leben […], Solingen 1773–75, Spelldorf, 2. Aufl. 1798. – [Briefe an und um Tersteegens Verleger Schmitz], Gerhard Tersteegen und die Familien Schmitz in Solingen. Hg. u. komm. von Horst Neeb, Düsseldorf 1997 (Schriften des Archivs der Ev. Kirche im Rheinland, Bd. 11); [Briefe an die Bewohner der Otterbeck, in:] Horst Neeb: Gerhard Tersteegen und die Pilgerhütte Otterbeck in Heiligenhaus. Geschichte und Tersteegen-Briefe an die Bewohner, Düsseldorf 1998 (Schriften des Archivs der Ev. Kirche im Rheinland, Bd. 15), S. 119–267. – Michael Knieriem und Johannes Burkardt: Die Gesellschaft der Kindheit Jesu-Genossen. Aus dem Nachlaß des von Fleischbein und Korrespondenzen von de Marsay, Prueschenk von Lindenhofen und Tersteegen 1734 bis 1742, Hannover 2002. – Geistliches Blumenfeld. Briefe der Tersteegen-Freunde 1737–1789. Hg. von Horst Neeb, Düsseldorf 2000 (Schriften des Archivs der Ev. Kirche im Rheinland, Bd. 28). – Johann Kaspar Lavater, Charles Bonnet und Jacob Benelle: Briefe 1768–1790. Ein Forschungsbeitrag zur Aufklärung in der Schweiz. Hg. [Bd. 1] u. Komm. [Bd. 2] von Gisela Luginbühl-Weber, Bern [u. a.] 1997. – Johann Heinrich Jung-Stilling: Briefe. Ausgew. und hg. von Gerhard Schwinge, Gießen – Basel 2002 [umfass. krit. Ausg. mit einführendem „Korrespondenzverzeichnis […] aller erhaltenen Briefe“ und mit Regesten wichtiger AnBriefe]. – Johann Christoph Blumhardt: Gesammelte Werke. Schriften, Verkündigung, Briefe. Hg. von Gerhard Schäfer und Dieter Ising, TGP, Reihe III: Briefe, 7 Bde., Göttingen 1993–2001. – Ders.: Krankheit und Heilung an Leib
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und Seele. Auszüge aus Briefen, Tagebüchern und Schriften. Hg. von Dieter Ising, Leipzig 2014 (Edition Pietismustexte, Bd. 6).
Vom Heiland im Herzen zum inneren Wort ,Poetische‘ Aspekte der pietistischen Christologie [1994, L 19]
Die Pietisten sind keine großen Dogmatiker gewesen.1 Die theologischen Lehrstreitigkeiten zwischen den Protestanten (aber auch gegenüber den Katholiken) um eindeutige und begrifflich-klare Fixierungen des eigenen typus doctrinae und um dessen Abgrenzung gegen die Grundsätze der anderen Bekenntnisse haben die meisten von ihnen kaum interessiert. Worauf es ihnen allen ankam, unabhängig davon, ob sie nun der lutherischen oder der reformierten Kirche zugehörten, ob sie sich in besonderen Konventikeln oder in von der Kirche separierten Gemeinschaften versammelten, ob sie sogar kirchliche und Gemeindebindungen überhaupt verschmähten oder zum mystischen Quietismus katholischer Spielart tendierten, war eine fundamentale Intensivierung der Frömmigkeit: Erstrebt wurde eine vollständige individuelle Verwandlung jedes einzelnen Menschen aus dem Sündenstand der Welt in den göttlichen Gnadenstand und – daraus resultierend – ein praktisches Tatchristentum, eine Umwandlung damit auch der Kirchen und der ganzen Welt durch die Gemeinschaft der „Erweckten“. Diese „Umschaffung“ oder – mit dem biblischen Zentralterminus der pietistischen Psychagogik – die „Wiedergeburt“ des Einzelmenschen und die progressive Veränderung der Welt im Geiste der göttlichen Liebe verstanden sie als Vorbereitungsarbeit am verheißenen Friedensreich Christi. Die „besonderen Meinungen“ und „Satzungen“ spezifischer Doktrinen dagegen sollten, als eher unerheblich gegenüber diesem „unum necessarium“, in jedermanns freie Gewissensentscheidung gestellt und – im Wissen um die vielerlei Wege, auf denen der Herr die Seinen zu sich ziehen könne – brüderlich geduldet werden. In scharfer Abgrenzung ihrer Frömmigkeitsemphase gegenüber der Kontroverstheologie der nachreformatorischen Orthodoxien und der als unerbaulich empfundenen kasuistischen Gelehrsamkeit der amtskirchlichen Kanzelverkündigung wurde die dogmatische Theologie 1 Unter dem Titel „Le Christ dans le cœur de ses fidHles. Quelques aspects ,po8tiques‘ de la christologie du pi8tisme“ wurde die vorliegende germanistische Untersuchung am 26. August 1993 zum Kolloquium über „Le Christ entre Orthodoxie et LumiHres“ (Leitung: Olivier Fatio und Maria-Cristina Pitassi) am Institut d’Histoire de la R8formation der Universität Genf vorgetragen. Die leicht differente französische Version, Schrader : Le Christ dans le cœur (1994, L 18), erschien in dem von M.-C. Pitassi herausgegebenen Berichtband, der den Titel dieses Kolloquiums trägt (GenHve 1994, S. 49–76).
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überhaupt mit Hinweis auf 1Tim. 1,6 zur „Mätologie“, also zu „unnützem Geschwätz“ erklärt.2 Obgleich der individuelle affektive Bezug auf Jesus als den „Heiland“, „Immanuel“ und „Seligmacher“, den Lehrmeister und „Durchbrecher“, Freund und Herzensbräutigam bis in die Verstiegenheiten einer spätbarockbrautmystischen Erotik und des herrnhutischen Wundenkults3 in keiner anderen Epoche eine so herausragende Bedeutung für die Breitenfrömmigkeit besessen hat wie in der des Pietismus,4 muß es bei der antidogmatischen Grundeinstellung der gesamten Richtung nicht verwundern, daß kein einziger der Vordenker dieser Frömmigkeitsreform überhaupt eine verbindliche, systematische und begrifflich-definite Christologie auszuarbeiten unternommen hat. Die Streitpunkte der barocken Orthodoxie um die theologische Unterscheidung der spezifischen Eigenschaften von Vater, Sohn und Heiligem Geist, um eine Systematisierung des Verhältnisses von göttlicher und menschlicher Natur Christi, um die Unterscheidung seines prophetischen, priesterlichen und königlichen Amts oder auch um die Frage der Ubiquität und damit der körperlichen oder nur symbolischen Anwesenheit im Abendmahl haben sie höchstens am Rande interessiert.5 Etwas größere Bedeutung – mit dezidierteren Positionen – gewinnen von den auch in der Orthodoxie umstrittenen Problemen lediglich die für die Rechtfertigungslehre wichtigen Fragen nach den Grenzen der „Zurechnung“ oder auch „Imputation“ des stellvertretenden Kreuzesopfers Christi oder die – für die praxis pietatis weniger bedeutsame – einer Präexistenz Christi seit der Erschaffung der Welt und seiner Wiederkunft am Ende der Zeiten. Trotz aller Abstinenz in den für die praktische Christus-Nachfolge eher 2 Topos der Abwehr orthodoxer Lehrgebäude, hier zitiert nach der als Quellensammlung pietistischer Argumente unschätzbaren ersten Biographiensammlung, in deren sieben Bänden die verschiedensten Spielarten nicht nur der pietistischen Frömmigkeit, sondern auch ihrer Wegbereiter und Parallelbestrebungen aus unterschiedlichsten Ländern und Konfessionen als eine „Wolke der Zeugen“ Christi (vgl. Hebr 12,1) und damit als Kern der Kirchengeschichte zusammengefaßt sind: Reitz: Historie Der Wiedergebohrnen (1982, L 2). Im gleichen Sinne argumentiert schon Spener 1675 in der Programmschrift des Pietismus: Philipp Jakob Spener: Pia Desideria. Deutsch-Lateinische Studienausgabe. Hg. von Beate Köster, Gießen – Basel, 2005, S. 36–46. 3 Die noch immer förderlichste Traditionsanalyse gibt Paul Alverdes: Der mystische Eros in der geistlichen Lyrik des Pietismus. Diss. phil. [masch.], München 1921. 4 Vgl. Schrader : Pietismus (1993, L 63), S. 208–216; 209: „Bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts hatte der Pietismus größte Teile der evangelischen Kirchen durchdrungen und war die theologisch tonangebende Kraft. Etwa 40 Prozent aller Protestanten, knapp ein Fünftel aller Deutschsprechenden überhaupt, können in dieser Zeit als Pietisten angesehen werden.“ 5 Zu den christologischen Streitigkeiten und zur Christologie vgl. Walter Sparn: Jesus Christus V: Vom Tridentinum bis zur Aufklärung. In: Theologische Realenzyklopädie. Bd. 17, Berlin – New York 1988, S. 1–16; ferner John Macquarrie: Jesus Christus VII: Dogmatisch. In: ebd., S. 42–64. Ich beziehe mich hier auf den älteren Artikel von Wolfhart Pannenberg: Christologie II: Dogmengeschichtlich. In: Religion in Geschichte und Gegenwart. 3. Aufl., Bd. 1, Tübingen 1957, S. 1774 f.
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akademisch scheinenden Fragen zeigt die in den Lehr- und Erbauungsschriften der Pietisten eher unsystematisch entworfene Christologie ein spezifisches, gegenüber der Orthodoxie deutlich abgrenzbares Gepräge, das in der Grundauffassung alle Spielarten der Bewegung einigte: die stärker asketisch-aktivischen ebenso wie die eher mystisch-passivischen. In einer Kurzformel läßt sich dieses proprium, das die Pietisten allerdings mit den von ihnen beerbten spiritualistischen und mystischen Traditionen verbindet, mit dem Konzept eines „Christus in nobis“ zusammenfassen, demgegenüber das gemeinprotestantische „Christus pro nobis“ deutlich an Gewicht verliert. In der langen Kette der orthodoxen Einsprüche, Gegenbeweise, Vorwürfe und Verdächtigungen gegen die Gesamtbewegung des Pietismus tritt diese christologische Divergenz nicht einmal besonders exponiert zutage. Die (wohl aus der Feder Samuel Schelwigs) anonym publizierte Streitschrift Ungefälschte Abbildung der heutigen Pietisterey schilt Speners „neue Secte“ auf dem Höhepunkt der „Pietistischen Streitigkeiten“ im Jahr 1700, sie verkleinere „die Gnugthuung Christi“, indem man „Christi Verdienst one die Wercke vor nichts achtet“ und mache sich also des Synergismus schuldig und den Sozinianern und Katholiken gemein. Überdies wiederhole ihre Lehre von Christi Wiederkunft am Ende der Zeiten jüdische und chiliastische Irrtümer.6 Am Ende der Epoche aber, als 1758 Johann Michael Mehligs noch immer stramm orthodoxes Historisches Kirchen= und Ketzer=Lexicon den „Pietisten“ und „Fanatici“ noch einmal ihre „unter dem Schein der Frömmigkeit, besondere Gebräuche und Lehrsätze“ ankreidet und heterodoxiegeschichtlich einordnet, werden christologische „Irrthümer“ gar nicht mehr genannt.7 Aufschlußreicher ist da die Serie der Rezensionen, mit denen das theologische Hauptorgan der lutherischen Orthodoxie, Valentin Ernst Löschers Unschuldige Nachrichten, zwischen 1727 und 1747 mit dem erklärten Ziel behördlicher Verbote die Gefährlichkeit der ,Berleburger Bibel‘ nachweisen will.8 Diese für alle pietistischen Sonderlehren signifikante Neuübersetzung 6 Ungefälschte Abbildung der heutigen Pietisterey, Lissa 1700, Bog. )(3vf. – Auf die pietistische Spekulation über Christi Wiederkehr und sein endzeitliches Friedensreich kann ich in diesem Zusammenhang nicht eingehen; vgl. dazu Schrader: Sulamiths verheißene Wiederkehr (1988, L 15), in diesem Band S. 169–204. 7 Johann Michael Mehlig: Historisches Kirchen= und Ketzer=Lexicon aus den besten Schriftstellern zusammen getragen, Chemnitz 1758; vgl. die Artikel „Fanaticus“ (Bd. 1, S. 642 f.) und „Pietisten“ (Bd. 2, S. 377–380); Zitat: S. 377 und 379. 8 Unschuldige Nachrichten. Hg. von Valentin Ernst Löscher [u. a.], Leipzig 1701 ff., von 1720–1750 unter dem Titel: Fortgesetzte Sammlung von alten und neuen theologischen Sachen (fortan abgekürzt als „Fortges. Sammlung“); vgl. ebd., 1727, S. 1164–1176 (zu Bd. 1 der ,Berleburger Bibel‘); 1729, S. 811–818 (zu Bd. 2); 1731, S. 270–280 (zu Bd. 3); 1732, S. 974–979 (zu Bd. 4); 1736, S. 696–711 (zu Bd. 5); 1747, S. 211–244 (zu Bdn. 6–8). Die kämpferisch orthodoxen Positionen des Begründers und langjährigen Herausgebers der Zeitschrift in den christologischen Dissenspunkten den Pietisten gegenüber sind systematisch zusammengefaßt bei Hans-Martin Rotermund: Orthodoxie und Pietismus. Valentin Ernst Löschers „Timotheus verinus“ in der
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entstammte dem Geist des radikalen Pietismus und legte in acht Foliobänden (1726–1742) eine wort- und versweise Kommentierung der Heiligen Schrift vor. Auf die Christologie beziehen sich in den Rezensionen drei Gruppen von Einwänden, von denen zwei die spekulativen Sonderlehren nur einzelner Theologen betreffen, die dritte aber den Kernpunkt des orthodoxen Dissenses mit der gesamten pietistischen Richtung bestimmt. a) Zu den als „Irrlehren“ gebrandmarkten christologischen Spekulationen gehört zunächst die Lehre von der Präexistenz des Gottessohnes, die diese Bibelversion heterodoxerweise (ganz im Sinne von alten Logos-Spekulationen) auf die Aussagen über den „Erstgebohrnen vor allen Creaturen“ (vgl. Kol 1,15; Spr 8,22) gründen wolle.9 Der Berleburger Präexistenzkommentar war einem heftig umstrittenen Traktat des chiliastischen Theologen Johann Wilhelm Petersen gefolgt10 und hatte damit einen Zensurprozeß des Corpus Evangelicorum provoziert, in dem der Landesherr gezwungen worden war, den inkriminierten Druckbogen austauschen zu lassen.11 b) Der zweite christologische Einwand warf den Bibelkommentatoren eine Herabminderung der Gottnatur Christi vor: „Von dem Menschen Christo heisset es, er habe alle Anfälle und Versuchungen der Sünde in seinem Fleisch empfunden.“12 Diesen Lehrsatz hatte, zur Erleichterung einer individuellen Nachfolge Christi, besonders Johann Henrich Reitz vorgetragen und war dafür von der Orthodoxie als „sozinianisch“ angeprangert worden.13 c) Alle anderen Vorbehalte der orthodoxen Glaubenswächter gegen christologische Aussagen der ,Berleburger Bibel‘ aber lassen sich systematisch zusammenfassen in der für den Gesamtpietismus charakteristischen Auffas-
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Auseinandersetzung mit der Schule August Hermann Franckes, Berlin 1959 (Theologische Arbeiten, Bd. 13), S. 48–52, 58–60, 63–67, 82–85, 87–100. Fortges. Sammlung, 1727, S. 1168 (zu Gen 32,24 sowie Gen 5,2); vgl. Fortges. Sammlung, 1731, S. 278 (zu Spr 8,23 und der Behauptung, „daß vor Grundlegung der Welt das Vor=Weltliche himmlische Krafft=Wesen der himmlischen Menschheit gewesen, das weder die pure Gottheit, noch eine pure Creatur sey, sondern ein mittlers Wesen“) und Fortges. Sammlung, 1732, S. 978 (zu Mi 5,2). Johann Wilhelm Petersen: Das Geheimniß Des Erst=Gebohrnen aller Creaturen Von CHRISTO JESU Dem GOtt=Menschen, Frankfurt am Main 1711. Für die näheren Zusammenhänge und Nachweise vgl. Schrader: Pietistisches Publizieren unter Heterodoxieverdacht (1988, L 14), in diesem Band S. 261–283; ders.: Literaturproduktion (1989, L 1), insbes. S. 126–129, 192–198, 207, 433 f., 470–473. Fortges. Sammlung, 1735, S. 697. Johann Henrich Reitz: Kurtzer Vortrag Von der Gerechtigkeit, Die wir Auß und in JEHOVA durch den Glauben haben, [Offenbach] 1701, S. 7–11: „Ja daß er seinen Brüdern / die Fleisch und Blut haben / jat± p²mta / in allen Stücken gleich seyn müssen / auff daß er barmhertzig würde / und kat‘ panta in allen Stücken und auff alle Weise und Wege / innerlich und eusserlich versucht werden […] und dargegen sich mit Wachen / mit Fasten / mit Thränen / mit Seufftzen […] und mit aller zusammengefaster Stärcke und Ernst / Ringen und Kämpffen seiner Seelen / bewahren […] und dergestalt in ihme selbst der Schlangen den Kopff zertretten muste …“ – Vgl. dagegen Unschuldige Nachrichten, 1707, S. 451; ferner die Serie weiterer orthodoxer „Elenchi“, die bei Schrader: Literaturproduktion (1989, L 1), S. 583 f. zusammengestellt sind.
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sung über eine „wesentliche Einverleibung Christi […] in uns“.14 Da für die Pietisten die am Ende des psychagogischen Prozesses erreichte wesenhafte Gemeinschaft notwendig gute Werke wirkt und die Sünde vertreibt, resultierte aus dieser Auffassung vom Innewohnen Christi im Herzen der Wiedergeborenen ihre – wie die Orthodoxen argwöhnten – „katholische“ Herabminderung des rechtfertigend zuzurechnenden stellvertretenden Kreuzopfers Christi zugunsten des opus operandum.15 Und vor allem resultierte daraus, „gut enthusiastisch“, ihre Auffassung von der Überlegenheit der im Herzen vernommenen inneren Stimme und göttlichen Zusprache über alle Lehrsatzungen und rationalen Konzepte: „Ach mögten doch alle Prediger sich dahin betreten, nicht vorhero zu überlegen, was sie zu reden haben, sondern sich gantz dem innern von Hertzen dahin geben, daß sie dem H. Geist und dessen Triebe Folge leisteten!“16 Im Axiom einer solchen göttlichen Herzenszusprache sahen die Orthodoxen – sicher nicht ganz zu Unrecht – ein Einfallstor für einen schrankenlosen Subjektivismus der Lehrauffassungen und für dogmatische Indifferenz – und witterten also Anarchie. In der für das Genre der satirischen Typenkomödie charakteristischen Vergröberung hat, eher von aufklärerischer als von orthodoxer Position aus, Luise Adelgunde Victorie Gottsched, die erst 23jährige Gattin des Leipziger Lehrmeisters einer vernunftgemäßen Dichtungslehre, den Grunddissens schärfer herauspräpariert als die orthodoxen Glaubenswächter. In der Eingangsszene ihres gegen das Frömmlerwesen gerichteten Pasquill-Dramas Die Pietisterey im Fischbein=Rocke; Oder die Doctormäßige Frau17 beklagt sich die unglückliche Protagonistin, Jungfer Luischen, daß ihre von pietistischen Heuchlern in mystische Lektüren und ins unverständliche Geschwätz der Kanaans-Sprache verführte Mama ihre Verheiratung hintertreibe. Die kluge Magd Cathrine erkennt die Schwierigkeit, dem heiratslustigen Mädchen zu helfen, und spottet: Allein, meynt sie, daß die Frau Glaubeleichten sie einem Manne geben werde, ehe sie recht Doctormäßig, und in der Lehre vom wahren innern Christenthume des Hertzens recht befestigt ist? Nicht so, nicht so! Ich wette, daß sie noch nicht einmal weiß, was Christus in uns, und die Salbung samt dem Durchbruche sey!18
Fortges. Sammlung, 1747, S. 234 (zu 2Petr 1,4: „Teilhabe an der göttlichen Natur“). Fortges. Sammlung, 1731, S. 271; vgl. Fortges. Sammlung 1736, S. 701 (zu Mt 1,21). Fortges. Sammlung, 1736, S. 709 (Zitat des Kommentars der ,Berleburger Bibel‘ zu Lk 12,11 f.). Luise Adelgunde Victorie Gottsched: Die Pietisterey im Fischbein=Rocke. Hg. von Wolfgang Martens, Stuttgart 1968 u. ö. (Reclams Universal-Bibliothek, Bd. 8579); vgl. auch das Nachwort, ebd., S. 153–155, 164. Gottscheds Drama ist einer französischen Streitschrift gegen den jansenistischen Quietismus, Guillaume-Hyacinthe Bougeants Komödie „La Femme Docteur ou la Th8ologie Jans8niste tomb8e en Quenouille“, nachgebildet und wurde unter falscher Druckortangabe erstmals 1736 anonym in Leipzig publiziert. 18 Ebd., S. 14 f.
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„Christus in uns“, also die „Lehre vom wahren innern Christenthume des Hertzens“,19 und das Erreichen dieser Erfahrung mit dem Gnaden-„Durchbruch“ der Wiedergeburt – damit hat die junge Gottschedin in einem Satz die Zentralformeln der pietistischen Psychagogik der Satire preisgegeben. Und wenn sie die scheinheilige Atmosphäre im Hause „Glaubeleicht“ auch noch dadurch beleuchtet, daß Luischen anstelle von Romanen und Komödien „Hübsche Hertzens-Catechismi“ und „Hoburgs unbekannter Christus“ lesen soll,20 hat sie auch erkannt, in welcher Tradition die verspotteten christologischen Vorstellungen der Pietisten stehen. Der Traktat des Barock-Spiritualisten Christian Hoburg, Der unbekandte Christus; Das ist / Gründlicher Beweiß Daß die heutige Christenheit in allen Secten / den wahren Christum nicht recht kennen, zu Amsterdam 1669 erschienen und von den Pietisten wiederholt neu aufgelegt,21 ist zwar, anders als sein Titel vermuten lassen könnte, gar keine christologische Programmschrift, sondern eine der scharfen Attacken Hoburgs gegen die Hoffahrt der Amtskirche, die sich in ihrem Weltgepränge zur Niedrigkeit des armen Jesus in Kontrast gesetzt habe.22 Aber die Spur ist doch richtig: Nicht nur war die der Gottschedin wohl vorliegende pietistische Neuausgabe von Der Unbekante Christus […] Anno 1701 begleitet von einem Traktätchen mit dem Symbolum eines Herzens, das von Jesus vollkommen eingenommen und versiegelt werden sollte: Huldreichster HERR JESU / schreibe auff dasselbe / und zwar fornen her / JESUS / schreibe auf allen Seiten JESUS / ja schreibe in das Innerste meines Hertzens JESUS mit unauslöschlichen Buchstaben / daß also nicht das kleinste Flecklein an demselbigen uberbleibe auf welchem nicht stehe JESUS / JESUS / JESUS.23
Vielmehr war der für die Kirchenkritik und die asketische Theologie Speners und der Pietisten insgemein höchst einflußreiche Hoburg der „bedeutendste Repräsentant des linken Flügels der Arndtschule“24 in der zweiten Hälfte des 19 Vgl. dazu den Zeilenkommentar des Herausgebers, ebd., S. 15: „Geläufige pietistische Vorstellung, die die spirituelle Erfahrung Christi im eigenen Seelengrund meint.“ 20 Ebd., S. 14. 21 Neuauflagen erfolgten (unter falscher Angabe des Druckortes „Franckfurt und Leipzig“) in Offenbach 1701 (vgl. Schrader : Literaturproduktion [1989, L 1], S. 151, 159) und 1727 (vgl. Martens’ Zeilenkommentar in Gottsched [wie Anm. 17], S. 14). 22 Vgl. Evamarie Gröschel-Willberg: Christian Hoburg und Joachim Betke. Ein Beitrag zur Vorgeschichte des deutschen Pietismus. Diss. phil. [masch.], Erlangen 1954, S. 63, 73–76. 23 Ivstiniani Verleugnung sein selbst. Verfasset in eine REDE / Welche Er gehalten hat in Beysein etlicher JEsus=liebenden Hertzen / als Er der Welt absagte […], Frankfurt und Leipzig [recte: Offenbach] 1701. Das Herz-Symbolum findet sich auf Seite 9. 24 Johannes Wallmann: Der Pietismus, Göttingen 1990 (Die Kirche in ihrer Geschichte, Bd. 4, Lfg. 0,1), S. 22 f. Vgl. ferner ebd., S. 45, 50; Martin Schmidt: Wiedergeburt und Neuer Mensch: Gesammelte Studien zur Geschichte des Pietismus, Witten 1969 (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus, Bd. 2), S. 51–111, 158–165; Schrader : Christian Hoburg (1979, L 59), in diesem Band S. 347–351 (mit Bibliographie S. 350 f.).
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17. Jahrhunderts. Die vier, später sechs Bücher vom wahren Christentum Johann Arndts, zuerst 1605–1609, sind das über Jahrhunderte hindurch verbreitetste Erbauungsbuch des Protestantismus überhaupt. Und Arndt ist, anknüpfend an eine Vielzahl mystischer und asketischer Vorgaben, der wirkungsvollste Vorformulierer pietistischer Grundargumente – auch der Herzenschristologie – gewesen, gleichsam ein „pi8tiste avant la lettre“.25 In den späteren pietistischen Neuausgaben der Bücher vom wahren Christentum26 konnte man nicht nur allegorische Emblemkupfer finden (Abb. 1, S. 123), in denen der Gnadenstand durch das Bild des ins Herz der Anima-Gestalt eingezeichneten siegenden Christus (gegenüber der den Weltzustand symbolisierenden Einwohnung des alten Adam) oder durch Jesu Geburt und Kreuzestod im Herzen vorgestellt war. IM Fall der neue Mensch in dir genesen Und leben soll, So muß der alte, Schmertzen=voll, Erkrancken, sterben und verwesen; […] Soll GOttes Lieb in dir entstehn, Muß erst die Welt=Lieb untergehn, So wirst du recht aus GOtt geboren, Zu einer neuen Creatur gemacht; So ist das Bild, durch Adams Fall verlohren, Auch würcklich dir zu gut durch Christum wiederbracht, So kömmst du aus dem Tod ins wahre Leben, […] O Mensch! geh in dein Hertz, und siehe zu, Wer in dir herrscht und dich beweget: Sey emsig, und begib dich ehe nicht zur Ruh, Als du den alten Menschen abgeleget Und fühlst, daß Christi Geist dich treibet und regiert Und mehr und mehr mit neuer Tugend ziert.27 25 Für einen Zugang zur unermeßlichen Arndt-Forschung vgl. neben Wallmann (wie Anm. 24), S. 14–21 und Martin Schmidt (Johann Arndt. In: Theologische Realenzyklopädie. Bd. 4, Berlin 1979, S. 121–129), v. a. Hans Schneider: Der fremde Arndt. Studien zu Leben, Werk und Wirkung Johann Arndts (1555–1621), Göttingen 2006 (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus, Bd. 48). 26 Spener selbst hat 1674 die erste pietistische Neubearbeitung von Arndts „Wahrem Christentum“ herausgegeben, vermehrt um Anmerkungen zum Nachweis der Rechtgläubigkeit des verehrten Lehrers; vgl. Martin Brecht: Philipp Jakob Spener und das Wahre Christentum. In: Pietismus und Neuzeit 4 (1979), S. 119–154, sowie Philipp Jakob Spener : Briefe aus der Frankfurter Zeit, 1666–1686, Bd. 1: 1666–1674. Hg. von Johannes Wallmann, Tübingen 1992, S. 751 f., 810. 27 [Johann Arndt:] Des Geist= und Trost=reichen Lehrers / Sel. Johann Arndts […] Sechs Bücher Vom Wahren Christenthum, […] Nebst dem Paradies=Gärtlein. […] Mit einer Vorrede Herrn D. Joachim Langens, Erfurt 1736, [vor S. 263]. Die beschriebenen Haupt-Kupfer sind dem 1. Buch, S. [45], und dem 2. Buch, [nach S. 222], vorangestellt, die Erläuterungen dem 7. Kapitel des 2. Buchs [vor S. 263], mit einer Gegenüberstellung der konträren Eigenschaften und Attribute von „Adam“ und „Christus“: als der „Alte Mensch. //Neue Mensch. […] Natürl. Mensch //Geistl. Mensch. Irdisches Bild //Himmlisches Bild“ (ebd., S. 263). Als Adaption aus-
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Vielmehr war schon die Quintessenz des 1. Buches, „Liber Scripturae“, „Wie in einem wahren Christen der alte Adam sterben, Christus aber in ihm leben soll: und wie er nach dem Bilde GOttes täglich erneuert werden, und in der neuen Geburt leben müsse.“28 Nach dem „Liber Vitae, Christus“ folgte ein „Liber Conscientiae“, das, als Wirkung der Einwohnung des Gottessohnes, „ein göttliches, innerliches Licht der Seelen“ als Offenbarungsquelle neben das verkündete Gotteswort der Bibel stellte.29 Durch Christi „inwendiges Einsprechen und Reden“ wird also das Glaubenszeugnis durch ein inspiratives Moment ergänzt: „erstlich die heilige Schrift, darnach die Erfahrung.“30 Von Luther war dergleichen kaum abzuleiten – es sei denn aus seiner von den Pietisten bevorzugt zitierten Vorrede zum Römerbrief von 1522, wo auch schon von der Erfahrung in „des hertzen grund“ die Rede war : Aber glawb ist eyn gotlich werck ynn vns / das vns wandelt vnd new gepirt aus Gott / Johan. 1 vnd todtet den alten Adam / macht vns gantz ander menschen von hertz / mut / synn vnd allen krefften / vnd bringet den heyligen geyst mit sich / O es ist eyn lebendig / schefftig / thettig / mechtig ding vmb den glawben / das vnmuglich ist / das er nicht on vnterlas solt gutts wircken / Er fraget auch nicht / ob gutte werck zu thun sind / sondern ehe man fragt / hat er sie than / vnd ist ymer ymthun.31
Philipp Jacob Spener aber, der ,Vater des Pietismus‘ und Arndt-Leser seit Kindertagen, nimmt den Ton in seiner (bezeichnenderweise zuerst als Vorrede zu Arndts Postilla publizierten) Programmschrift Pia Desideria von 1675, der ,Geburtsurkunde‘ der neuen Richtung, mit der ihm eigenen Vorsicht für die Unterscheidung des „göttlichen und menschlichen glauben“ bloß dadurch auf, daß er für das „Christus in nobis“ und die daraus folgenden guten Werke
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ländischer katholischer Vorbilder gewinnen die Herzembleme mit Bildern der Innewohnung Christi reiche Tradition im Pietismus: von Johanna Eleonora Petersen: I.N.J. Hertzens=Gespräch Mit GOTT, Frankfurt und Leipzig, 2. Aufl. 1694 (1. Aufl. 1687), S. 137–192 (nach Benedikt Haeftens „Schola Cordis“ von 1629, vgl. Petersen-Emblempictura 9 [„Iesus regieret das Hertz“] und Pictura 10 [„Iesus lehret im Hertzen“]), bis hin zu dem in 26 Sprachen übersetzten und noch heute als Erbauungsbuch neu aufgelegten, erstmals 1812 erschienenen neupietistischen Traktat von Johannes [Evangelista] Goßner: Das Herz des Menschen ein Tempel Gottes oder eine Werkstätte Satans: In zehn Sinnbildern dargestellt und erklärt, Lahr-Dinglingen, 49. Aufl. 1994 (Glaube und Vertrauen, Bd. 18505), mit der Gegenüberstellung des Weltstandes (Satan im Herzen) und des Gnadenstandes (Dreieinigkeit im Herzen) in Bild 1 und 5 (ebd., S. 9, 23) auf der Grundlage eines aus französischer Vorlage adaptierten katholischen Erbauungsbuchs, das unter dem Titel „Geistlicher Sittenspiegel“ 1732 in Würzburg erschienen war. – Alle hier und im folgenden (in Kursive) wiedergegebenen Hervorhebungen sind im zitierten Original (meist durch Fettdruck) vorgegeben. Arndt in der Ausgabe Joachim Langes von 1736 (wie Anm. 27), Vorspann, S. 43 und Buch-Titel vor Text-Seite 1. Ebd., Vorspann, S. 43.; Buch-Titel, S. 549. Ebd., S. 609, 263. Martin Luther : VORRHEDE AUFF DIE EPISTEL SANCT PAULUS ZU DEN ROMERN. In: Das Newe Testament Deütsch, Wittenberg 1522. Neudruck hg. von Gustav Kawerau und Otto Reichert, Berlin 1918, Bog. 22/7v (= WA. DB 7, 10,6–12).
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Abb. 1: Die Mortifikation des alten Adam und die Neugeburt Christi im Herzen. Hauptkupfer zum Ersten Buch. In: Johann Arndt: Sechs Bücher vom Wahren Christenthum, hg. von Joachim Lange, Erfurt 1736 (vgl. Anm. 27)
zuerst die Römerbrief-Vorrede und dann das Wahre Christentum zitiert.32 August Hermann Francke, sein wirkungsreicher Popularisator, wird dagegen expliziter : „Christum in der Schrifft finden / ist köstlicher / aber noch köstlicher ist es ihn finden in seinem Hertzen / […] ja sonst findet auch niemand Christum recht und in der Wahrheit in der Schrifft / er finde ihn denn auch in 32 Spener: Pia Desideria (wie Anm. 2), S. 33–36; vgl. den Tugendkatalog in der Vorrede, ebd., S. 7 f.
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Abb. 2 und 3: Allegorie des Weltzustandes (die Satansrotte im Herzen) und des Gnadenstandes (die göttliche Dreieinigkeit im Herzen). In: Johannes Evangelista Goßner : Das Herz des Menschen ein Tempel Gottes oder eine Werkstätte Satans, 45. Neuaufl., Lahr-Dinglingen 1990 (vgl. Anm. 27)
seinem Hertzen.“33 Und die ,Berleburger Bibel‘ spitzt den Gedanken über den erkenntnistheoretischen Aspekt hinaus auch noch einmal mystisch-psychagogisch zu: im Hinblick auf Nachfolge, Anähnlichung, Wiedergeburt und Teilhabe an der göttlichen Natur (Abb. 2 und 3). Im Kommentar zu Röm. 8,4 heißt es: Christus in uns erfüllet den Sinn oder Willen GOttes. Dieser Wille aber ist, daß wir heilig und geistlich seyn sollen, wie er selbst ist. Dazu ist der Sohn Gottes in unser Fleisch gekommen […]. Christus […] erfüllet in uns das Gesetz, und schaffet ein neu
33 August Hermann Francke: Christus der Kern Heiliger Schrifft […], Halle 1702, S. 430.
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Hertz […]: und wer Christum […] nicht in sich hat, der hat nichts wahrhaftiges, wenn er noch so viel von Gott, Christö und der ewigen Erlösung, reden könte.34
Und in der von den Orthodoxen besonders inkriminierten Auslegung über das „göttlicher Natur theilhafftig werden“ in 2Petr 1,4: Das ist des Menschen völlige Vollkommenheit in diesem Leben […], also mit GOtt vereiniget zu werden, daß die gantze Seele mit allen ihren Kräfften in GOtt gelencket, gezogen und gantz versencket sey, ja daß sie ein einiger Geist mit GOtt sey, an nichts gedenke als an GOtt, nichts empfinde und verstehe als GOtt […]. Die Seligkeit ist nichts anders als eine wesendliche Einverleibung Christi und mit Christo der Gottheit in uns, und unser in Christum und durch ihn in GOtt, da Christus uns gantz und gar durchdringet, und unserer Seelen seine Eigenschafften wesendlich und wahrhafftig mittheilet. […] Der gantze Grund solcher grossen Herrlichkeit der Glaubigen liegt 34 Die Heilige Schrift Altes und Neues Testaments / Nach dem Grund=Text aufs neue übersehen und übersetzet: Nebst einiger Erklärung des buchstäblichen Sinnes / Wie auch der fürnehmsten Fürbildern und Weissagungen von Christo und seinem Reich […]. 8 Bde., Berleburg 1726–1742 (fortan abgekürzt: ,Berleburger Bibel‘); das Zitat aus Bd. 6, 1737, S. 257.
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also in der Inwohnung und Gemeinschafft des Herrn Christi in ihnen. […] Einem wahren Christen ists allein um die neue göttliche Natur zu thun […], weil man in der neuen Geburt allein zu GOtt kommen kan. Darum ist diese das Hauptwerck und das alleinige Ziel eines Christen.35
Wenn Christus das Gesetz „in uns“ (und also nicht allein am Kreuz) erfüllt, dann wird dabei deutlich, mögen auch die Erweckten „immer sich auff den Christum in sich / so wol als den für sich / beruffen“,36 daß in der pietistischen praxis pietatis das „in nobis“ mit seiner gute Werke wirkenden vita activa vor dem „pro nobis“ deutlich voransteht: woraus zu sehen / wie die Menschen sich betrügen / die ihr Vertrauen setzen auff Christi Leiden / Gehorsam / Verleugnung / Gerechtigkeit / Heiligkeit / außer ihnen / ohne daß Christi Leiden / Gehorsam / Verleugnung / Heiligkeit / in ihnen vollbracht werde. Röm 8/4.37
Sieht man einmal ab von diesem schon erwähnten Aspekt der Satisfaktionslehre, lassen sich in den Aussagen über den „Christus in uns“ bei den pietistisch Erweckten zwei Argumentationsstränge unterscheiden: Der eine betrifft die aus Jesu Einwohnung resultierende Wirkung auf die individuelle praxis pietatis, die Vervollkommnung der Seele und den innerlichen Gottesdienst. Die andere bezieht sich auf die im Herzen empfangene Erleuchtung und besondere Offenbarung. Geistesgeschichtlich eingeordnet, weist das erste, prozeßhaft zur Einswerdung verlaufende Modell zurück in die Mystik, deren vorerst letzte Hochblüte im Christentum der Pietismus hervorgebracht hat. Das andere dagegen, das revelatorische und prophetische, weist über die Grenzen der Säkularisation hinweg voraus auf das Inspirationsdenken der Goethezeit und der Romantik: die Erfahrung nämlich einer aus dem Kraftzentrum des eigenen Inneren hervorströmenden Produktivität, Rede- und Formgewalt, die von allen Mustern, Satzungen und Regeln freimacht. Für die Vervollkommnung der Seele und den inneren Gottesdienst wird Jesus als Wegeleiter, Helfer in Verirrungen und Anfechtungen, als Geburtshelfer zum Gnadenstand, dann aber als der gefundene und festgehaltene Seelenbräutigam erfahren. Er zerschmelzt das weltlich harte Herz und befreit es von allen Schlacken, so daß es seinem Bilde gleich und der Unio würdig wird: Solches wird auf das kurtzprüfende Leiden / welches sein Feuer der Schmeltzung nur macht / 35 ,Berleburger Bibel‘, Bd. 7, 1739, S. 155 f. Daß 2Petr. 1,3 diese göttliche Kraft „durch die innere Erkenntniß“ offenbart sieht, wie man die Stelle übersetzte, wird mit einem Seitenhieb auf die geistdämpfende Orthodoxie kommentiert: „Durch die innere Erkenntniß] Die hält man aber vor fanatisch, oder doch mystisch und verdächtig, woraus gleichwol allein ein rechter Gottgelehrter und wahre Erleuchtung entstehet“ (ebd.). 36 Reitz: Historie Der Wiedergebohrnen (1982, L 2), Bd. 2, Teil V, Idstein 1717, S. 276. 37 Ebd., S. 75.
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bringen uns grosse und ewige Freuden / wann nun sein Bild an uns völlig erwacht / weil Er mit deme sich gänztlich vertraut / als seiner aus Ihm erbaueten Braut. Jesu! laß in mir dein Schmeltzen fortgehen zu meiner völligen Läuterung hier / daß ich dann in nur dein Bildniß auch sehen möge / aufgehen / und brechen herfür / nach und nach in seinem völligen Glantz und mich darinnen vereinget dir gantz.38
Er ist „der Heyland als der Durchbrecher“39 und geleitet seinen Jünger durch alle Leiden der Nachfolge. In einer Biographie heißt es: Denn da er das lebendige Wort Gottes in seiner Seele empfangen hatte / und aus diesem unvergänglichen Saamen neu=geboren / und also ein Kind GOttes worden / und darauff […] gelästert und verfolget und gecreutziget / ja auch mit Christo zur Hölle gefahren war ; so konte er auch mit Christo / durch eine höhere Verwaltung des Geistes / aufferstehen und gen Himmel fahren / und von einer Krafft und Klarheit zur andern steigen /
so daß sein „Hertz zum Tempel“ werden konnte, „darin der HErr JEsus das Abendmahl mit ihm hielte“.40 Das „Hertzens=Leben“ als der wahre Gottesdienst kann nach Gerhard Tersteegen nur „durch Sterben und Lieben gründlich erkannt und erfahren“ werden, über die Mortifikation zur Unio im Herzen und Teilhabe am göttlichen Wesen: „GOtt ladet uns ein zu seiner Liebes=Gemeinschafft. Er will unsern Geist ihm zur Wohnung und Tempel bereiten, da sollen wir im innern Heiligthum schauen seine schöne Gottesdienste.“41 Johann Friedrich Rock gibt dem Teilhabegedanken poetische Form im Bild eines Liebestauschs: 38 Fünfte und sechste Strophe des Liedes „JEsus Ein Schmeltzer Unsrer Seelen“ aus dem Gesangbuch für die Inspirationsgemeinde [von Eberhard Ludwig Gruber]: J.J.J. JEsus-Lieder für seine Glieder […], III. Teil: Weitere JEsus-Lieder Für seine Glieder, o.O. 1725, S. 35. In diesen Liedern bilden die sechs Strophenanfänge eines jeden Liedes als Akrostichon den Namen Jesus (mit Summation in der letzten Strophe), der auch das erste Wort und die Akrostichon-Summa jeder Überschrift darstellt. 39 Aus der Biographie der in ihrer Imitatio Christi bis zum voluntaristischen Nachsterben am Karfreitag gelangten vertrauten Korrespondentin Speners, Elisabeth Kißner: Reitz: Historie Der Wiedergebohrnen (1982, L 2), Bd. 1, Teil III, [Offenbach] 1701, S. 166. 40 Aus der Biographie des Schneidergesellen und französischen R8fugi8 Wernerus: Reitz: Historie Der Wiedergebohrnen (1982, L 2), Bd. 2, Teil IV, Idstein 1716, S. 150 f. 41 Aus einem Brief Tersteegens vom 9. 12. 1735, abgedruckt unter dem Titel „Von der wahren Beschaffenheit und Nutzen der sogenannten Mystick“ in: Geistliche Fama, Bd. 3, 29. Stück, [Berleburg] 1743, S. 56. Der Passus fehlt in der Abschrift („Kurzer Bericht von der Mystik“), die in Gerhard Tersteegen: Abhandlungen zu Frömmigkeit und Theologie. Hg. von Johannes Burkardt, Leipzig 2018 (Edition Pietismustexte, Bd. 12), S. 260–269, 306 ediert und kommentiert ist.
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Abb. 4: Der Heiland als Leiter für den Aufstieg zur Vervollkommnung: Staffeln der Nachfolge zum Aufgehen in der Einheit mit Gott. In: Daniel Wille: In das Wort der Wahrheit verschantzete […] Rätzel, o.O. 1736 HErr JEsu! werde Mensch in mir/ Daß ich vergöttert werd in dir, So wirst du Mensch, und ich werd GOtt, Und ist der Feind zu Schand und Spott.
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So bin ich in dir wiederbracht Zu GOttes Ebenbild gemacht […].42
Teilhabe- und Unio-Erfahrung können auch in den überkommenen Metaphern der Braut- oder Wundenmystik vorgetragen werden: Das „chercher Dieu dans le Cœur“43 wird oft in den Termini des Hohelieds beschrieben. In der ganzen Welt suchte man den Heiland vergeblich, jedoch: Drauff wandte ich stracks in mich ein / Sucht ihn in meinem Hertzen. Da ward gewendet meine Pein / Und abgekürtzt die Schmertzen: Ich fand den Liebsten meiner Seelen Im Innersten der Hertzens=Hölen.44
Besonders in der zum Herrnhutertum führenden Tradition wird die Unio als „Hochzeit des Lammes“ (Apk. 19,7) erotisch ausgemalt – bisweilen sublimierend als Ausblick in die Ewigkeit, Wo ich mit GOttes Lamme / Auf unsern Hochzeit Tag / In reiner Liebes=Flamme Mich ewig küssen mag! […] Da du mich wirst vergnügen / Mein Seelen=Bräutigam Und mir in Armen liegen Als mein geliebtes Lamm!45
Oder als Einkehr in die Wundmale Christi: SO ruh ich denn getrost, mein Heil! in deinen Wunden, die du mir heute hast von neuem aufgethan; dein armes Täublein hat die Ritzen wiederfunden, da es für Sturm und Bliz so sicher sitzen kan. Ach laß es nimmer nicht aus dieser Höle treiben, und gib mir Kraft und Lust beständig drinn zu bleiben.46
42 Rocks Gedicht ist in seinem Zyklus „Schluß=Reimen“ abgedruckt in: J.J.J. Aufrichtige und wahrhafftige Extracta Aus dem allgemeinen Diario Der Wahren Inspirations-Gemeinen, XII. Sammlung, o.O. 1751, S. 243. 43 Madame Guyon, in der Originalsprache zitiert in Reitz: Historie Der Wiedergebohrnen (1982, L 2), Bd. 1, Teil III, [Offenbach] 1701, S. 64. 44 Reitz: Historie Der Wiedergebohrnen (1982, L 2), Bd. 2, Teil IV, Idstein 1716, S. 182. 45 Aus der „Aria in concerto, Bey der Beysetzung der Hoch=Gräfl. Leiche“, in: I.N.J. Schwartzburgisches Denckmahl einer Christ=Gräflichen Lammes=Freundin / Nehmlich […] Aemilien Julianen / Gräfin zu Schwartzburg und Hohnstein / gebohrnen Gräfin zu Barby, o. O. [1706], [S. 396]. 46 Johanne Magdalene von Geusau, publiziert bei Benjamin Lindner und Carl Heinrich von Bo-
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Zukunftsweisender, wie gesagt, als diese Spättöne einer geistlichen MinneErotik sind die auf den Topos von Christus als Lehrer und Einsprecher im Herzen gegründeten Auditionen – oder buchstäblich Diktate – einer besonderen Offenbarung, einer aus der Stimme im Herzen empfangenen tieferen Weisheit, als sie alle Buchgelehrsamkeit zu eröffnen vermöchte. „Bey dem Professor der oberen Schul“, dem „gecreutzigten JEsu“ (Abb. 4, S. 128), sollen „gelehrsame / glaubige Hertzen“ ihr „Collegium“ hören, von den Anfängen eines neuen Sprechenlernens, dem „buchstabiren“ der „Canaans Sprach“ an über den christlichen Durchgang durch alle Fakultäten, bis hin zur Theologie, um aus „Bücher=Gewirre und Schulen=Gezäncke“ zu „Weißheit […] / Wesen und Warheit“ zu gelangen: Göttliche Tieffen im Grunde zu wissen Samt den Abgründen der heiligen Schrifft / Könnet ihr diesen Propheten nicht missen / Der die Propheten all weit übertrifft: Was er gesehen und was er gehöret / Weiset er treulich / und nimmer bethöret.47
Wer „wahrhafftig Christum in seinem Hertzen träget“, hat in sich die Gabe, das Wahre vom Falschen zu scheiden, und kann davon Zeugnis ablegen: Ich will lieber sitzen auff der untersten Bank deiner Abc=Schüler / denn auf den hohen Stühlen der Gelehrten dieser Welt. […] HErr! […] dein lieber Sohn JEsus Christus ist in mir offenbahret / und er selbst hat sich selbst in dem Geist in mir entdecket als ein Licht / heller als das Licht der Sonne dieser Welt; in welchem Licht ich alles sehe / kenne / glaube / bekenne.48
Nicht nur enthusiastische neue Propheten, auch zahllose stille Fromme fühlten sich so, wenn sie sich vom Heiland im Herzen „seiner freundlichsten Gespräche […] gewürdiget“ empfanden, gedrungen, ihre inneren Sensationen und Auditionen unter körperlicher Erschütterung willenlos und „in entbundener Freiheit“ der Worte auszusprechen (oft mit bemerkenswerter Sprachkraft): gatzky: Die Offenbarung Der Herrlichkeit Gottes […] An dem Exempel […] Johannen Magdalenen, Freiin von Gersdorf, Salfeld [1745], S. 310. 47 Aus dem „Studenten=Gesang / das ist / Eine Hertzliche Vermahnung an die studirende Jugend / und Anweisung an den rechten Lehrmeister“ als unpaginierter „Nachklang“ in: Theosophia Pneumatica, oder: Geheime GOttes=Lehre / Die Dinge GOttes vortragend Im neuen Wesen / abthuende Das alte Wesen des Buchstabens, [Idstein] 1710. Zu Aufbau, Tendenz und Publikation dieses kryptonym von Johann Friedrich Haug, dem Herausgeber der ,Berleburger Bibel‘, herausgegebenen Werks vgl. Schrader: Literaturproduktion (1989, L 1), S. 171, 456 f. Wiederabdruck und Kommentar in: Pietas et eruditio. Pietistische Texte zum Theologiestudium. Hg. von Klaus vom Orde, Leipzig 2016 (Edition Pietismustexte, Bd. 8), S. 191–197, vgl. S. 284 und 303. 48 Der niederländische „Krancken=Tröster“ Jacob Brill, zitiert in Reitz: Historie Der Wiedergebohrnen (1982, L 2), Bd. 2, Teil IV, Idstein 1716, S. 188.
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Es vermochte aber diese holdselige Lebens=Fluth nicht im Herzen allein zu bleiben, sondern sie brach auch mit Kraft vollen Bächen heraus, […] o wie hüpfte mein Herz mir von sanfter Wollust im Leibe, als ich durch Liebe Christi gedrungen also zu Gott nahete. Was vor Ströme der herzhaftesten Worte flossen aus meinem Munde zu dem Herzen des Vaters, die Immanuel durch die Rührungen seiner Freundlichkeit wirkte […] seinen Ruhm auszubreiten.49
Die weniger Stillen im Lande aber fühlten das „lebendige und innerlich kräftig=wirkende Wort Gottes (Hebr 4/12.13.)“ wie der prophetische Perückenmacher Johann Tennhardt als eine Verkündigung heischende deutliche stimme in sich […] machs ofenbar! Und das setze ich dir zum zeichen / wirst du diß verschweigen / so will ich von dir weichen […] da er aufstehen / nach verrichteten gebet […] an den tisch setzen / und niederschreiben mußte / was ihm durch das innere Wort oder ewige Weisheit eingegeben / oder innerlich vordictieret worden.50
Bei ihm wie bei den vielen der oft aus dem Handwerkerstand stammenden neuen Propheten des radikalen Pietismus, die die innere „Gabe des Wortes“ in sich verspürten, äußerte sich die eingesprochene Rede auch in Versen und Reimen. Das bekannteste dieser – nach eigenem Empfinden – „Werkzeuge“ und „Sprachrohre“ Gottes war das Haupt der radikalpietistischen Inspiriertengemeinde, Johann Friedrich Rock.51 49 Aus einer nur für die eigene Privaterbauung bestimmten „Betrachtung“ des Johann Liborius Zimmermann (1702–1743), publiziert als „Anlage 2“ bei Eduard Jacobs: Johann Liborius Zimmermann und die pietistische Bewegung in Wernigerode, in: Zeitschrift des Harz-Vereins für Geschichte und Altertumskunde 31 (1898), S. 121–226, Zitat S. 220 f. 50 Aus: Kurzgefaßter Lebenslauf […] Johann Tennharts in: Tobias Eisler: Allgemeine und der zeit höchstnohtwendige Seelen=Cur, o.O., 2. Aufl. 1728, S. 218, 220. Äußerst signifikant für die Konzeption eines ins Herz gesprochenen „inneren Wortes“ wandelt das dem Titel vorangestellte Herzemblem mit der Überschrift „Abbildung des menschlichen Herzens nach dem fall / nebst dem darin verborgen liegenden Grossen Geheimniß / welches ist Christus oder das Wort Gottes in uns / nach Col. 1,26.27.“ die traditionellen Sinnbildmuster der Innewohnung (vgl. Anm. 27) im Sinne der johanneischen Logos-Spekulation ab: Eingezeichnet ins Herz ist nicht die Imago Christi, sondern der Begriff „WORT“, bildlos in Kapitalbuchstaben in einer Aureole mitten ins Herz gesetzt und dort umlauert von den allegorischen Sündendarstellungen in Tiergestalt (Pfau, Schlange, Schwein, Bock oder Löwe). Die Umschrift um die Darstellung lautet: „Es ist das WORT sehr nahe bey dir in deinem Mund und in deinem Herzen / daß du es tuhst. 5. Mos. 30/11–14. Röm. 10/6–8.“ Das Bibelzitat folgt also nicht der Übersetzung Luthers, sondern der ,Berleburger Bibel‘. Näheres über den „Gottes=Cancellisten“ Tennhardt bei Friedrich Braun: Joh. Tennhardt. Ein Beitrag zur Geschichte des Pietismus, München 1934 (Einzelarbeiten aus der Kirchengeschichte Bayerns, Bd. 17); zu Tennhardts Hauptwerk „GOTT allein soll die Ehre seyn“ (Idstein 1710) vgl. Schrader: Literaturproduktion (1989, L 1), S. 170–172, 455–457. 51 Über das inspirative Sprachschaffen dieser neuprophetischen Gemeinschaft, namentlich die „Aussprachen“ und Gedichte Rocks, aber auch die Wirkungen auf die Poetologie im Umkreis des Sturm und Drang, vor allem Goethes, vgl. Ulf-Michael Schneider: Propheten der Goethezeit. Sprache, Literatur und Wirkung der Inspirierten, Göttingen 1995 (Palaestra, Bd. 297). Vgl. zu dem hier nur anzudeutenden poetologiegeschichtlichen Aspekt Schrader: Inspirierte Schweizerreisen (2000, L 24), in diesem Band S. 517–546.
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Die Poeten des Sturm und Drang aber, fast alle aus pietistischen Elternhäusern oder Erziehungskontexten, haben sich für ihre ungeplant und regelfrei (also gleichsam heterodox) aus dem Kraftzentrum der eigenen Herzensempfindung hervorbrechenden wilden Dithyramben vielfältig inspiriert am Vorbild dieser Inspirierten. Der junge Goethe, der auch persönlich zu inspirationsgläubigen Kreisen (besonders in der Frankfurter Ärzteschaft) Kontakt unterhielt, hat nicht nur in seinen theologischen Aufsätzen von 1773, dem Brief des Pastors und der Untersuchung Was heißt mit Zungen reden, die aus „einer unmittelbaren Eingebung“ „unaussprechliche Dinge“ kündenden „Würkungen des Heiligen Geistes“ gegen die „schaalen Diskurse“ der „Dogmatick“-Prediger verteidigt.52 „Die göttlichste Empfindung strömt aus der Seel in die Zunge, und flammend verkündigt sie die grosen Thaten Gottes in einer neuen Sprache.“53 Aber der Geist, der Goethe und seine Generation inspirierte, war nicht mehr der zum Herzen redende Christus. Wenn sie sich als neue Schöpfer empfanden, war ihre „Teilhabe an der göttlichen Natur“ nicht mehr theologisch – oder christologisch – bestimmt und begründet. Rückblickend hat Goethe im Alter, in seiner Autobiographie Dichtung und Wahrheit, das enthusiastisch-impulsive, von keiner Verstandeskraft und Kunstregel kontrollierte Zuströmen der poetischen Worte, Bilder und Formen in den Jahren seines ,Sturm und Drang‘ als eine „Naturgabe“ beschrieben, als „mein produktives Talent“, das ihm „ganz eigen angehöre und durch nichts Fremdes weder begünstigt noch gehindert werden könne“54 – also auch nicht ableitbar war von einer metaphysischen Instanz. Es verließ mich seit einigen Jahren keinen Augenblick; was ich wachend am Tage gewahr wurde, bildete sich sogar öfters Nachts in regelmäßige Träume, und wie ich die Augen aufthat, erschien mir entweder ein wunderliches neues Ganze, oder der Theil eines schon Vorhandenen. Gewöhnlich schrieb ich alles zur frühsten Tageszeit […].55 Die Ausübung dieser Dichtergabe konnte zwar durch Veranlassung erregt und bestimmt werden; aber am freudigsten und reichlichsten trat sie unwillkürlich, ja wider Willen hervor. […] Auch bei’m nächtlichen Erwachen trat derselbe Fall ein, […] daß ich einigemal an den Pult rannte und mir nicht die Zeit nahm, einen quer liegenden Bogen zurecht zu rücken, sondern das Gedicht von Anfang bis zu Ende, ohne mich von der Stelle zu rühren, in der Diagonale herunterschrieb. In eben diesem Sinne griff ich weit lieber zu dem Bleistift […]: denn es war mir einigemal begegnet, daß das Schnarren und Spritzen 52 Johann Wolfgang Goethe: Brief des Pastors zu *** an den neuen Pastor zu ***. In: Der junge Goethe. Hg. von Hanna Fischer-Lamberg. Bd. 3, Berlin 1966, S. 114 f. 53 Johann Wolfgang Goethe: Zwo wichtige bisher unerörterte Biblische Fragen zum erstenmal gründlich beantwortet von einem Landgeistlichen in Schwaben. Andere Frage: Was heißt mit Zungen reden? Ebd., S. 122. 54 Johann Wolfgang von Goethe: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit, III. Teil, 15. Buch: Goethes Werke (WA), I. Abt. Bd. 28, Weimar 1890 (dtv-Nachdruck, München 1987, Bd. 32), S. 311. 55 Ebd.
,Poetische‘ Aspekte der pietistischen Christologie
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der Feder mich aus meinem nachtwandlerischen Dichten aufweckte, mich zerstreute und ein kleines Product in der Geburt erstickte. Für solche Poesien hatte ich eine besondere Ehrfurcht […], sie aber gegen Geld umzutauschen schien mir abscheulich.56
Den ihm, weil unerklärlich, doch offenbar auch etwas unheimlich scheinenden Drang, der ihn in der Eile der zuströmenden Worte kaum schnell genug ein Schreibgerät finden und die Verse aufs Papier bringen ließ, vermochte der noch unter dieser Erfahrung stehende junge Dichter schon 1774, ein Jahr nach dem Pastor- und Glossolalie-Aufsatz, im Jahr also des Werther, des König von Thule und Schwager Kronos, in holprigen Knittelversen selbstironisch auf Abstand zu rücken: Um Mitternacht wohl fang ich an Spring aus dem Bette wie ein Toller, Nie war mein Busen seelenvoller Zu singen […] Und hab ich gleich die Gabe nicht Von wohlgeschliffnen leichten Reimen; So darf ich doch mich nicht versäumen Denn es ist Drang und so ist’s Pflicht […] Und ich[,] mir fehlt zur Nacht der Kiel[,] Ergreiff wohl einen Besenstiel. Drum hör’ es denn wenn dir’s beliebt So kauderwelsch wie mir der Geist es giebt.57
Aber ein solcher Bewältigungs-Spott folgt doch – freilich schon ganz ohne den Hintergrund einer christologischen Begründung – noch demselben Argumentationsschema, mit dem bereits der Hallesche Pietist Ernst Gottlieb Woltersdorf in der Vorrede zu seinem Liederbuch von 1750 den Drang beschrieben hatte, sein „Gemüt in Versen zu ergießen“, um seine Lieder dem spendenden Herzensbräutigam zuzueignen. Gleich machtvoll und gleich unaufhaltsam trieb hier wie dort das innere Wort: „Manchesmal konnte die Feder dem schnellen Zuflusse nicht einmal folgen.“58
56 Ebd., IV. Teil, 16. Buch: I. Abt. Bd. 29, Weimar 1891 (dtv-Nachdr., Bd. 33), S. 14 f. 57 Johann Wolfgang Goethe: Des ewigen Juden, erster Fetzen. In: Der junge Goethe. Hg. von Hanna Fischer-Lamberg. Bd. 4, Berlin 1968, 95. Symptomatisch ist immerhin, dass Goethe noch im selben Jahr 1774 eng mit quietistischen Mystikerkreisen zusammengearbeitet, Aufträge für sie ausgeführt und sich mit den von ihnen zugesandten Schriften der Madame Guyon auseinandergesetzt hat. Vgl. dazu jetzt die umfängliche Recherche dieser Zusammenhänge bei Schrader: Goethes Verbindung zum mystischen Quietismus (2017, L 57). 58 Zuschrift und Vorrede des Gesangbuchs von Ernst Gottlieb Woltersdorf: Neue Lieder oder evangelische Psalmen, Berlin, 2. Aufl. 1767 (1. Aufl. 1750), S. 35 f.; umfassender zitiert und interpretiert bei Wolfgang Schmitt: Die pietistische Kritik der „Künste“. Untersuchungen über die Entstehung einer neuen Kunstauffassung im 18. Jahrhundert. Diss. phil., Köln 1958, S. 42.
Feindliche Geschwister? Der Pietismus als Widersacher und Weggefährte der Aufklärung. Sachverhalte und Forschungslage* [2013, L 49]
I. Für unser kulturhistorisches Epochenraster ist die Aufklärung zweifellos die prägende Signatur des 18. Jahrhunderts. Mit diesem Lichtbegriff verbinden wir die entscheidenden Innovationen, die in Europa aus den höfisch-dynastisch und klerikal dominierten Strukturen der Barockgesellschaft hinüberführen in eine Sphäre geistig und schrittweise auch politisch selbstbestimmter Citoyens. Das Individuum sieht sich der schönen Theorie zufolge kraft eigener Vernunft und Einsicht von unhinterfragbaren Dogmen und Autoritäten freigesetzt. Es bleibt, auch zur Erringung der eigenen Glückseligkeit, nur mehr den Postulaten der Tugend und des allgemeinen Wohlergehens unterworfen. Den Siegeszug dieser Ideen markieren die in der Französischen Revolution gipfelnde schrittweise Überwindung des Ancien R8gime, im sich aus kolonialer Fremdbestimmung loswindenden Nordamerika die Declaration of Independence und schließlich die Declaration of Human Rights. Aus ihnen entspringen die Überwindung verjährt-barbarischer Vorurteile, die Sklavenund die Bauernbefreiung, die bürgerliche Rechtsgleichheit für die noch immer einschränkendem Sonderrecht unterworfenen Juden, schrittweise Reduktionen von Prärogativen des Adels und des Klerus, damit die staatliche Zivilstandsverwaltung, schließlich Zensus- und Heeresreformen, Progresse auch im Rechts-, Bildungs- und Gesellschaftsstatus der Frau. Wie widersprüchlich, phasenverschoben und rückschlag-bedroht diese Entwicklungen auch abgelaufen sind: Ihre weltverwandelnde Kraft und auch ihre Grundlegung für die Ordnungsstrukturen der Moderne stehen außer Frage. Aufklärung, Enlightenment, LumiHres – zumindest von der Idee und von den Leitbegriffen her ist dies ein Weg aus der Dunkelheit und selbstverschuldeten Unmündigkeit in die * Eröffnungsbeitrag zur Gastvortragsreihe „Perspektiven der Aufklärungsforschung“ des Frühneuzeitzentrums der Universität Potsdam am 21. Oktober 2010. Zur redaktionellen Vereinheitlichung des Sammelbands von dieser Reihe: Epoche und Projekt. Perspektiven der Aufklärungsforschung. Hg. von Stefanie Stockhorst, Göttingen 2013 (Das achtzehnte Jahrhundert. Supplementa, Bd.17) wurden bei Erstnennung der historischen Persönlichkeiten deren Lebensdaten eingefügt.
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Feindliche Geschwister?
Klarheit des lichten Tags geistiger, gesellschaftlicher, ja selbst moralischer Autonomie, auf die wir heute unsere Position in der Welt zu gründen belieben. Ganz ohne Frage sind diese lichtverheißenden Selbstbezeichnungen der Aufklärer, bei aller produktiven Verwandlungskraft, die ihren Zielvorgaben innewohnte, zunächst einmal ideologische Setzungen. Vor ihnen und nach ihnen haben andere Erneuerer ihre Heilsversprechungen in dieselbe Illuminationsmetaphorik gekleidet. Unser Genfer Wappen mit dem Schriftzug „Post tenebras lux“ beispielsweise trägt schon dieselbe Botschaft für die Herausführung aus den vermeintlichen Dunkelmannshöhlen von Mittelalter und Katholizismus auf die versprochenen Lichteshöhen der Reformation in der Erscheinungsform des Calvinismus.1 Und nächst dem in Frankreich alle „enfants de la patrie“ zu den Waffen rufenden Weckruf der Marseillaise, „le jour de gloire est arriv8“, und in Deutschland der Farbsymbolik des schwarzrot-goldenen Banners in den Befreiungskriegen, der nationalen Studentenbewegung und der Revolution von 1848, „Aus finstrer Nacht durch Blut und Tod zur goldenen Sonne der Freiheit“,2 bedient sich auch die Zukunftsprojektion der marxistischen Internationale, „dann scheint die Sonn ohn Unterlass“,3 und das Revolutionslied „Brüder, zur Sonne, zur Freiheit, Brüder zum Lichte empor!“4 im Blick auf eine klassenlose Gesellschaft in ewigem Frieden derselben Lichtbringerchiffre. Wir wissen, dass da jeweils in Blutopfern und Intoleranz mancherlei Schattenseiten nachfolgten. Der Berliner Pfarrer Johann Friedrich Zöllner (1753–1804) hat die der Chiffre innewohnende Gefahr eines ideologischen Missbrauchs zuerst in der literarischen Lieblingsform der Aufklärung, einer Fabel, vor Augen geführt. Er war es ja 1 Daran erinnern die neben den Adler als Signal der (bis 1648) formellen Reichszugehörigkeit ins Wappen gesetzten Kirchenschlüssel Calvins (1509–1564) (,Clef de Saint-Pierre‘) und das bekrönende Jesus-Monogramm. 2 In den Befreiungskriegen gegen Napoleon hatten die Farben des mittelalterlichen Reichsbanners wohl zuerst 1813 im Freikorps der Lützowschen Jäger die Bedeutung eines gesamtnationalen Freiheitsappells gewonnen: „Von schwarzer Nacht durch rotes Blut der goldenen Sonne entgegen“. Von da werden sie rasch allgemein zum Signal des nationalen Protests: „Aus der Schwärze der Knechtschaft durch blutige Schlachten ans goldene Licht der Freiheit“. Wilhelm Hauff (1802–1827) („Die Seniade“, 1825) nimmt die Symbolik auf: „Die schwarze Nacht muß sinken, j Ein Morgenrot erblinken, j Schon bricht sein goldner Strahl hervor mit Kraft […]!“ Vgl. (mit zahlreichen Literaturangaben) den Wikipedia-Artikel „Schwarz-Rot-Gold“ im Internet. Die von den Studenten des Hambacher Fests im großen Stil verwendete Fahne wird dann am 9. März 1848 von der Frankfurter Bundesversammlung als Fahne des Deutschen Bundes angenommen, Ferdinand Freiligrath (1810–1876) dichtet als Refrain seines Lieds „In Kümmernis und Dunkelheit“ (1848): „Pulver ist schwarz, j Blut ist rot, j Golden flackert die Flamme!“. Die Deutsche Revolution 1848/49 in Augenzeugenberichten. Hg. von Hans Jessen, München 1973 (dtv, Bd. 927), S. 43 f. 3 „Wacht auf, Verdammte dieser Erde“, Die Internationale. Text von EugHne Pottier, deutsch von Emil Luckhardt. In: Seid bereit! Liederbuch der Thälmann-Pioniere, Leipzig, 5. Aufl. [1973], S. 12 f., aufgenommen im Schlussausblick der DDR-Nationalhymne Johannes R. Bechers (1891–1958) – „Auferstanden aus Ruinen“ (1949) – wenn „die Sonne, schön wie nie j über Deutschland scheint […].“ (ebd., S. 7 f.). 4 Deutscher Text von Hermann Scherchen nach dem Russischen von Leonid P. Radin (ebd., S. 18).
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gewesen, der im Dezember 1783 in der Berlinischen Monatsschrift, dem bedeutsamsten Organ der aufklärerischen Theoriediskussion, die entscheidende Frage gestellt hatte, die dann erst am Ende des Aufklärungsjahrhunderts in derselben Zeitschrift die programmatischen Reflexionen zu begrifflicher Definition des längst zum unscharfen Modewort gewordenen Terminus ausgelöst hatte. Mit seiner fettgedruckten Fußnote „Was ist Aufklärung?“ hatte er bekanntlich Kants (1724–1804) und Mendelssohns (1729–1786) große Essays zur Begriffsbestimmung ausgelöst.5 Am selben Ort hat Zöllner seine Frage auch in artige Fabelverse gekleidet: Der Affe. Ein Fabelchen. Ein Affe stekt’ einst einen Hain Von Zedern nachts in Brand, Und freute sich dann ungemein, Als er’s so helle fand. „Kommt Brüder, seht, was ich vermag; Ich, – ich verwandle Nacht in Tag!“ Die Brüder kamen groß und klein, Bewunderten den Glanz Und alle fingen an zu schrein: Hoch lebe Bruder Hans: „Hans Affe ist des Nachruhms werth, Er hat die Gegend aufgeklärt.“6
Die enttäuschende Einsicht, dass die ihre Führerschaft zu Sonne, Licht und Freiheit Anbietenden dem Aufklärungsverlangen der eigenen Gefolgschaft meist enge Grenzen zu setzen pflegen, hat in der DDR Reiner Kunze (*1933) im Jahr 1969 nochmals in Fabelform gefasst: 5 Johann Friedrich Zöllner: Ist es rathsam, das Ehebündniß nicht ferner durch die Religion zu sanciren? In: Berlinische Monatsschrift 2 (1783), S. 508–517, Fußnote S. 516; faksimiliert in: Was ist Aufklärung. Beiträge aus der Berlinischen Monatsschrift. In Zusammenarbeit mit Michael Albrecht hg. von Norbert Hinske, Darmstadt, 4., um ein Nachwort erw. Aufl. 1990, S. 107–116, Fußnote S. 115. Vgl. Norbert Hinske: Einleitung. In: ebd., S. XIII–LXIX, hier S. XXXVII–LVII. 6 Ebd. H. 4 (1787), S. 480, faksimiliert ebd., S. 370, Komm. mit Auflösung der Verfasser-Sigle S. 505. Dazu auch: Berlinische Monatsschrift (1783–1796). Hg. von Friedrich Gedike und Johann Erich Biester. Auswahl von Peter Weber (mit Nachwort: Die „Berlinische Monatsschrift“ als Organ der Aufklärung, S. 356–452), Leipzig 1985 (Reclams Universal-Bibliothek, Bd. 1121). – Vgl. Mendelssohns „Über die Frage: was heißt aufklären?“ (1784) und Kants „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?“(1784) in: Was ist Aufklärung. Thesen und Definitionen. Hg. von Ehrhard Bahr, Stuttgart 1974 (Reclams Universal-Bibliothek, Bd. 9714), S. 3–17. Sowohl der Anstoß Zöllners als auch die programmatisch verwendete Licht- und Klarheitsmetaphorik stehen auch im Zentrum der Einführung von Peter-Andr8 Alt: Aufklärung. Lehrbuch Germanistik, Stuttgart – Weimar1996, S. 1–7.
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Feindliche Geschwister? Das Ende der Kunst Du darfst nicht, sagte die eule zum auerhahn, du darfst nicht die sonne besingen Die sonne ist nicht wichtig Der auerhahn nahm Die sonne aus seinem gedicht Du bist ein künstler, sagte die eule zum auerhahn Und es war schön finster.7
Inwieweit dreihundert Jahre nach dem hoffnungsreich beschworenen Siegeszug der Aufklärung die nachfolgebereite Menschheit zu autonomem Selbstdenken gelangt ist, darüber kann man mit Blick auf die immer verpflichtender werdenden Moden und Tabus heutiger Eventkultur, auf den veranstalteten, auf den allerfassenden Massenwahn sportlicher, politischer oder kirchlicher Großveranstaltungen, der Street- oder Loveparades besser ebenso nur schweigen wie über die im Namen der ,political correctness‘ unhinterfragbaren Integrationen von nicht durch die Aufklärung gegangenen bzw. offen antiaufklärerischen Kulturmodellen und die Rituale zur Bewältigung allfälliger Pannen.
II. Ich möchte hier aber nicht in Reflexionen über die ebenfalls modisch vielbeschworene Dialektik der Aufklärung und die ihr selbst innewohnenden Ambivalenzen eintreten. Mir geht es vielmehr um die Analyse der historischen Gegebenheiten und Entwicklungen in den deutschsprachigen Ländern jener Epoche, die wir als ,Zeitalter der Aufklärung‘ bezeichnen. Da nämlich muss man konstatieren, dass die Aufklärung für die Bevölkerungsmehrheit keineswegs die dominante Signatur dieses Zeitabschnitts gewesen ist und dass ihre geschichtlichen, vor allem auch geistesgeschichtlichen Folgewirkungen fast durchgängig vermittelt und durchwirkt waren durch eine weit komplexere Gemengelage – dass sie deshalb hierzulande auch so andere Ergebnisse gezeitigt hat als etwa in Frankreich oder Großbritannien. Grundlage ist für die noch fraglos kirchlich-religiöse Ausprägung der Gesellschaft die konfessionelle Spaltung im multiterritorialen deutschen Sprachraum. Nur in groben Linien kann ich dies in Erinnerung rufen. Das für das Reich im Augsburger Religionsfrieden 1555 festgeschriebene landesherrliche Kirchenregiment war nach den leidvoll-blutigen wechselvollen Zwangsbekehrungen im Dreißigjährigen Krieg durch den Westfälischen Frieden von 1648 hinsichtlich der Verfügungsgewalt der Landesherren über 7 Reiner Kunze: gedichte, Frankfurt am Main 2001, 3. Aufl. 2007, S. 51.
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Bekenntnis und Glauben der Untertanen insoweit eingeschränkt worden, als mit der Festsetzung des ,Normaljahrs‘ 1624 für den zu erhaltenden Konfessionsstatus eines Landes die Unterwerfung der Bevölkerung unter den Glauben eines etwa durch Herrschafts- oder Glaubenswechsel anderskonfessionellen Souveräns nicht mehr statthaft blieb.8 Im dadurch entstehenden konfessionalistischen mehr noch als ohnehin territorialistischen Fleckenteppich war der süddeutsch-österreichische Raum dominant katholisch, der norddeutsche mit Verlängerungen im Westen nach Schwaben, Baden und in die Schweiz protestantisch, sei es lutherisch oder reformiert. Im altgläubigkatholischen Bereich, namentlich in Bayern, im kaiserlichen Österreich und in der Urschweiz, setzte die Aufklärung – mit partiell ganz anderem Gesicht und anderen Folgen – wenigstens zwei Generationen später ein als in den protestantischen Territorien im Norden, Westen und Südwesten, unter denen Brandenburg-Preußen zur neuen Großmacht heranwuchs. Gleiches gilt auch für die schöne Literatur Österreichs und der Schweiz, die somit auch die denkund geschmackwendenden irrationalistischen Gegenreaktionen des Sturm und Drang und dann der Romantik gegen platte Vernünftelei und Entzauberung der Welt ebenso wenig oder allenfalls als Marginalphänomene gekannt haben. Wie die Abstraktionen der Klassik konnte die spät durchdringende Aufklärung dann aber weit länger, bis tief ins 19. Jahrhundert hinein, prägend bleiben. Auch im protestantischen Bereich ist die am Ende des Barock oder bald danach sich formierende Aufklärung kaum je in der Breite der Bevölkerung tragend geworden. Hier hatte sich schon durch das ganze 17. Jahrhundert, dem mächtigen Impuls Johann Arndts (1555–1621) – Vier Bücher vom wahren Christentum (erste Gesamtausgabe 1610) – und anderer zunächst vereinzelter Wegbereiter folgend, eine starke Reformbewegung gegen eingerissenen Schlendrian im Kirchenamt, Laxheit in der Seelsorge und unfruchtbare Streittheologie zwischen den Konfessionen entfaltet, die auf eine individuelle, mystisch verinnerlichte Frömmigkeit drängte. Mit Philipp Jacob Speners (1635–1705) schulbildender Programmschrift von 1675, Pia Desideria, fromme Wünsche zu einer grundlegenden Kirchen- und Lebensreform, hatten die zuvor disparaten Erneuerungsanstöße eine sichtbarer gleichartige Ausrichtung bekommen. Der Spottname der Pietisten, der in der Öffentlichkeit den Anhängern der von nun an systematisch, mit planmäßiger Einbeziehung des Territorialadels und im Durchdringen der kirchlichen und akademischen Institutionen ausgebreiteten Bewegung angehängt worden war, 8 Vgl. Instrumenta Pacis Westphalicae. Die Westfälischen Friedensverträge 1648. Vollständiger lateinischer Text mit Übersetzung der wichtigsten Teile und Regesten. Hg. von Konrad Müller, Bern 1949 (Quellen zur neueren Geschichte, Bd. 12/13), S. 46/132 und 47/134; vgl. Christoph Link: Art. ,Annus normalis‘. In: Religion in Geschichte und Gegenwart, 4. völlig neu bearb. Aufl. (nachfolgend: RGG4), Bd. 1, Tübingen 1998, Sp. 510, Carl Andresen und Georg Denzler: Art. ,Westfälischer Friede‘. In: dies.: Wörterbuch der Kirchengeschichte, München 1982 (dtv, Bd. 3245), S. 629 f.
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wurde von ihnen bald als positive Selbstbezeichnung adaptiert.9 Es sollte ja die in ihren Ansätzen steckengebliebene Reformation zu Ende geführt, die Frömmigkeit jedes Einzelnen sowie die Ausrichtung seines Lebens auf Gott intensiviert und die Welt durch Frömmigkeit verwandelt werden. Wie man die recht unterschiedlichen Wegbereiter seit Beginn des 17. Jahrhunderts begrifflich zu fassen hat, darüber besteht in der Forschung heute keine rechte Einigkeit. Arndt hatte die meisten der Spenerschen Ideen schon vorformuliert, die nachfolgend Tonangebenden zeigten aber stark divergierende Ausrichtung zwischen den (Arndts Positionen aufnehmenden) Befürwortern kirchenreformerischer und mystischer Tendenzen – etwa Großgebauer (1627–1661), Lütkemann (1608–1655) oder Heinrich Müller (1631–1675), Propagatoren einer Gemeinschaftsbildung jenseits der Konfessionen wie Paul Felgenhauer (1593–1677), Adepten alten pansophisch-spekulativen Denkens, namentlich Jacob Böhme (1575–1624), Aufnahme linksreformatorischer, schroff antikirchlicher, aber auch herrschaftskritischer Ideen wie die unduldsamen Bußrufer im Gefolge der Wirrnisse des Dreißigjährigen Krieges, Christian Hoburg (1607–1675) und Friedrich Breckling (1629–1711).10 Früher hat man die verschiedenen Stimmen unter den ihre Divergenzen nicht verdeckenden und mir zur Abgrenzung der geschichtlichen Entwicklungsstufen noch immer ganz geeignet scheinenden Begriff des ,mystischen Spiritualismus‘ oder ,Barockspiritualismus‘ gestellt; heute betont man stärker die Gleichartigkeit der Impulse und das programmatisch Wegbereitende hin zur späteren Massenbewegung, indem man sie als ,Vorpietisten‘ anspricht oder für einen epochenübergreifenden ,erweiterten Pietismusbegriff‘ plädiert, der alle erwecklichen Strömungen jenseits des Reformationsjahrhunderts umfassen soll. Danach werden diese Wegbereiter als ,Pietisten im weiteren Sinne‘ bezeichnet, gleichsam avant la lettre.11 9 Dass die Aufklärer neben den Kirchenorthodoxien am fleißigsten das ,Negativimage‘ des Pietismus verbreitet haben, gerade auch weil „viele Ideen der Aufklärung im Pietismus ihre Vorläufer haben“ („Niemandem […] erscheint die Basisversion einer Idee veralteter, als dem, der sie weiterentwickelt.“), betont Thomas Müller-Bahlke: Der Hallesche Pietismus und die Kunst. Bemerkungen zu einem alten Vorurteil. In: Das Echo Halles. Kulturelle Wirkungen des Pietismus. Hg. von Rainer Lächele, Tübingen 2001, S. 243–269, hier S. 243. 10 Über diese Spiritualisten des Barockzeitalters informiert grundlegend Martin Brecht: Das Aufkommen der neuen Frömmigkeitsbewegung in Deutschland. In: Der Pietismus vom siebzehnten bis zum frühen achtzehnten Jahrhundert. Hg. von Martin Brecht, Göttingen 1993 (Geschichte des Pietismus, Bd. 1), S. 113–203; sowie ders.: Die deutschen Spiritualisten des 17. Jahrhunderts. In: ebd., S. 205–240. 11 Eine solche Ausweitung des Pietismusbegriffs, die alle die unterschiedlichen Frömmigkeits- und Reformbestrebungen seit dem Ende des Reformationsjahrhunderts (ebenso wie dann auch die diversen Nachfolgeströmungen seit dem 19. Jahrhundert) dem Pietismus selbst zuschlägt, der sich als umfassende Breitenbewegung erst im letzten Drittel des 17. Jahrhunderts etabliert hat und im 18. zur formenden Prägekraft der Epoche anwächst, ist mit der Konzeption der vierbändigen „Geschichte des Pietismus“ (seit 1993) angestoßen worden. Aus dem legitimen Bestreben heraus, die Sache selbst sowohl von ihrem Vorfeld und den theologischen und gedanklichen Vorbereitungen her als auch in ihren Nachklängen und internationalen
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Mit dem alldurchdringend ins Werk gesetzten Reformprogramm Speners jedenfalls und dann insbesondere mit dem auch institutionellen Netzwerk, das sein Schüler und Weggefährte August Hermann Francke (1663–1727), ausgehend von den Schul- und Missionsanstalten in Halle an der Saale zur Entsprechungen zu beleuchten, hat man dabei die eingeführten spezifizierenden Begriffe für die Einzelströmungen unter der programmatischen Klammer eines ,erweiterten Pietismusbegriffs‘ eingeebnet, der dadurch bedenklich pauschal auf Erscheinungen der Frömmigkeit über vier Jahrhunderte angewendet wird und auch noch weltumspannende Parallelphänomene einbegreifen soll. Dem wird dann ein ,engerer‘ für die Kernzeit, die ,Epoche des Pietismus‘, gegenübergestellt. Die problematischen Folgen für griffige terminologische Sonderungen wird etwa an den Spiritualisten aus der Ära des Dreißigjährigen Kriegs deutlich, die zugleich als Vorläufer, aber auch selbst schon Teil des Pietismus (im weiteren Sinne) erscheinen, wobei sie als Schüler des auch bereits demselben Sammelbegriff unterstellten Johann Arndt gar auch schon als eine zweite Pietistengeneration nach Arndt ausweisbar wären. Für die z. T. polemisch geführte Debatte, die Historikern, die um pragmatisch trennklare Begriffe bemüht sind, als Streit um des Kaisers Bart erscheinen muss, nenne ich als Eckpositionen den begründenden Essay von Martin Brecht: Einleitung. In: Der Pietismus vom siebzehnten bis zum frühen achtzehnten Jahrhundert (wie Anm. 10), S. 1–10; ferner Johannes Wallmann: Was ist Pietismus. In: Pietismus und Neuzeit 20 (1994), S. 11–27; ders.: Fehlstart. Zur Konzeption von Band 1 der neuen ,Geschichte des Pietismus‘ (ebd., S. 218–235); ders.: L’8tat actuel de la recherche sur le pi8tisme. In: Les pi8tismes / l’.ge classique. Crise, conversions, institutions. Hg. von Anne Lagny, Villeneuved’Ascq 2001, S. 31–55; Hartmut Lehmann: La crise religieuse du XVIIe siHcle (ebd., S. 57–67); ders.: Engerer, weiterer und erweiterter Pietismusbegriff. Anmerkungen zu den kritischen Anfragen Johannes Wallmanns an die Konzeption der ,Geschichte des Pietismus‘. In: Pietismus und Neuzeit 29 (2003), S. 18–36; dann Schlag auf Schlag Johannes Wallmann: Pietismus – Ein Epochenbegriff oder ein typologischer Begriff ? Antwort auf Hartmut Lehmann. In: Pietismus und Neuzeit 30 (2004), S. 191–224; Hartmut Lehmann: Erledigte und nicht erledigte Aufgaben der Pietismusforschung. Eine nochmalige Antwort an Johannes Wallmann. In: Pietismus und Neuzeit 31 (2005), S. 13–20, so dass für die Herausgeber der Zeitschrift Udo Sträter konstatierte, mit diesem „weiteren Beitrag zur Debatte um Reichweite und Struktur des Pietismus-Begriffs […] dürften die Argumente hinreichend ausgetauscht und zur Diskussion gestellt sein.“ (Vorwort. In: ebd., S. 5 f.). Den im Kern unfruchtbaren, aber stets Gemüter und Tintenfluss erregenden Terminologiestreit um epochenspezifisch konzis eingegrenzte oder umgreifend ausweitende Begriffsverwendungen (ähnliche gibt es immer mal wieder z. B. um die Termini ,Frühe Neuzeit‘, ,Aufklärung‘, ,Romantik‘, ,Realismus‘ oder ,Moderne‘ oder über die Inklusion bzw. Exklusion der schweizerischen und österreichischen in die ,deutsche‘ Literaturgeschichte) haben neuerdings dieselben Protagonisten an anderer Front wieder eröffnet: Martin Brecht: Der radikale Pietismus – die Problematik einer historischen Kategorie. Ein Plakat. In: Der radikale Pietismus. Perspektiven der Forschung. Hg. von Wolfgang Breul, Marcus Meier und Lothar Vogel, Göttingen 2010 (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus, Bd. 55), S. 11–18; Johannes Wallmann: Kirchlicher und radikaler Pietismus. Zu einer kirchengeschichtlichen Grundunterscheidung (ebd., S. 19–43); und Hartmut Lehmann: Die langfristigen Folgen der kirchlichen Ausgrenzung des radikalen Pietismus (ebd., S. 44–55) (mit Stellungnahme der Herausgeber im „Vorwort“ S. 5 f.). Hartmut Lehmanns wichtigste Argumente sind auch neu versammelt in ders.: Transformationen der Religion in der Neuzeit. Beispiele aus der Geschichte des Protestantismus, Göttingen 2007 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, Bd. 230), S. 147, 156–183. – Für den literaturgeschichtlichen Gebrauch scheinen mir die klärenden Abgrenzungsbemühungen und Argumente nicht obsolet geworden, die ich 1989 im Kapitel „Terminologische und historische Eingrenzungen: Pietismus – Radikalpietismus – philadelphische Bewegung“ gegeben habe, Schrader: Literaturproduktion (1989, L 1), vgl. im vorliegenden Band S. 19–62.
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,Weltverwandlung durch Seelenverwandlung‘ bis zum Jahrhundertende ausbaut, wird der Pietismus zu einer das gesamte Kirchenwesen, aber auch die Gesellschaft durchdringenden Massenerscheinung nicht nur im lutherischen und reformierten Deutschland (mit ganz unterschiedlicher Verteilung in den Territorien). Auch er bedient sich dabei gern der Lichtmetapher : auf dem Giebel der Franckeschen Anstalten zu Halle symbolisiert der zur Sonne aufsteigende Adler weit mehr als die königliche Privilegierung den Aufschwung der Seele aus irdischer Finsternis ins göttliche Licht.12 Und von daher strahlt er aus, namentlich nach Skandinavien, Russland und in die Niederlande, ins Elsass und in die Schweiz, in die Auswandererkolonien Nordamerikas, nach und nach weltumspannend in die Mission. Genaue Statistiken sind nicht möglich, es gab ja keine formelle Gruppenzugehörigkeit und konnte sie nicht geben: Im Heiligen Römischen Reich war wegen des im Westfälischen Frieden festgeschriebenen Konfessionsmonopols für Katholiken, Lutheraner und Reformierte (mit eingeschränkten Sondertoleranzen nur für die Juden) jede quarta species religionis untersagt.13 Man geht aber heute allgemein davon aus, dass in den Jahrzehnten nach 1700 bis über die Jahrhundertmitte hinaus mindestens jeder zweite Protestant in stärkerem oder geringerem Umfang von pietistischem Gedankengut erreicht und auf pietistische Frömmigkeitsnormen ausgerichtet war. Dies ist schon in den Aufstiegsjahren der Aufklärung, zunächst ebenfalls in den protestantischen Territorien, ein enormer Anteil der Gesamtbevölkerung, den die eher philosophisch-intellektuell begründete und getragene Aufklärung nie auch nur annähernd hat erreichen können. Gleichwohl, und obwohl die pietistisch Frommen eine kaum überschaubare und noch kaum durch Neueditionen erschlossene Menge an Publikationen hinterlassen haben, deren systematische Erforschung in den letzten Jahrzehnten einen ungeahnten Aufschwung genommen hat (sie sind oft gar nicht so eintönig wie allgemein angenommen), obwohl sie grundlegende Neuorientierungen außer in den Institutionen etwa auch in der Medizingeschichte, Kunst- und Musikgeschichte angestoßen haben, spricht heute außerhalb der 12 Abbildungen und Deutungen des Portal-Emblems bei Paul Raabe: Das Hallesche Waisenhaus. Das Hauptgebäude der Franckeschen Stiftungen, Halle 1995 (Kataloge der Franckeschen Stiftungen, Bd. 1), S. 9–18; Jan Harasimowicz: Architektur und Kunst. In: Glaubenswelt und Lebenswelten. Hg. von Hartmut Lehmann, Göttingen 2004 (Geschichte des Pietismus, Bd. 4), S. 456–485, hier S. 463 f. (Auslegung und Abbildung der Front des Waisenhauses mit dem AdlerEmblem „Die auf den Herren harren, kriegen neue Kraft, dass sie auffahren mit Flügeln wie Adler“ [Jes 40,31]), vgl. ebd. das Cramer-Emblem „Te sequar“ („Ich bin das Liecht der Welt“), S. 476; sowie Müller-Bahlke: Der Hallesche Pietismus und die Kunst (wie Anm. 9), S. 357; und Hans-Joachim Kertscher: Das Frontispiz am Hauptgebäude der Franckeschen Stiftungen – Versuch einer Annäherung an den Symbolwert seiner bildkünstlerischen Gestaltung. In: Interdisziplinäre Pietismusforschungen. Beiträge zum Ersten Internationalen Kongress für Pietismus-Forschung 2001. Hg. von Udo Sträter [u. a.], Bd. 1, Tübingen 2005 (Hallesche Forschungen, Bd. 17/1), S. 403–417. 13 Siehe hier Anm. 8, vgl., mit den zensurrechtlichen Konsequenzen, auch Schrader : Literaturproduktion (1989, L 1), S. 113–123, 422–430.
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Kirchenhistorikerzunft kaum jemand von einer ,Epoche des Pietismus‘. Das in der gemeinsamen Geschichtsperiode markant Dominierende wird allgemein wie eine bloße Neben- und Begleiterscheinung der ,Epoche der Aufklärung‘ subsumiert. Das gilt nicht nur für die den Pietismus tatsächlich völlig disproportional unterrepräsentierenden, wenn nicht überhaupt übergehenden geläufigen Quellen- und Interpretationensammlungen zum 18. Jahrhundert für Studium und Schule, wie etwa die Aufklärung und Rokoko (1976), Aufklärung und Empfindsamkeit (1988) oder Aufklärung und Sturm und Drang (1984) betitelten Reclam-Serien oder Auswahlen von Autorenporträts, oder auch Das Zeitalter der Aufklärung,14 sondern auch für einige Forschungen, die sich zentral und durchaus richtungweisend mit der Literatur des Pietismus auseinandersetzen wie der Studienband von Wolfgang Martens, Literatur und Frömmigkeit in der Zeit der frühen Aufklärung (1989).15 Die Verdrängung der gewichtigsten Prägekraft der Epoche aus dem öffentlichen Bewusstsein hat sicher nicht nur mit dem Fortschreiten der durch Pietismus und Aufklärung gemeinsam angestoßenen Säkularisation zu tun,16 sondern auch damit, dass schon im Spätpietismus am Ende des 18. Jahrhunderts, insbesondere aber seit der parallel zur Romantik einsetzenden Erweckungsbewegung und im Neupietismus die einst gesellschaftlich produktiv tonangebenden Impulse dieser Bewegung sich verdumpft und in theologisch wie auch weltanschaulich zunehmend reaktionäre Gruppen im Winkel zurückgezogen haben. Die fundamental religiöse Voreinstellung und Selbstbestimmung ist in breiten Kreisen in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, der Blütezeit des Pietismus, sicher bremsend für die Ausbreitung der Aufklärung gewesen, ähnlich wie in den katholischen Gebieten der Einfluss der weithin aufklärungsfeindlich agierenden Kirchenmacht dort ihre Durchsetzung gehemmt hat. Vor allem aber 14 Vgl. Die deutsche Literatur in Text und Darstellung, Bd. 5: Aufklärung und Rokoko. Hg. von Otto F. Best, Stuttgart 1976 (Reclams Universal-Bibliothek, Bd. 9617); Deutsche Dichter. Hg. von Gunter E. Grimm und Frank Rainer Max, Bd. 3: Aufklärung und Empfindsamkeit, Stuttgart 1988 (Reclams Universal-Bibliothek, Bd. 8613); Gedichte und Interpretationen, Bd. 2: Aufklärung und Sturm und Drang. Hg. von Karl Richter, Stuttgart 1984 (Reclams Universal-Bibliothek, Bd. 7891); und: Deutsche Schriftsteller im Portrait, Bd. 2: Das Zeitalter der Aufklärung. Hg. von Jürgen Stenzel, München 1980 (Beck’sche Schwarze Reihe, Bd. 220). 15 Wolfgang Martens: Literatur und Frömmigkeit in der Zeit der frühen Aufklärung, Tübingen 1989 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur, Bd. 25). 16 Ganz besonders gilt das für die Schweiz, die in ihren protestantischen Gebieten im 18. Jahrhundert noch weit stärker vom (gegenüber den Kantonsregierungen durchaus oppositionellen) Pietismus erfasst war als Deutschland, wo er ja in weiten Bereichen landesherrlichen Schutz genießen konnte. Die radikal antiklerikale Position des politisch-liberalen ,Freisinns‘, der 1848 die Umgestaltung der Schweiz zum modernen Bundesstaat entscheidend getragen hat, hat diese Tradition öffentlichkeitswirksam verdrängt und den Begriff ,pietistisch‘ zu einem Schimpfwort umgeprägt. – Vgl. dafür symptomatisch die Begriffsverwendung Gottfried Kellers (1819–1890), besonders sein schon 1844 verfasstes und in den Gedichten 1846 veröffentlichtes Verspamphlet „Pietistenwalzer“. In: ders.: Sämtliche Werke, Bd. 1: Gedichte. Hg. von Thomas Böning [u. a.], Frankfurt am Main 1995 (Bibliothek deutscher Klassiker, Bd. 125), S. 129, vgl. Komm. S. 947–949.
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war die Aufklärung in Deutschland von Anfang an durch pietistische Vorgaben eingefärbt und darin weithin vom radikaleren Rationalismus und Empirismus Frankreichs oder Englands unterschieden, ist hier doch seit der Mitte des Jahrhunderts eine gegenseitige Durchdringung pietistischer und aufklärerischer Leitbegriffe, Reformbemühungen und Strukturen zu beobachten.17 Das daraus entstehende spezifisch deutsche Amalgam wird in der Kirchengeschichte ,Übergangstheologie‘, bei stärker aufklärerischer Positionierung ,Neologie‘ genannt, in der Literaturgeschichte ,Empfindsamkeit‘. Erst gegen das Jahrhundertende kommt die ,Volksaufklärung‘, in der religiös fundierte Ethik und Utilitätsgesichtspunkte harmonisch vereint erscheinen, recht zum Tragen.18
III. Gerade von der Literaturgeschichte her gesehen hat das Jahrhundert des Nebeneinanderlaufens, der Konkurrenz und Feindseligkeit, schließlich aber auch der Durchdringung von Pietismus und Aufklärung in Deutschland negativ wie auch positiv Folgen gezeitigt, die von den anderen europäischen Kulturen markant abstechende Profile bewirkt haben. Beide Strömungen, die religiöse wie auch die philosophisch-rationale, sind ja nicht besonders kunstfreundlich und poetisch phantasiefördernd gewesen. Im Pietismus misstraute man – die Arbeiten von Wolfgang Schmitt und Wolfgang Martens haben das bereits klar gezeigt – aller Kunstschönheit, die nicht ihre Funktion in Gotteslob und Erbauung hatte, und verdächtigte schon gar alle Fiktion der unchristlichen Verstellung und Verlogenheit.19 17 Dieser Sachverhalt ist oft gesehen und angesprochen worden, vgl. Heinz Laag: Der Pietismus ein Bahnbrecher der deutschen Aufklärung. In: Theologische Blätter 3 (1924), Sp. 269–277 sowie resümierend Klaus Scholder: Grundzüge der theologischen Aufklärung in Deutschland. In: Geist und Geschichte der Reformation. Festschrift für Hanns Rückert. Hg. von Klaus Scholder und Heinz Liebig, Berlin 1966 (Arbeiten zur Kirchengeschichte, Bd. 38), S. 460–486. 18 Einführend dazu Reinhart Siegert: Der Höhepunkt der Volksaufklärung 1781–1800 und die Zäsur durch die Französische Revolution. In: Holger Böning und Reinhart Siegert: Volksaufklärung. Biobibliographisches Handbuch zur Popularisierung aufklärerischen Denkens im deutschen Sprachraum von den Anfängen bis 1850, Teilbd. 2/1, Stuttgart-Bad Cannstatt 2001, S. XXV–XLIV; ders.: Der ,gemeine Mann‘ und die Welt der Bücher. In: Jahrbuch für Kommunikationsgeschichte 4 (2002), S. 32–51; und ders.: Theologie und Religion als Hintergrund für die ,Leserevolution‘ des 18. Jahrhunderts. In: Literatur und Theologie im 18. Jahrhundert. Konfrontationen – Kontroversen – Konkurrenzen. Hg. von Hans-Edwin Friedrich, Wilhelm Haefs und Christian Soboth, Berlin 2011 (Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung, Bd. 41), S. 14–31. – Eine Verlängerung der Fragestellung ins 19. und 20. Jahrhundert ist jetzt zur Diskussion gestellt von Dieter Ising: Pietismus und Aufklärung – Absolutsetzung und Kritik. In: Blätter für württembergische Kirchengeschichte 112 (2012), S. 13–29. 19 Vgl. Wolfgang Schmitt: Die pietistische Kritik der „Künste“. Untersuchungen über die Entstehung einer neuen Kunstauffassung im 18. Jahrhundert, [Diss. phil.] Köln 1958; sowie Martens: Literatur und Frömmigkeit (wie Anm. 15), darin vor allem ders.: Hallescher Pietismus und
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Unter folgerichtiger Ablehnung der Oper, des Schauspiels und Romans, ja auch einer im Weltlichen verhafteten Lyrik blieben als zugelassene und zum Teil ausdrücklich geförderte poetische Gattungen religiöse Lyrik und Kirchenlied, Andachts- und Erbauungsschriften aller Art, darunter auch die meist aus dem jesuitischen Frömmigkeits-Renouveau seit Hermann Hugos (1588–1629) Pia Desideria von 1623 protestantisch adaptierten Emblembücher, vor allem aber als Instrument der Rechtfertigung vor Gott, der eigenen Seelenrührung und des Beispielgebens für andere die Biographie und das ganze Spektrum der Selbstzeugnisse : Bekehrungs- bzw. Erweckungsberichte und autobiographische Seelenanalysen, Reflexionen geistlicher Erfahrung und Begnadung sowie Tagebücher.20 Namentlich für die Lyrik gibt es, beispielhaft in Hans-Georg Kempers die Früh-, Hoch- und Spätphase behandelnden Bänden Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit, in einer Anthologie pietistischer Kirchenlieder wie auch in Studien zu einzelnen herausragenden Lyrikern wie Tersteegen (1697–1769), Zinzendorf (1700–1760) oder Beissel (1691–1768) in jüngster Zeit neue Grundlagen.21 Rhetorik, S. 1–23, ders.: Officina Diaboli. Das Theater im Visier des halleschen Pietismus, S. 24–49, und ders.: Hallescher Pietismus und schöne Literatur, S. 76–181. – Vgl. zusammenfassend Schrader : Nachwort des Herausgebers. In: Reitz: Historie Der Wiedergebohrnen. Neudruck (1982, L 2), Bd. 4, S. 127*–203*, hier 174*f., und ders: Literaturproduktion (1989, L 1), S. 34–39, 350–352. 20 Diese Einschätzung bleibt richtig trotz des Einspruchs gegen die verbreitete Vorstellung einer generellen Kunstfeindschaft der Pietisten und einiger Relativierungen von Resümees Wolfgang Schmitts. – Vgl. Müller-Bahlke: Der Hallesche Pietismus und die Kunst (wie Anm. 9), S. 243–269, sowie die Übersichten über die Kunstauffassungen und (religiös bezogenen) Kunstleistungen in: Glaubenswelt und Lebenswelten (wie Anm. 12), darin v. a. die Studien von Christian Bunners: Gesangbuch, S. 122–142, ders.: Musik, S. 430–455, Schrader: Die Literatur des Pietismus – Impulse (2004, L 34), im vorliegenden Band S. 91–114, ders.: Die Sprache Canaan, Auftrag der Forschung (2005, L 38), im vorliegenden Band S. 233–260; sowie Jan Harasimowicz: Architektur und Kunst, S. 456–485. – Für die Literatur vgl. auch bereits Schrader: Pietismus (1993, L 63), S. 208–216; ders.: Pi8tisme (1998, L 64), S. 83–86; ders.: Pi8tisme (1995, L 64), S. 1156; überarbeitete Neuausg. (2006, L 64), S. 1069 f.; ders.: Pietistische Literatur – Impulse (2005, L 37), S. 191–202. Neuere Studien zur pietistischen Musik in den Sammelbänden: „Geist=reicher“ Gesang. Halle und das pietistische Lied. Hg. von Gudrun Busch und Wolfgang Miersemann, Halle – Tübingen 1997 (Hallesche Forschungen, Bd. 3) und: Pietismus und Liedkultur. Hg. von Wolfgang Miersemann und Gudrun Busch, Halle – Tübingen 2002 (Hallesche Forschungen, Bd. 9). – Vgl. seither u. a. Christian Bunners: Die Seele ist das Instrument. Zu Johann Arndts Musikanschauung. In: Interdisziplinäre Pietismusforschungen, (wie Anm. 12), Bd. 2, 2005, S. 429–440; Joachim Kremer: Musikalisches Werk und historischer Kontext. Überlegungen zur ,pietistischen Musik‘ am Beispiel von Carl Philipp Emanuel Bachs Passionskantate und Ludwigsluster Choralkantaten. In: ebd., S. 441–452; sowie Andreas Waczat: Die religiösen musikalischen Dramen Johann Heinrich Rolles. Stoffe, Personenzeichnung und Rezeption. In: ebd., S. 453–463. 21 Vgl. grundlegend Hans-Georg Kemper: Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit, bes. Bd. 5/1: Aufklärung und Pietismus, Tübingen 1991; Bd. 6/1: Empfindsamkeit, Tübingen 1997; Bd. 6/2: Sturm und Drang: Genie-Religion; und Bd. 6/3: Sturm und Drang: Göttinger Hain und Grenzgänger, Tübingen 2002. – Vgl. die Lyrik-Anthologie: Lieder des Pietismus aus dem 17. und 18. Jahrhundert. Hg. von Christian Bunners, Leipzig 2003 (Kleine Texte des Pietismus, Bd. 6);
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Noch breiteres Neuinteresse fand und findet die biographische Literatur, namentlich die Selbstzeugnisse.22 Aber auch aufklärungsseits war das Interesse an der Kunst eher mäßig. Erzählungen sollten der Morallehre, dem Verlachen von Schiefem oder gesellschaftlich Unerwünschtem dienen, Trauerspiele vor Gefahren und Irrtümern warnen und zur Tugend anreizen. Die Lieblingsgattungen der Erzählung in Prosa und Versen waren Fabeln und Parabeln sowie Lehrexempel (auch dramatisiert als Gespräche im Reiche der Toten), ihre fiktionale Form war dazu bestimmt, die bittere Pille der Lehr- und Erziehungsabsicht mit einer gefälligen Zuckerkruste zu umkleiden und den ,Witz‘, die Verstandestätigkeit und überraschende Erkenntnispointe zu üben. In der Lyrik bildeten sich alle diese Funktionen nochmals im Kleinen ab, mit Bevorzugung des auf Esprit und Didaxe zielenden Epigramms oder des anakreontischen Lieds, das geistreiche Spielkonstellationen in vorgegebenen Chiffren übte.23 Die zugrundeliegende Poetologie beruhte durchweg auf Lernbarkeit der für die jeweilige Lehraussage bestgeeigneten Inszenierungsform – ein geistvolles Spiel mit Thema und ingeniöser Variation der vorfindlichen Versatzstücke. Diese Dichtungsanleitung nach Art eines Kochbuchs, wo die rechte Mischung der Zutaten („Man nehme …“), die Technik des Anrührens und die Kunst des Garens und Servierens gelehrt wird, erhellt aus dem Versuch einer Critischen Dichtkunst durchgehends mit den Exempeln unserer besten Dichter erläutert, mit dem Johann Christoph Gottsched (1700–1766) zuerst 1729 (datiert auf 1730), in beständig vermehrter vierter Auflage 1751, die Systematik seines Lehrmeisters Schrader: Hortulus mystico-poeticus (1997, L 21), ders.: Zinzendorf als Poet (2006, L 40), sowie ders.: Conrad Beissels Ephrata-Gemeinschaft (2006, L 41), im vorliegenden Band S. 457–487, 489–516 und 547–574. 22 Vgl. zur umfassenden Übersicht über die verschiedenen Gattungsfelder, insbes. zur biographisch-psychographischen Literatur Schrader: Die Literatur des Pietismus – Impulse (2004, L 34), im vorliegenden Band S. 91–114, dazu auch ders.: Kanonische neue Heilige (2013, L 51), im vorliegenden Band S. 665–700. Neuere Spezialstudien u. a. von Ulrike Gleixner: Warum sie soviel schrieben. Sinn und Zweck des (auto-)biographischen Schreibens im württembergischen Pietismus (1700–1830). In: Interdisziplinäre Pietismusforschungen (wie Anm. 12), Bd. 1, 2005, S. 521–526; Thomas K. Kuhn: „Unsere liebe Schwester“. Lebensläufe von Frauen der Herrnhuter Brüdergemeine (18.–20. Jahrhundert). Anmerkungen zur seriellen Untersuchung eines vernachlässigten Quellencorpus’. In: ebd., Bd. 2, 2005, S. 549–559; Hans-Walter Schmidt-Hannisa: Göttliche Gesichte? Traumdarstellungen in pietistischen Lebensläufen. In: ebd., S. 585–596; sowie Barbara Thums: „So lange Gott nicht der beste Arzt ist, so helfen alle Medicamente nichts“. Zur Diätetik der Seele und des Leibes in Adam Bernds „Eigene Lebens-Beschreibung“ (1738). In: ebd., S. 627–638. 23 Zum Aufschwung dieser Gattung an der Universität Halle im Gegenschlag zu pietistischer Unterdrückung der Sinnlichkeit vgl. Theodor Verweyen: „Halle, die Hochburg des Pietismus, die Wiege der Anakreontik“. Über das Konfliktpotential der anakreontischen Poesie als Kunst der „sinnlichen Erkenntnis“. In: Halle, Aufklärung und Pietismus. Zentren der Aufklärung I. Hg. von Norbert Hinske, Heidelberg 1989 (Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung, Bd. 15), S. 209–231. Gesamtdarstellung bei Kemper: Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit (wie Anm. 21), insbes. Bd. 5/2: Frühaufklärung, Tübingen 1991.
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Christian Wolff (1679–1754) auf die Poesie übertrug. Nachdem Wolff Vernünfftige Gedancken von den Kräfften des menschlichen Verstandes und ihrem richtigen Gebrauche in Erkäntniß der Wahrheit (1713), Vernünftige Gedancken von GOTT, der Welt und der Seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupt (1720), Vernünftige Gedancken von der Menschen Thun und Lassen, zu Beförderung ihrer Glückseeligkeit (1720) und Vernünftige Gedancken von den Absichten der natürlichen Dinge (1723) publiziert hatte, waren dies nun, schön systematisch auf über 800 Seiten, die ,Vernünftigen Gedancken‘ für die schönen Künste. Im IV. Hauptstück: „Von den poetischen Nachahmungen“, heißt es § 21: Zu allererst wähle man sich einen lehrreichen moralischen Satz, der in dem ganzen Gedichte zum Grunde liegen soll, nach Beschaffenheit der Absichten, die man sich, zu erlangen, vorgenommen. Hierzu ersinne man sich eine ganz allgemeine Begebenheit, worinn eine Handlung vorkömmt, daran dieser erwählte Lehrsatz sehr augenscheinlich in die Sinne fällt. Z[um] E[xempel] Gesetzt, ich wollte einem jungen Prinzen die Wahrheit beybringen: Ungerechtigkeit und Gewaltthätigkeit wären abscheuliche Laster. Diesen Satz auf eine angenehme Art recht sinnlich und fast handgreiflich zu machen, erdenke ich folgende allgemeine Begebenheit, die sich dazu schicket; indem man daraus die Abscheulichkeit des gedachten Lasters sonnenklar sehen kann.24
Herausragende und kanonbeständige Leistungen sind in so poesiefeindlicher Zeit in den Jahrzehnten nach dem Ende des Barock selten geblieben, zu den unzweifelbaren gehören seit 1721 Barthold Hinrich Brockes’ (1680–1747) Gedichtsammlung Irdisches Vergnügen in Gott, die, bis 1748 auf 9 Bände anschwellend, ein im Grunde pietistisches Anliegen, den Erweis der Vollkommenheit und liebenden Zuwendung Gottes ,physikotheologisch‘, mit aufklärerischer Systematik und zunehmend ermüdender Lückenlosigkeit, an der Perfektion seiner Schöpfung besingt,25 dann 1729, ganz pietistisch, Gerhard Tersteegens Liedersammlung Geistliches Blumengärtlein inniger Seelen,26 24 Johann Christoph Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst. Unveränderter photomechanischer Nachdruck der 4., verm. Aufl., Leipzig 1751, Darmstadt, 5. Aufl. 1962, S. 161. –Alt: Aufklärung (wie Anm. 6) widmet nicht nur „Gottscheds Normpoetik“ ein ausführliches Kapitel (S. 68–79); ein Abschnitt „Pietismus“ (S. 41–44) würdigt auch die Vorgaben der frömmigkeitlichen Literatur zum Verständnis der deutschen Aufklärung sowie den (hier nachfolgend umrissenen) Beitrag und die Impulse zur Literatur- und Sprachgeschichte sowie – als Folge der beschleunigten Säkularisation – den Funktionsübergang von religiöser zu poetischer Literatur. 25 Zu Brockes vgl. Martens: Literatur und Frömmigkeit (wie Anm. 15), S. 239–286; Kemper: Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit (wie Anm. 21), Bd. 1: Epochen- und Gattungsprobleme. Reformationszeit, Tübingen 1987, S. 107–116; Alt: Aufklärung (wie Anm. 6), S. 129–137; Ralph Häfner: Bukolik, Physikotheologie, Antimachiavellismus. Barthold Heinrich Brockes’ Preislied auf den Tokayer Wein. In: Literatur und Theologie im 18. Jh. (wie Anm. 18), S. 199–212. 26 Der Titel der rar gewordenen, in späteren Neuauflagen beständig erweiterten Erstauflage lautet [Gerhard Tersteegen]: Geistliches Blumen=Gärtlein Inniger Seelen; Oder Kurtze Schluß=Reimen und Betrachtungen Uber allerhand Warheiten des Inwendigen Christenthums; Zur Er-
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zweifellos der Höhepunkt mystischer Verinnerlichung im Protestantismus, und, im selben Jahr entstehend, doch erstmals 1732 publiziert, Albrecht von Hallers (1708–1777) großes gesellschaftskritisch-aufklärerisches Lehrgedicht Die Alpen.27 Höhenflüge der deutschsprachigen Poesie setzen danach erst wieder seit der Jahrhundertmitte, mit Friedrich Gottlieb Klopstocks MessiasEpos (seit 1748) und Christoph Martin Wielands großem Gesellschaftsroman Geschichte des Agathon (1767) ein, der die lange verachtete Gattung rehabilitierte und zum Muster der Tradition deutscher Bildungsromane wurde. Sie alle profitierten aber bereits von der produktiven Atmosphäre der Empfindsamkeit. Denn sie verschmolz die von der minutiösen Selbstbeobachtung der Pietisten bereitgestellte psychologische Finesse,28 deren empfindungsinnige und ahnungsreiche Herzenssprache29 und Aufgeschlossenheit für enthusiastische Begeisterung mit aufklärerischen Gesellschafts- und Tugendidealen und Lizenzen der Kunstautonomie gegenüber religiöser Funktionsbindung. Goethes Die Leiden des jungen Werthers von 177430 und die nachfolgende
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weckung, Stärckung und Erquickung in dem Verborgenen Leben mit Christo in Gott: Nebst einigen Liedern, Frankfurt – Leipzig [recte: Duisburg] 1729 (als Digitalisat im Internet verfügbar). Eine kritische Edition des „Blumen=Gärtlein“ bereitet Ute Mennecke für die Tersteegen-Ausgabe der Reihe „Texte zur Geschichte des Pietismus“, Abt. V, vor. Vgl. das TersteegenKapitel („Zärtlichkeit zum ,Herzens=Gott‘“) bei Kemper: Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit, Bd. VI/1 (wie Anm. 21), S. 58–95; auch Schrader: Hortulus mystico-poeticus (1997, L 21), insbes. im vorliegenden Band S. 457 f. Die erste Ausgabe erschien in einem Sammelband Hallerscher Poesien, Albrecht von Haller : Versuch Schweizerischer Gedichten, Bern 1732. – Vgl. über Kontexte und Rezeption, mit Ausweis weiterer Forschungsliteratur, Ruth Groh und Dieter Groh: Von den schrecklichen zu den erhabenen Bergen. Zur Entstehung ästhetischer Naturerfahrung. In: Vom Wandel des neuzeitlichen Naturbegriffs. Hg. von Heinz-Dieter Weber, Konstanz 1989 (Konstanzer Bibliothek, Bd. 13), S. 53–95, hier namentlich S. 54, 68–73; Alt: Aufklärung (wie Anm. 6), S. 138–148; HansJürgen Schrader: Hallers „Die Alpen“, mythenkritisch reflektiert in Brandstetters „Almträume“. In: Schweiz schreiben. Zu Konstruktion und Dekonstruktion des Mythos Schweiz in der Gegenwartsliteratur. Hg. von Jürgen Barkhoff und Valerie Heffernan, Berlin – New York 2010, S. 77–93. Von der Geburt der Psychologie aus dem Geist des Pietismus handelt zusammenfassend Horst Grundlach: Psychologie. In: Glaubenswelt und Lebenswelten (wie Anm. 12), S. 309–331. Vgl. grundlegend dafür die lexikalischen Sammlungen und sprachgeschichtlichen Recherchen von August Langen: Der Wortschatz des deutschen Pietismus, Tübingen 1954, 2. erg. Aufl. Tübingen 1968; ders.: Deutsche Sprachgeschichte vom Barock bis zur Gegenwart. In: Deutsche Philologie im Aufriß. Hg. von Wolfgang Stammler, Berlin, 2. überarb. Aufl. 1957 [Neudruck 1966], S. 931–1359; und ders.: Der Wortschatz des 18. Jahrhunderts. In: Deutsche Wortgeschichte. Hg. von Friedrich Maurer und Heinz Rupp, Bd. 2, Berlin, 3. neubearb. Aufl. 1974 (Grundriß der Germanischen Philologie, Bd. 17/2), S. 31–244. – Vgl. in Bestandsaufnahme und Weiterführung Schrader : Die Sprache Canaan. Pietistische Sonderterminologie (2004, L 35), revidiert und erweitert: Schrader : Die Sprache Canaan, Auftrag der Forschung (2005, L 38), im vorliegenden Band S. 233–260. Vgl. für ein zentrales und sprachgeschichtlich hoch wirksames Bildfeld der pietistischen Metaphorik auch bereits Schrader: Vom Heiland im Herzen (1994, L 19), im vorliegenden Band S. 115–133. Die Fülle nicht allein an pietistischen Sprachmitteln und Argumentationsformen, sondern auch Theologemen im „Werther“-Roman habe ich herauszuarbeiten versucht, Schrader: Von Patri-
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Dichtung der Sturm- und Drang-Generation gehen diesen Weg mit markant pietistisch geprägten Obertönen und einem von radikalpietistischen Außenseitern überkommenen prophetischen Sendungsbewusstsein31 weiter – in schroffer Abgrenzung sowohl gegen religiöse Bevormundungen als auch gegen aufklärerischen Utilitarismus und Pedanterie – im Durchbruch zu einer innerweltlichen Empfindungsstärke und trunkenen Sprachgewalt, die in den nicht von pietistischer Mitgift fermentierten Literaturen der Nachbarländer ohne Parallele sind. Alle die hier knapp umrissenen Folgen eines zunehmend produktiven Durchmischungsverhältnisses der so gegensätzlichen Schwester-Tendenzen sind seit einigen Jahren wenigstens für die einschlägige Epochenforschung, wenngleich noch kaum im Bewusstsein einer breiteren Öffentlichkeit, sehr viel differenzierter erkennbar geworden, seit die Pietismusforschung ihre enormen Defizite gegenüber der Erforschung der Philosophie, Dichtung und populären Literaturproduktion der deutschen Aufklärung ein Stück weit reduziert hat. Der frappierende Aufschwung in diesem Sektor hat sich schon vorbereitet durch die bereits seit 1964, zur Zeit der deutschen Teilung in beiden Staaten aktive Historische Kommission zur Erforschung des Pietismus. Als Forum der Förderung interdisziplinärer kirchen- und frömmigkeitsgeschichtlicher Recherchen zur Epoche jenseits des Reformationsjahrhunderts ist sie getragen von den Landeskirchen im Rahmen der Union Evangelischer Kirchen (UEK), jetzt unter dem Dach der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD). Außer durch bibliographische Handreichungen32 entstanden da archensehnsucht zur Passionsemphase (2005, L 39), S. 57–88. – Vgl. im weiteren Ausblick auf Autor und Epoche auch Schrader: Propheten zur Rechten (2001, L 25), S. 361–371; Ulf-Michael Schneider: Pietismus. In: Goethe Handbuch. Hg. von Bernd Witte, Bd. 4, Teil 2, Stuttgart – Weimar 1998, S. 850–852; und Paul Raabe: Separatisten, Pietisten, Herrnhuter. Goethe und die Stillen im Lande. Ausstellung der Franckeschen Stiftungen zu Halle vom 9. Mai bis 3. Oktober 1999, Halle 1999 (Kataloge der Franckeschen Stiftungen zu Halle, Bd. 6) sowie der sorgfältig kommentierte Textband (240 Seiten): Johann Wolfgang von Goethe: Träume und Legenden meiner Jugend. Texte über die Stillen im Lande. Hg. von Paul Raabe, Leipzig 2000 (Kleine Texte des Pietismus, Bd. 3). 31 Dazu grundlegend Ulf-Michael Schneider: Propheten der Goethezeit. Sprache, Literatur und Wirkung der Inspirierten, Göttingen 1995 (Palaestra, Bd. 297) und seine Edition Johann Friedrich Rock: Wie ihn Gott geführet und auf die Wege der Inspiration gebracht habe. Autobiographische Schriften. Hg. von Ulf-Michael Schneider, Leipzig 1999 (Kleine Texte des Pietismus, Bd. 1); ferner Schrader: Inspirierte Schweizerreisen (2000, L 24), im vorliegenden Band S. 517–546; Kemper: Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit, Bd. 6/2 (wie Anm. 21), insbes. S. 36–60, vgl. auch S. 353–369 und S. 436–439 die Analyse von Goethes „Wanderers Sturmlied“; Schrader: „Unleugbare Sympathien“ (2003, L 29), S. 41–68 und ders.: Points de contact (2016, L 56); Isabelle Noth: Ekstatischer Pietismus. Die Inspirationsgemeinden und ihre Prophetin Ursula Meyer (1682–1743), Göttingen 2005 (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus, Bd. 46), Konstanze Grutschnig-Kieser: Der „Geistliche Würtz= Kräuter= und Blumen=Garten“ des Christoph Schütz. Ein radikalpietistisches „Universal-Gesang=Buch“, Göttingen 2006 (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus, Bd. 49), S. 181–224. 32 Hier bleibt allerdings noch vieles zu tun. Der aktuelle Stand der Reihen der Historischen
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in zunehmend interdisziplinärer Blickrichtung mehrere Textreihen (seit 1972 große Werk- bzw. Briefausgaben führender Gestalten wie Spener, Francke, Tersteegen, Zinzendorf, Bengel, Oetinger : Texte zur Geschichte des Pietismus, TGP) und Reihen für Einzelausgaben exemplarisch bedeutsamer Einzelschriften oder Themen-Anthologien (Kleine Texte des Pietismus, KTP, zwölf Bände zwischen 1999 und 2008, und deren neue Folge Edition Pietismustexte, EPT, von der bis 2018 die ersten zwölf Bände vorgelegt wurden).33 Damit Kommission zur Erforschung des Pietismus (hier: der „Bibliographie zur Geschichte des Pietismus“, BGP) ist verzeichnet in der UEK-Broschüre „Die Historische Kommission zur Erforschung des Pietismus. Informationen“. Red.: Albrecht Philipps und Gudrun Diemert, Hannover 2017 (fortlaufend aktualisiert im Internet) sowie in aktueller Bearbeitung resümiert im Beitrag des vorliegenden Bandes Schrader: Probleme der bibliographischen Erschließung (zuerst 1988, L 16), S. 63–90. 33 Die abgeschlossene Reihe „Kleine Texte des Pietismus“, hg. von Hans-Jürgen Schrader, Günter Balders und Christof Windhorst, umfasst die Bände: Johann Friedrich Rock: Wie ihn Gott geführet und auf die Wege der Inspiration gebracht habe. Autobiographische Schriften. Hg. von Ulf-Michael Schneider, Leipzig 1999 (KTP, Bd. 1); Lebensläufe August Hermann Franckes. Hg. von Markus Matthias, Leipzig 1999 (KTP, Bd. 2); Johann Wolfgang von Goethe: Träume und Legenden meiner Jugend. Texte über die Stillen im Lande. Hg. von Paul Raabe, Leipzig 2000 (KTP, Bd. 3); Joachim Neander : Einfältige Bundeslieder und Dankpsalmen. Hg. von Rudolf Mohr, Leipzig 2002 (KTP, Bd. 4); Gottfried Arnold: Die Erste Liebe. Hg. von Hans Schneider, Leipzig 2002 (KTP, Bd. 5); Lieder des Pietismus aus dem 17. und 18. Jahrhundert. Hg. von Christian Bunners, Leipzig 2003 (KTP, Bd. 6); Christian Adam Dann / Albert Knapp: Wider die Tierquälerei. Frühe Aufrufe zum Tierschutz aus dem württembergischen Pietismus. Hg. von Martin H. Jung, Leipzig 2002 (KTP, Bd. 7); Johanna Eleonora Petersen, geb. von und zu Merlau: Leben, von ihr selbst mit eigener Hand aufgesetzet. Autobiographie. Hg. von Prisca Guglielmetti, Leipzig 2003 (KTP, Bd. 8); Nikolaus Ludwig von Zinzendorf: Sonderbare Gespräche („Der Passagier“). Hg. von Hans Schneider, Leipzig 2005 (KTP, Bd. 9); Christoph Matthäus Seidel: Pietistischer Gemeindeaufbau in Schönberg/Altmark 1700–1708. Hg. von Peter Schicketanz, Leipzig 2005 (KTP, Bd. 10); Zwischen Bekehrungseifer und Philosemitismus. Texte zur Stellung des Pietismus zum Judentum. Hg. von Peter Vogt, Leipzig 2007 (KTP, Bd. 11) und Gräfin Ad.[eline] Schimmelmann: Streiflichter aus meinem Leben […], Leipzig 2008 (KTP, Bd. 12). Die Reihe „Edition Pietismustexte“, hg. von Hans-Jürgen Schrader, Günter Balders und Christof Windhorst und [eintretend für Günter Balders] Ruth Albrecht, Dieter Ising, Wolfgang Breul und Markus Matthias, umfasst die Bände: Friedrich Christoph Oetinger: Genealogie der reellen Gedancken eines Gottes-Gelehrten. Eine Selbstbiographie. Hg. von Dieter Ising, Leipzig 2010 (EPT, Bd. 1); Karl Weihe: Was ist Pietismus? Das Leben und Wirken des Pfarrers Gottreich Ehrenhold Hartog (1738–1816). Hg. von Christof Windhorst, Leipzig 2010 (EPT, Bd. 2); Bekehrung unterm Galgen. Malefikantenberichte. Hg. von Manfred Jakubowski-Tiessen, Leipzig 2011 (EPT, Bd. 3); Gottfried Arnold: Gießener Antrittsvorlesung […] und Gedoppleter Lebenslauf. Hg. von Hans Schneider, Leipzig 2012 (EPT, Bd. 4); Geschlechtlichkeit und Ehe im Pietismus. Hg. von Wolfgang Breul und Stefania Salvadori, Leipzig 2014 (EPT, Bd. 3); Johann Christoph Blumhardt: Krankheit und Heilung an Leib und Seele. Auszüge aus Briefen, Tagebüchern und Schriften. Hg. von Dieter Ising, Leipzig 2014 (EPT, Bd. 6); Philipp Jacob Spener : Die Anfänge des Pietismus in seinen Briefen. Hg. von Markus Matthias, Leipzig 2016 (EPT, Bd. 7); Pietas et eruditio. Pietistische Texte zum Theologiestudium. Hg. von Klaus vom Orde, Leipzig 2016 (EPT, Bd. 8); Lebensläufe August Hermann Franckes. Hg. von Markus Matthias, 2. überarb. Aufl., Leipzig 2016 (EPT, Bd. 9); Begeisterte Mägde. Träume, Visionen und Offenbarungen von Frauen im frühen Pietismus. Hg. von Ruth Albrecht, Leipzig 2018 (EPT, Bd. 10); Johann Heinrich Jung-Stilling: „… weder Calvinist noch Herrnhuter noch Pietist“. Fromme Popular-
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konnte die zuvor verglichen mit der Aufklärung weit desolatere Editionssituation schon signifikant verbessert werden. Dazu kam eine bändereiche interdisziplinäre Monographienreihe (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus, AGP, seit 1967 in [bis 2016] 62 Bänden) und das Jahrbuch Pietismus und Neuzeit (PuN) seit 1974 mit [bis 2017] 43 Bänden. Solide grundlegende Übersicht der Geschichtsetappen und bewegenden Kräfte, der internationalen Parallelerscheinungen und Folgewirkungen, der Leistungen auf unterschiedlichen Feldern und Auswirkungen in Medizin, Pädagogik, Kunst und Architektur, Musik, Sprache und Dichtung schuf die unter der Regie von Martin Brecht seit 1993 herausgebrachte und in vier starken Bänden 2004 zum Abschluss gelangte Geschichte des Pietismus (GP). Ergänzend und in Verbindung damit entstanden in der Zeit nach der deutschen Vereinigung an der MartinLuther-Universität Halle-Wittenberg, angesiedelt in den Franckeschen Stiftungen als Schwestergremien, das „Interdisziplinäre Zentrum für Pietismusforschung“34 und das „Interdisziplinäre Zentrum für die Erforschung der Europäischen Aufklärung“,35 beide mit eigenen Buchreihen (Hallesche Forschungen, im Auftrag der Franckeschen Stiftungen, seit 1998 [bis 2017] 48 Bände; Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung, seit 1995 [bis 2018] bislang 60 Bände), mit teilweise gemeinsamen Tagungen.36 Die neben den in etwa zweijähriger Folge von der Historischen Kommission durchgeführten Symposien in den Franckeschen Anstalten in Halle veranstalteten bislang fünf großen Kongresse für Pietismusforschung37 ziehen unter wechselnden Leitthemen Hunderte von einschlägig arbeitenden Forschern aus aller Welt an. Deren Ergebnis-Dokumentationen in Kongress-Doppelbänden zeigen eine Diversifikation und einen Grad an Detailerhellung, wie er noch vor Jahrzehnten undenkbar erschienen wäre. Die Forschungen im Umkreis der Herrnhuter Brüdergemeine haben neben Katalogen und Studienbänden eine weitere, im Grundsatz halbjährlich erscheinende Spezialzeitschrift, die Unitas
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theologie um 1800. Hg. von Veronika Albrecht-Birkner, Leipzig 2017 (EPT, Bd. 11); Gerhard Tersteegen: Abhandlungen zu Frömmigkeit und Theologie. Hg. von Johannes Burkardt, Leipzig 2018 (EPT, Bd. 12). – Johannes Burkardt ist nun [für Dieter Ising] zum Team hinzugekommen, das Sprecheramt für die Fortführung der Reihe hat Markus Matthias übernommen. Aktuelle Berichterstattung mit allen weiterführenden Links, auch zu anderen Zentren der Pietismus- wie der Aufklärungsforschung, http://www.izp.uni-halle.de. Direktinformationen über www.izea.uni-halle.de. Einen literaturgeschichtlichen Skopus hatte ein gemeinschaftliches Symposion von 2004, dessen Erträge jetzt vorliegen: Literatur und Theologie im 18. Jahrhundert (wie Anm. 18). I. Internationaler Kongress für Pietismusforschung, 2001; II. Internationaler Kongress für Pietismusforschung: Die „Neue Kreatur“ – Pietismus und Anthropologie, 2005; III. Internationaler Kongress für Pietismusforschung: „Aus GOttes Wort und eigener Erfahrung gezeiget“. Erfahrung – Glauben, Erkennen und Handeln im Pietismus, 2009; IV. Internationaler Kongress für Pietismusforschung: „Schrift soll leserlich seyn. Der Pietismus und die Medien“, 2013; V. Internationaler Kongress für Pietismusforschung: „Gefühl und Norm. Pietismus und Gefühlskulturen im 18. Jahrhundert“, 2018. Die Akten der Tagungen (bis auf die jüngste) sind inzwischen publiziert.
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fratrum (UF), seit 1977 hervorgebracht, mit [bis 2016] auch schon 75 Bänden und diversen Beiheften.38 Ich möchte hier aber nicht einen in Vortragsform langweiligen Forschungsbericht vorstellen und brauche das auch umso weniger, als auf die Zuwege, auch zu den Internet-Auftritten der genannten Gremien und Organe, in der Fußnote verwiesen werden kann.39 Vielmehr möchte ich nach Hinweisen auf historische Berührungen und Divergenzen zwischen Pietismus und Aufklärung noch schlaglichtartig, d. h. knapp und thesenhaft, auf exemplarische Felder ihrer gemeinsamen Bemühungen und wechselseitiger Förderung hinweisen, auf Leistungen im Bereich der Entdogmatisierung und Beförderung von Toleranz, auf Errungenschaften im Bereich der Bildung, in erster Linie für Frauen, sowie im Umgang mit bisher in Marginalisierung, gesellschaftlicher und rechtlicher Diskrimination gehaltenen Außenseitern, namentlich den Juden.
IV. Für die fruchtbare Kooperation zwischen dem Pietismus und der Frühaufklärung symptomatisch ist die Gründungsphase der brandenburgischen Landesuniversität in Halle an der Saale, der unter strikter Effizienzkontrolle des preußischen Regenten die Ausbildung der gesamten Akademikerschaft des Landes oblag und die oft als erste moderne Universität genannt wird.40 Durch verschiedene, hin und her wechselnde Phasen ihrer Geschichte ist sie 38 Mit eigener Homepage www.unitas-fratrum.de. 39 Die Aktivitäten und Publikationen der HK sind zusammengestellt in einer vom Amt der UEK in der EKD periodisch erneuerten Broschüre: Zu deren aktueller Ausgabe vgl. Anm. 32. Sie wird jeweils aktualisiert über die Homepage der Kommission: www.uek-online.de/einrichtungen/ pietismuskommission.html. Links führen von dort zu allen kooperierenden Organisationen weiter. Ein Geschichtsabriss wurde postum publiziert vom langjährigen Vorsitzenden, Gerhard Schäfer : Die Historische Kommission zur Erforschung des Pietismus. In: Geschichte des Pietismus, Bd. 4 (wie Anm. 12), S. 673–692. 40 Vgl. zum Folgenden im Abriss Udo Sträter : Art. ,Halle, Universität‘. In: RGG4 (wie Anm. 8), Bd. 3, Tübingen 2000, Sp. 1391–1393 (mit neuerer Lit.); und Juliane Jacobi: Art. ,Francke, August Hermann‘. In: ebd., Sp. 209–218, grundlegend noch immer Wilhelm Schrader: Geschichte der Friedrichs-Universität zu Halle. 2 Bde., Berlin 1894; Rüdiger von Bruch: Art. ,Universitäten. Neuzeit‘. In: RGG4, Bd. 8, Tübingen 2005, Sp. 785–788. – Vgl. die „Vorbemerkung“ von Norbert Hinske zu dem von ihm herausgegebenen Studienband, der den Aufbau, das Zusammenspiel und die Friktionen unter den verschiedenen Wissenschaftssparten der jungen Universität Halle ausleuchtet: Halle, Aufklärung und Pietismus (wie Anm. 23), S. 9–14, und die Bildergalerie der nachfolgend erwähnten Protagonisten ab S. 64. Die direkte Observanz des Landesherren über die Gründung durch Kurfürst Friedrich III. (Porträt S. 65) hinaus wird schon dadurch ersichtlich, dass sein dem Pietismus gegenüber entschieden aufgeschlossener Sohn und Nachfolger König Friedrich Wilhelm I. (Porträt S. 66) schon als Kronprinz „Rector magnificentissimus“ der Universität wurde. Vgl. die neue Zusammenschau bei Peter Schicketanz: Das Zusammenspiel von Pietismus und Aufklärung in Halle. In: Interdisziplinäre Pietismusforschungen (wie Anm. 12), Bd. 1, S. 235–239.
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das führende Zentrum der Lehre, Pflege und Ausbreitung des Pietismus ebenso wie auch der Aufklärung im ganzen deutschen Sprachraum geworden, in dem auch die akademischen Kader ausgebildet wurden, die den Halleschen Geist in die Welt hinaustrugen. Beide Richtungen haben der Besetzung universitärer Lehrstühle mit Gelehrten der eigenen Couleur größte Bedeutung beigemessen in der richtigen Einschätzung, dass eine lauffeuerartige Ausbreitung ihrer Ideen nur durch die Ausbildung künftiger Multiplikatoren erreichbar war. Die feierliche Eröffnung der an die Stelle einer 1680 errichteten Ritterakademie tretenden Universität Halle durch Kurfürst Friedrich III. (1657–1713), seit 1701 König Friedrich I. in Preußen, fand zwar erst im Juli 1694 statt, da hatte der Unterricht und Ausbau aber längst begonnen und das Institut zählte schon 700 Studierende. Am Anfang stand die Bestallung des führenden Rechts- und Staatsphilosophen der Frühaufklärung, Christian Thomasius (1655–1728), im Jahr 1690.41 Für seine Berufung zunächst auf den rechtswissenschaftlichen Lehrstuhl (später wechselte er in die Philosophie über) hatte sich Spener eingesetzt, und der nutzte seinen Einfluss am Berliner Hof auch für die Einsetzung von energischen Vertretern der eigenen pietistischen Theologie auf die nachfolgend eingerichteten philosophisch-philologischen und theologischen Positionen, 1691 Johann Justus Breithaupt (1658–1732), 1692 August Hermann Francke zunächst noch als Professor für Griechisch und orientalische Sprachen, 1695 Paul Anton (1661–1730), schließlich 1709 als Nachfolger des in die Theologie wechselnden Francke dessen Schüler Johann Heinrich Michaelis (1668–1738) und Joachim Lange (1670–1744)42 – ein stattlicher Teil der Kernmannschaft, die auch die Franckeschen Anstalten zu einem Weltzentrum der pietistischen Ausbildungs-, Sozial-, Publikations- und Missionsarbeit machte. Bis es 1699 zum persönlichen Bruch und zu giftigen Fehden über die zunehmend rigiden pietistischen Moral- und Bekehrungsforderungen kam, haben Francke und Thomasius nicht nur gemeinsam innovatorische Reformansätze verwirklicht, statt des lateinischen Kathederbetriebs erstmals einen klar strukturierten und verständlichen Unterricht in deutscher Sprache mit starkem Einbezug der Studierenden eingeführt und dadurch, durch eine verstärkte Berücksichtigung auch der Realien, die akademische Bildung für neue Schichten geöffnet, die dann das Gelernte mit den terminologischen Implikaten des jeweiligen Lehrsystems nach außen tragen konnten. Gemeinsam sind beiden auch ein 41 Vgl. Walter Sparn: Art. ,Thomasius, Christian‘. In: RGG4 (wie Anm. 8), Bd. 8, Tübingen 2005, Sp. 380 f.; zu seiner Rechtslehre Werner Schneiders: Thomasius politicus. Einige Bemerkungen über Staatskunst und Privatpolitik in der aufklärerischen Klugheitslehre. In: Halle, Aufklärung und Pietismus (wie Anm. 23), S. 91–109, Porträt S. 67. – Für das Verhältnis zu Francke (mit Ausweis älterer Lit.) Schicketanz: Das Zusammenspiel von Pietismus und Aufklärung in Halle (wie Anm. 40), S. 236 f. 42 Porträts der Genannten: Halle, Aufklärung und Pietismus (wie Anm. 23), S. 69 f., dazu der den ganzen Kontext ausleuchtende Aufsatz von Karl Heinrich Rengstorf: Johann Heinrich Michaelis und seine „Biblia Hebraica“ von 1720 (ebd., S. 15–64).
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kritisch-reformerischer Ansatz in Bezug auf Missstände in Staat und Kirche und im Abwehrkampf gegen bislang unhinterfragbare Lehrvorgaben und Gesinnungsaufsichten der Konfessionsorthodoxien sowie ein Zug zu geistiger Erneuerung und ausgebreiteter Toleranz.43 Mit der durch Leibniz’ (1646–1716) Empfehlung beförderten Berufung Christian Wolffs, der an den zunächst auch vom pietistischen Geist erfassten Universitäten Leipzig und Gießen Theologie studiert hatte, auf den Lehrstuhl für Philosophie und Mathematik kam 1706 auch der führende Aufklärungsphilosoph der zweiten Generation nach Halle.44 Obwohl er sich in seiner Entwicklung zum antidogmatischen skeptischen Rationalismus weniger konziliant gegenüber dem die Universität übergewichtig prägenden Pietismus verhielt als Thomasius, gab es noch ein für die Studierenden produktives Nebeneinander, bis sich nach Franckes Tod die zu bestanderhaltendem Fundamentalismus tendierenden pietistischen Kollegen gegen den unbedingte Verstandeskontrolle einfordernden Wolff mit Atheismus-Vorwürfen auflehnten und über Hofintrigen seine Absetzung und Vertreibung 1723 nach Marburg erwirkten. Aber längst, ehe Wolff 1740 als ,Märtyrer der Aufklärung‘ durch den jungen König Friedrich II. (1712–1786) im Triumph nach Halle zurückgeholt wurde, war schon die Saat des pietistisch-aufklärerischen Miteinanders der ersten Generation aufgegangen. Der pietistisch erzogene und in Halle im gleichen Sinn ausgebildete Siegmund Jacob Baumgarten (der Hausgenosse und Adjunkt von Franckes Sohn und Nachfolger Gotthilf August Francke [1696–1769] wurde hier 1734 Professor der Theologie) wandte sich zum Unbehagen der Kollegen der Wolffschen Lehrmethode zu, und seine Schule brachte führende Vertreter aller Schattierungen der Übergangstheologie hervor. Neben dem orthodoxen Johann Melchior Goeze (1717–1786) und den Pietisten Johann August Urlsperger (1728–1806) und Johann Christoph von Woellner (1732–1800) hatten hier und überhaupt in den Halleschen Anstalten und Hörsälen auch weit über Preußen hinaus führende Vertreter der theologischen Spätaufklärung ihre 43 Vgl. die ganz von der aufklärerischen Theorie hergeleitete Darstellung von Matthias Fritsch: Religiöse Toleranz im Zeitalter der Aufklärung. Naturrechtliche Begründung – konfesssionelle Differenzen, Hamburg 2004 (Studien zum 18. Jahrhundert, Bd. 28) – selbst soweit sie nach den Kapiteln zu Pufendorf, Thomasius und Wolff (S. 26–97) auf Toleranzprogramme auf der Grundlage der evangelischen, jüdischen und katholischen Theologie eingeht. Der pietistische Beitrag sowohl in Postulaten als auch im praktischen Erkämpfen von Toleranzfreiräumen kommt dabei nur sporadisch, bes. für Christoph Matthäus Pfaff (1686–1760) (S. 213–230, vgl. S. 363 f.), in den Blick, doch wird Pfaff ebenso wie Franz Buddeus (1667–1729) und Siegmund Jacob Baumgarten (1706–1757) ohne Gewichtung der pietistischen Mitgiften ihres Denkens als „Bahnbrecher der theologischen Aufklärung“ verstanden (S. 214). 44 Vgl. Jürgen Stolzenberg: Art. ,Wolff, Christian‘. In: RGG4 (wie Anm. 8), Bd. 8, Tübingen 2005, Sp. 1682–1684. Porträt in: Halle, Aufklärung und Pietismus (wie Anm. 23), S. 68. – Zum Hintergrund und den Nachwirkungen seines Streits mit den pietistischen Theologen und seiner durch eine der ersten Amtshandlungen des „Aufklärerkönigs“ Friedrich II. programmatisch korrigierten Vertreibung aus Halle vgl. den (von Norbert Hinske überarbeiteten) Aufsatz von Bruno Bianco: Freiheit gegen Fatalismus. Zu Joachim Langes Kritik an Wolff (ebd., S. 111–155).
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geistige Heimat wie Johann Joachim Spalding (1714–1804), Johann David Michaelis (1717–1791), Johann Salomo Semler (1725–1791), ja selbst der Literaturkritiker und Romancier Christoph Friedrich Nicolai (1733–1811).45 So haben die ungleichen Schwestern bei allem Zwist und bei allem Richtungsstreit die zukunftsweisendsten Wirkungen weithin in Kooperation, Abfärbung und Übernahme erreicht.
V. Die Förderung der Toleranz in Lehr-, namentlich auch in Religionsbelangen, gilt allgemein als eine der wesentlichsten Errungenschaften der Aufklärung. Aus den Staats- und Gesellschaftslehren von Hobbes (1588–1679) und Locke (1632–1704), später von Rousseau (1712–1778), wurde die Einsicht importiert, dass religiöse und kulturelle Divergenz aus ethischen wie utilitaristischen Gründen anstelle von Gesinnungszwang ein Raumgeben für Eigenarten und Überzeugungen anderer erfordere, namentlich bei religiösen Positionen, die infolge unzulänglichen Erkenntnisvermögens nicht kraft Vernunft zu entscheiden sind. Die Ringparabel in Lessings Nathan der Weise (1779) fasst diesen aufklärerischen Impetus in ein eingängig lehrhaftes Bild. Für die praktische Durchsetzung der Toleranzidee und für die progressive Aushöhlung und Auflösung verpflichtender Glaubensvorgaben – auch des alle normsprengenden Einsichten oder Auffassungen unterbindenden Zensursystems – aber war der Pietismus wiederum ein wegbereitender und wirksamer Bundesgenosse. In praxi hat er durch stetige Erweiterung der Spielräume mehr erreicht als bloße philosophische Deduktion. Jede der drei reichszulässigen Konfessionen beanspruchte ja den vollkommenen Besitz der Wahrheit. Jede dogmatische Abweichung in Glaubensartikeln und im Lehrgebäude der anderen musste im Zeitalter der Orthodoxie durch aufwendige Gegenbeweise (,Elenchi‘) bestritten, schon gar jede rahmensprengende Position im eigenen Lager zum Schweigen gebracht und abgestraft werden. Unter der Diktatur der Dogmatik war die gepredigte Verkündigung, einst Zentralanliegen der Reformatoren, zu endlosen Kanzelabhandlungen über die Streitpunkte verkommen. Die Orthodoxie, wörtlich ja rechtgläubige Lehre, war dadurch für Pietisten wie Aufklärer ein gemeinsamer Gegner. Für die Pietisten 45 Höchst informativ, auch noch mit anderen Personalbeispielen, ist der Aufsatz, der zunächst Verengung und Niedergang der pietistischen Theologie in Halle in der Ära Gotthilf August Franckes (Porträt ebd., S. 322) und danach den „Übergang von der pietistischen Theologie zur Aufklärung“ bei Baumgarten (Porträt ebd., S. 330) und den in Halle ausgebildeten Übergangsund Aufklärungstheologien reflektiert, Martin Brecht: Der Hallische Pietismus in der Mitte des 18. Jahrhunderts – seine Ausstrahlung und sein Niedergang. In: Der Pietismus im achtzehnten Jahrhundert. Hg. von Martin Brecht und Klaus Deppermann, Göttingen 1995 (Geschichte des Pietismus, Bd. 2), S. 319–357, vgl. Schicketanz: Das Zusammenspiel von Pietismus und Aufklärung in Halle (wie Anm. 40), S. 238.
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resultierte diese Gegnerschaft schon daraus, dass ihr um strittige Lehrpositionen unbekümmertes Eintreten für Herzensfrömmigkeit und christliche Lebenspraxis selbst im Verdacht einer verbotenen Sonderlehre stand. Außerdem führte das Desinteresse an den dogmatischen Trennpositionen zumindest zwischen Lutheranern und Reformierten, aber auch gegenüber den Katholiken zur Forderung, Spezialauffassungen sollten jedem Einzelnen überlassen bleiben und es sollte einer Gemeinschaft der Erweckten aus allen Glaubensrichtungen zugestrebt werden – einer brüderliebenden Geistkirche der Christusnachfolger jenseits der Institutionen und der konfessionellen ,Sekten‘. Solche systemerschütternden Ideen mussten um des inneren Friedens willen zumindest den Obrigkeiten in gemischtkonfessionellen Territorien, etwa auch den preußischen Kurfürsten und Königen, die selbst seit der dynastisch motivierten Konversion Johann Sigismunds (1572–1620) im Jahr 1614 im Gegensatz zu ihrer überwiegend lutherischen Bevölkerung calvinistisch-reformiert waren, willkommener sein als die Unfrieden schürenden und etwa gegen die Konfession des Hofes hetzenden Orthodoxen.46 Und schon gar kam konfessioneller Ausgleich jenen meist selbst pietistisch gesonnenen Landesfürsten entgegen, die aus religiösen, aber vor allem auch merkantilistischen Gründen anderwärts Glaubensvertriebene im eigenen Land aufnehmen wollten. An solchen Stellen fanden sich Bruchstellen in dem prinzipiell lückenlosen Zensursystem, das unter kaiserlicher Oberaufsicht von den Landesautoritäten, zumeist durch die geistlichen Gremien den Druck und Vertrieb aller Veröffentlichungen auf das strengste überwachten und besonders in religiösen Fragen eine vollständige Kongruenz zur Lehrauffassung der landeskirchlichen Konfession zu garantieren hatten. Lehrabweichende, also heterodoxe Äußerungen, die an mehreren Stellen ungestraft die Zensur passiert hatten, waren auf Dauer auch anderwärts kaum mehr zu unterbinden. Die Funktionsmechanismen des Zensursystems sowie seine systematische Unterwanderung und Durchlöcherung (zugelassen oder gar gefördert durch pietistische Obrigkeiten), infolge derer immer schroffer heterodoxe Sonderlehren gedruckt und dann über die Messen ungehindert nach außen verbreitet werden konnten, habe ich für drei frühe leistungsstarke Publikationszentren 46 Die daraus entstehenden Spannungen haben 1766 bekanntlich zur Amtsentsetzung Paul Gerhardts (1607–1676) aus dem Pfarramt an der Berliner Nicolaikirche durch den Großen Kurfürsten (und dann im Folgejahr zu seinem endgültigen Amtsverzicht in Preußen) geführt; vgl. Christian Bunners: Art. ,Paul(us) Gerhardt‘. In: RGG4 (wie Anm. 8), Bd. 3, Tübingen 2000, Sp. 728–730, hier 729; eindrücklich detailliert ders.: Paul Gerhardt. Weg – Werk – Wirkung, München – Berlin, 2. Aufl., 1994, S. 69–107, jetzt auch Schrader: Lutherisch-reformierte Konfessionsirenik (2018, L 58). – Diese Spannungen bilden auch den historischen Hintergrund in Theodor Fontanes (1819–1898) frühester Novelle „Grete Minde“. Dazu Hans-Jürgen Schrader: Frühneuzeitliche Munizipien in religiös-sozialen Hassausbrüchen. Raabes „Höxter und Corvey“ (1874) und Fontanes „Grete Minde“ (1879). In: Metropole, Provinz und Welt. Raum und Mobilität in der Literatur des Realismus. Hg. von Roland Berbig und Dirk Göttsche, Berlin 2013 (Schriften der Theodor Fontane Gesellschaft, Bd. 9), S. 289–319.
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in westdeutschen pietistischen Grafschaften untersucht.47 Die Wirkung des Unterlaufens von Zensuraufsicht und religiöser Gesinnungskontrolle war, dass diese bald nach der Jahrhundertmitte faktisch zusammengebrochen sind. Damit aber wurden auch die Streitpunkte des Konfessionalismus immer irrelevanter. Glauben orientierte sich somit zunehmend weniger an dogmatischen Vorgaben und mehr an Herzenserfahrung, innerer Stimme und subjektiver Überzeugung. Ich kann das hier nur durch einige häufig anonym, pseudonym oder kryptonym publizierte Titel radikalpietistischer Genese aus dem späten 17. und frühen 18. Jahrhundert belegen, von denen von Rechts wegen kein einziger durch die Zensur hätte gelangen dürfen, die aber deutlich zum einen das Unterwandern der Lehrautorität der Konfessionen (,Menschenordnungen‘) und damit zum andern die subjektive Erweiterung der Lizenzen für Denk- und Meinungsfreiheit dokumentieren: [Johann Jacob Schütz]: Abdruck eines Discurses über die Frage: Ob die Auserwehlte verpflichtet seyen / sich notwendig zu einer heutigen grossen Gemeinde und Religion insonderheit zu bekennen und zu halten? Item / von der sichtbaren Kirche / und Liebe der Brüderschafft / oder brüderlichen Liebe. Nur zur Communication der Kinder Gottes, Frankfurt, Duisburg u. Wesel [1684].48 [Anonym]: Vernünfftige und Schrifft=mäßige Untersuchung / Wie nöthig und heylsam einer die allgemeine Ruhe liebenden Obrigkeit die Bürgerliche Tolerantz in Religions=Sachen / Hingegen Wie gefährlich und schädlich dem gemeinen Wesen das Straffen / Zwingen und Verfolgen wegen der Religion seye […], [Offenbach] 1704.49
47 Für die Darstellung des Zensursystems und seiner Funktionsmechanismen im ganzen Reich, die Möglichkeiten, es zu unterlaufen, und die Veröffentlichungen der drei frühen Publikationszentren pietistisch-heterodoxer Literatur in Offenbach, Idstein und Berleburg vgl. Schrader: Literaturproduktion (1989, L 1), S. 108–238, 419–482. Fallstudien zum Zensursystem im 18. Jh. liefert der Band: Zensur im Jahrhundert der Aufklärung. Geschichte – Theorie – Praxis. Hg. von Wilhelm Haefs und York-Gothart Mix, Göttingen 2007 (Das achtzehnte Jahrhundert. Supplementa, Bd. 12), vgl. dort die Überblicke und Forschungsberichte von York-Gothart Mix: Zensur im 18. Jahrhundert. Prämissen und Probleme der Forschung, S. 11–23, und Wilhelm Haefs: Zensur im Alten Reich des 18. Jahrhunderts. Konzepte, Perspektiven und Desiderata der Forschung, S. 389–424. Wie ohnmächtig die Zensurgremien des Reichs und auch das „Corpus Evangelicorum“ als ,Clearingstelle‘ für innerprotestantische Auseinandersetzungen im Falle von landesherrlicher Nachsicht bei Zensurvergehen blieben, zeigt der Rechtsstreit um Heterodoxien im Kommentar des vom Grafen Casimir (1687–1741) begünstigten Berleburger Bibelwerks; vgl. Schrader: Pietistisches Publizieren unter Heterodoxieverdacht (1988, L 14), im vorliegenden Band S. 261–283. 48 Vorhanden: SUB Göttingen. Zu dieser anonym publizierten Schrift und ihrer Zuschreibung sowie zum Publikationskontext bei dem ziemlich windigen Weseler Verleger Andreas Luppius (1654–1731) vgl. Schrader: Salomonis Schlüssel (2001, L 26), S. 231–256, hier S. 240–245, auch bereits ders.: Literaturproduktion (1989, L 1), S. 430. 49 Vorhanden: Bibliothek der Franckeschen Stiftungen Halle. Ein, wie der Fortgang des Titels zeigt, übersetzter Traktat englisch-philadelphischer Genese, der über seine französische Übersetzung adaptiert wurde. – Vgl. Schrader : Literaturproduktion (1989, L 1), S. 154, Nr. 84.
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Aaron Sincerus [= Ernst Christoph Hochmann von Hochenau]: Nothwendige Addresse und Warnung an die Regenten Teutschlandes / Wegen der harten Verfolgungen der sogenannten Pietisten / Oder Wahren Kinder Gottes, ,Friedens=Stadt‘ [1711].50 Christiani Philadelphi vernünfftige Friedens=Gedancken Von Vereinigung derer beyden Protestirenden Kirchen in der Lehre vom Heiligen Abendmahl, Berleburg 1723.51 Victor Christoph Tuchtfeld: Die Bekehrung der Väter zu denen Kindern / […] Zur […] Errettung so vieler tausend Seelen, die unter den Menschen=Ordnungen und Satzungen gefangen gehalten werden / […], o.O. 1723.52 Ders.: Die Scheidung des Lichts und der Finsterniß / […] Allen Gottesfürchtigen / in allen Secten und Religionen zur Prüfung / […], o.O. 1724.53 [Johann Samuel Carl]: Philadelphische Einladung zu einer gewissen Gebehts=Versammlung im Geist […], o.O. 1729.54
Eher den Weg individueller Einsicht oder Offenbarung bei programmatischem Desinteresse an den Vorgaben der Kirchenlehre zeigen Schriften wie 50 Vorhanden: Landesbibliothek Stuttgart. Autorzuweisung und Datierungsbeleg bei Hans Schneider: Hochmann von Hochenau and Inspirationism. A Newly Discovered Letter. In: Brethren Life and Thought 25 (1980), S. 199–222, hier S. 212. 51 Vorhanden: Fürstl. Hof-Bibliothek Bad Berleburg. Vgl. Schrader: Literaturproduktion (1989, L 1), S. 204, Nr. 20. 52 Vorhanden: Stadtbibliothek Braunschweig. Informationen zu Tuchtfeld (gest. nach 1741) als einem der führenden Propagatoren konfessionsüberschreitend-,philadelphischer‘ Ideen bei Carl Hinrichs: Preußentum und Pietismus. Der Pietismus in Brandenburg-Preußen als religiössoziale Reformbewegung, Göttingen 1971, S. 136–147; sowie Andreas Kroh: Victor Christoph Tuchtfeld. In: Wittgensteiner Pietismus in Portraits. Ein Beitrag zur Geschichte des radikalen Pietismus in Wittgenstein. Hg. von Andreas Kroh und Ulf Lückel, Bruchsal 2003, S. 153–156. – Vgl. auch Hans Schneider: Der radikale Pietismus im 18. Jahrhundert. In: Der Pietismus im achtzehnten Jahrhundert (wie Anm. 45), S. 106–197, hier S. 164–167, Manfred JakubowskiTiessen: Der Pietismus in Niedersachsen. In: ebd., S. 428–445, hier S. 429 f.; sowie ders.: Religiöse Konflikte und soziale Proteste. Bergarbeiterunruhen und radikalpietistische Bewegungen im Oberharz im 18. Jahrhundert. In: Jahrbuch der Gesellschaft für Niedersächsische Kirchengeschichte 94 (1996), S. 123–138. Jetzt auch (mit neuerer Lit.) Schrader: Lutherisch-reformierte Konfessionsirenik (2018, L 58), hier S. 99–101. 53 Vorhanden: Stadtbibliothek Braunschweig. 54 Anonym verbreitete Flugschrift von 1729, Originaldruck [4 S.] in der BCU Lausanne: Fonds des .mes Int8rieures; Wiederabdruck in: Schule des Heiligen Geistes, das ist, eine deutliche Beschreibung der Gnaden=Wirkungen des Heiligen Geistes […]; Nebst einer Philadelphischen Einladung zu einer gewissen Gebets=Versammlung im Geist, [Züllichau] 1730; danach weit verbreitet in der Zeitschrift: Supplementa Der Auserlesenen Materien zum Bau des Reichs GOttes, Bd. 1, (1738), Slg. 5, S. 450–463, vorhanden: UB Düsseldorf. – Vgl. Schrader : Literaturproduktion (1989, L 1), S. 70, S. 209, Nr. 48, und S. 383 f.; nähere Angaben und Literatur in ders.: Literaturproduktion (2002, L 1), hier im vorliegenden Band S. 60; sowie ders.: Zores in Zion (2009, L 44), hier im vorliegenden Band S. 601 und 617, vgl. auch ders.: Johann Samuel Carl (1979, L 61), hier im vorliegenden Band, S. 629.
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[Andreas Gross]: Schrifftmäsziges Zeugnusz / Vom Innern und Aeussern Worte GOttes / […] Durch einen Auffrichtig=Gesinnten, o.O. 1713.55 [Eberhard Ludwig Gruber]: Kurtze / doch gründliche Unterweisung von dem inneren Wort Gottes. Um der Einfältigen willen in Frag und Antwort gestellet von Einem Liebhaber desselbigen und nun zum andern mal in Druck gegeben, o.O. 1714.56 Johann Jobst Hahn: Dieses mein Büchlein / Mit meinen Littern / Nennt sich ein Glaubens=Zeugnis Von JEsu Christo / Durch Lernung der Erfahrung Freywillig aufgesetzt / […], [Berleburg] 1717.57 Tobias Eisler : Nachdenkliche und in der Wahrheit vest=gegründete Zeugnisse vom Innern Wort Gottes, […]. Gedruckt in diesem Jahr, [o.O. 1724]58
Dass die eingeforderte Toleranz bei den pietistischen Heißspornen geradeso wie bei den streitbaren Geistern der Aufklärung häufig sehr schnell dann eine Grenze fand, wenn jemand, auch aus derselben Gruppe, die geäußerten Positionen bestritt, ist menschlich naheliegend, ändert aber nichts an der großen gemeinsamen Errungenschaft, dass unterschiedliche Auffassungen gleichbe55 Vorhanden: Stadtbibliothek Braunschweig sowie Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel. Zu dem aus Straßburger Philadelphierkreisen stammenden Gross (Groß) (ca. 1678–1757) und dessen maßgeblicher Bedeutung für die Organisation des radikalpietistischen Buchhandels unter Umgehung der Zensur vgl. Schrader: Literaturproduktion (1989, L 1), S. 449–457 und S. 476–480 (und s. Reg.) sowie Hans Schneider: Der radikale Pietismus im 18. Jahrhundert (wie Anm. 52), S. 159–164 (und s. Reg.). 56 Im selben Sammelband der SB Braunschweig; zu dem amtsenthobenen württembergischen Theologen Gruber (1665–1728), der später der Hauptorganisator und die richtungweisende theologische Autorität der neuprophetischen Inspiriertensekte wurde, vgl. Ulf-Michael Schneider: Propheten der Goethezeit (wie Anm. 31), S. 29–39, 65–68 (und s. Reg.); Brecht: Der württembergische Pietismus. In: Der Pietismus im achtzehnten Jahrhundert (wie Anm. 45), S. 225–295, hier S. 231 ff.; Hans Schneider: Der radikale Pietismus im 18. Jahrhundert (wie Anm. 52), S. 130–133, 183 (und s. Reg.); Noth: Ekstatischer Pietismus (wie Anm. 31), S. 101–119, S. 126–129 und S. 190–203 (und s. Reg.), Grutschnig-Kieser : Der „Geistliche Würtz= Kräuter= und Blumen=Garten“ des Christoph Schütz (wie Anm. 31), S. 128 f., S. 208 f., 272 f. (und s. Reg.); Schrader: Traveling Prophets (2009, L 42), hier im vorliegenden Band S. 579–581. 57 Vorhanden: UB Marburg (Religionskundliche Sammlung). – Vgl. Schrader: Literaturproduktion (1989, L 1), S. 202, Nr. 8, und S. 185; ders.: Probleme der bibliographischen Erschließung (1988, L 16), hier im vorliegenden Band S. 67; ders.: Sphärensprünge (2004, L 36), S. 93–115, hier S. 99 ff. – Hahn war Kleinbauer auf dem Schlechten Boden (Christianseck) in der Grafschaft Sayn-Wittgenstein-Berleburg, ein deutlicher Beleg für die soziale Reichweite der pietistischen Alphabetisierung und Individualisierung eines dogmenunabhängigen Herzenschristentums. 58 Vorhanden: Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel. Der von allen etablierten Glaubensgemeinschaften Abstand wahrende Separatist Tobias Eisler (1683–1753), Herausgeber einer Sammlung pietistischer Biographien („Merckwürdige Exempel rechtschaffener That-Christen“, Büdingen 1719), ist besonders als Hauptpropagator der Lehren des neuprophetischen Perückenmachers und Wanderpredigers Johann Tennhardt (1661–1720) aufgetreten, vgl. Friedrich Braun: Joh. Tennhardt. Ein Beitrag zur Geschichte des Pietismus, München 1934 (Einzelarbeiten aus der Kirchengeschichte Bayerns, Bd. 179); Schrader : Literaturproduktion (1989, L 1), (s. Reg.) sowie Hans Schneider: Der radikale Pietismus im 18. Jahrhundert (wie Anm. 52), S. 140, 168, 184, 193 f.
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rechtigt nebeneinander bestehen und geäußert werden konnten.59 Mit dem Verbindlichkeitsverlust der Kirchenlehren aber gewinnt die Säkularisation des Geisteslebens uneinholbar an Geschwindigkeit. Es ist eindeutig eher pietistische als aufklärerische Erbschaft, wenn der junge Goethe in seinem Brief des Pastors von 1773 den toleranten Landgeistlichen lehren lässt: Was sollte mich antreiben die Augspurgische Confeßion für was anders als eine Formel auszugeben, die […] mich aber nur äusserlich verbindet, und mir übrigens meine Bibel läßt. […] Denn wenn mans beym Lichte besieht, so hat jeder seine eigene Religion […]. Einem Meynungen aufzuzwingen, ist schon grausam, aber von einem verlangen, er müsse empfinden was er nicht empfinden kann, das ist tyrannischer Unsinn.60
Demselben Gedanken wird er in Erinnerung an seine pietistische Jugendphase noch im Alter, in Dichtung und Wahrheit, persönliches Echo geben: Der Geist des Widerspruchs und die Lust zum Paradoxen steckt in uns allen. Ich studierte fleißig die verschiedenen Meynungen, und da ich oft genug hatte sagen hören, jeder Mensch habe doch seine eigene Religion; so kam mir nichts natürlicher vor, als daß ich mir auch meine eigene bilden könne, und dieses that ich auch mit vieler Behaglichkeit.61
VI. Einige der genannten Toleranzprogramme und Einforderungen des Rechts auf eigene Einsicht in Religionsbelangen sind von Handwerkern, andere von einem Bauern geschrieben und veröffentlicht worden, ein Zeichen dafür, dass auch die geläufigen sozialen Schranken und die Voraussetzung einer akademischen Bildung ins Wanken geraten waren, dass jedermann sich mit seinen Einsichten und Auffassungen in öffentlichem Druck vorwagen konnte und dass diese Äußerungen auch für relevant genommen wurden. Die Vorstellung einer Gleichheit aller Menschen vor Gott und auch der Gleichgewichtigkeit der göttlichen Gnadenführung einer jeden Seele, ja der klaren Überlegenheit des Seelenadels vor adligen Geblütsvorteilen geht wiederum prinzipiell in die gleiche Richtung wie das naturrechtlich begründete Gleichheitspostulat der Aufklärer, das in unsere Verfassungen Eingang gefunden hat. Auf diesem 59 Dieses Spannungsverhältnis ist reflektiert bei Schrader : Zores in Zion (2009, L 44), im vorliegenden Band S. 591–623; Udo Sträter: Spangenbergs Vertreibung aus Halle. In: Unitas Fratrum 61/62 (2009), S. 23–42. 60 Zitiert aus Paul Raabes Quellensammlung der Goetheschen Bezüge zum Pietismus; Goethe: Träume und Legenden (wie Anm. 30), S. 26–29. Zur Auslegung vgl. Schrader: Propheten zur Rechten (2001, L 25) , S. 369–371; ders.: Von Patriarchensehnsucht zur Passionsemphase (2005, L 39), S. 72 f.; sowie Lehmann: Transformationen der Religion (wie Anm. 11), S. 118 f. 61 Goethe: Träume und Legenden (wie Anm. 30), S. 130, ausführlicher ausgeführt auch bei Schrader: Zores in Zion (2009, L 44), im vorliegenden Band S. 591–595.
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Sektor aber war die vom Pietismus ausgehende emanzipatorische Breitenwirkung zweifellos noch um einiges stärker als die der aufklärerischen Theorie-Abhandlungen. Das gilt insbesondere auch für die Emanzipation, für Bildungs- und Lektürezugang und für das in großer Breite einsetzende schriftstellerische Hervortreten der Frauen.62 Dass solide Ausbildung nicht auf die oberen Gesellschaftsschichten oder die Heranziehung des Akademikerstands – in der Epoche eine noch unangefochtene Männerdomäne – begrenzt blieb, sondern gerade auch in den Realien nun auch für mittellose Mädchen weit vor den aufklärerischen Philanthropinen erteilt wurde, nicht bloß in Halle, sondern in landesweit entstehenden Waisenhäusern und Schulanstalten, ist oft erörtert worden.63 Die protestantische Tradition gedruckter, mit biographischen Personalia und Epicedien ausgestatteter Leichenpredigten,64 im Barock noch selbstverständlich (mit ganz seltenen Ausnahmen, etwa für Landesmütter) reserviert für die Männer aus dem Adel und der bürgerlichen Oberschicht und für Akademiker, öffnet sich im 18. Jahrhundert (gerade bei führenden Predigern) zum Erweis der unparteiischen Liebe und Fürsorge Gottes für einzelne erweckte Soldaten und Handwerker, in großem Umfang für Frauen – und da sind die Biographien häufig ersetzt durch ihre eigenen vorsorglich niedergelegten Lebens- und Seelenrechenschaften, auch Gedichte. Schaut man die Selbstzeugnisliteratur, aber auch Gebete, Lieder, Andachtsbücher des Pietismus durch, dann ist ein erstaunlich breiter Anteil von Frauen verfasst, erheblich mehr, als die Aufklärung, weithin erst spät, an Schrift62 Für das aufklärerische Postulat vgl. Helga Brandes: Art. ,Frau‘. In: Lexikon der Aufklärung. Deutschland und Europa. Hg. von Werner Schneiders, München 1995, S. 126–129, sowie Annemarie Kleinert: ,Frauenzeitschriften / Modezeitschriften‘. In: ebd., S. 129 f. 63 Zusammenfassend (mit Lit.) Werner Loch: Pädagogik am Beispiel August Hermann Franckes. In: Glaubenswelt und Lebenswelten (wie Anm. 12), S. 264–398 – Für die pietistischen Waisenhäuser vgl. den opulenten Katalog: Kinder, Krätze, Karitas. Waisenhäuser in der Frühen Neuzeit. Hg. von Klaus Feldmann und Jochen Birkenmeier, Halle 2009 (Kataloge der Franckeschen Stiftungen, Bd. 23). Dort ist auch die Gegenseite der jammervollen Lebensbedingungen reflektiert, die in den finanziell unzulänglich ausgestatteten Anstalten die Lernerfolge beeinträchtigten. 64 Vgl. grundlegend Fritz Roth: Literatur über Leichenpredigten und Personalschriften. Eine Übersicht, Neustadt/Aisch 1959 (Schrifttumsberichte zur Genealogie und zu ihren Nachbargebieten, Bd. 1, Literaturbericht, Bd. 12), S. 285–316; ders: Restlose Auswertungen von Leichenpredigten und Personalschriften für genealogische Zwecke, Bd. 1, Boppard 1959, Vorrede, S. III–XX; Rolf Hartmann: Das Autobiographische in der Basler Leichenrede, Basel – Stuttgart 1963 (Basler Beiträge zur Geschichtswissenschaft, Bd. 90); Leichenpredigten als Quelle historischer Wissenschaften. Hg. von Rudolf Lenz. 4 Bde., Köln – Wien 1975, Marburg 1979/1984/ 2004; Rudolf Mohr: Art. ,Ars moriendi II. 16.18. Jahrhundert‘. In: Theologische Realenzyklopädie. Hg. von Gerhard Krause und Gerhard Müller, Bd. 4, Berlin – New York 1979, S. 149–154. – Das dringende Desideratum einer Spezialbibliographie der pietistischen Leichenpredigt-Drucke mit Aufschlüsselung der darin enthaltenen Predigten und Abdankungen, insbesondere aber der Personalia, autobiographischen Rechenschaften und Epicedien, das einen namhaften Beitrag der pietistischen Literatur überhaupt erst erschließen ließe, ist nach wie vor unerfüllt. Vgl. Schrader: Probleme der bibliographischen Erschließung (1988, L 16), im vorliegenden Band S. 80.
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stellerinnen hervorgebracht hat. Das Kriterium der Vorbildhaftigkeit liegt dabei nicht in der Unterscheidung männlich – weiblich, sondern „zwischen Nicht-Wiedergeborenen und Wiedergeborenen“.65 Gleichwohl aber wird der hohe Anteil vorbildlicher Frauen in der umfassendsten und meistverbeiteten Biographiensammlung des Pietismus, Johann Henrich Reitz’ (1665–1720) Historie Der Wiedergebohrnen, in der „Zuschrifft“ zum Ersten Teil (gewidmet an eine Theologenwitwe, eine Offiziersfrau und eine Kaufmannsgattin) schon 1698 explizit und unter Verweis auf viele theologische Autoritäten mit einer größeren Offenheit der Frauen auf Gott hin begründet: Und um dieser Zuversicht willen / habe diese Historie der Wiedergebohrnen Ihnen / als einen rechten geistlichen Frauen=Zimmer=Spiegel / præsentiren und zueignen wollen / zumahlen / da es meistens Frau=Personen / die allhier in diesem Ersten Theil / als wiedergebohrne Kinder Gottes / erscheinen. Und wann ich meines Hertzens Meynung sagen soll / so halte ich darfür / daß mehr Weibs= als Manns=Personen wiedergebohren und selig werden.66
Dagegen ist die Verspottung der sich unberufen in die theologische Gelehrsamkeit hinein verführen lassenden Frauen im Aufklärungs-Lustspiel der Luise Adelgunde Victorie Gottsched (1713–1762) (die als Frau selbst den Kathedervorträgen ihres berühmten Aufklärer-Gatten bekanntlich nur hinter einem Vorhang verborgen lauschen durfte), Die Pietisterey im Fisch65 Ruth Albrecht: Frauen. In: Glaubenswelt und Lebenswelten (wie Anm. 12), S. 522–555, hier S. 529. – Der Gender-Aspekt findet besondere Berücksichtigung in den Monographien von Ulrike Witt: Bekehrung, Bildung und Biographie. Frauen im Umkreis des Halleschen Pietismus, Tübingen 1996 (Hallesche Forschungen, Bd. 2); Ruth Albrecht: Johanna Eleonora Petersen. Theologische Schriftstellerin des frühen Pietismus, Göttingen 2005 (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus, Bd. 45); sowie Noth: Ekstatischer Pietismus (wie Anm. 31). – Vgl. die Aufsätze von Ruth Albrecht: Chancen und Grenzen der Idee des geistlichen Priestertums für Frauen. In: Interdisziplinäre Pietismusforschungen, Bd. 1 (wie Anm. 12), S. 257–262; sowie von Gleixner: Warum sie soviel schrieben. (wie Anm. 22), ebd., S. 521–526). – Vgl. die von der im Okt. 2011 am Interdisziplinären Zentrum für Pietismusforschung in Halle veranstalteten Tagung jetzt publizierten Erträge: Gender im Pietismus. Netzwerke und Geschlechterkonstruktion. Hg. von Pia Schmid [u. a.], Halle 2015 (Hallesche Forschungen, Bd. 40). 66 [Johann Henrich Reitz]: Historie Der Wiedergebohrnen / Oder Exempel gottseliger / so bekandt= und benant= als unbekandt= und unbenanter Christen / Männlichen und Weiblichen Geschlechts / In Allerley Ständen / Wie Dieselbe erst von Gott gezogen und bekehret / und nach vielen Kämpfen und Aengsten / durch Gottes Geist und Wort / zum Glauben und Ruh ihres Gewissens gebracht seynd, Offenbach 1698 (Faksimile-Neudruck: Reitz: Historie Der Wiedergebohrnen [1982, L 2], Bd. 1, Teile I–III), S. )(4r. – Vgl. zur Besonderheit des Ersten Teils mit seinen weitgehend aus dem Englischen einer puritanisch-nonkonformistischen Quelle übersetzten Selbstzeugnissen sowie zum Frauenanteil des Gesamtwerks mein Nachwort: Reitz: Historie Der Wiedergebohrnen (1982, L 2), Bd. 4, S. 169*–173* und S. 179*–182*; sowie Schrader: Literaturproduktion (1989, L 1), S. 77–84, 390–396. – Entsprechend gab es mehrere spezifisch auf Frauen-Lebenszeugnisse ausgerichtete Sammelbiographien, vgl. die Zusammenstellung pietistischer Lebenslauf- und Bekenntnissammlungen („Die neue Gattung“) in Schrader: Nachwort. In: Reitz: Historie Der Wiedergebohrnen. Neudruck (1982, L 2), Bd. 4, S. 127*–153*.
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bein=Rocke; oder die Doctormäßige Frau von 1736 eher wieder ein Rückschritt.67 Die jugendliche Heldin des Dramas, Jungfer Luischen, die da vor den finsteren Nachstellungen pietistischer Schürzenjäger und Erbschleicher gerettet wird, fällt angesichts der Verwirrung ihrer Mutter, Frau Glaubeleichtin, durch „Wörter, womit man vier theologische Responsa ausspicken könnte“, in enttäuschender Aposiopese wieder in die traditionelle Frauenrolle des ,mulier taceat in ecclesia‘ zurück: Ich verehre alles das, als heilige Sachen; aber ich sehe nicht, was ich mich drein zu mischen habe; und ob überhaupt ein Frauenzimmer – – – –68
VII. Abschließend sei noch ein ebenso knapper Streifblick auf das Verhältnis zu den Juden und den Bemühungen um deren Assimilation und Emanzipation versucht. Da allerdings sind die Verhältnisse weniger gleichgerichtet und haben aus unserer Sicht von jenseits des Rückfalls in die noch mörderischer gewordene Katastrophengeschichte gedeihliche Perspektiven auch weniger nachhaltig zu sichern vermocht. Die bürgerliche Verbesserung der Juden pflegen wir heute mit dem Titel der 1781 im Verlag Friedrich Nicolais erschienenen Programmschrift des preußischen Kriegsrats Christian Konrad Wilhelm von Dohm (1751–1820) gegen die bis ins 18. Jahrhundert wirksamen verjährten Vorurteile, Verfolgungen, Rechtsberaubungen, Ghettoisierungen und Ausplünderungen der Juden als eine eindeutig der Aufklärung verdankte Leistung anzusehen.69 Schließlich hat Wieland Dohms Vorschläge zur 67 Auch wenn man konzedieren muss, dass auch die Frauenbilder des Spät- und Neupietismus neuerlich bedenkliche Geschlechterstereotype reproduzieren, vgl. Albrecht: Frauen (wie Anm. 65), S. 532–536. 68 Luise Adelgunde Victorie Gottsched: Die Pietisterey im Fischbein-Rocke. Komödie. Hg. von Wolfgang Martens, Stuttgart 1968 (Reclams Universal-Bibliothek, Bd. 8579/80), S. 32, vgl. die gründlichen Informationen zum Stück und seiner französischen, antijansenistischen Vorlage im Anhang (ebd., S. 144–167); vgl. weiterführend Schrader: Probleme der bibliographischen Erschließung (1988, L 16), im vorliegenden Band S. 88–90; ders.: Die Literatur des Pietismus – Impulse (2004, L 34), S. 102; sowie ders.: Vom Heiland im Herzen (1994, L 19), im vorliegenden Band S. 119 f. 69 Christian Wilhelm Dohm: Ueber die bürgerliche Verbesserung der Juden, Berlin – Stettin 1781, Fortsetzungsband 1783. In: ders.: Über die bürgerliche Verbesserung der Juden. 2 Teile in einem Bd., Hildesheim – New York 1973; vgl. die vom Herausgeber klug kommentierte Auswahl unter Weglassung (Nachweis: S. 183) der eher verwaltungstechnischen Reformempfehlungen in: ders.: Ausgewählte Schriften. Lemgoer Ausgabe. Bearb. von Heinrich Detering, Lemgo 1988 (Lippische Geschichtsquellen, Bd. 16), S. 66–88. – Kurioserweise hat die RGG weder in ihrer dritten noch in der neuen, vierten Auflage einen eigenen Artikel über den Verfasser dieser zeitenwendenden Abhandlung, und sogar in einem 20-bändigen Konversationslexikon sucht man ihn vergebens: Lingen-Lexikon in 20 Bänden. Erarb. nach d. Unterlagen d. Lexikon-Re-
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gleichberechtigten Integration in die Gesellschaft als „vortrefflich“ gerühmt und eine weiterführende Abhandlung geschrieben. Mendelssohn hat die Verdienste des Mannes neben die Lessings gestellt. An der elenden Situation der jüdischen Bevölkerung gibt Dohm nicht im altkirchlichen und auch noch lutherisch-orthodoxen Sinn ihrer eigenen ,Verstocktheit‘ Schuld, sondern der Lieblosigkeit der Christen. Er setzt auf den „Grundsatz von der allgemein gleichen Beschaffenheit der menschlichen Natur“70 und empfiehlt daher die vollständige Integration der Juden in alle Bereiche der Gesellschaft, auch in verschlossene Berufszweige wie Ackerbau und Militär. Im Gegenzug sollen die Juden zum Vermeiden von Vorurteilen alle fremdartig erscheinenden Besonderheiten in Erscheinungsbild, Kleidung, Nahrung und Verehrungsformen entweder abschaffen oder zumindest in den geschlossenen Raum ihrer Schulen und Privathäuser verlegen. Das war ein klarer Fortschritt gegenüber dem ja auch im früheren Aufklärungslager noch verbreiteten Judenhass (schäbig etwa geäußert von Voltaire [1694–1778]). Und in die gewiesene Richtung der Emanzipierung durch Assimilation an die Mehrheitsgesellschaft ist die Entwicklung ja dann, so lange es gutging, tatsächlich weiter gegangen. Wiederum hat aber auch hier, wie die neuere Forschung in großer Breite ausgewiesen hat, weit früher, bei den Frommen des Barock und des 18. Jahrhunderts, ein vertieftes Interesse an den Juden und eine ehrerbietige Kontaktsuche von Gleich zu Gleich eingesetzt, ein öffentliches Eintreten gegen Hass und Benachteiligung und für eine Besserung ihrer Situation.71 Bei den
daktion d. Verlags F.A. Brockhaus, Bd. 4, Freiburg i.Br. 1973. Selbst im „Lexikon der Aufklärung. Deutschland und Europa“ (wie Anm. 62) bleibt Dohm (Willi Goetschel: Art. ,Juden‘, S. 197 f.) ungenannt und in Nachschlagewerken des 19. Jahrhunderts wird im biographischen Artikel sein Hauptwerk (die „Juden-Schrift“, wie er selbst sie abkürzend nannte) nur nebenbei erwähnt (Meyers Konversations=Lexikon, 5., gänzl. neubearb. Aufl., Bd. 5. Neuer Abdruck, Leipzig – Wien 1894, S. 69). – Vgl. dagegen Heinrich Detering: Christian Wilhelm von Dohm und die Idee der Toleranz. In: Lessing und die Toleranz. Beiträge der 4. Internationalen Konferenz der Lessing-Society in Hamburg, Detroit – München 1986 (Lessing Yearbook, Sonderband), S. 174–185; sowie Rudolf Vierhaus: Christian Wilhelm Dohm. Ein politischer Schriftsteller der deutschen Aufklärung. In: ders.: Deutschland im 18. Jahrhundert. Politische Verfassung, soziales Gefüge, geistige Bewegungen. Ausgewählte Aufsätze, Göttingen 1987, S. 143–156. 70 Dohm: Ueber die bürgerliche Verbesserung, Reprint (wie Anm. 69), Teil 2, S. 22. 71 Vgl. grundlegende neuere Arbeiten zum Verhältnis von Pietismus und Judentum: Martin Friedrich: Zwischen Abkehr und Bekehrung. Die Stellung der deutschen evangelischen Theologie zum Judentum im 17. Jahrhundert, Tübingen 1988 (Beiträge zur Historischen Theologie, Bd. 72); Martin Jung: Die württembergische Kirche und die Juden in der Zeit des Pietismus (1685–1780), Berlin 1992 (Studien zu Kirche und Israel, Bd. 13); Peter Vogt: The Attitude of Eighteenth Century German Pietism towards Jews and Judaism. A Case of Philosemitism? In: The Covenant Quarterly 56/4 (1998), S. 18–32; Schrader: Sulamiths verheißene Wiederkehr (1988, L 15), im vorliegenden Band S. 169–204; ders.: Philadelphian Hope (2002, L 28), im vorliegenden Band S. 205–231; und Johannes Wallmann: Der alte und der neue Bund. Zur Haltung des Pietismus gegenüber den Juden. In: Glaubenswelt und Lebenswelten (wie Anm. 12), S. 143–165. – Vgl. die von Peter Vogt herausgegebene Quellensammlung: Zwischen Bekehrungseifer und Philosemitismus (wie Anm. 33); sowie wichtige sozialhistorische Zusatzinfor-
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Spiritualisten des 17. Jahrhunderts war neben der Kritik am Zustand der Kirche ein spekulatives Interesse an rabbinischer Überlieferung und an der Kabbala ein wichtiger Anstoß für das, was Hans-Joachim Schoeps schon 1952 mit einer Sammlung vieler Fallbeispiele von Kontakten, Adaptionen und Übertritten als Philosemitismus im Barock herausgestellt hat.72 Die Bemühung um eine ,christliche Kabbala‘ reicht von Knorr von Rosenroth (1636–1689) bis zu Oetinger (Lehrtafel der Prinzessin Antonia) und seinem Schüler Karl Friedrich Harttmann (1743–1815), der das mystische Hauptwerk, den Sohar, aus dem Hebräischen übertragen hat. Eine Vertiefung der Hebräisch-Kenntnisse wurde massiv durch den pietistischen Biblizismus, die ängstliche Sorge um die Bedeutung jedes Bibelworts, erreicht. Für die Neuedition der hebräischen Bibel, die Wörterbücher, eine Serie von Neuübersetzungen und aufwendigen Kommentierungen der Heiligen Schrift haben pietistische Gelehrte in Hamburg, Gießen, Halle und Berleburg Kontakte zu jüdischen Lehrern gesucht und produktiv unterhalten. Schon 1710 wurde in der Biblia Pentapla die Transliterierung einer ,jüdisch-deutschen‘ Bibelübersetzung mit ihren programmatischen Vorreden aus der hebräischen Schrift für christliche Leser publiziert.73 Neben das wissenschaftliche trat christlich-bruderliebendes und heilsgeschichtliches Interesse an den Juden. Begründet wurde das damit, dass aus diesem erwählten Volk Gottes der Heiland hervorgegangen sei, den sie nur noch nicht als den Messias erkannt hätten. Dass sie trotzdem weiter unter Gottes besonderem Schutz stehen, zeige ihre Erhaltung durch alle die Wirren der Diaspora. Ihre besondere heilsgeschichtliche Würde aber erhelle aus zahlreichen Bibelverheißungen, insbesondere Röm 11,25 f., präfimationen in der neueren Literatur zu den spezifisch auf Bekehrung und Taufe von Juden gerichteten Studien (s. u. Anm. 76). 72 Hans-Joachim Schoeps: Philosemitismus im Barock. Religions- und geistesgeschichtliche Untersuchungen, Tübingen 1952, jetzt auch in ders.: Gesammelte Schriften. Hg. vom MosesMendelssohn-Zentrum für europäisch-jüdische Studien. Red. Julius H. Schoeps und Manfred Fleischer. Abt. 1: Religionsgeschichte, Bd. 3: Aus frühchristlicher Zeit, Philosemitismus im Barock, Symmachusstudien, Hildesheim – New York 1998. Anhand des dort berichteten historischen Fallbeispiels des Jens Pedersen Gedeløcke, das Wilhelm Raabe (1831–1910) zu einer Novelle umgestaltet hat, habe ich kürzlich nachweisen können, wie – ganz im Gegensatz zur herkömmlichen (auch von Raabe angenommenen) Sicht der Geschichtsabfolgen – die vergleichsweise günstigere Situation der Juden im dänischen Königreich unter dem Pietistenkönig Christian VI. (1699–1746) mit dem Amtsantritt seines aufgeklärten Nachfolgers Friedrich V. (1723–1766) sich wieder verschlechterte, so dass sie erneut öffentliche Demütigungen und Drangsalierungen erleiden mussten, Schrader : „Gedelöcke“ (2009, L 43), S. 87–113; Wiederabdruck in ders.: Wilhelm Raabe. Studien zu seiner avanciert-realistischen Erzählkunst, Göttingen 2018, S. 197–227. 73 Vgl. Schrader : Lesarten der Schrift (1996, L 20), im vorliegenden Band S. 285–305; Hermann Patsch: Arnoldiana in der „Biblia Pentapla“. Ein Beitrag zur Rezeption von Gottfried Arnolds Weisheits- und Väter-Übersetzung im radikalen Pietismus. In: Pietismus und Neuzeit 26 (2000), S. 94–116; und ders.: Verstehen durch Vergleichen. Die „Biblia Pentapla“ von 1710–1712. In: Die Hermeneutik im Zeitalter der Aufklärung. Hg. von Manfred Beetz und Guiseppe Cacciatore, Köln – Wien 2000 (Collgium Hermeneuticum, Bd. 3), S. 113–130.
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Feindliche Geschwister?
guriert in Hos 3,4 f., dass bei der Wiederkunft des Herrn die Juden zusammen mit den Heiden ihm zur Gänze zufallen und mit in sein Friedensreich treten werden. Alle diese Argumente klingen schon in Speners Pia Desideria an74 und führen zu praktischen Besserungsforderungen, vom ehrerbietigen Umgang bis zur Forderung nach Abschaffung der beruflichen Einschränkungen. Ganz ähnlich bestimmen sie auch das Lebenswerk des zwischen Pietismus und Frühaufklärung stehenden Altdorfer Orientalisten Johann Christoph Wagenseil (1633–1705).75 Die daraus später gezogenen Folgerungen waren aber sehr unterschiedlich. Nachdem Spener in der Frage einer Missionierung sehr vorsichtig geblieben war (getauft werden solle nur, wer das ernstlich und dauerhaft begehre) und Francke Stellungnahmen vermied sowie für die Anstalten einen jüdischen Drucker hielt, ohne ihm je eine Konversion nahezulegen, war die Tendenz im kirchlichen Pietismus, auch bei den Herrnhutern und bis hin zu Lavater (1741–1801), auf Bemühungen zur ,Judenbekehrung‘ gerichtet, teils wegen des allgemeinen Missionsgebots Jesu Mt 28,19, teils aber auch, um durch massenhaftes Zufallen der Juden die Wiederkehr des Herrn und das verheißene Gottesreich zu beschleunigen. So entstand z. B. in den Franckeschen Anstalten, doch als unabhängige Körperschaft, das Institutum Judaicum unter Johann Heinrich Callenberg (1694–1760),76 das sich systematisch, auch mit dem Verfassen und der Übersetzung christlicher Andachtsschriften in jiddischer bzw. hebräischer Sprache, der Mission widmete. Ebenso wie bei anderwärtigen Bekehrungsbemühungen vor dem 19. Jahrhundert blieb aber der dann groß herausgestellte Erfolg zahlenmäßig be74 Vgl. die detailliert-differenzierte Analyse, insbesondere auch von Speners einseitig die positiven Aussagen über die Juden aufgreifender Rezeption und Auslegung der mit zunehmendem Alter problematischer und schließlich gehässig werdenden Äußerungen Luthers bei Wallmann: Der alte und der neue Bund (wie Anm. 71), S. 143–148. 75 Vgl. die Monographie von Peter Blastenbrei: Johann Christoph Wagenseil und seine Stellung zum Judentum, Erlangen 2004, in der der aufklärerische Hintergrund und Impetus hervorgehoben wird, sowie die Rezension dieses Buches von Martin Friedrich, die dagegen den ursprünglich pietistischen Quellgrund und auch argumentativen Skopus Wagenseils betont, in: Pietismus und Neuzeit 32 (2006), S. 283–286. 76 Vgl. Lit. zu Callenberg und zum Institutum Judaicum sowie allgemein zur Praxis der Judenmission und ihren im gegebenen sozialgeschichtlichen Umfeld während des 18. Jahrhunderts noch sehr zählbaren Erfolgen: Johannes Graf: Einleitung in: Judaeus conversus. Christlichjüdische Konvertitenautobiographien des 18. Jahrhunderts. Hg. von Johannes Graf, Frankfurt [u. a.] 1997, S. 13–115; Christoph Rymatzki: Hallischer Pietismus und Judenmission. Johann Heinrich Callenbergs Institutum Judaicum und dessen Freundeskreis (1728–1736), Tübingen 2004 (Hallesche Forschungen, Bd. 11); sowie Gesine Carl: Zwischen zwei Welten? Übertritte von Juden zum Christentum im Spiegel von Konversionserzählungen des 17. und 18. Jahrhunderts, Hannover 2007 (Troll – Tromsøer Studien zur Kulturwissenschaft, Bd. 10). Wichtige neue Erträge bingt auch der Tagungsband des Workshop von Oktober 2010 in den Franckeschen Stiftungen über Konversionsstrategien der hallischen Judenmission aus Anlass des 250. Todestages von Johann Heinrich Callenberg. Der Band erscheint unter dem Titel: Das Institutum Judaicum et Muhammedicum in Halle. Mission ohne Konversion? Studien zu Arbeit und Umfeld des Instituts. Hg. von Grit Schorch und Brigitte Klosterberg, Halle 2019 (Hallesche Forschungen, Bd. 51).
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scheiden, auch blieben die Proselyten nicht immer dauerhaft, weil sie unter Verlust ihrer alten sozialen Bindungen weiterhin altem Argwohn und Vorurteilen unter den Christen begegneten, auch (außer als Pfarrer und Missionare) selten auskömmliche Stellung im Leben fanden. Die andere Richtung war die im radikalen Pietismus verbreitete. Gerade der heilsgeschichtlichen Erwartungen wegen lehnte man Mission und Taufe ab und bemühte sich programmatisch eher um die Förderung und Heiligung der Juden gemäß ihren eigenen Gottesdienstformen, Gesetzen und Bräuchen. Denn wenn die Wiederkehr des Herrn zusammen mit seiner Anerkennung durch die Gänze der Juden geweissagt war, dann durften diese nicht zuvor diesem heilsgeschichtlichen Auftrag entzogen werden. Diese judenfreundliche Richtung,77 die übrigens unter den pietistischen Pionieren des kolonialen Amerika besonders stark war78 – sicher mit der Wirkung, dass Europas brutaler Antisemitismus dort nie hat Platz greifen können –, wäre die einzige gewesen, die jüdisches Leben ohne Zerstörung der jüdischen Tradition und Besonderheit hätte bestehen lassen können. Aber sie ist durch die Säkularisation untergegangen, die ihren biblizistisch-spekulativen Voraussetzungen den Boden entzogen hat. Weder die menschenfreundlichen aufklärerischen Assimilierer noch die pietistischen Konversionseiferer haben den Juden letztlich eine dauerhaft gedeihliche Perspektive sichern können. Ihr Rezept der Emanzipation war das einer raschen oder schleichenden Entfremdung vom Jüdischen mit der Perspektive seiner Auslöschung – ohne dass alle Bemühungen der Betroffenen, sich der christlichen Umwelt gleich zu machen, von der Mehrheitsgesellschaft honoriert worden wären. An diesem Punkt muss leider eine unaufgelöste Aporie des pietistischen wie auch des aufklärerischen Reformwillens konstatiert werden, die auch Lessings wundervolles Toleranzdrama unbedacht lässt. Nathan gewinnt zwar wider die christlichen wie muslimischen Eiferer, die ihn verbrennen oder zwangskonvertieren wollen, Toleranz für seine Religion. Aber durch ein Pogrom seiner Familie und Freunde beraubt und am Erbauen einer neuen gehindert, scheint er in Jerusalem der einzig verbliebene Jude zu sein. Ein jüdisches Leben ist ihm so schon nicht mehr möglich. Und er ist ein alter Mann, gerade an diesem Ort scheint seine Religion zum Untergang bestimmt.79 Da hat auch die Aufklärung eine hoffnungsreichere Aussicht nicht erbauen können. 77 Besonders herausgestellt bei Schrader: Sulamiths verheißene Wiederkehr (1988, L 15), bes. im vorliegenden Band S. 170 und 192–204. 78 Dazu Hans Schneider: Ein „Schreiben an die Juden“ (Freiwillige Nachlese III,4). Hochmann, Zinzendorf und Israel. In: Unitas fratrum 17 (1985), S. 68–77; sowie weiter ausgreifend Schrader: Philaldelphian Hope (2002, L 28), im vorliegenden Band S. 205–215, 219–221. 79 Auf diese m.W. in der reichen „Nathan“-Literatur nirgends wahrgenommene abgründige Konsequenz wird eher hingewiesen von dem Jerusalemer Literaturwissenschaftler Jakob Hessing: Germanistik in Israel oder die Wiederkehr des Verdrängten. In: Auf den Spuren der Schrift. Israelische Perspektiven einer internationalen Germanistik. Hg. von Christian Kohlross und Hanni Mittelmann, Berlin – New York 2011, S. 7–18, hier S. 14 f.
Sulamiths verheißene Wiederkehr Hinweise zu Programm und Praxis der pietistischen Begegnung mit dem Judentum [1988, L 15]
I. Ein Blick zurück auf das Verhältnis der evangelischen Christenheit zur Gemeinschaft der Juden vor dem späten 18. Jahrhundert, im Vorfeld also der Phase fortgeschrittener Säkularisation und fortschreitender Emanzipation, muß sich auf sehr fremd gewordene Geisteswelten einlassen. Das gilt nicht nur für die vor den Progressen der Aufklärung spärlicher verfügbaren Quellen aus dem Bereich der in äußeren und inneren Ghettos, in rechtloser Ohnmacht verharrenden Judenschaft, sondern nicht minder für die überreich vorhandene literarische Überlieferung des Pietismus, jener frömmigkeitlichen Reformbewegung, die vom ausgehenden Barock bis an die Schwelle der Goethezeit im protestantischen Teil des deutschen Sprachraums zur geistesgeschichtlich dominierenden Kraft erwachsen ist. Gerade auch in seinen Stellungnahmen zu den Juden ist dieses Schrifttum erst ansatzweise gesichtet und erforscht. In den jüdischen Enzyklopädien fehlt ein eigenes Stichwort ,Pietismus‘ ebenso wie jeder Spezialartikel über die für das Verhältnis der Religionsgemeinschaften zueinander richtungweisenden pietistischen Vordenker. Die mehr als hundert Jahre binnen- und außerkirchlicher Erneuerungsbestrebungen geraten dort fast nur unter dem Lemma der „Judenmission“ in den Blick, und bevorzugt auf diese in ihrem einseitigen Einwirken problematische Teilerscheinung verweisen auch die protestantischen Fachlexika, weithin sogar die kirchengeschichtlichen Spezialforschungen über Berührungen mit den Juden in diesem Zeitraum. Die Fremdartigkeit des pietistischen Denkens beginnt für den hier nicht bewanderten, von Lektüreerfahrungen erst nach der Säkularisationsschwelle des ausgehenden 18. Jahrhunderts herkommenden Leser schon bei der Lexik der Zeugnisse. Die von den Pietisten selbst als „Canaans Sprache“1 bezeich1 Dazu im vorliegenden Band S. 233–260 der Aufsatz „Die Sprache Canaan, Auftrag der Forschung“ (2005, L 38). Ich verzichte, da mir der hier abgedruckte Beitrag zur (im März 1987) ersten der drei von Hans Otto Horch und Horst Denkler an der Werner Reimers-Stiftung in Bad Homburg v. d.H. veranstalteten ,Conditio Judaica‘-Tagungen nur die Grundlegung bot für spätere speziellere Zugriffe zum Themenbereich Pietismus und Judentum, die Aufnahme auch in diesen Band
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Sulamiths verheißene Wiederkehr
nete gemeinschaftsstiftende Sonderterminologie mag ihn nämlich paradoxerweise bisweilen eher wie die Äußerung einer jüdischen als einer christlichen Frömmigkeit anmuten. Wenn es in einem Traktat von 1710 etwa heißt, „Soll dann die Tochter Zion immer einsam seyn […]?“; „Der Israel zerstreuet hat / der wird es auch wieder sammlen“; auf daß die vom Hause Jacob wandeln mögen in einem Geist und in einerley Fußtapffen / und die Inwohner Jerusalems gleiche Sprache führen / und in einem Gemüth und Sinne eingerichtet seyn mögen. […] Man siehet an uns die Zungen zertheilet […] leider wie in Babel: darum ist auch alles also in das seine und die Sinne zerstreuet / daß […] guter Vorsatz zur Sammlung nicht gedeyen will,2
dann ist damit, wie der Kontext erweist, hier keineswegs von der jüdischen Diaspora unter die Nationen und von einem präzionistischen Sammlungsprogramm die Rede, sondern in alttestamentlich chiffrierter Metaphorik vom Zerfall der Christenheit in Konfessionen und von der Erwartung einer zukünftigen brüderliebenden, philadelphischen Geistesgemeinschaft der wahrhaft Erweckten in allen Kirchen. Darauf, daß dieser philadelphische Zusammenschluß nach der Überzeugung einiger seiner Propagatoren in endzeitlicher Dimension auch die frommen Juden einbegreifen werde, geht der zitierte Passus nicht ein. Ich werde später darauf zurückkommen. So dürfen auch gleichermaßen chiffrierte (hier zum Exempel aus dem Angebot nur eines einzigen radikalpietistischen Verlagshauses, in Offenbach nämlich, ausgewählte) Buchtitel nicht wirren oder über ihre ausschließlich innerchristliche Bezogenheit hinwegtäuschen wie
gefunden haben, an dieser Stelle auf eingehende Nachträge zur seither auf diesem Feld recht lebhaft in Gang gekommenen Forschung. Dies würde unnötig redundante Doppelungen in den Band hineintragen und die Argumentation sowie den Stellenwert des 1987/88 Vorgelegten verzeichnen. Die jüngeren Arbeiten sind nachgewiesen und reflektiert in den Beiträgen dieses Bandes S. 285–305 („Lesarten der Schrift“, 1996, L 20), S. 205–231 („Philadelphian Hope“, 2003, L 28), S. 575–590 („Traveling Prophets“, 2009, L 42) und S. 135–167 („Feindliche Geschwister?“, 2013, L 49), partiell auch in den hier nicht erneut vorgelegten Studien zu „Salomonis Schlüssel“ (2001, L 26), „Gedelöcke“ (2009, L 43) sowie am aktuellsten im Beitrag zum derzeit in Druck befindlichen Band vom Hallenser Workshop „Konversationsstrategien am Institutum Judaicum et Muhammedicum in Halle“ (Okt. 2010), der im Ganzen eine breite Palette neuer Forschungen zum Verhältnis zwischen Pietismus und Judentum bereitstellt: Das Institutum Judaicum et Muhammedicum in Halle. Mission ohne Konversion? Studien zu Arbeit und Umfeld des Instituts. Hg. von Grit Schorch und Brigitte Klosterberg, Halle 2019 (Hallesche Forschungen, Bd. 51); darin mein Beitrag „,Erweckung und Bekehrung der Juden‘ in quietistischer Perspektive. Charles Hector de Marsays Gutachten zu Glaubensfragen unterweisungsbedürftiger Konvertiten“, S. 199–225). Im folgenden führe ich nur Hinweise auf solche Arbeiten an, die einen der hier angesprochenen Aspekte direkt weiter erörtert haben. 2 Vorrede zu: Theosophia Pneumatica, oder / Geheime GOttes=Lehre. [Hg. von Johann Friedrich Haug], [Idstein] 1710, S. F 6r, F 4r und F 1v.
Programm und Praxis der pietistischen Begegnung mit dem Judentum
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Neue Klag Mosis Von den Abweichungen Der auß Egypten auffsteigenden Israeliten Oder von den Fehlern der anfangenden Christen,3 Unsichere Ruh- und Lagerstätte Israels,4 Buß=Thränen zweyer Töchter in Israel,5 Reinigung der Kinder Levy,6 Der Weg zum Sabbath der Ruhe / Durch der Seelen Fortgang Im Werck der Wiedergeburt7
oder David und Jonathan in gleichem Leid einander tröstende.8
Anleihen aus dem Sprach- und dem Namensreservoir der Bibel zu aktualisierendem Neubezug sind zwar im Protestantismus nicht ungewöhnlich, doch gilt dies – und zwar mit einer sonst ungewöhnlichen Bevorzugung des Alten Testaments – „für die Pietisten doppelt und dreifach“.9 Ist bei ihnen die Rede von einem ,rechten Israeliten, in welchem kein Falsch ist‘, dann meinen sie in aller Regel nicht einen Juden, sondern in Applikation von Joh 1,47 einen pietistisch Erweckten.10 Die bibelsprachliche Verklausulierung des Gemeinten, beispielhaft etwa im Nachruf auf den Halleschen Theologen Breithaupt – „Wann […] Sorge um den Bau des Reichs GOttes Ihm immer auf dem Hertzen lag, so war sein Gemüth desfalls auch stets mit Wehklagen erfüllet. Er sprach ohn Unterlaß bey allen seinen Verrichtungen mit David sein stilles Sela. Ach Gott! flog ohn Unterlaß, wie Noä Täublein, aus, Ihm ein Oelblättlein des göttlichen Trostes zu Hülfe zu holen“11 – 3 Anonym von Samuel König, 1701; erw. Neuaufl. Berleburg 1723. 4 Voranmeldung im Ostermeßkatalog 1704. Die zuvor nur mühsam zusammenzusuchenden halbjährlichen Messekataloge (Catalogus Universalis, Sive Designatio omnium Librorum, Qui hisce Nundinis […] prodierunt) sind jetzt bequem auf Internet recherchierbar, komplett auf Microfiche auch in der StaBi Berlin verfügbar. 5 Von Johann Christoph Bröske. Nachweis: Herbstmeßkatalog 1698. Hier geht es um zwei Bekehrungsgeschichten, „die erste in des HErrn JEsu / die zweyte in unsern Tagen / da die letztere wegen verübten Kinder=Mords mit dem Schwerdt hingerichtet worden“. 6 Von Henrich Horch, 1701. Vgl. dazu Norbert Fehringer: Philadelphia und Babel, Diss. theol. Marburg 1971, S. 186 und 219. 7 1702, deutsche Übersetzung der philadelphischen Programmschrift Thomas Bromleys. 8 Trauerpredigt J. A. Müllers auf den Tod der Isenburger Gräfin Amalia Louysa, 1723. 9 August Langen: Der Wortschatz des deutschen Pietismus, Tübingen, 2. erg. Aufl. 1968, S. 391 f. 10 Besonders gern wird dieses Verfahren angesichts der pietistischen Neigung zu biblischer, häufig jüdischer Vornamengebung für fromme Namensallegoresen ausgenützt, z. B. für den Bielefelder Prediger Israel Clauder in Erdmann Heinrich Graf Henckel: Die letzten Stunden einiger Der Evangelischen Lehre zugethanen […] Personen, IV. Teil, Halle, 2. Aufl. 1726, S. 73–139. Derartige pietistische Metonymien begünstigen moderne Mißverständnisse, so daß z. B. ein Lindauer Uhrmacher Gottfried Koch, dem der Quietist Charles Hector de Marsay in seiner Autobiographie als Kennzeichen vorbildlicher Erweckung und Frömmigkeit das Epitheton „ein Israelit“ zuerkennt, für „jüdisch“ gehalten wird: Jost Klammer : Der Perner von Arfeld, Bad Berleburg – Dortmund 1983, S. 102. 11 Barachias Fabricius: MEMORIA IVSTI, Das ist, Gedächtniß=Schrift von dem erbaulichen
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wird aus moderner kulturanthropologischer Sicht als ein Jargon bestimmt, der durch seine Funktionsverschiebung penetrant und heuchlerisch wirke: Ausgesprochenen Ritualcharakter trägt […] die sogenannte Sprache Kanaans. Ursprünglich drückt sie die Intention aus, zur Sprache der Bibel zurückzukehren. Als solche ist sie religiös echt […]. Dort aber, wo sie […] dazu dient, das pietistische Selbstverständnis nach aussen zu dokumentieren, wird sie zum sozialen Erkennungszeichen.12
Den tieferen Grund aber dieser Redeweise hat 1709 ein orthodox-lutherischer Widersacher des Pietismus auf den Begriff gebracht, als er seinem Gegner vorwarf, daß er bei vielen Sprüchen der heiligen Schrift seine sonderlichen Gedanken hat und more pietistico fast alles mystice per allegorias, typos et antitypos öfters nicht ohne Verdrehung der Worte erklären will.13
Das bis in die Sprache hinein sich abbildende typologische Bibelverständnis der Pietisten, ein aus der mittelalterlichen und frühprotestantischen Figuralallegorese überkommenes, bei den zeitgenössischen Orthodoxen aber weithin aus der Mode gekommenes Denksystem hat nun allerdings ursächlich und maßgeblich etwas zu tun mit ihrer vom orthodoxen Kirchentum grundlegend differierenden Einstellung zu den jüdischen Mitbürgern. Grundsätzlich jedes Wort der Bibel nämlich, auch alles dort über die Juden Gesagte und auf sie Beziehbare, verstehen sie nicht nur als eine Verkündigung für eine spezifische geschichtliche Situation, sondern zugleich als einen fortwirkend aktualen Typus, eine präfigurative Verheißung des Heiligen Geistes für die Gesamtökonomie der göttlichen Heilsgeschichte und zugleich für die Mikrokosmoi des göttlichen Prozedierens mit jeder Einzelseele. Die „Geheimnußen der Schrifft“ sind nicht als Vergangenheit anzusehen, sondern immer auch auf Gegenwart und Zukunft zu applizieren; sie erfüllen sich gemeiniglich Staffel=weiß / von Klarheit zu Klarheit / von Warheit zu Warheit […]. Dergestalt wird immer Himmel und Erden erschaffen (in der Bekehrung des Menschen) […]. Einfolglich / daß alle Historien / Personen und Sachen immer Figuren und Fürbilder der künfftigen seyn. Also ist ein Elias kommen / und kommt noch / und wird kommen […]. Daß demenach auch alles neben dem buchstablichen VerLeben und Sterben des Seligen HERRN Abt Breithaupts. In: Das Gesegnete Gedächniß […] Herrn Joachim Just Breithaupts. Hg. von Gotthilf August Francke, Halle 1736, S. 164. 12 Peter Weidkuhn: Strukturlinien des baslerischen Pietismus. In: Schweizerisches Archiv für Volkskunde 62 (1966), S. 164. 13 Bericht Christoph Kiesewetters über die durch Fabricius einreißende Pietisterei. Publiziert bei Theodor Wotschke: Der Pietismus in Thüringen. In: Thüringisch-Sächsische Zeitschrift für Geschichte und Kunst 18 (1929), S. 40.
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stand / einen geistlichen mystischen Verstand / und die eigene Nahmen als Canaan / Jerusalem / Sara usw. ihre sonderliche Bedeutung haben.14 Die Juden erkannten solches wol / welche vormals sagten; es wäre in der Schrifft kein einziger Buchstab / woran nicht gantze Berge der Erkenntnissen hiengen.15
II. Wenn Heinrich Heine das weltzugewandt-sinnenfrohe, einem unbedingten Lebens- und Kunstgenuß zugewandte ,Hellenentum‘, das er in seiner saintsimonistischen Phase propagierte, beständig bedroht sah durch die finsterweltflüchtige Spiritualität eines ,nazarenisch‘-asketischen Geistes, den er aus der gemeinschaftlichen Traditionslast des Protestantismus und des Judentums herleitete, dann wußte er, daß die diagnostizierte Geistesgemeinschaft mit der jüdischen Religiosität in besonderem Maße für jene puritanischpietistischen Strömungen zutraf, „deren Religion nur ein Judenthum ist, welches Schweinefleisch frißt“.16 Die spirituelle Gemeinsamkeit ist nicht beschränkt auf die Absolutheit der Orientierung am Offenbarungswort der Bibel mit ihren Abfärbungen in das Denken und Sprechen (ihr gegenüber sind den Pietisten die „Menschensatzungen“ der interkonfessionellen Dogmatik und deren „symbolische Bücher“ eher gleichgültig). Gemeinsam ist den frommen Juden und Pietisten auch die Sorge um eine „praxis pietatis“ als wichtigster Lebensauftrag, jenes bußfertige Ringen um Heiligung und Zurüstung zur Seligkeit, in dem die gegnerischen Orthodoxien der lutherischen und reformierten Kirchen immer einen (in Blick auf die Erlösungstheologie) bedenklichen Anteil an Werkgerechtigkeit (Synergismus) witterten. Daraus resultiert die ebenfalls beiderseits ähnliche massive Skepsis gegen die weltlicher „Zerstreuung“ und „Verstellung“ zugeordneten schönen Künste und Wissenschaften.17 14 [Johann Henrich Reitz]: Das Fürbilde der heilsamen Worten, o. O. 1705, S. 20–23, vgl. S. 25. 15 Vgl. zu dieser wieder aufgegriffenen Lehre vom mehrfachen Schriftsinn die Vorrede zu der in acht Foliobänden (1726–1739) auf der Grundlage der gesamten mystisch-spiritualistischen Tradition nach diesem typologischen Prinzip kommentierten ,Berleburger Bibel‘: Die Heilige Schrift Altes und Neues Testaments / Nach dem Grund=Text aufs neue übersehen und übersetzet: Nebst einiger Erklärung des buchstäblichen Sinnes / wie auch der fürnehmsten Fürbildern und Weissagungen […] und zugleich einigen Lehren die auf den Zustand der Kirchen in unseren letzten Zeiten gerichtet sind […]. Teil 1, Berleburg 1726, S. )(2r–)(4v ; Zitat: )(3v. 16 So im Rückblick des Winters 1854 Heinrich Heine: Geständnisse. In: Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke, hg. von Manfred Windfuhr. Bd. 15. Bearb. von Gerd Heinemann, Hamburg 1982, S. 45. – Der Passus ist, wie der Kontext zeigt, nicht allein auf den Puritanismus der Schotten zu beziehen, vgl. auch ebd., S. 41 f. und Kommentar S. 518–531 mit Parallelenangaben, bes. in der Börne-Denkschrift (ebd., Bd. 11), in der Heine den Gegensatz von ,nazarenischer‘ und ,hellenischer‘ Geisteshaltung am deutlichsten herausgearbeitet hat. 17 Deren radikale Ablehnung, soweit sie nicht ausschließlich dem ,unum necessarium‘ der See-
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Gemeinsam, zumindest mit einem Teil der jüdischen Spiritualität, ist aber auch eine besondere Aufgeschlossenheit der Pietisten für Prophetien, Wunder und Visionen als Zeichen einer fortwirkenden Gottesoffenbarung und insbesondere für mystisch-theosophische Spekulationen. Derartige Konvergenzen, in Verbindung mit einigen soziokulturellen und wirtschaftsethischen Parallelen, etwa der hier wie dort besonders engen Gruppenbindung, haben Jacques Gutwirth zu einer vergleichenden Engführung besonders chassidischer und radikalpietistischer Religiosität veranlaßt: Er spricht von „Pi8tistes Juifs et Protestants“,18 wie denn tatsächlich die jüdischen Erweckten um 1730 von ihren weltlicher gesonnenen Glaubensbrüdern auch „Pietisten unter den Juden“ genannt wurden.19 Im Blick auf die angedeuteten sozialpsychologischen Parallelen, die in ihrer Wirkung freilich auch nicht überschätzt werden dürfen (schließlich hatten die Juden bezüglich ihrer gesellschaftlichen Sonderstellung keinerlei Wahlfreiheit), ist noch zu ergänzen, daß die Tolerierung der Pietisten (anfänglich durchaus in vielen Territorien als Gesamtbewegung, immer jedoch die ihrer radikaleren Geister und Außenseiter) im Grundsatz ähnlich gefährdet, an schwankende herrschaftliche Opportunitätserwägungen und bisweilen sogar an Schutzgeldzahlungen gebunden war wie die der Judengemeinden. Die orthodoxen Kirchenkräfte hatten sie von Anfang an als eine „quarta species religionis“ zu verdächtigen gesucht, für die der Westfälische Frieden im ,Heiligen Römischen Reich‘ neben den Lutheranern, Reformierten und Katholiken keinen Raum ließ.20 lenseligkeit dienten, hat für die Pietisten Wolfgang Schmitt: Die pietistische Kritik der ,Künste‘, Diss. phil. Köln 1958, herausgearbeitet, vgl. Stephan Berning: Zur pietistischen Kritik an der autonomen Ästhetik. In: Literatur und Religion. Hg. von Helmut Koopmann und Winfried Woesler, Freiburg 1984, S. 91–121, und Wolfgang Martens: Hallescher Pietismus und Rhetorik. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 9 (1984), S. 22–43. Zur Wirkung des poetologischen Paradigmenwechsels (v. a. durch die programmatische Neuorientierung an der Bibel und die Neubewertung religiöser Inspiration) Dieter Gutzen: Poesie der Bibel, Diss. phil. Bonn [1968, publ.:] 1972 und Joachim Dyck: Athen und Jerusalem. Die Tradition der argumentativen Verknüpfung von Bibel und Poesie im 17. und 18. Jahrhundert, München 1977, S. 8 ff., 35, 38, 92–123. 18 In: Archives de Sciences sociales des Religions, Jg. 20, H. 40 (1975), S. 53–66. 19 Martin Schmidt: Judentum und Christentum im Pietismus des 17. und 18. Jahrhunderts. In: Kirche und Synagoge. Handbuch zur Geschichte von Christen und Juden. Hg. von Karl Heinrich Rengstorf und Siegfried von Kortzfleisch. Bd. 2, Stuttgart 1970, S. 87–128, hier S. 114 nach Johann Heinrich Callenberg: Zehnte Fortsetzung seines Berichts von einem Versuch das arme jüdische Volck zur Erkenntniß der Christlichen Wahrheit anzuleiten, Halle 1735, S. 156. Über diejenigen „juden, welche von den andern pietisten genennet werden“, wird in der Quelle gesagt: „sie leben stille, ehrbar und ohne betrug, und besuchen nur am sabbat die synagoge; darin beten sie nur, und betrachten GOttes wort, kehren sich aber wenig an die übrigen thorheiten. Gegen die Christen seyn sie leutselig“. Kriterien der Benennung waren also die Konzentration auf eine praxis pietatis, eine deutliche Gruppenabgrenzung in der Gemeinde und ein ostendiertes Desinteresse an gottesdienstlichen Zeremonien. 20 Instrumentum Pacis Osnabrugense. Art. VH, bes. § 2: „Sed praeter religiones supranominatas
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So kam es vor allem am Anfang des 18. Jahrhunderts in mehreren Territorien zu großdimensionierten Pietistenvertreibungen. Die wenigen auch den offen heterodoxen und separatistischen Geistern Unterschlupf und relativ uneingeschränkte Toleranz zur Verbreitung ihrer Ideen gewährenden Freistätten waren wegen der dort geringeren Bedrückungen auch bevorzugte Ansiedlungs-, teilweise auch Publikationsorte jüdischer Gemeinschaften. Außerhalb des Reichsgebiets waren dies vor allem Amsterdam oder die zur dänischen Krone gehörende Hamburger Vorstadt Altona, innerhalb desselben das niederrheinische Krefeld, die vor Frankfurt gelegenen isenburgischen Grafschaften Offenbach und Büdingen, dann das wittgensteinische Berleburg.21 Die Gefährdungen durch obrigkeitliche Willkür und bürgerliche Intoleranz blieben allerdings für die unter Sonderrecht stehenden Juden ungleich gravierender als selbst für die radikalsten pietistischen Außenseiter. Dies, das aus Erfahrung mißtrauische Bestreben auch, als Gruppe von der im ganzen verständnislosen und feindlichen Umwelt in Ruhe gelassen zu werden, jedes Aufsehen zu vermeiden, ist sicher die vorrangige Ursache dafür, daß alle im folgenden in den Blick zu bringenden Bemühungen um Annäherung und brüderlich verstandene Zuwendung von der pietistischen Seite ausgegangen sind, während die von so unerwartetem Interesse und einer propagierten Fürsorge betroffenen Juden sich nur abwartend, reagierend oder vorsichtigablehnend verhalten konnten. Einer der Impulse für die geistige Kontaktaufnahme war die vergleichbare Neigung zu mystisch-theosophischer Spekulation, zum Eindringen in die tieferen Geheimnisse der göttlichen Schöpfung, wie sie im gesamten Weltbau nulla alia in sacro imperio Romano recipiatur vel toleretur.“ Instrumenta Pacis Westphalicae. Hg. von Konrad Müller, Bern 1949 (Quellen zur neueren Geschichte, H. 12/13), S. 41 und 134. 21 Grundlageninformationen für die erweiterte Toleranzgewährung bei Max Goebel: Geschichte des christlichen Lebens in der rheinisch-westphaelischen evangelischen Kirche. Bd. 3, hg. von Theodor Link, Koblenz 1860, S. 71 ff. (Übersicht; anschließend Darstellung der Verhältnisse in Berleburg, wo auch die Separatisten seit 1741 Kopfgelder zahlen mußten; die in diesem Randterritorium wohl recht kleine Judengemeinde tritt 1731 durch Zinzendorfs Berleburger ,Judenpredigten‘ in den Blick. Vgl. Franz Heinrich Philipp: Graf Nikolaus Ludwig von Zinzendorf als Wegbereiter eines deutschen Philosemitismus. In: Emuna. Horizonte zur Diskussion über Israel und das Judentum, Bd. 7 [1972], S. 18). – Spezieller zu Altona Johann Adrian Bolten: Historische Kirchen=Nachrichten von der Stadt Altona. Bd. 1, 1790, v. a. S. 184 ff., Bd. 2, 1791, S. 3 ff.; Peter Freimark: Zum Verhältnis von Juden und Christen in Altona im 17./18. Jh. In: Theokratia. Jahrbuch des Institutum Judaicum Delitzschianum 2 (1970–72; Festschrift für Karl Heinrich Rengstorf), 1973, S. 253–272, hier v. a. 253–257. Zu Krefeld Friedrich Nieper: Die ersten Auswanderer von Krefeld nach Pennsylvanien, Neukirchen 1940, v. a. S. 1–14. Zu Offenbach, wo eine jüdische Druckerei bereits vor der pietistischen bestand, und zu den dortigen Schutzgeldpflichten der Juden und der Pietisten J. Königfeld: Geschichte und Topographie der Fabrik= und Handelsstadt Offenbach, Offenbach 1822, S. 99 f. und 108; zum Zusammenleben und Umgang zwischen Juden und radikalpietistischen Inspirierten im Büdinger Land Philipp (wie oben), S. 19.
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und in der biblischen Wortoffenbarung zutage lag – konkret das christlichspiritualistische Interesse an der jüdischen Kabbala. Hier waren die von den Radikalpietisten in ihre geistige Ahnenreihe gestellten Barocktheosophen, Böhme und vor allem Knorr von Rosenroth (Kabbala denudata, 1677/84), vorangegangen. Die pietistische Historie Der Wiedergebohrnen erinnert an die kabbalistischen Studien des Pico della Mirandola (Teil VI, S. 5 f.) und an entsprechende Unterredungen des Böhmisten Johann Georg Gichtel mit den „Rabbinen“ (Teil III, S. 213) zur Untermauerung seiner fleischfeindlichen Lehre.22 Friedrich Christoph Oetinger hat es unter den Pietisten der jüngeren Generation, wie seine große, jüngst kritisch edierte und kommentierte Exegese der kabbalistisch-christlichen Lehrtafel der Prinzessin Antonia von Württemberg erweist,23 am weitesten gebracht. Aus großer „Begierde, die alte jüdische Art zu denken wohl innezuhaben“, hat er sich 1728, unter Anleitung seines Hebräisch-Lektors im Tübinger Stift zunächst, durch eine lange Reihe rabbinischer Schriften hindurchgearbeitet. In seiner Autobiographie schreibt er nach deren Aufzählung: Ich fand jedoch, daß die Rabbiner nicht mehr rein nach der Art des Rabbi Schimeon ben Jochai in dem Buch Sohar schreiben. Daher suchte ich nach einer Gelegenheit, die kabbalistischen Quellen selbst zu lesen. Weil es aber schwer ist, so verschob ich es, bis ich Gelegenheit fände, mit gelehrten und erfahrenen Juden umzugehen.
Diese Gelegenheit ergab sich ihm ein Jahr später in Frankfurt durch die Vermittlung des unermüdlichen Literaturagenten und Kontaktstifters zwischen den radikalen Pietisten, Christian Fende. Schon beim Eintritt in dessen Haus war Oetinger mit einem Exemplar der raren Knorrschen Kabbala denudata beschenkt worden. Herr Rath Fende brachte zu mir den gelehrtesten Cabbalisten, Jud Coppel Hecht. Dieser gewann mich wegen der ungewohnten Fragen aus der Jüdischen Philosophie, was Arich Anpin, weites Gesicht, und Seir Anpin, kleines Gesicht, in Gott wäre, sehr lieb. Ich kam so denn auch zu ihm gerad zur Zeit des Laubhütten Fests. Er demonstrirte mir Chronologic8 et Talmudic8 aus den raresten Urkunden, daß Plato Jeremiä Discipul gewesen sei und seine GrundBegriffe von ihm gehohlt. Ich danckte Gott für diese Schickung.24 22 Reitz: Historie Der Wiedergebohrnen. Neudruck (1982, L 2). 23 Friedrich Christoph Oetinger: Die Lehrtafel der Prinzessin Antonia. Hg. von Reinhard Breymayer und Friedrich Häussermann. 2 Teile, Berlin – New York 1977 (Texte zur Geschichte des Pietismus, Abt. VII, Bd. 1), vgl. zum kabbalistischen Hintergrund zusammenfassend Eberhard Gutekunst / Eberhard Zwink: Zum Himmelreich gelehrt. Fr. Chr. Oetinger 1702–1782, Stuttgart 1982, S. 57–63, vgl. S. 177 ff., 203, 207–212. 24 Gegenüber der sprachlich bis zu freiem Nacherzählen ,modernisierten‘ Ausgabe, Friedrich Christoph Oetinger: Selbstbiographie. Genealogie der reellen Gedanken eines Gottesgelehrten. Hg. mit Einf. u. Anm. von Julius Roessle, Metzingen 1961 (Zeugnisse der Schwabenväter, Bd. 1), ist das Zitat hier überprüft und korrigiert nach der solide kommentierten kritischen Edition
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Oetingers Schüler Karl Friedrich Harttmann, der spätere Religionslehrer des jungen Schiller, hat diesen Studien nachgeeifert und seine Zohar-Übersetzungen dem Sammelwerk der Lehrtafel beigesteuert.25 In größerer Breite aber waren die pietistischen Kontaktaufnahmen mit gelehrten Juden und der jüdischen Theologie durch das neuartig entschiedene Bemühen um die textkritische Zuverlässigkeit und verbesserte Übersetzungsund Verständnisgenauigkeit der biblischen Botschaft motiviert. Dieses Verlangen, das fürs Alte Testament grundlegend verbesserte Hebräischkenntnisse erforderte und zu einer Fülle pietistischer Neuübersetzungen und sprachkundiger Kommentare geführt hat, verdankte sich selbstverständlich nicht purem Philologenethos, insofern „wortbücher und philologie keine gnugsame probir=steine seyen“. Getragen war es vielmehr von der ängstlichen Sorge, die „red=arten u. worte […] die der Heil. Geist gebrauchet“, die „einfalt des Geistes Gottes / worinnen der weißheit schätze liegen“, sündhaft zu verfehlen, zumalen da solche arbeit von […] dem wort der warheit nachforschenden seelen in allen partheyen / als welche täglich u. von allen cantzeln hören / daß es im grund=text anders laute / schon längstens verlangt worden.26
Den Pietisten hatten hier gelehrte Orientalisten, namentlich Esdras Edzardus in Hamburg und Johann Christoph Wagenseil in Nürnberg, vorgearbeitet, die beide aufgrund persönlicher Kontakte literarisch für ein besseres Verständnis der Juden und für den Abbau von Vorurteilen ihnen gegenüber gestritten haben, beide aber auch auf das Ziel ihrer Missionierung fixiert blieben. Edzardus betrieb dafür ein Missionsstift, Wagenseil entwarf einen Musterkatechismus.27 Friedrich Christoph Oetinger : Genealogie der reellen Gedancken eines Gottes-Gelehrten. Eine Selbstbiographie. Hg. von Dieter Ising, Leipzig 2010 (Edition Pietismustexte, Bd. 1), S. 90. Vgl. schon den ersten Bericht über Oetingers Leben: Sammlungen zu einem Christlichen Magazin. [Hg. von Joh. Konr. Pfenninger], Bd. 2, H. 1, Zürich 1781, S. 51. 25 Gottlieb Friedrich Harttmann / Carl Christian Eberhard Ehmann: Karl Friedrich Harttmann, Stuttgart, 2. Aufl. [1864], S. 25. Vgl. Oetinger : Lehrtafel (wie Anm. 23), S. 52–122. – Sehr viel weniger als die Pietisten hatten die Orthodoxen mit der Kabbala im Sinne. Deren ungewöhnlich fundierte Kenntnis nützt der Hamburger Hauptpastor Abraham Hinckelmann: I.[n] N.[omine] J.[esu] C.[hristi] Detectio Fundamenti Bçhmiani […]. Worinnen unter andern der Recht=gläubige Sinn der alten Jüdischen Cabalæ […] entdecket wird […], Hamburg 1693 nur, um im Referat ihrer Hauptlehren (S. 20 f.) zu zeigen, wie die Böhmisten sie mißverstünden, daß von den heutigen Juden als den „ärgsten Feinde[n] Christi“ kaum bessere Einsicht zu erhalten sei, und um zu behaupten: „Ich kenne keinen bessern Cabalisten / als den Evangelisten Johannem“ (S. 35 f.). 26 Zitiert aus Johann Henrich Reitz’ „Vorrede An den Christlichen Leser“ in der Erstauflage seiner Neuübersetzung: Das Neue Testament Unsers HERREN JEsu Christi, Offenbach 1703, S. )(3r ; )(2r und)(2v. Vgl. zum Engagement für eine vollkommen wortgetreue Wiedergabe der (hier ebenfalls neutestamentlichen) lingua sancta Ilse Franke: Die Übersetzung des Neuen Testaments von Philipp Matthias Hahn (1777). Im Vergleich zu […] Luther, Bengel, Heumann und Reitz, Diss. phil. Greifswald 1936, v. a. S. 7–21. 27 Zu Edzardus vgl. Schmidt: Judentum und Christentum (wie Anm. 19). S. 103, und C. Fr. Heman:
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Wagenseil hat das Denken Philipp Jacob Speners beeinflußt, des Gründers der pietistischen Partei in der lutherischen Kirche. Spener hatte allerdings schon früher, 1653 in Straßburg, wo drei Jahre zuvor das erste Institutum Judaicum gegründet worden war, so ausgreifende Studien der lingua sancta betrieben, daß er seiner Autobiographie zufolge hebräisch disputieren konnte; in dem Sommer aber reisete ich gen Rappoltsweiler / und gebrauchte mich eines Juden einige Monathe / in Rabbinicis und aus dem Talmud in den Pirke Aboth.28
Bei Edzardus aber hat sich der zweite Mann und wirkungsreichste Praktiker des frühen Pietismus, August Hermann Francke, 1682 in zweimonatigem Besuch seine Anleitung im Hebräischen geholt. Anknüpfend daran hat er sechs- bis siebenmal die hebräische Bibel durchgearbeitet, zwei Jahre später seine rabbinischen Studien vertieft und sich 1685 mit einer Leipziger Disputation über die Grammatik des Hebräischen für den akademischen Unterricht an der jungen Pietistenuniversität Halle habilitiert. Sein ein Jahr darauf gegründetes Collegium Philobiblicum hat Generationen von pietistischen Hebraisten und Judenmissionaren geprägt.29 Ebenfalls von Edzardus kamen die bedeutendsten Hebraisten der als Vermittlerin pietistischen Geistes zweitMission unter den Juden. II: Ev. Kirche. In: Realencyklopädie für protestantische Theologie und Kirche. Begr. von J.J. Herzog. Hg. von A. Hauck (im folgenden: RE), 3. Aufl., Bd. 13, Leipzig 1903, S. 177; zu Wagenseil U[lrich] Becker: J. Chr. Wagenseil. In: Die Religion in Geschichte und Gegenwart (im folgenden: RGG). 3. Aufl. Bd. 6, Tübingen 1962, Sp. 1505; ausführlich auch Schmidt (wie oben), S. 89 f. und 97–99 sowie Hinweise bei Hans Joachim Schoeps: Philosemitismus im Barock, Tübingen 1952 (vgl. Reg.) und Barouch Mevorah: Johann Caspar Lavaters Auseinandersetzung mit Moses Mendelssohn über die Zukunft des Judentums. In: Zwingliana 14 (1974–78), H. 8 (1977), S. 439, vgl. S. 436. – Edzardus und Wagenseil sind spezielle Kapitel gewidmet in der Bochumer ev.-theol. Dissertation von Martin Friedrich: Zwischen Abwehr und Bekehrung. Die Stellung der deutschen evangelischen Theologie zum Judentum im 17. Jahrhundert, Tübingen 1988 (Beiträge zur historischen Theologie, Bd. 72). Friedrich hat in seiner durch einen umfassenderen Forschungsbericht eröffneten Abhandlung, die sich ausschließlich auf den Aspekt der Judenmission in der lutherischen Kirche konzentriert, eine Ehrenrettung der barockzeitlichen Orthodoxie in ihren Reflexionen und Einwirkungen auf die Juden versucht. Die pietistischen Programme und Aktivitäten reflektieren ein Kapitel über Spener und ein Abschnitt zu Petersen. Die nicht auf Mission und Taufe gerichteten Bestrebungen der chiliastisch argumentierenden Spiritualisten und radikalen Pietisten bleiben weitgehend unberücksichtigt. Eine nützliche Textsammlung pietistischer Äußerungen und Programme gegenüber den Juden (in der allerdings auch die missionsorientierten Stimmen überwiegen) gibt der Band: Zwischen Bekehrungseifer und Philosemitismus. Texte zur Stellung des Pietismus zum Judentum. Hg. von Peter Vogt, Leipzig 2007 (Kleine Texte des Pietismus, Bd. 7). 28 Erstausgabe der Spener-Autobiographie in seiner Leichenpredigt: Conrad Gottfried Blanckenberg: Das Leben der Glaubigen, Frankfurt 1705, S. 24 (zu Speners Vertiefung dieser Studien 1659: ebd., S. 26); über Speners Kontakte mit der Frankfurter Judenschaft vgl. Schmidt (wie Anm. 19), S. 95 f. 29 Angabe schon in der frühen, von einem seiner Waisenhauszöglinge verfaßten Biographie: Kurtze, iedoch gründliche Nachricht, von dem sehr merckwürdigen und erbaulichen Lebens=Lauffe […] August Hermann Franckens, Büdingen 1728, S. 8–10.
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wichtigsten Universität her : in Gießen nämlich Johann Heinrich May und Andreas Kempffer, die wesentliche Vorarbeit für die Serie neuer hebräischer Bibelausgaben geleistet haben.30 Aneignungen auch der spekulativen Tradition jüdischer Buchstaben-, Zahlen- und Etymologiedeutungen werden besonders in den hebraistischen Hilfsmitteln manifest, die zur Vorbereitung des großen radikal-pietistischen Bibelwerks in Berleburg geschaffen bzw. neu aufgelegt wurden: Ludwig Christoph Schefer : Schoresch Dawar Oder Hebreisches Wörter=Buch / Welches der eigentlichen Bedeutung der Hebreischen Wörter […] Als Der Wurtzel des Worts Der Göttlichen Verheissung […] nachforschet […], Berleburg 1720; Henrich Bernhard Köster : Schlüssel der ersten und letzten Hebräisch=Griechisch=Teutschen Harmonie: welche […] in einer Probe von tausend Wörtern an Bedeutung und Klang eine nahe Verwandtschafft zeiget, Berleburg 1724; Georg Burckhard Rümelin: Lexicon Biblicum in quo Omnes, Quae in Veteri Testamento leguntur voces, verba scilicet ac nomina […] recensuntur […], Berleburg – Frankfurt 1727.31
Ein weit größeres Aufsehen als diese Gelehrtenarbeit für ein ,unparteiliches‘, d. h. nicht durch die kontroverstheologischen Einfärbungen der kirchenamtlichen Versionen getrübtes Bibelverständnis und eine bedeutsame Vermittlungsleistung der jüdischen Spiritualität in breitere Schichten hinein hat die von dem Altonaer Radikalpietisten Johann Otto Glüsing 1710–12 dreibändig in den Hamburger Vorstädten Wandsbeck und Schiffbeck herausgebrachte Biblia Pentapla bewirkt. Dieser durch den Kreis der Böhme-Schüler, besonders durch Überfeld und Gichtel geprägte, mit allen exilierten Pietisten in der dänischen ,Freistadt‘ befreundete Editor hat nämlich fünf verschiedene Bibelübersetzungen konkurrierend in Parallelspalten zu synoptischem Vergleich abgedruckt, ein für die Orthodoxie, die jedes Abgehen von der LutherVersion schon an sich für eine Lehrverirrung hielt, freilich strafwürdiges Vergehen. Die dabei eklatanteste Neuerung war aber, daß in dieser Synopse 30 Gustav Adolf Ludwig Baur : Einleitung zu seiner Edition von: Andreas Kempffers Selbstbiographie. Nach der Giessener Handschrift, Leipzig 1880 (Progr. Univ. Leipzig), bes. S. 3–18. Während vorher in Deutschland die hebräische Bibel allein in der Ausgabe von Elias Hutter (1587 u. ö.) erschienen war, kamen zu Kempffers Lebzeiten (1658–1743) zwölf eigenständige ATAusgaben im Grundtext heraus (ebd., S. 9). Zur Zusammenarbeit mit Edzardus und Francke ebd, S. 16–18. – Die Gießener und Hallenser Pietisten haben sich nicht nur als maßgebliche Förderer des Hebräischstudiums verdient gemacht, sie haben auch einer massiv erweiterten Zulassung jüdischer Studenten zum (insbes. Medizin-) Studium den Weg gebahnt. Vgl. Rüdiger Mack: Judenexamina an der Universität Gießen vor 1800. In: Mitteilungen des Oberhessischen Geschichtsvereins, NF, Bd. 57 (1972), Abschn. 3: Der Pietistenkreis um Johann Heinrich May d. Ä. und die Juden; Exkurs: Die Verhältnisse an der Universität Halle und die erste Immatrikulation eines Juden 1703 (S. 113–122). 31 Nähere Informationen über diese z. T. hochspekulativen Werke bei Schrader: Literaturproduktion (1989, L 1), S. 186, 188, 194, 203, 205, 207, 469 und 471.
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ihrer besonderen Nähe zum Urtext wegen erstmals die (in Lautstand und Wortschatz oberflächlich eingedeutschte) Übertragung einer jiddischen Bibel aus der hebräischen Schrift in deutsche Fraktur für christliche Leser verfügbar wurde. Die ursprünglich im Amsterdamer Verlag des Joseph Athias 1679 (in 2. Auflage 1687) erschienene „jüdisch-deutsche“ Übersetzung des Josef (Josel) ben Alexander Witzenhausen (aus dem nordhessischen Städtchen gleichen Namens) trat so (mit ihren in Klammern beigesetzten mystischen Deutungen) für bibelforschende christliche Laien gleichgewichtig neben die Version Luthers, die katholische Uhlenbergs, die reformierte Piscators und die niederländische Generalstaatenbibel (im zuerst erschienenen Neuen Testament wurde der jüdischen die reformiert-pietistische des Johann Henrich Reitz substituiert).32 Im größten Teil des ,Allgemeinen Vorberichts‘ zum ersten Band (1711) wird die Aufnahme dieser Umschrift der Jüdischen Bibel zu rechtfertigen gesucht, nicht allein theologisch (durch Verweis auf zahllose Autoritäten), sondern auch in bezug auf die Sprachform: Die Schreib=Art ist zwaren dem reinen Deutschen Gehör was beschwerlich / um der Juden willen aber / welchen es also fast angenehm ist / beybehalten worden.
Es handele sich um die Version, „welche auch die Juden selber am höchsten aestimiren“, zugleich aber werde darin „ihre Theologie völlig entdecket / zumahlen in denen beygefügten kurtzen Erklärungen des Jüdischen Ubersetzers“: Derohalben man selbige mit grossen Kosten und Fleiß aus denen Rabbinischen Lettern abschreiben lassen / und nebst ihren beygefügten zweifachen Vorbericht / gegenwärtigem Bibel=Wercke einverleibet.33 32 Wichtigste Angaben zur „Biblia Pentapla“ und ihrer Übertragung der jüdischen Bibel außer im Vorbericht zum ersten Band (s. u.) bei Johann Jacob Schudt: Jüdische Merckwürdigkeiten, Bd. 1, Frankfurt – Leipzig 1714, S. 285; Johann Christoph Wolf: Bibliotheca Hebræa, Hamburg 1721, Bd. 2, S. 453; Bd. 4, S. 187; Max Grünbaum: Jüdischdeutsche Chrestomathie, Leipzig 1882, S. 19; W. Staerk und A. Leitzmann: Die Jüdisch-Deutschen Bibelübersetzungen, Frankfurt 1923 (Schriften, hg. von der Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaft des Judentums. Bd. [31 a]), S. 161–163; Helmut Dinse: Die Entwicklung des jiddischen Schrifttums im deutschen Sprachgebiet, Stuttgart 1974, S. 135 und 176. – Zu ihrem Editor: Bolten: Historische Kirchen=Nachrichten von der Stadt Altona (wie Anm. 21), Bd. 2, S. 102–108; Hans Haupt: Der Altonaer Sektierer Johann Otto Glüsing und sein Prozeß von 1725/26. In: Schriften des Vereins für Schleswig-Holsteinische Kirchengeschichte II, 11 (1952), S. 136–163. Vgl. im übrigen meinen Aufsatz: Lesarten der Schrift (1996, L 20), im vorliegenden Band S. 285–305. – Der „Pentapla“Editor blieb dauerhaft als gefährlicher Irrlehrer in Verruf, wie noch die Bücherkrämer-Szene in der antipietistischen Komödie der Gottschedin von 1736 erweist, in der der Kolporteur Jakob der Frau Seuffzerin neben anderen heterodoxen Scharteken Glüsings asketische Väter-Viten von 1720, ,Der erste Tempel GOttes in Christo‘, mit voller Titulatur feilhält. Luise Adelgunde Victorie Gottsched: Die Pietisterey im Fischbein-Rocke. Hg. von Wolfgang Martens, Stuttgart, 3. Aufl. 1979 (Reclams Universal-Bibliothek, Bd. 8579), S. 104. 33 Biblia Pentapla, Das ist: Die Bücher der Heiligen Schrift […] Nach Fünf=facher Deutscher Verdolmetschung […], [„Schiffbeck bey Hamburg“] 1711, S. )(3r.
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Wenn in der Vorrede des zweiten Bandes die Hoffnung geäußert wird, es könne die aus den konkurrierenden Versionen aufscheinende „Harmonie Göttlichen Wortes“ für „vielleicht ein oder ander hartes Juden=hertz […] das wahre Licht in Hertzen anzünden“,34 dann ist dieses Ziel gegenüber jenem zumindest zweitrangig, die christlichen Leser sollten auch die jüdische Bibel und Theologie prüfen und beherzigen können. Zunächst wird damit apologetisch auf die wütende Abfertigung der Pentapla seitens des Wandsbecker Hauptpastors Michael Berns reagiert. Der nämlich hatte 1710 gegen „das fleischliche Evangelium des Wiederchrists / von dem Siebenköpffigen Drachen / der alten Schlangen […] erdacht“, losgeschlagen. Mit seinen rasenden Verwünschungen des Greuels, daß sogar „des allerverfluchsten Juden / des Josephi Athiä seine Version“ aufgenommen werde, hatte er die verbreitete antisemitische Haltung der Pietistengegner besonders in der lutherischen Orthodoxie zum Ausdruck gebracht.35
III. Die gegenüber der orthodoxen Kirchenlehre bei den Pietisten insgemein grundlegend veränderten Einstellungen zu der jüdischen Gemeinschaft, die konträren Konzepte auch (bei aller Unterschiedlichkeit in den praktischen Konsequenzen) für den pflichtgemäßen, d. h. gottgewollten Umgang mit ihr, entspringen nicht in erster Linie einem philanthropischen Denkansatz oder dem allgemeinen Gebot der Nächstenliebe. Proteste gegen die unchristliche Brutalität der willkürlichen Mißhandlungen, Rechtsverkürzungen, sozialen Restriktionen, wie sie die aufklärerische Diskussion bestimmen, werden zwar häufig miterhoben, sind jedoch nicht argumentationsleitend. Der Einblick in die reale Situation der Juden bleibt meist unspezifisch und blaß. Dominierend dagegen sind heilsgeschichtlich-spekulative, insbesondere eschatologische Denkansätze: die aktuellen Erfüllungserwartungen der zugleich buchstäblich und typologisch verstandenen alttestamentlichen Verheißungen über die Ankunft des messianischen Friedensfürsten und Erlösers in Zion, der das 34 Ebd., Bd. 2, 1712, S. ]:[2r. 35 Michael Berns: Endeckung [!] Des Greuel=Wesens / Welches die so genandte Neue Christen / Mit der biß dahin In Wandesbeck gedruckten Biblia Pentapla Vorhaben, Hamburg 1710, S. 16 und 9. Berns rezensiert dort den bereits 1710 erschienenen dritten Band, der nur das Neue Testament enthielt. Von der geplanten Aufnahme der jüdischen Bibel wußte er also bloß aus der Ankündigung in dessen Vorrede, so daß seine antisemitische Verurteilung noch nicht einmal auf die Kenntnis des übertragenen Texts gegründet war. Ich bin skeptisch, ob die vereinzelten, die Juden weniger pejorativ beurteilenden, dabei aber auch nur an ihrer Christianisierung interessierten Stimmen vom Reformflügel der Orthodoxie, die Friedrich (wie Anm. 27) hervorhebt, das dominante Bild der Intoleranz dieser Richtung gegenüber Andersgläubigen grundlegend zu modifizieren gestatten (vgl. auch Anm. 39).
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zerstreute Haus Jakobs wieder in sein Erbteil einsetzen werde, der neutestamentlichen, vor allem paulinischen Aussagen über die noch zukünftige Bekehrung des ganzen Israel und schließlich der apokalyptischen Prophetien über das endzeiteröffnende tausendjährige Friedensreich Christi auf Erden. Eine Kombination aller auf die Juden und auf das Millennium beziehbaren Verkündigungen ließ die besondere und ehrfurchtgebietende Rolle hervortreten, die Gott seinem auserwählten Volk nach langwieriger Züchtigung am Ende der Tage vorbehalten habe. Die eschatologischen Hoffnungen, deren Eindringen in den Kanon des Neuen Testaments ja aus Adaptionen des jüdischen Volksglaubens gespeist war,36 bilden einen wesentlichen Konvergenzund Anknüpfungspunkt noch der jüdischen und pietistischen Spiritualität vom Barock bis zur aufklärerischen Säkularisation. Besonders kurz vor der Jahrhundertwende, fortwirkend aber bis ins vierte Dezennium des 18. Jahrhunderts, kam es zu einer kräftigen Neubelebung endzeitlicher Naherwartung, einer Vielzahl von spekulativen Berechnungen und visionären Bezeugungen über den unmittelbar bevorstehenden Anbruch des messianischen Reiches37 und, resultierend daraus, zu Bemühungen um die
36 Vgl. den für die Herkunft und spiritualistisch-pietistische Ausgestaltung dieser Vorstellungswelt hochinformativen Artikel von [Carl Gottlob] Semisch / [Eduard] Bratke: Chiliasmus. In: RE, 3. Aufl., Bd. 3, 1897, Sp. 805–817. Ferner H[einrich] Kraft: Chiliasmus. In: RGG, 3. Aufl., Bd. 1, 1957, Sp. 1651–1653 und, detaillierter, Otto Böcher / Richard Bauckham: Chiliasmus [I. u. IV.]. In: Theologische Realenzyklopädie [im folgenden TRE], Bd. 7, Berlin – New York 1981, S. 723–729 und 737–745; J. Kaufmann: Apokalypse Johannis. In: Encyklopaedia Judaica. Das Judentum in Geschichte und Gegenwart, Bd. 2, Berlin 1928, Sp. 1136–1142 sowie die Artikel von H[ugo] F[uchs]: Apokalypse und von M[ax] W[iene]r : Tag des Gerichts und Tausendjähriges Reich. In: Herlitz / Kirschner: Jüdisches Lexikon, Bd. 1, Berlin 1927, Sp. 384–388 bzw. ebd., Bd. 4/2, 1930, Sp. 831 f. und 893 f. 37 Vorangegangen war bei den Endzeitberechnungen (mit durch das Ausbleiben des Friedensfürsten immer wieder korrigierten Datierungen) der Frühphiladelphier Paul Felgenhauer, vgl. Schoeps: Philosemitismus im Barock (wie Anm. 27), S. 18–45, bes. 41 f. Für die Zeit der Jahrhundertwende drängten sich neben den verbreiteten unbestimmten auch die präzis terminierten Anbruchsverkündigungen, so z. B. visionär für das Jahr 1685 bei Johanna Eleonora Petersen (Leben […] Von ihr selbst mit eigener Hand aufgesetzet, o.O. 1718, S. 55; vgl. ebd., S. 49 zur Bekehrung der Juden) oder für 1689 bei Conrad von Beuningen (im missionarischen Send=Schreiben an den jüdischen Doctor Pina. In: Reitz: Historie Der Wiedergebohrnen. Neudruck [1982, L 2], Bd. 2, Teil IV, 1716, S. 123), rechnerisch (nach englischer Vorgabe) für das Jahr 1697 bei Johann Hermann Brüske: Das Ende der Welt / Oder Daniels Zeit=Register von Cores an biß auff das herrliche Reich Christi in dem Neuen Jerusalem, Offenbach 1693, S. )(4v oder Herrn Th. Beverleys […] Zeit=Register Mit denen Zeichen der Zeiten. Hg. von Conrad Brüske, Frankfurt – Offenbach 1697, S. A4rff. und B2r. Die Endzeitberechner D. Waßmuth, Joh. Chr. Seitz und J. A. Bengel gaben der Zeit der Erfüllung eine weiträumigere Perspektive mit ihren Datierungen auf 1739 (Kommentar zur ,Berleburger Bibel‘, wie Anm. 15, Bd. 6, 1735, S. 22), auf 1750 (vgl. [Johann Georg Heinsius]: Unpartheyische Kirchen=Historie, Bd. 2, Jena 1735, S. 170) oder gar auf 1836: Erklärte Offenbarung Johannis, Stuttgart 1740, 2. Aufl. 1746, S. A 4vff. Vgl. Das Zeitalter des Pietismus. Hg. von Martin Schmidt und Wilhelm Jannasch, Bremen 1965, S. 201 f., und Peter Meinhold: Geschichte der christlichen Historiographie, Bd. 1, Freiburg 1967, S. 423 f.
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Sammlung der zur Mitregentschaft Christi berufenen wahren Erweckten in einer philadelphischen Gemeinschaft. Gemeinsam war den meisten Pietisten aufgrund ihrer Auslegung von Gen 49,10, Jes 2,1–6 bzw. 59,19–21, Hos 3,4–5 und vor allem Röm 11,25 ff. die Überzeugung, daß den Juden in dem Apk 20 verheißenen Friedensreich „vor allen andern Völckern ein groses Heyl widerfahren wird“, daß sie zur Gänze bekehrt und den wiedererscheinenden Christus „in ihrer Fülle […] vor ihren Messiam annehmen“ werden. Erst mit der Rückführung und Mitregentschaft des alten Bundesvolks werde in aller Welt „das Zufallen der Völcker noch erst recht angehen / wenn die Fülle eingehen / und gantz Israel selig werden wird.“38 Von den orthodoxen Kirchenlehrern wurden alle chiliastischen Spekulationen unter Verweis auf Artikel 17 der Confessio Augustana bzw. Artikel 11 der Confessio Helvetica zurückgewiesen. Die alttestamentlichen Verheißungen des künftigen Messias galten bereits durch Christi Geburt und Erlösungswerk als erfüllt, diejenigen der Judenbekehrung ebenso durch die Fülle des Judenchristentums in und seit der urchristlichen Zeit. Die Verkündigungen über die endzeitliche Wiederkehr des Herrn aber wurden als undurchdringliches Gottesgeheimnis ausgegrenzt. Aus der Zurückweisung der Schwärmerlehren und der nach vergeblichen Bekehrungshoffnungen enttäuschten Verdammung der ,verstockten Judenherzen‘ beim alten Luther leiten sich die bei ihnen häufigen antisemitischen Töne ab.39 Wer gegenteiligen Sinnes ist, erscheint ihnen wie Coccejus ein Fürsprecher „der Atheisterey und allen Kätzereyen / die aus dem Judenthum ihren Ursprung nehmen“; „ein Novator, ein Patron und Synkretist der Socinianer / der Papisten / der Juden / […] der Chiliasten und Fanatiquen“.40 Insbesondere waren die Orthodoxen davon überzeugt, „es werde der innere Glaube zu hefftig getrieben / dadurch so wol Juden / Türcken und Heyden als Christen selig werden / ob sie gleich Christum äusserlich nicht kennen.“41 Ein Orthodoxophilus wirft 1712 den Pietisten vor: Die führen ungescheut Fanaticismum ein / Und wollen jeden Schwarm zu Glaubens=Brüdern haben /
38 So die Kommentare der ,Berleburger Bibel‘ (wie Anm. 15): Bd. 4, 1732, S. 197; Bd. 6, 1739, S. 306; Bd. 1, 1726, S. 270. 39 Deutlich wird die dominant judenfeindliche Einstellung der lutherischen Orthodoxie in den Stellungnahmen ihres führenden Rezensionsorgans, der von Valentin Ernst Löscher begründeten „Unschuldigen Nachrichten“ (später „Fortgesetzte Sammlungen von Alten und Neuen Theologischen Sachen“). Vgl. die Lemmata „Jüden“ und „Jüden-Bekehrung“ in: Vollständige Register über die ersten Zehen Jahr Der Unschuldigen Nachrichten Von Anno 1701–1710, Leipzig o.J, S. Ji 4r–Ji6r, vgl. auch unten, Anm. 44. 40 Reitz: Historie Der Wiedergebohrnen. Neudruck (1982, L 2), Bd. 2, Teil IV, 1716, S. VIII. 41 Ebd., Teil VII. 1745, S. 81.
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Sulamiths verheißene Wiederkehr Der Teuffel selbsten soll bald ein Erlöster seyn / Und Jüde / Türck und Heyd spornstreichs in Himmel traben.42
Ein anderer läßt schon 1692 seinen Empfindungen über die ketzerische Behauptung, es werde „die gantze Judische nation seelig werden“, noch ungehemmter freien Lauf: Vom gantzen hauffen mag hoffen wer da wil / ich habe keine hofnung […]. Wie […] ist es möglich / diese Teufelskinder alle zu bekehren. Dann daß etliche aus der Epistel zum Römern am XI. Cap. solchen Wahn schöpffen / alß solten alle Juden bekehret werden / am Ende der Welt / ist nichts; St. Paulus meinet gar viel ein anders.43
Ein derartiger ,Risches‘ oder volkstümlicher Judenhaß44 ist bei den Pietisten m.W. nirgends zu finden, wenngleich eine Flugschrift wie Samuel Zinks Verkehrter Jude von 1695 mit dem populären Stereotyp spielt, indem sie es antithetisch den orthodoxen Verächtern der Chiliasten und der Juden aufprägt.45 In ihrer teilnahmsvollen, heilsgeschichtlich begründeten Wertschätzung und praktischen Bemühung für die Juden zeigen sich aber auch bei den Pietisten markante Unterschiede. Die eine Richtung, jene, die in den Kirchen vor allem traditionsbildend wurde, sieht ihre Christenpflicht zum Bau des Gottesreichs vorrangig in der Bekehrung im Sinne einer Missionierung und Taufe der Juden. Die erweckten Täuflinge nämlich sollen als Erstlinge im Bruderbund schon vor dem Anbruch des Christusreichs zur Mitregentschaft bereitstehen. Diese durch Spezialstudien, vor allem den wichtigen zusammenfassenden Aufsatz von Martin Schmidt, vergleichsweise wohlerforschte missionsorientierte Richtung geht von den allerdings differenzierteren Ratschlägen Speners aus und wird durch Francke und das Hallesche Institutum Judaicum ebenso repräsentiert wie durch Zinzendorf und die Herrnhuter 42 Orthodoxophilus [d. i. (nach Max Wieser : Der sentimentale Mensch, Gotha 1924, S. 264) Erdmann Neumeister]: Idea Pietismi Oder Kurtzer Entwurff Von der Pietisten Ursprung Lehr und Glauben, Frankfurt – Leipzig 1712, 2. verm. Aufl. 1714, S. 12. 43 Weiteres Nachdencken Uber einige Bedencken Von der Durch Doct. Petersen […] außgegebenen Prophezeyungen Vom Chiliastischen Reich und Bekehrung Der Juden, o.O. 1692, S. 27 f., vgl. S. 19. 44 Vgl. zum Begriff Jürgen Stenzel: Das Opfer als Autor. Poetische Assimilation in Michael Beers ,Der Paria‘ (1823). In: Kontroversen, alte und neue. Akten des VII. Internationalen Germanistenkongresses Göttingen 1985. Hg. von Albrecht Schöne, Bd. 5, Tübingen 1986, S. 124 f.; zu den gerade um die Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert entstehenden ,Klassikern des Judenhasses‘ (Sigismund Hosmann: Das schwer zu bekehrende Juden=Hertz, Celle 1699 und v. a. [Johann Andreas Eisenmenger]: Entdecktes Judenthum. 2 Tle., Königsberg 1711) und zu ihren Rahmenbedingungen Michael Schmidt: Marginalität als Modus der ästhetischen Reflexion. Juden und ,unehrliche Leute‘ im Werk Wilhelm Raabes. In: Antisemitismus und jüdische Geschichte. Studien zu Ehren von Herbert A. Strauss. Hg. von Rainer Erb und Michael Schmidt, Berlin 1987, S. 399 f. 45 Vierseitiger Verteiltraktat in den ,Acta Pietistica‘ der StUB Göttingen; S. A 2r, vgl. A lv. Der Verfasser war auch mit einer etymologischen Spekulation über den Bedeutungszusammenhang der hebräischen Wortstämme (im selben Sammelband) hervorgetreten.
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Jesuswerbung.46 Ich trage trotz ihres unverkennbaren, auch sozialethischen Einsatzes für die Juden Bedenken, ihre Ansichten, wie üblich geworden, ohne weiteres für „philosemitisch“ zu erklären.47 Denn in ihrer Konsequenz diente hier alle Zuwendung doch demselben Ziel, das Jacob Katz für die „Verkoppelung von Emanzipation und Assimilation“ der Juden in der spätaufklärerischen Ära herausgestellt hat: Es war die Aufforderung, alle „für die jüdische Existenz“ charakteristischen Züge, sogar die religiöse Basis ihrer Identität und ihre Eigennamen, abzulegen und sich „dem Vorbild der nichtjüdischen Umwelt anzupassen“,48 nicht einmal dessen faktischem Muster, sondern einem frommen Idealpostulat. Die fast unausweichlichen Wirkungen waren, wie die pietistischen Autobiographien jüdischer Proselyten zeigen, familiäre und soziale Entwurzelung und religiöse Gewissensqual bei einem trotzdem kaum überwindbaren Argwohn der Umwelt, die Taufe könne nicht alles Jüdische abgewaschen haben. Die andere, literarisch ebenso reich dokumentierte, aber in ihrem Verhältnis zu den Juden noch beinahe unerforschte Richtung interpretierte die gebotene Bekehrung der Juden als ethische Zurüstung zum Gottesreich im Sinne ihrer eigenen jüdischen Religionsgesetze und Riten. Sie terminierte die Annahme des Weltenheilands erst auf die baldige Zeit seiner Wiederkehr und betonte die biblischen Verkündigungen des Neuen Bundes Gottes mit seinem Volk. Dazu gehörte die künftige Wiederversammlung der Juden aus ihrer Zerstreuung und ihre zumindest geistliche Herrschaft im Heiligen Land als Vorbild aller dann auch dem Herrn zufallenden Völker der Welt. Programmatisch wurde deswegen auf alle vorzeitigen Christianisierungsbemühungen verzichtet. Für diese besonders unter den kirchen- und dogmenkritischen Radikalpietisten verbreitete Tradition gibt es Spezialuntersuchungen bisher nur zu 46 Vgl. die detailreiche Abhandlung von Schmidt: Judentum und Christentum (wie Anm. 19), S. 87–128, die ebenfalls die Positionen Speners und des Frühpietismus einbeziehende Studie von Erich Beyreuther: Zinzendorf und das Judentum [zuerst in: Judaica 19 (1963), S. 193–246; Reprint:] In: Erster Sammelband über Zinzendorf. Hg. von Erich Beyreuther und Gerhard Meyer, Hildesheim – New York 1975, S. 679–732 (Zinzendorf. Materialien und Dokumente, Reihe 2, Bd. 12), die Dissertation von Friedrich: Zwischen Abwehr und Bekehrung (wie Anm. 27) und den in ihren herrnhutisch-parteilichen Wertungen und ihrer unsensiblen Begrifflichkeit bei solider Quellenbasis weit problematischeren Aufsatz von Philipp: Zinzendorf als Wegbereiter eines deutschen Philosemitismus (wie Anm. 21). Überall dort Belege und weiterführende Literaturangaben. 47 Den aus schwärmerischen Endzeiterwartungen erwachsenden Eifer zur Judenbekehrung bewertet Ernst-Peter Wieckenberg: Der Bekehrungsstreit zwischen Lavater und Mendelssohn. In: Tribüne. Zeitschrift zum Verständnis des Judentums, 18. Jg., H. 69 (1979), S. 72 und 76, diametral zu den Vorgenannten sogar als „Äußerungsform eines christlichen Antisemitismus“. Mit beiden plakativen Begriffen aber wird man dem Geflecht der Motivationen, einerseits Fürsorge, andererseits missionarischer Rücksichtslosigkeit, kaum gerecht. 48 Jacob Katz: Rezeption jüdischer Autoren durch deutsche Kritik und deutsches Publikum. In: Kontroversen, Bd. 5. 1986 (wie Anm. 44), S. 129.
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einigen barockspiritualistischen Vordenkern49 und namentlich zu Ernst Christoph Hochmann von Hochenaus Sendbrief an die Juden von 1699.50 Ich kann für beide Richtungen auf das Bekannte nur knapp verweisen und versuche, ein paar darüber hinausweisende, sicher noch ganz unvollständige und einer spezifischeren Erforschung bedürftige Hinweise zu geben.
IV. Auch die um eine schrittweise Christianisierung der Juden bemühte Richtung geht in ihrer Begründung weniger von dem allgemeinen Missions- und Taufbefehl Mt 28,19 als von endzeitlichen Erwartungen über die besondere Aufgabe des Volkes, dem Jesus entstammte, im göttlichen Heilsplan aus. Ersichtlich wird dies an Speners Reflexionen, in denen noch die Argumente beider Richtungen vereinigt sind. Schon in seiner richtungweisenden Programmschrift von 1675, Pia Desideria, kommt er zentral auf die heilsgeschichtliche Bedeutung der Juden zu sprechen. Ihre Geschichte stellt er zunächst als Typus und Vorbild der Kirchengeschichte dar. Daran knüpft er seine ,subtil-chiliastische‘ „Hoffnung besserer Zeiten“, die die Frage anheimstellt, ob das Geschehen der Endzeit bereits begonnen habe oder erst künftig zu erwarten sei. Ein herrlicherer Stand der wahren Kirche aber scheint ihm eindeutig noch bevorzustehen, und die dafür Röm 11,25 f. verheißene allgemeine Bekehrung der Juden hält er – gegen Luther und die Kirchentradition – durch das urgemeindliche und seitherige Judenchristentum noch nicht für erfüllt. Wenn aber die Juden sollen bekehret werden / so muß entweder bereits die wahre Kirche in heiligerem Stande stehen / als sie jetzund ist / daß deroselben heiliger wandel zugleich ein mittel jener bekehrung werde […]. Oder / wo sie sonsten von Gott durch seine krafft / auff uns jetzo noch vorzusehen unmügliche art / werden bekehret werden / ist wiederumb nicht zu gedencken / das nit das exempel eines solchen neubekehrten volcks […] eine merckliche änderung und besserung bey unser Kirchen nach sich ziehen solte. Vielmehr ist zu hoffen / daß mit heiligem eiffer gleichsam in die wette die gesamte auß Juden und Heyden versamlete Kirche GOtt in einem glauben […] dienen und sich aneinander erbauen werde.51 49 Vgl. Schoeps: Philosemitismus im Barock (wie Anm. 27), v. a. Kapitel zu Paul Felgenhauer, Anders Kempe und Jens Pedersen Gedeløcke. 50 Hans Schneider: Ein ,Schreiben an die Juden‘ (Freiwillige Nachlese III, 4). Hochmann, Zinzendorf und Israel. In: Unitas Fratrum. Zeitschrift für Geschichte und Gegenwartsfragen der Brüdergemeine, H. 17 (1985), S. 68–77, ausführlicher Schrader: Philadelphian Hope (2003, L 28), im vorliegenden Band S. 205–231. 51 Philipp Jacob Spener : Pia Desideria. Hg. von Kurt Aland, Berlin, 3. durchges. Aufl. 1964 (Kleine Texte für Vorlesungen und Übungen, H. 170), S. 44 f.; vgl. ebd., S. 40 ff.
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Spener also scheint es ungewiß, ob die gänzliche Heimführung Israels, verstanden jedenfalls als Bekehrung zu Christus, durch missionarische Einwirkung oder in unmittelbarem göttlichem Heilswirken erfolgen soll. Mit dem Auftrag tätiger Vorbereitung des besseren Kirchenzustands entscheidet er sich aber dafür, vor der Hand das Mögliche ins Werk zu setzen: es liget uns allen ob / daß wir so viel eines theils zu bekehrung der Juden […] oder andern theils zu besserung unserer kirchen gethan werden mag / zu werck zu richten nicht säumig seyen: Und ob wir wol vor augen sehen solten / daß nicht eben der gantze und völlige zweck erhalten werden könte / auffs wenigste so vieles thun als müglich ist.52
Dieses Ziel blieb für sein ganzes Wirken bestimmend: Ihm stand dabei außer Frage, daß die Juden als das gotterwählte Volk, aus dem er seinen Sohn gesandt hatte, „das vornehmste Geschlecht in der ganzen Welt“ sind, „daß sie aus Gottes erstem Bunde mehr Recht zu dem Reich gehabt als wir, die wir erst aus Barmherzigkeit an ihrer Stelle angenommen worden seien“ und daß deshalb geboten sei, „ihnen die Liebe vor andern zu erweisen“.53 Denn da Gott in seinem Gericht sie aus dem Besitz ihres vormals ihnen angewiesenen Landes gesetzt und sie in der Welt zur Strafe ihrer Sünde zerstreuet hat, muß man ihnen auch in solchem Stand ihres Elends einen Raum und Herberge gönnen […]. Wo man sie aber aufnimmt, schließt solches ein, daß man ihnen auch die Übung ihrer – wenngleich verderbten – Religion lasse.54
So fordert er die Rücknahme ihrer beruflichen Einschränkungen, den Verzicht auf alle Zwangsmaßnahmen, ein Hinführen zur Anerkennung der Messianität Jesu durch Angebote freiwilliger Missionspredigten – aber erst dann eine Taufe, wenn ein unverkennbares Verlangen und deutliche Zeichen der sinnverwandelnden Wiedergeburt vorlägen.55 Eine solche Umwandlung nach dem Idealbild des pietistischen Seelenprogresses, damit das Ablegen aller jüdischen Sozialisation und Tradition, blieb freilich doch das höchste Ziel der individuellen Zuwendung. „Spener regt an, Francke handelt.“56 Im Einflußbereich der Halleschen Universität und der Franckeschen Anstalten rückten die Ziele der Missionierung und Taufe möglichst vieler Juden entschiedener in den Vordergrund. Schon Franckes Collegium Orientale (seit 1705) hatte neben der judaistischen Aus52 Ebd., S. 45. 53 Spener: Theologische Bedencken. Zitiert bei Schmidt: Judentum und Christentum (wie Anm. 19), S. 93 f. 54 Ebd., S. 96. 55 Vgl. ebd., S. 96–103. 56 So die griffig-forsche Kontrastcharakteristik in: Der Pietismus. Hg. von Hans Urner (1. Aufl. Gladbeck 1952), 2. Aufl. Berlin 1962 (Quellen. Ausgewählte Texte aus der Geschichte der christlichen Kirche, H. 34), S. 33.
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bildung den Nebenzweck der Missionsschulung. In dem 1728 von seinem Mitstreiter Johann Heinrich Callenberg gegründeten, bis 1792 fortbestehenden Institutum Judaicum, das auch das Muster für Johann Philipp Fresenius’ (des späteren Taufpastors Goethes) Darmstädter Proselytenanstalt (1736) und alle ähnlichen Institutionen wurde, entstanden Missionstraktate mit christologischen Messiasdeutungen aus alttestamentlichen und rabbinischen Quellen und in hebräischer Sprache und Schrift, die durch bereits getaufte Juden verbreitet werden sollten. Deren bekanntester war von dem Gießener MaySchüler Johannes Müller verfaßt, der dabei zu besserem Erfolg seinen Namen in Jochanan Kimchi transferierte: Or le-et Erew (,Ein Licht am Abend‘), 1728. Auch wurden jiddisch- und hebräischkundige Missionare in die Ghettos und Synagogen entsandt. Deren Berichte aus Polen, durch Callenberg publiziert, stellen eine wertvolle Quelle jüdischen Lebens in dieser Zeit dar.57 Andere Hallenser wie der Theologe Joachim Lange oder der Waisenhausverleger Heinrich Julius Elers haben sich mit geringerer Subtilität befleißigt, „bey gegebener Gelegenheit, mit den Juden zu sprechen und sie auf die Erkenntniß Christi und Errettung ihrer Seelen zu führen.“ Der Erfolg war wohl mäßiger, da sie denn öffters mit groser Bewegung und unter vielen Thränen zugehöret, auch ein und anderer bezeuget hat, wenn ihn seine Familie und äussere Umstände nicht abhielten, würde er unverzüglich ein Christ werden.58
Im unbedingt christologischen Ansatz stimmte mit ihnen das HerrnhuterOberhaupt Graf Zinzendorf überein, der ebenso von Hallescher Schulung wie von philadelphischem Ideengut herkam. Sein Hauptanliegen war es, aus allen Religionen Erstlinge der Bekehrung für das bevorstehende Christusreich 57 Callenbergs Berichte in mehreren bändereichen Fortsetzungsserien sind für judaistische Forschungen höchst ertragreich: Jo. Heinr. Callenbergs Bericht an einige Christliche Freunde von einem Versuch Das arme Jüdische Volck zur Erkäntniß und Annehmung der Christlichen Wahrheit anzuleiten, Halle [1729], 2. Aufl. 1730 mit 16 Forts. bis 1738 und Reg.-Bd. 1744 (vgl. Anm. 19). Fortgesetzt in ders.: Relation von einer Bemühung Christum dem Jüdischen Volk bekannt zu machen, 30 Stücke, Halle 1738–1750 und: Fortwährende Bemühung um das Heil des Jüdischen Volks, 9 Stücke, Halle 1752–1758. – Umfassendere Details zu den hier nur abbreviatorisch gekennzeichneten Missionsinstitutionen und -unternehmungen bei Schmidt: Judentum und Christentum (wie Anm. 19), S. 103–116 (deutlich wird dort, S. 115, die aus der Taufe resultierende soziale Entwurzelung der Betroffenen); ferner Heman: Missionen unter den Juden (wie Anm. 27), B[irger] Pemow: Judenmission. In: RGG, 3. Aufl., Bd. 3, Tübingen 1959, Sp. 976–978; E[rnst] Wolf: Halle. Ebd., Sp. 34–38 und W[alter] Holsten: Institutum Judaicum. Ebd., Sp. 785 f.; P[aul] R[ieger]: Judenmission. In: Herlitz / Kirschner: Jüdisches Lexikon, Bd. 3, Berlin 1929, Sp. 435 und A[aron] S[andler]: Institutum Judaicum. Ebd., Sp. 25 f.; zu Müller / Kimchi außer Callenberg: Bericht, 2. Aufl. 1730, S. 4–14 auch Mevorah: Lavaters Auseinandersetzung (wie Anm. 27), S. 440 f. In allen diesen Belangen gibt es jetzt neue Einsicht durch den Sammelband der Akten vom Hallenser Callenberg-Kolloquium „Das Institutum Judaicum et Muhammedicum in Halle“, hg. von Grit Schorch und Brigitte Klosterberg (wie Anm. 1). 58 Bericht in der Elers-Biographie der „Historie Der Wiedergebohrnen“ (Neudruck 1982, L 2), Bd. 4, VII. Teil, 1745, S. 159 f.; zu Langes Bemühungen Schmidt (wie Anm. 19), S. 115.
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einzusammeln, so daß die recht erfolgreiche herrnhutische Judenmission den weltweiten Heidenevangelisationen der Brüdergemeine gleichgeordnet war. Die Proselyten wurden durch Aufnahme in die Gemeine sozial besser gesichert, nach Möglichkeit mit Herrnhutern verheiratet, um den Anpassungspreis freilich eines völligen Bruchs mit der Welt ihrer Herkunft.59 Wenn Zinzendorf persönlich zusammen mit Standesgenossen die Taufpatenschaft für solche Neuchristen übernahm,60 dann war das wohl eine für den pietistischen Adel der Zeit typische Demutsgeste, so wie etwa Mitglieder der Solms-Laubacher und Isenburg-Büdinger Grafenhäuser sich als Paten für die jüdischen Jugendlichen Gumpel und Anschel anboten, die zu ihrer Aufnahme ins Laubacher Armenhaus die Taufe begehrten.61 Derartige Bekundungen der Anteilnahme hinderten übrigens auch den pietistisch erweckten Adel nicht, sich begüterter Schutzjuden zur Stillung seines Finanzbedarfs zu bedienen und sie womöglich, wie Wilhelmine Luise Friederike von Leiningen-Westerburg, um ihren verbrieften Kredit und Zins zu prellen, was diesen dann kostspielige und langwierig-ungewisse Prozesse vor dem Reichskammergericht aufnötigte.62 Zum Unterricht der Neophyten wurden auch bei den von Halle und Herrnhut unabhängigen Pietisten spezielle Katechismen und Mustergebete 59 Ausführlichste Darstellungen bei Gustaf Dalman: Graf Zinzendorf und die Juden. In: Gustaf Dalman / Adolf Schulze: Zinzendorf und Lieberkühn. Studien zur Geschichte der Judenmission, Leipzig 1903 (Schriften des Institutum Judaicum in Berlin, H. 32), S. 5–49, und Beyreuther: Zinzendorf und das Judentum (wie Anm. 46), bes. S. 691–732; mit Berücksichtigung zusätzlicher Quellen Philipp: Zinzendorf als Wegbereiter (wie Anm. 21), S. 15–25; vgl. ausgewogener Schneider: Ein ,Schreiben an die Juden‘ (wie Anm. 50), bes. S. 70–73. Zum philadelphischen Impuls der Bemühungen des Grafen vgl. zusammenfassend Hans Schneider: Nikolaus Ludwig von Zinzendorf. In: Gestalten der Kirchengeschichte, Bd. 7: Orthodoxie und Pietismus. Hg. von Martin Greschat, Stuttgart 1982, S. 347–372. 60 So auf Schloß Castell zusammen mit der dortigen Gräfin Theodora: Philipp (wie Anm. 21), S. 18 nach Martin Wittenberg: Zinzendorf und die Judenbekehrung. In: Evangelisch-lutherische Kirchenzeitung 14 (1960), S. 243 f. 61 Christian Hecht: Christlicher Tauf=Actus, Und das vorher abgelegte Glaubens=Bekänntniß, Zweyer Juden=Knaben Gumpels und Anschels […]: Nunmehro aber Carl Casimir Christliebs / und Friedrich Christian Christliebs […] zu Laubach in der Stadt=Kirche den 6. Jan. 1729, Büdingen 1730. Als Erweckungsvorbilder konnten Berichte über zur Taufe gebrachte jüdische Kinder sogar in das paränetische Jugendschrifttum der Pietisten aufgenommen werden. In der in vielen Ausgaben und Bearbeitungen verbreiteten Sammlung: Des Geistlichen Exempel=Buchs Für Kinder Dritter Theil […] Nach der Art Jacob Janneway enthielt die Ausgabe Leipzig 1732 als 12. Exempel „Das treue Suchen des lieben Heilandes an einem Juden=Mägdlein bewiesen“. Vgl. die ausführliche Rezension in der Sammlung Auserlesener Materien zum Bau des Reichs GOttes, 7. Beitrag, Frankfurt – Leipzig 1732, S. 794. Die Leipziger Ausgabe des III. Teils der Sammlung deutscher Kindererweckungen scheint heute ebenso verloren wie dessen Drucke aus Nürnberg 1731 und Tübingen 1732. In der mir einzig erreichbaren Version Nürnberg 1738 (LB Stuttgart) ist das Exempel nicht enthalten. 62 Klageschrift aus den Akten des Reichskammergerichts: Acten-mäßige Species Facti In Sachen des Chur=Pfältzischen Schutz=Juden Abraham Simons zu Freinsheim Contra Frau Gräfin […] zu Leiningen=Westerburg, o. O. 1740, bes. S. 3–6 und 16 (Sondersammlung ,Deductiones‘ der StUB Göttingen).
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entworfen63 und im Druck verbreitet, so auch von dem später zu radikalem Chiliasmus und zu einer deutlich kritischeren Haltung gegen die Judentaufe gekommenen Johann Wilhelm Petersen. Schon durchaus ambivalent im Hinblick auf die ohnehin in der nahenden Gnadenzeit zu erwartende Seligkeit der jetzt noch nicht Bekehrungswilligen legt er 1688 nach den christologischen Bibelbeweisen seinem Täufling in den Mund: mache mich starck gegen alle böse Exempel der heutigen Maul=Christen / lehre vielmehr mit gutem Exempel ihnen vorzuleuchten / daß […] die so meine Brüder sind nach dem Fleische / gläuben mögen […]. Heilige meine Zunge / daß ich nicht viel gegen sie mit Worten streite […]. Gib mir eine heisse Liebe zu sie / und ein feuriges Gebet für sie / daß die Decke Mosis von ihren Augen und Hertzen weggethan werde / und sie […] die Verheissung / die in den letzten Tagen Israel noch vorstehet / durch ihren Glauben an den Sohn GOTTES / den Gott Israel erfüllet sehen mögen. Ach daß solche Gnaden=Zeit doch bald käme / und gantz Israel seelig würde!64
Die beiden aufsehenerregendsten und bis heute bekanntesten, in beiden Fällen freilich fehlgeschlagenen pietistischen Missionierungsbemühungen an berühmten Juden waren 1738 der Versuch des Stuttgarter Dekans und fruchtbaren Erbauungsschriftstellers Georg Conrad Rieger, den als ,Jud Süß‘ berüchtigten, gestürzten und zum Tode verurteilten Herzoglich-Württembergischen Hoffaktor Joseph Süß Oppenheimer noch unter dem Galgen zu Christus zu bekehren, und 1769 die öffentliche Aufforderung des Zürcher Predigers und spiritualistischen Genie-Apostels Johann Caspar Lavater an den jüdischen Gelehrten und Aufklärungsphilosophen Moses Mendelssohn, die
63 Vgl. die Vorschläge Conrad von Beuningens in: Reitz: Historie Der Wiedergebohrnen. Neudruck (1982, L 2), Bd. 2, Teil IV, 1716, S. 133. 64 Johann Wilhelm Petersen: Ein Christliches Glaubens=Bekäntnis für einen sich zum Christentum Bekehrenden Juden […] Ruben Simon aus Amsterdam / Der […] den 8. Jan. dieses 1688. Jahres […] ist getauffet worden von mir. [Erstdruck als 2. Anhang (S. 371–402) zur 2. Aufl. von] J. W. Petersen: I.[n] N.[omine] J.[esu] Spruch= Catechismus, Frankfurt – Leipzig 1689. Der Ausgabe Breslau 1722 ist vom ungenannten Herausgeber ein „Anhang Einiger Fragstücke für einen zu bekehrenden Juden Abraham Isaac aus Reusisch Lemberg“ beigegeben (S. 169–192). Petersens spätere Auffassung über das millenarische Ende der Zerstreuung des jüdischen Volks und dessen Teilhabe an der ersten Auferstehung z. B. in seiner Abhandlung: Schrifftmässige Erklärung und Beweis Der Tausend Jahre / und der daran hangenden ersten Auferstehung, Frankfurt 1692, S. 24–26, v. a., in Abgrenzung zu den Endzeithoffnungen des jüdischen Volksglaubens, ders.: Oeffentliche Bezeugung Für der gantzen Evangelischen Kirchen: Daß das Reich JEsu Christi […] Weder mit den alten ketzerischen Irrthümern des Cerinthi / noch mit den Jüdischen Fabeln einige Gemeinschafft habe, o. O. 1695, S. 4–19. Die veränderte Gewichtung in Petersens Denken von einer missionsorientierten Haltung zu einer gelassenen Erwartung des künftigen Wiederbringungsakts Gottes wird auch in seiner Autobiographie sichtbar: Das Leben Jo. Wilhelmi Petersen, o.O. 1712, S. 225 f. (christologische Messiasverkündigungen in der Döplitzer Synagoge) und S. 343–348 (chiliastische Lehre von der endzeitlichen Bekehrung der Juden).
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Wahrheit der christlichen Religion zu akzeptieren und durch seinen Übertritt zu verherrlichen.65 Im ersten Fall ging es vor allem um einen Erweis der grenzenlosen Erlösungsbereitschaft Christi auch für den verstocktesten und verfallensten Malefikanten, wenn er sich noch sterbend, wie der Schächer am Kreuz, zu ihm wendete, aber auch darum, den durch den Prozeß aufwallenden Antisemitismus zu bannen: Denn solche Liebe sind wir einem Juden um eines einigen Juden willen, um Jesu Christi, unseres hochgelobten Heilands willen, schuldig.66
Lavaters von den Zeitgenossen aller ideologischen Lager abgelehnte Taktlosigkeit aber resultierte aus der schon 1768 in seinen Aussichten in die Ewigkeit bekundeten alten heterodoxen Überzeugung, daß „die Bekehrung der gesammten jüdischen Nation zum Christenthum“ noch bevorstehe in einem zukünftigen Reiche unsers Erlösers auf dieser Welt, welches mit der Wiederherstellung des jüdischen Staats anfangen und bis zu dem allgemeinen Weltgerichte währen soll.67
Nur meinte Lavater wie die judenmissionarisch orientierten Pietisten vor ihm, den Anbruch dieses Reiches durch die Sammlung der würdigsten „Erstlinge“ vorbereiten und befördern zu sollen. Von der Anerkenntnis Christi durch den bekanntesten und höchstgeachteten aller zeitgenössischen Juden, diesen vortrefflichen „Israeliten, in welchem kein Falsch ist“,68 erhoffte er sich den 65 Beide Fälle sind noch dargestellt im populären Sachbuch von Leo Sievers: Juden in Deutschland. Die Geschichte einer 2000jährigen Tragödie, München, 3. erw. Aufl. 1983 (Goldmann SternBücher, Bd. 11510), S. 121–131 (Oppenheimer) und 141–144 (Lavater-Mendelssohn). 66 Wilhelm Claus: Von Bengel bis Burk. Bilder aus dem christlichen Leben Württembergs, Stuttgart 1900 (Württembergische Väter, Bd. 1), S. 91–93; zit.: S. 93; Eberhard Buchner: Religion und Kirche. Kulturhistorisch interessante Dokumente aus alten deutschen Zeitungen (16. bis 18. Jh.), München 1925, S. 292–297. Vgl. [Selma] St[ern-Täubler]: Joseph Süß-Oppenheimer (red. von [Ismar] E[lbogen]). In: Herlitz / Kirschner: Jüdisches Lexikon, Bd. 4/1, Berlin 1930, Sp. 589–592 und Taf. 130/131 sowie ausführlicher, aufgrund der Prozeßakten und Flugschriften, Selma Stern: Jud Süß. Ein Beitrag zur deutschen und jüdischen Geschichte, Berlin 1929 (Veröffentlichungen der Akademie für die Wissenschaft des Judentums, Hist. Sekt, Bd. 6), S. 168 f. 67 [Johann Caspar Lavater]: Aussichten in die Ewigkeit in Briefen an Herrn Joh. George Zimmermann, 1. Teil, Zürich, 3. Aufl. 1777, S. 216 f. Mevorah: Lavaters Auseinandersetzung (wie Anm. 27), S. 431 f. zitiert nach einem der zahlreichen unberechtigten Nachdrucke („2. verb. Aufl. Hamburg 1773, S. 92 f.“, vgl. den ebenfalls als 2. Aufl. firmierenden Raubdruck Frankfurt 1773). Zum geistesgeschichtlichen Zusammenhang vgl. Mevorah, S. 431–450 mit Lit. Über die Abfolge der Ereignisse und ihre literarischen Weiterungen informiert übersichtlicher Wieckenberg: Der Bekehrungsstreit zwischen Lavater und Mendelssohn (wie Anm. 47), S. 71–79. 68 So in der diesen Streit auslösenden Widmungsvorrede an Mendelssohn in Lavaters Übersetzung: Herrn Carl Bonnets […] Philosophische Untersuchung der Beweise für das Christenthum, Zürich 1769. Vgl. Ernst Schulte-Strathaus: Bibliographie der Originalausgaben deutscher Dichtungen im Zeitalter Goethes, Teil I, 1, München – Leipzig 1913, S. 92–95; Wieckenberg (wie Anm. 47), S. 71 und Mevorah (wie Anm. 27), S. 434. Aufschlußreich ist, daß Hochmann von Hochenau, der vorzeitige Christianisierungsbemühungen ablehnte, 1699 seinen ,Sendbrief an
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Anstoß zur allgemeinen Judenbekehrung und damit den Beginn der herrlichen Epoche der Bruderliebe.
V. Neben dieser Richtung hat während der gesamten Blütezeit des Pietismus, bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts, jene andere fortbestanden, die bei womöglich noch entschiedeneren Äußerungen einer auszeichnenden Wertschätzung für das jüdische Volk programmatisch jede Glaubensabwerbung und Taufpropaganda ablehnte. Sie kulminierte in der Phase gesteigerter eschatologischer Naherwartung um die Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert und ging erst zurück, als mit dem nachlassenden Außendruck auf den Pietismus und seiner fast vollständigen Integration in das protestantische Kirchenwesen, mit fortschreitender dogmatischer Toleranz und Säkularisation die endzeitlichen Spekulationen an Boden verloren – und mit ihnen die radikaleren separatistischen und heterodoxen Kräfte, die jene besonders genährt hatten. Für die Einstellung dieser Richtung des Pietismus zu den Juden stand zuerst die Pilotstudie von Hans Schneider über den Sendbrief an die Juden von 1699 zu Gebote, als dessen Verfasser er den wirkungsreichen Erweckungsprediger und Propagator einer überkonfessionellen philadelphischen Sammlung, Hochmann von Hochenau, erwiesen hat,69 für den entsprechende Auftritte vor der Frankfurter Judenschaft in diesem Jahr auch tatsächlich belegt werden können. Die Argumente in dieser ungemein konsistenten Tradition sind, soweit ich sehe, weitgehend dieselben, wie Schneider sie für Hochmann freigelegt hat. Ebenso wie bei den missionsorientierten Pietisten wird aus der Bibel die gottgewollte besondere Würde des Bundesvolks und dessen eindeutig noch bevorstehende Wiederannahme nach der langen Zeit des Strafgerichts abgeleitet. Dann werde nur noch „ein Hirt und eine Herde“ (Joh 10,16) aller Schäflein Gottes sein, aus welchen Ställen sie auch kommen mögen. Stärker ins die Juden‘ mit demselben Bibelzitat Joh 1, 47 adressierte (vgl. Schneider: Ein ,Schreiben an die Juden‘, wie Anm. 50), S. 69. 69 Schneider: Ein ,Schreiben an die Juden‘ (wie Anm. 50), S. 68–77, bes. 69–72, zur kaum erforschten Traditionsgeschichte S. 76; vgl. ders.: Ernst Christoph Hochmann von Hochenau. In: TRE, Bd. 15, Berlin – New York 1986, S. 421–423. Der untersuchte bedeutungsvolle Sendbrief ist im Reprint greifbar : [E. Chr. Hochmann von Hochenau]: Schreiben an die Juden, welches vor geraumer Zeit viel Eingang gefunden (Der Freywilligen Nachlese […] III. Sammlung [1735], S. 62–69). In: Nikolaus Ludwig von Zinzendorf: Ergänzungsbände zu den Hauptschriften. Hg. von Erich Beyreuther und Gerhard Meyer, Bd. 11 (Freyw. Nachl. 1–6), Hildesheim 1972. Die von Schneider vermißten direkten Quellenbelege für eine nicht bloß literarische Anrede, sondern für ein persönliches Wirken Hochmanns unter den (Frankfurter) Juden sind im Wittgensteinischen Archiv, Laasphe: K 291, Bl. 48 erhalten. Nachweis bei Eberhard Bauer: Der Separatismus in der Grafschaft Wittgenstein. In: Jahrbuch für Westfälische Kirchengeschichte 75 (1982), S. 170.
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Licht gerückt werden jedoch die Verheißungen der zukünftigen Herrlichkeit Israels, seiner Versammlung aus aller Welt und Wiedereinsetzung in seine Erbgüter im Heiligen Land. Wesentlich unterscheidend ist vor allem die Auffassung, daß die Christen in Gottes Heilshandeln mit den Juden nicht eingreifen dürfen, weder in sein noch obwaltendes Gericht über sie noch in seine Absicht, sie künftig zur Gänze wieder anzunehmen, daß also der jüdische Weg zum Heil nicht über eine vorherige Bekehrung zum Christentum führt, also keine Judenmission erforderlich ist. Die getrennten Wege von Christentum und Judentum laufen erst endzeitlich beim Offenbarwerden des einen Messias der Juden und Christen zusammen.70
Da alle Exponenten dieser Richtung schroff kirchenkritisch eingestellt sind, kommt als Nebenargument hinzu, daß es nicht Gottes Wille sein könne, den „babelischen“ Konfessionskirchen neue Glieder zuzutreiben. Keineswegs solle, wie es 1738 der Mystiker Marsay formuliert, die allgemeine Bekehrung der Juden auf eine fleischliche Art und Weise geschehen, sondern, da das Reich des Geistes in vollem Anbruch ist, würde auch sothane Bekehrung mehr im Geist erfolgen ohne eine oder andere Secte noch Religion zu vermehren.71
Die angemessene christliche Fürsorge für die Juden kann deshalb nur sein, sie zu ernstlicher Buße und Lebensheiligung entsprechend ihren eigenen alttestamentlichen Religionsgrundsätzen aufzurufen und durch Liebe und Besserung ihrer sozialen Situation die Voraussetzungen für die Möglichkeit einer solchen Herzenseinkehr zu schaffen. Alle diese Postulate entsprechen weitgehend den Maximen, die auch für die jüdische Frömmigkeit bestimmend waren. Daraus und aus der Idee der bevorstehenden neuen göttlichen Auszeichnung Israels mögen sich die aufsehenerregenden Verhaltensweisen einiger pietistischer Außenseiter erklären: so unterwarf sich der Däne Jens Pedersen Gedeløcke den Heiligungsgeboten des mosaischen Gesetzes,72 hat 70 Schneider: Ein ,Schreiben an die Juden‘ (wie Anm. 50), S. 71. 71 Geistliche Fama, mittheilend einige wahrhaffte Nachrichten / betreffend anietzo insonderheit die Erweckung und Bekehrung der Juden. = Bd. 3, 24. Stück. „Sarden“ [= Berleburg] 1738, S. 6. Der ungezeichnete Artikel stammt von Charles Hector de Marsay, vgl. dazu die eruierten Kontexte bei Schrader : „Erweckung und Bekehrung der Juden“ (2019, L 58a, s. o. Anm. 1). – Allgemein über das Philadelphierorgan informiert Winfried Zeller : Geschichtsverständnis und Zeitbewußtsein. Die „Geistliche Fama“ als pietistische Zeitschrift. In: Pietismus und Neuzeit 2 (1975), S. 89–99; wieder abgedr. in: ders.: Theologie und Frömmigkeit, Bd. 2, Marburg 1978, S. 150–160. Ebenso massiv wie hier Marsay wendet sich auch der Begründer der ,Geistlichen Fama‘, Johann Samuel Carl (vgl. Schrader: Johann Samuel Carl [1979, L 61, im vorliegenden Band S. 625–631]), gegen die „par force=Werberey“ der proselytenmacherischen „Hohepriester und Apostel aus der Huren= und Thieres=Zunfft“: Reitz: Historie Der Wiedergebohrnen. Neudruck (1982, L 2), Bd. 3, Teil VI, 1730, S. 192. 72 I. H. K.: Der sonderbare Glaube […] Und Merckwürdige Begräbniß des CVRATORIS JENS PEDERSEN GEDELÖCKS, Welcher […] als ein vorhero gewesener Christ Wie ein ungläubiger
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angeblich der reformierte Wetterauer Separatist Balthasar Christoph Klopfer ein göttliches Zeichen erwartet, ob er seinen Sohn taufen oder beschneiden lassen sollte,73 ist der von Spener erweckte Süddeutsche Johann Peter Spaeth sogar zum Judentum übergetreten.74 Den Inspirierten, die die Juden in der Synagoge zu Buße und Heiligung aufriefen,75 wurde nachgesagt, sie bestatteten ihre Toten nach jüdischem Ritus.76 Schwärmer wie Oliger Pauli, der 1704 in Altona eine apostolische Union der Juden und Christen gründen wollte,77 oder wie, noch in der Goethezeit, der
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Jude gestorben […], [Berlin]-Cölln 1731. Aufgrund dieses auf dem Stuttgarter Trödelmarkt erstandenen Exemplars hat Wilhelm Raabe seine humoristische Toleranzerzählung „Gedelöcke“ verfaßt, Wilhelm Raabe: Stuttgarter Erzählungen = Werke in Einzelausgaben. Hg. von Hans-Jürgen Schrader. Bd. 1, Frankfurt 1985 (insel taschenbuch, Bd. 881). – Historische Kontexterhellung des Kopenhagener Skandalfalls aus dem Jahr 1729 bei Schoeps: Philosemitismus im Barock (wie Anm. 27), S. 87–91, jetzt auch Schrader: „Gedelöcke“ (2009, L 43). Diesen Bericht hat nach Valentin Ernst Löscher: Vollständiger Timotheus Verinus, Teil 1, Wittenberg 1718, S. 53 u. a. Johann Michael Mehlig: Historisches Kirchen= und Ketzer=Lexicon, Bd. 2 [Chemnitz 1758], S. 493 kolportiert. Die Klopfer-Affäre des Jahres 1697 hat erhebliche Weiterungen nach sich gezogen und mit Anlaß zur Entstehung philadelphisch-separatistischer Gemeinden in Hessen gegeben. Johann Henrich Reitz: Grund des Glaubens und der Hoffnung, Berleburg 1724, S. 35–48 geht in seinem umfänglichen Rechenschaftsbericht über die Affäre auf diesen speziellen Vorwurf nicht ein. Rudolf Mohr: Ein zu Unrecht vergessener Pietist. In: Monatshefte für Evangelische Kirchengeschichte des Rheinlandes 22 (1973), S. 79–88, der sie am quellenkundigsten erforscht hat, hält den Vorwurf einer erwogenen Beschneidung (S. 82) für eine Unterstellung. Ideen dieser Art kursierten aber wirklich in diesen Jahren, vgl. Johann Wilhelm Petersen: Oeffentliche Bezeugung (wie Anm. 64), S. 7, und im Ephrata-Kloster der aus dem Wittgensteiner Pietismus hervorgewachsenen pennsylvanischen Siebentäger-Baptisten schritt man zum Zeichen eines auszeichnenden Gottesbunds auch zur Tat, vgl.: Chronicon Ephratense, Enthaltend den Lebens=Lauf des ehrwürdigen Vaters in Christo Friedsam Gottrecht, Weyland Stiffters und Vorstehers des geistl. Ordens der Einsamen in Ephrata in der Grafschaft Lancaster in Pennsylvania. Zusammen getragen von Br. Lamech u. Agrippa [Jacob Gass und Johann Peter Müller/Miller], Ephrata 1786, S. 23, 25, 27, siehe auch Schrader: Conrad Beissels Ephrata-Gemeinschaft (2006, L 41), im vorliegenden Band S. 562. Ausführliche Analyse von Schoeps: Philosemitismus im Barock (wie Anm. 27), S. 67–81, vgl. P[aul] L[azarus]: Johannes Petrus Spaeth. In: Herlitz / Kirschner: Jüdisches Lexikon, Bd. 4/2, Berlin 1930, Sp. 538 f. und (korrekter, bereits auf Schoeps basierend) M[ichael] R[euven]: Johann Peter Spaeth (Moses Germanus; 1642/45–1701). In: Encyclopaedia Judaica, Bd. 15, Jerusalem 1971, Sp. 219 f.; Schmidt: Judentum und Christentum (wie Anm. 19), S. 117, 128. Das Geschrey zur Mitternacht / Durch den Geist der Weissagung. [Hg. von Johann Carl Gleim], o.O. 1715, S. 19 f., vgl. v. a. S. 28–30, 49–51, 116–118; danach Gottlieb Scheuner: Inspirations=Historie, Amana (Iowa) 1884, S. 44. A[nneus] Ypey: Geschiednis van de Kristelijke Kerk in de achttiende Eeuw, 10. Teil, Utrecht 1809, S. 310. – Detaillierter: „Einige Nachrichten von den im Ysenburgischen befindlichen Secten.“ In: Theologische Nachrichten 1805 = Anhang zu: Neue Theologische Annalen 1805 [Hg. von Ludwig Wachler], Marburg [1805], S. 56. Vgl. zu seinem wirren Ideengut Schoeps: Philosemitismus im Barock (wie Anm. 27; S. 53–67 und ff.: Pauli als Lehrer des Moses Germanus) und, mit günstigerer Beurteilung seiner Pläne, Walther Rustmeier : Oliger Pauli oder der Plan einer apostolischen Gemeinde der Juden und Christen in Altona. In: Schriften des Vereins für Schleswig-Holsteinische Kirchengeschichte 2, 19 (1963), S. 69–87. Wie schwierig in der Realität die Situation der Juden in dieser Zeit sogar in der ,Freistadt‘ Altona war, erweisen eindeutig die Dokumente und Untersuchungen bei Peter
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Frankfurter Konzertdirektor Johann Daniel Müller,78 boten sich als neue Messiasse oder Eliasse an, verhießen die Rückführung der Kinder Israel ins Gelobte Land und forderten die Mächtigen der Welt auf, dieses von den Türken zurückzuerobern, damit dem Herrn der Weg bereitet sei. Präzionistische Ideen der Rückführung oder „Wiederkehrung“ der Juden „in ihr Land“ finden sich aber auch bei vielen theologisch ernster zu nehmenden Vordenkern des Pietismus. Die Historie Der Wiedergebohrnen macht mit immer denselben Termini Johann Angelius von Werdenhagen, Johannes Coccejus und Philipp Jacob Spener dafür namhaft.79 Dazu kamen Chiliasten wie Paul Felgenhauer, Pierre Serrurier (Petrus Serarius), Pierre Jurieu80 und Pierre Poiret. In dessen von den Berleburger Philadelphiern übersetzter und 1735–42 siebenbändig neu gedruckter Göttliche[r] Haushaltung schließt das entsprechende Kapitel mit dem Jubellied: O Salem / du Crone der herrlichen Städten! O heiliges Zion / es gehe dir wol! Heyl / Segen und Friede / komm’ in dich getretten / Und mache mit himmlischer Wollust dich voll! Dem der dein Wohl suchet / muß gleiches geschehen / Auch Brüdern und Freunden sey Friede allda! Freimark: Zum Verhältnis der Juden und Christen in Altona im 17./18. Jahrhundert. In: Theokratia. Jahrbuch des Institutum Judaicum Delitzschianum (1970–72), 1973, S. 253–272. Johann Henrich Reitz hat in den Exempelerzählungen von Oliger Pauli, die er dem I. Teil seiner „Historie Der Wiedergebohrnen“ seit der 2. Auflage anfügte, vorsichtshalber dessen offenbar für schwärmerisch gehaltene Pläne zur Rückführung Israels unerwähnt gelassen: Werkgeschichtlicher Anhang der Neuedition (1982, L 2), Bd. 4, S. 29*–39*. 78 Müllers vorgeblich gottdiktierte messianische Bekundungen finden sich z. B. in seinem anonymen, mit „Meßias“ unterzeichneten Traktat: Das ewige Evangelium in der Offenbarung der Kinder Gottes, in und bey dem Gericht über die Welt, o.O. 1778, vgl. v. a. S. 328 (Kennzeichnung als Gottesdiktat: S. 311). Genaueste Information über sein Leben und Werk (mit Lit.) Reinhard Breymayer : Ein radikaler Pietist […] Johann Daniel Müller alias Elias/Elias Artista. In: Pietismus und Neuzeit 9 (1983), S. 180–237. Zu vergleichen ist hier der Bericht in der „Geistlichen Fama“ (wie Anm. 71), Bd. 1, 5. Stück, „Philadelphia“ [Berleburg] 1731, S. 79–85 über den in diesem Jahr in Ägypten erschienenen wundertätigen „Juden=Elias“, der gekommen sei, „das verwirrte und zerstreuete Israelitische Volck aus den vier Welt=Theilen zu versammlen / […] sie in das heilige Land einzuführen / und die Kirche und Mauren zu Jerusalem wieder aufzubauen“ (S. 84). 79 Reitz: Historie der Wiedergebohrnen. Neudruck (1982, L 2), Bd. 2, Teil IV, 1716, S. 16, vgl. 8 und 12 (Coccejus), ebd., Teil V, 1717, S. 332 (Spener), Bd. 4, Teil VII, 1745, S. 87, vgl. 81 und 89 f. (Werdenhagen). 80 Vgl. zu ihm außer den RGG-Artikeln die Hinweise bei Schoeps (wie Anm. 27) und Semisch / Bratke (wie Anm. 36); zu Serrurier und seiner Wirkung auf den Frankfurter Spener-Kreis auch Johannes Wallmann: Philipp Jacob Spener und die Anfänge des Pietismus, Tübingen 1970 (Beiträge zur historischen Theologie, Bd. 42), S. 331 f. Auch einen Dialog dieses Petrus Serarius „von der allgemeinen Erlösung des gantzen Menschlichen Geschlechts“ (also nicht nur der Christen): Die Gespräche im Reiche der Gnaden, Amsterdam 1722, hat die Gottschedin in das irrgläubige und vernunftwidrige Sortiment ihres pietistischen Bücherhökers integriert (vgl. Anm. 32, „Pietisterey“, S. 107).
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Sulamiths verheißene Wiederkehr Sie werden die Herrlichkeit GOttes hier sehen: So singet dann frölich das Halleluja!81
Unter den unmittelbaren geistesgeschichtlichen Vorläufern des Hochmannschen Juden-Sendschreibens will ich noch auf einige gleichsinnige Zeugnisse aus der Zeit eschatologischer Hochspannung um die Jahrhundertwende hinweisen und dann abschließend auf die Erben ihrer Ideen im radikalpietistischen ,Philadelphia‘ Berleburg. 1697 brachten die Pietisten eine Schrift des in Schweden geborenen und 1689 in Altona gestorbenen Felgenhauer-Anhängers Anders Pedersson Kempe neu heraus, die alle Lehren Hochmanns schon enthält: Andreas Kempe: Israels erfreuliche Bottschafft. Das ist: Klarer Beweisz […] das Israel in allen ihren Geschlechtern / Annoch Eine / ja ewige Erlösung unwidersprechlich zu hoffen haben […] Im Jahr Christi 1697 (84 Seiten).
Gegenüber der Erstausgabe von 1688, die Hans Joachim Schoeps als Dokument des ,Philosemitismus im Barock‘ besprochen hat,82 ist sie offenbar massiv gekürzt, von enthusiastisch-krausem Beiwerk gereinigt. Erhalten blieb aber die Behauptung, daß sie als Gottesdiktat empfangen wurde.83 Hauptgedanke ist, daß die anhaltende Diaspora als Gottes Strafe für Israels Verstockung und Sünden auferlegt sei, deren sich aber die Christen nicht zu überheben hätten, da sie selbst „mit greulichen Morden und Blutvergiessen Ceremonien=stifften / Bilder=machen und Teufflisch Wesen mehr / nu in 13. oder 1400. Jahren“ vom Herrn abgefallen seien, während die Juden in allem Leid sich seit Christi Zeiten nie „zu Abgötterey begeben / sondern bey dem GOtt Israel […] verblieben“ sind.84 Nun sei es, wie Kempe beständig wiederholt, Zeit zur Buße, weil bei der unzweifelbar baldigen Erlösung und Rückkehr „nichts unreines für dem Angesicht GOttes / und in das heilige Jerusalem kommen kan“.85 Deutlich warnt er vor dem Eifer der christlichen Bekehrer, und er ermutigt die Juden zur Standhaftigkeit im alten Glauben: Ihr Juden und Benjamiten / mit dem gantzen Israel / hütet euch für solche Wider=Christliche Lehrer / und ihren erdichteten Antichrist / und bleibet in Einfalt bey 81 Herrn Peter Poirets Göttlicher Haushaltung IV. Buch, oder V. Tomus, o.O. [Berleburg] 1736, S. 570 (vgl. S. 567 ff.). 82 Schoeps: Philosemitismus im Barock (wie Anm. 27), S. 45–53. Die in der Göttinger Sammlung ,Acta Pietistica‘ überlieferte Neuausgabe (wie Anm. 83) war ihm nicht nachweisbar. 83 Andreas Kempe: Israels Erfreuliche Bottschafft, o.O. 1697, S. 82: 1686 „fand sich meine Seele unter den Engelchoren versetzet / und in den Armen Jesu umbarmet […]. Derselbe hat auch durch seinen Geist mich zu diesem Wercke animiret / und selbst Dictator gewesen / ich bin nur das instrument. Ihme gehöret alle Ehre in Ewigkeit.“ 84 Ebd., S. 22. Denselben Gedanken von dem gegenüber dem „Jüdischen Wesen“ „siebenmahl verwirrter[en]“ Kirchen-Staat entwickelt auch der Radikalpietist Johann Adam Raabe in seiner anonymen Schrift: Der durch Gottlose Verführer und Babels=Pfaffen […] Entbrannte Christliche Elias, „Philadelphia“ 1703, S. 188. 85 Kempe (wie Anm. 83), S. 2, vgl. S. )(3r, 8, 31.
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dem alten ewigen Gott / der da ist / der Er seyn soll. […] Haltet euren […] Sabbath nach dem Befehl Mosi […]. Wann aber die Vorbotten und Verkündiger des wahren Heylandes und Messiä Zukunfft offenbar außruffen werden / da wird euch aller Zweiffel benommen / denn sie werden euch mit anderen Lippen predigen / nemlich Friede und Liebe.86
Gleiche Gedanken der Rückkehr Israels bestimmen den Petersen-Kreis, und zwar ebenso unter Berufung auf göttliche Visionen. In Petersens Publikation der Gesichte seines geistlichen Schützlings, Rosamunde Juliane von der Asseburg, die den Streitschriftenkrieg um den Pietismus heftig wie nie zuvor entbrennen ließ, wird 1691 als endzeitliche Offenbarung des zwölfjährigen Mädchens die nicht bloß geistliche Rückkehr Israels mitgeteilt: „die Juden aber werden hie auf Erden ihre Verheissung empfahen nach meiner ewigen Warheit / wie ich es ihnen geschworen und verheissen habe.“87 Petersens Frau Johanna Eleonora, Schülerin Speners im Frankfurter Saalhof, will, wie sie in ihrer Autobiographie 1717 bekennt, auch schon als Kind im Traum das Geheimnis der endzeitlichen Judenbekehrung aufgeschlossen bekommen haben, noch ehe sie von den biblischen Verheißungen wußte.88 Die hat sie dann, 1696 in ihrer Anleitung zu gründlicher Verständniß der Heiligen Offenbahrung Jesu Christi, umso fleißiger ausgelegt und dabei das gebärende Weib der Apokalypse 12,1 auf die künftige Bekehrung und Erhebung der Juden über alle Völker bezogen. Zum Erweis der Wiederherstellung des Königreiches der Juden in Palästina und der folgenden Weltregierung Christi und aller seiner Erlösten hat sie die bekannten Bibelstellen appliziert.89 Petersen selbst grenzt sich 1695 zwar von allen grobsinnlichen Endzeitvorstellungen des jüdischen Volksglaubens ab, stellt aber die Einsicht vieler gelehrter und frommer Juden weit über die jener Christen, die die chiliastischen Ereignisse für schon erfüllt halten. Ihm ist deshalb unzweifelhaft, daß Gott die Juden wiederbringe in das Land / daß Er ihren Vätern gegeben hätte / Welches bis auff diese Stunde noch nicht erfüllet ist. Daß aber jetzo die Juden herrschen sollten / wird kein Vernünfftiger glauben. Denn obgleich ihrer ettliche bey grossen Herren wohl dran seyn: so müssen sie doch solche Gnade theuer gnug kauffen.90
Von einer christianisierenden Einwirkung auf die Juden ist nirgends mehr die Rede, die „Bekehrung“ soll erst bei der Wiederkehr des Herrn geschehen. Knapp ein Jahrzehnt nach der Jahrhundertwende hat Johann Tennhardt, 86 Ebd., S. 79. 87 [Johann Wilhelm Petersen]: Send=Schreiben An einige Theologos […] Sampt einer erzehlten Specie Facti Von einem Adelichen Fräulein, o.O. 1691, S. C 4v. 88 Leben Frauen Joh. Eleonora Petersen (wie Anm. 37), S. 49–51. 89 Johanna Eleonora Petersen: Anleitung zu gründlicher Verständniß der Heiligen Offenbahrung, Leipzig 1696, S. 121 ff., 291 ff. Referat bei Schmidt: Judentum und Christentum (wie Anm. 19), S. 116 f. 90 Johann Wilhelm Petersen: Oeffentliche Bezeugung (wie Anm. 64), S. 17.
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der sich wie Kempe als „Cantzellisten des grossen GOttes“ verstand,91 Hochmanns Bußanreden an die Juden in Frankfurt wieder aufgenommen – in jenem redundanten Reimenreden, das ihm und seinen Anhängern die Göttlichkeit der Inspiration zu verbürgen schien.92 Auch ihm geht es nur um die heiligmachende Reinigung der Glieder des erwählten Volks, das sich vom „Mammon“ zum Herrn zurückwenden soll, nicht um Christianisierung und Taufe, so daß auch er spezifisch christologische Botschaften zurückstellt. Am 9. Januar 1708 wurde ihm die Verkündigung eingegeben, „daß alle Menschen sollen Buße thun / sonderlich die Juden / sein auserwehltes Volck“. In Aussprache göttlicher Rede fährt er fort: Dann sie sind nun lange verlassen gewesen / aber ich will mich wieder zu ihnen wenden: und ihnen den versprochenen Heyland senden […]. Ohne Busse aber werden sie nit bestahn: sondern mit dem Satan müssen gahn […] die Juden sollen anfangen: nach meinem Verlangen: ein heiliges Leben zu führen: hier in der Zeit: solches zu geniessen in die Ewigkeit. […] O ihr Juden macht euch von aller Ungerechtigkeit und Sünden frei: so wil ich euch erquicken: und an mein Hertze drücken: […] Ich / Ich und sonst kein ander GOtt / kein Mensch / kan euch laben […]. So spricht der GOtt Abraham, Isaac und Jacob / der Wahrhafftige.93
Die künftige Reinigung und Rückführung Israels – und zwar ohne alle Vermengung mit dem „babelischen“ Kirchenwesen – ist ein häufig wiederholtes Thema auch in den ebenfalls 1710 erscheinenden Büchern des abgesetzten Harburger Garnisonspredigers Christian Anton Römeling. Als „Israel“ bezeichnet er dabei allerdings wiederum nicht immer die Juden, sondern meist allegorisch die Gemeinschaft aller Erweckten.94 In Berleburg, dem historisch letzten und literarisch wirkungsreichsten Hort der radikalpietistisch-kirchenkritischen Philadelphiergemeinschaft, wird in 91 So in Tennhardts anonym ediertem Traktat: Worte Gottes / Oder Letzte Warnungs= und Erbarmungs=Stimme, o.O. [= Idstein] 1710, S. 622. 92 Vgl. zu dieser Schreibart Friedrich Braun: Joh. Tennhardt. Ein Beitrag zur Geschichte des Pietismus, München 1934 (Einzelarbeiten aus der Kirchengeschichte Bayerns, Bd. 17), S. 30 f. und die (auch für die Genese der Sturm- und Drang-Poetologie aufschlußreiche) Apologie dieses Prophetenredens durch Tennhardts Schüler M. Golther : I. N. J. Anonymi Alethophili Schrifftmäsziges Judicium theologicum Von Johann Tennhardts […] Buche, o.O. 1711, S. 3–7. 93 Johann Tennhardt: GOTT allein soll die Ehre seyn, [1. Aufl.] o.O. [= Idstein] 1710, S. 187–190. 94 Christian Anton Römeling: Nachricht seiner […] Völligen Herausführung aus Babel, Frankfurt – Leipzig 1710, Anhang (S. 289–412): Treuhertzige Erweckungs=Stimme […] An Alle Rechtschaffenen Israeliten / Die Babel bereits verlassen haben, z. B. S. 355 ff., 373–410. Vgl. den im Auktionskatalog Johann Jacob Rambachs 1736, S. 130, Nr. 836 nachgewiesenen Titel: Roemelings (Christ. Ant.) Die Zerstörung Babels von Mitternacht und Morgen, nebst der darauf erfolgenden grossen Bekehrung der Jüden, Türcken und Heyden, 1710. – Genauere Information bei Wilhelm Klose: Christian Anton Römeling’s Leben und Lehre. In: Zeitschrift für die historische Theologie 23 (= NF 17, 1853), S. 204–225, bes. 213 f.; allgemeine Hinweise bei Albrecht Ritschl: Geschichte des Pietismus, Bd. 1, Bonn 1880 (Reprint: Berlin 1966), S. 446–449.
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den 1730er Jahren die um die Jahrhundertwende gemeinhin nur vorsichtig geäußerte Kritik an dem missionarischen Übereifer der kirchlichen Institutionen, am willkürlich-unzeitigen Eingreifen in die gottgewollt-herrliche Erhöhung seines Volks aus den abgrundtiefen Erniedrigungen seines zu Ende gehenden Strafgerichts, weit massiver ausgesprochen. In ihrem Sprachrohr, der von 1730–44 periodisch erscheinenden Geistliche[n] Fama, gibt es zu diesem Thema drei Artikel, in denen die in den Kennzeichnungen des Strafgerichts anklingenden Stereotype den entschieden judenfreundlichen Skopus nicht beeinträchtigen sollen. Sie sollen vielmehr der polaren Differenz der heilsgeschichtlichen Situationen Ausdruck verleihen. Auch der gegenwärtige Status der „Sünden=Finsterniß“ läßt, wie die Fama 1731 argumentiert, erkennen, daß Gott die Juden zu Höchstem aufbewahrt hat: Sie sind zugeschlossen, daß niemand aufschliessen kan, bis auf die Ende=Zeit des Gerichts: […] Sie sind durch alle Welt und Völcker ausgestreuet, daß sie kein eigenes Land, Sitz, Stand, Regiment usw. finden können, sondern müssen im Schacher=Geist, als dem elendesten Loos und dem beflecktesten Lebens=Weg, durch alle Völcker ihr Leben hinführen. Jedoch werden sie von und bey allen ernähret, gedultet, beschützet […]. Dergleichen Beschaffenheiten dieses Volcks geben allen Natur=Menschen einen Eindruck, es müsse eine schwere Gerichts=Hand GOttes zum Schrecken aller Völcker über diesem zerstreuten grosen Haufen liegen, und doch dabey über ihnen walten ein groses Maaß der Barmhertzigkeit, sie unter so mancher Demüthigung zu erhalten, beschützen, und zu sparen auf die […] bestimmte Zeit der Erlösung.95
1733 wird die Autobiographie eines ängstlich gottsuchenden Rabbiners mitgeteilt, der durch die Hallesche Mission getauft, aber, ehe er außerhalb der Dogmen seine Ruhe wiederfand, durch „die erste Catechismus= und Tauff=Bekehrung nur erst recht verkehrt, und in solchen Angst=Kampf gesetzet” wurde, daß er zu der Erfahrung kommen mußte: „Kurtz zu sagen, ich war kein Jud und kein Christ, sondern machte alles mit denen Welt=Kindern und Maul=Christen.“ Der Vorbericht gibt Anlaß zu einer Generalabrechnung mit der Proselytenmacherei und ihren teils nur eingebildeten, teils aber verderblichen Resultaten, sowie zur programmatischen Forderung eines tatsächlich Restriktionen lösenden und Lebensumstände bessernden liebreichen Begegnens: Die besondere eintzelne Bekehrung ist biß dahero schwer genug befunden worden, daß keine Partey so glücklich sich fast zeigen und angeben will, es wäre ein Jud durch ihrer Kirche Licht und Macht wahrhafftig zum Leben GOttes […] gekommen […]. Jede der drey Religionen haben genug Exempel, deren sie sich schämen, daß ein 95 Einleitung zum Bericht über den aus Ägypten vermeldeten „Juden=Elias“: Geistliche Fama (wie Anm. 71), Bd. 1, 5. Stück (1731), S. 79–81.
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verarmter Jud oder ein unwissendes Kind erschnappt, mit Catechismus=Fragen wie ein Papagey gefüllt und endlich getauffet worden. Alle aber klagen, […] wie die Juden=Täuflinge ihre geistliche Väter und Gevattern um wenig Pathen=Pfennige bey der Nasen herumgeführt, und die gantze Bekehrungs=Handlung zum Gelächter gemacht. Jedoch sind die Wächter und Schaffner der Kirche noch so blind, daß, wann sie wieder aus denen alten einen neuen Juden=Genossen machen, ein Ehren=Lohn bey der obern und untern Kirche gefordert wird, unter die erste Sterne des Himmels zu kommen. […] Wollte man denen benachbarten Juden eine überflüssige Gerechtigkeit anpreisen und anweisen, so wäre es viel nützlicher, sie zum Eilen und Warten mit Gebeht und heiligem Wandel auff die Zukunfft Messiä beständig zu ermahnen, ihnen die Geistlichkeit des Gesetzes auszulegen […], sonderlich die Bitterkeit, Widrigkeit und Tyranney, der Christen zu hindern, und denen Juden selbst vor das geitzige Schacherwesen zum ordentlichen Arbeiten zu verhelffen. Diese Vor= und Zubereitung würde denen ungetaufften Juden ein gutes Eilen und Warten verschaffen auff die Zukunfft Messiä.96
Und 1738 weist in derselben Zeitschrift Charles Hector de Marsay bei gleicher Kritik an der herrschenden Praxis der „Sektenvermehrung“ durch Täuflinge im Blick auf die nahe göttliche Annahme der ganzen Judenheit abermals gegen den ,Risches‘ auf ihre auch über die Christen erhabene heilsgeschichtliche Würde hin: Und warum sollen wir Christen diese gesegnete Zeit nicht wünschen? oder solches angenehme Loos ihnen nicht gönnen, da wir der Juden Schuldner sind, von welchen uns die gantze heilige Schrifft alten und neuen Testaments hinterlassen ist? Um des
96 „Juden=Bekehrung“. In: Geistliche Fama (wie Anm. 71), Bd. 2, 11. Stück (1733), S. 28–30 und 37. – Die Autobiographien von pietistisch bekehrten frommen Judentäuflingen, wie hier (S. 31–40) die des Rabbiners P. Ch. de B., legen vielfältig Zeugnis ab für die Traumatisierungen und Demütigungen, die ihnen aus dem Übertritt zum Christentum erwuchsen, und für die soziale Isolierung, in die sie gerieten, ausgestoßen aus dem bisherigen Lebenskreis und noch ohne die Voraussetzungen, in dem neuen einen festen, auch wirtschaftlichen Halt zu gewinnen. Vgl. die Berichte des getauften Rabbiners Salomon Duitsch (Taufname: Christian Salomon), niederl. Erstausg. Amsterdam 1769; deutsch: Die Bewunderungs=Würdige Führung Gottes Bei einem Blinden Leiter der Blinden, Utrecht [recte: Frankfurt] 1771 und bes. das weitverbreitete Selbstzeugnis des Joh. Christoph Leberecht [= Abraham Herz]: Merkwürdiger Lebens=Lauf eines […] in Preußen getauften […] wahren christlichen Israeliten (1. Aufl. Königsberg 1777), 2. Aufl. Basel 1777. Vgl. die in der Pietismusforschung unbeachtet gebliebene wichtige Abhandlung über die wohlmeinend-tolpatschigen Missionierungsbemühungen des pietistischen Zürcher Fraumünster-Pfarrers, Hebraisten und Judaica-Forschers Johann Caspar Ulrich („Sammlung jüdischer Geschichten […] in der Schweiz“, Basel 1768) unter den in den Aargauer Gemeinden Endingen und Lengnau geduldeten Juden, mit besonders katastrophaler Wirkung für den tatsächlich zur Taufe überredeten Joseph Guggenheim, Florence Guggenheim-Grünberg: Pfarrer Ulrich als Missionar im Surbtal. Ein Beitrag zur Judenmission in der Schweiz im 18. Jahrhundert. Anhang: Das Institutum Judaicum in Halle, Zürich 1953 (Beiträge zur Geschichte und Volkskunde der Juden in der Schweiz, H. 3).
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Einzigen / aus ihrem Stamm und Geschlecht gebohrnen / willen […] sollen wir ja billig aller Juden Seeligkeit uns angelegen seyn lassen.97
Es ist festzuhalten: auch in dieser radikalpietistischen Richtung, die sich dem intoleranten Anpassungszwang der Missionierungs- und Taufeiferer entgegenstellte und so, wären ihre Maximen hier nicht utopisch geblieben, die historische Chance zu einer jüdischen Akkulturation und Emanzipation ohne den Zwang zur Assimilation hätte eröffnen können, bleiben die Hochschätzung für die Juden und die Praxis der Zuwendung vorrangig biblizistisch und heilsgeschichtlich-theologisch begründet. Die konkrete Situation der ungeschützten Schutzjuden bleibt unplastisch und ohne rechte Einsicht in die geschichtlichen Bedingungen gesehen; die Rezepte zur Besserung bleiben Postulate an den Einzelnen oder im Entwurf zu unspezifisch, als daß sie hätten politisch wirksam werden können. Hier konnte die Aufklärung weiter gelangen.98 Den Ansatz aber, die Juden in ihrer Besonderheit zu achten und zu erhalten, ihre ethische Förderung auf ihre eigenen Traditionen zu gründen und ihnen sogar die Perspektive ihrer nationalen Wiedergeburt offenzuhalten, hat die in der zweiten Jahrhunderthälfte obsiegende Geistesbewegung abgeschnitten und folgenreich verschüttet. Gleichermaßen realitätsfern, unzeitgemäß und zur Gänze indiskutabel erschienen nach dem Ende des Aufklärungsjahrhunderts sowohl die jüdischen als auch die pietistischen Naherwartungen der herrlichen Erlösung und Wiederkehr in einem irdisch-göttlichen Friedensreich. Aus diesem Grunde konnte Goethe, bekanntlich wohlbewandert in radikalpietistischem Gedankengut, dem ihm die Penthesilea mit der Kautele überreichenden Kleist, man müsse angesichts der gegenwärtigen Beschaffenheit der Bühnen und des 97 Fama (wie Anm. 71), Bd. 3, 24. St. (1738), S. 4 f. Möglicherweise ebenfalls von Marsay stammt die seinem „Zeugniß eines Kindes von der Richtigkeit des Wegen des Geistes / allhier vorgestellet in der göttlichen […] und fleischlichen Magie“, o.O. [= Berleburg] 1737 angebundene „Erfreuliche Entdeckung derjenigen Zeit / in welcher die allgemeine Bekehrung des Jüdischen Volckes erfolgen wird“, o.O. 1737. 98 Dazu Heinrich Detering: Christian Wilhelm von Dohm und die Idee der Toleranz. In: Lessing und die Toleranz. Hg. von Peter Freimark, Franklin Kopitzsch und Helga Slessarev, Detroit – München 1978 (Sonderband zum Lessing Yearbook), S. 174–185 mit dem wichtigen Nachweis, daß Dohm die Grundideen seiner Denkschrift „Über die bürgerliche Verbesserung der Juden“ (1781/83) schon in einem Zeitungsartikel von 1764 entwickelt hatte. Vgl. S. 185 die Zusammenstellung der neueren Literatur, die überwiegend – wie mir scheint, zu Recht – Dohms staatspolitische Beweggründe und rigide Assimilationsforderungen kritischer einschätzt. Hingewiesen sei ergänzend auf Christoph Martin Wielands weithin in Vergessenheit geratene Anzeige des 1. Bandes der Denkschrift im ,Teutschen Merkur‘ 1781, H. 4, S. 280 f., die dieses „der Aufklärung und Menschlichkeit unsrer Zeiten würdige Buch“ rühmt, weil es – ähnlich der Toleranzpolitik Kaiser Josephs II. – „alle Vorurteile aus dem Wege“ räume. Gleichwohl aber empfiehlt Wieland aufgrund der offenbar durch alles aufklärerische Bemühen nicht zu beseitigenden Mißgunst gegen die Juden die Perspektive ihrer künftigen Wiederansiedlung in Palästina. Wielands Gesammelte Schriften (Akademie-Ausgabe), Abt. I, Bd. 22: Kleine Schriften II. Hg. von Wilhelm Kurrelmeyer, Berlin 1954, S. 555 f. und Bd. 22 A: Bericht des Herausgebers, Berlin 1956, S. 144 A.
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Publikums für eine gerechte Würdigung dieses Dramas „auf die Zukunft hinaussehen“,99 mit seinem galligen Vergleich replizieren: Auch erlauben Sie mir zu sagen (denn wenn man nicht aufrichtig seyn sollte, so wäre es besser man schwiege gar) daß es mich immer betrübt und bekümmert, wenn ich junge Männer von Geist und Talent sehe, die auf ein Theater warten, welches da kommen soll. Ein Jude der auf den Messias, ein Christ der aufs neue Jerusalem, und ein Portugiese der auf den Don Sebastian wartet machen mir kein größeres Misbehagen.100
In den Kommentaren zu dem monumentalen achtbändigen Berleburger Bibelwerk von 1726–1742 ist das gesamte spekulative Gedankengut der pietistischen Spiritualisten und Philadelphier ein letztes Mal zusammengefaßt worden. Gegen die Auslegung der auf das jüdische Volk und seine Wiederbringung bezogenen Verheißungen haben damals die orthodoxen Unschuldigen Nachrichten gewettert: Uberall will man Weißagungen von dem tausendjährigen Reich Christi, und von der allgemeinen Jüden=Bekehrung angeben [und] zu der Wiederherstellung aller Dinge [wird] auch dieses gerechnet, daß die zerstreueten Jüden aus allen Völckern wieder gesammlet, und in ihr voriges Land und Reich wieder eingesetzet werden sollen.101
Geben wir darum zur Zusammenfassung der Anschauungen in dieser brüderliebenden Tradition des Pietismus hier einigen aus den weitschweifigen Kommentaren der ,Berleburger Bibel‘ herausgezogenen und thematisch zusammengestellten charakteristischen Aussagen mit ihrer fremdgewordenen 99 Heinrich von Kleist: Brief vom 24. Januar 1808 an Johann Wolfgang Goethe. Faksimile. Transkription und Erläuterung von Helmut Holtzhauer, Weimar [1972] (Veröffentlichung der Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur). Vgl. Kleist: Sämtliche Werke und Briefe. Hg. von Helmut Sembdner, Bd. 2, München, 5. Aufl. 1970, S. 806, vgl. 992. 100 Goethe an „Des Herren von Kleist Hochwohlgeb. Dresden“, Weimar, 1. Februar 1808. Faksimile und Transkription bei Oskar Walzel: Klassizismus und Romantik als europäische Erscheinungen. In: Propyläen=Weltgeschichte. Hg. von Walter Goetz, Bd. 7: Die Französische Revolution, Napoleon und die Restauration 1789–1848, Berlin 1929, Beilage, S. 312 f. Die GoetheBriefausgaben (WA IV, 20, S. 15 f., HA, III, S. 64) normalisieren den Text interpunktionell bzw. auch orthographisch, lassen übrigens den hier zitierten Vergleichspassus über die chiliastischnationalen Naherwartungen unkommentiert. Gegen obsolete Zukunftsträume einer glorreichen nationalen Wiedergeburt wendet sich die Anspielung auf den (dem deutschen Barbarossa-Mythos vergleichbaren) portugiesischen Volksaberglauben, der König Sebastian (1557–1578) sei nicht im Glaubenskrieg gegen die Mohammedaner gefallen, sondern lebe in zeitloser Entrückung und werde zur Verherrlichung seines Volkes wiederkehren. 101 Fortgesetzte Sammlung Von Alten und Neuen Theologischen Sachen (wie Anm. 39), Jg. 1732, S. 978 (vgl. ebd., S. 975 und 977); Jg. 1747, S. 225 (vgl. ebd., S. 227 und 230). Über das Bibelwerk und seinen geistesgeschichtlichen Zusammenhang vgl. u. a. Martin Brecht: Die Berleburger Bibel. Hinweise zu ihrem Verständnis (mit Lit.). In: Pietismus und Neuzeit 8 (1982), S. 162–200 und Schrader: Pietistisches Publizieren unter Heterodoxieverdacht (1988, L 14), im vorliegenden Band S. 261–283.
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Kanaanssprache das letzte Wort – über Israels Würde und Verheißung und über das Unrecht, es von seinem eigenen Weg abführen zu wollen. Gewiß wenn die Juden nicht auf was besonderes aufbehalten und von GOtt wunderbarlich dazu erhalten würden, so hätte es kaum geschehen können, daß sie solang unter den Christen und Türcken, denen sie doch allen ein Greuel sind, bestanden wären […]. Wer wollte dann noch zweifeln an einer künfftigen Bekehrung der Juden bey so klaren Zeugnissen?102 Es wird aber das Zufallen der Völcker erst noch recht angehen / wenn die Fülle eingehen / und gantz Israel selig werden wird jj welchem zu der Zeit vor allen andern Völckern ein groses Heyl widerfahren wird jj da die Israelitische Kirche alle Heyden zum Erbe bekommen soll; oder auch die Erbgüter die sie selbst ehmals besessen, und woraus sie ihre Feinde vertrieben hatten, und also zuvorderst das Land Canaan, aber auch darneben die gantze Erde.103 Hat er Israel zerstreuet, so wird er es auch wieder sammlen. Sie haben lang genug ihre Sünde getragen. […] Die Maul=Christen sehen ja Gottes Strafe an ihnen, und fürchten sich doch nicht vor ihm, sondern machen es noch ärger. Darum wird er sich wie vor wenden zu seinem Volck […]: Er wird ihnen andere Hertzen geben, und sein Gesetz in ihren Sinn schreiben. Er wird ihr GOtt bleiben, und sie nicht mehr von ihm weichen.104 Keiner muß fehlen. Am Ende wird die Bekehrung wol allgemein seyn. jj Einige nehmen es nicht auf einmal, sondern von einer auf einander folgenden Zeit, daß ein Israel nach dem andern sich zum Christenthum bekehre. Das […] wäre kein sonderlich Geheimniß. […] GOtt verläßt die alte Liebe nicht. jj Auch bey einem Eifer in denselben muß ein süsser Grund der Liebe gegen die Person bleiben. jj Darin bestehet das rechte christliche Maß=treffen, dabey weder der Wahrheit noch der Hoffnung […] was abgehet. jj Die gantze Epistel gehet auf ein gut Tractament unter Juden und Heyden.105 102 Zu Hos 3, 4–5: ,Berleburger Bibel‘ (wie Anm. 15), Bd. 4, 1732, S. 688. Nicht verschwiegen werden darf, daß alle diese frommen Gewißheiten ein Jahrhundert später ebenso wie die meisten anderen sozialreformerisch-progressiven Bestrebungen des frühen Pietismus unter den Neupietisten der romantisch-nationalkonservativen Erweckungsbewegung verloren gegangen waren und daß sich unter ihnen wie in der übrigen zeitgenössischen Gesellschaft antisemitische Ressentiments breitmachten. Vgl. die mir freundlich von Michael Schmidt, Tromsø, nachgewiesene „Culturphilosophische Studie“ von Ernst Victor Zenker : Mystizismus, Pietismus, Antisemitismus am Ende des neunzehnten Jahrhunderts, Wien 1894 (Collection des ,Freien Blattes‘, Bd. 2). 103 Zu Gen 49,10: ,Berleburger Bibel‘ (wie Anm. 15), Bd. 1, 1726, S. 270 / zu Jes 59,19: Bd. 4, 1732, S. 197 / zu Ob 17: ebd., S. 750. Vgl. auch zu Lev 25,13: Bd. 1, 1726, S. 544; Jes 2,1–6: Bd. 4, 1732, S. 9 f.; Sach 12,10: ebd., S. 839; Röm 11,12: Bd. 6, 1739, S. 306. 104 Zu Röm 11,25: Bd. 6, S. 310. 105 Kommentarpassagen zu Röm 11 gegen den einseitigen Eifer der Judenmissionare, ebd., S. 310 f.
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Wenn aber erst der Geist des HErrn über das gantze Haus Israel wird ausgegossen werden, da werden ihm die Heyden zu Kindern gegeben werden, und in seinem Licht wandeln […]. Kehre wieder, kehre wieder Sulamith! zu deinem HErrn, den du weiland von dir verstossen hast. Halte aus die Kinder=schmertzen deiner Wiedergeburt in allen ihren Wehen! halte an, sey getrost, es soll dir deine Arbeit wol belohnet werden!106 Machet nur Bahn, machet Bahn dem König Zions! Thut euch auf ihr Thore Jerusalems, und empfanget euren König, der hereinzeucht mit seinem Ueberwindem! Siehe Er kommt! denn seine Vorboten lassen sich sehen. Für ihm sey stille alle Welt!107
106 Zu Apk 12,1: Bd. 7, 1739, S. 339. Die Anrede an Sulamith, wie traditionell die Geliebte und Braut im Hohen Lied Salomons genannt wird, ist hier eindeutig auf das Jüdische Volk und seine Wiederkehr bezogen, wie auch der Kommentar zu dem hier zitierten Vers Ps 7,1 erweist: Sulamith, die der Herr „damit seiner Liebe versichert“, wird dort auch „von der Bekehrung der Juden“ verstanden, „da man auch zu solchem End den Namen Sulamith von Salem herführet / wovon hernach Jerusalem den Namen bekommen. Also würde dann solch Volck demnach allhier von GOtt gerufen / nach ihrem Vaterland wiederzukehren / welches ihre Bekehrung mit einschliesset / und also auf die letzten Zeiten siehet. […] Mit dem viermal wiederholten Rufen wird […] angezeigt / daß GOtt zur letzten Zeit sein gantzes Israel von allen 4 Enden der Welt nach Jerusalem rufen werde“. Bd. 3, 1730, S. 776. In der pietistischen Allegorese wird Sulamith sonst meist, brautmystischer Tradition entsprechend, auf die gottliebende Einzelseele bezogen, vgl. das geistliche Emblembuch des Johannes Lassenius: Die verliebte Sulamithin oder heilige Betrachtungen über 26. Macht=Sprüche Heil. Schrifft, Kopenhagen 1698 (Messekataloge Ostern 1698, Ostern und Herbst 1699) oder Gottfried Feinler: Heilig verliebte und hinwieder hertzlich geliebte Sulamithin aus dem Hohenlied Salomonis / in 100. Madrigalen anmuthig fürgestellet, Jena 1699 (Ostermeßkatalog 1699). 107 Zu Apk 20,4–5: ,Berleburger Bibel‘, Bd. 7, 1739, S. 399. Charakteristisch für den Geist dieses Bibelwerks sind nicht nur diese Zitate, sondern auch die Leerstellen. Bei aller sonst hemmungslosen Neigung zur Namensallegorese wird auf jede Übertragung des Judas-Verrats Mt 26,14 f. auf das jüdische Volk, sonst locus classicus antisemitischen Exegesierens, verzichtet. Judas wird vielmehr als präfigurativer Typus der „Maulchristen“ ausgelegt, die den Herrn täglich um einen weit geringeren Lohn verrieten (Bd. 5, 1735, S. 286).
Philadelphian Hope The Attitudes of Pietist Immigrants in Pennsylvania towards Jews1 [2002, L 28]
“Hear, O Israel” / “ISrael, höre des Herrn Wort” – These biblical opening words (Deuteronomy 6:4) of Judaism’s central proclamation of faith commence as well a Letter to the Jews (Copia Schreibens an die Juden), published in 1743 by Christoph[er] Sauer, the first German printer in colonial North America. The tract to which it was annexed has become rare today, like most of the early press products of immigrants to the New World. I translate freely from the baroque German texts which are given in the various footnotes: Aye, truly, the days are at hand, when the Holy One of Israel shall remember His people again. He shall look upon them with respect, and sanctify them, because He is a holy God. Hear, O Israel, the Lord your God is Adonai, the only and unique God: He shall proceed now to reveal Messiah, the Great Prophet, in power and majesty. He is willing to cut Israel from all iniquity, but those who ignore Him will be cut off likewise, as Moses has predicted. O Israel, near is the time that God wants to turn His face to you again, to set His King upon Zion, the holy hill. It is the will of the Lord to establish this Great Messiah, who ought to be honoured in all languages, on the throne of David, His father, to let Him rule over the house of Jacob forever. All over the world each government, every king and potentate will have to bow henceforth under the straight sceptre of your King: He will dethrone the terrible and […] set up on high the low ones. Therefore […] cut away the foreskins from within your heart and prepare yourself for the glorious future of your King, whom you have so long desired. Behold, O Israel, your King is coming, He comes in glory and majesty, His force makes tremble all the earth and subdues all the kingdoms of the world.2 1 This article was assigned to a conference on “Jews and Pietists in Dialogue in Enlightenment America”, held by the Max Kade Institute at Pennsylvania State University, State College/Pa., on September 30 to October 2, 1999. Since the intention to publish the collected papers of this highly inspiring meeting in a special volume had finally to be abandoned, I should like to express here my gratitude to all contributors and to the conference leaders, A. Gregg Roeber und Francis G. Gentry. Moreover, I wish to express my sincerest thanks to the friends who gave their linguistic advice for my article and for my translation of the source-quotations – Donald F. Durnbaugh of Juniata College in Huntingdon/Pa., Margaret Kehoe-Winkler in Geneva, Holly Snyder of Hampshire College in Amherst/Ma. and, especially, to Howard Schwartz in Geneva. 2 “Ja warlich die Zeit ist nahe, da der heilige in Israel sich will aufmachen, sich seines Volcks mit grossem Nachdruck annehmen, und ihm selbst dasselbe heiligen, daß es soll heilig seyn, gleich wie er ein Heiliger GOtt ist. Höre Israel! Der HErr dein GOtt ist Adonai der einige GOtt, der nun
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This enthusiastic forecast of the coming Messiah calls upon the Jews from all over the world, wherever they settled in persecution and diaspora under the wrath of God, to gather again in Jerusalem, where their government and Kingdom of peace is yet to come: The Lord, your God, has scattered you in His anger among the nations and the Heathen for your iniquities and trespasses. Therefore you have no more temple or altar, no king and no priest. […] O Israel! and you, twelve tribes, come and gather from all the countries and the ends of the earth, wherever you are scattered abroad: give honour unto God, and worship Him that made heaven, and earth, and the sea, and the fountains of waters. […] For the time is at hand that all the promises upon you shall be fulfilled. […] Be glad then, Israel, and rejoice upon the future glory of your King and His Kingdom. […] Behold, O Israel: Melchizedek, the priestly king of Salem, comes forth to meet you. […] O Israel, chosen people, that the Name of the God of Jacob give you the strenth of Zion. I myself rejoice upon your forthcoming glory, O Israel, […] I kiss you in His spirit in waiting with you for your future redeemer, who shall rebuild Jerusalem, the beloved city. Praise you the Lord […]! Truly, Adonai is holy, almighty, glorious and full of majesty. He is the God of Israel and soon comes to fulfill all of this.3 im Werck begriffen ist, den jenigen grossen Propheten Messiam, von welchem Mose geweissaget hat, daß wer denselben nicht hören wird, ausgerottet werden soll, bald in Krafft und Majestät zu offenbahren, und durch ihn alles Unrechte in Israel wieder zurecht zu bringen. O Israel, die Zeit ist nicht ferne, da sich Gott will wieder zu dir wenden, und seinen König einsetzen auf seinem heiligen Berge. Diesem grossen Messia, dem noch alle Zungen und Sprachen sollen Ehrerbietung bezeugen, will der HErr den Stuhl seines Vaters Davids geben, und wird ein König seyn über das Hauß Jacob ewiglich. Alle Obrigkeiten der Welt, alle Könige und Potentaten müssen sich künfftighin beugen unter das gerade Scepter deines Königes, der die Gewaltigen vom Stuhl wird stossen, und die Niedrigen erheben. So […] beschneidet die innerliche Vorhaut eures Hertzens, und bereitet euch auf die herrliche und Majestätische Zunkunfft eures Königes, auf welchen ihr so lange gehoffet habt. Sihe, Israel! dein König kommt mit Pracht und Majestät, und mit solcher Herrlichkeit, daß die gantze Erde von seiner Krafft erbeben, und alle Königreiche der Welt sich ihm werden unterwerffen müssen […].” [Ernst Christoph Hochmann von Hochenau]: “Copia Schreibens an die Juden [Geschrieben den 9. Dec. An. 1699.]”. Appendix in: Ernst Christoph Hochmanns von Hochenaus Glaubens=Bekenntniß, Geschrieben aus seinem Arrest, Auff dem Hoch=Gräfl. Lippisch. Schloß Detmold, Samt Einer an die Juden gehaltenen Rede. Auf gnädige Verordnung Seiner Hoch=Gräfl. Excell. Des Regierenden Herrn Graffen zu der Lippe. im Jahr 1702 gedruckt, und 1703 wieder aufgelegt, und nun mit einer kurtzen Vorrede begleithet. […] Germantown. Gedruckt bey Christoph Sauer 1743, pp. 36–44, quoted p. 39sq [Penn State Pattee University Library : Stapletown Collection of Rare Books 094.9G31 1743 h]. The Library also possesses a microfilm of the first German edition, [n.p.] 1709: Microfilm D144 reel 460 no. 1442. The text is completely reedited from the second German edition, n.p. 1703 in the anthology Zwischen Bekehrungseifer und Philosemitismus. Ed. by Peter Vogt, Leipzig 2007 (Kleine Texte des Pietismus, Vol. 11), pp. 27–30, and commented p. 95sq. 3 “Um […] deiner Sünden und Missethat willen, hat dich der HErr dein GOtt im Zorn angesehen, und dich unter die Heiden hin und her zerstreuet, daß du biß auf die gegenwärtige Zeit weder Tempel noch Altar, weder König noch Priester mehr hast […]. O Israel! und ihr zwölff Stämme, kommet hervor aus allen Landen und Enden der Erden, wohin ihr zerstreuet seyd, gebet GOtt die Ehre und nahet euch zu dem, der gemacht hat Himmel, Erden, Meer und alle Wasserbrunnen
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It might seem quite strange to find, in one of the earliest texts published by the German Pietist settlers in colonial North America, this enthusiastic discourse in favour of the Jews, this call for their re-assembly in the Holy Land to establish their eternal Kingdom of Peace in a renewed Jerusalem – ideas comparable to those of Israel’s national anthem, the Hatikwa. Hadn’t these settlers come to the New World seeking to found, in the wildernesses of an uncultivated land, a quite different Zion, a place to live according to their fundamental ‘Christian’ convictions? The year 1743, when the tract to which the Letter to the Jews is annexed – without any invitation to a Christian conversion or baptism – was published in Sauer’s printing studio, was the very year of his edition of the famous ApostleBible (‘Sower-Bible’), the first European Bible that had ever been published in America. This self-made printer had at the time been running his small workshop in Germantown, north of Philadelphia, for only five years: it was only in 1738 that he had been able to buy and ship the old printing press from his former Radical Pietist comrades in Berleburg in Westphalia (the old press had become obsolete for the Berleburg printer following his acquisition of a new, larger press allowing folio-printing for the eight-volume annotated ‘Berleburg Bible’).4 Sauer had succeeded in restoring this press from Berleburg to a workable state, employing a set of types procured from a Frankfurt factory and a printing ink of his own invention composed of soot and oil. One can imagine that the small tract, produced by Sauer at such an early date in the series of American printings of German religious literature and printed simultaneously with his major work as an editor, the Quarto-Bible, must have been of special significance to both himself and his public – even though it perhaps originated as a commissioned work. The interest in reprinting the tract preceding the Letter to the Jews is less surprising than the decision to reproduce the Letter with it: the booklet in its entirety is not of American origin. It is a reprint of the creed of the early German Radical Pietist leader Ernst Christoph Hochmann von Hochenau (1670–1721), who had been a central figure in the first awakening period at the […], denn die Zeit ist nahe, da alle eure Verheissungen sollen erfüllet werden. […] So freue dich denn, Israel, u. jauchtze über die künfftige Herrlichkeit deines Königs und seines Reichs […]. Sihe, der grosse König von Salem, Melchisedech, ist schon bereit, dir, o Israel! entgegen zu gehen. […] O auserwehltes Israel […]! Der Name des GOttes Jacobs […] stärcke dich aus Zion. O Israel, ich freue mich selbst über deiner zukünfftigen Herrlichkeit […]. Ich küsse dich O liebes Israel im Geist, und warte mit dir auf die Zukunfft deines Erlösers, der […] Jerusalem, die geliebte Stadt, wiederum bauen wird. Halleluja! Halleluja! Halleluja! Ja warlich, heilig, allmächtig, Majestätisch und herrlich ist Adonai der GOtt Israel, der dieses alles in kurtzem erfüllen wird.” (Ibid. [SauerEdition, 1743], p. 37, pp. 41–44) 4 After a long debate among American printing historians as to whether Sauer succeeded in constructing a press of his own or had purchased one somewhere in Germany, these facts have now been clarified by documentary proof. Cf. (with a survey of the earlier scholarly efforts) Schrader: Literaturproduktion (1989, L 1), pp. 223–227, 475–477 (“The Berleburg Press and the Beginnings of Radical Pietist literature in America”).
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end of the 17th century in the Wittgenstein and Berleburg counties. That is where Sauer (born in 1695 the son of a reformed pastor in Ladenburg, near Heidelberg) had spent his youth and been trained as a tailor.5 Moreover, Hochmann was one of the prime opinion leaders of the two (or three) rival Radical Pietist communities in Pennsylvania that had already been fundamentally linked together in the Wittgenstein counties – and with whom Sauer was now in close contact, doing for them his first American work. Hochmann had composed his creed in November 1702 at the order of Count Friedrich Adolf von Lippe-Detmold to facilitate his release from prison where he had been placed during a period of religious strife.6 Published soon afterwards, the creed had become, as Friedrich Nieper points out, “the fundamental doctrine of the Dunkers in Germantown and the Seventh Day Baptists in Ephrata”.7 Although this creed was couched in contemplative moderate terms, Hochmann had summarized in it some principal spiritualistic convictions of the Radicals regarding controversies about dogma, such as the separation from Holy Communion and from unawakened clergyman, the limits of the required obedience to authorities, the eschatological 5 These facts have been brought to light – correcting many errors and wrong presumptions in earlier research – by Donald F. Durnbaugh: Christopher Sauer. Pennsylvania-German Printer. His Youth in Germany and Later Relationships with Europe. In: The Pennsylvania Magazine of History and Biography 82 (1958), pp. 316–340; upon birth and youth pp. 319–322. 6 Heinz Renkewitz: Hochmann von Hochenau (1670–1721). Quellenstudien zur Geschichte des Pietismus, Witten 1969 (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus, Vol. 5. Enlarged reprint of the first edition Breslau 1934), p. 167sq, 172sq; cf. Hans Schneider: Art. “Hochmann von Hochenau”. In: Theologische Realenzyklopädie. Vol. 15, Berlin 1986, pp. 421–423 and, with a schematic representation of Hochmann’s travelings, Eberhard Bauer : Radikale Pietisten in Wittgenstein. In: Radikaler Pietismus in Wittgenstein. Donald F. Durnbaugh zum siebzigsten Geburtstag gewidmet (special number of the review “Wittgenstein” 85, Vol. 61/4, 1997), pp. 122–131, cf. p. 162sq. – Another Hochmann call for tolerance, published pseudonymously, Aaron Sincerus: Nothwendige Adresse und Warnung an die Regenten Teutschlandes / Wegen der harten Verfolgung der sogenannten Pietisten / oder Wahren Kinder Gottes / Ausgefertiget von Einem unpartheyischen Zeugen der Warheit. Gedruckt zu Frieden=Stadt [1711], is amply discussed by Hans Schneider: Hochmann von Hochenau and Inspirationism. A Newly Discovered Letter. In: Brethren Life and Thought 25 (1980), pp. 199–222, particularly p. 207sq, 212. 7 Friedrich Nieper: Die ersten deutschen Auswanderer von Krefeld nach Pennsylvanien. Ein Bild aus der religiösen Ideengeschichte des 17. und 18. Jahrhunderts, Neukirchen-Moers 1940, p. 151: „Dieses Glaubensbekenntnis war die Fundamentallehre der Dunker in Germantown und der Siebentagbaptisten in Ephrata.“ Already Julius Friedrich Sachse: The German Sectarians of Pennsylvania [II.] 1742–1800. A Critical and Legendary History of the Ephrata Cloister and the Dunkers, Philadelphia 1900, that gives (p. 80) a facsimile of the Germantown-Edition of 1743, calls the tract “The Dunker Creed”. On the broad influence of Hochmann’s ideas in discussions between the Radical Pietists, the Schwarzenau Dunkers and the Inspirationists (Eberhard Ludwig Gruber’s “Basic Questions” of 1713), more detailed information is given by Hans Schneider: “Basic Questions on Water Baptism”. An Early Anti-Brethren Pamphlet. In: From Age to Age. Historians and the Modern Church. A Festschrift for Donald F. Durnbaugh. Ed. by David B. Eller, Oak Brook, Ill. 1998 (= Brethren Life and Thought 42 [1997]), pp. 31–63, espec. pp. 34–36 (“The Background”) and p. 49sq, or by Emmert F. Bittinger: Heritage and Promise. Perspectives on the Church of the Brethren, Elgin, Ill. 1970, pp. 22–25, 30–32, 80–82.
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“Restitution of all things” (!pojat²stasir p²mtym, Acts 3:21), and – as the Lippe-Detmold county authorities had requested his special comment – matrimony or the preferability of celibacy. The idea of a celibate “bridal engagement to the Virgin Sophia” (founded on the speculations of Jacob Böhme, Johann Georg Gichtel and Gottfried Arnold) like that of separatism and personal inspiration was, among the immigrant groups from the Wittgenstein region, primarily shared by the Ephrata Community (German Seventh Day Baptists), the first employers of the Sauer press, and by the Inspirationists, to whom Sauer’s farm neighbour (perhaps even brother-in–law) Johann Adam Gruber8 had also belonged, as had his commission-agent to the Frankfurt type factory, Christoph Schütz,9 and Conrad Beissel, the founder of Ephrata. (The vast majority of the “Community of True Inspiration” migrated to North America in the 19th Century only, where they first founded Ebenezer, N.Y., and then moved on to Iowa, forming today’s Amana Church Society).10 8 The maiden name of Sauer’s wife, Maria Christina, the widow of a pastor named Gross, was Gruber. She likely was a daughter of Eberhard Ludwig Gruber, the theological head of the Inspirationists (and father of Johann Adam Gruber), who had lived in Schwarzenau/Wittgenstein, where Sauer got to know her. The favourite book-commissioner to Sauer in Germany was the Radical Pietist Andreas Groß (Gross), thus perhaps also a relative. Cf. James E[manuel] Ernst: Ephrata. A History, Allentown,Pa. 1963, p. 146 (footnote by J.J. Stoudt); Durnbaugh: Christopher Sauer (see note 5), pp. 322–324, 338, his articles: Johann Christoph Sauer I. and Maria Christina Sauer. In: The Brethren Encyclopedia. Vol. 2, Philadelphia, Pa., and Oak Brook, Ill. 1983, p. 1147sq and idem: Johann Adam Gruber. Pennsylvania-German Prophet and Poet. In: The Pennsylvania Magazine of History and Biography 83 (1959), pp. 382–401; Ulf-Michael Schneider: Propheten der Goethezeit. Sprache, Literatur und Wirkung der Inspirierten, Göttingen 1995 (Palaestra, Vol. 297), passim (vid. index) and Schrader : Literaturproduktion (1989, L 1), passim (vid. index, regarding Groß, Andreas; Gruber, Eberhard Ludwig and Gruber, Johann Adam; Sauer, [Johann] Christoph). More information and research references are given by Donald F. Durnbaugh: J. C. Sauer and H. M. Mühlenberg. German-American Protagonists in Colonial North America. In: Halle Pietism, Colonial North America, and the Young United States. Ed. By Hans-Jürgen Grabbe, Stuttgart 2008 (USA-Studien, Vol. 15), pp. 93–112. An important source concerning Johann Adam Gruber’s (and his comrade Blasius Daniel Mackinet’s) return to Inspirationist convictions in Pennsylvania – and regarding their attitude towards the Jewish community, with whom they had had some contacts in their European youth, are the letters and reports in the Inspirationist periodical of October 1749. In: J.J.J. Aufrichtige und Wahrhafftige Extracta Aus dem allgemeinen Diario Der Wahren Inspirations-Gemeinen XII. Sammlung, n.p. 1751, pp. 3–8 (Gruber „aus Germantown in America“) and pp. 124–143 (Blasius Daniel Mackinet: Schreiben von der Göttlichkeit der wahren Inspiration, Germantown Oct. 25, 1749). Cf. Schrader: Traveling Prophets (2009, L 42), in the present volume p. 575–590, and see below, note 49. 9 [Gustav Mori]: Die Egenolff-Luthersche Schriftgießerei in Frankfurt am Main und ihre geschäftlichen Verbindungen mit den Vereinigten Staaten von Nordamerika, Frankfurt 1926, p. 24sq; Schrader : Literaturproduktion (1989, L 1), pp. 225, 266, 351, 476, 491. 10 Cf. the brief survey, given by Donald F. Durnbaugh: Work and Hope. The Spirituality of the Radical Pietist Communitarians. In: Church History 39 (1970), pp. 72–90, here pp. 83–85. Hochmann’s highly tolerant and comprehensive attitude toward the Inspirationists is revealed (on this point correcting Renkewitz’ view) by Schneider: Hochmann von Hochenau and In-
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Whereas all of these ideas expressed in Hochmann’s creed could equally have been taken out of many other Pietist writings, there was a special reason for the new Pennsylvanian communitarians to recall it: Hochmann had formulated therein, for the first time in an official document, his conviction that the practice of child baptism had no foundation in the Bible and had to be contested: About water-baptism I believe, that it had been introduced by Christ only for grownups and by no means for minor children, for there is not an iota of an explicit command in that direction in the Holy Scriptures.11
This position, that Hochmann had also expressed in some writings of a less official character,12 was of evident doctrinal value for the Dunker community in Germantown, the group of Schwarzenau Baptists centered around Alexander Mack and his disciple Peter Becker (once the leader of their daughter community at Marienborn, in the Isenburg county near Frankfurt), as it also was for Conrad Beissel and later on (after the separation from these Dunkers) for his Ephrata community (“Seventh-Day German Baptist Church”). The Mack-led group had, most of them ‘awakened’ by Hochmann, proceeded in 1708 to the first rebaptisms by submerging themselves in the river Eder near Schwarzenau and had come to Pennsylvania in two treks in 1719 and 1729. This community of “Schwarzenau Dunkers” is the precursor of today’s Church of the Brethren.13 As for Beissel, he had, after his first contacts with Mack’s group (and with other separatist circles including the Inspispirationism (see note 6), pp. 199–222 (with a Hochmann comment on this sect in his letter, written in Schwarzenau on 12. 12. 1716, in German and English translation). Cf. Ulf-Michael Schneider: Propheten der Goethezeit (see note 8), p. 35sq; and the two recent editions of autobiographical writings of the major Inspirationist prophet: Johann Friedrich Rock: Wie ihn Gott geführet und auf die Wege der Inspiration gebracht habe. Autobiographische Schriften. Ed. by Ulf-Michael Schneider, Leipzig 1999 (Kleine Texte des Pietismus, Vol. 1) and [Johann Friedrich Rock]: The Humble Way. An Autobiographical Account of God’s Guidance in the Life of Br. Johann Friedrich Rock. Issued by the Amana Church Society, transl. by Janet W. Zuber, Amana, Iowa 1999. 11 “Von der Wasser=Tauff glaube ich, daß sie Christus allein für die Erwachsene und nicht für die unmündigen Kinder eingesetzet, weil man davon in der gantzen H. Schrifft kein Jota eines ausdrücklichen Befehls aufweisen kan.” Cf. Renkewitz: Hochmann von Hochenau (see note 6), p. 172; critical edition of the text, p. 403sq and Schneider: “Basic Questions” (see note 7), p. 34sq, 49sq. 12 Renkewitz: Hochmann von Hochenau (see note 6), pp. 172, 419. 13 For more details see Nieper: Die ersten deutschen Auswanderer (see note 7), pp. 124–138, 153sq; in particular: The Brethren in Colonial America. A Source Book on the Transplantation and Development of the Church of the Brethren in the Eighteenth Century. Ed. by Donald F. Durnbaugh, Elgin, Ill. 1967; Durnbaugh: Work and Hope (see note 10), pp. 76–78, and his article “Brüder (Church of the Brethren)”. In: Theologische Realenzyklopädie. Vol. 7, 1981, pp. 216–218. Cf. Delburn Carpenter : The Radical Pietists. Celibate Societies Established in the United States Before 1820, New York 1975, pp. 62–74, and Klaus Deppermann: Pennsylvanien als Asyl des frühen deutschen Pietismus. In: Pietismus und Neuzeit 10 (1984), pp. 190–212, in particular p. 207sq.
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rationists) in Marienborn, been rebaptized by the Dunkers in the PequeaRiver in 1724. His followers in the Cocalico valley (Lancaster County) even remained part of the Dunker community until the formal rupture in 1728. Finally, Beissel’s separated hermits had founded the Ephrata Cloister in 1735 in order to lead a monastic form of life and worship.14 The unsigned preface to the 1743 Sauer edition of the Hochmann creed gives us (p. 3 Ar) a hint that its ‘writer’ had still known the venerable author in Germany, having been sent to him by a “certain eager fighter for Jesus Christ” (“ein Gewisser Ernstlicher Streiter Jesu Christi”) designated “G.s”. If this abbreviation signifies “Gross”, Sauer’s favorite book commissioner in Germany, it is possible that Sauer himself decided to publish the tract – whilst the reprint might just as well have been ordered by the Dunker congregation, as has commonly been supposed until now,15 or by the Ephrata Community, who started their own printing only two years later, after their personal break with Sauer.16 But the fact that all of these German Radical Pietist settlers in eastern Pennsylvania had a doctrinal interest in the availability and reprint of the Hochmann creed does not yet explain why they maintained the Letter to the Jews, this separate annex to the German original edition, written on December 9, 1699, three years before Hochmann’s creed. As far as I can detect from sources on both sides of the Atlantic, there were neither institutional cooperation nor personal ties between the early German settlers in colonial North America and the very small Jewish population
14 Cf. e. g.: Chronicon Ephratense, Enthaltend den Lebens=Lauf des ehrwürdigen Vaters in Christo Friedsam Gottrecht, Weyland Stiffters und Vorstehers des geistl. Ordens der Einsamen in Ephrata […] Zusammen getragen von Br. Lamech u. Agrippa, Ephrata 1786, pp. 1sq, 12sq, 17–32. An English translation, by J. Max Hart: Chronicon Ephratense. A History of the Community of Seventh Day Baptists at Ephrata. Lancaster County, Pennsylvania, Lancaster/Pa. 1899, has been reprinted (New York: Burt Franklin) in 1972. Concerning the Ephrata Community see in particular Oswald Seidensticker: Ephrata, eine amerikanische Klostergeschichte, Cincinnati, Ohio 1883, pp. 19–55; Klaus G. Wust: German Mystics and Sabbatarians in Virginia, 1700–1764. In: The Virginia Magazine of History and Biography 72 (1964), pp. 330–347 (with an outlook on the Ephrata filiation at Mahanaim, founded by the Eckerlin-brothers); E[verett] G[ordon] Alderfer: The Ephrata Commune. An Early American Counterculture, Pittsburg/Pa. 1985, pp. 23sq, 27sq; Jeffrey A. Bach: Voices of the Turtledoves: The Mystical Language of the Ephrata Cloister, Durham, N.C. (Duke Univ. Ph. Diss.) 1997, pp. 1–18. Most valuable is the survey (with research references) by Donald F. Durnbaugh: Ephrata. An Overview. In: Rezeption und Reform. Festschrift für Hans Schneider zu seinem 60. Geburtstag. Ed. by Wolfgang Breul-Kunkel and Lothar Vogel, Darmstadt – Kassel 2001 (Quellen und Studien zur hessischen Kirchengeschichte, Vol. 5), pp. 251–265, now cf. Schrader : Beissels Ephrata-Gemeinschaft (2006, L 41), in the present volume p. 547–574. 15 European Origins of the Brethren. Ed. by Donald F. Durnbaugh, Elgin, Ill. 1958, p. 36 and The Brethren in Colonial America (see note 13); Schneider: Hochmann and Inspirationism (see note 6), p. 200. For the relation between Sauer and Andreas Groß cf. note 8. 16 Cf. Sachse: German Sectarians [II.] (see note 7), p. 223; Eugene E. Doll and Anneliese M. Funke: The Ephrata Cloisters. An Annoted Bibliography, Philadelphia 1944 (Bibliographies on German American History, Vol. 3), p. 87 and Durnbaugh: Work and Hope (see note 10), p. 78.
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already existing at that time in the country.17 Neither autobiographical accounts nor congregational chronicles mention any contacts, conflicts or confrontations. In contrast to this, intense contacts, turbulent and fruitful, existed between the different confessional Protestant groups and the chequered Separatist circles, even surmounting the frontiers of their national and linguistic origins.18 Lutherans and Reformed met Congregationalists. The new Baptist groups of Pietist origin made contact with older Swiss and German Mennonite communities, as did the Quakers and Shakers with Inspirationists or mystic hermits. An interchange between shades of fervent piety and harshly ascetic life-styles marked many individual biographies, and the newly-arrived Moravians brought their mission to all these eager disciples of Christ in order to gather them into a new assembly. The exchange of books did not stop at the frontiers of the various language groups and even included the still very small Catholic communities. Most of the testimonies, accounts and letters emanating from these groups are focussed on religious life or daily problems such as illness or poor harvest yields, family and neighbourhood issues, reports of danger and the death of newcomers or visitors on the long and dreadful ship crossings from home; they were void of political or cultural news. As for the non-Christian groups in their new homeland, we never hear about Jews but only about trade with or warfare against the pagan native Indians (with increasing fear of them during the Colonial Wars).19 17 For the small Jewish population (mostly Sephardic communities) in colonial North America cf. the survey of Cyril Levitt: Vereinigte Staaten von Amerika. In: Neues Lexikon des Judentums. Ed. by Julius H. Schoeps, revised new edition, Gütersloh 2000, pp. 998, 830. More specific information about early Jewish activity in Pennsylvania and the first communities in the early 18th century in Philadelphia and Lancaster, which were able to increase remarquably after the Civil War, is given in the article by Abraham S. Wolf Rosenbach: Pennsylvania. In: The Jewish Encyclopedia. Vol. 9, Seattle, Wash. 1905, pp. 586–589. 18 In particular these international interactions between the different churches and the Puritan, Independent and Quaker, Labadist and Precisist movements in North America as well as the Philadelphian and Pietist groups coming from all the Protestant countries in Europe are surveyed by A. Gregg Roeber : Der Pietismus in Nordamerika im 18. Jahrhundert. In: Der Pietismus im achtzehnten Jahrhundert. Hg. von Martin Brecht und Klaus Deppermann, Göttingen 1995 (Geschichte des Pietismus, Vol. 2), pp. 666–699, particularly pp. 672–687. 19 Several accounts of the letters from Christoph Sauer, Sr. to his German comrades are found in: Abdruck einiger wahrhafften Berichte und Briefe eines sichern Freundes zu Germantown in Pensylvanien vom 17. November 1738. Betreffende den inn= und äusserlichen Zustand dererjenigen die dahin gezogen, Berleburg: Johann Jacob Haug 1739 (16 pp.), pp. 8, 13; inserted also in the review of the Berleburg Philadelphian Community : Geistliche Fama, in sich haltend einige Nachrichten von Vermahnung, Warnung und Trost. [Vol. III], piece XXV, [Berleburg] 1739, pp. 72–96 (“Anhang einiger Pensylvanischen Nachrichten”); Letter to the owner of his type factory in Frankfurt, Heinrich Ehrenfried Luther, from October 11, 1740 in: [Mori]: Egenolff-Luthersche Schriftgießerei (see note 9), p. 38; or : Chronicon Ephratense (see note 14), pp. 196–203. That there had hardly been a common philadelphian openness among the Pietist settlers towards these Indians as towards the Jews is evidenced by an expression in the Chronicon Ephratense, p. 21, that reminds us of today’s horror-term “ethnic cleansing”: The community settled in a region of wilderness “after the start of the land’s cleansing from its pagan
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The main reason for this silence about Jews is, certainly, that no Jewish communities existed as yet outside of New York or Rhode Island – and even in those colonies there were no Ashkenazi communities, with whom there would have been a base for linguistic and cultural exchange. “Like Roman Catholicism, contemporary American Judaism owes more to nineteenth century immigration than to the colonial past.”20 The small earlier Jewish groups in the country were mostly Sephardic, descendants of Spanish and Portugese Jews, coming via Brazil. Aaronsburg, in Centre County, Pennsylvania, founded in a later period, in October 1786, by Aaron Levy (from Amsterdam), would be “the first town in the United States laid out and named after a Jew”. But even this well-known “model of harmony among humankind” did not yet contain a numerous Jewish community. Apart from Levy’s family, almost all of the settlers were Christian. In 1789, Aaron Levy granted land for a church and a Christian schoolhouse to the Salem Lutheran Church.21 But if personal contact and exchange was the rare exception in this period (I shall come back to rather odd cases of early contacts later), it can however be shown that the republishing of Hochmann’s Letter to the Jews was neither without reason nor the result of carelessness. In fact, this very Letter had been, as Hans Schneider has proven, anonymously republished only nine years before the Sauer reedition in a Moravian periodical in Germany,22 which was
habitants” – “nachdem das Land anfing von seinen heidnischen Einwohnern gesäubert zu werden”! Mahanaim, the Ephrata filiation in Virginia, perished, after a first period of fruitful contacts with the Indians commencing in 1747 (Samuel Eckerlin even took charge of their native herbal medicine), following a series of Indian raids in 1749–1753. Cf. Wust: German Mystics (see note 14), pp. 338–340. 20 Carla Gardina Pestana: Liberty of Conscience and the Growth of Religious Diversity in Early America, 1636–1768. An Exhibition […] of the John Carter Brown Library, Providence, R.I. 1986, p. 25sq, as for the restrictions on Catholic settlement under English Protestantism, pp. 22–24; cf., in greater detail, Gaston Wagner: Le catholicisme en Am8rique. In: Catholicisme. Hier – Aujourd’hui – Demain. Encyclop8die. Vol. I, Paris 1948, pp. 446–458, partic. pp. 450–452. About Jewish settling in Pennsylvania cf. Rosenbach: Pennsylvania (see note 17), p. 587: “It is estimated that there were not more than 800 Jews in Pennsylvania at the close of the War of Independence. The greater portion had taken up their residence after 1765.” 21 Detailed information in three articles by Abraham S. Wolf Rosenbach: “Aaronsburg”. In: The Jewish Encyclopedia (see note 17), Vol. I, 1901, p. 23; “Aaron Levy”, Vol. VIII, 1904, p. 55sqq and “Pennsylvania”, Vol. VIII, 1904, p. 587. “Levy’s act of tolerance, brotherhood and goodwill” has been commemorated in 1949 by a pageant created by William Gordon: “The Issue of an Ideal”, a drama played by some 1000 actors and seen by more than 40.000 participants, and by a film “The Aaronsburg Story”. Cf. Jill Shockey: Golden Years. The Aaronsburg Story. In: Town & Gown – State College & Penn State, 34th year, 10th issue, Oct. 1999, pp. 32–34. 22 Schreiben an die Juden, welches vor geraumer Zeit viel Eingang gefunden. In: Der Freywilligen Nachlese, Bey den bißherigen Gelehrten und erbaulichen Monaths=Schriften. III. Sammlung, Frankfurt – Leipzig [recte: Görlitz]: Gottfried Marche [1735], pp. 62–69. The collection was sold some years later with a different (in this case misleading) title-page: Des Grafen von Zinzendorff […] Kleine Schrifften Gesammlet in verschiedenen Nachlesen, Frankfurt 1740. Reprint in: Nikolaus Ludwig von Zinzendorf: Ergänzungsbände zu den Hauptschriften. Vol. 11: Freywillige
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then also distributed throughout colonial North America by followers of Count Zinzendorf. Thus, it is evident that the ideas expressed in the Letter were still being considered in broader Pietist circles. Although we cannot yet find among these settlers a fruitful Christian-Jewish collaboration, we can nevertheless discover attitudes that were unusually hopeful and progressive for the period. We thus have to investigate the special state of mind that these theosophical mystics brought along with them to their new homeland, and the lasting impact of their ideas on the thought, the religious life and the poetry of the emerging society in North America. I hope to prove that the option of tolerance, mutual esteem and even brotherly feeling existing since the 18th century does not owe its origins merely to Enlightenment philosophy. Studies in the dark history of Christian treatment and attitude towards the Jewish minority in the German Empire (as in other European countries) have shown that the Pietist movement as a whole was distinguished by less prejudice, by the absence of the constraints upon and the stereotypical hatred of Jews that had existed even in church doctrine, including Protestant Orthodoxy. Common in Pietist thinking were declarations of respect for the people to whom is owed the Bible and the person of Jesus Christ. The new Pietist impulse to improve biblical knowledge, science and translation led also to personal contacts with Jews in order to improve knowledge of Hebrew. As to the spiritualistic and radical outsiders within this movement of intensified piety running from the baroque era into the 18th century, the change of attitudes has even been given the ambiguous term of “philosemitism”. An excellent critical summary of all these tendencies having been published in The Covenant Quarterly by Boston theologian Peter Vogt,23 I shall content myself with only a few observations.
Nachlese, Hildesheim 1972. Cf. Hans Schneider: Ein “Schreiben an die Juden” (Freiwillige Nachlese III, 4). Hochmann, Zinzendorf und Israel. In: Unitas Fratrum 17 (1985), pp. 68–77. 23 Peter Vogt: The Attitude of Eighteenth Century German Pietism towards Jews and Judaism. A Case of Philosemitism? In: The Covenant Quarterly 56/4 (1998), pp. 18–32. Cf, too, the anthology : Zwischen Bekehrungseifer und Philosemitismus. Ed. by Peter Vogt (see note 2). – A valid source on churchly Pietist attitudes towards the Jews remains Martin Schmidt: Judentum und Christentum im Pietismus des 17. und 18. Jahrhunderts. In: Kirche und Synagoge. Handbuch zur Geschichte von Christen und Juden. Ed. by Karl Heinrich Rengstorf and Siegfried von Kortzfleisch, Munich, 2nd ed. 1988, pp. 87–128 (cf. for North America pp. 130sq, 169 sq, written by Karl Heinrich von Rengstorf) as well as Martin Jung: Die württembergische Kirche und die Juden in der Zeit des Pietismus (1675–1780), Berlin 1992 (Studien zu Kirche und Israel, Vol. 13), with helpful summaries and a comprehensve treatment (e. g. for the difficulty of using a term such as “philosemitism” even for hopeful contacts, pp. 280–288). As for the different ideas in Radical Pietism cf. Schneider: Ein „Schreiben an die Juden“ (see note 22) and my study, Schrader: Sulamiths verheißene Wiederkehr (1988, L 15), in the present volume pp. 169–204. To this survey might be added some other publications, which continue with a discussion of trends occurring as from the 19th century, Hans-Martin Kirn: Deutsche Spätaufklärung und Pietismus. Ihr Verhältnis im Rahmen kirchlich-bürgerlicher Reform bei Johann Ludwig Ewald (1748–1822), Göttingen 1998 (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus, Vol. 34), pp. 377–420
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Whereas the orthodox clergy continued to slander the “obstinate Jews” as deniers, if not murderers, of Christ, “children of the Devil”, unwilling and unable to come to salvation,24 and whereas they continued periodically (in violation of Empire laws) to use force in urging the Jews to Christian sermon, to baptism and to conversion, Spener and most of his followers called for treatment of the Jewish people with respect and kindness and undertook to be concerned about an active but not coercive missionary activity among the Jews that was based on an understanding of their religious life. […] Finally […] Spener believed on the basis of Romans 11:25–26 that after all the gentiles had entered the kingdom, Israel too would be saved. Hoping that this time was not far off, he considered the speedy conversion of the Jews a real possibility.25
In the same way, the Halle and Herrnhut foundations organized biblical, Hebraistic and Judaistic seminars in great style, promoted personal contacts and engaged in mission activities, even distributing tracts in Hebrew that contained no offensive reference to Jewish practices. Although a keeping of Mosaic laws was not forbidden to proselytes, all these efforts of churchly Pietism were nevertheless concentrated on leading the Jews to Christ and on gathering all His believers for the coming of His kingdom at the end of time. Unfortunately, despite all the understanding and love distinguishing this approach, it remained a missionary one: a Jew was seen led to salvation only if he renounced being a Jew. It was just on this point that the Radicals tended to a different solution, which they defended mainly by chiliastic and eschatological speculation. Already in their teaching and learning, the Radicals held an opposite point of view, that of learning from the knowledge of the Jews instead of preaching to them their own convictions. Already from 1710–1712, Johann Otto Glüsing, a Radical Pietist influenced by Johann Georg Gichtel, who would become one of the opinion leaders preceding Beissel,26 had published the Biblia Pentapla containing the first („Judenemanzipation und assimilation“) and Schrader: Feindliche Geschwister (2013, L 49), in the present volume pp. 135–167. 24 Orthodoxophilus [= Erdmann Neumeister]: Idea Pietismi Oder Kurtzer Entwurff Von der Pietisten Ursprung, Lehr und Glauben, Frankfurt – Leipzig [1712], 2nd ed. 1714, p. 12 uses all the traditional antijudaic prejudices to take a stance against “philosemitic” Pietism, cf. Schrader: Sulamiths verheißene Wiederkehr (see note 23). 25 Vogt: Attitude (see note 23), p. 20. 26 The Chronicon Ephratense tells us (see note 14), p. 4sq, that Beissel was introduced in Heidelberg into Pietist meetings by a certain scholarly man named Haller, who was a correspondent of Gichtel and who brought the young man into contact with eager followers of Hochmann, such as the two Diehl brothers [Nikolaus and Hans Georg]. In summarizing his life, the chronicler names as Beissel’s principal predecessors “the two beloved knights of God, Gottfried Arnold and Georg Gichtel […] and […] the honourable Johann Kelpius with a society of spiritual courtiers of the virgin Sophia” (“die zween theure Gottes=männer Godfried Arnold und Georg Gichtel […] und […] der ehrwürdige Johannes Kelpius […] mit einer Gesellschaft geistl. Werber um die
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transliteration of a ‘Jewish-German’ Bible into Latin type. The entire Bible was printed there in five synoptic columns allowing a comparison of the Jewish version with that of the different Christian confessions. Thus, an impartial Christian user lacking a sufficient knowledge of Greek and Hebrew (even of Hebrew type, necessary to read Yiddish) would have been able to discover the finest shades of different understanding of the Holy scriptures.27 In order to prepare their new translation and their huge verse-by-verse commentary in the ‘Berleburg Bible’, the Radical Pietists, who had found their place of tolerance in the Wittgenstein counties in the same period as that in which the Jewish community, too, was able to increase considerably there,28 Jungfrau“, p. 248). Indeed, research on Beissel has shown that many of his special tenets, such as his worship of the virgin Sophia, his dislike of human sexuality and his recommendation of celibacy, were derived from Gichtel, the founder of the “Angels’ brothers” and follower of Arnold. Cf. Gichtel’s biography as a pattern of a new-born man in: Reitz: Historie Der Wiedergebohrnen. Neudruck (1982, L 2), Bd. 1, III. Theil, [Offenbach] 1701, pp. 192–215. Concerning Gichtel’s influence on spiritualistic matrimonial ideas and sexual behaviour, and regarding Hochmann von Hochenau as his mediator cf. Willi Temme: Krise der Leiblichkeit. Die Sozietät der Mutter Eva (Buttlarsche Rotte) und der radikale Pietismus um 1700, Göttingen 1998 (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus, Vol. 35) and the thourough anthology, including a more recent bibliography, Geschlechtlichkeit und Ehe im Pietismus. Ed. by Wolfgang Breul and Stefania Salvadori, Leipzig 2014 (Edition Pietismustexte, Vol. 5). Ephrata’s adversaries even compared the Cloister with its choirs of “solitary men” and “spiritual virgins” to the sexual experiments of the “Buttlar gang” (Ephrata seen as “neue Evische Rotte”, Chronicon Ephratense, p. 60, cf. pp. 45sq, 50). For more details on Gichtel’s influence on American Pietism see Julius Friedrich Sachse: The German Pietists of Provincial Pennsylvania, Philadelphia 1895 (Reprint: New York 1970), p. 47sq; F. Ernest Stoeffler: Mysticism in the German Devotional Literature of Colonial Pennsylvania, Allentown 1950 (The Pennsylvania German Folklore Society, Vol. 14, 1949), pp. 38sqq, 46sq; and Alderfer : The Ephrata Commune (see note 14), p. 211. 27 Biblia Pentapla, das ist: Die Bücher der Heiligen Schrift […] nach Fünf=facher Deutscher Verdolmetschung. 3 vols., Schiffbek – Wandsbek 1710–1712. Cf. concerning this enterprise, evidently forbidden by the censorship laws in the German Empire, Schrader: Lesarten der Schrift (1996, L 20), in the present volume pp. 285–305; cf. Hermann Patsch: Arnoldiana in der „Biblia Pentapla“. Ein Beitrag zur Rezeption von Gottfried Arnolds Weisheits- und VäterÜbersetzung im radikalen Pietismus. In: Pietismus und Neuzeit 26 (2000), pp. 94–116, and idem: Verstehen durch Vergleichen. Die „Biblia Pentapla“ von 1710–1712. In: Die Hermeneutik im Zeitalter der Aufklärung. Ed. by Manfred Beetz and Guiseppe Cacciatore, Köln – Wien 2000 (Collegium Hermeneuticum, Vol. 3), p. 113–130. Concerning the basic Yiddish version by Josel ben Alexander Witzenhausen, printed in Amsterdam by Joseph Athias in 1679 (the same edition was sold later on with a new title page, Amsterdam 1687), cf. [Irene Faber and Edward van Voolen]: Amsterdam. In: Jüdische Lebenswelten. Katalog. Ed. by Andreas Nachama and Gereon Sievernich, Frankfurt, 3rd ed. 1992, p. 321. – As to the special Radical Pietist attitudes, further source material is contained and discussed in Schrader: Sulamiths verheißene Wiederkehr (1988, L 15), in the present volume pp. 169–204. 28 The history of the Jewish communities admitted in the two counties of Wittgenstein-Wittgenstein (at Laasphe and Schwarzenau) and Wittgenstein-Berleburg as from the 17th century has been revealed by a series of excellent scholarly studies. Even if the number of Jewish inhabitants increased remarkably in the very period in which the Pietists and their Philadelphian Society were able to find there a place of extraordinary tolerance (growing from 1699 to the community flourishing in the 1730’s), contacts or connexions have not yet been investigated.
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had plunged even more deeply into Hebrew grammar and Jewish speculation and published several works in this regard.29 All this Hebraistic preparation work was employed by Sauer in preparing his American Bible edition, where he integrated some of the translations and speculative comments found in the ‘Berleburg Bible’. Beyond that, he sold the eight folio volumes of this Bible in his book shop to the American Pietist market, after having organized a broad exchange with his own books, delivered to Germany. In his preface to the 1743 Bible, he writes that he had to abandon, for lack of space, his initial idea “of comparing here some major variants of Bible translations, e. g. the Zwingli Zurich Bible, the [Calvinistic] Reformed one, the ‘Mystical Bible’ by Henrich Horche or the Berleburg work, not to mention the Jewish-German version [by Josel Witzenhausen, as found in the Biblia Pentapla]”.30 Moreover, it was the quest of the pre-Pietist and Pietist heterodox outsiders for a pansophic conspectus that would open the Jewish Cabbala tradition to Oetinger31 and to German Romanticism32 – and also to the American “In der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts stieg die Zahl der Juden in Wittgenstein sprunghaft an. Lebten 1726 noch 18 Schutzjuden in verschiedenen Orten der Grafschaft Sayn-WittgensteinWittgenstein, so waren es 1734 schon 27. In Berleburg wurden in der Zeit von 1720 bis 1740 allein neun Schutzbriefe ausgegeben […]. Nun konnte sich in beiden Städten und auch in Elsoff das religiöse Gemeindeleben entfalten”. Johanna Morgenstern-Wulff: Jüdische Begräbnisplätze und Grabmale in Wittgenstein. In: Wittgenstein. Blätter des Wittgensteiner Heimatvereins 76 (Vol. 52) (1988), pp. 117–160, particularly p. 120, cf. pp. 119, 151. Cf. Reinhard Schmidt: Aus der Geschichte von Juden und Christen in Laasphe, Bad Laasphe 1991, partic. pp. 9–17; Karl- Ernst Riedesel: Frauen in der jüdischen Gemeinde Berleburgs im 18. Jahrhundert. In: Wittgenstein 79 (Vol. 55) (1991), pp. 125–136; idem: Die Anfänge einer jüdischen Gemeinde in Berleburg während des 18. Jahrhunderts. In: Wittgenstein 82 (Vol. 58) (1994), pp. 126–139; idem: Die Synagoge in Berleburg. In: Wittgenstein 83 (Vol. 59) (1995), pp. 130–151 and idem: Ein Berleburger Judeneid. In: Wittgenstein 84 (Vol. 60) (1996), pp. 64–68. I wish to thank Johannes Burkardt, Bad Berleburg, for providing me with these local historical studies. 29 Christoph Ludwig Schefer : Schoresch Dawar Oder Hebreisches Wörter=Buch […], Berleburg 1720; Heinrich Bernhard Köster : Schlüssel der ersten und letzten Hebräisch=Griechisch=Teutschen Harmonie […], Berleburg 1724; Georg Burckhardt Rümelin: Lexicon Biblicum […], Berleburg 1727. More detailed information is given in Sachse: German Pietists (see note 26), pp. 251–298 (on Köster and his “Schlüssel”) and Schrader: Literaturproduktion (1989, L 1), pp. 186, 188, 194, 203, 205, 207, 411, 413, 469, 471 or idem: Sulamiths verheißene Wiederkehr (1988, L 15), in the present volume p. 179. 30 “anderer Uebersetzungen Unterschied auf diesen Platz gegen ein ander zu setzen […] als: Froschauers / Piscators Horchens / die Berleburger, Zu geschweigen die Jüdisch-Teutsche […]” – Christoph Sau[e]r : Kurtzer Begriff. Von den Heiligen Schrifften und deren Uebersetzungen. In: Biblia, Das ist: Die Heilige Schrift Altes und Neues Testaments […] Mit […] Summarien, auch […] Parllelen [sic!]; Nebst einem Anhang […], Germantown 1743, p. [I]. Concerning the exchanges with the ‘Berleburg Bible’, the interpolation of extracts, and the annex of the Apocrypha taken from it, and as regards the mutual book selling on both sides of the Atlantic, cf. the references in Schrader : Literaturproduktion (1989, L 1), pp. 226sq, 236, 252 and 477, note 272. 31 Cf. in particular the volumes of the richly-commented critical Oetinger-edition: Friedrich Christoph Oetinger : Die Lehrtafel der Prinzessin Antonia. Ed. by Reinhard Breymayer and Friedrich Häussermann. 2 vols., Berlin – New York 1977 and idem: Biblisches und em-
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reception, especially by Ephrata ‘solitaries’ such as Jacob Martin.33 Driven out of their homelands for reasons of conscience, the Radicals mainly found the same places of tolerance (‘Freistädte’), of unshackled worship and book-print as had the Jews, in some corners inside and outside the Empire, under nonimperial potentates or awakened counts, who voluntarily neglected to enforce the laws of confessional regimentation and censorship, e. g. in Amsterdam, in Altona, Kleve, Offenbach and Marienborn. Thus, Radical Pietists and Jews were able to develop a certain feeling of familiarity and had easier opportunities to meet than in other towns. Typical of this traditional cohabitation are the verses Hermann Cruse wrote in 1725 about tolerance in the town of Krefeld (which had also been a place of stopover for most of the religious emigrants to North America): Papa, Moses, Pennus, Menno, Calvinus, Lutherus una in Creyfeldia varium cantant alleluja.
Catholics, Jews and Quakers, Mennonites, Reformed and Lutherans Sing in Krefeld altogether Their various “Praise ye the Lord”.34
A chief difference from mainstream Pietism was, however, that the Radicals did not read the apocalyptical prophecies such as Gen. 49:10, Jes. 2:1–6, Hos. 3:4–5, Obad. 17, Zech. 12:10 or again Rom. 11:25–33 and Rev. 21:10–24 about the gathering of the awakened Jews at the end of the days, when they would assemble around their Lord in a New Jerusalem and erect the kingdom of peace, as presupposing a conversion to Christianity. Quite to the contrary, even if some firstborn of the final discernment that the Messiah would be the reappearing Christ might prepare the path to these events, this discernment by all the Jews was literally reserved for the end of the days, after the blematisches Wörterbuch. Ed. by Gerhard Schäfer. 2 vols., Berlin – New York 1999 (Texte zur Geschichte des Pietismus, Vols. 7/1 and 7/3). 32 Cf. the volume of miscellaneous studies: Kabbala und Romantik. Ed. by Eveline Goodman-Thau [et al.], Tübingen 1994 (Conditio Judaica, Vol. 7), for the Pietist mediation see particularly the articles by Christoph Schulte (Zimzum bei Schelling, pp. 97–118), Volker Roelcke (Kabbala und Medizin der Romantik. Gotthilf Heinrich Schubert, pp. 119–142) and Werner J. Cahnmann (Friedrich Wilhelm Schelling and the New Thinking of Judaism, pp. 167–205). 33 Bach, Voices of the Turtledoves (see note 14), chapter 10 (pp. 408–457), cf. p. 45; Jon Butler : Magic, Astrology, and Early American Religious Heritage, 1600–1760. In: American Historical Review 84 (1979), pp. 317–346, in particular p. 322, 328. 34 Quoted in Nieper : Auswanderer von Krefeld (see note 7), p. 14 (together with a contemporary translation in Low German dialect). As for special studies on the ‘Freistädte’ cf. Schrader: Sulamiths verheißene Wiederkehr (1988, L 15), in the present volume p. 175 (note 21) and p. 194. – From Krefeld (out of Mack’s Dunker group) had also come one of the leading brothers of the Ephrata Seventh Day Baptist Community, Peter Becker. In the Chronicon Ephratense (see note 14), p. 213, he (“P.B.”) is given as a “branch growing out of the root of Hochmann and of his spiritual son” (“Zweig […] aus der Wurzel Hochmanns von Hochenau” “ein geistl. Sohn von Hochmann”), showing again the impact that Hochmann had on the Radical Pietist immigrants to Pennsylvania.
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eschatological gathering in Jerusalem. This biblical speculation was founded on Rom. 11:25sqq, “that blindness in part is happened to Israel, until the fulness of the Gentiles be come in. And so all Israel shall be saved: as it is written”.35 On this basis, it would even disturb God’s plan of salvation if the Jews were urged to a premature recognition of Christ. So the Christians had to respect that the Lord himself had preserved his chosen people as an undestroyed entity for this very purpose throughout the diaspora. Until the time of the conversion of the “fulness of the Gentiles”, however, the fulness of Israel would be invited only in a spirit of love (like the throng of Christian believers, as well) to a holy life according to their own laws and devoutness – and surely not converted “into another sect or religion”.36 These conceptions were omnipresent only in the circles from which the Pietist settlers in Pennsylvania had emerged; for example, among those close to the ‘Berleburg Bible’ or among the editors of the periodical of the Philadelphian Brotherhood distributed from the same county, Die geistliche FAMA.37 These apocalyptical references “to Judaism as a decisive factor in the last act of the eschatological drama” were shared by Hochmann von Hochenau, as Hans Schneider points out in his article on the Letter to the Jews: “As the foreseen way to salvation for the Jews does not lead through their untimely conversion to Christianity, there is no more use for missionary labours. The separate ways of Christians and Jews will merely converge in the final revelation of the one Messiah for Jews and Christians.”38 Thus – even if there are also some verbal allusions to a new-testamental apocalyptic thinking – it is not astonishing that this Letter was characterized by the earliest Hochmann scholar, Heinz Renkewitz, as follows: Expectance has come to its utmost degree. One could imagine reading a Jewish sermon on the Messiah’s arrival. There is no reference at all to the reappearance of Jesus Christ nor to his former presence. The annoyance of the cross is omitted. Justification and conversion of the Jews is no longer due to the Crucified, but they will have entry to the glorious kingdom of the Messiah if they approach with a real 35 Text from a recent edition of: The Holy Bible. Authorized King James Version, Boston, Ma., n.d. [ca. 1996]. 36 Cf. Schrader: Sulamiths verheißene Wiederkehr (1988, L 15), in the present volume pp. 169–204. 37 As for the series of articles in this periodical concerning Jewish piety, the eschatological importance of the Jewish community and the question, whether conversion activities should be continued (FAMA I,5, 1731, pp. 79–85; II,11, 1733, pp. 28–40; III,24, 1738, pp. 3–96 and III,27, 1741, p. 87) cf. Schrader : Sulamiths verheißene Wiederkehr (1988, L 15), in the present volume p. 193 (note 71) and p. 199 f. 38 Schneider: Ein „Schreiben an die Juden“ (see note 22), p. 70 sq: “Dagegen gehört Hochmann zu jenem chiliastischen Typus, der das Judentum als entscheidenden Faktor im letzten Akt des eschatologischen Dramas sieht [so] daß […] der jüdische Weg zum Heil nicht über eine vorherige Bekehrung zum Christentum führt, also keine Judenmission erforderlich ist. Die getrennten Wege von Christentum und Judentum laufen erst endzeitlich beim Offenbarwerden des einen Messias der Juden und Christen zusammen.”
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humility of heart. Hochmann’s view does not go back to the salvation history of the New Testament, but is merely fixed towards the future: the kingdom to come is near!39
Hochmann, the preceptor of American church founders such as Mack, Becker and Beissel, really lived these ideas. The close of the 17th century, especially its final year, 1699, in which Hochmann wrote his Letter to the Jews, was a period of chiliastic expectation: the eschatological events were to start immediately. The wise virgins (Matth. 25) had to be ready to meet the bridegroom. In these very years, Hochmann tried to assemble in Berleburg and neighbouring Schwarzenau a ‘philadelphian community’ (according to Rev. 1:11 and 3:7–13) of sundry believers, where there was no place for any difference according to personal creed, social rank or profession.40 As Beissel would later copy in Ephrata, the members of Hochmann’s non-institutional community of “priests and priestesses after the order of Melchizedek” (Psal. 110:4), consecrated “to all tribes of Israel”, obtained distinguishing new brother and sister names – the vast majority Old Testament names such as Reuben, Simeon, Judah, Ephraim, Manasseh, Jehoshaphat, Esther, Aaron and Mordechai. Christ himself could be worshiped under the name of the mythical priestly king Melchizedek.41 To this philadelphian community, Jews were not only admitted without any discrimination (as in 1700 in nearby Biesterfeld), but one of the awakened counts even referred to them, along with all the vagabond Pietists, as ‘brothers’, kissing their hands and feet (a behaviour taken for insane and threatening by his noble relatives as well as by the orthodox clergy).42 Hochmann would also invite Jews to his later (less enthusiastic) philadel39 Renkewitz: Hochmann (see note 6), p. 52: “Die Erwartung ist auf das Höchste gestiegen. Man meint die Predigt eines Juden über den kommenden Messias zu lesen. Jeder Hinweis darauf, daß Jesus Christus in seiner zweiten Erscheinung wiederkehrt, fehlt. Nirgends ist von dem geschichtlichen Christus die Rede. Das Ärgernis des Kreuzes ist fortgelassen. Die Juden sollen nicht an dem Gekreuzigten Rechtfertigung und Bekehrung erfahren, sondern sie können gleich in das herrliche messianische Reich eingehen, wenn sie sich dem kommenden Messias in wahrer Demütigung des Herzens nahen. Hochmann lebt nicht in der Vergangenheit und ihrer im Neuen Testament bezeugten Heilsgeschichte, sondern sein Blick ist nur auf die Zukunft gerichtet: bald wird das neue Reich anbrechen!” 40 For a survey of the ‘philadelphian’ idea and enterprises in Europe, for this early attempt of a Berleburg gathering around the awakened countess Hedwig Sophie and the better-known later attempt in the 1720’s and 1730’s around her son Casimir and the group contributing to the work of the ‘Berleburg Bible’ cf. (with reference to more literature) Schrader: Literaturproduktion (1989, L 1), pp. 63–73, 178–183, 227–238 (notes 374–386, 463–465, 478–482), and Bauer: Radikale Pietisten (see note 6), pp. 121–135; Temme: Krise der Leiblichkeit (see note 26), pp. 88–103, 186–189; Johann Georg Hinsberg: Geschichte der Kirchengemeinde Berleburg bis zur Regierungszeit des Grafen Casimir (18. Jh.). Introd., ed. and comm. by Johannes Burkardt and Ulf Lückel, Bad Berleburg 1999, pp. 65–128, 134–142, or Eberhard Bauer / Johannes Burkardt: Überblick über die Geschichte des Kirchenkreises Wittgenstein. In: Die Kirchen des Kirchenkreises Wittgenstein. Ed. by Johannes Burkardt [et al.], Bad Fredeburg 2001, pp. 28–32. 41 Renkewitz: Hochmann (see note 6), pp. 109, 116, 124sq, 362. 42 Ibid., pp. 160, 163, cf. p. 197 or (1703 for Schwarzenau) p. 185.
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phian services, as is verified in 1711 in Glaucha and Halle. We even have sources indicating that Hochmann was invited to preach in synagogues, such as in 1699 in Frankfurt (to which event his Letter to the Jews probably was connected),43 in Wetzlar in 1701,44 in Wesel in 1705, and in Pahres (Franconia) in 1709.45 Wherever political caution prevented his formal invitation to the synagogue, he visited Jewish households (as again in Halle) and may even have enjoyed (as rumour has it for Prague) financial support from Jews.46 He never tried to Christianize them, but he prayed with them that the Lord Himself might reveal to them the true Go[l (i. e. the “redeemer”, Job 19:25). Thus, news spread within the Jewish community that this man was a Christian who could be trusted, as he seemed to belong more to themselves than to his own.47 Questioned by the Heidelberg court as to whether he believed that Jews, Muslims and Heathens could go to Heaven without being baptized, he cautiously answered that he longed for their recognition (at the end of time) that Christ is the true Saviour. Discarding political caution, his disciples frankly answered “Yes, all of them will come to salvation, if only they obey the commandments of God”.48 Some of the later Pennsylvanian separatists had in their European youth been, like Hochmann von Hochenau, in more than merely sporadic contact with the Jewish community. They had even been admitted to attend worship in synagogues. It is a letter from Germantown written in 1749 by the Inspirationist Blasius David Mackinet that gives us the most ample report of such occurrences having taken place in Prague in early 1716. Mackinet, together with his prophetical leader Johann Adam Gruber (who, as we have seen, was later Sauer’s neighbour in Pennsylvania), had entered one of Prague’s synagogues in order “to regard the unreasonable worship of the Jews.” They had even disturbed the worship by shaking and uttering to the assembly their own prophetical sermon. The message however was the same as had been Hochmann’s: After a period of penitence and pain, the Jews would be reaccepted by the Lord as His own people and possession. Thus, in this 43 Wittgenstein archives at Bad Laasphe K 291, Bl. 48, as quoted by Eberhard Bauer: Der Separatismus in der Grafschaft Wittgenstein 1700–1725. In: Jahrbuch für Westfälische Kirchengeschichte 75 (1982), pp. 167–183, here p. 170. As this proof of the first invitation to a Jewish worship was not yet known by Renkewitz, who only postulated that there must have been a meeting (Hochmann [see note 6], pp. 49, 51); Schneider (Ein “Schreiben an die Juden” [see note 22], pp. 69, 74, note 23) expressed some reservation. 44 Temme: Krise der Leiblichkeit (see note 26), p. 227. 45 Renkewitz: Hochmann (see note 6), pp. 296, 326. 46 Ibid., pp. 326, 374. 47 Ibid., p. 260 (Pahres, 1709) and p. 296 (Wesel, 1705). 48 Ibid., p. 354, cf. p. 234sq: Examined 1709 in Heidelberg, “ob dann ein Jud, Türk oder Heid, wann er nicht getauft, auch selig werde?”, Nicolaus and Hans Georg Diehl answered: “Ja, wann er nur die Gebote Gottes hielte.” Brothers, they are referred to in the Chronicon Ephratense (see note 14), p. 5, as having been Conrad Beissel’s religious comrades during his Heidelberg period, cf. above, note 26.
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synagogue, as in another one the following day, their examination by the Rabbis turned – according to Mackinet’s account – into a mutual learning and understanding: We felt a great love for all of them, and they confessed to having a mutual feeling; they wished us to stay with them overnight, and blessed us with the wish of mazal tov [good luck].49
Together with the chiliastic program of the philadelphian assembly of all the awakened from every religion, church or sect aimed at preparing the appearance of the Lord, such unusual attitudes towards the Jews were present from the very beginning of Pietist emigration to the New World. It had been this ecumenical idea (forbidden by law in the German Empire) that had led Franz Daniel Pastorius (who was the representative of the “Frankfurt Land Company” formed by a circle of eager disciples of Philipp Jacob Spener around Johanna Eleonora Petersen and had been in contact with William Penn since 1677) to buy some property in 1681 in Pennsylvania. It was owing to this apocalyptical dedication to brotherly love that this place – today Pennsylvania’s largest city – had been baptized with the name Philadelphia. Pastorius led 49 Mackinets Schreiben. In: Extracta XII (see note 8), pp. 135–139; here p. 138: “Wir empfunden eine grosse Liebe zu ihnen allen, und sie bezeugten deßgleichen; wir solten bey ihnen über Nacht bleiben, und wünschten uns alles Gutes”. Reprinted in the Inspirationist’s source book: Blasius Daniel Mackinets Schreiben von der Göttlichkeit der wahren Inspiration. Datiert aus Germantown in Pennsylvanien vom 25. Oktober 1749. In: Gottlieb Scheuner: Inspirations=Historie oder Verschiedene Aufsätze und Erzählungen von dem Werk des HErrn in den Inspirations=Wegen. Vol. 2, Amana, Iowa 1884, pp. 89–104, in particular pp. 96–100, and reedited in: Zwischen Bekehrungseifer und Philosemitismus. Ed. by Peter Vogt (see note 2), p. 71–73, comment p. 112–114. – A report of these Prague encounters turning into mutual respect and kindness – and also of similar events occurring some months later with their Inspirationist comrade-prophet Sigmund Heinrich Gleim – is given by the historian of the Community, Gottlieb Scheuner: Inspirations=Historie oder Historischer Bericht von der Gründung der […] wahren Inspirations=Gemeinde. Vol. 1, Amana, Iowa 1884, pp. 36sq, 44. The command to meet the Jews in their synagogue is interpreted as a divine appeal to their hearts: “Am 29. [Jan. 1716] bekamen sie dann zu ihrer größten Verwunderung Befehl, in die Juden=Schule oder Versammlung daselbst zu gehen. Sie gingen dann, nachdem sie sich bei einem Juden näher erkundigt hatten, im kindlichen Gehorsam in eine ihrer Schulen oder Versammlungen, deren 12 in dieser Stadt waren, wo dann, nachdem sie dem Gottesdienst ein wenig zugesehen hatten, Gruber in Bewegung kam, so daß die Juden fragten, was diesem Menschen wäre, ob er krank sei? Mackinet sagte ihnen, sie seien auf Gottes Befehl zu ihnen gekommen, sie sollten nur ruhig sein, sie sollten’s bald hören. Als aber die Bewegungen noch stärker wurden, kamen Zwei und führten ihn in der Bewegung, indem sie meinten, es wäre eine Krankheit, zur Schule hinaus, wo er dann auf öffentlicher Straße, unter großem Zulauf, eine Aussprache und Ermahnung an sie halten mußte. […] Gruber schrieb davon also: ‘Wir fühlten, daß der HErr das Wort an ihren Seelen nicht ungesegnet gelassen; sie waren sehr bescheiden, aufmerksam und liebreich; in unsern Herzen hatte der HErr eine ungemeine Liebe gegen sie geschenket; […] wir sind recht im Segen daselbsten gewesen und mächtig von unserer Liebe gestärket worden.’” (p. 36sq) – The Gleim prophecy toward the Jews, at Breslau, April 7, 1716, was published in: Das Geschrei zur Mitternacht / Durch den Geist der Weissagung gewürcket […] Als ein Zeugnüß Der wahren Inspiration, n.p. 1715, 2nd ed. 1758.
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the first settlers to this place in 1683, together with Mennonite Quakers from Krefeld, where they founded the suburb of Germantown, north of Philadelphia.50 Johannes Kelpius, who followed them in 1694 with a group of Pietist hermits, settling further north on the banks of the Wissahickon, was a disciple of the fervent Christian cabbalist from Württemberg, Johann Jacob Zimmermann, who himself had passed away whilst preparing to embark for the passage across the Atlantic. One of the members of the Kelpius group was the later Hebrew scholar and collaborator in the Bible work at Berleburg, Heinrich Bernhard Köster.51 This group’s awaiting of the eschatological events in the North American wilderness was certainly one of the reasons why they named their community “Das Weib in der Wüste” (“The Woman in the Wilderness”), recalling Rev. 12:6. But in this programmatic name-giving, too, there was a clearer and deeper allusion to a spiritual meaning concerning the role of the Jews than that which the church had usually attributed to this apocalyptical enigma. Johanna Eleonora Petersen52 had already interpreted the cryptic allegory in 1696 as one of the biblical prophecies of the reassembly of the Jews in their fullness in the New Jerusalem. The ‘Berleburg Bible’, taking over to a large extent this Petersen speculation, comments on this child-bearing woman as follows:
50 Cf. the story (in German) of this founding and its prehistory : Friedrich Kapp: Der deutschamerikanische Buchdruck und Buchhandel im vorigen Jahrhundert. In: Publikationen des Börsen=Vereins der deutschen Buchhändler N. F. 1 (1878), pp. 56–69, here pp. 57–59; Oswald Seidensticker: Bilder aus der Deutsch=pennsylvanischen Geschichte, New York 1885 (Geschichtsblätter. Bilder und Mitteilungen aus dem Leben der Deutschen in Amerika, Vol. 2) pp. 1, 36sq, 52; H. Dechent: Die Gründung von Germantown im Jahre 1683 und die Frankfurter Kompagnie. In: Frankfurter Nachrichten 279 (October 7, 1908), p. 6sq; [Mori]: Egenolff-Luthersche Schriftgießerei (see note 9), p. 23sq, and idem: Der Buchdrucker Christoph Sauer in Germantown. In: Gutenberg-Jahrbuch 1934, p. 224sq; Nieper : Auswanderer von Krefeld (see note 7), pp. 59, 80–95. 51 Cf. note 28. Along with these older studies such as Seidensticker: Bilder (see note 50), pp. 85–102 and Sachse: German Pietists (see note 26), pp. 77sq, 292sq, cf. especially Durnbaugh: Work and Hope (see note 10), p. 76 sq; Carpenter : Radical Pietists (see note 13), pp. 37sqq., 57 and Hans Schneider: Der radikale Pietismus. In: Der Pietismus vom siebzehnten bis zum frühen achtzehnten Jahrhundert. Ed. by Martin Brecht, Göttingen 1993 (Geschichte des Pietismus, Vol. 1), pp. 391–437, here pp. 397, 424 (cf. p. 320). 52 Cf. Johanna Eleonora Petersen: Anleitung zu gründlicher Verständniß der Heiligen Offenbahrung Jesu Christi […] in ihrem eigentlichsten letzten prophetischen Sinn […], Frankfurt – Leipzig 1696. She compared there the woman “travailing in birth” to the people of Israel before their conversion, who should come to a spiritual new birth through recognizing Christ. Cf. Schmidt: Judentum und Christentum im Pietismus (see note 23), p. 116, with a quotation of the whole passage. The same idea is to be found e. g. in an anonymous Radical Pietist tract from Württemberg, [Amalia Hedwig von Leiningen / Wilhelm Christian Gmelin]: Das Grosse Geheimnis der Offenbahrung JEsu Christi in uns […] allen Menschen dargelegt / […] Christen / Türcken / Juden / und Heyden; Welche der Geist alle einladen läßt zu dem Abendmahl des Grossen GOttes […], n.p. 1712, pp. 98–104.
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The people of Israel will spiritually give birth to Christ, whom they did not know for such a long time, by means of the conversion of the Jews in the last of the days, as the prophets have told us, Isaiah 54, Mic. 5. This, then is truly meant by the new church of Israel. That is why the Holy City shall not be left trampled down for ever, ch. 11:2. […] There will be a hard birth for the people of Israel, for they have been so long embodied in their disbelief. […] Their conversion to the Lord at the end of the days will bring them painful aches. […] But after the Spirit of the Lord will have been poured out over the whole House of Israel, the Gentiles will be given under their reign to be their children and to walk in their light. So cry then, O great Mother, at your age at the end of the days! Return, return, O Shulamite, to your Lord, from whom you once have divorced. Bear the labour pains in all the throes of your new birth! Endure, be of good courage, for your work shall be generously rewarded!53
It was on hearing of this Community of the “Woman in the Wilderness” and of its eschatological expectance that Conrad Beissel became attracted to the prospect of emigrating to the New World. Yet when he arrived, he found that, Kelpius having passed away, the Community was already in a state of dissolution. I shall limit myself here to giving a few examples of Beissel and his own (Ephrata) Community, in order to show the concrete impact that the chiliastic commitment to the leadership of Israel, in the final state of the world, had on the personal and spiritual life of the salvation-seeking German settlers in Pennsylvania before 1750. This impact is well-documented by the historians of this Community in the Chronicon Ephratense of 1786 and as well by Beissel’s own tracts and poetry. As regards Beissel’s pious youth in Germany, the Chronicon mentions some personal contacts with the Jewish community. After his awakening and eager participation in philadelphian circles, it is said that Beissel became wellknown in Heidelberg as a baker who made a special bread, with the result that 53 ‘Berleburg Bible’, VII: Der Heiligen Schrifft Siebender Theil […] mit […] der Offenbahrung Johannis […] – Gedruckt zu Berlenburg […] 1739, p. 338sq: “Das sagen uns nun die Profeten, daß das Volck Israel, nachdem es lange Zeit ohne Christo geblieben, durch die in der letzten Zeit bevorstehende Bekehrung der Juden denselben endlich auch im Geist gebähren würde. Jes. 54. Mich. 5. Also ist es die Israelitische neue Kirche am eigentlichsten. Drum wird also auch die heilige Stadt nicht immer zertreten bleiben […], c. 11,2. […]. Es wird mit dem Israelitischen Volck schwer hergehen in der Geburt, weil sie so lang in dem Unglauben sind beschlossen gewesen […]. Wenn das Jüdische Volck […] sich am Ende der Tage zum HErrn bekehret, so wirds peinliche Geburt=Schmertzen setzen. […] Wenn aber erst der Geist des HErrn über das gantze Haus Israel wird ausgegossen werden, da werden ihm die Heyden zu Kindern gegeben werden, und in seinem Licht wandeln. […] Kreische aber nur du grose Mutter in deinem Alter am Ende der Tage! Kehre wieder, kehre wieder, Sulamith! zu deinem HErrn, den du weiland von dir verstossen hast. Halte aus die Kinder=schmertzen deiner Wiedergeburt in allen deinen Wehen! halte an, sey getrost, es soll dir deine Arbeit wol belohnet werden!” – An anonymous tract “Erfreuliche Entdeckung derjenigen Zeit / in welcher die allgemeine Bekehrung des Jüdischen Volckes erfolgen wird”, s.l. 1737, seems to emanate from the same Berleburg philadelphian circles. In SB Nürnberg it is bound together with a treatise by the mystic Charles Hector Marquis de Marsay (also an anonymous publication): Zeugniß eines Kindes von der Richtigkeit der Wegen des Geistes allhier vorgestellet in der göttlichen […] Magie, [Berleburg] 1737.
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“Christians and Jews ran after him”. After envious competitors had incited his expulsion for reasons of separatism, there was a Jewish wife who tried in vain to obtain permission for him to remain in town.54 This odd anecdote cannot be read as simply a matter of remarking his baking skills. If Jews were so interested in his product, he must have observed strict Jewish dietary rules. This observance of ritual purity according to Jewish law seems already to show that, in his quest for a distinguishing sober life, Beissel, like so many ascetics, sought stronger commandments than those observed by everyday Christians. Later on, in his hermit’s colony in the Conestoga Valley in Lancaster County in 1721, his sudden declaration “to his brothers, that he would now celebrate the Sabbath and would work on Sundays” became the principal reason for the later rupture with the Schwarzenau Dunkers. Indeed, after his publishing of a Booklet on the Sabbath (Büchlein vom Sabbath) in 1728, his Community followed him in this private idiosyncrasy,55 to the extent that the Dunkers warned that, “he even might enroll others into Jewish rites“, such as circumcision, and “warm up Judaism”. Moreover, the Beissel Community’s practice of celebrating the Day of the Lord on Satuday violated Pennsylvanian law. Only a mild non-reaction of the Pennsylvania authorities, accustomed to all sorts of religious peculiarities in this territory, left the new “Community of Seventh Day Dunkers” to its own special cult and thus prevented its founder from becoming a martyr.56 Although a Christian sabbath-attendance had some earlier models among spiritualists in Europe as well as in North America, Beissel, by following this tradition, would soon have to defend himself against some even more fanatic “Judaizing brothers” (“Judaicierende Brüder”), who wanted to mark their own pious eagerness from the rest of the Cloister Community by following kashruth rules of their own: They began to ban pork, but also goose (whose 54 Chronicon Ephratense (see note 14), p. 5sq: “Juden und Christen liefen ihm nach”. On Beissel’s connexion with the “philosemitic” Diehl brothers in this same period cf. above, notes 25 and 47. 55 The printer Sauer seems to disagree with Beissel’s opinion on Sabbath-holding by drawing attention, in the short preface to his Bible edition, to Johann Henrich Reitz’ version of the New Testament that adds to St. Luke 6,5 an apocryphal verse: “On this very day, Jesus saw someone work on sabbath. He spoke to him: Man, if you know what you are doing, so you are saved, but you are damned, if you do so without knowing.” (“An selbigem Tage / sahe er jemand am Sabbath würcken und sprach zu ihm / Mensch so du weisest / was du thust / so bistu selig; so du es aber nicht weisest / so bistu verflucht […]”. Christoph Sauer: Kurtzer Begriff. Von den Heiligen Schrifften und deren Uebersetzungen. Mit etlichen Anmerckungen. In: Biblia, Das ist: Die Heilige Schrift Altes und Neues Testaments, Germantown 1743, p. [III]. Cf.: [Johann Henrich Reitz:] Das Neue Testament unsers Herren JEsu Christi / Auffs neue ausm Grund verteutschet, Offenbach 1703, p. 118. 56 Chronicon Ephratense (see note 14), p. 13: “[…] um welche Zeit er sich gegen seine Brüder erklärte, daß er nun würde den Sabbat feyren und den Sonntag arbeiten“; pp. 23 and 27 on the danger that he might “auch andere in solche Judische Satzungen […] bringen” and “das Judenthum aufwärmen”. Cf. p. 35sq concerning his booklet and the government’s abstention from all suppression, pp. 59 and 250 on the central role of sabbatarian service in the later Ephrata Community.
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feathers might lead to comfort) – and they even proceeded “to mutual circumcision, following the Jewish rite”.57 To strengthen ascetism in the later Ephrata Cloister, Beissel would – aside from his Gichtelian strictures concerning sexual abstinence – prefer to copy Catholic monastic instead of Jewish models by introducing the sharing of property and for a short time even tonsuring of his awakened. In his rejection of the “Judaizing rites” in Ephrata, he even had recourse to angry and stereotypic statements against Jews, going so far as to allude to their participation in the Roman persecution of Jesus.58 An Old Testament typology can be seen in the hope-giving Hebrew names with which were blessed the place of Ephrata itself (Ruth 4:11) as well as its buildings, such as the former main house Kedar (Song of Songs 1:5) which name referred, “for the reason of having been destroyed soon after the first construction, to the Temple in Jerusalem”. Such names had also been given to the earlier hermit colonies such as Massah (Exod. 17:7), Zohar (Gen. 19:22), Hebron (Gen. 35:27), Kadesh (Numb. 13:26) and Mahanaim (Song of Songs 7:1, which directly refers to Shulamite, traditionally a personification of Judaism).59 We all know the dominance of biblical place names, mostly taken from the Old Testament, which abound in many pious settlements all over North America, for example, Amana and Bethlehem, Ebenezer and Lebanon, New Jerusalem, Zion Grove, Zionshill, Zionsville and Zoar, if not simply Paradise. The members of the Cloister were also given, as in Hochmann’s Philadelphian Community, new – and often Old Testament – names (some of which are also currently given to Pietists or Mennonites), such as Abigail and Amos, Ephraim and Ezechiel, Israel, Jephune and Jotham, Lamech and even Melchizedek.60 In the typical “language of Canaan” (“Sprache Canaan”, 57 Ibid., p. 26sq; concerning Sabbath observance after Christian conversion in America cf. Pestana: Liberty of Conscience (see note 20), p. 25sq, as for European Spiritualist’s and Radical Pietists’ observance of Jewish rites (and even conversions) cf. Schrader: Sulamiths verheißene Wiederkehr (1988, L 15), in the present volume pp. 169–204. – Rosenbach: Pennsylvania (see note 17), p. 587 mentions places of tolerance for Jews in regions with a strong Pietist influence in Lancaster County and Lebanon County early in the 18th century. He points out: “The early German Pietists assumed many of the Hebrew customs, and consequently were confounded with the Jews.” 58 In: Zionitischer Weyrauchs Hügel, Germantown 1739 (cf. below, note 67), p. )( 3rsq. 59 Chronicon Ephratense (see note 14), pp. 55, 62, 192. 60 Ibid., e. g. pp. 62, 192, 198, 206; cf. Wust: German Mystics (see note 14), p. 334sq. The choice of the name Melchizedek (reserved for Christ by Hochmann) by the enthusiastic but elusive member Ludovici, a scholar coming from Altona near Hamburg, is certainly regarded as a sign of haughtiness, as it combines the idea of a heavenly virgin state with that of exemplary Melchizedekian priesthood (“das Melchisedeckische Priesterthum und die himmlische Jungfrauschaft”). Nevertheless, the attribution of this name was the highest aim of “Father Peaceful”, the Cloister-founder Beissel himself: Chronicon Ephratense (see note 14), pp. 204–206, 248. – A comparable preferance to baptize neophytes with Old Testament Hebrew names (more often than with Greek names taken from the New Testament) can also be proven with regard to the Moravian mission among Indians. In the Moravian communities of the Schecomeko and
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Chronicon, p. 215) which is common to the Pietist groups, there are often allusions to Jewish thought and rite, which surpass ordinary typological use (such as “ruptures in Zion”, “Zions=risse”, Chronicon, p. 52), but is virtually incomprehensible today. The attraction that led Beissel to emigrate to America and that led the hermits, gathering around Kelpius, to wait for the end of time, is represented by an image in Beissel’s Epistles, from which the Chronicon cites: America can see a flourishing lily, her smell will be heard among the Gentiles. […] The light radiating to the evening will extend its shine to the morning: […] then Jacob will be happy, and Israel will enjoy.61
What seems to be a simple typological carrying over of biblical formula to the group of awakened Christians who settled in the New World, expresses once again a concrete expectation of the common assembly of the Jews and Christians entering into the Messianic Kingdom. The flourishing lily is regarded as the apocalyptic ‘Woman in the Wilderness’, bearing the new Israel. And the formula “the light radiating to the evening” (Zech. 14:7) corresponds precisely to the title given to a tract Or l’et erev, written by Jochanan Kimchi (i. e. Johannes Müller, translating his name to Hebrew) and distributed in Hebrew by the Halle Pietists in order to prepare the Jews for this last gathering. So the joy of Jacob and Israel is again the promised delight that will join together the awakened, Jews and Christians.62 The same bundle of apocalyptical ideas, often given in forced typological metaphors in the language of Canaan, reappears in many variations in the hymnals of the Ephrata community, wherein the mystical poetry of Conrad Pachgatgoch tribes, to which belonged brothers such as Abraham, Isaac, Jacob and Gideon, we find baptismal names such as Abigail, Bathseba, Debora, Eva, Hanna, Naemi, Thamar, Zipora, Benjamin, Boas and Jephta: Diarium der Heyden=Boten unter den Indianern in Schecomeko. In: Büdingische Sammlung Einiger in die Kirchen=Historie einschlagender […] Schrifften. III 14, Büdingen 1744 (Reprint: Nikolaus Ludwig von Zinzendorf: Ergänzungsbände zu den Hauptschriften. Vol. 9, Hildesheim 1966), pp. 266, 277, 280. 61 Chronicon Ephratense (see note 14), p. 10: “Amerika siehet eine Lilie blühen, ihr Geruch wird unter den Heyden erschallen. […] Das Licht gegen dem Abend wird einen Schein setzen gegen dem Morgen: […] alsdann wird Jacob fröhlich seyn, und Israel sich freuen.” 62 For Jochanan Kimchi and his tract Le-Hair aini Israel. Or l’et Orev (Light for the Evening time: To lighten the eyes of Israel), Halle 1728 (German translation 1730) cf. Schmidt: Judentum und Christentum (see note 23), pp. 104sq, 113; Schrader : Sulamiths verheißene Wiederkehr (1988, L 15), in the present volume p. 188 (note 57) and particularly Christoph Rymatzki: Johann Müllers Licht am Abend. Ein Beitrag zur Charakterisierung der theologischen und geistesgeschichtlichen Ausrichtung des Instituts anhand seiner bedeutendsten Missionsschrift. In: Von Halle nach Jerusalem. Konferenzbeiträge. Ed. by Eveline Goodman-Thau and Walter Beltz, Halle – Wittenberg 1994 (Hallesche Beiträge zur Orientwissenschaft, Vol. 18), pp. 66–77. Beissel alludes to this image (also quoted in Chronicon [see note 14], p. 10) as representing his new homeland America in the Preface to the “Weyrauchs Hügel” (see note 67), p. )( )(1v : “diesen von Anfang her verworffenen Welt=theil noch als zuletzste mit einem erfreulichen Abend=Schein begnadigt”.
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Beissel is dominant.63 To complete the present study, I shall give here only a limited number of examples, taken from the rare copies which are also preserved in the Penn State Pattee Library. Ubiquitous in these song books are allusions to the Philadelphian Brotherhood, in which the Jews must be included. It is owing to the signal, always to be ready for the reappearance of the Lord, the “cry at midnight”, Matth. 25:6, that the parable of the wise and foolish virgins is often apostrophized. Thus, these songs look to the future gathering in the Heavenly Jerusalem (or Salem, or Zion), which can be seen to be already prepared for on earth in the Philadelphian Communion, as well as to the splendour and glory of the coming Kingdom, which eternally will unify the rejoicing chosen throng of Christians, Jews and Heathen. The titles of and the prefaces to the early hymn-books already announce this hopeful program. The first one, Beissel’s Vorspiel der Neuen-Welt (Prelude to the New World, printed 1732 by Benjamin Franklin in ‘English’ Antiqua types) introduces itself on its title-page as a “voice of the watchmen to all the children of God, who are still scattered, to come together and prepare themselves for the coming marriage of the lamb”. The preface announces “Peace to all inhabitants of Zion and to all the citizens of Jerusalem” – expressions that always signify typologically the Christians and the Jews as one.64 In the song About real faith and unfalsified brotherly love (LXXVI, 124) the singing soul invites together all those, who are “born from the seed of Abraham, who are planted with me to heavenly life” (CI, 164).65 63 To illustrate how far this ‘Canaanite language’ could be mingled with biblical Hebrew names and terms, I quote here an odd verse out of a song in the Ephrata “Weyrauchs Hügel” (see note 67), p. 513 (song 451: STarcker Immanuel, v. 6). It deals with a typological transfer of Israel’s liberation by Gideon from the Midianites (Judges 8) on to the Pietist and Mennonite awakening in North America (and even leads its author to lose the grammatical coherence of his phrase, rendering the poem untranslatable): “Laß die zu Sucoth und Pnuel nur spotten, jj Sebah Zalmuna, und wer sie auch sind, jj müssen mit allen philistrischen Rotten, jj Moab und Ammon und Edoms Gesind, jj werden die Adama dort und Ziboim, jj Babel bewohnet von Zihim und Ohim.” Cf. regarding the distinguishing language of the Pietist circles, Schrader: Die Sprache Canaan, Auftrag der Forschung (2005, L 38), in the present volume pp. 233–260. An analysis of Beissel’s songs, which are often strong in expression but tiring in their superfluous length, endless repetitions and imitative stereotypes, is given by Schrader: Conrad Beissels Ephrata-Gemeinschaft (2006, L 41), in the present volume pp. 547–574. 64 Vorspiel der Neuen-Welt. Welches sich in der letzten Abendroethe […] hervor gethan […] als Ernstliche und zuruffende wächterstimmen an alle annoch zerstreuete Kinder Gottes, das sie sich sammlen und bereit machen auf den baldigen; Ja bald hereinbrechenden Hochzeit-Tag des Lamms. [ – ] Zu Philadelphia: Gedruckt bey Benjamin Franklin […] 1732. The title page is given in facsimile in Julius Friedrich Sachse: The Music of the Ephrata Cloister, Lancaster 1903, p. 35; cf. idem: Sectarians [I.] (cf. note 7), p. 186. Cf. the preface of the “Vorspiel”, p. A2r : “Es seye nun friede bey allen Einwohnern in Zion, und allen burgern zu Jerusalem.” 65 Vorspiel der Neuen-Welt (see note 64), p. 124: “Von der wahren treu und unverfälschten bruder-liebe”; p. 164: “Die ihr seyd gebohren aus Abrahams saamen, jj Und mit mir gepflantzet zum göttlichen leben”. Cf. song IV, 13 “Das neue reich bricht nun herfüre, jj Da alles voller freud
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Beissel’s following hymnal, Jacobs Kampff- und Ritterplatz (Jacob’s Knight- and Fighting place), still printed by Franklin in 1736, is dedicated on the title page “to the tender awakening of those, who long for the salvation of Jerusalem” – (“Zur Gemüthlichen erweckung derer die das heil Jerusalems lieb haben”). Even more songs are concentrated “in this last hour of the world” (preface, p. 3) on “The Hope of Zion, that can be seen prepared in the Philadelphian Community” (p. 29): “Israel is entering now into the inner Sanctuary” (p. 34) – and Ephrata recommends herself as a meeting camp on the path to Salem (p. 32sq).66 We find the idea of the imminent assembly of the Christian, Jewish and Heathen Communities briefly and most impressively summarized in a verse of the third Ephrata hymn book of 1739, entitled from the Song of Songs 4:6, Zionitischer Weyrauchs Hügel Oder : Myrrhen Berg […] Zum Dienst Der in dem Abend=Ländischen Welt=Theil als bey dem Untergang der Sonnen erweckten Kirche GOttes, und zu ihrer Ermunterung auf die Mitternächtige Zukunfft des Bräutigams ans Licht gegeben (Zionite Hill of Francincense. Or : Mountain of Myrrh […] To serve the Church of God, that had been awakened in Occident at Sunset-Time, given to Light to rouse her before the Coming of the Bridegroom at Midnight) – the first one printed on Sauer’s press and, with its 818 pages, the first major book printed in North America in Old German ‘Fraktur’-type. To conclude, I wish to quote this verse: Der zum Heyland war erkohren, und dem Abraham geschworen Israelis Kron und Sonn, aller Heiden Trost und wonn, stehet nun in unsrer mitten kommt gen Zion sanft geritten. Hallelujah : / :67
He, the chosen Saviour, Promised to Abraham, He, the crown of Israel, He, the Gentiles’ great delight, Will now stand among us all, Gently riding to Zion. Praise ye the Lord : / :
wird seyn. jj Es öffnet sich die güldne thüre, jj Wo Jesus bald wird führen ein, jj Die heilige zahl, jj Zum hochzeit-mahl”. 66 Jacobs Kampff- und Ritter-Platz allwo Der […] geist der in Sophiam verliebten seele mit Gott um den neuen Namen gerungen […]. Zur Gemüthlichen erweckung derer die das heil Jerusalems lieb haben […]. – Zu Philadelphia, gedruckt bey B.[enjamin] F.[ranklin] 1736 (Penn State Pattee Library, [copy annexed to the Vorspiel] Rare Books 094. 9P53 1732v), p. 3: “in dieser letsten Stunde der welt”; p. 29: “Von der Hoffnung Zions, und der im vorspiel herein brechenden philadelphischen Gemein und treuen bruder lieb.” (cf. pp. 30, 42, 47); p. 34: “Als dan wird Israel zum lob bewogen, jj Und dienet ihm mit ehr und danckbarkeit, jj Betrachtet seine wunder früh und spat, jj Und gehet ein ins innre heiligthum”. Cf. for this hymnal Sachse: Sectarians [I.] (cf. note 7), p. 318. 67 Zionitischer Weyrauchs Hügel, Germantown: Gedruckt bey Christoph Sauer. 1739, p. 3: v. 4 of the song “Auf! auf! weil der Tag erschienen”. – Cf. for this hymn book, mostly derived from the favourite hymnal of the Inspirationists, Kleines Davidisches Psalterspiel, Seidensticker : Ephrata (see note 14), VI, p. 11; Sachse: Sectarians [I.] (see note 7), pp. 312sqq, 321–329.
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Neither Beissel nor his separatist and Dunker brothers, such as Kelpius, Sauer, Mack and Becker, seem to have met any practising Jews or Jewish communities following their arrival in the New World. Out of these groups, the only person from whom we hear about a synagogue visit around 1734 in the city of New York, where a Jewish community already existed in those years, was a Frenchspeaking Swiss, Jean-FranÅois Regnier (Reynier). This man from Vevey on the Lake of Geneva, still known as the author of two or three hymns in the Herrnhut hymnal, is described by the Chronicon Ephratense as a fanatic, seeing himself as a New Elijah. After having caused troubles in Ephrata, he is said to have undertaken an apostolic journey with a comrade named Gemähle to do missionary work throughout the land, “where they have aroused great agitation, especially in New York in the synagogue; so vigorous is seduction”. After this episode, Regnier is said to have wandered through the deserts to Georgia, then traveled back to Europe, where he joined the Moravians and enrolled himself in their St. Thomas mission in Africa. Finally, he came back to North America, to Ephrata, and died in Georgia.68 Though this wandering missionary seems to have been one of the ascetic seekers of spiritual health in preparing the last of the days, his obviously foolish New York action can scarcely be considered as a sign of hope and of collaboration among Christians and Jews in the history of colonial North America. But, in the documents of Radical Pietists in this country, the frequent speculative regard for the noble role which the Lord had reserved for His people throughout the time to come, the philadelphic conviction of enrolment in the Book of Life as true believers, peers of the Jews, and finally the hope to enter Zion under their leadership, evidences that Hochmann’s dream had 68 For this account of Regnier’s activities among the pious of all creeds on both sides of the ocean cf. Chronicon Ephratense (see note 14), p. 55sq: “Er hat sich hernach mit einem, Gemähle mit Nahmen, eingelassen, der hat ihn getauft, und sind sie darauf durchs Land als Apostel gezogen, da sie aller Orten, sonderlich in Neu=Jorck in der Juden=Schule, groß Aufsehen gemacht; solche Kraft hat die Verführung. […]”. – More information on his biography is given by Gudrun Meyer, geb. Hickel: Verfasserverzeichnis zum Herrnhuter Gesangbuch von 1735. In: Nikolaus Ludwig von Zinzendorf. Materialien und Dokumente 4/III/III, Herrnhuter Gesangbuch: Zugabe, Hildesheim – New York 1981, p. 54sq: “Reynier (Regnier), Johann Franz (1712 Vevey – nach 1747 in Savannah). Arzt. 1728 Auswanderung nach Pennsylvanien, 1734 zu Beisselianern, geisteskrank. Nach Genesung besuchte er 1735 Spangenberg in Georgien, reiste 1739 nach der Wetterau, um Zinzendorf und die Gemeine richtig kennenzulernen, 1740 Berufung nach Suriname. 1742 zur Erholung nach Bethlehem, Pa., überwarf sich mit Brüdern, 1734 Trennung von der Brüdergemeine.” The rather enthusiastic song contributions to the Herrnhuter Gesangbuch: Christliches Gesangbuch der Evangelischen Brüder-Gemeinen von 1735, Anh. X, are n81554 (“DEr vernunfft ists unbegreiflich, wie das Lamm die sünder führt“, p. 1432sq), n81612 (“MEin Heyland, ich bitt dich kindlich”, p. 1501sq), and perhaps n81539 (“DEin nahme muß bekannt werden”, p. 1409). Zinzendorf. Materialien und Dokumente 4/III/II, Herrnhuter Gesangbuch: Teil II (Anh. I–XII), Hildesheim – New York 1981. – The awakening activities of Regnier / Reynier and his wife Maria Barbara, n8e Knoll, whom he had married in the Moravian settlement of Marienborn in Wetteravia, are investigated by Aaron S. Fogleman: Two Troubled Souls. An Eighteenth Centuty Couple’s Spiritual Journey in the Atlantic World, Chapel Hill, N.C. 2013.
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come to fruition in the minds across the Atlantic. Certainly, in colonial North America likewise existed all the authorized churches and the communities that were in Europe, and they all brought with them their missionary and baptizing convictions. Moravians e. g. would continue in the New World their Christianizing work. But the relative sizes of the religious groups in Europe were not flatly reproduced in the same proportions on the new continent. What had been a “philosemitic” undercurrent in German Pietist thinking – a lost opportunity, as unfortunately it was soon forgotten –69 did in fact succeed in exercising a strong influence on the American state of mind at a time of significant historical importance for the country. Thus, this brighter moment in the dark history of Christian–Jewish relations in Europe has perhaps not been totally lost in the New World and may have opened – even until today – a door to less prejudice and greater tolerance.
69 Cf. the article (signed jrg/h): Juden und Christen. Vertane Chance. In: Göttinger Tageblatt, July 6, 1988, “Hochschule und Wissenschaft”. Today, it is above all the new-Pietist circles who, since their turning to a strict conservatism in the early 19th century, have caused much trouble in German protestantism as well as in the Jewish community by their stubborn insistance on missionary conversion activities. See concerning this ‘overturn of coalitions’ the volume: “Räumet die Steine hinweg”. Beiträge zur Absage an die Judenmission. Ed. by Siegfried von Kortzfleisch und Ralf Meister-Karanikas, Hamburg 1997, in particular pp. 119–161 (Klaus Schäfer : Die Evangelische Kirche und das Judentum seit 1945 – and the documentation: Absage an die Judenmission); as a very brief survey Pnina NavH Levinson: Kirche und Synagoge. Der schwierige Dialog zwischen Juden und Christen. In: Jüdische Lebenswelten. Essays. Ed. by Andreas Nachama [et al.], Frankfurt, 3rd ed. 1992, p. 137sq. Regarding the confrontation (and affront to Jewish delegates) over this issue on the 1999 Kirchentag (a biennial nation-wide protestant assembly) cf. the report by Stephan Cezanne: Messias zwischen allen Stühlen. Streit um die Judenmission ist auf dem evangelischen Kirchentag in Stuttgart neu entbrannt. In: Evangelischer Pressedienst. epd-Wochenspiegel 25 (1999), p. 5 (Kirchentag). Today it is the anti-Pietist group “Arbeitsgemeinschaft Juden und Christen” that works in favour of the idea that “in order for Jewesses and Jews to receive salvation, it is not necessary that Jesus is proclaimed to them as the Messiah”, whereas the missionary activities today of new-Pietist structures like the “Evangeliumsdienst für Israel” constitute, to the contrary, “a new instrument” to destroy Judaism (ibid.). As for these new-Pietist conversion activities to create “messianic Jews, believing in Christ” (‘Israelische Bibelgesellschaft’) cf. the article: Die Bibel mit anderen Augen gesehen. Die messianisch-jüdische Bewegung in Israel. In: Bibelreport 3 (1998), p. 11.
Die Sprache Canaan, Auftrag der Forschung [2001, L 38]
Es gibt vielerlei Sprachen in der Welt, und nichts ist ohne Sprache. Wenn ich nun die Bedeutung der Sprache nicht kenne, werde ich ein Fremder sein für den, der redet, und der redet, wird für mich ein Fremder sein. 1Kor 14,10 f.1
Seinen Romanerstling Buddenbrooks wollte Thomas Mann verstanden wissen als ein exemplarisches „Stück der Seelengeschichte des deutschen Bürgertums […], zugleich ein überdeutsch-europäisches Buch, ein Stück Seelengeschichte des europäischen Bürgertums überhaupt“.2 Den Umschlag in der häuslichen Atmosphäre zwischen der zweiten und dritten Generation seiner großbürgerlichen Kaufmannsfamilie aus nüchterner Tätigkeit in ein anempfundenes und halbherzig nachgespieltes religiöses Muckertum charakterisiert er im V. Teil zu Beginn des fünften Kapitels, nach dem Tod des bereits pietistisch weltabgewandten Konsuls Johann Buddenbrook, durch ein vom Erzähler in genüßliche Ironie gebettetes literarisches Zitat. Bei einem von der Gattin des Verstorbenen verordneten Hausgottesdienst (einem ersten „Jerusalemsabend“) muß der ganze Hausstand die so genannte „Rabenaasstrophe“ mit-
1 Zitiert im aktuellen Revisionswortlaut: Die Bibel Nach Martin Luthers Übersetzung. Lutherbibel revidiert 2017 mit Apokryphen, Stuttgart 2017, S. 203, einem typischen Beispiel, wie hier der geistvoll-körnige Luther-Wortlaut (selbst noch der Vorgängerausgabe von 1967) in Annäherung an die Alltagssprache banalisiert wurde. In pietistischer Revision lauteten die Verse „Zwar es ist mancherley art der stimme in der welt, und derselben ist doch keine undeutlich. So ich nun nicht weiß der stimme deutung: werde ich unteutsch seyn dem, der da redet; und der da redet, wird mir unteutsch seyn.“ BIBLIA, Das ist: Die ganze Heil. Schrift […] Nach der teutschen Uebersetzung D. Martin Luthers […] Nebst der Vorrede des seligen Herrn Consistorialraths D. Gotthilf August Franckens. Die dritte Auflage. Halle, zu finden im Wäysenhause, 1771, S. 209. – Der vorliegende Hauptvortrag, den ich am 30. August 2001 zum I. Internationalen Kongreß für Pietismusforschung im Freylinghausen-Saal der Franckeschen Stiftungen zu Halle gehalten habe, bot in gekürzter Form auch die Grundlage meines Handbuchartikels: Schrader: Die Sprache Canaan. Pietistische Sonderterminologie (2004, L 35), S. 404–427. Vgl. zum ursprünglichen Tagungsanlaß Friedemann Voigt: In der Sprache Kanaans. Der erste Internationale Kongress für Pietismusforschung in Halle. In: Süddeutsche Zeitung, 5. Sept. 2001. 2 Thomas Mann: Lübeck als geistige Lebensform (1926). In: Ders.: Gesammelte Werke in 13 Bänden, Bd. 11: Reden und Aufsätze, Bd. 3, Frankfurt – Stuttgart, 2. Aufl. 1974, S. 376–398, hier S. 383.
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singen, die in wunderlichen Worten eine tiefe Bußzerknirschung bekunden soll: Todesfälle pflegen eine dem Himmlischen zugewandte Stimmung hervorzubringen, und Niemand wunderte sich, aus dem Munde der Konsulin Buddenbrook nach dem Dahinscheiden ihres Gatten diese oder jene hochreligiöse Wendung zu vernehmen […]. Eines Morgens – es war gerade ein fremder Prediger bei Buddenbrooks zu Gast – war man genötigt, zu einer feierlichen, glaubensfesten und innigen Melodie die Worte zu singen: „Ich bin ein rechtes Rabenaas, Ein wahrer Sündenkrüppel, Der seine Sünden in sich fraß, Als wie der Rost den Zwippel. Ach Herr, so nimm mich Hund beim Ohr, Wirf mir den Gnadenknochen vor Und nimm mich Sündenlümmel In deinen Gnadenhimmel!“ … worauf Frau Grünlich vor innerlicher Zerknirschung das Buch von sich warf und den Saal verließ.3
Daß dieses übernommene Lied, an dem nur die ironische Semantisierung der beigelegten Melodie Glaubensfestigkeit suggerierte, in einem zu Kirchen- und Hausgesang bestimmten „Buch“ gar nicht zu finden war, hat Thomas Mann bei der Ausarbeitung (seit 1897) und vor Erscheinen seines Romans (1901) durchaus schon wissen können, wenngleich manche Buddenbrooks-Interpreten es bis heute als Beispiel für „volkstümliche Kirchenlieder“ ausgeben.4 Seit ihrer hinsichtlich der Echtheit bereits skeptischen Erwähnung 1893 im Grimmschen Wörterbuch5 hatte nämlich die später bis zur Ehre eines eigenen 3 Thomas Mann: Buddenbrooks. Verfall einer Familie. Hg. und textkrit. durchges. von Eckhard Heftrich […], Frankfurt 2002 (Große kommentierte Frankfurter Ausgabe, Bd. 1.1), S. 303–305. 4 Vgl. in einer die Spezialforschung kundig resümierenden Basisinterpretation Georg Wenzel: Buddenbrooks. Leistung und Verhängnis als Familienschicksal. In: Thomas Mann. Romane und Erzählungen. Interpretationen. Hg. von Volkmar Hansen, Stuttgart 1993 (Reclams UniversalBibliothek, Bd. 8810), S. 11–46, hier S. 39. 5 Der Artikel „Rabenaas“ in: Jacob Grimm und Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch, Bd. 8, Leipzig 1893 (ND München 1984, Bd. 14), S. 7 f., gibt Wortbelege seit dem frühen 17. Jahrhundert in der Bedeutung „aas für raben, […] caro morticina“, v. a. aber „als grobes schimpfwort“, insbes. mit frauenfeindlichem Beiklang, etwa auch im Reden von Dramenpersonen Lessings („Der junge Gelehrte“) oder Schillers („Kabale und Liebe“). Am Schluß geht er ein auf die Rabenaasverse (und die bereits acht Jahre zuvor veröffentlichten Zweifel an ihrer Echtheit) in der damals spottweise allbekannten vermeintlichen Gesangbuchstrophe: „ob die vielangeführten verse eines angeblichen kirchenliedes: ich bin ein echtes rabenaas, ein wahrer sündenknüppel, echt oder ob sie spottverse seien, die man die sprache der kernlieder übertreibend gemacht habe,
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RGG-Artikels gelangte „Rabenaasstrophe“6 bereits mancherlei Forscherfleiß in Bewegung gesetzt. Als Urheber der erstmals 1840 ohne Verfasserangabe als vorgebliches Musterstück „aus einem alten Gesangbuche“ publik gemachten Mystifikation7 gilt Friedrich Wilhelm („Lupus“) Wolff, ein Freund von Karl steht noch immer nicht fest, vgl. blätter für hymnologie 1855 s. 179 ff.; die gröszte wahrscheinlichkeit hat die letztere annahme.“ 6 Peter Klemm: „Rabenaasstrophe“. In: Religion in Geschichte und Gegenwart. 3. Aufl., Bd. 5, Tübingen 1961, S. 760. Nach diesem Artikel wurden die Fakten und Wege der Forschung am gründlichsten nochmals zusammengetragen in dem (mir liebenswürdig von Günter Balders zugänglich gemachten) Aufsatz von Konrad Ameln: Über die „Rabenaas“-Strophe und ähnliche Gebilde. In: Jahrbuch für Liturgik und Hymnologie 13 (1968), S. 190–194, der auch den Diskussionszusammenhang des Gesangbuchstreits um rationalistische Bereinigungen des Kirchenliedguts umreißt. Die Herkunft der Strophe war schon von J. Müller-Zehlendorf in der Kreuzzeitung vom 13. Februar 1894 aufgedeckt worden, vor Erscheinen von Manns Roman folgte der Quellennachweis von Georg Hoffmann im Korrespondenzblatt des Vereins für die Geschichte der evangelischen Kirche Schlesiens 4 (1898/99), H. 1 und 2, zufolge des Grimm-Artikels (wie Anm. 5) außerdem: Christliche Welt 13 (1899), S. 42 f.; Albert Fischer: Hymnologische Mitteilungen. In: Siona. Monatsschrift für Liturgie, Hymnologie und Kirchenmusik 17 (1892), S. 213–216, hier: S. 214. 1901 wurde für ein Auffinden der weiterhin behaupteten Repräsentanz des Liedes in evangelischen Kirchengesangbüchern sogar ein Preis ausgesetzt, doch erwiesen sich alle eingesandten Nachweise als irrig. Vgl. Wilhelm Nelle: Die Rabenaasstrophe und einige andere Seeschlangen. In: Die Reformation 26 (1902), S. 358–365. – Paul Derks: Raabe-Studien. Beiträge zur Anwendung psychoanalytischer Interpretationsmodelle. Stopfkuchen und Das Odfeld, Bonn 1976 (Abhandlungen zur Kunst-, Musik- und Literaturwissenschaft, Bd. 203), S. 175, irrt zwar mit seiner die weit ältere Worttradition mißachtenden Ableitung der Raabeschen „Odfeld“-Rede von „Rabenäsern“ aus dieser Strophe, weist aber bereits auf deren Aufnahme auch im Herrnhuter-Roman von Herman Anders Krüger, „Gottfried Kämpfer“, hin. 7 Schlesische Provinzialblätter, 112, 10. Stück, Oktober 1840 (Mikrofiche-Reprint Hildesheim 1995), S. 359–362 unter der Verfasser-Sigle † als Fußnote zu S. 162 „den Freunden körniger und kerniger Poesie“ zugeeignet. Damit ist die Parodie, vorgeblich als „aus einem alten Gesangbuche eine Probe“ (S. 161), abgesetzt von den im Artikel mitgeteilten authentischen Belegen sprachlicher Verstiegenheiten („Kraft= und Saftausdrücke“), etwa aus Herrnhuter Gesangbüchern. Der durchaus ironisch getönte Artikel endet mit dem Satz: „Der Herr siehet das Herz an. Den Vernünftigen aber wolle man nicht zumuthen, solche Lieder zu ihrer Erbauung in der Kirche mitzusingen, oder man wolle nicht länger über ihre Unkirchlichkeit Klage führen.“ (S. 362) – Vgl. die näheren Aufschlüsse, auch über Friedrich Engels’ Bezeugung der Verfasserschaft seines Freundes, bei Nelle (wie Anm. 6) und bei Ameln (wie Anm. 6), S. 191 f. Dort ist, S. 190, auch die ursprüngliche Textform wiedergegeben, die ich nach dem Originaldruck zitiere: „Ich bin ein rechtes Rabenaas, ein wahrer Sündenknüppel, der seine Sünden in sich fraß so wie der Rost die Zwibbel. Herr Jesu, nimm mich Hund beim Ohr, wirf mir den Gnadenknochen vor und schmeiß mich Sündenlümmel in deinen Gnadenhimmel.“ Auf der Grundlage dieser beiden Aufsätze beruht, mit zusätzlichen wirkungsgeschichtlichen Informationen, auch der Stellenkommentar in: Thomas Mann: Buddenbrooks. Kommentar von Eckhardt Heftrich und Stephan Stachorski […], Frankfurt 2002 (Große kommentierte Frankfurter Ausgabe, Bd. 1.2), S. 311 f. Thomas Mann macht also aus dem überlieferten „Sündenknüppel“ einen „Sündenkrüppel“.
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Marx und Friedrich Engels.8 Was zufolge der Nonsense-Fügungen von der rostzerfressenen „Zwibbel“ (bzw. des an Zwirbel, Rotierkreisel, gemahnenden „Zwippel“) und dem „Gnadenknochen“ für den „Sündenlümmel“ wohl eher als freisinniger Ulk anzusehen ist denn als eine ernsthaft antireligiöse Propaganda aus dem Geist des Kommunismus, das hat in seiner Hochtreibung von wohlgetroffenen Charakteristika einer pietistischen Sondersprache zunächst vielen kopfschüttelnd Amüsierten offenbar für echt erscheinen können. Die dem Mitsingenden in den Mund gelegte Selbststilisierung des Ich dieser Verse zum Schwärzesten aller Sünder (in pietistischen Selbstzeugnissammlungen mit ähnlich krassen Metaphern belegbar als „Leib der Sünden“, „ich armer stinkender Wurm“, „Sack voll Dreck und ein Aas voll Würm“)9 hätte ja durchaus christlich-fundamentalistischem Jargon entstammen können,10 ebenso wie die dort geläufigen „Sünden“- und „Gnaden“-Komposita (etwa „Sünden Unflat“ oder „Sünden=Haß“, „Gnaden=Erscheinungen“, „Gnaden=Gab“ oder „Gnaden=Funcke“)11 oder auch die Verwendung von 8 Vgl. über die publizistische Tätigkeit des Schlesiers für den „Bund der Kommunisten“ etwa Jenny Marx’ Brief an Adolf Cluß vom 28. Oktobert 1852. In: Karl Marx und Friedrich Engels: Ausgewählte Briefe. Besorgt vom Marx–Engels–Lenin–Stalin-Institut beim ZK der SED, Berlin 1953, S. 88 f., Kurzbiogramm ebd., S. 623. Bereits in dem an den Sohn Friedrich gerichteten Brief des Johann Caspar Engels vom 9. April 1818, der in der für diesen Briefwechsel charakteristischen Weise geschäftliche, religiöse und politische Belange in pietistischen Sprachformeln verquickt, werden familiale Kontakte zu den Herren Wolff in Breslau erwähnt, vgl.: Die Herkunft der Familie Engels. Briefe aus der Verwandtschaft 1791–1847. Hg. von Michael Knieriem, Trier 1991 (Schriften aus dem Karl-Marx-Haus, Bd. 42), S. 314. 9 Zitate aus: Reitz: Historie Der Wiedergebohrnen. Neudruck (1982, L 2), Bd. 2, Teil V [1717], S. 163 (Joost van Oudenrief), Bd. 3, Teil VI [1730], S. 155 (Johann Köhler) und Bd. 2, Teil IV [1716], S. 102 (Laurentius Homma) – Vgl. schon den Titel von John Bunyans weit über den englischen Puritanismus hinaus breitenwirksamem Selbstbekenntnis-Muster von 1666 „Grace abounding to the Chief of Sinners“. Dazu (mit Lit.) von K[laus] E[nsslen]: Art. „Grace abounding“. In: Kindlers Neues Literatur Lexikon. Studienausg. Hg. von Walter Jens, Bd. 3, München 1988, S. 368 f. 10 In der Tat vermag bei Herman Anders Krüger : Gottfried Kämpfer. Ein herrnhutischer Bubenroman in zwei Büchern [1904], 23. – 28. Tsd., Hamburg 1910, S. 98 f. (6. Kap.: „Der Bundesvers“) die arglistig vom Totengräbersohn „Ibikus“ unter die „von dem etwas schwierigen Gedankengang und dem überladenen Bilderschmuck der Zinzendorfschen Poesie“ überforderten Klassenkameraden geschmuggelte Rabenaas-Strophe (in der Wortform der Erstveröffentlichung der Schlesischen Provinzialblätter von 1840 und mit entsprechendem Fußnotennachweis; [wie Anm. 7]) die pubertierenden Knaben ernsthaft irrezuleiten und zieht so ein schweres Strafgericht über ihre Köpfe zusammen. – Die Problematik, zugleich aber auch komparative Aufschlußkraft des Begriffs „Fundamentalismus“ für rigide Strömungen oder Tendenzen innerhalb der pietistischen Religiosität, reflektiert zur Eröffnung einer notwendigen Debatte Hartmut Lehmann: Einführung. In: Glaubenswelt und Lebenswelten. Hg. von Hartmut Lehmann, Göttingen 2004 (Geschichte des Pietismus, Bd. 4), S. 11 f. (im Abschnitt „Probleme und Aufgaben der Pietismusforschung“). 11 Vgl. Reitz: Historie Der Wiedergebohrnen. Neudruck (1982, L 2), Bd. 3, Teil VI [1730], S. 236 (Margareta Breyer), Bd. 1, Teil II [1701], S. 131 (Schlußlied zur Historie Hans Engelbrechts), Bd. 1, Teil III [1701], S. 229 (Samuel Schumacher), Bd. 2, Teil V [1717], S. 14 (Johannes Jessenius), Teil VI [1730], S. 78 (Armelle Nicolas), vgl. ähnlich Bd. 1, Teil I [1698], S. 50 (H. W.: „Gnaden=Gaben“) oder Bd. 3, Teil VI, S. 57 (Georg Joachim Tradel: „Gnaden=Leben“).
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gemeinsprachlich unbekannten Wörtern und eine hemmungslose Lust am Allegorisieren. Eine zur Rabenaasstrophe weithin analoge Bildlichkeit präsentiert etwa die Reitzsche Historie Der Wiedergebohrnen, die ich als ein exemplarisches Sammelbecken der unterschiedlichen Richtungen und Tendenzen pietistischer Traditionen, Sondertheologien und -terminologien im folgenden häufiger zum Beleg aufrufe. In der Musterbiographie Theodor Undereycks, des Gründers des reformierten Pietismus, heißt es da: so ist auch bald aus dieser Todes=Angst der Wiedergeburt / gleich wie aus einem Löwen=Aaß / ein gantzer Bienen=Schwarm tröstlicher Gedancken und süsser Empfindungen in seinem Hertzen gebohren worden / da die Utrechtische* Barnabä oder Söhne des Trostes [* Lodenstein und Montanus] ihm freundlich anwiesen / wie die grosse und billigste Furcht des Todes samt aller ihrer Bitterkeit zu vertreiben sey / Wann man nur sich selbst / und der Welt / und der Sünden von Hertzen abstirbt / und den vollkommen in sich leben und würcken läßt / der durch den Tod den Tod getödtet […].12
Mit solcherlei Beispielen hatten die Glaubenswächter der lutherischen Orthodoxie im frühen 18. Jahrhundert, wollten sie pietistische Denk- und Redeweisen brandmarken und der Lächerlichkeit preisgeben, nicht einmal parodistische Erfindung oder Verfälschung nötig. Eine maliziöse Zitatenkollage aus geschickt gewählten oder kompilierten Originaltexten reichte aus, um bei einer nichtpietistischen Leserschaft Heiterkeit zu erregen und so das Reden und Schreiben der Frommen ohne jeden Kommentarbedarf ad absurdum zu führen. In dieser Absicht stellen Valentin Ernst Löschers Unschuldige Nachrichten 1733 zur Rezension des IV. Teils jener Historie passagenweise bloß süffisante Paraphrasen und wörtliche Zitate aus dem besprochenen Buch aus: p. 194 lesen wir folgendes Epitaphium: Hier der erlauchte Jacob Brill Ein wahrer Israelite lieget, Dem nichts gefiel als Gottes Will, Der mit demselben war vergnüget. Es starb dis Schaf lang vor dem Tod, Und wuchs im Leben immer weiter […]13 12 Ebd., Bd. 1, Teil III [1701], S. 143 (X. Historie von Theodoro Undereik / Predigern zu Bremen). 13 Fortgesetzte Sammlung von Alten und Neuen Theologischen Sachen [= Unschuldige Nachrichten], Leipzig 1733, S. 257. Der (freilich als eine Oberflächenübersetzung aus dem Holländischen besonders ungefüge) Originaltext in der „Historie Der Wiedergebohrnen“, Neudruck (1982, L 2), Bd. 2, Teil IV, S. 194, bringt durch die „christliche Orthographie“ (etwa der mit Doppelkapitale einsetzenden „GOttes“- oder „JEsus“-Apostrophen), durch penetrante NamensAllegorie, die im Nachrufgedicht ausgeführten Tod–Leben-Paradoxien oder die insbesondere im radikalen Pietismus und bei den Inspirierten verbreitete Marotte, zwischen Schweifklammern wahlweise auszusprechende, doch gleichzeitig zu bedenkende Begriffe oder Argumente in
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In der antipietistischen Polemik signalisiert die dunkle, unklare oder verführerische Exklusivsprache der Erweckten ihre Abweichungen auch in der Glaubenslehre. Allgemein bemängelt wird da eine zweiffelhafftige oder undeutliche Redens= und Schreibens=Art […]. Diese Leute pflegen selten ihre Lehr=Sätze […] Categorisch / deutlich und aufrichtig / sondern insgemein zweydeutig […] vorzutragen.14 einen Vers zusammenzuzwingen, das „Sonderbare“ des Zitierten sogar noch plastischer vors Auge: Hier der erleuchtet Jacob Brill Ein wahrer Isrälite / liget / Dem nichts gefiel als GOttes Will, Der mit demselben war vergnüget. Es starb diß Schaaf lang vor dem Tod / Und wuchs im Leben immer weiter / Gestärckt durch seines Hirten Brod / Des Stimm er kennt’ und hörte heiter. Dem folgt’ er auch getreulich nach / Und konte durch den Brille sehen / (Der seinen Augen brachte Tag) Verdienst und Gnad wie Wie Schein und Warheit zu verstehen. Wie Glaub und Wahn sey Nun kommt sein HErr und ruffet ihn / Dem er im Kleinsten treu gelebet / Und setzet ihn ins Grosse hin / Da jetzt sein Geist in Klarheit schwebet. […] Vgl. zu dieser Rezension und ihrer Sondersprachenparodierung auch Schrader : Literaturproduktion (1989, L 1), S. 336 f., 520; zur Bedeutung der Bibel-entnommenen Allegorien wie der (z. B. auch in der zuvor zitierten Undereyck-Historie üppig ausgespielten) Metapher vom „warhafften Israeliten / in welchem gantz kein falsch war“ [Reitz: Historie Der Wiedergebohrnen. Neudruck (1982, L 2), Bd. 1, Teil III, 1701, S. 145] überdies Schrader: Sulamiths verheißene Wiederkehr (1988, L 15), im vorliegenden Band S. 169–204, insbes. S. 169–173. 14 Ungefälschte Abbildung der heutigen Pietisterey / Aus ihren Haupt=Quellen, Lissa 1700, S. )( 3r. Der Verfasser ist offenbar der (aus Lissa gebürtige) Pietistenfresser Samuel Schelwig; das Titelblatt prangt mit dem polemischen Dreifachmotto eines gegen die Pietisten gerichteten Bibelspruchs: „2. Tim. III.5.“ („Die da haben den Schein eines Gottesfürchtigen Wesens, aber seine Kraft verleugnen sie, solche meide.“), eines Anagramms (= einer durch Buchstabenumkehr die „wahre“ Bedeutung offenbarenden Lexemfolge) – „PIETISMUS per Anagr[amma]. Impius est.“ – und eines epigrammatischen Distichons: „Impius est, quisquis falsæ Pietatis amator: Fallitur, & fallit, qui speciosa colit.“ „Unfromm ist ein Liebhaber falscher Frömmigkeit: Betrogen wird und selbst betrügt, wer blendet durch äußeren Schein.“ Die Antwort der diesergestalt anagrammatisch attackierten Pietisten dadurch, daß „man durch Versetzung der Buchstaben etwas herausbringt, wie einmal ein gewisser Gottesgelehrter aus dem Namen Samuel Schelwig durch Versetzung der Buchstaben herausgebracht: Maulesel schweig, und sich bey aller seiner theologischen Ernsthaftigkeit nicht wenig über eine so wichtige Erfindung gefreuet“, kolportiert noch Johann Gottlob Krüger : Diät oder Lebensordnung, Halle 1751, S. 132.
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Einem pietistischen Autor wird angekreidet, wenn er bei vielen Sprüchen der heiligen Schrift seine sonderlichen Gedanken hat und more pietistico fast alles mystice per allegorias, typos et antitypos öfters nicht ohne Verdrehung der Worte erklären will.15
Nicht allein im mystisierenden Wortschatz zeige sich etwa bei den Übersetzern und Kommentatoren der ,Berleburger Bibel‘ diese Sucht nach Besonderheit, das Distinktionsbegehren reiche bis zu orthographischer Normabweichung: Die undeutschen, selbstgemachten Wörter, Eigenheit, Eingekehrtheit, Durchdringlichkeit, Wirksamkeit, Geringheit, Selbstheit, Ausgebreitheit, Irrdischheit, Beschaulichkeit, die gar offt vorkommen, machen die Sache gantz unverständlich.16 Die durchgehends neue Ubersetzung […] ist an vielen Orten sehr unteutsch […], in welcher man auch eine gar wunderliche Orthographie findet.17
Ihrer besonderen, den Weltkindern kaum verständlichen Sprache, die den entschiedenen Christen aller Couleurs sogleich zum Erkennungszeichen und Passepartout einer innigen Herzensverständigung dienen konnte, waren sich die Pietisten selbst ebenso bewußt – und just in dieser eigenartigen Sprache haben sie oft davon Zeugnis gegeben. So sagt Reitz 1698 in der Vorrede zur 15 Christoph Kiesewetters Bericht über die Ausbreitung pietistischer Tendenzen, publiziert bei Theodor Wotschke: Der Pietismus in Thüringen. In: Thüringisch-sächsische Zeitschrift für Geschichte und Kunst 18 (1929), S. 40. – Gerade diese typologische (wie auch noch in der ,Berleburger Bibel‘ explizit vom mehrfachen Schriftsinn der Bibel ausgehende) Argumentationsform wird auf der Gegenseite vom Hauptbearbeiter des Berleburger Bibelwerks, Johann Friedrich Haug, in seinem anonym herausgegebenen philadelphischen Erbauungsbuch, Theosophia Pneumatica, oder / Geheime GOttes=Lehre, [Idstein] 1710, S. E 1v, als Sprache für „die wahre und reine Theologie / die sov_a em lustgq_y, die keiner von den Obersten dieser Welt niemalen erkannt hat“, zum Vorbild gesetzt: „Die Ectypa machts der Archetypæ nach.“ 16 Besprechung des 2. Bands der ,Berleburger Bibel‘ (1728) in: Fortgesetzte Sammlung (wie Anm. 13), Leipzig 1729, S. 257. Die Bibelübersetzer geben ihre Gegenposition gegen diese Kritik in einer apologetischen Duplik in der Vorrede zum 6. Band ihres Werks zum Ausdruck: „Man lese nur, heißt es ferner, die dunkeln Redens=Arten der sogenannten mvstischen [!] Schreiber: wird man auch unter hunderten wol eine verstehen? Warum will man dann nicht lieber bey dem bleiben, was man verstehen kan; als sich mit allerhand tiefsinnigen Grillen den Kopf nur verwirren? So lautet die Sprache derer, denen noch nicht gegeben ist zu wissen das Geheimniß des Reichs GOttes: sie wollen nicht wissen, daß das Geheimniß des HErrn nur bey denen sey, die ihn fürchten; Ps. 25,14. daß er Gräuel habe an den Abtrünnigen, so an loser Lehre hangen, sein Geheimniß aber nur den Frommen offenbahre. Sprüchw. 3,32.“ Der Heiligen Schrifft Sechster Theil / oder des Neuen Testaments Zweyter Theil, Berleburg 1737, S. )( 3r. 17 Besprechung des 5. Bandes der ,Berleburger Bibel‘ (1735) in: Fortgesetzte Sammlung (wie Anm. 13), Leipzig 1736, S. 698. Vgl. zur Auseinandersetzung um diese Bibel (mit Lit.) Schrader: Literaturproduktion (1989, L 1), S. 126–129, 188–198, 207, 433 f., 469–473; ders.: Pietistisches Publizieren unter Heterodoxieverdacht (1988, L 14), im vorliegenden Band S. 261–283; ders.: Madame Guyon, le pi8tisme (1997, L 22), S. 83–129, bes. S. 113–118; in erheblich überarbeiteter deutscher Version: Madame Guyon, Pietismus (2002, L 27), im vorliegenden Band S. 419–456, bes. S. 444–448.
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Historie Der Wiedergebohrnen über das gemeinschaftliche, von den weltlich Gesonnenen abgrenzende, zugleich aber auch die trennungsstiftenden Formeln der Konfessionsdogmatiken übersteigende Spezialidiom aller der nachfolgend vorgestellten Erweckten aus mehreren Jahrhunderten und Ländern, der Vorläufer und Exponenten gegenwärtiger Pietistengruppen, Wo findet man feinere Worte von Freuden. – Da siehestu allen Heiligen ins Hertz wie in schöne lustige Gärten / ja wie in den Himmel. […] Man höret hierin die Stimm der Kinder / der Schaafen / der Turtel=Tauben / die den fremden Kindern eine barbarische und fremde Sprach ist. Christus muß noch täglich zu denen / die doch wollen seine Freunde / und der Schrifft Meister seyn /sagen: Warum kennet ihr dann meine Sprache nicht / ihr könnt ja meine Worte nicht hören? Joh. 18 v. 43.18
Die Christus Nachfolgenden und Nachsprechenden wissen, daß die „Sprache der Kinder GOttes den Fremden fremd“19 ist, daß sie noch ärgere Verstehensprobleme provoziert als die Spezialterminologien weltlicher Kommunikation. Die Schul= und Menschen=Gelehrten / ob sie schon von einander einerley Sprach und Worte lernen / verstehen doch gar offt einander nicht / und zancken derowegen mit einander über den Worten: willgeschweigen / daß sie GOtt in seiner Sprach solten verstehen / die sie nicht einmal hören können; noch die Kinder Gottes / wenn sie die Sprach Canaan / die ihnen unteutsch ist / reden. Joh. 8/43.20
Beim „rechten Lehrmeister“ muß diese Sprache „zur Seeligkeit“, wie es 1710 (also bald nach der Gründung der Hallenser Universität) in einem pietistischen „Studenten=Gesang“ heißt, „in der obern Schul“ erst von Grund auf gelernt werden, beginnend mit dem Buchstabieren seines Vaternamens: Erstlich so müssen wir hier buchstabiren / A / b / ab: b / a / ba: Abba / o GOtt! Diese Anfänge im Grunde dociren Mag wol alleine der himmlische GOtt / Der da ist A und O / Anfang und Ende / Canaans Sprach er belehret behende.21 18 Reitz: Historie Der Wiedergebohrnen. Neudruck (1982, L 2), Bd. 1, Teil I, [Offenbach] 1698, Vorrede, S. )( 7vf. 19 Registerlemma zur Historie IV,15 (Henrich Wilhelm Ludolff), ebd., Bd. 2, Teil IV, Idstein 1716, [S. 320]. – Auf die Bedeutung eines geschlossenen Netzwerks der pietistischen Korrespondenz weist neuerdings zusammenfassend der Abschnitt „Pietistische Kommunikationsformen und Netzwerke“ bei Manfred Jakubowski-Tiessen: Eigenkultur und Traditionsbildung. In: Glaubenswelt und Lebenswelten (wie Anm. 10), S. 203–206. 20 Reitz: Historie Der Wiedergebohrnen. Neudruck (1982, L 2), Bd. 2, Teil IV,11 (Johannes Genuvvit), S. 175. 21 Studenten=Gesang. In: Theosophia Pneumatica, 1710 (wie Anm. 15), S. 267 f., in der kommentierten Quellenanthologie Pietas et eruditio. Pietistische Texte zum Theologiestudium. Hg. von Klaus vom Orde, Leipzig 2016 (Edition Pietismustexte, Bd. 8), S. 193. Vgl. dazu
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Auch für einen polyglotten Sprachforscher wie Henrich Wilhelm Ludolf22 ist das allegoriereiche Idiom einer persönlichen und missionarischen Erweckung die höchste Vollendung, sogar das einzig Nottuende aller Sprachwissenschaft: Dannenhero / wo er Gelegenheit hatte / von dem Jerusalem / das hierniden ist / und welches er besucht hatte / zu reden / so nahm er auch allemal Gelegenheit / von dem zu reden das droben ist […]. Und so offt er von dem irdischen Canaan sprach / richtete er den Discours auf das himmlische […]. Woraus erhellet / daß GOtt […] ihme darum gegeben die Gabe so vieler Sprachen […]. Darum / wenn er hörete / daß jemand wegen seiner vielen (und Orientalischen) Sprachen gerühmet wurde / so fragte er : Was macht er für einen Gebrauch davon? Welche und wie viele Seelen bringt er vermittelst dieses Talents zu JEsu Christo? […] Was hilffts dem Menschen / Wenn er alle Sprachen der gantzen Welt verstünde / und könte die Sprache Canaans nicht / durch welche er mit GOtt / und GOtt mit ihm / kan sprechen?23 Schrader: Vom Heiland im Herzen (1994, L 19), im vorliegenden Band S. 115–133, hier S. 130. – Ganz im gleichen Sinne (damit noch nach zwei Generationen einen Rekurs auf das Gedicht nahelegend) bekennt der zum Mitglied des „Ordens der Einsamen in Ephrata“ gewordene Amerikaexulant Georg Adam Martin, wie er im philadelphischen Überwinden der europäischen Konfessionspolemik (inkl. der „Bann=Lehre“ seiner Täufergemeinschaft) die Gnadensprache ganz neu lernen mußte: „In Deutschland wäre ich gerne in die höchste Classen der hohen Schulen gegangen; aber hier mußte ich wider meinen Willen auf die hohe Schule gehen, die Sprache Canaan erlernen, und am A anfangen. Dieses kam mir freylich wunderlich vor, als der ich […] für einen grosen Doctor der H. Schrift gehalten wurde.“ Bekehrungsbericht in: Chronicon Ephratense. Zusammen getragen von Br. Lamech u. Agrippa, Ephrata 1786, S. 207–222, hier S. 215. Vgl. zu der auch im Gemeindegesang Ephratas gepflegten, in ihrer blühenden Metaphorik kaum mehr gemeinverständlichen Kanaanssprache Schrader: Philadelphian Hope (2003, L 28), im vorliegenden Band S. 205–231, insbes. S. 226–229. Graf Zinzendorf apostrophiert die „treuen diaconen“ und Gemeindelehrer auch im Kirchenlied als „dolmetscher der sprache Canaans“: Herrnhuter Gesangbuch von 1735, XII. Anhang, Nr. 1978 (S. 1887), in: Nikolaus Ludwig von Zinzendorf. Materialien und Dokumente. Hg. von Erich Beyreuther [u. a.]. Reihe 4: Die Gesangbücher Nikolaus Ludwig von Zinzendorfs, Bd. 3: Herrnhuter Gesangbuch. Teil 2: Anhang I–XII, Hildesheim – New York 1981, sowie bereits in: Nikolaus Ludwig von Zinzendorf: Ergänzungsbände zu den Hauptschriften. Hg. von Erich Beyreuther und Gerhard Meyer. Erg.-Bd. 2, Hildesheim 1964. 22 Das Porträt dieses pietistischen Gelehrten und Weltreisenden, zugleich eines der geistigen Wegbereiter der eindrucksvoll wiederhergestellten Hallenser Kunst- und Naturaliensammlung, hängt heute im Zentrum der (bezeichnenderweise auch einen ,Sprachen-Schrank‘ enthaltenden) ,Wunderkammer‘ der Franckeschen Stiftungen in der oberen Etage des Historischen Waisenhauses. Über die Tradition des Zusammenhangs von Sprachen- und Naturaliensammlung (beides in der Absicht, die bewundernswürdige Varietätenvielfalt, Komplexität und Perfektion der göttlichen Schöpfung zu dokumentieren und sie dem anbetenden Erkennen und Erforschen zu überliefern) auch schon in frühneuzeitlich-jesuitischen Kontexten informiert Judith Gut: Renward Cysat, „Dictionarius vel Vocabularius Germanicus diversis Linguis respondens“. Edition und Untersuchungen, Münster [u. a.] 2006 (Studien und Texte zum Mittelalter und zur frühen Neuzeit, Bd. 10). 23 Historie IV,15, Von Henrich Wilhelm Ludolff / Gewesenem Secretario des Prinzen Georgs von Dänemarck in Engeland. In: Reitz: Historie Der Wiedergebohrnen. Neudruck (1982, L 2), Bd. 2, Teil IV, S. 225 f. Zu Ludolf und seinem Porträt (abgebildet: S. 81 und S. 117) vgl. Thomas J. Müller-Bahlke und Klaus E. Göltz: Die Wunderkammer. Die Kunst- und Naturalienkammer der
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Der hier wiederholt verwendete Begriff der Kanaanssprache wird heute in Theologie und Kulturanthropologie als Chiffre für rührseligen Kanzelschwulst und outrierte Erwecklichkeitssuada verwendet. Im Homiletik-Artikel der RGG3 etwa sieht Martin Doerne die kirchliche Predigt als „Dienst an der Selbstbezeugung des Wortes Gottes“ immer gefährdet durch „Entstellung zur ,Feierrede‘ und ihre Erbgefährdungen, das Kanzelpathos, die ,Sprache Kanaans‘ usw.“24 Und Peter Weidkuhn weist auf sektiererische Abschließung und scheinheilige Penetranz: Ausgesprochenen Ritualcharakter trägt […] die sogenannte Sprache Kanaans. Ursprünglich drückt sie die Intention aus, zur Sprache der Bibel zurückzukehren. Als solche ist sie religiös echt […]. Dort aber, wo sie […] dazu dient, das pietistische Selbstverständnis nach aussen zu dokumentieren, wird sie zum sozialen Erkennungszeichen.25
Abgeleitet ist der etwa schon in Th8odore Agrippa d’Aubign8s Histoire universelle (1616–1620, „le langage de Canaan“) und in John Bunyans The Pilgrim’s Progress (1678, „the Language of Canaan“) nachgewiesene Begriff26 aus der Bibel, Jes 19,18: „Zu der Zeit werden fünf Städte in Ägyptenland die Sprache Kanaans sprechen und bei dem Herrn Zebaoth schwören.“ Wie im Kommentar der ,Berleburger Bibel‘ zu diesem Vers, daß nämlich Gläubige, „die die Sprache Canaans redeten […] dem HErrn verpflichtet wären“, „mit einem Eyd […] sich dem HErrn verpflichten“ und „mit den Juden / die in Canaan wohneten / einerley Sprache / Sinn und Meynung / von dem Gottesdienst führen“,27 ist die Auslegung bei den Pietisten des 18. Jahrhunderts noch eine rein positive. Eine inhaltliche Bestimmung ergibt sich zunächst ex negativo durch die Abgrenzung von der als eitel, spitzfindig und verlogen gebrandmarkten
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Franckeschen Stiftungen zu Halle (Saale), Halle 1998, S. 117 und 125, Anm. 205; ergänzend (mit Lit.): Schrader : Literaturproduktion (1989, L 1), S. 509, Anm. 201, vgl. S. 283 und S. 302 f. Martin Doerne: Art. „Homiletik“. In: Religion in Geschichte und Gegenwart. 3. Aufl., Bd. 3, Tübingen, 1959, S. 438. Peter Weidkuhn: Strukturlinien des baslerischen Pietismus. In: Schweizerisches Archiv für Volkskunde 62 (1966), S. 164. In Herman Anders Krügers autobiographisch grundiertem Erzählwerk „Gottfried Kämpfer“ (wie Anm. 10), S. 65, Kap. 5 („Bei Hofe“) wird ähnlich „die sogenannte Sprache Kanaans mancher alten Schwestern, d. h. die überschwengliche Anwendung biblischer und gottseliger Phrasen“ als ein durch den postulierten geistlichen Rang die gemeindliche Ordnung gefährdender „Charakterzug vieler Gemeingeschwister, namentlich der weniger gebildeten“ bezeichnet. Vgl. die mit einer Fülle niederländischer Belege für diese „taal der pi[tistisch-protestantse vromen“ aufwartende begriffsgeschichtliche Untersuchung von R. Roukema: De tale Kanaäns. In: kerk en theologie 38 (1987), S. 265–269, hier S. 267, auf die mich (ebenso wie auf die nachfolgend erwogene Dissertation von C. van de Ketterij: De weg in woorden) freundlich Fred van Lieburg (Univ. Amsterdam) hinwies. [,Berleburger Bibel‘:] Der Heiligen Schrift Alten Testaments Vierter Theil, Berleburg 1732, S. 62 f.
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Sprache der unerweckten „Namen=Christen“ und jener „Bauch=Diener“ unter den Predigern, die mehr dem eigenen Wohlbefinden als der Botschaft verpflichtet seien („die Bauch=Gloß derjenigen / die die Worte Pauli so fleissig anführen / 2.Tim. 5/8“, und nicht danach leben) und insbesondere von der Sprache der „Welt“ (mit ihrem Vokabular der „Schmeicheley / Heucheley / uÇ der Linguæ tertiæ, Lasterzungen“),28 die gar zur „Schlangen Sprach“ und „lingua draconis“, Apk 13,2, verfallen erscheint.29 Diese sei das geläufige Ausdrucksmittel für die „Poeten / Oratores / Logicos / Musicos / Arithmeticos / Geometras / Astrologos / Peripateticos / Criticos / Epicureos“, freilich ebenso für die „Falsch Berühmte Gelehrtheit“ der „Schul=Philosophie“ und der Wissenschaften: „eine Schwätz= und Vernünfftel=Kunst / Dialectica / Logica […] wordurch die Lügen so wahrscheinlich gemacht“ werden „mit mancherley Gattung seltsamer Distinctionen und Terminorum oder Kunst=Worten“, die falsch=berühmte Erkandtnüß / Wissenschaft und Gelehrtheit / so in Erlernung und Hirn=Fassung vieler Historien und Buchstaben / ohne Wesen und Warheit bestehet / die eigentliche Verführerin und Huren Weib […] / die mit ihren vielen Worten / copia verborum / Rhetorica / und mit ihrem glatten Munde / Dialectica / Logica / Metaphysica / usw. die närrische Jünglinge gewinnet / Prov. 7 /5.21. [„daß sie dich behüte vor der Frau […] die glatte Worte gibt.“; „Sie überredet ihn mit vielen Worten und gewinnt ihn mit ihrem glatten Munde.“]30
Nicht viel spezifischer an konkreter Kennzeichnung des Besonderen werden die positiven Bestimmungen. Anders als jene „Barbarische Sprach“ halte sich das Kanaansidiom „am meisten an die Sprach / Redens=Arten / Sachen und 28 Beide Zitate: Historie von Anthon Horneck / gewesenem Prediger zu Savoy in Londen / und Canonico zu West=Münster. In: Reitz: Historie Der Wiedergebohrnen. Neudruck (1982, L 2), Bd. 1, Teil III, Offenbach 1701, S. 154, 157. 29 Die Redeweise der Welt und der „Vielheit“ wird als „Sprach der Schlange“ oder „Schlangen Sprach“ bezeichnet bei [Nicolaus Tscher]: JEsus Immanuels Göttliche Liebes=Geschichte, Amsterdam [recte: Büdingen] 1705, S. 101. Sie steht im Gegensatz zu den „Engels Zungen“ der bruderliebenden Erweckten, durch deren pfingstgeistliche Kommunikationskraft „keiner dem andern verborgen / undeutsch und fremdsprachig oder barbar ist“, S. 41, und in der ein Nachhall der vor dem babylonischen Verfall von Gott gegebenen Ursprache vernehmbar bleibt. „Dieweil / wie bekant / alle Sprachen und Zungen der Menschen aus Einer einigen Sprach; und hiemit / ausser dieser Ersten und Einigen Sprach / keine Vollkommen ist / sondern nur stückwerck sind: so ist es sehr schwer / den Sinn Gottes mit kurtzen und bündigen Worten auszu bilden.“ S. 5v. Vgl. Johann Henrich von Seelen: De lingva draconis Apok. XIII,2, per lingvam latinam falso exposita, Lübeck 1729. Analog konfrontiert schon im Frühbarock Dionysius Spranckhuysen „de Tale Belials“ und „de Tale Canaans“ (vgl. den Hinweis von Roukema: De tale Kanaäns [wie Anm. 26], S. 266, auf das Lemma „Kanaän“ im Woordenboek der Nederlandsche Taal, VII,1) oder der ,Berleburger Bibel‘-Kommentar „des Thiers Sprache“ gegenüber „der rechten Sprache der Gläubigen“. Der Heiligen Schrifft Siebender Theil, Berleburg 1739, S. 354. 30 Historia von Gualtero Bodano / Predigern zu Amsterdam. In: Reitz: Historie Der Wiedergebohrnen. Neudruck (1982, L 2), Bd. 1, Teil III, Offenbach 1701, S. 82 f., 88.
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Ordnung des H. Geistes“ und komme so der „Sprach des H. Geistes“ gleich.31 Sie sei gleichsam eine Annäherung hin zu „einer Englischen Sprach / die […] mehr in einem Augenblick […] lehrt / als kein Mensch auff Hohen=Schulen in alle Ewigkeit nicht lernen kan“,32 ein Vorklang der Himmelsreden der Seligen, wie es im Bericht vom erbaulichen Sterben einer Pfarrersfrau heißt: Als die Zeit ihres Abscheids […] vorhanden / war sie sehr eyferig im Gebett zu ihrem Heyland JEsu. Sie nennete offt […] den Tod / einen duncklen Eingang zu ihres Vatters Pallast. Und da man zuletzt mit ihr reden wolte / welches ihr beschwerlich fiel / entschuldigte sie sich und sprach: Ich werde in kurtzem eine andere Sprach sprechen. Und so gab sie den Geist auff in die Hände deß treuen Schöpffers / deme sie biß in den Tod getreu geblieben.33
Als Sprache des Geistes wird sie außer durch ihre Bibel-Nähe auch häufig mit inspirativen Potenzen in Verbindung gebracht, weniger selbstgeformt als vielmehr der Zustrom einer geistentflammten und göttlich begeisterten Rede.34 In einem Erbauungsbuch von 1710, der Theosophia pneumatica, heißt es: Das Wort ist denen / die es haben / ein Feuer / das alles / so ihm entgegen / verzehret / und ein Hammer / der die Felsen=harte Hertzen zerschmeißt: Es ist allenthalben / da es ist / lebendig und kräfftig / schärffer als kein zwey schneidig Schwerdt; Es durchdringet Marck und Bein / und zertheilet Geist und Seele. […] Dieses kan ja nicht von dem Buchstaben geredet werden.35
Gegenüber seiner „gräulichen Manchfaltigkeit“ „aus der Zertheilung bey Babel“ soll nach der Paränese der ,Berleburger Bibel‘ „einerley Sprache, die Sprache Canaans“ gesprochen werden. „Der Mensch muß erst eine andere und neue Zunge, und also ein geändert, neugebohren Hertz, haben […]: und nach dem Maß muß er reden, sonst nicht“ – aus der „Fülle des H. Geistes“, „mit göttlicher Krafft und Weißheit“: „Das ist auch die rechte Sprache Canaans, 31 Ebd., S. 86 f. – Der Vorwurf einer „barbarischen“ Sprache wird nicht nur gegen die Redeweise der „Welt“, sondern auch der unerweckten Kirche, Dogmen- und Kanzeltheologie häufig verwendet; z. B. wird bei Henricus Gronewegen: Hieroglyphica, Sonst Emblemata Sacra. Oder Schatzkammer Der Sinnbilder und Vorbilder, Frankfurt 1707, S. 177 f., die scholastische Sprache und eitle Philosophie der „Philister zu Asrod“ der Sprache Kanaan entgegengesetzt: „wie auch die Decreten ihrer Concilien dem Volcke GOttes / welches die Sprache des Heil. Geistes gebrauchet / gantz barbarisch vorkommen.“ (vgl. ebd., S. 191 f., Erläuterungen der im Pietismus verbreiteten Figuralbezeichnungen für Mangel und Abwehr von Gemütsoffenheit und Einsicht für das Göttliche bei den „Unwiedergebornen“: Decke des Herzens, Decke Mosis). 32 Historie Hans Engelbrechts von Braunschweig / so er selbst geschrieben. In: Reitz: Historie Der Wiedergebohrnen. Neudruck (1982, L 2), Bd. 1, Teil II, Offenbach 1701, S. 124 f. 33 Historie von Frau Elisabeth Baker / eines Pfarrers Frau (1634–1659). In: Ebd., S. 206 f. 34 Entsprechende Vorwürfe erhebt daher Io. Michael Heineccius: Schrifftmäßige Prüffung Der so genannten Neuen Propheten, Halle 1715, S. 95, speziell gegen die „Sprache Canaan“ der Inspirierten. 35 Theosophia Pneumatica, 1710 (wie Anm. 15), anonyme „Zweyte Vorrede“, S. 39.
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worin wir einander verstehen sollten.“36 An den „kräfftigen Außdruckungen“ eines so vom Geist Regierten, der von „Ueberfluß […] wie überströmet“ ist, kann man lernen, was für ein Unterscheid sey zwischen Menschen= und zwischen Gottes= Wort / zwischen der Rede=Kunst […] und zwischen der Gnade zu reden / die auf den Glauben kommt und gegeben wird 2. Cor. 4/13 [„Weil wir aber denselben Geist des Glaubens haben […], darum so reden wir auch“]: Er ist nicht allein des H. Geistes voll / sondern truncken von dem Heiligen Geist!37 so war sein Hertz voll Andacht / und floß von Liebe über / daß er im Geist begonn mit nachdencklichen Worten / und zuweilen reim=weise / nach seiner Manier zu singen / eben als ob ers ausm Buch daher läse […]. Wobey er sich so im Geist erfreuete / daß auch sein Leib davon beweget ward.38
Der Sprecher dieser schon vor dem Auftreten der Inspirierten bisweilen unter Körpererschütterungen als göttlicher „Aufschluß und Ausfluß“ zuströmend erfahrenen Geistsprache ist so einerseits nur das „Werckzeug / welches der gute Schreiber [Gott] zum Griffel gebraucht“, gibt andererseits aber dem eigenen gotterfüllten Inneren Laut, in „Lesung des inwendigen Buchs in uns […] also mitgetheilet / wie es aus dem Hertzen geflossen ist“39 – zugleich also jene überirdische „Kraftsprache“40 und jene „Sprache des Herzens“,41 wie sie in 36 Die Heilige Schrift Altes und Neues Testaments, I. Teil, Berleburg 1726, S. 81; ebd., Teil VI, 1737, S. 11 f., vgl. Teil VIII, 1742, Haupt=Register, S. Kkkk 1v : „Sprache Canaans oder die rechte Grundsprach“. 37 Historie / Von dem im Haag enthaupteten Jüngling / Jacob von der Graf. In: Reitz: Historie Der Wiedergebohrnen. Neudruck (1982, L 2), Bd. 2, Teil V, Idstein 1717, S. 82. 38 Historie / von Johannes Genuvvit, einem gottseligen Einsidler. In: Ebd., Bd. 2, Teil IV, Idstein 1716, S. 174 f. 39 [Anon. Verf.: Wilhelm Christian Gmelin]: Das Geheimniß der Bosheit und Gottseligkeit, [Idstein] 1712, S. 378, 2 f., vgl. S. )o( 5r. 40 Eine originäre „Kraftsprache“ wird noch in der Romantik den philadelphischen Radikalpietisten (die eine „bruderliebende“ Erwecktengemeinschaft ohne Rücksicht auf die Kirchen- oder Konfessionszugehörigkeit – auch ohne Interesse für deren dogmatische Divergenzen oder „Sondermeinungen“ – anstrebten) zugeschrieben. Die mystisierenden Dichter der eigenen Epoche werden dagegen als bloß unoriginelle, parasitär von der ererbten Energie lebende Nachbeter verspottet. So sei die mystisch-philadelphische „Kraftsprache […] ein Nothbedarf für so manchen mystischen Dichter und Prosaisten unserer Zeit“ geworden. Mystischvisibler Unsinn und Nachrichten von der Seherin Jane Leade. In: Curiositäten der physisch= literarisch= artistisch= historischen Vor= und Mitwelt 1, St. 1. Hg. von Christian August Vulpius, Weimar 1811, S. 48. Denselben Gedanken führt auch Jean Paul in seiner „Vorschule der Ästhetik“ aus: „Man muß den neuen dichtenden Mystizismus scharf von dem alten handelnden eines Spener, Fenelon, Tauler, Lopes, Markgrafen Renti, einer Guyon u. a. absondern“. Von der „Heiligenglut“ der Alten sei nur ein bläßlicher „Heiligenschein“ geblieben, aus „Herz-Mystizismus“ sei „Kunst-Mystizismus“ geworden. Jean Paul: Vorschule der Ästhetik (2. Aufl. 1813). In: Ders.: Werke, Bd. 5. Hg. von Norbert Miller, München–Darmstadt 1963, S. 424 f. Vgl. dazu auch Schrader : Madame Guyon, Pietismus (2002, L 27), im vorliegenden Band S. 422. 41 Auch dieser Begriff, den August Langen (Der Wortschatz des deutschen Pietismus, 1. Aufl. 1954, 2. Aufl. 1968, s. u.) wiederholt schon bei Tersteegen belegt hat, kommt im Übergang zwischen
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goethezeitlicher Säkularisierung auch für die Dichtkunst maßgeblich werden sollten. Die von den Pietisten selbst ebenso wie von ihren Gegnern vielfältig angesprochene markante Besonderheit dieser Kanaanssprache in ihrem Vokabular, ihrer Diktion und Semantik gegenüber der deutschen Gemeinsprache ist freilich jedem Eingelesenen bewußt. So sicher ist sie erspürbar, daß auch Texte unbekannter Autoren aufgrund des Sprachbefundes vage in ihren frömmigkeitsgeschichtlichen Bezugsrahmen eingeordnet werden könnten. Wie wenig klar aber dabei die Kriterien, wie wenig eindeutig einzelne Unterscheidungsmerkmale sind, wird jedem deutlich, der versucht, Ungeübte, also etwa Studierende ohne vorherige Breitenkenntnis an religiösen Texten unterschiedlicher Zeitstufen und Gattungen, schon gar aus den unterschiedlichen Richtungen innerhalb einer großen Frömmigkeitsbewegung mit jahrhundertelangen Traditionen und mit den vielfältigsten Binnen- und Außenvernetzungen, anzuleiten zu einer sprachlichen Scheidung der Geister. Bei der Vorgabe bloß allgemeiner Kriterien wie Bibelnähe, Vorliebe für figurales und allegorisches Argumentieren, Insistenz auf individuelle Frömmigkeit, Herzensumkehr, eine in Leben und Gemeinschaft bewährte praxis pietatis, selbst beim An-die-Hand-Geben von Listen eines Pietismus-„typischen“ InnigkeitsWortschatzes werden sie Kirchenlieder aller möglichen Genese, orthodoxlutherische oder auch katholische Predigten und Erbauungsschriften, ältere Mystik und jüngere Gefühlsfrömmigkeit lange geradeso für „pietistisch“ halten. Das einzige Instrument, auf das man für spezifischere Unterscheidung und umfassendere lexikalische Belege verweisen kann, bleibt auf noch unabsehbare Dauer August Langens monumentale Verbindung aus Sachbuch und systematischem sowie alphabetischem Lexikon, Der Wortschatz des deutschen Pietismus,42 ergänzt allenfalls durch die angereicherten und in Kontrast zu anderen zeitlich parallelen Sprachtendenzen gesetzten Wortlisten, die derselbe Literaturwissenschaftler als Der Wortschatz des 18. Jahrhunderts zu Maurers Deutscher Wortgeschichte beigesteuert hat.43 Langens grundlegende der Pietismus-Epoche und einer galant getönten Empfindsamkeit in Konjunktur. Vgl. D. Johann Gottlob Krüger : Die Regeln der Sprache des Herzens, Halle 1750; auch die Aufnahme der biblischen Vorstellung vom Mitteilungszwang aus Herzensfülle Mt 12,34 bzw. Lk 6,45 in der Widmung desselben Verfassers, „der Weltweisheit und Artzneygelahrtheit Doctors und ausserordentlichen Professors auf der Friedrichs=Universität“, an den dänischen König Friedrich V.: „Die Stärcke dieser Triebe ist so groß, daß die Lippen dadurch in Bewegung gesetzt werden, und sich durch einen angenehmen Zwang genöthiget sehen, die Sprache des Herzens zu reden.“ Krüger : Diät oder Lebensordnung, 1751 (wie Anm. 14), S. ):( 4r. 42 August Langen: Der Wortschatz des deutschen Pietismus, Tübingen, 2. erg. Aufl. 1968 (1. Aufl. 1954). 43 August Langen: Der Wortschatz des 18. Jahrhunderts. In: Deutsche Wortgeschichte. Hg. von Friedrich Maurer und Heinz Rupp, Bd. 2, Berlin, 3. neubearb. Aufl. 1974 (Grundriß der Germanischen Philologie, Bd. 17/II), S. 31–244. Reiches Wortmaterial enthalten auch die Abschnitte zu Pietismus und Irrationalismus in Langens Abriß der neuzeitlichen Sprachge-
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Sammlung und Charakterisierung, erarbeitet aus dem Verzetteln der Lexeme in über 70 Titeln unterschiedlicher Gattungen der pietistischen Literatur sowie ihrer Wegbereiter und Erben zwischen 1605 und 1842 (mit über 5000 Wörtern aus etwa 30000 bis 40000 Belegen), liegt in ihren Anfängen bald drei Generationen weit zurück, entstand weit vor dem Einsetzen der neueren theologisch-philologischen Pietismusforschung. Das damals für einen Dichtungswissenschaftler höchst abseitige Kölner Habilitationsprojekt bot eine Möglichkeit, den nazizeitlich-strammen ideologischen Einordnungszwängen der „Deutschkunde“ zu entgehen, war aber freilich nach der Annahme durch die Fakultät im Jahr 1942 nicht publizierbar. So wuchsen Wortbestand, Forschungsbericht und Ertragsanalyse bis zur 1954 erfolgten Erstveröffentlichung weiter.44 Heute zu zitieren ist die im lexikalischen Teil kaum revidierte, jedoch um einen umfassend aktualisierten Literaturbericht erweiterte Neuauflage, die 1968 in einem Fachkontext neuer, ideologisch gegenläufiger, Fremdbestimmung wiederum kaum die gebührende Aufmerksamkeit gewann. In Rücksicht auf die Wissenschaftssituation der Entstehungszeit (an höchst begrenzten einschlägigen Vorarbeiten konnte er nur auf zumeist schwach belegte geistesgeschichtliche Traditionskonstrukte und Säkularisierungslinien von Werner Mahrholz, Konrad Burdach, Hans Sperber, Wolfdietrich Rasch oder Fritz Stemme zurückgreifen) ist Langens Leistung – immerhin ein durch zwei Generationen konkurrenzlos-unüberholtes Hand- und Wörterbuch, das weiterhin für jede Beschäftigung mit pietistischen Quellen zu konsultieren bliebe – vollkommen unschätzbar. Für die Grenzen der Aufschlußkraft zu bedenken bleiben freilich die fast apologetisch-zögernden Kautelen, mit denen er sie in die Welt gesandt hat: Angesichts der Spannweite des Themas […] behält der Verfasser stets das Gefühl, nur Bruchstücke zu bieten […]. So kann dieses Buch auf seinem Gebiet nicht Abschluß, sondern nur Anfang sein: es kam darauf an, einen solchen zu wagen. Ich sehe mich dabei fast in der Lage eines Entdeckungsreisenden in unbekanntem Land. […] Die Karte einer neuen Provinz unserer Sprachgeschichte […] wird in ihren Grundlinien schichte, ders: Deutsche Sprachgeschichte vom Barock bis zur Gegenwart. In: Deutsche Philologie im Aufriß. Hg. von Wolfgang Stammler, Berlin [u. a.], 2. überarb. Aufl. 1957, Neudruck 1966, S. 931–1395. – Anders als für den deutschsprachigen Bereich gibt es für den niederländischen, aus der „Nadere Reformatie“ erwachsenen Pietismus eine lexikographische Erschließung der „Sprache Kanaans“, die allerdings (weithin orientiert an Langens Ordnungssystem der Staffeln des Bekehrungsweges) vorrangig gegenwärtigen, also neupietistischen Wortschatz erhebt. Cornelis van de Ketterij: De Weg in Woorden – een systematische beschrijving van pi[tistisch woordgebruik na 1900, Assen [1972], vgl. die beschließende deutsche „Zusammenfassung“, S. 380–389. Sowohl in den Begriffsbestimmungen als auch in den methodischen Erwägungen verdient diese Studie die Aufmerksamkeit künftiger germanistischer Bemühungen um die Sprache des Pietismus. Zur Herkunft und Reichweite des Terminus „De tale Kanaäns“ vgl. ebd., S. 13–17, 39–41, 263 f., 382–386. 44 Nachweise bei Langen (wie Anm. 42), 1. Aufl. 1954, S. Vf. und S. 7, vgl. 2. Aufl. 1968, S. VIIf.
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Bestand haben, sie kann aber unmöglich schon alle Einzelheiten enthalten. Später Kommende mögen sie ergänzen, bereichern und hie und da berichtigen.45
Dieses ist im Kernbereich der Langenschen Arbeit bis heute aber noch kaum geschehen. Im Forschungsbericht der Zweitauflage konnte ihr Verfasser 1968 zwar schon eine tüchtige Belebung der Pietismusforschung, namentlich in theologischen Zugriffen und mit den großen literaturwissenschaftlichen Säkularisationsstudien von Albrecht Schöne und Gerhard Kaiser, reflektieren;46 was aber an sprachgeschichtlichen Neuzugängen zur Debatte stand, hat an Langens Sammlung und Untersuchung kaum fortgebaut: E. A. Blackalls zuerst 1959 englisch, 1966 auch deutsch erschienene Monographie über Die Entwicklung des Deutschen zur Literatursprache, hat den Pietismus kühn übergangen und Dieter Kimpels Sichtung der Forschung seit 1955, vorgelegt als Anhang zur Blackall-Verdeutschung, weist auf diesem Sektor, in der Kritik an Langen, fundamentale Unkenntnis aus.47 Ein neuer Forschungsbericht nach einer weiteren Generation hätte von Aufbauarbeit im Kernbereich ebenso wenig zu berichten. Die seither eigenständig erblühte Disziplin der Sprachwissenschaft (germanistischen Linguistik) hat sich trotz ihres soziolinguistischen Interesses für alle möglichen „Substandardvarietäten“48 der Sprach- und Wortgeschichte ohnehin eher stiefmütterlich angenommen,49 der Quellenflut des Pietismus aber gar nicht 45 Langen (wie Anm. 42), 2. Aufl. 1968, S. VIIIf. 46 Albrecht Schöne: Säkularisation als sprachbildende Kraft. Studien zur Dichtung deutscher Pfarrersöhne, Göttingen, 2. überarb. u. erg. Aufl. 1968 (1. Aufl. 1958) (Palaestra, Bd. 226), vgl. ebd. Forschungsübersicht und Resümee S. 24–36 und S. 274–301. Dabei erörtert sind auch schon die germanistischen Problemskizzen von August Langen: Zum Problem der sprachlichen Säkularisation in der deutschen Dichtung des 18. und 19. Jhs. und von Wolfgang Binder : Grundformen der Säkularisation in den Werken Goethes, Schillers und Hölderlins. Beide in: Zeitschrift für deutsche Philologie 83 (1964), Sonderheft, S. 24–42 und S. 42–69; Gerhard Kaiser : Pietismus und Patriotismus im literarischen Deutschland. Ein Beitrag zum Problem der Säkularisation, Frankfurt, 2. erg. Aufl. 1973 (Wissenschaftliche Paperbacks [Bd. 22]), vgl. zu dieser Fragestellung auch schon die in der europäischen Forschung fast unbeachtet gebliebene Monographie von Koppel S. Pinson: Pietism as a Factor in the Rise of German Nationalism, New York–London 1934 (Studies in History, Economics and Public Law, Bd. 398), insbes. Kap. VI „National Language and National Literature“, S. 153–179. 47 Eric Albert Blackall: Die Entwicklung des Deutschen zur Literatursprache 1700–1775, Stuttgart 1966 und ebd. (als Anhang) Dieter Kimpel: Bericht über neue Forschungsergebnisse 1955–1964, S. 479–519. Vgl. deren Erörterung im Literaturbericht zur 2. Aufl. von Langen (wie Anm. 42), 2. Aufl. 1968, S. XVIIf. 48 Vgl. im übersichtlichen Gesamtaufriß der linguistischen Forschungsinteressen Kirsten Adamzik: Sprache: Wege zum Verstehen, Tübingen, Basel 2001 (UTB, Bd. 2172), S. 47 f. 49 Peter von Polenz: Deutsche Sprachgeschichte vom Spätmittelalter bis zur Gegenwart, Bd. 2: 17. und 18. Jahrhundert, Berlin – New York 1994, fundiert seinen äußerst knappen Überblick über „die Sprache des deutschen Pietismus“ (S. 311–317) noch vollkommen auf dem bei Langen (sowie für die Herrnhuter bei Reichel, s. u.) gesammelten Wortmaterial, das bloß im Lichte neuerer literatursoziologischer Befragung (Gerhart von Graevenitz) interpretiert wird. – Die Problematik und der Grund für eine so befremdliche Abstinenz wird reflektiert in der Arbeit einer in der computerlinguistischen Wortschatz-Indizierung Goethes und seiner Zeitgenossen
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zugewandt. Einen ersten Vorstoß hat erst Matthias Vogel mit seinen Begriffsanalytischen Untersuchungen zu alt- und neupietistischen Predigten unternommen.50 Auf der Textbasis der Predigten August Hermann Franckes sowie der Evangelisationsemissionen des Wetzlarer Evangeliumsrundfunks vom Ende des 20. Jahrhunderts hat er mit einem von der hermeneutischen Übersetzungswissenschaft abgeleiteten Methodeninstrumentarium eine Reihe von pietistischen Zentraltermini (wie „Bekehrung“, „Glaube“ und „Wiedergeburt“) in ihr (wörterbuchähnlich aufgeschlüsseltes) semantisches Umfeld eingeordnet und so interpretiert. Deutlich wird so beispielsweise, welche bedeutungsverwandten Ersatzbegriffe für altpietistische Zentraltermini zu Gebote stehen, wenn diese in einer sprachlich zeitgemäß stilisierten neupietistischen Verkündigung berührungsängstlich vermieden werden. So anregend die Untersuchung auch für anknüpfende Bemühungen zur Wortschatzerschließung ist: eine Gesamtübersicht über alle Kennzeichen und Wortfelder der pietistischen Sondersprachlichkeit ist weder intendiert noch auf diesem Wege zu erreichen. Gelegentlich sind darüber hinaus in anders fokussierten theologischen und literaturwissenschaftlichen Studien – als Überschußertrag – Einzelfragen auch zur pietistischen Sondersprachlichkeit erörtert und weiterführend bedacht worden. Nur an der Peripherie einer lexikalischen Erschließung aber haben sie infolge ihrer anderen Blickrichtungen, soweit sie überhaupt Langensche Pauschalbefunde differenzieren und „hie und da berichtigen“ konnten, einige seiner pia desideria erfüllen können. Ohne hier in umfassendere Sichtung eintreten zu können, verweise ich auf seitherige Studien Schönes und Kaisers zur parasitären Aneignung christlicher – dabei auch pietistischer – Sprachmittel in der politischen Propaganda, besonders des Nationalismus,51 auf Wolfgang Martens’ gesammelte Studien über das Verbreit ausgewiesenen Forscherin, Martina Schwanke: Name und Namengebung bei Goethe, Heidelberg 1992 (Beiträge zur Namenforschung, Beih., N. F., Bd. 38), S. 135 f. Sie hat dort probeweise den Wortschatz des „Werther“ maschinell mit dem von Langen gesammelten pietistischen abgeglichen (554 gemeinsame Lemmata), signifikante Ergebnisse mangels einer hinlänglichen, auch in den Worthäufigkeiten präzis gesicherten Datenbasis aber für einstweilen unerreichbar erklärt. Ich habe allerdings erhebliche Zweifel, daß sich das Charakteristische der Sondersprache selbst im Falle umfänglichster Index-Erstellungen pietistischer Texte jemals gleichsam empiriefrei, ohne ein aus breiter Eingelesenheit entwickeltes Gespür für die sprachliche Prägekraft der spezifischen Denkgrundlagen, werde ermitteln lassen. Dies bedürfte zweifellos zur Scheidung des Signifikanten vom (sich mit jeder textlichen Datenbasis verändernden) Zufälligen der Team-Zusammenführung der computerlinguistischen mit einer textbezogenen literaturwissenschaftlich-theologischen Sachkompetenz. 50 Matthias Vogel: „Deine Sprache verrät dich“. Begriffsanalytische Untersuchungen zu alt- und neupietistischen Predigten, Berlin 2002 (Angewandte Sprach- und Übersetzungswissenschaft, Bd. 1). 51 Albrecht Schöne: Über politische Lyrik im 20. Jahrhundert. Mit einem Textanhang. Göttingen, 3. erw. Aufl. 1972 (1. Aufl. 1965) (Kleine Vandenhoeck-Reihe, Bd. 228/229); Gerhard Kaiser : Nationale Erweckung. Nachwirkungen des Pietismus in der Frühgeschichte des Patriotismus. In: Wirkendes Wort 17 (1967), S. 73–92.
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hältnis der Pietisten zu den Wissenschaften und Künsten (v. a. Lyrik und Roman, Theater und Oper) sowie ihres Einflusses auf deren Sonderentwicklungen im deutschsprachig-protestantischen Raum,52 auf Hans-Georg Kempers subtile Analysen der pietistischen Lyriksprache,53 auf Reinhard Breymayers wiederholte Untersuchungen zur pietistischen Rhetorik,54 schließlich auf Ulf-Michael Schneiders oder meine eigenen Untersuchungen zur pietistisch-inspirativen Vorbereitung geniezeitlicher Dichtungstheoreme und Spracherneuerungen.55 Trotz ihrer auf Sprachanalyse ausgerichteten Fragestellung bleiben der ältere Aufsatz von Wolfgang Binder über pietistische 52 Wolfgang Martens: Literatur und Frömmigkeit in der Zeit der frühen Aufklärung, Tübingen 1989 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur, Bd. 25). 53 Hans-Georg Kemper: Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit, Bd. 5/1 Aufklärung und Pietismus; Bd. 6/1 Empfindsamkeit, Bd. 6/2 Sturm und Drang: Genie-Religion, Bd. 6/3 Sturm und Drang: Göttinger Hain und Grenzgänger, Tübingen 1991–2002; vgl. auch ders.: „Göttergleich“. Zur Genese der Genie-Religion aus pietistischem und hermetischem ,Geist‘. In: Goethe und der Pietismus. Hg. von Hans-Georg Kemper und Hans Schneider, Tübingen 2001 (Hallesche Forschungen, Bd. 6), S. 171–208 und ders.: Bildung zur Gottähnlichkeit. Transformationen pietistischer und hermetischer Religiosität zur klassischen Kunst-Religion in Goethes „Wilhelm Meisters Lehrjahre“. In: Goethe-Jahrbuch 130 (2013), S. 75–92. 54 Breymayers Untersuchungen des Verhältnisses der Pietisten zur Rhetoriktradition sowie zur pietistischen Redelehre und -praxis, die verschiedentlich sprachtheoretische und sprachgeschichtliche Positionen einbegreifen, sind zusammengestellt in seinem diese Fragestellung resümierenden (auch wichtige Aufschlüsse über den Technikwortschatz in der Erbauungsliteratur vorstellenden) Artikel, Reinhard Breymayer : Pietismus. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 6. Hg. von Gert Ueding, Tübingen 2003, Sp. 1191–1214. Besonders sei hingewiesen auf ders.: Die Erbauungsstunde als Forum pietistischer Rhetorik. In: Rhetorik. Beiträge zu ihrer Geschichte in Deutschland vom 16.–20. Jh. Hg. von Helmut Schanze, Frankfurt 1974, S. 87–104, ders.: Pietistische Rhetorik als Eloquentia nov-antiqua. In: Traditio – Krisis – Renovatio aus theologischer Sicht. Festschrift für Winfried Zeller. Hg. von Bernd Jaspert und Rudolf Mohr, Marburg 1976, S. 258–272, sowie [Teilabdruck] in: Rhetorik, Bd. 2. Hg. von Josef Kopperschmidt, Darmstadt 1991, S. 127–137, ders.: Mit dem Herzen gesehen. Visuell-verbale Rhetorik in einer schwäbisch-pietistischen Erbauungsstunde. In: Pietismus und Neuzeit 24 (1998), S. 354–367, schließlich ders.: „Dees ischd a’ Abbild dessa’ davon…“ Zum pietistischen Sprachgebrauch in einer schwäbischen Erbauungsstunde des 20. Jahrhunderts. In: Medizinund kulturgeschichtliche Konnexe des Pietismus. Heilkunst und Ethik, arkane Traditionen, Musik, Literatur und Sprache. Hg. von Irmtraut Sahmland und Hans-Jürgen Schrader, Göttingen 2016 (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus, Bd. 61), S. 373–398. Vgl. zu Auffassungsdivergenzen der Forschung über die Bedeutung der klassischen Rhetorik für den Pietismus die Anm. 19 bei Alt (wie Anm. 59), S. 568. 55 Ulf-Michael Schneider: Propheten der Goethezeit. Sprache, Literatur und Wirkung der Inspirierten, Göttingen 1995 (Palaestra, Bd. 297); ders.: Pietismus. In: Goethe Handbuch. Hg. von Bernd Witte [u. a.], Bd. 4,2: Personen, Sachen, Begriffe. Hg. von Hans-Dietrich Dahnke u. Regine Otto, Stuttgart – Weimar 1998, S. 850–852. Von meinen eigenen Aufsätzen sind neben den genannten („Sulamiths verheißene Wiederkehr“ „Madame Guyon“, „Vom Heiland im Herzen“ [wie Anm. 13, 17 und 21]) für diese nicht allein konzeptionelle, sondern auch sprachliche Säkularisation mit einschlägig: Schrader: Salomonis Schlüssel (2001, L 26) [pansophisch-magischer Wortschatz]; ders.: Inspirierte Schweizerreisen (2000, L 24; im vorliegenden Band S. 517–546); ders.: Propheten zur Rechten (2001, L 25); ders.: „Unleugbare Sympathien“ (2003, L 29); ders.: Modell des Menschen. Hiob (2004, L 33); ders.: Sphärensprünge (2004, L 36).
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Metamorphosen in der klassischen Dichtung56 ebenso wie die Dissertation von Johann Erich Maier (mit Interpretationen zu Reitz’ Historie Der Wiedergebohrnen, Lo[ns Der redliche Mann am Hofe und Lessingschen Dramen)57 eher geistesgeschichtlich-allgemein als sprachgeschichtlich-konkret. Während in der umfänglichen Abhandlung von Christoph Becker über Sprachkonzeptionen der deutschen Frühaufklärung pietistische Sprachtheorien (Arnold, Francke, Lange, Zinzendorf) nur gelegentlich und abgrenzungsweise in den Blick kommen und die Sondersprache der Frommen in den wortgeschichtlichen Erhebungen (außer etwa für die Begriffe „Wort“ oder „Historie“) nur peripher reflektiert wird,58 untersucht der Aufsatz von Peter-Andr8 Alt Zur pietistischen Bildsprache quellenkundig und aufschlußreich den historischen Wandel innerhalb der Kanaanssprache, nämlich das schrittweise Außer-Kurs-Geraten der überbordend manieristischen Allegorie- und Metaphernsucht und kritische Bemühungen um Sprachbereinigung schon unter den Pietisten des 18. Jahrhunderts.59 Der Säkularisation des pietistischen Wortschatzes sowohl im Briefwerk als auch im Werther-Roman des jungen Goethe hat Sukeyoshi Shimbo eine Serie von Aufsätzen gewidmet, die eine 56 Wolfgang Binder: Pietistische Metamorphosen in Sprache und Denken der klassischen Dichtung. In: Pietismus und moderne Welt. Hg. von Kurt Aland, Witten 1974, S. 185–204. – Auf genuin „poetische“ Qualitäten religiöser Sprache (ihre namentlich bei der Bibel-Revision zu bedenkende Mittelstellung zwischen dichterischer Stilisierung und Alltagssprache) verweist die grundlegende Reflexion von Johannes Anderegg: Über Sprache des Alltags und Sprache im religiösen Bezug. In: Zeitschrift für Theologie und Kirche 95 (1998), S. 366–378. 57 Johann Erich Maier : Gnade und Ästhetik. Von der Wiedergeburt zur Gnadenpoetik, Frankfurt 1998 (Frankfurter Hochschulschriften zur Sprachtheorie und Literaturästhetik, Bd. 11); vgl. die Rücktitel-Kennzeichnung „Die Arbeit erforscht den gnadentheologischen Beitrag zur Entwicklung der bürgerlichen Sprachästhetik im 18. Jahrhundert.“ 58 Christoph Becker: Sprachkonzeptionen der deutschen Frühaufklärung. Wörterbuch und Untersuchung, Frankfurt 1998 (Europäische Hochschulschriften, Reihe I, Bd. 1659). Vgl. zu sprachtheoretischen Äußerungen der pietistischen Autoren im Vergleich zu Leibniz, Thomasius und Wolff S. 142–152, 270–294 („Das Konzept der heiligen Sprachen und die pietistische Hermeneutik“); zu pietistischen Nebenbedeutungen der Begriffe „Wort“ und „Historie“ / „historisch“ ebd., S. 235–244, 258–266, 340 f. 59 Peter-Andr8 Alt: Reinigung des Stils oder geistlicher Manierismus. Zur pietistischen Bildsprache. In: Religion und Religiosität im Zeitalter des Barock. Hg. von Dieter Breuer, Bd. 2, Wiesbaden 1995 (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung, Bd. 25), S. 563–577 – mit dem Langens Befund einer erdrückenden Einförmigkeit der pietistischen Sprache signifikant differenzierenden Resümee: „Der pietistische Stil ist heterogen und läßt sich nicht auf einen Nenner bringen. […] Herrschen am Anfang der Bewegung noch die Einflüsse der Barockmystik vor, so setzt sich ab 1710 zunehmend eine schwulstkritische Tendenz […] durch“, S. 577. – Ebenso wie die in diesem Artikel gegebenen Sprachbeispiele zeigen auch die in Alts Aufsatz zusammengestellten deutlich, daß van de Ketterijs Bemühung ([wie Anm. 43], S. 45–51, 385), der Kanaanssprache aufgrund ihrer dogmatisch-semantischen Neufixierung der Termini (gegen Langens Bestimmungen) jeden Metapherncharakter abzusprechen, als kaum haltbare Konstruktion erscheint („Die Terminologie der Sprache Kanaans ist inhaltlich und quantitativ völlig festgelegt […]; auszerdem bietet der sakrale Charakter keinen Raum für die Entstehung neuer Termini. Es würde Entheiligung sein, […] wenn einer ein neues Wort für eine ,geistliche Sache‘ gebrauchte.“, S. 385).
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Reihe der von Langen als (auf mystischer Grundlage) typisch pietismussprachlich herausgestellten Begriffe und Wortfelder („still“, „voll“, „innig“, die Metaphorik von Geist, Feuer und Wasser) computergestützt mit der goetheschen Verwendung abgleichen. Durch die literaturwissenschaftlich kompetente Interpretation der numerischen Befunde (Unterscheidung zwischen Fällen gleichsinniger Übernahme, säkularisierender Umwandlung und einem Wortgebrauch, der offenbar nicht auf pietistische Basis gegründet ist) gelangt er zu wirkungsgeschichtlich bereichernder Einsicht, ohne daß freilich auf diesem Wege zu erweiterter Kenntnis über die Sprache des Pietismus selbst zu gelangen wäre.60 Sondertendenzen, auch der pietistischen Sprachgebung, wurden vereinzelt für die theologische Adaption vorreformatorischer und lutherischer Termini,61 insbesondere für den mystischen Strom im Pietismus (von Arnold und vom Quietismus mit Tersteegen bis zu Conrad Beissel), ferner für die Inspirierten, für Zinzendorf und die Herrnhuter untersucht. Hier ist Jörn Reichels Dissertation über die Dichtungstheorie und Sprache der sogen. „Sichtungszeit“ auch methodisch, in Rücksicht auf die gruppensoziologische Relevanz einer abgrenzenden Sondersprache, hochbedeutsam;62 den Teilbereich des 60 In deutscher Sprache liegen zwei dieser Aufsätze vor, Sukeyoshi Shimbo: Der Terminus still beim jungen Goethe. Eine computergestützte Fallstudie zum ,Werther‘-Roman. In: Logos und Poesie. Aufsätze zur deutschen Literatur und Sprache. Festschrift für Toshio Ito. Hg. von Koichi Ikeda, Fukuoka 1995, S. 176–190; ders: Goethes frühe Briefe und der Briefroman Werther. Eine computergestützte Studie zum Wortschatz der Frömmigkeit. In: Goethe-Jahrbuch (Goethe-Gesellschaft in Japan, Tokyo) 40 (1998), S. 69–83. Vgl. auch Schrader: Von Patriarchensehnsucht zur Passionsemphase (2005, L 39). 61 Beispielhaft ist (insbesondere im Hinblick auf die spiritualistische und pietistische Aneignung der „Vorrede zum Römerbrief“ mit ihrem Wortschatz der Wiedergeburt) hinzuweisen auf Friedrich de Boor : Zur Sprachwirkung Luthers im deutschen Pietismus des 17./18. Jahrhunderts. In: Beiträge zur Sprachwirkung Martin Luthers im 17./18. Jahrhundert, Bd. 2. Hg. von Manfred Lemmer, Halle 1988 (Kongreß- und Tagungsberichte der Martin-Luther-Universität, Wiss. Beiträge 1988/5 [Reihe F, Bd.77]), S. 4–35. – Dem Faktor sprachlicher Tradition (insbesondere der mittelalterlichen Erbschaft) und Erneuerung in der protestantischen Lieddichtung, auch der des Pietismus, gilt das vorrangige Augenmerk der Monographie von Waldtraut Ingeborg Sauer-Geppert: Sprache und Frömmigkeit im deutschen Kirchenlied. Vorüberlegungen zu einer Darstellung seiner Geschichte, Kassel 1984. Vgl. dazu weiterführend die Beiträge von Christian Bunners: Gesangbuch [und] Musik. In: Glaubenswelt und Lebenswelten (wie Anm. 10), S. 121–142, 430–455. 62 Jörn Reichel: Dichtungstheorie und Sprache bei Zinzendorf. Der 12. Anhang zum Herrnhuter Gesangbuch, Bad Homburg [u. a.] 1969 (Ars poetica. Studien, Bd. 10). An jüngeren anknüpfenden Studien sind zu nennen Julian Kümmerle: „So suender=schamroth=inniglich […]“. Nicolaus Ludwig von Zinzendorf und die Dichtung im 12. Anhang des Herrnhuter Gesangbuchs. In: Freikirchen-Forschung 10 (2000), S. 429–443 sowie Paul Peucker : „Blut’ auf unsre grünen Bändchen“. Die Sichtungszeit in der Herrnhuter Brüdergemeine. In: Unitas Fratrum 49/ 50 (2002), S. 41–94 (Kap. zur „Sprache“, S. 65–69). Vgl. auch Hans-Georg Kemper: Deutsche Lyrik, Bd. 6/I: Empfindsamkeit (wie Anm. 53), 1997, S. 19–57 (Kap. zur Lyrik Zinzendorfs: „Religion als ,Herz=Sache‘“). Vgl. ferner Schrader: Zinzendorf als Poet (2006, L 40) und ders.: Conrad Beissels Ephrata-Gemeinschaft (2006, L 41), im vorliegenden Band S. 489–516 und 547–574.
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institutionell-liturgischen Sonderwortschatzes erschließt Paul Peuckers Herrnhuter Wörterbuch.63 Gleichartigen Zutrag gibt es für Einzelgestalten wie Jung-Stilling.64 Für Oetinger und Ulrich Bräker lassen die kommentierten neuen Werkausgaben nun erst im vollen Umfang die Mitgift der pietistischspekulativen Pansophie bzw. des Ostschweizer „Bauernpietismus“ erkennen.65 Jeder Band der Serien Kleine Texte des Pietismus und (als deren neue Folge) Edition Pietismustexte gibt umfassende Worterläuterungen, namentlich zur beim genauen Hinsehen denn doch überraschend eng gefügten Adaption biblischer Sprachversatzstücke.66 Und freilich haben die sprachlichen Folgewirkungen bei Klopstock, Goethe, Lenz, Kleist und Novalis bis hin zu Hermann Hesse weiteres germanistisches Interesse gefunden.67 Für einen Überblick der über die bewundernswürdige Initialleistung Langens hinaus noch enorm bleibenden Desiderata, die vollumfänglich sicher nur in einem langfristigeren Projekt abzubauen wären, an dem sachkundige Linguisten, Theologen und Literaturwissenschaftler mit modernen Techniken lexikologischer und phraseologischer Erhebungsverfahren beteiligt sein sollten, hält man sich am besten noch einmal das spezifische Untersuchungsinteresse, die Gliederung und Hauptergebnisse Langens vor Augen. Von einer Dichtungswissenschaft her, die ihren Zugriff noch nicht auf alle auch außerpoetischen Textsorten erweitert hatte, war Langens Sammlung und Befragung des Materials vereinseitigt auf jene Kennzeichen des Spezialjargons, die als „Kraft“- oder „Herzenssprache“ seit dem Sturm und Drang die Erneuerung und psychologische Verfeinerung der poetischen Ausdrucks63 Paul Peucker: Herrnhuter Wörterbuch. Kleines Lexikon von brüderischen Begriffen, Herrnhut 2000 (insbes. spezifische Termini der Theologie, Gottesdienstpraxis und weltweiten Organisation der Herrnhuter Brüdergemeine). 64 Besonderes Augenmerk auf Sprache und Wortschatz legt Gerhard Schwinge: Jung-Stilling als Erbauungsschriftsteller der Erweckung, Göttingen 1994 (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus, Bd. 32). 65 Friedrich Christoph Oetinger [Historisch-kritische Teilausgabe]: Die Lehrtafel der Prinzessin Antonia. Hg. von Reinhard Breymayer und Friedrich Häussermann, Berlin – New York 1977; ders.: Theologia ex idea vitae deducta. Hg. von Konrad Ohly, Berlin [u. a.] 1979; ders.: Biblisches und Emblematisches Wörterbuch. Hg. von Gerhard Schäfer, Berlin [u. a.] 1999 (Texte zur Geschichte des Pietismus, Abt. VII, Bde. 1–3). – Ulrich Bräker: Sämtliche Schriften. Hg. von Andreas Bürgi [u. a.], 5 Bde., München – Bern 1998–2010. Für Bräker sei auch hingewiesen auf die von Alfred Messerli und Adolf Muschg hg. Aufsatzsammlung: Schreibsucht. Autobiografische Schriften des Pietisten Ulrich Bräker (1735–1798), Göttingen 2004 (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus, Bd. 44). 66 Kleine Texte des Pietismus (= KTP. Im Auftrag der Historischen Kommission zur Erforschung des Pietismus hg. von Hans-Jürgen Schrader [u. a.]), 12 Bde., Leipzig 1999–2008; Edition Pietismustexte (= EPT. Im Auftrag der Historischen Kommission zur Erforschung des Pietismus hg. von Hans-Jürgen Schrader [u. a.]), bislang 12 Bde., Leipzig 2010–2018 (Quellen im Originalwortlaut mit auch sprachlicher Kommentierung). 67 Vgl. außer den zuvor (wie Anm. 60) genannten Aufsätzen Shimbos z. B. (mit allerdings nur gelegentlichen Exkursen zur Sprach-Erbschaft) Stefan Pautler : Jakob Michael Reinhold Lenz. Pietistische Weltdeutung und bürgerliche Sozialreform im Sturm und Drang, Gütersloh 1999 (Religiöse Kulturen der Moderne, Bd. 8).
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mittel vorbereitet haben. Das Erkenntnisinteresse war, wenn Langen beitragen wollte „zum historischen Verständnis der Seelensprache des 18. Jahrhunderts, zur Entwicklungsgeschichte der psychologischen Terminologie“68 weithin jenseits seines Themas „Wortschatz des deutschen Pietismus“ bereits ausgerichtet auf die Goethezeit – auf ein Feld also, dem hier nur die historische Voraussetzung erarbeitet werden sollte. Dieser „Ausgangspunkt“ aber bedingte, daß in Quellenwahl wie Belegauswahl „der affektische, und nicht der […] philosophisch-spekulative Wortschatz im Mittelpunkt“ stand, den Langen für „minder bedeutsam“ hielt.69 Zunächst einmal kann diese Einschätzung selbst unter wirkungsgeschichtlich begrenztem Interesse kaum überzeugen, wenn man über die geniezeitliche Rezeption hinaus bloß an die der Romantik denkt. Sodann aber bleiben mit dieser Vorentscheidung noch weitere breite und gewichtige Teile des pietistischen Sonderwortschatzes aus dem Blick als der von Langen ausgeklammerte der theosophischen Spekulation, die Wortund Argumentfelder nämlich für Glaubensnormen, für die Bestimmung der eigenen Gemeinschaft und die praxis pietatis dieser Gruppe ebenso wie insbesondere der gesamte polemische Wortschatz der Abgrenzung von anderen und die aus Alchimie oder Kabbala eindringende arkane Lexik. Alle diese Quellbereiche hätten freilich gar keinen Platz gehabt in Langens systematischer Gliederung seines Materials in die drei Komplexe „Gottes Einwirkung auf die Seele“ – „Der Weg der Seele zu Gott“ und „Ergänzende Wortgruppen“ („für das Verhältnis von Gott und Seele“). Diese Systematik war ja im Grunde von der (freilich für nur einen kleineren Teil der pietistischen Gläubigen vorbildlichen) via mystica abgeleitet, auf ein (etwa hallisches) Wegmodell des gläubigen Fortschreitens vom Sündenstand über einen Bußkampf hin zu lebensverändernder Wiedergeburt und Gnadenstand aber konnte sie zur Not appliziert werden. Greife ich nur einmal vergleichsweise wahllos einige Stichwörter im Register der ersten fünf Teile der Historie Der Wiedergebohrnen heraus, die Langen doch bereits als eine der ergiebigsten Wortschatzquellen ausgewertet hatte, dann fehlen bei ihm aufgrund seiner methodischen Vorentscheidung etwa so typisch pietistische Begriffe wie (in alphabetischer Ordnung) Aeusserliche Uebungen; Aussprachen des Geistes; Babel welches zu verlassen; Bekehrungs=Staffeln; Bibel=Greiffen; Bücher=Meng; Buß=Lockungen; Creutz= Flüchtigkeit; Erstgeburt geistliche; Geistes=Würckungen; Geistliche Menschen [im Gegensatz zu] Buchstaben=Christ[en]; Gewissen, zartes; Glaub – dunckler nacketer ; Glaubens=Kampff; Gottesdienst, inwendiger ; Hinderungen in einem guten Werck; Kätzermacher ; Natürlicher Mensch; Sadducäer heutige; Schlangen=Klugheit; Sophia göttliche; Sprache der Kinder GOttes; Stern=Geist; Sünde in den H. Geist;
68 Langen (wie Anm. 42), 2. Aufl. 1968, S. VII. 69 Vgl. z. B. ebd., S. 11.
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Tag=Register geistliches; Tod – mystischer ; Verzweifelungs=Zustand; Wachsthum im Guten; Werckheiligkeit; Wort Gottes – inneres; Zeit=Verschwendung.70
Wieviel an sprachlicher Buntheit und eigengeprägter Kraft beim Erschließen der Wortfelder außerhalb des Weg-Schemas der individuellen Gnadenführung für die Sondersprache des Pietismus noch zu erheben wäre, mögen ein paar beliebig gegriffene Beispiele zumeist radikalpietistischer Provenienz zeigen, etwa für die breite Varianz der Gottesanreden und –periphrasen: Abba, Ewige Liebe, mein Liebster, Herzens-Kündiger, Seelen=Freund, Gnaden=Geist, die Liebe, mein Nothelfer, mein Herzallerliebster, wesentliche Gerechtigkeit, Sünden= und Lügenverstörer, Meister der Warheit, Krafft=Nahme, Nahmen / der über alle Nahmen ist, Immanuel, Blut=Bräutigam, Gott des Lichtes, mein Licht=Mann, Durchbrecher, Sophia, Sophigen, Schmeltzer Unserer Seelen, Wiederbringer aller Dinge,
für den polemischen Wortschatz gegenüber den Nichterweckten und widrig Gesonnenen, Splitterrichter, Ceremonien-Stänker, Werkheilige, buchstäbliche Zänker, SchulTheologen, Maul=Christen, Hohenpriester, Schrift=Märterer / Zerrer / Dähner / Zerstümler und Verderber, Mucken Seiger und Camel=Verschlucker [Mt 23,24; Joh. Adam Raabe], Unwiedergebohrne, Baals=Diener, Miedlinge,
oder schließlich für die im Wortfeld der Wiedergeburt angesiedelte Bildlichkeit perinataler Prozesse, von der Zeugung im Geiste bis zum geistlichen Abortus, Ich bin noch ein ungebohrnes Kind, das noch im Leibe seiner Mutter liegt. Mein Stündlein zur Geburt wird ja einmal kommen [Joh. Köhler] – Alle Kinder kommen nicht biß zur vollen Ausgebuhrt; seynd unter ihnen unzeitige Geburten / Embryones […] und geschieht nicht selten ein abortus und Abgang solcher unzeitiger Frucht [N.N. in Reitz’ Historie] – Setzet euch hin zur geistlichen Gebährung / die ihr Christum im Geist gebähret! – Schwanger […] von Gott aus seinem Saamen […] in der Angst der Wiedergeburt […] Haltet die Wehen aus […]. Ihr solt dennoch eine glückliche Geburt haben [J.W. Petersen]; [Das Herz ist] eine Gebähr=Mutter, die von ihrem Mann den Einfluß empfähet und wider zu rechter Zeit gebiehrt; mein Geist arbeitet in Geburts=Wehen […] zur wahren Ausgeburt aus GOtt [J.F. Rock].
Ein wesentlicher Befund der Langenschen Recherche war die unübersehbare Konstanz und Gleichförmigkeit in dem vor allem aus Selbstzeugnissen und Lyrik der unterschiedlichsten Kommunitäten und Regionen erhobenen „affektischen Wortschatz“ für den gesamten Untersuchungszeitraum von der „Barockmystik“ bis hin zum „Biedermeierpietismus“ – auch in der für den gesamten Zeitraum konstatierten Abhängigkeit von den wortschatznähren70 Reitz: Historie Der Wiedergebohrnen. Neudruck (1982, L 2), „Haupt=Register Der vornehmsten Materien und Sachen“ (1716/1717), im Anhang von Bd. 4, S. [273]–[333] (Auszug).
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den Einfluß-Matrices wie der Bibel (v. a. in der Luther-Übersetzung), der Mystik, der Kirchenlieddichtung und älteren Erbauungsliteratur (bis zurück zu den Kirchenvätern), der Barockfrömmigkeit (und ihrer Emblematik) bis zu den in eigener Übersetzung vollständig zu eigen gewordenen Adaptionen ausländischer Vorbilder und Parallelströmungen, v. a. aus englischem Puritanismus, niederländischem Präzisismus und romanischem Quietismus. So formulierte er zusammenfassend: „Bei näherer Prüfung ergibt sich erwartungsgemäß eine starke auch sprachliche Einförmigkeit all dieser pietistischen Schriften“, „ein ziemlich fester Wortschatz häufig wiederkehrender Ausdrücke oder doch Bildungsweisen“, so daß der deutsche Pietismus nicht als „sprachschöpferische Bewegung anzusprechen“ sei, sondern nur den „Mutterboden und Hintergrund der großen Einzelnen“ bot: „man darf wohl sagen, daß, wer eine kleine Zahl solcher Durchschnittserzeugnisse gelesen hat, fast alle kennt.“71 Zweifellos richtig ist es, daß es sehr umfassende Grundbestände zeitlich wie geographisch erstaunlich konsistenter Gemeinschaft in der Kanaanssprache fundamentalchristlicher Gruppen weit über den Kernbereich des Pietismus und seiner Hauptepoche hinaus gibt. Wenn diese in deutscher Sprache vom linken Flügel der Reformation und barocken Spiritualismus bis zu evangelikalen Sondergemeinschaften des 20. Jahrhunderts, wenn sie bis in amerikanisch-pietistische Erwecktenkolonien und Mennonitengruppen bewahrt werden, liegt das außer in gemeinsamen Quellen freilich auch im genuin christlichen Paradox zu weltlichen Anschauungen begründet (Leben–TodParadoxie, Geist–Körper-, gesund–krank-, reich–arm-Paradoxien). Ob es aber im Gemeinschaftlichen (das den Oberbegriff einer Kanaanssprache konstituiert) nicht doch nennenswert spezifizierbare Subvarietäten gibt, müßte mit feinerem Instrumentarium wohl neu erhoben werden. Langen selbst hat eine pietistische Sprachveränderung in dem Augenblick konstatiert, in dem Wortgut aus der goethezeitlichen Weiterentwicklung pietistischer Vorgaben in den Spät- und Neupietismus zurückschlägt. Aber auch im Zentrum der Pietismusepoche war das Bewußtsein für gruppenspezifische Sprachdifferenz bereits entwickelt, und eine Überwindung der Divergenzen unter den durch ihre „Sondermeinungen“ getrennten Kanaansidiomen wurde angemahnt als ein brüderliebend aufgegebenes Ziel: auff daß die vom Hause Jacob wandeln mögen in einem Geist und in einerley Fußtapffen / und die Inwohner Jerusalems gleiche Sprache führen / und in einem Gemüth und Sinne eingerichtet seyn mögen. […] Ja die Sprache deß Geistes und die schöne und erbauliche Friedens=Sprache fehlet uns / meine Brüder : Man siehet an uns die Zungen zertheilet / aber nicht als wie am Pfingst=Fest / sondern leyder wie in
71 Langen (wie Anm. 42), 2. Aufl. 1968, S. 11, 8, vgl. S. 10, 390 ff., 417 ff., 427–431.
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Babel: darum ist auch alles also in das seine und die Sinne zerstreuet / daß der Schade fast nicht zu heilen / und kein guter Vorsatz zur Sammlung nicht gedeyen will […].72
Insbesondere die (in den divergierenden pietistischen Strömungen und bei einzelnen Schreibern höchst unterschiedlich präsente) mystische Tradition wurde bereits damals als sprachlich markant eigengeprägt gesehen, etwa von Jung-Stilling: Die erste Hauptursache des Verdachts gegen die wahre Mystick liegt unstreitig in der Dunkelheit und Unbestimmtheit des Styls und der Kunstwörter, deren sich die mystischen Schriftsteller von jeher bedient haben: Die Ausdrücke Durchbruch, Vernichtigung, nackter Glaube, dunckler Glaube, mystischer Tod, Einkehr in den Seelengrund u.d.g. sind von der Art, daß man sich leicht Dinge dabey denken kann, die ganz verschieden von denen sind, die sich der Mysticker dabey denkt, und die man sich dabey vorstellen muß, wenn man ihn richtig verstehen will.73
Aber auch noch in der Erweckungsbewegung zur Zeit der Romantik war das Bewußtsein rege, daß unter den entschiedenen Frommen jede Kommunität in der gemeinsamen Kanaanssprache eine eigene Spezifität entwickelt habe. Als Johann Ludwig Ewald 1800 in Verlängerung der alten sammelbiographischen Tradition eine Christliche Monatsschrift, zur Stärckung und Belebung des christlichen Sinns mit erbaulichen Zeugnissen aus beiden evangelischen und aus der katholischen Kirche, aus Brüdergemeinen, Mennoniten und von den „ernsten, liebevollen Pietisten“ eröffnet, gibt er der Hoffnung Ausdruck, daß sie zwar alle auf getrennten Wegen und jeweils für sich ringen, um einzugehen durch die enge Pforte, sich aber nicht anmassen, über den Ernst und die Frömmigkeit derer zu urtheilen, die einen andern Weg gehen, eine andre Sprache führen, als sie.74
72 Theosophia Pneumatica, 1710 (wie Anm. 15), Vorrede Johann Friedrich Haugs, S. F 1v. 73 Johann Heinrich Jung, genannt Stilling: Vorrede zu: [Johann Christian Stahlschmidt]: Die Pilgerreise zu Wasser und zu Lande, oder Denkwürdigkeiten der göttlichen Gnadenführung […], Nürnberg 1799, S. V. – Jung-Stilling erläutert das zusammengestellte Wortmaterial, das ja durchweg vom französischen Quietismus, namentlich der Madame Guyon, entlehnt ist, ungenau aus patrologischen Lektüren und platonisch-gnostischen Ideen der in kathol. Frömmigkeit beheimateten Mystik. Aufschlußreich aber sind seine Ausführungen zur Bedeutung des über die Mystik hinaus im ganzen Pietismus verbreiteten „ineffabile“-Topos: Er entspringe aus der „Gewißheit des Daseyns eines unaussprechlich einfachen Wesens, wovon man aber auch weiter nichts als eben dieses Daseyn erkennt“. Die in Sprachnot vor der Übermacht der Gottesbegegnung stürzende „Empfindung der Nähe dieser schlechterdings unverkennbaren Majestät, deren Gröse mit nichts verglichen werden kann, zieht dann die Seele mächtig empor, und erleichtert den Fortschritt auf dem Weg der Heiligung ungemein; alle Mysticker beschreiben dies Gefühl ohne gleichen, aber alle stammeln auch nur : denn es ist durchaus unbeschreiblich.“ Ebd., S. XXX. 74 Christliche Monatsschrift zur Stärckung und Belebung des christlichen Sinns, 1. Jg., St. 1. Hg. von Johann Ludwig Ewald, Nürnberg 1800, S. 2 (Einleitung).
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Diese Varianz aber innerhalb eines durch übergeordnete Gemeinsamkeiten zusammengeschlossenen Feldes wäre detaillierter überhaupt erst noch zu erheben.75 Dabei wäre außer auf den leichter faßbaren Spezialwortschatz auf die semantischen Abweichungen derselben Wörter zwischen den verschiedenen Gruppen und gegenüber der Gemeinsprache zu achten wie übrigens auch auf die Möglichkeit einer geradezu konträren Bedeutung desselben Worts beim selben Autor, die nur aus dem Kontext zu ermitteln ist: ein „Abgrund“ etwa kann ebenso für tiefste Verlassenheiten in Bußkampf und Anfechtung stehen wie gegenläufig (in mystischer Tradition) den Ort seligster Begegnung und Vereinigung der Seele mit Gott bezeichnen. Deutliche ,Subvarietäten‘-Besonderheiten sind offenkundig für die besonders auf einen mystischen Frömmigkeitstyp hin orientierten Gruppen oder auch Individuen (z. B. Gottfried Arnold, Johann Friedrich Rock oder Gerhard Tersteegen heben sich in Intensität und Häufigkeit ihrer mystischen Terminologien durchaus von ihren jeweiligen Gemeinschaftskontexten ab). Dies aber gilt gleichermaßen etwa für die philadelphisch orientierten Gruppen mit ihren eher böhmistischen und ekklesiomachischen Sprachformeln, für den Radikalpietismus überhaupt mit seinem (freilich auch bei Oetinger oder Lavater begegnenden) verstärkt spekulativen Sprachschatz, für die Inspirierten, bei denen Revelationsbegriffe und das Wortfeld geistgetriebener Äußerungen erwartungsgemäß bevorzugt werden, oder für die Herrnhuter nicht allein aufgrund ihrer zeitweiligen, gerade auch sprachlichen Hochtreibung der Blut- und Wundenbildlichkeit. Und wie sich bei solcher Spezifikation bereits angedeutet hat: Auch die Langensche Hypothese einer so erdrückenden, unschöpferischen Gleichförmigkeit der pietistischen Sprache, daß die sprachschöpferisch (und literarisch) „großen Einzelnen“ nicht im pietistischen Umfeld selbst, sondern nur unter den späten Erben ausgemacht werden könnten, wird man in differenzierterer Bestimmung des Eigenkräftig-Besonderen im Gemeinschaftlichen neu bedenken und zweifellos revidieren müssen. Als vorrangig zu besichtigende Kandidaten einer sich vom pietistischen Ebenmaß formkräftig abhebenden Individualsprache möchte ich im Vorfeld des Pietismus Christian Hoburg und Johann Jacob Zimmermann näherer Aufmerksamkeit anempfehlen, in der ersten Kerngeneration Arnold, Tuchtfeld und Horch, Dippel und Carl, Tennhardt, Rock, Christoph Schütz und Johann Adam Raabe, in der folgenden herausragend Tersteegen,76 Zinzendorf und (in Amerika) Beissel, unter den späteren namentlich Oetinger, dann Bräker und Lavater. 75 Einen hochproduktiven Problemaufriß des sich hier eröffnenden Forschungsfelds gibt Hartmut Lehmann in seinem einführenden Hinweis auf die aktuell vordringlichsten „Probleme und Aufgaben der Pietismusforschung“. Glaubenswelt und Lebenswelten (wie Anm. 10), S. 8–10. 76 Spezifisch auf die Lyriksprache Tersteegens gehen ein Hans-Georg Kemper: Vielsinnige ,Blumen‘-Lese. Zum literarhistorischen Standort Gerhard Tersteegens. In: Pietismus und Neuzeit 19 (1993), S. 117–142, und Schrader : Hortulus mystico-poeticus (1997, L 21); im vorliegenden Band S. 457–487. Vgl. die Worterläuterungen zu Tersteegens theologischen Traktaten in Ger-
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Systematisch erfaßt ist die jeweilige Relation von Teilhabe am Gemeinsamen und spezifischer Besonderheit noch für keine der spezielleren Richtungen, für keinen der Einzelnen. Vor allem, wenn man bedenkt, daß jedes der für die Sondergruppen genannten Kennzeichen in verminderten Intensitäts- und Häufigkeitsgraden auch bei andern auftritt (vereinzelt etwa auch das gesamte institutionenfeindliche Vokabular der radikalen Gruppen bei fast jedem kirchentreu-gemäßigten Pietisten), erforderte solche Recherche kompliziertere lexisch-quantifizierende und stilistisch charakterisierende Erhebungsverfahren. Und für die zweifellose Entwicklung der Kanaanssprache bei ihren vielfach getrennten Erben von etwa 1750 bis in unsere Zeit wäre analog zu verfahren, wobei eine besondere Schwierigkeit darin liegt, ein erstmaliges Auftauchen und die Ausbreitung neuhinzukommender Wörter und Wendungen wenigstens näherungsweise zu erfassen, eine noch größere aber im erforderten Augenmerk auf das – für den Sprachwandel ebenso wichtige – Außer-Kurs-Geraten von alten Sprachformeln, die als nicht mehr zeitgemäß abgestoßen werden. Daß dabei der Sonderwortschatz nicht nur von theologischen Grundpositionen abhängig ist, sondern mit dem Grad an fundamentalistischer Radikalität auch zunimmt, so daß man größte Varianz von der Gemeinsprache – also die dichtest-gesteigerte und somit „reinste“ pietistische Sondersprache – gerade bei den Außenseitern findet, haben auch die frühen Pietisten selbst im Übergang vom 17. zum 18. Jahrhundert schon gesehen, übrigens auch die im Übertreiben schließlich ganz zerbrechende Kommunikationsbasis mit der gemeinsprachlichen Mitwelt. Das Beispiel des vom erfolgreichen Kaufmann zum weltflüchtigen Eremiten gewordenen Anonymus in der Historie Der Wiedergebohrnen zeigt zugleich, daß solche Intensitätssteigerungen kaum mehr allein durch Wortschatzerhebungen beschreibbar oder gar meßbar werden. Ergänzend erforderlich werden vielmehr weit kompliziertere phraseologische Analysetechniken. O daß nun alle meine Gebeine Zungen / und alle die Gewerbe und Räder meines Seelen=Rads hurtig gemacht wären durch das Oel seines Geistes / sein vielfältiges Lob und seine unverrückte Liebe gegen mich zu verkündigen! Da ich aber in diesem unermeßlichen Meer der süssen Gnade GOttes badete / bekam ich bald einen Dorn ins Fleisch; nemlich einige Freunde / die mich in dieser Einsamkeit zu besuchen kamen / und […] meistens fleischliche Menschen waren / die nur dem Gott dieser Welt dieneten. Unter diesen war ein grosser Kauffmann / mit dem ich vorhin in Compagnie gestanden / und der nun an meinem Thun und schlechten equipage keinen Gefallen hatte. Die Sprache Canaans war ihm so unbekannt / daß wir in unserm Gespräch einander allezeit entgegen=lieffen.77
hard Tersteegen: Abhandlungen zu Frömmigkeit und Theologie. Hg. von Johannes Burkardt, Leipzig 2018 (Edition Pietismustexte, Bd. 12). 77 Historie / Von einem Einsidler / N. N. oder einem grossen Kauffmann / der seine Handthierung
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Die Sprache Canaan
Die in der Hochtreibung dieses Kanaansjargons liegende Gefahr nicht nur eines Verlusts jeder Verständlichkeit, sondern auch eines Umschlags in Scheinheiligkeit, sobald die fremdartigen Formeln nicht mehr aus spontaner Empfindung und Sprachnot entspringen, sondern schon den Kindern zu papageienhaftem Leerlauf eindressiert werden, bringt in demselben Buch die durchaus entschieden pietistisch gesonnene Weseler Bürgerin Catharina Borns zum Ausdruck, wenn sie sich gegen solche bigotten Pietätsdompteure entrüstet: so lehren sie ihre Kinder halb Jüdisch und halb Asdodisch reden / das ist / GOtt dienen mit dem Mund / und dem Mammon und der Welt mit dem Herzen und in der That. Nehem. 13,24.78
Sind Zeit und Raum, die meinem Perspektivvortrag verfügbar sein konnten, damit am Ende, bleibt doch für das Thema noch fast alles noch zu tun. So reizvoll es dem Redner auch gewesen wäre, aus Selbstgesammeltem weitere Beispiele insbesondere für die uns exotisch anmutenden „Kraft- und Saftausdrücke“ des pietistischen Wortschatzes zum Besten zu geben, hätte ich mich damit im gegebenen Rahmen ruchloser Verschwendung der uns gewährten kostbaren und edlen Zeit schuldig gemacht, als „ein rechtes Rabenaas“ also und ein „wahrer Sündenkrüppel“.
auffgegeben / Um GOtt besser zu dienen. (Originalversion 1697 in Amsterdam gedruckt). In: Reitz: Historie Der Wiedergebohrnen. Neudruck (1982, L 2), Bd. 2, Teil V, Idstein 1717, S. 223. 78 Historie von Catharina Borns / einer Bürgers=Tochter aus Wesel. In: Ebd., Bd. 2, Teil IV, Idstein 1716, S. 57.
Pietistisches Publizieren unter Heterodoxieverdacht Der Zensurfall ,Berleburger Bibel‘* [1988, L 14]
Der Obertitel meines Diskussionsbeitrags benennt ein ebenso eklatantes wie folgenschweres Skandalon in der Geschichte des staatlichen Anspruchs auf die Kontrolle von Druckerpresse und Buchhandel im Deutschen Reich während des letzten Drittels des 17. und in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Bei einer strengen Observanz der in dieser Zeit gültigen Buchdruckerordnungen hätte nämlich zumindest ein erheblicher Teil dessen, was heute unter der Kategorie einer „pietistischen Literatur“ unsere Bibliotheken füllt und wenigstens bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts zur wichtigsten Lektüre eines Großteils der gut 10 Millionen Einwohner protestantischen Bekenntnisses im deutschen Sprachraum gehörte, gar nicht existieren dürfen. Nach strikt orthodoxer Auffassung am Beginn dieses Zeitraums wären die Pietisten als Anhänger einer Gemeinschaft, die nicht eindeutig auf dem dogmatisch-fixierten Bekenntnisgrund einer der drei im Reich zugelassenen Kirchen basierte, und somit einer durch die Konfessionsbestimmungen des Westfälischen Friedens verbotenen quarta species religionis generell von einer Verbreitung ihrer Ideen durch die Medien des Buchdrucks auszuschließen gewesen.1 Selbst dort aber, wo man in den lutherischen und reformierten Territorien über den geistlichen, sittlichen und politischen Nutzen der neuen breitenwirksamen Frömmigkeits- und Reformbewegung gelinder dachte, wo man sie sogar bewillkommnete und möglichst vollständig in die eigene Landeskirche und Theologie zu integrieren suchte, hätte zumindest jener ge* Meine hier erneut vorgelegte erste Fallstudie zu den Funktionsmechanismen und Zugriffsgrenzen der Zensuraufsicht über religiöse Schriften im 18. Jahrhundert sowie zunehmender Freiräume war ein Beitrag zum 7. Jahrestreffen des Wolfenbütteler Arbeitskreises für Geschichte des Buchwesens im Mai 1985 (Tagungsband 1988, vgl. L 14). Ihre ursprüngliche Form konnte um so eher ohne umfängliche Nachträge zur seitherigen Forschung beibehalten werden, als diese in den Aufsätzen des vorliegenden Bandes, insbesondere „Lesarten der Schrift“ (1996, L 20), S. 285–305, „Madame Guyon, Pietismus (2002, L 27), S. 419–456, „Zores in Zion“ (2009, L 44), S. 591–623, und „red=arten u[nd] worte behalten“ (2014, L 53), S. 307–345, eingearbeitet wurden. 1 Der für alle Versuche, den Pietisten als einer vermeintlich neuen Religionsgemeinschaft jede Duldung im Reich abzusprechen, im „Instrumentum Pacis Osnabrugense“ entscheidende Passus ist der Artikel VII (insbes. § 2:) „Sed praeter religiones supra nominatas [Katholiken, Lutheraner und Reformierte] nulla alia in sacro imperio Romano recipiatur vel toleretur.“ Instrumenta Pacis Westphalicae. Hg. von Konrad Müller, Bern 1949 (Quellen zur neueren Geschichte, Bd. 12/13), S. 47 und 134.
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Pietistisches Publizieren unter Heterodoxieverdacht
wichtige Teil des pietistischen Schrifttums weder gedruckt noch gar verbreitet werden dürfen, der offenkundig heterodoxe, von den maßgeblichen Glaubenswächtern verworfene Sonderlehren propagierte, der die dogmatischen Abgrenzungen zwischen den Konfessionen als widerchristliche Menschenmeinungen anprangerte oder sogar wortgewaltig zur Separation von allen kirchlichen Institutionen aufrief. Schon auf den ersten Blick erkennbar, hätte jede Obrigkeit und jedes Zensurorgan den Druck und Vertrieb jenes starken Prozentsatzes dieser radikalpietistischen Literatur unterbinden müssen, der gegen alle Ordnung anonym oder pseudonym herauskam, teilweise sogar ohne die gebotene Indikation des Herstellungsorts, des in erster Linie zensurpflichtigen Druckers und des mitverantwortlichen Verlegers. Die Geschichte dieser Literatur und ihrer sukzessiven Ausbreitung innerhalb wie außerhalb der Grenzen der protestantischen Reichsterritorien – zugleich eine Geschichte der schrittweise erweiterten Toleranzfreiräume des gedruckten Worts zumindest im Bereich der religiösen und weltanschaulichen Publikationen – kommt also einer Historie der Niederlagen des alten Zensursystems in Deutschland gleich bis hin zu dem Zeitpunkt, da das massenweise Durchlöchern aller Schutzdämme dieses Aufsichtssystem nahezu gänzlich unwirksam gemacht hat, ungefähr eine Generation, ehe es sich im Hinblick auf eine rigide Überwachung nun der politischen Meinungsäußerungen abermals, wenigstens auf Zeit, neu zu etablieren vermochte. Deutlich wird an diesem quantitativ gewichtigen Sektor der religiösen, insbesondere thetisch-polemischen Buchproduktion, wie wenig für die zensurgeschichtliche Erforschung dieses Zeitraums die Kenntnis allein der Bestimmungen und Ordnungen austrägt, denen der Buchdruck unterworfen war und nach deren Maßgabe die Zensur zu erfolgen hatte, wie entschieden wir dagegen ausgebreiteterer Fallstudien über die tatsächliche Handhabung und die Durchsetzungskraft der zensorischen Kontrolle bedürfen. Diese dürfen nicht auf die mehr oder minder aufsehenerregenden Fälle zensorischer Maßregelungen beschränkt bleiben. Trotz aller gravierenden Restriktionen, die das Aufsichtssystem innerhalb der Reichweite seines Funktionierens der freien publizistischen Meinungskundgabe einzelner Autoren auferlegt hat, trotz ruinöser Sanktionen gegen einzelne Drucker mit den bekannten Folgen von Verunsicherung und vorbeugender Selbstzensur sind für die Entwicklungen des Oppositionsverhältnisses von zensorischem Gesinnungsdruck und erweiterten Toleranzspielräumen im 18. Jahrhundert jene Bruchstellen aufschlußreicher, die schließlich bewirkten, daß die Zensur auf breiter Front immer folgenloser unterlaufen werden konnte. Denn die Unterdrückung mißliebigen oder für gefährlich erachteten Gedankenguts verliert schon dann erheblich an Wirksamkeit, wenn sie nicht lückenlos zu gewährleisten ist, sobald nämlich Ideen, die nicht in Umlauf kommen sollen, irgendwo doch ungehindert ein Medium finden können, dessen umfassende Verbreitung im ganzen Lande dann nicht mehr zu unterbinden ist. Dadurch entstehen zu-
Der Zensurfall ,Berleburger Bibel‘
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gleich Präzedenzfälle, die das geistige Klima verändern und die Zensurpraxis auch anderwärts entschärfen. In diesem Punkt der praktischen Wirksamkeit ergäben Analogieschlüsse von dem weit besser erforschten Zensursystem nach der Französischen Revolution oder gar dem neuerer Zeiten auf die hier in Frage stehende Ära ein völlig falsches Bild und sind darum unzulässig. Die spezifischen Bedingungen, unter denen theologisch radikale und antikirchlich-separatistische Publikationen pietistischer Autoren in so großer Zahl entstehen und teils über den normalen öffentlichen Buchmarkt, teils über ein außerinstitutionelles Vertriebssystem der „Erweckten“ verbreitet werden konnten, versuche ich im folgenden in ein paar Umrißlinien zu skizzieren. Ich resümiere dabei einige Ergebnisse meiner monographischen Studie Literaturproduktion und Büchermarkt des radikalen Pietismus, in der ich wesentlich umfassender auch die Zensurproblematik für die Literatur des radikalen Pietismus untersucht habe.2 Dort habe ich die Geschichte der frühesten leistungsstarken Produktionszentren dieses Schrifttums im Reichsgebiet beleuchtet: der Druckereien und Spezialverlage sowie ihrer Publikationsleistung in westdeutschen Kleingrafschaften wie dem isenburgischen Offenbach (seit 1686), dem nassauischen Idstein (seit 1710) und dem wittgensteinischen Berleburg (seit 1714). Dabei war die jeweilige besondere staats- und kirchenpolitische Situation zu erkunden, die ein Publizieren auch von offenbar Heterodoxem ermöglichte, gutenteils sogar unter vollem Namen der Verfasser wie auch der Drucker oder Verleger, und die spezifische Interessenlage der Landesherren, die eine Inobödienz ihrer Zensoren gegenüber verbindlichen Bestimmungen der Bücheraufsicht entweder durchgehen ließen oder gar gezielt förderten und – wo erforderlich – gegenüber Kaiser und Reich zu verantworten bereit waren. Ein aufschlußreiches Muster solchen landesherrlichen Verhaltens und einen Beleg für die in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts bereits erreichten Lizenzen für ein pietistisches Publizieren unter Heterodoxieverdacht stellt der in meinem Untertitel genannte Zensurfall der ,Berleburger Bibel‘ dar, der außerordentlich ergebnisarm verlaufende Versuch der versammelten protestantischen Reichsstände, im Jahre 1724 den Druck des großen, offensichtlich unrechtgläubigen Bibelwerks zu verhindern, das dann gleichwohl in acht schweren Folianten 1726–1742 auf den Markt gebracht worden ist und ungehindert verbreitet werden konnte. Der Casus fällt bereits in einen Zeitraum schwankend gewordener Fronten der religiösen Bücheraufsicht und zeigt paradigmatisch die Diskrepanz zwischen Anspruch und Durchsetzungskraft der zensorischen Kontrolle gegen theologisch beargwöhnte Literatur im dritten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts. 2 Schrader: Literaturproduktion (1989, L 1). In dieser erst im Jahr nach diesem Aufsatz erschienenen Monographie gibt es weit umfassendere Literaturhinweise zur Forschung. Hier ließen sie sich daher, abgesehen von Zitatnachweisen, auf Angaben zu den wichtigsten Quellen und Grundlagenarbeiten konzentrieren.
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Pietistisches Publizieren unter Heterodoxieverdacht
Das Besondere an dem Fall ist nicht eigentlich, daß das Erscheinen des inkriminierten Druckwerks und der überregionale, auch internationale Handel mit ihm durch die Intervention von Körperschaften des Heiligen Römischen Reichs gegen den Willen des zuständigen Territorialherren nicht verhindert werden konnten, sondern daß das institutionell träge, diplomatisch heikle und in der Konsequenz kaum zu exekutierende Aufsichtsverfahren der übergeordneten Reichsinstanz gegen die als lax befundene Zensurausübung des Berleburger Grafen überhaupt durchgeführt worden ist. Gegen das allenthalben als suspekt verrufene Publikationszentrum Berleburg ist das nämlich nur dieses einzige Mal geschehen, wo es nicht um die Unterbindung irgendeines normwidrigen Traktats, sondern um die Reinerhaltung des göttlichen Wortes selbst ging. Formal ist dabei alles ganz ordnungsgemäß zugegangen. Und ebenso formal wurde dem Recht Geltung verschafft – nur stand das praktische Ergebnis in keinem irgend angemessenen Verhältnis zum dazu erforderten Aufwand. Lassen Sie mich von den in Grundzügen schon seit Goldfriedrichs Buchhandelsgeschichte bekannten, durch die Arbeiten von Eisenhardt, Mälzer, Franz, Breuer und Kanzog aber wesentlich klarer überschaubaren Ansprüchen und Durchführungsbestimmungen der Literaturzensur3 – noch in der erörterten Zeitspanne – nur knapp jene Hauptpunkte rekapitulieren, die für den konkreten Fall Bedeutung haben: Zuständig für die Aufsicht über die Herstellung und den Vertrieb aller Presseprodukte in den Territorien des Deutschen Reichs, für die Verhinderung aller Schriften, die „schädlichen Einfluß in Ecclesiam, Rempublicam oder Mores“ befürchten ließen, und für die gebührende Bestrafung aller Autoren, Drucker, Verleger und Händler, die der Zensurpflicht nicht nachkamen oder unzensierte bzw. gar für schädlich befundene Schriften verbreiteten, war zunächst und in erster Linie der jeweilige Landesherr. Seiner Aufsicht (bzw. der seiner Zensurbehörde) waren dann – jedenfalls der Theorie nach – die imperialen Institutionen überge3 Basisinformationen für den hier behandelten Zeitraum und Problemkreis bei Johann Goldfriedrich: Geschichte des Deutschen Buchhandels vom Westfälischen Frieden bis zum Beginn der klassischen Literaturperiode (1648–1740) = Friedrich Kapp / Johann Goldfriedrich: Geschichte des Deutschen Buchhandels, Bd. 2, Leipzig 1908, bes. S. 454 ff. Detaillierter Ulrich Eisenhardt: Die kaiserliche Aufsicht über Buchdruck, Buchhandel und Presse im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation (1496–1806). Ein Beitrag zur Geschichte der Bücher- und Pressezensur, Karlsruhe 1970 (Studien und Quellen zur Geschichte des deutschen Verfassungsrechts, Reihe A, Bd. 3), v. a. S. 5–23, 153 f.; Gottfried Mälzer: Bücherzensur und Verlagswesen im 18. Jahrhundert beschrieben aus der Sicht des Autors J. A. Bengel. In: Archiv für Geschichte des Buchwesens 13 (1973), S. 289–316; – Günther Franz: Bücherzensur und Irenik. Die theologische Zensur im Herzogtum Württemberg in der Konkurrenz von Universität und Regierung. In: Theologen und Theologie an der Universität Tübingen. Hg. von Martin Brecht, Tübingen 1977 (Contubernium, Bd. 15), S. 123–94; – Dieter Breuer : Geschichte der literarischen Zensur in Deutschland, Heidelberg 1982 (Uni-Taschenbücher, Bd. 1208), v. a. S. 28–30, 86–93; Klaus Kanzog: Zensur, literarische. In: Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte, Bd. 4, hg. von Klaus Kanzog und Achim Masser, Berlin – New York, 2. Aufl. 1984, S. 998–1049, v. a. S. 1005 f., Lit.: S. 1009 f., 1027–1031.
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ordnet. Die kaiserliche Bücherkommission in Frankfurt hatte über die strikte Einhaltung und womöglich gleichartige Durchführung der territorialen Aufsichts- und Sanktionsmaßnahmen zu wachen. Der Reichshofrat, ggf. das Reichskammergericht und der Reichsfiskal hatten nicht nur die Vernichtung und Abstrafung der auf der Länderebene unentdeckt bzw. ungeahndet gebliebenen schädlichen Publikationen zu gewährleisten, sondern notfalls auch gegen nachlässige Zensoren und deren Landesherren vorzugehen. Daß die allgemeinverbindlichen Reichsbestimmungen hinsichtlich des Buchdrucks jahrhundertelang in fast allen Territorien gleichmäßig eingehalten wurden, lag nun allerdings weniger an ihrer reichsrechtlichen Durchsetzungskraft als daran, daß die Fürsten und reichsunmittelbaren Munizipien selbst aus Gründen der inneren Ordnung und äußeren Reputation an ihrer grundsätzlichen Beachtung interessiert waren und ihr eigenes Aufsichtssystem daran orientierten. Dieses war in seinen Grundlagen und dominanten Zielsetzungen bestimmt durch die Verzahnung politischer und theologischer Funktionen und Interessen, auf die die Landesobrigkeiten wenigstens bis zum Ende des alten Reichs ihre Macht und relative Eigenständigkeit zu stützen vermochten. Der Landesherr verstand sich ja nicht nur als die von Gott verordnete weltliche Obrigkeit, sondern zugleich als oberster Schirmherr – in den lutherischen Fürstentümern sogar als höchster Bischof – der Kirche seines Landes und als Garant ihrer Rechtgläubigkeit. Die Rechte, die er aus der reichsgesetzlich reglementierten konfessionellen Schutz- und Aufsichtszuständigkeit ableiten konnte, boten ihm nicht nur eine wirkungsvolle Stütze seiner internen Machtausübung, sondern auch einen weitgehenden Schutz gegen äußere Einsprüche in seine inneren Angelegenheiten und damit eine wesentliche Grundlage zur Entfaltung des landesherrlichen Absolutismus. Aus dieser konfessionellen Grundlage obrigkeitlicher Machtfülle wird erklärlich, daß Schriften religiösen oder theologischen Inhalts bis zum Ende des 18. Jahrhunderts deutlich im Vordergrund des Aufsichtsinteresses standen und vorrangig von zensorischen Reglementierungsmaßnahmen betroffen waren.4 Der durch die Bücheraufsicht zu gewährleistende Schutz von Religion und Kirche diente seit dem Zerfall der Glaubenseinheit im Reich zur Reinerhaltung der im jeweiligen Territorium staatsverbindlichen Konfession und zur Abwehr aller sie bedrohenden äußeren und inneren Störfaktoren. Von Reichs wegen gab es dagegen seit dem Augsburger Religionsfrieden grundsätzlich kein Einspruchsrecht mehr. Der Kaiser konnte außerhalb seiner Stammländer nur 4 Vgl. die beispielhaften Erörterungen dieser Zusammenhänge für ein katholisches Territorium: Dieter Breuer : Zensur und Literaturpolitik in den deutschen Territorialstaaten des 17. Jahrhunderts am Beispiel Bayerns. In: Stadt – Schule – Universität – Buchwesen und die deutsche Literatur im 17. Jahrhundert. Hg. von Albrecht Schöne, München 1976, v. a. S. 473–480, 486 f. und 572 f.; zusammenfassend auch ders.: Geschichte der literarischen Zensur (wie Anm. 3), S. 39–42. – Für ein protestantisches Territorium (Württemberg): Franz: Bücherzensur und Irenik (wie Anm. 3), S. 128–136, 153–158.
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noch gegen solche Schriften vorgehen, die der gesamten „christlichen Lehr und zu Augsburg aufgerichteten Religionsfrieden“ schädlich waren (Reichspolizeiordnung von 1577, ähnlich auch noch das Edikt Kaiser Karls VI. vom 18. Juli 1715). Das waren alle sektiererischen Schriften, die also in keiner der zugelassenen Konfessionen Rückhalt fanden, und v. a. Hetz- und Schmähpamphlete, die den interkonfessionellen Frieden und die Einzelbestimmungen des mühsam errungenen religionspolitischen Ausgleichs gefährden konnten. „So war der Kaiser vom Beschützer der einen christlichen Kirche zum Wahrer des Religionsfriedens geworden.“5 Was in einem protestantischen Lande für rechtgläubig, den Grundsätzen der eigenen Konfession gemäß gehalten werden durfte, darauf wollten die evangelischen Reichsstände dem katholischen Wiener Hof keinesfalls mehr ein Urteilsrecht zugestehen. Mit unmißverständlicher Deutlichkeit vertritt ein Gutachten des ysenburg-büdingenschen Rates Johann Heinrich Marmor, der schon zuvor in der Grafschaft Waldeck beherzt für pietistische Reformen eingetreten war, 1737 diese Auffassung zur Frage des Rechtes auf Toleranz gegenüber den Herrnhutern: Wollte man einwenden, der Kayser und die Päpstliche Janitscharen die Jesuiter erkenneten diese Leuthe vielleicht nicht für Protestanten, und des Westphälischen Friedens derhalben unfähig, so antworte kurz: der Kayser und die catholische Geistlichkeit haben hierüber keine Cognition, sondern die Protestanten allein, […] quis augustanae Confessionis sit concors, soli dijudicant Evangelici seu Protestantes, antworteten 1637 die Schweden denen catholischen zu Osnabrück, als diese die reformirte nicht wollten für augspurgische confessions Verwandte passiren laßen […]. Wann es auf des Kaysers und der catholischen Pfaffen Erkantnus ankommen sollte, wer ein orthodoxer Protestant wäre, so würden gewißlich weder protestantische Herren noch Unterthanen mehr in dem Römischen Reich zufinden seyn, sondern sie würden entweder den Rosen Cranz oder den Wanderstab in die Hände haben nehmen und sich des Westphälischen Friedens unfähig erklären laßen müßen.6
Das aber bedeutet: In Fragen, die die zensorische Garantie der Reinerhaltung eines der beiden evangelischen Bekenntnisse berührten, wurde das kaiserliche Aufsichtsrecht über die Druckproduktion und Bücherverbreitung in protestantischen Ländern bestritten und war de facto nicht durchsetzbar. Die einzigen Reichsorgane, denen man hierin einen Einspruch in die landesherrliche Zensurausübung gestattete, waren einerseits die im Corpus Evangelicorum versammelte Gemeinschaft aller protestantischen Reichsstände und andererseits im Konfliktfall das zunächst Regensburger, später Wetzlarer Reichskammergericht. 5 Eisenhardt: Die kaiserliche Aufsicht (wie Anm. 3), S. 23, vgl. ebd., S. 19 ff. und 55 ff. 6 Aus dem Büdinger Schloßarchiv publiziert von Hans Schneider: Johann Heinrich Marmor (1681–1741). In: Geschichtsblätter für Waldeck, Bd. 66, Arolsen 1977, S. 149.
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Die Funktionsfähigkeit des Aufsichtssystems über die Buchproduktion im evangelischen Deutschland geriet bei noch fortdauerndem gemeinschaftlichen Interesse der Fürsten und Stadtobrigkeiten im ganzen durch fallweise Opportunitätsentscheidungen zu zensorischer Laxheit noch nicht ins Wanken. Zensurlücken dieser Art entstanden, wenn z. B. einigen am Hofe oder im Konsistorium hochgeachteten Autoren persönliche Zensurfreirechte eingeräumt wurden, wie z. B. dem spekulativen Pietisten Johann Albrecht Bengel in Stuttgart oder – aufsehenerregender – dem chiliastischen „Irrlehrer“ Johann Wilhelm Petersen in Greiz, oder wenn der Landesherr (wie in Württemberg) mit der theologischen Fakultät und dem Konsistorium zwei konkurrierende Zensurinstanzen installiert hatte, die in ihren Aufsichtsentscheidungen praktisch gegeneinander auszuspielen waren, schließlich auch, wenn die Behörden beim Druck des Traktates eines Landeskindes außerhalb der Landesgrenzen bewußt durch die Finger sahen, weil die Schuld für etwaiges Ärgernis auf die Obrigkeit des Druckers und von dieser wiederum auf die Obrigkeit des Autors abgeschoben werden konnte: „Imprimatur extra Patriam sine Censura. ex Concluso Consistorii.“ Auf „sonderliche permission“ konnte hier und da sogar eine zensurrechtlich fragwürdige, politisch aber erwünschte Schrift zum Schutz gegen diplomatische Unannehmlichkeiten halboffiziell zu anonymen Druck zugelassen werden. Eindeutig heterodoxes, mystisch-asketisches, spiritualistisches und radikal-kirchenkritisches Schrifttum war dadurch bis an die Wende zum 18. Jahrhundert im Reichsgebiet erst in seltenen Ausnahmefällen zu drucken. Publiziert werden konnte es gleichwohl auch schon im Barock in größerem Umfang: darauf nämlich hatten sich deutschsprachige Druckereien jenseits der Reichsgrenzen oder in (von außerdeutschen Potentaten regierten) Randterritorien des römisch-deutschen Imperiums spezialisiert, so etwa die niederländischen Drucker Jacob van Velsen, Salomon Savij, Henricus Betkius, Joh. Boekholt, Jason van Waesburge und Heinrich Wetstein oder in den zum dänischen Königreich gehörigen Vorstädten Hamburgs Cornelis van der Meulen, Philipp Hoburg und später Christian Reymers in Altona oder Hermann Heinrich Holle in Wandsbek. Als literarische Konterbande hatten deren Bücher auch schon relativ ungehindert in das Reich, teilweise sogar auf die Messen gebracht werden können. Denn im Gegensatz zur Druckzensur war in den protestantischen Territorien die Aufsicht über den Buchhandel und schon gar über den privaten Bücherbesitz unterentwickelt. Grundsätzlich verändert aber war die Situation, seit das Interesse einiger deutscher Landesherren im Reichsgebiet an einer orthodoxen Reinerhaltung des Bekenntnisses ihrer Landeskinder nachließ und sie sich von der Verbreitung antidogmatischer, irenischer und anderer theologisch suspekter Schriften einen die Reputation ihrer Rechtgläubigkeit überwiegenden politischen, wirtschaftlichen oder religiösen Nutzen versprachen. Dieser Fall einer willfährigen oder gar tatkräftigen Unterstützung einer heterodoxen Bücherproduktion im Lande bei absichtlichem Verzicht auf strenge Zensurausübung
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ist in gewichtigem Ausmaß zuerst in einigen der politisch wie ökonomisch bedeutungslosen Zwergterritorien zu konstatieren, im Gebiet der sogenannten Wetterauer Grafenbank zwischen dem Frankfurter Raum und dem südlichen Sauerland. Die Ursachen sind in allen Fällen vergleichbar, die Folgen für das gesamte Zensursystem gravierend. Ich beschränke mich im folgenden auf das für die Literatur- und Toleranzgeschichte wirkungsvollste Beispiel: das Zusammenspiel zwischen dem erweckten Hof, den heterodoxen Theologen und der radikalpietistischen Offizin sowie ihrem Verlag in der sayn-wittgensteinischen Residenz Berleburg, das den anschließend zu beleuchtenden Versuch einer zensuraufsichtlichen Protestaktion seitens der Versammlung der protestantischen Reichsstände provoziert hat.7 Die in jeder Richtung zu Fuß in zwei bis drei Stunden bequem zu durchmessenden wittgensteinischen Grafschaften am Südostzipfel des Sauerlandes hatten im Dreißigjährigen Krieg besonders empfindlich gelitten und annähernd die Hälfte ihrer Einwohnerschaft eingebüßt. Das gesamte Berleburger Territorium beherbergte um 1675 kaum 200 selbständige Bürger- und Bauernfamilien, die Residenz selbst nur 80 Haushalte, so daß wirtschaftlicher Progreß nur durch „Peuplierung“, Bevölkerungszuzug von außen und die Ansiedlung neuer Handwerkszweige zu erlangen war. Bei der Armut und dem Mangel an politischer, schon gar selbstverständlich militärischer Relevanz des Landes konnten die männlichen Mitglieder des gräflichen Hauses Ehre nur unter fremden Fahnen, meist in Brandenburg, suchen. Die Komtessen waren außerhalb der längst aufs engste versippten Wetterauer Kleingrafschaften standesgemäß kaum zu verheiraten. Erfolgversprechend im Lande blieb nur der Versuch einer merkantilistischen Konsolidierung und einer markanten religiösen Profilierung. Schon im letzten Drittel des 17. Jahrhunderts hatte der Berleburger Graf Ludwig Franz, auch aufgrund verwandtschaftlicher Beziehungen zum calvi7 Die besondere wirtschaftlich-politische Situation in der Berleburger Grafschaft ist ihrer kirchenund toleranzgeschichtlichen Relevanz wegen wiederholt dargestellt worden. Einen etwas ausführlicheren Abriß, als er hier zur Erhellung der Hintergründe des Aufsichtsverfahrens gegen die ,Berleburger Bibel‘ erfordert wird, habe ich bereits in einem lokalgeschichtlichen Vortrag zu geben versucht: Schrader: Berleburgs Beitrag (1981, L 11). – Detailliertere Überblicksdarstellungen vermitteln insbes. Friedrich Wilhelm Winckel: Casimir, regierender Graf zu Sayn=Wittgenstein=Berleburg, und das religiös-kirchliche Leben seiner Zeit, Bielefeld 1850 (Sonntags-Bibliothek IV, Bd. 1), v. a. S. 59–99, 111. – Max Goebel: Geschichte des christlichen Lebens in der rheinisch-westphälischen evangelischen Kirche, Bd. 2, Koblenz 1852, S. 752–760 und v. a. Bd. 3 (hg. von Theodor Link), Koblenz 1860, S. 72–165. – Viktor Pleß: Die Separatisten und Inspirierten im Wittgensteiner Land und Zinzendorfs Tätigkeit unter ihnen im Jahre 1730, Diss. lic. theol. [masch.], Münster 1921, S. 20–46, 67–163 und Anm. S. 8–17, 24–53. – Chauncey David Ensign: Radical German Pietism (c. 1675– c. 1760), Diss. phil. [masch.], Boston 1955, S. 213–259, 321–386. – Vollständigere Informationen und Literaturangaben im Forschungsbericht von Hans Schneider: Der radikale Pietismus in der neueren Forschung. In: Pietismus und Neuzeit 8 (1982), Göttingen 1983, insbes. S. 32–42 und Fortsetzung (mit speziellerer Lit.) in: Pietismus und Neuzeit 9 (1983), Göttingen 1984, v. a. S. 117–126 sowie in meiner Studie: Schrader: Literaturproduktion (1989, L 1), S. 176–223 und 461–475.
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nistischen französischen Adel, größere Hugenottenkolonien in sein ausgeblutetes Land gezogen. Seine Witwe Hedwig Sophie, die von dem separatistischen Wanderprediger Ernst Christoph Hochmann von Hochenau selbst in radikalpietistischem Sinne erweckt worden war, hatte die Doppelstrategie einer Toleranz- und Peuplierungspolitik fortgesetzt, indem sie allen um ihres Glaubens und ihrer religiösen Sonderlehren willen anderwärts – aus Hessen, Württemberg, der Schweiz oder Thüringen zumal – vertriebenen Flüchtlingen Ansiedlung, Gewerbefreiheit und das Recht zu freiem, auch außerkirchlichem Gottesdienst geöffnet hatte. So hatte die zugewanderte, wirtschaftlich wie geistig besonders produktive Einwohnerschaft schon zu Beginn des 18. Jahrhunderts die Zahl der autochthonen Bevölkerung überstiegen. Und Berleburg hatte sich zu einem Hort radikaler Pietisten und Quietisten der unterschiedlichsten Schattierungen, doch mit gleichartigen Vorbehalten gegen die dogmatischen Abgrenzungen der Konfessionskirchen entwickelt. Dagegen wurde die spirituelle Einheit der wahren ,Erweckten‘ hervorgehoben. Die unterscheidenden Lehren der drei im Reich geduldeten Kirchen, ,Sekten‘, wie man hier sagte, sollte jeder für sich teilen oder auch nicht, jedenfalls sollte die Konfessionszugehörigkeit nicht de necessitate christianismi geachtet werden und nicht das gemeinschaftliche Wirken am Bau des Gottesreichs auf Erden behindern. So war Berleburg schon am Anfang der Regierungszeit seines bedeutendsten Grafen, Casimir (reg. 1712–1741), ein Zentrum der seit dem 17. Jahrhundert sogenannten ,philadelphischen Sozietät‘ geworden (so genannt nach dem griechischen Wortsinn ,Bruderliebe‘ und nach den Prophetien der Apokalypse über die endzeitliche Gemeinde zu Philadelphia), einer rein-geistlichen (also nicht formell sektiererischen) Vereinigung christlicher Fundamentalisten inner- wie außerhalb der Kirchen. Da das philadelphische Experiment einigen Bestand zeigte, wurde Berleburg bis zur Jahrhundertmitte zu einem Mekka für die (auch kirchlich gemäßigten) Pietisten aus aller Herren Länder. Nicht zuletzt auch dadurch konnte es sich zu einem bedeutenden Buchumschlagplatz entwickeln. Graf Casimir, trotz des eigentlich reformierten Bekenntnisses des Grafenhauses an der lutherisch-pietistischen Eliteuniversität Halle erzogen, hat die unter der Regierung seiner Mutter wegen reichsgerichtlich gerügter prophetisch-ekstatischer Unruhen ins Gerede gekommene irenisch-philadelphische Landestradition und Toleranzpolitik konsolidierend auch zur wirtschaftlichen Melioration seines Landes fortgesetzt. 1714 installierte er dafür – insbesondere als Organ für die überterritoriale philadelphische Propaganda – eine Druckerei, die er 1722 seinem neugegründeten Waisenhaus zuordnete, also in Staatsregie übernahm und durch wechselnde Pächter betreiben ließ. 1717 richtete er für den Materialbedarf eine Papiermühle im Lande auf. Die Druckerei hat er 1733 reprivatisiert, an den Drucker Christoph Michael Regelein verkauft und so Mittel freibekommen für den großzügigen Ausbau seines Schlosses zur heutigen imposanten Gestalt. In der Ausrichtung der Publikationstätigkeit trat dadurch kein Wandel ein. Bis 1749, also eine ganze
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Generation hindurch, sind aus dieser Offizin weit über 100 heute noch nachweisbare Druckwerke hervorgegangen, neben einigen höfischen Gelegenheitsschriften v. a. theologische und erbauliche Literatur – von wenige Seiten umfassenden Traktaten bis hin zu mehrbändig-starken Quartanten und Folianten aus der Feder einheimischer und auswärtiger Autoren, die einen maßgeblichen Beitrag zur Verbreitung radikalpietistischen Ideenguts bis an die Schwelle der Goethezeit geleistet haben. Für die Distribution der theologisch suspekten Lehren beinahe noch wichtiger war der von 1723 bis 1756 in Berleburg und weit über die Landesgrenzen hinaus florierende (von der Druckerei unabhängige) Verlag des Johann Jacob Haug, einer einsatzfreudig-pietistischen Unternehmerpersönlichkeit. Dieser jüngere Bruder des Bibelherausgebers Johann Friedrich Haug, wie er aus Straßburg gebürtig, war bis 1721 Pietistenverleger in Idstein gewesen. In Berleburg hatte er in einer – seit der allgemein fortgeschrittenen Trennung von Druck und Verlag üblich gewordenen – Personalunion auch die Buchbinderei und eine große Buchhandlung inne – pikanterweise übrigens auch die territoriale Weinpacht. Seine in der Blütezeit des Unternehmens zu jedem Frankfurter Messetermin erschienenen Verlags- und Sortimentskataloge haben sich im Berleburger Schloßarchiv großenteils erhalten und vermitteln ein erstaunliches Bild der Weite seiner überregionalen, sogar internationalen Tauschgeschäfte mit den Verlegern kirchlich-pietistischer, separatistischer und mystischer Literatur. Obgleich seine Titel nur sehr sporadisch in die offiziellen Messekataloge Eingang gefunden haben, überwiegend dagegen zur Messezeit in Privathäusern an gleichgesinnte Buchführer eingetauscht oder verkauft und durch Kolporteure vertrieben wurden, hat er offenbar ebenso ungehindert wie wirkungsvoll einen außerinstitutionellen innerpietistischen Bücherverkehr organisieren können. Graf Casimir hatte unabhängig von seinen religiösen und persönlichen Zuneigungen zu den in der Residenz und bei Hof versammelten Philadelphiern und von allem wirtschaftlichen Kalkül auch aus kirchenpolitischen Erwägungen allen Grund (mehr noch sogar als die calvinistischen Landesherren im lutherischen Preußen), gegen die konfessionell-orthodoxe Kontroverstheologie und im pietistisch-philadelphischen Sinn für Irenik und Toleranz zwischen den Bekenntnissen Partei zu ergreifen – auch unter schroffer Mißachtung der zensorisch zu garantierenden Rechtgläubigkeit. In seinem reformierten Ländchen wohnten neben den Inspirierten, Mennoniten und religiösen Eigenbrötlern durch die Zuwanderung von außen zahllose Lutheraner, und im Norden unter dem Kahlen Asten gab es seit je geschlossene katholische Gemeinden. Casimir selbst hatte eine lutherische Frau und einen lutherischen Hofprediger, Adam Struensee (den Vater des später berüchtigten dänischen Grafen). Und die reformierten Stadtprediger (Schefer und Seebach; nach 1731 Scheffer und Abresch) waren alles andere als Muster konfessioneller
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Rechtgläubigkeit, vielmehr ihrer Schriften wegen außer Landes als mystische Indifferentisten, Arianer und Separatisten verschrieen. Die Bücherzensur über alles im Lande Geschriebene, Gedruckte und Verbreitete lag in den wetterauischen Kleinstaaten wie überhaupt in den Duodezgrafschaften dieser Zeit, die nicht über eigene Universitäten oder größere geistliche Körperschaften verfügten, fast immer in der Hand der Ersten Pfarrer (zugleich Superintendenten bzw. Inspektoren des Territoriums). Im Umkreis der erweckten Höfe waren das meist exponierte Pietisten, denen ebenso das Interesse wie selbstverständlich auch die Macht fehlte, gegen den Wunsch der Landesherren pietistische Häresien zu inkriminieren und Bücher dieser Couleur zu verbieten. Aus Idstein gibt es Briefäußerungen des pietistischen Superintendenten Johann Daniel Herrnschmidt, die belegen, daß er als bestellter Zensor den Druck theologisch radikaler Täuferschriften im Lande bewußt ignorierte und so (für sich selbst gefahrlos) ermöglichte.8 In Berleburg wäre für diese Aufgabe der Hauptpfarrer und Erste Inspektor Ludwig Christoph Schefer zuständig gewesen, selbst ein engagierter Mitübersetzer und -kommentator am Berleburger Bibelwerk, auch schon an des Separatisten Henrich Horch Mystischer und Profetischer Bibel (1712).9 Da hätte also der Bock selber Gärtner sein müssen. Ich habe aber nirgends einen Anhaltspunkt dafür gefunden, daß in Berleburg die erforderliche Bücherzensur de facto überhaupt durchgeführt worden wäre. An keiner der zahlreichen Publikationen der Berleburger Offizin nun hat Graf Casimir selbst so unmittelbaren und entschiedenen Anteil genommen wie an dem Riesenprojekt der ,Berleburger Bibel‘.10 Kein anderes Buchun8 Brief an August Hermann Francke, 5. 1. 1714, publiziert von Theodor Wotschke: Der Separatist Andreas Groß in Eßlingen. In: Blätter für Württembergische Kirchengeschichte 37 (1933), S. 226. 9 Ludwig Christoph Schefer, von dem in der Berleburger Druckerei schon 1714 ein Traktat (nach Jes 8,3) „:5( M1;) @@)M)1 L8úB( dass ist Raubebald: Eile beuten oder Weissagung vom Untergang der babylonischen Christenheit“ (vh. UB Basel) und 1720 ein 1164 Seiten starkes „Hebreisches Wörter=Buch“ erschienen waren (eine der Vorarbeiten zur ,Berleburger Bibel‘), wird in der Berleburger Stadtchronik in der Namensform „Scheffer“ geschrieben: Die Berleburger Chroniken des Georg Cornelius, Antonius Crawelius und Johann Daniel Scheffer. Hg. von Wilhelm Hartnack, Laasphe 1964 (Wittgenstein, Beiheft 2). Er starb 1731. Aus der Namensähnlichkeit resultieren die in der Sekundärliteratur häufigen Verwechslungen (z. B. ebd., S. 162) mit seinem eher illiteraten Amtsnachfolger Johann Adam Scheffer (gest. 1759; über ihn ebd., S. 120, 148 f.). Umfassendste Information: Ulf Lückel: Ein fast vergessener großer Berleburger: Inspektor und Pfarrer Ludwig Christof Schefer (1669–1731). Eine erste Spurensuche. In: Wittgenstein. Blätter des Wittgensteiner Heimatvereins. Jg. 88 (2000) [Bd. 64], S. 137–159. 10 Dazu vgl. Martin Brecht: Die Berleburger Bibel. Hinweise zu ihrem Verständnis. In: Pietismus und Neuzeit 8 (1982), Göttingen 1983, S. 162–200, über Herausgeber und historische Zusammenhänge v. a. S. 163–80. Von den älteren monographischen Studien sind noch zu konsultieren Martin Hofmann: Theologie und Exegese der Berleburger Bibel (1726–42), Gütersloh 1937 (Beiträge zur Förderung christlicher Theologie, Bd. 39, H. 2) und Josef Urlinger : Die geistesund sprachgeschichtliche Bedeutung der Berleburger Bibel. Ein Beitrag zur Wirkungsgeschichte des Quietismus in Deutschland, Diss. phil., Saarbrücken 1969. Vgl. außerdem Jürgen Quack: Evangelische Bibelvorreden von der Reformation bis zur Aufklärung, Gütersloh 1975
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ternehmen hat er so direkt durch eigene Mitarbeit, durch persönliche materielle Opfer und durch den Einsatz seines landesherrlichen Renommees gefördert wie diese Neuübersetzung und wort- bzw. versweise Durchkommentierung der ganzen Heiligen Schrift im Geiste und aus dem exegetischen Material der gesamten mystisch-spiritualistischen und pietistisch-philadelphischen Überlieferung. Der Initiator, Hauptbearbeiter und Verantwortliche für die Herstellung und das komplizierte Finanzierungssystem (durch Pränumerationen und eine ganze Serie von unter den Pietisten aller Länder durch Kollekteure organisierten Bibellotterien) war Johann Friedrich Haug, der theologisch gelehrte ältere Bruder des vorher genannten Berleburger Verlegers. Dieser wegen der Anzettelung philadelphischer Unruhen 1705 aus Straßburg, später auch aus Esslingen vertriebene ausgebildete, aber nie zu einem festen Amt gelangte Pfarrer, der radikal-separatistische Bücher wie die Theosophia pneumatica, oder / Geheime GOttes=Lehre (1710) verfaßt, als Korrektor in der Idsteiner Pietistendruckerei gearbeitet und sich zeitweilig der neuprophetischen Sekte der Inspirierten angeschlossen hatte, war während der fast 20 Jahre seiner Arbeit an dem Bibelwerk – ungewöhnlich genug – mit seiner Familie materiell fast vollständig vom Grafen unterhalten worden.11 Die theologischen Mitarbeiter, neben dem schon genannten Inspektor Ludwig Christoph Schefer der bekannte radikale Spiritualist und später ebenso radikale Aufklärer Johann Christian Edelmann (dessen Schriften 1750 in Frankfurt durch den Scharfrichter verbrannt wurden)12 und nach ungesicherter Überlieferung auch die heterodoxen Separatisten Christoph Seebach und Tobias Eisler, bewirtete der Graf zeitweise an seiner Tafel.13 Vor allem aber übersetzte er selbst für die
(Quellen und Forschungen zur Reformationsgeschichte, Bd. 43), S. 295 ff., insbes. 304–22. Der hier zu behandelnde Zensurfall ist in diesen Arbeiten (abgesehen von knappen Hinweisen auf das Faktum) nirgends erörtert. 11 Ausführlichste Angaben über seine Biographie und sein Lebenswerk bei Brecht (wie Anm. 10), S. 163–171. 12 Eine detaillierte, neben den gedruckt verfügbaren Nachrichten auch auf die Akten im Wiener Haus-, Hof- und Staatsarchiv gegründete Untersuchung dieses aufsehenerregenden Falls, die ihn fundiert auch in seine zensurgeschichtlichen Kontexte einordnet, gibt Walter Grossmann: A Frankfurt Book-Burning in 1750. In: Jahrbuch des Instituts für deutsche Geschichte, Bd. 14, Tel Aviv 1985, S. 15–28. Zur Rechtsgrundlage, Durchführung und Funktion solcher Buchhinrichtungen vgl. grundlegend Hermann Rafetseder: Bücherverbrennungen. Die öffentliche Hinrichtung von Schriften im historischen Wandel, Wien [u. a.] 1988 (Kulturstudien, Bd. 12). 13 Seebach, dessen „Aufgeschlossene Accentuatio metrica“, Berleburg 1719, und dessen dreibändige „Vorstellung der sieben Gemeinen JESU Christi“ (Berleburg 1719/20) zu den das Bibelwerk vorbereitenden Publikationen der Druckerei gehörten, fiel 1731 nach der Veröffentlichung seines auch von Anhängern der pietistischen Partei als „arianisch“ gebrandmarkten „Glaubens=Bekänntnüß, betreffend den Sohn Gottes“ am Hof in Ungnade, verlor die Zweite Berleburger Pfarrstelle und lebte bis zu seinem Tod im September 1745 in der wittgensteinischen Residenz ohne Amt im Hader mit den übrigen ,Erweckten‘. – Tobias Eisler, der literarisch aktivste Schüler des neuprophetischen ,Gottes=Cantzellisten‘ Johann Tennhardt, verließ
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Kommentierung dieser Bibel das umfängliche exegetische Œuvre der Madame Guyon aus dem Französischen.14 Das kalligraphische Manuskript des Grafen ist im Fürstlichen Archiv Bad Berleburg erhalten. Die umfängliche Akte „betreffend den Druck der Berleburger Bibel“ im Kirchenarchiv der Stadt erweist überdies, daß er das Werk als eine offizielle Unternehmung seiner Landeskirche im Selbstverlag seines Waisenhauses organisieren ließ, daß er dafür ein erhebliches Startkapital aufwendete und mit seinem Namen sogar für das windige Unterfangen der Bibellotterie gutstand. Erst als die langwierige Arbeit an der Bibeledition sich dem Abschluß näherte und alle Mittel des Hofs für den Schloßbau benötigt wurden, hat er den ferneren Betrieb in den privatwirtschaftlichen Verlag Johann Jacob Haugs übertragen.15 Für den FoBerleburg 1735 nach Helmstedt. Die Angaben bei Brecht (wie Anm. 10), S. 179 f., die beider anfängliche Mitarbeit am Bibelwerk in Frage stellen, bedürfen der Überprüfung. 14 Ohne Namensnennung wird seine Mitarbeit und Förderung sogar in der Vorrede zur ,Berleburger Bibel‘ vom 19. Januar 1726 angedeutet: „Umsovielweniger hat man nun die so berühmt= als geistreichen Erklärungen der […] Mad. de Guion diesem Werck vor andern mehrentheils einzuverleiben Bedencken getragen / nachdeme solche erbauliche Schrifften durch die Vorsehung GOttes von einer Hohen Stands=Person sind übersetzt und dazu communiciret worden; die auch dieses Werck mit Dero Freygebigkeit zu unterstützen angetrieben wird / wovor Ihro GOttes reicher Segen ohnfehlbar wieder zufliessen muß.“ (Die Heilige Schrift Altes und Neues Testaments / Nach dem Grund=Text. Bd. 1, Berleburg 1726, S. )(4v). In seinem handschriftlich auf einem Vorsatzblatt seines Privatexemplars eingetragenen Gebet (abgedruckt bei Brecht, wie Anm. 10, S. 178) dankt Casimir dem dreieinigen Gott für seine Hilfe, daß er nun den ersten Teil seines „seelig machenden Worts mit den Anmerkungen, worunter sich einige befinden, die ich aus dem Französischen der Mme. Guion ins Deutsche übersetzt habe, zum Druck befördern und also öffentlich darlegen lassen.“ In offenbarer Anspielung auf das glücklich überstandene Zensurverfahren und die fortdauernden Angriffe der Orthodoxie bittet er Gott: „beschütze es gegen alle Anfälle der Welt und des Satans und gib Seegen zu fernerer Fortsetzung des ganzen Bibel-Werkes zu deines Namens Verherrlichung und vieler Seelen Erweckung. Amen.“ Die Übersetzungsarbeit hat Casimir parallel zur Ausarbeitung der folgenden Bände beständig fortgesetzt, wie er in einem Brief an den englischen Quäker Benjamin Holme, dem er einen Bücheraustausch vorschlägt, am 29. Februar 1728 einbekennt: „Ich bin auch beschäftigt, einer gewissen französischen Frau Guion Auslegungen über die ganze Bibel, so aufs innere Leben gehen, aus dem Französischen ins Deutsche zu übersetzen, welche bei eine hier übersetzte und gedruckte Bibel gesetzt werden. Es werden auf Ostern zwei Theile davon heraus kommen; wo ihr sie zu haben verlangt, will ich sie auch gleichfalls senden.“ Publiziert bei Winckel: Casimir (wie Anm. 7), S. 101 f. 15 Den gewissermaßen offiziösen Charakter der Bibeledition und ihren Vertrieb durch Körperschaften des Territoriums (Beteiligung der Landeskirche und der Regierung) hat Brecht (wie Anm. 10, S. 173) bereits aus den Quellen nachgewiesen, dabei auch einige Details über die Organisation bekannt gemacht. Die spätere Übertragung in den Verlag des Johann Jacob Haug ist bisher unbekannt. Diese Privatisierung wird ersichtlich in der Verlagsangabe der Buchhandelsanzeige der ersten sieben Bibel-Bände bei Theophil Georgi: Allgemeines Europäisches Bücher=Lexicon, Leipzig 1742, Teil 1, S. 151, und – eindeutiger – durch Johann Jacob Haugs eigenes Zeugnis in seiner Verlegervorrede zur Erstpublikation des VII. Teils der „Historie Der Wiedergebohrnen“, Berleburg 1745, S. )(4rf.: Zur „Beförderung christlicher Erbauung / bey dem hiesigen geringen Bücher=Verlag […] ist nebst dem grosen Bibel=Werck / das unter dem Beystand GOttes hier angefangen und vollendet worden / vornehmlich auch die Historie der Wiedergebornen […] beliebet worden.“ (Reitz: Historie Der Wiedergebohrnen [1982, L 2],
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liodruck hatte man der Waisenhaus-Offizin sogar eine neue größere Presse anschaffen müssen. (Die alte ging an den aus dem Wittgensteinischen stammenden ersten deutschen Drucker in Amerika, den Pietisten Christoph Sauer in Germantown/Philadelphia, der darauf dann seine berühmte ,Sower-Bible‘ druckte.)16 Der Druckbeginn der ,Berleburger Bibel‘ mit ihrer weithin wörtlich-steifen, bisweilen auch an Luther angelehnten Neuübersetzung des Grundtexts und ihrer Kommentierung nach dem dreifachen Schriftsinn (litteralis, spiritualis und mysticus) aus philadelphisch-spekulativem Geist muß über die Landesgrenzen hinaus sehr bald ruchbar geworden sein, offenbar dadurch, daß die beiden ersten Bögen (enthaltend das erste Genesis-Kapitel und den Anfang des zweiten mit ihrer besonders umfänglichen Kommentierung) zur Anwerbung von Pränumeranden sogleich nach Fertigstellung an einige potentielle Interessenten ausgesandt worden waren. Mit einer so anrüchigen Verquickung von unreiner Wiedergabe und schwärmerischer Auslegung des Gotteswortes waren offensichtlich auch unter den Glaubensverwandten die schon sehr weit gewordenen Grenzen des Tolerierbaren an Abweichungen von der unverfälschten Lehre überschritten. Während die Berleburger Offizin durch die wenigstens 36 bereits früher erschienenen Titel seit geraumer Zeit von der gesamten Kirchenorthodoxie als hochgradig „verdächtig gemachte[r]“ Ort angeschwärzt, von der Streitschrift Charlatanerie Der Buchhandlung sogar unter jene „Heiligfresser“ eingeordnet wurde, die unter dem Vorwand einer Beförderung der Ehre Gottes unzulässige Geschäfte betrieben,17 griff die überterritoriale Bücheraufsicht nur dieses einzige Mal ein.18 Für die Lutheraner war, wie schon die orthodoxe Kritik an den früheren pietistischen Versionen von Johann Henrich Reitz und von Henrich Horch und auch noch die an den späteren von Johann Albrecht Bengel und vom Grafen Zinzendorf erweist, die Tatsache einer mit der des KonfessionsgrünBd. 4: Teil VII, 1745) – Daraus erklärt sich auch die für Brecht (wie Anm. 10, S. 175) unerklärliche Fortsetzung der Bibellotterie zum Vertrieb des bereits vollendeten Werkes durch Johann Jacob Haug in den Jahren 1743 bis 1748. 16 Vgl. dazu Schrader: Literaturproduktion (1989, L 1), S. 223–227 und 475–477 (Exkurs: „Die Berleburger Presse und die Anfänge radikalpietistischer Literatur in Amerika“). 17 Vgl. die „Allgemeine Vorrede“ zum 3. Band der (mit fingierten Druckortangaben) in Berleburg erscheinenden „Geistliche[n] Fama“, 1744, S. IV, und die „Charlatanerie Der Buchhandlung“, Sachsenhausen, 2. Aufl. 1732, S. 81. 18 Wer die treibende Kraft gewesen ist, die das schwerfällige Aufsichtsverfahren in Gang zu setzen vermochte, von welchem Reichsstand die Anklage beim Corpus Evangelicorum eingebracht und vertreten und welche diplomatischen Aktivitäten ihr vorausgingen, darüber geben die Quellenpublikationen und die von mir eingesehenen Berleburger Akten keinen Aufschluß. Diese für meine Fragestellung nach den konkreten Wirkungen der übergeordneten Kontrolle über das eigenwillige Zensurgebaren eines Landesherrn minder bedeutsamen Präliminarien ließen sich vielleicht durch aufwendigere Recherchen in den Archiven der Reichsgremien und der beteiligten Höfe aufhellen.
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ders konkurrierenden Bibelübersetzung allein schon ein strafwürdiges Ärgernis. Aber weder sie noch die Reformierten konnten am und unter dem Text der Heiligen Schrift philadelphische, mystische und böhmistisch-chiliastische Manipulationen durchgehen lassen. Die zahlreichen inkriminierenden Einwände, die seitens der Orthodoxie bereits auf der Grundlage der ersten Probebögen des neuen Bibeldrucks zu erheben waren, auf die eine Anrufung des Corpus Evangelicorum also fundiert werden konnte, sind in den ersten Rezensionen des von Valentin Ernst Löscher begründeten Zentralorgans des orthodoxen Luthertums, den Unschuldigen Nachrichten (Fortgesetzte Sammlung von Alten und Neuen Theologischen Sachen) und in einer elenchischen Streitschrift Spiritvs erroris in recentissimo Berlebvrgensivm Bibliorvm opere spezifiziert, die der Dortmunder Archigymnasialrektor Johann Daniel Kluge von seinem Schulprimus Christoph Michels nach dem Vorliegen der ersten Bibelbände ausarbeiten ließ. Gemeinsam betonen sie zunächst die absolute Überflüssigkeit neuer Bibelversionen überhaupt, jene „malesana errandi nouandique libido“, durch die immer wieder „die Ubersetzung Lutheri gäntzlich verlassen, und eine neue gemachet“ werde, obgleich doch die prinzipielle Unerreichbarkeit des Lutherschen Texts durch ungezählte Autoritäten beglaubigt sei.19 Dieses zumindest für reformierte Reichsstände wenig überzeugende Argument wird dadurch verstärkt, daß die Berleburger Neuübersetzung, geschaffen von einem spiritus rector (J. Fr. Haug) und Mitarbeitern, die „crasso Fanaticismo et Indifferentismo infecti“ seien, sprachlich ungefüger, aber auch dogmatisch bedenklicher sei als alle bisherigen.20 Weit schlimmer noch aber sei die Kommentierung „more fanaticorum“ nach dem dreifachen Schriftsinn. Neben der noch diskutablen Auslegung des sensus litteralis und bisweilen des zur moralischen Nutzanwendung erschlossenen sensus spiritualis werde nämlich durch die Auslegung eines vorgeblichen sensus mysticus, „darinnen alle Irrgeister ihre Schlupffwinckel finden können“, jedes Bibelwort zum Typus für einen geheimen Verstand erhoben und so nach der Herren eigenem Geist verdreht. Denn diesen „geheimen Sinn haben sie aus Origine, Leade, Bourignon, Mad. de Gvion und D. Petersenio genommen, welche sie erleuchtete Seelen nennen“, in Wahrheit lauter verrufenen Schwärmern und gar Schwärmerinnen, wobei die katholische Mystikerin Guyon, „muliercula Gallica“, den breitesten Raum erhalte.21 Die „horrenden und absurden Irrlehren“, die an einer stattlichen Zahl von Kommentarstellen, insbesondere der im Abmahnungsedikt der Evangelischen 19 Rezension des Ersten Teils in: Fortgesetzte Sammlung von Alten und Neuen Theologischen Sachen […] Auf das Jahr 1727, 7. Beitrag, Leipzig [1727], S. 1165; ausführlicher Christoph Michels (Präs.: loannes Daniel Kluge): Spiritvs erroris in recentissimo Berlebvrgensivm Bibliorvm opere dvce spiritv veritatis cognitvs. [Disputatio Theologica] in Archigymnasio Tremoniensi, Tremoniae (= Dortmund) 1734, S. 4, 6–8 (vorhanden: SLB Dortmund). 20 Michels: Spiritvs erroris (wie Anm. 19), S. 5 und 8. 21 Ebd., S. 9 und 11, vgl. 10–17 und 19; Fortgesetzte Sammlung 1727 (wie Anm. 19), S. 1165 f.
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Reichsstände spezifizierten Auslegung von Gen 1,27 vorgerechnet werden, sind neben dem fanatischen Lob schwarmgeisterischer Prophetien und abstruser böhmistischer Spekulationen ein generelles Verdächtigmachen der Kirchenlehren und symbolischen Bücher sowie der verordneten Geistlichkeit, philadelphische Doktrinen und Indifferentismus, dabei gelegentlich sogar Billigung von „der Papisten Abgötterey“, ferner chiliastische Behauptungen der „Merckmahle des Tausendjährigen Reichs“ und Endzeitberechnungen, unhaltbare Wiedergeburtstypologien, Mißdeutungen der Trinität nach neuplatonischen Emanationsschemata und Arianismus, schließlich logische Widersprüche zwischen den ungeprüft zusammengesuchten heterodoxen Theologemen.22 Die Akten des aufsehenerregenden Falles eines Zensuraufsichtsverfahrens gegen einen Reichsfürsten sind ebenfalls in den Unschuldigen Nachrichten, und zwar schon in der Fortgesetzten Sammlung Auff das Jahr 1725 unter dem Titel Nachricht von einem verdächtigen Bibel=Druck zu Perlenburg referiert bzw. publiziert.23 Die zwischen dem Reichsgremium und dem Landesherren gewechselten Sendschreiben seien zunächst summarisch rekapituliert. Am 5. Dezember 1724 ergeht vom Corpus Evangelicorum in Regensburg, übermittelt durch den für die gesamte Wetterauer Grafenbank zuständigen Hanauer Gesandten, die Aufforderung an den Berleburger Grafen Casimir, er solle den in seinem Lande begonnenen Bibeldruck wegen der Besorgnis der Heterodoxie einstellen und auch künftig unterbinden. Als Beispiel der festgestellten Unrechtgläubigkeit und Gefährlichkeit wird dabei lediglich die Kommentierung von Gen 1,27 hervorgehoben, die den Lehrsatz von der Gottebenbildlichkeit des Menschen durch zustimmenden Verweis auf Irrlehren des amtsenthobenen Schwärmers Johann Wilhelm Petersen auslegte, wonach die geistliche Schöpfung Christi als des göttlichen kºcor 1m !qw0 dem gesamten übrigen Schöpfungswerk vorausgegangen sei und somit den (vor der Zerteilung Adams in zwei Geschlechter ursprünglich androgynen) Archetypus für die Erschaffung der irdischen Kreatur gebildet habe. Offensichtlich hatten sich die Vereinigten Evangelischen Reichsstände mit ihren erheblich divergierenden kirchenpolitischen Interessen, die teilweise längst auf eine Beförderung des Pietismus, seiner irenischen Theologie und seiner frömmigkeitlichen Erneuerung hinausliefen, nur auf dieses eine besonders krasse Beispiel einer spezifisch festgestellten (übrigens nach jüdischkabbalistischem Vorbild schon bei Jacob Böhme ausformulierten) Lehrabweichung einigen können. 22 Vgl. z. B. Fortgesetzte Sammlung 1727 (wie Anm. 19), S. 1167 f., 1171, 1173 f.; Michels: Spiritvs erroris (wie Anm. 19), S. 10 f., 14, 17–19, 23. Vgl. schärfer noch die Kritik in: Fortgesetzte Sammlung von Alten und Neuen Theologischen Sachen. Auf das Jahr 1736, 6. Beitrag, Leipzig [1736], S. 697, 701–710. 23 Fortgesetzte Sammlung von Alten und Neuen Theologischen Sachen. Auff das Jahr 1725, 5. Beitrag, Leipzig [1725], S. 819–826.
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Es ist E. Hochlöbl. Corpori Evangelico zu Regenspurg die Anmerckung in der daselbst unter der Presse sich befindenden Bibel über den 27. Vers. Cap. 1. Genes, darinnen das Petersenische Schwarm=Gedichte von der Menschheit GOttes behauptet wird, vorgetragen, und sehr ärgerlich und anstößig befunden, daher auch der Herr Graff zu Perlenburg zu Vermeidung fernerer Ungelegenheit, und Abwendung Fiscalischer Processe, von diesem Bibel=Druck unterm 5. Decembr. a. 1724. durch das Hoch=Gräffl. Wetterauische Directorium zu Hanau dehortiret worden.24
Mit dieser totalen Abmahnung stand trotz der begrenzten Spezifikation des Ärgernisses das ganze gräfliche Prestigeunternehmen auf dem Spiel. Casimir beeilte sich daher mit einem geschickten diplomatischen Schachzug: In einem ausführlichen Pro Memoria wies er unverzüglich, am 19. Dezember, auf den Nutzen des begonnenen Bibelwerks im ganzen, auf die Notwendigkeit seiner ungestörten Fortführung für den karitativen Zweck der finanziellen Unterstützung seines Waisenhauses und auf die angeblich zu keinerlei Mißtrauen berechtigende Gewissenhaftigkeit der Bearbeiter hin. Seiner persönlichen Aufmerksamkeit seien, wie er mitteilt, einige potentiell Anstoß erregende Passagen, v. a. natürlich die im Protestschreiben des Corpus Evangelicorum inkriminierte „von einer himmlischen Menschheit“, nicht entgangen, „die etwas mehr besagen wolten, als in der Schrifft deutlich enthalten wäre“. Dabei handle es sich nun zwar um eine Meynung, die pro & contra ihre argumenta führet, auch in öffentlichen, in Reichs=Städten gedulteten, und an hohe Reichs=Stände dedicirte Schrifften proponiret worden.25
Der 1. Teil von Petersens Traktat nämlich, auf den sich die Kommentierung stützte, war ohne Beanstandung 1711 in Frankfurt mit einer Widmung an den preußischen König erschienen.26 Schon deshalb könne im Grunde niemand – „wenn die Sache nicht gehäßig angesehen wird“ – Einwände dagegen erheben.
24 Zusammenfassung des nicht wörtlich mitgeteilten Regensburger Abmahnungsschreibens, ebd., S. 819. – „Gedicht“ meint hier nach vorherrschendem Sprachgebrauch des 18. Jahrhunderts ,ohne Realitätsgrund Ersonnenes‘, in diesem Fall ,Spekulation‘ und nicht, wie die knappen Andeutungen in der mit Petersens zugrundeliegendem Traktat unvertrauten Sekundärliteratur (Urlinger [wie Anm. 10], S. 31 und Brecht [wie Anm. 10], S. 172) nahelegen, ein Stück lehrhafter Lyrik. Vgl. auch Johann Georg Hagemann: Nachrichten von den fürnehmsten Uebersetzungen Der Heiligen Schrift, Braunschweig, 2. verb. u. verm. Aufl. 1750, S. 359 f., und Christian Wilhelm Becker: Theologischer Büchersaal. Bd. 2, Jena – Leipzig 1752 (21. Stück von 1751), S. 766 f., wo auch alle Teilband-Besprechungen der ,Berleburger Bibel‘ in den späteren Jahrgängen der ,Unschuldigen Nachrichten‘ ausgewiesen sind. 25 Fortgesetzte Sammlung 1725 (wie Anm. 23), S. 823 f. 26 Der Traktat Johann Wilhelm Petersens: Das Geheimniß Des Erst=Gebohrnen aller Creaturen Von CHRISTO JESU Dem GOtt=Menschen […], Frankfurt: Heyl und Liebezeit 1711, wurde durch eine vom 13. Okt. 1709 datierende „Dedicatio“ eröffnet, die dieses Büchlein widmete „Dem Allerdurchlauchtigsten und Hochmächtigsten Könige und Herrn / Herrn Fridrich, König in Preussen / Und des Römischen Reichs Chur=Fürsten […] Meinem Allergnädigsten
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Gleichwohl aber habe er bereits von sich aus (in Wirklichkeit erst drei Tage nach dem Regensburger Protest, von dem ihm offenbar vor der formellen Zustellung Nachricht hinterbracht worden war) seiner Regierung durch die in Abschrift beigefügte Ordre vom 8. Dezember ernstlich befohlen, diese Sache so fort genau zu untersuchen, und dem befinden nach gleich ohne fernern Anstand die Veranstaltung in der Druckerey zu machen, daß nicht nur derjenige Bogen, worauf diese anstößige Passage sich findet, herum gedruckt, und solche Interpretation ausgelassen, sondern auch der gedruckte Bogen von dem übrigen Druck separiret und supprimiret, auch wo derselbe etwa schon hingeschicket worden, zurück gefordert werde, gestalt wir denn auch hiemit expresse befehlen, daß, was künfftig gedruckt wird, unser Regierung ein wachsames Auge darauf haben, und dergleichen anstössige Dinge nimmer passiren lassen solle.27
Nachdem er so die Beseitigung dieses einen in der Klage spezifizierten Ärgernisses zugesagt hatte, wobei man hierinnen sich von freyen Stücken zu einem mehrern erbietet, als wohl von Rechtswegen könte zugemuthet werden,
betont Casimir sehr entschieden und in selbstbewußter Form sein landesherrliches Recht zur Fortsetzung des angefangenen, auf „die allgemeine fundamenta des Christlichen Glaubens“ (also nicht auf die allein zulässigen Lehren einer der drei im Reich geduldeten Konfessionen!) gegründeten Bibeldrucks, da dergleichen Werck keinem privato, zu geschweigen einem Reichs=Stand zu verwehren stehe, u. zweiffele solchemnach nicht, es werde ein Hochlöbl. Corpus Evangel. zu Regenspurg mit dieser Erklärung content seyn, auch den Herrn Grafen und das Weisen=Hauß fernerer Verdrüßlichkeit entübrigen.28
Der Erfolg dieses dreisten und durchsichtigen Manövers, das sich ja dem eindeutigen Verbotsauftrag für den gesamten Bibeldruck entzog und nur ein Kurieren an einem einzigen Symptom anbot, war bereits durchschlagend und zeigt die ganze Schwäche der Reichsoberaufsicht in theologischen Streitfragen gegenüber den Wünschen eines Territorialherren. Beim Corpus Evangelicorum war man im Interesse der innerprotestantischen Einheit wenig geneigt, in dogmatischen Auseinandersetzungen eindeutig Position zu beziehen und daher offensichtlich glücklich, durch Casimirs Erklärung den Fall formal korrekt beigelegt zu haben, infolgedessen nicht zu weiteren Schritten (Einschaltung des Reichsfiskals) genötigt zu sein. Der unmittelbare Stein des Könige und Herrn“. Nach den Dedikationsregeln der Zeit hatte einer solchen Zueignung die Zustimmung des Widmungsempfängers vorauszugehen. 27 Dem Schreiben an das Corpus Evangelicorum beigefügte Regierungsordre „Perlenburg, den 8. Dec. 1724.“, abgedruckt als „Num. II.“ in: Fortgesetzte Sammlung 1725 (wie Anm. 23), S. 825. 28 Zitate ebd., S. 824 f., 820.
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Anstoßes war ja erklärtermaßen aus dem Wege geräumt. Überdies war durch den Verantwortlichen eine künftige strenge Aufsicht zugesichert. Graf Casimir wurde im Antwortschreiben nur noch einmal daran erinnert, daß er zur Vermeidung ähnlicher Mißhelligkeiten gut daran tun werde, entsprechend seiner Zusage zu handeln: Hierauf hat das Hochlöbl. Corpus Evangelicum durch den Herrn Gesandten der Hanauischen Regierung antworten lassen, daß man mit solcher Erklärung zu frieden sey, und hoffe, der Herr Graff von Witgenstein werde zu seiner eigenen Beruhigung darob halten, daß zu keiner Verdrießlichkeit Anlaß gegeben werde.29
Wie wenig eine solche diplomatische Aktion gegen einen Landesherrn, der heterodoxe Strömungen begünstigte, über die formaljuristische Wiederherstellung des verletzten Rechtszustandes hinaus wirklich verschlug, zeigt nicht nur die Tatsache, daß die ,Berleburger Bibel‘ weiterhin von denselben suspekten Theologen betreut und in der ihrem Geiste verpflichteten Übersetzung und Kommentierung publiziert werden konnte. Sieht man sich im 1726 ausgelieferten ersten Band der Bibel die nach Casimirs Angaben umgedruckte Kommentarpassage an, deren ursprüngliche Fassung die Beanstandung ausgelöst hatte, bemerkt man sofort, daß der Graf trotz seines förmlichen Zugeständnisses keineswegs gewillt war, sich die Prinzipien seiner Beaufsichtigung vorschreiben zu lassen, also die Propagierung radikalpietistischer Ideen zu unterbinden oder auch nur abzumildern. Die Gottebenbildlichkeit des Menschen wird da nach wie vor im Sinne der Tradition spiritualistischer Spekulationen als die ursprüngliche, durch den Fall ins Fleisch verschüttete Geistleiblichkeit des androgynen Adam interpretiert, der dem Vorbild Christi, des „Erstgebohrnen vor allen Creaturen“ nachgeschaffen sei30 – und gleich auf dem nächsten Bogen, zu Gen. 2,7, wird dieselbe Arkanauslegung nochmals trotzig wiederholt, sogar amplifizierend eingeschärft. Auch der Bezug auf Johann Wilhelm Petersen ist an der beanstandeten Stelle nicht getilgt, obgleich nun nicht mehr sein Name, sondern nur sein Werk genannt wird. Der Kommentar beruft sich jetzt allgemein auf „einiger Gedanken“, die also mehrere „erleuchtete Seelen“ vorgetragen hätten, „davon sonderlich zwey Tractate handeln / die in unsern Tagen herausgekommen.“ Diese werden in der Anmerkung am Fuß der Seite nachgewiesen als die in zwei Teilen erschienene Abhandlung (Petersens): Das Geheimnis des Erstgebohrnen aller Creaturen: dedicirt der erste an den König / der ander an die Königin von Preussen; beyde gedruckt zu Franckfurt im Jahr 1711.31
Durch diesen offensichtlich nachgetragenen Zusatz im Kommentartext des Bibelwerks wird zur Abschreckung fernerer Restriktionsbemühungen seitens 29 Ebd., S. 820. 30 ,Berleburger Bibel‘ (wie Anm. 14), Bd. 1, 1726, S. 12 ff., vgl. v. a. auch S. 18. 31 Ebd., S. 12.
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Pietistisches Publizieren unter Heterodoxieverdacht
der Orthodoxie noch einmal der in Casimirs Pro Memoria an die protestantischen Reichsstände angemeldete Rechtsanspruch erhärtet, Lehren zu verbreiten, gegen deren frühere Veröffentlichung in einer Reichsstadt kein Widerspruch der imperialen Aufsicht erfolgt war, die vielmehr sogar den Schutz des mächtigsten evangelischen Fürsten genossen. Das aufsehenerregende Zensurverfahren des für innerprotestantische Konfessionsfragen höchstmöglichen Reichsgremiums gegen einen zensurunwilligen Territorialherrn war damit ausgegangen wie das berühmte Hornberger Schießen. Nahm er um übergeordneter Interessen willen den schlechten Leumund seines Landes bei den Rechtgläubigen in Kauf, fand also eine bestimmungsgemäße Zensurierung des gedruckten Wortes auf der unteren Ebene nicht statt, dann brach an dieser Stelle das Aufsichtssystem im ganzen ein. Frohlockend (und von keiner Zensur behindert) konnte das in Berleburg erscheinende Philadelphierorgan Geistliche Fama 1730 resümieren: Die grose Berleburger=Bibel hat auch Aufsehen und Gegenstand erwecket. Nicht allein kleine Lichter der orthodoxen Clerisey, sondern gantze Collegia und Consistoria haben sich dargegen gesetzt. […] Alle Gegensetzlichkeiten aber waren und sind noch biß daher umsonst, sonderlich auch derjenigen Hoffen und Wünschen, die sich gewiß versprachen, es werde müssen stecken bleiben. Das Murren Bileams, Caiphä, u. d. g. Gesellschafften hindert in diesen und andern Geschäfften, die zum Licht gehören, nichts mehr, da wir in Zeiten und Läufften victricis veritatis gekommen.32
Denn ein Vorgehen des Corpus Evangelicorum wie im Falle der ,Berleburger Bibel‘ konnte bei der Vielzahl minder eklatanter Zensurverstöße unmöglich erfolgen: Nicht nur die Verwaltungs- und Exekutivkräfte wären damit hoffnungslos überfordert worden, sondern die Neugier auf das Verbotene hätte diesem während der Dauer eines langwierigen Verfahrens gegen einen teilsouveränen Reichsfürsten bloß überterritorial zu durchaus unerwünschter Publizität verholfen. Das Anprangern der Unrechtgläubigkeit dieses Bibelwerks hat sich zufolge der Berleburger Kirchenakten vom 21. März 1725 zunächst aber immerhin doch negativ und geschäftsschädigend auf die Pränumeranden- und Lotteriekollektion auswirken können, da das Werk ja noch nicht (wie in anderen Fällen eintretender Reichsaufsicht) auf den Markt gekommen war, und die Einleger infolgedessen an seiner Fertigstellung zu zweifeln begannen, also um ihre bereits investierten und noch ferner erforderten Mittel fürchteten: 32 Geistliche Fama [hg. von Johann Samuel Carl], 1. Bd., 1. Stück [2. Aufl.], „Philadelphia“ (= Berleburg) 1730, S. 60, vgl. ebd., 10. Stück, „Sarden“ 1733, S. 144; zu dem nach dem Vorbild des Bibelvertriebs auch auf andere quietistische Großunternehmungen ausgedehnten Pränumerationsverfahren auch ebd., 2. Bd., 14. Stück, 1734, S. 18 f.
Der Zensurfall ,Berleburger Bibel‘
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da auch der Bibel=Druck, wegen ein und andern dem gemeinen Welthaufen darinnen vorgekommener anstößlicher passagen, an verschiedenen Orten und sonderlich zu Regenspurg bey dem Reichs=Convent angefochten worden, dahero dann die Einleger bey denen außwärtigen Collectoribus gar sehr zurückhalten und wenig Gelder von denselben eingeschicket werden, ohngeachtet nun der Anstoß der sonderlich auf dem vierten Bogen der Bibel auß denen Anmerckungen genommen werden wollen, wiederumb gehoben, und man nunmehro deßfalls einige Verhinderung ferner nicht zu besorgen, dennoch die Einleger dardurch sehr abgeschrecket worden.33
Aber dauerhaft aufgehalten werden konnte dadurch weder die Fertigstellung noch die Verbreitung des Werks – und auch nicht die übrige heterodoxe Berleburger Buchproduktion und der Handel damit. Für die Toleranz öffentlicher Meinungskundgabe in religiös-weltanschaulichen Fragen – auch gegen herrschende Dogmen – war hier eine weitere Bresche geschlagen, und nicht ohne Grund beklagen die orthodoxen Widersprecher die schlechte Zeit für Wahrer der reinen Lehre.34 Polemische Äußerungen gegen die rasche Beruhigung des protestantischen Reichsgremiums in diesem Zensurverfahren waren ihnen offensichtlich verwehrt. Aber alle ihre späteren Rezensionen und Refutationen des Bibelwerks nehmen anspielungsweise darauf Bezug und versuchen halbresigniert und folgenlos, die fortbestehende Notwendigkeit eines Verbots der ,Berleburger Bibel‘ und ein gründliches Expurgieren des ganzen dortigen „Augiae stabulum“ einzuklagen. Immer wieder betonen sie in dieser Absicht, daß der von der Reichsaufsicht inkriminierte Kommentar zu Gen 1,27 eben nicht bereinigt, sondern an vielen anderen Stellen (Gen 2,7; 5,2; 32,24; Mk 10,6; Joh 1,1; Kol 1,15) wiederholt und ausgeführt wurde.35 Die Unschuldigen Nachrichten von 1727 mahnen noch vorsichtig und allein mit dogmatisch-kirchenpolitischen Begründungen die Fürsorgepflicht der Obrigkeit ein: Wie aber die jetzige rechtgläubige Kirche von Hertzen wünschet, daß dergleichen ihr nachtheiliges Bibel=Werck nimmermehr zum Vorschein möchte gekommen seyn; also wird sie es auch nach 20. und 30. Jahren noch mehr thun, wenn sie den aus diesem Bibel=Werck ihr zugewachsenen Nachtheil noch empfindlicher fühlen und 33 Kirchenakten im Pfarrarchiv Bad Berleburg, „betr. den Druck der Berleburger Bibel“, Nr. 2: „Actum Berlenburg den 21ten Marti 1725“, S. 1r. – Der Hinweis auf den „vierten Bogen“ im Eingangsband der Bibel zählt Titelei und Vorreden mit, es handelt sich um den Bogen „B“. 34 Michels: Spiritvs erroris (wie Anm. 19), S. 1 und 25 f.: Gratulationscarmen des aus pietistischer Erziehung ins Lager der Orthodoxie übergetretenen Kirchenlieddichters Erdmann Neumeister. Zu vergleichen sind hier ferner die Rezensionen der ,Unschuldigen Nachrichten‘ über die weiteren Teile der ,Berleburger Bibel‘: Fortgesetzte Sammlung 1729, S. 811–818; 1731, S. 270–280; 1732, S. 974–979; 1747, S. 211–235 und 240–244. 35 Ebd., S. 22–24; Fortgesetzte Sammlung 1727 (wie Anm. 19), S. 1167–1176; Fortgesetzte Sammlung 1736 (wie Anm. 22), S. 697 und 707; Io. Franciscus Buddeus: Isagoge historicotheologica ad theologiam vniversam, Leipzig 1730, S. 1367.
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Pietistisches Publizieren unter Heterodoxieverdacht
erfahren wird. […] Ja unsere Nachkommen werden die Nachläßigkeit unsrer ietzigen Zeiten verabscheuen, nach welcher man in der Evangelischen Kirchen geschehen lassen, daß eine solche Bibel gedrucket worden […], desto mehr ist zu wünschen, daß GOtt Evangelische Fürsten und Lehrer erwecke, welche […] diesen Bibel=Druck, wo nicht […] verhindern, doch dessen Gifft […] entdecken.36
Politisch listiger, klüger die auf einen Wandel der Fürsteninteressen an der Zensur weisenden Zeichen der Zeit kalkulierend, ist der Appell desselben Organs schon im Jahre 1736 bei der Besprechung des ersten neutestamentlichen Bibelbandes. Da wird nämlich nicht mehr nur auf den in vermehrten Heterodoxien (in sozinianischer Christologie, der Apokatastasis-Irrlehre einer Allversöhnung und offenem Synergismus in der Rechtfertigungslehre) sich äußernden „Libertinismus docendi“ abgehoben und auf die Unordnungen innerhalb der Kirche durch die „fanatische Verachtung der Symbolischen Bücher, der theologischen Systematum und der Glaubens=Lehre“ sowie durch „unanständige Spöttereyen über Concordien und Confeßionen, über die Sakramente und […] über den Beruff der Lehrer“.37 Vielmehr wird ein unmittelbar staatsgefährdender Charakter der Berleburger Kommentare unterstellt, ein durchgängig „Müntzerischer Geist“ und aufrührerischer Pazifismus (zu Mt 5,9),38 um dessentwillen die Fürsten schon im ureigensten Interesse ihre Zensuraufsicht verschärfen müßten: Aus dem nun, was man aus diesem fünfften Theil der Berlenburgischen Bibel angeführet, wird man sattsam abnehmen können, daß der Verfertiger derselben ihre Arbeit nach, wie vor eine anstößige Arbeit bleibe. Fast auf allen Blättern muß das Lehr= und Predigt=Amt herhalten. Auch kan man nicht bergen, wie so gar wenig man auf den Stand der Obrigkeit halte, und die Abschaffung desselben erwarte. Gleichwol lässet man dieses so gar anstössige Buch auch in Leipzig bey Samuel Benjamin Walthern ungehindert verkauffen: da doch demselben eben so wohl, als der Wertheimer Bibel mit Nachdruck Einhalt gethan werden solte.39
So haben schließlich die Kirchen selbst in ihrem Doppelkampf gegen den Pietismus (vertreten durch die ,Berleburger Bibel‘) und gegen die radikale Aufklärung (hier exemplifiziert in dem tatsächlich nach dem ersten Band von 1735 durch den Reichsfiskal unterbundenen Wertheimischen Bibelwerk des Johann Lorenz Schmidt) die staatlichen Obrigkeiten zu jener neuen Qualität der Zensurausübung aufgerufen, die dann vom Ende des Jahrhunderts an zu einer wesentlich umfassenderen Einschränkung und Bespitzelung des literarischen Engagements und gesellschaftlichen Lebens geführt hat. 36 37 38 39
Fortgesetzte Sammlung 1727 (wie Anm. 19), S. 1175 f. Fortgesetzte Sammlung 1736 (wie Anm. 22), S. 697, 701–703, 705 f., 708, 710. Ebd., S. 701 und 704. Ebd., S. 710 f. – Beim Verleger Walther erschien zum Ärger der Orthodoxie in ihrer sächsischen Hochburg auch eine gemäßigt-pietistische Zeitschrift, die „Sammlung Auserlesener Materien zum Bau des Reichs Gottes“.
Der Zensurfall ,Berleburger Bibel‘
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Nicht verschweigen will ich zum Abschluß immerhin, daß auch die Pietisten nach ihrem hundertjährigen Einsatz für die Toleranz einer öffentlichen Kundgabe religiöser Anschauungen und Sondermeinungen eine Generation nach dem hier erörterten Fall, als ihre Stellung in den Landeskirchen unangefochten und weithin beherrschend geworden war, nach dem Knüppel der Zensur gerufen haben, um nun ihrerseits alle ihnen schädlich erscheinenden Geistesprodukte, insbesondere die fiktionale Romanliteratur, aus Druckerblei und Buchhandelsregalen herauszuhalten. 1760 schreibt der aus den Franckeschen Anstalten in Halle hervorgegangene Pietist und Kirchenlieddichter Ernst Gottlieb Woltersdorf in seiner erbaulichen Sammlung letzter Reden bekehrter Schwerverbrecher, Der Schächer am Kreutz: Schriften wider die Obrigkeit, und wider den Staat, werden ohne Barmherzigkeit sogleich confiscirt und verbrannt. Es ist auch billig. Mit den Schriften wider die Religion, das ist, wider GOtt, wird eben so verfahren; doch nicht allenthalben mit gleichem Eifer. Warum aber behalten die säuische Bücher, verführerische Romanen, und vergiftete Liebes=Geschichte, warum behalten diese unselige Schriften ihren freien Lauf ? Sind sie nicht werth, confisciret und verbrannt zu werden? Streiten sie nicht wider Gott? Thun sie nicht der Religion und Tugend unbeschreiblichen Schaden? Und bauen sie nicht das Verderben des Staats durch die schändlichen Lüste, deren Herrschaft sie strohmweise ausbreiten? […] Gewiß, die Verfasser sowohl, als die Drucker und Verkäufer solcher Bücher, verdienen die schwerste Strafe.40
40 Ernst Gottlieb Woltersdorf: Der Schächer am Kreutz, Bd. 2, 3. Slg., Bautzen – Görlitz 1760, S. 66. – Die Serie von Verbotsmaßnahmen in einigen pietistisch dominierten Territorien gegen die bei Breitkopf in Leipzig anonym und mit fingierter Druckortangabe „Rostock, Auf Kosten guter Freunde, 1736“ publizierte antipietistische Tendenzkomödie der Gottschedin, auf die Wolfgang Martens im Nachwort seiner kommentierten Edition hinweist, war dagegen noch durch die Formalbestimmungen der Buchaufsicht (Pasquillverbot und Unzulässigkeit anonymer Schriften ohne korrektes Impressum) zu rechtfertigen. Luise Adelgunde Victorie Gottsched: Die Pietisterey im Fischbein-Rocke. Hg. von Wolfgang Martens, Stuttgart 1968, 3. Aufl. 1979 (Reclams Universal-Bibliothek, Bd. 8579), S. 155.
Lesarten der Schrift Die Biblia Pentapla und ihr Programm einer „herrlichen Harmonie Göttlichen Wortes“ in „Fünf=facher Deutscher Verdolmetschung“ [1996, L 20]
In einem Kernsatz seiner Aesthetica in nuce nennt Johann Georg Hamann jede worthafte Äußerung des Menschen ein Übersetzen. Redend übersetzen wir aus der in sinnliche Erscheinung getretenen Gottesrede der Schöpfung in die Metaphern oder in die Abstrakta unserer sprachlichen Zeichen und Begriffe: Reden ist übersetzen – aus einer Engelsprache in eine Menschensprache. das heißt, Gedanken in Worte, – Sachen in Namen, – Bilder in Zeichen; die poetisch oder kyriologisch, historisch, oder symbolisch oder hieroglyphisch – – und philosophisch oder charakteristisch seyn können.1
Wie viel bei diesem Übersetzungsakt aus dem Geschaffenen ins Bezeichnende verlorengeht, deutet der Bildabsturz im Folgesatz an: Diese Art der Übersetzung (verstehe Reden) kommt mehr, als irgendeine andere, mit der verkehrten Seite von Tapeten überein.2
Eine Blindprägung bestenfalls, den Widerschein nur von Strukturen, kann die Menschensprache wiedergeben von dem, was ihr in der Engelsprache der göttlichen Offenbarung zugrundeliegt. Das Interesse des Magus aus Norden konzentriert sich in seiner Aesthetica, dieser „Rhapsodie in Kabbalistischer Prose“, auf die Divergenzen zwischen unserer Sprache und jener Gottesrede, die er im „Buch der Natur“ materialisiert sieht. Doch auch auf das Übersetzungsproblem gegenüber dem im „Buch der Schrift“ kodifizierten Reden Gottes weist er hin: Die Meynungen der Weltweisen sind Lesarten der Natur und die Satzungen der Gottesgelehrten. Lesarten der Schrift. […] Die Einheit des Urhebers spiegelt sich bis in dem Dialecte seiner Werke; – in allen Ein Ton von unermeslicher Höhe und Tiefe!3
So wie also die abweichenden Hypothesen der Philosophen aus ihrer varianten Interpretation des Seienden herrühren, ist es für Hamann auch nur eine unterschiedliche Auslegung oder Übersetzung der Bibel, welche die Systeme und 1 Johann Georg Hamann: Sämtliche Werke. Hist.-krit. Ausg. von Josef Nadler, Bd. 2: Schriften über Philosophie, Philologie, Kritik 1758–1763, Wien 1950, S. 199. 2 Ebd. 3 Ebd., S. 203 f.
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Lesarten der Schrift
Glaubenssatzungen der christlichen und jüdischen Theologen unterschiedlichster Spielarten voneinander trennt. Gottes in ihrer ursprünglichen heiligen Sprache unauslotbare Wortoffenbarung dagegen ist zweifelsfrei das einheitliche Zeugnis eines sich immer gleichen Auctors – erst unsere Lesarten haben seine Rede in Vielheit zerfallen lassen. Für ein eigenständiges Fahnden nach dem ursprunghaft unzerteilten heiligen Schriftsinn jenseits aller perspektivischen Abschattungen in den Versionen der Theologen und der Religionsparteien hatte der poetisch begeisterte Philologe, auch wenn er (trotz einschlägigen Grundlagenstudiums) „kein Theolog“ war,4 das gehörige Rüstzeug zur Hand: außer seiner stupenden Sprachenkenntnis – gerade auch der heiligen Sprachen – besaß er das nötige judaistische und kirchengeschichtliche Wissen und überdies die erforderten Editionen, Übertragungen, Hilfsbücher und Kommentare. Der Katalog der Hamannschen und Lindnerschen Bibliothek enthält für ein vergleichendes Suchen nach dem reinen Sinn neben der aktuellsten Revision des hebräischen Texts und der Septuaginta fünf lateinische Gesamtbibeln, eine französische, zwei englische (eine mit den Apokryphen), eine lettische, sechs deutsche in unterschiedlichster Version von Luther bis hin zur radikal-rationalistischen Bahrdts. Vom Neuen Testament sind, ebenfalls hinführend bis zu den international neuesten Revisionen, neun griechische Ausgaben und eine griechisch-deutsche aufgeführt – und auch hier lateinische, syrische, französische Übertragungen. Dazu kommen Teilausgaben: Michaelis’ alttestamentliches Bibelwerk, eine hebräisch-griechisch-lateinische Psalter-Triglosse, Bengels Evangelienharmonie und eine Matthäus-Übersetzung, Spezialausgaben der Apokryphen. Und üppig zur Hand hatte Hamann in diesem Bücherschatz verschiedene verständnisöffnende Hilfsmittel, die jüngsten biblischen Lexika und Konkordanzen, die Synopsen, Einführungen, Paraphrasen und Kommentare, die Vorlesungs- und Predigtzyklen zur Bibel, auch Erörterungen des textlichen und theologischen Wertes der verschiedenen Editionen und Versionen auf der Basis einer der großen Bibelsammlungen.5 Mit seinem prononcierten Interesse am ursprünglichen und reinen Schöpfungswort Gottes, als dessen nachschöpferischen Widerschein er das Sprachvermögen des menschlichen Ebenbildes begriff, mit seinem philolo4 Vorrede der Hamannschen „Kreuzzüge des Philologen“, deren IX. Traktat die „Aesthetica“ ist, ebd., S. 115. 5 Hamanns Versteigerungskatalog: Biga Bibliothecarum, Königsberg 1776. Classis II: Libri Theologici. In: Hamann: Sämtliche Werke (wie Anm. 1), Bd. 5: Tagebuch eines Lesers 1753–1788, Wien 1953, S. 24–44, vgl. Apparat, S. 375 f. Ein Unsicherheitsfaktor, Hamanns eigene Bibliothek betreffend, bleibt freilich, daß (trotz Nadlers im Apparat entwickelter Trennungshypothese) die Anteile des (ihm allerdings gleichermaßen zugänglichen) Buchbesitzes seines Lebensfreundes Johann Gotthelf Lindner nicht klar abgrenzbar sind – und unklar ist, ob Hamann alle eigenen Bücher zur Versteigerung kommen ließ. – In dem Nr. 184 (S. 23) aufgeführten kritischen Kompendium der Bibeleditionen, Jacobus le Long: Bibliotheca Sacra, 2 Bde, Leipzig 1711 ist auch die „Biblia Pentapla“ erörtert (vgl. Ausg. Paris 1723, Bd. 1, S. 404/578: zum dort aufgenommenen NT des Johann Henrich Reitz auch Ausg. Leipzig 1709, Bd. 2, S. 265 f., 672).
Die Biblia Pentapla und ihr Programm
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gischen, kritisch-vergleichenden und theologischen Suchen nach dem zugleich vollständigen und präzisen Sinn war der Königsberger Sonderling ein durchaus typisches Kind seiner Zeit. Sein 18. Saeculum hat den Beinamen eines „biblischen Jahrhunderts“ erhalten, denn erstmals seit der großen Welle der Bibelverbreitung im Zeitalter der Reformation entstand im Recherchieren nach den besten ursprachlichen Codices, in der Verbesserungsarbeit ihres Kollationierens, Emendierens und Edierens eine kritische Bibelwissenschaft, entstand neben und z. T. anstelle der Luther-Bibel eine lange Serie von Neuübersetzungen des Neuen Testaments, aber auch der Gesamtbibel, von Auslegungen und kommentierten Bibelwerken. Und mehr zum wissenschaftlichen Fassungs- und Übersetzungsvergleich denn zu repräsentativen Zwecken trugen sich Privatleute wie der durch seine Literaturfehden bekannt gebliebene orthodoxe Hauptpfarrer Johann Melchior Goeze riesige Bibelsammlungen zusammen.6 Führend in der Bemühung um gereinigte Grundtexte, um neue und getreuere Übersetzungen und sinnerschließende Vergleichung waren aber nicht die Orthodoxen, denen die Flut neuer Bibeln als Abirrung vom geprüften Wortfundament der eigenen Kirche eher ein Ärgernis darstellte, sondern vielmehr religiöse Eigenbrötler aus dem pietistischen Lager, für die die Amtskirche keine zuverlässige Autorität darstellte oder die mit ihr gar in Konflikte geraten waren.7 Die wichtigsten Neuübersetzungen der Gesamtbibel von dieser Seite boten die am Lutherschen Text orientierte, fallweise nach dem Grundtext „verbesserte“ Version Henrich Horchs, die 1712 in Marburg als Mystische Und Profetische Bibel mit knappen spiritualistischen Vorreden zu den einzelnen Büchern erschien, vor allem aber die acht Foliobände starke ,Berleburger Bibel‘ (1726–1742), geschaffen von Johann Friedrich Haug und einem Stab gelehrter Mitarbeiter, ausgestattet mit einer alle heterodox-spe6 Vgl. zu diesen Zusammenhängen abbreviierend das Ausblick-Kapitel „Das biblische Jahrhundert“. In: Heimo Reinitzer: Biblia deutsch. Luthers Bibelübersetzung und ihre Tradition, Wolfenbüttel – Hamburg 1983 (Ausstellungskataloge der Herzog August Bibliothek, Bd. 40), S. 305 f., ebd. zur „Biblia Pentapla“ S. 308 f. – Im dort S. 310–313 vorgestellten Katalog: Johann Melchior Goezens, Hauptpastor zu St. Catharinen in Hamburg Verzeichnis seiner Samlung seltener und merkwürdiger Bibeln in verschiedenen Sprachen mit kritischen und literarischen Anmerkungen, Halle 1777, wird die „Pentapla“ S. 6 f., vgl. 239 f. diskutiert. 7 Knappe Übersicht über diese pietistischen Bibel- und NT-Ausgaben bei Schrader: Pietismus (1993, L 63), S. 211 f., 214. Eine erste Bibliographie der Bibel-Erörterung im 18. Jahrhundert habe ich (bezogen auf die Wirkungsgeschichte des Reitzschen NT und seine Aufnahme in die „Biblia Pentapla“) zusammengestellt in Schrader: Literaturproduktion (1989, L 1), S. 570–578, vgl. 523–526, die Bibel-philologischen Bemühungen der Pietisten umfassender erörtert: Ders.: „red=arten u[nd] worte behalten“ (2014, L 53), im vorliegenden Band S. 307–345. Überblickhaft rahmengebend für das Folgende sind namentlich die Lexikonartikel von Kurt Galling: Deutsche Bibelübersetzungen. In: Die Religion in Geschichte und Gegenwart (im folgenden RGG), 3. Aufl., hg. von Kurt Galling, Bd. 1, Tübingen 1957, Sp. 1201–1210 und Wilhelm Gundert: Bibelübersetzungen IV: in europäische Sprachen im 17. Jhdt. bis zur Gegenwart. In: Theologische Realenzyklopädie. Hg. von Gerhard Krause und Gerhard Müller, Bd. 6, Berlin – New York 1980, S. 266–299.
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Lesarten der Schrift
kulativen Traditionen ausschöpfenden wort- und versweisen Erläuterung, die ein Mehrfaches des Texts ausmachen.8 Unter den viel zahlreicheren pietistischen Neuübertragungen des Neuen Testaments ragen die von Johann Henrich Reitz (zuerst 1703: dazu Gottfried Arnolds neuübersetzte Apokryphen 1723), Johann Reinhard Hedinger (zuerst 1704, als „Verbesserung“ ausgehend vom Luther-Text), die Probestücke des Grafen Zinzendorf (2 Teile 1739) und die Übersetzungen aus verbessertem Grundtext von Johann Albrecht Bengel (seit 1753) und Philipp Matthäus Hahn (1777) hervor. Bengel war mit seinem durch aufwendige Handschriftenvergleiche gebesserten Grundtext des griechischen Neuen Testaments (zahlreiche Ausgaben seit 1724 mit Apparatus criticus)9 für die fernere Textkritik wegweisend geworden. Ebenso hatten die hebraistischen Vorarbeiten zum Berleburger Bibelwerk10 und zu den wiederholten Revisionen der Luther-Bibel (v. a. in den Franckeschen Anstalten zu Halle) dem alttestamentlichen Grundtext neue Einsichten erschlossen. Es gibt mehr als einen Grund für die auf den ersten Blick erstaunliche Tatsache, daß ein so entschiedener und entsagungsvoller Eifer um jeden Buchstaben der Schrift, um eine immer größere Zahl varianter Übersetzungen, durch die jede Sinnfacette auch im Deutschen nachvollziehbar wurde, ausgerechnet aus einer an theologischer Dogmatik eher desinteressierten Frömmigkeitsströmung kam, der es v. a. um praktisches Christentum und das individuelle Heil der Seele ging. Die besondere Offenheit der Pietisten für ein fortdauerndes Geisteswirken Gottes und seine Einsprache in die Seele gab der in der Kirchendogmatik langsam zurücktretenden, erst von der Aufklärung grundsätzlich angefochtenen Idee einer buchstäblichen, bis in jedes Satzzeichen wirksamen Verbalinspiration der Bibel eine ganz neue Gültigkeit.11 Wenn, wie die Editoren der ,Berleburger Bibel‘ betonen, die gesamte „Schrifft von Gott eingegeben“ und als „GOttes eigenhändiges schreiben“ zum Herzen geredet ist, kommt jedem Buchstaben, selbst noch der Akzentuation des Hebräischen, Heilsbedeutung zu, weil jedes Zeichen „durch den Heiligen Geist eingegeben“ ist.12 An jedem 8 Informationen und Lit.: Martin Brecht: Die Berleburger Bibel. Hinweise zu ihrem Verständnis. In: Pietismus und Neuzeit 8 (1982), S. 162–200 sowie Schrader: Pietistisches Publizieren unter Heterodoxieverdacht (1988, L 14), im vorliegenden Band S. 261–283, und ders.: Literaturproduktion (1989, L 1), v. a. S. 126–129, 186–198, 207, 433 f., 467–473 – auch zu den in Berleburg erarbeiteten bzw. veröffentlichten bibelwissenschaftlich-hebraistischen Vorauspublikationen. 9 Von Bengels „Novum Testamentum graecum“ waren in der Hamann-Lindnerschen Bibliothek gleich drei revidierte Auflagen (Tübingen 1734, 1738 und 1753) vorhanden, dazu als Wort-fürWort-Kommentar sein „Gnomon Novi Testamenti“ in der 2. Aufl., ebd. 1759. Biga Bibliothecarum (wie Anm. 5), Nrn. 31/32, 157, 502, S. 24, 28, 40. Vgl. den Artikel „Bengel“ in Nadlers „Schlüssel“ zur Hamann-Ausgabe. Ebd., Bd. 6, Wien 1957, S. 49. 10 Zusammenstellung: Schrader: Sulamiths verheißene Wiederkehr (1988, L 15), im vorliegenden Band S. 179, auch 342 und 609, vgl. ferner Anm. 8. 11 Vgl. Otto Weber: Inspiration der hl. Schrift dogmengeschichtlich. In: RGG (wie Anm. 7), Bd. 3, 1959, Sp. 775–779. 12 Die Heilige Schrift Altes und Neues Testaments / Nach dem Grund=Text aufs neue übersehen
Die Biblia Pentapla und ihr Programm
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Buchstaben hängt aber nicht bloß Gültigkeit und prognostische Kraft für die ganze Heilsgeschichte („Fürbilder und Weissagungen“), sondern ein psychagogisches Programm und ein Schatz beseligender Gotteserkenntnis: wir finden im geistlichen Sinn den so-genannten Moral-Verstand / oder die Nutz=Anwendung der Schrifft / wie dadurch die Seele muß gebessert werden: durch den geheimen Sinn hergegen die innere Erkenntniß / die durch den Geist GOttes in der Seele gewircket wird […]. Die Juden erkannten solches wol / welche vormals sagten; es wäre in der Schrifft kein einziger Buchstab / woran nicht ganze Berge der Erkenntnissen hiengen.13
Wenn also zur Erkenntnis und zum Heil der Seele nicht ein Jota der göttlichen Urkunde verfehlt werden darf, dann kommt der Angemessenheit des Übersetzens eine so existentielle Bedeutung zu wie bei keinem menschlichen Text, wie wichtig oder wie schön er auch sei. Da die geoffenbarte „Weißheit einig und doch manichfaltig“ ist,14 ist eine – im Hamannschen Sinne – „kyriologische“, gottgerechte Übertragung in ein menschliches Sprachsystem nie durch eine bloß einzelne Übersetzung zu erreichen – und schon gar nicht durch eine vom dogmatischen Interesse einer Kirche monopolisierte: Jedem Gläubigen ist aufgegeben, bibelforschend nach dem oftzitierten Paulus-Gebot 1Thess 5,19–21: „Den Geist dämpffet nicht; die Weissagung verachtet nicht: Prüfet alles / und das Gute behaltet.“15 verschiedene Lesarten, Übertragungen und Auslegungen zu vergleichen. So betont der NT-Übersetzer Reitz, der sein Buchstäblichkeitsbemühen so weit treibt, daß er im Deutschen sogar die Kleinschreibungen der griechischen Vorlage nachahmt,16 in Anlehnung an Coccejus, „daß es grossen nutzen habe / wann vile übersetzungen der
13 14 15
16
und übersetzet: Nebst einiger Erklärung des buchstäblichen Sinnes / Wie auch der fürnehmsten Fürbildern und Weissagungen […]. Bd. 1, Berleburg 1726, S. )( 2rf., )( 6v. – In dem erst 16 Jahre später erscheinenden Schlußband wird zur Nivellierung des Unterschieds zwischen kanonischen und apokryphen Schriften doch die Möglichkeit reflektiert, daß die Schreiber der göttlichen Bücher das Gottesdiktat nicht so buchstäblich wiedergeben konnten, seien doch „die göttlichen Schriften […] nur die Copien, welche die heiligen Menschen von demjenigen ausgedruckt haben, was der HErr durch seinen Geist in den Geist ihres Gemüths geschrieben.“ Der Berlenburgischen Bibel Achter und Letzter Theil, bestehend in einem Zusatz von Apocryphischen Schriften […], Berleburg 1742, S. )( 2v. Ebd., Bd. 1, S. )( 3rf. Ebd., S. )( 3v, vgl. )( 3r : „einiger=massen wie unendlich manchfaltig“. ,Berleburger Bibel‘ (wie Anm. 12), Bd. 1, 1726, S. )( 3v u. ö., vgl. in der Herausgebervorrede zur „Biblia Pentapla“, Bd. 1, 1711 (genauere Angabe s. u., Anm. 18), S. )( 4r. Zur argumentativen Bedeutung des Verses im radikalen Pietismus vgl. Schrader: Literaturproduktion (1989, L 1), S. 385 f. Dazu Ilse Franke: Die Übersetzung des Neuen Testaments von Philipp Matthias [!] Hahn (1777). Im Vergleich zu den von ihm benutzten Übersetzungen von Luther, Bengel, Heumann und Reitz, Diss. phil. Greifswald 1936, S. 7, 10, 14–21, 43–53, 65–84, 87.
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Lesarten der Schrift
H. Schrifft obhanden: Denn jede neue Übersetzung nach dem grund werde zu möglichster Erhellung des Sinnes deß H. Geistes“ begehrt von allen dem wort der warheit nach forschenden Seelen in allen partheyen / als welche täglich u. von allen cantzeln hören / daß es im grund=text anders laute.17
Die Trennung der „Satzungen der Gottesgelehrten“ (also die Divergenz der Konfessionen, Institutionen und Bekenntnisformeln), so hat ganz im gleichen Geiste Hamann gefolgert, beruhe auf ihren voneinander abweichenden „Lesarten der Schrift“. Damit erscheinen Kirchentrennungen, Verketzerungen oder Gewissenszwang gegen Lehrabweichler in erster Dimension als ein Übersetzungsproblem, während doch in allen göttlichen Werken „Ein Ton“ von der „Einheit des Urhebers“ kündet. Noch ehe die Vielfalt neuer Übersetzungen bereitstand, durch die auch in den heiligen Sprachen unbewanderte Leser zumindest virtuell die Möglichkeit erhielten, im Vergleich den ursprünglichen einheitlichen und doch mannigfachen Sinn additiv wiederzufinden und auszuloten, hat zum Jahrhundertbeginn ein ebenso bemerkenswertes wie ganz ungewöhnliches Werk eine Bibel-Bibliothek in nuce an die Hand gegeben und so den Weg zum vergleichenden Prüfen und Behalten des Guten aufgetan: die 1710–1712 in den Hamburger Vororten Wandsbek und Schiffbek herausgekommene dreibändige Biblia Pentapla.18
17 Johann Henrich Reitz: Vorrede An den Christlichen Leser. In: Das Neue Testament unsers HERREN JEsu Christi / Auffs neue ausm Grund verteutschet / und mit Anziehung der verschiedenen Lesungen […], Offenbach 1703, S. )( 2rf. (Auch abgedruckt im Vorspann zum 3. Band der „Biblia Pentapla“, in dem Reitz’ Version abgedruckt ist, s. u.). Reitz macht deutlich, daß die Arbeit nicht auf einen neuerlich kanonisch-absoluten Anspruch, sondern auf Vergleichung gerichtet ist, nicht nur, insofern „man dan allen andern versionen ihren gebührenden ruhm läßet“, sondern auch durch die fast schon historisch-kritische Mitübersetzung aller Varianten gegenüber dem zugrundegelegten Oxforder Codex: „Daß man aber solche verschidene leßungen diser teutschen version mit beygefügt / ist unter andern darzu nötig geweßen / damit die / welche das grichische nit verstehen / […] sehen mögen / wie durch einige verschidene lesungen die wahrheit […] gerettet u. bestärcket werde.“ Ebd., S. )( 2v / )( 4r. 18 Gesamt-Titel: Biblia Pentapla, das ist: Die Bücher der Heiligen Schrift des Alten und Neuen Testaments / nach Fünf=facher Deutscher Verdolmetschung / als I. Der Römisch=Catholischen / durch Caspar Ulenberg, Theol. Lic. II. Der Evangelisch=Lutherischen / durch Martin Luther, Theol. D. III. Der Evangelisch=Reformirten / durch Johann Piscator, Theol. Prof. IV. Der Jüdischen / im Alten Testament / des Joseph Athiæ, und Der Neuen / im Neuen Testament / durch Joh. Henrich Reitzen, V. Der Holländischen / auf Verordnung der Herren General-Staaten, alle mit einigen Vorreden / und Parallelen nebst kurtzen Summarien mit dienlichen Registern. – Gedruckt und verlegt durch Hermann Heinrich Holle, Hoch=Fürstl. Hollstein. Gottorff. privilegirten Buchdrucker. Anno MDCCXI. Die Impressa der drei Bände zeigen die Erscheinungsfolge des Werks: Bd. I (mit gesondertem Titelblatt): Das Alte Testament / Oder Der Alte Bund […] Der I. Theil [Genesis bis Psalmen], o.O. [= Schiffbek] 1711.
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Diese Bibel-Harmonie ist ein in mehrfacher Hinsicht epochemachendes, nämlich die Möglichkeiten der eigenen Epoche zukunftkündend sprengendes Unternehmen, dessen revolutionärer Impetus nirgends mehr kenntlich wird, wo seiner heute noch Erwähnung geschieht.19 Das für die Zeit verboten Neuartige daran ist in drei Dimensionen zu fassen: 1. in fünf synoptischen Spalten werden die eingeführten Übersetzungen aller im Reich zugelassenen bzw. nur unter Sonderrecht geduldeten Religionsgruppen gemeinsam mit außenstehenden synoptisch zu einer vergleichenden Lesung zusammengeführt – ganz so, wie ältere Polyglottenbibeln die Textgrundlagen unterschiedlicher Sprachen einander zugeordnet hatten. 2. Zum ersten Mal wird hier eine jüdische Übersetzung ins Deutsche (mit einem noch deutlich jiddischen Einklang) in lateinischer Schrift vorgelegt und so auch den nicht Hebräischkundigen zugänglich. Und diese jüdische Bibel tritt gleichberechtigt neben die Standardversionen der christlichen Konfessionen. 3. Damit, aber schon durch die Kühnheit, in irenischer Harmonie der Versionen den verordneten Glaubensgrund der landesgültigen species religionis zu verlassen, sind markant und wirksam Grundsätze der Reichszensur durchbrochen. Das radikalpietistisch-philadelphische Programm eröffnet die Tür zu Bekenntnistoleranz und ökumenischem Denken.20 In drei starken Quart-Bänden (mit insgesamt 2.226 Blatt, Titelkupfern, im NTBand einer Karte des Heiligen Landes und einem Register, erstellt vom gelehrten Orientalisten Matthäus Hiller) sind, wie schon der Werktitel verkündet, für alle Bücher und die Apokryphen der Bibel in fünf Parallelspalten die folgenden Versionen zusammengedruckt: 1. die bis ins 18. Jahrhundert maßgebliche, in verschiedenen Revisionsstufen mit über 100 Auflagen verbreitete katholische sog. Mainzer Bibel, eine von Caspar Ulenberg geschaffene (zuerst Köln 1630) und später im Auftrag des Kurfürsten Johann Philipp von Schönborn durch Mainzer Theologen revidierte Bearbeitung der Übersetzung Johann Dietenbergers, 2. die weit über die lutherischen Territorien hinaus, in denen sie kirchenBd. II: Das Alte Testament […] Der II. Theil [Lehrbücher, Prophetbücher, Apokryphen], ebd. 1712. Bd. III (zuerst erschienen): Das Neue Testament / Oder Der Neue Bund [mit Apokryphen], Wandesbeck Bey Hamburg Anno 1710. 19 Vgl. die Nachweise Anm. 7; die beste Kurzcharakteristik gibt Reinitzer: Biblia Deutsch (wie Anm. 6), S. 308 f.; ferner Stefan Sonderegger : Geschichte deutschsprachiger Bibelübersetzungen in Grundzügen. In: Sprachgeschichte. Ein Handbuch. Hg. von Werner Besch [u. a.], 1. Halbbd., Berlin – New York 1984, S. 131 f. 20 Zum hier aufgerufenen „philadelphischen“ Kontext (Begriff und Geschichte) vgl. Schrader: Literaturproduktion (1989, L 1), im vorliegenden Band S. 44–62. Zur Mainzer Bibel und zur Piscator-Bibel vgl. die Angaben bei Gundert: Bibelübersetzungen (wie Anm. 7), S. 272 und 274.
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amtlich eingeführt war, meistverwendete (etwa auch in der Privatandacht oder den Publikationen vieler Reformierter zugrunde gelegte) LutherBibel, 3. die in den reformierten Gebieten des Reichs (und – neben der Zürcher Bibel – z. T. auch der Schweiz: in Bern seit 1694) im Kirchengebrauch stehende Übersetzung des Calvinisten Johannes Piscator, die als erste nachreformatorische Übersetzung (auf der Grundlage lateinischer Versionen) seit 1602 herausgekommen war (wegen ihrer ängstlichen Wörtlichkeit und Ungeschicklichkeiten der Diktion wurde sie von Lutheranern verspottet: ,Straf-mich-Gott-Bibel‘), 4. die schon erwähnte Transliterierung der jüdischen Bibel aus dem Amsterdamer Verlag des Joseph Athias, übersetzt von seinem Verlagsmitarbeiter Josel (ben Alexander) Witzenhausen: in hebräischen Lettern zuerst 1679, in verbesserter Auflage 1687 erschienen. Für den darin freilich fehlenden Bereich des Neuen Testaments wurde in die entsprechende Spalte die Übertragung des reformierten, aber in Separation zu seiner Kirche geratenen Johann Henrich Reitz eingerückt. Diese vierte Rubrik erregte das besondere Mißfallen der orthodoxen Rezensenten. 5. in der beschließenden Kolumne die in den niederländischen Generalstaaten eingeführte sog. Staatenbibel. Diese auch im niederdeutsch-reformierten Raum verbreitete holländische Version war von einem auf Anordnung der Dordrechter Synode von 1618 berufenen Theologengremium zuerst 1636 publiziert worden: die dritte reformierte Stimme in dieser Synopse, doch ebenso wie die von Reitz eine Außenposition. Die Titelei der Teilbände faßt zusammen und deutet die Zielrichtung an: Gegeben wird die Schrift Nach den fürnehmsten 4. Hochdeutschen Ubersetzungen nebst der Holländischen da immer eine die andere erklähret / dem Christlich=Deutschen Leser zu Dienst.
Die Adressierung an den „Christlich=Deutschen Leser“ kennzeichnet schon das mit den Reichs-Zensurordnungen inkompatible Verfahren. Zum Druck zugelassen war bekanntlich nur, was dem Glaubensgrund einer der (abgesehen vom Sonderrechtsstatus der Juden) allein zugelassenen drei Kirchen (katholisch, lutherisch oder reformiert) konform war, weder aber Überschreitendes noch jede „Religionsmengerei“.21 Daß die zu konfessionsübergreifender Vergleichung einladende Synopse trotz pfarramtlicher Proteste gleichwohl keine behördliche Hinderung erfuhr, lag am Ort ihrer Veröffentlichung, auf den die Reichszensur praktisch keinen Zugriff hatte. Das Herzogtum Schleswig-Holstein-Gottorp, zu dem die Publikationsorte Wandsbek und Schiffbek gehörten und als dessen „privilegirter 21 Zu Prinzipien, Anspruch und Organisation der Bücherzensur im Reich vgl. Schrader: Literaturproduktion (1989, L 1), S. 108–126, 419–433.
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Buchdrucker“ der auch den Verlag der Bibel besorgende Hermann Heinrich Holle firmierte, lag im unmittelbaren Einflußbereich des dänischen Königreichs. Der Landesherr (in vormundschaftlicher Regierung für den noch unmündigen Herzog) Christian August (reg. 1702–1718), dem als dem „Bischoffen zu Lübeck“ Holle seine fünffache Bibel in einem Akt vorsorglicher Absicherung gegen Zensurmaßnahmen „Gehorsamst-submiss“ gewidmet hat, war gegenüber den Pressionen seines dänischen Nachbarn (die 1713 in einer militärischen Besetzung kulminierten) praktisch machtlos. Der dänische König (Friedrich IV., 1699–1730, danach sein pietistischer Nachfolger Christian VI., 1730–1746), dem das nur wenige Kilometer entfernte Altona (als nach Kopenhagen zweitgrößte Stadt seines Territoriums) gehörte, gewährte in dieser „Freistadt“ allen Konfessionen, aber auch, solange sie sich ruhig verhielten, den im Reich nicht zugelassenen oder bedrängten Labadisten, Mennoniten, Spinozisten und vertriebenen Radikalpietisten, dazu einer großen Judengemeinde, alle Rechte, auch zur Publikation ihrer Schriften, und freies Exerzitium.22 In Altona aber lebte als Haupt der „Engelsbrüder“, eines religiösen Männerbundes radikalpietistisch-theosophischer Jünger Jacob Böhmescher Lehren, der anonyme Herausgeber der synoptischen Bibel, Johann Otto Glüsing.23 Dieser stille Mystiker hat, ebenso anonym und auch im selben Verlag des ihm befreundeten Druckers Holle, mehrere Abhandlungen über die urchristliche Gemeinschaft und das keusche Leben der Altväter, der Matronen und Jungfrauen der ersten Kirche, eine Jacob-Böhme-Werkausgabe (1715) und auch noch andere, ebenfalls um die Apokryphen vermehrte Bibelausgaben herausgebracht. Außer der konfessionsübergreifend-„philadelphischen“ Gesamttendenz seiner Pentapla scheint auch deren Anlage angeregt von Glüsings geistlichem
22 Vgl. die Angaben und Literaturnachweise, auch zum Drucker-Verleger Holle und zu seinem böhmistisch-separatistischen Publikationsprogramm ebd., S. 110, 419 f., Anm. 4; ergänzend, mit weiterer Literatur und einer Fülle bislang unbekannter Zusammenhänge, Stefan Winkle: Die heimlichen Spinozisten in Altona und der Spinozastreit, Hamburg 1988, v. a. S. 13 ff. und S. 104, Anm. 90/91. 23 Das Deutsche Biographische Archiv (hg. von Bernhard Fabian, bearb. von Willi Gorzny [u. a.]) enthält in Mikrofiche die Artikel über Glüsing (1675/76–1727) aus: Christian Gottlieb Jöcher / Johann Christoph Adelung: Allgemeines Gelehrten Lexicon. Fortsetzung und Ergänzungen, Bd. 2, Leipzig 1787 (Nachdr. Hildesheim 1960) und Hans Schröder: Lexikon der hamburgischen Schriftsteller, Bd. 2, Hamburg 1854. Zusätzliche Informationsquellen: Johann Adrian Bolten: Historische Kirchen=Nachrichten von der Stadt Altona und denen verschiedenen Religions=Partheyen, Bd. 2, Altona 1791, S. 102–111; Ernst Bertheau: Johann Otto Glüsing. In: Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 9, Leipzig 1879, S. 258–262; Albrecht Ritschl: Geschichte des Pietismus, Bd. 2, Bonn 1884 (Nachdr. Berlin 1966), S. 347; Hans Haupt: Der Altonaer Sektierer Johann Otto Glüsing und sein Prozeß von 1725/26. ln: Schriften des Vereins für SchleswigHolsteinische Kirchengeschichte, 2. Reihe, Bd. 11, Preetz 1952, S. 136–163; ferner Gerhard Reichel: August Gottlieb Spangenberg. In: Realencyklopädie für protestantische Theologie und Kirche [im folgenden RE]. Hg. von Johann Jacob Herzog / Albert Hauck, 3. Aufl., Bd. 18, Leipzig 1906, S. 558.
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Lehrmeister Johann Georg Gichtel,24 dem Begründer der asketischen, auf Arbeit- und Eheverzicht gegründeten „Engelbrüder“-Gemeinschaft. Denn in einem Brief Gichtels (von seinem Wohnort Amsterdam, 29. 7. 1703, an einen Freund mit dem Kryptonym D. O. Sch.), in dem er unter Rekurs auf viele Übersetzungsdetails sein (und seines Böhmisten-Bruders Johann Wilhelm Ueberfeld) entschiedenes Lob für die Buchstabentreue in des lieben „Fr.[eundes] R.[eitz] Ubersetzungs=Arbeit“ des Neuen Testaments kundgibt, stellt er diesem bereits die „Ubersetzung Lutheri, oder Piscatoris“ entgegen.25 So mag der noch von Hamann intensiv gelesene, exzerpierte und zitierte Gichtel26 seinen Altonaer Gefolgsmann Glüsing auch auf die ja in Amsterdam erschienene jüdische und die Staatenbibel gewiesen haben. Die Zielsetzungen sowie die übersetzungstheoretischen Maximen und Reflexionen der Biblia Pentapla werden in der Dedikation des Verlegers, im Allgemeinen Vorbericht des Herausgebers und in einem dokumentarischen Abdruck der Bibelvorreden aus den sechs synoptisch präsentierten Vorlagen erläutert, wobei freilich die Aufschlüsse über die erste an ein deutsches christliches Publikum übergebene jüdische Bibel von besonderem Interesse sind. Die Redeblumen in der Widmung des Drucker-Verlegers an seinen bischöflichen Herzog „bey allerdemüthigster Uberreichung dieser fünf=fachen Bibel“ kaschieren durch ihre Pretiosenmetaphern und ihr Polysemienspiel mit dem Begriff „Weisheit“ – zugleich nämlich göttliche Sophia, biblische Botschaft und appellierte Herrschertugend – die ersichtliche dogmatische und damit auch rechtliche Anfechtbarkeit und Kühnheit des Unternehmens: Wenngleich zur „offenen Tafel“ der Bibel „zwar / ohne Ansehen der Person / alle Menschen / Hoch und Niedrige“ geladen sind, haben „gesalbete Häupter“ mit ihrem gottgegebenem Rang eine besondere Verpflichtung. Weil Gott als „die höchste Weisheit […] ihr Licht vordersamst auf hohe und erhabene Leuchter“ stellt und daher „seine Weisheit Ew. Durchlaucht vordersamst“ gewidmet hat, sollen nun auch „gegenwärtige Schriften der ewigen Weisheit / nämlich diese Biblia Pentapla“ dem Regenten gewidmet sein. Dem Herzog fällt damit freilich die Fürsorgepflicht zu, sich „dieser gesammleten Göttlichen Uhrkunden / als der Weisheit Schätze / Fürstlich anzunehmen“ – wobei als 24 Für Gichtel und dessen Verhältnis zu Glüsing vgl. die Artikel (mit Lit.) von August Wilhelm Hegler in der RE, ebd., Bd. 6, Leipzig 1899, S. 659 und von Martin Schmidt in der RGG (wie Anm. 7), Bd. 2, Tübingen 1958, Sp. 1568 f. Gichtels Autobiographie (mit Ausweis seiner biblizistischen und Hebräisch-Studien sowie seiner rabbinischen Kontakte) nahm Johann Henrich Reitz in die „Historie Der Wiedergebohrnen“ auf: Neudruck (1982, L 2), Bd. 1, Teil III, [Offenbach] 1701, S. 192–215. 25 Johann Georg Gichtel: Sämtliche Werke, oder Theosophia Practica […]. In Sieben Bänden, Bd. 1, Berlin, 3. verm. u. verb. Aufl. 1768, S. 490 f. 26 Johann Georg Hamann: Konxompax – Fragmente einer apokryphischen Sibylle über apokalyptische Mysterien, 1779. In: Ders.: Sämtliche Werke (wie Anm. 1), Bd. 3, 1951, S. 224; Exzerpte (1776 und 1778) und Motto für den Buchkatalog von 1776 ebd., Bd. 5, 1953, S. 324 f., 344 und 376; vgl. Nadlers Erläuterung Bd. 6, 1957, S. 152.
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„gesammelte göttliche Urkunden“ bewußt mehrdeutig die Bücher der Bibel oder die hier zusammengefügten Übersetzungen verstehbar sind. Letztere aber werden durch geschickte Argumentverknüpfung biblischer Bilder zu zwar allzumal menschlich unvollkommenen, aber am Ende gleichberechtigten Wegweisern ins Himmlische Jerusalem erklärt, zu deren Schutz gegen erwartbare Attacken der Regent berufen sei: Die herzogliche Autorität vermag besorglichen Irrthum aufzuheben / fals die Weisheit in diesen Decken / worinn sie wegen menschlicher Schwachheit sich hüllen müssen [Anspielung auf Ex 34,33 f.] / jemand solte verdächtig und anstößig fürkommen. Ein Edelgestein ist freylich so gut nicht wie der andere / und eine Ubersetzung dieser Bibel übertrifft vielleicht die andere an Nachdruck.
Nach Ex 28,17 f. sind aber unterschiedliche Edelsteine „von Gott selbst in dem Brust=Schildlein Aaronis“ (als des berufenen Bischofs) und nach Apk 21,21 (ebenso wie auf der Kaiserkrone, die weltliche und geistliche Insignien verbindet) „zu den Thoren der himmlischen Stadt / ihres Gebrauchs und Zierde wegen / verordnet und zusammengefügt.“ Wie voluntaristisch der Gebrauch des hier auf der „offenen Tafel“ zum Vergleich Dargebotenen zu denken war, konnte sich dem Herzog-Administrator allenfalls auf den zweiten Blick zeigen, wenn er in der Synopse der fünf Versionen den ihm als Fürstenspiegel vorgehaltenen Weisheitsspruch nachschlagen mochte: Prov. 8,15.16. Durch mich regieren die Könige / und die Rahts=Herren setzen das Recht; durch mich herrschen die Fürsten und sind freygebig alle Regenten auf Erden.27
Nicht nämlich die für den Bischof und Herrscher und für sein Territorium verbindliche lutherische Version ist da zugrundegelegt, sondern die „Reformirte Ubersetzung“, weil sie als einzige in dieser Synopse die in der Widmung erwünschte Aussage „und (sind) freygebig“ enthält. Aber auch die Piscator-Fassung wird nicht etwa rein präsentiert, sondern in der wortgleichen Eingangshälfte des Spruches kontaminiert mit den Lesarten des LutherTexts, dessen Schreibform den Piscator-Lesungen substituiert wird.28 Der „Allgemeine Vorbericht“ des Herausgebers (Johann Otto Glüsings) hebt neben dem Ziel, in den Brechungen der konfessionellen Übersetzungen den präzisen und vollen Sinn der ungeteilten Gottesrede additiv wiederherzustellen, besonders diesen Aspekt der Wahlfreiheit hervor, sich nämlich jenen Wortlaut zuzueignen, der dem eigenen Glauben analog und förderlich empfunden wird. Während mit den Biblia Polyglotta „denen sprach=kündigen nur allein gedienet war“, kann die Biblia Pentapla auch den tiefer forschenden Laien zunächst ein „bequemes Hülffmittel“ sein „zum rechten 27 Alle Widmungstexte: Pentapla, Bd. 1, 1711, S. )( 1v – )( 2v. 28 Pentapla, Bd. 2, 1712, S. 230.
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Wort=Verstande“. Sollte eine der Übersetzungen die „rechte Deutung des Grund=Worts übersehen“ haben, kann jeder Leser zuverlässig gleich „gegen über bey denen andern sich Rahts erholen“. Im Zweifelsfall wird er dadurch auch kritikfähig gegenüber der Kirchenlehre, kann er doch prüfen, „ob sichs also verhalte / was gelehret wird“.29 Durchgängig gewähren ebenso bei korrekter Sinnerfassung „deutsche Synonyma“ der prüfenden Zusammenschau eine vertiefte Einsicht. Über den gebesserten Aufschluß aber des Sinnpotentials der Gottesrede hinaus ist jeder Leser durch das paulinische Prüfungsgebot bevollmächtigt, „nach dem Maaß seines Erkenntnisses / dasjenige zu erwählen / was ihme am erbaulichsten düncket.“ Im höchsten Sinne jedoch versteht sich die Synopse der verschiedenen Konfessionsversionen des einen heiligen Texts als „Arbeit zum Frieden und zur Einigkeit in Christo“. Schon das Eingangsgebet unter der StrahlenkranzVignette „ADONAJ.“ (auf den Titelkupfern steht dafür das hebräische Tetragramm, das für den Neuen Bund durch Vokal-Punktierung als „Jehova“ lesbar gemacht wird)30 an die über den getrennten Parteien stehende, nämlich „unpartheyische Weisheit von oben“ verkündet dieses Toleranzprogramm „zum Wachsthum der Liebe und des Friedens in Christo JEsu.“31 Dies macht der Herausgeber in der Vorrede zum 2. Band noch expliziter : Die wechselseitige Erhellung der Lesarten macht, daß eine Gott=liebende Seele / über der Herrlichen Harmonie Göttlichen Wortes / in Verwunderung sich hertzlich erfreuet / da ja bey Christen alle fleischliche Partheylichkeit ganz entfernet seyn solte.32 29 Ergänzender Gesichtspunkt aus dem kurzen „Vor=Bericht“ des zuerst ausgelieferten 3. Bandes (= NT, 1710), S. )( 4v. 30 Beide mit Bilddeutungen abgebildet bei Reinitzer : Biblia deutsch (wie Anm. 6), S. 309. 31 Alle Zitate (außer Anm. 29) aus Glüsings ungezeichnetem „Vorbericht“: Pentapla, Bd. 1, 1711, S. )( 3r – )( 4r. Die Argumente werden hier und im folgenden nicht in ihrer Abfolge nachgezeichnet, sondern in eine sprechendere Ordnung gestellt, die die von Glüsing vorsichtig kaschierten Tendenzen systematisch verdeutlicht. 32 Pentapla, Bd. 2, 1712, S. )( 4r. – Es ist aufschlußreich, daß sich eine Generation später der demselben philadelphischen Geist verpflichtete radikalpietistische Herausgeber, Drucker und Verleger der ersten in Nordamerika in einer europäischen Sprache publizierten Bibel (sog. ,Sower-Bible‘), [Johann] Christoph Sauer, bei seinem ehrgeizigen Vorhaben zunächst am synoptischen Muster der „Biblia Pentapla“ orientieren wollte, dann aber erkennen mußte, daß er dazu mittlerweile eine ganze Bibelsammlung hätte integrieren müssen (so daß er es beim Grundtext der Luther-Bibel mit einigen Übernahmen aus der Berleburger, bei einer erweiterten Apokryphen-Darbietung und beispielhaften Varianten-Proben beließ): „Man ist willens gewesen, anderer Uebersetzungen Unterschied auf diesen Platz gegen ein ander zu setzen; man fand aber bald, wann es an allen Orten geschehen sollte, es müste dieser Anhang nothwendig 4 mal so groß werden, als diese Bibel selbst, wann man daher setzen solte, wie es andere geben, als: Froschauers [Zürcher Bibel] / Piscators / Horchens [Marburger „Mystische Und Profetische Bibel“] / die Berleburger, Zu geschweigen die Jüdisch-Teutsche / Holländische / Englische und anderer, so sie in ihre Landes= und Mutter=Sprachen übersetzt sind, nebst den Neuen Testaments=Proben von Reitz / Junckeroth / Keyser / Zinzendorff &c.“ [Sauer]: Kurtzer Begriff. Von den Heiligen Schrifften und deren Uebersetzungen. In: Biblia. Das ist: Die Heilige Schrifft
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Noch größeren apologetischen Aufwand als für die „herrliche Harmonie göttlichen Wortes“ benötigt der Herausgeber in seinem „Allgemeinen Vorbericht“ des 1. Bandes aber zur Begründung dessen, wofür er den größten Aufwand an Mühe und Subsidien auf sich genommen hat und wodurch er sein Bemühen um Wachstum der Liebe und des Friedens hinaustrug über die Gemeinschaft der Jesus-Gläubigen: die Aufnahme einer jüdischen Version in das Wahlangebot seiner offenen Tafel. Dies sei, so gibt er vor, ebenso wenig eine beispiellose Neuerung wie die Parallelpräsentation unterschiedlicher Bibeln eines Sprachsystems überhaupt: schließlich habe schon Origenes in gleicher philadelphischer Absicht, als die frühen Christen „in Secten und Rotten / um Buchstäblicher Meynung willen / sich mehr und mehr zu trennen anfiengen“, in seine verlorene Synopse einer zunächst Tetrapla, dann Hexapla, schließlich Octapla griechischer Versionen auch Übersetzungen aus dem jüdischen Bereich integriert.33 Zwar freilich weiche die jüdische Version „in dem Punct von Messia oder Christo“ vom rechten Verständnis ab, weil die Jüden / als eine eigene und von Christen abgesonderte Secte […] durch ihre finster Decke Christum in seinem Zeugniß nicht sehen können.
Jedoch „den eigentlichen Wort=Verstand“ betreffend, hätten sich, da schließlich unsere meiste Wissenschaft und Muhtmassungen in der Hebräischen Sprache / von den Jüden uhrsprunglich herrühret / deren Mutter=Sprache sie ehemals gewesen,
die berühmtesten Kirchenlehrer „nicht geschämet in diesem Theil der Juden Schüler zu seyn“. Zum Beleg dient das Bekenntnis einer so unbezweifelbaren hebraistischen und auch Lehr-Autorität wie Johann Christoph Wagenseil, daß eine „Jüdisch=Deutsche Dolmetschung“ der alttestamentlichen Sinnerschließung oft mehr zu statten komt / als alle andere Subsidia, […] es möge gleich die Ubersetzung in der Deutschen Sprache wohl oder übel klingen.
Wenngleich in apologetischer Absicht am traditionellen Argument festgehalten wird, „das Jüdische Volck“ könne hier Anleitung finden, daß sie die finstere Decke ihrer Menschlichen Aufsätze erkennen und weg thun / und so wohl im Buchstaben als im seeligen Schauen Christum ihren Meßiam finden […] mögen, […] mit […] beygefügten vielen und richtigen Parllelen [!]. Germantown: Gedruckt bey Christoph Saur, 1743 [Vorsatzbogen ohne Zählung]. Nachweis weiterführender Information bei Schrader: Literaturproduktion (1989, L 1), S. 224–227, 476 f. (und vgl. Reg.). 33 Pentapla, Bd. 1, S. )( 3v, vgl. die aufschlußreichen Erläuterungen hierzu im Stichwort „Bibel“ von Josef Nadlers „Schlüssel“ zu Hamanns Bildung und Denken. Johann Georg Hamann: Sämtl. Werke (wie Anm. 1), Bd. 6, 1957, S. 53 f.
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steht doch ersichtlich der umgekehrte Nutzen im Vordergrund, daß der „berühmtesten Rabbinen ihre Commentarii“ und die aus der Vorlage [in eckigen Klammern] mitübernommene „Mystische oder geheime Deutung“ dazu verhelfe, mit der Synopse ebenso, wie man bei „einer jeden Parthey ihren Glaubens=Grund und Einsicht […] gründlich erkennen und prüfen kann“, eben „auch der Juden ihre Theologie völlig entdecket.“34 Hier in Altona, wo noch vor kurzem versucht worden war, die große Judengemeinde in eine apostolische Liebesgemeinschaft der Erweckten einzubeziehen,35 stand, wie bei den radikalen Pietisten überhaupt, der Wille zu lernbereitem Gespräch und Ausgleich mit den Juden (ebenso wie jede der christlichen Kirchen als Secte, also abgefallener Teil desselben Ganzen angesprochen) allem Eifer zu Zwang und Überwindung entgegen. Aus dem Entschluß zur Aufnahme jener jüdischen Verdeutschung, die dichter als andere „nach dem Hebräischen gegeben“ ist und „welche auch die Juden selber am höchsten aestimiren“, resultierte freilich ein unvergleichlich größerer Aufwand als für die bloße Betreuung eines buchstäblichen Abdrucks bei den anderen. Der in Amsterdam zuerst 1679, dann nach sorgfältiger „Correctur“ und Durchsicht in 2. Auflage 1687 mit einer Widmung an den Großen Kurfürsten Friedrich Wilhelm von Brandenburg erschienene Foliant („welcher letztern Edition wir gefolget“),36 dessen transkribiert beigegebene epische Titelei stark abbreviiert lautet: Das Gesetz / die Propheten und die Psalmen aus der heiligen oder Hebräischen Sprach übersetzend und in Teutscher Sprache beschrieben / nach Anweisung groser und berühmter Ausleger […] Durch […] Joseph Suhn von Alecsander […] in einem feinen und schönen Styl ausgesiebt […]. Gedruckt im Haus und auf Befehl […] des […] Joseph Athias zu Amsterdam im Jahr TebhVA tah Lerosch Joseph (Joseph bringt den Segen) das ist 5447 nach minderer Jahr=Rechnung der Welt / oder 1686 –37
war ja „mit Rabbinischen Buchstaben / in Deutscher Sprach“ gedruckt und mußte zunächst – mit den Vorreden des Übersetzers und des Druckers – aus seiner hebräischen Schrift transkribiert werden. „Derohalben man selbige mit 34 Nachweise: wie Anm. 31. 35 Vgl. zu diesem Experiment des Oliger Pauli, das auch der dänischen Regierung zu weit ging und zu seiner Ausweisung führte, die Literaturzusammenstellung und den Nachweis analoger Bestrebungen bei Schrader: Sulamiths verheißene Wiederkehr (1988, L 15), im vorliegenden Band S. 194 f. und ebd. zur „Pentapla“ S. 179 f., ergänzend Winkle: Die heimlichen Spinozisten in Altona (wie Anm. 22), S. 21, vgl. S. 57 ff., 103 f., 118 ff. 36 Pentapla, Bd. 1, 1711, S. )( 3r. Die dortigen irrtümlichen Jahresangaben (für die erste Auflage wird 1670, für die zweite entsprechend der Titelei 1686 angegeben) sind bereits korrigiert bei Johann Jacob Schudt: Jüdische Merkwürdigkeiten, Bd. 1, Frankfurt – Leipzig 1714, S. 285; vgl. danach Helmut Dinse: Die Entwicklung des jiddischen Schrifttums im deutschen Sprachgebiet, Stuttgart 1974, S. 176. 37 Pentapla, Bd. 1, 1711, S. )( )( )( )( 1r.
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grossen Kosten und Fleiß aus den Rabbinischen Lettern abschreiben lassen“38 – eine Fleißarbeit, die nur ein erfahrener Hebraist vollbringen konnte und mit offenbar wissenschaftlich-kritischer Präzision vollbracht hat. Denn in der „Nota wegen der Jüdischen Ubersetzung“ wird ausgewiesen, daß nicht nur die auch im Ursprungstext graphisch abgehobenen Erläuterungszusätze analog kenntlich gemacht werden, sondern, gekennzeichnet durch runde Klammern und kleinere Schrift, diesem Neudruck deutsche Ersatzbegriffe für unverstehbare Hebraismen der Vorlage hinzugefügt worden sind.39 Sogar die hebräischen Distinktionszeichen Silluk und Atnach sind als sinntragende emphatische Signale übernommen.40 Und die durch jiddische Einsprengsel, durch syntaktische und idiomatische Eigenheiten fremdklingende ,judendeutsche‘ Sprache ist trotz der Verwendung schriftsprachlicher Wortformen nicht etwa ad usum delphinorum standardisiert: Die Schreib=Art ist zwaren dem reinen Deutschen Gehör was beschwerlich / um der Juden willen aber / welchen es also fast angenehm ist / beybehalten worden.41
Die judaistische Forschung hat aufgrund der z. T. vagen Angaben in den Vorreden des Übersetzers und des Verlegers Näheres über die Entstehung der Amsterdamer Version ermittelt und deren Sprachleistung qualifiziert. Der Sepharde Joseph Athias, dessen Vater einem Autodaf8 in Cjrdoba zum Opfer gefallen war, hatte zu dessen Gedächtnis schon 1665/66 eine textkritisch bearbeitete hebräische Bibel herausgebracht.42 Konkurrierend zu der 1677 im Amsterdamer Verlag des Uri Phöbus Levi ebenfalls in hebräischen Lettern erscheinenden deutschsprachigen Bibel des Jaquthiel Blitz hat er dann seinen 38 Johann Otto Glüsing: Vorbericht, ebd., S. )( 3r. Insofern der Tübinger Hebräischprofessor Matthäus Hiller das Register zur „Pentapla“ erstellt hat (vgl. Reinitzer: Biblia deutsch, wie Anm. 6, S. 308), erscheint es naheliegend, daß ihm auch diese Vorarbeit übertragen war. Zu ihm vgl. den Artikel von Julius Wagenmann über den ihm verwandten pietistischen Kirchenlieddichter Philipp Friedrich Hiller in der RE (wie Anm. 23), 3. Aufl. (Herzog / Plitt), Bd. 6, Leipzig 1818, S. 116. 39 Nota, ebd., S. )()()( 1v. Vgl. Johann Christoph Wolf: Bibliotheca Hebraea, Hamburg 1715–1733, Bd. 4, S. 187: „litteris Germanicis […] ita expressa est, ut voces quaedam vel phrases Rabbinicae & Judaeo-Germanicae obscuriores […] per parenthesin explicentur“, vgl. ebd., Bd. 2, S. 453. – Diese Eindeutschung „der grossen Menge der eingestreuten hebräischen und talmudischen Wörter“ ist freilich nicht ganz ohne „einzelne kleine Misverständnisse“ abgegangen. Max Grünbaum: Jüdischdeutsche Chrestomathie. Zugleich ein Beitrag zur Kunde der hebräischen Literatur, Leipzig 1882, S. 19. 40 Nota, Pentapla, Bd. 1, S. )()()( lv. 41 Johann Otto Glüsing: Vorrede, S. )( 3r. Von der Warte moderner Sprachwissenschaft wird allerdings bemängelt, daß just diese Verschriftsprachlichung den dialektalen Charakter der jüdisch-deutschen Übersetzung zerstöre: Willy Staerk / Albert Leitzmann: Die Jüdisch-Deutschen Bibelübersetzungen von den Anfängen bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts, Frankfurt 1923 (Schriften hg. v. d. Ges. zur Förderung d. Wiss. d. Judentums, Bd. 31a), S. 163. 42 „Vorrede“ des Jüdischen Druckers („von Stam der Spanier oder Portugiesen“), Pentapla, Bd. 1, 1711, S. )()( 3v–S. )()( 4v.
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theologisch gebildeten (daher der Ehrentitel „Rabbi“)43 Setzer und Korrektor Josel Witzenhausen (1610–1686, aus dem nordhessischen Witzenhausen bei Göttingen) mit einer getreuen Übertragung in ein besseres Deutsch beauftragt. Witzenhausen hat, um den an der Konkurrenz bemängelten Textverderbnissen am göttlichen Wort zu entgehen, nach einer gemeinschaftlich mit dem Oberrichter der Amsterdamer Aschkenasen „Rabbi“ Meir Stern und dem Prager Kantor, Verleger und Bibliophilen Sabbatai Bass vorgenommenen Revision (zur Vermeidung von im Oberdeutschen unverständlichen holländisch-friesischen Wörtern) das Werk selbst gesetzt und penibel korrigiert. Entstanden ist nach fachwissenschaftlichem Urteil aus dem Bemühen, den hebräischen Urtext wissenschaftlich genau wiederzugeben, eine zwar zuverlässigere und reinere Version, die dennoch (vergleicht man rückblickend von Moses Mendelssohns Thora-Übersetzung von 1780–1783 her) „verknöcherten Geist und verderbte Sprache“ zeigt.44 Auf die inhaltlich wie sprachlich hochinteressanten Vorworte des Übersetzers und seines Verlegers in ihrem Schwanken zwischen wissenschaftlichhistorischer Rechenschaft und volksbuchartigen Formen der Buchwerbung (z. T. mit Übergang in hölzern reimende Knittelverse) kann hier vom thematischen Zugriff her nur im Blick auf das Übersetzungsprogramm eingegangen werden: Weshalb wird das hebräische Gotteswort überhaupt für Juden, die mit ihm gottesdienstlich doch vollkommen vertraut sind, „geteutscht“ und zwar so „gut Teutsch“ wie möglich? Nach welchen Prinzipien geschieht das, und wieweit stehen die in Analogie zum Programm der Pentapla? Landessprachliche Übersetzungen hält Athias für die Gemeinschaft Israels, der doch Gesetz und Lehre „gegeben wurden in unserm der heiligen oder Hebräischen Sprach“, so lange für notwendig, wie sie zerstreut ist „in all die vier Seiten von der Welt / unter allerley Volk und Sprach“, weil nämlich in der Diaspora „der gemeine Man der kein Gelahrter is / dem Text kein Verstand abhaben“ kann. Nur mit dem hebräischen Text also stünden die den Gottesdienst tragenden Männer in Gefahr, unverstandenes Hebräisch zusammenhanglos abzulesen, die kaum der heiligen Sprache mächtigen Frauen und
43 Reitz erläutert den Begriff zu Recht „ein fürtrefflicher excellenter / vielwürdiger mann oder lehrmeister“. In: Das Neue Testament, 1703 (wie Anm. 17), S. )( )( 1r. Selbstverständlich war Witzenhausen nicht Rabbiner, wie in der Forschung aufgrund der Ehrenbezeichnung ,Rabbi‘ z. T. zu lesen ist. 44 Zitat: Hugo Fuchs: [Art.] Bibelübersetzungen. C. Insbesondere deutsche Bibelübersetzungen. 2. Von jüdischer Seite. In: Jüdisches Lexikon. Begr. von Georg Herlitz und Bruno Kirschner, Berlin 1927. Nachdr. 2. Aufl., Frankfurt 1987, Bd. 1, S. 1013. Zu den übrigen Informationen vgl. (außer den Vorreden) Schudt: Jüdische Merkwürdigkeiten, Bd. 1 (wie Anm. 36), S. 285; Grünbaum: Jüdischdeutsche Chrestomathie (wie Anm. 39), S. 19; Staerk / Leitzmann: Die Jüdisch-Deutschen Bibelübersetzungen (wie Anm. 41), S. 161, 163 und Dinse: Die Entwicklung des jiddischen Schrifttums (wie Anm. 36), S. 135/176.
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Jugendlichen würden dem Gesetz ganz entfremdet. In der Zerstreuung also braucht man die Bibel von Wort zu Wort verteutscht durch Auslegung der Worte / das es ein itlicher es sey Man oder Weib / Jüngling oder Jungfrau auch gemeine Leut / aso wohl könten die Folge von den Texten verstehen.
Weil aber diese Arbeit nicht nur für die eigene Gemeinde bestimmt ist, sondern für alle Juden, die sich einer deutschen Sprachform bedienen, kann der Text nicht im lokalen jiddischen Idiom gegeben werden, sondern Wort vor Wort in einem guten Teutschen zierlichen Styl / daß es ein itlicher / er sey auch wer er sey / in den Ländern Pöhem / Mähren / Oestereich / Pohlen und Teutschland wohl sol könen verstehn […].
Damit kann die Übersetzung ihr eigentliches Ziel befördern: sie wird „die Gesetz Lehre mehren unter Jisrael“ und kann so „der Welt auch weiter zur Seeligkeit behülflich“ sein, denn nur das Halten des Gesetzes wird zur Erlösung aus dem Exil, zur Versammlung im Friedensreich des Messias führen.45 So verheißt schon die Titelei des Amsterdamer Drucks: in dieser Rechtfertigheit werden wir wieder in das Land Jisrael kehren; und der hochgelobte Namen [HaSchem = Gott] wert uns von allen vier Eken der Welt brengen zusamen / und wert uns schiken Meßiam den Sohn Davids.46
Diese höchste Zielgebung paßte freilich sehr wohl in das eschatologische Konzept der Radikalpietisten, als Weg dahin aber nicht minder die skrupulöse Sorge für eine vollkommen buchstabengetreue Verdeutschung der heiligen Sprache. Josel Witzenhausens entschiedenstes Bemühen war es, daß das Buch / das herliche das dasige des Worts GOttes / probiret wie Silber durchläutert sieben Mahl sol seyn. Und damit nie […] ein Fehler solt werden in diesem köstlichen Buch,47
hat er, wann immer „ich ein Wort nit wol hab können in sein Teutsch brengen“, für den präzisen Wortsinn und all seine Nuancen die Gelehrten in den sephardischen Synagogen befragt und selbst nachgeschlagen im Targum / Raschi / oder Aben Aesra / oder Rabbi David Kimchi / oder Rabbenu Jeschaja / Rabbi Levi Ben Gersom / Rabbenu Sadijah Gaon / Beer Moschäh / Ajalah Scheluchah / Maggid / Chibbure Läkät / Michlol Jophi / Abrabanel / und andre Ausleger […] biß daß ich hab gefunden / welches Wort auf Teutsch men der Einfalt am nächsten iß gewesen / das hab ich erwehlend gewesen. 45 Zitate: „Vorrede“ des jüdischen Druckers, Pentapla, Bd. 1, 1711. S. )(3v –)(4v. 46 Ebd., S. )()()( 1r. 47 Apologie des Übersetzers, ebd., S. )( )( 2v : Ich korrigiere hier die im Druck falsche Bogensignatur, die zweimal )()(3 aufeinander folgen läßt. Witzenhausens „Apologie“, aus der ich im folgenden zitiere, reicht von S. )()( 2r –)()( 3v.
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Das wiederholt hervorgehobene Axiom der „Einfalt“, durchaus im neuplatonischen Sinne verstanden als eine sich nie erschöpfende, unverminderte Bedeutungskraft, macht das Übertragen der Gottesrede zu allem anderen Übersetzungswerk inkommensurabel: Nun sunst in einem andern Buch kan man etliche Wörter dazu setzen / das sprach damit zu zieren / oder der Worten das man es recht verstehen sol / welches in diesem Buch nit seyn kan.
Dem Ziel aber, das Urwort „sunder Zusatz und Verminderung“, getreu bis zu jedem „Stüpfelchen“ (Komma) und Pausenzeichen abzubilden, steht freilich das in jeder übersetzungstheoretischen Äußerung erwogene Faktum entgegen, daß aufgrund der unterschiedlichen Idiomatik der Sprachen eine zu eng gefaßte Wörtlichkeit das Verständnis zerstört, daß wen man etwas wil übersetzend seyn aus ein Sprach in das ander / daß man es eben grad aso von Wort zu Wort nit kan übersetzend seyn / es ist ein Sach die nit möglich ist in Ewigkeit.
So hilft sich der fromme „Setzer / Ubersetzer“ aus dem Zwiespalt zwischen einem sündhaften Verfehlen des Worts und dem nicht minder sündhaften Verfehlen der Aufgabe, es verständlich zu übermitteln, dadurch, daß er „solch Wort oder Wörter“, die „von Verbindung der Sprache wegen“ erfordert werden, die aber „nit in dem Vers der Heiligen oder Hebräischen Sprach stehn“, vom urtextlich vorgegebenen Wortlaut „zwischen aso [] einem Klammer=Zeichen“ abhebt.48 Und die Pentapla folgt ihm darin mit der gleichen kritischen Genauigkeit der Textherstellung wie den anderen Versionen, mit dem Ziel, so dicht wie möglich ans Ursprungswort heranzuführen.49 Ganz entsprechend hatte sich auch Reitz im Zweifel für Wortwörtlichkeit gegen Idiomatik oder gar Eleganz entschieden: Zierlichen teutsches aber hat man sich umb soviel weniger befleissen können / weil man eben hiemit der einfalt des Geistes Gottes / worinnen der weißheit schätze liegen / widersprechen / u. vom wahren sinn u. zweck abirren würde.50
Damit schlägt das Pendel in dieser Pentapla zurück gegen das (freilich immer mitzulesende) Luthersche „gewaltiglich verteutschen“ und gegen dessen Maxime, man müsse 48 Alle Zitate ebd., S.)()( 2rf.; )()( 4v. 49 Ebd., S. )( )( )( lv : „Nota wegen der Reformirten Übersetzung“: Bei den als besonders wortgetreu gerühmten Versionen Piscators oder der Staatenbibel werden alle enger als die Übersetzung an die heilige Sprache führenden Varianten oder Erläuterungsbegriffe – ausgewiesen durch andere Schriftgrade – in den Text interpoliert. 50 Reitz: Vorrede. In: Das Neue Testament (wie Anm. 17), 1703, S. )( 2v.
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die mutter jhm hause die kinder auff der gassen, den gemeinen man auff dem marckt drumb fragen, und den selbigen auff das maul sehen, wie sie reden, und darnach dolmetzschen, so verstehen sie es den und mercken das man Deutsch mit jn redet.51
Luther war es mehr um die „meinung des texts“ als um ein Konservieren der Buchstaben gegangen, die skrupulösen Neuübersetzer nun setzten eher auf ein buchstäbliches Durchscheinen der „Engelsprache“ in die „Menschensprache“, gleich dem Strukturabdruck auf „der verkehrten Seite von Tapeten“. Die orthodoxen Glaubenswächter, ihnen voran gleich nach Erscheinen des ersten Bandes der Pentapla der Wandsbeker Pastor Michael Berns,52 haben die Abirrung vom Luther-Wort selbst schon als ein fanatisches Vergehen gesehen, aus dem „ein verfluchtes Evangelium“ entstehe, „das fleischliche Evangelium des Wiederchrists, von dem siebenköpfigten Drachen / der alten Schlangen […] erdacht.“53 Das Sakrileg einer Konkurrenz anderer zum Luther-Text wird aber „noch ärger“ dadurch, daß eine ganz neue Übersetzung (Reitz), die ex puro naturalismo hergeflossen / die weder gewaschene Hände / noch die geringste Erleuchtung heget / der reinen und in der That erleuchteten Übersetzung Lutheri müssen beygefüget werden,
daß man schließlich gar (dies schreibt der Kalumniator, ehe ihm noch eine Zeile der jüdischen Übersetzung zu Gesicht gekommen sein kann) „des allerverfluchsten Juden / des Josephi Athiä seine Version“ danebenstellen wolle.54 In den Variantenlesungen v. a. äußert sich nach Überzeugung der Orthodoxie der Frey=Geist / der sich weit über alle Göttliche und Menschliche Gesetze überhebet / er ist ihm selbst der Gesetz=Geber und Gesetz.55
Denn dieselbe Wahlfreiheit und also babelische Konfusion wie bei den Übersetzungen herrsche auch in der biblischen Überlieferung: Beyderseys Corrumpirung und Verfälschung des Göttlichen Worts / ist diesem Hauffen dennoch nicht genug / sondern da hat man die allerärgsten Exemplaria bey 51 Martin Luther : Sendbrief vom Dolmetschen. In: Ders.: Werke. Krit. Gesamtausgabe (WA), Bd. 30, 2. Abt., Weimar 1909, Neudr. Graz 1964, S. 632 f. — Eine „mit dem Sinn correspondirende Ubersetzung“, selbst wenn sie dem Buchstaben nach „offt unaccurat“ herauskommt, nimmt sich unter Berufung auf Luther auch Nicolaus Ludwig von Zinzendorf vor und scheut sich beim Übertragen nicht, „den Stylus ein wenig cavalier“ zu machen: Eines Abermahligen Versuchs Zur Ubersetzung Der Lehr= und Prophetischen Bücher Neuen Testaments […] Erste Probe, Büdingen 1739, S. )( 3r/4r. 52 Michael Berns: Endeckung [!] Des Greuel Wesens / Welches die sogenandte Neue Christen / Mit der biß dahin in Wandesbeck gedruckten Biblia Pentapla vorhaben / allen rechtschaffenen Christen […] zur Warnung und Verhütung, Hamburg 1710. 53 Ebd., S. 16 f.; vgl. S. 8. 54 Ebd., S. 8 f., vgl. Vorrede, S. )( 2r. 55 Ebd., S. 42.
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der Hand / derer Feder von keiner bessern Art gewest / als dieser Menschen; […] man verfahret bloßhin nach gefallen; Was denen alten und unverfälschten Exemplarien / als wornach des seeligen Lutheri Version ergangen / schnur zu widern läufft / das wird hingesetzet.56
So getreu auch noch viele Rezensenten dieser ersten Aufwallung folgen,57 die Zeit der Respektierung vorgegebener rechter Wege ist vorbei und die der Eigensuche auf varianten Wegen nach dem individuell Überzeugendsten hat begonnen. In der Kritik an der Bibel-Harmonie lösen bald philologische, ästhetische und schlicht utilitaristische Argumente die nur theologischen ab: Schon im Jahr, nachdem die Pentapla vollständig vorlag, gedenken die Rezensenten der Gelehrten-Periodika, auch wenn sie theologische Vorbehalte oder solche gegen undeutsche und gezwungene Wendungen referieren,58 diese Biblische Arbeit nicht eben gantz und gar zu verwerffen, denn wer Freude an vielerley Übersetzungen […] der Bibel hat, wird sich solche unfehlbar anschaffen,59 […] weil man doch in demselben fünff Bibeln beysammen hat, welche kaum so viel kosten als sonst eine eintzige. […] Denn wenn auch [jede Vorhaltung der orthodoxen Kritik] wahr wäre, so wird man doch den Gelehrten vergönnen / die irrigen Ubersetzungen so wohl als die vulgatam zu prüfen, die Fehler bekandt zu machen, und den Grund unserer Religion […] fester zu setzen.60
Noch 1777, fünfzehn Jahre nach Hamanns Aesthetica in nuce, kam eine Reverenz, zumindest für die praktische Nützlichkeit des Unternehmens, von kaum zu erwartender Seite. Der Hauptpastor Goeze, der sich seines rechten Weges wohl bewußt war und daher sicher ohne große Sympathie für das Epochemachende der auf Vergleich gestellten „Harmonie Göttlichen Wortes“ 56 Ebd., Vorrede, S. )( 1r. 57 Ausführliche Proben eines jahrhundertlangen Kolportierens der immer gleichen Argumente z. B.: Unschuldige Nachrichten Von Alten und Neuen Theologischen Sachen. [Hg. von Valentin Ernst Löscher], [Bd. 10], Leipzig 1710, S. 616 f., [Bd. 11], 1711, S. 127–134; [Ernst Stockmann]: Kurtze Fragen aus der Kirchen-Historia, 8. Teil, Jena 1731, S. 1148–1150, vgl. 9. Teil, 1732, S. 642 f. Allgemeine Staat= Kriegs= Kirchen= und Gelehrten=Chronicke, Bd. 13, Leipzig 1744, S. 256; Bolten: Historische Kirchen=Nachrichten (wie Anm. 23), Bd. 2, 1791, S. 108. 58 Vgl. dazu insbes. noch Johann Georg Hagemann: Nachricht von denen fürnehmsten Übersetzungen der Heiligen Schrift, Braunschweig, 2. verb. u. verm. Aufl. 1750, S. 168, und Christian Wilhelm Becker: Theologischer Büchersaal, Bd. 2, Jena – Leipzig 1751, 21. St., S. 765 f. 59 Deutsche Acta Eruditorum, 9. Teil, Leipzig 1713, S. 761. Tatsächlich ist das Werk, das in pietistischen Sortimenten noch Ende der 1730er Jahre angeboten wurde (Catalogus librorum […] der Berlenburgischen Buchhandlung […] bey Johann Jacob Haug. Continuatio III. 1737, S. A3v und XVIII, 1739, S. A3v), in Bibliotheken des Adels wie des Bürgertums, bei Pietisten wie gemäßigten Aufklärern nachweisbar. Vgl. z. B. Catalogus Bibliothecae Principalis [Ostfries. Herrscherfamilie Cirksena], Aurich 1746, S. 24, Nr. 52 (vgl. S. 11, Nr. 126: Die jüdisch=teutsche Ubersetzung Josephi Athiae, Amst. 5477.); Bibliothecae Langianae Pars Maior [Joachim Lange], Halle 1744, S. 6, Nr. 43–45; Catalogus Bibliothecae Io. Lavr. / Mosheim, Göttingen 1756, S. 342, Nr. 6538–40. 60 Neuer Bücher=Saal der Gelehrten Welt. Die XXIII. Oeffnung, Leipzig 1713, S. 791 f.
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und auch kaum für das als eine ihrer Lesarten dargebrachte Geschenk einer jüdischen Bibel für die Deutschen, dekretierte: Diese nicht ohne Grund des Fanaticismi verdächtig gemachte Bibel, verdient dennoch immer eine Stelle in einer Bibelsammlung, da man in derselben so manches beysammen findet, was man sonst mühsam suchen müste.61
61 Johann Melchior Goezens […] Verzeichnis seiner Sammlung (wie Anm. 6), S. 7.
„red=arten u[nd] worte behalten / die der Heil[ige] Geist gebrauchet“ Pietistische Bemühungen um die Bibelverdeutschung nach und neben Luther* [2014, L 53]
I. Über die Leistungen der pietistischen Frömmigkeitsreformer zur Verbreitung und Exegese der Heiligen Schrift, zugleich auch zu einer philologischen Überprüfung der Urtextüberlieferungen, zur Neuübersetzung und historischtheologischen Neukommentierung liegt schon eine ganze Reihe von Untersuchungen vor, deren Titel oft einen gewissen Gesamtzugriff versprechen.1 Bei näherem Eindringen in die Vielfalt des Überlieferten muss man den Optimismus aber rasch dämpfen und sich bescheiden: Mit der fundierteren Übersicht über die Bibelübersetzungen des Pietismus von Beate Köster in der Doppel-Festschrift für Martin Brecht und Gerhard Schäfer, Pietismus und Neuzeit 24 (1998)2 – jüngst auch von ihr zusammengefasst im Handbuch Übersetzung3 – ist zwar erstmals eine nach Abfolge, Traditionslinien und haltbarem Erkenntnisgewinn grundlegend systematisierte Ordnung in die * Beitrag zur Tagung der Historischen Kommission zur Erforschung des Pietismus und der Franckeschen Stiftungen zu Halle, „Die Bibel im Pietismus“ unter Leitung von Britta Klosterberg, Hans Otte und Christian Soboth am 4. Oktober 2012 im Historischen Waisenhaus der Franckeschen Stiftungen. 1 Zu nennen sind hier insbesondere Kurt Aland: Der Hallesche Pietismus und die Bibel. In: Die bleibende Bedeutung des Pietismus. Zur 250-Jahrfeier der von Cansteinschen Bibelanstalt. Hg. von Oskar Söhngen, Witten – Berlin 1960, S. 24–59 und Martin Schmidt: Der ökumenische Sinn des deutschen Pietismus und seine Auswirkungen in der Bibelverbreitung, ebd., S. 60–75; Kurt Aland: Bibel und Bibeltext bei August Hermann Francke und Johann Albrecht Bengel. In: Pietismus und Bibel. Hg. von Kurt Aland, Witten 1970 (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus, Bd. 9), S. 89–147; Beate Köster: Die Lutherbibel im frühen Pietismus, Bielefeld 1984 (Texte und Arbeiten zur Bibel, Bd. 1); Martin Brecht: Die Bedeutung der Bibel im deutschen Pietismus. In: Glaubenswelt und Lebenswelten. Hg. von Hartmut Lehmann, Göttingen 2004 (Geschichte des Pietismus, Bd. 4), S. 102–120. In Hauptpositionen resümiert bei Schrader: Die Literatur des Pietismus – Impulse (2004, L 34), im vorliegenden Band S. 91–114, bes. S. 104 f. 2 Beate Köster : „Mit tiefem Respekt, mit Furcht und Zittern“. Bibelübersetzungen im Pietismus. In: Beiträge zur Geschichte des württembergischen Pietismus. Festschrift für Gerhard Schäfer und Martin Brecht = Pietismus und Neuzeit 24 (1998), S. 95–115. 3 Beate Köster: Pietismus und Bibelübersetzung. In: Übersetzung – Translation – Traduction. Ein internationales Handbuch zur Übersetzungsforschung. Hg. von Arnold Kittel [u. a.]. Bd. 3, Berlin – Boston 2011, Sp. 2396–2400.
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„red=arten u[nd] worte behalten / die der Heil[ige] Geist gebrauchet“
unübersehbare Vielfalt entsprechender Anstrengungen in der zentralen Epoche des Pietismus gebracht (hinter die spätere Handbuchartikel wieder zurückfallen), weit aber sind wir abgesehen von Einzelsondierungen4 doch noch entfernt von einer über Paraphrasen der jeweiligen Vorreden5 hinaus die Texterwägungen und Textkonstitutionen in gehöriger Breite vergleichenden Detailerforschung des gesamten Feldes. Die ist freilich auch hier in Aufsatzform nicht zu leisten, bedürfte vielmehr weit umfassenderer Recherche und monographischer Ausarbeitung.6 Ich möchte an einigen Fallbeispielen zunächst die noch kaum überschaubare Vor- und Frühgeschichte der pietistischen Bibel-Arbeit in ihren dominierenden Motiven und Impulsen beleuchten und dann für die spätere Phase im Ausblick unter Hinweis auf die vorliegenden Forschungsansätze umreißen, wo bisher eher stiefmütterlich Behandeltes noch spezifischen Erkundungsbedarf aufgibt. Die bunte Vielfalt von schon in der Frühphase des stürmischen Expandierens der pietistischen Bewegung neu vorgelegten Bibel-Angeboten sowie ihrer Begleitung durch höhnischen Kollegenhader hat Erdmann Neumeister unter dem Pseudonym „Orthodoxophilus“ schon 1712, in vermehrter Auflage dann nochmals 1714, in einem launigen Versgedicht in Alexandriner-Merkversen bespottet: als erster Neuerer und Mäkler an Luthers Erbe wird von ihm genüsslich „Der Pietisten Gott, der Hällische Franckius“, danach aber ein ganzer Schwarm weiterer Übeltäter vorgeführt: Ich bringe meines Orths nur noch die Frage bey : Ob Luthers Version der Schrifft zu admiriren / Vor völlig accurat und nett zu nennen sey / Und ob sie nicht vielmehr mit Recht zu castigiren? Der letztren Meynung ist Herr Francke zugethan / 4 Vorgreifend hinweisen möchte ich auf ältere Vorarbeiten wie Ilse Franke: Die Übersetzung des Neuen Testaments von Philipp Matthias [!] Hahn (1777). Im Vergleich mit den von ihm benutzten Übersetzungen von Luther, Bengel, Heumann und Reitz, Diss. phil. Greifswald 1936 und Josef Urlinger: Die geistes- und sprachgeschichtliche Bedeutung der Berleburger Bibel. Ein Beitrag zur Wirkungsgeschichte des Quietismus in Deutschland, Diss. phil. Saarbrücken 1969. Über die pietistischen Bibeldrucke in Lippe, ihre Verbindung mit Halle und ihre Nutzung am Anfang der Bibelverbreitung im Halleschen Waisenhaus informiert Julia Hiller von Gaertringen: „Gebunden aber in schwartz leder“. Zum Lippeschen Bibeldruck des 18. Jahrhunderts. In: Lippische Mitteilungen 74 (2005), S. 67–128, sowie als Einzeldruck im Selbstverlag des Naturwissenschaftlichen und Historischen Vereins für das Land Lippe, Detmold 2005. 5 Hierzu spezifisch und verdienstvoll Jürgen Quack: Evangelische Bibelvorreden von der Reformation bis zur Aufklärung, Heidelberg 1975 (Quellen und Forschungen zur Reformationsgeschichte, Bd. 43), hier S. 231–322 mit Kapiteln über Arndt, Spener, die „Spener-Schüler“ (Johann Fischer, Johann Winckler und August Hermann Francke), über Zinzendorf und den radikalen Pietismus (Reitz, Horch, v. a. die ,Berleburger Bibel‘). 6 Sandra Sternke-Menne bereitet nicht nur eine umfassendere Arbeit über die Bibelübersetzungen des Pietismus vor (Bengel, Hahn, Reitz, Zinzendorf, Heumann, Junckherrott, Berleburg), sondern auch eine kommentierte Edition der pietistischen Bibelvorreden in der Reihe „Edition Pietismustexte“.
Pietistische Bemühungen um die Bibelverdeutschung
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Der Sideralto noch die Antwort schuldig blieben. Ein gleiches trifft man auch bei Reitz und Trillern an / Die eine Version nach ihrem Sinn geschrieben. Wie D. Hedingern Lutheri Fleiß gefällt / Ist gründlich wiederlegt bey Schrödern nachzuschlagen. Mit welchen Vieren es Joachim Lange hält / Und die aus Uberdruß / was alt ist / nicht vertragen. Doch Reitz und Trillern hat sich Zeltner opponirt.7
So eingängig in der plakativen Verketzerung von August Hermann Franckes Observationes biblicae von 1695, denen sein Danziger Orientalistenkollege Johann Georg Hocheisen unter dem Pseudonym „Sideraltus“ widersprochen hatte, gegen die beiden von Gustav Georg Zeltner in der Dissertatio theologica de novis Bibliorum Versionibus, Altdorf [2. Aufl. 1711] abgefertigten8 Neuübersetzungen des Neuen Testaments aus dem Jahr 1703 durch den sich auf Franckes Kritik am Luther-Text berufenden, jedoch sozinianischer (die Gottheit Christi in Frage stellender) Irrlehren beschuldigten Caspar Ernst Triller9 sowie durch den einfachheitshalber gleich ähnlicher Lehrabweichung mit verdächtigten Johann Henrich Reitz,10 sodann gegen Johann Reinhard 7 Orthodoxophilus [Erdmann Neumeister]: Idea pietismi Oder Kurtzer Entwurff Von der Pietisten Ursprung Lehr und Glauben Durch ein Send=Schreiben in gebundener Rede. Andere und vermehrte Aufflage, Franckfurt – Leipzig 1714, S. 36 f., vgl. S. 3. Die Erstauflage erschien zufolge der verbergend „Lichtenberg / d. 12. Mart. Anno 1712. Orthodoxophilus“ gezeichneten Vorrede zwei Jahre zuvor, wobei „Lichtenberg“ offenbar auf Neumeisters Herkunft (Weißenfels) verweist. Auf die Pseudonym-Auflösung Neumeisters verweist Max Wieser : Der sentimentale Mensch gesehen aus der Welt holländischer und deutscher Mystiker im 18. Jahrhundert, Gotha – Stuttgart 1924, S. 264. 8 Den offenbar noch nicht als bekannt vorausgesetzten kontroverstheologischen Widerspruch Zeltners weist Neumeister als Fußnote aus: „In Tract. De novis Versionibus Bibliorum Reizii & Trilleri. Altorf.“ Genauer Titelnachweis in der alle Auseinandersetzungen mit Reitz’ NT-Übertragung zu erfassen suchenden Bibliographie bei Hans-Jürgen Schrader: Literaturproduktion (1989, L 1), S. 558, vgl. S. 570–578. 9 Eine Mit dem Grund=Text genauer übereintreffende Übersetzunge des neuen Testaments Angefertiget Von Caspar Ernst Trillern, Amsterdam 1703. Dieser (tatsächlich wohl in Deutschland gedruckten) sklavisch wörtlichen, bis zur Unverständlichkeit alle Spracheigentümlichkeiten des griechischen Urtexts nachzubilden suchenden Übertragung hatte Triller eine „Untersuchung etlicher Oerter des Neuen Testaments, die wegen bißher übler Übersetzung die Wahrheit aufgehalten haben“, Danzig 1699, vorausgeschickt, die zusammen mit Franckes „Observationes“ vertrieben worden war. Einzelheiten mit Übersicht über die kontroverstheologische Polemik und Proben aus der hölzernen Übertragung gibt Köster : „Mit tiefem Respekt“ (wie Anm. 2), S. 96 f. 10 Das Neue Testament Unseres Herren JEsu Christi / Auffs neue ausm Grund verteutschet / und mit Anziehung der verschiedenen Lesungen / und vieler übereinstimmenden Schrifft=Oerter / versehen, Offenbach 1703. Der Übersetzer ist nur unter der Vorrede, S. 4r genannt: „Offenbach den 30. Nov. 1702. Johann Henrich Reitz.“; 2. Aufl. Frankfurt – Leipzig [recte: Erlangen-Neustadt] 1706, weitere gemeldete Auflagen Frankfurt – Leipzig [recte: Thurnau] 1713, Büdingen 1717, 1730, 1735, 1737 und 1738. Vgl. Schrader: Literaturproduktion (1989, L 1), S. 570, u. a. erörtert bei Köster : „Mit tiefem Respekt“ (wie Anm. 2), S. 99–101.
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Hedingers Nachbesserungen an der Luther-Bibel von 1704 und deren Abkanzelung in Jacob Schröders Disputatio de Novi Testamenti Hedingeriani erroribus pietisticis, Greifswald 1710,11 sowie schließlich gegen weitere Besserungsvorschläge am Luther-Text durch Franckes Halleschen Mitstreiter Joachim Lange12 geht es im kontroverstheologischen Lehrgedicht munter weiter. Und ebenso munter wie dieser „Orthodoxophilus“ warfen auch die übrigen Freunde der geradsinnig-rechtgläubigen Lehre alle Diskussionsanregungen um neue Einsichten in den Wortlaut der Urtexte und um eine präzisere Sinnerfassung von Einzelstellen, als sie beinahe zwei Jahrhunderte zuvor Luther möglich gewesen war, mit jedem Versuch einer Revision an Luthers Übersetzung und gar jedem Angebot einer Neuübersetzung unterscheidungslos in denselben Topf einer allgemeinen Verdammnis. Der überkommene Text von des Reformators letzter Hand allein sollte als zugleich philologisch akkurat und „nett“ (in der historisch-französischen Wortbedeutung von „rein und fehlerfrei“, doch auch mit der deutschen Konnotation von „wohlklingend“) bewundert werden. Jede Abweichung von dieser geraden Linie und jedes konkurrierende Textangebot galt als eine castigatio, ein zu11 Das Neue Testament Unsers Herrn und Heylandes Jesu Christi / Nach der Ubersetzung deß seeligen Herrn D. Mart. Luthers: Mit ausführlichen Summarien […]. Nach den besten Exemplarien Von vielen eingeschlichenen Fehlern sorgfältig corrigirt und gebessert, Stuttgart 1704 und (ebenso ohne Nennung Hedingers auf dem Titelblatt) Biblia, Das ist: Die gantze Heil. Schrifft Alten und Neuen Testaments / Nach der Teutschen Ubersetzung D. M. Luthers. Mit pünctlichen Summarien / sehr vielen Parallelen, weitläuffigen Vorreden […] Nach dem Grund=Text / und den bewährtisten sowohl alt=als neuen Exemplarien aufs fleissigste revidirt / und von einer grossen Menge eingerissener Fehler befreyet, Stuttgart 1704. Grundlegende Untersuchung bei Köster: Die Lutherbibel (wie Anm. 1), S. 171–187, 264–271. Zu Hedingers gründlicher Revision des Luther-Texts und den Angriffen gegen solches Unterfangen durch den als Disputanden bestellten Schüler des orthodoxen Greifswalder Francke-Gegners Johann Friedrich Mayer, Jacob Schröder: Disputatio theologica inauguralis, De Novi Testamenti Hedingeriani Erroribus pietisticis, Greifswald 1710 vgl. Wolfgang Schöllkopf: Johann Heinrich Hedinger (1664–1704). Württembergischer Pietist und kirchlicher Praktiker zwischen Spener und den Separatisten, Göttingen 1999 (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus, Bd. 37), S. 135–163, insbes. 158–162 sowie knapp bei Köster: „Mit tiefem Respekt“ (wie Anm. 2), S. 97 und (im selben Band) ausführlicher untersuchend Wolfgang Sommer: Johann Heinrich Hedinger als Hofprediger in Stuttgart. In: Beiträge zur Geschichte des württembergischen Pietismus. Festschrift für Gerhard Schäfer und Martin Brecht = Pietismus und Neuzeit 24 (1998), S. 160–185, hier S. 178–183. 12 Ins Visier gefasst ist hier offenbar nicht eine spezifische Abhandlung Langes zu bibel-übersetzungstheoretischen Fragen oder eine eigene Textbearbeitung, sondern die Vielzahl der Stellungnahmen in den kontroverstheologischen Publikationen dieses schon seit Studententagen an Franckes Collegium philobiblicum entschieden engagierten Halleschen Professors gegen die Orthodoxie und zur Verteidigung der Pietisten, namentlich Franckes. Langes eigene umfassend-exegetischen Bibelwerke, „Biblisches Licht und Recht“, Leipzig 1729–1738, und „Biblia parenthetica“ („Hausbibel“, 2 Bde.), Leipzig 1743, kamen ja erst in seinen späten Jahren heraus. Vgl. den Artikel von [Julius] Wagenmann: Joachim Lange. In: Real-Encyklopädie für protestantische Theologie und Kirche. Hg. von J[ohann] J[akob] Herzog, G[ustav] L[eopold] Plitt und A[lbert] Hauck. Bd. 8, Leipzig 1881, S. 406–409.
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rechtweisender Tadel am den Deutschen gegebenen Gotteswort, also als ein Sakrileg. Die Theologen und Philologen, die dergleichen wagten, konnten nach solchem Urteil abseits des von der Kirche zu wahrenden geraden Weges nur eine interessegeleitete Version „in ihrem Sinn“ propagieren, da manifestierte sich nicht der göttliche, sondern der Herren eigner Geist (Faust, Vs. 578), statt rechtgläubiger Lehre also Heterodoxie.
II. Die Pietisten, die gegen solche Starrheit mit größerer oder geringerer Konsequenz aufbegehrten, hatten von der Reformation und vom Reformator, schon gar von der unantastbaren Heiligkeit des göttlichen Worts allerdings keine geringere Meinung als die Sachwalter der unverrückbar reinen Lehre. Dass die Bibel von Wort zu Wort göttlich inspiriert und daher von unauslotbarer Bedeutungsfülle und Verheißungskraft sei, stand ihnen geradeso wie jenen unbezweifelbar fest. Nur gerade deshalb meinten sie, man müsse angesichts der seit Luthers Tagen erfolgten Neufunde und Korrekturen an der urtextlichen Überlieferung – ebenso wie er selbst zu seiner Zeit – aus den bestverfügbaren Quellen schöpfen und auch nach fortgeschrittenem Stand der philologischen Einsicht übertragen. Und wie ihre Vordenker seit dem Ende des Reformationsjahrhunderts, namentlich Johann Arndt, waren sie überzeugt, man müsse die zur Gänze begrüßenswerte, seit Luthers Tod aber unvollendet stecken gebliebene Reformation weiter vorantreiben. In Bezug auf die Bibel bedeutete das, das noch immer nicht gemäß dem Anspruch der Reformatoren in aller Menschen Häuser und Herzen gedrungene Gotteswort weiter auszubreiten und zugleich seine Bedeutung in ihrer Anforderung an jeden Einzelnen immer präziser und zugleich facettenreicher zu entfalten. Die pietistischen Bemühungen um die Bibel lassen sich infolgedessen resümieren einerseits in Aktivitäten zu weitestmöglicher Verbreitung, natürlich in der reinsten verfügbaren Form, und parallel dazu in der Förderung der gelehrten Arbeit um philologisch beste hebräische bzw. griechische UrtextGrundlagen und um deren profundesten Bedeutungsaufschluss in der eigenen Sprache, also um die Bibelrevision und vertieften Sinnaufschluss in Glossen und Exegese oder in Neuübersetzungen, die auch dem nicht ursprachenkundigen Laien im Vergleich der verschiedenen Versionen die ganze Bedeutungsbreite der heiligen Offenbarung und das ihm daraus zu seiner Erbauung Dienlichste zu erschließen halfen. Denn alle pietistischen Neuübersetzungen sollten erklärtermaßen additiv sowohl zur Luther-Bibel (die zumeist als alleinige Grundlage des lutherischen Gottesdiensts gar nicht in Frage gestellt wurde) als auch zu allen anderen in den verschiedenen Konfessionen verbreiteten genutzt werden, keiner ihrer Urheber erhob den Anspruch, eine
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wahrere Botschaft zu präsentieren, die für sich allein für alle öffentliche wie private Nutzung ausreiche. Beate Köster hat herausgestellt, dass in den älteren Studien über das pietistische Engagement um die Bibel nicht nur Revisionen und Neuübertragungen vielfach verwechselt wurden, sondern auch die philologischen, historischen und spekulativen Vorarbeiten und deren Nutzung ähnlich durcheinander gerieten wie in Erdmann Neumeisters Neuerungen-Schelte. Schließlich dominierten auch im Blick auf die pietistische Bibelarbeit, kulminierend in der Erforschung der gedanklich von Spener angestoßenen und tatkräftig-praktisch von Francke und seinen Mitarbeitern ins Werk gesetzten Revisions- und Verbreitungsleistung der Halleschen Bibelanstalt, die traditionell personalisierten Interessendominanzen, die von Spener und Francke ausgehend zu Zinzendorf, Bengel und Oetinger führten und alles außerhalb dieses erklärten Mainstream Stehende für weniger wichtig nahmen. So blieb Erforschung außerhalb dieser Linie eher unterbelichtet, ihre Charakteristik weithin beschränkt auf die Programmaussagen der Vorreden und die von der kontroverstheologischen Kritik bereitgestellten Stempelformeln. In der Tat ist für die geschichtlich beispiellose Verbreitung der Bibel im 18. Jahrhundert die Unternehmung Franckes, seines freiherrlichen Leiters der Bibel-Anstalt im Waisenhaus, Carl Hildebrand von Canstein, sowie seines Oberaufsehers für das Verlagsgeschäft, Heinrich Julius Elers, der schon allein mengenmäßig wichtigste Faktor dafür, dass es „das biblische Jahrhundert“ genannt werden kann.13 Betrug die wittenbergische Bibeldruck-Produktion des Fast-Jahrhunderts von 1534–1626 die für die frühe Neuzeit unerhörte Menge von 200.000 Stück, dann erreichte das Cansteinsche Unternehmen als jetzt führende Offizin (während freilich wie auch in der Reformationszeit noch an vielen anderen Orten Luther-Bibeln weiterhin gedruckt und vertrieben wurden) in den hundert Jahren seit dem Beginn der Waisenhausdruckerei gut das Zehnfache mit fast zwei Millionen Halleschen Vollbibeln zuzüglich einer Million Separatausgaben des Neuen Testaments, allerlei Teileditionen noch nicht mitgezählt. Allein in den sieben Jahren bis zu Cansteins frühem Tod 1719 hatten in 16 Auflagen (je zur Hälfte in Großoktav und in Duodez) 80.000 Bibeln und zusätzlich in gar 28 Auflagen 100.000 Neue Testamente verkauft werden können.14 Auch in Rücksicht auf die im 18. Jahrhundert weit fortge13 Heimo Reinitzer: Biblia deutsch. Luthers Bibelübersetzung und ihre Tradition, Wolfenbüttel 1983 (Ausstellungskataloge der Herzog August Bibliothek, Bd. 40), S. 300–315. 14 Ich folge hier den Angaben bei Aland: Der Hallesche Pietismus und die Bibel (wie Anm. 1), S. 31–36, ergänzend (mit geringen Abweichungen der Berechnung) für die Auflagenzahlen Oskar Söhngen: Festrede zur 250-Jahrfeier der von Cansteinschen Bibelanstalt in Bielefeld am 22. Mai 1960 im selben Sammelband: Die bleibende Bedeutung des Pietismus (wie Anm. 1), S. 11–23, hier S. 15. Söhngen (ebd., S. 21) nennt die Zahl von bis zum 200. Jubiläum des Unternehmens 1910 insgesamt verkauften 7,5 Millionen Bibeln bzw. Neuen Testamenten. Genauere Aufschlüsselung bei Manfred Lemmer: Zur Bedeutung von Luthers Bibelwortschatz im 17./ 18. Jahrhundert. In: Luthers Deutsch. Sprachliche Leistung und Wirkung. Hg. von Herbert Wolf,
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schrittene Lesefähigkeit und den allgemeinen Rückgang der Buchpreise15 sind das völlig beispiellose Zahlen. Bekanntlich war ein so enormer Erfolg zur Bibelverbreitung bei einer für jeden Bedürftigen (notfalls durch Schenkung) erschwinglichen missionarischen Preisgestaltung von 2 Groschen für ein NT und (je nach Ausgabe) 6 bis 10 Groschen für eine Vollbibel auch bei allem persönlichen Finanzeinsatz Cansteins und dem programmatischen Verzicht auf allen Profit nur möglich durch den technischen Progress, auf den Francke von vornherein gesetzt hatte. In seinem Großen Aufsatz hatte er schon 1704 für „das arme Volck […] eine Invention“ in Blick genommen, die geeignet war, „alles gleichsam mit Bibeln umb ganz wolfeilen Preyß anzufüllen“, für die ihm aber noch „etliche tausend Thaler“ fehlten. Worum es sich bei dieser Invention handelte, hatte Canstein 1710 in seinem Gründungsmanifest für die Bibelanstalt, Ohnmaßgeblicher Vorschlag / Wie GOTTES Wort denen Armen […] um einen geringer Preiß in die Hände zu bringen, im Druck offenbar gemacht.16 Nach niederländischem Vorbild für den Druck englischer Bibeln nämlich sollte statt des üblichen Verfahrens eines für jede Neuauflage bogenweisen Neusatzes, nach dem die Typen zu anderweitiger Wiederbenutzung in den Setzkasten zurückzuordnen waren, das sogenannte Stehsatzverfahren eingeführt werden, dank dessen nicht nöthig seyn möchte / die Setzung der Bibel öffters zu wiederholen / sondern allemahl / so viel als von Exemplarien verlanget würde / um einen solchen Preiß / als sonst niemahls geschehen können / vorhanden wäre. […] Es sollen so viel Littern angeschaffet werden / als zu Absetzung aller […] Bogen gehören / daß sie […] in ihren Formen […] stehen bleiben / […] damit / wenn man wieder eine neue Aufflage machen will / man […] die bereits vormals gesetzten […] gleich in die Presse tragen / und so viel hundert oder tausend Exemplaria / als man verlanget / abdrucken könne; Auf solche Weise könten in kurtzer Zeit / und ehe die Schrifften abgenutzet würden / bey die viermal hundert tausend Exemplaria abgedrucket werden / welches sonst Frankfurt [u. a.] 1996 (Dokumentation germanistischer Forschung, Bd. 2), S. 270–290, hier S. 278–286. – Der Aufsatz ist zuerst erschienen in: Beiträge zur Sprachwirkung Martin Luthers im 17./18. Jahrhundert. Hg. von Herbert Wolf, Teil 2, Halle a.S. 1988, S. 36–58. 15 Zu der mit missionarischer Zielsetzung im Pietismus erreichten maßgeblichen Reduktion der Buchpreise (und tendentiell auch der Buchformate hin zu ,Taschenbüchern‘) sowie zu den Organisationen und Privatinitiativen für sogar kostenlose Verteilungen erbaulicher Schriften an Bedürftige vgl. die Angaben bei Schrader: Literaturproduktion (1989, L 1), S. 259–267, 489–491 (dort auch Hinweise auf die volksmissionarische Preisgestaltung des Cansteinschen Bibelvertriebs). Genaue Informationen über Auflagen, Preise und Formate in der vorangehenden Phase (untersucht für die Jahre 1666–1675) beim für Bibeln, Gesangbücher und (v. a. arndtianische) Erbauungsliteratur führenden Verlag der Brüder Stern in Lüneburg gibt Wolfgang Schellmann: Das Kontobuch der Lüneburger Offizin der Sterne. Eine Quelle neuer Erkenntnisse über Ökonomie und Usancen im Buchgewerbe des 17. Jahrhunderts. In: Archiv für Geschichte des Buchwesens 68 (2013), S. 47–103, hier besonders S. 55–58, 75, 86–88, 96, 102 f. 16 [Carl Hildebrand von Canstein]: Ohnmaßgeblicher Vorschlag. Dieser Druck („Berlin / Aufm Fridrichs=Werder druckts Gotthart Schlechtinger 1710.“) ist als Faksimile nachgedruckt im Anhang zu Söhngen: Die bleibende Bedeutung (wie Anm. 14), S. 109–116, woraus ich zitiere.
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nach der gemeinen Anstalt in andern Druckereyen kaum in 30. Jahren ausgerichtet werden könte.17
Diese wichtigste Innovation vor der Erfindung der Schnellpresse 1811 und der Setzmaschine 1884 konnte jedoch, wie Canstein vier Jahre darauf durch seine Umständliche Nachricht Von dem Neuen Testament und Bibeln / Welche […] Zu Glaucha vor Halle […] bisher ediret worden […] Von Anfang des Wercks bis zu Ende des Monats Octobris 1714 bekannt machte, bis zur Sicherung der Finanzierung, dem Schneiden und Guss von Probetypen für je zwei künftige Standardformate, der Lieferung der dafür erforderten Typenmenge und parallel bis zum Feststehen der bestgesicherten und bereinigten Luther-Version für das Neue Testament erst (nach drei verlustreich noch konventionell gesetzten Ausgaben 1712 und 1713) ab Oktober 1713 eingesetzt werden, für die gesamte Bibel (nach gar fünf Auflagen im bogenweisen Neusatz) ab 1717.18 Die hinter diesem Unternehmen stehende Idee Franckes ist auch zu Recht auf Spener zurückgeführt worden, der schon 1675 in den Pia Desideria für die häusliche Bibellese und seine neu vorgeschlagenen den Gottesdienst ergänzenden Bibelkreise eine Intensivierung des reformatorischen Hauptanliegens verlangt hatte, die „leute zu dem Wort GOttes […] wiederumb zu bringen“.19 Und von dort wurde ebenso überzeugend auch der unmittelbare Impuls abgeleitet, nicht nur den Luther-Text in einer aufgrund der besten Überlieferung bereinigten Fassung zu präsentieren, zugleich vielmehr die Kenntnis und Auslegung der Bibel auf philologisch und theologisch optimale Auslegung der reinsten verfügbaren Quellen zu gründen. Spener hatte ja selbst schon 1653 in Straßburg für intensivste Auseinandersetzung mit dem hebräischen Urtext die Unterstützung jüdischer Schriftgelehrter gesucht und die urtext-gestützte Exegese in seinem Leipziger Collegium philobiblicum 1689/90 auszubreiten gesucht, sein eifrigster Schüler darin, Francke, hatte dort auch eigene, ungeheuren Zulauf findende Collegia biblica gegründet und hatte, durch Speners Vermittlung zur Halleschen Professur für orientalische Sprachen gelangt, mit ungewöhnlichen altsprachlichen Anforderungen an die Theologiestudenten die Bibel ins Zentrum seiner Lehre gestellt: die Studenten sollten bereits im 17 Canstein: Ohnmaßgeblicher Vorschlag (wie Anm. 16), S. 3. 18 Detaillierte Angaben bei Aland: Der Hallesche Pietismus und die Bibel (wie Anm. 1), S. 31–37 und ergänzend Beate Köster : Die erste Bibelausgabe des Halleschen Pietismus. Eine Untersuchung zur Vor- und Frühgeschichte der Cansteinschen Bibelanstalt. In: Pietismus und Neuzeit 5 (1979), S. 105–163, hier: S. 106–108, 114–116, 120. Wichtige Zusatzinformation brachte der Eingangsvortrag zur Hallenser Tagung „Die Bibel im Pietismus“ am 5. Oktober 2012 von Udo Sträter : Canstein und der stehende Satz, der, wie mir der Verfasser freundlich mitteilt, jetzt nach den acht Jahren seiner Funktion als Rektor der Universität Halle, umgehend zum Druck gebracht werden soll. 19 Philipp Jacob Spener : Pia Desideria. Hg. von Kurt Aland, Berlin, 3. durchges. Aufl. 1964 (Kleine Texte für Vorlesungen und Übungen, Bd. 170), S. 58, vgl. S. 53 f.; zusammengefasst und erörtert auch bei Aland: Der Hallesche Pietismus und die Bibel (wie Anm. 1), S. 25. Dazu und zur Aufnahme in die Vorrede zu Speners eigener Bibelausgabe von 1694 (zweite Auflage 1699) vgl. auch Brecht: Die Bedeutung der Bibel (wie Anm. 1), S. 103 f.
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ersten Studienjahr das gesamte Alte Testament auf Hebräisch durchstudiert haben, das Neue auf Griechisch gar zweimal.20 In seinen Lectiones paraeneticae begründet Francke diese heute fast unvorstellbar rigiden Voraussetzungen: Denn weil die Bibel im Studio Theologico das principium cognoscendi ist, müssen Studiosi Theologiae Griechisch und Hebräisch lernen. Das ist einmal unter den Studiis propaedeuticis das allernothwendigste. […] Das aber muss ein Studiosus Theologiae zu seiner Haupt=Regel nehmen, daß er den Textum Graecum et Hebraicum […] sich recht familiair mache; damit er ein textualis Theologus werde […].21
In seiner im Januar 1695 gegründeten, wegen der heftigen orthodoxen Angriffe gegen das Sakrileg einer Infragestellung der absoluten Zuverlässigkeit der Luther-Bibel aber nach vier Heften wieder eingestellten Monatsschrift Observationes biblicae, in der er insgesamt 33 Verbesserungsmöglichkeiten aufgrund des griechischen Texts zur Diskussion gestellt hatte, hatte Francke auch einen ersten (deshalb von Neumeister so heftig gescholtenen) Ansatz gewagt, den Luther-Wortlaut nach Maßgabe der fortgeschrittenen Bibelphilologie durchzuprüfen. Diese Vorschläge über Lesartennachweise hinaus auch in die Halleschen Bibeldrucke zu integrieren, hatte er sich mit drei Ausnahmen aber noch nicht getraut.22 Auch Canstein war ein vertrauter Schüler Speners gewesen, der ihn zu seinem literarischen Nachlassverwalter eingesetzt hatte, als der er postum Speners Letzte Theologische Bedencken, Halle 1721, herausgebracht hat.23
20 Zusammengefasst bei Aland: Der Hallesche Pietismus und die Bibel (wie Anm. 1), S. 26–30. 21 August Hermann Francke: Lectiones paraeneticae, Oder Oeffentliche Ansprachen an die Studiosos Theologiae auf der Universität zu Halle, Halle 1731, S. 156 f., hier zitiert nach Aland: Der Hallesche Pietismus und die Bibel (wie Anm. 1), S. 41. 22 Dazu bislang genaueste Angaben bei Köster : Die erste Bibelausgabe des Halleschen Pietismus (wie Anm. 18), S. 117, 119, 135 f., dies.: „Mit tiefem Respekt“ (wie Anm. 2), S. 96. – Auf die Verketzerung der Franckeschen „Observationes“ zur Bereinigung der Luther-Übersetzung kommt noch die Vorrede zum 6. Teil der ,Berleburger Bibel‘, „Der Heiligen Schrifft Sechster Theil, oder des Neuen Testaments Zweyter Theil“, Berleburg 1737, S. )(3v, zu sprechen, wenn sie erinnert, „was vor ein Zustand unter den Lutheranern wurde, als der selige Professor Francke in Halle nur eine und andere billig zu=verbessernde Stellen aus Lutheri Uebersetzung vor die Hand nahm. Wer hätte damals dencken sollen, daß nach etlichen 20 Jahren eine gantz neue Bibel-Uebersetzung […] ans Licht treten […] därffte?“ 23 Details bei Aland: Der Hallesche Pietismus und die Bibel (wie Anm. 1), S. 38 f., und S. 55 f. (dort Anm. 54).
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III. Für die Zielsetzungen sowohl zur Verbreitung der Bibel als ,Volksbuch‘ für jedes Haus24 als auch zur Bereinigung der im häufigen Nachdruck mehr und mehr verderbten Grundlage des Luther-Texts, zu seiner Kontrolle und wo nötig Revision aufgrund der Urtexte aber muss man weiter zurückreichende bzw. zusätzliche Vorgaben aus der Vor- und Frühgeschichte des Pietismus in näheren Betracht und Vergleich ziehen. Francke und Canstein setzten hier nur effizienter fort, was sie in der Arndt-Schule bereits vorbereitet fanden. Martin Brecht hat darauf hingewiesen, dass viele pietistische Bibeln „seit Johann Fischers Rigaer Bibelausgabe“ als Vorrede Johann Arndts Informatorium Biblicum, 1623 postum von seinem Schüler Melchior Breler25 herausgegeben, verwendet haben, obwohl doch Arndt in seinen Büchern vom wahren Christentum „kein dezidiertes Interesse an der Bibel habe erkennen“ lassen. Hier bleiben Zusammenhänge noch zu erforschen, für die ich nur einige Indizien zusammenstellen kann. Zunächst: Aus Jürgen Quacks erweiterter Doktorarbeit über Evangelische Bibelvorreden von 1975 wissen wir, dass Arndts Informatorium Biblicum bereits im Jahr seines Ersterscheinens auch als Vorrede in einer Bibel des Lüneburger Verlags der Brüder Johann und Heinrich Stern von 1623 verwendet worden war, nachdem schon eine 1621 ebenfalls im Stern-Verlag vertriebene, in Goslar gedruckte Bibel eine kurze allegorisch-typologische Schriftauslegung Arndts zur Einführung bekommen hatte.26 Das Informatorium wurde 24 Kennzeichnung bei Reinitzer : Biblia Deutsch (wie Anm. 13), S. 278. 25 Wichtigste Informationen zu Breler als vertrautem Arndt-Mitabeiter und späterem Hofprediger des jungen Herzogs August zu Braunschweig-Lüneburg in Hitzacker sowie seinen Verbindungen zum Lüneburger Stern-Verlag gibt Johannes Wallmann: Herzog August d.J. zu Braunschweig und Lüneburg als Gestalt der Kirchengeschichte. Unter besonderer Berücksichtigung seines Verhältnisses zu Johann Arndt. In: Ders.: Theologie und Frömmigkeit im Zeitalter des Barock. Gesammelte Aufsätze [Bd. 1], Tübingen 1995, S. 20–45, hier S. 31–38, 42; zur Herausgabe des „Informatorium biblicum“ ebd., S. 36. 26 Quack: Evangelische Bibelvorreden (wie Anm. 5), S. 240 (in der Überschrift schreibt Quack offenbar irrtümlich „Göttingen“ für Goslar). Wie sich diese Ausgabe zur ersten Gemeinschaftsarbeit der Lüneburger Brüder Stern, der „Foliobibel von 1620“ verhält, die auch schon mit einer (derselben?) „Vorrede von dem greisen Generalsuperintendenten des Fürstentums Lüneburg, Johann Arnd in Celle“ begleitet gewesen sei (Hans Dumrese: Der Sternverlag im 17. und 18. Jahrhundert = Hans Dumrese und Friedrich Carl Schilling: Lüneburg und die Offizin der Sterne, Lüneburg 1956, Teil I [S. 1–132], hier S. 16), vermag ich nicht zu sagen. Eine weitere vierbändige Luther-Bibel aus demselben Verlag war Lüneburg 1624 erschienen, zu der Herzog August zu Braunschweig-Lüneburg im selben Format als Orientierungshilfe sein Büchlein „Biblischer Außzug / Oder Gründliche Summaria. Vber die beiden heyligen Testamenta“, Lüneburg: Hans und Heinrich Stern 1624, hinzugefügt hatte. Eine „Biblia […], Lüneburg bey den Sternen“ 1634 benutzte er als Handexemplar für seine Bibelstudien, von einer zweibändigen „Lüneburg, bey den Sternen“ 1641 besaß er eine auf Pergament gedruckte Widmungsausgabe. Nachweise: Wolf-Dieter Otte: Religiöse Schriften. In: Sammler Fürst Gelehrter. Herzog August
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dann in einer Straßburger Bibel von 1626 nachgedruckt und kam danach infolge der Stagnation des Dreißigjährigen Krieges erst wieder in die Bibeln, nachdem Spener auf Bitten des Frankfurter Verlegers Johann David Zunner die Arndtsche Evangelienpostille 1675 wieder herausgebracht hatte, die durch das Voranstellen von Speners Programmschrift Pia Desideria eine ArndtRenaissance inaugurieren konnte.27 Einem Leipziger Separatdruck des Informatorium 1676 folgte dann ein Jahr später, 1677, die Aufnahme in die von Brecht erwähnte Rigaer Bibel des Spener-Vertrauten Johann Fischer (zusammen mit dessen eigener Vorrede), 1690 in die für die Hallesche Textrevision richtungweisenden „Stader Bibel“ des wegen seiner Wertschätzung Arndts und konfessionsirenischen Haltung als „Pietist“ und „Kryptokalvinist“ gescholtenen Verden-Bremer Generalsuperintendenten Johann Dieckmann (Diecmann) von 1690 und abermals 1698, 1700, 1702 und 1703.28 Francke hat schon vor dem Aufbau seiner Anstalten in Halle, während seiner kurzen Pfarramtszeit in Erfurt 1690/91, in großem Stil preiswerte NT-Ausgaben angekauft, um sie für 2 Groschen mit reißendem Absatz unter die Leute zu bringen. Der Verlag, aus dem er in drei Sendungen gleich 900 Exemplare mengenverbilligt geordert hatte, war wiederum das wichtigste Bibelunternehmen des 17. Jahrhunderts, die Lüneburger Offizin der Brüder Stern, deren Profil außer auf Editionen der Heiligen Schrift ganz auf die von der Orthodoxie heftig beargwöhnten Werke Arndts und seiner Schüler ausgerichtet war.29 Eingekauft hat er damit offenbar eine Teilausgabe der ebenfalls durch Arndts Informatorium Biblicum eröffneten Lüneburger Bibel von 1689 des Spener-Freundes Johann Winckler. Und seine Tätigkeit in Glaucha vor Halle zu Braunschweig und Lüneburg 1579–1666 [Konzeption Paul Raabe / Maria von Katte, Redaktion Paul Raabe / Eckhard Schinkel], Wolfenbüttel 1979 (Ausstellungskataloge der Herzog August Bibliothek, Bd. 27), S. 192–205, hier S. 195 und 197 (Kat.-Nr. 394 und 395), vgl. S. 158 f. (Nr. 344). – Zur Bedeutung des Stern-Verlags für die Verbreitung der Ideen Johann Arndts und der Arndt-Schule, aber auch als wichtigste Produktionsstätte für Bibeln und Andachtsliteratur im nördlichen Deutschland vgl. Schrader: „Reisset nieder ewer Inwendiges Babel (2012, L 48), im vorliegenden Band S. 367 f., und Schellmann: Das Kontobuch der Lüneburger Offizin der Sterne (wie Anm. 15), bes. S. 55, 58, 84–88, 94–96, 102 f. 27 Kurt Aland: Spener-Studien, Berlin 1943 (Arbeiten zur Kirchengeschichte, Bd. 28), S. 1 f.; Quack: Evangelische Bibelvorreden (wie Anm. 5), S. 242. 28 Quack: Evangelische Bibelvorreden (wie Anm. 5), S. 231 f., 240–242, 266, dazu auch Köster : Die Lutherbibel (wie Anm. 1), S. 34 f. Wichtige Zusatzangaben zum theologischen Standort und zur Revisionsleistung des Johannes Dieckmann (Diecmann) bei Reinitzer : Biblia deutsch (wie Anm. 13), S. 276 f., Nr. 172. 29 Dumrese: Der Sternverlag (wie Anm. 26), S. 12, 16, 19, 23. Dazu auch Lemmer: Zur Bedeutung von Luthers Bibelwortschatz (wie Anm. 14), S. 284 f. Ergänzend Schellmann: Das Kontobuch der Lüneburger Offizin der Sterne (wie Anm. 15), S. 55, 58, 94, speziell zu den ehrgeizigsten, reich mit Kupferstichen ausgestatteten Bibeln des Stern-Verlags, der sogen. ,Osiander-Bibel‘ mit Texterläuterungen Lukas Osianders (1650, 2. Aufl. 1665) S. 58, 74 und der ,Scheits-Bibel‘ von 1672 (mit von 14 Stechern unter Aufsicht Hans Jürg Waldtreichs ausgeführten Kupfern nach Vorzeichnungen des Matthias Scheits) S. 75, 84, 88 f., 93, 103.
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eröffnete Francke gleich mit der Massenverschenkung einer neuen Lieferung Sternscher Neuer Testamente an die Armen seiner neuen Gemeinde.30 Der entschiedenste Förderer der „Sterne“ war ein seit Jugendtagen auch persönlich glühender Arndt-Verehrer, der fromme und gelehrte Fürst und Büchersammler Herzog August von Braunschweig-Lüneburg,31 der etliche angefochtene Propagatoren Arndts, darunter auch Breler, in seinen Schutz und Dienst gezogen hat. Hochselbst hat er sich für den Stern-Verlag an die Arbeit einer gründlichen Sprachrevision des Luther-Texts entsprechend der Sprachreinigungstheorien der zeitgenössischen Grammatiker und Sprachgesellschaften gemacht und dafür die Sternsche Handbibel von 1634 unter Nutzung anderer Übersetzungen, namentlich der reformierten des Johannes Piscator, handschriftlich opulent durchannotiert. Gegen die vorrangig kirchenpolitischen Bedenken einer Publikation dieser Arbeit hat er dazu noch eine Vorrede geschrieben, schließlich, als er den Druck nicht durchsetzen konnte, den Orientalisten seiner Universität Helmstedt, Johannes Saubert d.J., mit einer totalen Neuübersetzung aufgrund der Urtexte beauftragt, von der aber, da sie nach dem Tod des Herzogs nicht fortgesetzt wurde, 1665/66 (ohne Jahresangabe) nur der Erste Teil (bis 1Sam 17) in der Wolfenbütteler Filiale des Stern-Verlags erschienen ist.32 In einem Brief vom 15. Oktober 1664 hatte Saubert immerhin die kanonische Geltung der Luther-Bibel aufgrund des seitherigen Fortschritts der Hebräischkenntnisse in Frage gestellt:
30 Quack: Evangelische Bibelvorreden (wie Anm. 5), S. 270–273, umfassender Köster : Die Lutherbibel (wie Anm. 1), S. 71–74, 83. 31 Für Herzog Augusts Verhältnis zum Stern-Verlag und zu dem gemeinschaftlichen Einsatz für Arndts Werke und Ideen vgl. insbesondere Dumrese: Der Sternverlag (wie Anm. 26), S. 11, 20, 29 f., 36, 58–60, 126, 131; für des Herzogs Bewunderung, wenn nicht freundschaftliches Verhältnis gegenüber Arndt (Breler schreibt, er sei ihm „familiarissimus“ gewesen) Wallmann: Herzog August d.J. (wie Anm. 25), S. 27–30, 33 f. Zu diesem Beziehungsgeflecht auch Martin Brecht: J.V. Andreae und Herzog August zu Braunschweig-Lüneburg. Ihr Briefwechsel und ihr Umfeld, Stuttgart-Bad Cannstatt 2002 (Clavis Pansophiae, Bd. 8), S. 25–28, der allerdings (S. 27) darauf hinweist, für eine auch persönliche Kenntnis des jungen Herzogs und des greisen Celler Generalsuperintendenten gebe es keinen Beleg. Vgl. ferner Paul Raabe: Herzog August und die „Sterne in Lüneburg“. In: Sammler Fürst Gelehrter (wie Anm. 26), S. 157–161 sowie Jörg Jochen Berns: Einleitung [zum Katalogteil „Herzog August – Frömmigkeit und kirchliche Tradition“], ebd., S. 343–353. Weitere Kontexte und Lit. bei Schrader : „Reisset nieder ewer Inwendiges Babel“ (2012, L 48), im vorliegenden Band S. 353–380, bes. S. 356, 359, 365–369, sowie ders.: „Mißbräuche“, „ärgerliches Christenthumb“ (2015, L 54), im vorliegenden Band S. 381–417. 32 Dazu in: Sammler Fürst Gelehrter (wie Anm. 26) außer S. 195/197 (Nr. 395), S. 202–204 (Nr. 410–416 und 419); Reinitzer: Biblia deutsch (wie Anm. 13), S. 280–285 (Nr. 176, 178–180), ein Blatt des Handexemplars mit den herzoglichen Bearbeitungsannotationen ist auch faksimiliert S. 282 (zu Nr. 280). Schellmann: Das Kontobuch der Lüneburger Offizin der Sterne (wie Anm. 15), S. 94 (Nr. 17–19) weist drei verschiedene kleinformatige Ausgaben der Saubert-Bibel im Lüneburger Stammhaus nach, von denen in der Inventur von 1666 insgesamt 9226 Exemplare auf Lager waren. – Die Revision des frommen Wolfenbütteler Fürsten wird von Sommer: Hedinger als Hofprediger (wie Anm. 11), S. 182 als erster Realisierungsversuch des Wagnisses gewürdigt, die bislang sakrosankte Luther-Bibel einer gründlicheren Revision zu unterziehen.
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Es wäre doch ia eine thörichte superstitio, wann man D[octor] Luthers Dolmetschung pro authentica wollte halten, da er doch ea aetate cognitio Ebraeae linguae, welche zuvorn gantz und gar in dem Staub gelegen […] auff gar schwachen füssen gestanden. […] Daher der seelige D[octor] Luther in denen schwehren locis meistenteils den fontem verlassen müßen und sich an die Vulgatos Graecum et Latinum hängen […]: die deutsche protestantes aber sind so superstitiosi geworden, daß sie nicht einen apicem außleschen wollen in versione Lutheri, auch so gar an denen Orten, die manifeste dem Text zuwieder waren.33
Johann Arndts Vorrede hingegen enthielt gar keine grundlegenden übersetzungstheoretischen Reflexionen zur Erneuerung oder gar Ersetzung des Luther-Wortlauts, fasste vielmehr die Kernbotschaften der biblischen Lehre zusammen, die durch alle ihre Bücher auf das Zeugnis von Christus hinziele. Jede ihrer Aussagen aber eröffne auch eine typologische, auf die Einzelseele bezogene Anwendung, die diese in die Nachfolge rufe. Ohne Annahme dieser figurativen Ausrichtung bleibe der Wortlaut der Bibel nur „toter Buchstabe“. Und der verführe zu bloßem „Maulglauben“, stifte nicht die heilsnotwendige Herzenserneuerung, zu der nur die „verachtete einfalt des worts Gottes“ geleiten könne.34 Selbstverständlich bedeutet der Begriff der „Einfalt“ hier im Sinne der mystischen Tradition nicht Einfältigkeit, simplicitas, sondern integritas, die uneingeschränkte Ganzheit des Ursprünglich-Einen, die Identität und grundlegende Übereinstimmung seiner Aussage.35 Für die Pietisten erwuchs aber gerade aus dieser Arndtschen typologischen Anwendung der gesamten Schrift für das Tun und Lassen eines jedes Christen die Notwendigkeit zu stets neuem, angestrengten Bemühen, sich gläubig heranzutasten an die Reinheit der Überlieferung, zunächst um das in deutscher Sprache ererbte Kleinod der Luther-Übersetzung vollständig verstehen zu können, wo nötig aber auch in einer Revision jener Passagen, in denen sie 33 Vollständiger Briefauszug bei Reinitzer : Biblia Deutsch (wie Anm. 13), S. 285. 34 Quack: Evangelische Bibelvorreden (wie Anm. 5), S. 233–238, 240 f. 35 Jacob Grimm und Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch. Bd. 3, Leipzig 1862, dtv-Ndr. München 1984, S. 172 f. und wesentlich ergänzend August Langen: Der Wortschatz des deutschen Pietismus, Tübingen, 2. erg. Aufl. 1968, S. 362–365, vgl. in späterer Begriffsverwendung S. 408, 413, 437, 466. Im gleichen Sinne entschließt sich Johann Henrich Reitz für seine Neuübersetzung des Neuen Testaments gegen idiomatische Eingängigkeit zu strikter Wörtlichkeit, weil man eben „hiemit der einfalt des Geistes Gottes / worinnen der weißheit schätze liegen / widersprechen / u[nd] vom wahren sinn u[nd] zweck abirren“ würde. Das Neue Testament (wie Anm. 10), S. )( 2v. – In der ,Berleburger Bibel‘ wird vom Gotteswort der Schrift gesagt, dass es zugleich „einigermassen wie unendlich manchfaltig“, „einig und doch manchfaltig“ ist. [,Berleburger Bibel‘]: Die Heilige Schrift Altes und Neues Testaments / Nach dem Grund=Text aufs neue übersehen und übersetzet: Nebst einiger Erklärung des buchstäblichen Sinnes / Wie auch der fürnehmsten Fürbildern und Weissagungen […]. Bd. 1, Berleburg 1726, S. )( 3rf. Köster : „Mit tiefem Respekt“ (wie Anm. 2), S. 100, die diesen Passus zitiert, scheint diese begriffsgeschichtliche Dimension nicht zu realisieren. – Die Vorrede zum 6. Teil der ,Berleburger Bibel‘, 1737 (wie Anm. 22), S. 4r nimmt nochmals Bezug auf den schichtenreichen Figuralsinn des Gottesworts: „Nullus Apex scrituræ vacat mysterio, pflegte Hieronymus zu sagen: Kein Punckt der Schrifft ist lär von Geheimnissen.“
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den Urtext nach neuerer Kenntnis nicht vollständig erschließt. Damit dieser Urtext als Zeugnis der unmittelbaren Gottesrede, der selbstverständlich auch nach dem aktuellsten Stand zusätzlich gefundener Codices und philologischer Bedeutungsrecherche beständig zu revidieren blieb, den Nichtsprachenkundigen zugänglich werde, bedurfte es neuer, wörtlicher an den offenbarten Sinn heranführender Übersetzungen, überhaupt möglichst vieler Versionen, in deren Lichte die Luthersche durch beständiges Vergleichen reicher und tiefer auslotbar werden konnte.
IV. Inwieweit in den mit Arndts Vorrede aufgemachten Bibel-Ausgaben eine solche Revision stattgefunden hat zur Wiederherstellung der Reinheit und Verständlichkeit des Luther-Texts, der in den zahllosen Nachdrucken nach willkürlichen oder nachlässigen Abweichungen von der jeweiligen Druckvorlage zunehmend verwildert war, bleibt im Detail zu untersuchen.36 Das ist bisher ansatzweise nur geleistet für die erwähnte ,Stader Bibel‘ des Johann Dieckmann, der als solider Philologe den Luther-Text im Vergleich verschiedener alter Luther-Ausgaben (allerdings waren ihm frühe reformationszeitliche Wittenberger Drucke nicht zugänglich geworden), unter Heranziehung auch einer niederdeutschen Lübecker Bibel Bugenhagens und der oberdeutsch-reformierten Zürcher ,Froschauer-Bibel‘, gründlich revidiert hatte – und unter schwedischer Oberherrschaft vor orthodoxen Eiferern sicher war, die jede Abweichung vom Luther-Wortlaut zensorisch belangten.37 Der mit Spener in Kontakt stehende und mit ihm zu massenhaftem Absatz um preiswerte Bibeln bemühte Superintendent im thüringischen Schleusingen, Johann Pretten, hatte für seine ,Schleusinger Bibel‘ von 1684 (mit Neuausgaben 1691, 1694 und 1700) durch hinzugefügte Glossare mit Erläuterungen der für die Jugend seiner Zeit unverständlich gewordenen Luther-Wörter den Text aufzuschließen versucht. In die späteren Ausgaben Dieckmanns sind die Anregungen dieser Glossare in den Text eingegangen.38 Spener selbst hat bekanntlich erst spät, 1694 und 1699 (mit verbesserten Neuauflagen 1702, 1707 und 1712), Bibel-Ausgaben mit eigenen Vorreden 36 Köster : Die Lutherbibel (wie Anm. 1), S. 26–32, beschreibt sowohl die Verwitterung der Textgestalt seit Luther als auch die Bemühungen um Wieder-Bereinigung, geht aber z. B. auf die Bibel-Ausgaben der Arndt-Getreuen im Lüneburger Stern-Verlag nicht ein. Nur allgemeine Umrisse skizziert Lemmer: Zur Bedeutung von Luthers Bibelwortschatz (wie Anm. 14), S. 274, 285 für die Revision von Jakob Weller in der Lüneburger Bibel von 1663. 37 Reinitzer: Biblia deutsch (wie Anm. 13), S. 276, detaillierter Köster : Die Lutherbibel (wie Anm. 1), S. 32–35 und dies.: Die erste Bibelausgabe (wie Anm. 18), S. 111–113, 134, 148–150. Dazu auch Lemmer: Zur Bedeutung von Luthers Bibelwortschatz (wie Anm. 14), S. 285. 38 Reinitzer: Biblia deutsch (wie Anm. 13), S. 273, 276; Köster: Die Lutherbibel (wie Anm. 1), S. 35 f.; Lemmer: Zur Bedeutung von Luthers Bibelwortschatz (wie Anm. 14), S. 274 f.
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herausgebracht. In der von Francke als zeitgenössisch beste eingeschätzten, auf der Grundlage der ,Schleusinger Bibel‘ (ob von Spener selbst oder durch Mitarbeiter) vergleichend weiter bereinigten Leipziger Folio-Bibel von 1694 hat er dabei im Lobpreis für Luthers Übersetzungsleistung, die „von Gott vieles liecht […] empfangen“ habe, die Notwendigkeit aktueller Richtigstellungen und Verständnishilfen angesprochen. Der im Gottesdienst häufiger zu hörende Hinweis, dass einiges im Grundtext aber anders laute, könne die Gläubigen ohne Erschließung der wörtlichen Bedeutung irritieren. Tatsächlich gebe es im Lutherschen Dolmetschen Irrtümer, die zwar nirgends heilsnotwendige Wahrheiten berührten, durch seitherige Fortschritte der Übersetzungskunst aber auszubessern seien. Da jedoch keine Übersetzung alle Dimensionen des Urtexts wiedergeben könne, bleibe ein verbreitetes Studium der Originalsprachen unerlässlich, „um den heiligen Geist in seiner sprach hören zu können.“39 Die erste von den Franckeschen Anstalten im eigenen Namen vertriebene Biblia, das ist, Die gantze Heilige Schrifft Altes undt Neues Testaments Nach der Teutschen Übersetzung Doct. Martini Luthers […]. Halle, zu finden im Buchladen des Waysenhauses. Im Jahr MDCCII, hat als vermeintlich erster Hallescher Bibeldruck und Vorläufer des Cansteinschen Unternehmens ein besonderes Forschungsinteressse gefunden.40 Im Anhang waren die verschiedenen Besserungen aus Prettens Schleusinger Bibel, Dieckmanns Stader und Speners Leipziger Bibel zusammengeführt. Beate Köster hat im Aufgreifen früherer Hinweise schon 1979 gezeigt, dass es sich überhaupt noch nicht um einen Halleschen Druck handelt, vielmehr um jene 1000 Exemplare aus der Lemgoer Druckerei des Heinrich Wilhelm Meyer, die Francke gemäß einem zwischen Heinrich Julius Elers und Gräfin Dorothee Elisabeth zur Lippe-Brake geschlossenen Vertrag nach Halle geordert hatte.41 Die genauen Zusammenhänge hat nun mustergültig minutiös Julia Hiller von Gaertringen 39 Biblia […]. Nebenst einer Vorrede Herrn D. Philipp Jacob Speners, Wie die Heilige Schrifft mit Nutz und Frucht zu lesen, Leipzig 1694, Vorrede, S. )( )( )( )( 2vf., zitiert nach Quack: Evangelische Bibelvorreden (wie Anm. 5), S. 259, vgl. S. 243; ausführliche Erörterung nicht allein der Vorreden, sondern auch der Revisionsleistung und ihres Weitertreibens in den Ausgaben von 1699, 1702, 1707 und 1712, bei Köster: Die Lutherbibel (wie Anm. 1), S. 38–66, danach abbreviierend Brecht: Die Bedeutung der Bibel (wie Anm. 1), S. 103 f. 40 Einen in der Folge unbeachtet gebliebenen Klärungsversuch, der schon die Spur nach Lemgo in den Blick brachte, gab es bereits bei August Schürmann: Zur Geschichte der Buchhandlung des Waisenhauses und der Cansteinschen Bibelanstalt in Halle a.S., Halle 1898, S. 29 f., vgl. Köster : Die erste Bibelausgabe (wie Anm. 18), S. 121 f. (mit Zitat der alten Halleschen Katalog-Verzeichnung) und dies.: Die Lutherbibel im frühen Pietismus (wie Anm. 1), S. 84 f., 227. Noch für Quack: Evangelische Bibelvorreden (wie Anm. 5), S. 280–283, stand hingegen fest, Francke habe 1702 „in der Druckerei des Waisenhauses selbst eine Bibel drucken“ lassen, mit seiner eigenen Vorrede zusätzlich zu Arndts „Informatorium biblicum“ (S. 280, Anm. 207). 41 Köster : Die erste Bibelausgabe (wie Anm. 18), S. 121–123, resümiert und weitergeführt auch in dies.: Die Lutherbibel im frühen Pietismus (wie Anm. 1), S. 84–88 („Die Francke zugeschriebene Ausgabe von 1702“).
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geklärt. Die pietistische Dorothee Elisabeth, Schwägerin übrigens der in dieser Richtung weit exponierteren Berleburger Gräfin Hedwig Sophie,42 einer geborenen Lippe-Brake, hatte in Pyrmont nach Halleschem Vorbild ein Waisenhaus gegründet, zu dessen Gunsten sie, von Francke in der aktuell besten Textgestalt beraten, eine Lemgoer Bibelausgabe plante, die 1699 für das Neue Testament und 1700 als Gesamtbibel mit Arndts Informatorium biblicum zur Auslieferung kam. Dieser Lemgoer Druck von 1700 ist dann in den nach Halle bestellten 1000 Exemplaren nicht nur über Heinrich Julius Elers’ Waisenhausladen vertrieben worden, sondern auch neu firmiert als Titelauflage mit dem ausgetauschten Titelbogen, der auf dem Titelblatt die Lieferbarkeit im Halleschen Buchladen und die aktuelle Jahresangabe 1702 auswies und auf den Folgeseiten der Arndtschen Vorrede Franckes Anleitung Einfältiger Unterricht / Wie man die H. Schrifft zu seiner wahren Erbauung lesen solle von 1694 voranstellte.43 Der tatsächlich früheste Bibeldruck im Halleschen WaisenhausVerlag war also erst der von 1708 mit einer neuen Francke-Vorrede, die knapp über die Textkonstitution Rechenschaft ablegte: Man hat […] bey dieser neuen bibel […] die besten Editiones der version Lutheri vor sich gehabt / und ist denenselben einfältig und treulich nachgegangen / wie die Collation zeugen wird.44
Für die eigenen Drucke der Cansteinschen Anstalten wurde die Bereinigungsarbeit am Luther-Text dann auch vorangetrieben durch das Herbeischaffen und Kollationieren von Wittenberger Originaldrucken aus der Lebenszeit des Reformators mit jeweiliger Textentscheidung – freilich in orthographisch-interpunktioneller Normalisierung und Modernisierung – für diejenige Version zwischen Septembertestament und Ausgabe letzter 42 Ulf Lückel: Hedwig Sophie, Gräfin zu Sayn-Wittgenstein-Berleburg (1669–1738). In: Wittgensteiner Pietismus in Portraits. Ein Beitrag zur Geschichte des radikalen Pietismus in Wittgenstein. Hg. von Andreas Kroh und Ulf Lückel, Bruchsal 2003, S. 123–128 (mit Lit.), seither Schrader: Zores in Zion (2009, L 44), im vorliegenden Band S. 591–623, hier S. 604–607. 43 Hiller von Gaertringen: „Gebunden aber in schwartz leder“ (wie Anm. 4), S. 84–86. Das neue Titelblatt dieser selten gewordenen Titelauflage ist dort zitiert: Biblia, Das ist, Die gantze Heilige Schrifft Altes undt Neues Testaments Nach der Teutschen Übersetzung Doct. Martini Luthers, Mit Jedes Capitel’s kurtzen Summarien, Concordantzien, und Hn. Johann Arndts Informatorio biblico, Benebenst Aug. Herman Franckens Unterricht, wie man die H. Schrifft zu seiner Erbauung lesen soll. Halle, zu finden im Buchladen des Waisenhauses. Im Jahr MDCCII. – Zu Franckes Vorrede (hier unter dem Titel „Kurtzer Unterricht“, später auch übernommen in viele Cansteinsche Bibelausgaben) schon Köster: Die erste Bibelausgabe (wie Anm. 18), S. 124, und dies.: Die Lutherbibel im frühen Pietismus (wie Anm. 1), S. 86–88. 44 Francke: Vorrede zur Bibelausgabe von 1708, Halle, 21. April 1708, im Abdruck bei Köster: Die erste Bibelausgabe (wie Anm. 18), S. 163, paraphrasiert und erläutert in: dies.: Die Lutherbibel im frühen Pietismus (wie Anm. 1), S. 88–99, auf S. 94 gibt sie auch eine Abhängigkeiten der Textkonstitutionen versinnlichende Übersichtsgraphik markanter Texteingriffe in den BibelRevisionen Dieckmanns und Prettens, der Ausgaben Speners, Wincklers und Franckes und der einschneidenden Revision Hedingers, Stuttgart 1704.
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Hand, die am genauesten an den ursprachlichen Befund heranführte.45 Dies konnte dann in den ersten noch bogenweise gesetzten Ausgaben fortschreitend nachgefeilt werden, bis mit der Einführung des Stehsatzes den Detailveränderungen an Textgestalt und erläuternden Zusätzen ein technisch bedingter Einhalt geboten war. Das Ergebnis war zwar ein schichtenmischender Fleckerlteppich an Wortlauten und Begriffen unterschiedlicher Überlieferungsstufen Luthers, der heutigen philologischen Editionsnormen diametral zuwiderläuft, konnte sich aber des Vorzugs rühmen, den bisherigen Wildwuchs nachdruckend fortgeschleppter Textverderbnisse ausgeräumt zu haben, fast hundertprozentig aus Originalwortlauten der Luther-Versionen zusammengebastelt zu sein und so weit wie möglich das Gebot der Texttreue zu den urtextlichen Grundlagen zu erfüllen. Abgesehen von den erläuternden Annotationen und Glossen sind die in den Luther-Text selbst eingebrachten Eingriffe aller dieser Revisionsbemühungen übrigens punktuell und minimal gewesen. Selbst die systematischen Bearbeitungen der am Ende des 19. Jahrhunderts aufblühenden Bibelanstalten blieben im Auswechseln einzelner Wörter noch äußerst behutsam. Sie wurden erst massiver eingreifend mit der Überarbeitung von 1956, die die noch sehr Luther-nahe Version von 1912 ablöste, bis dann die forsch an die Mediensprache des 20. Jahrhunderts heranführende „Revision“ im NT ’75 öffentlich die Frage aufrief, ob nicht die Bezeichnungen als „Lutherbibel“ und das Gütesiegel „Nach der Übersetzung Martin Luthers“ zum Etikettenschwindel verkommen seien und eine intertextuell, erstaunlich weitgehend sogar interkonfessionell jahrhundertelang wirksame Kulturtradition damit ihre zentralen Verständigungsbezüge verliere.46
V. Die entscheidenden Impulse für das in der Epoche des Pietismus so vielgliedrig und entsagungsvoll penible Ringen um die Genauigkeit und den Aufschlusswert jeder einzelnen Textstelle leiteten sich nicht aus einem eigenwertig philologischen Interesse im Sinne eines neuen Humanismus und schon gar nicht aus einer Anti-Luther-Stimmung oder gemäß dem Vorwurf der Orthodoxen aus Konkurrenz-Ehrgeiz und Neuerungssucht her. Den 45 Grundlegende Kennzeichnung der Kollationierungsarbeiten bei Köster : Die Lutherbibel (wie Anm. 1), S. 118–132, vgl. dies.: „Mit tiefem Respekt“ (wie Anm. 2), S. 96. Aland: Der Hallesche Pietismus und die Bibel (wie Anm. 1), S. 37, betont, dass diese Version – schon durch ihre generationenweite Festschreibung im Stehsatzverfahren mit bloß reduzierter Möglichkeit zu Nachbesserungen – die grundlegende Referenzausgabe für den gesamten Pietismus wurde. 46 Hierzu meine Reflexionen im Vorfeld einer neuerlichen Revision der Gesamtbibel in einem Sammelband aus Anlass der Reformationsdekade, in dem ich mich um eine geschichtliche Aufarbeitung und Beurteilung bemüht habe, Schrader: Zwischen sprachlicher Aura und Umgangsdeutsch (2013, L 50).
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wichtigsten Anstoß gab eine existentieller rege gewordene Sorge um das Seelenheil. Die uns durch die kritische Bibelwissenschaft des 19. Jahrhunderts ferngerückten pietistischen Grundüberzeugungen über den Ursprung, die Eigenart und den individuellen Appellcharakter des ganzen biblischen Texts muss ich noch einmal knapp in Erinnerung bringen, weil erst sie die gehäuften Anstrengungen um die Bereinigung der Urtext-Editionen, die zahlreichen Neuübersetzungen und die Ausarbeitung so vieler philologischer Hilfsmittel erklären, mit denen zusätzlich zur Bereinigung des Luther-Texts auch Vergleichsangebote in Alternativversionen gegeben werden sollten. Danach möchte ich die pietistischen Versionen noch einmal im Überblick kursorisch besichtigen unter dem Blickwinkel, wie viel jeweils an grundlegender Erforschungsarbeit für die Auslotung des gesamten Feldes zu tun bleibt. Bislang nämlich gibt es für die pietistischen Neuübersetzungen mit einigen Ausnahmen erst recht pauschale Kennzeichnungen. Beate Köster hat bereits darauf hingewiesen, wie oft bloße Bearbeitungen des Luther-Texts, für die allenfalls die Urtexte und andere Versionen als Entscheidungshilfe herangezogen wurden, mit den grundlegenden Neuübersetzungen verwechselt und in eine Linie gestellt wurden. Bisweilen tauchen in den Übersichten über pietistische Neuverdeutschung in ungeprüfter Übernahme sogar Titel auf, die weder pietistischer Genese noch Übersetzungen ins Deutsche sind wie eine Königsberger Bibel 1727 von Johann Jakob Quandt (in Wirklichkeit eine Übersetzung ins Litauische), Neutestament-Übersetzungen klassischer Philologen ohne pietistische Intentionen wie die des Göttinger Polyhistors Christoph August Heumann, Hannover 1748, oder des Lexikographen, Pindar- und Homer-Übersetzers Christian Tobias Damm, Berlin 1764, wenn nicht gar aufklärerische Gegenentwürfe.47 Die wichtigste Grundlage des noch allen Pietisten gemeinsamen Verständnisses der Bibel ist die von der Orthodoxie übernommene Auffassung48 ihrer verbalen Inspiration: jedes Wort in ihr ist buchstäbliche Gottesrede, die er den Menschen durch den Mund und die Hand seiner Erleuchteten offenbar gemacht hat. Für Spener sind beide Testamente von Gott eingegeben, Worte des lebendigen Gottes, ganz im neuplatonischen Sinn ein „ausfluß“ seines Geistes, emanatio, 1qq}gsir.49 Das aber bedeutet: „Man soll auf jedes Wort
47 Vgl. die diesbezüglich ganz ungegliederte, nicht einmal in der Chronologie stimmige Liste bei Reinitzer: Biblia Deutsch (wie Anm. 13), S. 305 f. – Die von Josef Schmidt [u. a.]: Moderne Bibelübersetzungen. In: Zeitschrift für katholische Theologie 82 (1960), S. 321 als Gegenstück zur NT-Übersetzung des Johann Henrich Reitz (Offenbach 1703) vorgestellte Übersetzung des Christian Möller (Frankfurt/Oder 1700) ist in Wahrheit eine zur Judenmission angefertigte Übertragung ins Jiddische. 48 Brecht: Die Bedeutung der Bibel (wie Anm. 1), S. 103. 49 Quack: Evangelische Bibelvorreden (wie Anm. 5), S. 251, vgl. S. 258 f., 262. Für Speners Bekenntnis zur Verbalinspiration auch Martin Schmidt: Philipp Jacob Spener und die Bibel. In: Pietismus und Bibel (wie Anm. 1), S. 9–58, hier S. 26 f.
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achten, da der Heilige Geist nichts umsonst geschrieben hat.“50 Schon diese Auffassung allein macht die Heilige Schrift zu einem Extremfall für alle übersetzungstheoretischen Anforderungen sowohl an äußerster Genauigkeit im Wortlaut wie in jeder mitgeführten Sinnschattierung als auch an geradezu übermenschlicher Sprachkraft und Eingängigkeit. Ganz in diesem Sinn postuliert Johann Albrecht Bengel noch in der Vorrede seiner postum 1753 erschienenen Neuübersetzung des Neuen Testaments: In Uebersetzung menschlicher Schriften kann ein Mensch des andern Sinn viel leichter erreichen und ausdrücken, und wann er auch dessen verfehlet, so ist gemeiniglich nicht viel daran gelegen. Aber bei der Uebersetzung der Worte Gottes, himmlische und ewige Dinge betreffend, soll man mit tiefem Respect, mit Furcht und Zittern handeln, daß man nichts daran schmützen [herabsetzen], nichts unterschlagen, nichts verwechseln möge […], sie muß seyn wie ein vollkommenes Contrefait […]. Man muß nichts dazu setzen, nichts zurücksetzen, nichts anders setzen, sondern übersetzen.51
Zu der Gewissheit aber, dass es sich unmittelbar und bis ins kleinste Detail um ein göttlich Diktiertes handele, dessen Verfehlung oder Verfälschung schon für sich ein verdammniswürdiges Vergehen wäre, kommt anders als bei der Orthodoxie noch ein mehr oder weniger stark herausgestelltes typologisches Schriftverständnis. Die Lehre vom vierfachen Schriftsinn, die jedem Wort, Buchstaben, ja Zeichen der Schrift neben dem unmittelbaren, historischen Sinn auch noch reichen Verweisungssinn für die Ökonomie Gottes in der Heilsgeschichte, für die Kirche und die Gemeinde, aber auch für die Einzelseele und den Prozess ihrer Wiedergeburt zuweist, wird auf den Titelblättern und in der Allgemeinen Vorrede zur ,Berleburger Bibel‘ (1726 bis 1742) wohl am deutlichsten aufgerufen. Ansatzweise aber sind die Pietisten noch geeint in der Überzeugung einer so das Wörtliche überschießenden, immer auch auf den einzelnen Gläubigen applizierbaren Bedeutung. Schon Arndt hatte in seinem Informatorium biblicum ja ein solches typologisches Verständnis eingefordert, da ohne die durchgängig auch allegorische Auslegung der Buchstabe tot bleibe: „Wie Christus beschnitten, also müssen auch die menschen beschnitten werden mit der beschneidung Christi. Wie aber? Durch ablegung deß sündlichen Leibs, den jeder trägt in seinem fleisch, Kol 2,11.“52 50 Zitiert und paraphrasiert bei Quack: Evangelische Bibelvorreden (wie Anm. 5), S. 251, 258, 262. 51 Bengel-Vorrede in: Das Neue Testament zum Wachsthum in der Gnade und der Erkenntniß des Herrn Jesu Christi nach dem revidierten Grundtext übersetzt und mit dienlichen Anmerkungen begleitet von D. Johann Albrecht Bengel, Stuttgart 1753, S. VII, XV, zitiert bei Köster : „Mit tiefem Respekt“ (wie Anm. 2), S. 112, die diesem Zitat zwar den Titel ihres Aufsatzes entnimmt, auf die Extremdimension des übersetzungstheoretischen Problems aber nur peripher eingeht. 52 Vgl. Quack: Evangelische Bibelvorreden (wie Anm. 5), S. 236, zitiert nach der Vorrede-Version in der Lüneburger Oktav-Bibel von 1689. Zum in der Orthodoxie längst obsolet gewordenen, aus dem Mittelalter v. a. in der mystischen Tradition lebendig gebliebenen Denkansatz ebd., S. 210–221. – Zur Bedeutung dieses typologischen Denkens gerade für die Theologie der Imi-
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Johann Henrich Reitz drückt dies in seinem Das Fürbilde der heilsamen Worten 1705 so aus: Dergestalt wird immer Himmel und Erden erschaffen (in der Bekehrung des Menschen) […] Einfolglich / daß alle Historien / Personen und Sachen immer Figuren und Fürbilder der künfftigen seyn. Also ist ein Elias kommen / und kommt noch / und wird kommen […]. Daß demenach auch alles neben dem buchstablichen Verstand / einen geistlichen mystischen Verstand / und die eigene Nahmen als Canaan / Jerusalem / Sara usw. ihre sonderliche Bedeutung haben.53
In der orthodoxen Karikatur war ein Pietist geradezu daran zu erkennen, daß er bei vielen Sprüchen der heiligen Schrift […] more pietistico fast alles mystice per allegorias, typos et antitypos öfters nicht ohne Verdrehung der Worte erklären will.54
Der allegorische Mehrwert jedes Bibelworts, in dem jeder Buchstabe, jedes Jota subscriptum und hebräische Akzentuationszeichen „durch den Heiligen Geist eingegeben“ ist,55 – mit einer Überschussbedeutung auch für den aktuellen Zustand und das Heil der Einzelseele – aber machte die präzise und ungeschmälerte Sinnerschließung einer Übersetzung heilsnotwendig. Da jedoch eine einzige Version nie alle Nuancen erfassen kann, mussten viele Betatio Christi und für deren emotionale Wirkkraft noch im goethezeitlichen Roman vgl. Schrader : Vom Heiland im Herzen (1994, L 19), im vorliegenden Band S. 115–133, hier S. 132 f., und ders.: Von Patriarchensehnsucht zur Passionsemphase (2005, L 39), S. 57–88, hier S. 77, vgl. S. 82. 53 [Johann Henrich Reitz]: Das Fürbilde der heilsamen Worten / Vom Glauben und Liebe / So in Christo JEsu ist Oder die Lehre nach der Gottseeligkeit, [Erlangen] 1705, S. 22 f. 54 Christoph Kiesewetters Bericht über die Ausbreitung der Pietisterei, publiziert bei Theodor Wotschke: Der Pietismus in Thüringen. In: Thüringisch-Sächsische Zeitschrift für Geschichte und Kunst 18 (1929), S. 1–55, hier S. 40. Weitere Belege für das typologische Schriftverständnis im Pietismus bei Schrader: Sulamiths verheißene Wiederkehr (1988, L 15), im vorliegenden Band S. 169–204, hier S. 172 sowie ders.: Die Sprache Canaan, Auftrag der Forschung (2005, L 38), im vorliegenden Band S. 233–260, hier insbes. S. 238 f., 257 f. 55 ,Berleburger Bibel‘, Bd. 1 (wie Anm. 35), S. )( 2rf., vgl. S. )( 5v : „GOttes eigenhändiges schreiben“, „Schrifft von Gott eingegeben“. Dass für die Apokryphen in „Der Berlenburgischen Bibel Achter und Letzter Theil, bestehend in einem Zusatz von Apocryphischen Schriften“, Berleburg 1742, S. )( 2v, nicht mehr eine so buchstäblich wörtliche Wiedergabe der Gotteseinsprache angenommen wird, von der sie menschlich kopiert seien, habe ich ausgewiesen, Schrader: Lesarten der Schrift (1996, L 20), im vorliegenden Band S. 285–305, hier S. 288 f. In der ersten Vorrede zur ,Berleburger Bibel‘ wird daraus das Übersetzungsprogramm abgeleitet: „Da man dann sowol dem Buchstaben nach es sollte aufs einfältigste geben / wie es da geschrieben ist […] als auch die Deutlichkeit sich lassen angelegen seyn / daß man zugleich unsere Redens=Arten brauche / […] daß es ein ieder desto besser verstehen könne: da man auch die hebräische Accentuation oder Unterscheidungs=Zeichen / die / wie einige nicht ohne Grund dafürhalten / durch den heiligen Geist eingegeben sind / und den wahren Verstand der Schrifft anweisen / wol zu beobachten hat.“ ,Berleburger Bibel‘, Bd. 1 (wie Anm. 35) S. )( 2r. Dasselbe Argument äußert Francke schon in seiner „Idea studiosi theologiae“, Halle 1712, vgl. Aland: Der Hallesche Pietismus und die Bibel (wie Anm. 1), S. 47.
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mühungen vergleichend studiert werden, um bei anderen vielleicht vernachlässigte Schattierungen zu erfassen. Spener schreibt in seiner Erklährung der Epistel an die Galater 1697, dass in der Bibel nicht nur objektiv alles / was zu unserm trost / besserung / unterricht und vermahnung dienlich seye / gewiß darinnen stehe / wie denn der Heilige Geist / der sie eingegeben / und auffzeichnen hat lassen / alle meine anfechtung und alles mein anliegen […] vorgesehen und erkannt / […] wie sie zu meiner erbauung und gegenwärtiger noth dienlich seye / damit ich in dieser apothecke unfehlbar auch artzneyen vor meinen zustand finde […].56
Ganz entsprechend findet die ,Berleburger Bibel‘ im geistlichen Sinn den so-genannten Moral-Verstand / oder die Nutz=Anwendung der Schrifft / wie dadurch die Seele muß gebessert werden: durch den geheimen Sinn hergegen die innere Erkenntniß / die durch den Geist GOttes in der Seele gewircket wird […] gleichwie die Weißheit einig und doch manchfaltig ist / Weißh. 7/22. […] Und wenn der Mensch mehr als einerley an einem Orte finden kann / warum sollte GOtt nicht mehr als einerley hinlegen können oder wollen? Die Juden erkannten solches wol / welche vormals sagten; es wäre in der Schrifft kein einziger Buchstab / woran nicht gantze Berge der Erkenntnissen hiengen. GOtt redet offt was aus / da sowol der buchstäbliche als geistliche und auch der profetische Verstand zugleich mit einander ausgesprochen wird.57
Die optimale Sprachgewalt, Schönheit und auch Eingängigkeit, zu der der Gottesmann Luther in seiner Übersetzung gefunden hatte, wurde nirgends bestritten. Weil aber einerseits seither bessere Urtextversionen verfügbar waren, Luthers Übersetzung andererseits nicht völlig fehlerfrei war58 und viele nicht mehr verständliche Wörter enthielt,59 drittens schließlich, weil idio56 Philipp Jacob Spener: Erklährung der Epistel an die Galater des Hocherleuchteten Apostels Pauli, Frankfurt 1697, S. 28, zitiert bei Schmidt: Philipp Jacob Spener und die Bibel (wie Anm. 49), S. 28. 57 ,Berleburger Bibel‘, Bd. 1 (wie Anm. 35), S. )( 3rf. Der letzte Hinweis könnte sich beziehen auf den Rechenschaftsbericht zur jiddischen Witzenhausen-Übersetzung („Nota wegen der Judischen Ubersetzung“) im ersten Band von Johann Otto Glüsings „Biblia Pentapla, das ist: Die Bücher der Heiligen Schrift des Alten und Neuen Testaments / nach Fünf=facher Deutscher Verdolmetschung“, o.O. [Schiffbeck] 1711, S. 1v, dass sogar die Distinktionszeichen Silluk und Atnach als sinntragende emphatische Signale in die Übersetzung übernommen worden seien. 58 Der vom Herzog August mit der Neuübersetzung der Hebräischen Bibel beauftragte Helmstedter Orientalistikprofessor Johann Saubert d.J. äußert sich im persönlichen Schreiben an ihn über diese von der Orthodoxie bestrittene Möglichkeit recht dezidiert, vgl. den oben zitierten vertraulich-privaten Briefauszug vom 15. 10. 1664 (wie Anm. 3, zit. bei Reinitzer : Biblia deutsch, wie Anm. 13, S. 285). Spener richtete sich offen gegen die Auffassung, Luthers Übersetzung sei den Urtexten ranggleich zu halten und vollkommen fehlerfrei. Vgl. Quack: Evangelische Bibelvorreden (wie Anm. 5), S. 145; Köster : „Mit tiefem Respekt“ (wie Anm. 2), S. 96. Francke ging dann so weit, in seinen „Observationes biblicae“ solche „Fehler“ zur Diskussion zu stellen. 59 Seit dem letzten Drittel des 17. Jahrhunderts vermehrten sich die Klagen über ein Veralten von Luthers Sprachform und Wortschatz, das ein allgemeines Verständnis erschwere (in den
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„red=arten u[nd] worte behalten / die der Heil[ige] Geist gebrauchet“
matisch freies Übersetzen vom Mehrfachsinn eines Gottesworts „in seiner gantzen Gröse / Weite und Breite / Höhe und Tiefe“60 nie alle Dimensionen erfassen konnte, war für das individuell-heilsbegierige Zusatzstudium der Schrift die dichtestmögliche Annäherung und Aufschließung des Ursprungsworts danebenzustellen.
VI. Um der Heilsrelevanz jeder Bedeutungsnuance des Gottesworts wegen hat sich schon der früheste unter den pietistischen NT-Neuübersetzern, der Reformierte Johann Henrich Reitz, entschlossen, eine skrupulös dicht an den Urtext (in der revidierten Oxforder Version des Robert Gell,61 unter Nutzung der textkritischen Emendationen des Johannes Coccejus) angelehnte Version auszuarbeiten.62 Das Neue Testament Unsers HERREN JEsu Christi / Auffs neue ausm Grund verteutschet / und mit Anziehung der verschiedenen Lesungen / und vieler übereinstimmender Schrifft=Oerter / versehen ist erstmals 1703 in dem radikalpietistischen Druckereiunternehmen des Bonaventura de Launoy erschienen, wo Reitz seit 1698 auch schon die ersten drei Teile seiner Historie Der Wiedergebohrnen herausgebracht hat.63 Wenigstens sieben Nachauflagen seines Neuen Testaments kamen bis 1738 ebenfalls an Orten heraus, in denen Glaubensvertriebene wie er selbst64 Unterschlupf gewonnen hatten und auch
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Nachdrucken waren nur unsystematisch Orthographie, Laut- und Formenbestand aktualisiert worden). Deshalb wurden die nicht mehr ohne weiteres verständlichen Luther-Wörter in kleinen Lexika zusammengestellt (Philipp Salzmann: Sonderbare Worte, Naumburg 1664; Dietrich von Stade: Erläuter= und Erklärung der vornehmsten Wörter, deren sich […] Doct. M. Luther in Übersetzung der Bibel […] gebrauchet, Stade 1711, vier Auflagen bis 1746; Johann Heinrich von Seelen: Stromata Lutherana, Lübeck 1740, zusammengefasst bei Wilhelm Abraham Teller : Vollständige Darstellung und Beurtheilung der deutschen Sprache in Luthers Bibelübersetzung. 2 Teile, Berlin 1794/95). Andererseits wurden den Bibeln Glossare beigedruckt. Lemmer: Zur Bedeutung von Luthers Bibelwortschatz (wie Anm. 14), hat diese den überkommenen Wortlaut erschließenden Verständnishilfen gründlich erforscht und zusammen mit den Diskussionen, die zu den Revisionen des 19. Jahrhunderts führten, detailliert dargestellt. ,Berleburger Bibel‘, Bd. 1 (wie Anm. 35), S. )( 3v. Über Gell und seine umfänglichen übersetzungskritischen und exegetischen Arbeiten zum Neuen Testament („Remains oder übergebliebene Brocken: das ist; Unterschiedene auserlesene Schrifft=Texten des Neuen Testaments eröffnet und erklärt“, Berleburg 1724, 928 Seiten) wie auch zum Pentateuch („Ein Versuch / Muster oder Probe / zur Verbesserung der letzten Englischen Ubersetzung der Bibel […]. Der Erste Theil in Pentateuchum, oder über die Fünff Bücher Mosis“, Berleburg 1723, 904 Seiten), die als Vorarbeit zur Übersetzung der ,Berleburger Bibel‘ dort 1723/24 in deutscher Übersetzung herausgegeben wurden, vgl. Schrader: Literaturproduktion (1989, L 1), S. 188, 204, 468 f. Reitz: Das Neue Testament (wie Anm. 10), Vorrede An den Christlichen Leser, „Offenbach den 30. Nov. 1702.“, S. )( 2v, )( 4r. Greifbar in der Neuedition, Reitz: Historie Der Wiedergebohrnen. Neudruck (1982, L 2). Biographische Grundinformation: Rudolf Mohr: Ein zu Unrecht vergessener Pietist: Johann Henrich Reitz (1655–1720). Leben und Werk. Korrekturen und Ergänzungen der Biographie. In:
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die drucküberwachenden Kirchenbehörden toleranter waren, in ErlangenNeustadt, Thurnau und Büdingen.65 In seiner Vorrede betont Reitz, der als reformierter Geistlicher freilich weniger auf die – auch dort wertgeschätzte – Luther-Vorgabe verpflichtet war als die Lutheraner, den Nutzen, wenn möglichst vile übersetzungen der H[eiligen] Schrifft obhanden […]; zumalen da solche arbeit von so vilen […] dem wort der warheit nachforschenden seelen in allen partheyen / als welche täglich von allen cantzeln hören, daß es im grund=text anders laute / schon längstens verlanget worden.
Für sie, wohlgemerkt „in allen partheyen“, hat er sich bemüht, indem er „allen anderen versionen ihren gebührenden ruhm läßet / u[nd] fern von dem vorgeben ist / daß diese neue arbeit ohne fehl seye […] dem sinn des geistes u[nd] dem grund näher“ zu kommen, gerade auch den bisweilen harten „ungewöhnlichen red=arten des H[eiligen] Geistes“. Er gesteht ein, „daß man an vielen stellen die Worte der version Lutheri wol hette behalten können“, doch könne die Konfrontation mit streng beim Wortlaut bleibenden Übersetzungen der „verdunckelung des Sinnes deß H[eiligen] Geistes“ wehren. Übersetzend will er eben dieselbe red=arten u[nd] worte behalten / die der Heil[ige] Geist gebrauchet / u[nd] so viel möglich von wort zu wort übersetzen / weil wir keine schönere noch bedeutendere erfinden können / ob sie wol zuweilen unsern ohren etwas hart und ungewöhnlich lauten mögten / indem wir […] der sprach des H[eiligen] Geistes wenig kundig sind. Zierlichen teutsches aber hat man sich umb so viel weniger befleissen können / weil man eben hiemit der einfalt des Geistes Gottes / worinnen der weißheit schätze liegen / widersprechen / u[nd] vom wahren sinn u[nd] zweck abirren würde.66
Um der ursprünglichen Bedeutung des Texts noch näher zu kommen, hat Reitz Varianten zum Oxforder griechischen Text hinzu übersetzt67 und außer Monatshefte für Evangelische Kirchengeschichte des Rheinlandes 22 (1973), S. 46–109, vgl. die „Reitz“-Artikel (mit Lit.) von Erich Wenneker in: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon. Hg. von Friedrich Wilhelm Bautz und Traugott Bautz. Bd. 7, Herzberg 1994, Sp. 1587–1592 und Udo Sträter in: Religion in Geschichte und Gegenwart. 4. Aufl., Bd. 7, Tübingen 2004, S. 256. Zur durch die „Historie“ in der protestantisch-erbaulichen Kirchengeschichtsschreibung angestoßenen Tradition auch Schrader: Kanonische neue Heilige (2013, L 51), im vorliegenden Band S. 665–700. 65 Genauere Nachweise mit einer intentional vollständigen Bibliographie der Rezensionen, Beurteilungen und Forschungsliteratur bei Schrader: Literaturproduktion (1989, L 1), S. 132, 138, 153 f., 570–578, vgl. S. 523–526. Zu den vorangegangenen zwei ersten Auflagen der „Historie Der Wiedergebohrnen“ ebd., S. 77–84 und S. 390–396. 66 Alle hier systematisch umgruppierten Zitate bei Reitz: Das Neue Testament (wie Anm. 10), Vorrede An den Christlichen Leser, S. )( 2r – )( 3r. 67 „Daß man aber solche verschidene leßungen dieser teutschen version mit beygefügt / ist unter
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den üblichen Glossaren bibelkundlicher Begriffe, Maße und Gewichte auch ein Fremdwortregister und eine Liste solcher Begriffe beigefügt, die den Vollsinn des griechischen Worts nur verkürzt erfassen, hat dabei deren zusätzliche Bedeutungsdimensionen aufgeschlossen. Die Kennzeichnungen der Reitzschen Übersetzung in der Forschung erweisen sich bei näherem Hinsehen als weithin bloße Reflexe sowohl der Rechenschaft des Übersetzers in seiner Vorrede als auch der Stellungnahmen in der zeitgenössischen Kontroversliteratur. Da wird sie sozinianischer Irrtümer (die also die Gottheit Christi leugnen) bezichtigt, hauptsächlich wohl, weil das NT von Reitz im selben Jahr wie eine Neuübersetzung durch den (kaum als Pietist zu bezeichnenden) wegen sozinianischer Lehrabweichung entlassenen Rektor Caspar Ernst Triller aus Ilfeld im Südharz herauskam68 und umso bequemer (bis heute) mit dieser in einem Atemzug zu besprechen war, als auch Reitz schon einmal entsprechender Abirrungen verdächtigt worden war, nachdem er in einem Traktat Mitleid mit den ganz kreatürlichen Leiden des Heilands am Kreuz geäußert hatte, durch die er „seinen Brüdern / die Fleisch und Blut haben / j\t’ p\mta / in allen Stücken gleich seyn müssen“.69 Und wie Triller (Eine Mit dem Grund=Text genauer übereintreffende Ubersetzunge Des Neuen Testaments, mit fingiertem Druckort „Amsterdam“ 1703) wurde die ReitzVersion, deren Bemühen um Wörtlichkeit ja schon die Vorrede betonte, pauschal als „sklavisch“ am Urtext klebend, „abgeschmackt“ und „undeutsch“ bezeichnet.70 Zum Beleg werden aber auch da fast nur die Beispiele andern darzu nötig geweßen, damit die / welche das grichische nit verstehen / […] sehen mögen / wie durch einige verschidene lesungen die wahrheit […] gerettet und bestärcket werde.“ Reitz: Das Neue Testament (wie Anm. 10), Vorrede, S. )( 4r. Dies präformiert also schon das Programm der „Biblia Pentapla“ mit ihrem spaltenweis-synoptischen Versionenvergleich, vgl. Schrader: Lesarten der Schrift (1996, L 20), im vorliegenden Band S. 290 f. 68 Am einlässlichsten besprochen (doch, wie auch sonst üblich, bloß im Hinblick auf Reitz) bei Francke: Die Übersetzung des Neuen Testaments (wie Anm. 4), S. 7, 10, 14–21, 27, 43, 75–78, 82–87; Köster : „Mit tiefem Respekt“ (wie Anm. 2), S. 98 f. 69 Johann Henrich Reitz: Kurtzer Vortrag von der Gerechtigkeit, [Offenbach] 1701, S. 7–11, hier S. 7 f. – Zur pietistischen Relevanz dieser Lehre und zu den orthodoxen Verdächtigungen, aber auch zur pietistischen Ablehnung einer unterschiedlosen Verdammung von Menschen, die aus unerträglicher Qual oder Verzweiflung Suizidversuche begangen hatten, vgl. Schrader: Literaturproduktion (1989, L 1), S. 583 f., ders.: Vom Heiland im Herzen (1994, L 19), im vorliegenden Band S. 118 f. und v. a. ders.: Von Patriarchensehnsucht zur Passionsemphase (2005, L 39), S. 78–80. 70 Nach der Kritik in den ,Unschuldigen Nachrichten‘ (1710, S. 616 f.), zusammen mit den Verdächtigungen sozinianischer Lehrabweichungen, z. B. Gustav Georg Zeltner: Dissertatio theologica de novis Bibliorum Versionibus […] Trilleri et J.H. Reizii, Altdorf 1707 [2. Aufl. 1711], S. 17, 40, 65–68, 72 f., 77, 107 f., 127, 137; Ernst Stockmann: Kurtze Fragen aus der Kirchen=Historia des Neuen Testaments, 9. Teil, Jena 1732, S. 642–644, 1011–1014; [Johann Melchior Goeze]: Verzeichnis seiner Samlung seltener und merkwürdiger Bibeln, Halle 1777, S. 238–240; F[riedrich] Lücke: Kurzgefaßte Geschichte der Lutherischen Bibelübersetzung (Fortsetzung und Beschluß). In: Zeitschrift für gebildete Christen der Evangelischen Kirche, H.
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kritisiert, die Reitz selbst in seiner Vorrede als wortgetreuere Abweichungen seiner Wortwahl vom Gewohnten hervorgehoben hatte, übersetze er doch Z.E. philadelphia nit durch bruder=liebe / sondern durch bruder=freundschafft / oder bruder=freundlichkeit / item, hypomone nit durch gedult / sondern gedultige ausharrung / metanoia nit durch buß / sondern sinnes=änderung / ascks, Matth 9,17. Nit durch schlauch / sondern ledern sack usw.71
In der Tat ist die Reitz-Version mühsam zu lesen, das liegt aber mehr als an der Tendenz zur Wörtlichkeit an ihrer winzigen Schrift und der durch diakritische Zeichen für Doppelungen und Dehnungen sowie durch Abkürzungen unendlich konzentrierten Orthographie, vermutlich dadurch bedingt, dass Reitz zufolge der Anzeige im Messekatalog offenbar selbst zu den Druckkosten hatte beitragen und das Verlagsrisiko übernehmen müssen und (als amtsentlassener Pastor ohne feste Einkünfte) infolgedessen, auch in Rücksicht auf die missionarische Kalkulation des Verkaufspreises von nur 30 Kreuzern, extremem Sparzwang unterlag.72 Wegen seiner Übersetzungstreue wurde er (unter Anführung etlicher Beispiele) von Johann Georg Gichtel gelobt, „weyl er beim Text geblieben, und das Grichisch teutsch=redend gemacht, sich auch an keine andere Ubersetzung Lutheri, oder Piscatoris gebunden“.73 Und von den Übersetzern der ,Berleburger Bibel‘, der amerikanischen ,Sauer-Bibel‘ und von Philipp Matthäus Hahn wurde seine Version explizit dankbar genützt.74 Gottfried Arnolds
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4, Elberfeld 1824, S. 63. Ansätze zu differenzierterer Sicht bietet neben Francke: Die Übersetzung des Neuen Testaments (wie Anm. 4) bereits Urlinger: Die geistes- und sprachgeschichtliche Bedeutung (wie Anm. 4), S. 5–9, 20. Reitz: Das Neue Testament (wie Anm. 10), Vorrede An den Christlichen Leser, S. )( 3rf. Catalogus universalis, sive designatio omnium librorum, qui hisce nundinis […] prodierunt. [Frankfurt und] Leipzig Ostern 1703, S. D 1v ; dazu die Angebote in den Sortimentskatalogen des Berleburger Verlegers und Buchhändlers Johann Jacob Haug, Nachweis und Erörterung bei Schrader: Literaturproduktion (1989, L 1), S. 138, 260, vgl. S. 444, 489 (dort Anm. 61). Johann Georg Gichtel: Sämmtliche Werke, oder Theosophia Practica. Bd. 1, Berlin, 3. Aufl. 1768, S. 490 f. – Gichtels und Überfelds Lob für die Übersetzungen von letamoe?m oder sgle?om könnten ein Indiz für spiritualistische Übersetzertendenzen sein. Die Berleburger berufen sich auf Reitz nur im Kommentar zu einzelnen Stellen, während im Vorbericht zum Neuen Testament [Bd. 5, 1735, S. )(3v] nur auf Paul Anton und seine Hallenser Luther-Revision als Orientierungshilfe beim Übersetzen hingewiesen ist. In Christoph Sauers Vorbericht „Kurtzer Begriff. Von den Heiligen Schrifften und deren Uebersetzungen“ zu seiner eigenen „Biblia“, Germantown 1743 (III), wird auf Reitz’ Version (Lk 6,5) besonders für die unter den Amerika-Immigranten heikle Frage der Sabbat- oder Sonntagsheiligung Bezug genommen, vgl. dazu Schrader: Philadelphian Hope (2003, L 28), im vorliegenden Band S. 205–231, hier S. 225 f. Philipp Matthäus Hahn beruft sich auf ihre Nutzung im Vorbericht zu seiner Luther-Revision: Die heilige Schrifften der guten Botschaft vom verheissenen Königreich, oder das sogenannte neue Testament. – Zum Dienst derer, welche sich aus den ersten Quellen der göttlichen Schriften selbst erbauen wollen, nach der heutigen teutschen Sprachart neu übersetzt, und mit vielen zum lautern Wortverstand leitenden Hülfsmitteln, Fingerzeigen und Erklärungen versehen, [Winterthur] 1777, S. I.
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Übersetzung der neutestamentlichen Apokryphen gar wurde als ein Zusatzband zur Reitz-Ausgabe herausgebracht.75 Dagegen haben Zinzendorf und (weil sie einen revisionsbedürftigen Originaltext reproduziere) Bengel die strikte Wörtlichkeit kritisiert.76 Inwieweit aber diese Version in ihrer Begriffswahl radikalpietistische Sonderlehren begünstige, bleibt ebenso wie die Sprachleistung noch grundlegend zu untersuchen. Die Tatsache, dass sich namentlich die Inspirierten wiederholt zum Beleg für ihre Auffassung von der Heiligkeit prophetischer Ekstasen auf die Reitz-Übersetzung von Mk 3,21 / Joh 10,20 „la_metai“ („er ist gantz verstellt“ / er „ist rasend“) über Jesu von den Schriftgelehrten als Besessenheit ausgelegte Entzückung beriefen – wo Luther (1545) übersetzt hatte „Er wird von sinnen komen“ / er „ist vnsinnig“ –, zeigt, dass solche Recherche fruchtbar sein könnte.77
VII. Die Abfertigung des Reitzschen Bestrebens um absolute Textentsprechung auch zulasten deutscher Idiomatik war in der theologischen Polemik vielleicht deshalb so gleichstimmig, weil sein Neues Testament durch das beständige Zusammenstellen außer mit dem verdächtigen Triller auch noch mit einem Extrembeispiel der Wort-für-Wort-Oberflächenübersetzung verdächtig gemacht werden konnte: Johann Jakob Junckherrotts Das Neue Testament Des Herren Unserer Jesu Christi Eigentlich aus dem Griechischen Grund=Text gedollmetschet war ebenfalls in Offenbach 1732 erschienen, als Privatdruck eines Henrich Christian Schäffer mit dessen postumer Vorrede. Die von Beate Köster mit Sorgfalt gesammelten Nachrichten über diese „Misgeburt“ (Goeze) eines „possirlichen Kauderweltsch“ (Nestle)78 lassen zweifeln, ob es sich hier 75 Novi Testamenti Apokrypha, Oder : Etlicher Lehr=Jünger des Herrn und Apostolischen Männer Send=Briefe […] nach des Seel. Hn. Gottfr. Arnolds genauerer Verteutschung […] im Format eingerichtet / daß solche Reitzens Ubersetzung des Neuen Testaments können beygefüget werden, Büdingen 1723. Vgl. Goeze: Verzeichnis seiner Samlung (wie Anm. 70), S. 239; Schrader: Literaturproduktion (1989, L 1), S. 571 f. 76 Nicolaus Ludwig von Zinzendorf: Nach=Erinnerung. In: Eines Abermahligen Versuchs Zur Ubersetzung Der Lehr= und Prophetischen Bücher des Neuen Testaments […] Erste Probe, Büdingen 1739, S. )( 3v ; Johann Albrecht Bengel: Vorrede. In: Das Neue Testament zum Wachsthum in der Gnade […] nach dem revidirten Grund=Text übersetzt und mit dienlichen Anmerckungen begleitet, Stuttgart 1753, S. XIII. 77 Mit dem Nachweis der entsprechenden Stimmen und Belege diskutiert bei Schrader: Inspirierte Schweizerreisen (2000, L 24), im vorliegenden Band S. 517–546, hier S. 525; vgl. ders.: Von Patriarchensehnsucht zur Passionsemphase (2005, L 39), S. 80–83. 78 Zitate und Untersuchung bei Köster: „Mit tiefem Respekt“ (wie Anm. 2), S. 101 f. Häufiger, auch noch bei Köster : Pietismus und Bibelübersetzung (wie Anm. 3), Sp. 2398, wird Junckherrotts NT-Übersetzung, deren Privatdruck von der Landesregierung rasch konfisziert wurde, wegen ihres bis zur Unverständlichkeit getriebenen Bemühens um buchstäbliche Entsprechung zur Ursprache als Kuriosum angeblich gleicher Sprachverirrung mit Reitz’ NT zusammen be-
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überhaupt um eine pietistische Produktion handelt, zumal da die pietistenfreundlich-tolerante Isenburgische Obrigkeit, um einen Skandal zu vermeiden, zur Zensur schritt und das Buch konfiszierte. Sigmund Jacob Baumgarten weiß darüber zu berichten: Der unausbleibliche Anstos, welchen dieses Buch verursachen müssen, hat die Obrigkeit bewogen […] alle vorrätige Exemplare der ganzen auf des Verfassers Kosten veranstalteten Auflage in die gräfliche Kanzlei liefern zu lassen. Daher es sehr selten zu haben ist, indem es nie in Buchhandlungen gekommen.79
Eine recht behutsame Revision des Luther-Texts der ganzen Bibel und nicht, wie vielfach zu lesen, eine Neuübersetzung des Neuen Testaments, hat der fromme Stuttgarter Prälat Johann Reinhard Hedinger 1704 vorgelegt,80 der neben einer eigenen wiederum auch Arndts Informatorium biblicum als Vorrede beigegeben hat. Wenig später im selben Jahr kam das Neue Testament als Oktavausgabe auch gesondert heraus.81 Die angesichts der nur sehr behutsamen Texteingriffe (Beate Köster hat kollationiert, dass oft über Seiten keinerlei Änderung an Luthers Wortschatz konstatierbar wird) völlig maßlose Kritik der orthodoxen Kritiker weit über Hedingers Tod hinaus – Erdmann Neumeisters Spottverse hatte ich ja eingangs schon zitiert –82 zeigt, wie massiv noch immer jedes erklärte Revidieren des Luther-Texts als strafwürdiges Sakrileg attackiert wurde. Durch den offenen Titelzusatz „revidirt / und von einer grossen Menge eingerissener Fehler befreyet“ hat sich der gegen jeden Schwärmerverdacht gefeite Kirchenmann die wütenden Abfertigungen wohl selbst zugezogen. Nachdem Valentin Ernst Löschers spätorthodoxe Rezensionszeitschrift Unschuldige Nachrichten in umfänglicher Abfuhr den Stab über das Unterfangen gebrochen hatte,
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sprochen. Die pietistische Publikationstradition Offenbachs lag bei Erscheinen dieses Machwerks bereits eine Generation weit zurück. Sigmund Jacob Baumgarten: Nachrichten von merckwürdigen Büchern. Bd. 8, Halle 1755, S. 318. Biblia, Das ist: Die gantze Heil[ige] Schrifft Alten und Neuen Testaments / Nach der Teutschen Ubersetzung D. M. Luthers […] Nach dem Grund=Text / und den bewährtisten sowohl alt= als neuen Exemplarien aufs fleissigste revidirt / und von einer grossen Menge eingerissener Fehler befreyet, Stuttgart 1704. Der Name Hedingers bleibt (auch unter seinem „Vorbericht“) ungenannt. Vgl. Hedingers zeitgenössische Biographie in Reitz: Historie Der Wiedergebohrnen. Neudruck (1982, L 2), Bd. 2, Teil IV, Idstein 1716, S. 195–206 und die persönliche Erinnerung an ihn durch den Fortsetzer dieses Sammelwerks, Johann Samuel Carl, ebd., Bd. 3, Teil VI, Berleburg 1730, S. 366 f., besonders an seine Predigt, in der er einem „Selbstmörder […] die Seligkeit nicht absprach“. Zu dieser Episode vgl. Schrader: Literaturproduktion (1989, L 1), S. 90, 402; ders.: Von Patriarchensehnsucht zur Passionsemphase (2005, L 39), S. 78. Das Neue Testament Unsers Herrn und Heylandes Jesu Christi / Nach der Ubersetzung deß seeligen Herrn D. Mart. Luthers […]. Nach den besten Exemplarien Von vielen eingeschlichenen Fehlern sorgfältig corrigiert und gebessert, Stuttgart 1704. Hier gibt sich Hedinger durch seine Unterzeichnung der Widmung als Bearbeiter zu erkennen. Vgl. dazu Schrader: Lesarten der Schrift (1996, L 20), im vorliegenden Band S. 288, vgl. S. 310. Vgl. Anm. 7.
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„red=arten u[nd] worte behalten / die der Heil[ige] Geist gebrauchet“
Nunmehr […] trifft man eine neue methode an / Lutheri Version zu verkehren / wenn seine Arbeit in den meisten behalten / in vielen aber interpolirt / ausgestrichen und dergestalt zertrümmelt wird / daß man sie nicht mehr davor erkennen sollte,83
geriet Hedinger darüber auch mit der eigenen Kirchen- und Zensurbehörde in Zerwürfnisse, worüber Johann Daniel Herrnschmidt ärgerlich an seinen Lehrmeister Francke berichtet.84 Durch die gründlichen Untersuchungen von Köster und Sommer ist dieser lange vernachlässigte Beitrag des württembergischen Pietismus zur Bibelphilologie fundierter erforscht als andere, kaum aber die von ihm angestoßene Tradition späterer württembergischer Luther-Revisionen.85 Schon kurz nach der umstrittenen Neuübersetzung von Reitz und der LutherRevision von Hedinger kam, anonym herausgegeben von dem Separatisten (Gichtelianer) Johann Otto Glüsing, eines der interessantesten Bibelwerke des Pietismus heraus, die Biblia Pentapla, das ist: Die Bücher der Heiligen Schrift des Alten und Neuen Testaments / nach Fünf=facher Deutscher Verdolmetschung, Schiffbek und Wandsbek 1710–12.86 83 Unschuldige Nachrichten Von Alten und Neuen Theologischen Sachen / Büchern […] und dergleichen. Bd. 5, Leipzig 1705, S. 610–618, hier S. 607, vgl. ebd. Bd. 14, 1714, S. 989. 84 Brief Herrnschmidts an Francke vom 3. 10. 1704, bei Theodor Wotschke: Der Separatist Andreas Groß in Eßlingen. In: Blätter für Württembergische Kirchengeschichte 37 (1933), S. 208–228, hier S. 225. 85 Grundlegend für Revision, Rezensionen und Rezeption Köster : Die Lutherbibel (wie Anm. 1), S. 171–187, 264–271; ergänzend Sommer: Hedinger als Hofprediger (wie Anm. 11), insbes. S. 179–181, auch Schöllkopf: Johann Heinrich Hedinger (wie Anm. 11). – Eine abermals revidierte Neuausgabe auf der Grundlage von Hedingers Luther-Revision hat dann auch der vom Pietismus zur Aufklärung hin tendierende Christoph Matthäus Pfaff (als 3. Aufl., wiederum mit Zusatz von „Johann Arndts Unterricht von Lesung der Bibel, und Hedingers […] Erklärungsregister“), Tübingen 1745, herausgebracht. Während Pfaffs Position in Kirchenunionsplänen wissenschaftlich breit reflektiert ist, gibt es zu seiner Bibel-Revision noch keine gründliche Untersuchung, ebenso wenig wie zu seinem (zusammen mit Johann Christian Klemm: für das NT) 1729 f. publizierten Bibelwerk (neuerlich 1767–1770). Zu erforschen bleibt ferner, inwieweit spätere Luther-Revisionen württembergisch-pietistischer Theologen (Gottlob Christian Storr, Tübingen 1758 und nochmals 1793, Magnus Friedrich Roos, Tübingen 1787) daran anschließen. 86 Vgl. meine Studie mit näheren Angaben zum Herausgeber Glüsing, zu den Ausgaben der jiddischen Version Witzenhausens im Amsterdamer Athias-Verlag und zur Transliterierung aus der hebräischen Schrift sowie zur „jüdisch-deutschen“ Sprachadaption (wahrscheinlich durch den auch das Register besorgenden Tübinger Hebraisten Matthäus Hiller), schließlich zu den spezifischen Zensur-Voraussetzungen in den unter dänischer Oberhoheit stehenden Vorstädten Hamburgs, Schrader : Lesarten der Schrift (1996, L 20), im vorliegenden Band S. 285–305. Dort auch Hinweise auf die orthodoxe Abweisung durch den Wandsbeker Pastor Michael Berns: Endeckung [!] Des Greuel Wesens / Welches die so genandte Neue Christen / Mit der biß dahin In Wandesbeck gedruckten Biblia Pentapla vorhaben, Hamburg 1710, und auf die Rezension dieser Schmähschrift in Valentin Ernst Löschers Zeitschrift „Unschuldige Nachrichten“. Bd. 11, 1711, 7. Stück, S. 127–134. Zur Athias-Bibel grundlegend Johann Jacob Schudt: Jüdische Merkwürdigkeiten. Bd. 1, Frankfurt – Leipzig 1714, S. 285, zur „Pentapla“ auch Reinitzer : Biblia Deutsch (wie Anm. 13), S. 308 f.; Schrader: Sulamiths verheißene Wiederkehr (1988, L 15), im
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Diese dreibändige Fünf-Versionen-Bibel begann also im Jahr von Cansteins Ohnmaßgeblichem Vorschlag und zwei Jahre nach August Hermann Franckes mit eigener Vorrede ausgestatteter Luther-Bibel zu erscheinen. In den meisten älteren Forschungsüberblicken ist sie übergangen oder bloß deshalb am Rande erwähnt, weil sie in ihrem synoptischen Spaltenvergleich mit anderen Versionen (Luther, der reformierten Übersetzung Piscators, der katholischen Mainzer Bibel und der niederländischen Generalstaaten-Bibel) auch das Reitzsche Neue Testament nachgedruckt hat. Aus jüngerer Zeit gibt es zur Pentapla einige grundlegende Arbeiten, die auch die Frage geklärt haben, wie eine solche Synopse verschiedener konfessioneller Lesarten der ganzen Heiligen Schrift überhaupt publizierbar war, da doch die Zensurordnungen des Heiligen Römischen Reichs den Druck ausschließlich von Schriften in Übereinstimmung mit der im jeweiligen Territorium rezipierten Landeskonfession erlaubten. Die Hamburger Vorstädte Wandsbek und Schiffbek nämlich gehörten zum dänischen Gesamtstaat, lagen also wie das ebenso durch heterodoxe, spiritualistische und mennonitische Druckerzeugnisse verrufene Altona außerhalb des Zugriffs der Reichszensur. Insbesondere herausgestellt wurde die Kühnheit einer programmatischen Wahrheitssuche durch die für jeden Vers vereinfachte Vergleichsmöglichkeit des in den verschiedenen Kirchen Verkündeten, vor allem aber die Verwegenheit, für das Alte Testament auch eine jüdische Version neben die christlichen zu stellen. Dafür war eine freilich aus profundester gottesdienstlicher Hebräischkenntnis geschöpfte Bibelübersetzung ins Jiddische, von Josel Witzenhausen, geschaffen für europäische Juden, die den Sinn vieler hebräischer Ursprungswörter auch nicht mehr klar verstanden, nun mit ungemeinem Aufwand für christliche Leser aus der hebräischen in lateinische Schrift transliteriert und der standardsprachlichen Lautung eines sogenannten ,Judendeutsch‘ angepasst worden. Diese sprachliche Adaptation ist noch nicht einmal ansatzweise untersucht worden, setzt eine profunde Kenntnis des Westjiddischen voraus. Durch diese Vermittlungsleistung wurde erstmals bibelforschenden Christen, die der hebräischen Schrift unkundig waren, ein Dokument jüdischen Bibelverständnisses und jüdischer Geistigkeit (auch durch den Abdruck der vorliegenden Band S. 179 f. (mit Lit.); Köster : „Mit tiefem Respekt“ (wie Anm. 2), S. 100, Hermann Patsch: Arnoldiana in der „Biblia Pentapla“. Ein Beitrag zur Rezeption von Gottfried Arnolds Weisheits- und Väterübersetzung im radikalen Pietismus. In: Pietismus und Neuzeit 26 (2000), S. 94–116 und ders.: Verstehen durch Vergleichen. Die „Biblia Pentapla“ von 1710–1712. In: Die Hermeneutik im Zeitalter der Aufklärung. Hg. von Manfred Beetz und Guiseppe Cacciatore, Köln – Wien 2000 (Collegium Hermeneuticum, Bd. 3), S. 113–130, ferner Schrader: Philadelphian Hope (2003, L 28), im vorliegenden Band S. 215–217 und ders.: „Gedelöcke“ (2009, L 43), S. 87–113, hier S. 99–104, jetzt auch in: ders.: Wilhelm Raabe. Studien zu seiner avanciert-realistischen Erzählkunst, Göttingen 2018, S. 209–211. – Der vergleichsweise hohe Preis von 7 Gulden, 30 Kreuzer, der für die dreibändige Bibelsynopse aufzuwenden war (fünfzehn mal so viel wie für ein um 30 Kreuzer zu habendes Reitz-NT), ist relationiert bei Schrader: Literaturproduktion (1989, L 1), S. 260.
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transliterierten Vorreden des Übersetzers sowie des Amsterdamer Verlegers der Ursprungsversion von 1679, Josef Athias)87 zugänglich. Die Reitz-Übersetzung des Neuen Testaments mit ihrem Versuch einer besonders engen Anlehnung ans griechische Original gewinnt in dieser Intention eher eine Statthalterrolle, weil die christliche Fortschreibung der Heiligen Schrift in der Witzenhausen-Athias-Bibel natürlich fehlte. Um den Skandal eines Zugänglichmachens der jüdischen Bibelbearbeitung, ranggleich mit den lutherischen, katholischen und reformierten für fromme christliche Leser möglichst gering zu halten, wurde der NT-Band zuerst auf den Markt gebracht, dem die beiden AT-Bände mit dem programmatischen Titelblatt des Gesamtunternehmens und den auch zum Vergleich gegebenen besonders verfänglichen Vorreden mit einigem Zeitabstand nachfolgten – dennoch wütende orthodoxe Rezensionen mit z. T. krass antijudaistischen Entgleisungen hervorrufend. Mit der philadelphisch-transkonfessionellen, sogar religionsübergreifenden Vergleichsmöglichkeit der Pentapla, die weder in die Kategorie der Revisionen noch in die der Neuübersetzungen passt, war besser als je zuvor die für die pietistische Besorgnis um ein heilsnotwendiges Präziserfassen der Aussagen des Heiligen Geists erwünschte und von Reitz explizit geforderte Handhabe, eine „Harmonie Göttlichen Wortes“, geschaffen, sich durch den synoptischen Vers-für-Vers-Vergleich der Lesarten an den Vollsinn eines jeden ursprachlichen Bibelworts heranzutasten. Ununtersucht bleibt einstweilen, welche Textvorlagen der nebeneinandergestellten Übersetzungen der konkurrierenden Konfessionen Verwendung fanden.
VIII. Die Liste der Bibelarbeiten in der späteren Kulminationsphase der pietistischen Bewegung ist im Umriss bekannt und wie von anderen auch von mir selbst in Handbuchartikeln wiederholt zusammengestellt, ich kann hier nur ergänzende Hinweise geben auf bislang nur randständig in Augenschein Genommenes und dabei die treibenden Impulse und übergreifenden Strukturen, das typisch Pietistische also, an den so vielfältigen Berichtigungs- und Erneuerungsaktivitäten herausstellen. 1712, im Jahr der Komplettierung der Wandsbeker Pentapla, brachte der wegen spiritualistischer Verirrungen entlassene Professor der reformierten Herborner Hochschule, Henrich Horch (oder Horche), seine zusammen mit 87 Zu dieser jiddischen Ausgabe im Amsterdamer Athias-Verlag von 1679 (mit einer Titelauflage Amsterdam 1687) vgl. [Irene Faber und Edward van Voolen]: Amsterdam. In: Jüdische Lebenswelten. Katalog. Hg. von Andreas Nachama und Gereon Sievernich, Frankfurt, 3. Aufl. 1992, S. 321.
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dem guten Hebraisten Ludwig Christof Schefer erarbeitete Mystische und Profetische Bibel heraus, nach ihrem Erscheinungsort auch ,Marburger Bibel‘ genannt.88 Wie wenig aufschließend die bis vor kurzem noch erforscht war, sieht man daran, dass diese sprachlich stark eingreifende (auf welcher Grundlage und ob in spezifischer Ausrichtung, bleibt zu untersuchen) Revision der Luther-Bibel bis vor kurzem als Neuübersetzung galt.89 Wirkungsrelevant an ihr sind vor allem die in Vorreden und Annotationen beigegebenen mystisch-spekulativen Ausdeutungen. Schefer, mit dem zusammen Horch diese Bibel-Ausgabe erarbeitet und publiziert hat, war dann auch einer der Mitarbeiter an dem 1726–1742 in acht Foliobänden unter der Leitung des vormals Straßburger Philadelphiers Johann Friedrich Haug und unter Schutz und Förderung des Sayn-WittgensteinBerleburger Grafen Casimir herausgebrachten großen Berleburger Bibelwerk. Diese auch auf größtmögliche wörtliche Genauigkeit, bei allerdings angestrebter idiomatischer Eingängigkeit, gerichtete Übersetzung ist, auch durch Studien zu ihrer Entstehung und den um sie – letztlich folgenlos – bis zu den höchsten Reichsgerichten getragenen Zensurprozess, zu ihrem Mitarbeiterstab und den in den Vorreden erläuterten Intentionen (mit Exegese des einigen Exemplaren beigegebenen philadelphischen Titelkupfers)90 sowie zum Verhältnis von Text und Erläuterungen weitgehend bekannt.91 Meist wird Bezug 88 Mystische Und Profetische Bibel / Das ist Die gantze Heil. Schrifft […] Auffs neue nach dem Grund verbessert / Sampt Erklärung Der führnemsten Sinnbilder und Weissagungen […]. Wie auch Denen fürnemsten Lehren / bevoraus die sich auf diese letzte Zeiten schicken, Marburg: Johann Kürßner 1712; 2. Aufl. Marburg: Philipp Casimir Müller 1733. 89 Auf diese Bibel als Vorbereitungsarbeit der Berleburger hat ausführlicher schon Urlinger : Die geistes- und sprachgeschichtliche Bedeutung (wie Anm. 4), S. 10–15 hingewiesen, ihren Status als urtextgestützte Revision hat Köster : „Mit tiefem Respekt“ (wie Anm. 2), S. 97 herausgearbeitet. Vgl. ferner Brecht: Die Bedeutung der Bibel (wie Anm. 1), S. 106, Köster: Pietismus und Bibelübersetzung (wie Anm. 3), Sp. 2396. Grundlegend neuen Aufschluss bringt Ulf Lückel: Ein fast vergessener großer Berleburger: Inspektor und Pfarrer Ludwig Christof Schefer (1669–1731). Eine erste Spurensuche. In: Wittgenstein. Blätter des Wittgensteiner Heimatvereins 88 [= Bd. 64] (2000), S. 137–159, hier S. 141, 145–149, 157, vgl. auch schon ders.: Ludwig Christof Schefer. In: Wittgensteiner Pietismus in Portraits (wie Anm. 42), S. 141–146; danach Schrader: Zores in Zion (2009, L 44), im vorliegenden Band S. 342. 90 Dazu besonders Martin Brecht: Die Berleburger Bibel. Hinweise zu ihrem Verständnis. In: Pietismus und Neuzeit 8 (1982), S. 162–200; vgl. den das gesamte historische Umfeld beleuchtenden Artikel von Hans Schneider: Der radikale Pietismus im 18. Jahrhundert. In: Der Pietismus im achtzehnten Jahrhundert. Hg. von Martin Brecht und Klaus Deppermann, Göttingen 1995 (Geschichte des Pietismus, Bd. 2), S. 107–197, hier S. 160–163. Reproduziert auch bei Andreas Kroh: Johann Friedrich Haug (1680–1735). In: Wittgensteiner Pietismus in Portraits (wie Anm. 42), S. 66–72, hier S. 70 sowie Schrader: Zores in Zion (2009, L 44), im vorliegenden Band S. 597–608. 91 Jenseits der literaturwissenschaftlich-einflussgeschichtlichen Dissertation von Urlinger : Die geistes- und sprachgeschichtliche Bedeutung (wie Anm. 4) und den genannten Arbeiten sind wichtige Grundlagen bereitgestellt von Quack: Evangelische Bibelvorreden (wie Anm. 5), S. 304–322; Schrader: Pietistisches Publizieren unter Heterodoxieverdacht (1988, L 14), im
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genommen auf ihre durchgängige, den Text um ein Vielfaches übersteigende Kommentierung im Geist der gesamten mystischen und spiritualistisch-spekulativen Auslegungstradition, insbesondere der von Madame BouviHre de Guyon in quietistischer Herzenseinkehr und ekstatischer Schau aufgezeichneten Bibelauslegungen. Dafür sind, wie alle Untersuchungen topisch wiederholen, vom Grafen selbst alle Guyonschen Bibelauslegungen ins Deutsche übersetzt und dann in die Bibel eingearbeitet worden. Die in den Privatgemächern des Bad Berleburger Fürstenhauses aufbewahrten Bände des gräflichen Übersetzungsmanuskripts hat aber bisher niemand näher untersucht92 (ich habe sie selbst bei meinen Arbeiten im Schlossarchiv nie in Augenschein vorliegenden Band S. 261–283; ders.: Literaturproduktion (1989, L 1), S. 126–129, 189–198, 207, 433 f., 469–474; ders.: Madame Guyon, Pietismus (2002, L 27), im vorliegenden Band S. 419–456, hier S. 444–448; ferner, den Kontext der das Bibelwerk tragenden philadelphischen Kreise Berleburgs ausleuchtend, ders.: Zores in Zion (2009, L 44), im vorliegenden Band S. 614, 618 f. und ders.: „Gedelöcke“ (2009, L 43), S. 100–102, im Wiederabdruck 2018 (wie Anm. 86), S. 212–216. – Vgl. ferner: Köster: „Mit tiefem Respekt“ (wie Anm. 2), S. 108–110; dies.: Pietismus und Bibelübersetzung (wie Anm. 3), Sp. 2397 f.; Brecht: Die Berleburger Bibel (wie Anm. 90); ders.: Die Bedeutung der Bibel (wie Anm. 1), S. 106 f. und insbesondere Lückel: Ein fast vergessener großer Berleburger (wie Anm. 89), S. 151–153. 92 Der französische Guyon-Text ist mit exemplarischen Ableitungen in der Bibel minutiös verglichen von Jean-Marc Heuberger: Les commentaires bibliques de Madame Guyon dans la „Bible de Berleburg“. In: La Bible / la crois8e des savoirs. Hg. von Maria-Cristina Pitassi. In: Revue de Th8ologie et de Philosophie 133 (2001), S. 303–323. Auf Casimirs Handschrift im Berleburger Schlossarchiv wird dort S. 305 hingewiesen, sie und die Art, wie der gedruckte Kommentar zur Bibel damit umgeht, ist aber auch hier nicht untersucht. Johannes Burkardt hat zwei bislang unbekannte Berleburger (auch in meiner Liste der dortigen Drucke, Schrader: Literaturproduktion [1989, L 1], S. 220, fehlende) Ausgaben Guyonscher Bibelkommentare aufgefunden, von denen er mir freundlich Kopien der Titelbögen zugestellt hat: Das Buch Hiobs, erklärt von Madame Guion. In frantzösischer Sprach geschrieben / und nun treulich ins Teutsche übersetzt. […] Berlenburg / gedruckt bey Christoph Michael Regelein. 1743 (und) Das Alte Testament mit Erklärungen, das Innere Leben betreffend, von Madame Jeanne Bouviere de la Mothe Guion. In zwölff Theile eingetheilet […] Aus dem Frantzösischen in die Teutsche Sprache übersetzt. [o.O.] Gedruckt im Jahr JEsu Christi 1744. Hier geht aus dem „Avertissement des Uebersetzers“, S. A2r, hervor, dass zuvor auch der Kommentar zur „Apocalypsis in teutscher Sprach“ veröffentlicht wurde. Vgl. dazu Michael Knieriem und Johannes Burkardt: Die Gesellschaft der Kindheit Jesu-Genossen auf Schloß Hayn. Aus dem Nachlaß des von Fleischbein und Korrespondenzen von de Marsay, Prueschenk von Lindenhofen und Tersteegen 1734 bis 1742. Ein Beitrag zur Geschichte des Radikalpietismus im Sieger- und Wittgensteiner Land, Hannover 2002, S. 69 f. Ob es sich um einen Teil der Übersetzung des Grafen Casimir handelt und in welchem Verhältnis sie zur ,Berleburger Bibel‘ stehen, bleibt aber noch zu klären. Die Aussagen der Forschung beruhen statt auf Autopsie weithin auf dem Hinweis der Vorrede zum Ersten Teil, 1726 (wie Anm. 35), S. )(4v, die unter Verweis auf die Bibel erläuternde göttliche Offenbarungen von Jane Leade, Antoinette Bourignon und Johanna Eleonora Petersen aussagt: „Umsovielweniger hat man nun die so berühmt= als geistreichen Erklärungen der […] Mad. De Guyon diesem Werck vor andern mehrentheils einzuverleiben Bedencken getragen / nachdeme solche erbauliche Schrifften durch die Vorsehung GOttes von einer Hohen Stands=Person sind übersetzt und dazu communiciret worden; die auch dieses Werck mit Dero Freygebigkeit zu unterstützen angetrieben wird / […] da also mancher / der kein Frantzösisch verstehet […] der Mad. De Guyon Biblische Wercke zugleich übersetzt bekommt.“
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nehmen können). Solange sie nicht detailliert gesichtet sind, muss unklar bleiben, wie viel davon tatsächlich – wörtlich oder nur dem Sinne nach – in den Bibelkommentar aufgenommen wurde, in welcher Form und etwa konzentriert auf welche Bibelpassagen das geschah und in welchem Verhältnis zu anderen ausgewiesenen Autoritäten oder auch ungenannten dogmatisch verdächtigen Auslegern. So unverkennbar auch der Kommentar der ,Berleburger Bibel‘ die starke bis in Goethezeit und Romantik fortwirkende quietistische Tradition in Deutschland93 angestoßen und beeinflusst hat: Über die Gesamtheit der Quellen und Einflusslinien des monumentalen Kommentarwerks fehlt noch jede Untersuchung. Sie böte reichlich Stoff für einen monographischen Zugriff. Zu erkunden bleibt auch, wie sich der Kommentar durch die lange Zeit der Bearbeitung und den Wechsel der Mitarbeiter verändert. Denn der Eindruck drängt sich auf, dass nach dem Verschießen des besten Pulvers an Gelehrsamkeit und spekulativen Deutungen beim jeweils ersten Auftauchen eines zur Kommentierung reizenden Sachverhalts oder Gedankens die Erläuterungen in häufig geistlosen Leerlauf erbaulichen Paraphrasierens verfallen. Für die Übersetzung bleibt auch zu klären, eine wie maßgebliche Bedeutung die Vorgaben Luthers und anderer deutscher Übersetzer in der Auseinandersetzung mit der urtextlichen Vorgabe gewinnen konnten. Denn keine der pietistischen Neuübersetzungen war ohne beständiges Konsultieren der früheren Versionen, grundlegend allemal derjenigen Luthers, erarbeitet worden. Nach seiner geistigen Herkunft und Programmatik mit den Berleburgern verwandt war der als „Timotheus Philadelphus“ mit einer neuen Bibelübersetzung hervortretende Arzt Johann Kayser. Wie Johann Friedrich Haug hatte auch er (nach Maßregelungen wegen separatistischer Verirrungen bereits 1699 am Tübinger Stift) schon früh (1710 in Stuttgart) einen philadelphischen Zirkel gegründet und sich später den Inspirierten angeschlossen, mit denen er bald in Zerwürfnisse geriet. Seine Neuübersetzung der synoptischen Evangelien und der Apostelgeschichte von 1733/34 war zufolge der knappen Kennzeichnungen von Beate Köster aber nicht auf wörtliche Texttreue gerichtet, sondern sollte, teilweise paraphrasierend und mit erläuternden Interjektionen, programmatisch (vgl. die Vorrede zum Ersten Teil) auf die Hinführung der Juden zur Jesus-Botschaft gerichtet sein. 1735 kam separat das Johannes-Evangelium, aufgefasst „im Sinn der Mystik Jakob Böhmes“, hinzu. Mit geringen Änderungen übernahm Kayser diese Partien dann in seine Ausgabe des gesamten NT, wobei der Titel Das Neue Testament nach dem Buchstaben und buchstäblichen Verstand des Grund-Textes übersetzt, o.O. 1735, das gemeinpietistische Bestreben nach möglichster Präziserfassung
93 Übersicht (mit Lit.): Schrader: Madame Guyon, Pietismus (2002, L 27), im vorliegenden Band S. 419–456.
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jeder Nuance der Botschaft des Heiligen Geists wieder aufnimmt. Detailliertere Untersuchungen fehlen auch hier.94 Mit dem Berleburger Bibelwerk und seinen Erarbeitern auch personell aufs engste verknüpft ist die erste Bibelausgabe überhaupt, die in einer europäischen Sprache in Nordamerika gedruckt werden konnte (wo man wegen eines Privilegs für die britische ,St.-James-Bibel‘ zuvor ganz von Importen abhängig war). Der aus Wittgenstein nach Pennsylvanien eingewanderte Pionier deutsch-amerikanischer Druckerarbeit hat sie (mit aus Frankfurt bezogenen deutschen Fraktur-Schrifttypen) auf der von ihm selbst zusammengebastelten Quartformat-Presse gedruckt, die er von seinen Gesinnungsfreunden aus Berleburg beziehen konnte (wo man das alte Gerät wegen der für die ,Berleburger Bibel‘ angeschafften Folio-Presse nicht mehr brauchte): BIBLIA, Das ist: Die Heilige Schrift Altes und Neues Testaments […] Mit […] Summarien, auch […] Parllelen [sic!]; Nebst einem Anhang […]. Germantown [Stadtteil von Philadelphia] 1743.95 Sauer verwendet zwar als Grundtext eine Hallesche Luther-Revision, in die er fallweise aber Berleburger Übersetzungsvarianten einbaut, und er bedauert im Vorwort, dass ihm Raum und Kraft fehlen, zu noch präziserer Sinnerfassung nach dem Vorbild der Pentapla eine Synopse von „anderer Uebersetzungen Unterschied auf diesen Platz gegen ein ander zu setzen […] als: Froschauers / Piscators Horchens / die Berleburger, Zu geschweigen die Jüdisch-Teutsche […]“96 - und auf Wunsch liefert er seine Bibel alternativ mit einem Anhang der Apokryphen, die er der ,Berleburger Bibel‘ entnimmt.97 So bietet er gleichsam ein Resümee der vereinigten pietistischen 94 Alle Angaben zur Übersetzung nach Köster : „Mit tiefem Respekt“ (wie Anm. 2), S. 102 f. und dies.: Pietismus und Bibelübersetzung (wie Anm. 3), Sp. 2398. Titelaufnahmen bei Gottfried Mälzer: Die Werke der Württembergischen Pietisten des 17. und 18. Jahrhunderts, Berlin – New York 1972 (Bibliographie zur Geschichte des Pietismus, Bd. 1), S. 180 f. (Nrn. 1370–1373). Zu Kayser, seiner philadelphischen Gemeinschaft, zeitweisen Nähe zu den Inspirierten und späteren Streitschriftenfehde mit ihnen vgl. Ulf-Michael Schneider: Propheten der Goethezeit. Sprache, Literatur und Wirkung der Inspirierten, Göttingen 1995 (Palaestra, Bd. 297), S. 111 (polemisches Gedicht Johann Friedrich Rocks) und S. 212 (Streitschrift Johann Adam Grubers); Hans Schneider: Der radikale Pietismus im 18. Jahrhundert (wie Anm. 90), S. 113, 161, 168 sowie Eberhard Fritz: Radikaler Pietismus in Württemberg. Religiöse Ideale im Konflikt mit gesellschaftlichen Realitäten, Epfendorf/Neckar 2003 (Quellen und Forschungen zur württembergischen Kirchengeschichte, Bd. 18), S. 53, 77. 95 Zu den abenteuerlichen Voraussetzungen dieses ersten amerikanischen Bibeldrucks vgl. meinen Exkurs „Die Berleburger Presse und die Anfänge radikalpietistischer Literatur in Amerika“ in Schrader : Literaturproduktion (1989, L 1), S. 223–227, 236, 252, 475; Überblick zu Sauers Biographie und Bibeldruck bei Konstanze Grutschnig-Kieser: Der „Geistliche Würtz= Kräuter= und Blumen=Garten“ des Christoph Schütz. Ein radikalpietistisches „Universal-Gesang=Buch“, Göttingen 2006 (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus, Bd. 49), S. 208. 96 Christoph Sauer: Kurtzer Begriff. Von den Heiligen Schrifften und deren Uebersetzungen. In: Biblia, Das ist: Die Heilige Schrift Altes und Neues Testaments, Germantown 1743, Vorbericht, S. [I]. 97 Zu Sauer und seiner Bibelausgabe vgl. auch Donald F. Durnbaugh: Christopher Sauer. Pennsylvania-German Printer. His Youth in Germany and Later Relationships with Europe. In: The
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Anstrengungen um die Bereitstellung eines den ursprachlichen Offenbarungen des Heiligen Geistes möglichst präzis entsprechenden deutschen Wortlauts und kennzeichnet deren soziologisch wie geographisch weiträumigste Verbreitung.
IX. Für die enorme Gemeinschaftsleistung der Berleburger Philadelphierkreise ist vorbereitend eine ganze Serie von speziellen Lexika und Hilfsbüchern sowohl für die Klärung hebräischer Wortbedeutungen und dunkler Stellen als auch für die Auslegung erarbeitet worden. Das gibt Anlass zu einer Erinnerung an den enormen Aufschwung – Hand in Hand mit dem pietistischen Übersetzungs- und Revisionsbemühen – der gräzistischen und hebraistischen Grundlagenforschung. Speners und Franckes eigene gelehrte Arbeiten auf diesem Gebiet und vor allem ihre akademischen Institutionen, um entsprechende Kenntnisse für die Bibelexegese auszubreiten, sind gut untersucht, kaum aber die entsprechenden Leistungen etwa von Heinrich May und Andreas Kempffer in Gießen.98 Maßgebliche Geltung gewannen Johann Heinrich Michaelis’ 1720 im Halleschen Waisenhaus schon im Titel programmatisch als philologischer Neubeginn ausgelobte Biblia Hebraica ex aliqvot manuscriptis et complvribus impressis codicibvs […] diligenter recensita99 und Johann Albrecht Bengels ebenso philologisch richtungweisendes Griechisches Neues Testament von 1734 mit Nachweis der varianten Überlieferungen. Daran konnten die kommentatorisch-exegetischen Arbeiten anknüpfen, namentlich Johann David Michaelis’ Neuübersetzung des Alten und des Neuen Testaments mit seinen Anmerkungen für Ungelehrte,100 Bengels Gnomon Novi Pennsylvania Magazine of History and Biography 82 (1958), S. 316–340; zu Herkommen und Jugend S. 319–322; ders.: Johann Christoph Sauer I. and Maria Christina Sauer. In: The Brethren Encyclopedia. Bd. 2, Philadelphia, PA and Oak Brook, IL 1983, Sp. 1147 f. und ders.: Sauer Bibles [und] Sauer Press, ebd., Sp. 1149; ferner Schrader: Philadelphian Hope (2003, L 28), im vorliegenden Band S. 207–209, 212, 221 f., 225. 98 Deren Neuausgaben der Biblia Hebraica (und die Flut weiterer) in der Frühzeit des Pietismus sind resümiert bei Gustav Adolf Ludwig Baur : Einleitung zu seiner Edition: Andreas Kempffers Selbstbiographie. Nach der Giessener Handschrift, Leipzig 1880 (Progr. Univ. Leipzig), S. 3–18. 99 Vgl. Karl Heinrich Rengstorf: Johann Heinrich Michaelis und seine ,Biblia Hebraica‘ von 1720. In: Zentren der Aufklärung I: Halle. Aufklärung und Pietismus. Hg. von Norbert Hinske, Heidelberg 1989 (Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung, Bd. 15), S. 15–64. 100 Johann David Michaelis: Deutsche Übersetzung des Alten Testaments mit Anmerkungen für Ungelehrte, 13 Bde., Göttingen 1769–1785, 2. Aufl. 1773; ders.: Übersetzung des Neuen Testaments, 2 Teile, ebd. 1788–1790; ders.: Anmerkungen für Ungelehrte zur Übersetzung des Neuen Testaments, ebd. 1790–1792. Nach Anna Ruth Löwenbrück: Johann David Michaelis et les d8buts de la critique biblique. In: Le siHcle des LumiHres et la Bible. Hg. von Yvon Belaval und Dominique Bourel, Paris 1986 (Bible de tous les temps, Bd. 7), S. 113–128.
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Testamenti von 1742 und noch 1776 Friedrich Christoph Oetingers Biblisches und Emblematisches Wörterbuch.101 Von den propädeutischen Arbeiten zum Berleburger Bibelwerk sind günstigstenfalls die Verfasser und Buchtitel bekannt, 1719 Christoph Seebach: Aufgeschlossene Accentuatio Metrica […] Der Psalmen Davids / Der Sprüch=Wörter Salomonis / Und Des Buchs Hiob, 1720, Ludwig Christoph Schefer : Schoresch Dawar Oder Hebreisches Wörter=Buch, 1724 und, ebenso in Berleburg übersetzt und gedruckt, Robert Gell: Remains oder überbliebene Brocken: das ist Unterschiedene auserlesene Schrifft=Texten des Neuen Testaments, und ferner 1724 Henrich Bernhard Kösters etymologie-spekulatives Handbuch: Schlüssel der […] Hebräisch=Griechisch=Teutschen Harmonie, 1727 Georg Burkhard Rümelin: Lexicon Biblicum in quo Omnes […] in Veteri Testamento […] voces, verba […] ac nomina […] recensuntur, schließlich Vorarbeiten für die Kommentierung und Exegese, 1732–1734 von Johann Samuel Carl eine Mystica Marci, eine Theologia Moralis […] aus der Evangelischen Historie Lucä, eine Theocratia N.T. in der Apostolischen Haushaltung, schließlich eine Medicina mentis […] aus Marco & Luca und noch 1736–1740 spezielle exegetische Arbeiten des Guyon-Popularisators Charles Hector de Marsay zur Genesis und zum Römerbrief, zum Hebräerbrief und zur Apokalypse.102 Solche Anstrengungen aus dem radikalen Pietismus bleiben in ihren Textgrundlagen und im Grad ihrer Texttreue, aber auch unterschiedlichen Zielsetzung abzugrenzen von den ursprachlichen Editionen desselben Zeitraums. Um einiges günstiger steht es um die Erforschung der Bibel-Versionen von Zinzendorf, seiner mit eigener Vorrede eröffneten Luther-Revision, der Ebersdorfer Bibel von 1726/27, und der beiden genialisch freien, z. T. mit kärglichen Hilfsmitteln auf hoher See unternommenen Teilübersetzungen 101 Zu diesen Arbeiten Grundinformationen (mit Lit.) bei Köster : „Mit tiefem Respekt“ (wie Anm. 2), S. 111; Brecht: Die Bedeutung der Bibel (wie Anm. 1), S. 108–110; Köster : Pietismus und Bibelübersetzung (wie Anm. 3), Sp. 2399. Das Oetingersche ,Wörterbuch‘ liegt in einer grundlegend eingeführten und opulent kommentierten kritischen Neuedition vor, deren Kommentarband mit Aufsätzen zum Thema angereichert ist, Friedrich Christoph Oetinger : Biblisches und emblematisches Wörterbuch. Hg. von Gerhard Schäfer in Verbindung mit Otto Betz, Reinhard Breymayer [u. a.]. Teil I: Text, Teil II: Anmerkungen, Berlin – New York 1999 (Texte zur Geschichte des Pietismus, Abt. 7, Bd. 3), vgl. auch Pierre Deghaye: La mystique protestante. Oetinger. In: Le siHcle des LumiHres (wie Anm. 100), S. 481–509. 102 Die bibliographischen Angaben, Informationen über die Verfasser, Verleger und Förderer und die Bedeutung für die Übersetzung und Kommentierung der ,Berleburger Bibel‘ sind ausgewiesen (und mittels des Registers leicht zu finden) bei Schrader : Literaturproduktion (1989, L 1), die alttestamentlichen Übersetzungshilfen, Studien und Kommentare (mit Lit.) auch vorgestellt bei ders.: Sulamiths verheißene Wiederkehr (1988, L 15), im vorliegenden Band insbes. S. 179, zu Schefers Wörterbuch „Schoresch Dawar“ auch Lückel: Ein fast vergessener großer Berleburger (wie Anm. 89), S. 144 f., 148; die detailliertere Forschung steht aber durchweg noch aus.
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oder eher Paraphrasen aus dem Neuen Testament im für die Zeitgenossen befremdlichen Kavalierston 1739 und 1741.103 Als Bibeleditor ist schließlich auch Zinzendorfs schärfster Gegner innerhalb des Pietismus, Johann Philipp Fresenius, hervorgetreten. Seine revidierte Luther-Bibel von 1751 mit einem Anhang von Kirchengesängen, deren 6. Auflage von 1765 die Hausbibel seines Taufkindes Johann Wolfgang Goethe wurde, hat zwar eine spezielle Untersuchung gefunden, die auf Programm und Textspezifika allerdings kaum eingeht.104 Ebenso bleibt die innovatorische Leistung von Bengels erst postum 1753 herausgegebener NT-Übersetzung und dem NT von Philipp Matthäus Hahn, Die heiligen Schriften der guten Botschaft, 1777, im Konzert der pietistischen Bibelbemühungen trotz älterer Vorarbeiten105 noch im Detail zu erforschen und in Stellenwert und Wirkung deutlicher zu ermessen. So bleibt noch viel zu tun, auch um verbreiteten Vorurteilen über den pietistischen Beitrag zur Deutschen Bibel gegründeter begegnen zu können. Dass die radikalen Pietisten kein rechtes Verhältnis zur Bibel gewonnen hätten, insofern ihnen die Offenbarungen ihrer inneren Stimme immer wichtiger gewesen seien als das kodifizierte Wort,106 dürfte schon durch das Ausgeführte widerlegt sein: Nicht allein ist der Anteil beträchtlich, den die unduldsamen Kirchenkritiker und Heterodoxen an der zuverlässigen Fundierung der biblischen Botschaft im 18. Jahrhundert gewonnen haben, sie wurden auch viel stärker als andere von der existentiellen Besorgnis umgetrieben, ihnen könnte vom göttlichen Wort durch das Verfehlen einer Nuance etwas vielleicht für ihr Heil Bedeutsames entgehen oder missverständlich bleiben.
103 Zur Programmatik und (in Abwehr der sofort heftig ausbrechenden Kritik) Apologetik der Abweichungen vom Luther-Text und der oft bis zur Paraphrase freien Neuübersetzungen in den Vorreden schon Quack: Evangelische Bibelvorreden (wie Anm. 5), S. 283, vgl. Köster : „Mit tiefem Respekt“ (wie Anm. 2), S. 103–108; Brecht: Die Bedeutung der Bibel (wie Anm. 1), S. 107 f.; Köster : Pietismus und Bibelübersetzung (wie Anm. 3), Sp. 2398 f. – Alle Bibelarbeiten Zinzendorfs und die recht umfängliche ältere Sekundärliteratur sind nachgewiesen bei Dietrich Meyer: Bibliographisches Handbuch zur Zinzendorf-Forschung, Düsseldorf 1987. – Eine ganz neue Grundlage für die historisch-biographische Verortung, die Frage der Mitarbeiter, die Besonderheit der einzelnen Bücher sowie Einflüsse und Rezeption bietet die von Kai Dose kommentierte Neuausgabe im Rahmen der kritischen Zinzendorf-Edition, Nikolaus Ludwig von Zinzendorf: Werke, Bd. 7: Bibel und Bibelgebrauch. Hg. von Dietrich Meyer [u. a.], Teilband 1: Bibelübersetzung, Teilband 2: Zinzendorfs Übersetzung des Neuen Testaments, Evangelien und Apostelgeschichte, Göttingen 2015 (Texte zur Geschichte des Pietismus, Abt. IV, Bd. 7/1 und 7/2). 104 Henri Plard: La Bible luth8rienne de Fresenius. In: Le SiHcle des LumiHres (wie Anm. 100), S. 441–448. 105 Für Bengel und Hahn vgl. Anm. 51 und 76 bzw. 4 und 74. 106 So andeutungsweise noch bei Brecht: Die Bedeutung der Bibel (wie Anm. 1), S. 102, vgl. S. 110 f.
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Und zu relativieren ist auch die oft wiederholte Behauptung, da allen diesen Bemühungen die Sprachkraft und Eingängigkeit der Lutherschen Übersetzung fehle, sei ihnen allen ein nur geringer Erfolg beschieden gewesen, in der Breite des Volkes seien sie kaum heimisch geworden. Selbstverständlich kann man keine der pietistischen Neuübersetzungen an den Auflagenzahlen und der Wirkung der Luther-Bibel messen. Ich hoffe aber, gezeigt zu haben, dass die Luther-Bibel im 18. Jahrhundert selbst schon in ihren erst jetzt unvergleichlich riesigen Auflagenzahlen ein Produkt pietistischer Nachsorge, Bereinigungsbemühung und Verbreitungsstrategie geworden war – wovon die hinzugetragenen pietistischen Vorreden Kunde gaben. Und: die daneben gestellten oder diesen Grundtext umstellenden Angebote zu einem vertieften Bibelstudium waren eben nicht in Konkurrenz zu diesem durchweg in Achtung und Gebrauch gehaltenen und als Basis und Richtschnur aller neuen Bemühungen genutzten Fundamentalwerk einer Deutschen Bibel gesetzt, vielmehr sollte dieser auch für die katholischen und reformierten Übersetzungen grundlegenden Kirchen- und Hausbibel der Deutschen ein Angebot punktueller Nachbesserung und aufschließender Ergänzung für das Heimstudium und die Konventikelarbeit an die Seite gestellt werden. Neun wiederholte Abdrucke wie etwa für das Reitzsche Neue Testament sind freilich kein Indiz einer mangelnden Nachfrage und Durchsetzungskraft. Selbst so umfängliche und teure Werke wie die acht Folianten der ,Berleburger Bibel‘ konnten unter Frommen, denen der Erwerb geistlicher Nahrung zum eigenen Seelenheil hohe Aufwendungen wert war, erstaunliche Verbreitung finden, bis hinein in sonst lektüreungewohnte Schichten.107 Ulrich Bräker, der arme Landmann im Toggenburg, hat berichtet, wie er als knapp Dreißigjähriger um 1767 die bei den benachbarten pietistischen Bauern seiner Ostschweizer Talschaft angeschafften Bücher auf der Suche nach Lebensorientierung und Seelenheil mit Eifer durchstudiert hat, darunter zur Gänze auch dieses so opulent kommentierte Bibelwerk: Lange Zeit wendete ich jeden Augenblick, den ich nun immer entbehren – aber eben bald auch manchen, den ich nicht entbehren konnte, auf ’s Lesen an; schnappte jedes Buch auf, das mir nur zu erhaschen stuhnd; hatte itzt wirklich 8. Foliobände von der Berlenburger=Bibel vollendet.108 107 Allein auf der Grundlage ausgewerteter Nachlassverzeichnisse wird allerdings eine so weiträumige Verbreitung der neuen Bibelausgaben bei Etienne FranÅois: Les protestants allemands et la Bible. Diffusion et pratiques. In: Le SiHcle des LumiHres (wie Anm. 100), S. 47–58 weiterhin auf allein pietistische (und da überwiegend bürgerliche) Kreise begrenzt gesehen und besonders auf deren abergläubischen Gebrauch durch Däumeln oder Bibelstechen abgehoben. Doch ist diese durch die Fährnisse des dinglichen Aufbewahrens in den Haushalten getrübte Quellenbasis für Aussagen über den im 18. Jahrhundert vielgliedrig und massenhaft anwachsenden Biblizismus (vgl. allein die Auflagenzahlen der Stereotypdruck-Bibeln, Anm. 14!) viel zu einseitig und gibt ein absolut verzerrtes Bild. 108 Ulrich Bräker: Lebensgeschichte und Natürliche Ebentheuer des Armen Mannes im Tockenburg. Hg. von H. H. Füßli. In: ders: Sämtliche Schriften, Bd. 4: Lebensgeschichte und ver-
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Noch als 52-jähriger denkt er in seinem Tagebuch am 13. Februar 1788 an diese Lektüre zurück, kann aber nun, zur Volksaufklärung hingewendet, nicht mehr unterscheiden, ob ihn damals hinter der Sorge um sein Seelenheil vielleicht schon der Wunsch, er könne in einem Buch, das doch die Quintessenz aller Weisheit und Wohlfahrt enthalten musste, zu einem besseren Leben finden, zu seinem Lesen motiviert hatte: O wie ich mich in gehürsch und – laborinthe verwickelt – abgezapelt – abgehärmt – und dem tode nahe – wikelte mich endlich loß – suchte von neüem, lebensgenuß wünschte gefehrten – freünde – fieng an bücher zulesen – um die kunst zulehrnen – meines lebens zugeniessen – lase die berlenburgische bibel – Antoinette Burignon – und allerhand mistische schrifften – wurde gantz confus – kratzte mir in den haaren – und wuste weder auß noch an.109
mischte Schriften. Bearb. von Claudia Holliger-Wiesmann, Andreas Bürgi, Alfred Messerli [u. a.], München – Bern 2000, S. 485, vgl. S. 391 f., vgl. dazu Bd. 5: Kommentar und Register. Bearb. von Christian Holliger, Andreas Bürgi, Alfred Messerli [u. a.], München – Bern 2000, S. 797 f. 109 Bräker : Tagebuch 1787–1788. In: ders.: Sämtliche Schriften, Bd. 2: Tagebücher 1779–1788. Bearb. von Heinz Graber, Claudia Holliger-Wiesmann, Andreas Bürgi [u. a.], München – Bern 1998, S. 653, vgl. dazu Bd. 5: Kommentar (wie Anm. 108), S. 438 f. – Zu Bräkers pietistischen Lektüren vgl. ferner: Chronik Ulrich Bräker. Auf der Grundlage der Tagebücher 1770–1798. Hg. von Christian Holliger, Claudia Holliger-Wiesmann, Heinz Graber, Karl Pestalozzi, Bern – Stuttgart 1985, S. 318 f., vgl. S. 21, 68 und S. 123–126; Schrader: Literaturproduktion (1989, L 1), S. 307–313, 323 f., 511–513 (mit Lit.); ders.: Inspirierte Schweizerreisen (2000, L 24), im vorliegenden Band S. 528 f. sowie ders.: Sphärensprünge (2004, L 36), S. 93–115, hier S. 94–102. Ein interessantes Analogon zum gemeinsamen Besitz der ,Berleburger Bibel‘ unter den nachbarschaftlichen Bauern im Toggenburg ist, ebenfalls in ländlicher Schweizer Region, der Fall des „Schärers“ (Lohnarbeiters) Hans Rudolf Bosshardt, der 1795 dieses Bibelwerk „als Gemeinschaftsbesitz mit sieben anderen Teilhabern“ zu eigen hatte. Nachweis: Balz Spörri: Studien zur Sozialgeschichte von Literatur und Leser im Zürcher Oberland des 19. Jahrhunderts, Bern – Frankfurt 1987 (Zürcher Germanistische Studien, Bd. 10), S. 43–48.
Hoburg, Christian (1607–1675) [1979, L 59]
HOBURG, Christian (auch Schreibungen: Hohburg, Hochburg, Hoheburgk; Ps.: Elias Praetorius, Bernhard Baumann, Andreas Seuberlich, Christianus Montaltus), geb. 23. 7. 1607 Lüneburg, gest. 29. 10. 1675 Altona; ev.-luth., später Indifferentist. – Theologe u. Schriftsteller. Eltern: Jürgen Hoburg, Tuchmacher ; Anna geb. Dieden. Ehefrau: Maria Breuer, geb. ca. 1606/07, gest. 1672 Middelburg, Niederlande; verh. 1632 Lauenburg; Tochter d. lauenburgischen Zollamtsleiters Caspar Breuer. Kinder : acht, unter ihnen Philipp Hoburg, Färber in Middelburg, später Drucker in Altona. Frühzeitig verwaist, mußte Hoburg schon während des Besuchs der Lüneburger Michaelisschule durch Kurrendesingen und Stundengeben zu seinem Unterhalt beitragen und sich dann die Mittel für das erstrebte Theologiestudium als Hauslehrer in Lauenburg verdienen. Ein im Lebens-Lauff berichteter anschließender Aufenthalt in Königsberg wurde bislang als Zeit einer verkürzten und deshalb wohl unsystematischen akademischen Ausbildung gedeutet. In der für diese Jahre lückenlos überlieferten Königsberger Matrikel ist Hoburg jedoch nicht inskribiert; er hat möglicherweise gar kein Universitätsstudium absolviert. Spätestens 1632 zurück in Lauenburg, erhielt er eine Stelle als lutherischer Kantor und Hilfsprediger. Die seelische Erschütterung, die ihm die Lektüre Arndts und Schwenckfelds verursachte, stürzte ihn in eine schwere religiöse Krise. Sie machte ihn zum streitbaren Verfechter des spiritualistischen Konzepts, das das Wesen des Christentums nur in individueller persönlicher Übergabe an Gott, Wiedergeburt und Nachfolge Christi erfüllt sah und dagegen alles veräußerlichte Kirchenwesen ablehnte. Hoburg wurde so zum unduldsamen Buß- und Erweckungsprediger. Religiös motivierte Skrupel gegen die Ehe vermochte er nur wegen seiner schon durch die Verlobung eingegangenen Verpflichtungen zu überwinden. Bald nach der Heirat und nach kurzer Lehrtätigkeit unter falschem Namen 1632 in Gifhorn nahm er die zum Unterhalt seiner Familie auskömmlichere Stelle des Subkonrektors in Uelzen an, hielt hier auch nebenbei als Hilfsprediger die Früh- und Wochenpredigten. Liturgische Eigenmächtigkeiten und erste, die Ordnung von
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Staat und Kirche attackierende Publikationen brachten ihn in Konflikte zu Amtsbrüdem und Konsistorium und führten 1640 oder bald darauf zu seiner Absetzung. Nach erneuter Hauslehrertätigkeit in Hamburg (Ausarbeitung weiterer radikal-kirchenkritischer Bußschriften) wurde Hoburg spätestens 1643 Korrektor der berühmten Lüneburger Buchdruckerei der als Anhänger Johann Arndts und Gegner der Orthodoxie bekannten Brüder Johann und Heinrich Stern. Das Jahr 1644 war hier mit der Veröffentlichung bzw. Ausarbeitung von acht z. T. dickleibigen Büchern Höhepunkt seiner schriftstellerischen Aktivität. Außer Titeln unter eigenem Namen, wie der mit 617 Textseiten größten seiner gegen den Krieg gerichteten Schriften (Heutiger / Langwieriger / verwirreter Teutscher Krieg, o.O. 1644 mit Widmung Lüneburg 18. 11. 1643 an die Gebrüder Stern und an Matthäus Merian in Frankfurt, Vorrede Lüneburg 22. 7. 1643) waren darunter – durch Pseudonym geschützt – seine rücksichtslosesten Angriffe gegen die Kirche und Aufrufe, sich von ihr zu separieren. Heftige Kritik an diesen Schriften, deren Verfasser bald bekannt war, machten Hoburgs Stellung in Lüneburg unmöglich. Eine von den im Ministerium Tripolitanum vereinigten Kirchenbehörden Hamburgs, Lübecks und Lüneburgs in Auftrag gegebene, von Johann Müller verfaßte Generalabrechnung Kurtze Nothwendige […] Warnung für dem Gotteslästerlichen / Ergerlichen Schand=Buche […] Eliae Prätorii von den Mißbräuchen (Hamburg 1645) zieh ihn aller nur denkbaren Häresien. „Auf recommendation der Sterne zu Lüneburg“ gewährte der Wolfenbüttler Herzog August d.J. von Braunschweig-Lüneburg Hoburg Schutz, berief ihn nach einer Probepredigt am 28. 11. 1644 mit falschen Angaben über bisherige Pfarrtätigkeit (Schutzmanöver, vielleicht wegen fehlender akademischer Qualifikation?) auf die landesherrlichem Patronat unterstehende Pfarre Bornum/Königslutter und wies ihn am 24. 1. 1645 überstürzt dort ein (nachdem sich Hoburg durch einen den herzoglichen Söhnen gewidmeten Christ=Fürstlichen Jugend=Spiegel, erschienen Frankfurt 1645, vom Verdacht genereller Obrigkeitsfeindlichkeit gereinigt hatte). Auch dort fand er keine Ruhe. Im November 1645 gab man seinem Verhalten Schuld an Plündereien der Wrangelschen Soldateska und überhäufte ihn mit finanzzerrüttenden Entschädigungsforderungen. Eine Reise Anfang 1646 nach Holstein brachte nicht die dort erhoffte Pfarrstelle (offenbar aber Drucklegung seiner pseudonymen Schrift: Andreas Seuberlich: Heimischer Prüffung Vortrab, Schleswig 1646). Widerstand der Gemeinde gegen seine mystisch-spiritualistische Evangelienexegese, Klagen des Landjunkers wegen pauschaler Adelsschelte und Bauernverhetzung, Angriffe auch gemäßigter Theologen gegen seine Schriften kosteten ihn die Gunst Herzog Augusts. Die seit März 1646 gegen ihn eröffneten Untersuchungen des Konsistoriums führten 1648 zur Absetzung Hoburgs, im Juni zu ungnädiger entschädigungsloser Vertreibung der inzwischen zehnköpfigen Familie. Über Quedlinburg, wo nur Frau und Kinder dauerhaftes Asyl finden konnten, zog Hoburg nach Linum/Osthavelland ins
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Pfarrhaus seines theologischen Gesinnungsgenossen Joachim Betke, mit dem gemeinsam er gegen die Angriffe des Ministerium Tripolitanum seine Apologia Praetoriana schrieb (sie wurde erst 1656 publiziert, vom Ministerium sogleich ausführlich erwidert). Nachdem sich Hoburg erneut in Braunschweig und Lüneburg aufgehalten hatte (im März und April 1650 hat er dort die Vor- und Nachreden seiner Theologia Mystica unterzeichnet), zog er ins niederländische Gelderland und wurde dort 1652 Schloßprediger eines reformierten Landedelmanns in Keppel-Binnen/Hummelo (Classis Zutphen), bis er sich 1654 erdreistete, seinen Patron wegen moralischer Verfehlung vom Abendmahl auszuschließen und die Gottesdienste nach Sperrung der Schloßkapelle in sein Haus zu verlegen. Da das Kirchenaufsichtsverfahren ihm recht gab, konnte er 1655 als Prediger an die reformierte Gemeinde Lathem/Bahr (bei Arnhem/Cl. Zutphen) berufen werden und ihr eineinhalb Jahrzehnte dienen, sogar ohne sich in interkonfessionellen Streitfragen binden zu müssen. Offenes Eintreten für die Lehren des visionären Wiedertäufers David Joris und andere Heterodoxien in den hier verfaßten mystisch orientierten Schriften führten 1670 zu Suspension und Abzug aus der Lathemer Pfarre. 1672 kam er in Amsterdam in kurzfristige Verbindungen mit Jean de Labadie, Friedrich Breckling, Laurens de Geer und mit Antoinette Bourignon, deren Schriften er z. T. übersetzte. Zusammen mit seinem Sohn Philipp, bei dem der gänzlich Verarmte in Middelburg/Zeeland untergekommen war, floh Hoburg 1673 vor Ludwigs XIV. zweitem Holländischen Krieg nach Altona – offenbar auf Vermittlung des dort als Mennonitenprediger wirkenden Separatisten Jacob Taube. Ihm folgte Hoburg als Prediger der kleinen hier geduldeten mennonitischen Dompelaer(Immergenten-)Sekte, der er bis zu seinem Tod diente, ohne ihre speziellen Glaubenssätze zu übernehmen. Hoburgs Werk und religionsgeschichtliche Bedeutung sind gut erforscht, die archivalischen Spuren seines unsteten Lebens dagegen erst ansatzweise ermittelt. So werden in den Biographien bis heute viele ungesicherte Informationen aus der von seinem Sohn verfaßten apologetischen, zudem nach dem Typus der Christus-Passion stilisierten Vita weitergetragen. Hoburg ist einer der schärfsten, sicher der frömmigkeitsgeschichtlich wirkungsreichste der durch das Erlebnis des Dreißigjährigen Kriegs geprägten spiritualistischen Kritiker kirchlicher und staatlicher Ordnung und ihrer theologischen Fundierung. Die Geschichte der Kirchen und Konfessionen begriff er als Geschichte des Verfalls; als einzig positives historisches Element galt ihm die Tradition der stets verfolgten Wahrheitszeugen. Anknüpfend an ältere oppositionelle Strömungen (Schwenckfeld, Weigel, Engelbrecht, Arndt, Böhme) lehrte er gegen den dogmatischen Intellektualismus der zeitgenössischen Theologie einen radikalen religiösen Subjektivismus, ein auf persönliches Erlebnis gegründetes Christentum und irenischen Indifferentismus gegenüber konfessionellen Sonderlehren. Der nachreformatorischen Scholastik, die er als Wort- und Wind-Theologie beschimpfte und deren Rechtfertigungs-
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und Sakramentenlehre er als Anreiz zur Sünde verwarf, stellte er die Forderung nach Kreuzesleben und via mystica entgegen. Mystik bedeutete ihm aber nicht quietistische Passivität und Gottesgenuß, sondern Niederringen des alten Adam durch das Martyrium täglicher Selbstund Weltverleugnung bis zu der im lebenslangen Bußkampf immer nur vorübergehend Ruhe spendenden unio-Erfahrung. Als Pazifist lehnte er wie alle kriegerischen Aktionen auch Glaubenskriege als Auswüchse verblendeter Mißachtung des christlichen Liebesgebots ab. Im Gegensatz zu anderen Mystikern war Hoburg ein energischer, moralisch engagierter Kritiker sozialer Mißstände, der in der Akzentuierung und wortgewaltigen Formulierung seiner eklektisch adaptierten Argumente durchaus eigenständig war. Die nachhaltige Breitenwirkung der durch ihn vermittelten Gedanken wurde durch den an seinem Werk entzündeten, heftig und in großer Breite geführten Grundsatzstreit, der die unangefochtene Autorität der Orthodoxie erschütterte, erheblich gefördert. Die Namen derer, die Schriften Hoburgs schätzten und verteidigten (bes. Joachim Betke, Friedrich Breckling, Johann Saubert, Christian Thomasius, Philipp Jacob Spener, Johann Henrich Reitz, Heinrich Ammersbach, Johann Wilhelm Petersen, Gottfried Arnold), kennzeichnen die Herausbildung einer gemeinsamen Front der Spiritualisten, arndianischen Reformtheologen, religiöse Toleranz fordernden Aufklärer, kirchlichen und separatistischen Pietisten gegen die Orthodoxie. Besonders wurde Hoburg zum geistigen Wegbereiter des Pietismus, dessen kirchlicher Flügel freilich seinem Individualismus eine Theologie der Gemeinschaft hinzufügte. Quellen: Lebens=Lauff / Meines lieben sehligen Vaters Christian Hoburgs […] von seinem Sohn Philip Hoburch. In: Drey geistreiche Tractätlein / Des sehl: Christian Hoburgs, Hamburg – Frankfurt 1677; selbständig mehrfach nachgedruckt (o.O. 1692, 4. Aufl. 1698). – Auszüge in pietistischen Sammelbiographien: Reitz: Historie Der Wiedergebohrnen. Neudruck (1982, L 2), Bd. 1, III. Teil [Offenbach], 1. Aufl. 1701, 5. Historie, S. 61–76, [Berleburg], 6. Aufl. 1740. – Christian Gerber : Historia derer Wiedergebohrnen in Sachsen, Dresden 1726, II. Teil, 12. Historie, S. 473–502; III. Teil, Vorrede. – Johann Arnold Kanne: Leben […] merkwürdiger […] Christen. 2. Teil, Bamberg – Leipzig 1817, S. 246–272. – Briefe (Hg. von Theodor Wotschke) in: Monatshefte für Rheinische Kirchengeschichte 27 (1933), S. 173–176. – Wolfenbütteler Konsistorialakten im Landeskirchlichen Archiv Braunschweig, Akten Herzog August 79/79 a [vgl. Kruse im „Jahrbuch“ 1971 (vgl. Literatur)]. – Gisbert Voetius: Politica Ecclesiastica, T. 3, Amsterdam 1676, S. 552, 575. – Johann Georg Bertram: Das Evangelische Lüneburg: Oder Reformations- Und Kirchen=Historie Der Alt=Berühmten Stadt Lüneburg, Braunschweig 1719, S. 229–234. Werke: Schriftenverzeichnis in: Johannes Moller : Cimbria literata sive Scriptorium Ducatus utriusque Slesvicensis et Holsatii […], Bd. 2, Kopenhagen 1744, S. 341–347; Ergänzt: Gröschel-Willberg (vgl. Literatur), S. 26–35 (Titelaufnahmen ungenau). Hervorzuheben: Hertz Wecker […], Braunschweig 1640 u. ö. – [Pseud.: Elias Praetorius]: Spiegel Der Misbräuche beym Predig=Ampt […], o.O. 1644. – [Pseud.:
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Bernhard Baumann]: Teutsch Evangelisches ärgerliches Christenthumb […], o.O. 1645 [recte: Frankfurt 1644]. – Theologia Mystica, Das ist; Verborgene KrafftTheologie der Alten […]. 3 Teile, Amsterdam 1655/56 [zahlr. Aufl.]. – Der unbekandte Christvs […], Amsterdam 1669 [zahlr. Aufl., z. B. Frankfurt – Leipzig 1701]. Literatur: Heinrich Heppe: Art. „Hoburg, Christian“. In: Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 12 (1880), S. 655 f. – Winfried Zeller : Art. „Hoburg, Christian“. In: Neue Deutsche Biographie, Bd. 9 (1972), S. 282 f. – Moller : Cimbria literata [vgl. Werke], S. 337–347. – Gottfried Arnold: Unpartheyische Kirchen= und Ketzer=Historie, 2. Teil, Frankfurt 1699, S. 441, 481; 3. Teil, ebd. 1700, S. 127–133; 4. Teil, ebd. 1700, S. 764. – Johann Adrian Bolten: Historische Kirchen=Nachrichten von der Stadt Altona […], Bd. 1, Altona 1790, S. 287, 316 f., 331–337. – Ernst Kochs: Das Kriegsproblem in der spiritualistischen Gesamtanschauung Christian Hoburgs. In: Zeitschrift für Kirchengeschichte 46, NF 9 (1928), S. 247–275. – de Jongh: Christian Hoburg. In: Biographisch Woordenboek van Protestantsche Godgeleerden in Nederland, Bd. 4, ’s-Gravenhage 1931, S. 49–51. – Mark von Nerling: Christian Hoburgs Streit mit den geistlichen Ministerien von Hamburg, Lübeck und Lüneburg, Diss. theol. [masch.] Kiel 1950. – Evamarie Gröschel-Willberg: Christian Hoburg und Joachim Betke. Ein Beitrag zur Vorgeschichte des deutschen Pietismus, Diss. phil. [masch.] Erlangen 1954. – Martin Schmidt: Wiedergeburt und neuer Mensch. Gesammelte Studien zur Geschichte des Pietismus, Witten 1969 (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus, Bd. 2), Hoburg-Aufsätze: S. 51–90, 91–111, 158–165. – Martin Kruse: Der mystische Spiritualist Christian Hoburg […] in Bornum […]. In: Jahrbuch der Gesellschaft für Niedersächsische Kirchengeschichte 69 (1971), S. 103–125. – Ders.: Speners Kritik am landesherrlichen Kirchenregiment und ihre Vorgeschichte, Witten 1971 (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus, Bd. 10), S. 141–173. Portr-t: Brustbild „Christianus Hohburgh – Theologus Mysticus“ in: Drey geistreiche Tractätlein 1677 (vgl. Quellen), verzerrender Nachstich bei den Einzelausgaben der Biographie (vgl. Hans Wolfgang Singer : Allgemeiner Bildniskatalog, Bd. 6, 1967 [Nachdruck der Ausg. 1932], Nr. 40009). — Zwei Kupferstiche in der SchleswigHolsteinischen Landesbibliothek.
„Reisset nieder ewer Inwendiges Babel / vnnd heuchelt nicht mit deroselben außwendig“ Christian Hoburg als Lektor in Lüneburg – Netzwerk und Schriften* [2012, L 48]
I. In der Kirchengeschichte Lüneburgs ist dem wohl unruhigsten, sprachgewaltigsten und literarisch produktivsten Theologen, der hier geboren wurde und aufgewachsen ist, der hier auch später wiederholt gewirkt und etliche für seine Wirkung maßgebliche Werke geschaffen hat, keine herausragende Rolle zuerkannt.1 Christian Hoburg ist in Lüneburg am 23. Juli 1607 als Sohn des Tuchmachers Jürgen Hoburg und seiner Frau Anna, geb. Dieden, geboren, hat hier eine armselige Kindheit verlebt. Der Vater starb schon in seinem siebten oder achten Lebensjahr, wenig später auch die Mutter. 13jährig hat er durch den Prediger, dem sie auf dem Totenbett die Sorge um seine Ausbildung ans Herz gelegt hat, erste Hauslehrerstellen vermittelt bekommen. Für den vorzeitig abgebrochenen Schulbesuch im Michaeliskloster und für seinen Unterhalt hat er durch Kurrende-Singen und Stundengeben selbst beitragen müssen. Unsere Kenntnis über diese frühen Jahre ist in seinem insgesamt karg dokumentierten Leben besonders lückenhaft, insofern alle Lebensbeschreibungen, die ihm die kirchengeschichtlich-biographischen Sammelwerke der pietistischen Tradition gewidmet haben,2 1699 Gottfried Arnolds Unparthey* Beitrag zur Jahrestagung der Gesellschaft für Niedersächsische Kirchengeschichte unter Leitung von Inge Mager und Hans Otte am 2. Juni 2012 im Haus der Kirche in Lüneburg. 1 Schon Johann Georg Bertram: Das Evangelische Lüneburg: Oder REFORMATIONS- Und Kirchen=Historie Der Alt=Berühmten Stadt Lüneburg, Braunschweig 1719, erwähnt Christian Hoburg S. 229–234 nur nebenbei im Kapitel über den Superintendenten Petrus Rhebinder, obwohl er Briefe von ihm zur Hand hat und einige Informationen bietet, die den späteren Arbeiten und Artikeln über Hoburg fremd geblieben sind. Bei der eher marginalen Wahrnehmung ist es auch später in den regionalen Kirchengeschichten geblieben. 2 Inwieweit Hoburg als direkter Vorläufer des Pietismus anzusprechen ist oder trotz der zahllosen Bezugnahmen Speners und der ihm folgenden Theologen eher als Exponent eines Seitenwegs zu der Hauptströmung, der von Arndt zum Pietismus führt, ist in der Forschung graduell umstritten. Der „Hoburg“-Artikel in der Neuausgabe der RGG exponiert eher das Trennende: „Der Spiritualismus H.s gilt in der gegenwärtigen Forschung nicht als Vorstufe zum Pietismus Ph. J. Speners.“ Wolfgang Sommer: Christian Hoburg. In: Religion in Geschichte und Gegenwart, 4., völlig neu bearbeitete Auflage. Bd. 3, Tübingen 2000, Sp. 1798 f., hier S. 1799. Dies versteht sich als Gegenschlag gegen die allzu direkten Ableitungen Spenerscher Forderungen von Hoburg in
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ische Kirchen= und Ketzer=Historie, 1701 Johann Henrich Reitz’ Historie Der Wiedergebohrnen,3 1726/27 Christian Gerbers Historia derer Wiedergebohrnen in Sachsen4 und am ausführlichsten erweitert und ausgeschmückt 1816 Johann Arnold Kannes Leben und aus dem Leben merkwürdiger und erweckter Christen,5 auf dem postumen Lebensbericht seines ältesten Sohnes Philipp von 1677 beruhen, Lebens=Lauff meines lieben sehligen Vaters Christian Hoburgs,6
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der vorangehenden Forschergeneration. In seinen theologischen Analysen von dessen erbaulichen Schriften hatte Martin Schmidt die zentrale Bedeutung der Wiedergeburt-Forderung (S. 62, 98 f., 159, 192) und zugleich Hoburgs psychagogisches Modell herausgearbeitet, das im Detail den sechs Staffeln des Wiedergeburtsprozesses vom Weltstand bis zur Fruitio Dei in Friedrich Eggelhoffs Titelkupfer zur Reitz’schen „Historie Der Wiedergebohrnen“ (seit ihrer 4. Auflage, 1716) entspricht (S. 63–90). Martin Schmidt: Wiedergeburt und neuer Mensch. Gesammelte Studien zur Geschichte des Pietismus, Witten 1969 (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus, Bd. 2), dort v. a. in den Aufsätzen „Christian Hoburgs Begriff der ,mystischen Theologie‘“, S. 5–90, „Die spiritualistische Kritik Christian Hoburgs an der lutherischen Abendmahlslehre und ihre orthodoxe Abwehr“, S. 90–111, „Speners Pia Desideria. Versuch einer theologischen Interpretation“, S. 129–168, insbes. S. 158–166, und „Speners Wiedergeburtslehre“, S. 169–194; Hoburg-Analogien dort namentlich S. 192 f. Die spezifische Abhängigkeit der Spenerschen „Pia Desideria“ von so verdächtiger Referenz ist unter Verweis auf die gemeinsame Abhängigkeit von Johann Arndt relativiert worden, insbes. von Johannes Wallmann: Pietismus-Studien (Gesammelte Aufsätze, Bd. II), Tübingen 2008, S. 14–19, 50–53, 84 f., 139, 173, sowie von Martin Brecht: Ausgewählte Aufsätze. Bd. 2: Pietismus, Stuttgart 1997 (insbes. S. 177–214: „Philipp Jakob Spener und das Wahre Christentum“). Vgl. ders.: Die deutschen Spiritualisten des 17. Jahrhunderts. In: Der Pietismus vom siebzehnten bis zum frühen achtzehnten Jahrhundert. Hg. von Martin Brecht, Göttingen 1993 (Geschichte des Pietismus, Bd. 1), S. 205–240, dort speziell zu Hoburg S. 223–228, und ferner ders.: Philipp Jakob Spener, sein Programm und dessen Auswirkungen, ebd., S. 278–389, insbes. S. 304, 319, 384. Dazu jüngst abermals Johannes Wallmann: Mutmaßungen über Locher oder Bericht über eine Reise in eine ferne Welt. In: Pietismus und Neuzeit 36 (2010), S. 265–279, hier S. 271 und 277, immerhin mit dem Resümee (S. 271): „im Gegensatz zu Brecht halte ich die Frage ,Spener und Hoburg‘ keineswegs für abgeschlossen.“ Dieser Auffassung kann ich mich anschließen, zumal da Brechts Einspruch gegen Schmidts detaillierte Analysen eher behauptend pauschal bleibt. Johann Henrich Reitz: „Historie von Christian Hoburg / gewesenem gottseel. Prediger.“ In: ders.: Historie Der Wiedergebohrnen. Neudruck (1982, L 2), Bd. 1, Teil III, o.O. [Offenbach] 1701, S. 61–76. Christian Gerber: „Die XII. Historie. Von eines frommen und sehr verfolgten Theologi sehr tröstlichem und sel. Abschiede“. In: ders.: Historia derer Wiedergebohrnen in Sachsen. Der Andere Theil, Dresden 1726, S. 473–502, vgl. S. 5; ebd., Dritter Theil, Dresden 1727, Vorrede, S. a8r–b1v. Vgl. die Besprechung von Hoburgs Schriften in: Sammlung Auserlesener Materien zum Bau des Reichs GOttes. Bd. 1, 3. Beitr., Frankfurt u. Leipzig 1732, S. 242–273. Zur orthodoxen Polemik gegen Reitz und Gerber (und besonders gegen ihre Aufnahme Hoburgs unter ihre „Wiedergeborenen“) durch den Lockwitzer Pastor Johann Friedrich Gaue: Hulderici Irenæi Pagi GERBERVS NOTATVS, 2 Bde., Leipzig 1730/31, vgl. Schrader: Literaturproduktion (1989, L 1), S. 331–334, 519, 523. Johann Arnold Kanne: Leben und aus dem Leben, II. Teil, Bamberg und Leipzig 1817, S. 246–272; seitenidentisch auch in dass.: „Zweite Ausgabe“, Leipzig: F.A. Brockhaus 1842. Zur gesamten Serie dieser Sammelbiographien aus Pietismus und Erweckungsbewegung, insbesondere auch zu Kanne mit seiner auf gründliche Rehabilitierung Hoburgs gerichteten Biographie vgl. Schrader: Kanonische neue Heilige (2013, L 51), im vorliegenden Band S. 675–683. Philip Hoburch: Lebens=Lauff / Meines lieben sehligen Vaters Christian Hoburgs. In: Drey
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der für die frühen Jahre nur die Erzählungen des Vaters zur Grundlage hatte. Die wissenschaftlichen Biographen haben diese Phase nicht durch zusätzliche Quellen spezifizieren oder korrigieren können. Unklar ist, wann Hoburg den Schulbesuch abgebrochen und seine Geburtsstadt verlassen hat, um als Präzeptor der Kinder des Zollangestellten Philipp Pfeiffer in Lauenburg auskömmlicher sein eigenes Brot zu verdienen.7 Nach Lüneburg jedenfalls ist er erst als 36-/37-jähriger in den Jahren 1643–45 zurückgekehrt, nachdem er sich schon 1642 im Namenszusatz auf dem Titelblatt seiner mit über 700 Seiten in vier Büchern weitaus umfangreichsten Schrift zur Ausbreitung der Lehren und Frömmigkeitsnormen Johann Arndts stolz als Lüneburger ausgewiesen hatte: Christian Hoheburgk / Luneburgens.: Praxis Arndiana, Das ist / Hertzens= Seufftzer / UBer die 4. Bücher Wahren Christenthumbs […] Bey jetziger Heuchel=Zeit hertzgründlich zu betrachten […]: Auff daß das falsche heuchel= schein= vnd spott=Christenthumb falle / vnd das wahre lebendige Hertzens=Christenthumb wider auffgehe, 1642.8 geistreiche Tractätlein / Des sehl: Christian Hoburgs, Hamburg u. Frankfurt: Philipp Hoburg und Henrich Betke 1677, mehrfach selbständig nachgedruckt: o.O. 1692, 4. Aufl. 1698, 6. Aufl. 1714. Ich zitiere im Folgenden auch aus dieser von der BSB München ins Netz gestellten Ausgabe: HISTORIA Und Lebens=Lauff des Seeligen Christian Hoburgs / Welcher Um seiner Schrifften halber vor einen Schwärmer ausgeschryen. Itzo zum Sechstenmahl / zum Druck befordert. – Im Jahr 1714. 7 Hier hat er die etwa gleichaltrige Tochter Maria des Zollamtsleiters Caspar Breuer kennengelernt, die er 1632 ohne jegliche materielle Basis für eine Familiengründung heiratet und mit der er acht Kinder hat. Vgl. meinen die biographischen Überlieferungen zusammenführenden und kritisch prüfenden Artikel, Schrader: Christian Hoburg (1979, L 59), im vorliegenden Band S. 347–351. Karl Kayser : Hannoversche Enthusiasten des siebzehnten Jahrhunderts. In: Zeitschrift der Gesellschaft für Niedersächsische Kirchengeschichte 10 (1905), zu Hoburg S. 45–51, hier S. 46, gibt dagegen fälschlich an, er habe die Tochter seines Hausherrn Pfeiffer geheiratet und sei dadurch „Schwager des nachmaligen Superintendenten Pfeiffer in Lübeck“ geworden. Dieser in den Jahresangaben wenig zuverlässige Aufsatz datiert den Beginn der Lauenburger Tätigkeit „um 1626“ (ebd.), also schon in Hoburgs 20. Lebensjahr. Die irrtümliche Angabe einer Schwagerschaft mit August Pfeiffer beruht offenbar auf einer Verwechslung bei Bertram: Das Evangelische Lüneburg (wie Anm. 1), S. 229 f., wo zwischen den Lüneburger Schulbesuch und die Lauenburger Zeit noch ein Schulaufenthalt im 17. Lebensjahr (also etwa 1623) in Uelzen vermeldet wird, für den Hoburg, um nicht erkannt zu werden, „bereits den erdichteten Nahmen Andr. Seuberlich“ angenommen habe, den er später auch als eines seiner Autor-Pseudonyme verwendet (ebd., S. 229). 8 Die jetzt zuverlässigste detaillierte Bibliographie der Hoburg-Schriften gibt (eröffnet mit einem knappen Biogramm) Gerhard Dünnhaupt: Personalbibliographien zu den Drucken des Barock. Zweite verb. u. wesentl. verm. Aufl. des Bibliographischen Handbuchs der Barockliteratur. Bd. 3, Stuttgart 1991 (Hiersemanns bibliographische Handbücher, Bd. 9,3), S. 2092–2111, dort zu den Ausgaben der „PRAXIS ARNDIANA“ S. 2094–2096. In der Vorrede zur (den Namenzusatz „Luneburgens.“ beibehaltenden) dritten Auflage, Frankfurt: Matthäus Merians Erben, 1662 betont Hoburg, die hier zur „Hertzens=Andacht“ mitgeteilten „hertzens=Seufftzerlein“ sollten zur Einsicht bringen, „wie hochnöthig dieser Methodus sey zu dieser letzten Heuchelzeit.“ (S. A 4v/ 5r).
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In diesen Lüneburger Jahren hat er als Korrektor im Sternschen Verlagshaus die publizistisch fruchtbarste Phase seiner insgesamt 68 Lebensjahre zugebracht, die meisten und umfänglichsten seiner Bücher erscheinen lassen oder ausgearbeitet, mit denen er recht geräuschvoll in die Kirchengeschichte eingetreten ist. Wegen der unduldsamen Schärfe seiner Kritik an Kirchen und Obrigkeit, am Verfallszustand der Sitten und einer als unchristlich gebrandmarkten Lebenspraxis, auch wegen seines in der Elendszeit des Dreißigjährigen Krieges unerbittlichen Pazifismus haben diese Schriften Epoche gemacht, heftige Debatten über seine Rechtgläubigkeit ausgelöst und für die spätere Theologie- und Frömmigkeitsgeschichte wie für die Literaturgeschichte des gesamten deutschen Sprachraums Bedeutung behalten. Noch ein drittes Mal schließlich ist Hoburg nach unsteten Jahren in wechselnden Zufluchten, zeitweise im Pfarrhaus des spiritualistisch wie auch pazifistisch gleichgesonnenen Joachim Betke in Linum/Havelland,9 wieder kurzzeitig nach Lüneburg zurückgekommen. Hier zeichnet der mittlerweile 42-jährige im März und April 1650 die Vor- und Nachreden zu dem Hauptwerk seiner mittleren Jahre, THEOLOGIA MYSTICA, Das ist; Verborgene KrafftTheologie der Alten, dreiteilig erschienen in Amsterdam 1655/56 (mit etlichen Nachauflagen bis 1730),10 ehe er mit seiner inzwischen zehnköpfigen Familie in die Niederlande auswandert, wo er zunächst im Gelderland eine rasch in Konflikte führende Position als Schlossprediger eines Landedelmanns gewinnt, dann als Pastor der calvinistisch-reformierten Gemeinde in Lathem/ Bahr bei Arnheim die fünfzehn ruhigsten Jahre seines wildbewegten Lebens hat. Auch in Lathem wieder der Radikalität seiner Bußforderungen und Lehren wegen suspendiert, ist er schließlich im zweiten Holländischen Krieg 1673 mit seinem Sohn Philipp, der den gänzlich Verarmten bei sich aufgenommen hatte, auf der Flucht vor den Truppen Ludwigs XIV. für sein Lebensende wieder in die Heimatregion zurückgekehrt, nach Altona, wo, auf dänischem Territorium und somit außerhalb des Reichsgebiets,11 die rigiden 9 Zu Betkes Biographie und zunehmend kirchenkritischem Werk, zu Hoburgs Aufenthalt bei ihm und zur gemeinsamen Arbeit an der unter Hoburgs Pseudonym Elias Prætorius herausgegebenen „APOLOGIA PRÆTORIANA Das ist: Spiegels der Mißbräuche beym heutigen Predig=ampt / Gründliche Verthedigung“, [Amsterdam] 1653 (und Titelauflage ebd. 1659 sowie aus restierenden Bögen ergänzter Teilneusatz 1678) vgl. Dünnhaupt: Personalbibliographien (wie Anm. 8), S. 2100, und Brecht: Die deutschen Spiritualisten (wie Anm. 2), S. 221–223, 226. 10 Zur „THEOLOGIA MYSTICA“ Dünnhaupt: Personalbibliographien (wie Anm. 8), S. 2101 f. 11 Der heterodoxe religiöse Kontext, in dem Hoburg in seinen letzten Jahren im zur dänischen Gesamtmonarchie gehörigen Altona, wie zuvor schon in Holland, also außerhalb der Reichweite der Konfessionenaufsicht des Heiligen Römischen Reichs, lebte, ist umrissen bei Stefan Winkle: Die heimlichen Spinozisten in Altona und der Spinozastreit, Hamburg 1988 (Beiträge zur Geschichte Hamburgs, Bd. 34), S. 10, 22, 99 f., 104. Vgl. dazu die sorgsam gearbeitete HoburgBiographie bei Johann Adrian Bolten: Historische Kirchen=Nachrichten von der Stadt Altona und deren verschiedenen Religions=Parteyen. Bd. 1, Altona 1790, S. 316 f., 331–337, zum Sektenwesen in Altona, besonders zur Immergentengemeinschaft und Hoburg, auch schon Ludolph Hinrich Schmid: Versuch einer historischen Beschreibung der an der Elbe gelegenen Stadt Altona, Altona u. Flensburg 1747, S. 208–212.
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deutschen Religionsgesetze mit ihrer konfessionellen Zulassung ausschließlich der Katholiken, Lutheraner und Reformierten nicht galten und er als Prediger der Täufergemeinde der Dompelaers (Immergenten) wirken konnte – ohne sich an deren spezielle Glaubenssätze binden zu müssen12 – und wo sein Sohn eine Druckerei, hauptsächlich für seine Werke, betrieb. Ob er von dort das nahe Lüneburg noch einmal wiedergesehen hat, ist nicht bekannt. Johann Arnold Kanne, der bekannte Sprachen- und Mythologieforscher der Romantik, ein Freund Jean Pauls und Gotthilf Heinrich Schuberts, satirischer Schriftsteller und nach seiner Umwendung zur neupietistischen Erweckung fruchtbarer Erbauungsautor,13 würdigt in seiner umfassenden, alle hagiographischen Vorgaben seiner Quellen nach dem Imitatio Christi-Modell noch zuspitzenden Biographie „Christian Hoburg“ als bekannten „Kirchenlehrer“.14 Als „Zeuge der Wahrheit“ habe er „eine segensvolle, aber mit Dornen besäete Laufbahn“15 auf sich genommen und damit zu denen gehört, „die, weil sie das Evangelium von Christo in uns rein und lauter verkündeten, von den Pharisäern und Bauchpfaffen ihrer Zeit angefeindet und verfolget worden sind“.16 Und er umreißt Hoburgs Theologie in ihrer Mittel- und Vermittlungsstellung zwischen dem durch Johann Arndt markierten ersten wirkungsreichen Aufbruch in der Epoche der Orthodoxie zu neuer undogmatischer Herzensfrömmigkeit einerseits und dem Pietismus andererseits, mit dem Arndts um Institutionen und Konfessionsabgrenzungen unbekümmerte Postulate zu zentralen Anliegen einer frömmigkeitlichen Massenbewegung im gesamten Protestantismus anwuchsen: „Er war in seiner Lehre ein treuer und eifriger Nachfolger des großen Arndts, in dessen letzte dreizehn Lebensjahre Hoburgs Kinder- und Knabenjahre fallen, und nach dem er auch eine ascetische Schrift Praxis Arndtiana benannt hat“: Ueberall mahnte Hoburg von der herrschenden Worttheologie, oder, wie er sie auch nannte, von der äußerlichen historischen Theologie ab und wies seine Zeitgenossen 12 Selbstverständlich ließ es sich die orthodoxe Polemik nicht nehmen, Hoburg täuferischer Irrlehren zu beschuldigen, vgl. [Johann Friedrich Corvinus]: Anabaptisticum et Enthusiasticum Pantheon Und Geistliches Rüst=Hausz Wider die Alten Quäcker und neuen Freigeister, o.O. 1702, S. 169 f.; Johann Jacob Lucius: Catalogus Bibliothecæ Publicæ Moeno-Francofurtensis, Frankfurt 1728, S. 162 und 271 f. – Wie stark immerhin täuferische Gruppen zentrale Argumente ihrer Ekklesiologie und spezifischen Frömmigkeitsnormen bei Hoburg präformiert fanden, zeigt neuerdings Marcus Meier: Die Schwarzenauer Neutäufer. Genese einer Gemeindebildung zwischen Pietismus und Täufertum, Göttingen 2008 (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus, Bd. 53), S. 95. 13 Vgl. den Artikel von Wilhelm Füssl: Johann Arnold Kanne. In: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon. Hg. von Traugott Bautz. Bd. 3, Herzberg 1992, Sp. 1017–1019, dazu Ricarda Huch: Die Romantik. Blütezeit, Ausbreitung und Verfall, Tübingen 1951 (Die Bücher der Neunzehn, Bd. 112), S. 485 f. sowie Schrader: Kanonische neue Heilige (2013, L 51), im vorliegenden Band S. 675–683. 14 Kanne: Leben und aus dem Leben. II. Teil (wie Anm. 5), S. 246. 15 Ebd., S. 269. 16 Ebd., S. 246.
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auf den lebendig sich am Innern offenbarenden Christum hin. Er zeigte und gieng jenen Weg, den alle wahren Christen gegangen sind, ohne daß sie immer gewußt haben, daß man ihn mit dem Namen des mystischen Wegs bezeichnet hat. Hoburg aber nannte ihn selbst auch so und betitelte eines seiner vorzüglichsten Bücher : Mystische Theologie. In der Vorrede zu demselben sagt er den schulgelehrten Theologen, die verborgene Weisheit Gottes werde allein den Unmündigen offenbart und bleibe denen, so auf dem Schulwege wandeln, ein recht verborgenes Manna. Wüßten sie das, so würden sie gern all ihre Schulweisheit verleugnen und den einfältigen Geheimniß= und Kraftweg der Kinder Gottes einschlagen, um von der Gnadenkraft des Geistes sich erleuchten zu lassen. Denn dann würden sie alles, was sie vorhin nur äußerlich in Worten und Verstandesbegriffen erkannt hätten, dem Wesen und der Kraft nach lebendiglich erkennen; das Wissen würde ihnen zu Wesen werden, und alles ihnen lauter selige Erfahrung, lauter Kraft, Geschmack und Befindung seyn.17
Tatsächlich gilt Hoburg heute, wie Johannes Wallmann in einer kirchengeschichtlichen Spezialstudie zeigt, als „Hauptrepräsentant“ des „linken, kirchenkritischen Flügels der Arndtschule“,18 seine Schriften werden nach 17 Ebd., S. 247. 18 Johannes Wallmann: Herzog August d.J. zu Braunschweig und Lüneburg als Gestalt der Kirchengeschichte. Unter besonderer Berücksichtigung seines Verhältnisses zu Johann Arndt. Erstdruck: Pietismus und Neuzeit 6 (1980), S. 9–32. Jetzt in ders.: Theologie und Frömmigkeit im Zeitalter des Barock. Gesammelte Aufsätze. [Bd. I], Tübingen 1995, S. 20–45, hier S. 40 (vgl. dazu die umfängliche Rezension von Wolfgang Sommer in: Pietismus und Neuzeit 23 [1997], S. 200–208, hier, zu Herzog August als „Schirmherr des ,Wahren Chistentums‘“, S. 201 f.). Wallmanns Kennzeichnung Hoburgs auch in ders.: Der Pietismus. In: Die Kirche in ihrer Geschichte. Ein Handbuch. Hg. von Bernd Moeller, Göttingen 1990 (Die Kirche in ihrer Geschichte, Bd. 4, Lfg. O,1), S. 22 f., unterscheidet sich nur terminologisch von der Charakterisierung durch Martin Schmidt und seine Forschergeneration als „Hauptvertreter der radikal kirchenkritischen mystischen Spiritualisten“: Artikel „Hoburg“ in: Die Religion in Geschichte und Gegenwart, 3. Aufl., Bd. 3, Tübingen 1959, Sp. 373 f. – Brecht: Die deutschen Spiritualisten (wie Anm. 2), S. 228 konstatiert: „In Hoburg hat die mit der Arndtschen Frömmigkeitsbewegung einhergehende Kirchenkritik ihren schärfsten Ausdruck gefunden.“ – Wie stark seine Wirkung in der Epoche des Pietismus war, zeigen nicht nur die (bis in die Schweiz) namentlich auch gegen ihn gerichteten Bücherverbote der Pietismus-Edikte, sondern auch seine starke Präsenz in den meisten dokumentierten pietistischen Bibliotheksnachlässen. Die Beispiele in meiner Auswertung solcher Rezeptionszeugnisse, Schrader : Literaturproduktion (1989, L 1), Register S. 620 unter „Hoburg“, ließen sich leicht vermehren. In seiner grundlegenden Monographie über die markant spiritualistischen Einflüsse auf die Anfänge des Pietismus in Zürich zeigt Kaspar Bütikofer : Der frühe Zürcher Pietismus (1689–1721). Der soziale Hintergrund und die Denk- und Lebenswelten im Spiegel der Bibliothek Johann Heinrich Lochers (1648–1718), Göttingen 2009 (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus, Bd. 54), in seinen Hoburg gewidmeten Abschnitten (S. 203–218, 564–566 und vgl. Reg.), wie bei einer behördlichen Inspektion des durch seine Konventikel Anstoß erregenden Kaufmanns Locher gleich neun umfängliche Hoburg-Bände konfisziert wurden, deren Ideengehalt dann gleich dem übrigen Locherschen Bücherbesitz ausführlich resümiert wird. Vgl. die kritischen Einlassungen zu diesen Referaten bei Wallmann: Mutmaßungen über Locher (wie Anm. 2), S. 271 und 277, speziell zu Hoburg S. 268–272.
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Wolfgang Sommers Charakterisierung im neuesten RGG-Artikel eingeschätzt „als Höhepunkt der kirchenkrit. Literatur im 17. Jh.“.19
II. Von den drei dokumentierten Lüneburg-Aufenthalten ist zweifellos der mittlere, in dem sich seine Theologie in all ihren asketisch-paränetischen, kirchen- und obrigkeitskritischen und kriegstheoretischen Facetten voll entfaltet, theologiegeschichtlich der bedeutendste – und auf diese Zeit, in der er als Korrektor im als Sprachrohr des Arndtschen Reformprogramms renommierten Verlag der Brüder Johann und Heinrich Stern engagiert war, möchte ich meinen Beitrag auch fokussieren. In der Lüneburger Kindheitsphase und in den anschließenden Jahren des mühsamen Sich-Durchkämpfens und der beständigen Konflikte mit den Kirchenbehörden haben sich aber tragende Grundlagen seiner lebenslang störrischen Unduldsamkeit, auch seiner heterodoxen Lehren präformiert.20 Nicht nur die gesellschaftliche Benachteiligung und Armut des auf Wohltaten und Freitische angewiesenen Waisenkinds und die tiefgreifenden Ordnungszusammenbrüche durch den beginnenden Dreißigjährigen Krieg sind da ausschlaggebende Faktoren; für erste Zweifel des sensiblen und hochbegabten Knaben an konfessionellen Abgrenzungen und veräußerlichtem Kirchenwesen muss schon sein Schulbesuch im St. Michaelskloster beigetragen haben, mit der er die Voraussetzungen für ein Studium angestrebt hatte, aber nicht erreichen konnte. Die herrschaftlich regierenden Äbte des vormaligen Benediktinerklosters hatten nach der Reformation Lüneburgs zunächst unter päpstlicher Obödienz am alten Glauben festzuhalten versucht. Das formelle Abschaffen des katholischen Ritus 1532, nachdem der Prior und viele Mönche heimlich zur lutherischen Lehre übergegangen waren, hatte aber am klösterlichen Leben nur wenig geändert. Nachdem der Konvent unter dem ersten lutherischen Abt Herbord von Holle 1548 beim Herzog in Celle wie beim Bremer Erzbischof die offizielle Wiedereinsetzung von Zönobium und Schule hatte durchsetzen 19 Sommer: Christian Hoburg (wie Anm. 2), Sp. 1799. 20 Auf den ausgeprägt bellizistischen Charakterzug dieses Pazifisten, die „Streitsucht“ des „Bußpropheten“, weist besonders Brecht: Die deutschen Spiritualisten (wie Anm. 2) hin. In Anspielung auf sein dem Porträt (S. 224) beigegebenes „Symbolum“ (Motto) „EINES ist Noth. Luc. 10“ konstatiert er: „Hoburg war allerdings nicht einfach zum hingegebenen Hörer zu Jesu Füßen geschaffen. Die Mystik war für ihn mit strenger ethischer Haltung und beständiger Gewissenserforschung verbunden […]. In seiner ständigen Strenge wirkt er eigentlich wenig erbaulich.“ (S. 226 f.) Dieser Gefahr war sich Hoburg offensichtlich selbst bewusst; in den Gebeten seiner „PRAXIS ARNDIANA“ (3. Aufl., 1662, S. 29, 33 f.) erfleht er wiederholt die Überwindung der bösen Begierde „zum Zancken / zur Ungerechtigkeit / Hoffart“, der „Rachgier des Herzens […] und Ehrgeitz“: „meinen Zorn durch deine Sanfftmuth dämpffe / meinen Hoffart durch deine Demuth überwinde“.
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können, blieb aber nicht nur in der traditionellen Ausrichtung des Klosters auf Unterricht und Musikpflege alles beim Alten, die Äbte behielten vielmehr auch den alten herrschaftlichen Prunk mit Pagen, Kammerknecht und Hofnarren bei. Noch bis in Hoburgs in 19 Auflagen bis 1740 ungemein verbreitetes spätestes Werk, Der unbekandte CHRISTUS,21 bleibt der Zorn über jegliche Kirchenpracht und deren Konfrontation mit dem Vorbild des weltlicher Herrlichkeit absagenden armen Jesus und seiner Passion ein Leitmotiv seiner Kritik. Die Mönche aber restituierten zeitweise bei aller äußerlich betonten protestantischen Rechtgläubigkeit sogar ihre Kutten und Tonsuren; noch weit jenseits der Schulzeit Hoburgs wurde 1626 der Zölibat ausdrücklich bestätigt, erst weitere zwanzig Jahre später stellte man ihn in Frage. Die Gegenüberstellung von Schein und Sein im kirchlichen Dienst, die gegenüber den Anforderungen der Nachfolge Christi vollkommene Bedeutungslosigkeit der in den Kirchen so hoch gehaltenen konfessionellen Abgrenzungen ist ein weiteres seiner Zentralmotive. Eine grundlegende Änderung im Michaeliskloster trat erst nach Kriegsende 1655 ein, als die Regierung in Celle die Aufhebung des Klosters und Überführung in eine Ritterakademie zur Ausbildung vorrangig des adligen Nachwuchses verfügte.22 An deren bürgerlichem Nebenzweig hat übrigens 1700–1702 der junge Johann Sebastian Bach wie gut achtzig Jahre zuvor Hoburg „als einfacher Mettensänger mit zwölf Groschen Wochenlohn“ im „Mettenchor […] aus ärmeren Kindern, die sich durch das Singen bei den Gottesdiensten, den Hochzeiten und den Beerdigungen etwas Geld verdienen“ konnten, seine Musiker- und Komponistenkarriere begonnen.23 21 Christian Hoburg: Der unbekandte CHRISTVS; Das ist / Gründlicher Beweiß Daß die heutige Christenheit in allen Secten / Den wahren CHRISTUM nicht recht kennen, Amsterdam 1669, mit den zahlreichen Neuauflagen nachgewiesen bei Dünnhaupt: Personalbibliographien (wie Anm. 8), S. 2107–2109. – Zur pietistischen Neuausgabe (12. Aufl.), Christian Hoburg: Der Unbekante Christus / Das ist / Gründlicher Beweiß / daß die heutige so genannte Christenheit in allen Secten / den wahren Christum nicht recht kennen / und derowegen in Lügen und nicht in Warheit sich nach ihm Christen nennen […]. Franckfurt und Leipzig / Zum Druck befördert von Christian Gottlieb / Anno 1701, die offenbar in der frühen radikalpietistischen Offenbacher Druckerei des Bonaventura de Launoy hergestellt worden ist, vgl. Schrader: Literaturproduktion (1989, L 1), S. 151 und 442. 22 All diese Fakten sind zusammen getragen aus der annalistisch-minutiösen Monographie des Arnold von Weyhe-Eimke: Die Aebte des Klosters St. Michaelis zu Lüneburg. Mit besonderer Beziehung auf die Geschichte des Klosters und der Ritterakademie, Celle 1862, vgl. S. 140–152, 156, 208–211, 217, 247, 257, 261. Auf der Wikipedia-Seite „Michaelisschule (Lüneburg)“ wird immerhin Christian Hoburg als vor Johann Sebastian Bach (an der neben der Ritterakademie als „Partikularschule“ fortbestehenden bürgerlichen Michaelis-Schule) bekanntester Schüler genannt, https://de.wikipedia.org/wiki/Michaelisschule_(Lüneburg) [Aufruf 08. 05. 2018]. 23 Zitiert nach Martin Schlu: Johann Sebastian Bach 1685–1750. Das Michaeliskloster in Lüneburg 1700–1702, http:www.martinschlu.de/kulturgeschichte/barock/spaetbarock/bach/1700.html [Aufruf 08. 05. 2018]; zusätzliche Informationen gibt die Darstellung von Peter Bach: http:www.bach.de/leben/lueneburg.html [Aufruf 08. 05. 2018]. – Bachs Lüneburger Jahre werden umspielt in der Musik-Novelle von Ulrike Längle: Bachs Biss. Eine Liebe in Lüneburg, Eggingen 2000.
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Neben der wenig idealchristlichen Kloster-Schulrealität, die vom protestantisch-rigiden Anspruch der Lehrer so markant abstach, wurde Hoburgs Opposition (aus Lüneburg überliefert ist, dass er sich schon als Sechzehnjähriger gern mit dem später auch als Pseudonym verwendeten Namen Andreas Seuberlich genannt hat)24 gegen Verlogenheiten und Übelstände zweifellos gesteigert durch die im Lüneburgischen gerade in der Kriegseingangsphase unter den Bedrückungen Tillys, Mansfelds und der Dänen (so wie später der Schweden) katastrophalen Verheerungen des großen Krieges. Die nämlich hat Hoburg von Anbeginn als Strafe Gottes für die Sünden der Menschen und für die Verfehlungen der Kirche interpretiert. In der Geschichte der Michaelis-Klosterschule heißt es: Im […] Jahre 1618 begann der für Deutschland so unglückliche dreißigjährige Krieg. Die Lüneburgischen Lande wurden durch ihn fast zur Wüste, ganze Dörfer verschwanden von der Erde und in Gegenden, wo früher der Pflug seine segensreichen Furchen gezogen hatte, lag in späteren Jahren nur ödes Heideland.25
Ein weiteres Trauma hat maßgeblich zu der spiritualistischen Fundierung seiner Theologie, zu seinem Eifern gegen alle akademische Gottesgelehrtheit und gegen die kirchlichen Institutionen beigetragen: der Sachverhalt nämlich, dass er die zu seiner Zeit längst für ein Pfarramt erforderte Berufsqualifikation eines universitären Theologiestudiums nicht besaß. Zwischen der dem Lüneburger Schulabgang folgende Phase des Lauenburger Gelderwerbs als Hauslehrer und seiner Heirat sowie dem Antritt einer Kantorstelle in Lauenburg, die traditionell mit seelsorglichen Nebenaufgaben wie Früh- und Wochenpredigten verbunden war, haben die Biographen, im Sinne des für sie Selbstverständlichen einen vagen Hinweis in der Lebensbeschreibung des Sohnes missdeutend, ein Studium an der Universität Königsberg angesetzt. Diese Angabe taucht explizit zuerst 1735 in der populären Kirchen=Historie von Johann Georg Heinsius und Ernst Stockmann auf: Hoburg, so heißt es da, „studierte zu Königsberg in Preussen, und ward hernach Cantor zu Lauenburg“.26 So ist es dann in die früheste, für die nachfolgende Forschung direkt oder vermittelt grundlegende wissenschaftliche Biographie übernommen worden, Johannes Mollers Cimbria literata, in der über Hoburgs Studien gesagt ist: „sumptus, qvibus destituebatur, Academico necessarios Lauenburgi privata […] informatione, sibi parabat. His instructus; Theologiæ in Academia aliqvamdiu vacavit Regiomontana, &, Lauenburgum inde reversus.“27 So wurde es dann immer wieder ungeprüft nachgesprochen.28 Genau besehen 24 Siehe zur Seuberlich-Selbstbezeichnung Anm. 7 und 35. 25 V. Weyhe-Eimke: Die Aebte (wie Anm. 22), S. 202 f. 26 Johann Georg Heinsius und Ernst Stockmann: Unpartheyische Kirchenhistorie Alten und Neuen Testaments. Bd. 2, Jena 1735, S. 429. 27 Johannes Moller : Cimbria literata sive Scriptorium Ducatus utriusque Slesvicensis et Holsatii […] historia literaria tripartita. Bd. 2, Kopenhagen 1744, S. 337–347, hier S. 337. 28 Eine chronologische Auswahl aus der Kette des Kolportierens dieser Angabe über ein ver-
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hatte Philipp Hoburg ein solches regelrechtes Königsberger Studium des Vaters aber gar nicht behauptet, sondern nur vermerkt, dass dieser beim Verlassen der Schule in Lüneburg „keine Mittel hatte nach der Universität zu reisen“, deshalb zum Geldverdienen nach Lauenburg gegangen war, nach einiger Zeit weiterziehen konnte nach Königsberg, von wo er nach Lauenburg zurückgekommen sei. Wohl gewollt unscharfe Wiedergaben in Gottfried Arnolds Kirchen= und Ketzer=Historie, wonach Hoburg sich an der Schule mit informiren und singen so lange durchbringen müssen, biß es auf die gewöhnliche art mit ihm zeit gewesen auf die universität zu ziehen. Weil er aber so blutarm gewesen, muste dieses unterbleiben und er davor eine præceptoratur zu Lauenburg bey dem Zolleinnehmer Philipp Pfeiffern bedienen. Nach etlichen Jahren begibt er sich nach Königsberg, studirt eine weile da, und wird darauf zu Lauenburg Cantor29
wurden dann ähnlich unbestimmt aufgegriffen etwa in Iselins Allgemeines Lexikon von 1726: Schon auf der Schule in Lüneburg, wird da gesagt, legte er nun auch die Fundamenta seiner studien; weil er aber keine mittel hatte, auf universitäten zu ziehen, wurde er nach Lauenburg zu einem zolleinnehmer als Informator recommendirt, bey welchem er sich so lang aufhielt, biß er so viel erworben, daß er seine reiß weiter fortsetzen konnte. Hierauf begab er sich nach Königsberg in meintliches Hoburg-Studium (fallweise ausgeschmückt mit frei gegriffenen Jahresangaben, ,für kurze Zeit‘ oder ,etliche Jahre‘, ,nicht allzu ausgedehnt‘, ,abgebrochen‘ usw.): Christian Gottlieb Jöcher: Allgemeines Gelehrten=Lexicon. Bd. 2, Leipzig 1750 (Nachdr. Hildesheim 1961), Sp. 1668; Bolten: Historische Kirchen=Nachrichten (wie Anm. 11), S. 331; Heinrich Heppe: Christian Hoburg. In: Allgemeine Deutsche Biographie. Bd. 12, Leipzig 1880 (Nachdr. Berlin 1969), S. 655; Albrecht Ritschl: Geschichte des Pietismus. Bd. 2: Der Pietismus in der lutherischen Kirche des 17. und 18. Jahrhunderts, Bonn 1884, Nachdr. Berlin 1966, S. 61; Kayser : Hannoversche Enthusiasten (wie Anm. 7), S. 46, van Schelven: Christiaan Hohburgh. In: Nieuw Nederlandsch Woordenboek. Hg. von P.C. Molhuysen, P.J. Blok und Fr.K.H. Kossmann. Bd. 6, Leiden 1924, Sp. 793; de Jongh: Christian Hoburg. In: Biographisch Woordenboek van Protestantsche Godgeleerden in Nederland. Under Redactie van J. P. de Bie en J. Loosjes. Bd. 4, ’sGravenhage 1931, S. 49; Christian Neff: Christian Hoburg. In: Mennonitisches Lexikon. Hg. von Christian Hege und Christian Neff. Bd. 2, Frankfurt am Main 1937, S. 319 f.; Mark von Nerling: Christian Hoburgs Streit mit den geistlichen Ministerien von Hamburg, Lübeck und Lüneburg. Ein Beitrag zur Auseinandersetzung zwischen Spiritualismus und Orthodoxie im 17. Jahrhundert, Diss. theol. [masch.] Kiel 1950, S. 11 f.; Evamarie Gröschel-Willberg: Christian Hoburg und Joachim Betke. Ein Beitrag zur Vorgeschichte des deutschen Pietismus, Diss. phil. [masch.] Erlangen 1954, S. 5; Christian Neff: Christian Hoburg. In: The Mennonite Encyclopedia. A Comprehensive Reference Work on the Anabaptist-Mennonite Movement. Bd. 2, Scottsdale 1956, S. 769; Schmidt: Christian Hoburg (wie Anm. 18), Sp. 373; Winfried Zeller : Christian Hoburg. In: Neue Deutsche Biographie. Bd. 9, Berlin 1972, S. 283; Peter C. Erb: Christian Hoburg und schwenckfeldische Wurzeln des Pietismus. Einige bisher unveröffentlichte Briefe. In: Jahrbuch für Schlesische Kirchengeschichte. N. F., Bd. 56 (1977), S. 92–126, hier S. 94; Bütikofer : Der frühe Zürcher Pietismus (wie Anm. 18), S. 203 (zu Beginn seiner Hoburg gewidmeten Abschnitte, S. 203–218, 564–566 und vgl. Reg.). 29 Gottfried Arnolds unpartheyische Kirchen= und Ketzer=Historie. Bd. 2, verb. Neuaufl. Schaffhausen 1741, S. 455.
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Preußen, und nachdem er sich eine zeitlang allda auffgehalten, kehrte er wieder nach Lauenburg, allwo er Cantor wurde30 –
bis aus dem Königsberg-Aufenthalt zum Studientreiben die Gewissheit einer ordentlichen Theologenausbildung geworden war. In einem Hoburg-Artikel für das Schleswig-Holsteinische Biographische Wörterbuch habe ich 1979 diesen Forschungstopos in Frage gestellt,31 worin die gesamte jüngere Literatur gefolgt ist.32 In der für die fragliche Zeit lückenlos überlieferten Königsberger Matrikel33 taucht Hoburg nicht auf, auch fehlen in seiner Biographie schlicht die Jahre für ein ordnungsgemäßes Studium – und seine kurzzeitig-kargen Hauslehrereinkünfte könnten ein solches auch kaum finanziert haben. Gleichgültig, ob er es aufs Geratewohl hatte versuchen wollen und vor der Realität schnell zurückgeschreckt war oder seinen Fuß gar nicht erst in ein Kolleg gesetzt hat, trotzig hat er später die Überlegenheit seiner Herzenseingebung vor allem betont, was man an Hochschulen lernen konnte: Ich habe es niemandem als meinem Gott zudancken, der im Lesen seiner Schrifften mein Hertze gerühret, und mich das sehen lassen das ich in dreissig Jahren auf keiner Academie, von keinem Doctor gesehen noch gehöret. Christum liebhaben ist besser den alles / alle Artickel der Religion aller Partheyen / wissen.34
Zurück in Lauenburg jedenfalls ist er an die seinen Erfahrungen so viel gemäßeren, auf Lebensheiligung und mystische Verinnerlichung drängenden Schriften des vormaligen Lüneburger Landessuperintendenten Johann Arndt geraten und dann auch an noch radikaler spiritualistische Traktate des kirchlich weit ärger beargwöhnten Linksabweichlers der lutherischen Reformation, Caspar von Schwenckfeld. Dass er deren Ideen in der mit seinem Kantoramt verbundenen Seelsorge propagierte, führte in Lauenburg 1632 schon bald zu Aufsichtsverfahren gegen ihn und schließlicher Entlassung. Und dasselbe widerfuhr ihm dann wiederum 1640 oder wenig später in Uelzen, wo er nach einem kurzfristigem Versuch, sich nach dem Lauenburger Hinauswurf 30 Jacob Christoff Iselin: Neu=Vermehrtes Historisch= und Geographisches LEXIKON. Bd. 2, Basel 1726, S. 806. 31 Schrader: Christian Hoburg (1979, L 59), im vorliegenden Band S. 347. 32 Vgl. etwa Dünnhaupt: Personalbibliographien (wie Anm. 8), S. 2092 f., Brecht: Die deutschen Spiritualisten (wie Anm. 2), S. 223, 238 und Sommer: Christian Hoburg (wie Anm. 2), Sp. 1799. 33 Die Matrikel der Albertus-Universität zu Königsberg i. Pr. Hg. von Georg Erler. Bd. 1, Leipzig 1910. 34 In den Briefen an einen ungenannten „Freund und Bruder“, datiert 1667 (nach Vermutung des Herausgebers recte: 1669) und an Martin John 1675 bei Erb: Christian Hoburg (wie Anm. 28), S. 111 und 123. Einen entsprechenden Ausfall gegen die verdorbene akademische Theologenausbildung „nach dem Stylo der Welt“ gibt es auch in Hoburgs Kriegsbuch von 1644. Die jungen Theologen kämen nach einer einseitigen Verstandesausbildung ohne den für ihren Auftrag erforderten inneren Zustand „aus den Academien oder vielmehr Kakodämonien mit ihren Säwund Weltleben.“ Ernst Kochs: Das Kriegsproblem in der spiritualistischen Gesamtanschauung Christian Hoburgs. In: Zeitschrift für Kirchengeschichte 46, NF 9 (1928), S. 247–275, hier S. 263.
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unter falschem Namen als Lehrer in Gifhorn durchzuschlagen,35 neuerlich zu einem mit Hilfsprediger-Aufgaben verbundenen Konrektoramt gelangt war, das eine auskömmliche Versorgung für die wachsende Familie gewährte. Unmittelbarer Anlass der abermaligen Verjagung aus Uelzen war neben einem Verfahren gegen schwenckfeldisch-arndtianische Heterodoxien in seinen mystischen Gebetbüchern Hertz Wecker und Praxis Davidica (beide Braunschweig: Cramm 1640)36 Hoburgs Weigerung, in seinen Gottesdiensten, „die er nicht mehr nach der erlernten Kunst / sondern einfaltig nach der Göttlichen Warheit / einrichtete“,37 ein ihm vom Konsistorium verbotenes Gemeindegebet aufzugeben, das die Verfehlungen der Menschen für den Großen Krieg verantwortlich machte. Bemerkenswert ist als vielleicht nicht unerhebliche Basis der Analogien ihrer theologischen Ausrichtung, dass auch Hoburgs Lehrmeister Arndt, wie Hans Schneider nachgewiesen hat, „nie ein reguläres Theologiestudium absolviert hat“, was schon zu seiner Zeit apologetische Konstruktionen erfordert hatte: Arndt hatte immerhin zwei Jahre lang in Helmstedt ein HumanioraGrundstudium durchlaufen und später in Basel die für seine Übermittlung pansophischer Ideen an die jüngere Frömmigkeitsgeschichte grundlegende paracelsische Medizin studiert.38
35 Die sonst unbekannte Zeit des Untertauchens nach den Lauenburger Konfrontationen mit der Kirchenbehörde im Jahr 1632 als „Ludimoderator“ in Gifhorn am Südrand der Lüneburger Heide wird nur berichtet von Bertram: Das Evangelische Lüneburg (wie Anm. 1), S. 229 f. Dort habe Hoburg, um vor den wachsamen Augen des mit den Verhältnissen in Uelzen wohlvertrauten Superintendenten Henrich Kregel unerkannt zu bleiben, auf seinen „schon im 17. Jahre“ (also sechzehnjährig) geführten Decknamen Andreas Seuberlich (s. o., Anm. 7) zurückgegriffen, unter dem er 1646 auch seinen Traktat Andreas Seuberlich: Heymischer Prüfung Vortrab (s. u., Anm. 55) publiziert hat. Die überhaupt mit gegriffenen Daten aufwartende Studie von Kayser : Hannoversche Enthusiasten (wie Anm. 7), S. 134 datiert den „Schuldienst in Gifhorn“ (einfach die 17 Jahr-Angabe des überlieferten Schüler-Spitznamens als „Andreas Seuberlich“ zum Geburtsdatum hinzurechnend) ganz unplausibel auf 1624. – Vgl. Schrader: Christian Hoburg (1979, L 59), im vorliegenden Band S. 347 f. 36 Christian Hoburg: Hertz Wecker / welcher 1. Voll Hertzenssaffts und Hertzenseuffzer das Hertz des Menschen aus dem Schlaff der Sicherheit in dieser Zornzeit zu erwecken. 2. Morgens / Abends / Beicht= und Communion= […] Gebetlein […] einfältig gestellet, Braunschweig 1640 sowie ders.: Praxis Davidica. Das ist Davids Christenthum und Seelenübung. Zum Hertz Wecker gehörig, Braunschweig 1640. Vgl. Dünnhaupt: Personalbibliographien (wie Anm. 8), S. 2093 f., Brecht: Die deutschen Spiritualisten (wie Anm. 2), S. 223 f. 37 Reitz: „Historie von Christian Hoburg“ (wie Anm. 3), S. 64. 38 Hans Schneider: Johann Arndts Studienzeit [und:] Noch einmal: Johann Arndts Studienzeit. In: Ders.: Der fremde Arndt. Studien zu Leben, Werk und Wirkung Johann Arndts (1555–1621), Göttingen 2006 (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus, Bd. 48), S. 83–134, hier S. 124, vgl. S. 115 und 133. Ebd., S. 135–155, auch ders.: Johann Arndt als Paracelsist.
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III. Nach allen diesen Wirrungen und noch einer Zwischenstation wiederum als Hauslehrer im Hamburger Stadtkommandantenhaus39 kam dann spätestens 1643 das erneut als Rettung in auswegloser Situation empfundene Angebot, in seine Vaterstadt Lüneburg zurückzukommen und die schon erwähnte Arbeit am Stern-Verlag anzutreten. Der Sohn schreibt über diesen zweiten LüneburgAufenthalt: Und wie sichs denn gefüget / daß der Commendant nicht länger in Hamburg bleiben können / als hat der sel. Vater sich um eine andere Gelegenheit umsehen müssen / da er dann hin nach Lüneburg / zu der Herren Sternen Druckerey ist beruffen worden für einen Corrector ; daselbst er auch in währender Zeit nebst seinen andern schweren Geschäfften noch diese folgende Bücher geschrieben / als Heimischer Prüfung Vortrab / unter dem Namen Andreas Seuberlich / wider des Heimii Buch / genannt Vinculum gratiæ; wie auch sein Büchlein vom teutschen Kriege / sein Teutsches Evangelisches Judenthum / seine zweyte Praxis Davidica / über den 86. 73. 63. und 32. Psalm / wie auch ein Tractätlein / genannt: Fürstlicher Jugend=Spiegel. Nachdem aber so viel Schriften von ihme herausgekommen / hat der Satan nicht ruhen können / sondern immer mehr Verfolgung wider ihm erwecket / indem unterschiedliche hohe Schrifftgelehrten und Pharisäer von vielen Orten an die Herren Sternen geschrieben / sie sollten sich des Manns entschlagen.40
Über diese Lüneburger Jahre von spätestens 1643 bis Anfang 1645, als der Herzog August von Braunschweig-Wolfenbüttel, der bekannte Büchersammler und Bibliotheksgründer, Christian Hoburg aus seiner Korrektorstelle im Sternschen Verlagshaus in einem Akt eindeutiger Protektion und unter der seine fehlende Ausbildungsqualifikation ebenso wie sein seitheriges Ärgernisstiften verschleiernden Behauptung, es handle sich um den „dabevor gewesenen Pastoren zu Johanwart in Nieder=Sachßen“ (einen fiktiven Ort, den keine Landkarte verzeichnet),41 in sein Land berief und überstürzt in die 39 Philipp Hoburg und die anknüpfenden Erbauungsbiographen nennen den Stadtkommandanten „Baron von Quixhausen“, Kanne: Leben und aus dem Leben (wie Anm. 5), S. 256, „Freiherrn von Quiexhausen“, Angaben, die sich nicht verifizieren ließen. Die als dort entstanden benannten, z. T. pseudonym publizierten Bücher, „seine Praxis Arndtiana, seine Medulla Tauleri des ärgerlichen Christenthums, und seinen Spiegel der Misbräuche beim Predigtamt im heutigen Christenthum“ dürfte er aber teilweise schon in der Lüneburger Zeit ausgearbeitet, jedenfalls aber zum Druck gebracht haben. 40 [Philipp Hoburg]: HISTORIA Und Lebens=Lauff (wie Anm. 6), S. 11. – Zur genannten, unter dem Namen Andreas Seuberlich verfassten Streitschrift „Heymischer Prüfung Vortrab“ vgl. unten, Anm. 55. 41 Dazu, mit höchst plausiblen Schlussfolgerungen, Martin Kruse: Der mystische Spiritualist Christian Hoburg (1607–1675) als lutherischer Pfarrer in Bornum bei Königslutter. Ein Beitrag zu seiner Biographie. In: Jahrbuch der Gesellschaft für Niedersächsische Kirchengeschichte 69 (1971), S. 103–125, hier S. 115 f. – In diesem Aufsatz wird Philipp Hoburgs ausführlicher Bericht
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Pfarre Bornum bei Königslutter einweisen ließ, gibt es weit tragfähigere Informationen als für die vorangegangenen Jahre. Das in allen Schritten durch die persönlichen Anordnungen des Herzogs kontrollierte Berufungsverfahren und Hoburgs Wirken in Bornum, bis der Herzog ihn und seine zehnköpfige Familie gegen die Klagen des ortszuständigen adligen Pfarrpatrons und der Bauern wegen seiner in politische und militärische Übergriffe führenden scharfen Predigten bei neuerlichem Truppeneinfall und angesichts eines drohenden „Pfaffenkriegs“ nicht mehr halten konnte und schließlich 1648 absetzen und vertreiben lassen musste, ist schon 1971 von Martin Kruse durch Publikation der Konsistorialakten und eine brillante Rekonstruktion der Ereignisse erhellt worden. Über das Sternsche Verlagshaus und über dessen besondere Rolle in der Propagation der Schriften Johann Arndts und seiner Schüler, auch über dessen Hilfestellungen im Aufstieg des Herzogs August und beim Ausbau seiner Bibliothek, hat Hans Dumrese schon 1956 eine grundlegende, auf das Verlagsarchiv und den „Briefwechsel zwischen Herzog August und den Sternen aus den Jahren 1627 bis 1666“ fundierte Monographie vorgelegt.42 Und über Augusts Religionspolitik gibt es reiche neue Einsicht namentlich durch Studien von Jörg Jochen Müller-Berns, Johannes Wallmann und Jean-Luc Le Cam.43 Ich selbst habe für einen Vortrag in der HerzogAugust-Bibliothek die Kontexte für Hoburgs Wirken in diesen an den zweiten
über die Berufung seines Vaters ins Herzogtum Wolfenbüttel und über die Bornumer Jahre S. 107–110 in extenso abgedruckt. Vgl. die Besprechung von Kruses Forschungsertrag durch Walther Rustmeier in: Schriften des Vereins für Schleswig-Holsteinische Kirchengeschichte. II. Reihe, Bd. 29, Flensburg 1973, S. 85. Die wichtigen Jahre von Hoburgs Wirken in Bornum unter dem Schutz des Herzog August fehlen erstaunlicherweise im Biogramm von Dünnhaupt: Personalbibliographien (wie Anm. 8), S. 2092. 42 Hans Dumrese: Der Sternverlag im 17. und 18. Jahrhundert (= Hans Dumrese und Friedrich Carl Schilling: Lüneburg und die Offizin der Sterne. Teil I), Lüneburg 1956, S. 1–132, Zitat aus dem Quellen- und Literaturnachweis, S. 131 (Detailnachweise S. 125–129), vgl. S. 20. 43 Jörg Jochen Müller [später: Berns]: Wolfenbüttel in der Barockliteratur – Barockliteraten in Wolfenbüttel. In: Beiträge zur Geschichte der Stadt Wolfenbüttel. Hg. von J[oseph] König, Wolfenbüttel 1970, S. 74–92; ders.: Fürstenerziehung im 17. Jahrhundert. Am Beispiel Herzog Anton Ulrichs von Braunschweig und Lüneburg. In: Stadt – Schule – Universität – Buchwesen und die deutsche Literatur im 17. Jahrhundert [Barock-Symposion 1974]. Hg. von Albrecht Schöne, München 1976, S. 243–260; ders.: Einleitung [zum Katalogteil „Herzog August – Frömmigkeit und kirchliche Tradition“] im Katalog der Niedersächsischen Landesausstellung 1979: Sammler Fürst Gelehrter. Herzog August zu Braunschweig und Lüneburg 1579–1666 [Konzeption Paul Raabe / Maria von Katte, Redaktion Paul Raabe / Eckhard Schinkel], Wolfenbüttel 1979 (Ausstellungskataloge der Herzog August Bibliothek, Bd. 27), S. 343–353; ders.: Herzog August und die Frömmigkeit, ebd., S. 364–378; Wallmann: Herzog August (wie Anm. 18); Jean-Luc Le Cam: La politique scolaire d’August Le Jeune de Brunswick-Wolfenbüttel et l’inspecteur Christoph Schrader 1635–1666/80. Mit Deutscher Zusammenfassung. Postface de Jean Meyer. Tome I, vol. 1–2, Wiesbaden 1996 (= Le Cam: Politique, contrile et r8alit8 scolaire en Allemagne au sortir de la guerre de Trente Ans. Tome I,1 und I,2, Wolfenbütteler Forschungen, Bd. 66).
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Lüneburger Aufenthalt anschließenden Jahren im Wolfenbüttelschen rekonstruiert,44 kann hier darauf zurückgreifen. Der aus einem Buchbindergeschäft 1587 zum Verlagshaus erwachsene Stern-Verlag, der dem durch seinen Hertz Wecker öffentlich als theologisch kenntnisreichen getreuen Arndtianer bekannt gewordenen und in Verfolgung geratenen Hoburg eine Anstellung gewährte, war unter der Leitung Johann Sterns d.J. (seit 1614) und seines zehn Jahre jüngeren Bruders Heinrich Stern (Kompagnon seit 1618) „in erster Linie Bibelverlag, womit sich dann die Pflege der religiösen und im weiteren Sinne der belehrenden und erziehenden Volksliteratur zwanglos verband“.45 Eine Verlagsverbindung mit dem greisen Landessuperintendenten Johann Arndt bestand spätestens seit 1620, als dieser zur bei den „Sternen“ („Stellae Lunaeburgenses“) gedruckten Foliobibel eine Vorrede beisteuerte. Im selben Jahr wurden auch Arndts Vier Bücher vom wahren Christenthum, deren erstes Buch bereits 1606 zweimal in Braunschweig erschienen war, in den Stern-Verlag übernommen und hier neu aufgelegt. Nach Arndts Tod 1621 wurde das Unternehmen nicht nur der Stammverlag seiner Schriften, sondern auch der Arndt-Schule. Dies gab die Grundlage für die unvergleichliche Wirkungsbreite der Bücher vom Wahren Christentum – und in der Folge für die kirchengeschichtliche Kanonisierung des orthodoxerseits immer beargwöhnten Vordenkers der gut zwei Generationen später zur Massenbewegung anwachsenden pietistischen Frömmigkeitsreform. In dieser Wirksamkeit aber, im Einsatz für die angefeindeten Propagatoren der Arndtschen mystischen Verinnerlichung, Herzenstheologie und Institutionenkritik, sowie in vielfältiger mutueller Hilfeleistung bei allen nur denkbaren weltlichen wie religionspolitischen Belangen gab es ein fast lebenslanges, kaum enger vorzustellendes Zusammenwirken zwischen dem Verlag und dem Herzog August. Der hatte schon als junger Prinz in Hitzacker seit 1604/05 seine Bücher beim Vater der Stern-Gebrüder binden lassen. 1621 hatte der Prinz dann anonym sein erstes Buch (wie später viele andere) bei ihnen publiziert und sich dafür ebenfalls eine Vorrede Arndts erwirkt: Reformatio Papatus iuxta Confessionem Augustanam cum præfatione Ioannis Arndten. Schon in den frühen Jahren in Hitzacker nämlich war der junge Prinz mit dem seit 1611 in Celle wirkenden Arndt in persönlichen und korrespondenzlichen Kontakt, womöglich gar in Freundschaft gekommen: Arndo fuisset familiarissimus.46 Als lokale Verwaltungsbeauftragte und politische Berichterstatter des Herzogs haben die Brüder Stern seit 1634 gegen alle Widerstände dessen 44 Erst 2015 erschienen, Schrader : „Misbräuche“, „ärgerliches Christentumb“ (2015, L 54), im vorliegenden Band S. 381–417. Vgl. den Pressebericht von Marion Kanther : Pfarrerschaft im Herzogtum aufgemischt. Vortrag über den Werdegang von Christian Hoburg. In: Braunschweiger Zeitung, 29. August 2008, S. 37 (nach einer Ankündigung ebd. 25. August 2008, S. 46: „Pietismus-Vortrag in der Bibliothek“). 45 Dumrese: Der Sternverlag (wie Anm. 42), S. 16, vgl. S. 5, 9, 12, 15. 46 Wallmann: Herzog August (wie Anm. 18), S. 32 f., 35 und 44 f.
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Erbfolge und Regierungsantritt in einem kriegszerstörten und auch noch besetzten Territorium, seine Übersiedlung 1624 von Hitzacker zunächst nach Braunschweig und dann nach dem Abzug der fremden Truppen nach Wolfenbüttel begleitet und schließlich auch 1636 den Umzug seines Lieblingsinstruments, der Bibliothek, unter deren Zulieferagenten sie von Anfang an mit tätig gewesen waren, organisiert und diese dadurch vor der Schweden-Plünderung des Schlosses Hitzacker gerettet. Dafür hatte sich der Fürst stets großzügig erkenntlich erwiesen, nicht nur durch die Vermittlung der Publikationen ihm befreundeter oder korrespondenzlich verbundener frommer Gelehrter wie Johann Valentin Andreae, schon gar seiner Hofprediger Heinrich Varenius und Melchior Breler47 an den Verlag und durch Finanzbeihilfen für den Druck ihrer Werke. 1645 hatte er persönlich bei Kaiser Ferdinand III. ein Verlagsprivileg und die Adelserhebung der seit 1636 schon in Lüneburg als Bürgermeister amtierenden Sterne erwirkt.48 Im Einsatz für um ihrer Lehren willen Verfolgte der eigenen Couleur (der Herzog widmete die frühen Morgenstunden stets der Bibelarbeit, woraus eine eigene Bibelversion resultierte)49 gab es ebenso enge Wechselverbindung: 1649 haben die Sterne dem Herzog sogar den am Schweriner Hof in Ungnade gefallenen bekannten Reformtheologen Joachim Lütkemann zum neuen Generalsuperintendenten vermittelt, nachdem sie sorgsam seinen Leumund und seine Verträglichkeit sondiert hatten („Seine meiste Verfolgung kompt daher, daß Er nach Gottes Wort prediget, vnd zu zeiten vielen die warheit saget“), um eine Enttäuschung und kirchenpolitische Ärgernisse wie zuvor im Falle Hoburgs nach Möglichkeit zu vermeiden.50 Bei solcher Intensität des Kooperierens und der Vertrautheit kann über47 Hierzu Dumrese: Der Sternverlag (wie Anm. 42), S. 30, dazu Martin Brecht: J.V. Andreae und Herzog August zu Braunschweig-Lüneburg. Ihr Briefwechsel und ihr Umfeld, Stuttgart-Bad Cannstatt 2002 (Clavis Philosophiae, Bd. 8), vgl. S. 26, 66 f., 77, 224, 227–229, 243 und 245 f. 48 Dumrese: Der Sternverlag (wie Anm. 42), S. 11, 13, 19 f., 36, 39 f. 61. 49 Zu dieser aufgrund kirchenpolitischer Bedenken unpubliziert gebliebenen Bibelarbeit des Herzogs und zu der danach auf seine Weisung hin vom Helmstedter Professor Johann Saubert d.J. begonnenen und in der Wolfenbütteler Filiale des Stern-Verlags teilpublizierten Neuübersetzung des Alten Testaments (bis 1 Sam. 17) findet man genauere Informationen im Katalog: Sammler Fürst Gelehrter (wie Anm. 43), außer S. 195/197 (Nr. 395) S. 202–204, S. 202–204, Nr. 410–416 und 419); Heimo Reinitzer : Biblia deutsch. Luthers Bibelübersetzung und ihre Tradition, Wolfenbüttel 1983 (Ausstellungskataloge der Herzog August Bibliothek, Bd. 40), S. 280–285 (Nr. 176, 178–180); ein Blatt des Handexemplars mit den herzoglichen Bearbeitungsannotationen ist auch faksimiliert S. 282 (zu Nr. 280). Die Revision des frommen Wolfenbütteler Fürsten wird von Wolfgang Sommer: Johann Heinrich Hedinger als Hofprediger in Stuttgart. In: Beiträge zur Geschichte des württembergischen Pietismus. In: Pietismus und Neuzeit 24 (1998), S. 160–185, hier S. 182, als erster Realisierungsversuch des Wagnisses gewürdigt, die bislang sakrosankte Luther-Bibel einer gründlicheren Revision zu unterziehen. Vgl. im Kontext der Bemühungen um eine Revision der Luther-Bibel und Neuübersetzung der Heiligen Schrift im 17. und 18. Jahrhundert auch Schrader: „red=arten u[nd] worte behalten“ (2014, L 53), im vorliegenden Band S. 318 f. 50 Dumrese: Der Sternverlag (wie Anm. 42), S. 60 f., vgl. S. 126.
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haupt kein Zweifel bestehen, dass der Herzog sehr genau wusste, über wen er da schützend die Hand hielt, als er den am Ende im Losbrennen einer Streitschriften-Fehde über seine Pseudonym-Publikationen in der Lüneburger Verlagstätigkeit unhaltbar gewordenen Hoburg unter falschen Angaben über sein Vorleben in eine entlegene Pfarrei seines Landes einwies – „Auf recommendation der Sterne zu Lüneburg“, wie es im Konsistorialprotokoll vom 28. November 1644 hieß.51 Lediglich auf größere Mäßigung, sei es auch nur aus Dankbarkeit oder in Rücksicht auf eine gesicherte Versorgung seiner Familie, wird er gerechnet haben, als er Hoburg als einen Arndtianer berief, der in Verfolgung geraten war, für den ja auch, wie später für Lütkemann, verbürgt war, dass er „nach Gottes Wort prediget, vnd zu zeiten vielen die warheit saget“. Dass vor Hoburgs heiligem Zorn Menschenrücksichten aber nicht gelten durften, das können selbst seine pietistischen Hagiographien nicht verhehlen. So heißt es 1732 in der Sammlung Auserlesener Materien zum Bau des Reichs GOttes: „Hoburg war ein Mensch wie du und ich, und mithin nicht gantz ohne Fehler und Gebrechen. Iedoch war er ein frommer Mann“.52
IV. Ich habe hier vom Beginn der Lüneburger Tätigkeit schon auf ihr Ende ausgeblickt, weil ich es für sehr wahrscheinlich halte, dass Herzog August bereits bei der Vermittlung des in Hamburg stellungslos gewordenen Hauslehrers an die Lüneburger Freunde im Sternen-Haus sein gutes Wort mit eingelegt hat. Schließlich war Hoburgs besonders eng auf Johann Arndt bezogener Hertz Wecker 1640 unter seinen Augen in Braunschweig erschienen und die Uelzener 51 Kruse: Der mystische Spiritualist (wie Anm. 41), S. 114. Vgl. zur eigenwilligen, durchaus nicht am juste milieu der konfessionellen Rechtgläubigkeit orientierten Berufungspolitik des Herzogs August, Berns: Einleitung (wie Anm. 43), S. 350. 52 Sammlung Auserlesener Materien. Bd. I, 3 (wie Anm. 4), S. 267–270, hier S. 268. Der empfehlenden Besprechung einer Sammlung Hoburgscher Traktate („Dreyfaches theologisches Kleeblat“, Nürnberg u. Leipzig 1730, vgl. Dünnhaupt: Personalbibliographien, wie Anm. 8, S. 2111) folgt diese Mahnung, sich nicht durch die geläufigen dogmatischen Verdächtigungen des Mannes von einem vorurteilslosen Studium seiner Schriften abhalten zu lassen. Hoburgs jegliche Konzilianz vermissen lassende Grundsatz-Schroffheit zeigt sich sogar im brieflichen Urteil über seinen Sohn Philipp, dem er doch im Alter alle Fürsorge um Lebenserhalt und Wirkungssicherung zu verdanken hatte: Im Schreiben aus Hamburg an Martin John vom 16. August [offenbar 1673] schreibt er: „Mein Sohn ist kein Engel: Jedoch kan ich ihm jtzo vor Gott das Zeugnis geben, dasz er mir so gehorsam und zugethan, dasz ich meinem Gott solches nicht gnug verdancken kan. Gesetzt nun dasz er vorhin anders gewesen; so ists doch Engels Art sich freuen über eines Sünders Bekehrung: Aber teuflische Art, einem Menschen seine Sünden, nach der Bekehrung, aufzurücken. […] Mein Sohn musz mich je unterhalten, solte ich denn nicht das wenige, das man mir jetzo giebt […] ihm geben zu meiner Handreichung?“ Erb: Christian Hoburg (wie Anm. 28), S. 114 f. Vgl. auch den Sterbebettbericht bei Kanne: Leben und aus dem Leben. Bd. II (wie Anm. 5), S. 270–272.
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Absetzung wegen dieses Buches und eines ganz den eigenen Erfahrungen des Fürsten entsprechenden Gebets über die (besonders auch protestantischen) Kriegsgreuel in Welfischen Landen kann ihm sehr wohl zu Ohren gekommen sein und Sympathie wachgerufen haben. Gleichgültig aber, ob die Initiative zum Unterschlupfgeben bei den Stern-Brüdern von ihnen selbst oder von ihrem hochadligen Gönner ausgegangen ist, Hoburgs literarische Wirksamkeit in den folgenden etwa zwei Jahren, bis ihn der Herzog für eine Probepredigt an seinen Hof einlädt und bald darauf in Bornum anstellt, übersteigt schon allein mengenmäßig als Nebenarbeit neben den Berufsaufgaben fast alle Vorstellung. Es sind gutenteils ungewöhnlich dickleibige Bände, die hier entstehen, die bei allerdings unverkennbarer Weitschweifigkeit und Wiederholungsseligkeit einen bemerkenswerten Grad selbst angeeigneter Kenntnisse nicht nur der Bibel, sondern auch der Kette spiritualistischer Autoritäten und der darauf bezogenen Polemiken aufweisen. Der Sohn Philipp Hoburg resümiert diese Lüneburger Phase dementsprechend nur in ihrer literarischen Produktion und Wirkung. Ehe ich beschließend einige Hauptgedanken aus Hoburgs wichtigsten Lüneburger Werken exponiere (denn eine sein gesamtes literarisches Schaffen beleuchtende Monographie steht immer noch aus), möchte ich den Blick auf deren Gesamtzahl, ihre Abfolge und Angaben über den Autor und die Druckereibetriebe lenken, die für die kirchenpolitische Situation wie für die Publikationsbedingungen des in Widerspruch zur Amtskirche geratenden heterodoxen Autors kennzeichnend sind. In den Aussagen des Sohnes über die im Hamburger „Præceptor=Dienst“ und die in Lüneburg geschriebenen Bücher Hoburgs geht einiges durcheinander. Die Lüneburger Niederschrift, zumindest aber die Fertigstellung, Drucklegung und Veröffentlichung ist wenigstens für all jene Werke anzusetzen, die 1644 und 1645 erschienen sind. Zufolge der sorgfältigen Personalbibliographie Dünnhaupts sind dies für 1644 die Anthologien mystischer Anleitungen und Lehren, PRAXIS ARNDIANA, Das ist / Hertzens=Seufftzer VBer die 4. Bücher Wahren Christenthumbs S. Joh. Arnds [2. Druck, Frankfurt: Matthäus Merian] 1644, MEDULLA ANIMÆ, Das ist / Von Vollkommenheit aller Tugenden: […] Geschrieben Durch […] D. JOHANNEM TAULERUM, Frankfurt: Matthäus Merian 1644; sodann polemische Schriften, Spiegel Der Misbräuche beym Predig=Ampt im heutigen Christenthumb Vnd wie selbige gründlich vnd heylsam zu reformieren […]. Von ELIA PRETORIO, Euangelischen Prediger in Lieffland, o.O. 1644, sowie Heutiger / Langwieriger / verwirreter Teutscher Krieg Jn einem Nachdencklichen / Gründlichen Gespräch vorgestellt, [ebenfalls bei Merian in Frankfurt] 1644, schließlich noch einmal ein thetisches Werk, Teutsch=Evangelisches Judenthumb: […], Frankfurt [Matthäus Merian] 1644; im Folgejahr dann (nach Moller vielleicht mit Vorausdatierung auch schon 1644 erschienen) Teutsch Evangelisches ärgerliches Christenthumb […], trewlich vorgestellet von Bernhardo Bawmann, Evangelischen Prediger zu Berow in Preussen […], o.O. [Frankfurt: Merian] 1645, schließlich das Anleitungsbüchlein zur
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christlichen Prinzenerziehung mit Widmung an die Söhne Herzog Augusts, Rudolf August, Anton Ulrich und Ferdinand Albrecht, Christ=Fürstlicher Jugend=Spiegel: Allen Jungen Regenten / vnd denen / so die Regierung bedienen / oder schierkünftig bedienen möchten wol zubeschawen, [Frankfurt: Merian] 1645.53 Dazu kam, als achtes Buch dieser nicht einmal zwei Jahre, eine gedruckte Predigt: Einfeltiger Sermon Vber die Frage: WObey ein CHrist sich prüfen könne / Ob Christus in jhm geistlich geboren / vnd durch den Glauben in jhm lebe […] nebenst einer Andacht übers Magnificat, vffgesetzet Von CHRISTIANO Hoheburgk/ Lunæb, o.O. 1645 – sicher auch noch aus der Lüneburger Zeit, denn Hoburg hat diese am „Fest der Offenbarung Christi“ gehaltene Predigt der Priorin von Kloster Lüne, Catharine Margarethe von Ebsdorf, gewidmet.54
V. Bei der Übersicht über die acht in so kurzer Zeit in die Welt geschickten Bücher fällt zunächst auf, dass mehrere unter wechselnden Pseudonymen veröffentlicht wurden, verkappt unter der vorgeblichen Autorschaft von Geistlichen außerhalb des Reichsgebiets, eines Elias Prætorius oder Bernhard Baumann, dazu kam die erst 1646 gedruckte Streitschrift unter dem Namen Andreas Seuberlich gegen Heim und dessen Forderung, Christen müssten jedenfalls am Abendmahl teilnehmen, die Hoburg im Falle einer bloß veräußerlichten Sakramentpraxis ohne Sündeneinsicht und Buße ablehnte.55 Er53 Dünnhaupt: Personalbibliographien (wie Anm. 8), S. 2096–2099; hier zitiert nach den dort gegebenen präzisen Titelaufnahmen, doch in der von Philipp Hoburg gegebenen Reihung. Vgl. auch die gründlichste Vorgänger-Bibliographie bei Moller: Cimbria literata. Bd. 2, 1744 (wie Anm. 27), S. 341–344, in der (neben den bereits dort nachgewiesenen späteren Neuauflagen) minutiös auch die zeitgenössischen Besprechungen und Streitschriften ausgewiesen sind. Zu der von Moller ebd. S. 341 noch zusätzlich für 1644 vermeldeten erbaulichen Schrift „Praxis Davidica […] Francofurti A. 1644“ vermerkt Dünnhaupt S. 2094, der die Erstausgabe bei Cramm in Braunschweig und eine Neuauflage Frankfurt: Merian 1647 mit „neuer Widmung, datiert Lüneburg, 1. 1. 1647“ ausweist, für einen zusätzlichen Frankfurter Druck von 1644 „liegen mir keine Belege vor“. Möglicherweise hatte Moller die ungenauen Angaben Philipp Hoburgs ohne Beleg für bare Münze genommen. 54 Der bei Dünnhaupt: Personalbibliographien (wie Anm. 8), S. 2099, Nr. 11 ausgewiesene Predigtdruck ist nach dem in der HAB Wolfenbüttel erhaltenen Exemplar [A 508. 10 Theol. (10)] elektronisch greifbar unter http://diglib.hab.de/drucke/508–10-theol-10/start.htm. Beschlossen wird er (S. 60) durch ein Hoburg-Gedicht: Augenblicklicher Hertzens=Seufftzer. Mein Heil / mein Krafft / JEsu du bist / Mein Trost / mein Frewd vnd Wonne / Mein süsse Wollust zu aller frist / Meins Hertzens Stern vnd Sonne / Mein König vnd mein Bräutigam / Mein Weinstock / ich dein Rebe / Mein einiges Ziel / Mein einiger Weg / Durch diß ins ewige Leben /Amen. ENDE. – 55 Andreas Seuberlich: Heymischer Prüfung Vortrab wider des Heimius vinculum gratiae, „Slesswick“ 1646. Nach Dünnhaupt: Personalbibliographien (wie Anm. 8), S. 2099 ist die
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staunen muss es nicht, dass diese unter ,noms de guerre‘ veröffentlichten Bücher nicht in der Druckerei und mit dem Impressum des Stern-Verlags erschienen sind, in dem der Autor doch als Korrektor tätig war, wohl aber, dass auch keines der anderen in Lüneburg gedruckt wurde, nicht einmal die doch zentral ins Programm gehörige Praxis Arndiana. Die Zensurordnungen im Reichsgebiet verboten neben allen Schriften, die nicht vollkommen der Lehre des am Druckort eingeführten Bekenntnisses entsprachen und nicht das Imprimatur der zuständigen Zensurstelle erhalten hatten, auch alle anonymen und pseudonymen Publikationen ebenso wie jeden Druck ohne ordnungsgemäßes Impressum des Druckers. Der Drucker nämlich war zusammen mit dem Autor (praktisch wegen der leichteren Greifbarkeit sogar in erster Linie) für die Einhaltung dieser Regeln juristisch haftbar.56 Dies erklärt, dass die besonders scharf mit der Kirche und dem Glaubensverfall ins Gericht gehenden pseudonymen Schriften, der Spiegel Der Misbräuche und Teutsch Evangelisches ärgerliches Christenthumb – mit dem aufs Titelblatt gesetzten Mottospruch: „Wehe der Welt (dem Evangelischen Teutschland) der Aergernuß halben; doch Wehe demjenigen (Evangelischen Menschen) durch welchen Aergernüssen kommen“ –57 nicht im Hause Stern erscheinen konnten, das sich damit strafbar gemacht und sein Renommee beschädigt hätte.58 Auch beim über 600 Seiten starken Kriegsbüchlein mit seinen scharfen Druckortangabe ,Schleswig‘ eine Fiktion. Der Traktat ist genannt schon bei Iselin: Neu=vermehrtes LEXIKON (wie Anm. 30), S. 161, während Moller : Cimbria literata. Bd. 2 (wie Anm. 27), S. 346, „Vortrab der Heimischen Prüfung“ den Titel nicht verifizieren konnte. Als Kampfschrift war er gerichtet gegen das Buch des Pastors der niederländisch-reformierten Gemeinde in Hanau, Wilhelm Christoph Heim: Vinculum Gratiae / Das ist: Heiliges und Starckes Bandt Des Innerlichen und Eusserlichen Gottesdienstes der Glaubigen im Neuen Testament, Frankfurt u. Hanau 1644. Die abendmahls-separatistischen Thesen Hoburgs in dieser Schrift untersucht Schmidt: Die spiritualistische Kritik Christian Hoburgs (wie Anm. 2), S. 101 f., im Kontext seiner Kritik am Abendmahl bereits im „Spiegel der Misbräuche“ von 1644 und des daraus entbrennenden Streitschriftenkriegs ebd., S. 91–111. Die Aussage und der Ideengehalt des „Spiegel der Misbräuche“ sind resümiert bei Bütikofer : Der frühe Zürcher Pietismus (wie Anm. 18), S. 205–208 und S. 210 f. 56 Die Regelungen der Reichszensur und der Sanktionen, aber auch Möglichkeiten, diese zu umgehen, sind speziell für den Bereich heterodoxer theologischer oder erbaulicher Schriften mit Nachweis der Spezialliteratur zusammengefasst bei Schrader: Literaturproduktion (1989, L 1), S. 108–130, 419–434. 57 Teutsch Evangelisches ärgerliches Christenthumb / In einem Wunderbaren Gespräch eines Evangelischen / mit einem 1. Catholischen / 2. Wiedertäuffern / 3. Photinianern, 4. Jüden / 5. Türcken […] Zur Prüfung vnd Besserung den Frommen zum Zeugnis aber vnd Gericht den Heuchlern vnd Spöttern in dieser letzten Zeit trewlich vorgestellet. – Gedruckt im Jahr Christi 1645. Moller : Cimbria literata. Bd. 2 (wie Anm. 27), S. 344 vermutet, der Druck sei schon 1644 erfolgt und vordatiert. 58 Wohl zu Recht nimmt Moller aufgrund der Typen den Druck außerhalb der Reichsgrenzen in Amsterdam an. Er verweist auch auf den dort beliebtesten Spiritualistendrucker, Henricus Betkius; zu ihm vgl. Willem Heijting: Hendrick Beets (1625?–1708), publisher to the German adherents of Jacob Böhme in Amsterdam. In: Quærendo. A Quarterly Journal from the Low Countries devoted to Manuscripts and printed Books. Bd. 3, Amsterdam 1973, S. 250–280.
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Schuldzuweisungen für das unerträgliche Leid im Lande an die pflichtvergessenen Kirchen und Obrigkeiten und für den Glaubens- und Sittenverfall im Lande59 wäre wohl die Produktion in einer von Sanktionen des Reichs-Zensursystems unerreichbaren ausländischen Winkeldruckerei zu erwarten gewesen. Diese heftige Kampfschrift konnte aber zufolge der Frontispize ganz offen unter Hoburgs Namen in einem der angesehensten Verlagshäuser Frankfurts – bei Matthäus Merian – erscheinen, hatte also offenbar angesichts der Kriegsverzweiflung im Lande die ohnehin vergleichbar laxe Messezensur passieren können. Außer selbstverständlich Joachim Betke haben später Johannes Saubert und Philipp Jacob Spener dieses Werk besonders gerühmt, und Gottfried Arnold hat ihm mit eigener Vorrede noch 1710 eine Neuausgabe gewidmet.60 Auch die anderen Arbeiten der Lüneburger Jahre konnten problemlos in Frankfurt herauskommen, Merians Name prangt offen in den Impressa oder war leicht zu ermitteln.61 Im Kriegsbuch mit seiner Dedicatio „Lüneburg / den 18. Novembris / Anno 1643. Der Herren Diener Christian Hoheburgk“,62 umriss schon der volle Titel die zentralen Thesen zur Deutung der endlos erscheinenden Plagen, Heutiger / Langwieriger / verwirreter Teutscher Krieg / In einem Nachdencklichen / Gründlichen Gespräch vorgestellt / Darinnen begriffen / 1. Woher selbiger vrsprünglich entstanden. 2. Warumb auch bißhero er noch nicht habe auffhören können. 3. Weniger anjetzo auffhören könne / vnd werde 4. Wie aber er endlich furchtbarlich könne beygelegt werden. Vnserm hochbeträngten Vatterland / darinnen das grimmige Fewer des Zorns Gottes / so lange Jahr hero gebrennet hat / vnd noch jetzo Liechterloe brennet: Zur höchstnötigen Erin59 Eine überzeugende Zusammenfassung der häufigen Verbindung asketischer und institutionenkritischer Argumente Hoburgs gibt Marcus Meier : Der bekräftigte Origenes. Origenesrezeption im radikalen Pietismus. In: Pietismus und Neuzeit 31 (2005), S. 137–151, insbes. S. 148. 60 Dünnhaupt: Personalbibliographien (wie Anm. 8), S. 2098, vgl. Moller : Cimbria literata. Bd. 2 (wie Anm. 27), S. 341. Johannes Wallmann: Kirchlicher und radikaler Pietismus. Zu einer kirchengeschichtlichen Grundunterscheidung. In: Der radikale Pietismus. Perspektiven der Forschung. Hg. von Wolfgang Breul, Marcus Meier und Lothar Vogel, Göttingen 2010 (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus, Bd. 55), S. 19–43, hier S. 29 und 35 f., weist auf Merians Nähe zu Ideen Schwenckfelds und des Frankfurter Saalhofs hin, durch die sein verlegerischer Einsatz für den „linken Flügel der Arndt-Schule“ eine Herzenssache war. 61 Erstdruck 1642; bei Moller : Cimbria literata. Bd. 2 (wie Anm. 27), S. 342, werden weitere Ausgaben aus den Jahren 1662, 1686, 1696 und 1702 mit näheren Angaben über Aufbau und Rezeption, namentlich auch bei Spener (Consil. theol. Lat. III, S. 371), ausgewiesen. Zur Ausgabe von 1686 und anderen Hoburg-Drucken in der Tholuck-Bibliothek der Franckeschen Stiftungen in Halle vgl. Brigitte Klosterberg: Die Bibliothek August Tholucks. In: Pietismus und Neuzeit 27 (2001), S. 147–164, hier S. 150 und 157. Der andere schon im Titel auf Arndt verweisende Traktat, „Arndus redivivus, Das ist: Arndischer Wegweiser zum Himmelreich, oder Kurtzer Auszug aus Joh. Arnds Schriften von der rechten neuen Wiedergeburt“ ist erst postum erschienen in der Sammelausgabe „Drey geistreiche Tractätlein“ (wie Anm. 6), 1677, Dünnhaupt: Personalbibliographien (wie Anm. 8), S. 2109, vgl. Moller: Cimbria literata. Bd. 2 (wie Anm. 27) S. 346. Dazu Schneider: Der fremde Arndt (wie Anm. 38), S. 246. 62 Christian Hoburg: Heutiger / Langwieriger / verwirreter Teutscher Krieg, Frankfurt 1644, S. h 2r.
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nerung / denen sichern Welthertzen vnd Spott Christen aber zum Zeugnuß wohlmeinentlich auffgesetzet / Von CHRISTIANO Hoheburgk / Lüneb. Gedruckt im Jahr M.DC.XLIV (Frontispiz: Franckfurth bey Matth: Merian 1644.)63 In der Zueignung an den Leser nennt Hoburg unverstellt den Frankfurter Verleger und die Lüneburger Sterne als seine Förderer : Denen Edlen / Hochachtbaren und Fürnehmen Herrn Johann [&] Herrn Henrich Sternen / Gebrüdern / dero in gantz Europa hochberühmbten Lüneburgischen Buchdruckerey Vorstehern und Buchhändlern Wie auch Herrn Matthæo Merian / weitberühmbten Buchhändlern / in Franckfurt am Mayn: Meinen beiderseits großgeehrten / hochgeneigten Herrn.64
Sie werden als Verteidiger der Wahrheit angesprochen, die daher bei den Weltchristen verhasst seien, nach dem sie mit dem Weibe Potyphars / nicht mit buhlen / […] sondern auch selbige theils (als meine Herren die Sternen) durch ihre edle Kunst der Buchdruckerey / zugleich aber durch Beförderung / Verlag vnnd andere kostbare Mittel / der gantzen Welt
„Gottselige / erbauliche Bücher“ verfügbar machen und sich damit den Verfolgungen der Welt aussetzen: „so gehets / wann die harte / dürre Warheit auftritt / vnd dem Heuchelwesen redlich den Kampff anbeut“.65 Tatsächlich haben die „Sterne“ mit dem Frankfurter Kupferstecher-Verleger in engem Kontakt gestanden und ihm in dieser Phase kriegsbedingten Auftragsmangels von ihrem Überfluss an Arbeit Verdienstmöglichkeiten zugespielt.66 Offensichtlich war ihnen der Frankfurter Druck der Werke ihres schreibbesessenen Korrektors erwünscht, wäre im eigenen Haus angesichts der argwöhnischen konsistorialen Aufsicht aber schwer zu verantworten gewesen. Vielleicht war auch hier der Wolfenbütteler Herzog involviert. Denn möglicherweise stand auch er zu dieser Zeit bereits, wie es Paul Raabe für spätere Jahre nachgewiesen hat, mit dem Hause Merian in Verbindung. Merian hat ihm dankbar 1654 zu seinem 75. Geburtstag die bildreich-kostbare Topographia vnd Eigentliche Beschreibung der Vornemsten […] Örter in denen Hertzogthümern Braunschweig vnd Lüneburg zugestellt.67
63 Der Argumentationsaufbau und die Theologie des Werkes sind resümiert bei Kochs: Das Kriegsproblem (wie Anm. 34), S. 246–275 und Bütikofer : Der frühe Zürcher Pietismus (wie Anm. 18), S. 208–210, vgl. ebd., S. 209 das Faksimile des Frontispiz-Titels, ferner GröschelWillberg: Hoburg und Betke (wie Anm. 28), S. 39–49, 151 sowie Schmidt: Wiedergeburt und neuer Mensch (wie Anm. 2), S. 97 f., 162. 64 Christian Hoburg: Heutiger […] Teutscher Krieg (wie Anm. 62), Vorsatzblatt gijr. 65 Ebd., Dedicatio, S. gijv–giijv, g5r. 66 Nachweis bei Dumrese: Sternverlag (wie Anm. 42), S. 61. 67 Paul Raabe: Herzog August und Merians Topographie. In: Sammler Fürst Gelehrter (wie Anm.
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In der Kriegsbuch-Widmung hat Hoburg wiederum als Grundlage dieser Schrift „die Lehre Herrn Arndi“ zur Aufdeckung der „Mißbräuche deß heutigen Christenthumbs“ ausgewiesen,68 deren Ausbreitung das Zentralanliegen seines über 700 Seiten langen paränetischen Erbauungsbuchs war, Praxis Arndiana, Das ist / Hertzens=Seufftzer / Uber die vier Bücher Wahren Christenthumbs […] Bey jetziger Heuchel=Zeit hertzgründlich zu betrachten […]: Auff daß das falsche Heuchel= Schein= und Spott=Christenthumb falle / und das wahre lebendige Hertzens=Christenthumb wieder auffgehe:69 Laß demnach / Gottliebender Leser / diese Hertzens=Seufftzerlein dir also befohlen seyn / daß du sie mit Hertzens=Andacht betrachtest: denn weil es Hertzens= Seufftzer heissen / mustu auch hertzliche Andacht darzu bringen: Wirst alßdann eine Hertzens=Ubung deines Christenthumbs daran täglich haben: wirst auch die Schrifften dieses S. Mannes desto lieber gewinnen auch an dir befinden / wie hochnöthig dieser Methodus sey zu dieser letzten Heuchelzeit.70
Dasselbe arndtianische Reformprogramm verkündet er in dem fingierten Gespräch des Kriegsbuchs Heutiger / Langwieriger / verwirreter Teutscher Krieg zwischen einem unterweisungsbedürftigen jungen Johannes und dessen erfahrenem Freund Andreas über die „grewliche Heuchelzeit“, in der „die Leut sich zwar Evangelisch und Lutherisch nennen / aber mit dem Leben ärger / als Türckisch vnd Judisch / vnd Heydnisch sich bezeigen“. Als Maßstab zur Umkehr und „Friedensmittel“ sei „ein solcher Methodus, wie deß Herrn Arnds / hochnöthig“ (S. 87 f.): „Nach dem Methodo Herrn Arnds S. muß das Christenthumb reformiert / vnd auff jetzige Heuchelzeit appliciert werden“ (S. 563). Weniger als fromme Anleitung denn als Anklage ist die Arndt-Anknüpfung hier ausgeführt. Verantwortlich für den großen Krieg sei der Verfall von Kirche, Glaube und Sitte in der Welt. Im 23. Jahr des Gegeneinanderwütens der im Namen ihrer jeweiligen Konfession losgezogenen Kriegsparteien,71 im Blick auf die Verelendung der Länder und Menschen und ohne Aussicht auf eine baldige Wende zum Frieden, bricht der seit frühen Kinderjahren in anscheinend nie endendem Krieg lebende Autor in Klagen aus: Ach / welch ein elende Zeit! Ach / welch ein erbärmliche Zeit / hastu vns / O Gott / erleben lassen […] wie das grimmige Fewer deß Zorns GOttes / nunmehro in die drey
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43), S. 207–209, ferner ebd, S. 331–333. Auftragsverbindungen des Hofes zur Merian-Werkstatt haben aber zweifellos schon weit früher bestanden, vgl. ebd. S. 96, 157, 219 f. Hoburg: Heutiger […] Teutscher Krieg (wie Anm. 62), S. g6r. Hoburg: PRAXIS ARNDIANA (wie Anm. 8), hier zitiert nach der im holländischen Exil besorgten, ebenfalls bei Matthäus Merian verlegten Neuausgabe Frankfurt 1662. Ebd., Vorrede, S. A 4v/5r. Hoburg berechnet den Kriegsbeginn erst ab 1620 mit der Schlacht am Weißen Berge, seit dem Übergreifen auf deutsche Territorien.
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vnd zwantzig Jahr hero […] gewaltig gebrennet habe / vnd noch jetzo Liechterloe brennet.72 Dann / wo man nvr hin siehet in der Welt / ist nirgend etwas anders […] als Kriegen / Rauben / Würgen / Morden / vnd auß diesem entstehende Seufftzen / Jammer vnd Elend.73
Im Vergleich mit den von Gottfried Arnold auch in die Kirchen= und Ketzer=Historie übernommenen Greuelschilderungen des Joachim Betke74 hält sich Hoburg in der konkreten Darstellung der Kriegsereignisse auffallend zurück: Wohl erwähnt er die beteiligten in ihren Ränken getäuschten Großen der Welt, Richelieu, den König von Dänemark und den Kaiser,75 und im Vergleich mit den biblischen Plagen Ägyptens auch die Drangsale an „Contributiones, Executiones, Tribulierung / Einquartierung“ durch das multinationale Raubgesindel ihrer Söldner, die als „allerhand Vngezieffer / von Böhmen / Crabaten / Vngarn / Schweden / Finnen / Lapländern / Polacken usw. vnser liebes Vatterland durchkrochen“.76 Wichtiger aber ist ihm die Ursachendiagnose in einer von Gott abgefallenen Christenheit: „dieser Krieg entstehet ex crimen læsæ Majestatis divinæ“. Er ist das Strafgericht über Abfall und Üppigkeit der Menschen, über ihr „Säwisches Wesen vnd Licentz“,77 insbesondere aber über die in veräußerlichte Zeremonien und dogmatisches Hickhack verfallenen Kirchen. Aus gottgefälligen Jungfrauen seien sie in allen Konfessionen zu Huren geworden,78 statt sich zu bekehren versuchten sie, in heuchlerischen Bittgottesdiensten um Erlösung aus Kriegesnot79 die Schuld von sich abzulenken: 72 Hoburg: Heutiger […] Teutscher Krieg (wie Anm. 62), S. 4. 73 Ebd., S. 8. 74 Joachim Betke: Teutschlands Verstörung (1640), abgedruckt bei Gottfried Arnold: Unparteiische Kirchen- und Ketzerhistorie. Ausgewählt und herausgegeben von Renate Riemeck, Leipzig 1975 (7. Buch, 1. Kap., § 38–42), S. 329 f. – Insofern gebührt Betke in noch höherem Maß als Hoburg der hübsche Titel eines „Jeremia unter den Barockpredigern“. Cornelia Niekus Moore: „Mein Kindt, nimm diß in acht“. Anna Hoyers’ […] Erbauungsliteratur für die Jugend im 17. Jahrhundert. In: Pietismus und Neuzeit 6 (1980), S. 164–185, zu Hoburg S. 178. 75 Hoburg: Heutiger […] Teutscher Krieg (wie Anm. 62), S. 251. 76 Ebd., S. 8 f., vgl. 19. Weitere Konkreta in Bezug auf den parallellaufenden Türkenkrieg und die darin erhoffte Rolle des Grafen Nikolaus von Zrini d. J. in Hoburgs 1664 anonym publizierter Schrift „Regenspurgischer Heerholdt […] Nebenst beygefügtem EXTRACT etlicher wunderlichen Newen Offenbahrungen, angehende diesen Türcken=Krieg“, o.O. 1664, erörtert Magdolna Veres: Johann Amos Comenius und Friedrich Breckling als „Rufende Stimme aus Mitternacht“. In: Pietismus und Neuzeit 33 (2007), S. 71–83. Ebd., S. 76 konstatiert sie zugleich den Einfluss von Hoburgs „Spiegel der Misbräuche“ von 1644 auf Brecklings „Speculum Pastorum“ von 1660 und „Synagoga Satanae“ von 1666. 77 Hoburg: Heutiger […] Teutscher Krieg (wie Anm. 62), S. 65. 78 Ebd., S. 155. 79 Vgl. dazu Hoburg: Heutiger […] Teutscher Krieg (wie Anm. 62), S. 489–491 das „Einfältig Gleichnuß“, eine der in die buchbestimmende Gesprächsfiktion eingelegten Kleinerzählungen und Exempla.
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weil wir vnseres GOttes / mit vnserm Gottesdienst / Kirchen / Beicht / Abendmahl: Ja Buß= vnnd Bittagen spotten / siehe / so spottet Er / Krafft seiner Gerechtigkeit / vnser widerrumb.80 wie wir Evangelische Christen / die enge / schmale Creutz=strasse / die allein zum Paradeiß führet […] in eine breyte / weite Weltbahn haben verkehret.81 Wir meinen / wir müsten nur Kirchenfromm seyn […]. Jn vnserer Haußhaltung vnnd Beruff / da bleibt es bey dem alten Adamischen herrschenden Wesen: Da bleibet vnser Hoffart / in Gebäwen / in Kleydungen / in Speisen / da bleibet vnser Geitz / Vngerechtigkeit / Zanck82.
Angesichts des allgemeinen Mordens im Namen der Religion kann es für ihn keinerlei Kriegsberechtigung zur Verteidigung einer alle Wahrheit allein für sich beanspruchenden Lehre geben, somit gibt es überhaupt kein bellum iustum:83 Wäret ihr das rechte Volck GOttes / ihr Christen / so wäre es vnmöglich / daß ihr vntereinander so grewlich euch erwürgen / ermorden soltet.84 Ist es nicht grewlich vnd vnmenschlich / daß ein Evangelischer deß andern Hencker / Peiniger / ja gar Teuffel seyn muß.85
Auf die Eingangsfrage des Buchs, wie man dem Paulus-Gebot „Daß man sich in die Zeit schicken solle“ willfahren könne, antwortet Hoburg an dessen Ende mit der Mahnung, die Gläubigen sollten sich auf ihren innerlichen Gottesdienst konzentrieren und „in diese grimmige Zorns=Zeit recht schicken / damit sein verzehrendes Zornsfewer / nicht alles von Grund auß verzehre“.86 Hier freilich wird ansatzweise die äußere Institution der Kirche im ganzen verworfen: sie wird als jene gefallene Hure Babylon angesprochen, von der man sich nach Apk 18,4 trennen müsse, um nicht von ihren Sünden angesteckt zu werden. Hatte es zuvor noch geheißen, notwendig meiden müsse man „nicht das Kirchengehen / sondern die Personen / so das Kirchengehen misbrauchen“,87 resümiert des Kriegsbuchs Ende, offenbar ohne dass die Zensur dies wahrgenommen hat:
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Hoburg: Heutiger […] Teutscher Krieg (wie Anm. 62), S. 37. Ebd., S. 427. Ebd., S. 51, vgl. 149. Diesen im moderneren Sinn „pazifistischen“ Argumentationsstrang betont Kochs: Das Kriegsproblem (wie Anm. 34), S. 246–275; vgl. Gröschel-Willberg: Hoburg und Betke (wie Anm. 28), S. 39–49, 151, sowie Schmidt: Wiedergeburt und neuer Mensch (wie Anm. 2), S. 97 f., 162. Hoburg: Heutiger […] Teutscher Krieg (wie Anm. 62), S. 591. Ebd., S. 227. Ebd., S. 617. Ebd., S. 52.
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Erst herunter damit / vnd darzu geholffen / wer nur helffen kan / daß Babel falle / so wird sich das schöne Jerusalem / die Statt GOttes / wol bald offenbaren: Es muß erst das hinweg / das es auff hält: Vnd das habe ich mit diesem Tractat gesuchet.88
VI. In den pseudonym wohl im Ausland gedruckten und so an der Reichszensur vorbei auf den Markt geschmuggelten Schriften legte sich Hoburg mit solcher Babelsstürmerei keinen Zwang mehr an. Ich gebe als Beispiel nur wenige Proben aus dem fast 800 Seiten starken Spiegel Der Misbräuche beym Predig=Ampt im heutigen Christenthumb Vnd wie selbige gründlich vnd heilsam zu reformieren [o.O. 1644]. Überall im Kirchenwesen findet der Autor-Stellvertreter Elias Praetorius, der sich als ein Werkzeug des großen Gottes Zebaoth versteht (des Herrn also, der die Heerscharen lenkt), Blindheit / Irrung / Vnverstand / vnnd dannenhero Heucheley / Ehrgeitz / Grad= vnd Titul=Geitz / ja Zanck vnnd alles über=Heydnisches Wesen durch jetzige Lehrer.89
Aus der sündigen Gemeinschaft der Weltchristen, Zeremonienverehrer und durch ihre unwürdige Einnahme das Abendmahl Schändenden müsse man ausgehen und Babel vollends niederreißen: Summa Summarum / so lange ewer Babel wehret / so lange werden auch die Plagen vnd Straffen Gottes wehren / biß Er sie gantz vnd gar auffgeräumet habe. […] Blut habt jhr vergossen / jhr grosse Herren zu Babel / vnd jhr Lehrer vnnd Prediger allerseits habt es gebilliget vnnd Recht geheissen: Sehet Blut / Blut wird euch der gerechte GOtt wiederumb zu trincken geben / vnd von dem daumelkelch seines Zorns euch lassen die Hefen gar aussauffen. Jhr guthertzige einfältige Hertzen aber / die jhr bey allen Partheyen vnter Babel gefangen lieget / Gehet auß von Babel mit dem Hertzen: Reisset nieder ewer Inwendiges Babel / vnnd heuchelt nicht mit deroselben außwendig: […] daß er die Inwendige in euch selbsten vnnd die außwendige Babel allen Partheyen zerstören vnd alle dero Gefangene gnädiglich erlösen […] wolle.90
Allenfalls durch allgemeine Buße kann bei dem allenthalben eingerissenen Verfall der göttliche Zorn abgewendet werden. In erster Linie verlangt der Bußrufer von den „frommen Predigern vnter allen Partheyen recht inniglich“, 88 Ebd., S. 565. 89 Elias Praetorius [d.i. Christian Hoburg]: Spiegel Der Misbräuche, o.O. 1644, S. )(ijv. 90 Ebd. S. 666 f. Daraus ist das Zitat im Titel des vorliegenden Beitrags genommen. Dass dieser krasseste Aufruf zum Niederreißen Babels ausgerechnet auf der Seite mit der Zahl 666 des apokalyptischen Tiers Apk 13,18 steht, mit seinem Vorverweis auf jenes siebenhäuptige Tier, auf dem am Ende der Zeiten die „große Babylon, die Mutter der Hurerei und aller Greuel auf Erden“ (Apk. 17,5) vor ihrer Vernichtung am Ende der Zeiten geritten kommt, dürfte bewusst veranstaltet, also kein Zufall sein.
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sie müssten „gründlicher sich vnnd jhr Thun prüffen: würcklich sich bessern / vnd alle erkante Mißbräuche allgemächlich fahren lassen“.91 In einem undatierten Brief an Johann Paul Ludwig aber bekennt Hoburg, dass er das kirchliche Babel grundsätzlich nicht mehr für besserungsfähig hält: Es will Babel nicht geflickt werden, es muß doch das ganze Gebäu dem Grunde nach herunter. […] Ach Gott. Die Welt stehet im Feuer. Babel will fallen. Man ziehe die Hand ab, daran zu flicken! Christi Reich und Welt werden wohl untermengt bleiben. Man lasse die Welt Welt sein und bekümmere sich ein jeder, seine eigene und der Seinigen Seele zu retten.92
Es bedurfte keiner großen Findigkeit für die orthodoxen Theologen, um den Autor dieser Brandschriften aufgrund zahlloser Übereinstimmungen mit seinen namentlich gezeichneten Büchern herauszufinden und im Auftrag der im Ministerium Tripolitanum vereinigten Kirchenbehörden Hamburgs, Lübecks und Lüneburgs einen Streitschriftenkrieg gegen ihn losbrennen zu lassen,93 der Hoburgs Stellung in seiner Vaterstadt endgültig unmöglich machte. Für die Zuflucht bei dem ihm so wohlgesonnenen Herzog in Wolfenbüttel hat sich der sonst so schroffe Mann mit seinem 1645 wiederum bei Merian publizierten Christ=Fürstl. Jugend=Spiegel Allen Jungen Regenten / vnd denen / so die Regierung bedienen / oder schier künfftig bedienen möchten / wol zu beschawen,94 ungewöhnlich unterwürfig empfohlen. Wiederum beteuert er, getreulich den Arndtschen Prinzipien zu folgen: In der Ausarbeitung habe er sich 91 Christian Hoburg: Spiegel Der Misbräuche, ebd., S. )( iiir. 92 Abgedruckt bei Theodor Wotschke: Zwei Schwärmer am Niederrhein. In: Monatshefte für Rheinische Kirchengeschichte 27 (1933), S. 144–178, hier S. 174 f. 93 Detailliert dokumentiert bei Moller: Cimbria literata. Bd. 2, 1744 (wie Anm. 27), S. 342 f. Auf die grundlegende Verketzerung durch Johann Müller : Kurtze Nothwendige […] Warnung für dem Gotteslästerlichen / Ergerlichen Schand=Buche […] Eliae Prätorii von den Mißbräuchen, Hamburg 1645, antwortet Hoburg mit seiner (nach Mollers Vermutung ebenfalls in Amsterdam gedruckten, vgl. ebd. mit allen Einzelheiten der Fehde) Gegenschrift „APOLOGIA PRÆTORIANA“, 1653 (wie Anm. 9), mit offensichtlich fiktiven Schutzbehauptungen, an die sich wiederholte Repliken und Dupliken anschlossen. Der Nürnberger Pfarrer Johannes Saubert, der mit Herzog August in vertrauter Korrespondenz stand, hat (wohl kaum ohne fürstlichen Wink) eine Schutzschrift für Hoburg in diesen Streit beigesteuert: „Wolgemeint Bedencken. wie das Büchlein CHRISTIAN Hohburgs / […] Verwirrter Teutscher Krieg […] Recht zu erklären / vnd ohne Anstoß zu lesen“, Nürnberg 1646. Vgl. die Titelangabe im Katalogbuch: Sammler Fürst Gelehrter (wie Anm. 43), S. 372 f., zum Kontext ebd., S. 151, 194 und 198. Ausführlichste Analysen der beiden kirchenstürmerischen Pseudonym-Schriften Hoburgs und des daraus entbrennenden Streits schon in der ungedruckten Doktorarbeit von v. Nerling: Christian Hoburgs Streit (wie Anm. 28), im theologiegeschichtlichen Kontext bei Schmidt: Wiedergeburt und neuer Mensch (wie Anm. 2), S. 51–53 und S. 102–108 sowie Brecht: Die deutschen Spiritualisten (wie Anm. 2), S. 224–227. 94 Der Autor firmiert als „Christianus Hoheburgk Lunæb.“: Christ=Fürstlicher Jugend=Spiegel Allen Jungen Regenten / vnd denen / so die Regierung bedienen / oder schier künfftig bedienen möchten / wol zu beschawen, Frankfurt 1645.
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Christian Hoburg als Lektor in Lüneburg
deß Methodi Arndianæ müglichst befliessen / vnd dahero alle Mißbräuche / so bey heutigem vnserm Christenthumb eingerissen / eyfferig / jedoch gebührlich angegriffen / wie meine theils schon außgegangene / theils vnder Handen schwebende Schrifften bezeugen.95
In der seiner Widmung an die Wolfenbütteler Prinzen folgenden Vorrede preist Hoburg den Fürsten selbst, sei dieser doch ein „sonderlicher Liebhaber Methodi Arndianae, der mit dem S. Mann Gottes Joh. Arndt weyland grosse vertrawliche Freundschafft gehalten“.96 Für das Ideal einer christlichen Fürstenerziehung stellt er den Herzog August als Vorbild für seine Söhne hin: Prinzen und junge Regenten sollen grundsätzlich den Künsten und Wissenschaften verbunden sein und „lieber mit Büchern vmbgehen als mit Bechern“: Diesem hat nachgefolget Augustus junior / Hertzog zu Braunschweig vnd Lüneburg / der in seiner wunderreichen Bibliothec / dessen gleichen wol fast nicht zufinden / […] sich täglich verfüget / vnd allda sein Fürstliches durch die sorgfältige Regierung jetziger Zeit abgemattetes Gemüth inniglich erquicket.97
Wenig später stand der aufs Äußerste angefochtene und neuerlich vor den Scherben seiner Existenz stehende Hoburg, durch die Einladung zur Probepredigt wunderbar erhöht, am Wolfenbütteler Hof und fand sich, da auch diese dem Fürsten wohlgefiel, in die sichernde Existenz der entlegenen Dorfpfarre in Bornum eingewiesen, wo er vor der Rachelust akademischer Glaubenswächter gesichert schien. Dass auch dies Refugium nur ein vorläufiges bleiben konnte, lag vor allem an ihm selbst, an seiner, je nachdem wie man es nennen will, Wahrheitsliebe und seinem Drang, wider das Übel in der Welt öffentlich Zeugnis zu geben, oder an einer selbstzerstörerischen Sturheit, die Widerspruch und Verfolgung als Zeichen der Erwählung zur Christusnachfolge geradezu anstrebte. Dies zu erörtern aber wäre bereits ein anderes Thema.
95 Ebd., S. 17. 96 Ebd., Vorrede, S. 10 f., zitiert auch bei Wallmann: Herzog August (wie Anm. 18), S. 34. So kann Hoburg auch seine eigene Kirchenkritik als den Auffassungen Arndts und damit des Herzogs entsprechend kennzeichnen, Christian Hoburg: Christ=Fürstlicher Jugend=Spiegel, S. 17. 97 Hoburg: Christ=Fürstlicher Jugend=Spiegel (wie Anm. 94), T. II, S. 141 und 114 f., modernisierend zitiert bei Müller: Fürstenerziehung (wie Anm. 43), S. 246, vgl. die detailliertere Erschließung der Schrift bei Bütikofer: Der frühe Zürcher Pietismus (wie Anm. 18), S. 211 f. und 389. – Rhetorisch noch höher treibt Hoburg seine Reverenz an den auch in der Wahl seiner gelehrten Ratgeber und Hofmeister weisen Herzog August in der Widmungszuschrift zum „Jugend=Spiegel“ (wie Anm. 96) von 1645: Einer geschriebenen Anweisung zur Vervollkommnung seien die Wolfenbütteler Prinzen im Grunde gar nicht bedürftig, „gestaltsamb sie jhren hochlöblichen Herrn Vatter / literatorum, huius seculi facilH Principem zum vollkommenen Spiegel / so wol in allerhand Wissenschafft / als dero Löblichen Vbung / wie auch gewündschte Hoffmeistere vnnd Praeceptores, vnter denen / Herr Schottelius d’Erudition nach mir allein bekant / zu Vorgängern haben.“ (S. 10).
„Misbräuche“, „ärgerliches Christenthumb“ und „teutscher Krieg“ Christian Hoburgs kirchenkritischer Pazifismus unter Herzog Augusts prekärer Protektion* [2015, L 54]
I. Erst ein reichliches, von drängendsten Wiederaufbau- und Reorganisationsarbeiten vollgestopftes Jahr lang hatte der tüchtig unternehmende und hochgelehrte Herzog August d.J. von Braunschweig-Lüneburg (Abb. 1, S. 383) von seiner durch kaiserliche Truppen bis zum Herbst 1643 besetzt gehaltenen und weithin verwüsteten Residenz Wolfenbüttel Besitz ergreifen können,1 als er sich einen harschen Bußprediger und verketzerten Schriftsteller in sein Schloss einlud, um ihm und seiner kinderreichen Familie im Lande eine Pfarrstelle und somit sichernde Versorgung zu verschaffen. In der Schlosskapelle fand am 27. November 1644 über eine vom Fürsten persönlich vorgegebene Bibelstelle eine Probepredigt statt. Und gleich am nächsten Tag erfolgte der Spezialbefehl, den vorgeblich „dabevor gewesenen Pastoren zu Johanwart in Nieder=Sachßen“ (einem fiktiven Ort, den keine Landkarte verzeichnet)2 in die zwar vakante, während des verbrieften Gnadenhalbjahrs * Öffentlicher Abendvortrag anlässlich des Arbeitsgesprächs „Der Pietismus im Fürstentum Wolfenbüttel“ unter Leitung von Wolfgang Miersemann und Dieter Merzbacher am 27. August 2008 in der Augusteerhalle der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel. 1 Bei Jean-Luc Le Cam: La politique scolaire d’August Le Jeune de Brunswick-Wolfenbüttel et l’inspecteur Christoph Schrader 1635–1666/80. Mit Deutscher Zusammenfassung. Postface de Jean Meyer. Tome I, vol. 1–2, Wiesbaden 1996 (= Le Cam: Politique, contrile et r8alit8 scolaire en Allemagne au sortir de la guerre de Trente Ans. Tome I,1 und I,2, Wolfenbütteler Forschungen, Bd. 66) als der grundlegenden umfassenden neuen Quellenrecherche über die engagierte Bildungspolitik Herzog Augusts d.J., über seine Schulordnung und Visitationen, sein Kooperieren mit der Universität Helmstedt und den Kircheninstanzen, namentlich mit dem Konsistorium, sind, wenngleich der spektakuläre Fall der handstreichartigen Amtseinsetzung und späteren Amtsentsetzung Christian Hoburgs mit keinem Wort erwähnt wird, wichtige Kontextbeleuchtungen gegeben. Über die trostlose Geschichtssituation, in der der Herzog Land, Regierung und die Residenz Wolfenbüttel in Besitz nahm, heißt es, Bd. I/1, S. 124, resümierend: „Un pays ruin8, affaibli, fortement diminu8 dans son int8grit8 territoriale comme dans sa population, une dynastie en extinction puis un nouveau souverain qui, aprHs s’Þtre difficilement impos8 face aux pr8tentions de ses rivaux, devra batailler huit ans pour obtenir le retrait des troupes d’occupation et entrer dans sa r8sidence.“ Vgl. dazu auch die deutsche Zusammenfassung Bd. I,2, S. 909. 2 Dazu, mit höchst plausiblen Schlussfolgerungen Martin Kruse: Der mystische Spiritualist Christian Hoburg (1607–1675) als lutherischer Pfarrer in Bornum bei Königslutter. Ein Beitrag
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für die Witwe des Amtsvorgängers eigentlich aber noch gar nicht wiederbesetzungsfähige Pfarre des Dorfes Bornum bei Königslutter einzuweisen, an der Peripherie seines Herzogtums. Die ganze Aktion zeigt deutliche Spuren von Eile und protektionswilliger Ausräumung von Verfahrenshemmnissen, zugleich aber auch Verbergensstrategien durch bewusste Desinformation. Damit aber – ebenso wie auch drei Jahre später in der ungnädigen Absetzung und Ausschaffung des auch in seiner schützenden Versorgung keine Ruhe gebenden Störenfrieds – geschieht offenbar für das geistliche Regiment des weitsichtigen und friedliebenden Herzogs Typisches, das ebenso starken Willen, abwägendes Urteil und prinzipiengeleitete Entschlussfreudigkeit zeigt wie der Aufbau seiner weltberühmten Bibliothek. Insofern der hier willkommen geheißene und par force in Dienst gesetzte, als ein die Chance zur Bewährung verfehlender Störenfried dann aber ebenso entschlossen wieder aus dem Lande gejagte Mann maßgeblich in die Vor- und Frühgeschichte des Pietismus hineingehört (Johannes Wallmann nennt ihn in seinem Aufsatz über Herzog August […] als Gestalt der Kirchengeschichte zu Recht „Hauptrepräsentant“ des „linken, kirchenkritischen Flügels der Arndtschule“),3 soll etwas ausführlicher davon die Rede sein. Der streitbare Kirchenkritiker und Bußrufer (Abb. 2, S. 387), dem durch seine ungemeine schriftstellerische Produktivität ein markanter Platz in den Annalen der erneuerten Frömmigkeit und eines christlich motivierten Pazifismus, aber auch in jenen der Literatur gebührt, ist in der Historiographie der zu seiner Biographie. In: Jahrbuch der Gesellschaft für Niedersächsische Kirchengeschichte 69 (1971), S. 103–125, hier S. 115 f. – Kruse hat Philipp Hoburgs ausführlichen Bericht über die Berufung seines Vaters ins Herzogtum Wolfenbüttel und über die Bornumer Jahre S. 107–110 in extenso abgedruckt; vgl. die Besprechung seines Forschungsertrags durch Walther Rustmeier in: Schriften des Vereins für Schleswig-Holsteinische Kirchengeschichte. II. Reihe, Bd. 29, Flensburg 1973, S. 85. 3 Johannes Wallmann: Herzog August d.J. zu Braunschweig und Lüneburg als Gestalt der Kirchengeschichte. Unter besonderer Berücksichtigung seines Verhältnisses zu Johann Arndt. Erstdruck: Pietismus und Neuzeit 6 (1980), S. 9–32. Jetzt in ders.: Theologie und Frömmigkeit im Zeitalter des Barock. Gesammelte Aufsätze [Bd. I], Tübingen 1995, S. 20–45, hier S. 40 (vgl. dazu die umfängliche Rezension von Wolfgang Sommer in: Pietismus und Neuzeit 23 [1997], S. 200–208, hier, zu Herzog August als „Schirmherr des ,Wahren Chistentums‘“, S. 201 f.). Wallmanns Kennzeichnung Hoburgs (auch in ders.: Der Pietismus. In: Die Kirche in ihrer Geschichte. Ein Handbuch. Hg. von Bernd Moeller, Göttingen 1990 [Die Kirche in ihrer Geschichte, Bd. 4, Lfg. O,1], S. 22 f.) bezeichnet, in seither veränderter Terminologie, dasselbe wie die Charakterisierung durch Martin Schmidt und seine Forschergeneration als „Hauptvertreter der radikal kirchenkritischen mystischen Spiritualisten“, vgl. Schmidts „Hoburg“-Artikel in: Die Religion in Geschichte und Gegenwart. 3. Aufl., Bd. 3, Tübingen 1959, Sp. 373 f. Zum Begriffswandel als Indiz veränderter Konzeptionen vgl. auch Johannes Wallmann: Fehlstart. Zur Konzeption von Band 1 der neuen „Geschichte des Pietismus“. In: Pietismus und Neuzeit 20 (1994), S. 218–235, hier S. 225. In seinem Artikel „Christian Hoburg“ in: Religion in Geschichte und Gegenwart. 4. Aufl., Bd. 3, Tübingen 2000, Sp. 1798 f. kennzeichnet Wolfgang Sommer Hoburg als „spiritualistischen Theologen“ (Sp. 1799), fügt aber so unbelegt wie unplausibel hinzu „Der Spiritualismus H.s gilt in der gegenwärtigen Forschung nicht als Vorstufe zum Pietismus Ph. J. Speners.“ (ebd.), vgl. dazu unten Anm. 11.
Christian Hoburgs kirchenkritischer Pazifismus
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Abb. 1: Herzog August d.J. zu Braunschweig-Lüneburg, aus: August d.J. zu Braunschweig-Lüneburg: Evangelische Kirchenharmonie […], [Braunschweig 1646]. Autorportrait, Kupferstich, 2. unfol. Bl. r. HAB Wolfenbüttel: Th 2960
Pietisten, die die Kirchengeschichte weniger durch Konzilien und Institutionen repräsentiert sahen als vielmehr durch die Serie vorbildlicher christlicher Mustergestalten, wiederholt in ihre ideenbereitende „Wolke der Zeugen“ eingereiht worden: Nächst kürzerer Erwähnungen in Gottfried Arnolds Un-
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partheyischer Kirchen= und Ketzer=Historie (zuerst 1699/1700)4 geschah das ausführlich zuerst in der durch sieben Auflagen verbreitetesten Sammelbiographie, Johann Henrich Reitz’ Historie Der Wiedergebohrnen (Hoburg-Biographie III,5, zuerst 1701).5 Es folgt, zunächst ohne Namensnennung des wegen Schwärmerei und zahlloser Heterodoxien verketzerten Hoburg, nachfolgend jedoch mehrfach auch offen, die diesem Modell verpflichteten Nachfolgeserie, Christian Gerbers Historia derer Wiedergebohrnen in Sachsen (1726–37).6 Daran schließt sich eine Würdigung der Sammlung Auserlesener Materien zum Bau des Reichs GOttes von 1732 an.7 In der Zeit der Erwe4 Gottfried Arnold: Unpartheyische Kirchen= und Ketzer=Historie […]. Tl. 2, Frankfurt 1699, S. 441, 481, Tl. 3, ebd. 1700, S. 127–133, Tl. 4, ebd. 1700, S. 764. – Zu Gottfried Arnolds argumentativer Nutzung Hoburgs im Beichtstreit vgl. Benjamin Berthold: Kritik an der lutherischen Beichtpraxis in Gottfried Arnolds „Unparteiischer Kirchen- und Ketzerhistorie“ (1699/1700) am Beispiel von Peter Moritz aus Halle. In: Pietismus und Neuzeit 36 (2010), S. 11–48, hier S. 16 f. Arnold hat 66 Jahre nach dessen Publikation auch Hoburgs Anti-Kriegsbuch mit eigenem Vorwort nochmals herausgegeben: Christian Hoburg: Heutiger / langwieriger / verwirreter Teutscher Krieg / […] Mit […] einer Vorrede Herrn Gottfried Arnolds […], Frankfurt – Leipzig 1710. Nachweis im jetzt gründlichsten Gesamtverzeichnis der Hoburgschen Schriften, Gerhard Dünnhaupt: Personalbibliographien zu den Drucken des Barock. Zweite verb. u. wesentl. verm. Aufl. des Bibliographischen Handbuchs der Barockliteratur, Bd. 3, Stuttgart 1991 (Hiersemanns bibliographische Handbücher, Bd. 9,3), S. 2092–2111, dort S. 2098. 5 Reitz: Historie Der Wiedergebohrnen. Neudruck (1982, L 2), Bd. 1, III. Teil [Offenbach] 1701, S. 61–76. 6 Christian Gerber: Historia derer Wiedergebohrnen in Sachsen. Tl. II, [Dresden] 1726, 2. Aufl. (seitenidentisch) [ebd.] 1735 (noch anonym als ein ,frommer, sehr verfolgter Theologe‘), S. 473–502; Tl. III, Dresden 1727, 2. Aufl. [ebd.] 1733, Vorrede, S. a8r–b1v ; Tl. IV, Nöthige Verteidigung, Anh. 2, 1737, S. 30 f. – Eine dritte Aufl. erschien in Greiz (Vogtland) 1737. In der eigentlichen (keineswegs, wie der Titel nahelegt, auf die letzten Stunden eingegrenzten) Biographie im II. Teil war der nicht nur von der Orthodoxie verketzerte, sondern auch unter Pietisten umstrittene Hoburg (ebenso wie anschließend Caspar Schwenckfeld) namenlos als „Die XII. Historie. Von eines frommen und sehr verfolgten Theologi sehr tröstlichem und sel. Abschiede“ (S. 473; im Inhaltsverzeichnis S. 5 „Von eines frommen und sehr verfolgten Theologi schönem und tröstlichem Ende“) eingeführt (S. 474): „Den eigentlichen Namen können wir nicht nennen, sondern er soll Timotheus heißen“. In der Vorrede des III. Teils (S. a1r– b4v) wird diese offenbar zum Schutz gegen Kirchenpolemik oder Zensurverbote getroffene Vorsichtsmaßnahme dann aber, als Hoburg doch erkannt und nicht nur seine Aufnahme unter die Wiedergeborenen kritisiert worden war, sondern mehr noch seine Bezeichnung als „selig“, ausgeführt, die Anonymisierung habe nur die Lektüre von vorgefassten Vorurteilen gegen den Namen befreien sollen und „Das Selig=Sprechen hat unser Heyland nirgends verboten.“ (S. b1v). 7 Sammlung Auserlesener Materien zum Bau des Reichs Gottes. 1. Bd., 3. Beytrag, Frankfurt – Leipzig 1732, S. 267–270. Der empfehlenden Besprechung einer Sammlung Hoburgscher Traktate („Dreyfaches theologisches Kleeblatt“, Nürnberg – Leipzig 1730) folgt in dieser verbreitetsten pietistischen Erbauungszeitschrift aus dem Verlag des Samuel Benjamin Walther eine Mahnung, sich nicht durch die geläufigen dogmatischen Verdächtigungen des Mannes von einem vorurteilslosen Studium seiner Schriften abhalten zu lassen: „Hoburg war ein Mensch wie du und ich, und mithin nicht gantz ohne Fehler und Gebrechen. Iedoch war er ein frommer Mann“ (S. 268) sowie ein Hinweis auf Speners Lob (mit Nachweis „Theologische Bedenken“, S. 136): „Hoburgs Sachen liebe ich hertzlich, und dancke ihm nicht wenige Auffmunterung“, „Aus Hoburgs Schriften, welche ich gelesen, habe ich viel gutes gelernet“. – Über die von Traugott Immanuel Jerichow begründete Zeitschrift und ihre unterschiedlichen Nachfolgeserien sowie den Walther-
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ckungsbewegung wird Hoburg noch einmal ausdrücklich als Glaubensvorbild für die eigene Zeit, als „Kirchenlehrer“ und „Zeuge der Wahrheit“ vorgestellt in Johann Arnold Kannes Sammlung Aus dem Leben merkwürdiger und erweckter Christen, (Teil II, 1817).8 Alle diese kürzeren oder längeren Biographien beruhen auf dem von Hoburgs9 Sohn seit 1677 mehrfach publizierten Verlag informiert im Überblick über die erbaulichen Exempelsammlungen knapp mein Nachwort (Kap. I: Die neue Gattung. Die „Historie Der Wiedergebohrnen“ als Vorbild der pietistischen Sammelbiographien) in Reitz: Historie Der Wiedergebohrnen. Neudruck (1982, L 2), Bd. 4, S. 127*–153*, zu den „Materien“ und ihren Folgeserien S. 151*f. sowie Schrader : Literaturproduktion (1989, L 1), vgl. Register unter „Jerichow“ und „Walther“; dann auch einlässlich Rainer Lächele: Die „Sammlung auserlesener Materien zum Bau des Reichs Gottes“ zwischen 1730 und 1760. Erbauungszeitschriften als Kommunikationsmedium des Pietismus, Tübingen 2006 (Hallesche Forschungen, Bd. 18). 8 Johann Arnold Kanne: Leben und aus dem Leben merkwürdiger und erweckter Christen aus der protestantischen Kirche. Tl. II, Bamberg – Leipzig 1817, S. 246–272 (2. Auflage als seitenidentischer Nachdruck Leipzig 1842). Die legendenartig ausgeführte Erbauungsbiographie, die Hoburg einschränkungslos in hellstes Licht setzt, alle seine Widersacher dagegen als bösartige Pharisäer und Schriftgelehrte abkanzelt, setzt markiert ein: „Dieser durch zahlreiche Schriften bekannte Kirchenlehrer gehört zu den Männern, die, weil sie das Evangelium von Christo in uns rein und lauter verkündeten, von den Pharisäern und Bauchpfaffen ihrer Zeit angefeindet und verfolget worden sind.“ Häufig wird Hoburg hier mit dem Vokabular der Christuspassion überblendet, so S. 257, 259 (hier auch Vergleich mit Hus und Luther), 261 (bis hin zum über ihn gefällten Beschluss des „kreuzige ihn“!). Am (märchenhaft stilisierten) Schluss der Erzählung erscheint er als „Zeuge der Wahrheit“ (S. 269), „der in Gottes Sache von keiner Menschenfurcht und Menschengefälligkeit wußte“ (S. 267). – Diese von der Forschung weithin übersehene Traditionsanknüpfung in der Erweckungsbewegung, die Hoburg im Absehen von allen heterodoxen Zügen der eigenen Zeit zum Vorbild christlichen Kampfgeists anpreist, ist erörtert bei Evamarie Gröschel-Willberg: Christian Hoburg und Joachim Betke. Ein Beitrag zur Vorgeschichte des deutschen Pietismus, Diss. phil. [masch.] Erlangen 1954, S. 148–150. Meine erweiterte Übersicht über die gesamte Tradition der pietistischen Biographiensammlungen geht auf Kannes Beitrag ausführlicher ein, Schrader : Kanonische neue Heilige (2013, L 51), im vorliegenden Band S. 665–700, bes. S. 675–678, 682–686. 9 Mit den Quellen bleibe ich bei der auch in allen kirchengeschichtlichen Arbeiten verwendeten Schreibung des Namens „Christian Hoburg“. In seinem Bericht über das Kolloquium, dem diese Studie als öffentlicher Abendvortrag in der Augusteerhalle zugeordnet war, schreibt dagegen Dieter Merzbacher: Der Pietismus im Fürstentum Wolfenbüttel. Arbeitsgespräch der Herzog August Bibliothek vom 27. bis 29. August in Wolfenbüttel. In: Wolfenbütteler Bibliotheksinformationen 34 (2009), S. 46–50, hier 46 f. außer im Zitat den Namen immer mit Dehnungs-h „Hohburg“. Dieses scheint einer Tradition des Hauses zu entsprechen, denn dieselbe Schreibung begegnet auch durchweg im Sammelband des Wolfenbütteler ersten großen germanistischen DFG-Kongresses: Stadt – Schule – Universität – Buchwesen und die deutsche Literatur im 17. Jahrhundert [Barock-Symposion 1974]. Hg. von Albrecht Schöne, München 1976, S. 245 f., 248, 296, 299, 573, 669. Angesichts der Unfestigkeit der Namensschreibungen im 17. Jahrhundert wäre das insoweit zu rechtfertigen, als der pseudonymenfreudige Hoburg auf mehreren seiner Drucke selbst als „Hoheburgk“ firmiert. Das ist aber, wie auch die Umschrift auf seinem ungezeichneten Porträtkupferstich zeigt, ein allegorisches Namensspiel. Da nämlich wird (vor dem „Lebens=Lauff / Meines lieben sehligen Vaters Christian Hoburgs […] von seinem Sohn Philip Hoburch. Gedruckt im 1677. Jahr“. Anhang zu: Drey geistreiche Tractätlein / Des sehl: Christian Hoburgs […], Frankfurt […] Hamburg 1677) zu dem Porträt „Christianus Hohburgh. Theologus Mysticus“ die Seele vor einer hohen Burg dargestellt, die vor angreifenden Teufeln
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postum-apologetischen Lebens=Lauff / Meines lieben sehligen Vaters,10 der dessen Leidensweg mit Topoi der Christus-Passion durchsetzt. Die Wolfenbütteler Episode resümiere ich hier nach der um viele ruhmredige Details verkürzten Reitzschen Kompilation, Historie von Christian Hoburg / gewesenem gottseel. Prediger. Da wird eine Liste von sechs Büchern gegeben, die Hoburg alle im Jahr 1643/44 geschrieben habe, nachdem er aus den in Uelzen und Hamburg erlittenen Verfolgungen und Vertreibungen in seine Heimatstadt Lüneburg zurückgekommen sei und „zur Correctur in der Druckerey der Sternen sich beruffen lassen“ habe. Nachdem aber so viele Schrifften von ihm außgegangen / haben verschiedene hohe Schrifftgelehrte an die Herren Sternen geschrieben / sie solten sich des Mannes entschlagen / oder ihre Druckerey würde in Verachtung kommen / worüber er auch hier weg muste. Jmmittelst fügte es Gott / daß Hertzog Augustus von Wolfenbüttel ihn in sein Land vocirte / und nach gethaner Prob=Predig / die allen Anwesenden gefallen / und davon der Fürst den Text ihm selbst vorgeschrieben / ihme unter dreyen Stellen die Wahl gab / unter welchen er die geringste auff dem Dorf Born erwehlete. Ehe er aber von Wolfenbüttel abreisete / komt dem Hertzogen die Zeitung / daß der eine Superintendens gestorben / worüber er alsobald zu seinem Cantzler sagte / diesen Platz soll Hoburg haben / und ließ ihm zugleich dieses vermelden […]. Aber Hoburg bedanckte sich / und als der Hertzog es ihm mündlich noch einmahl anpräsentirte / bat er diese Ehre und Last ab / sagende / daß er als ein junger Mann sich nicht gnug tüchtig befände / nur uber einfältige Bauren die Wacht zu halten / geschweige dann über so viele andre Lehrer […]. Er hatte aber kaum etliche Jahr zu Born gestanden / da schickte bald diese / bald jene Hohe=Schule einen Brief an den Hertzogen / und wurden auch gar Fürstliche Personen von ihren Geistlichen angetrieben / dahin zu schreiben / um den Hoburg abzusetzen. Der Hertzog zwar ließ ihme die Brief zu seiner Verantwortung zustellen / es kam jedoch endlich so weit / daß derselbe sagte: Hoburg / wann ich euch länger fürstehen solte / so hätten wir einen neuen Pfaffen=Krieg! gab ihn also nach ihrem durch göttliche Hände in den Himmel aufgehoben wird, was die Umschrift „Ps. 124 v.2.3.“ illustriert („wäre der Herr nicht bei uns, wenn Menschen wider uns aufstehen, so verschlängen sie uns lebendig, wenn ihr Zorn über uns entbrennt“). Schutz also wird gesucht in Gott als jener festen Burg, die das Obsiegen über die Feinde schon in der Namengebung verheißen hat. Zum Referat vgl. auch den Bericht von Marion Kanther: Pfarrerschaft im Herzogtum aufgemischt. Vortrag über den Werdegang von Christian Hoburg. In: Braunschweiger Zeitung, 29. August 2008, S. 37 (nach der Ankündigung ebd., 25. August 2008, S. 46: „Pietismus-Vortrag in der Bibliothek“). 10 Zuerst in: Drey geistreiche Tractätlein / Des sehl: Christian Hoburgs. I. Arndus redivivus […]. II. Vaterlandes PrÆservativ […]. III. Eine Meditation über den herrlichen Psalm: HErr Christ der einige GOttes Sohn. Noch ist auff einiger Begehren hiebey gefügt sein Lebenslauff und Bildniß […] nach seinem Tode heraus gegeben von Philip Hoburg, [1. Aufl.] Hamburg – Frankfurt („zubekommen bey Philip Hoburg und Henrico Betkio“) 1677. Unter dem Titel „Lebens=Lauff Des Seeligen Christian Hoburgs / Wie er Von dessen Sohne aufgesetzet Und hiemit zum Druck befodert worden“ gab es davon dann noch verschiedene Separatausgaben, o.O. 1692, 3. Aufl. 1694, 4. Aufl. 1698, 5. Aufl. 1711.
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Abb. 2: Christian Hoburg, Kupferstich/Radierung. HAB Wolfenbüttel: Portraitsammlung I 6285, Mortzfeld A 9910 Willen dem Consistorio über. […] Hoburg aber bekam seinen Abscheid und in aller Eyl einen Successor, daß ihm auch seine Sachen und Haußgeräth auff die Gassen gesetzt wurden […]. Also muste dieser Zeuge Christi zum Lager hinauß / mit 8. kleinen Kindern / davon der älteste zehen Jahr alt war / und denen Bauren / denen er / bey damahligem
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schweren Kriegswesen / alle seine Mittel zur Erlegung ihrer Contribution […] vorgestrecket / dasselbe alles zurück lassen / und sogar die Leute in der Stadt Königslutter / bey welchen er für seine Zuhörer gut gesprochen / […] bezahlen und befriedigen.11
Etwa so blieb auch der Forschungsstand12 über die Wolfenbütteler Berufung und den Bornumer Abschied, bis 1971 Martin Kruse im Jahrbuch der Gesellschaft für Niedersächsische Kirchengeschichte aufgrund der Konsistorialakten im Archiv der Braunschweigischen Lutherischen Landeskirche die Angaben quellenmäßig überprüfen und korrigieren konnte: Der mystische 11 Reitz: Historie Der Wiedergebohrnen. Neudruck (1982, L 2), Bd. 1, III. Teil [Offenbach] 1701, S. 66–69. – In seinen umfassendsten theologischen Analysen namentlich der erbaulichen Schriften Christian Hoburgs hat Martin Schmidt die zentrale Bedeutung der WiedergeburtForderung (S. 62, 98 f., 159, 192) und zugleich Hoburgs psychagogisches Modell herausgearbeitet, das im Detail den sechs Staffeln des Wiedergeburtsprozesses vom Weltstand bis zur Fruitio Dei in Friedrich Eggelhoffs Titelkupfer zur „Historie Der Wiedergebohrnen“ (seit ihrer 4. Auflage, 1716) entspricht (S. 63–90): Martin Schmidt: Wiedergeburt und neuer Mensch. Gesammelte Studien zur Geschichte des Pietismus, Witten 1969 (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus, Bd. 2), namentlich in den Aufsätzen „Christian Hoburgs Begriff der ,mystischen Theologie‘“, S. 5–90, „Die spiritualistische Kritik Christian Hoburgs an der lutherischen Abendmahlslehre und ihre orthodoxe Abwehr“, S. 90–111, „Speners Pia Desideria. Versuch einer theologischen Interpretation“, S. 129–168, sowie, zu Hoburg als geistigem Wegbereiter, bes. S. 158–166, und „Speners Wiedergeburtslehre“, S. 169–194, Hoburg-Analogien namentlich S. 192 f. Die spezifische Abhängigkeit der Spenerschen „Pia Desideria“ von diesem seiner Radikalität wegen eher aus der Referenzkette des kirchlich produktiven Pietismus herausgedrängten Vorläufer ist später unter Verweis auf die gemeinsame Abhängigkeit von Johann Arndt relativiert worden, bes. Johannes Wallmann: Pietismus-Studien (Gesammelte Aufsätze, Bd. II), Tübingen 2008, S. 14–19, 50–53, 84 f., 139, 173 sowie Martin Brecht: Ausgewählte Aufsätze, Bd. 2: Pietismus, Stuttgart 1997, bes. S. 177–214: „Philipp Jakob Spener und das Wahre Christentum“) sowie ders.: Die deutschen Spiritualisten des 17. Jahrhunderts. In: Der Pietismus vom siebzehnten bis zum frühen achtzehnten Jahrhundert. Hg. von Martin Brecht, Göttingen 1993 (Geschichte des Pietismus, Bd. 1), S. 205–240 und ders.: Philipp Jakob Spener, sein Programm und dessen Auswirkungen, ebd., S. 278–389, bes. S. 304, 319, 384. Dazu jüngst abermals Johannes Wallmann: Mutmaßungen über Locher oder Bericht über eine Reise in eine ferne Welt. In: Pietismus und Neuzeit 36 (2010), S. 265–279, hier S. 271 und 277, immerhin mit dem Resümee (S. 271): „[…] im Gegensatz zu Brecht halte ich die Frage ,Spener und Hoburg‘ keineswegs für abgeschlossen.“ 12 Gänzlich von Philipp Hoburgs Darstellung abhängig ist schon die erste umfassende wissenschaftliche Biographie, die darüber hinaus nicht nur mit einem umfassenden Schriftenverzeichnis Hoburgs aufwartet, sondern auch detailliert die um sein Werk geführten kontroverstheologischen Auseinandersetzungen dokumentiert: Johannes Moller : Cimbria literata, Bd. II [Kopenhagen 1744], S. 337–347. Zwei Jahre nach der hier vorgelegten Wolfenbütteler Studie habe ich zum Tag der Niedersächsischen Kirchengeschichte in Lüneburg am 2. Juni 2012 eine umfassende Untersuchung der Lüneburger Jahre 1643–45 als Korrektor der Sternschen Verlagsbuchhandlung und seines ungemein fruchtbaren literarischen Wirkens während dieser Zeit vorgestellt, die seiner Probepredigt am Wolfenbütteler Hof und seiner Berufung nach Bornum vorausging. Dieser Lüneburg-Vortrag wurde anders als die Beiträge der Wolfenbütteler Tagung umgehend publiziert, wodurch sich aufgrund der Unmöglichkeit von Rückverweisen auf das früher Ausgearbeitete einige der schon hier gegebenen Belege wiederholen, vgl. Schrader: „Reisset nieder ewer Inwendiges Babel“ (2012, L 48), im vorliegenden Band S. 353–380.
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Spiritualist Christian Hoburg (1607–1675) als lutherischer Pfarrer in Bornum bei Königslutter.13 Wenn er dabei zu deutlich anderen Details und vor allem auch Begründungen der Ereignisse gelangt als der den Vater in verehrlichem Respekt gegen die allgemeine Verketzerung verteidigende Sohn, dann stellt er dessen subjektive Redlichkeit gar nicht in Frage, die diesen im Vorwort zur Biographie beteuern ließ: Ich bezeuge aber hiemit / als für GOtt / daß ich nichts hierinnen geschrieben / als was der Warheit gemäß / und ich theils aus des sehligen Vaters eigenem Munde gehöret / und aus eigener Erfahrung habe.14
Vielmehr war dieser Gewährsmann ja der im zuvor zitierten Auszug genannte bei der Vertreibung aus Bornum zehnjährige, zur Zeit der Wolfenbütteler Probepredigt des Vaters nicht einmal achtjährige Sohn, der die amtlichen Vorgänge kaum verstanden haben und aus über dreißigjährigem Abstand noch weniger „aus eigener Erfahrung“ exakt referieren konnte. So bleibt die Basis das diesem Sohn Philipp Hoburg aus den Erzählungen des Vaters im Gedächtnis Gebliebene, nachdem er ihn am Ende eines religiös turbulenten und von weiteren Amtsvertreibungen geprägten Lebens, das ihn schließlich in den Kreis um Jean de Labadie und Antoinette Bourignon gebracht hatte, alt, physisch zerrüttet und vollkommen mittellos in sein eigenes Färberhaus im niederländischen Middelburg aufgenommen hatte und mit ihm im Jahr darauf vor den Heerhaufen Ludwigs XIV. in die alte religiöse Freistadt Altona vor den Toren Hamburgs gezogen war.15 Dort hat dann der Alte, während der Junge eine kleine Druckerei aufbaute, nochmal bis zu seinem Tod ein Predigtamt übernommen – für die Täufergemeinschaft der Immergenten oder Dompelaers, der er aber nie formell beigetreten ist.16 13 Kruse: Der mystische Spiritualist Christian Hoburg (wie Anm. 2), S. 103–125; die Lage des Dorfes Bornum am Elm bei Königslutter im territorial zersplitterten Gesamtgefüge des Wolfenbütteler Herzogtums kann man sich gut auf der Landkarte bei Le Cam: La politique scolaire d’August le Jeune (wie Anm. 1), Bd. I,1, S. 37, vergegenwärtigen. 14 Lebens=Lauff / Meines lieben sehligen Vaters Christian Hoburgs. In: Drey geistreiche Tractätlein, 1677 (wie Anm. 9 und 10), Vorrede. 15 Offenbar war eine Aussöhnung zwischen Christian Hoburg und seinem Sohn Philipp erst in diesen späten Jahren zustande gekommen, nachdem der Sohn den rigiden Askese- oder Gehorsamsforderungen des Vaters lange nicht entsprochen hatte. Im Brief aus Hamburg an Martin John vom 16. August [offenbar 1673] schreibt Christian Hoburg: „Mein Sohn ist kein Engel: Jedoch kan ich ihm jtzo vor Gott das Zeugnis geben, dasz er mir so gehorsam und zugethan, dasz ich meinem Gott solches nicht gnug verdancken kan. Gesetzt nun dasz er vorhin anders gewesen; so ists doch Engels Art sich freuen über eines Sünders Bekehrung: Aber teuflische Art, einem Menschen seine Sünden, nach der Bekehrung, aufzurücken. […] Mein Sohn musz mich je unterhalten, solte ich denn nicht das wenige, das man mir jetzo giebt […] ihm geben zu meiner Handreichung?“ Peter C. Erb: Christian Hoburg und schwenckfeldische Wurzeln des Pietismus. Einige bisher unveröffentlichte Briefe. In: Jahrbuch für Schlesische Kirchengeschichte, N. F. 56 (1977), S. 92–126, hier S. 114 f. Was Philipp Hoburg über die Jugendjahre des Vaters wissen konnte, ist somit noch enger auf dessen Erinnerungen und Mitteilungen im Alter beschränkt. 16 Wie stark aber täuferische Gruppen zentrale Argumente ihrer Ekklesiologie und spezifischen
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II. Die vom Sohn berichtete auszeichnende Wertschätzung des zum Zeitpunkt der Hoburgschen Probepredigt Ende 1644 schon 65-jährigen Herzogs August für den 35-jährigen Stellenlosen mit einer Spezialeinladung an die fürstliche Tafel, einem Angebot von gleich mehreren Stellen zur Wahl und gar einer fast aufgedrängten Superintendentur hat jedenfalls keine Basis in den Quellen. Sie mag ein Reflex von Christian Hoburgs dankbarer Erinnerung sein an die fürstliche Wohltat in aussichtsloser Situation. Erklärungsbedürftig bleibt aber der durch die Quellen belegte offenbar übereilte Immissionsbefehl in die periphere Patronatspfarrei mit seinen bewusst täuschenden Angaben über ein angeblich schon bislang innegehabtes Gemeindeamt des Designierten und dann seine ebenso präzipitierte, über das Konsistorium verfügte Stelleneinweisung schon zwei Monate später, obwohl dies den vorzeitigen Hinauswurf der Vorgänger-Witwe aus dem Bornumer Pfarrhaus erforderte. Was Hoburg dort nach kurzer Amtszeit zufolge der Akten in eine Serie von Konsistorialverhören geführt hat, sind zunächst auch nicht Anklagen irgendwelcher Pharisäer und Schriftgelehrten von Hohen Schulen und geistlichen Ministerien oder Intrigen durch Standesgenossen des frommen Herzogs. Der Auslöser ist vielmehr eine Anklageschrift und Absetzungsforderung gegen Hoburg vom 2. Dezember 1645, also vom Ende des ersten Amtsjahres in Bornum durch den dortigen Landjunker Christoff von Wendessen sowie die ganze Kirchengemeinde. Erst im Laufe des Verfahrens, bei dem Hoburg Einberufungen der kirchlichen Aufsichtsbehörde willkürlich missachtet, kommen dann Anklagepunkte der Heterodoxie in seinen Büchern dazu, zunächst in seiner mit vollem Namen gezeichneten weit über 600 Kleinoktav-Seiten starken, schon im Titel „denen sichern Welthertzen und Spott Christen […] zum Zeugnuß“ bestimmten Anti-Kriegsschrift Heutiger / Langwieriger / verwirreter Teutscher Krieg von 1644 (Abb. 3, S. 392), dann mit dem trotz Hoburgs Leugnung unabweisbaren Verdacht, er sei auch der Verfasser der im selben Jahr unter dem Pseudonym „Von Elia PrÆtorio Euangelischen Frömmigkeitsnormen bei Hoburg präformiert fanden, zeigt Marcus Meier : Die Schwarzenauer Neutäufer. Genese einer Gemeindebildung zwischen Pietismus und Täufertum, Göttingen 2008 (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus, Bd. 53), S. 95. Der heterodoxe religiöse Kontext, in dem Hoburg in seinen letzten Jahren im zur dänischen Gesamtmonarchie gehörigen Altona, wie zuvor schon in Holland also außerhalb der Reichweite der Konfessionenaufsicht des Heiligen Römischen Reichs, lebte, ist umrissen bei Stefan Winkle: Die heimlichen Spinozisten in Altona und der Spinozastreit, Hamburg 1988 (Beiträge zur Geschichte Hamburgs, Bd. 34), S. 10, 22, 99 f., 104. Selbstverständlich ließ sich die orthodoxe Polemik nicht nehmen, Hoburg täuferischer Irrlehren zu beschuldigen, vgl. [Johann Friedrich Corvinus]: Anabaptisticum et enthusiasticum Pantheon Und Geistliches Rüst=Hauß Wider die Alten Quacker / Und Neuen Frei=Geister […], o.O. 1702, S. 169 f.; Johann Jacob Lucius: Catalogus Bibliothecæ publicæ Moeno-Francofurtensis, Frankfurt 1728, S. 162 und 271 f.
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Prediger in Lieffland“ herausgebrachten noch umfangreicheren und ärger ecclesiomachischen Schrift Spiegel Der Misbräuche beym Predig=Ampt im heutigen Christenthumb.17 Die Frage solcher offenbaren Lehrirrtümer und eines dadurch zu befürchtenden offenen „Pfaffenkriegs“ unter der Pfarrerschaft im Lande bestimmt dann auch Hoburgs Rechtfertigungsschreiben und seine Suppliken an den Herzog (sicher alles andere als eine vertraute Korrespondenz unter Gelehrten) und den am Ende eklatanten Entzug der fürstlichen Gnade. In der initialen Forderung der Kirchgemeinde und des Landjunkers, den ihnen aufgedrungenen Seelsorger mit seiner ganzen Sippschaft zum Teufel zu 17 Eine theologische Analyse mit dem Ausweis der Ideenübernahme in spätere, noch radikalere Traktate Hoburgs, wie [Andreas Seuberlich]: „Heimischer Prüffung Vortrab“ (1646) und „Ministerii Lutherani Purgatio: Das ist Lutherischer Pfaffenputzer“ (1648) gibt Schmidt: Wiedergeburt und Neuer Mensch (wie Anm. 11), S. 51–54 und 91–101, vgl. S. 193; vgl. als jüngsten Abriss im Blick auf die radikalpietistische und anabaptistische Rezeption Meier : Die Schwarzenauer Neutäufer (wie Anm. 16), S. 195. Eine monographische Gesamterschließung und auch theologische Einordnung des ebenso fast unüberschaubar umfänglichen wie auch vielgestaltigen Werks Hoburgs, seiner sprachschöpferischen Kraft sowie seiner zahllosen Einflusslinien im Pietismus und darüber hinaus bis in die Erweckungsbewegung steht trotz solcher nützlicher Detailergründungen aber weiterhin aus. Wie stark seine Wirkung in der Epoche des Pietismus war, zeigen nicht nur die (bis in die Schweiz) namentlich auch gegen ihn gerichteten Bücherverbote der Pietismus-Edikte, sondern auch seine starke Präsenz in den meisten dokumentierten pietistischen Bibliotheksnachlässen. Die Beispiele in meiner Auswertung solcher Rezeptionszeugnisse, Schrader: Literaturproduktion (1989, L 1), Register unter „Hoburg“, ließen sich leicht vermehren; in seiner grundlegenden Monographie über die markant spiritualistischen Einflüsse auf die Anfänge des Pietismus in Zürich zeigt Kaspar Bütikofer: Der frühe Zürcher Pietismus (1689–1721). Der soziale Hintergrund und die Denk- und Lebenswelten im Spiegel der Bibliothek Johann Heinrich Lochers (1648–1718), Göttingen 2009 (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus, Bd. 54), in seinen Hoburg gewidmeten Abschnitten (S. 203–218, 564–566 und vgl. Register sowie S. 110–113, 117), wie bei einer behördlichen Inspektion des durch seine Konventikel Anstoß erregenden Kaufmanns Locher gleich neun umfängliche Hoburg-Bände konfisziert wurden, deren Ideengehalt dann entsprechend dem übrigen Locherschen Bücherbesitz ausführlich resümiert wird; vgl. die griffelspitzerische Kritik des kirchengeschichtlichen Spezialisten und Altmeisters an der profunden Recherche des mit sozialhistorischen Zugriffen arbeitenden Newcomers, Wallmann: Mutmaßungen über Locher (wie Anm. 11), speziell zu Hoburg S. 268–272, die bei allen Detaileinwendungen die Verdienste der Arbeit durchaus gelten lässt. Bütikofers angemessene methodische Vorsicht, vom Buchbesitz nicht ohne ergänzende Zeugnisse auf eine erfolgte Lektüre und gedankliche Aneignung kurzzuschließen, scheint mir dabei entschieden zu Unrecht ironisiert: „Er spricht, was den Einfluss auf Locher angeht, nur von Vermutungen und Wahrscheinlichkeiten und beansprucht für seine Argumentation bei der Erhellung der Denk- und Lebenswelt Lochers nur Plausibilität. Zuweilen weiß man aber nicht, wen man als Subjekt der ,Lektüre von über 4000 Seiten der Hoburgschen Schriften‘ ([Bütikofer, S.] 215) annehmen muss, Locher oder Bütikofer. Das ständige Wiederholen, dass es sich um Vermutungen handelt, legt nahe, dem der Rekonstruktion der Bibliothek gewidmeten Teil des Buches den Titel ,Mutmaßungen über Locher‘ zu geben.“ (Wallmann, ebd., S. 270). Weitere Nachrichten über das Konfiszieren von Hoburg-Schriften in der Schweiz bei Rudolf Dellsperger : Der radikale Pietismus in der Schweiz und seine Beziehungen zu Deutschland. In: Der radikale Pietismus. Perspektiven der Forschung. Hg. von Wolfgang Breul, Marcus Meier und Lothar Vogel, Göttingen 2010 (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus, Bd. 55), S. 171–187, hier S. 172 und 181.
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Abb. 3: Christian Hoburg: Heutiger / Langwieriger / verwirreter Teutscher Krieg, Frankfurt a.M. 1644, Titelkupfer. HAB Wolfenbüttel: 151.5 Pol.
jagen, treten zwei ganz unterschiedliche Argumentlinien hervor. Zum einen reibt man sich beständig am Charakter und an der Amtsführung des von den gewohnten Landpfarrern abstechenden Zugereisten, weil er in seinen über-
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scharfen Straf- und Bußpredigten „mit Bauerßleuten nicht umgehen künen“ und dem gutsherrlichen Adel, „Uns armen, jedoch in unsern Christenthum, Gott lob, erfahrenen Freyen gahr nicht comportiren kan“, weil er vielmehr „in seinen Predigten undt sonsten nur immer straffet, schmehet und schildt, da Uns in Abgrundt der Hellen verdambt, Zugeschweigen das seine Frau Unß nicht anders als Schelmische Bauern tituliret“.
Schon deshalb sollte dieser „hochintonirte Man sampt seiner hocheinbebildeten frawen“ zugunsten „eines guten Dorffpriesters“ abgeschafft werden, „weil er by Unß nicht dienet“. Der die Beschwerde auslösende Klagepunkt aber ist ein aktueller, mit den Kriegsläuften zusammenhängender : Bei einem Einfall schwedischer Truppen in das durch seinen Spezialfrieden ja nicht aus den Kontexten des weitertobenden Dreißigjährigen Krieges erlösten Landes Mitte November 1645 kam es in Bornum zu einer „Wrangelschen einquartierung […] mehr als mit 400 Pferden, ohne frei habenden troß“. Während Bauern und Edelmann die einquartierte Soldateska durch Freigebigkeit vom Plündern abhalten konnten, habe der Geistliche willkürlich Schaden verursacht, für den er jetzt über die Bestrafung hinaus aufkommen müsse: Ohne alle Not und Vorabsprache habe Unser pastor Her Christian Hoborg […] der Anwesenden Soldatesca unsere Kirchen, darinnen […] wir Unsere übrige […] sachen geferchet und in Sicherheit gebracht, nicht allein geöffnet, undt weil alle Kisten und Kasten entzwey geschlagen undt alles wegkgenommen worden, Unß totaliter ruinieren Undt ohn einziges widersprechen sondern vielmehr mit frohlocken in grundt verderben lassen.18
Die ruinösen Forderungen und Außenstände, die Philipp Hoburg am Schluss der zerscherbten Hoffnungen des offenbar von Anbeginn illusionären Bornumer Landpfarreridylls seines Vaters beklagt, hat schon Kruse als eine Regressforderung der Gemeinde und des Junkers interpretiert, die den ihnen verordneten Pfarrer für die Plünderungen ihres Warenlagers am heiligen Ort haftbar machen wollten. Im Blick auf den zeitlichen Kontext, auf die Grundhaltungen und Interessen des Landesherrn, die prägenden Erlebnisse und die Theologie des begünstigten, dann aber als Unruhestifter vom Halse geschafften Predigers lässt sich aber noch einiges mehr herausfinden, das nicht nur vollkommen die Logik der Ereignisse in Bezug auf die zweieinhalb Jahre Hoburgs im Wolfenbüttelschen, sondern zusätzlich auch noch etwas klarer die Prinzipien des herzoglichen Kirchenregiments erhellt und damit die geistige Basis für ein späteres Erblühen des Pietismus im Lande. 18 Klageschrift, „Datum Bornem den 21 Decembris Anno 1645“ durch „Christoff Von Wenddessen undt Ganze Gemeinde daselbst“ an den zuständigen Superintendenten in Königslutter mit Ankündigung des Weitertragens der Klage vor den Landesherrn. Aus der Handschrift abgedruckt bei Kruse: Der mystische Spiritualist Christian Hoburg (wie Anm. 2), S. 116 f.
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III. „Auf recommendation der Sterne zu Lüneburg“, so weist das Konsistorialprotokoll vom 28. November 1644 über Hoburgs Probepredigt tags zuvor in der Schlosskapelle und über seine Bestallung in Bornum aus, habe „Ser[inissi]mus Ill[ustrissi]mus in gnaden gewilliget, das Er pro pastore dahin verordnet werden soll“, das Bestehen der Probepredigt habe gezeigt, „das man mit ihm dahero woll friedlich“ zurecht kommen werde.19 Dieserhalb hatte es zufolge der Formulierung im Vorfeld offenkundig einige Besorgnis gegeben. Im Druckerei- und Verlagsgeschäft der Gebrüder Johann und Heinrich Stern nämlich hatte der junge Hoburg als Korrektor Unterschlupf gefunden, nachdem er sich in Lauenburg, wo man ihm als Kantor Früh- und Wochenpredigten überlassen hatte, durch seine Berührung mit Schwenckfeldern und Schwenckfeld-Schriften verdächtig gemacht hatte, und anschließend (nach Hauslehrer-Überbrückungen unter falschem Namen)20 in Uelzen als mit gleichen Predigtaufgaben betrauter Sub-Konrektor aufgrund der radikal mystischen und zugleich staats- und kirchenkritischen Töne seiner frühen Erbauungsschriften sogar aus dem Amt gejagt worden war. Er trug also den Stempel eines unruhigen und Ärgernis stiftenden Spiritualisten gerade durch die Unbedingtheit jener Auffassungen, die sein ein halbes Jahrhundert jüngerer pietistischer Ruhmredner Johann Henrich Reitz als unerhört modern anspricht: Dann nun waren ihm die Augen auffgegangen / daß er den Verfall erkandte und zugleich sahe / wie man dem Geist Gottes seine Krafft nicht liesse / sondern durch Predigen und lehren von aussen thun wolte / was der Heil. Geist in den Hertzen thun 19 Ebd., S. 110 und (Zitat) S. 114. Vgl., im Kontext der eigenwilligen, durchaus nicht am juste milieu der konfessionellen Rechtgläubigkeit orientierten Berufungspolitik des Herzogs August Jörg Jochen Berns: Einleitung [zum Katalogteil „Herzog August – Frömmigkeit und kirchliche Tradition“] im Katalog der Niedersächsischen Landesausstellung 1979: Sammler Fürst Gelehrter. Herzog August zu Braunschweig und Lüneburg 1579–1666 [Konzeption Paul Raabe / Maria von Katte, Redaktion Paul Raabe / Eckhard Schinkel], Wolfenbüttel 1979 (Ausstellungskataloge der Herzog August Bibliothek, Bd. 27), S. 343–353, hier S. 350. 20 Die sonst unbekannte Zeit des Untertauchens nach den Lauenburger Konfrontationen mit der Kirchenbehörde im Jahr 1632 als „Ludimoderator“ in Gifhorn am Südrand der Lüneburger Heide wird nur aus der quellennahen regionalen Kirchengeschichte berichtet, Johann Georg Bertram: Das Evangelische Lüneburg: oder Reformations- Und Kirchen=Historie / Der Alt=berühmten Stadt Lüneburg, Braunschweig 1719, S. 229 f. Dort habe Hoburg, um vor den wachsamen Augen des mit den Verhältnissen in Uelzen wohlvertrauten Superintendenten Henrich Kregel unerkannt zu bleiben, auf seinen schon als 17-Jähriger geführten Decknamen Andreas Seuberlich zurückgegriffen, unter dem er dann auch seinen Traktat Andreas Seuberlich: Heimischer Prüffung Vortrab publiziert hat. Karl Kayser : Hannoversche Enthusiasten des siebzehnten Jahrhunderts. In: Zeitschrift der Gesellschaft für Niedersächsische Kirchengeschichte 10 (1905), (zu Hoburg S. 45–51, hier S. 45 f.) datiert den „Schuldienst in Gifhorn“ fälschlich auf 1624. – Vgl. meinem Lexikon-Artikel Schrader: Christian Hoburg (1979, L 59), im vorliegenden Band S. 347–351, bes. S. 347.
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müste und wie wahrhaftig die / welche andre zurecht führen solten [also die bestallten Geistlichen] / zuvor selbst müsten erleuchtet und vom Geist Christi wiedergebohren seyn. Und das ist die Materie / worüber der selige Hoburg mit den heutigen Lehrern so viel zu thun gehabt […] / so redet eine erleuchtete Seele in Franckreich Mad. Guion […] von diesem Fehler und Schaden also: La cause, pour laquelle on reüssit si peu / reformer les hommes – c’est: que l’on s’y prend par le dehors – Mais si on leur donnoit d’abord la clef de l’interieur, le dehors se reformeroit en suite avec une facilit8 toute naturelle.21
Die vermehrte Schärfe und Zahl der 1643/44 während der Tätigkeit im Sternschen Verlagshaus verfassten (partiell wegen ihres Überschreitens aller erträglichen Lizenzen pseudonym unter die Leute gebrachten) Bücher waren geeignet, das Unternehmen zu diskreditieren und machten es wünschbar, den Mann, mit dessen Grundsätzen die Verleger in milderer Form durchaus sympathisierten, nicht allein dem fürstlichen Schutz zu unterstellen und ihn in einem für die Observierung noch hinlänglich nahen Provinzpfarramt aus der Schusslinie zu bringen, sondern auch durch die Einbindung in Amt und Verantwortung menschenfreundlich zu sänftigen. Dass sich aber der Fürst auf ein solches Wagnis einließ, nachdem Hoburg durch die Vorlage eines (1645 erscheinenden) ihm selbst und den Wolfenbütteler Prinzen zugeeigneten Fürstenspiegels (Christ=Fürstlicher Jugend=Spiegel: Allen Jungen Regenten […] wol zu beschawen)22 und auch durch die Probepredigt am Hof seine Fähigkeit zur Mäßigung nachgewiesen hatte, das hatte nicht nur mit Augusts besonderen Verhältnis zu den „Sternen“ zu tun, sondern auch mit Übereinstimmungen der theologischen Grundauffassung. Die quellenmäßig solide fundierte, vor allem auf die über vier Jahrzehnte 21 Reitz: Historie Der Wiedergebohrnen. Neudruck (1982, L 2), Bd. 1, III. Teil [Offenbach] 1701, S. 63 f. 22 In eines der beiden Exemplare der Herzog August Bibliothek (in: 138.4 Ethica) ist vor dem Frontispiz das Fürstliche Wappen eingeklebt. Die Widmung lautet „Deß Durchleuchtigen / Hochgebornen Fürsten vnd Herrn / Herrn Augusti, Hertzogens zu Braunschweig vnd Lüneburg / etc. meines gnädigen Fürsten vnd Herrn / Jungen Printzen vnd H.H.H. Söhnen […] H. Rudolpho-Augusto; H. Antonio-Vlrico, H. Ferdinando-Alberto […] Wündsche ich die Gottseligkeit Davids / die Weißheit Salomons / sampt einem newen Hertzen / newen Wachsthumb in allen Christ=Fürstlichen Tugenden in diesem Newen Jahr.“ (S. 3) So sollen die Prinzen „täglich ihres hochgeehrten Herrn Vatters Wundsch nach se ipsis meliores, das ist sapientes, sanctiores werden.“ (S. 14), vgl.: Sammler Fürst Gelehrter (wie Anm. 19), Nr. 796, S. 373, Faksimile des Frontispiz S. 364. Eine detaillierte Analyse gibt Martin Kruse im Hoburg-Kapitel seiner Monographie: Speners Kritik am landesherrlichen Kirchenregiment und ihre Vorgeschichte, Witten 1971 (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus, Bd. 10), vgl. die Exposition der zentralen Argumente und Erziehungsmaximen bei Jörg Jochen Müller [später: Berns]: Fürstenerziehung im 17. Jahrhundert. Am Beispiel Herzog Anton Ulrichs von Braunschweig und Lüneburg. In: Stadt – Schule – Universität – Buchwesen (wie Anm. 9), S. 243–260 und (Diskussion) S. 295–300, zum „Jugend=Spiegel“ S. 245–247. Im Kapitel über die Prinzenerziehung für die Söhne Rudolf August, den „Pietisten auf dem Welfenthron“, Anton Ulrich und Ferdinand Albrecht hat Le Cam: La politique scolaire d’August le Jeune (wie Anm. 1), Bd. I,1, S. 106–107 dieses wichtige Dokument nicht berücksichtigt.
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(von 1626 bis 1666) dichte Korrespondenz zwischen dem Herzog und Johann Stern und seinem Sohn gegründete Monographie Hans Dumreses über das Sternsche Verlagshaus23 zeigt deutlich das lebenslang vollkommen ungetrübte Vertrauen zwischen Fürst und Firma in fortwährendem, die Firma zum Erblühen bringendem wechselseitigem Geben und Nehmen, darüber hinaus aber auch einen absolut bestimmenden Einfluss des Fürsten auf die Firmenpolitik – auch in ihrer theologischen Ausrichtung als Bibelverlag und Verlag einer biblizistisch gegründeten, reformerisch-antidogmatischen und ethischvolksbildnerischen Erbauungsliteratur sowie der wichtigsten im Herzogtum eingeführten Schul- und Handbücher.24 Undenkbar ist also ein Täuschungsmanöver der „Sterne“ mit ihrer Empfehlung: ihr Wissen über Herkunft, Charakter und Ausrichtung ihres Mitarbeiters Hoburg kann dem Herzog bei seiner Entscheidung für ihn nicht unbekannt gewesen sein. Vierzig Jahre schon währte die vertraute Kooperation, seit der junge Adlige unmittelbar nach seiner Bildungreise mit der von daher mitgebrachten Idee zum Anlegen einer universalen Büchersammlung und seit seiner Niederlassung in Hitzacker 1604 sich zu Ankäufen aus dem Sortiment im nahen Lüneburger Buchladen des Vaters Johann Stern eingefunden hatte, wo er fortan seine Bücher einbinden ließ. Der Sohn Johann Stern (Firmenleiter seit 1614) gewann als „Faktor“ eine zentrale Stellung in dem von Herzog August fortschreitend ausgebauten europaweiten Netz der Bucherwerb-Agenten,25 wobei die Anlieferung aller möglichen anderen Artikel höfischer Begehrlichkeit von 23 Hans Dumrese: Der Sternverlag im 17. und 18. Jahrhundert (= Hans Dumrese und Friedrich Carl Schilling: Lüneburg und die Offizin der Sterne, Teil I), Lüneburg 1956, S. 1–132, Zitat aus dem Quellen- und Literaturnachweis, S. 131 (Detailnachweise S. 125–129). Wichtige, vor allem buchmarkgeschichtliche Zusatzinformationen gibt Wolfgang Schellmann: Das Kontobuch der Lüneburger Offizin der Sterne. Eine Quelle neuer Erkenntnisse über Ökonomie und Usancen im Buchgewerbe des 17. Jahrhunderts. In: Archiv für Geschichte des Buchwesens 68 (2013), S. 47–103, zum Verlagsprofil S. 52, 55, 86, zur massenhaften Verbreitung der Bücher Johann Arndts S. 55, 58, 92, 102 f., zum Netz der Händler und Umsatz S. 62, 84. Da das ausgewertete Kontobuch erst nach einer Gesamtinventur 1666 einsetzt, fehlen Aufschlüsse über Hoburgs Tätigkeit. Lagerbestände seiner Bücher gab es schon bei dieser Inventur nicht mehr. Zum Verhältnis des Herzogs August gegenüber den Brüdern Stern, zu ihren gemeinsamen Bemühungen um die Ausbreitung der Ideen Johann Arndts auch die gemeinsame Bemühungen zur Sicherung der Lebensgrundlage Christian Hoburgs und seiner Familie detaillierter Schrader: „Reisset nieder ewer Inwendiges Babel“ (2012, L 48), im vorliegenden Band S. 353–380. 24 Insbesondere zu diesem Aspekt wichtige Ergänzungen bei Le Cam: La politique scolaire d’August le Jeune (wie Anm. 1), Bd. I,1, S. 364–367, 309, 388; Bd. I,2, S. 667–671, 678 f., 690 f., 912–915. 25 Vgl. außer Dumrese: Der Sternverlag (wie Anm. 23), S. 11, 16, 60, die Nachweise im Katalogband: Sammler Fürst Gelehrter (wie Anm. 19), bes. in den Beiträgen von Helmar Härtel: Herzog August als Büchersammler. Zum Aufbau seiner Bibliothek, S. 314–334, hier S. 319 („Das herzogliche Agentennetz“), Maria von Katte: Die Bibliotheca Augusta – Gestalt und Ursprung, S. 287–293, und Paul Raabe: Herzog August und die „Sterne“ in Lüneburg, S. 157–161; im Überblick Leo G. Linder : Die Herzog August Bibliothek und Wolfenbüttel, Braunschweig 1998, S. 8, 115–137, bes. S. 118–120. Dazu auch Le Cam: La politique scolaire d’August le Jeune (wie Anm. 1), Bd. I,1, S. 94–96.
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Spezereien und exotischen Früchten bis hin zu Pferden und Fuhrwerk gleich mitorganisiert wurde. Nach dem Abzug des jungen Herzogs von Hitzacker ins welfische Gesamtlehen Braunschweig, zum Erwarten und Beschleunigen des Abzugs der Kaiserlichen aus dem ererbten Wolfenbüttel, hat Stern 1636 den Umzug der Bibliothek bewerkstelligt und sie so vor der Plünderung durch die einfallenden Schweden gerettet. Seither hat er auch Verwaltungsgeschäfte in Hitzacker mitbesorgt.26 Seit 1621 (nur das als mathematisches Exerzitium entworfene Schachbuch war 1616 noch in Leipzig herausgekommen) ließ August alle eigenen gelehrten und religiösen Arbeiten bei den „Sternen“ verlegen und großenteils drucken: für seine im geheimwissenschaftlich-naturmagischen Denken der Pansophie (Johannes Trithemius) wurzelnde, typographisch besonders komplizierte Abhandlung über Geheimschriften, die eigentlich gar nicht ins Sternsche Verlagsprogramm passte (Gustavi Seleni Cryptomenytices et Cryprographiæ Libri IX, Lüneburg 1624),27 verwirklichten die Sterne 1623 ihren Plan, dem Verlagsgeschäft eine (noch heute bestehende) Druckerei anzugliedern (wogegen das Sortiment aufgegeben wurde).28 Die aufwendigen Sternschen Bibeleditionen und Gesangbücher hat der Herzog durch eigene Mitarbeit, aber auch Finanzbeihilfen abgesichert, wohingegen die „Sterne“ ihm und seinen Söhnen in Engpassphasen auch schon einmal Bankierdienste leisteten.29 In der neuen Residenz Wolfenbüttel ließ der Herzog 1645 eine Filiale der Sternschen Druckerei einrichten, die praktisch zur (den Unternehmern kaum Gewinn bringenden) Hofoffizin wurde und in der auch alle späten Huldigungswerke für den Herzog erschienen. Zudem hat er die „Sterne“ in Auseinandersetzungen gegen das Lüneburger Stadtpatriziat unterstützt, hat ihnen renommierte Verlagsautoren vermittelt wie Sigismund Scheretz, Ho[ von Ho[negg, den berühmten Korrespondenzfreund Johann Valentin Andreae (mit dem Johann Stern auch selbst eine wissenschaftliche Korrespondenz aufbaute) und dessen Freund Levin Suter.30 Bei seiner Reise an den Kaiserhof 1628 zur vorsorglichen Si26 Dumrese: Der Sternverlag (wie Anm. 23), S. 20 und 36. 27 Die theologisch-pansophisch-kabbalistischen Interessen, die schon dem Schachbuch, besonders aber der Kryptographie des jungen Herzogs zugrunde lagen, hat vor allem Jörg Jochen Müller [später : Berns]: Wolfenbüttel in der Barockliteratur – Barockliteraten in Wolfenbüttel. In: Beiträge zur Geschichte der Stadt Wolfenbüttel. Hg. von J[oseph] König, Wolfenbüttel 1970, S. 74–92, hier S. 80 hervorgehoben. Vgl. die Beiträge von Marion Faber : „Schachspiel“ und von Gerhard F. Strasser: „Geheimschrift“ in: Sammler Fürst Gelehrter (wie Anm. 19), S. 172–180 und 181–191. Eine Übersicht über Herzog Augusts literarisches Werk und seine Verwaltungsschriften gibt Le Cam: La politique scolaire d’August le Jeune (wie Anm. 1), Bd. I,2, S. 98–100, 963 f. 28 Vgl. Strasser: Geheimschrift (wie Anm. 27), S. 181–191 (mit Faksimiles von Handschrift, Druckvorlage und Titelblatt), sowie Dumrese: Der Sternverlag (wie Anm. 23), S. 19 f., 26 f., 59 f., 65, 69. 29 Dumrese: Der Sternverlag (wie Anm. 23), S. 29, 36 f., 66 und 94. 30 Über Dumrese: Der Sternverlag (wie Anm. 23), S. 30, hinaus vor allem Martin Brecht: J.V. Andreae und Herzog August zu Braunschweig-Lüneburg. Ihr Briefwechsel und ihr Umfeld,
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cherung des eigenen Erbes hat August sich sogar in Wien für ein kaiserliches Privileg zugunsten des Verlags und die Erhebung der Stern-Familie in den Adelsstand eingesetzt: beides wurde erst 1645 vollzogen, als Ferdinand III. an einem Ausgleich mit den protestantischen Fürsten besonders interessiert war.31 Wichtiger aber noch als all dieses – und für die Frage der Vermittlung und Protektion Hoburgs von entscheidender Relevanz – ist es, dass die Gebrüder Stern innigst eingewoben waren in die religionspolitische Interessenpolitik und in das theologische Kontakt- und Berufungssystem des Herzogs.32 Schon lange war in der Forschung bekannt und häufiger wiederholt, dass der SternVerlag eine besondere Pflegestätte der zunächst heftig beargwöhnten Erbauungsbücher und Kirchenreformideen des Generalsuperintendenten des Fürstentums Lüneburg, Johann Arndt (1555–1621), namentlich seiner Vier Bücher vom Wahren Christenthum (seit 1605) gewesen ist. Arndt hat bekanntlich den seit der Reformation breitenwirksamsten Neuanstoß zu einer intensivierten Frömmigkeit gegeben und so sehr fast alle Argumente des späteren Pietismus, insbesondere schon der (1675 zuerst ja als Vorrede zu einer Neuausgabe der Arndtschen Postille publizierten) Pia Desideria Philipp Jacob Speners präformiert, dass es heute Bestrebungen gibt, den Pietismus um zwei Generationen bis zu seiner Urheberschaft zurückzudatieren.33 Und es Stuttgart-Bad Cannstatt 2002 (Clavis Philosophiae, Bd. 8), S. 26, 66 f., 77, 224, 227–229, 243 und 245 f. 31 Dumrese: Der Sternverlag (wie Anm. 23), S. 58 f. Dazu auch Schellmann: Kontobuch (wie Anm. 23), S. 49, zur Filialdruckerei in Wolfenbüttel S. 53. 32 Wie unmittelbar und intensiv der Herzog sich persönlich in der Reform und Verwaltung des gesamten Bildungssystems seines Landes, auch zur Beförderung der eigenen theologischen Überzeugungen und Machtbeschneidung der Kirchenorthodoxie engagiert hat, zeigen die Quellenauswertungen bei Le Cam: La politique scolaire d’August le Jeune (wie Anm. 1) deutlich. Vgl. dazu insbes. Bd. I,1, S. 96 f., 106–123, 318–362; Bd. I,2, S. 519–526, 909–917. 33 Die entsprechende Ausweitung des Pietismus-Begriffs, die ein buntscheckiges Feld erneuerter und intensivierter Frömmigkeits- und Reformbestrebungen seit dem Ende des Reformationsjahrhunderts (ebenso wie dann auch die diversen Nachfolgeströmungen seit dem 19. Jahrhundert) dem Pietismus selbst zuschlägt, der sich als Breitenbewegung erst im letzten Drittel des 17. Jahrhunderts etabliert und im 18. zu einer Prägekraft der Epoche anwächst, ist mit der Konzeption der großen vierbändigen „Geschichte des Pietismus“ (seit 1993) angestoßen worden. Aus dem legitimen Bestreben heraus, die Sache selbst sowohl von ihrem Vorfeld und den theologischen und gedanklichen Vorbereitungen her als auch in ihren Nachklängen und internationalen Entsprechungen zu beleuchten, hat man dabei die eingeführten spezifizierenden Begriffe für die Einzelströmungen unter der programmatischen Klammer eines vier Jahrhunderte und weltumspannend verwandte Parallelbemühungen umfassenden einheitlichen „erweiterten Pietismusbegriffs“ eingeebnet, dem dann ein „engerer“ für die Kernzeit, die Epoche des Pietismus, gegenübergestellt wird. Die problematischen Folgen für griffige terminologische Sonderungen wird an einer Gestalt wie Hoburg deutlich, der so zugleich als (in seiner vorbereitenden Funktion umstrittener) Vorläufer, aber auch selbst schon als Teil des Pietismus (im weiteren Sinne) erscheint, wobei er (als Schüler Johann Arndts) gar auch schon als ein Ideennachfolger in dessen zweiter Generation ausgewiesen werden könnte. Für die zum Teil polemisch geführte Debatte, an der dem um pragmatisch trennklare Begriffe bemühten Historiker
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war auch schon bekannt, dass der Herzog an den Bemühungen zur publizistischen Durchsetzung des Arndtschen Werks und der seiner Frömmigkeitsnormen entscheidend teilgenommen hat, sich unter den Gottesmännern bevorzugt mit Arndtianern umgab und dass er die „Sterne“ an diesem Netzwerk, sogar im Fall seines berühmtesten Freundes unter den Arndt-Sympathisanten, Johann Valentin Andreae, teilhaben ließ.34 Seit Johannes Wallmanns Aufsatz vieles als Streit um des Kaisers Bart erscheinen muss, nenne ich als Eckpositionen den begründenden Essay, Martin Brecht: Einleitung. In: Der Pietismus vom siebzehnten bis zum frühen achtzehnten Jahrhundert (wie Anm. 11), S. 1–10; Johannes Wallmann: Was ist Pietismus [und] ders.: Fehlstart (vgl. Anm. 3). In: Pietismus und Neuzeit 20 (1994), S. 11–27 und 218–235; Hartmut Lehmann: Engerer, weiterer und erweiterter Pietismusbegriff […]. In: Pietismus und Neuzeit 29 (2003), S. 18–36, Johannes Wallmann: L’8tat actuel de la recherche sur le pi8tisme [und] Hartmut Lehmann: La crise religieuse du XVIIe siHcle. In: Les pi8tismes / l’.ge classique. Crise, conversions, institutions. Hg. von Anne Lagny, Villeneuve-d’Ascq 2001, S. 31–55 und 57–67; dann Schlag auf Schlag Johannes Wallmann: Pietismus – Ein Epochenbegriff oder ein typologischer Begriff ? Antwort auf Hartmut Lehmann. In: Pietismus und Neuzeit 30 (2004), S. 191–224; Hartmut Lehmann: Erledigte und nicht erledigte Aufgaben der Pietismusforschung. Eine nochmalige Antwort an Johannes Wallmann. In: Pietismus und Neuzeit 31 (2005), S. 13–20, so dass für das Herausgeberteam Udo Sträter : Vorwort, ebd., S. 5 konstatierte, mit diesem „weiteren Beitrag zur Debatte um Reichweite und Struktur des Pietismus-Begriffs […] dürften die Argumente hinreichend ausgetauscht und zur Diskussion gestellt sein.“ Den im Kern unfruchtbaren, aber stets Gemüter und Tintenfluss erregenden Terminologiestreit um epochenspezifisch konzis eingegrenzte oder umgreifend ausweitende Begriffsverwendungen (ähnliche gibt es immer mal wieder z. B. um die Termini „Frühe Neuzeit“, „Romantik“, „Realismus“ oder „Moderne“, über die Inklusion oder Exklusion der schweizerischen und österreichischen in die deutsche Literaturgeschichte) haben dieselben Protagonisten an anderer Front wiedereröffnet: Martin Brecht: Der radikale Pietismus – die Problematik einer historischen Kategorie. Ein Plakat [und] Johannes Wallmann: Kirchlicher und radikaler Pietismus. Zu einer kirchengeschichtlichen Grundunterscheidung [und] Hartmut Lehmann: Die langfristigen Folgen der kirchlichen Ausgrenzung des radikalen Pietismus. In: Der radikale Pietismus. Perspektiven der Forschung. Hg. von Wolfgang Breul, Marcus Meier und Lothar Vogel, Göttingen 2010 (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus, Bd. 55), S. 11–18, 19–43, 45–55 (mit Stellungnahme der Herausgeber im „Vorwort“ S. 5 f.) – Zumindest für den literaturgeschichtlichen Gebrauch scheinen mir die klärenden Abgrenzungsbemühungen und Argumente nicht obsolet geworden, die ich 1989 im Kapitel „Terminologische und historische Eingrenzungen: Pietismus – Radikalpietismus – philadelphische Bewegung“ gegeben habe, Schrader : Literaturproduktion (1989, L 1), S. 49–73 und 359–368, in durchgesehener Fassung im vorliegenden Band S. 19–62. 34 Nach Berns: Einleitung (wie Anm. 19), S. 349, war Andreae „einer der enthusiastischsten, sicherlich aber der wortgewaltigste und phantasievollste Arndt-Anhänger“. Genauere Auslotung des Verhältnisses, nachdem Andreae schon 1619 („Geistliche Kurtzweil“) in vorderster Linie gegen die orthodoxen Verdächtigungen des Wegbereiters einer neuen und intensivierten Frömmigkeit aufgetreten war, dem er im selben Jahr auch seine „Christianopolis“ gewidmet hat, bei Brecht: Andreae und Herzog August (wie Anm. 30), bes. S. 20, 66 f. 152 f., 229; vgl. Hans Schneider: Der fremde Arndt. Studien zu Leben, Werk und Wirkung Johann Arndts (1555–1621), Göttingen 2006 (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus, Bd. 48), S. 263, sowie Martin Brecht: Johann Valentin Andreae 1586–1654. Eine Biographie. Mit einem Essay von Christoph Brecht: Johann Valentin Andreae. Zum literarischen Profil eines deutschen Schriftstellers im 17. Jahrhundert, Göttingen 2008, vgl. Register unter „Arndt“, „Braunschweig-Lüneburg, August d.J. Herzog von und zu“ und „Stern (Verlag), Heinrich und Johannes“. Abriss im Katalog der von Eberhard Gutekunst konzipierten Ausstellung: Johann Valentin Andreae
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von 1979 über Herzog August […] als Gestalt der Kirchengeschichte kann man aber deutlich erkennen, dass der Fürst hier die eigentlich treibende Kraft war, dass er mit Beharrlichkeit und Konsequenz die Impulse gegeben hat und dass die Verleger, aber auch die debattebefördernden Theologen hierbei seine Werkzeuge waren,35 dergestalt dass „die Arndtsche Frömmigkeitsbewegung“ sich grundlegend überhaupt dank dieses „Schirmherrn“ hat „behaupten und erfolgreich durchsetzen können.“36 Wallmann hat herausgefunden, dass der junge Prinz schon in den frühen Jahren in Hitzacker mit dem seit 1611 in Celle wirkenden Arndt in persönlichen und korrespondenzlichen Kontakt, womöglich gar in Freundschaft gekommen ist. Briefe von ihm an den verehrten Theologen sind in den postum-apologetischen Zusatzbänden zum Wahren Christentum und in der wichtigsten Apologie des Arndt-Mitarbeiters und Nachlassverwalters Melchior Breler abgedruckt, der (wie andere auch) bezeugt hat, dass der junge Herzog „Arndo fuisset familiarissimus“. Im Juni 1620 hat ihm Arndt selbst die Vorrede adressiert und sein Konterfei vorangesetzt zur im Jahr darauf im Stern-Verlag erscheinenden Ausgabe von Johann Christoph Busenreuths Abhandlung Reformatio Papatus, Iuxt/ Confessionem Augustanam […] nunc primFm ex august. Hitzigeriana Bibliothec. prodit. Cum Praefatione Johannis Arndten. Er nennt dort den Herzog, dem der Titelhinweis, die Arbeit sei aus den Beständen der Bibliothek in Hitzacker geschöpft, zusätzlich schmeichelt, als Anreger des Werks.37 Im selben Jahr übrigens war Arndt auch Vorredner für die Sternsche Folio-Bibel und begannen die Sternschen Neuausgaben der Vier Bücher vom Wahren Christenthum,38 nachdem der langjährige ,Bestseller‘ des Verlags, das Paradiß Gärtlein, 1614, zwei Jahre nach dem Magdeburger Erstdruck, bei den Sternen veröffentlicht worden war.39
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1568–1654. Leben, Werk und Wirkung eines universalen Geistes. Ausstellung zum 400. Geburstag, Bad Liebenzell – Stuttgart 1986, S. 14 f., 41, 47 f., 106 und 109–115. Ganz offenbar war er der Anstoßgeber, also nicht umgekehrt, wie man zuvor angenommen hatte, ein bloß wohlgefälliger Unterstützer der Verlagsausrichtung als einer bevorzugten „Pflegestätte“ der Arndt-Verbreitung, wie noch Dumrese: Der Sternverlag (wie Anm. 23), S. 61, ausführt. Resümee bei Wallmann: Herzog August (wie Anm. 3), S. 44 f. Ebd., S. 32 f. und 35. Wegen des Herzogbildes und der Vorrede hat Dumrese: Der Sternverlag (wie Anm. 23), S. 19 f. das im Titel anonyme Werk fälschlich sogar der Feder des Herzogs zugeschrieben. Vgl. Schneider: Der fremde Arndt (wie Anm. 34), S. 263, insbesondere Inge Mager : Die Beziehung Herzog Augusts von Braunschweig-Wolfenbüttel zu den Theologen Georg Calixt und Johann Valentin Andreae. In: Pietismus und Neuzeit 6 (1980), S. 76–98, hier S. 92. Dumrese: Der Sternverlag (wie Anm. 23), S. 19; zu Arndt als „Spitzenautor“ des Sternschen Betriebs, dessen Schutz sich Herzog August „zu seiner eigenen Sache gemacht“ habe, auch Brecht: Andreae und Herzog August (wie Anm. 30), S. 26 f., zu einer Stern-Ausgabe des „Wahren Christentum“ 1625 ebd., S. 222; vgl. zum Kenntnisstand vor Wallmanns Studie Jörg Jochen Berns: Herzog August und die Frömmigkeit. In: Sammler Fürst Gelehrter (wie Anm. 19), S. 364–378, hier S. 365 f. („Johann Arndt“). Raabe: Herzog August und die „Sterne“ (wie Anm. 25), S. 157 (spätere Braunschweiger Ausgabe
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Wenn die in großer Zahl im Stern-Verlag erscheinenden umfänglichen Rechtfertigungsschriften Arndts gegen die kurz vor seinem Tod und besonders in den Jahren danach (aufgrund ihres regen Gebrauchs bei den Schwenckfeldern) losbrechenden dogmatischen Verdächtigungen seitens der Lutherschen Orthodoxie seit Mitte der 1620er Jahre bewirken konnten, dass die Gegner verstummten und die antidogmatisch-reformerisch-mystische Frömmigkeit in breiten Schichten zum Tragen kam und so Langzeitwirkungen bis in den Pietismus hinein entfalten konnte, dann ist offenbar Herzog August der Spiritus Rector im Hintergrund gewesen. Zwei der fruchtbarsten unter den mit seinem Schutz (und dem Einspruch des Welfen-Vetters Herzog Christian in Celle gegen Störmanöver der Lüneburger Ratszensur) im Stern-Verlag herausgebrachten Arndt-Apologeten waren Herzog Augusts Bedienstete und Vertraute. Den in schroffer Konfessionen- und Institutionenkritik in gleich fünf Abhandlungen für seinen vormaligen Meister Panier aufwerfenden Arndt-Mitarbeiter und Nachlassverwalter Melchior Breler, Begründer des dann von Hoburg am prominentesten repräsentierten linken Flügels der Arndt-Rezeption,40 hat August als Leibarzt an seinen Hitzackerer Hof gezogen. Der aus orthodoxer Schulung stammende Arndt-Apologet Hinrich Varenius, der sehr viel vorsichtiger die Übereinstimmung Arndts mit allen rechtgläubigen Autoritäten, namentlich Luther selbst, herausarbeitet (worauf sich dann Spener opulent berufen konnte), war in Hitzacker sein Hofprediger. Abgesehen davon, dass er ihnen die Freiräume für diese Arbeit gegeben hat, wird man den Herzog angesichts ihrer Zueignungen und Hinweise auf seine Förderung als wesentlichen Anreger ansehen können.41 Überhaupt hat der Fürst sich mit Frontispiz S. 366, Nr. 770), vgl. zu Arndt als „Hauptautor“ aufgrund des Verlagskatalogs S. 160. Zu weiteren Arndt-Werken im Stern-Verlag vgl. Dumrese: Der Sternverlag (wie Anm. 23), S. 19 („Lehr= und Trost=Büchlein“), 56 und 62 („Psalterauslegung“, auf S. 63 allerdings präsentiert mit dem Titelblatt „Die Propheten Alle Deutsch D. Mart. Luth.“). Eine vollständige Bibliographie der Sternschen Arndt-Ausgaben, -Auszüge und Schriften zu seiner Verteidigung oder Verbreitung bleibt ein Desiderat. Eine wichtige Grundlage bietet die „Zeittafel zur Biographie Johann Arndts“ (mit Ausweis der Erstdrucke) im Anhang zu dem allenthalben neue Facetten dieser Reformgestalt erschließenden Studien-Band von Schneider: Der fremde Arndt (wie Anm. 34), S. 257–264, sekundäre „Arndt-Literatur 1700–2005“, ebd., S. 265–278, speziell zum „Paradiesgärtlein“ und zur Psalmenerklärung S. 180–189. Vgl. jetzt auch Hans Schneider: Johann Arndt. In: Frühe Neuzeit in Deutschland 1520–1620. Literaturwissenschaftliches Verfasserlexikon. Bd. 1, Berlin – Boston 2011, Sp. 146–157, hier Sp. 155–157. 40 Schneider: Der fremde Arndt (wie Anm. 34), S. 81, konstatiert mit Nachweis einer opulenten Liste radikalpietistischer Referenzen explizit: „Der ,linke Flügel‘ der Arndt-Schüler wird durch Melchior Breler eröffnet, und die Linie führt über Christian Hoburg zu den radikalen Pietisten.“ 41 Vgl. hierzu namentlich den Forschungsertrag von Wallmann: Herzog August (wie Anm. 3), hier zur Serie der bei den „Sternen“ erscheinenden Arndt-Apologien, S. 32 und 35, zu Brelers sechs Arndt-Verteidigungsschriften und Ausgaben im Stern-Verlag zwischen 1621 und 1625, S. 31 und 36, zu seinem Wirken in Hitzacker und seiner frühen Korrespondenz auch mit Johann Valentin Andreae (vielleicht hat er den Herzog zuerst auf den Arndt-freundlichen Gelehrten aus Württemberg hingewiesen), S. 38; zu Varenius, der vor dem Wechsel in die Uelzener Propstei 1617 Pastor primarius und Hofprediger in Hitzacker war, und seinen ausdrücklich als Auftrag
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bekanntlich gern mit Reformtheologen umgeben bzw. ihren geistlichen Rat gesucht: so stand er in enger Verbindung mit dem Professor an seiner Landesuniversität in Helmstedt, Georg Calixt,42 dessen beherztes Eintreten gegen die unfruchtbare Streittheologie des Konfessionalismus ihm besonders naheliegen musste, hatte er den Dreißigjährigen Krieg doch vorrangig als landverheerende Religionsauseinandersetzung erfahren und dabei deutlich mehr von den „Locustae Septentrionales“, den angeblich zur Verteidigung des eigenen evangelischen Glaubens eingerückten skandinavischen Heuschrecken,43 als von den Katholisch-kaiserlichen zu leiden gehabt. In dieser Grunderfahrung sehe ich auch den Impuls für Augusts lebenslangen persönlichen Einsatz für einen von der Totaldominanz Luthers freikommenden deutschen Bibeltext. Unter den zahlreichen Arndtianern im Kreis seiner theologischen und überhaupt gelehrten Vertrauensleute ragt natürlich der württembergische Korrespondent Andreae hervor; bedeutsam war aber auch als sein Generalsuperintendent (1649 bis zum frühen Tod 1655) der Kirchenreformer Joachim Lütkemann.44 Den hat ihm bezeichnenderweise neuder Lüneburger Herzöge ausgewiesenen (der zweite Band ist allein dem Herzog August gewidmet) Arndt-Apologien, zu deren Publikationsprotektion gegen den Lüneburger ZensurEinspruch und Wirkung, besonders auf Spener, S. 40–44. Resümee in Wallmanns Artikel: August (d.J.), Herzog zu Braunschweig und Lüneburg. In: Religion in Geschichte und Gegenwart. 4. Aufl., Bd. 4, Tübingen 2001, Sp. 958 f. Zum Zensurfall bereits Dumrese: Der Sternverlag (wie Anm. 23), S. 23 und 33. Diese Einsichten haben sich in der kirchengeschichtlichen Forschung durchgesetzt, vgl. Martin Brecht: Das Aufkommen der neuen Frömmigkeitsbewegung in Deutschland. In: Der Pietismus vom siebzehnten bis zum frühen achtzehnten Jahrhundert (wie Anm. 11), S. 113–203, hier S. 147, 184; ders.: Andreae und Herzog August (wie Anm. 30), S. 27 und 138. Den Rückbezug Speners auf Varenius zum Unangreifbarmachen seiner Aufnahme Arndtscher Positionen und Forderungen in den „Pia Desideria“, zugleich aber auch die vergleichsweise geringer gewichtigen Reflexe auf Hoburg entfaltet detaillierter Brecht: Philipp Jacob Spener und das wahre Christentum (wie Anm. 11), S. 177–214, bes. S. 180, 205–208. 42 Erörterungen im Verhältnis zu Herzog August bei Dumrese: Der Sternverlag (wie Anm. 23), S. 61; Sammler Fürst Gelehrter (wie Anm. 19), S. 201, 348 f., 362 f., 377, vgl. Register; Mager : Die Beziehung Herzog Augusts (wie Anm. 37), S. 77–85, 94–98. Dazu auch Martin Jung: Toleranz im Dreißigjährigen Krieg – Georg Calixt (1586–1656). In: Landesgeschichte im Landtag [Hg. von Jürgen Gansäuer], Hannover 2007, S. 696–701 (mit Lit.). 43 Vgl. die Briefzitate aus der Andreae-Korrespondenz mit ihren Auslegungen bei Brecht: Andreae und Herzog August (wie Anm. 30), S. 64 f., und 95 f. Detailliertere Informationen zur Ausgesetztheit der Braunschweig-Lüneburger Länder und über die Grundlage des Überdrusses der norddeutsch-protestantischen Fürsten gegenüber den dänisch-schwedischen Hilfstruppen und ihres Koalitionswechsels in möglichste Neutralität und – wo nötig – gar Anlehnung an die Kaiserlichen bei Carl Ludolf Friedrich Lachmann: Geschichte der Stadt Braunschweig seit ihrer Entstehung bis zum Ende des Jahres 1815, Braunschweig 1816, S. 222–230; Schlaglichter bei Werner Arnold: Reich und Territorium. In: Sammler Fürst Gelehrter (wie Anm. 19), S. 83–114 sowie im Abschnitt von Christof Römer [u. a.]: Landesfürst in Braunschweig und Wolfenbüttel 1635–1666, ebd., S. 115–117 (Einleitung), S. 143–147 („Landesdefension“); dazu Dumrese: Der Sternverlag (wie Anm. 23), S. 34–36, 39 f., 58. Zu den herzoglichen Bemühungen um die Relativierung des Luther-Monopols auf den Bibeltext u. a. Wallmann: Herzog August (wie Anm. 3), S. 24–26. 44 Zu Lütkemann, seiner Reglementierung und Ausweisung in Mecklenburg und seiner von
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erlich eine Empfehlung der Verleger-Brüder Stern zugeführt, nachdem Lütkemann bei seinem Schweriner Landesherrn wegen Freigeisterei und der Bevorzugung des Urtexts vor der Luther-Bibel in Ungnade gefallen und abgesetzt worden war. Man kann es als einen Reflex der am Ende doch üblen Erfahrungen mit Christian Hoburg ansehen, dass der Fürst in diesem Fall, ehe er den verfolgten Gottesmann heimlich und unter militärischer Beschirmung in sein Land holen ließ, die „Sterne“ um gründliche Sondierung des Leumunds Lütkemanns in Rostock bat und dass deren Auskunft hervorhob, er müsse nicht neuerlich um den Kirchenfrieden im eigenen Territorium besorgt sein: „Seine meiste Verfolgung kompt daher, daß Er nach Gottes Wort prediget, vnd zu zeiten vielen die warheit saget.“45 Die umrissenen allgemein- und frömmigkeitsgeschichtlichen Konstellationen sowie die kirchen- und konfessionspolitischen Interessen des Herzogs machen es vollkommen folgerichtig, dass er sich zunächst einbindend auch für den verfolgten Hoburg eingesetzt hat. Mit wem er es da zu tun hatte, wird er genau gewusst haben, ich halte für nicht ausgeschlossen, dass er auch schon bei der Vermittlung der auf Zeit sichernden Korrektorstelle bei den ,Sternen‘ seine Hand im Spiel hatte. Hoburg hatte sich ja bereits durch seine frühe, die Uelzener Kollegial- und Konsistorialmaßregelungen heraufbeschwörende Veröffentlichung Hertzwecker […] Voll Herzensaffts vnd Hertzenseufftzer […] durch Christianum Hoburg, Colleg. der Schul. zu Vltzen (Braunschweig 1640) als eifriger Vertreter der Arndtschen Prinzipien erwiesen. Allein schon das Gerücht von der Publikation bzw. der Ausarbeitung von acht dickleibigen Büchern in nicht viel mehr als einem Jahr neben der Korrektorarbeit im Stern-Verlag musste dem leistungsbezogenen adligen Büchermann Eindruck machen (selbst wenn man nicht sicher sein kann, dass die ,Sterne‘ und er selbst auch schon von den unter Pseudonym publizierten Herzog August dennoch betriebenen Berufung nach Wolfenbüttel, seiner Stellung als Generalsuperintendent des Herzogtums und später auch als Abt von Riddagshausen und zu seiner gegenüber der fürstlichen Aufsicht nicht immer spannungsfreien Mitwirkung an Kirchen- und Schulvisitationen vgl. neben dem Artikel von Johannes Wallmann in: RGG, 4. Aufl. (wie Anm. 41), Bd. 5, 2002, Sp. 620, vor allem Brecht: Frömmigkeitsbewegung (wie Anm. 41), S. 170–173 und 184 und ders.: Andreae und Herzog August (wie Anm. 30), S. 27 f.; Le Cam: La politique scolaire d’August le Jeune (wie Anm. 1), Bd. I,1, S. 97, 111, 121, 317 f., 491; Bd. I,2, S. 601–604. Vgl. ferner Dumrese: Der Sternverlag (wie Anm. 23), S. 60 f. und 126, Anm. 69. 45 Zitat aus dem Stern-Bericht an den Herzog von 1649 (Staatsarchiv Wolfenbüttel, Akt. Hzg. August, Nr. 64), mit der Darstellung der gesamten Lütkemann-Berufungs- und Überführungsaktion bei Dumrese: Der Sternverlag (wie Anm. 23), S. 60 f., vgl. S. 126, zur Bedeutung Lütkemanns als Arndtianer und im Kontext der herzoglichen Kirchenpolitik schon in der Übersichtsdarstellung von Müller: Wolfenbüttel in der Barockliteratur (wie Anm. 27), S. 74–92, danach ders. [Berns] in: Sammler Fürst Gelehrter (wie Anm. 19), S. 349 f., 360 f., 365, 369 f., Wallmann: Herzog August (wie Anm. 3), S. 35. Vgl. Brecht: Frömmigkeitsbewegung (wie Anm. 41), S. 171, ders.: Andreae und Herzog August (wie Anm. 30), S. 27 f., 182. Über Lütkemanns „Regentenpredigt“ als herausragendes „Beispiel politischer Predigt im älteren Luthertum“ und ihre Nähe zu Hoburg vgl. die Eingangsanmerkung zur Erstversion von Wallmann: Herzog August (wie Anm. 3). In: Pietismus und Neuzeit 6 (1980), S. 9.
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schärferen Hoburg-Schriften Kenntnis hatten). Ein krasserer Ton der Kirchenkritik und Bußforderung konnte den Herzog, wie auch sein Eintreten für Breler zeigt, nicht grundsätzlich schrecken – solange die Reform-Emphase nicht neuerlich den Glaubens- und Kirchenfrieden in Gefahr brachte. Ganz zu Recht, wenngleich in der Anschlussforschung übersehen, hatte Jörg Jochen Müller[-Berns] den Herzog schon 1970 charakterisiert: Literarisches Engagement, konfessionelle Eigenwilligkeit und bibliophiles Geschichtsinteresse […] waren Charakteristika dieses Mannes, dem jede Dogmatik – auch die der lutherischen Orthodoxie – fremd war. […] Man hat sich darüber klar zu sein, daß die religiös-schwärmerische Grundhaltung Augusts das eigentliche Substrat aller literarischen und sprachtheoretischen Äußerungen seiner Hofkultur war, auch wenn das nicht immer deutlich zutage trat.46
Im Brief an die ,Sterne‘ hatte der noch nicht in die Regierungsverantwortung gerufene Prinz am 5. Juni 1630 betont, die Lutheraner, die sich zu Recht beschwerten über die Kirchenzensur der Katholiken, die „aliorum scripta castriren“, düften nicht in ebenso ängstliche Überwachung ursprungskräftiger Glaubensäußerungen verfallen: „Die uncastrirte bücher seynd die besten; was einem nicht gefället, das schlage er vorbey.“47 Zu fragen bleibt also eher, weshalb Hoburgs explizit an Arndt anschließendes Libellum Heutiger / Langwieriger / verwirreter Teutscher Krieg […] Vnserm hochbedrängten Vatterland / darinnen das grimmige Fewer des Zorns Gottes / so lange Jahr hero gebrennet hat / vnd noch jetzo Liechterloe brennet: Zur höchstnötigen Erinnerung […] 1644 nicht in der halb-offiziösen ,Sternen‘Druckerei, in der Hoburg doch arbeitete, erschienen ist, sondern, ebenso wie andere seiner in diesen Jahren erschienene Bücher und spätere Nachauflagen, beispielsweise die eigentlich ja doch ins Zentrum des Sternschen Verlagsprogramm gehörige PRAXIS ARNDIANA, Das ist / Hertzens=Seufftzer Vber die 4. Bücher Wahren Christenthumbs S. Joh. Arnds48 und im Jahr darauf der 46 Müller: Wolfenbüttel in der Barockliteratur (wie Anm. 27), S. 82 f. Diese Thesen finden in der Diskussion zu Müller: Fürstenerziehung (wie Anm. 22), S. 296–299, Bestätigung und spezifizierende Ergänzung. 47 Aus der Handschrift zitiert bei Wallmann: Herzog August (wie Anm. 3), S. 34 f. Vgl. besonders auch Mager : Die Beziehung Herzog Augusts (wie Anm. 37), S. 76–98. 48 Erstdruck, noch ohne das Merian-Impressum, 1642. Schon bei Moller: Cimbria literata, II (wie Anm. 12), S. 342, werden weitere Ausgaben Frankfurt 1644, 1662, 1686, 1696 und 1702 mit näheren Angaben über Aufbau und Rezeption, namentlich auch bei Spener (Consil. theol. Lat. III, S. 371), ausgewiesen. Genaue bibliographische Nachweise, auch noch für weitere Ausgaben 1682, 1707, 1718, 1724 und 1729 gibt Dünnhaupt: Personalbibliographien (wie Anm. 4), S. 2094–2096. Zur Ausgabe von 1686 und anderen Hoburg-Drucken in der Tholuck-Bibliothek der Franckeschen Stiftungen in Halle vgl. Brigitte Klosterberg: Die Bibliothek August Tholucks. In: Pietismus und Neuzeit 27 (2001), S. 147–164, hier 150 und 157. Der andere schon im Titel auf Arndt verweisende Traktat, „Arndus redivivus, Das ist: Arndischer Wegweiser zum Himmelreich. Jst ein kurtzer Außzug aus Herrn Johann Arends sehl: Schriften von der rechten neuen Wiedergeburt / ohne welch kein Mensch zu GOTT in sein Reich kommen kan“ ist erst postum erschienen in der Sammelausgabe „Drey geistreiche Tractätlein“ (wie Anm. 10), 1677 u. ö., vgl.
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dem Herzog gewidmete und an seine Söhne gerichtete Jugend=Spiegel (Abb. 4, S. 407), zufolge der Frontispize oder Impressa bei Matthäus Merian in Frankfurt am Main. Und mehr noch ist zu klären, weshalb der Herzog dem umtriebigen Verfasser zwar Schutz und Amt gewährte, aber doch unter fingierten Angaben über sein bisheriges Amt und bloß in einem residenzfernem Provinzdorf.49 Das erste lese ich als Zeichen, dass sich der Fürst und sein Verlagssprachrohr nicht öffentlich kompromittieren durften. Hoburgs aggressive Zuspitzung der arndtianischen Topoi im Sinne des fraglos heterodoxen Caspar Schwenckfeld, dessen Lektüre Hoburg offen seine Erweckung zuschrieb,50 und seine Amtsentsetzungen – nicht irgendwo durch fremde Potentaten, sondern vor der Haustür in welfischen Landen – waren immerhin notorisch. Schon 1644 erschien dann auch unter dem Pseudonym eines (als Evangelischen Prediger in Lieffland ausgegebenen) „Elias Prætorius“ Hoburgs fast 800 Seiten starker Spiegel Der Misbräuche beym Predig=Ampt im heutigen Christenthumb Vnd wie selbige gründlich vnd heilsam zu reformiren, bei dem die Verfasserschaft rasch ruchbar wurde. Mit Impressum 1645, im Jahr also seiner Anstellung im Fürstentum Wolfenbüttel, wurde sie durch den geharnischten Widerspruch der im Ministerium Tripolitanum vereinigten Kirchenbehörden Hamburgs, Lübecks und Lüneburgs kirchenamtlich denunziert.51 Das Kriegsbuch widmet der Verfasser, „Christianus Hoheburgk / Lüneb.“ gemeinschaftlich den […] „Herrn Johann [&] Herrn Henrich SterMoller: Cimbria literata (wie Anm. 12), S. 346, sowie Dünnhaupt: Personalbibliographien (wie Anm. 4), S. 2109. Dazu Schneider: Der fremde Arndt (wie Anm. 34), S. 246. 49 Es herrscht Einigkeit in der Forschung, dass ein von Hoburgs Sohn kolportiertes und in fast alle hagiographischen Hoburg-Viten der pietistischen Sammelbiographien übernommenes Angebot des Fürsten, der Neuberufene dürfe zwischen verschiedenen Pfarrstellen im Lande wählen und sogar gleich eine Superintendentur antreten, vollkommen unglaubwürdig und eine bloße Schutzbehauptung dessen ist, der sich in der kleinen Pfarrei in Bornum am Rande des Elm durch vermeintlich neidische theologisch gelehrte Amtsbrüder verfolgt wähnte. Vgl. grundlegend Kruse: Der mystische Spiritualist Christian Hoburg (wie Anm. 2), S. 106 f., 114 f., ferner Schrader: „Reisset nieder ewer Inwendiges Babel“ (2012, L 48), im vorliegenden Band S. 353–380. 50 Schon in der zweiten Veröffentlichung, dem „Hertz Wecker“ von 1640 (vgl. spätere, teilweise anscheinend auf Kreise der Schwenckfelder in Görlitz oder Liegnitz zurückgehende Ausgaben bei Moller : Cimbria literata [wie Anm. 12], S. 341, genauer Dünnhaupt: Personalbibliographien [wie Anm. 4], S. 2093), und dann ebenso im „Lebens=Lauff“ aus der Feder des Sohns Philipp Hoburg (vgl. Anm. 9 und 10), vgl. auch Reitz: Historie Der Wiedergebohrnen. Neudruck (1982, L 2), Bd. 1, III. Teil [Offenbach] 1701, S. 62 f. Ganz in den Vordergrund treten die Bekenntnisse zu Schwenckfeld in den späteren 1660er und 70er Jahren in Hoburgs Briefwechsel mit Martin John, publiziert bei Erb: Christian Hoburg und schwenckfeldische Wurzeln (wie Anm. 15), S. 92–126, bes. S. 101, 112, 115–118. Johannes Wallmann: Kirchlicher und radikaler Pietismus. Zu einer kirchengeschichtlichen Grundunterscheidung. In: Der radikale Pietismus (wie Anm. 17), S. 19–43, hier S. 29 und 35, weist darauf hin, dass der Verleger Merian selbst für Schwenckfeld eingenommen war und deshalb persönliches Interesse am Verlegen der Linksarndtianer wie Hoburg hegte. 51 [Johann Müller]: Kurtze Nothwendige […] Warnung für dem Gotteslästerlichen / Ergerlichen Schand=Buche […] Eliae Praetorii von den Mißbreuchen, Hamburg 1645.
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nen / Gebrüdern / […] Lüneburgischen […] Buchhändlern: Wie auch Herrn Matthæo Merian / […] Buchhändlern / in Franckfurt am Mayn“.52 Selbst, wenn nicht aus der Firmengeschichte bekannt wäre, dass die ,Sterne‘ mit dem Frankfurter Kupferstecher-Verleger in engem Kontakt standen und ihm in dieser Phase kriegsbedingten Auftragsmangels von ihrem Überfluss an Arbeit zugespielt haben,53 würde diese die volle Harmonie zwischen beiden Verlegern ausweisende Adressierung des Lüneburger Stern-Mitarbeiters nahelegen, dass der Frankfurter Druck dieser Werke, die erwünscht, aber im eigenen Haus angesichts der argwöhnischen konsistorialen Aufsicht schwer zu verantworten waren, von den eigenen Firmenchefs vermittelt war. Mit dem Hause Merian trat, wie Paul Raabe ausgewiesen hat, ebenso Stern-vermittelt, auch der Wolfenbütteler Herzog in Verbindung. Merian hat ihm dankbar 1654 zu seinem 75. Geburtstag die bildreich-kostbare Topographia vnd Eigentliche Beschreibung der Vornembsten […] Örter in denen Hertzogthümern Braunschweig vnd Lüneburg zugestellt.54
IV. Dass Hoburg aber nach kurzer Examinierung unter den Augen des Herzogs mit falschen Angaben über ein früheres Pfarramt und an möglichst unauffälligem Ort installiert wurde, dafür ist außer seinen möglichen Theologenstreit verursachenden radikalen Auffassungen und noch radikaleren Formulierungen im Kriegsbuch zweifellos das zumindest ebenso gravierende Skandalon ausschlaggebend, dass er die für das Amt erforderlichen (und durch die Fiktion einer vorangehenden Anstellung in einem bereits gleichrangigem Amte behaupteten) Formalqualifikationen überhaupt nicht besaß. Hoburg hatte bislang noch nie ein Pfarramt innegehabt, nur Hilfspredigerdienste hatte man ihm übertragen, die oft schon Theologen in der Ausbildung überlassen wurden. Schlimmer jedoch: er hat offenbar nie die für die Ordination und den regulären Kirchendienst in dieser Ära längst erforderte akademisch-theologische Ausbildung erhalten. Damit war sein Fall krasser als der seines eigentlichen Lehrers Johann Arndt, der, wie Hans Schneider nachge52 Christianus Hoheburgk: Heutiger / Langwieriger / verwirreter Teutscher Krieg / Jn einem Nachdencklichen / Gründlichen Gespräch vorgestellet / […] Vnserm hochbeträngten Vatterland / darinnen das grimmige Fewer des Zorns Gottes / so lange Jahr hero gebrennet hat / vnd noch jetzo Liechterloe brennet: Zur höchstnötigen Erinnerung […], Frankfurt 1644, Dedicatio, S. Gijr. – Der Argumentationsaufbau des Werkes ist resümiert bei Bütikofer : Der frühe Zürcher Pietismus (wie Anm. 17), S. 208–210, vgl. ebd., S. 209, das Faksimile des Frontispiz-Titels. 53 Nachweis bei Dumrese: Der Sternverlag (wie Anm. 23), S. 61. 54 Paul Raabe: Herzog August und Merians Topographie. In: Sammler Fürst Gelehrter (wie Anm. 19), S. 207–209, ferner ebd., S. 331–333. Auftragsverbindungen des Hofes zur Merian-Werkstatt haben aber zweifellos schon weit früher bestanden, vgl. ebd. S. 96, 157, 219 f.
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Abb. 4: Christian Hoburg: Christ=Fürstlicher Jugend=Spiegel, Lüneburg 1645, Titelkupfer. HAB Wolfenbüttel: 138.4 Eth. (2)
wiesen hat, auch „nie ein reguläres Theologiestudium absolviert hat“, was sogar in seiner Epoche schon Anlass zu apologetischer Konstruktion geworden war : Arndt hatte immerhin zwei Jahre lang in Helmstedt das übliche Humaniora-Grundstudium durchlaufen und später in Basel die für die
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Übermittlung pansophischer Ideen an die jüngere Frömmigkeitsgeschichte grundlegende paracelsische Medizin studiert.55 Meine vor dreißig Jahren in einem eher entlegenen Lexikonartikel angemeldeten Zweifel gegen die in allen Enzyklopädien, Handbüchern und Spezialstudien nachgesprochene Angabe, Hoburg habe nach der Lüneburger Schulzeit und einer Phase des Gelderwerbs in Lauenburg an der Universität Königsberg Theologie studiert, ja sogar daran, ob er eine (wie auch immer verkürzte) akademische Ausbildung überhaupt je aufgenommen hat, sind in der neueren Hoburg-Forschung durchweg übernommen worden.56 Die Behauptung eines regelkonformen Studiums in Königsberg mittels des Geldes, das er zuvor durch Privatunterricht in Lauenburg erworben hatte, ist in der erbaulichen Biographie des Sohnes ohne Grundlage. Der übergeht die Frage nach der akademischen Qualifikation seines Vaters. Ein Studium Hoburgs wird, soweit ich sehe, zuerst 1735 in der populären Kirchen=Historie von Johann Georg Heinsius und Ernst Stockmann behauptet57 und dann in die früheste wissenschaftliche Biographie übernommen, Johannes Mollers Cimbria literata.58 Das wurde dann immer wieder ungeprüft übernommen.59 Weder jedoch gibt es in Hoburgs jungen
55 Hans Schneider: Johann Arndts Studienzeit [und:] Noch einmal: Johann Arndts Studienzeit. In: ders.: Der fremde Arndt (wie Anm. 34), S. 83–134, hier S. 124, vgl. S. 115, 133. Ebd. auch ders.: Johann Arndt als Paracelsist, S. 135–155. 56 Beispielhaft im Handbuch „Geschichte des Pietismus“ Brecht: Frömmigkeitsbewegung (wie Anm. 41), S. 223, 238. 57 Johann Georg Heinsius und Ernst Stockmann: Unpartheyische Kirchen=Historie Alten und Neuen Testament […], Bd. 2, Jena 1735, S. 429 („studierte zu Königsberg in Preussen, und ward hernach Cantor zu Lauenburg“). 58 Moller: Cimbria literata (wie Anm. 12), S. 337. 59 Eine chronologische Auswahl aus der Kette des Kolportierens dieser Angabe über ein vermeintliches Hoburg-Studium (fallweise ausgeschmückt mit frei gegriffenen Jahresangaben: ,für kurze Zeit‘ oder ,etliche Jahre‘, ,nicht allzu ausgedehnt‘, ,abgebrochen‘ usw.): Christian Gottlieb Jöcher: Allgemeines Gelehrten=Lexicon, Bd. 2, Leipzig 1750 (Nachdr. Hildesheim 1961), Sp. 1668; Johann Adrian Bolten: Historische Kirchen=Nachrichten von der Stadt Altona, Bd. 1, Altona 1790, S. 331; Heinrich Heppe: Christian Hoburg. In: Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 12, Leipzig 1880 (Nachdr. Berlin 1969), S. 655; Albrecht Ritschl: Geschichte des Pietismus, Bd. 2: Der Pietismus in der lutherischen Kirche des 17. und 18. Jahrhunderts, Bonn 1884, Nachdr. Berlin 1966, S. 61; Kayser: Hannoversche Enthusiasten (wie Anm. 20), S. 46; van Schelven: Christiaan Hohburgh. In: Nieuw Nederlandsch Woordenboek. Hg. von P.C. Molhuysen, P.J. Blok und Fr.K.H. Kossmann, Bd. 6, Leiden 1924, Sp. 793; de Jongh: Christian Hoburg. In: Biographisch Woordenboek van Protestantsche Godgeleerden in Nederland, Bd. 4, ’sGravenhage 1931, S. 49; Christian Neff: Christian Hoburg. In: Mennonitisches Lexikon. Hg. von Christian Hege und Christian Neff, Bd. 2, Frankfurt am Main 1937, S. 319 f.; Mark von Nerling: Christian Hoburgs Streit mit den geistlichen Ministerien von Hamburg, Lübeck und Lüneburg. Ein Beitrag zur Auseinandersetzung zwischen Spiritualismus und Orthodoxie im 17. Jahrhundert, Diss. theol. [masch.] Kiel 1950, S. 11 f.; Gröschel-Willberg: Hoburg und Betke (wie Anm. 8), S. 5; Christian Neff: Christian Hoburg. In: The Mennonite Encyclopedia. A Comprehensive Reference Work on the Anabaptist-Mennonite Movement, Bd. 2, Scottsdale 1956, S. 769; Schmidt: Christian Hoburg. In: RGG, 3. Aufl. (wie Anm. 3), Sp. 373; Winfried Zeller : Art. „Christian Hoburg“. In: Neue Deutsche Biographie, Bd. 9, Berlin 1972, S. 283; Erb: Christian
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Jahren eine gehörige Zeitspanne für ein solches Studium, noch taucht sein Name in der für diese Zeit präzis geführten und lückenlos erhaltenen Königsberger Matrikel auf.60 Wenn Hoburg aber nie eine Universität von innen gesehen hat, können Trauma und Verbergenszwang wenigstens beigetragen haben zur besonderen Schärfe seiner Anwürfe gegen die gesamte akademisch geprägte Amtstheologie. In den späteren Jahren seines brieflich rückhaltlosen Einbekennens seiner Schwenckfeld-Verehrung scheint er sein akademisches Defizit, ins Positive gewendet, recht unverhüllt anzudeuten: „Ich habe es niemandem als meinem Gott zudancken, der im Lesen seiner Schrifften […] mich das sehen lassen das ich in dreissig Jahren auf keiner Academie, von keinem Doctor gesehen noch gehöret.“61 Ähnlich verblümt deuten auch die pietistischen Erbauungsbiographien auf die Leerstelle in der Vita dessen hin, den sie als ein von Pharisäern und Schriftgelehrten verfolgtes untadeliges Glaubensvorbild, ja, als einen hochverdienten „Kirchenlehrer“ ausloben.62 Der Notwendigkeit einer außergewöhnlichen Protektion durch den Herzog bewusst, gibt Hoburg in den namentlich gezeichneten Büchern von 1644 deutlich adressierte Werbungen um dessen Sympathie. In der Vorrede zum Jugend=Spiegel ist der Fürst als „ein sonderlicher Liebhaber Methodi Arndianæ“ angesprochen, der „mit dem S. Mann Gottes Joh. Arndt weyland grosse vertrawliche Freundschafft gehalten“.63 Das christliche Ideal einer Fürstenerziehung stilisiert Hoburg im Äußeren nach Herzog Augusts Bild: Prinzen und junge Regenten sollen „lieber mit Büchern vmbgehen als mit Bechern“: Diesem hat nachgefolget Augustus junior / Hertzog zu Braunschweig vnd Lüneburg / der in seiner wunderreichen Bibliothec / dessen gleichen wol fast nicht zufinden / […] sich täglich verfüget / vnd allda sein Fürstliches durch die sorgfältige Regierung jetziger Zeit abgemattetes Gemüth inniglich erquicket.64
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Hoburg und schwenckfeldische Wurzeln (wie Anm. 15), S. 94; Bütikofer: Der frühe Zürcher Pietismus (wie Anm. 17), S. 203. Die Matrikel der Albertus-Universität zu Königsberg i. Pr. Hg. von Georg Erler, Bd. 1, Leipzig 1910. In den Briefen an einen „Freund und Bruder“ datiert 1667 (nach Vermutung des Herausgebers recte: 1669) und an Martin John 1675 bei Erb: Christian Hoburg und schwenckfeldische Wurzeln (wie Anm. 15), S. 111, 123. Vgl. dazu oben Anm. 4 bis 8; Zitat bei Kanne: Leben und aus dem Leben (wie Anm. 8), Tl. II, S. 246. Christianus Hoheburgk: Christ=Fürstlicher Jugend=Spiegel: Allen Jungen Regenten / vnd denen / so die Regierung bedienen / oder schierkünfftig bedienen möchten / wol zu beschawen, Frankfurt 1645, Vorrede, S. 10 f., zitiert auch bei Wallmann: Herzog August (wie Anm. 3), S. 34. So kann Hoburg auch seine eigene Kirchenkritik als den Auffassungen Arndts und damit des Herzogs entsprechend kennzeichnen, ebd., S. 17: „Nach dem ich mich deß Methodi Arndianæ müglichst befliessen / vnd dahero alle Mißbräuche / so bey heutigen vnserm Christenthumb eingerissen / eyfferig / jedoch gebührlich angegriffen / wie meine theils schon außgegangene / theils vnder Handen schwebende Schrifften bezeugen.“ Ebd., T. II, S. 141 und 114 f., sprachlich modernisierend zitiert bei Müller : Fürstenerziehung
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Und in der „Dedicatio“ des Kriegsbuchs vom 18. November 1643 preist er „meine Herren die Sternen“ als die Verteidiger der Wahrheit, die „mit dem Weibe deß Potyphars / nicht mit buhlen / […] sondern […] durch jhre edle Kunst der Buchdruckerey / zugleich aber durch Beförderung / Verlag vnnd andere kostbare Mittel / der gantzen Welt“ „Gottselige / erbawliche Bücher“ an die Hand geben, die ebenso wie das gegenwärtige Buch über die „Mißbräuche deß heutigen Christenthumbs“ „die Lehre Herrn Arndi“ zur Grundlage haben und deshalb bei den Weltchristen verhasst sind.65 So freilich empfiehlt er sich als geradeso verfolgter Verkünder dieser Wahrheit indirekt auch dem Schutz seines Fürsten: „So gehets / wann die harte / dürre Warheit auftritt / vnd dem Heuchelwesen redlich den Kampff anbeut.“66 Als Maßstab zur Umkehr und „Friedensmittel“ sei „ein solcher Methodus, wie deß Herrn Arnds / hochnöthig“ (T.Kr., S. 87 f.): „Nach dem Methodo Herrn Arnds S. muß das Christenthumb reformiert […] werden.“ (T.Kr., S. 563) Der Ausgangspunkt für die Klage des Verfalls von Kirche, Glaube und Sitte in der Welt ist der alles verheerende große Krieg. Im (nach Hoburgs Berechnung des Kriegsbeginns erst 1620 mit der Schlacht am Weißen Berge und dem Übergriff auf deutsche Territorien) 23. Jahr des Gegeneinanderwütens der im Namen ihres jeweiligen Glaubens losgezogenen Kriegsparteien, im Blick auf (wie Anm. 22), S. 246, vgl. die detailliertere Erschließung der Schrift bei Bütikofer: Der frühe Zürcher Pietismus (wie Anm. 17), S. 211 f., 389. Rhetorisch noch höher treibt Hoburg seine Reverenz an den auch in der Wahl seiner gelehrten Ratgeber und Hofmeister weisen Herzog August in der Widmungszuschrift zum „Jugend=Spiegel“ von 1645 (wie Anm. 63), S. 10: Einer geschriebenen Anweisung zur Vervollkommnung seien die Wolfenbüttler Prinzen im Grunde gar nicht bedürftig, „gestaltsamb sie jhren hochlöblichen Herrn Vatter / literatorum, huius seculi facilH Principem zum vollkommenen Spiegel / so wol in allerhand Wissenschafft / als dero Löblichen Vbung / wie auch gewündschte Hoffmeistere vnnd Praeceptores, vnter denen / Herr Schottelius d’Erudition nach mir allein bekant / zu Vorgängern haben.“ 65 Die mit über 700 Seiten weitaus umfangreichste, vorrangig paränetisch-erbauliche Schrift zur Ausbreitung der Lehren und Frömmigkeitsnormen Johann Arndts hat Hoburg ganz frei von politischen Rücksichten erst im holländischen Exil, als Prediger der reformierten Gemeinde in Lathem bei Arnheim, verfasst, wiederum aber bei Matthäus Merian in Frankfurt herausgebracht: Christian Hoheburgk / Luneburgens. Praxis Arndiana, Das ist / Hertzens=Seufftzer / Uber die vier Bücher Wahren Christenthumbs S. Johann Arnds / […] Bey jetziger Heuchel=Zeit hertzgründlich zu betrachten / […]: Auff daß das falsche heuchel= schein= und spott=Christenthumb falle / vnd das wahre lebendige Hertzens=Christenthumb wider auffgehe, [Frankfurt] 1662. Die hier zur „Hertzens=Andacht“ mitgeteilten „Hertzens=Seufftzerlein“ sollen zur Einsicht bringen, „wie hochnöthig dieser Methodus sey zu dieser letzten Heuchelzeit.“ (Vorrede, S. A4v–5r). Trotz Hoburgs ungnädiger Entlassung aus dem Wolfenbütteler Kirchendienst wurde dieser Band (Th 1268) für die Bibliotheca Augusta angeschafft – ebenso wie auch andere spätere Hoburg-Schriften. 66 Hoburg: Heutiger […] Teutscher Krieg (wie Anm. 52), Dedicatio S. giijrf., gvijr, gvjr, gvr. (Die nachfolgenden Zitate aus diesem Buch sind zur Vermeidung unnötig vieler Anmerkungen mit der Sigle „T.Kr.“ und Belegseitenzahl direkt im Text ausgewiesen.) Eine überzeugende Zusammenfassung der beständigen Verbindung asketischer und institutionenkritischer Argumente Hoburgs gibt Marcus Meier: Der bekräftigte Origenes. Origenesrezeption im radikalen Pietismus. In: Pietismus und Neuzeit 31 (2005), S. 137–151, bes. S. 148.
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die Verelendung der Länder und Menschen und ohne Aussicht auf eine baldige Wende zum Frieden, bricht der seit frühen Kinderjahren beständig im Krieg lebende Autor vor seiner Diagnose in Klagen aus: Ach / welch ein elende Zeit! Ach / welch ein erbärmliche Zeit / hastu vns / O Gott / erleben lassen. Dann weme ist verborgen […] wie das grimmige Fewer deß Zorns GOttes / nunmehr in die drey vnd zwantzig Jahr hero […] gewaltig gebrennet habe / vnd noch jetzo Liechterloe brennet. [T.Kr., S. 4, vgl. S. 28]
In Beispielen oder Spezifika des Leidens wird die Klage aber erstaunlich wenig konkret. Da werden wohl einmal die sich als Herren des Spiels wähnenden, aber in ihren Ränken getäuschten Großen der Welt genannt, Richelieu, der König von Dänemark und der Kaiser (T.Kr., S. 251), und im Vergleich mit den biblischen Plagen Ägyptens auch die Drangsale an „Contributiones, Executiones, Tribulierung / Einquartierung“ durch das multinationale Raubgesindel ihrer Söldner, die als „allerhand Vngezieffer / von Böhmen / Crabaten / Vngarn / Schweden / Finnen / Lapländern / Polacken usw. vnser liebes Vatterland durchkrochen“ (T.Kr., S. 8 f., vgl. S. 19).67 Aber Hoburgs Spezifikation der „MisHres et malheurs de la guerre“68 bleibt doch gering, vergleicht man sie mit der des anderen großen spiritualistischen Antikriegspropheten Joachim Betke, bei dem Hoburg in Linum bei Fehrbellin nach der Verjagung aus Bornum kurzzeitig Aufnahme gefunden hat. Der von Gottfried Arnold in die Kirchen= und Ketzer=Historie übernommene Auszug aus Betkes Buch Teutschlands Verstörung von 1640 ist seiner weit größeren Konkretheit des allgegenwärtigen Elends wegen sogar in eine DDR-Auswahl der westdeutschen Pazifismus-Aktivistin Renate Riemeck gelangt: Böhmen, Mähren, Pfalz, Meißen, Schlesien, Mark Brandenburg, Württemberg, Franken, Hessen, Mecklenburg, Pommern, Lausitz! Eure großen Städte sind ausgeplündert, ausgebrannt, die Häuser darin niedergerissen, viel tausend oft darin nie67 Einige weitere Konkreta in Bezug auf den parallellaufenden Türkenkrieg und die darin erhoffte Rolle des Grafen Nikolaus von Zrini d.J. in Hoburgs 1664 publizierter Schrift „Regenspurgischer Heerholdt […] Nebenst beygefügtem Extract etlicher Newen Offenbahrungen / angehende diesen Türcken=Krieg“ erörtert Magdolna Veres: Johann Amos Comenius und Friedrich Breckling als „Rufende Stimme aus Mitternacht“. In: Pietismus und Neuzeit 33 (2007), S. 71–83. Ebd., S. 76 konstatiert die Verfasserin zugleich den Einfluss von Hoburgs „Spiegel der Misbräuche“ von 1644 auf Brecklings „Speculum Seu Lapis Lydius Pastorum“ von 1660 und „Synagoga Satanæ“ von 1666. 68 Titel der Kupferstichserie (Paris 1633) des Jacques Callot (1592–1635) mit ihren bis zur Unerträglichkeit lebenswahren Darstellungen des ,Elends und Unheils‘, der Brutalitäten und Verheerungen des Dreißigjährigen Krieges, Abb. bei Georges Sadoul: Jacques Callot, miroir de son temps, Paris 1969, S. 286–316, vgl. S. 216–229 und S. 274–277. Zur Allusion und intermedialen Verwendung in Raabes Toleranzerzählung vgl. meinen Kommentar in Wilhelm Raabe: Höxter und Corvey. Nach der Handschrift von 1873/74 hg. von Hans-Jürgen Schrader, Stuttgart 1981, bibliogr. erg. Ausg. 2003 (Reclams Universal-Bibliothek, Bd. 7729), S. 173, vgl. (mit Abbildung) auch Hans-Jürgen Schrader : Wilhelm Raabe. In: Handbuch der Kunstzitate. Hg. von Konstanze Fliedl [u. a.], Bd. 2, Berlin – Boston 2011, S. 626–629, hier S. 627.
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dergesäbelt, Weiber, Jungfrauen und Töchter ohne Zahl geschändet, dieselben auf Rossen und Wagen mit Gewalt entführt; eure silbernen Gürtel, Becher, Löffel, Armbänder, Halsketten in großen Fässern aus euren Landen geführt; Ernte, Brot, Korn, Ochsen, Schafe und Vieh vor Augen verzehrt, aufgefressen und weggetrieben; viel tausend Bürger und Bauern ins Wasser gejagt, viel tausend in den Wäldern zu Tode gemartert. Die jungen Söhne und Männer legionenweise auf der Schlachtbank hingeopfert, viel tausenden die Ohren, Nasen und Zungen abgeschnitten, die Fußsohlen aufgeschnitten, viel hundert durch unflätige Getränke zu Tode gemartert. […] Wie elend stehen eure großen Städte da, wie elend die kleinen; die offenen Flecken liegen verbrannt, zerfallen, verstört, daß weder Dach noch Tür noch Fenster zu sehen ist. Bedenkts doch, wie sind sie mit den Klöstern und Kirchen umgegangen. Sie haben sie verbrannt, zu Kloaken, Pferdeställen, Marketenderhäusern und Hurenwinkeln gemacht, Schafe, Kühe, Ochsen drin geschlachtet und allen Mist und Unflat mit toten Pferden und Menschen darin liegen lassen.69
Hoburg dagegen verspart seine Betroffenheit und Rhetorik auf die Diagnose: „dieser Krieg entstehet ex crimen læsæ Majestatis divinæ“. Er ist das Strafgericht für Abfall und Üppigkeit der Menschen, ihr „Säwisches Wesen vnd Licentz“ (T.Kr., S. 65) insbesondere aber der in veräußerlichte Zeremonien und Quisquilienstreit verfallenen Kirchen. Sie seien in allen Konfessionen von einer Jungfrau zur Hure geworden (T.Kr., S. 155), verweltlicht und unwiedergeboren seien ihre Diener, wenn sie nach dem Modus der Welt „kein Wachsthumb des Innern / Ablegung vnnd Creutzigung deß alten Menschen“ (T.Kr., S. 125) zeigen und – statt sich zu bekehren – heuchlerische Bittgottesdienste zur Erlösung aus Kriegesnot70 halten. Dem Herzog August können die durchaus arndtianischen Rufe zu Verinnerlichung und Wiedergeburt an Kirche und Geistlichkeit, insbesondere aber an eine in allgemeinen Notzeiten in gewissenloses Wohlleben verfallende Bevölkerung trotz der ,unkastrierten‘ Heftigkeit ihrer Sprache insgesamt kaum unangemessen scharf erschienen sein. In den gerade erst zurückliegenden Jahren seines unbequemen Wartestands in Braunschweig (in der Burg Dankwarderode und im Dom-Kapitelhaus), wo er der gesamt-welfischen Oberhoheit wegen an jedem entschiedeneren Durchgreifen gehindert war, hatte er erleben müssen, wie sich Rat und Einwohnerschaft bis hin zu den Dienstboten als „Kriegsgewinnler“71 dank dem Zustrom der Reichen aus allen 69 Auszug aus Betkes „Teutschlands Verstörung“ (1640) in Gottfried Arnold: Unparteiische Kirchen- und Ketzerhistorie. Ausgewählt und herausgegeben von Renate Riemeck, Leipzig 1975 (7. Buch, 1. Kap., § 38–42), S. 329 f. – Insofern gebührt Betke in noch höherem Maße als Hoburg der hübsche Titel eines „Jeremia unter den Barockpredigern“. Cornelia Niekus Moore: „Mein Kindt, nimm diß in acht“. Anna Hoyer’s […] Erbauungsliteratur für die Jugend im 17. Jahrhundert. In: Pietismus und Neuzeit 6 (1980), S. 164–185, zu Hoburg S. 178. 70 Vgl. dazu in Hoburg: Heutiger […] Teutscher Krieg (wie Anm. 52), S. 37, 43, 227, 427, 489–491 das „einfältig Gleichnuß“, eine der in die buchbestimmende Gesprächsfiktion eingelegten Kleinerzählungen und Exempla. 71 Begriff und Zustandsanalyse bei E[rnst] A[ugust] Roloff: Tausendjähriges Braunschweig. Die
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Provinzen in die durch ihre schwereinnehmbare Größe und durch Zahlungen an die Feldherrn für Verschonung gesicherte Stadt einem Bauboom und solchem Wohlleben hingaben, dass dagegen spezifische Luxusedikte und Kleiderordnungen erlassen werden mussten – während sein noch besetztes Eigenterritorium vom Krieg zerrüttet war. Solche Kontexte gaben der Hoburgschen Anklage Profil: Wir meinen / wir müsten nur Kirchenfromm seyn […]. Jn vnserer Haußhaltung vnnd Beruff / da bleibt es bey dem alten Adamischen herrschenden Wesen: Da bleibet vnser Hoffart / in Gebäwen / in Kleydungen / in Speisen / da bleibet vnser Geitz / Vngerechtigkeit / Zanck […]. [T.Kr., S. 51, vgl. S. 149]
Angesichts des allgemeinen Mordens im Namen der Religion kann es für ihn keinerlei Kriegsberechtigung zur Verteidigung einer alle Wahrheit für sich beanspruchenden Lehre, somit überhaupt kein bellum iustum geben:72 „Wäret ihr das rechte Volck GOttes / ihr Christen / so wäre es vnmöglich / daß ihr vntereinander so grewlich euch erwürgen / ermorden soltet“ (T.Kr., S. 596). Ja / der wahre Dienst / so dem Heiligen / Gerechten / Wahrhafftigen gefällig seyn sol / muß heilig / gerecht vnd warhafftig im Geist vnd Warheit geschehen / es muß kein Pflaster seyn auff alle beharrliche / stinckende Sündenwunden / es müssen nicht dardurch alle Sündengrewel beschönet / bemäntelt / vnd vbertünchet werden. [T.Kr., S. 153]
Heikel wurde die Kirchenkritik erst, wenn sie nicht mehr auf Besserung von Missständen drang, sondern die Institution im ganzen verwarf, als jene gefallene Hure Babylon, von der man sich nach Apk 18,4 trennen müsse, um nicht von ihren Sünden angesteckt zu werden. Dies immerhin deutet sich, während es zuvor noch geheißen hatte, „nicht das Kirchengehen / sondern die Personen / so das Kirchengehen misbrauchen“, müsse man meiden (T.Kr., S. 52), ganz am Schluss des Kriegsbuchs im Resümee an: Erst herunter damit / vnd darzu geholffen / wer nur helffen kan / daß Babel falle / so wird sich das schöne Jerusalem / die Statt GOttes / wol bald offenbaren: Es muß erst das hinweg / das es auff hält: Vnd das habe ich mit diesem Tractat gesuchet. [T.Kr., S. 565] Stadt Heinrichs des Löwen im Wandel der Geschichte, Braunschweig o. J. [1939], S. 141(–144), vgl. zur Situation und begrenzten Einflussmöglichkeit des fürstlichen Gasts in eigenen Landen Lachmann: Geschichte der Stadt Braunschweig (wie Anm. 43), S. 224–230. 72 Dieser im moderneren Sinn „pazifistische“ (mit seiner Basis im dominant kirchenkritischen) Argumentationsstrang steht im Vordergrund der Untersuchung von Ernst Kochs: Das Kriegsproblem in der spiritualistischen Gesamtanschauung Christian Hoburgs. In: Zeitschrift für Kirchengeschichte 46 [NF 9] (1928), S. 246–275, vgl. Gröschel-Willberg: Hoburg und Betke (wie Anm. 8), S. 39–49, 151 sowie Schmidt: Wiedergeburt und Neuer Mensch (wie Anm. 11), S. 97 f., 162.
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Für die Unhaltbarkeit des Pastors in Bornum kommt noch ein anderer, auch schon im Kriegsbuch anklingender Anklagepunkt hinzu, der das merkwürdige Verhalten beim Schwedeneinfall in Bornum erklärbar macht, das ihm Junker und Gemeinde über sein unerbauliches Strafpredigen hinaus zur Last legen. Während er das landesherrliche Patrozinium nirgends in Frage stellt, zieht er (mit schließlich doch monarchomachischer und sozialrevolutionärer Konsequenz) gegen die Ungleichbehandlung der Stände, aber auch der Vermögensgruppen in der Kirche und durch die Kirche vom Leder. Vor Gott haben alle Menschen gleiches Recht: dasselbe muss auch am gottesdienstlichen Ort gelten. Dies erklärt einige Punkte in den zur Bornumer Absetzung führenden Konsistorialakten, nicht nur die Verweigerung spezifischer Ehrerweisungen für den Dorfjunker, die ihn vor den Bauern auszeichnen, sondern auch die Drohung, dessen unberechtigt auf die Glocken gegossene Insignien abschlagen zu lassen. Im Verhör des Superintendenten hatte Hoburg (im stolzen Verweis, er rechne diesbezüglich auf volle Einigkeit mit dem fürstlichen episcopus Herzog August) gesagt: Ich gebe aber d[em] H[errn] Sup[erintendenten] zu consideriren, was darauß folgen würde wen man also lasse wappen an kirchen sachen machen, die man doch nicht verehrt, da man auch kein jus patronatus hat […]. Er schlage sein wappen wohin er will, uf das was sein ist. aber uf kirchen sachen, die er nicht verehrt, da auch Illustr[issimus] patron und er nur ein partic[ulare] privat membrum, gebe ich billig zu consideriren, ob allda konne sein wappen stehen, […] möchte gern wissen, was Illustr[issimus] dazu sagen solte, der patron und episc[opus] meiner kirchen.73
Diese Position aber war er nach seinen Missstand-Anzeigen im Kriegsbuch der eigenen Glaubwürdigkeit schuldig. Dort hatte er die Klage über das gräuliche Unterscheiden nach weltlichen Rängen im göttlichen Bezirk in ein Gespräch mit einem Juden gekleidet, der so lange der Anmutung seiner Bekehrung zum Christentum widerstehen wollte, wie sich die Christen untereinander und gegen andere schlimmer gerierten als Juden und Heiden, wenn sie z. B. im Gotteshaus Epitaphe adliger Offiziere anhefteten oder auszeichnende Kirchenstühle verkauften: O / blinde Narren / O / arme Menschen / wollet jhr nun mit Raubern / Mördern / Menschenplagern / ja Christenmördern / vnd jhren Blutvergiessenden Schwerdtern / etc. ewres Gottes Hauß / der doch an den Blutgierigen ein Grewel hat / zieren […]: Komm / laßt vns auß diesem Blut= vnd Mordhauß eylen. Jch aber bat jhn […] zu beweisen / daß wir Christen vnsere Kirchen auffs schändlichste vervnehreten […]: Da fieng er […] an / mich zufragen / als er die Stül ansahe […]: Wem gehören diese an? Jch sprach: Den Reichen / Grossen: Er sprach: Wie? Nur den Reichen allein. Warumb nicht auch den Armen? Jch replicierte / die Reichen kauffen solche Stül / geben Gelt darfür / da verwunderte er sich auffs höchste: Wie? sprach er / treiben die 73 Kruse: Der mystische Spiritualist Christian Hoburg (wie Anm. 2), S. 118.
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Christen auch in jhren Kirchen Geltkrämerey : Wo bleiben dann die Armen […]: Machet jhr in ewern Kirchen solch einen Vnderscheyd der Personen / das vergebe euch Gott? […] Jch sprach: Es wären gleichwol Vnderscheid der Stände / etc. Er sagte: Das gehörete nicht in die Kirche / da gelte der Keyser nicht mehr / als der Bawer / der Herr nicht mehr / als der Knecht / etc. [T.Kr., S. 587–589]
Angesichts der entweihenden Umwidmung seiner Kirche beim Schwedeneinfall zum Warenlager für das Gut des Junkers und der Reichsten in seiner Gemeinde konnte Hoburg offenbar nicht anders, als den Tempel wieder zu reinigen, indem er den Plunder zum Plündern freigab. Denn auch in jenem fingierten Gespräch mit dem Juden war es um die das Gotteshaus schändenden Adelsgüter, „vergüldete Kriegsfahnen / Degen / Sporen / Küriß etc.“ (T.Kr., S. 584) gegangen: Wir Juden thäten das warlich nicht […]. Meynestu dann / fragte er mich gar ernstlich / daß ewern Kirchen dardurch eine sondere Ehr / oder Heiligkeit widerfahre? Jch sprach: Jch könte nicht sehen / daß auch ein sondere Vnehre denselben hierauß bestünde. Da sprach er : So erkennete ich noch nicht recht den grossen Jehovam, den hohen / heiligen GOtt / noch weniger die Stette / da Er wohnen wolte / vnd sprach mit grimmigem Gemüht: Ehe in jhren Synagogen solche Waffen vnnd Sachen solten hangen / wolte er sich lieber darüber verbrennen lassen. [T.Kr., S. 585 f.]
V. Solche Brandreden mussten für den Fürsten und episcopus doch über die Grenzen des Tolerierbaren gehen, wenn sie im Namen des Friedens neuen Aufruhr provozierten, indem sie bei fortwährender äußerer Bedrohung die Landstände und Bevölkerung gegen ihn und seine Kirche aufbrachten. Ganz unmöglich aber hatte sich Hoburg dadurch gemacht, dass er alle im Kriegsbuch bereits angesprochenen Kritiken gegen Kirchenlehre, Institution und Geistlichkeit den beiden ebenfalls 1644, doch unter den Pseudonymen Elias Praetorius und Bernhard Baumann herausgebrachten Werken radikalisierend eingeschärft hatte. Denn die angenommenen Namen und Herkunftsangaben konnten bei der unverkennbaren Gleichartigkeit der in unendlicher Redundanz bei gleichen Argumentationsketten und Sprachformeln wiederholten Angriffe nicht schützen. Seinem „Bernhardo Bawmann / Evangelischen Prediger zu Bernow in Preussen“ legt Hoburg im über 1400 Seiten starken, auf 1645 vordatierten Traktat Teutsch Evangelisches ärgerliches Christenthumb Gespräche ganz nach dem Muster des vorgeführten Gesprächs mit dem Juden nun mit einem „1. Catholischen / 2. Wiedertäuffern / 3. Photinianern [Bestreiter der Göttlichkeit Jesu]; 4. Jüden / 5. Türcken“ in den Mund, um im Erweis „wie selbige Völcker sich an vnserem Vn=Evangelischen Wesen sich
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häfftig ärgern vnnd stossen“ die krieg-verschuldenden Missstände der eigenen Kirche zu zeigen, welch einen grewlichen Schandflecken wir Evangelische / ja eben wir Evangelische in Teutschland dem allerheyligsten Nahmen Gottes vnd seinem heyligen Evangelio alle Tage vnd Stunde anhiengen74 [und] daß das zeitliche vnd geistliche Wehe vber vnser Vn=Evangelisches Wesen / mit so verwirreter vnnd zerrütteter Kriegs Vnruhe / so beharrlich schwebet vnd fortfehret.75
Dem sich als Werkzeug des warnenden Gottes Zebaoth (des Herrn der Heerscharen, vgl. das Eingangsgebet) präsentierenden „Elia Prætorio Euangelischen Prediger in Lieffland“ dagegen legt er den Spiegel Der Misbräuche beym Predig=Ampt im heutigen Christenthumb Vnd wie selbige gründlich vnd heilsam zu reformieren in den Mund, der alle diese Schäden in der kirchlichen Praxis, besonders für „das jetzige Menschliche / Fleischliche vnnd Buchstäbische Predigampt; […] die Lehre vnd das Leben aller Partheyen“76 „im Beruff / Lehr / Sacramenten / Schlüsseln vnd Leben der Diener am Wort“ (Sp.M., S. )()(r) im Detail brandmarkt. Auch hier ist viel von angestrebter Besserung als einziger Möglichkeit zur Abwendung des göttlichen Zorns die Rede, damit allen „frommen Predigern vnter allen Partheyen recht inniglich“ erkennbar werde, sie müssten „gründlicher sich vnnd jhr Thun prüffen: würcklich sich bessern / vnd alle erkante Mißbräuche allgemächlich fahren lassen“ (Sp.M., S. )(iiir). Ausgerechnet – ob durch Zufall oder Veranstaltung – auf Seite 666 aber, dem Blatt also mit der Zahl des apokalyptischen Tiers, hebt dann ein Aufruf zum Niederreißen Babels und Ausgang aus so sündiger Gemeinschaft an,77 dessen notwendig separatistische Konsequenz in nichts zu leugnen war : Summa Summarum / so lange ewer Babel wehret / so lange werden auch die Plagen vnd Straffen Gottes wehren / biß Er sie gantz vnd gar auffgeräumet habe. […] Blut habt jhr vergossen / jhr grosse Herren zu Babel / vnd jhr Lehrer vnnd Prediger 74 Bernhard Bawmann [d.i. Christian Hoburg]: Teutsch Evangelisches ärgerliches Christenthumb / In einem Wunderbaren Gespräch eines Evangelischen / mit einem 1. Catholischen / 2. Wiedertäuffern / 3. Photinianern; 4. Jüden / 5. Türcken / etc. […], o.O., 1645 [recte: 1644], S. 11. 75 Ebd., S. 7. 76 Elias Prætorius [d.i. Christian Hoburg]: Spiegel Der Misbräuche beym Predig=Ampt im heutigen Christenthumb Vnd wie selbige gründlich vnd heilsam zu reformieren […], o.O. 1644, Vorrede S. )(iiiijv. (Weitere Zitate daraus im Text erfolgen im Folgenden mit der Sigle „Sp.M.“ und der Seitenangabe des Belegs.) – Die Aussage und der Ideengehalt des Werks sind resümiert bei Bütikofer : Der frühe Zürcher Pietismus (wie Anm. 17), S. 205–208, 210 f. 77 Unverstellter noch bringt Hoburg die grundsätzliche Verwerfung der bestehenden Kirchen als eines grundsätzlich nicht mehr besserungsfähigen Babel in einem undatierten Brief an Johann Paul Ludwig zum Ausdruck, den Theodor Wotschke: Zwei Schwärmer am Niederrhein. In: Monatshefte für Rheinische Kirchengeschichte 27 (1933), S. 144–178, hier S. 174 f. mitteilt: „Es will Babel nicht geflickt werden, es muß doch das ganze Gebäu dem Grunde nach herunter. […] Ach Gott. Die Welt stehet im Feuer. Babel will fallen. Man ziehe die Hand ab, daran zu flicken! Christi Reich und Welt werden wohl untermengt bleiben. Man lasse die Welt Welt sein und bekümmere sich ein jeder, seine eigene und der Seinigen Seele zu retten.“
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allerseits habt es gebilliget vnnd Recht geheissen: Sehet Blut / Blut wird euch der gerechte GOtt wiederumb zu trincken geben / vnd von dem daumelkelch seines Zorns euch lassen die Hefen gar aussauffen. Jhr guthertzige einfältige Hertzen aber / die jhr bey allen Partheyen vnter Babel gefangen lieget / Gehet auß von Babel mit dem Hertzen: […] daß er [Gott] die Jnwendige in euch selbsten vnnd die außwendige Babel allen Partheyen zerstören vnd alle dero Gefangene gnädiglich erlösen […] wolle […]. [Sp.M., S. 666 f.]
Da half es nicht mehr, dass Hoburg seine Verfasserschaft mit Ausflüchten leugnete (für ihn waren diejenigen, die sich hier äußerten, ja nur erfundene Exponenten eines argumentativen Probehandelns, für deren Äußerungen er nicht haftbar gemacht werden wollte)78 und dass der mit dem wiederholt verehrungsvoll angewidmeten Herzog August in vertrauter Korrespondenz stehende Nürnberger Pfarrer Johannes Saubert d.Ä. (doch kaum ohne fürstlichen Wink!) ihn in einer Hoburg von den ärgeren Praetorius und Baumann abhebenden Schutzschrift Wolgemeint Bedencken. wie das Büchlein Christian Hohburgs / sub. titt. 1. Verwirrter Teutscher Krieg. 2. Teutsch=Evangelisches Judenthumb / vnd dann die Schrifft Bernhardi Baumanns / von dem Teutsch=Evangelischen ärgerlichen Christenthumb etc. Recht zu erklären / vnd ohne Anstoß zu lesen (Nürnberg 1645) zu retten versuchte.79 Die Übereinstimmung der Diktion war offenkundig und ein Im-Amt-Halten Hoburgs hätte angesichts der mit der Refutation seitens des Ministerium Tripolitanum unverzüglich losbrandenden Gegenattacke der Orthodoxie tatsächlich einen neuen „Pfaffenkrieg“ unvermeidlich gemacht. Aus staats- und kirchenpolitischer Verantwortung musste ein toleranter und reformwilliger Fürst selbst seinem bislang entschieden geförderten Prot8g8 den Schutz aufsagen, da dieser für den Frieden im Untertanenverband zum unkalkulierbaren Risiko geworden war. Dessen Ideen aber und Argumente konnten am linken Flügel des Pietismus auf breiter Front wiederkehren.
78 So in vorauseilender Apologie (geradezu in einer Textsorten-Theoriedebatte) schon ausgeführt in der unter dem Namen Bernhard Baumann publizierten Schrift: Teutsch Evangelisches ärgerliches Christenthumb (wie Anm. 76) S. 8–10, 17. Zu den Konsistorialverhören und Hoburgs Versuchen, sich herauszureden, vgl. Kruse: Der mystische Spiritualist Christian Hoburg (wie Anm. 2), S. 120–124. 79 Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel: 230.28 Theol. (auch als Digitalisat verfügbar). Titel im Katalogbuch: Sammler Fürst Gelehrter (wie Anm. 19), S. 372 f., zum Kontext ebd., S. 151, 194, 198. Ausführlichste Analyse der beiden Pseudonym-Schriften und des darum entbrennenden Streits bei Schmidt: Wiedergeburt und Neuer Mensch (wie Anm. 11), S. 51–53 und 102–108 sowie bei Brecht: Die deutschen Spiritualisten des 17. Jahrhunderts (wie Anm. 11), S. 225–227, der Saubert allerdings abnimmt, er wisse oder ahne nicht, dass der verteidigte Hoburg und die dagegen verdammend abgesetzten Praetorius und Baumann ein und dieselbe Person sind.
Madame Guyon, Pietismus und deutschsprachige Literatur [2002, L 27]
I. Der Blick auf die Deutschen, die fremdartigen Nachbarn von „jenseits des Rheins“ („outre Rhin“), ist im französischen Stereotyp höchst widersprüchlich besetzt. Neben einer verschreckenden Tendenz zum Laut-Polternden und zu rastlos-tüchtiger Effizienz schreibt man ihnen den liebenswürdigeren Zug zu idealischer Versponnenheit und Träumerei zu, einen Zug, der auch als faszinierend an der Kunst und Musik, an der Literatur und Philosophie der Deutschen empfunden wird.1 Geradeso wie in den so typisch deutsch erscheinenden Kindermärchen der Brüder Grimm sieht man in Zeugnissen des Geistes und der Kunst einen Aspekt kindlicher Irrealität und Irrationalität, Züge wie Innigkeit des Gemüts, ja Sentimentalität – neben spekulativer Eigenbrötlerei, forciertem Individualismus, einer durch Vernunft und Esprit kaum aufschließbaren „po8sie de l’.me“. Madame de Sta[l, die in ihrem großen Traktat De l’Allemagne 1810 die Formel „de cette vie intime, de cette po8sie de l’.me qui caract8rise les Allemands“ geprägt hat,2 hat diese Stereotype keineswegs erzeugt, aber doch 1 Die im Laufe der Jahrhunderte bis in unsere Tage von sozialen, politischen oder kulturellen Umwälzungen kaum beeinflußte Konstanz in den meisten der stereotypen Fremdbilder (gerade auch unter Intellektuellen) erweist mit mustergültiger Deutlichkeit und zahllosen Belegen Gonthier-Louis Fink: Les deux Allemagnes dans le miroir des lettres franÅaises. Du mythe polymorphe / une r8alit8 politique duelle (1750–1990). In: Recherches germaniques 24 (1994), S. 3–43. – Mein hier auf deutsch vorgelegter Aufsatz, vorgestellt auf der von Hartmut Lehmann, Heinz Schilling und mir verantworteten Tagung der Historischen Kommission zur Erforschung des Pietismus über „Jansenismus, Quietismus, Pietismus“ am 14. Oktober 1998 in der Evangelischen Tagungsstätte Schloss Beuggen/Lörrach, ist eine revidierte, bibliographisch erweiterte und aktualisierte Übersetzung eines Beitrags, den ich in französischer Sprache für ein MadameGuyon-Kolloquium am 13. September 1996 im Ch.teau de Ripaille (Thonon-les-Bains, am franzöischen Ufer des Genfersees) gehalten und in dessen Berichtband publiziert habe: Schrader: Madame Guyon, le pi8tisme (1997, L 22). 2 Germaine de Sta[l: De l’Allemagne, 2 Bände, mit Einführung und Zeittafel von Simone Balay8, Paris 1968, Bd. 1, S. 58. Das von der Autorin aufgegriffene Bild der „zwei Deutschlands“ mit ihren der Klimatheorie verpflichteten Abgrenzungen der Charaktere, Sitten und konfessionellen Orientierungen hat Fink: Les deux Allemagnes (wie Anm. 1), S. 14–16 im Lichte der bereits weit zurückreichenden Tradition analysiert.
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wirkungsvoll zusammengefaßt und kräftig mit der blauen Blume der Romantik verziert: „Des mœurs et du caractHre des Allemands“ hebt sie als „traits distinctifs“ die spezifische „puissance du travail et de la r8flexion“ hervor: C’est l’imagination, plus que l’esprit, qui caract8rise les Allemands […] cette 8minente facult8 de penser qui s’8lHve et se perd dans le vague, p8nHtre et dispara%t dans la profondeur, s’an8antit / force d’impartialit8.3
Produkt der ,Seele‘, erscheint diese Kultur in Deutschland auch wieder auf die Erbauung der Seelen gerichtet und so selbst breiten Volksschichten zugänglich, die ihre „consolations religieuses“ daraus ziehen – wobei allerdings der unholde Kontrapunkt immer mitschwingt: la douceur de l’.me n’empÞche pas la rudesse dans les maniHres: […] L’enthousiasme pour les arts et la po8sie se r8unit / des habitudes assez vulgaires dans la vie sociale.4
Denselben Partikularismus und Individualismus wie in der Imagination und Reflexion sieht Anne Louise Germaine de Sta[l übrigens auch im religiösen Leben und Empfinden bestimmend: La religion vit, en Allemagne, au fond des cœurs, mais elle y a maintenant un caractHre de rÞverie et d’ind8pendance […]. Le mÞme isolement d’opinions […] se trouve aussi dans la religion: un grand nombre de sectes diverses partagent l’Allemagne; et la religion catholique elle-mÞme, qui, par sa nature, exerce une discipline uniforme et s8vHre, est interpr8t8 cependant par chacun / sa maniHre.5
Nun wissen wir seit geraumer Zeit, daß die für so typisch deutsch erklärten Grimmschen Märchen in Wahrheit gutenteils von französischen Stoffen bezogen sind und daher zu nationaler Wesensbestimmung wenig taugen: die sie den romantischen Sammlern mitteilenden hessischen Erzählerinnen kamen aus hugenottischen Familien, hatten ihr heimisches Kulturerbe von Perrault und anderen im Gedächtnis simplifizierend über den Rhein gebracht – und den Ton kindlicher Naivität haben die beiden Editoren weiter ausgebaut.6 Es bleibt daher zu fragen, inwieweit die Tendenzen zu Innerlichkeit und Idealismus, zu Irrationalität und gemüthaftem Individualismus im Bereich der Kultur und der Religion in den deutschsprachigen Ländern der Goethezeit (insbesondere auf die im Konfessionsstatus vergleichbare Schweiz dehne ich diese Überlegungen aus) auch noch andere (insbesondere religiöse) Anregungen von „outre-Rhin“ amalgamieren konnten, so daß auch hier das kul3 4 5 6
Sta[l: De l’Allemagne (wie Anm. 2), Bd. 1, S. 57. Ebd., S. 60. Ebd., S. 61 f. Vgl. z. B. Die älteste Märchensammlung der Brüder Grimm. Synopse der handschriftlichen Urfassung von 1810 und der Erstdrucke von 1812. Hg. und erl. von Heinz Rölleke, Cologny/GenHve 1975 (Bibliotheca Bodmeriana. Texte, Bd. 1), S. 341–347, 390–397.
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turell Besondere nicht recht etwas hergeben kann zu ethno-anthropologischen Abgrenzungen oder Typisierungen zwischen den Völkern. In ihrem Reden über das religiöse Leben im Nachbarland („QuatriHme Partie: La religion et l’enthousiasme“) macht Madame de Sta[l bei allem Herausstellen des kulturell Unterscheidenden einen Einflußfaktor namhaft, der für die Innerlichkeit und den Geist des Idealismus höchste Bedeutung hat, eine spezifisch deutsche Neigung nämlich zur Mystik: De toutes les nations, celle qui a le plus de penchant au mysticisme, c’est la nation allemande […]. Les mystiques […] s’appliquent / l’8tude du cœur humain, qui est la premiHre des sciences, et se donnent autant de peine pour conna%tre les passions afin de les apaiser, que les hommes du monde pour s’en servir.7
Diese kontrastive Tendenz wird nicht aus anthropologischer Divergenz, sondern aus dem anderen Konfessionsstatus begründet und dann vom religiösen aufs geistige Leben kurzgeschlossen: Der deutsche Idealismus erscheint geradezu als Komplementärphänomen zur mystischen Sehnsucht. La religion protestante, qui rHgne dans le Nord, ne suffit pas / l’imagination des Allemands, et le catholicisme 8tant oppos8, par sa nature, aux recherches philosophiques, les Allemands religieux et penseurs doivent n8cessairement se tourner vers une maniHre de sentir la religion qui puisse s’appliquer / tous les cultes. D’ailleurs l’id8alisme en philosophie a beaucoup d’analogie avec le mysticisme en religion; l’un place toute la r8alit8 des choses de ce monde dans la pens8e, et l’autre toute la r8alit8 des choses du ciel dans le sentiment.8
Außer auf die vorlutherische Tradition deutscher Mystiker wie Tauler verweist sie für die neueren Poeten seit Klopstock auf das Vorbild der Spiritualität aus Frankreich, wenn sie etwa für den pietistischen Zürcher Goethe-Freund Lavater konstatiert: „sa maniHre de sentir la religion est / beaucoup d’8gards semblabe / celle de F8nelon“, dessen „œuvres spirituelles“ sie kurz zuvor ausführlich charakterisiert hatte.9 Die von F8nelon aufgegriffene, verteidigte und systematisierte mystischquietistische Theorie und Theologie der von ihm bis zur Selbstaufgabe bewunderten Anregerin und Seelenfreundin Jeanne Marie de Guyon geb. Bouvier de la Mothe, hat, wie die neuere kirchengeschichtliche Forschung wiederholt andeutet, in den protestantischen Ländern, insbesondere in Deutschland und der Schweiz, eine tiefere und nachhaltigere Wirkung hinterlassen als in Frankreich selbst,10 wo mit den Verurteilungen von 1699, mit 7 8 9 10
Sta[l: De l’Allemagne (wie Anm. 2), Bd. 2, S. 270 f. Ebd., Bd. 2, S. 270. Ebd., Bd. 2, S. 267 und 270. Jacques Le Brun: Qui8tisme. II. En France. In: Dictionnaire de Spiritualit8 asc8tique et mystique, doctrine et histoire, Bd. 12, Paris 1986, Sp. 2805–2842, gibt (Sp. 2837 f.) einen Überblick über diese ungleichartige Rezeption. Vgl. ebenso Jacques Le Brun: Madame Guyon. In: Grundriss der Geschichte der Philosophie, begr. von Friedrich Ueberweg, grundlegend revidierte Neuausgabe:
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der nachfolgenden Hexenjagd gegen alles als quietistisch Verdächtigte („de toutes exp8rience pouvant Þtre suspect8e de qui8tisme“)11 und der Zuwendung der Intellektuellen zu neuen Modeströmungen diese Tradition eher in den Untergrund abdriftete. Im deutschen Kulturraum dagegen führt eine in der Bewunderung wie in der Abwehr fruchtbare Rezeption bemerkenswert häufig gerade in der Epoche des Idealismus über die religiösen Strömungen hinaus zu den schöngeistigen Autoren, auch solchen von historischem Rang – und also in die Geschichte der Literatur. Als unter den literarisch Gebildeten bekannteste Guyon-Anknüpfungen in Romanen oder ästhetischer Theorie der Goethezeit seien dafür zunächst nur die hochtraumatisierte Abrechnung des Goethe-Freundes Karl Philipp Moritz in seinem Roman Anton Reiser und Jean Pauls in den folgenden Jahrzehnten wiederholte positive Erinnerungen an die Dame aus Blois in Romanen wie Titan und Levana, aber auch in der programmatischen Vorschule der Ästhetik genannt. Die ganz aus autobiographischer Grundlage gestaltete, seit 1785 publizierte Erzählung des Karl Philipp Moritz wird (häufig als ein vermeintlich positives Rezeptionszeugnis) in jedem Überblick über die Wirkung der französischen Mystikerin erwähnt, war doch der Autor selbst in jungen Jahren durch seinen Vater ins Getriebe und in den Bann einer kleinen guyonistischen Gemeinschaft im hannoverschen Pyrmont geraten, von der wir hauptsächlich durch seinen Bericht Kenntnis haben. Insoweit hat der Roman für die Struktur, die Frömmigkeitsformen und -inhalte dieser Gemeinschaft und für ihre sprachlichen Eigentümlichkeiten zugleich einen gewissen kultur- und kirchengeschichtlichen Quellenwert. Wenigstens hinsichtlich der Atmosphäre und des Gebarens im Pyrmonter Quietistenkreis dürfte das aus der Kindheit Erinnerte stichhaltig sein, während die historischen Kontextangaben und Ableitungen oft unzuverlässig sind. Denn der Autor hatte mit seiner Schilderung einer unter den zahllosen pietistischen Gruppierungen seiner Zeit entschieden minoritären Glaubensgemeinschaft nichts weniger als kirchengeschichtliche Zeugenschaft im Sinn. Sein Darstellungsziel sind vielmehr anthropologische Gesetzmäßigkeiten und lebensbestimmende Kausalitäten im Sinne von Diderots Jacques le Fataliste. „Ein psychologischer Roman“ ist der Anton Reiser untertitelt und gilt uns heute als der erste, dem diese Gattungsbezeichnung zukommt: Gleichzeitig mit seiner Ausarbeitung hat Moritz von 1783 bis zu Die Philosophie im 17. Jahrhundert, Bd. 2: Frankreich und Niederlande. Hg. von Jean-Pierre Schobinger, Basel 1993, S. 866–872 im Kap. 22: „Die wichtigsten französischen Mystiker“ (hier S. 868). Erwähnt wurde der über die Rezeption im französischen Katholizismus weit hinausgehende Einfluß auf deutsche Protestanten bereits bei Heinrich Heppe: Geschichte der quietistischen Mystik in der katholischen Kirche, Berlin 1875, S. 215 f., vgl. Martin Schmidt: Jeanne Marie von Guyon. In: Die Religion in Geschichte und Gegenwart, 3. Auflage [im folgenden RGG3], Bd. 2, Tübingen 1958, Sp. 1919, sowie Ruth Albrecht: Jeanne Marie Guyon, ebd., 4. Auflage [im folgenden RGG4], Bd. 3, Tübingen 2000, Sp. 1356. 11 Le Brun: Qui8tisme (wie Anm. 10), Sp. 2839.
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seinem frühen Tod 1793 unter dem Titel-Motto Gnothi sauton („Erkenne dich selbst“) die erste wissenschaftlich-psychologische Zeitung, sein Magazin für Erfahrungsseelenkunde herausgebracht,12 auf dessen guyonistische Dokumente ich später zurückkomme. Im Anton Reiser13 vollzieht Moritz in der schonungslosen Analyse der seine Jugend folgenreich prägenden quietistischen Grundsätze und Gewissensrührungen vollständig und radikal den Säkularisationsschritt aus der andächtigen Selbstanalyse der vorangehenden Pietistengenerationen vor Gott zur empirischen Psychologie bzw. Psychopathologie. Das im Romanhelden Anton Reiser objektivierte Ich wird zum klinischen Fallbeispiel, das in seinem Charakter „von der Wiege an“ determiniert, verbogen und fast zerstört ist durch die fatalen sozialen Umstände seines Herkommens. Das gilt auch für die religiösen Einprägungen seiner Kindheit: Während die Streitigkeiten zwischen der kirchlich-pietistischen Mutter und dem (nach ihrer Meinung aus Arbeitsunlust) guyonistischen Vater die Familie vergiften und das Liebesbedürfnis des Knaben unbefriedigt lassen, stiftet sich dieser im eingebildeten Glauben voluntaristische Selbsttäuschungen. Die narkotischen Formeln und Klänge seiner religiösen Erhebung und Auszeichnung bewirken ein im äußeren Leben nicht eingelöstes übersteigertes Selbstgefühl, führen zu vergeblichem Buhlen um Anerkennung, zu narzißtischen Zurücksetzungsempfindungen, in Gekränktheit, Heuchelei, Scham und Lebensüberdruß. Diesen fatalistischen Skopus darf man nicht vergessen über der ironischen Schilderung der wie ein kauziges Idyll erscheinenden abgesonderten Hausgemeinschaft am Romaneingang „der Quietisten oder Separatisten“ „in P.[yrmont]“, die Anton mit dem Vater wallfahrtartig im 10. Lebensjahr besucht, einer Gemeinschaft, deren Lehren vorzüglich in den Schriften der Mad. Guion, einer bekannten Schwärmerin, enthalten sind, die zu Fenelons Zeiten, mit dem sie auch Umgang hatte, in Frankreich lebte.14
Der vom Kind selbst als ein teilnahmsloser Greis erlebte, von den Anhängern aber „wie ein Heiliger“ verehrte Guru dieser Sekte, „Herr v. F.[leischbein]“ (wir werden ihn später als Herold des Guyonismus in Deutschland, entfernten 12 Karl Philipp Moritz: CMYHI SAUTOM oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde als ein Lesebuch für Gelehrte und Ungelehrte, 10 Bände, 1783–1793. Hg. von Petra und Uwe Nettelbeck, Nördlingen 1986 (Die Schriften in 30 Bänden, Bd. 1–10) 13 Ich zitiere im folgenden nach der Reclam-Ausgabe, Karl Philipp Moritz: Anton Reiser. Hg. von Wolfgang Martens, Stuttgart 1986 (Reclams Universal-Bibliothek, Bd. 4813), die den kryptonymen Namen-Abkürzungen der Originalausgabe die von der Forschung ermittelten realen Personennamen substituiert. Die hier knapp referierten Zusammenhänge und Hintergründe sind mit Erörterung der neueren Forschung sehr viel detaillierter reflektiert in meiner Fallanalyse, Schrader: Goethes Verbindung zum mystischen Quietismus (2016, L 57), insbes. S. 46–60. 14 Moritz: Anton Reiser (wie Anm. 13), S. 7.
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Verwandten und Korrespondenten Goethes wiedertreffen) leitete eine im Vergleich mit dem Treiben der Welt ganz anders verfaßte „kleine Republik“ ohne Standesunterschiede, deren Bestreben nur dahin ging, oder zu gehen schien, in ihr Nichts (wie es die Mad. Guion nennt) wieder einzugehen, alle Leidenschaften zu ertöten, und alle Eigenheit auszurotten. […] Alles, bis auf die kleinsten häuslichen Beschäftigungen, hatte in diesem Hause ein ernstes, strenges und feierliches Ansehen. In allen Mienen glaubte man Ertötung und Verleugnung, und in allen Handlungen Ausgehen aus sich selbst und Eingehen ins Nichts zu lesen.15
– ebenso Forderungen der als „Heilige der ersten Größe, beinahe göttlich“ verehrten, in der Gemeinschaft durch ihre „erstaunliche Menge“ von Büchern präsenten Madame de Guyon wie eine völlig uninteressierte Liebe zu Gott, worin sich auch kein Fünkchen Selbstliebe mehr mischen darf, wenn sie rein sein soll, woraus denn am Ende eine vollkommene selige Ruhe entsteht, die das höchste Ziel aller dieser Bestrebungen ist.16
Bleibt auch dem Kind die mystische Sondersprache der Gemeinschaft unverständlich mit all ihren „Wörtern, die sich auf heit und keit und ung endigten“,17 sind ihm doch die auswendig gelernten Poesien der Madame Guyon in allen Fatalitäten des Lebens illusionäre Tröstungen geblieben, ein erhabener „Roman, den die frömmelnde Phantasie der gläubigen Seelen mit dem 15 Ebd., S. 8. Die ursprüngliche Version dieses Kapitels hatte Moritz unter dem Titel „Fragment aus Anton Reisers Lebensgeschichte“ vorabgedruckt in: Berlinische Monatsschrift 2 (1783), S. 357–364. Dort noch hatte er Antons jugendliche Lesewut für seine Traumatisierungen durch die Ideen der Madame Guyon verantwortlich gemacht. Vgl. Jürgen Peters: Die Romane von Karl Philipp Moritz und deren mutmaßliche Leser, Diss. phil. Hannover 1969, S. 32 f., vgl. S. 4–12, 24, 128. – Zum Kontext dieses Pyrmonter Quietistenkreises, über Fleischbeins Hochschätzung als Oberhaupt und Seelenführer der guyonistischen Erweckten und Gemeinschaften bis nach Skandinavien und ins Westschweizer Waadtland, schließlich zur Übertragung seines Nachlasses und geistlichen Vermächtnisses an die in der Neuausgabe der Guyon-Werke engagierten Lausanner Adepten um Dutoit gibt bereits ausführlich ergänzende Informationen die in der deutschsprachigen Forschung ganz unbeachtet gebliebene Monographie von Jules Chavannes: Jean-Philippe Dutoit – sa vie, son caractHre et ses doctrines, Lausanne 1865, S. 46–80, insbes. S. 67 f.; in knappstem Umriß auch mein Artikel: Johann Friedrich von Fleischbein (2000, L 65). Entgegen früherer Angaben ist Fleischbein zufolge der Pyrmonter Kirchenbücher am 5. Juli 1774 in Ösdorf bei Pyrmont gestorben (und dort am 7. Juli begraben worden). Auch zu all diesem jetzt die genaueren Nachweise bei Schrader : Goethes Verbindung zum mystischen Quietismus (2016, L 57), S. 30, 42, 57–60, 75–79. Vgl. auch unten, Anm. 119. 16 Moritz: Anton Reiser (wie Anm.13), S. 9 f. 17 Ebd., S. 32. – Die streitbare Zeitschrift zur Wahrung der Positionen der lutherischen Orthodoxie, von Valentin Ernst Löscher unter dem Titel „Unschuldige Nachrichten“ begründet, wirft der ,Berleburger Bibel‘ just diese mystischen Neologismen und Abstraktbildungen vor : Fortgesetzte Sammlung von Alten und Neuen Theologischen Sachen, Bd. 29, S. 812 f. Vgl. unten, Anm. 100.
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höchsten Wesen spielt, von dem sie sich bald verlassen, und bald wieder angenommen glauben“:18 Wirklich hatten diese Gesänge, ungeachtet der steifen Übersetzung, immer noch so viel Seelenschmelzendes, eine so unnachahmliche Zärtlichkeit im Ausdrucke, solch ein sanftes Helldunkel in der Darstellung, und so viel unwiderstehlich Anziehendes für eine weiche Seele, daß der Eindruck, den sie auf Antons Herz machten, bei ihm unauslöschlich geblieben ist. Oft tröstete er sich in einsamen Stunden, wo er sich von aller Welt verlassen glaubte, durch ein solches Lied vom seligen Ausgehen aus sich selber, und der süßen Vernichtung vor der Urquelle des Daseins.19
Notwendig folgen aber der erhebenden Illusion beim Durchschauen der nur angemaßten Imagination dieses Zustands Schuldgefühle: und so schwankte er beständig hin und her, und fand nirgends Ruhe und Zufriedenheit, indem er sich vergeblich die unschuldigsten Freuden seiner Jugend verbitterte, und es doch in dem andern nie weit brachte.20
Jean Paul, im Fortgang der Säkularisation insofern schon einen Schritt weiter als der unglückliche Moritz, als ihm das Erbe der Guyon statt Lebensanspruch schon Literatur sein konnte, gibt weniger traumatische, dafür aber auch blassere Hinweise. Ihr Name und Programm, die ihm zweifellos durch die ihm seit 1796 freundschaftlich verbundene, guyonistisch erweckte Freifrau Barbara Juliane von Krüdener21 nahegebracht worden waren, stehen ihm weniger für den Auftrag zum heiligen Leben als für „die Gewalt der Idee“, Beherrschung der Affekte, die Kraft selbstloser Liebe, wie er sie nur bei Frauen für möglich hält, und überhaupt für die überlegene Empfindungsstärke der alten Mystik im Vergleich zum modisch werdenden Pseudo-Mystizismus der romantischen Schriftsteller-Kollegen. In Jean Pauls idealistischem Groß-Roman Titan (erschienen 1800–1803) bildet das Leben der Guyon zusammen mit Madame de Sta[ls Sur l’influence des passions, Rousseaus Contrat social und einem Band Montaigne (wohl Le livre de raison) die „kleine Tisch-Bibliothek“ Lindas, der nach dem Vorbild der Weimarer Freundin Charlotte von Kalb gezeichneten, schwärmerisch-gemütvollen „Titanide“ der Liebe – eine Lektüre, die auf die irrational-unbedingte Saite ihrer „vieltönigen Seele“ hindeutet.22 Für Linda schmilzt in einem 18 19 20 21
Moritz: Anton Reiser (wie Anm. 13), S. 179. Ebd., S. 21. Ebd., S. 52. Vgl. Antoine Faivre: L’Psoth8risme au XVIIIe siHcle en France et en Allemagne, Paris 1973, S. 83 f., Douglas Carter : Barbara Juliane Freifrau v. Krüdener. In: RGG3, Bd. 4, 1960, Sp. 82 und Martin Eckhardt: Der Einfluss der Madame Guyon auf die norddeutsche Laienwelt im 18. Jahrhundert, Diss. phil. Köln 1928, Barmen 1928, S. 60 f. 22 Jean Paul: Titan. In: Werke. Hg. von Norbert Miller, Bd. 3, München – Darmstadt 1966, S. 634.
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von mystischen Formeln übervollen Bekenntnisbrief psychische und erotische Hingabe und Entäußerung ineins: Ich lese jetzt das Leben der herrlichen Guyon, diese weiß, wie man liebt – dieser göttliche Affekt gegen das Göttliche, dieses Selbst-Verlieren in Gott, dieses ewige Leben und Bestehen in einer großen Idee – diese wachsende Heiligung durch die Liebe und die wachsende Liebe durch die Heiligung! […] Aber ihr zerstreueten Männer! Nur die Weiber lieben, es sei Gott oder euch leider. Die Guyon, die heilige Therese, die etwas prosaische Bourignon liebten Gott wie kein Mann (außer der heilige Fenelon); der Mann geht mit dem höchsten Wesen nicht viel besser als mit dem schönsten um. […] Die Männer haben immer zu tun und schicken die Seele auswärts, die Weiber müssen den ganzen Tag daheim bei ihrem Herzen bleiben.23
Im gleichen Sinne kann (wieder im Bezug auf die Autobiographie) in Jean Pauls Erziehungsroman Levana (1806) „die mystische Guyon, welche im Hospital einer eklen Magd die Dienste abnimmt und nachtut“ zum antiemanzipatorischen Vorbild für eine demütig-selbstlose Liebe gesetzt werden, wie sie auch den „heiligen Weibern deutscher Vorzeit“ noch selbstverständlich gewesen sei: „Alle Stärke liegt innen, nicht außen“.24 Ein ähnlich konservativer Affekt, nun aber gewendet gegen die Literatur-Religiosität der zeitgenössischen Romantiker, spricht auch aus Jean Pauls Exkurs über Madame Guyon und andere Muster der „Kraft und Weltüberwindung der echten Mystiker“25 aus verschiedenen Kulturen, Zeiten und Konfessionen, den er 1813 in die Zweitauflage seiner Vorschule der Ästhetik eingeschoben hat. Ebenso wie er schon 1809 in einem Essay Dämmerung für Deutschland „so manche neue Dichter-Mystiker“, „Schein- und Spielmystiker“ gegenüber der Würde der wahren „Mystiker wie Fenelon oder Pascal“ herabgestuft hatte,26 erklärt er jetzt den Romantiker-Mystizismus als das modische „Surrogat“ für den „Stoffmangel“ der Dichter : Man muß […] den neuen dichtenden Mystizismus scharf von dem alten handelnden eines Spener, Fenelon, Tauler, Lopes, Markgrafen Renti, einer Guyon u. a. absondern […]. Die alten religiösen Mystiker waren heilige brennende Seelen […], und ihr demütiges Herz hatte außen keinen Heiligenschein, nur innen Heiligenglut. Aber wozu ist denn eben der neue Kunst-Mystizismus vorhanden und gemacht als dazu, daß er über die jetzige Unersetzlichkeit des Herz-Mystizismus in der liebenden Brust entschädigt […] durch den schönen Schein von Dichten und Erdichten?27 23 Ebd., S. 649 f. 24 Jean Paul: Levana oder Erziehlehre. In: Werke. Hg. von Norbert Miller, Bd. 5, München – Darmstadt 1963, S. 710. 25 Jean Paul: Vorschule der Ästhetik. In: Ebd., S. 424–426, hier: Fußnote des Verfassers, S. 425. Nachweis der Einfügung dieses Abschnitts erst in die 2. Auflage 1813 bei Miller: Anmerkungen, ebd., S. 1197 f. und 1246. 26 Jean Paul: Dämmerungen für Deutschland, Kap. 9: „Über die jetzige Sonnenwende der Religion“, ebd., S. 424 f. 27 Jean Paul: Vorschule der Ästhetik (2. Aufl. 1813), ebd., S. 424 f.
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II. Erwähnungen wie die hier aus Romanen und Essays bekanntester deutscher Schriftsteller fast 100 Jahre nach dem Tod der Madame Guyon exponierten deuten auf eine noch recht erhebliche Nachwirkung der Mystikerin in Ländern deutscher Sprache über frömmigkeitliche Wegweisungen hinaus auch im Bereich des Wortschatzes und der Literatur. Über alle Details, die Reichweite, aber auch die Grenzen dieser Wirkung sind wir im ganzen noch unzulänglich informiert. Die Forschungsansätze auf diesem Gebiet, darunter als einzige Spezialabhandlung eine recht kenntnisreiche literaturwissenschaftliche Doktorarbeit von 1928, Martin Eckhardt: Der Einfluss der Madame Guyon auf die norddeutsche Laienwelt im 18. Jahrhundert,28 dazu verstreute wirkungsgeschichtliche Grundinformationen über den Pietismus im ganzen oder einzelne seiner Vertreter, schließlich Erwähnungen zu Einzelpositionen der Rezeption, bleiben weithin ohne angemessene Quellenkritik beim vagen Konstatieren großer geistesgeschichtlicher Linien und Zusammenhänge stehen, sie reproduzieren vielfältig alte Irrtümer oder produzieren unbeweisbare Behauptungen. Was überhaupt von den Schriften der Guyon in Deutschland vorlag und wem es – unmittelbar oder nur vermittelt – zugänglich sein konnte, worauf konkret das Interesse daran sich richtete und in welcher Richtung eine Rezeption produktiv geworden ist, dazu müßte die Forschung die Grundlagen erst noch bereitstellen. Durchaus objektive Schwierigkeiten müssen freilich für den defizienten Forschungsstand in Rechnung gezogen werden: Das JeanPaulsche Zeugnis zeigt bereits, daß mit dem Namen Guyon oft eher ein historisch oder theologisch kaum klar konturierter Frömmigkeitstyp aufgerufen wird als ein konkreter Bezug zu einzelnen Werken oder spezifischen Ideen. Wo aber die Quellen in ihrem Aufgreifen quietistischen Wort- und Gedankenguts einen namentlichen Bezug überhaupt verweigern, werden ohne detaillierteste Vergleiche Ableitungen aus einem individuellen Œuvre überhaupt fast unmöglich, insofern ganz gleichartige Anregungen ja ebenso gut von anderen Autoren aus der Vorgeschichte wie aus der Geschichte der quietistischen Spiritualität aufgegriffen sein könnten, von den deutschen und niederländischen Mystikern des Mittelalters, insbesondere Tauler oder Ruysbroek, von den im 18. Jahrhundert partiell auf deutsch zugänglichen Schriften der spanischen Vordenker wie Teresa von ]vila, Juan de la Cruz oder Miguel Molinos, der italienischen Vermittler wie Pietro Matteo Petrucci oder auch Madame Guyons französischen Lehrmeistern wie FranÅois de Sales und Jeanne FranÅoise de Chantal, Jean de BerniHres-Louvigny oder dessen Schüler, ihrem ,Directeur sprituel‘ Jacques Bertot, schließlich von ihren Seelenfreunden FranÅois La Combe oder FranÅois de F8nelon. Denn so eindrucksvoll sich 28 Bibliographischer Nachweis: vgl. Anm. 21.
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auch das Guyonsche Gedankengebäude gerade im eindringlichen Umspielen fortwährend derselben Grundaussagen präsentiert, so wenig individuell oder originell gegenüber dieser Tradition sind doch seine Konzepte und Formeln (persönliche Originalität wäre ihrer mystischen Intention vollends zuwider gelaufen). So haben wir es auch in der Vermittlung quietistischer Konzepte an die deutsche Frömmigkeitsgeschichte meist mit einem Bündel von Ideen zu tun, das mit einem aus der Traditionslinie aufgerufenen Referenznamen wie dem der Guyon von den Rezipienten mehr umrissen als aufgeschlossen und dabei meist mit eigenen Positionen oder solchen von ganz anderer Herkunft ergänzt wurde. Kein Zweifel immerhin besteht, daß die Aufnahme der Ideen aus dem im klösterlichen Katholizismus der romanischen Länder erwachsenen Quietismus, also auch jener der Guyon, in Deutschland und der Schweiz zunächst fast ausschließlich innerhalb des Pietismus, der großen protestantischen Reformbewegung des späten 17. und des 18. Jahrhunderts, erfolgte, ferner, daß die Brückenfunktion aus einem Sprach- und Kulturbereich in den anderen hier wie bei den eingangs erwähnten Märchen die seit 1685 aus ihrer Heimat verdrängten Hugenotten waren, namentlich der in seinen letzten Jahren im holländischen Rijnsburg lebende Pierre Poiret (1646–1719)29 und, eine Generation später, der ins Refugium der Separatisten in und um Berleburg (in beiden Wittgensteiner Grafschaften) gekommene Marquis Charles Hector de Marsay (1688–1753),30 der geistliche Anreger und Lehrmeister des bereits aus Moritz’ Roman bekannten Johann Friedrich von Fleischbein. 29 Vgl. den exzellenten Artikel über Leben, Lehre und Forschung von Marjolaine Chevallier: Pierre Poiret. In: Ueberweg: Grundriss, rev. Neuausg. 1993 (wie Anm. 10), S. 848–859 sowie, von derselben Verfasserin, den Artikel: Pierre Poiret. In: Encyclop8die du protestantisme. 2e 8dition revue, corrig8e et augment8e. Hg. von Pierre Gisel, Paris – GenHve 2006, S. 1072 und dies.: Madame Guyon et Pierre Poiret. In: Madame Guyon. Rencontres autour de la vie et l’œuvre, Grenoble 1997, S. 35–49. – Ferner: Erich Wenneker: Pierre Poirot [!]. In: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon. Hg. von Friedrich Wilhelm Bautz und Traugott Bautz, Bd. 7, Herzberg 1994, Sp. 784–786 und Hans-Joachim Lope: „Gott rufet noch […]“. Zum Motiv der ,Amicitia Dei‘ bei Gerhard Tersteegen und in der spanischen geistlichen Lyrik um 1600. In: Gerhard Tersteegen – Evangelische Mystik inmitten der Aufklärung. Hg. von Manfred Kock, Köln – Bonn 1997 (Schriftenreihe des Vereins für Rheinische Kirchengeschichte, Bd. 126), S. 114 f. 30 Beste Informationszusammenstellung im Artikel von Hans Fritsche: Charles Hector de Marsay, Marquis de Saint George. In: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon (wie Anm. 29), Bd. 5, Herzberg 1993, Sp. 883–886, vgl. Hans Schneider: Der radikale Pietismus im 18. Jahrhundert. In: Der Pietismus im achtzehnten Jahrhundert. Hg. von Martin Brecht und Klaus Deppermann, Göttingen 1995 (Geschichte des Pietismus, Bd. 2), S. 128–130 (Abschnitt „Charles Hector de St. George Marquis de Marsay und seine ,Eheschwester‘ Clara von Callenberg“). Ergänzend mit Aufschlüssen über Marsays Herkunft und Kindheit sowie einem Resümee zu seiner Stellung im Fleischbein-Kreis: Hans Fritsche: Zur Familiengeschichte von Charles Hector, Marquis de Marsay (1688–1753). In: Monatshefte für Evangelische Kirchengeschichte des Rheinlandes 47/48 (1998/99), S. 528–533 und ders.: Charles Hector de Marsay auf Schloss Hainchen. In: Siegerland 76 (1999), S. 81–88. Zu Fleischbein vgl. oben, Anm. 15.
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Darüber hinaus aber muß man schon differenzieren und pauschale Annahmen und Behauptungen der Geistesgeschichte korrigieren. Zunächst ist festzustellen, daß der Pietismus als das zweifellos bedeutsamste Einfallstor mystischer Ideen und Spiritualität in der Gesamtgeschichte des lutherischen wie des calvinistischen Protestantismus keineswegs in all seinen Erscheinungsformen mystisch geprägt ist und weniger noch allenthalben in gleicher Intensität: In den zahlenmäßig vorherrschenden innerkirchlich-gemeinschaftsbildenden Gruppen tritt das per definitionem individualistische Moment der Mystik ohnehin stärker zurück – bis hin zu eher metaphorischen Anklängen. Aber auch bei den offen kirchen- und dogmenkritischen Vertretern des radikalen Pietismus gibt es neben den im eigentlichen Sinne ,Stillen im Lande‘ stürmische Bußprediger und Missionare, selbstquälerische Büßer und Asketen, öffentliches Aufsehen erregende Visionäre und Propheten, bei denen Mystisches allenfalls einen Unterton bildet. Wo aber im Pietismus mystische Tendenzen Dominanz gewinnen, leiten sie sich in erster Linie, von Johann Jacob Schütz über Gottfried Arnold bis zu Conrad Beissel und den Herrnhutern, weniger vom französischen Quietismus her als aus älterer deutscher Tradition.31 Vermittelt über Johann Arndt, einen Pietisten avant la lettre am Anfang des 17. Jahrhunderts, und durch verschiedene Neuausgaben ist der Geist der mittelalterlichen Mystik präsent. Vorherrschend ist ferner ein stark theosophischer Zug, der sich jenseits seiner Ursprünge im Neuplatonismus und bei Meister Eckhart v. a. auf Jacob Böhme und die Barock-Spiritualisten gründet, dazu eine – ebenfalls über mittelalterliche, auch französische, Grundlagen hinauswachsende – Brautmystik, die im Barock bis zur Perversion ihrer erotischen Bildlichkeit ausartet.32 Wenn die orthodoxen Theologen in der Zeit der großen Auseinandersetzungen um den Pietismus am Ende des 17. Jahrhunderts diese neue Massenbewegung mystischer Irrtümer beschuldigen, dann sind dabei v. a. die spekulativ-hermetischen Tendenzen im Visier wie bei Bücher : PLATO MYSTICUS IN PIETISTA REDIVIVUS33 oder Colberg: Platonisch=Hermetisches 31 Vgl. zum Überblick über solche mystischen Traditionen im Pietismus aus literaturwissenschaftlicher Perspektive Schrader: Pietismus (1993, L 63); kurzgefaßt: ders.: Pi8tisme (1995, 1998, 2006; L 64); aus theologischer Perspektive Burkhard Weber: Pi8tisme. In: Dictionnaire de Spiritualit8 (wie Anm. 10), Bd. 12, 1986, Sp. 1743–1758, Martin Brecht: Pietismus. In: Theologische Realenzyklopädie (TRE), Bd. 26, Berlin – New York 1996, S. 606–631 sowie Johannes Wallmann: Der Pietismus, Göttingen 1990 (Die Kirche in ihrer Geschichte, Lfg. O,1, Bd. 4). Für ausführlichere Information und Literaturangaben über Beissel und die Wirkungen des ererbten mystisch-spekulativen Ideenschatz unter den pietistischen Einwanderern Nordamerikas vgl. Schrader: Conrad Beissels Ephrata-Gemeinschaft (2006, L 41), im vorliegenden Band S. 547–574. 32 Hierzu ist grundlegend immer noch nützlich die Doktorarbeit des Schriftstellers Paul Alverdes: Der mystische Eros in der geistlichen Lyrik des Pietismus, Diss. phil. [masch.] München 1921. 33 Friedrich Christian Bücher : Plato Mysticus in Pietista redivivus. Das ist: pietistische Übereinstimmung Mit der Heydnischen Philosophia Platonis und seiner Nachfolger […], Danzig 1699.
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Christentum.34 In diesem Buch werden zwar am Schluß auch schon die „Quietisten“ (noch nicht aber Madame Guyon) vorgeführt, doch betrifft das erst die frühesten, noch isolierten Anknüpfungen an die in Frankreich gerade im Zentrum der Auseinandersetzung stehende Tradition wie August Hermann Franckes schon 1687 publizierte lateinische Version des (1699 dann von Gottfried Arnold auch deutsch vorgelegten) Guida spirituale des Molinos.35 Madame Guyon kommt außer in Anthologien-Proben36 erst spät in den Blick des Pietismus: Pierre Poirets Bibliotheca Mysticorum selecta (Amsterdam 1708) mit dem für die pietistische Rezeption richtungweisenden Cata34 Ehregott Daniel Colberg: Das Platonisch=Hermetisches [!] Christenthum / Begreiffend Die Historische Erzehlung vom Ursprung und vielerley Secten der heutigen Fanatischen Theologie, unterm Namen der Paracelsisten […] / Labadisten und Quietisten, 2 Bde., Frankfurt – Leipzig 1690/91. – Bd. 1, 1690, S. 427–438, Kap. XII: „Von der Quietisterei“ vermerkt, daß diese Gruppe in Deutschland zum Zeitpunkt ihrer Zensurierungen und Verbote in Frankreich noch kaum bekannt war : „Noch zur Zeit sind ihrer wenige / die dieser Sect gedencken / oder sie widerlegen.“ (S. 437). Beispiele für die pietistische Vermittlung des – in den Grundlagen auf den Neuplatonismus zurückverfolgbaren – naturmystisch-spekulativen Ideenguts bis in die Goethezeit und zur Romantik vgl. Schrader: Salomonis Schlüssel (2001, L 26), ders.: Kleists Heilige (2003, L 31) und ders.: Vom ekstatisch-prophetischen zum magnetischen Beispielfall (2016, L 55), im vorliegenden Band S. 731–761. 35 Miguel de Molinos: Manvdvctio spiritualis […], Fideliter & stylo mysticorum conformiter […] translata a M. Avg. Hermanno Franckio, Leipzig 1687 (gleichzeitig auch als Titelauflage in Sulzbach). Bibliographische Nachweise im Kommentar zu: Lebensläufe August Hermann Franckes. Autobiographie und Biographie. Hg. von Markus Matthias, Leipzig, 2., überarb. Aufl. 2016 (Edition Pietismustexte, Bd. 9), S. 38 f.; vgl. Paul Raabe und Almut Pfeiffer: August Hermann Francke 1663–1727. Bibliographie seiner Schriften, Halle – Tübingen 2001 (Hallesche Quellenpublikationen und Repertorien, Bd. 5), S. 589 f. Nachweise der drei Arnoldschen Ausgaben (Frankfurt 1699 und 1732 sowie Frankfurt – Leipzig 1743) in zeitgenössischen Buch- und Sortimentskatalogen: Catalogus Bibliothecae Principalis publica auctione distrahendae Auricae, 1746, S. 188 (Nr. 1438); Continuatio XVIII Catalogi Librorum […] in der Berlenburgischen Buchhandlung diese Herbst=Meß 1739 […] bey Johann Jacob Haug, S. E3r und Catalogus universalis […] in der Frankfurter und Leipziger Oster=Messe 1743, S. C3r. 36 Vgl. eine mit einer Vorrede Gottfried Arnolds verbreitete Sammlung, von der das pietistische Regentengeschlecht der Cirksena in Ostfriesland zwei Ausgaben besaß: „Etliche Tract. von der geheimen Gottes=Gelahrtheit, von Mad. Guion, Laur. de la Resurrection &c. mit Gottfried Arnolds Vorbericht“, Frankfurt 1701 und 1706: Catalogus Bibliothecae Principalis, 1746 (wie Anm. 35), S. 190 (Nr. 1450) und S. 167 (Nr. 1338). – Dazu gibt Hansgünter Ludewig: Spiritualität im Alltag. Leitlinien geistlicher Begleitung bei Gerhard Tersteegen. In: Gerhard Tersteegen (wie Anm. 29), S. 210 f. (vgl. S. 218) als bibliographischen Nachweis: „Jean [!] Marie B. de la MotheGuyon, Etliche vortreffliche Tractätlein aus der Geheimen Gottes-Belehrtheit [!] …, ohnlängst aus dem Französischen übersetzt / und jetzo nebst einem historischen Vorbericht heraus gegeben von G. A [Arnold] Frankfurt und Leipzig 1701“ und verweist auf (offenbar auszugsweise) Nachdrucke Uitikon 1980 und Freiburg 1986. Offensichtlich bezieht sich auf die Zweitauflage dieser Schrift Gerhard Tersteegens empfehlende „Anweisung und Beschreibung einiger geistlicher Bücher“, die nach einer Abschrift von 1785 erstmals publiziert vorliegt in: Gerhard Tersteegen: Ich bete an die Macht der Liebe. Eine Auswahl aus seinen Werken. Hg. von Dietrich Meyer, Gießen – Basel 1997, S. 59 zur Lektüre von „Frau Goion [!] Leichtes Mittel zu bäten“: „eine kurtze klare und leichte Anweisung zum Gebät des Hertzens […] samt einigen ihren andern Tractätlein, nemlich der Erklärung übers Hohelied und die Geistliche Ströme zu Franckfurt 1706“ (mit bibliographischem Nachweis durch den Herausgeber).
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logus plurimorum auctorum qui de rebus mysticis aut spiritualibus scripserunt (S. 321–351)37 geht an ihr noch ebenso mit peripherem Hinweis vorbei wie Gottfried Arnolds Historie und beschreibung der Mystischen Theologie […], Frankfurt 1703.38 Noch erstaunlicher ist der Befund, daß ihre Vita in den großen, z. T. häufig aufgelegten Biographiensammlungen, in denen der Pietismus seine ,Wolke der Zeugen‘ (Hebr 12,1), Glaubens- und Lebensvorbilder aus allen Kirchen und Traditionen, gleichsam als kanonische Muster neuer Heiliger und eigentlichen Nucleus der Kirchengeschichte zusammengestellt hat, durchweg fehlt und auch in den zahllos anknüpfenden Erbauungszeitschriften kaum vorkommt. Während sich in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts jeweils drei oder vier erbauliche Biographien der Catharina von Genua, der Angela von Foligno, des Laurent de la R8surrection, der Armelle Nicolas oder des Gaston de Renty in diesen Sammelbiographien finden, in Reitz’ Historie Der Wiedergebohrnen (1698–1745, sechs Auflagen bis 1753), in Arnolds Das Leben der Gläubigen (zuerst 1701, 2. Aufl. 1732), Gerbers Historia derer Wiedergebohrnen in Sachsen (seit 1726) oder Tersteegens Außerlesene[n] Lebens=Beschreibungen Heiliger Seelen (seit 1733, 3 Auflagen) oder im verbreitetsten Periodikum, der Sammlung Auserlesener Materien zum Bau des Reichs GOttes (seit 1731) bzw. ihren Supplementa (seit 1737),39 – wird dagegen erstmals im Jahr 1740, in der 15. und 16. Sammlung der SUPPLEMENTA Der Auserlesenen Materien die Guyon-Autobiographie in drei Teilen40 dem größeren Publikum 37 Petrus Poiret: Bibliotheca Mysticorum selecta, Amsterdam 1708, S. 79, 100 und 334: „Mad. Gujonia“. 38 Gottfri[e]d Arnold: Historie und beschreibung Der Mystischen Theologie, Frankfurt 1703, S. 251, empfiehlt Ausgaben des Guyonschen „Moyen court et trHs facile de faire oraison“ und ihrer „Explication du Cantique des cantiques“, die Poiret beide auf französisch (mit der Schutzfiktion des Druckorts „Cologne“) 1699 in seinem „Receuil de divers trait8s de th8ologie mystique“ neu herausgebracht hatte (vgl. Catalogue g8n8ral des livres imprim8s de la Bibl. Nat. Paris: Auteurs, Bd. 67, 1917, unter „Guyon“). Ob es wirklich auch schon 1701 eine von Gottfried Arnold verdeutschte Einzelausgabe des „Moyen court“ gegeben hat, wie Martin Schmidt: Guyon (wie Anm. 10), Sp. 1920 angibt, kann ich nicht verifizieren. Gemeint sein dürfte dabei die Aufnahme dieser Schrift in die von Arnold herausgegebene Ausgabe „Etliche vortreffliche Tractätlein“ von 1701 (vgl. Anm. 36). 39 Für die Tradition dieser Sammelbiographien, Sammlungen exemplarischer Lebens- oder Seelenführungen aus der gesamten vom Pietismus als Wegbereiter reklamierten interkonfessionellen Frömmigkeitsgeschichte vgl. mein Nachwort zu Reitz: Historie Der Wiedergebohrnen. Neudruck (1982, L 2), Bd. 4, S. 127*–153* und detaillierter Schrader : Kanonische neue Heilige (2013, L 51), im vorliegenden Band S. 665–700. 40 Supplementa Der Auserlesenen Materien zum Bau des Reichs GOttes, Bd. 2, Leipzig 1739/40, 15. Slg., S. 970–984, 984–1010, 16. Slg., S. 1114–1184: „Der Frau Johanna Maria Bouvieres de la Mothe, verheyratheten Guion, äussserliches Leben“ in drei Teilen. Vgl. ebd., S. 1183 f. die Erinnerungen an Madame Guyon für die thetische Theologie dieser Epoche, auch S. 970. Der Verleger Samuel Benjamin Walther hatte zur Vorbereitung dieser annotierten Eindeutschung bereits das Porträt der Madame Guyon als Titelkupfer zum 3. Bd. der ersten Serie dieser Zeitschrift vorausgeschickt: Sammlung Auserlesener Materien zum Bau des Reichs GOttes, Leipzig 1733, 17. Slg.
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eines solchen Fortsetzungswerks gekürzt und annotierend bearbeitet in die Hände gegeben. Diesem ausgebreiteteren Bekanntmachen der Vita war bereits in der 14. Sammlung ein Abdruck von Der Frau I.M.B. de la Mothe Guion geistliche Bäche vorangegangen – beides waren kommerzielle Doppelverwertungen der Investitionen für die Übersetzungen und die Buchausgaben, denn die Zeitschrift war soeben vom Leipziger Verleger Samuel Benjamin Walther, der von jenen Guyon-Schriften 1727 und 1728 die ersten deutschen Buchausgaben besorgt hatte, mit allen Verlagsrechten in neue Hände übergegangen.41 Selbst Gerhard Tersteegen, der bekannteste mystische Dichter des 18. Jahrhunderts und große radikalpietistische Guyon-Adept,42 der sich in seinen Lebens=Beschreibungen ganz auf Vorbilder mystischer Geistigkeit aus der katholischen Kirche konzentriert hat, weil sie in den inneren Wegen in Rücksicht auf „die völlige Absagung der Welt / die Absterbung seiner selbst / 41 Supplementa (wie Anm. 40), Bd. 2, 14. Slg., 1740, S. 814–816: „Der Frau I.M.B. de la Mothe Guion geistliche Bäche“. – Eine monographische Untersuchung der „Materien“ und ihrer Filialserien sowie anderer pietistischer Erbauungszeitschriften, mit einem Abschnitt auch über die Geschichte und das Geschäftsprofil des Leipziger Walther-Verlags, bietet Rainer Lächele: Die „Sammlung Auserlesener Materien zum Bau des Reichs Gottes“ zwischen 1730 und 1760. Erbauungszeitschriften als Kommunikationsmedium des Pietismus, Tübingen 2006 (Hallesche Forschungen, Bd. 18); vgl. ders.: Pietistische Öffentlichkeit und religiöse Kommunikation. Die „Sammlung auserlesener Materien zum Bau des Reichs Gottes“ (1730–1761). Ein Repertorium, Epfendorf 2004. – Vgl. über den Verlag und die lange Serie seiner Ankündigungen Guyonscher Werke in den Messekatalogen von Ostern und Herbst 1727 (die freilich keine Gewähr dafür bieten, daß alle diese Bücher tatsächlich gedruckt und ausgeliefert wurden) das Biogramm „Samuel Benjamin Walther“ in Horst Neeb: Gerhard Tersteegen und die Familien Schmitz in Solingen. Briefe aus den Jahren 1734–1764, Düsseldorf 1997 (Schriften des Archivs der Evangelischen Kirche im Rheinland, Bd. 11), S. 233–235. – In den „Materien“ wurde ebenfalls ein Zeugnis begeisterter Lektüre und erwecklicher Anverwandlung von einer anonymen Adligen abgedruckt: „Extract aus einer Durchlauchtigsten Person eigenhändigen Zeilen […] vom Glauben an Christum […] und denen dahin zielenden Schriften Lutheri, der Mad. Guion &c.“ In: Sammlung Auserlesener Materien zum Bau des Reichs GOttes, Bd. 2, 12. Stück, 1733, S. 468–471, S. 468 f. 42 Für Tersteegens herausragende Bedeutung in der deutschen Rezeptionsgeschichte der Madame Guyon vgl. schon Eckhardt: Der Einfluss (wie Anm. 21), S. 8–11, 23–32, 58 f. und als Forschungsgrundlage Max Goebel / Theodor Link: Geschichte des christlichen Lebens in der rheinisch-westphälischen evangelischen Kirche, Bd. 3, Koblenz 1860 (Nachdruck Gießen 1992), S. 316 ff. Sehr viel weniger detailliert sind diesbezüglich die jüngsten Monographien: Cornelis Pieter van Andel: Gerhard Tersteegen. Leben und Werk. Sein Platz in der Kirchengeschichte, Neukirchen-Vluyn – Düsseldorf 1973 (Schriftenreihe des Vereins für Rheinische Kirchengeschichte, Bd. 46), S. 231–235 sowie Hansgünter Ludewig: „Du durchdringest alles“. Gebet im Alltag bei Gerhard Tersteegen, Düsseldorf 1997 (Schriftenreihe des Archivs der Evangelischen Kirche im Rheinland, Bd. 12), vgl. Register („Guyon“) und der Handbuch-Überblick „Gerhard Tersteegen“ von Johann Friedrich Gerhard Goeters: Der reformierte Pietismus in Bremen und am Niederrhein im 18. Jahrhundert. In: Der Pietismus im achtzehnten Jahrhundert (wie Anm. 30), S. 390–410. Für Guyon-Abfärbungen im Tersteegenschen Habitus vgl. auch HansGeorg Kemper: Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit, Bd. 6/1: Empfindsamkeit, Tübingen1997; Kap. „Zärtlichkeit zum ,Herzens=Gott‘ (Tersteegen)“, S. 58–95, hier S. 61 f.
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die Wege des Gebäts“ den Protestanten sogar überlegen seien,43 läßt schließlich die schon für den 3. Band annoncierte Vita der „J.M.B. de la Mothe Guion“44 mit der etwas fadenscheinigen Begründung weg, daß man „derselben Leben schon in teutscher Sprach lesen kann“ (gemeint ist der freilich nur einem viel kleineren Publikum zugängliche Walthersche Druck in drei Bänden von 1727), so daß er anderen, noch unpublizierten Biographien den Vortritt lassen wolle.45 Mit dem erst späten Aufgreifen der Guyon-Anregung im Pietismus (als die großen theologischen Schlachten um die neue Frömmigkeitsrichtung längst geschlagen waren) wird es zusammenhängen, daß die Polemik der protestantischen Kirchenorthodoxien kaum gegen die französische Mystikerin und ihre Erbschaft gerichtet sind46 und daß selbst in den gegen die Verbreitung heterodoxen Schrifttums gerichteten Zensurerlassen, die sich mit besonderer Schärfe gegen die von Radikalpietisten verbreiteten Schriften mystischer Tendenz richteten, der Name der Madame Guyon ungenannt bleibt (denn ein 43 Gerhard Tersteegen: Außerlesene Lebens=Beschreibungen Heiliger Seelen, Bd. 1, Duisburg – Elberfeld 1733, Vor=Rede, S. XXIII und XXV. Vgl. die Studie von Rudolf Mohr: Eigenart und Bedeutung von Tersteegens „Auerlesenen Lebensbeschreibungen Heiliger Seelen“. In: Gerhard Tersteegen (wie Anm. 29), S. 181–206. 44 Tersteegen: Lebens=Beschreibungen (wie Anm. 43), Bd. 2, Frankfurt – Leipzig – Elberfeld 1735, Vor=Rede, S. VI. 45 Ebd., Bd. 3 [1. Aufl., Frankfurt – Leipzig – Duisburg 1743, 2. Aufl., ebd. und Solingen 1755], 3. Aufl., Essen 1786, S. 4. Rezensiert wurde der erste Band in den Supplementa (wie Anm. 40), Bd. 1, 1. Slg., 1737, S. 66–68, die (in apologetischer Absicht) erläutern, daß die in Tersteegens Sammelbiographie zu entdeckenden neuen Heiligen trotz ihrer katholischen Herkunft „wieder [!] das Papstthum nicht mit streitigen Worten und leiblicher Absonderung, sondern mit der That gezeuget“. Rezensionen des zweiten und dritten Teils der „Lebens=Beschreibungen“ erschienen ebd., Bd. 1, 3. Slg., S. 162–189 und 7. Slg., S. 738–767. Auch Tersteegen, der die Guyonsche Vita in der Waltherschen Ausgabe von 1727 an Vertraute wiederholt versendet hat (an Hendrik Fischer, vor 1739 und abermals an [Johannes Carl] Reiche 1759: vgl. die Nachweise in den Briefpublikationen bei Horst Neeb: Gerhard Tersteegen und die Pilgerhütte Otterbeck in Heiligenhaus 1709–1969, Düsseldorf 1998 [Schriften des Archivs der Evangelischen Kirche im Rheinland, Bd. 15], S. 242 und ders.: Tersteegen und Schmitz [wie Anm. 41], S. 184), hebt (im Vorbericht seiner Biographie des Franz von Assisi) hervor : „Das Zeugnis der erleuchteten Madame Guion hat ohne Zweifel auch bei einigen Protestanten sein Gewicht“. Text auch in Tersteegen: Ich bete an (wie Anm. 36), S. 346 f. 46 In dem polemischen Kompendium gegen alle Frauen, die jemals gewagt hatten, durch abweichende Frömmigkeitsnormen die Lehrautorität der Theologen in Frage zu stellen, gibt Johann Heinrich Feustking: Gynaeceum haeretico fanaticum, Oder Historie und Beschreibung Der falschen Prophetinnen, Frankfurt – Leipzig 1704 (Neudr. mit einer Einleitung von Ruth Albrecht, München 1998 = Archiv für philosophie- und theologiegeschichtliche Frauenforschung, Bd. 7), S. 325–338 bereits recht detaillierte Informationen, in denen diese „Murovia de Guyon“ mit ihren als unsinnig-verschwommen gebrandmarkten Lehren als Anhängerin des Molinos verdammt wird: „Der Gvionae ihre Lehren sind […] sehr dunckel und unverständig; und also sind sie nicht vom Heil. Geist“, S. 337. Vgl. den Artikel „Guion, Guyon (Jeanne Marie BauiHres [!] de la Mothe)“ in Johann Michael Mehlig: Historisches Kirchen= und Ketzer=Lexikon, [Bd. 1,] Chemnitz 1758, S. 723 f. sowie ebd., Bd. 2, S. 176 f., 389–391 und 473 f. die Artikel über Molinos, Poiret und die „Qvietisten“.
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namentliches Verbot in Bern im Jahre 1699 – als Guyon-Drucke in deutscher Sprache noch gar nicht vorlagen – konnte nur gegen die in den frankophonen Landesteilen kursierenden französischen Originalausgaben gerichtet sein).47 Freilich hat das verspätete Bekanntwerden der Guyon im deutschsprachigen Raum die Chance eher vermehrt, daß ihr Name und ihre Lehre noch bei den Autoren der Goethezeit eine gewisse Bekanntheit besaßen, lag in dieser Zeit doch der hier erst so spät erreichte Höhepunkt ihrer religiösen Wirkung erst eine Generation zurück. Gekennzeichnet ist diese Rezeption, auch schon bei den Pietisten, durch die eingangs für Jean Paul beschriebene fast vollständige Herauslösung dieser Mystikerin aus allen ihren historischen, biographischen und auch ekklesiologischen Kontexten: Ihr Name wird aufgerufen als ein historisch bezugloses Signal für eine ebenso überzeitlich begriffene Frömmigkeitsnorm, er wird zur Gänze identifiziert mit den Begriffen der „vie int8rieure“ und des „abandon du monde“, der „passivit8“ und des „amour pur et d8sint8ress8“ („d8tach8 des r8compenses“), schließlich der „oraison de foi“ bzw. auch „oraison du cœur ou de qui8tude“. Andere Lehren, die weniger zum protestantischen Credo passen wie die Fegefeuerlehre (Nachklänge davon insbesondere bei Marsay, aber auch bei Poiret, Kanz oder Gerber)48 oder die „resignatio ad infernum“ („acceptation conditionelle de l’enfer“), treten dagegen zurück. Mehr aber noch ist alles Äußere ausgeblendet: die lebenslange Einbindung der Guyon in gegenreformatorische Ordenskontexte, in die salesianische Spiritualität wie auch in die Missionsfront gegen den Protestantismus und gegen den Jansenismus, die klösterlichen Formen ihrer Askese, die Bedeutung ihrer geistlichen Kontrolle durch priesterliche Seelenführer, ebenso all das Exaltierte ihres familiären und sozialen Verhaltens und ihre Beziehungen zur Welt des Hofes, besonders zur Madame de Maintenon, schließlich die durch diese Nähe mitbedingten Zensurierungen und Lehr-Verfahren bis hin zu den Jahren in der Bastille Ludwigs XIV. und zu ihrem Widerruf der eigenen Lehren.49 Solche Züge paßten nicht gut in einen 47 Vgl. Kurt Guggisberg: Bernische Kirchengeschichte, Bern 1958, S. 394 und Friedrich Trechsel: Samuel Lutz. In: Berner Taschenbuch [Jg. 7] auf das Jahr 1858, S. 103. – Für das spezifische Interesse der Zensurinstanzen, die Verbreitung mystischer „Heterodoxien“ zu unterbinden vgl. Schrader: Literaturproduktion (1989, L 1), S. 430, ferner Eckhardt: Einfluss (wie Anm. 21), S. 13. 48 Für Poiret vgl. Chevallier: Pierre Poiret (wie Anm. 29), S. 857, für Johann Conrad Kanz Schrader : Literaturproduktion (1989, L 1), S. 99 f. und 105. Dieselbe Auffassung vom Fegefeuer zeigt der Guyon-Bewunderer Marsay, vgl. etwa sein [anonym erschienenes] T8moignage d’un Enfant de la Verit8 [!] et Droiture des Voyes de l’Esprit ou Explication des trois premiers chapitres de la Genese, ou [!] l’on traite de plusieurs Merveilles & Mysteres [!] de la Cr8ation, Berleburg 1738, S. 247 f. 49 Für das Leben der Madame Guyon verweise ich besonders auf die Doktorarbeit von Marie Louise Gondal: L’acte mystique. T8moignage spirituel de Madame Guyon (1648–1717), Lyon 1985, und auf die profunde Grundlagenrecherche im Artikel von Louis Cognet: Jeanne-Marie Bouvier de la Motte Guyon. In: Dictionnaire de Spiritualit8 (wie Anm. 31), Bd. 6, Paris 1967, Sp. 1306–1336. Neuausgabe ihrer Autobiographie: La vie de Madame Guyon, 8crite par elle-
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protestantischen Heiligenkalender und ließen die Vita daher lieber zurückstellen hinter die Kernpositionen ihrer mystischen Theologie. Lediglich, daß sie eine Verfolgte war wie so viele wahrhaft erleuchtete Seelen in allen Konfessionen, wird in den seltenen und höchst allgemeinen Fingerzeigen auf ihr Leben angedeutet: Tersteegen unterstreicht 1733 in der Vorrede seiner Lebens=Beschreibungen: „die letzte Quietistische Händel […] sind davon thätliche Beweisthümer / man lese das Leben Joh. von Creutz / Theresä / Fenelon, der Mad. Guion etc.“.50 Und der offenbar zu den Beförderern der Berleburger Poiret-Ausgabe (Die Göttliche Haushaltung, 1735–1742)51 gehörige Verfasser eines Artikels über Wahre Principia […] der gantzen Oeconomie Gottes in der am selben Ort erscheinenden überkonfessionellen Erwecktenzeitschrift Geistliche FAMA (Nr. XXVII von 1741) bleibt ähnlich vage: Als Verfallszeichen des gegenwärtigen Kirchenzustands in allen Konfessionen bewertet er, daß nach den Quietistenverfolgungen in Italien und Spanien auch die Mad. Guion, P. la Combe und Ertzbischoff von Cambray, M. Fenelon, in Frankreich hefftig angefochten, die Schrifften der alten Mysticorum verdächtig gemacht, und der dunckele Glaubens=Weg […] der reinen und uninteressierten Liebe ohne Bilder und Sinnlichkeiten verlästert wurde.52
Erst im Moritzschen Anton Reiser, wo der Persönlichkeit der Madame Guyon noch immer keinerlei Interesse zugewandt wird, wird die Auskunft über die „Verfolgung“ etwas konkreter (zugleich aber auch sachlich falsch): Diese Mad. Guion mußte viel Verfolgung leiden, und wurde endlich, weil man ihre Lehrsätze für gefährlich hielt, in die Bastille gesetzt, wo sie nach einer zehnjährigen Gefangenschaft starb. Als man nach ihrem Tode ihren Kopf öffnete, fand man ihr Gehirn fast wie ausgetrocknet.53
Außer der für die protestantische Erbauung geringen Vorbild-Eignung von Teilen der Guyonschen Vita ist das Verschwinden ihrer Person hinter Grundpositionen der Lehre sicher auch darauf zurückzuführen, daß (anders
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mÞme. Pdition pr8par8e par Benjamin Sahler. Introduction de Jean Tourniac, Paris 1983 (Collection L’Arbre de Vie). Die kirchliche Indizierung gegen Madame Guyon und die Quietisten und die Bannung ihrer „dogmatischen Irrtümer“ ist nie formell aufgehoben worden. Handbücher der katholischen Theologie haben sie bisweilen bis ins 20. Jahrhundert nachgesprochen. Vgl. beispielshalber die Artikel von Peter Junglas: Quietismus [oder] Andreas Bigelmaier : Jeanne Marie Guyon In: Lexikon für Theologie und Kirche, 2. Aufl., hg. von Michael Buchberger, Bd. 8, Freiburg 1936, Sp. 588 f. bzw. ebd., Bd. 4, 1932, Sp. 761 f. oder Kurt Reinhard: Mystik und Pietismus, München 1925 (Der katholische Gedanke, Bd. 9), S. 49–52, 170–173, 224, 250–252. Tersteegen: Lebens=Beschreibungen, Bd. 1, 1733 (wie Anm. 43), S. XXXIII. Nachweise: Schrader : Literaturproduktion (1989, L 1), S. 214 f. Die geistliche Fama, Bd. 3, 27. Slg., [Berleburg] 1741, S. 111. Zu diesem Organ der philadelphischen Sammlung, seinen Herausgebern und Förderern vgl. Schrader : Literaturproduktion (1989, L 1), S. 194–198, 209 f. Moritz: Anton Reiser (wie Anm. 13), S. 10.
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als etwa ihr schottischer Herold, der Chevalier Ramsay) keiner der Vermittler ihrer Schriften nach Deutschland und auch keiner der pietistischen Verbreiter ihres Ruhms mehr persönlich mit ihr bekannt geworden ist. Die Verehrung ist dadurch von Anfang an eine literarisch vermittelte – und das ist dem Bild einer von aller Individualität bereinigten, unerreichbaren und zeitlos gewordenen Heiligen zweifellos zugute gekommen. Pierre Poiret, seit 1699 der erste Editor des französischen Gesamtwerks in zahllosen Einzelausgaben, hat sich nach langjähriger Publikationstätigkeit alten und neuen mystischen Schrifttums, darunter einer 19bändigen Gesamtausgabe seiner zeitweiligen Lebensgefährtin, der enthusiastischen Prophetin Antoinette Bourignon, erst in seinen letzten beiden Lebensjahrzehnten für die Madame Guyon begeistert. Mit ihr hat er korrespondiert und sie hat ihm zum Druck im toleranten Amsterdam (dort hat durchweg Poirets Freund Heinrich Wetstein den Verlag besorgt – die Impressumangabe „Cologne, chez Jean de la Pierre“ ist eine Fiktion zur Erschwerung des Zensur-Zugriffs)54 ihre Manuskripte übersandt, die sie in Frankreich nicht mehr publizieren konnte. Zu persönlicher Begegnung ist es nicht gekommen und Poiret scheint diese auch nicht gesucht zu haben. Der Marquis de Marsay aber kam zu spät: Im Frühjahr 1717 zwar hat er sich auf einer Incognito-Reise zu den beschlagnahmten Familiengütern bei La Rochelle zu ihr nach Blois auf den Weg gemacht – als er aber endlich in Paris ankam, mußte er von ihren Anhängern erfahren, die Meisterin sei vor vier Monaten verstorben.55 Der vom PoiretSchüler Wilhelm Hoffmann erweckte Tersteegen schließlich hatte mit 19 Jahren beim Tode der Guyon noch nicht die Mittel zu reisen und hat ohnehin seinen Heimatdistrikt zwischen Niederrhein und Ruhr kaum je verlassen. Unter den aus der Poiretschen Bibliothek bezogenen Materialien für seine Mystiker-Editionen (die ihm vermutlich, wie Oetinger für dessen Biographiensammlung, auf vermittelten Wegen von Poirets Freund und Erben Homfeld aus Rijnsburg zugekommen sein dürften)56 bewahrte er aber auch ein Briefblatt und ein Schächtelchen aus dem Guyon-Besitz mit ihren eigenhändigen Andachtsmeditationen (zu zufälligem Aufschlagen als frommer 54 Vgl. die genannten Forschungsbeiträge zu Poiret, auch schon Emil Weller : Die falschen und fingierten Druckorte, Bd. 2: Livres franÅais, Leipzig 1864, S. 68, 75, 82, 84. 55 Bericht in Marsays Autobiographie: Das Leben des Herrn St. de Marsay (gest. 1753) von ihm selbst beschrieben. In: [Ernst Joseph Gustav] de Valenti: System der höhern Heilkunde für Aerzte, und Seelsorger, Theoret. Teil, 2. Abt., Elberfeld 1827, S. 238–241; sprachlich modernisierte Teil-Neuausgabe, gegründet auf die Abschrift des Tersteegen-Freunds Wilhelm Weck im Düsseldorfer Archiv der Evangelischen Kirche des Rheinlands (mit Ergänzung der bei de Valenti kryptonym verkürzten Eigennamen): Leben des Charles Hector Marquis St. George de Marsay und seiner Gattin, von ihm selber. In: Jost Klammer: Der Perner von Arfeld. Kirchengeschichte im Raum Arfeld vom Jahre 800 bis 1945, Bad Berleburg – Arfeld – Dortmund 1983, S. 84–115 (vgl. S. 101). 56 [Friedrich Christoph Oetinger]: Die Unerforschlichen Wege der Herunterlassung GOTTES […], dargeleget in dreyen aus der Frantzösischen Sprache ins Teutsche übersetzten Lebens=Läuffen, Leipzig 1735, S. 5r.
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Lotterie), die er – ebenso wie ihre gedruckten Verse – in einen eigenen LyrikZyklus umwandeln konnte.57 Aus einer Zimelie war fast eine zeitenthobene Reliquie geworden.58
III. Fragen wir, wann deutsche Leser welche der Schriften der Madame Guyon überhaupt haben lesen können, müssen wir schon sorgfältige Recherchen anstellen. Denn eine Bibliographie der deutsch erschienenen Übersetzungen und Bearbeitungen ist noch nie zusammengestellt worden. Und aufwendiger noch wäre eine umfassende Ermittlung, was davon in den uns durch Auktionskataloge oder Sortimentsverzeichnisse überschaubar gebliebenen großen pietistischen Büchersammlungen und Handelsangeboten vorhanden war, womit wenigstens ein Indiz gegeben wäre für einen gewissen Grad der Verbreitung unter den Erweckten. Auch wenn ich hier freilich für diese Recherchen nicht mehr als einen Anfang leisten kann (in wissenschaftlichen Bibliotheken sind erbauliche Schriften allenthalben nur sporadisch und zufällig angeschafft worden, im frankophonen Raum aber hat man die Guyon-Übersetzungen in andere Sprachen naturgemäß noch weniger gesammelt), gewähren die Befunde doch ein klareres Bild als bisherige wirkungsgeschichtliche Annahmen. Zunächst ist zu konstatieren: Poiret, dem jenseits der drei von der Verfasserin selbst zum Druck gebrachten (wiederholt neu aufgelegten) Titel Moyen court et trHs facile pour l’oraison (zuerst Grenoble 1685), RHgle des associez / l’enfance de J8sus (zuerst Lyon 1685) und Le cantique des cantiques, interpr8t8 selon le sens mistique (zuerst Lyon 1688)59 alle französischen Erst57 Vertraulich erwähnt in einem Brief an den Fleischbein-Schwiegersohn Karl Sigismund von Prueschenk vom 24. März 1740, Gerhard Tersteegen: Briefe 1. Hg. von Gustav Adolf Benrath [u. a.], Gießen – Göttingen 2008 (Texte zur Geschichte des Pietismus, Abt. V, Bd. 7/1), S. 459, Kommentar S. 461. Der eigene Zyklus ist G.T.St. [= Gerhard Tersteegen]: Kleine Perlenschnur, Für die Kleinen nur, Hier und da zerstreut gefunden, Jetzt beisammen hier gebunden, Solingen – Essen 1767 (und Neuauflage Solingen 1775; vgl. Neeb: Tersteegen und Schmitz [wie Anm. 41], S. 47 und 50). Vgl. zur Sache Rudolf Mohr : Tersteegens Verschreibung mit Blut und die mit ihr zusammen überlieferten Stücke. In: Monatshefte für Evangelische Kirchengeschichte des Rheinlandes 33 (1984), S. 281–285 (Abschnitt: „Das Döschen der Mad. Guyon“); ebd., S. 285–288 ist der Guyon-Brief an Poiret vom 25. März 1716 aus Tersteegens Besitz abgedruckt, faksimiliert und kommentiert, S. 288–294 der Weg rekonstruiert, wie diese Zimelien an Tersteegen gelangt sein mögen. Danach knapp Goeters: Der reformierte Pietismus (wie Anm. 42), S. 401 f. 58 So Goebel / Link: Geschichte des christlichen Lebens, Bd. 3 (wie Anm. 42), S. 335; Eckhardt: Einfluss (wie Anm. 21), S. 23 f., W[ilhelm Ludwig] Krafft: Gerhard Tersteegen. In: Real-Encyclopädie für protestantische Theologie und Kirche, 2. Aufl., hg. von J.J. Herzog und G.L. Plitt, Bd. 15, Leipzig 1885, S. 341. 59 Catalogue g8n8ral: Auteurs, Bd. 67, 1917, „Guyon“ (wie Anm. 38); vgl. Gondal: L’acte mystique (wie Anm. 49), S. 642 ff.
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auflagen unter der fiktiven Verlagsangabe „Cologne, chez Jean de la Pierre“ (der wirkliche Verleger war, wie gesagt, in allen Fällen Poirets Freund Heinrich Wetstein in Amsterdam)60 zu verdanken sind, hat ihre Werke selbst weder übersetzt noch deutsche Übersetzungen davon herausgegeben. Eine direkte Breitenwirkung seiner mit umfänglichen Vorreden versehenen Editionen unter den Deutschsprechenden war dadurch ausgeschlossen. Nur in Adelsund Gelehrtenbibliotheken taucht gelegentlich die 20bändige Ausgabe der Bibel-Kommentare auf (La Sainte Bible avec des Explications, qui regardent la Vie Int8rieure, Cologne 1713–1715).61 Sieht man ab von einer höchst zweifelhaften Zuschreibung eines SophiaBuches aus dem Jahr 1699,62 waren es Mystik-Anthologien Gottfried Arnolds, die 1701 (und erneut 1706) den deutschen Pietisten die ersten Guyon-Auszüge zur Kenntnis gebracht haben.63 Ein 1715 im Tübinger Cotta-Verlag von Johann Wolfgang Jaeger besorgter Tractatus mysticus der „Celeberrimæ in Gallia fæminæ“ bediente sich noch vorsichtig des für die Zensoren unverdächtigen Latein.64 Die wohl erste eigenständige, aber noch anonym herausgegebene deutsche Ausgabe war 1719 eine Übersetzung von Madame Guyons (von Poiret erst zwei Jahre zuvor auf den Markt gebrachter) französischer Versbearbeitung zweier seit hundert Jahren in schon unzähligen Auflagen verbreiteter Emblembücher65 der flämischen Gegenreformation: L’ffme amante de son Dieu, repr8sent8e dans les emblHmes de Hermannus Hugo sur ses „Pieux d8sires“, et dans ceux d’Othon Vaenius sur l’amour divin, Cologne: J. de la Pierre 171766 – zu deutsch: Die Ihren Gott liebende Seele / vorgestellet in 60 Vgl. (außer den Nachweisen Anm. 54) zu Wetstein Schrader: Literaturproduktion (1989, L 1), S. 110, 376. 61 Nachweis: Catalogue g8n8ral (wie Anm. 38). – Die 20 Bände standen, gebunden in rotem Safran, in der Hofbibliothek in Aurich (Catalogus Bibliothecae Principalis, 1746 [wie Anm. 35], Appendix, S. 102, Nr. 1282), in Kalbsleder auch in der Bibliothek des Theologen der Aufklärungsuniversität Göttingen, Johann Lorenz Mosheim (Catalogus bibliothecae Io. Lavr. / Mosheim, Göttingen 1756, S. 31, Nr. 557–576). Als Grundlage der deutschen Übersetzung des Grafen Casimir für das Berleburger Bibelwerk ist diese Ausgabe auch in der Schloßbibliothek Bad Berleburg erhalten. 62 „Sophia, d.i. die holdselige ewige Jungfrau der Göttlichen Weisheit (Aus dem Frz. der Mad. Guyon), Amsterdam 1699“ nach Weller: Druckorte, Bd. 1, Leipzig, 2. Aufl. 1864 (wie Anm. 54), S. 48. 63 Vgl. Anm. 36 und 38. „Gottfr. Arnold Ubersetzung etlicher Tract. von der Geheimen Gottes=Gelahrtheit, von Mdme Guion, Frankfurt 1701“ und „Etliche Tract. von der geheimen Gottes=gelahrtheit, von Mad. Guion, Laur. de Resurrection &c., Frankfurt 1706“, vgl. Catalogus Bibliothecae Principalis (wie Anm. 35), S. 190, Nr. 1450 und S. 176, Nr. 1338. 64 Tractatus mysticus celeberrimae in Gallia foeminae de Gyon, cum animadversionibus perpetuis, Tübingen: Cotta 1715; herausgegeben von dem Tübinger Theologen Johann Wolfgang Jaeger (1647–1720). 65 Otho Vaenius: Amoris Divini Emblemata, Antwerpen 1615 und Hermannus Hugo: Pia Desideria Emblematis, Elegiis & affectibus SS. Patrvm illustrata, Antwerpen 1624. 66 Catalogue g8n8ral (Auteurs), Bd. 67 (wie Anm. 38); Gondal: L’acte mystique (wie Anm. 49), S. 643. Vgl. Mario Praz: Studies in Seventeenth Century Imagery, [Bd. 1], Rom, 2. Aufl. 1964 (Sussiti Eruditi, Bd. 16), S. 378; Adolf Spamer: Das kleine Andachtsbild vom XIV. bis zum XX.
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Sinnbildern des Herm. Hugonis, über seine Pia DESIDERIA; und des Ottonis Vaenii über die Liebe Gottes / mit Neuen Kupffern und Versen / welche zielen auf das innere Christenthum, aus dem Frantzösischen ins Teutsche übersetzt. Regensburg verlegts Heinr. Jonas Ostertag / Kupfferstecher / und zu Augsburg bey Joh. Matthias Steidlin / Kupfferstechern. 1719.67 Das Buch, mit sauber ausgearbeiteten Kupferstichen und einer recht eleganten Verdeutschung der Guyonschen Poesien über die den Emblemen zugeordneten Vulgata-Verse, war, wie schon eine ebenfalls in Regensburg 1708 erschienene deutsche Version von Poirets Biographie der Armelle Nicolas,68 für die Privaterbauung ebenso der Katholiken wie der Protestanten bestimmt. In der mitübersetzten Vorrede Poirets werden die Guyon-Verse, die sie ihm handschriftlich 1717 als Neujahrsgeschenk übersandt hatte, „als inbrünstige Ausflüsse eines durch die allerreinste Gottes Liebe gantz beseelt= und getriebenen Hertzens“ gerühmt (S. XXI) und es werden Hinweise auf ihre Bibelkommentare und Discours spirituels (2 Bde., „Cologne“ 1716) gegeben. Die emblematischen Bildbeigaben seien als Initiation zur bildlosen Gottesverehrung jedem „blossen speculiren […] durch den dürren Weg des blossen Gehirns“ (S. XI) überlegen. Ergänzend empfiehlt Poiret die (auch von ihm selbst herausgegebenen) Biographien der Catharina von Genua, des Laurent de la R8surrection und der Armelle Nicolas (S. VIIf., XIXf.). Das genannte Emblembuch war neben einer reichen Auswahl anderer mystischer Literatur beständig in der Buchhandlung der Berleburger Separatisten angeboten.69
Jahrhundert, München 1930, S. 143–145; Baptist Knipping: De iconografie van de Contra-Reformatie in de Nederlanden, [Bd. 1], Hilversum 1939, insbes. S. 42, 67, 146, 309. 67 Diese erste deutsche Ausgabe der Guyon-Adaption gehört zum „Rara“-Bestand der SUB Göttingen. Für die Neuausgaben Schaffhausen 1728 und Regensburg 1743 vgl. Theophil Georgi: Allgemeines Europäisches Bücher=Lexicon, Leipzig 1742 (unter „Gottliebend“) und John Landwehr: Bibliography of German Emblem Books, Utrecht – Leyden 1972, S. 91. Für die Ausgabe Schaffhausen 1728 und eine Neuausgabe aus Lancaster, Pennsylvanien (hier allerdings handelt es sich um die Tersteegen-Bearbeitung, „Die Heilige Liebe Gottes Und die Unheilige Naturliebe […]. Aus dem Französischen der Madame I.M.B. de la Mothe Guion Treulich verdeutschet […] Von G. T. ST.,“ Lancaster 1828) vgl.: Gesamtverzeichnis des deutschsprachigen Schrifttums 1700–1910 (GV), München 1979–1987 (unter „Guyon“) und: Bibliography of American Imprints to 1901 (Author Index, Bd. 48), New York 1993, die zwischen 1798 und 1838 in Nordamerika 18 Neuauflagen namhaft macht. 68 Die Schule der reinen Liebe Gottes […] in dem Wunderleben Einer armen unwissenden Weibs=Person […] Armelle Nicolas […] samt der Vorrede des Herrn Poreti aus dem Frantzösischen getreulich ins Teutsche übersetzt. – Regensburg / Zu finden bey Johann Martin Hagen, 1708. Für die zahllosen Auflagen und außerordentliche Verbreitung dieses interkonfessionell nachgedruckten Heiligenlebens vgl. Adolf Spamer : Der Bilderbogen von der „Geistlichen Hausmagd“, Göttingen 1970 (Veröffentlichungen des Instituts für Mitteleuropäische Volksforschung. A: Allg. Reihe, Bd. 6), S. 141, 143 und 153 f. 69 Catalogus oder Verzeichniß derjenigen Bücher / welche in der Berlenburgischen Buchhandlung bey Johann Jacob Haug in beygesetztem Preiß anjetzo zu haben seynd. – 1729, S. G 1v ; vgl.Continuatio XVIII. Catalogi […] 1739 (wie Anm. 35), S. O 2vf.
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Die Verserläuterung zu Psalm 51,19: „Le sacrifice voulu par Dieu, c’est un esprit bris8; Dieu, tu ne rejettes pas un cœur bris8 et broy8“ in diesem Buch hat dem jungen Marsay „die gäntzliche übergab an Gott auf discretion“ ausgelöst – und seine Wendung zu Madame Guyon als Führerin auf diesem Weg unumkehrbar gemacht: Und da ich in dem tractat (der fr. Guion) die Gott liebende seele genannt, das 17. Embleme (Sinnbild) laß, gab mir solches einen starken eindruck in mein hertz, und Gott gab mir, daß ich in denselben reimen die eigentliche beschaffenheit meines inneren zustands ausgedrückt fand. Und also gefiele es Gott, mich allezeit blindlings zu führen durch glauben und übergab.70
Tersteegen hat die Emblem-Gedichte aus Poirets Ausgabe (anscheinend ohne Kenntnis der Regensburger Verdeutschung) in den dreißiger Jahren neu übersetzt und – vermehrt um die Guyon-Kommentare zu den beigeordneten Bibelstellen – in Solingen 1751 unter dem Titel Die Heilige Liebe Gottes Und die Unheilige Naturliebe, in […] erbaulichen Versen […] aus dem Frantzösischen der Madame Guion neu ediert.71 Die große Serie der Verdeutschungen der wichtigsten Guyon-Schriften (nun erstmals mit Nennung ihres Namens im Titelblatt) erschien aber erst im Jahrfünft zwischen 1726 und 1731 im bereits erwähnten Leipziger Pietistenverlag des Samuel Benjamin Walther : 1726 eine mystische Kinderzucht-Anthologie mit dem Guyon-Traktat Christliche Unterweisung für die Jugend,72 70 Marsay: Das Leben […] von ihm selbst beschrieben. In: Valenti: System (wie Anm. 55), S. 245. Das Emblem XVII (zu Psalm 118,5 „O daß meine Wege gerichtet würden / zu halten deine Rechte“) in der Guyon-Bearbeitung nach Hermann Hugo zeigt die an einem himmlischen Gängelband durch das Labyrinth der Welt geleitete Anima und erläutert dieses (in der deutschen Übertragung): „[…] Mir stellt des Blinden Thun und Handeln j Die Ubergab im Glauben für ; j […] Dieß Leben ist ein Irregarten; j Auff daß der Wandel sicher sey / j Must Du / ohn Falsch / auf Gott im blinden Glauben warten / j In reiner Liebe / ohne Heucheley.“ „Die ihren Gott liebende Seele“, 1719 (wie Anm. 67), S. 18. 71 Gerhard Tersteegen: Die Heilige Liebe Gottes und die Unheilige Natur=Liebe, Solingen 1751; Neuausg. Mülheim 1882. Vgl. Krafft: Tersteegen (wie Anm. 58), S. 336 f., Eckhardt: Einfluss (wie Anm. 21), S. 25 und 64, van Andel: Tersteegen (wie Anm. 42), S. 273. In einem Brief an Georg Heinrich Fischer hat Tersteegen am 25. Juli 1751 seine Guyon-Bearbeitung angekündigt und im Brief an den Verleger Johann Schmitz am 14. Oktober 1751 einen Versand von zunächst 24 Exemplaren geordert, Gerhard Tersteegen: Briefe 2. Hg. von Gustav Adolf Benrath [u. a.], Gießen – Göttingen 2008 (Texte zur Geschichte des Pietismus, Abt. V, Bd. 7/2), S. 180 und 187 f., Register der Briefäußerungen Tersteegens über Madame Guyon ebd. S. 580. Vgl. dazu, auch zu Tersteegens Lyrikwerk, Goeters: Der reformierte Pietismus (wie Anm. 42), S. 401, Schrader: Hortulus mystico-poeticus (1997, L 21), im vorliegenden Band S. 469 f.; Kemper: Deutsche Lyrik 6/1 (wie Anm. 42), S. 66–69, Neeb: Tersteegen und Schmitz (Anm. 41), S. 47–49 (mit Faks. des Titels und einer Probe aus dem handschriftl. Entwurf des Dichters). Für die Neuausgaben der pennsylvanischen Pietisten vgl. Anm. 67. 72 Christliche Unterweisung für die Jugend […] von Madame Guion für ihre Tochter aufgesetzet; Und jetzo ins Teutsche gebracht. In: Recht kluge Kinderzucht nebst christl. Unterweisung der Jugend. Aus den Schriften der Madame Guyon und anderer erleuchteter Personen, Leipzig: Walther 1726, vgl. Eckhardt: Einfluss (wie Anm. 21), S. 55, 64. Diese Ausgabe war bereits in der
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1727 als Einzelausgabe ihr Leichtes Mittel zu beten (3. Auflage 1730) sowie in drei Teilen Das Leben der Madame J.B. Guion / aus dem Frantzösischen – in mehreren Exemplaren präsent auch in der Berleburger Buchhandlung, auch Zinzendorf besaß ein Exemplar73 –, 1728 die Christliche und Geistreiche Briefe […] Die das innere Leben betreffen,74 1728 Geistliche Ströme (Les torrents spirituels), 1730 ihr Buch-Erstling, Kurtzes Mittel zu beten (Moyen court et trHs facile pour l’oraison)75 und schließlich, in zwei Bänden 1730/31, ihre Geistreiche Discourse über verschiedene Materien, welche das Innere Leben betreffen und gröstentheils aus der heiligen Schrift genommen sind (Discours chr8tiens et spirituels).76 Von den Nachdrucken in der verlagseigenen Erbau-
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langen Liste der Vorankündigungen des Leipziger Verlagshauses im offiziellen Katalog der Michaelismesse 1723 angezeigt: Catalogus universalis […] Michael=Messe des jetzigen 1723sten Jahres, S. G 3rf., unter „Libri theologici fut. nund. prodituri lutheranae, romano-cathol. & reformatae religionis, lat. & germ.“: „Ejusd. Christliche Untersuchung für junge Leute / so wohl in der Gottseeligkeit, als in dem Umgange mit den Menschen. Aus dem Frantzösischen verteutscht in 8.“ Ebd., S. G 3r. Die Separatausgaben von „Jeanne Marie de la Mothe Guyon, Leichtes Mittel zu beten. Leipzig 1727“ und „Kurzes und sehr leichtes Mittel zu beten […] 4. Aufl. Leipzig 1730“ empfiehlt Tersteegen in seiner „Anweisung und Beschreibung“: „eine kurtze klare und leichte Anweisung zum Gebät des Hertzens; es ist klein und aparte teutsch zu bekommen Leipzig 1727“: Tersteegen: Ich bete an (wie Anm. 36), S. 59. – Das Leben der Madame J.M.B. de la Mothe Guion. Von ihr selbst beschrieben, und aus dem Frantzösischen in’s Teutsche übersetzt, Leipzig 1727 (3 Teile, mit Porträt der Autorin). Vgl. Catalogus universalis, ebd; Bayerische Staatsbibliothek. Alphabetischer Katalog 1501–1840, Voraus-Ausgabe, Bd. 15, München 1987, S. 374 sowie Catalogus oder Verzeichniß […] der Berlenburgischen Buchhandlung 1729 (wie Anm. 69), S. B 7r und D 1r ; Bibliotheca Gersdorfio-Zinzendorfiana. Verzeichniss der Bibliotheken der verstorbenen Herren Grafen Friedrich Caspar von Gersdorf, Grafen Ludwig von Zinzendorf, Gründer der Brüdergemeinde zu Herrnhut. Hg. von Gustav Salomon, 1. Abt. [Dresden 1879], S. 171, Nr. 2389. – Im selben Jahr 1727 ließ der Leipziger Walther-Verlag wiederum zu Ostern und zu Michaelis je eine große Liste von Vorankündigungen Guyonscher Werke in den Messekatalog einrücken, die teilweise erst später, z. T. wohl aber auch nie erschienen sind. Abgedruckt bei Neeb: Tersteegen und Schmitz (wie Anm. 41), S. 234 f. Dazu gehörte auch die „Regel der Kindheit Jesu-Genossen“ (mit Angabe „18. Augsp. und Leipz., Bey S.B. Walther“), von der jedenfalls Johann Schmitz in Solingen 1752 einen Neudruck vorgelegt hat: Nachweise ebd., S. 24. Christliche und Geistreiche Briefe […] Die das innere Leben betreffen. – Vgl., mit Faksimile der Titelei: Chronik Ulrich Bräker. Hg. von Christian Holliger und Karl Pestalozzi, Bern – Stuttgart 1985, S. 123 f. Geistliche Ströme, darinne unter dem Sinnbild eines Stroms vorgestellet wird, Wie Gott die Seelen […] zubereite, Leipzig 1728 und: Kurzes Mittel zu beten, Leipzig 1730, vgl. Eckhardt: Einfluss (wie Anm. 21), S. 64. Für die Gemeinschafts-Neuausgabe beider Traktate: Kurzes und sehr leichtes Mittel, das innere Gebet zu verrichten, und geistl. Ströme, Aarau: Christen 1832 vgl.: Gesamtverzeichnis (GV, wie Anm. 67). Discourse über verschiedene Materien, welche das Innere Leben betreffen und gröstentheils aus der heiligen Schrift genommen sind / Aus dem Franz. d. M. Guion getreulich ins Teutsche übers. – Leipzig: Walther, Bd. 1: 1730, Bd. 2: 1731. Nachweis: Bayer. Staatsbibl. Kat., Bd. 15 (wie Anm. 73), S. 374. – Auch diese Bände werden von Tersteegen in seiner „Anweisung“ explizit zur Erbauung „recommendiert“. Tersteegen: Ich bete an (wie Anm. 36), S. 63.
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ungszeitschrift, die die Vita und die Torrents in eine größere Leserschaft getragen haben dürften, war schon die Rede. Über Veranlasser, Übersetzer und gegebenenfalls Mäzene dieser recht stattlichen Serie ist noch nichts bekannt – die Geistliche FAMA macht für die Vertriebsorganisation dieser und anderer spekulativ-mystischer bzw. quietistischer Bücher zu offenbar subventionierten, missionarisch kalkulierten Preisen – geheimnisvoll genug – „in Leipzig eine geheime Gesellschaft“ namhaft.77 Der Walther-Verlag jedenfalls war ein im pietistischen Buchhandel am leistungsstärksten deutschen Messeplatz renommiertes Unternehmen, in dem neben verschiedenen Zeitschriftenserien z. B. auch Friedrich Christoph Oetingers ebenfalls mit quietistischen Biographien aufwartende Sammlung Die Unerforschlichen Wege der Herunterlassung GOTTES 1735 erschienen ist,78 und wo übrigens für den ostdeutschen Buchmarkt auch die ,Berleburger Bibel‘ und Reitz’ Historie Der Wiedergebohrnen vertrieben wurden.79 Nur ein einziger Werkkomplex ist diesen Walther-Ausgaben in der pietistischen Epoche noch über die sporadischen Nachdrucke im Tersteegen-Kreis und mehreren Neuausgaben, die seit 1740 der württembergische Radikalpietist Johann Kayser (1680–1765) initiiert hatte, hinaus nachgefolgt. Nach dem Abschluß der ,Berleburger Bibel‘ und der Serie der offensichtlich von Fleischbein in Auftrag gegebenen Berleburger Mystiker-Drucke in beiden Sprachen (der Schriften Poirets, Marsays und des „Directeur Mystique“ der Guyon, Jacques Bertot)80 ist in der Druckerei in Berleburg in den Jahren 1744–1771 noch (aufgrund der für den Bibel-Kommentar opulent genützten Übersetzung) die Guyon-Auslegung des Alten Testaments in zwölf Teilen 1743, ihr Hiob-Kommentar 1744 und 1756 zumindest ein Torso zum Neuen Testament (2 Teile: Pp%tre aux Pph8siens et Pp%tre aux Colossiens) ausgefertigt
77 „Erweckungs=Nachrichten von und aus Teutschland“. In: Geistliche Fama [Bd. 1], 10. Stück, „Sarden“ [= Berleburg] 1733, S. 47: „Es ist bekannt, daß in Leipzig eine geheime Gesellschaft zu solchen geistlichen (practischen) Büchern […] einen wolfeilen Buchhandel angelegt, in welchem […] auch die Böhmische, Guionische und andere Schrifften […] wolfeil und überflüssig [in großer Anzahl] zu bekommen.“ Von orthodoxer Seite wird diese Passage zum Erweis der pietistischen Übertretungen der Zensurordnungen zitiert: Christoph Michels: Spiritvs erroris in recentissimo Berlebvrgensivm Bibliorvm opere [Disputatio theologica in Archigymnasio Tremonensi, präsidiert von Johann Daniel Kluge], Dortmund 1734, S. 12. 78 Vgl. Anm. 56. 79 Detaillierte Nachweise bei Schrader: Literaturproduktion (1989, L 1), S. 432 f., vgl. S. 125, 248/ 485, 309 und 338. 80 Ebd., S. 194–200, 207, 214–220, 474 (durchweg mit Standort-Nachweisen). Die von Kayser (unter dem Pseudonym „Timotheus Philadelphus“) herausgegebenen Guyon-Werke sind entdeckt und zugeschrieben von Martin H. Jung: „Evangelisches Bedencken“ (1738). Ein Beitrag zur „Jud Süß“-Forschung und zur Geschichte des separatistischen Pietismus. In: Blätter für württembergische Kirchengeschichte 95 (1995), S. 89–113, hier S. 100. Es handelt sich um: Johanna Maria Guion: Geistlicher Wegweiser, o.O., 1740; dies.: Leichtes Mittel zu beten, o.O. [nach 1740] sowie dies.: Christliche Anweisung zum stetigen Wandel, o.O. [ca. 1760] (alle vh. in der ULB Stuttgart).
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worden81 – ermöglicht zweifellos auch nur durch Fleischbeins Einsatz. Denn der Berleburger Erwecktenverlag war 1749 zusammengebrochen, und sein Nachfolger war ein reiner Geschäftsbetrieb ohne missionarisches Interesse.82 Erst lange nach der neuen französischen Gesamtausgabe in 40 Bänden durch den Lausanner Jean-Philippe Dutoit („Paris“ [recte: Lausanne] 1790)83 haben in Deutschland die Romantik (Neuübersetzung der Vita durch Henriette von Montenglaut im Berliner Sander-Verlag 1826 – deren drei Bände hat Ludwig Tieck besessen)84 und in der Schweiz die Erweckungsbewegung (Sämmtliche Werke in Bezug auf das innere Leben, mindestens 22 Duodezbändchen, die Bibelerläuterungen, ebenfalls 22 Bände, und eine Extraausgabe 81 Aus antiquarischem Fund wies mir (mit übersandtem Titelblatt) Johannes Burkardt die Ausgabe nach: „Das Alte Testament mit Erklärungen, das Innere Leben betreffend, von Madame Jeanne Bouviere de la Mothe Guion. In zwölff Theile eingetheilet […] Aus dem Frantzösischen in die Teutsche Sprache übersetzt. Gedruckt im Jahr JEsu Christi 1744.“ (darin Inhaltsverzeichnis S. 29 f.) und ebenso: „Das Buch Hiobs, erklärt von Madame Guion. In frantzösischer Sprach geschrieben / und nun treulich ins Teutsche übersetzt. […] Berlenburg / gedruckt bey Christoph Michael Regelein. 1743.“ (Beide Titel fehlen noch in meiner Bibliographie der Berleburger Drucke, Schrader: Literaturproduktion [1989, L 1], S. 220). Erst jenseits der pietistischen Periode Berleburgs erschien dort noch: Der Brief des h. Pauli an die Epheser : mit Erklärungen, das innere Leben betreffend / Aus dem Franz. –, Berleburg 1765; Der Brief des h. Pauli an die Kolosser: mit Erklärungen, das innere Leben betreffend / Aus dem Franz. –, Berleburg 1765 [beide vorhanden in der BSB München]. – Gerhard Tersteegen hat offenbar begonnen, einen der inspirativ zugeströmten Bibel-Kommentare der Guyon, den zum Matthäus-Evangelium, ins Niederländische zu übertragen, die Ausarbeitung aber ungedruckt liegengelassen (Handschrift im „Evangelischen Brüderverein Denklingen“): „Verklaringe over Matth[us van Mad. Guion. Uit het Franz. oversat van Gerh. Tersteegen“: Vgl. van Andel: Tersteegen (wie Anm. 42), S. 23 f., 57–59 und 271, danach Goeters: Der reformierte Pietismus (wie Anm. 42), S. 401. 82 Schrader: Literaturproduktion (1989, L 1), S. 197, 200 f., 222 f., 472–475. Meine frühere (der entsprechenden Behauptung Karl Philipp Moritz’ Glauben schenkene) Annahme, Fleischbein habe alle diese Mystikerdrucke aus eigenem Vermögen finanziert, kann aufgrund der Andeutungen in seiner Korrespondenz mit dem Gemeinde-Vize Georg Ludwig von Klinckowström präzisiert werden. Offenbar war Fleischbein der Auftraggeber, die Gelder aber wurden – mit gehörigen Zuschüssen auch Marsays – in der gesamten quietistischen Gemeinschaft, namentlich auch in der Schweiz, kollektioniert. Vgl. Schrader : Goethes Verbindung zum mystischen Quietismus (2016, L 57), S. 49–51 und 60 f. 83 Andr8 Rayez: Jean Philippe Dutoit, ministre vaudois, 1721–1793. In: Dictionnaire de Spiritualit8 (wie Anm. 10), Bd. 3, 1957, Sp. 1849–1853; Ren8 Voeltzel: Jean-Philippe Dutoit. In: RGG3, Bd. 2, 1958, Sp. 293 f.; Cognet: Guyon (wie Anm. 49), Sp. 1336; Gondal: L’acte mystique (wie Anm. 49), S. 640–645. 84 Bayerische Staatsbibliothek. Alph. Kat., Bd. 15 (wie Anm. 73), S. 374: Das Leben der Frau J.M.B. von la Mothe Guion / von ihr selbst beschrieben. Aus dem Franz. übers. von Henriette von Montenglaut, geb. von Cronstein, 3 Bände, Berlin 1826. – Vgl. Mohr: Tersteegens Verschreibung (wie Anm. 57), S. 295; Bibliotheca Tieckiana. Catalogue de la BibliothHque C8lHbre de M. Ludwig Tieck, Berlin 1849, S. 247, Nr. 5416. Überdies hat der romantische Schriftsteller Ludwig Theobul [=Ludwig Gotthard] Kosegarten (der Verfasser der „Legenden“, 2 Bände, Berlin 1804, die Gottfried Keller zu seinem ironischen Gegenentwurf „Sieben Legenden“ anregten, und Vater des Goethe für seinen „Divan“ zuarbeitenden Orientalisten) eine deutsche Neuausgabe der „Torrents spirituels“ herausgebracht: Die Ströme. Mit Titelkupfer, Stralsund 1817. Vgl. Schmidt: Guyon (wie Anm. 10), Sp. 1920; Leopold Hirschberg: Der Taschengoedeke. Bibliographie deutscher Erstausgaben, verb. Ausg., Bd. 1, München 1970 (dtv, WR 4030), S. 275 f.
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von Kurzes und sehr leichtes Mittel, das innere Gebet zu verrichten, alle im Christen-Verlag Aarau)85 wieder Guyonsche Werke publik gemacht. In der pietistischen Epoche aber ist, auch zufolge der raren Repräsentanz in den Buch-Nachlaßkatalogen, die durch die Schriften der Guyonisten vermittelte Wirkung weit bedeutsamer gewesen als die direkte Rezeption der GuyonTexte selbst.
IV. Die drei wesentlichsten geistigen Anverwandlungen, zugleich Vermittler zur Sprache und Literatur der Goethezeit, haben in mehr oder weniger enger Interaktion zueinander gestanden. Es handelt sich um den Kommentar zum großen Berleburger Bibelwerk und um die Erbauungsschriftstellerei Gerhard Tersteegens und des Marquis de Marsay. In keinem Fall sind diese Leistungen bloße Übersetzung, es sind freie Adaptionen, die ihre Guyon-Übernahmen mit anderer Traditionsmitgift und mit Eigenem mischen – jede für sich einer eigenen Abhandlung würdig, wobei vergleichende Forschungen über ihre Guyon-Nähe und die Art der Abweichung kaum ansatzweise geleistet sind. Ich muß mich mit knappsten Hinweisen begnügen. Die ,Berleburger Bibel‘: Die Heilige Schrift Altes und Neues Testaments / Nach dem Grund=Text aufs neue übersehen und übersetzet: Nebst einiger Erklärung des buchstäblichen Sinnes / Wie auch der fürnehmsten […] Weissagungen von Christo und seinem Reich und zugleich einigen Lehren […] in unseren letzten Zeiten, 1726–1742 in acht starken Foliobänden erschienen, stellt wissenschaftlich wie publikatorisch die größte Leistung der bunt gemischten Separatisten- und Erwecktenschar und ihres Druck- und Verlagsunternehmens dar, die sich seit dem Ende des 17. Jahrhunderts in den Wittgensteinischen Toleranz-Grafschaften anzusiedeln vermochten. Die Bedeutung dieser Bibelausgabe liegt nicht in erster Linie in der von den gelehrten Hebraisten und Gräzisten dieses Kreises nach eigener Erarbeitung des erforderten philologisch-kommentatorischen Rüstzeugs86 erbrachten Übersetzungsleistung. Im Bemühen um Präzision bleibt diese oft schwerfällig und ohne die Luthersche Eleganz. Einzigartig ist vielmehr die den weit überwiegenden Teil der Bände ausmachende wort- und versweise Kommentierung des Gotteswortes (4 Bände Altes Testament, 3 Bände Neues Testament, der Schlußband mit weit über die Luthersche Auswahl hinausgreifenden Apokryphen).87 Nach den aus mittelalterlicher Exegesetradition erneuerten 85 Einzeltitel dieser Serie von Neuausgaben aus der Periode der Erweckungsbewegung im Gesamtverzeichnis (GV, wie Anm. 67), unter „Guyon“. 86 Zu diesen Studien und vorbereitenden Publikationen philologisch-kommentatorischer Hilfsmittel vgl. Schrader : Literaturproduktion (1989, L 1), S. 188. 87 Die Heilige Schrift Altes und Neues Testaments / Nach dem Grund=Text aufs neue übersehen und übersetzet: Nebst einiger Erklärung des buchstäblichen Sinnes / Wie auch der fürnehmsten
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Prinzipien des dreifachen Schriftsinns soll in jedem Bibelwort der sensus litteralis, spiritualis et mysticus sichtbar gemacht werden – als Hieroglyphen von Gottes Wirken in der Geschichte, der Heilsgeschichte und jeder Einzelseele. Für diesen „geheimen und geistlichen Sinn“, also für die (wie die Vorrede zum ersten Band erläutert) Wege und Wirckungen Gottes die er in den Seelen zu der Vereinigung mit ihm vornimmt / wie solche in deren Buß=Prozeß in die Verläugnung / Absterbung der Welt / Demuth und Vernichtigung ihrer selbst / und also zu ihrer Reinigung kommen müssen (S. 2v),
hat man neben den anerkanntesten Exegese-Autoritäten der Kirche, wörtlich oder sinngemäß und leider meist ohne Quellennachweise, eine Vielzahl spekulativ Erleuchteter seit Origenes, darunter auch die „Lehren gottseliger Frauen“, von Ekstatikerinnen wie Jane Leade, Antoinette Bourignon, Johanna Eleonora Petersen – und eben vor allen „Mad. de Guion“ – verwendet (S. 4v). Die Vorrede weist explizit darauf hin, daß der geistreichen Madame de Guion ihre Erklärungen […] / die da betreffen das innere Leben […] meistentheils an gehörigen Orten beygefüget worden, […] nachdeme solche erbauliche Schrifften durch die Vorsehung GOttes von einer Hohen Stands=Person sind übersetzt und dazu communiciret worden; die auch dieses Werck mit Dero Freygebigkeit zu unterstützen angetrieben wird. [S. 3r / 4v]
Die vornehme Standesperson war der Landesherr selbst: Graf Casimir, der das Bibelwerk in jeder Hinsicht gefördert und dafür eigenhändig die gesamten Bibelkommentare der Guyon ins Deutsche übertragen hat. Seine Reinschrift dieser Übersetzung steht in zwölf starken Quartbänden noch heute im Fürstlichen Archiv des Bad Berleburger Schlosses,88 ist aber noch ebenso wenig wie die Guyonsche Originalvorgabe von irgendeinem der Erforscher des Bibelwerks vergleichend herangezogen worden. So schwanken die Behauptungen über das Ausmaß der Guyon-Nutzung zwischen den Extrempositionen, ein Einfluß des französischen Quietismus, inklusive der Guyon, sei in Fürbildern und Weissagungen, 8 Bde., Berleburg 1726–1742. Für näheren Aufschluß vgl. z. B. Martin Brecht: Die Berleburger Bibel. Hinweise zu ihrem Verständnis. In: Pietismus und Neuzeit 8 (1982), S. 162–200, sowie in ders.: Ausgewählte Aufsätze, Bd. 2: Pietismus, Stuttgart 1997, S. 369–408; Schrader: Pietistisches Publizieren unter Heterodoxieverdacht (1988, L 14), im vorliegenden Band S. 261–283; ders.: Lesarten der Schrift (1996, L 20), im vorliegenden Band insbes. S. 287–290; Beate Köster: „Mit tiefem Respekt, mit Furcht und Zittern“. Bibelübersetzungen im Pietismus. In: Pietismus und Neuzeit 24 (1998), S. 95–115, insbes. S. 108–110. 88 Vgl. z. B. Friedrich Wilhelm Winckel: Casimir, regierender Graf zu Sayn=Wittgenstein=Berleburg […], Bielefeld 1850 (Sonntags-Bibliothek, Bd. 1), S. 11; Josef Urlinger: Die geistes- und sprachgeschichtliche Bedeutung der Berleburger Bibel, Diss. phil. Saarbrücken 1969, S. 32. Völlig grundlos ist die Hypothese von Klammer : Perner (wie Anm. 55), S. 102, diese Handschrift gehe auf den Grafen Marsay zurück.
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der pietistischen Exegese „literarisch nicht nachzuweisen“89 oder, im Gegenteil, der gesamte Kommentar der Madame Guyon sei vollständig im Berleburger reproduziert.90 Der Einfluß ihres 1684 in inspirativer Meditation fast unterbrechungslos niedergeschriebenen Riesenwerks, von dem das heutige Urteil lautet, es sei „in8gal, souvent prolixe et diffus, mais il contient de beaux passages“,91 ist in der Sprache und Auslegung des Bibelkommentars unverkennbar. Neben faszinierenden Konzentraten der gesamten spekulativen Exegesetradition findet man dort oft nur weitschweifige und wiederholungsselige Paraphrasen des Auszulegenden. Die Aufgeschlossenheit des übersetzenden Grafen für die quietistische Mystik war sicher gefördert durch seinen Stolz auf hugenottische Märtyrervorfahren92 und durch den Umgang mit dem seit 1711 im Lande lebenden Marsay. Die entscheidende Veranlassung kam aber zweifellos vom Hauptherausgeber und Organisator des Bibelwerks selbst. Dieser Johann Friedrich Haug93 war im Februar 1705 wegen seiner Neigung zur „Chiliasterey“ und zu „in den Königlichen Landen verbottenen Quietistischen Neuerungen“ aus seinem Straßburger Predigtamt und vom französischen Territorium ausgetrieben worden, weil er unter dem Einfluß der „von des Molinosi Geist angesteckten Guyoniæ“ zu seiner „Pietisterey“, auch „Quietisterey / durch einen mißbrauch der Theologiae mysticae“ verbreitet habe.94 Schon von dort aus hatte er (zunächst in der Absicht, im toleranten Ländchen als Eremit zu leben) Verbindung nach Wittgenstein geknüpft. Haug, der gegen die orthodoxen Glaubenswächter den schönen Begriff der „Inquietisten“ geprägt hat, die „andern die Stille und die Gelassenheit und den nächsten Weg zum Heil“ mißgönnten,95 zeigt schon in seiner frühen Erbauungsschriftstellerei An89 Heinz Liebig: Schriftauslegung IV B. 5: Pietismus. In: RGG3, Bd. 5, 1961, Sp. 1532. 90 Vgl. z. B. Albrecht Ritschl: Geschichte des Pietismus, Bd. 2, Bonn 1884 (Nachdruck Berlin 1966), S. 353; Johann Heinrich Kurtz: Lehrbuch der Kirchengeschichte, Leipzig, 14. Aufl. 1906, S. 314; Eckhardt: Einfluss (wie Anm. 21), S. 43 f.; Urlinger : Berleburger Bibel (wie Anm. 88), S. 32, 129, 277; Jürgen Quack: Evangelische Bibelvorreden, Gütersloh 1975 (Quellen und Forschungen zur Reformationsgeschichte, Bd. 43), S. 304–322. Jean-Marc Heuberger : Les commentaires bibliques de Madame Guyon dans la Bible de Berleburg. In: R8vue de Th8ologie et de Philosophie 133 (2001), H. 3, S. 303–323 konnte erweisen, daß tendenziell diese Hypothese Recht hat – bei einer jedoch fallweise starken, oft durch „protestantische Dogmenkritik“ bedingten Auswahl. 91 Cognet: Guyon (wie Anm. 49), Sp. 1330, vgl. insbes. Le Brun: Madame Guyon (wie Anm. 10), S. 867. 92 Vgl. Winckel: Casimir (wie Anm. 88), S. 3–10; Schrader: Literaturproduktion (1989, L 1), S. 200, 214. 93 Knappe Übersicht in den Artikeln „Haug“ von Eberhard Pältz (RGG3, Bd. 3, 1955, Sp. 87 f.) und von Friedrich Wilhelm Bautz in: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon (wie Anm. 29), Bd. 2, 1990, Sp. 595, die alle beide den Vornamen in „Johann Heinrich“ verfälschen. Genauere Informationen: Schrader : Literaturproduktion (1989, L 1), vgl. Register. 94 [Johann Joachim Zentgraf]: Deß Evangelischen Kirchen=Convents in Straßburg Abgenöthigter Historischer Bericht / Von der […] Pietistischen Brüderschafft Und Philadelphischen Gesellschafft, Straßburg 1706, S. 230–232, vgl. S. 74 und 170 f. 95 Johann Friderich Haug: Zeugnusz der Liebe an die Inwohnere der Stadt Straßburg […], o.O.
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klänge an die Torrents spirituels, wenn er die mystische Botschaft beschreibt als ein voller Strom und Wasser=Rauschen; und zuletzt fliesset es lieblich / gelind und sanfft / wie ein klares und lauteres Bächlein / ja wie das stille Wasser von Silo / davon es auch offt zeuget.96
Daß die Auslegung in der Bibel neben den häufigen Ausblicken auf den geheimen Sinn für das innere Leben weithin durchaus faktisch-gelehrt und keineswegs enthusiastisch ist, zeigt der Kommentar zu jenem Wasser von Siloah oder Gihon in 2Chr 32,30 (vgl. Jes 8,6). Es handle sich nämlich um die „neue Wasser=Leitung“ des Königs Hiskia in Jerusalem: Canäle / so vermittelst unterirdischer Gänge durch Felsen hingiengen / wodurch das Wasser mit groser Kunst und Kosten durch geheime Wege nach der Stadt geführet […] und ihren Wasser=Mangel ersetzete.97
Mit dem integrierten Guyonschen Aufschluß haben die Berleburger Separatisten offen und mit Erfolg für ihr Bibelwerk geworben –98 und die Orthodoxen haben pflichtschuldigst wider die „crasso Fanaticismo et Indifferentismo“ infizierte Erläuterung gewettert, in der man sich auch auf „mulierculam Gallicam […] Ioannam Mariam De Gvion, cuius varii libelli crudi exitiosisque erroribus referti“ gestützt habe99 – doch ohne irgendwelche konkreten Proben oder Auseinandersetzungen. Immerhin konstatiert die führende Zeitschrift der orthodoxen Partei in ihrer Rezension der Bibelversion mit
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1708, S. 112: „So mißgönnen dann solche Inquietisten auch andern die Stille und Gelassenheit / und den nächsten Weg zum Heil und Gerechtigkeit Gottes.“ [Johann Friedrich Haug]: Theosophia Pneumatica, oder / Geheime GOttes=Lehre […], o.O. [= Idstein] 1710, Vorrede, S. E 4r. Zur mystischen Tradition der „Wassermetaphorik“ vgl. August Langen: Der Wortschatz des deutschen Pietismus, Tübingen, 2. Aufl. 1968, S. 319–328. Der Heiligen Schrifft […] Anderer Theil, Berleburg 1728, S. 787, Kommentar zu „Hiskijah verstopffte die obere Wasser=Quellen in Gihon.“ Vgl. die Subskriptionseinladung (verfaßt von Ludwig Christoph Schefer) für dieses neue Bibelwerk, abgedruckt bei Winckel: Casimir (wie Anm. 88), S. 111; dazu: Geistliche Fama [Bd. 1], 10. Slg., 1733, S. 44: „In Berlenburg ist eben also die H. Schrifft mit […] ascetischer Anweisung der Geistes=Wege, hervorgekommen, darin auch viele gute Auszüge aus Mad. Guion Biblischen Werken eingebracht werden, daß Erweckte und Geübte eine Nahrung finden.“ Weitere Empfehlungen der Madame Guyon gibt die Geistliche Fama (Bd. 2), 14. Slg., 1734, S. 12 (§ 19) und 18. Slg., S. 70 ff. sowie (Bd. 3), 29. Slg., 1743, S. 73. – Zu den verlegerischen Werbemitteln gehört auch ein der Auslieferung des VI. Teils zur Ostermesse 1737 nachgesandtes Flugblatt vom Juli 1737, „Avertissement wegen der grosen Berlenburgischen Bibel.“ (erhalten im „Cassel-Library“Bestand des Juniata College in Huntingdon, Pa.), in dem die über die jahrelange Herstellungszeit und unerwartet hohe Bandzahl des Bibelwerks beunruhigte Subskribentenschaft um nur mehr kurze Geduld für den baldigen Abschluß gebeten wird mit dem (doch nicht eingehaltenen) Versprechen, „daß man nicht gesonnen, mehr als noch einen Theil zu machen, damit es bey der Sieben=Zahl beruhe.“ Michels [Präs.: Kluge]: Spiritvs erroris, 1734 (wie Anm. 77), S. 12.
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feinem Sprachgefühl die Menge noch ungewohnter mystisch-quietistischer Neuwörter, die hier in den deutschen Wortschatz hineindrängen: Die undeutschen selbstgemachten Wörter, Eigenheit, Eingekehrtheit, Durchdringlichkeit, Wirksamkeit, Geringheit, Selbheit, Ausgebreitetheit, Irrdischheit, Beschaulichkeit, die gar offt vorkommen, machen die Sache gantz unverständlich.100
Die Wirkung der ,Berleburger Bibel‘ bis in bäuerliche Bibliotheken, bis in die Schweiz und nach Amerika und bis in die Goethezeit hinein, war gewaltig,101 ein wesentlicher Kanal also für den unterirdischen Zustrom auch des Guyonschen Geistes. Gerhard Tersteegen, von dessen Versübersetzungen der Guyonschen Emblembuch-Verse (Die Heilige Liebe Gottes) sowie der handschriftlich ererbten Meditationsnotizen (Kleine Perlenschnur) schon ebenso die Rede war wie von seiner schließlichen Nicht-Aufnahme ihrer Vita in seine Sammlung der quietistischen Lebens=Beschreibungen, war zweifellos der poetisch bedeutendste und dadurch in seiner bis heute fortdauernden Wertschätzung folgenreichste unter den Vermittlern der Guyonschen Tradition an den deutschen Kulturraum. Ganz überzeugend positioniert ihn der Spätpietist JungStilling unter die „reinsten und vortreflichsten Mysticker, die je gelebt haben“ und die „beständig in der Gegenwart Gottes […] die reine und wahre Mystick im strengsten Sinne“ praktizierten.102 Ein guyonistischer Ton und Wortschatz ohne emphatische Exaltiertheiten, die Motive der „passivit8“ und des „abandon“, von kindhaftem Sich-Führen-Lassen, aber auch bereitwilligem 100 Fortgesetzte Sammlung von Alten und Neuen Theologischen Sachen [= Unschuldige Nachrichten, Bd. 29], Leipzig 1729, S. 812 f. Vgl. (zur entsprechenden Sprachbeobachtung bei Karl Philipp Moritz) Anm. 17. Für die mystische Genese nahezu aller dieser Suffix-Abstraktbildungen vgl. überdies Langen: Wortschatz (wie Anm. 96), S. 396. 101 Vgl. z. B. Fortgesetzte Sammlung, 1729 (wie Anm. 100), S. 817: „Das Buch ist in vieler einfältigen und ungeübten Lesern ihren Händen“. Ein Beispiel dafür ist der junge St. Galler (Toggenburger) Landmann Ulrich Bräker, der beteuert, alle acht Bände wiederholt gelesen zu haben. Vgl. Schrader: Literaturproduktion (1989, L 1), S. 311, 512. 102 Johann Heinrich Jung: Vorrede. In: [Johann Christian Stahlschmidt]: Die Pilgerreise zu Wasser und zu Lande, Nürnberg 1799, S. XI: „Einer der reinsten und vortrefflichsten Mysticker, die gelebt haben, der selige Gerhard Ter Steegen, […] lebte beständig in der Gegenwart Gottes, und übte die reine und wahre Mystick im strengsten Sinn aus […], um am grossen Weltabend noch viele tausend Seelen zu klugen Jungfrauen zu bilden.“ Vgl. zu dieser (in Jung-Stillings „Sämmtlichen Schriften“ fehlenden) Vorrede Johann Arnold Kanne: Leben und aus dem Leben merkwürdiger und erweckter Christen, Bd. 1, Bamberg – Leipzig 1816, S. XXXVI und v. a. Bd. 2, 1817, S. 156 f.: „Einige Züge aus Stahlschmieds innerem Leben.“ Jung-Stillings hat in seinen Werken, auch seinen Romanen, die religiösen Konzepte der Madame Guyon vielfach aufgegriffen, vgl. insbes. seinen Roman „Theobald oder die Schwärmer. Eine wahre Geschichte.“ In: Johann Heinrich Jung, genannt Stilling: Sämmtliche Schriften, Bd. 6, Stuttgart 1837 (Neudruck: Hildesheim – New York 1979, Bd. IV,6), S. 13–21, vgl. Eckhardt: Einfluss (wie Anm. 21), S. 52–54. – Stahlschmidt seinerseits war in den quietistischen Gruppierungen hochgeachtet und offenbar Nachbesitzer der von Tersteegen verwahrten Guyon-Reliquien (Kästchen und Brieffragment) sowie von Tersteegens Blutverschreibung. Vgl. Mohr : Tersteegens Verschreibung (wie Anm. 57), S. 288–294.
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Sich-Erquicken-Lassen als Gottes „Freund und Schooß=Kind“, durchzieht sein ganzes Werk, besonders seine Lyrik.103 Anders aber als bei Tersteegens frühen Übersetzungen von BerniHresLouvigny und Jean de Labadie ist diese mystische Poesie nicht etwas Übernommenes;104 sie erscheint so sehr aus eigener Kraft und Empfindung entstanden, daß sich ihre verschiedenen Anregungen kaum mehr sondern lassen, so daß besser von Analogien als von Quellen zu reden ist. Neun der Tersteegenschen Lieder gehören (meist gekürzt und im spekulativen Wortschatz ebenso bereinigt wie in den separatistischen Aussagen) noch heute dem Evangelischen Gesangbuch an, von denen das bekannteste, Gott ist gegenwärtig,105 zugleich das der Guyonschen Geistigkeit nächste ist. In der schon erwähnten Zeitschrift Geistliche Fama der Berleburger Radikalpietisten, mit denen Tersteegen in häufigem Austausch stand, erschien 1743 seine schon Ende 1735 brieflich ausgearbeitete Lehrschrift Von der Wahren Beschaffenheit und Nutzen der sogenannten Mystick, Anleitung „zum verborgenen Leben mit Christo in GOtt“: Zum Herzensleben kommt man, so ist da zu lesen, durch Mortifikation und Liebe, „Verlassung der Dinge“ und „Ueberlassung an Gott“ im „inwendigen Gebät“:
103 [Gerhard Tersteegen]: Geistliches Blumen=Gärtlein Inniger Seelen […], Frankfurt – Leipzig [recte: Duisburg] 1729, S. 56 (1. Teil, „Schluß=Reimen“, Nr. 177): „Sey abgeschieden / rein j Von Lüsten dieser Erden / j So wirst du GOtt gemein / j Sein Freund und Schooß=Kind werden.“ Zum Preis des seligen Kindheitsstandes, der, dem Göttlichen noch nahe, alle Lebensbesorgnisse vertrauensvoll dem himmlischen Vater überläßt (ähnlich auch in den Stereotyp-Formeln aller Marsay-Titeleien, vgl. Anm. 115–116), in Tersteegens Lyrik vgl. Schrader: Hortulus mystico-poeticus (1997, L 21), im vorliegenden Band S. 479 f. sowie umfassender ders.: „Werd ein Kind!“ (2010, L 45), im vorliegenden Band S. 701–730. Für die quietistischen „Kunstwörter“ vgl. auch Jung: Vorrede (wie Anm. 102), S. V. 104 Für Tersteegens immerhin begonnenen Versuch, die Guyonschen Bibel-Kommentare zu übersetzen (ausgeführt in seiner Übertragung der Matthäus-Erläuterungen ins Niederländische) vgl. Anm. 81. Zum Einfluß der Madame Guyon auf Tersteegens Verhalten und Frömmigkeitsübung (u. a. seine „Blutverschreibung“) vgl. ferner van Andel: Tersteegen (wie Anm. 42), S. 209, 220, 233 f., 235, 260 und 273. 105 „Erinnerung der herrlichen und lieblichen Gegenwart Gottes“. In: [Gerhard Tersteegen]: Geistliches Blumen=Gärtlein, 1729 (wie Anm. 103), IV. Büchlein: Geistliche Lieder / und Andachten, Nr. XI, S. 196–198. – Gegenüber dem voraufgehenden „Evangelischen Kirchengesangbuch“ (EKG) ist der Tersteegen-Bestand im neuen EG (1993) allerdings leicht rückläufig. Übersicht der in beide Gesangbücher aufgenommenen Lieder bei Schrader : Hortulus mystico-poeticus (1997, L 21), im vorliegenden Band S. 457 f., Anm. 1; umfassendere Statistik und Auswertung der Tersteegen-Präsenz in der Gesangbuch-Geschichte seit dem 18. Jahrhundert bei Christian Bunners: Gerhard Tersteegens Lieder im Gesangbuch. Ein rezeptionsgeschichtlicher Beitrag. In: Gerhard Tersteegen (wie Anm. 29), S. 77–100. Charakteristische Guyon-Konzepte wie das Motiv des wesentlichen Innewohnens und des Gottesgenusses bzw. das des dunklen Glaubens (,foi obscure‘) zeigen noch im EKG die Lieder „Allgenugsam Wesen“ (EKG 270) und „Der Abend kommt“ (EKG 366): „Ins Heiligtum, ins Dunkle kehre ein; j Herr, rede du, laß mich ganz stille sein.“ Beide wurden – schlechte Zeit für Mystik – im neuen EG getilgt!
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Man muß ein Form-loser armer Dohn seyn in der Hand des Töpffers. Diese Liebeshand formiret uns nach ihrer Weise. […] Sie machet sanfft und willenlos; sie lehret allen eigenen Absichten entsincken, […] setzet in eine gründliche Abgeschiedenheit von allem fremden und eigenen Leben, da Gott der alleinige und gantze Schatz der Seelen wird, und sich in ihr verkläret nach seinem Belieben.
Daher ist für Tersteegen die quietistische Botschaft auch nicht eine von besonderen Lehrern eingesetzte (und insofern potentiell suspekte) Glaubensrichtung; alle vorbildlichen Mystiker sind vielmehr nur Zeugen derselben einen und beständigen Wahrheit: „Das wahre inwendige Leben ist keine besorgliche oder neue Sache. Es ist der uralte wahre Gottesdienst, das Christliche Leben in seiner Schönheit und eigentlichen Gestalt.“106 Am bezauberndsten wohl, in einfachstem, kindlich eingängigem Vokabular aber präsentiert sich diese Lehre in Tersteegens über 600 pointierten Epigrammen, Kurze und erbauliche Schlußreime, die sein Geistliches Blumengärtlein inniger Seelen eröffnen. Nur ein Beispiel aus dem 2. Büchlein, Nr. 39: Gottes Wohnung. Den Mittel=Punkt / von deinem Wesen Hat GOtt zur Wohnung sich erlesen: Kehr sanfft hinein, da offenbart Die Gottheit ihre Gegenwart.107
Sehr viel unmittelbarer und auch unduldsamer als Tersteegen war der Marquis de Marsay an Madame Guyon orientiert. Friedrich Christoph Oetinger, später einer der „Väter“ des schwäbischen Pietismus, ist mit ihm darüber bei verschiedenen Begegnungen in Streit geraten, schon beim Kennenlernen in einer Postkutsche um 1728/29 bei Frankfurt: Marsay rühmte über alles die Mad[ame] Guion. Ich aber sagte, Guion sey nicht für uns gekreuzigt, man müße so anhängisch nicht seyn. Ich erzürnte ihn sehr damit, und wir kamen nicht zusammen […].
1730 lebte der Streit bei Oetingers Besuch in seiner Einsiedelei im Wittgensteinischen wieder auf: „Er blieb auf der alten leyer weg[en] Guion“.108 Doch 106 Gerhard Tersteegen: Von der wahren Beschaffenheit […] der sogenannten Mystick. In: Geistliche FAMA (Bd. 3), 29. Stück, 1743 (wie Anm. 52), S. 55–57. In der ursprünglichen Briefversion vom 9. Dezember 1735 an Friedrich Wilhelm Adolf Bieffer (,Handbrieflein von der Mystik‘) jetzt in Gerhard Tersteegen: Abhandlungen zu Frömmigkeit und Theologie. Hg. von Johannes Burkardt, Leipzig 2018 (Edition Pietismustexte, Bd. 12), S. 144–147, Kommentar S. 326 f. Vgl. den Brief vom 8. September 1735 an den Herausgeber der ,Geistlichen Fama ‘, Johann Samuel Carl. In: Tersteegen: Briefe 1 (wie Anm. 57), S. 292 f., hier auch der „Mystik“Brief an Bieffer S. 305–308. 107 In: [Gerhard Tersteegen]: Geistliches Blumen=Gärtlein, 1729 (wie Anm. 103), II. Büchlein derer Schluß=Reimen, S. 73 f. In späteren Ausgaben (Stereotyp-Ausg. Stuttgart 1910, S. 46) als Nr. 259. 108 Friedrich Christoph Oetinger: Genealogie der reellen Gedancken eines Gottes-Gelehrten. Eine
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auch Marsay, dessen Wirkung zeitlich begrenzter war als die Tersteegens, hat weder Guyon-Schriften übersetzt noch ediert oder ausgelegt. Genau belegte Hinweise auf die Meisterin und ihre Gedanken (ergänzt um Verweise auf analoge Bekundungen anderer Quietisten) durchziehen zwar sein ganzes Werk, habe doch Mad. Guion […] poss8d8 le pur amour de Dieu dans un d8gr8 eminent [!] pendant sa vie temporelle; ses excellens [!] 8crits en rendent un t8moignage incontestable.109
In kühner Spekulation sieht er im zweiten Strom, der nach Gen 2,13 das Paradies bewässert, aufgrund der französischen Schreibung „Guihin“ gar eine Präfiguration de „l’.me la plus an8antie qu’il ait pl0 / Dieu de manifester de nos jours, […] Mad. Guion“110 – eine Bizarrerie, die der Kommentar der ,Berleburger Bibel‘ freilich nicht teilte. Und Anweisungen zur „oraison int8rieure“ und „oraison de foi“, zu einem durch die „mortification des sens“ erreichbaren „mort mistique“ „dans le desert de la foi obscure“, zur „sortie mystique de nous-mÞme“ und zum „renoncement / l’esprit propre“ kehren in Marsays Traktaten immer wieder.111 Aber sie sind doch durchsetzt mit vielfältigen theosophischen Spekulationen, etwa zur Androgynenlehre „qu’Adam avoit les 2. nature[s] en soi de male & de femelle, avant la 1. ch0te“ oder, ungewöhnlicher, über den Astralgeist vollendeter Seelen, der ihre Versetzung nach dem Tode ins Reich der Sterne ermögliche – wo etwa jene der Madame Guyon auf dem Orion verewigt werde, während die Jacob Böhmes und Antoinette Bourignons ihren Platz auf dem Merkur hätten.112 Marsay war auf die Guyon-Schriften 1716 auf der zweiten seiner großen Fußwanderungen zu seinen Verwandten und zu den Separatistenkolonien in der Westschweiz (Bern, v. a. im Waadtland, Yverdon und Vevey, dann Colombier am Neuenburgersee und Genf) durch einen Hinweis des Abb8 de Watteville aufmerksam gemacht worden.113 Seine literarische Wirksamkeit
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Selbstbiographie. Hg. von Dieter Ising, Leipzig 2010 (Edition Pietismustexte, Bd. 1), S. 94 und 98. Vgl. ebd., S. 37 f., den Hinweis auf den poetischen Wettstreit zwischen Johann Albrecht Bengel und Philipp Heinrich Weissensee im Übersetzen einiger Gedichte der Madame Guyon. [Marsay]: T8moignage d’un Enfant (wie Anm. 48), S. 330. Ebd., S. 126, vgl. auch Eckhardt: Einfluss (wie Anm. 21), S. 42. [Marsay]: T8moignage d’un Enfant (wie Anm. 48), S. 88, vgl. „Table des matieres [!] principales“, S. [405–420]. Für seine Theorie vom androgynen Adam (ebd., S. 142) stützt sich Marsay auf Jacob Böhme, Antoinette Bourignon und v. a. Pierre Poiret (dessen ,Oeconomie divine‘, Teil III, Kap. 12), so auch für seine Theorie einer feinstofflichen Erscheinung der Seele als „l’homme astral“ S. 34–44, 279 f., 226–230 (die verewigte Madame Guyon in der Sternen-Entrückung) und 373 f. (Jacob Böhme und Antoinette Bourignon im Sternbild des Merkur). Für die vermittelte Aufnahme dieser Seelen-Astralgeist-Theorien bei den deutschen Romantikern, beispielsweise auch bei Kleist, vgl. oben, Anm. 34. Marsay: Leben (wie Anm. 55), S. 232 f.; S. 245 zeigt, daß seine vollständige Anhängerschaft an die Guyonsche Spiritualität erst von der dritten Reise her datiert. Vgl. zu der in Anm. 30 genannten jüngeren Forschung noch Paul Wernle: Der schweizerische Protestantismus im
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wurde aber erst ausgelöst durch den Entschluß, dem pietistisch erweckten Frankfurter Kaufmannssohn Johann Friedrich von Fleischbein, Inhaber des durch den Vater erworbenen alten Adelssitzes Hayn bei Dillenburg in der Nähe der Wittgensteiner Grafschaften, und dessen Familie als Seelenführer zu dienen.114 Marsays Werke, schwer schon zu bibliographieren, weil sie durchweg ohne Verfassernamen anonym erschienen sind und überdies alle ihre Titel (oder zumindest Untertitel) gemäß dem guyonistisch gepriesenen Kindheitsstand erleuchteter Seelen – „qui sont droits de coeur & enfantins“ – mit der Formel beginnen T8moignage d’un Enfant de la V8rit8 & Droiture des Voyes de l’Esprit (und ebenso in den deutschen Übersetzungen Zeugniß eines Kindes von der Richtigkeit der Wegen des Geistes)115 – so daß die Katalog-Eintragungen der wenigen Bibliotheken, die seine Werke besitzen, fast nie erkennen lassen, um welche Schrift eigentlich es sich handelt, sind noch kaum erforscht. Sie haben aber einige Wirkung auch über die Gemeindegrenzen hinaus mit Neuauflagen bis nach Amerika gehabt.116 XVIII. Jahrhundert, Bd. 1, Tübingen 1923, S. 142 f., 155 f., 165–172, 176 f., 344, 394; Bd. 3, 1925, S. 175 f., 178; Geoffrey Rowell: The Marquis de Marsay : A Quietist in „Philadelphia“. In: Church History 4 (1972), S. 61–77, hier S. 70; Walter Grossmann: Johann Christian Edelmann. From Orthodoxy to Enlightenment, Den Haag – Paris 1976 (Religion and Society, Bd. 3), S. 92–96; Schrader: Literaturproduktion (1989, L 1), S. 474 (knapper Forschungsbericht). 114 Zum Fleischbein-Kreis auf Schloß Hayn und später in Pyrmont vgl. Anm. 15 und 30; knappe Angaben auch bei Marsay: Leben (wie Anm. 55), S. 346–352, 376 f. und 380/385; Goebel / Link: Geschichte, Bd. 3 (wie Anm. 42), S. 112, 114 f., Heinrich Valentin: Der Quietismus in Waldeck. In: Mein Waldeck. Heimatkundliche Beilage zur „Waldeckischen Landeszeitung“, 14. Jg. (1937), H. 5, S. 17 f. und Rowell: The Marquis de Marsay (wie Anm. 113), S. 72–75, v. a. aber – als Grundlagenrecherche – Alfred Lück: Zur Geschichte der Burg Hainchen und ihrer Bewohner. In: Geschichte des Netpherlandes. Hg. von Hermann Böttger [u. a.], Netphen 1967, S. 279–347. In dieser Zeit ist Marsay auch mit Tersteegen in Briefwechsel gestanden, mit dem er Traktate zur Verbreitung unter den Erweckten ausgetauscht hat, vgl. Neeb: Tersteegen und die Otterbeck (wie Anm. 45), S. 31–187 sowie ders.: Tersteegen und Schmitz (wie Anm. 41), S. 145 und 222. 115 Vgl. Anm. 103. Bibliographische Übersicht über die ermittelten Marsay-Werke bei Fritsche: Marsay (wie Anm. 30), S. 883–886, vgl. dazu auch Faivre: Psoth8risme (wie Anm. 21), S. 197 (und S. 57, 74) sowie Schrader: Literaturproduktion (1989, L 1), S. 199 f., 214–218; ders.: Sulamiths verheißene Wiederkehr (1988, L 15), im vorliegenden Band S. 193 f. 116 Nachweise finden sich vielfältig in radikalpietistischen Sortimenten und Bibliotheken, so drei deutschsprachige Titelangebote Marsays („Zeugniß […] in einer mystischen und buchstäblichen Erklärung der Epistel an die Römer“, 1736; „Zeugniß […] der göttlichen […] Magie“, 1737; „Freymüthig=fortgeführtes Zeugniß […] einer Erklärung der ersten drey Capitel des ersten Buchs Mose“, 1736) im Berleburger Philadelphier-Sortiment: Continuatio Catalogi librorum […] der Berlenburgischen Buchhandlung [1753] (wie Anm. 35), S. J 3rf.; zwei der Werke in französischer Sprache („Nouveaux discours spirituels sur diverses matiHres de la vie int8rieure“, 3 Bände, 1738 und „T8moignage […] d8montr8 dans la vie des saints patriarches“, 1740) in der Bibliothek des Herborner Hofes: Verzeichnis derer Bücher / welche […] zu Herborn in des Renthmeisters Bonnelle Behausung […] verkauffet werden, Herborn 1765, S. 18, Nr. 62/63. In Nordamerika wurden Werke Marsays in deutscher Sprache noch bis ins frühe 19. Jahrhundert nachgedruckt und finden sich (ebenso wie die Berleburger Original-
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Die seit 1713 bestehende Guyonisten-Gemeinschaft auf Schloß Hayn, von deren Nachfolgerin in Pyrmont der junge Karl Philipp Moritz nach Marsays Tod noch einen späten Reflex erleben konnte, ist von dem Philosophen Johann Christian Edelmann, der sich vom inspirierten Mitarbeiter der ,Berleburger Bibel‘ zum rationalistischen Religionsspötter entwickelt hat, schon ähnlich skeptisch porträtiert worden, nachdem er, entsandt vom Bibel-Herausgeber Haug, das Leben im Marsay-Kreis kennengelernt hatte: eine ganz andere Art von Heiligen, die zwar auch alle Separatisten waren: aber sie hatten sich in die Schriften der Bourignon und Guyon dergestalt verbildet, daß sie sie mehr, als die Bibel selbst venerirten. Der Herr von Marsey […] der alle seine Schriften aus dem Wasser dieser Quellen schöpfte, war der Götze dieser kleinen Familie
(außer Johann Friedrich von Fleischbein auch dessen Eltern, Schwester und Schwager). In seiner Stube versammelte sich die Gemeinde täglich zu einer Stunde selbsterwählten Stillschweigens, wobei sie nur bisweilen, um nicht einzuschlafen, die Augen verdreheten, und heimliche Seufzer von sich hören ließen, auch […] nichts anders in sich hören durften, als […] daß sie arme verdorbene […] Creaturen wären.117
Fleischbein als Übersetzer und (neben dem Verfasser) wohl auch Auftraggeber des Drucks aller Marsay-Werke in französischer und deutscher Fassung (und ebenso vermutlich auch eines Bandes der Schriften Bertots mit einem Anhang Weise Sprüche des Paters la Combe, Ausgezogen aus denen Opuscules der Mad. Guion)118 hat später, am Jahreswechsel 1773/74, seinem indirekten Großneffen Goethe, der als junger Rechtsanwalt in Frankfurt offenbar allerlei Geschäfte für ihn vermittelte (auch diskrete Geldüberweisungen, bezogen auf drucke) reichlich besonders in den Bibliotheken Pennsylvaniens. Im elektronischen Gesamtkatalog „RLIN“ fand ich zwei im Jahr 1808 durch Jacob Schnee in „Libanon“ (Lebanon, Pa.) veranstaltete Neudrucke (beide angezeigt für mehrere Bibliotheken): (1) „Zeugniss eines Kindes […] was nemlich der […] Inspirations-Geist für ein Geist sey?“; (2) „Zeugniss eines Kindes […] vorgestellt in einer […] Erklährung der Offenbahrung“. – Zur späten Wirkung Marsays in Deutschland und der Schweiz durch Jakob Hermann Obereit vgl. Wernle: Protestantismus, Bd. 3 (wie Anm. 113), S. 215 f. und 234; durch Wolf von Metternich vgl. Erich Beyreuthers Artikel in der RGG3, Bd. 4, 1960, Sp. 921 sowie Weller : Druckorte, Bd. 1, 1864 (wie Anm. 62), S. 56: Alethophilus: Die wahre Vollkommenheit, Leipzig: Walther 1705. 117 Johann Christian Edelmann: Selbstbiographie. Geschrieben 1752. Hg. von Carl Rudolph Wilhelm Klose, Berlin 1849, S. 233–235. Kommentierte Neudrucke: Ders.: Sämtliche Schriften in Einzelausgaben. Hg. von Walter Grossmann, Bd. 12, Stuttgart 1976 sowie ders.: Selbstbiographie. Hg. von Bernd Neumann, Stuttgart 1976 (Deutsche Autobiographien, Bd. 1). Auch hierzu jetzt sehr viel detailliertere Angaben bei Schrader: Goethes Verbindungen zum mystischen Quietismus (2016, L 57), insbes. S. 55–57. 118 Der von GOtt erleuchtete Führer in denen geheimen Wegen des […] verborgenen Lebens. Erster Theil, Berleburg 1740, S. 427–430; vgl. die Vorbericht-Hinweise auf Madame Guyon, die die Werke ihres ,Directeur Mystique‘ Jacques Bertot erstmals herausgegeben hatte, S. 6 f. und 9 f. Über den Druck in Berleburg vgl. Schrader: Literaturproduktion (1989, L 1), S. 200, 219.
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den Waadtländer Guyonisten und späteren Herausgeber ihrer Werke, Jean Philippe Dutoit) ein Paket mit Schriften der Madame Guyon (z. T. in Mehrfachexemplaren zur Weiterverteilung) übersenden lassen, umgekehrt hat ihm Goethe von den antiquarisch seltenen „anverlangten Büchern der Mad. Guion“ die drei Bände „Sa vie“ auf dem Frankfurter Handelsplatz beschafft und übersandt.119 So ist es nun gesichert, daß Goethe tatsächlich noch auf dem Höhepunkt seiner Sturm- und Drangphase Kontakte mit quietistischen Zirkeln unterhalten und daß er, wie die ältere Goethe-Forschung nur textimmanent erschlossen hatte, die in der Sendung an ihn enthaltenen Torrents spirituels in der Hand gehabt hat, so daß ein Reflex ihrer Lektüre besonders in der großen Strom-Hymne Mahomets Gesang und im Gesang der Geister über den Wassern poetisch produktiv werden konnte.120 Denn der vom Pietismus eröffnete Zugang zum französischen Quietismus wird – nach verschiedenen Einfärbungen im ,seraphischen‘ Jugendwerk Wielands insbesondere von der Generation der Geniezeit und von den nachfolgenden bis über die Romantik hinaus immer wieder aufgegriffen – mit verstärktem Interesse nun auch an der Autobiographie der französischen Mystikerin. Ebenso wie 1775 – gut ein Jahr nach Goethes Einsatz für sie – der junge Ulrich Bräker im Toggenburg in seinem wahllosen Lesen „die Briefe der Madame Güyot“ verschlingt und nicht verdammen mag, obwohl sie in seinen Tagen bereits „wenig mehr geachtet werden“,121 liest noch um 1830 im Bernbiet Jeremias Gotthelfs Freund Joseph Burkhalter als Erbe desselben populären Pietismus in den ländlichen Regionen der Schweiz „alle mystische Schriftsteller, die ich bekommen konnte“, trotz ihrer „erhabensten Ideen“ schon mit mehr rationaler Kontrolle: 119 Brief Goethes vom 3. Januar 1774 an Johann Friedrich von Fleischbein. In: Johann Wolfgang Goethe: Briefe. Historisch-kritische Ausgabe. Hg. von Georg Kurscheid und Elke Richter, Bd. 3/II B, Berlin – Boston 2014, S. 1113 f., vgl. Bd. 2/I, 2009, S. 68 f., Erläuterungen Bd. 2/II, 2009, S. 182–188. Umfassende Recherche der Zusammenhänge (mit Korrespondenz-Faksimiles) und Analyse aufgrund des zwei Generationen lang für verschollen geltenden wiedergefundenen Manuskripts bei Schrader: Goethes Verbindung zum mystischen Quietismus (2016, L 57), hier Faksimile des erhaltenen Goethe-Briefs und des Fleischbein-Auftrags, Goethe u. a. die „Torrents spirituels“ zuzusenden, S. 32–36 und 77, dessen Erörterung S. 75–79, 83–86. Hinweise und Abbildungen auch ders.: Points de contact (2016, L 56). 120 Vgl. Eckhardt: Einfluss (wie Anm. 21), S. 16–19, v. a. aber Konrad Burdach: Faust und Moses [3. Teil]. In: Sitzungsberichte der Königlich Preussischen Akademie der Wissenschaften 1912/ II, Berlin 1912, S. 757 f. Sehr viel skeptischer beurteilt Hanna Fischer-Lamberg eine GuyonÜbernahme: Der junge Goethe. Neubearbeitete Ausgabe, Bd. 3, Berlin 1965, S. 450 f. (GedichtText in der ursprünglichen Version „Gesang“ des Göttinger Musen-Almanach auf das Jahr 1774, S. 130–133). 121 Ulrich Bräker : Sämtliche Schriften, Bd. 1: Tagebücher 1768–1778. Bearb. von Alfred Messerli [u. a.], München – Bern 1998, S. 719 f., vgl. Chronik Ulrich Bräker (wie Anm. 74), S. 123. – Auf die unspezifischer-empfindsamen Anregungen, die Wieland (insbesondere in seinen „Sympathien“ von 1756) aus der Lektüre der romanischen Mystik, darunter auch Guyonscher Poesien und Traktate, gezogen hat, weist (mit Angaben zur Forschungsliteratur) Kemper: Deutsche Lyrik 6/1: Empfindsamkeit (wie Anm. 42), S. 238 und 393 hin.
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wenn die Madame Guyon die Selbstvernichtung so weit trieb, daß ich Gefahr lief, meine Individualität zu verlieren, so sträubte sich mein Bischen Verstand dagegen.122
Lavater begeistert sich 1777 im dritten Band seiner Physiognomischen Fragmente für das Konterfei der „Güion“, indem er alle seine Wertschätzung dieser „Religiose“ in ihre Gesichtszüge hineininterpretiert: „Ein allerliebstes Gesicht! so gesalbt; so rein auffassend, […] aber ja im Blicke schwebt – die andächtige, edle, fromme Schwärmerey“, zugleich jedoch eine „stille, tiefe, unerschütterliche, von dem Wirbel der Welt unabhängige, in sich zusammen gekräftigte Ruhe“.123 – In ganz anderer Bewertung dagegen stellt Moritz 1789–91 in seinem Magazin für Erfahrungsseelenkunde nicht nur ein Stück aus den „Konfessionen der Madame J.M.B. la Mothe Guion“ über den Stand der „Vernichtigung“ als Beitrag „Zur Seelennaturkunde“ mit dem Hinweis vor, daß es „auch als Täuschung gewiß näher betrachtet zu werden verdient“.124 Er stellt vielmehr als Muster einer Mystik, die es als eine „Metaphysik ohne Physik“ „verdient, psychologisch betrachtet zu werden“, alle die in seinen Besitz übergegangenen Briefe Fleischbeins aus den Jahren des Siebenjährigen Kriegs an den eigenen Vater mit ihren beständigen Mahnungen zur inneren Konformität mit der täglichen Guyon-Lektüre öffentlich aus.125 Und er geht in dieser Pietätlosigkeit sogar so weit, die psychische Krankengeschichte der am Ende überwundenen Verwirrungen seines Vaters als einen Beitrag „Zur Seelenheilkunde“ vorzuführen, müsse man doch „die Schwärmerei der Mystik für eine Krankheit der Seele annehmen“.126 Von der psychologischen Seite, nämlich von der in aller Askese schlummernden Gefahr zum „Aufgeben des Willens zum Leben“, hat noch Arthur Schopenhauer auf „die Lebensbeschreibungen derjenigen Personen welche bald heilige Seelen, bald Pietisten, Quietisten, fromme Schwärmer u.s.w. genannt sind“ hingewiesen, als er 1817 Materialien zu seinem philosophischen Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung zusammenstellte – doch nicht ohne identifikatorische Faszination:
122 Joseph Burkhalter : Erinnerungen aus meinem früheren Leben (1850). In: Amtsrichter Burkhalter und seine Briefe an Jeremias Gotthelf. Hg. von Gottlieb Joss, Bern 1899, S. XXXf. 123 Johann Caspar Lavater : Physiognomische Fragmente, Bd. 3, Leipzig – Winterthur 1777, Nachdruck Leipzig 1969, S. 279 und Abb. „Sechs Köpfe in Ovalen. […] 4. Güion.“ gegenüber S. 277. (Für den freundlichen Hinweis danke ich August Ohage, Göttingen.) 124 Moritz: CMYHI SAUTOM, Bd. 7, Nr. 3, 1789, Nachdruck Nördlingen 1986 (wie Anm. 12), S. 249–255: „Zur Seelennaturkunde“. 125 Ebd., Bd. 7, Nr. 3, S. 229–244; Bd. 8, Nr. 1, S. 56–63. 126 Ebd., Bd. 8, Nr. 1, S. 86–89, Nr. 2, S. 140–160, Moritz’ Kommentar, S. 58. Vgl. Robert Minder : Die religiöse Entwicklung von Karl Philipp Moritz auf Grund seiner autobiographischen Schriften. Studien zum „Reiser“ und „Hartknopf“, Berlin 1936 (Neue Forschung, Bd. 28); Nachdr. unter dem Titel: Glaube, Skepsis und Rationalismus. Dargestellt aufgrund der autobiographischen Schriften von Karl Philipp Moritz, Frankfurt 1974 (suhrkamp taschenbuch wissenschaft, Bd. 43), S. 262.
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man lese besonders das Leben der Frau von Guion, welche schöne und große Seele kennenzulernen und das Vortreffliche ihrer Gesinnung mit Nachsicht gegen Aberglauben ihrer Gedanken zu schätzen, jedem edlen Menschen eben so erfreulich seyn muß, als jenes Buch bei der Menge und den Gemeinen stets in schlechtem Kredit stehen muß, weil jeder nur schätzen kann, was ihm einigermaaßen analog ist.127
Aber mit all diesen Beispielen sind wir längst in ein anderes Kapitel der Rezeption eingetreten, als es hier zu beleuchten war. Durch den Pietismus, für dessen Gesamtheit man den quietistischen Zustrom keinesfalls überschätzen darf, war von einer vergleichsweise kleinen Schar von religiösen Eigenbrötlern mit einer entschiedenen Frontstellung gegen jede Form von kirchlichkonfessionellem Gesinnungszwang ein Ferment bereitgestellt, das den literarisch-philosophischen Anknüpfungen unentbehrlich wurde. Schopenhauers Erwägung, daß wir an der Literatur nur schätzen können, was uns „einigermaaßen analog ist“, legt aber den Finger gerade auf eine aus pietistischer Lektüreerwartung resultierende Grunddivergenz des Rezeptionsverhaltens gegenüber Gedrucktem in der Kulturgeschichte des deutschen und des französischen Sprachraums. Bis heute lastet auf uns Deutschen schwer die anerzogene Erwartung, daß ein gutes Buch uns nachahmenswerte Vorbilder liefern, erbauen, ja, rühren und bessern müsse, statt unseren Verstand, unseren Witz, unsere Neugier und unsere Freude an Widerspruch und Spiel zu unterhalten. Ersichtliche Förderung aber hat die von der Madame de Sta[l bei den Deutschen konstatierte „po8sie de l’.me“ dadurch erfahren, daß sich in unsere eigenen frömmigkeitsgeschichtlichen Traditionen die quietistische Anregung von outre-Rh%n als „einigermaaßen analog“ auf das fruchtbarste integrieren konnte.
127 Arthur Schopenhauer: Manuskripte 1817 (Bogen 15, 2–6). In: Der handschriftliche Nachlaß. Hg. von Arthur Hübscher, Bd. 1, Frankfurt 1966, S. 292. Bei der Überarbeitung dieser Passage hat Schopenhauer den namentlichen Hinweis auf Madame Guyon getilgt, vgl. Schrader : Literaturproduktion (1989, L 1), S. 324 f., 518, 535.
Hortulus mystico-poeticus Erbschaft der Formeln und Zauber der Form in Tersteegens „Blumengärtlein“* [1997, L 21]
Gerhard Tersteegens dichterisches Werk, der reiche Schatz seiner Lyrik, bleibt für die Leserschaft deutscher Gedichte erst noch zu entdecken, recht zu entdecken ebenso für den schulischen und universitären Zugang zu historischer Poesie und selbst für die literaturwissenschaftliche Forschung. Mit dieser, zugegeben, etwas provokanten Behauptung, die ganz aus dem RhetorikArsenal für Jubiläumsvorträge gegriffen erscheint, wo ja immer ein zu rundem Gedenktag zusammengeströmtes Publikum dem Jubilar des Tages das Zeugnis gönnen mag, er verdiene eine noch deutlich höhere Verbreitung und tiefere Wirkung, will ich nicht etwa unterstellen, der Dichter Tersteegen sei schlechterdings unbekannt oder den Interessierten unzugänglich. Dies klänge freilich absurd und jedenfalls vollkommen unplausibel, wenn doch allein neun Lieder von ihm noch heute, drei Jahrhunderte nach seiner Geburt, im Evangelischen Gesangbuch stehen, einige davon sogar in ziemlich regelmäßigem Gebrauch – wie das bekannteste Gottesdienst-Eingangslied Gott ist gegenwärtig (Nr. 165), die paränetische Ermunterung Kommt, Kinder, laßt uns gehen (Nr. 393) oder das herrliche Abendlied Nun sich der Tag geendet (Nr. 481).1 Mehr noch: Tersteegens lyrisches Hauptwerk, Geistliches Blu* Vortrag zur Tagung der Historischen Kommission zur Erforschung des Pietismus und des Vereins für Rheinische Kirchengeschichte im Mai 1997 in Mülheim/Ruhr anläßlich des 300. Geburtstags Gerhard Tersteegens. Die Redeform der Erstveröffentlichung wurde beibehalten, nur wichtigste Quellenpublikationen wurden nachgetragen. Aktuellere Forschungsverweise zu Tersteegen und seinem quietistischen Umfeld finden sich im vorliegenden Band in den Beiträgen „Madame Guyon, Pietismus“ (2002, L 27), S. 419–456, „Werd ein Kind!“ (2010, L 45), S. 701–730 sowie jüngst in meiner Studie „Goethes Verbindung zum mystischen Quietismus“ (2016, L 57). 1 Evangelisches Gesangbuch (EG), Gemeinschaftsausgabe, Bielefeld [u. a.] 1993 [u. ö.], mit den Liedern Nr. 41: „Jauchzet, ihr Himmel“, 140: „Brunn alles Heils“, 165: „Gott ist gegenwärtig“, 252: „Jesu, der du bist alleine“, 392: „Gott rufet noch“, 393: „Kommt, Kinder, laßt uns gehen“, 480: „Nun schlafet man“, 481: „Nun sich der Tag geendet“, und (jenseits des für alle Landeskirchen gültigen Stammteils) 661: „Für dich sei ganz mein Herz und Leben“. – Aufschlußreich zu konstatieren ist, daß die Zahl der kanonischen Tersteegen-Gesänge gegenüber dem bis dahin approbierten Evangelischen Kirchengesangbuch (EKG) von 1950 (u. ö.) rückläufig ist. Während die EG-Nummern 480 und 661 dort noch fehlten, enthielt das EKG noch drei Lieder (Nr. 95: „Siegesfürste, Ehrenkönig“, 270: „Allgenugsam Wesen“ und 366: „Der Abend kommt“), die aus dem neuen EG-Kanon herausgefallen sind. In seinem Grundbestand hat sich dieser TersteegenKanon bereits im 19. Jahrhundert vollkommen verfestigt, nachdem die vorher in größerer Zahl nur in erbauliche Liedersammlungen pietistischer, oft separatistischer Gruppierungen aufgenommenen Tersteegen-Lieder (überhaupt erst seit der Spätromantik) in die offiziellen Kir-
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men=Gärtlein Inniger Seelen, das schon zu Lebzeiten den ungewöhnlichen Erfolg von sieben wiederholt erweiterten rechtmäßigen Auflagen (und überdies nach Zählung seines Autors wenigstens noch fünf Raubdrucke) erreicht hat,2 wird noch immer regelmäßig in hohen Stückzahlen nachgedruckt – und zu erschwinglichen Preisen auch abgesetzt. Eine Nachfolgerin (1988) der im Stuttgarter Steinkopf-Verlag erschienenen Stereotyp-Ausgabe (mit fast 500 engbedruckten Seiten im Jahr 1910 in der einfachsten Ausstattung zum missionarischen Preis von „M 1.–“) kam noch 1988 immerhin als 17. Neuauflage
chengesangbücher eingedrungen waren. Vgl. dazu in der mit monographischem Anhang und umfänglichen Kommentaren ausgestatteten Ausgabe von Wilhelm Nelle: G. Tersteegens Geistliche Lieder. Mit einer Lebensgeschichte des Dichters und seiner Dichtung, Gütersloh 1897, das höchst instruktive Kapitel S. 300–317: „Die Aufnahme der Lieder Tersteegens in Liedersammlungen und Kirchengesangbücher“, Übersicht bei Cornelis Pieter van Andel: Gerhard Tersteegen. Leben und Werk. Sein Platz in der Kirchengeschichte, Neukirchen-Vluyn – Düsseldorf 1973 (Schriftenreihe des Vereins für Rheinische Kirchengeschichte, Bd. 46), S. 222. – Ergänzend, als Beispiel der starken Wirkung Tersteegens auf die radikalpietistisch-anabaptistischen Exulantenkolonien in Nordamerika, vgl. die Nachweise seiner Aufnahme in sieben Gesangbüchern der Church of the Brethren: Hedwig T. Durnbaugh: The German Hymnody of the Brethren 1720–1903, Philadelphia, Pa. 1986 (Brethren Encyclopedia Monograph Series, Bd. 1), Register S. 296, vgl. S. 284 f. – Eine Gesangbuch-Auswertung für das 20. Jahrhundert gibt Christian Bunners: Gerhard Tersteegens Lieder im Gesangbuch. Ein rezeptionsgeschichtlicher Beitrag. In: Gerhard Tersteegen. Evangelische Mystik inmitten der Aufklärung. Hg. von Manfred Kock, Köln 1997 (Schriftenreihe des Vereins für Rheinische Kirchengeschichte, Bd. 126), S. 77–100. 2 Tersteegens Fußnote im Vorbericht seiner Ausgabe letzter Hand: Geistliches BIumen=Gärtlein Inniger Seelen; Oder, kurtze Schluß=Reimen, Betrachtungen und Lieder, Ueber allerhand Wahrheiten des Inwendigen Christenthums; Zur Erweckung, Stärckung und Erquickung In dem Verborgenen Leben Mit CHristo in GOTT: Nebst der Frommen Lotterie. Siebente und Vermehrte Edition, Frankfurt – Leipzig [Cleve: Hoffmann] 1769, S. )*( 5v : „dieses die siebente Edition, von denen, die ich selbst besorge; ausser welchen aber noch fünf nachgedruckte Teutsche Editionen bekannt worden.“ – Alle Epigramme, Lieder und poetologischen Äußerungen, die bereits in der Erstausgabe enthalten sind, werden dagegen im folgenden nach dem dortigen primären Basisbestand zitiert und direkt im Text belegt: Geistliches Blumen=Gärtlein Inniger Seelen; Oder Kurtze Schluß=Reimen und Betrachtungen Uber allerhand Warheiten des Inwendigen Christenthums; Zur Erweckung, Stärckung und Erquickung in dem Verborgenen Leben Mit Christo in GOtt: Nebst einigen Liedern, Frankfurt – Leipzig [Duisburg: Böttiger] 1729 [als Digitalisat jetzt auch im Internet verfügbar]. Die Auflagengeschichte des „Blumengärtlein“ (mit Ausweis aller Veränderungen am Inhaltsbestand) ist penibel recherchiert von Nelle: Tersteegens Geistliche Lieder (wie Anm. 1), S. 326–347. Dazu gehören auch noch postume Nachdrucke pietistischer Gruppierungen außerhalb der legitimierten Auflagenzählungen, so aus Eßlingen 1834 und Reutlingen 1838 (beide firmierend als „13. Auflage“) und bei den pennsylvanischen Tersteegianern [aus Harrisburg 1849 sowie bereits aus Germantown/Philadelphia 1747 (parallel zur deutschen 4. Aufl.), 1769 (als „5. Aufl.“), 1773 („6. Aufl.“), 1791 („7. Aufl.“) und 1800 („8. Aufl.“) und aus Lancaster 1823. Vgl. John Richard Arndt und Reimer C. Eck: The First Century of German Language Printing in the United States of America, Göttingen 1989 (Publications of the Pennsylvania German Society, Bde. 21 und 22), Bd. 1, S. 50, 169, 189, 327, 477; Bd. 2, S. 948, 1192], schließlich Melodiendrucke wie die in der Schweiz außerordentlich wirkungsreiche Sammlung des Komponisten Johannes Schmidlin: Einige Hundert Geistliche Lieder, Zürich 1764; vgl. Nelle: Tersteegens Geistliche Lieder (wie Anm. 1), S. 305, 345.
Tersteegens „Blumengärtlein“
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(schon weniger wohlfeil) für DM 28.– heraus.3 Einige Proben von Tersteegens Lyrik sind in Walter Niggs Werkauswahl4 1967 sogar im (Brockhaus-) Taschenbuch verfügbar geworden,5 andere sind in einer Reihe „Geschenkbändchen“ der St.-Johannis-Druckerei als Tropfen. Zur Gesundheitspflege des neuen Menschen6 oder als ein „Aussaat-Hochheft“ Lieder7 lieferbar, und 1996 hat Günter Balders in seiner „Mini-Bücher“-Serie in immenser Auflage ein Sedezbändchen „Sprüche, Lieder und Gedanken von Gerhard Tersteegen“ herausgebracht, betitelt mit dem Eingangsvers eines Tersteegen-Lieds Groß ist unsers Gottes Güte.8 Das Jubiläumsjahr 1997 fügte außer einem Chorbuch Gott ist gegenwärtig9 und einem „Brunnen-Geschenkheft“ Wie die zarten Blumen10 im selben Verlag auch noch eine umfassendere Werkauswahl, Ich bete an die Macht der Liebe, besorgt von Dietrich Meyer, hinzu.11 Alle diese beträchtlichen Wirkungsbeispiele aber kennzeichnen Leistungen christlicher Spezialverlage, gerichtet an eine spezielle, vorrangig protestantische, Leserschaft, an ein Publikum, das für erbauliche Lektüre aufgeschlossen ist. Es ist also in erster Linie der christliche Dichter, der hier in Achtung steht, eher unbekannt dagegen bleibt Tersteegen als Dichter von Rang überhaupt, als ein poetisch überragender Wortkünstler, dem wir einen kennenswerten Beitrag zur deutschen Lyrik in der Generation vor der Goethezeit verdanken – eigenkräftig in Gehalt, Form und ästhetischer Plausibilität. In die fünfzig verbreitetsten deutschen Lyrik-Anthologien seit Ende des 19. Jahrhunderts wurden insgesamt bloß drei Tersteegen-Gedichte aufgenommen: nicht einmal 10 % der Hausschätze deutscher Poesie haben also Tersteegen überhaupt zu Wort gebracht – und auch jeweils mit nur einer einzigen Probe.12 3 Gerhard Terstegen’s [!] geistliches Blumengärtlein inniger Seelen, nebst der Frommen Lotterie, nach der Ausgabe letzter Hand berichtigt und mit einigen Zusätzen vermehrt, samt dem Lebenslauf des sel. Verfassers. Stereotyp=Ausgabe, Stuttgart: J.F. Steinkopf 1910, XXIV, 488 S. – Preisangaben S. 487. Repräsentativere Ausstattungen in Ganzleinen bzw. mit Goldschnitt wurden für „M 1.60“ bzw. „M 2.80“ angeboten. Von dieser Ausgabe waren (vgl. Nelle [wie Anm. 1], S. 346) zwischen 1844 und 1891 bereits acht Abdrucke erschienen. Ein FaksimileNachdruck der Ausgabe letzter Hand (Frankfurt – Leipzig 1769, vgl. Anm. 2), hg. von Ulrich Bister, kam Herborn 2001 heraus und wird noch heute angeboten (E 39.–). 4 Gerhard Tersteegen: Eine Auswahl seiner Schriften. Hg. von Walter Nigg, Basel 1948. 5 Dass. Leicht gekürzte Ausgabe, Wuppertal 1967 (Handbücherei R. Brockhaus, Bd. 10). 6 Kartoniert, 64 S., Nachweis: ebd. 7 16 S., im VLB (wie Anm. 3) unter „Gerhard“, Bd. 2, S. 428. 8 Wuppertal und Kassel 1996 (Oncken Mini Bücher), 64 ungez. S., kt. Der Titel nimmt den Eingangsvers von Tersteegens Geistlichem Lied Nr. 38: „Betrachtung und Lob der Güte Gottes“ auf. 9 Gott ist gegenwärtig. Chorbuch zum 300. Geburtstag von Gerhard Tersteegen 1697–1769. Hg. von Gerhard P. Michael, Wuppertal 1997 (48 S.). 10 16 S., geh., VLB-Nachtragsband 1997, S. 1265. 11 Gerhard Tersteegen: „Ich bete an die Macht der Liebe“. Eine Auswahl aus seinen Werken. Hg. von Dietrich Meyer, Gießen 1997, Taschenbuch. 12 Vgl. Anneliese Dühmert: Von wem ist das Gedicht? Eine bibliographische Zusammenstellung
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Während auch die Spezialanthologien für geistliche Dichtung13 jeweils mit nur wenigen Beispielen aufwarten, haben lediglich zwei der großen literaturund gattungsgeschichtlichen Epochenquerschnitte der germanistischen Fachwissenschaft auch für ein breiteres Publikum einen angemesseneren Raum zur Auseinandersetzung mit Tersteegens Kunst eröffnet: der von Walther Killy und Christoph Perels herausgegebene Band Das 18. Jahrhundert in der Reihe „Die deutsche Literatur. Texte und Zeugnisse“ und Jürgen Stenzels Band Gedichte 1700–1770 in der ebenfalls von Killy verantworteten Reihe „Epochen der deutschen Lyrik“.14 Stenzel hat auch dafür gesorgt, daß Tersteegen (durch einen konzentriert-informativen Artikel Ferdinand van Ingens) in der allen literarisch Interessierten zugedachten Miniaturensammlung Deutsche Schriftsteller im Porträt vertreten ist – obwohl sich ja Tersteegen aufgrund seiner demütigen Bescheidenheit nie hat porträtieren lassen und also sein Angesicht durch ein Gedicht-Faksimile suppliert werden mußte.15 aus 50 deutschsprachigen Anthologien, Berlin 1969, S. 106 und 172. Ausgewählt wurde dabei zweimal das „Abendopfer“ („Nun sich der Tag geendet“) und je einmal die Kirchenlieder „Andacht bei nächtlichem Wachen“ (III, 106: „Nun schlafet man“) sowie „GOtt ist gegenwärtig!“ (III, 11). Das „Abendopfer“ ist abgedruckt in: Der Lebenskreis. Ein Lese- und Vortragsbuch für Fest und Feier. Hg. von Wilhelm Baumann, Gütersloh 1952 und in: Lebendiges Gedicht. Hg. von Bernt von Heiseler, Gütersloh 1952; „GOtt ist gegenwärtig!“ in: Die Ernte aus acht Jahrhunderten deutscher Lyrik. Hg. von Will Vesper, Düsseldorf 1906, und „Andacht bei nächtlichem Wachen“ in: Das deutsche Gedicht. Ein Jahrtausend deutscher Lyrik. Hg. von Wilhelm von Scholz, Berlin 1941, vgl. Dühmert, ebd. S. 2 und 4. 13 Beispielsweise Rudolf Günther : Aus der verlorenen Kirche. Religiöse Lieder und Gedichte für das deutsche Haus, Heilbronn 1907 (enthält „Gegenwart Gottes“, „Abendgedanken“, „Andacht bei nächtlichem Wachen“ sowie Auszüge aus „Sterbensgedanken“ und „Wann sich die Sonn erhebet“); Deutsche geistliche Dichtung aus tausend Jahren. Hg. von Friedhelm Kemp, München 1959 (Die Bücher der Neunzehn, Bd. 94) (enthält „Zuflucht der Seele unter die Flügel Jesu“, „Andacht bei nächtlichem Wachen“, „Der Stand der Beschaulichkeit“, „Erinnerung der herrlichen und lieblichen Gegenwart Gottes“ [„Gott ist gegenwärtig“] und „Eia, wärn wir da!“) oder nicht auf Lyrik begrenzte christliche Anthologien wie Walter Tritsch: Christliche Geisteswelt. Die Welt der Mystik, Baden-Baden 1957 (lediglich Abdruck von „Andacht bei nächtlichem Wachen“) – oder Otto Weber und Erich Beyreuther : Die Stimme der Stillen. Ein Buch der Besinnung aus dem Zeugnis von Pietismus und Erweckungsbewegung, Neukirchen/Moers 1959, die dem Abdruck Tersteegenscher Prosa-Meditationen nur jeweils einzelne seiner LiedStrophen folgen lassen. 14 Die Epochenanthologie: 18. Jahrhundert. Texte und Zeugnisse. In Verbindung mit Christoph Perels hg. von Walther Killy, Bd. 2, München 1983 (Die deutsche Literatur. Texte und Zeugnisse, Bd. 4/2), S. 568 f., vgl. S. 1249 enthält allerdings unter der Rubrik „Sprache des Gefühls“ neben dem Text der Blutverschreibung von Gründonnerstag 1724 nur das Lied III, 77 der Ausgabe letzter Hand (7. Aufl. 1769, S. 405 f., „Kinder, liebet“ = „Aufmunterung zur Liebe und Vertrauen“). Vermehrten Zugang dagegen gewährt die Lyrik-Epochensammlung: Gedichte 1700–1770. Nach den Erstdrucken in zeitlicher Folge hg. von Jürgen Stenzel, München 1969 (Epochen der deutschen Lyrik, Bd. 5), S. 111–114, 130 f., 273 f., vgl. S. 342, 343, 347, 358. Aufgenommen sind neben drei Liedern („Abendgedanken einer gottseligen Seele“, „Heute, weil ihr seine Stimme höret“ und „Die in Jesu eröffnete Liebe Gottes“) auch acht der Epigramme aus der „Blumen=Gärtlein“-Erstauflage von 1729. 15 Bd. 2: Das Zeitalter der Aufklärung. Hg. von Jürgen Stenzel, München 1980 (Beck’sche Schwarze
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Und auch die großen dichtungsgeschichtlichen Autoren- und Werklexika halten immerhin knappe Information über den Dichter des Blumengärtlein bereit.16 Die raren literaturwissenschaftlichen Spezialstudien über das poetische Werk dagegen sind zumeist alt. Die tauglichste darunter ist nicht einmal germanistischer Herkunft, sondern dem Hymnologen Wilhelm Nelle zu danken. Sie erschien 1897 zum 200. Tersteegen-Geburtstag, liegt also mittlerweile über 100 Jahre zurück.17 Einzelinterpretationen erlesener Gedichte sind erstaunlich selten. Eine Bibliographie der Interpretationen für den Schulgebrauch führt den Benutzer überhaupt nur zu Albrecht Goes’ DichterEssay über Tersteegens Andacht bei nächtlichem Wachen.18 Obgleich die Kürze und Intensität der Mehrzahl der Tersteegen-Gedichte doch dazu besonders prädestinieren, wurde kein einziges in der Frankfurter Anthologie vorgestellt und damit in Reich-Ranickis 10-bändige Sammlung 1000 Deutsche Gedichte Reihe, Bd. 220), darin S. 172 f.: Ferdinand van Ingen: Gerhard Tersteegen 1697–1769. – Zu Tersteegens Porträtverweigerungen und zur Unglaubwürdigkeit späterer Bildniszuschreibungen vgl. van Andel: Tersteegen (wie Anm. 1), S. 181. 16 Wilfried F. Schoeller in: Kindlers Neues Literaturlexikon. Hg. von Walter Jens, München 1988–1992, Studienausgabe München [1996], Bd. 16, S. 450 f.; Heimo Reinitzer in: Literatur Lexikon. Autoren und Werke deutscher Sprache. Hg. von Walther Killy, Bd. 11, Gütersloh – München 1991, S. 321 f. 17 Nelle: Tersteegens Geistliche Lieder (wie Anm. 1). Von ihm sind die beiden literaturwissenschaftlichen Doktorarbeiten von Rudolf Zwetz: Die dichterische Persönlichkeit Gerhard Tersteegens, Diss. phil. Halle 1915 und von Gertrud Wolter : Gerhard Tersteegens Geistliche Lyrik, Diss. phil. Marburg 1929, abhängig, ohne grundlegend neue Einsicht zu erschließen. Vgl. den für die „Arbeiten zu Tersteegens dichterischem Werk“ knappen Forschungsüberblick bei Hansgünter Ludewig: Gebet und Gotteserfahrung bei Gerhard Tersteegen, Göttingen 1986 (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus, Bd. 24), S. 55 f. Die nützlichste literaturwissenschaftliche Untersuchung wenigstens der ins damalige EKG aufgenommenen Kirchenlieder (in Rücksicht auf ihre Vermittlung mystischen Gedanken- und Formelguts) ist dabei nicht miterfaßt: Waldtraut-Ingeborg Sauer-Geppert: Zur Mystik in den Liedern Gerhard Tersteegens. In: Unterscheidung und Bewahrung. Festschrift für Hermann Kunisch zum 60. Geburtstag. Hg. von Klaus Lazarowicz und Wolfgang Kron, Berlin 1961, S. 304–320. 18 Reinhard Schlepper : Was ist wo interpretiert? Eine bibliographische Handreichung für den Deutschunterricht, Paderborn 1970, S. 191, vgl. ebd. S. 10: Verweis auf Albrecht Goes: Dichter und Gedicht. Zwanzig Deutungen, Frankfurt 1966 (Fischer-Bücherei, Bd. 771). Zu „Nun schlafet man“ und der Goesschen Würdigung unter „den großen Gedichten der deutschen Sprache“ vgl. jetzt auch Hansgünter Ludewig: „Du durchdringest alles“. Gebet im Alltag bei Gerhard Tersteegen, Düsseldorf 1997 (Schriften des Archivs der Evangelischen Kirche im Rheinland, Bd. 12), S. 140 f. – Mehr noch auf erbauliche Apperzeption als auf literarische Analyse zielt Reinhard Deichgräber : Gott ist genug. Liedmeditationen nach Gerhard Tersteegen, zuerst Göttingen – Regensburg 1975, jetzt, kritischer gegenüber der „allzu selbstlosen Hingabe an das Werk des verehrten geistlichen Führers und Meisters“, revidiert in: 2. neubearbeitete Aufl., Göttingen 1997. Besprochen sind aus „Blumen=Gärtlein“, Teil III (Geistliche Lieder und Andachten) die 15 Lieder (Ausg. letzter Hand) Nr. 4 („Der Abend kommt“), 11 („GOtt ist gegenwärtig!“), 14 („Allgenugsam Wesen“), 29 („Jauchzet, ihr Himmel!“), 39 („Wie bist du mir so innig gut“), 43 („JEsu, der du bist alleine“), 52 („GOtt rufet noch“), 54 („Sieges=Fürste, Ehren=König“), 62 („Kommt, Kinder, laßt uns gehen“), 75 („Brunn alles Heyls“), 76 („O GOtt, o Geist, o Licht des Lebens“), 78 („Wann sich die Sonn erhebet“), 91 („Komm, laß uns gehn, mein Freund“), 93 („Für dich sey gantz mein Herz“) und 106 („Nun schläfet man“).
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und ihre Interpretationen aufgenommen.19 Ebenso sucht man den Autor des Blumengärtlein vergeblich in den mit ihren neuen Musteranalysen, Textproben, Kommentaren und Autor-Artikeln sonst doch so zuverlässig durch die ganze Literaturgeschichte geleitenden Reclam-Serien Gedichte und Interpretationen, Die deutsche Literatur in Text und Darstellung oder Deutsche Dichter.20 Nur knapp erwähnt wird er selbst in der ausführlichsten neueren Gattungsgeschichte Deutsche Lyrik von Hans-Georg Kemper, obwohl sich doch einer ihrer Bände auf die Epoche von Aufklärung und Pietismus konzentriert.21 Ein analoges Defizit für die Lyrik ist augenfällig auch in der in anderen Hinsichten gar nicht einmal schmalen Tersteegen-Spezialforschung. Fast alle kirchengeschichtlichen und historisch-biographischen Studien widmen den Gedichten, die doch seine ganze Ideenwelt wie in einem Brennspiegel versammeln und das Eigengeprägteste, den künstlerischen Höhepunkt seines Werks ausmachen, befremdlicherweise nur knappen Raum und geringes Augenmerk. Wo sie in wenigen Aufsätzen gewichtiger in die Untersuchung einbezogen wurden, bei Winfried Zeller22 und bei Rudolf Mohr,23 geht es mehr um die Aussage als um Kunstcharakter und textanalytischen Zugriff. Ein förderlicher Festschrift-Beitrag von Waldtraut-Ingeborg Sauer-Geppert Zur Mystik in den Liedern Gerhard Tersteegens24 hat wenigstens für die Kirchenlieder die Bildfelder des mystischen Wortschatzes genetisch aufgeschlossen und dabei zweifellos Repräsentatives für das gesamte Lyrikwerk erfaßt. Frei19 1000 Deutsche Gedichte und ihre Interpretationen. Hg. von Marcel Reich-Ranicki, 10 Bde., Frankfurt a.M. 1994, 2. Aufl., ebd. 1995. 20 Wie sehr der Pietismus als die breitenwirksam tonangebendste Kraft der ersten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts (und als überwundene Kinderstube fast aller deutschen Dichter der nachfolgenden Generation) gegenüber der intellektuelleren Parallelbewegung der Aufklärung übersehen wird, zeigen (wie auch sonst meist in der Literaturgeschichte) die Epochenangaben der Werktitel. Gedichte und Interpretationen, Bd. 2: Aufklärung und Sturm und Drang. Hg. von Karl Richter, Stuttgart 1984 (Reclams Universal-Bibliothek, Bd. 7891); Die deutsche Literatur in Text und Darstellung, Bd. 5: Aufklärung und Rokoko. Hg. von Otto F. Best, Stuttgart 1976 (Reclams Universal-Bibliothek, Bd. 9617); Deutsche Dichter. Hg. von Gunter E. Grimm und Frank Rainer Max, Bd. 3: Aufklärung und Empfindsamkeit, Stuttgart 1988 (Reclams UniversalBibliothek, Bd. 8613). 21 Hans-Georg Kemper: Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit, Bd. 3: Barock-Mystik, Tübingen 1988 (S. 237 Tersteegen als hymnologischer Popularisator des Angelus Silesius), Bd. 5/1: Aufklärung und Pietismus, Tübingen 1991 (Hinweis, S. IXf.). 22 Winfried Zeller : Gesangbuch und geistliches Lied bei Gerhard Tersteegen. In: Musik und Kirche 39 (1969), S. 60–66. Neudruck in ders.: Theologie und Frömmigkeit. Gesammelte Aufsätze [Bd. 1]. Hg. von Bernd Jaspert, Marburg 1971 (Marburger Theologische Studien, Bd. 8), S. 186–194. 23 Rudolf Mohr : Gerhard Tersteegens Leben im Licht seines Werkes. In: Monatshefte für Evangelische Kirchengeschichte des Rheinlandes 20 (1971/72), S. 197–244. 24 Sauer-Geppert: Zur Mystik (wie Anm. 17), S. 304–320. Eine knappe und übersichtartige, in den Charakterisierungen aber sensible Erörterung des Kunstcharakters der Tersteegenschen Lieddichtung gibt überdies Walter Engels: Inhalt und Form der geistlichen Lieddichtung Tersteegens. In: Macht der Liebe. Gerhard Tersteegen – Leben und Gegenwartsbedeutung. Hg. von Hans-Joachim Wolter, Mülheim an der Ruhr o. J. [1969], S. 15–20.
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lich bleibt für alle Belange der pietistischen Übernahme und Umdeutung mystischer Metaphern August Langens lexikographische Studie Der Wortschatz des deutschen Pietismus25 das maßgebliche Referenzmedium. Eine Ursache des geringen Widerhalls der Tersteegenschen Gedichte in der Literaturgeschichte, in Anthologien und in der Forschung mag in dem Sachverhalt begründet liegen, daß eine zuverlässige, philologisch-kritisch gesicherte Textedition noch gar nicht zur Verfügung steht, die jenseits der sprachlich bearbeiteten und mit hagiographischen Zusätzen versehenen Erbauungsausgaben gesicherte Wortlaute, genetische Fakten und sprachgeschichtlich fundierte bedeutungsgeschichtliche Kommentare bereitstellte. Die wahrlich frohe Botschaft der – nachdem Gustav Adolf Benrath über dieses Projekt hinweggestorben ist – nun umgehend von Ute Mennecke zu vollendenden kritischen Edition des Geistlichen Blumen=Gärtlein in der (nach langwierigem Steckenbleiben) zum Torso gewordenen kritischen TersteegenAusgabe der Reihe Texte zur Geschichte des Pietismus, von der seit 1979 erst ein Band geistlicher Reden, ein Band mit der niederländischen und zwei Bände mit dem deutschen Teil der Korrespondenz vorliegen,26 verheißt wohl baldige Überwindung dieses Übelstandes. Umgekehrt könnten aber eine für das poetische Werk so geringe öffentliche Präsenz und defiziente Forschungslage, wie sie sonst poetae minores des dritten oder vierten Ranges betreffen, die entfernteren Weggenossen der Großen und Gewichtigen unserer Literaturgeschichte, ihren Grund auch darin finden, daß eben das spezifische Gewicht dieses Dichters doch ein begrenztes wäre und nicht überschätzt werden dürfte27 – so daß die späte Erarbeitung 25 August Langen: Der Wortschatz des deutschen Pietismus, Tübingen, 2. erg. Aufl. 1968, XLVI1I, 526 S. 26 Gerhard Tersteegen: Geistliche Reden. Hg. von Albert Löschhorn und Winfried Zeller, Göttingen 1979, ders.: Briefe in niederländischer Sprache. Hg. von Cornelis Pieter van Andel, Göttingen 1982, dann nach 26-jähriger Pause, ders.: Briefe 1 und Briefe 2. Hg. von Gustav Adolf Benrath unter Mitarbeit von Ulrich Bister und Klaus vom Orde, Gießen und Göttingen 2008 (Texte zur Geschichte des Pietismus, Abt. V, Gerhard Tersteegen: Werke, Bd. 1, 7/1, 7/2 und 8). Kurioserweise war diese Edition vor ihrer letzten Fortsetzung und dem Eintreten eines anderen Verlegers im „Verzeichnis lieferbarer Bücher“ gar nicht beim Verfassernamen aufgeführt, sondern nur über einen Verweis auf den Reihentitel eruierbar, so daß der Käuferzugriff stark erschwert war. Vgl. zu dieser Ausgabe im Kontext der Editionssituation pietistischer Texte überhaupt Schrader: Probleme der bibliographischen Erschließung (1988, L 16), im vorliegenden Band S. 82–86. Eine wichtige, z. T. auch Unbekanntes bietende Quellensammlung mit religiösen Prosareflexionen liegt neuerdings im Taschenbuch vor, Gerhard Tersteegen: Abhandlung zu Frömmigkeit und Theologie. Hg. von Johannes Burkardt, Leipzig 2018 (Edition Pietismustexte, Bd. 12). 27 Für dergestalt divergente Beurteilungen lassen sich leicht Zeugen finden. Während Nelle: Tersteegens Geistliche Lieder (wie Anm. 1), S. 277, 298 und ders.: Geschichte des deutschen evangelischen Kirchenliedes, Leipzig – Hamburg, 3. erw. Aufl. 1928, S. 234 mit reicher argumentativer Begründung ihn als „Dichter von Gottes Gnaden“ preist, nicht bloß einen „Dichter sogenannter ,schöner Stellen‘“, sondern im Gesamtwerk „fein geformt nach Hülle und Fülle, nach Sprache und Gestalt“ (S. 235), urteilt etwa der Dogmatiker Adolf Köberle: Gerhard Tersteegen. Kirchengeschichtliche Wirkung und Gegenwartsbedeutung. In: Macht der Liebe.
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einer ersten textkritischen Ausgabe ihrerseits dasselbe Rangproblem reflektierte. Habe ich also vielleicht eingangs mit meinen hochwertenden Epitheta für diesen Dichter die Backen doch allzusehr aufgeblasen? Gründe ließen sich ja schon angeben für solchen Argwohn, bedenkt man die fast unüberschaubare Fülle der Gedichtproduktion Tersteegens (schon die Erstausgabe des Blumen=Gärtlein von 1729 umfaßte in ihren vier Abteilungen nebst MottoVersen und „Schluß=Reimchen“ die stattliche Zahl von 510 Gedichten, eine Flut, die dann durch die lebenslangen Erweiterungen der späteren Auflagen noch unermeßlicher anwuchs). Dieser Fülle aber, in ihrer Variation bloß der beiden Formtypen des Lieds und des Epigramms, stand ja keineswegs eine vergleichbare Vielfalt der Gattungen und Themen gegenüber, vielmehr verzichtet Tersteegen bekanntlich vollständig auf Genera wie die Ode oder die Hymne, die Elegie, das Sonett und schon gar die Ballade und konzentriert sich auch inhaltlich auf nur ein einziges Thema, das Verhältnis der Seele gegenüber ihrem Gott, in Abwendung von allem, was als nicht- oder gar widergöttlich erscheinen kann. Und insofern dieses Thema das uralte aller mystischen Empfindung und Reflexion ist, ein wichtiges Problem aller christlichen Selbstbestimmung überhaupt, ist mit grundlegend neuartigen Konzepten und Sageweisen von vornherein gar nicht zu rechnen. Tersteegen ist weder ein Neuerer in den Ideen noch in den poetischen Modellen, und sogar den Schatz mystischer, insonderheit quietistischer Erfahrungsmuster, Bilder und Begriffe nimmt er ohne revolutionäre Neuerungen auf und gibt ihn weiter. Er strebt nicht nach dem Unerhörten, und Originalität ist erklärtermaßen nicht das Ziel seines Gestaltens. – Gehört er dann nicht am Ende doch bloß unter die Epigonen, plagiiert sich gar noch selbst im unentwegten Bespiegeln immer derselben Gehalte? Sind also Tersteegens Poesien, um einige Kurzkennzeichnungen aus geläufigen Literaturlexika aufzunehmen, weithin bloß „fromme Reimereien und vom künstlerischen Standpunkt wertlos“,28 prävaliert darin „eine in ihrer Gerhard Tersteegen (wie Anm. 24), S. 21 apodiktischer, der Dichter habe zwar für den Gottesdienstgebrauch „herrliche Lieder geschaffen“, doch daneben auch allerlei „wertlose Reimereien, die mit Recht der Vergessenheit anheimgefallen sind“. 28 Das Lexikon deutschsprachiger Schriftsteller von den Anfängen bis zur Gegenwart. Hg. von Günter Albrecht [u. a.], Bd. 2, Leipzig 1975, S. 369 zitiert diese Einschätzung, angeblich von Walter Nigg, als einen Gemeinplatz. Beim so Zitierten selbst dagegen findet man ein emphatisches Lob der Kunstleistung Tersteegens. Walter Nigg: Heimliche Weisheit. Mystisches Leben in der evangelischen Christenheit, Zürich – Stuttgart 1959, S. 359 f. und ders.: Gerhard Tersteegen (wie Anm. 4), S. 236 f.; Taschenbuchausgabe 1967 (wie Anm. 5), S. 141 f. – Tersteegens besondere Wertschätzung des Angelus Silesius (Johannes Scheffler), die reiche Aufnahme dieses Verehrten in die selbstedierten Gesangbücher, die Analogien, aber auch die grundlegenden Unterschiede in den mystischen Orientierungen und in der Dichtung der beiden sind häufiger erwogen (wenngleich nie gesondert untersucht) worden. Vgl. dazu Nelle: Tersteegens Geistliche Lieder (wie Anm. 1), S. 280 und ders.: Geschichte (wie Anm. 27), S. 233, 235; Kurt Reinhardt: Mystik und Pietismus, München 1925 (Der katholische Gedanke, Bd. 9), S. 187–191; Georg Ellinger: Angelus Silesius. Ein Lebensbild, Breslau 1927, S. 124 f.; Engels: Inhalt und Form (wie
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Metaphorik arme Sprache, die stilistische Abhängigkeiten zu Angelus Silesius u. Gottfried Arnold aufweist“,29 „ein betont inniges, heute eher süßlich anmutendes religiöses Gefühl“, oder haben sie recht besehen doch kraft ihrer „Umschreibungen individueller Befindlichkeiten und Gefühlslagen die Ausdruckskraft des geistlichen Liedes wesentlich bereichert […] und damit auch die Literatur des 18. Jahrhunderts nachhaltig beeinflußt“,30 so daß Tersteegen an der Seite Luthers und Paul Gerhardts „zu den bedeutendsten deutschen Kirchenlieddichtern“ gehört?31 Im Horizont solchen Fragens möchte ich im folgenden den Blick auf das in allem Traditionszusammenhang Eigene und Besondere der Lyrik Tersteegens richten, darauf, was sie anfängt mit den ererbten, weithin schon verklungenen Formeln und Tönen, und zwar in exemplarischem Aufschluß der Texte selbst. Dabei kann ich mein Resultat solchen genauen Hinsehens als Perspektive schon vorab umreißen. Tersteegens Poesie – und ganz besonders, wie mir scheint, die frühe, in erster Linie sogar die epigrammatisch-lakonischen Gedichtlein – eröffnet gerade in ihren ganz einfachen, hundertfältig schon wiederholten Wörtern und Bildern eine eben doch unerhörte und erlebnisfrische Kraft und Grazie, entfaltet trotz der selbstauferlegten thematischen und auch formalen Beschränkungen eine Zaubergewalt, wie sie aus simpelstem Grundwortschatz am wohl vergleichbarsten ein Jahrhundert später Joseph von Eichendorff freizugeben wußte oder auch Clemens Brentano in jenen Gedichten, die nicht forciert mit Virtuosität brillieren. Dabei ist der von Tersteegen erzeugte Eindruck von Simplizität wie etwa bei Matthias Claudius, doch uneitler noch, mit höchster Kunstfertigkeit kalkuliert. Die alten mystischen Bilder und Formeln aber werden, insofern sie offenkundig wieder zum Ausdruck eigenen Erlebens geworden und so aus der Stereotypie einer längst erstarrten Metaphorik erlöst sind, ganz neu gesehen und wie zum ersten Mal gesagt, werden so wieder zurückgeführt zu ihrer ursprünglichen Bedeutungsund Verweisungsfülle. Dadurch aber kann sich, so scheint mir, ihre Botschaft trotz allen zeitlichen Abstands wieder ranggleich neben der Taulers, Seuses und Ruysbroeks, neben der poetischen Kraft auch des Angelus Silesius, Quirinus Kuhlmann oder der Catherina Regina von Greiffenberg behaupten – sie kommt aber minder verkopft daher, ist bisweilen sogar umspielt von schalkhafter Anmut. Anm. 24), S. 15 sowie Giovanna della Croce: Gerhard Tersteegen. Neubelebung der Mystik als Ansatz einer kommenden Spiritualität, Bern [u. a.] 1979 (Europäische Hochschulschriften, Reihe 23: Theologie, Bd. 126), S. 112. 29 Reinitzer: Tersteegen (wie Anm. 16), S. 321. 30 Beide Charakterisierungen stehen im Tersteegen-Artikel Schoellers (wie Anm. 16), S. 450 einträchtig nebeneinander. 31 Van Ingen: Tersteegen (wie Anm. 15), S. 173. Ganz ähnlich erklärt auch Johannes Wallmann: Der Pietismus, Göttingen 1990 (Die Kirche in ihrer Geschichte, Bd. 4, Lfg. O1), S. O 35 „Tersteegen nach Martin Luther und Paul Gerhardt zum dritten großen Liederdichter des deutschen Protestantismus“.
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Als das Bändchen Geistliches Blumen=Gärtlein Inniger Seelen; Oder Kurtze Schluß=Reimen und Betrachtungen Uber allerhand Warheiten des Inwendigen Christenthums; Zur Erweckung, Stärckung, und Erquickung in dem Verborgenen Leben mit Christo in GOtt, Nebst einigen Geistlichen Liedern im Jahre 1729 anonym, lediglich mit der Kryptonymen-Sigle „G. T. St.“ unter dem auf August 1727 datierten „Vorbericht“, und ohne korrekte Angabe der Druckund Verlagsorte (– wie vielfältig bei heterodoxer Literatur sind lediglich die Messeplätze „Franckfurt und Leipzig“ im Impressum genannt, so daß die gültigen Zensurordnungen gleich dreifach unterlaufen sind –)32 beim Duisburger Buchhändler Johann Georg Böttiger erscheint,33 ist der Verfasser 31 Jahre alt. Seine „erste Erweckung“ und Zuwendung zu mystischen Lektüren liegt schon dreizehn, die Blutverschreibung an Jesus und die erste theologische Arbeit fünf Jahre zurück. Die Bandweberei und das Experiment eremitischen Lebens sind bereits aufgegeben,34 ein gleichen mystisch-erweckten und zölibatären Idealen nachstrebender Anhängerkreis hat sich formiert und ist seit zwei Jahren in der ,Pilgerhütte Otterbeck‘ klösterlich installiert; Tersteegen lebt (vielleicht als erster überhaupt, mit freilich bescheidensten materiellen Ansprüchen) als ,freier Schriftsteller‘ und in doppelter Weise im Dienst am Nächsten – als Prediger und geistlicher Ratgeber ebenso wie (seit sechs Jahren bereits) als vorrangig homöopathischer Hausapotheker und Gesundheitsberater, ein Nebengeschäft von immerhin solcher Erheblichkeit, daß ihm der Lebensgefährte Heinrich Sommer hauptberuflich als Helfer der chemisch-pharmazeutischen Bereitungen zu dienen hat. So klar bei dem noch jungen Mann bereits alle entscheidenden Orientierungen der ferneren Lebensführung vierer Jahrzehnte in ihre Bahn gebracht sind, so fertig ist auch bei 32 Alle Zensur-Ordnungen verpflichteten zu explizitem Nachweis auf dem Titelblatt oder im Impressum von 1. dem Namen des Verfassers, 2. des Verlegers und Verlagsorts und 3. des Druckers und Druckorts, an den sich im Übertretungsfalle die territoriale bzw. imperiale Exekution zunächst halten konnte. Vgl. zu den entsprechenden Verordnungen, zum Funktionssystem der Preßzensur und zu den pietistischen Winkelzügen, um sich ihr zu entziehen (mit der Folge des sukzessiven Zusammenbruchs des ganzen Systems) Schrader: Literaturproduktion (1989, L 1), S. 108–130. Im Falle der „Blumen=Gärtlein“-Herausgabe ist offenbar anders als bei offen heterodoxen Traktaten gar kein Verbergenwollen die Ursache der Infraktion, insofern ja der verlegende „Buchhändler“ ordnungsgemäß im Impressum erscheint, vielmehr das im radikalen Pietismus gewöhnliche programmatische Unterlaufen der abgelehnten Verordnungen. 33 Gründlich quellengestützte verlagsgeschichtliche Informationen bietet jetzt die Monographie (mit Publikation der einschlägigen Korrespondenzen): Gerhard Tersteegen und die Familien Schmitz in Solingen. Briefe aus den Jahren 1734–1764. Hg. und kommentiert von Horst Neeb, Düsseldorf 1997 (Schriften des Archivs der Evangelischen Kirche im Rheinland, Bd. 11). Über Böttiger (und seinen wiederholt zu behördlichem Eingreifen führenden sehr laxen Umgang mit den Zensurordnungen) vgl. ebd., S. 199 f. 34 Gleichwohl muß man sich vor Augen halten, daß die Ausarbeitung des gesamten Grundbestands der Erstausgabe (und damit des m. E. poetisch stärksten Teils der Lyrik Tersteegens) noch in die Phase der rigiden Tageseinteilung der Bandweberjahre fällt, ein Mehr an Muße also der dichterischen Kraft kaum förderlich war. Vgl. Nelle: Tersteegens Geistliche Lieder (wie Anm. 1), S. 233 f. und 240.
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diesem ersten Hervortreten als Lyriker die Kontur und der Ton seines Dichtens. Das Blumen=Gärtlein wird sich im folgenden erweitern und arrondieren, nicht mehr grundlegend verändern. Die zwei Büchlein mit jeweils 220 Epigrammen werden später zusammengefaßt und um ein Drittel vermehrt.35 Die vierzig poetischen Betrachtungen über Verse aus Jesaja werden durch andere Propheten-Meditationen erweitert, die Kirchenlieddichtung wird über die ersten 28 Lieder und Andachten hinaus erheblich anschwellen, und zu den die Erstausgabe beschließenden Hertzens=Seuffzer[n] oder Erhebungen des Geistes kommen weitere Beigaben wie die Übersetzungen der Emblembuchdichtung der Madame Guyon (auf die geistlichen Amoretten-Picturae zu Hermann Hugos Pia Desideria und Otho Vaenius’ Amoris Divini Emblemata) und schließlich die Serie der vierversigen Losungssprüchlein Der Frommen Lotterie. Aber wenn auch der Blütenschatz dieser Anthologie auf diese Weise einiges an prachtvollen Gewächsen hinzugewinnt, vor allem für den Bereich des Gemeindegesangs, bleibt der Gewinn doch im ganzen eher quantitativer Natur. So wenig man Tersteegen in der fortwährenden Abwandlung des Grundbestands an mystisch-quietistischen Glaubenserfahrungen und Lehren leerlaufende Redundanz der sprachlichen Form vorwerfen kann, scheint mir im später Ergänzten doch eine Gewichtverschiebung aus bildkräftig-inniger Erlebnis-Chiffre in außengerichtete erbauliche Paränese und aus lakonischer Prägnanz in die Redseligkeit auch strukturell ausufernder Strophenserien unübersehbar, wie sie freilich die Kirchenlieddichtung der Epoche überhaupt, besonders kraß etwa bei Zinzendorf,36 kennzeichnet. Wie wenig Wert Tersteegen dabei auf den Kunstcharakter einer zyklischen Komposition mit aufeinander bezogenen Kleinensembles und wechselweisen Spiegelungen oder Erhellungen legt, kann man daran sehen, daß er die neuen Gedichte dem durchnumerierten Grundbestand einfach weiterzählend anhängt – ein additives Verfahren, das immerhin dem späten Benutzer die Orientierung zwischen den Auflagen annehmlich erleichtert. Ich ziehe daher im folgenden die Belege vorrangig, mit nur seltenen Ausgriffen aufs später Hinzugekommene (das dann nach der Ausgabe letzter Hand von 1769 zitiert wird), aus der editio princeps von 1729. Beim ersten Erscheinen blüht das Blumengärtlein hinein in eine rechte Wüste, was die dichterische Produktion der Epoche anbetrifft. Die galanten Nachklänge der Barockpoesie sind mit Hofmannswaldau, Neukirch und Günther verklungen, bis zum Erstehen neuer Töne im ersten Band Klopstockscher Oden müssen noch gut zwei Jahrzehnte vergehen. Seit 1721 kommen als sicher bemerkenswerteste Lyriksammlung jener Jahre die dann 35 Dadurch ergibt sich in der Buchzählung der späteren Ausgaben gegenüber der editio princeps eine Verschiebung (für die Prophetenmeditationen und die Lieder je eine Bd.-Zahl weniger), während dank des Tersteegenschen Anordungskonservatismus die Nummern aller Einzeltexte durch alle Auflagen unverändert bleiben. 36 Knapper Vergleich der beiden Liederdichter bei Nelle: Geschichte (wie Anm. 27), S. 233 f.
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über volle 27 Jahre und neun dicke Bände weitergeführten physikotheologischen Naturbetrachtungen des Barthold Hinrich Brockes, Irdisches Vergnügen in Gott, heraus, Stück für Stück von einer genau gesehenen und beschriebenen Miniatur des so wundervoll in der Natur Begegnenden fortschreitend zu einer Transgressio auf die Vollkommenheit der Schöpfung insgesamt und des liebenden Schöpfers, der sie regiert – ganz im Sinne der schon seit 1667 verbreiteten Prosa-Meditationen des Christian Scriver über das ihm Zufallende der äußeren Welt, Gottholds zufällige Andachten. Und 1729, im Jahr der ersten Blumen=Gärtlein-Publikation selbst, kommt – ebenso Ausdruck einer didaktischen „Gemähl=Poesie“ – Albrecht von Hallers umfängliches Lehrgedicht Die Alpen hinzu. Damit ist für mehr als eine Generation schon das Wichtigste abgesteckt, das nicht zur Gänze unter religiöser Poesie subsumierbar ist, in der sich als letzter Gottfried Arnold vor allen hervorgetan hatte. Bekanntlich ist diese Kargheit des Kontextes auf die rigide Kunstskepsis eben jener pietistischen Gruppen zurückzuführen, der Arnold und auch Tersteegen angehören. Die Schönheit der Form ist immer dann als eitler Prunk verdächtigt und verworfen, wenn sie nicht unmittelbar und ausschließlich auf das Gotteslob und die cura animae bezogen ist, alles Fiktionale ist überdies als verlogene Verstellung und sündhafter Verderb der edlen Zeit gebannt37 – moraltheologische Vorgaben, die freilich auch für Arnold und Tersteegen galten (was weiteste Bereiche des lyrischen Gattungsspektrums ausschloß) und gegen deren allzu fundamentalistische Auffassung bei jenen eigenen Brüdern, die alle ästhetische Form als Zugeständnis an die Welt verdächtig machten, sie sich jeweils in den Vorreden rechtfertigen mußten. Neben dem Bescheidenheitstopos einer Publikation seiner Textlein nur auf Freundesbegehren (– schon dieser Gemeinplatz gewinnt neue Glaubwürdigkeit bei diesem hinter ein Kryptonym zurücktretenden Autor, der aus Abscheu gegen alle Eitelkeiten lebenslang verwehrt hat, daß man ein Porträt von ihm zeichne –) hebt Tersteegen das Zufallende und mehr Inspirierte denn eigener Formbemühung Verdankte38 hervor: Es sind mir diese Schluß=Reimen und Andachten mehrentheils unvermuthet und zufälliger Weise / innerhalb weniger Zeit / nun und dan eines / gegeben worden; Die ich dan auch / ohne viel auf Kunst und Zierlichkeit zu dencken / so wie sie in Gedancken kamen aufs Papir gesetzet: Kan demnach dem Leser von meiner kleinen 37 Zur pietistischen Auseinandersetzung mit Fiktion und künstlerischem Ornatus grundlegend am Beispiel der Hallenser Wolfgang Martens: Hallescher Pietismus und schöne Literatur. In: Ders.: Literatur und Frömmigkeit in der Zeit der frühen Aufklärung, Tübingen 1989 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur, Bd. 25), S. 76–181, zum Argument „Verschwendung der edlen Zeit“, S. 87 f. 38 Zur Überkreuzung dieser beiden Poetologeme im (v. a. radikalen) Pietismus – und damit für den maßgeblichen Beitrag genuin pietistischer Ideen zur Dichtungstheorie der Goethezeit vgl. Schrader: Vom Heiland im Herzen (1994, L 19), im vorliegenden Band S. 115–133 sowie als historische Grundlegung Ulf-Michael Schneider: Propheten der Goethezeit. Sprache, Literatur und Wirkung der Inspirierten, Göttingen 1995 (Palaestra, Bd. 297), v. a. S. 9–21, 95–191.
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Arbeit nichts Grosses versprechen […]. Ich habe getrachtet alles mit so deutlichen / einfältigen / und mit so wenigen Worten auszudrucken als mir möglich war : […] Findet jemand unter euch in diesem kleinen Schrifftgen etwas Gutes zu seiner Erbauung und Erweckung im kindlichen Glaubens=Wandel vor GOtt / der dencke doch / daß es der Vatter der Lichter sey / von welchem alle (und also auch diese) gute Gaben von oben herab kommen. [Blumen= Gärtlein, Vorbericht, 1729, S. 3 f., 8 f.]
Diese für Tersteegens Überzeugungen und auch Wirkabsichten repräsentative Vorgabe ist freilich die Grundlage für die lebenslange thematische und auch gattungsmäßige Selbstbeschränkung, die eine Weiterentwicklung seiner intuitiven Kunst in den sich entwickelnden Möglichkeiten seiner Lebensperiode ausschloß – schließlich darf man zu angemessener Bestimmung seiner Dichtungsleistung auch nicht vergessen, daß sich 1769, am Ende seiner Lebensbahn, bereits der junge Goethe aus seiner Rokoko-Phase zur Genielyrik zu wenden begann. Aufschlußreich genug ist aber schon im Vorrede-Programm die Doppel-Begründung dieser Poesie aus inspirativem Zustrom, poetischem Kalkül und handwerklichem Ausformen: die zufallenden Ideen werden unter Verzicht auf eitlen ornatus „aufs Papir gesetzt“, dabei wird in bewußtem Gestaltungsakt „getrachtet alles […] so auszudrucken […] als mir möglich war“. Dieselbe Ambivalenz kommt in Tersteegens poetologischem Vorspruch zu seinen späteren Guyon-Übersetzungen deutlicher noch und jedenfalls selbstbewußter zum Ausdruck: Einerseits gibt es (wiederum inspirativ) den unwiderstehlichen Trieb, der trotz aller Unlust und zunehmenden körperlichen Hinfälligkeit zum Dichten zwingt, andererseits aber die eindeutige Eigenverantwortung für poetische Schwächen, doch auch Qualitäten. Beide aber kann – wie Tersteegen nicht ohne Ironie in einem kühnen Zeugma zu Protokoll gibt – nur ermessen, wer außer dem rechten Herzen für den Himmelston auch noch die erforderliche gelehrte Basis an Fremdsprachenbeherrschung, metrischem und reimtechnischem Know-how mitbringt: Ein ungesuchter Trieb kam neulich in mich dringen Zur ungelegnen Zeit, weil Kopf und Augen blöd, Was hier Frau Guion schreibt, sollt ich ins Deutsche bringen; Ich that, was ich gekonnt, ich konnte, was hier steht. Ob mein Verdeutschen treu, kann jeder selber sehen, Wenn er Französisch und der Liebe Sprache kann; Ein wenig muß er auch die Reimenkunst verstehen. Doch heißt es Gott nur gut, dann hab ichs gut gethan.39 39 G. T. ST.: Die Heilige Liebe GOttes Und die Unheilige Natur=Liebe; Nach ihren unterschiedlichen Wirckungen, In XLIV. anmuthigen Sinn=Bildern Und Erbaulichen Versen vorgestellet: – Aus dem Frantzösischen Der Madame I.M.B. de la Mothe Guion treulich verteutschet, Solingen 1751, Neuausg. Mülheim 1882. Diese freie Anverwandlung der Versmeditationen der Madame Guyon zu den geistlichen Emblemen des Hermann Hugo: Pia Desideria wurde erst nach der Mülheimer Neuausgabe in die Stereoptyp-Drucke des „Blumen=Gärtlein“ integriert. Ich zitiere es daher nach der mir zuhandenen Stuttgarter Ausgabe von 1910 (wie Anm. 3), S. 183.
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Über dem immer wieder beschworenen und auch sensibel inszenierten Einfaltston darf man bei Tersteegen den sich im Vorzeigen seiner Gelehrsamkeit zurückhaltenden und ihr als Teil der Welteitelkeit auch gründlich mißtrauenden poeta doctus doch nie vergessen – wozu das Simpelbild seiner erbaulichen Hagiographen nur allzusehr einlädt (im Grunde wissen wir äußerst wenig an Konkreta aus Tersteegens Leben – nicht einmal die Details über die so grundlegende Verbindung zu den französischen Quietisten, über die Erbschaft der Poiret-Bibliothek, über das Ausmaß seiner Lektüren oder die Intensität seiner Verbindungen zu den Separatistenkreisen um die ,Berleburger Bibel‘ oder die Geistliche Fama und zum späteren Guyonistenzirkel um Fleischbein oder Marsay).40 Zu der humanistisch-hebraistischen Bildung von der Lateinschule her, zu der für die Zeit ungewöhnlichen Polyglottie an lebenden Sprachen (perfektes Französisch und Niederländisch, offenbare Orientierungsfähigkeit zumindest im Spanischen),41 zu ausgebreiteter Kenntnis der unterschiedlichsten Stränge der mystischen Spekulation (vermittelt oder auch direkt übers späte Mittelalter bis zu Plotin zurückreichend) kam seine
Vgl. dazu jetzt (mit Faksimiles des Tersteegenschen Druckmanuskripts und der Titelei der Erstausgabe): Gerhard Tersteegen und die Familien Schmitz in Solingen (wie Anm. 33), S. 47–49. Zu Tersteegens Guyon-Rezeption und -Vermittlung vgl. auch (mit Lit.) Schrader: Madame Guyon, le pi8tisme (1997, L 22) bzw. die überarbeitete, deutsche Fassung Madame Guyon, Pietismus (2002, L 27), im vorliegenden Band S. 419–456. 40 Auch dazu (mit Lit.) ebd. – Wertvolle Aufschlüsse über die Vermittlung Guyonscher Nachlaßteile, z. B. des Spruchkästchens, über Pierre Poiret an Tersteegen bietet v. a. Rudolf Mohr : Tersteegens Verschreibung mit Blut und die mit ihr zusammen überlieferten Stücke. In: Monatshefte für Evangelische Kirchengeschichte des Rheinlandes 33 (1984), S. 275–299, bes. S. 281 ff. – Vgl. zur Verbindung mit den Berleburger Radikalpietisten auch Nelle: Tersteegens Geistliche Lieder (wie Anm. 1), S. 261; Rudolf op ten Höfel: Gerhard Tersteegen in Berleburg. In: Macht der Liebe. Gerhard Tersteegen (wie Anm. 24), S. 27–32 sowie Schrader : Literaturproduktion (1989, L 1), S. 92 f., 199, 288, 404, 473. Grundlegend neuartige Einsicht in die Interaktionen mit und in diesen Kreisen liefern seither Michael Knieriem und Johannes Burkardt: Die Gesellschaft der Kindheit Jesu-Genossen auf Schloß Hayn. Aus dem Nachlaß des von Fleischbein und Korrespondenzen von de Marsay, Prueschenk von Lindenhofen und Tersteegen 1734 bis 1742. Ein Beitrag zur Geschichte des Radikalpietismus im Sieger- und Wittgensteiner Land, Hannover 2002, vgl. zudem Schrader: Goethes Verbindung zum mystischen Quietismus (2016, L 57). 41 Zu Tersteegens gediegenen Bildungsgrundlagen und lebenslanger theologischer Fortbildung (mit dem Kryptonymenspiel seiner Namen-Chiffre „G. T. St.“ als „Genuinae Theologiae STudiosus“ im Brief an den Duisburger Pastor Hencke) vgl. z. B. Nelle: Tersteegens Geistliche Lieder (wie Anm. 1), S. 219, 221, 237, van Andel: Tersteegen (wie Anm. 1), S. 186, Wallmann: Pietismus (wie Anm. 31), S. O 33 und den informativen Lexikonartikel von Bernd Jaspert: Gerhard Tersteegen, pi8tiste r8form8 et mystique. In: Dictionnaire de Spiritualit8 asc8tique et mystique, Bd. 15, Paris 1991, Sp. 260–271. Zu seinem Eindringen ins Spanische, um die quietistische Poesie aufzunehmen, vgl. insbesondere Hans-Joachim Lope: „Gott rufet noch. Sollt ich nicht endlich hören?“ Zum Thema der ,Amicitia Dei‘ bei Gerhard Tersteegen und in der spanischen geistlichen Lyrik um 1600. In: Gerhard Tersteegen. Evangelische Mystik inmitten der Aufklärung (wie Anm. 1), S. 101–121.
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gediegene theologische, v. a. aber – sogar von den zünftigen Fachvertretern anerkannt – seine medizinisch-pharmazeutische Einsicht.42 Schon im Titel des Poesienbüchleins des etwa Dreißigjährigen kann man diese Traditionslast wiedererkennen, nicht nur in den mystischen Formeln eines verborgenen Lebens und inwendigen Christentums, die den Abstand markieren zum äußerlichen Gottesdienst der Konfessionskirchen, sondern auch im heute auf den ersten Blick rokokohaft-verspielt erscheinenden Haupttitel. Geistliches Blumen=Gärtlein – das weist nicht nur als Kennchiffre zurück auf Anthologien und Florilegien, die Blütensammlungen also lyrischer Poesie überhaupt und gegebenenfalls auf mittelalterliche Wissenssummen wie die Flores historiarum des Roger of Wendover oder des Matthaeus Parisiensis, sondern mehr noch auf spezifisch mystische Pflanzgärtlein wie den Hortus deliciarum der hochmittelalterlichen Odilienberg-Äbtissin Herrad von Hohenburg oder den spätmittelalterlichen Hortulus rosarum nebst Vallis liliorum des Thomas von Kempen und zahllose Hortulus-animae-Liederbücher seit 1501,43 schließlich auf Johann Arndts 1612 in Magdeburg erschienenes (seither als Anhang in zahllosen pietistischen Ausgaben seiner Sechs Bücher Vom Wahren Christenthum verfügbares) Paradies=Gärtlein Voller Christlicher Tugenden,44 und, zeitlich näher, im reformierten niederländisch-präzisistischen und deutsch-pietistischen Kontext, auf Wilhelm Teelincks 1698 deutsch erschienenen Lust=Garten christlicher Gebeter45 sowie die Sammlung mystischer Jesus-Seele-Dialoge des Johannes Quirsfeld, Neu vermehrte Himmlische 42 Dazu insbesondere Christa Habrich: Heilkunde im Dienst der Seelsorge bei Gerhard Tersteegen. In: Ebd., S. 161–180, aber auch schon ihr früherer Aufsatz: Zur Bedeutung medizinischer Bemühungen im Wirken Gerhard Tersteegens. In: Medizinhistorisches Journal 12 (1977), S. 263–279. Wertvolle Hinweise auch bei Nelle: Tersteegens Geistliche Lieder (wie Anm. 1), S. 250–252, van Andel: Tersteegen (wie Anm. 1), S. 197–201 und jetzt bei Alfred Maletke: Gerhard Tersteegen. Sein Leben und sein Zeugnis in Mülheim an der Ruhr, Mülheim 1997, S. 81–96. 43 Vgl. zu dieser mystischen Traditionslinie aus dem Mittelalter neben Nelle: Tersteegens Geistliche Lieder (wie Anm. 1), S. 279 die entsprechenden Werk-Artikel in Kindlers Literatur Lexikon (KLL) bzw. Kindlers Neues Literatur Lexikon (KNLL) (wie Anm. 16). 44 Als eigengezählter Anhang (249 S.) z. B. in Johann Arndt: Sechs Bücher Vom Wahren Christenthum. Hg. von Joachim Lange, Erfurt 1736 („in die Seelen zu pflantzen“). – Vgl. die aufschlußreiche Synopse mystischer Bilder und Begriffe bei Arndt und Tersteegen bei SauerGeppert: Zur Mystik (wie Anm. 17), S. 315–319. Zu Tersteegens eigenem Anknüpfen an Arndt vgl. Rudolf Mohr: Leiden und Weisheit in der protestantischen Mystik. In: Leiden und Weisheit in der Mystik. Hg. von Bernd Jaspert, Paderborn 1992, S. 257. 45 In der Übersetzung [Johann] Christoph Bröskes („Brüßke“, verwandt mit dem Radikalpietisten Conrad Bröske) publiziert „in IV Theilen“ im Westentaschenformat 188 bei dem renommierten Pietistenverleger Zunner in Frankfurt. Nachweis: Catalagus universalis, Herbst 1698, S. B 3r ; vgl. (mit genauerer Verfasser-, Titel- und Formatangabe) Ostern 1699, S. C lv und Herbst 1699, S. C 2v. – Unter [Johann] Christoph Bröskes eigenen Vorankündigungen (unsicher, ob wirklich erschienen) vermeldet überdies der Catalagus universalis, Ostern 1701, S. D 3r den Titel: Beschauligkeit der Natur des irrdischen Frühlings in dem innern Grunde der Seelen / sehr diensam zu einem heilsamen Nachsinnen des Frühlings der Ewigkeit / in hundert Betrachtungen, Offenbach: Launoy.
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Garten Gesellschafft von 1716.46 Ganz zweifellos ist aber ebenso der theologisch-pharmazeutische Hortulus des karolingischen Reichenau-Abtes Walahfrid Strabo47 und die daran gemahnende titelverwandte Traditionskette der Leib- und Seelenapotheken mitaufgerufen,48 denn neben der Schönheit wird in Tersteegens Blumenmetaphern immer auch der inwendig-erbauliche und äußerlich-heilende bzw. kräftigende Nutzen der Blümlein mitreflektiert, die er beim Verschreiben seiner Enzian- und Benediktenkraut-, Kamille- oder Nelkenöl-Präparate wider die Gebreste des Leibes oder des Gemüts in menschenfreundliche Anwendung brachte. Und schließlich wird mit dem Titel auch noch eine spezifisch-separatistische Tradition aktiviert: Auf den Anklang der Überschrift und die Verweisung im Titelkupfer zu Liederbüchern der Inspirierten, zum früheren Büchlein Anmutiger Blumenkranz von 1712 und zu dem wieder an Tersteegen anknüpfenden und reichlich aus seinen Liedern, Sinn- und Schlußreimen schöpfenden Sammelwerk des Christoph Schütz: Geistlicher Würz=, Kräuter= und Blumengarten (5 Bände Homburg – Philadelphia 1738–1744), hat Nelle schon vor hundert Jahren hingewiesen,49 46 Erschienen in Mitau 1716, „bestehend in 43. geistlichen Gesprächen Zwischen Christo und einer gläubigen Seelen“. Angeboten im Sortiment der Berleburger Radikalpietisten: Catalogus librorum Oder Verzeichniß Derer jenigen Bücher / welche in der Berlenburgischen Buchhandlung […] bey Johann Jacob Haug […] zu haben seynd, 1731, S. F lvf. 47 Originaltitel: „De cultura hortorum“ (seit 842), in der Neuzeit, seit der Wiederausgabe des Humanisten Vadianus von 1510, unter dem Titel „Hortulus“ mit seinen 23 poetischen Klostergarten-Beschreibungen in Rücksicht auf die Art der Pflanze, ihre Schönheit, medizinische Heilwirkung und geistlich-allegorische Bedeutsamkeit. Vgl. Artikel von Wolfgang Haubrichs in KNLL (wie Anm. 16), Bd. 17, München 1988 [1996], S. 350 f. 48 Z. B. der auf Johann Wonnecke von Kaub zurückgehende „Gart der gesundheit Zu latein / Hortvs sanitatis“, Straßburg 1536 oder Konrad Rosbachs „Paradeißgärtlein“, Frankfurt 1588. Faksimiles und nähere Angaben bei Joachim Telle: Bücher über Tiere, Pflanzen, Minerale. In: Pharmazie und der gemeine Mann in deutschen Schriften der frühen Neuzeit. Hg. von Joachim Telle, Wolfenbüttel (Ausstellungskatalog) 1982, S. 77–79, 82. Aus pietististischem Kontext wäre zu nennen A.E. Freyin von Schlebusch: Geistl. häußliche Seelen=Apotheke, Frankfurt a.M. 1698 (nachgew. im „Catalogus bibliothecae Erdm. Gottwerthi Neumeisteri“, Hamburg 1771, S. 145) oder Johann Samuel Carls Armen-Apotheck, Büdingen 1725, 5. verm. Aufl., ebd. 1730 (im Catalogus […] der Berlenburgischen Buchhandlung [wie Anm. 46] 1729, S. A 7r und 1737, S. B 2v). Zu Tersteegens Kenntnis und Wertschätzung vgl. die Pilotstudie über Tersteegens pharmazeutisch-heilpraktische Wirksamkeit von Christa Habrich: Zur Bedeutung (wie Anm. 42), bes. S. 271–275. Dort (S. 271) wird auch schon hingewiesen auf Tersteegens eigene pharmazeutische Titelauslegung durch das dem „Blumen=Gärtlein“ seit der 5. Auflage (1751) beigegebene Titelkupfer mit seinen Heilkräuterrabatten, vor denen Jesus als Arzt eine Anima (nach Hhld 2,5) mit Blütenmedizin behandelt: „O Anmuths voller Blumen-Krantz! vom Freund geschenckt, des Freundes gantz, Hohel. 1, v. 15.16.“ (Faksimile bei Engels: Inhalt und Form [wie Anm. 24], S. 19). Darauf rekurriert Tersteegen auch in seinen Liedern 91 und 95 („Innige Frühlings=Belustigung“ und „Mannigfaltig und doch einig“), Blumen=Gärtlein [wie Anm. 2], 7. Aufl. 1769, S. 428, 433). – Eine wahre Trouvaille ist die erstmals vollständige Publikation (nach der Handschrift) von Tersteegens Brief an den Verleger Schmitz in Solingen vom 24. Dezember 1749 mit präzisen Anweisungen zur Ausgestaltung dieses Titelkupfers: Gerhard Tersteegen und die Familien Schmitz in Solingen (wie Anm. 33), S. 168 f. 49 Nelle: Tersteegens Geistliche Lieder (wie Anm. 1), S. 279, 301 f. und 333. – Zu Christoph Schütz,
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als gemeinschaftlicher Anknüpfungspunkt dürfte aber die Sammlung der Wegweiserin der philadelphischen Sozietäten und Programme, Jane Leade in Betracht kommen: Ein Garten=Brunn gewässert durch die Ströhme der göttlichen Lustbarkeit, und hervorgrünend in mannigfaltigem Unterschiede geistlicher Pflantzen (3 Teile in 4 Bänden, Amsterdam: Wetstein 1697–1701).50 Motto-Gedicht und Schlußreimlein von Tersteegens Blumen=GärtleinErstauflage setzen so eine vielgliedrige, für das Publikum dieser Gedichte weithin aber längst bedeutungsentleerte Metaphernkette wieder in ursprünglich-konkrete Bedeutung um: Die Blümlein stehen hier Gepflantzet aufs Papier : GOtt wolle selbst sie mahlen / Begiessen und bestrahlen; Das Hertz sey seine Erd / Und jedes Blümlein werd’ seinem „Würtz=Gärtlein“ (in das 68 Tersteegen-Lieder aufgenommen wurden) und der früheren Schütz-Sammlung „Geistliches Harpffenspiel der Kinder Gottes oder Hundert Zionitische Gesänge“ gibt erste Information: [Gustav Mori]: Die Egenolff-Luthersche Schriftgießerei in Frankfurt am Main und ihre geschäftlichen Verbindungen mit den Vereinigten Staaten von Nordamerika, Frankfurt 1926, S. 24 f. Grundlegend jedoch ist seither die monographische Abhandlung von Konstanze Grutschnig-Kieser: Der „Geistliche Würtz= Kräuter= und Blumen=Garten“ des Christoph Schütz. Ein radikalpietistisches „Universal-Gesangbuch“, Göttingen 2006 (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus, Bd. 49). Unübersehbar sind die Anknüpfungen beim verbreitetsten Inspirierten-Gesangbuch: „Davidisches Psalter=Spiel der Kinder Zions“, o.O. 1718 und zahllose Neuausgaben in Deutschland und Amerika bis 1910 und den pennsylvanischen Täufergesangbüchern: „Zionitischer Weyrauchs Hügel Oder : Myrrhen Berg“, Germantown: Christoph Sauer 1739 und Jakob Stoll: Geistliches Gewürz=Gärtlein Heilsuchender Seelen, Ephrata: Johann Baumann 1806. Vgl. Schneider: Propheten (wie Anm. 38), S. 209 und Durnbaugh: German Hymnody (wie Anm. 1), S. 301 f. und 306. In dieselbe Traditionslinie gehört auch das Gebetbuch, das bei den Amischen und Old-Order Mennoniten, die es bei ihrer Emigration aus der Schweiz mitgebracht hatten, noch bis heute regelmäßig auf deutsch nachgedruckt wird. Anknüpfend an das zuerst 1703 als Anhang zu Thomas / Kempis „Nachfolge“ erschienene und 1720 (bei Hieronymus Brunn in Tübingen) separat veröffentlichte „LustGärtlein der in GOtt verliebten Seelen / bestehend in einer Sammlung erbaulicher Reim=Sprüche […] von […] J.F.G. u. J.B.M.“ und parallel zu Ausgaben in Basel, Langnau, Thun und (auf französisch) in Porrentruy (Pruntrut) kam seit 1815 in Amerika (Harrisburg: Wiestling) ein „Geistlicher Lust=Garten frommer Seelen“ heraus; die aktuelle Ausgabe „Neu vermehrtes Lust=Gärtlein Frommer Seelen“ erschien (wiederholt nachgedruckt) im Verlag der Amischen Gemeinden in Lancaster County, Pa. 1997. – Vgl. David Luthry : A History of the ,Lust=Gärtlein‘-Prayerbook. In: Family Life, Aylmer, Ontario 14 (Juli 1981), S. 21–24 (dazu ergänzend liebenswürdige Mitteilungen von Amos B. Hoover, Denver, Pa.), eine Neuedition auch London: Forgotten Books 2017. 50 Nach der englischen Originalausgabe: A Fountain of Gardens Watered by the Rivers of Divine Pleasure. 3 Bde., London 1696–1701. Nachweise: Edgar C. McKenzie: A Catalog of British Devotional and Religious Books in German Translation from the Reformation to 1750, Berlin – New York 1997 (Bibliographie zur Geschichte des Pietismus, Bd. 2), S. 281 f., 466. Gottfried Arnold besaß dieses Buch: Catalogus Bibliothecae B. Godofredi Arnoldi, o.O. 1714, S. 42, Nr. 135, 136, 138.
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Hortulus mystico-poeticus Zur Warheit / Krafft und Wesen / In allen die sie lesen. [Blumen=Gärtlein, 1729, S. 2] BEy diesen Blümelein / mein Leser / bleib nicht stehen; Ihr Ruch laß auf der Reiß dir nur zur Stärckung seyn: Durch diese Gaben du zum Geber selbst must gehen / Biß du auf ewig kommst in’s Paradieß hinein. [Blumen=Gärtlein, 1729, S. 234]
Ganz anders als Brockes’ Irdisches Vergnügen in Gott mit seinen didaktischen Floraliengedichten wie Blumenlehre oder Morgenlied auf den Garten führen Tersteegens Rückführungen sprachlicher Bilder in plastische Anschauung aber nicht zum Detailsehen, zu rationalistischer Zergliederung.51 Selbst wenn er ausnahmsweise beim Auspflanzen seiner Blümlein „aufs Papier“, ins Furchenpaar seiner Verse, in gleicher physikotheologischer Manier weiterschreitet vom Objekt zur Erkenntnis des Werkmeisters oder zur Allegorese auf die Pflichten der Seele, bleibt die Sicht ganzhaft und ohne beschreibende Zergliederung, etwa in den folgenden Ausschnitten des (späteren) Geistlichen Lieds Innige Frühlings=Belustigung: Die Sonne lockt der Blüthe Knospen aus; Die Erde trägt den Schoß voll Erstlings=Gaben, Gras, Kraut und Korn, zum Nähren und zum Laben: Hier bring ichs dir, als Priester, in dein Haus. Ich schaue dort, mit süssem Andachts=Blick Der Blumen Zier in Gärten und in Wiesen, Gestalt, Geruch und Farben hochgepriesen Und bringe dir den gantzen Pracht zurück. [Blumen=GärtIein, III, 91, 1769, S. 428 f.] Wie süß bestrahlt die Sonne Blum und Blätter! Du bists, mein Licht, der alles fröhlich macht. […] Das kleinste Blat, das feinste Gräselein, Rühmt deine Kunst. Was grünt und blüht und lebet, Ein liebend Hertz entzückt zu dir erhebet; Wie schön, wie schön
{
mußt du, der Künstler, muß nicht das Urbild
}
seyn! […]
[Blumen=Gärtlein, III, 91,1769, S. 428] 51 Vgl. August Langen: Anschauungsformen in der deutschen Dichtung des 18. Jahrhunderts. Rahmenschau und Rationalismus, Jena 1934 (Deutsche Arbeiten der Universität Köln, Bd. 6); 3. Aufl. Darmstadt 1968. Weiterführend Wolfgang Martens: Erbauliche Naturlyrik eines Aufklärers (B.H. Brockes). Zuletzt in: Martens: Literatur und Frömmigkeit (wie Anm. 37), S. 261–275.
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Oder, im schon zum Grundbestand der Sammlung gehörigen und noch heute mit Joachim Neanders Melodie oft im Gottesdienst gesungenen Lied GOtt ist gegenwärtig!, Str. 6 – Du durchdringest alles / laß dein schönstes Lichte / HErr / berühren mein Gesichte; Wie die zarten Blumen willig sich entfalten / Und der Sonnen stille halten; Laß mich so / still und froh / Deine Strahlen fassen / Und dich wircken lassen. [Blumen=Gärtlein, IV,11, 1729, S. 198]
– so daß das Aussehen und die heilenden Spezifika der Blüten ebenso unerwähnt bleiben, Krank und des Elends voll, ich komme doch; ach sei Mein Heil und meine Arzenei.52
Tersteegen vermeidet überhaupt jeden Rekurs auf sein äußerlich-individuelles Leben, verzichtet z. B. auf alle naheliegenden Handwebe-Allegoresen. Der Grund dafür und die entscheidende Grundlage zugleich für den neukräftigen Zauber der alten Mystikerformeln liegt bei ihm darin, daß all dies zur zerstreuenden Vielheit und Kreatürlichkeit der Welt gehört, von der sich der Blick abscheiden und nach innen konzentrieren muß, will er Gott im Herzensgrunde finden. In den Worten der Guyon-Nachdichtung (Nr. 43: Betrachtung zu Sir 24,41, „ich wässerte meinen Garten“): Pflanz, o du Gotteslieb, pflanz in mein Herze ein Dein Kreuz und deine Lieb, die Erd mag sonst was tragen, Ich pflanzete diß Blümelein; Du kommst und es begeußt, das will was höhers sagen. Doch dieses ich hiebei auch dacht: Was auf der Welt nur wächst, ich nicht begehr noch meine, Was Erd und Meer gibt, ich veracht, Daß ich dich lieben mag alleine. Mit dir beschäftigt sein, ist mein Verlangen nur, Nichts was hier unten ist, die Sinne kann vergnügen: 52 Die heilige Liebe Gottes und die unheilige Naturliebe, in erbaulichen Versen […] der Madame Guion, Ausg. 1910 (wie Anm. 39), S. 205. Eine ganz ähnliche Transgressio ad coelum leistet bereits das reizende Epigramm Nr. 139, „Das Leben in Gott“, das das Sprecher-Ich im Meer der Gottheit mit dem munteren Fischlein im Wasser vergleicht: Blumen=Gärtlein 1729 (wie Anm. 2), S. 45 f.
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Hortulus mystico-poeticus Bin ich dir unterworfen pur, Wie ruhig werd ich dann in deinen Armen liegen! […]53
Die lakonischen Gedichte, die alte Mystikerformeln wieder bildhaft nachvollziehbar machen, scheinen mir die im Tersteegenschen Lyrik-Werk bezwingendste Magie zu eröffnen. Der Beispiele wären Legion, ohne daß sich in der ständigen Wiederaufnahme der Formeln wie „Abgeschiedenheit“, „Verborgenheit“ und „Gelassenheit“, „Sammlung“ und „Einkehr“, „Ruhepunkt“ und „Stille“ (versus „Zerstreuung“), „Einheit“ und „Einfalt“ (versus „Vielheit“), „Grund“, „Abgrund“, „Zentrum“ oder „Mittelpunkt“ (versus „Wüste“, „Eigenheit“ und „Creatur“)54 neue Formelerstarrungen oder ermüdende Wiederholung ergäben. Ein paar Beispiele nur kann ich hier von den Verslein vorführen, die ältesten mystischen Bilderschatz wieder verlebendigen, die Formeln des Plotin und des Pseudo-Dionysius Areopagita, des Meister Eckhart oder des Granum sinapis-Lieds mehr noch als die in der Barockmystik und bei ihren Epigonen sonst vorherrschenden brautmystischen Formeln aus der Tradition des Hugo von St. Victor oder des Bernhard von Clairvaux. Mystisches Paradox und mystische Metaphorik halten sich die Waage im Epigramm (Nr. 123), dessen Titel ganz ungelehrt die geläufige gemeinchristliche Tod-Leben-Paradoxie aufruft: Wer sein Leben verlieret, der wird es finden. Ey werd nicht bang / wenn alle Stützen dir Entnommen sind / und du entblößt must schweben; Im Ocean der Gottheit dich verlier / Der tieffste Tod bringt dir das reinste Leben.
{
willig alles loß / und schleuß die Augen zu; Verlierst Du nicht / so wirst du nimmer finden. Wer sich entsinckt / der findt in GOtt die Ruh; Sein Leben bleibt / das eigne muß verschwinden. [Blumen=Gärtlein, I, 123, 1729, S. 41]
Laß
Doch nicht nur aus irdischem Tod ersteht himmlisches Leben, aus zeitlichem Verlust ewiger Gewinn und das Sterben von Körperlichkeit und Eigenheit führt zum Leben Gottes; die hinzutretenden alten Vorstellungen von der notwendigen Entblößung von allen Akzidentien, von williger Loslassung des Irdischen und dem lue?m, Augenschließen der mystischen Innenschau, werden mit den spekulativen Bildern der Madame Guyon und, über sie, des 53 Die Heilige Liebe GOttes. In: Terstegen’s geistliches Blumengärtlein (wie Anm. 3), S. 209. 54 Vgl. die Listen der mystischen Kernbegriffe Tersteegens und der Dynamik seiner Bewegungsverben bei Nelle: Tersteegens Geistliche Lieder (wie Anm. 1), S. 293–295 und besonders SauerGeppert: Zur Mystik (wie Anm. 17), S. 307–313.
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spanisch-französischen Quietismus noch einmal in weitere Bedeutungskontexte gerückt: Nicht erst im physischen Tod, sondern im intentionalen SichSelbst-Entsinken der „mort mystique“ als „mort la plus profonde“, im „se perdre“ im „oc8an divin“ kann die allgelassene „qui8tude“ gefunden werden: Die Dunckelheit ist da / und alles schweiget / Mein Geist vor dir / o Majestät! sich beuget: In’s Heiligthum / in’s Dunckle kehr ich ein / HErr / rede du / laß mich ganz stille seyn. [Blumen=Gärtlein, IV, 4, 1729, S. 177]
Das wundervollste ist, daß solche Verse durch die ganz unspekulative Simplizität ihres allgemeine Grunderfahrungen und gefühlhafte Erinnerung aus frühester Kindheit ansprechenden Wortschatzes annäherungsweise für jeden verstehbar werden, auch dann, wenn die ihnen aus uralter Begriffstradition innewohnende Überschußbedeutung gar nicht wahrgenommen wird. Der Schlußreim Nr. 100, vielleicht doch planvoll auf diese Nummer der Vollkommenheit gesetzt, macht im Kontrastieren von Zwang und Freiheit ebenso eine „mortificatio“ und „annihilatio“ der Körperlichkeit wie auch die Preisgabe aller Orientierungsmittel von Wahrnehmung und Vernunft, ein vollkommenes Verlassen des Selbst, zur Grundbedingung der Freiheit eines Christenmenschen: Die wahre Freyheit. Wer wahre Freyheit sucht / der zwinge Fleisch und Sinnen / Samt aller Eigenheit in enge Banden ein: Die Freyheit der Natur zwingt nur den Geist von innen; Geh aus dich aus in GOtt / wilt du in Freyheit seyn. [Blumen=Gärtlein, I, 100, 1729, S. 36]
Deutlich wird auch hier, wie der spekulative Gehalt zu einem Oberflächenverstehen der Verse gar nicht erfordert wird, ohne daß mit mystischen Formeln Unvertraute dadurch in die Unlust eines arkanen Ausgeschlossenseins verfielen, daß Tersteegen also aus leichtverständlichen Wörtern eine doppelte Rezeptionsmöglichkeit nach Maßgabe des jeweiligen Begreifens anbietet. Mit der Wiederholung der Bilder und der mit ihnen evozierten Empfindungen wird aber dem andächtig Lesenden das Wunder, haOla, der „animadversio“, „unio“ und „fruitio Dei“, in der Begegnung des Abgrundes und Mittelpunkts der Seele mit jenen der Gottheit, in plotinischer Formel j]mtq\ j]mtqom sum\xar,55 nach und nach immer nachvollziehbarer und verlockender : 55 Formel in Plotins „Enneade“ VI, 9: Peq· t’!cahoO Õ toO 2m|r, Das Gute (das Eine), § 71: Mit dem Einen wird der Schauende „Eines, indem er gleichsam Mittelpunkt mit Mittelpunkt berührt“. Plotin: Ausgewählte Einzelschriften. Hg. von Richard Harder, Studienausgabe, H. 1, Hamburg 1956 u. ö. (Philosophische Bibliothek, Bd. 211a), S. 60 f.
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Hortulus mystico-poeticus Wie GOtt gesucht werde. Laß loß die Creatur; entsinck dem eignen Willen; Gedenck nicht mehr an dich; und laß dich GOtt im Grund / Demüthig / liebreich / sanft. Merck wenn Er dich will stillen / So find’st du dich in GOtt / und GOtt in dir zur Stund. [Blumen=Gärtlein, I, 5, 1729, S. 12]
Aufschlußreich ist für den Stimmungen und Erinnerungen ansprechenden Appellcharakter der gewählten Wörter, wie hier die mittelhochdeutschmystische Formel vom „stillen“, „quiescere“, zur Stille bringen, mit der bedeutungsverengten neuzeitlichen, der beruhigenden Nährung des Säuglings an der Mutterbrust, überspielt wird.56 Ebenso reizvoll, verführerisch plastisch und vorstellbar werden die spekulativen Formeln der Naturphilosophie von der Analogie des gottdurchwirkten Makrokosmos zum Mikrokosmos des Menschen: Alles am rechten Ort. Ein Stein sich nach der Erden neigt / Ein Flämmlein in die Höhe steigt / Ein Fisch will in dem Wasser leben / Ein Vogel in der Lufft muß schweben; Wan jedes ist da wo es soll / So ist es still und ihm ist wohl: Mein Geist ist ruhig und vergnüget / Wan er in GOtt sei’m Ruh=Punct lieget. [Blumen=Gärtlein, I, 40, 1729, S. 21]
Oder in der auch ohne das Ausloten der mystischen Bedeutungen vom Gottesozean, der sich durch keine Bestimmbarkeit ausloten läßt, vom haOla haul\tym nachvollziehbaren Strophe unseres Kirchengesangs GOtt ist gegenwärtig!:57 Lufft / die alles füllet! drinn wir immer schweben; Aller Dingen Grund und Leben! Meer ohn Grund und Ende! Wunder aller Wunder! Ich senck mich in dich hinunter! Ich in dir / du in mir ; Laß mich gantz verschwinden / 56 Dazu Langen: Wortschatz (wie Anm. 25), S. 172–185 und 408; Sauer-Geppert: Zur Mystik (wie Anm. 17), S. 306. 57 Das haOla, Tersteegens „Wunder aller Wunder“ (IV, 11, Str. 5, Blumen=Gärtlein, 1729 [wie Anm. 2], S. 197) bei Plotin: „Enneade“ VI,9 (wie Anm. 55), § 35, S. 44 f. Vgl. auch bei Langen: Wortschatz (wie Anm. 25), die Erläuterungen der Begriffe „Zentrum“, „Wunderzentrum“, „Zentralneigung“, „Zentralberührung“, S. 344, 413 und „Mittelpunkt“ S. 342–344. Auslegung: della Croce: Tersteegen (wie Anm. 28), S. 116–118.
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Dich nur seh’n und finden. [Blumen=Gärtlein, IV, 11, Str. 5, 1729, S. 197]
Komplizierteste Ideenwelten werden da einfach und zugänglich. Dazu kommt die graziöse Beweglichkeit in Perspektive und Formenhaushalt, von Themenwiederholung und Variation. Selbstaussagen des Sprecher-Ich wechseln mit Gebeten, praktischem Rat und paränetischer Vermahnung, 21mal hat Winfried Zeller die Überschrift Jesus zu der Seele gezählt,58 die dramatische Konfiguration also der barocküblichen Seele-Christus-Zwiegespräche. In der metrischen Struktur gibt es alle Beweglichkeiten zwischen dem infolge der allgemeinen Tendenz zu schwebender Betonung gar nicht mehr so steifleinenen Alexandriner und volkstümlichen Strophen, meist kreuz- oder paargereimt in vier- oder fünfhebigen Jamben, doch auch mit gezieltem Einsatz des adhortativen Trochäus zu sanfter Überredung und, namentlich in den oft fremdem Ton folgenden Kirchenliedern, freieren Formen.59 Das Kunstkönnen aber wird wie alle gedankliche, theologische oder intertextuelle Kompliziertheit in den Anschein des Einfachen, ja der Einfältigkeit und jedenfalls volkstümlicher Gemeinverständlichkeit verborgen, wie das schon die häufig Sprichwörtern (gern mit suggestiv eingängigem Binnenreim) nachgeformten Überschriften erkennen lassen – selbst wenn sie in Wirklichkeit emblematischer Tradition verpflichtet sind: Neben echten Sprichwörtern wie Nr. I, 6: Ost, West, zu haus ist’s best, I, 34: Wers recht greift an, hats halb getan, I, 84: Vor Feur und Gluth ist Wasser guth, I, 121: Frisch gewagt ist halb gewonnen stehen spielerisch und durchsichtig auf die allegorische Bedeutung umgeformte (hier vom geflügelten Wort nach Mt 7,7: „suchet, so werdet ihr finden“) wie Nr. 1,75: Wer verliert der findet oder II, 79: Wer liebet der findet und analog nachgeformte von nicht minderer Eingängigkeit wie I, 69: In Jesu du nur findest Ruh, II, 75: Wie Gott dich will so bleibe still, II, 129: Bitter im Mund ist auch gesund oder II, 217: Im Feuer wird das Gold probiert. Aber man täusche sich nicht: das in unendlicher Variation wiederholte Ziel der Einfältigkeit vor Gott, eines arglos-seligen Kindheitsstands der Seele, die sich und alles vollends dem Vater überläßt im Guten und im Bösen, ist eben doch nur das Widerlager einer inneren Kompliziertheit, wo nicht gar Gespaltenheit – und vielleicht ist es gerade diese moderne Einsicht in die „Vielheit“ der Ich-Facetten, die uns Tersteegens Suchen nach Ungebrochenheiten so wahrhaftig und nachvollziehbar erscheinen läßt. Die beschworene kindliche „Disposition oder Gestalt des Hertzens“, die erst in den Stand der
58 Winfried Zeller : Die Bibel als Quelle der Frömmigkeit bei Gerhard Tersteegen. In: Pietismus und Bibel. Hg. von Kurt Aland, Witten 1970 (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus, Bd. 9), S. 183; wiederabgedruckt in: ders., Theologie und Frömmigkeit. Bd. 2, Marburg 1978 (Marburger theologische Studien, Bd. 15), S. 161–184. 59 Detailliertere metrische Analysen bei Nelle: Teesteegens Geistliche Lieder (wie Anm. 1), S. 280, 296 f. und Engels: Inhalt und Form (wie Anm. 24), S. 17–20.
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„wesentlichen Erleuchtung GOttes“ bringen kann,60 ist eben doch kein gesicherter Besitz, wenn es heißt: Traue, und laß dich führen. Du must auf GOtt es blindlings wagen / Nicht immer forschen / fürchten / klagen; Laß dich ihm ganz im Einfalts=Sinn; Verlier dich selbst in Gottes Hände; Wie Er dich führt auch du dich wende; Und frage nicht / wo geht es hin? [Blumen=Gärtlein, I, 119, 1729, S. 40] Kinder=Stand unbekant. Eigenwillig / groß / und klug; Solcher Menschen find’t man gnug: Klein / einfältig / unterthänig; Dieser Kinder sind gar wenig! [Blumen=Gärtlein, I, 166, 1729, S. 53]
Der Einheits- und Einfältigkeitsbegriff selbst ist schon ein spekulativ abgeleiteter Gegenpol zur Vielheit und vielfältigen Zerfallenheit der Erscheinungswelt, Wesen gegenüber den Abbildern. Wer Vielheit flieht, das Eine sieht. In Mannigfaltigkeit find’st du das Eine nicht /
{
Aug von allem ab / muß inwerts seyn gericht; Hertz Und kanst du auch dich selbst vergessen und verlieren / So wirst du GOtt in dir (das wahre Eins) bald spüren. [Blumen=Gärtlein, I, 102, 1729, S. 36]
Dein
Gott, über allen Kategorien und Definitionsmöglichkeiten nur näherungsweise zu bestimmen, ist also das plotinische 4m, das absolut Eine, an dessen Natur der aus der Einheit gefallene und in seiner Gottebenbildlichkeit verunreinigte Mensch neue Teilhabe finden muß (Tersteegen verwendet dafür die homöopathische Formel des „Similia similibus“): Gleiches suchet sich, gleiches findet sich. GOtt ist die Einfalt selbst / sanft / rein / und abgeschieden / Uneingeschränckt / und still / stets freudig / und zufrieden: Tracht auch zu werden so / nach deinem tieffsten Grund / So wird dir werden GOtt und alle Warheit kund. [Blumen=Gärtlein, I, 42, 1729, S. 21] 60 Vorbericht Blumen=Gärtlein, 1729 (wie Anm. 2), S. 5.
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Wiederholt lassen die Formulierungen der Gedichte darauf schließen, daß der so liebenswürdig gesichert und behaust erscheinende Tersteegen mit Phasen tiefster Anfechtung und (anscheinend auch klinischer) Depression zu kämpfen hatte;61 der gesuchte Seelenstand der Einfalt und mystischen Einkehr wird oft genug im Optativ, wenn nicht gar im Irrealis formuliert: Wär ich so! Klein / und rein / und abgeschieden / Sanft / einfältig / still im Frieden / Willenloß / und innig froh; Ach / wär mein Gemüte so! [Blumen=Gärtlein, I, 20, 1729, S. 16] Sinbild eines Spiegels. Ach! möcht mein Hertz nur still / von allen Flecken rein / Durch Leyden schön polirt / gleich einem Spiegel / seyn! Wie lieblich würd in mir die Gottheits=Sonne strahlen! Wie bald würd sie ihr Bild in meinem Grund abmahlen! [Blumen=Gärtlein, I, 50, 1729, S. 23 f.]
Diese Optativ- und Irrealis-Struktur ist aber auch jenen Gedichten zuzudenken, die sie nicht explizit werden lassen. Klipp und klar und mit der ihm eigenen Ehrlichkeit warnt der Autor im Vorbericht, offenbar nicht bloß zur Abwehr des Vorwurfs geistlichen Hochmuts, vor einer Verwechslung des so reizend vorgestellten Sollzustands mit dem Ist-Zustand der Seele, mit einer schon geradezu literaturwissenschaftlichen Aufspaltung des sich in den Gedichten äußernden Ich zwischen dem Autor und dem inszenierten Rollensprecher : Noch dieses eine finde hochnöthig zu erinnern / daß wan ich etwa von einer etwas tieffen Warheit / oder gar reinen Seelen=Beschaffenheit rede / und dabey das Wörtlein ich gebrauche; daß ich alsdan nur rede in der Person einer solchen Seelen / die in solchem Stande und Erfahrung stehet / keineswegs aber mich selber davor ausgebe solches alles in würcklicher Erfahrung zu besitzen; Ob ich wol solche Warheiten / mit gnugsamer Gewißheit in göttlichem Licht / aus Gnaden erkant habe / welches aber von dem wesentlichen Genuß / Erfahrung / und von einem solchen Stande noch weit unterschieden ist. Es gehet mir gleichwie einem Krancken / der 61 Vgl. die Erörterungen der fünf der Blutverschreibung und dem Durchbruch zur Dichtung vorangehenden Depressionsjahre und späterer periodischer Anfechtungsphasen bei Nelle: Tersteegens Geistliche Lieder (wie Anm. 1), S. 229 f., 287, 291, Reinhardt: Mystik und Pietismus (wie Anm. 28), S. 186, Karl-Heinz Ehring: Die Gerhard-Tersteegen-Konferenz, Gladbeck 1969, S. 51, Zeller : Gesangbuch (wie Anm. 22), S. 192 f., van Andel: Tersteegen (wie Anm. 1), S. 20 f., della Croce: Tersteegen (wie Anm. 28), S. 22–24, Jaspert: Tersteegen (wie Anm. 41), Sp. 264 und 268 und Maletke: Tersteegen (wie Anm. 42), S. 16–19. Spiegelungen im Motivhaushalt bei Mohr : Tersteegens Leben (wie Anm. 23), S. 232–234.
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gerne von der Gesundheit höret und redet; Weil er (auch indem er kranck ist) die Gesundheit liebet und darnach verlanget: So rede ich auch bißweilen in diesen Reimen / von sehr geistlichen und innigen Warheiten; nicht als wan ich sie schon hätte / sondern weil ich sie / durch die Gnade GOttes / so köstlich und liebenswürdig erkenne / daß ich sie […] in mir zu erfahren verlange. [Blumen=Gärtlein, Vorbericht, 1729, S. 6 f.]
Begleitet wird dieser Passus noch von einer Fußnotenempfehlung der vom Autor selbst verdeutschten französischen Quietistenschriften, namentlich des Jean de BerniHres-Louvigny. Im Kirchenlied Verlangen der Seele wird auch dieses leidsam erfahrene Mit-sich-Uneinssein, die Gefährdung des Absturzes aus der Geborgenheit der „foi obscure“ in die Verlassenheiten melancholischer Verfinsterung den Mitsingenden zur Identifikation angeboten: Ich bin mir selbst zur Last / ich mag mich nicht mehr sehen / Wan werd ich / HErr / in dich im Glauben übergehen? Du helles Lebens=Licht / geh kräfftig auf in mir / Daß meine Finsternuß verschlungen werd in dir. [Blumen=Gärtlein, IV, 12, 1729, S. 199]
Was an Tersteegen bestrickt, die Liebenswürdigkeit und Aufrichtigkeit seiner Botschaft noch heute mitteilbar werden läßt, sind die leisen Töne, die Konzilianz und Toleranz seiner Verkündung. Seine eigenen separatistischen Neigungen deutet er kaum an und versucht sie schon gar niemandem aufzudringen – und wer Stellungnahmen wider die orthodoxen Dogmatiker und aufgeklärten Neologen anders beziehen will, behält dazu alle Möglichkeit. Er legt solches Stellungnehmen zu den Zwistigkeiten der Zeit in eine Exegese von Jes 8, 19: „Soll nicht ein Volck seinen GOtt fragen? Oder soll man die Todten für die Lebendigen fragen?“: Buchstab=Lehrer und Vernunfft sind die Todten die man fraget / Man hat GOtt nicht nöthig mehr / ob der Mund gleich anders saget / Immer fragt man / ohne Thun; äuß’res Lehren acht’t man gnug; Wan ein Hertz GOtt selber fragt / rufft Vernunfft / es sey Betrug. Seelen / kommt / GOtt lebet noch; Er will uns ja selber lehren; Soll man nicht die Lebenden lieber als die Todten hören? […]“ [Blumen=Gärtlein, III, 7, 1729, S. 127]
Ähnlich auch, wenn im späteren Zusatz zu Jer 7,22 vom Opferdienst, auch der öffentliche Kirchengottesdienst der eigenen Zeit mit seinen Zeremonien mitverstanden werden kann, aber nicht muß: Es hilft kein Schein= noch Opferdienst, Gott sucht nicht äußre Werke, Kehr in dich ein, und innig da auf Gottes Stimm nur merke:
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Du hörest sie, wenn alles still, Vernunft und Eigensinn; Nur gib dich in Gehorsam gar der Leitung Gottes hin.62
Wie sehr der stille Mystiker des Donnertons ermangelt, wird vielleicht am deutlichsten in den (in der Vorrede übrigens ganz auf die Hermeneutik der ,Berleburger Bibel‘ vom mehrfachen Schriftsinn gegründeten)63 poetischen Reflexionen über die alttestamentlichen Propheten offenbar, nämlich durch die erläuternde Ausblendung alles Gewaltsamen, mit dem die Vorgabe aufwartete. Hier, in der Domestizierung des waltenden Richtergottes und Herrn der Heerscharen64 zum Herzensfreund wird am ehesten die geistesgeschichtliche Nähe zum Rokoko wahrnehmbar – und der Abstand, der vom Kraftausdruck der Genieepoche doch noch trennt: Zu Jes 40,9 f.: „Hebe deine Stimme auf mit Macht / du gute Bottschafterin Jerusalems: […] Siehe der HErr HErr kommt gewaltiglich und sein Arm wird herrschen: Siehe sein Lohn ist bey ihm / und seine Vergeltung ist für ihm“ meditiert Tersteegen: Hast du auch die süsse Stimm / liebe Seel / in dir vernommen / Dieses Evangelium / daß GOtt selbst ins Hertz will kommen? [… ] Da dient man aus Liebe nur / und nicht an Vergelten dencket / Der hat Lohn und Himmel gnug / wem das höchste Gut sich schencket; Gib nur hin in seine Macht was du hast / und kanst und bist; Gib ihm ein dein gantzes Hertz; GOtt muß herrschen wo er ist. [Blumen=Gärtlein, III, 23, 1729, S. 139 f.]
In den lexischen Experimenten aber, den Worthäufungen, den kühnen Kompositionen und Neologismen, zu denen Tersteegen sich vorwagt, um die trotz aller Formelerbschaft verbleibende Sprachnot für mystische Erfahrung, das #qqgtom oder ineffabile, zu bemeistern, stiftet er vollgültig die Verbindung zwischen den mystisch-emphatischen Haufenwörtern der Catharina Regina von Greiffenberg und den empfindungs-ekstatischen des Sturm- und DrangGoethe. Das schon von der Barockpoetin erprobte Ineinanderverkeilen verschie62 Die Heilige Liebe GOttes. In: Terstegen’s geistliches Blumengärtlein (wie Anm. 3), S. 152. 63 Von Tersteegen in Erinnerung gerufen im Vorbericht zu seinen poetischen Propheten-Meditationen (Erstausgabe 1729, Drittes Büchlein, S. 118 f.). Vgl. Mohr : Leiden und Weisheit (wie Anm. 44), S. 257. – Um alle denkbaren Schattierungen schon des buchstäblichen Sinns voll zu ergreifen, hat Tersteegen, auch als Zitatgrundlage, neben der wegen ihrer Wörtlichkeit von ihm besonders geschätzten NT-Version des Johann Henrich Reitz (Offenbach 1703 u. ö.) auch die kanonischen Eindeutschungen der verschiedenen Konfessionen, die die Wandsbeker „Biblia Pentapla“ (freilich gegen alle Zensurordnungen) im Synopsendruck nebeneinanderstellte, zu Rate gezogen. Vgl. die Nachweise der Einleitung zur kritischen Ausgabe Tersteegens: Geistlichen Reden (wie Anm. 26), S. XII, XXII und die Hinweise bei Nelle: Tersteegens Geistliche Lieder (wie Anm. 1), S. 238, van Andel: Tersteegen (wie Anm. 1), S. 158 f. Zum damit verbundenen philadelphischen Toleranzprogramm vgl. Schrader: Lesarten der Schrift (1996, L 20), im vorliegenden Band S. 285–305. 64 Vgl. Blumen=Gärtlein, 1729 (wie Anm. 2), S. 158 f., Betrachtung XLIV zu Jes 54, 5.
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dener Begriffe und Assoziationen durch die Zusammenzwingung von übereinandergesetzten, mit Schweifklammern verbundenen Wörtern vom Typus
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O JEsu Sophia du allein Du solt mein Schatz / mein Guth / mein Trost / mein Alles seyn. [Blumen=Gärtlein, I, 31, 1729, S. 19]
Was wähl ich mir dan nun?
(ohne daß ein lautes Lesen dem gleichzeitigen Zugriff des Auges zu folgen vermöchte) verbindet Tersteegen mit den Inspiriertenpoeten am radikalsten Flügel des pietistischen Spektrums, namentlich Johann Friedrich Rock, mit dem er auch seine Lyrik-Poetologie zwischen göttlicher Einsprache und eigentätiger Ausgestaltung teilt.65 Ebenfalls wie die Greiffenberg stiftet er aber auch eine Serie von bildkräftigen Neologismen, die zwar noch nicht mit der Ballungsgewalt goethesch-prometheischer „Knabenmorgenblütenträume“ dahergestürmt kommen, aber doch ebenso voneinander getrennte Abstraktvorstellungen vollkommen verständlich zu verbinden vermögen und so dem Ausdruck bisher unsagbare Nuancen erschließen, ohne der Zauberkraft evokationskräftigster Grundwörter zu entsagen. Christi Blut als „Liebs=Tinctur“ (I, 92, S. 33) erscheint noch am fremdesten und gesuchtesten, war aber den Zeitgenossen aus der alchimistisch-pharmazeutischen Bildsphäre problemlos zugänglich.66 Die „Gottheits=Sonne“ (I, 50, S. 24) wird schon im Grimmschen Wörterbuch als mystische Reaktivierung Tersteegens belegt67 – und all deren Glanz ermessen wir im Adjektiv „funckel=rein“ (Lied XVI, Str. 6, S. 207). Aber auch sonst werden Tersteegensche Kernbegriffe durch neuartige Verbindungen gleichermaßen ursprungsfrisch der bildhaften Wahrnehmung und begriffserschließenden Meditation zugeführt: Das Deutsche Wörterbuch kennt keine früheren Belege etwa für das „Einfalts=Auge“ (I, 86, S. 32 und I, 163, S. 52), den „Einfalts=Grund“ (als Ort ungetrübter Gotteserkenntnis, I, 145, S. 47) oder „Einfalts=Sinn“ (I, 119, S. 40), für „Creaturen=Trost“ (I, 125, S. 42) und „Creaturen=Liebe“ (I, 94, S. 34), „Liebes=Ehrfurcht“ (I, 134, S. 44) oder „Creutzes=Kinder“ (Betr. XLII, S. 153). Das von Tersteegen wiederholt, auch im Gedichttitel, verwendete „Haupt=Geschäfft“ (Titel I, 158, Unser Haupt=Geschäfte und Geistl. Lied II, Str. 10, S. 173) ganz schon im Sinne einer vordringlichen, alle Anspannung erfordernden Aufgabe, könnte aus Tersteegens Blumen=Gärtlein zu Goethe gelangt sein, dessen Lieblingswort es bekanntlich im Alter wurde. Denn nur das in gleichem Sinne auch von Tersteegen verwendete „Haupt=Werck“ (I, 65 Vgl. Hinweise bei Mohr: Tersteegens Leben (wie Anm. 23), S. 228, v. a. das Kapitel über Rocks Lyrik bei Schneider: Propheten (wie Anm. 38), S. 108–126. 66 Der Begriff „Liebestinctur“ wird übrigens von Zinzendorf aufgegriffen, vgl. die Nachweise und Erläuterungen zu „tingieren, Tinktur“ bei Langen: Wortschatz (wie Anm. 25), S. 74, 411. 67 Jacob und Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch, Bd. IV, Abt. 1, Teil 5, Leipzig 1958 (dtvNeudruck, Bd. 8, München 1984), Sp. 1347.
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164, S. 52) ist schon früher, bei Luther, nachgewiesen.68 Wenn aber in den Versen Geh gründlich aus dich aus / und innig in Ihn ein / So wirst du ewiglich des Höchsten Lustspiel seyn. [Blumen=Gärtlein, I, 99, 1729, S. 36]
die von den Pietisten so arg gescholtene Komödie assoziativ mitaufgerufen wird, indem doch das „Lustspiel“ hier (mit durchaus erotischer Konnotation) wieder zum Spiel der Lust zwischen dem Seelenbräutigam und der ihm bräutlich begegnenden Seele auf seine semantischen Ursprünge zurückgeführt wird,69 sehe ich diesen Gebrauch doch von jenem leisen und freien Hauch der Ironie umwittert, der ganz undenkbar wäre ohne die zuvor konstatierte „moderne“ Mehrschichtigkeit der Persönlichkeit, und auf den ich abschließend als Tersteegen ganz eigentümlich (und doch bisher noch nie erwogen) hinweisen möchte. Ein abständig-freier, sich über alles Bedingte unendlich erhebender Blick, ein den heiligen Ernst der Botschaft gar nicht beeinträchtigendes, den Zugang zu ihr aber entschieden erleichterndes frühes Vermögen zum „ridendo dicere verum“ scheint mir die heitere Folie von Tersteegens Verzicht auf alles Donnerpathos – und vielleicht seine eigenste Zutat zu der an den Idealismus weitervermittelten Tradition mystischer Poesie. Solche selbstironische Freiheit auch gegenüber dem für würdig Erachteten leuchtet auch hervor, wenn Tersteegen seinem Verleger über den Erfolg des Blumen=Gärtlein mitteilt: „Ich kan schon sehen, daß der Engel was auf die Blümlein giesset, mögten alle leser es nur so guth fühlen“,70 wenn er einem andern Freund die Abenteuer eines Ausritts erzählt: „Ich wollte unlängst den Helden agieren und ließ beim Reiten nach Duisburg – weil mich etwas verspätet – das Pferd im Walde den Trab gehen“71 oder, wenn er aus seiner Blüten- und Kräuteroffizin eine allegorische Rezeptmixtur anempfiehlt für rechte Christliche Salbung 1 Loth Traurigkeit, 30 Loth Geduld, 20 Loth Mäßigkeit, 15 Loth tiefe Demut, 30 Loth Freigebigkeit. 68 Ebd., IV, 2 1877 (Neudruck, Bd. 10, München 1984), Sp. 638. Vgl. Langen: Wortschatz (wie Anm. 25), S. 31 f., 376 f., wobei der jüngere Beleg aus den Bogatzky-Liedern gar nicht als Mittler zu Goethe benötigt wird. 69 Vgl. Jacob und Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch, Bd. VI, Leipzig 1885 (Neudruck Bd. 12, München 1984), Sp. 1331. In pietistischer Verwendung, bei Spener, Arnold, Reitz und Zinzendorf, häufiger belegt, vgl. Langen: Wortschatz (wie Anm. 25), S. 300, 453. 70 An Johann Schmitz, Heiligabend 1749: Gerhard Tersteegen und die Familien Schmitz in Solingen (wie Anm. 33), S. 169. – Vgl. auch die Beispiele Tersteegenscher Ironie in Horst Neeb: Tersteegens Freundeskreise im Raume Solingen und Niederberg. In: Gerhard Tersteegen. Evangelische Mystik inmitten der Aufklärung (wie Anm. 1), S. 135–160. 71 Pfingstmontag 1761, publiziert bei Gustav Lauterfeld: Tersteegen und sein Lied. In: Macht der Liebe. Gerhard Tersteegen (wie Anm. 24), S. 43.
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Dieses alles stoße durcheinander in dem Mörser des starken Glaubens mit dem Stampfer der Standhaftigkeit, streue darein 12 Pfund Hoffnung, tue es in die Pfanne der Gerechtigkeit, setze es auf das Feuer der göttlichen Liebe und rühre es mit dem Löffel des andächtigen Gebetes; gieße es hernach in das Geschirr der Beständigkeit, mache es wohl zu, daß der Schimmel der eitlen Ehre nicht dareinkommt; mit dieser Salbe schmiere dich täglich morgens und abends, es wird helfen.72
Ich enthalte mich, um die feine Balance zwischen der ernstbleibenden Aussage und dem schalkhaften Augenzwinkern seiner poetischen Präsentation nicht pedantisch zu zerreden, für ein paar Beipiele des kommentierenden Unterbrechens, um die köstlich auf der Zunge zergehenden kalkulierten kleinen Laxheiten im Ausdruck hervortreten zu lassen, etwa für eine sich in das ,Sünden-Ding‘ ,vergaffende‘ Seele oder ein solches Engelzungen-Zeugma wie „Trost und Süßigkeiten“. Selbst=Verläugnung besser als Gaben. Offenbahrung / Wunder=Gaben / Trost / und Süßigkeiten haben; Ehre / Welt / und Geld verachten / Vieles wissen / und betrachten / Fasten / Lesen / Singen / bäten / Und mit Engel=Zungen reden; Alles dieses acht ich nicht / Wo man nicht den Willen bricht. [Blumen=Gärtlein, I, 30, 1729, S. 18]
oder Traue der Schlangen nicht Sünd ist ein listig Ding / sie macht sich Anfangs klein Sie schmeichelt sanft und süß / und kommt in schönem Schein: Hernach so wird sie groß und greulich im Gesicht; Vergaff dich nicht / o Seel! laß ihr den Willen nicht. [Blumen=Gärtlein, I, 138, 1729, S. 45]
Und als späterer Zusatz, ein Lied auf den 150. Psalm: Der Thaten Gottes sind sehr viel, Unzählig, neu und alt, Die sind der Text zum Harfenspiel, Das hier und droben schallt. 72 Aus einem Tersteegen-Schriftstück mit der Aufschrift „Universalmedizin“ in modernisierter Schreibweise (und leider ohne Fundortnachweis) publiziert ebd., S. 44, danach auch bei Maletke: Tersteegen (wie Anm. 42), S. 91.
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Was für ein Instrumentenklang Im Heiligthum ertön Bei aller Heilgen Lobgesang, Will ich dort hörn und sehn. Doch kommts Gott nicht aufs Harfen an, Der Ton ist viel zu matt; Es lobe ihn, was loben kann, Und einen Athem hat.73
Ich hoffe, dieser Gang durch das Blumen=Gärtlein, das Beschauen seiner Beete, Betrachten und Beriechen der einen oder anderen Blüte und das Erwägen der ihnen inhärenten heilsamen oder wohltuenden Essenzen hat von der Triftigkeit der Eingangshypothese überzeugen können. Gerhard Tersteegen, auch wenn er sich selbst so verstanden haben mag, ist ein Dichter nicht nur für die Zirkel der Erbauungsbegierigen. Seine Gedichte sind, um einen Lieblingsbegriff des ihm fernstehenden Karl Barth umzumünzen,74 ein Wortereignis. Für Liebhaber von geistvoller und formschöner Lyrik überhaupt sollte er wieder zugänglich werden. Wenn wir die kritische Ausgabe erst haben, mögen die Auswahlen, die Anthologien und auch die unsere Hinsicht schärfenden Auslegungen folgen. In freilich scherzhafter Umkehrung des geläufigen Verständnisses hat Tersteegen sein Sprecher-Ich im Blumen=Gärtlein selbst bekunden lassen, daß es unter Gottes Hut gegenüber der Welt doch recht was Großes sei. Wir dürfen denke ich, dem Autor, der zu gutem Schluß das Wort behalten soll, auch vor der Welt ein gleiches Zeugnis geben: Ich bin auch was Grosses. GOtt selbst mein Vatter ist; ich bin des Sohnes Braut; Sein Geist das Pfand und Band wodurch ich ihm vertraut; GOtt hat mir mehr geschenckt als allen Seraphinen; Die Engel stetig mich begleiten und bedienen; Ich habe was ich will; die gantze Welt ist mein; Die Hölle fürchtet mich; ich fürchte GOtt allein; Im Himmel wandel’ ich als eine Königin: Sag / armes Welt=Kind / ob ich nicht was Grosses bin? [Blumen=Gärtlein, I, 54, 1729, S. 24 f.]
73 Lied 116, Str. 3–5. In: Terstegen’s geistliches Blumengärtlein (wie Anm. 3), S. 704. 74 Knappe Zusammenfassung von Barths wandlungsreicher Einstellung zu Tersteegen bei Jaspert: Tersteegen (wie Anm. 41), Sp. 269.
Zinzendorf als Poet* [2005, L 40]
Anders als die Liederdichter des Pietismus insgemein scheint sich Zinzendorf im Gesangbuch der Evangelischen Kirche bis heute einer vergleichsweise günstigen Konjunktur zu erfreuen. Gegenüber den im Evangelischen Kirchengesangbuch (EKG) der Nachkriegsjahre noch 79 den Vorläufern sowie den Dichtern des lutherischen Pietismus, der Brüdergemeine und des reformierten Pietismus zugeordneten Texte erscheinen im 1994 eingeführten Evangelischen Gesangbuch (EG) von diesen Autoren nur mehr 62 Lieder.1 Angesichts der dabei um ein Drittel erhöhten Gesamtmenge des Liedguts bedeutet dies eine Abnahme pietistischer Kirchengesänge von 16,38 % auf nur noch 9,62 %. Dichter vom Rang (und von der theologischen Bedeutung) von Heinrich Müller oder Joachim Lange, Christian Friedrich Richter oder Friedrich Adolf Lampe sind dabei ganz aus dem Gesangbuch verschwunden, zuvor dort mehrfach Vertretene wie Gottfried Arnold, Ludwig Andreas Gotter oder Johann Jacob Rambach müssen sich mit halbierter Präsenz – meist nur einem Lied – bescheiden. Zinzendorf dagegen kommt mit fünf (statt vorher vier) aufgenommenen Stücken die Kategorie „leicht steigend“ oder doch „fest behauptet“ zu: eine dergestalt vermehrte Berücksichtigung haben unter den Pietisten sonst nur sein herrnhutischer Nachfolger und Bearbeiter Christian Gregor2 und auf reformierter Seite der (auf Kosten Gerhard Tersteegens) mit zwei zusätzlichen Liedern präsente Joachim Neander3 erfahren. * Vortrag zur Tagung der Historischen Kommission zur Erforschung des Pietismus anläßlich des 300. Geburtstags des Grafen Zinzendorf im Oktober 2000 in Herrnhut, zugleich Grundlage (Präsentation der Hauptbefunde mit Verlesung der Textdokumente) zur Rundfunksendung von Christian Pietscher, „Eine der schillerndsten Gestalten des Protestantismus – Nikolaus Graf von Zinzendorf“ im Deutschlandfunk am 4. August 2010. 1 Der Vergleichbarkeit wegen beziehe ich mich bei der Berechnung auf die Ausgaben derselben Landeskirche. EKG: Evangelisches Kirchengesangbuch. Ausgabe für die evangelisch-lutherischen Kirchen Niedersachsens, Hannover, 4. Aufl., Hannover – Göttingen 1952. EG: Evangelisches Gesangbuch. Ausgabe für die Evangelisch-Lutherischen Kirchen in Niedersachsen und für die Bremische Evangelische Kirche, Hannover – Göttingen 1994. – Weit stärker freilich ist Zinzendorfs Lieddichtung im aktuellen Herrnhuter-Gesangbuch vertreten geblieben: Im „Gesangbuch der Evangelischen Brüdergemeine“. Hg. von der Evangelischen Brüder-Unität / Herrnhuter Brüdergemeine Bad Boll – Herrnhut – Zeist, Basel 2007 finden sich (ebenfalls stark bearbeitet) hundert Zinzendorf-Lieder (Nachweis Anhang, S. 248). 2 Zu Gregor und der Goetheschen Kontrafaktur seines pennsylvanischen Missions-Reiselieds vgl. auch Paul Raabe: Separatisten, Pietisten, Herrnhuter. Goethe und die Stillen im Lande, Halle 1999
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Beim Aufschlagen der Zinzendorf zugeordneten Lieder wird man allerdings rasch inne, daß hier günstigstenfalls ein stark vermittelter Eindruck vom Wortlaut des Poeten zu gewinnen ist. Nur die erste Strophe von Lied 198 Herr, dein Wort, die edle Gabe von 1725 gehöre ihm, sagen die (gegenüber dem EKG weithin präzisierten) Verfasserangaben am Liedschluß, die folgende sei eine Neanderbearbeitung Gregors aus dem Jahr 1778. Das Lied 251 Herz und Herz vereint zusammen findet man gleich zweifach überarbeitet: die wiederum Gregorsche Version wurde 1837 von Albert Knapp nochmals umgeformt.4 So sei Nr. 254 Wir wolln uns gerne wagen zusammengesetzt aus Strophen unterschiedlicher Zinzendorf-Lieder, Nr. 350 Christi Blut und Gerechtigkeit eine von Gregor redigierte Kontamination mit einem schon 62 Jahre vor Zinzendorfs Geburt entstandenen Leipziger Text, schließlich Nr. 391 wiederum eine Gregorsche Bearbeitung fast zwei Generationen nach Zinzendorfs Dichtung. Vergleicht man aber all diese noch heute in der evangelischen Christenheit deutscher Zunge gesungenen Lieder mit der gleichsam kanonischen Version des Herrnhuter Gesangbuchs (als Christliches Gesang=Buch der Evangelischen Brüder=Gemeinen in „durchaus revidirt[er]“ 3. Auflage von 1741 mit den XII Anhängen sowie deren Zugaben aus den Folgejahren), dann sieht man, daß in den heute präsentierten Zinzendorf-Liedern unter seinem Namen nur mehr (Katalog der Franckeschen Stiftungen, Bd. 6), S. 88–91; die Texte sind auch aufgenommen und kommentiert in Johann Wolfgang von Goethe: Träume und Legenden meiner Jugend. Texte über die Stillen im Lande. Hg. von Paul Raabe, Leipzig 2000 (Kleine Texte des Pietismus, Bd. 3). 3 Vgl. die kommentierte Textausgabe seines wirkungsreichsten Zyklus, Joachim Neander: Einfältige Bundeslieder und Dankpsalmen. Hg. von Rudolf Mohr, Leipzig 2000 (Kleine Texte des Pietismus, Bd. 4). 4 Die Tendenzen der Gregorschen „Sichtung“ wie auch der Knappschen Überarbeitung werden mit Verständnis für ihre Motive, aber doch Mißbilligung der Resultate bereits in der zum 200. Zinzendorf-Geburtstag herausgegebenen Lyrik-Sammlung umrissen, die ihrerseits neue Mischfassungen und glättende Varianten präsentiert: Geistliche Gedichte des Grafen von Zinzendorf. Eine Auswahl zur Erinnerung an den Tag seiner Geburt vor zweihundert Jahren. Hg. von H[ermann] Bauer und G[uido] Burkhardt, Leipzig 1900, S. VIIIf. – Vgl. auch die Angaben zu diesem Lied in der Exponatbeschreibung des Ausstellungskatalogs: Graf ohne Grenzen. Leben und Werk von Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf. Ausstellung im Völkermuseum […] und im Heimatmuseum der Stadt Herrnhut […] 2000 bis […] 2001 (Red.: Dietrich Meyer, Paul Peucker und Karl-Eugen Lagerfeld), Herrnhut 2000, S. 188. Als eines der bekanntesten Lieder des Grafen ist „Herz und Herz“ (freilich in bearbeiteter Version) auch aufgenommen in der kleinen Anthologie von Versen und Sprüchen: Die Liebe wird uns leiten. Worte und Lieder des Grafen Zinzendorf. Hg. von Günter Balders, Wuppertal – Kassel 1991 (Oncken MiniBücher), S. 22–25. Dietrich Bonhoeffers Bearbeitung lehnt sich, kritisch gegenüber dem gemeindeuntauglichen Zinzendorfschen Originaltext, bewußt an Gregors Fassung an. Vgl. Matthias Meyer : Dietrich Bonhoeffers Impulse durch Zinzendorf und die Brüdergemeine. In: „Alles ist euer, ihr aber seid Christi“. Festschrift für Dietrich Meyer. Hg. von Rudolf Mohr, Köln – Bonn 2000 (Schriftenreihe des Vereins für Rheinische Kirchengeschichte, Bd. 147), S. 919–957, hier bes. S. 925, 927 f., 932–935. Bonhoeffer, dem etliche Zinzendorf-Lieder viel bedeuteten, fand doch andere „schwärmerisch“ und „hart am Rande des Fleisches“ (vgl. ebd., S. 933); „ein modriger Untergrund dieser Frömmigkeit“ stieß ihn ab (Brief an Eberhard Bethke vom 31. Juli 1936, vgl. Eberhard Bethke: Dietrich Bonhoeffer. Theologe – Christ – Zeitgenosse, München 1967, S. 538).
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Rudimente präsent geblieben sind.5 Denn die Eingriffe gehen weit über das bei der Redaktion historischer Kirchengesänge für den stets aktuellen Gemeindegebrauch übliche (prinzipiell sicher auch notwendige) Maß hinaus, verändern den Ursprungstext fast bis zur Unkenntlichkeit durch ein massiv auswählendes Zusammenziehen einzelner Strophen oder kombinierter Strophenteile, durch sprachliche Modernisierung mit bisweilen sogar sinnveränderndem Austausch von schwerverständlich oder dem heutigen Geschmack anstößig gewordenen Wörtern und Wendungen, aber auch durch theologische Revisionen in Rücksicht auf das juste milieu unserer Zeiten. Ich kann hier verweisen auf Hans-Christoph Hahns Hinweise zu den Verstümmelungen der Lieder Zinzendorfs in der Geschichte ihrer Transformation.6 Wie grundlegend über das in der Revision für die je aktuelle Singepraxis normale Bearbeiten hinaus Zinzendorf als der zweifellos schon früh am radikalsten Zensurierte unter unseren bekannten Kirchenlieddichtern in Form und Aufbau seiner Lieder, in der sprachlichen Gestalt und bildlichen Kraft, aber auch in der Aussage und dogmatischen Besonderheit umgemodelt wurde, bedürfte noch einer grundlegenden Untersuchung. Nur zum Exempel kann ich die Ausmaße umreißen an den beiden heute bekanntesten Liedern, die das Gesangbuch noch unter seinen Namen stellt. Jesu, geh voran auf der Lebensbahn! – so hat der Hymnus des Grafen nie geheißen. Vielmehr begann so erst die zehnte Strophe seines Lieds 415 im Herrnhuter Gesangbuch (SEelen=Bräutigam, o du GOttes=Lamm), aus dem, ergänzt um einen Fremdzusatz als zweite Strophe, auch die ursprünglichen Strophen 4 und 11 als neue Strophen 3 und 4 entlehnt wurden. Die harsche Zusammenziehung und Mengung, für die man sich durchaus berufen könnte auf Zinzendorfs eigenes Adaptionsverfahren7 gegenüber allem, was ihn selbst in der Tradition als erbaulich ansprach, kappt freilich höchst belangvolle 5 Zitate im folgenden nach der Reprint-Ausgabe: Herrnhuter Gesangbuch. Christliches GesangBuch der Evangelischen Brüder-Gemeinen von 1735 zum drittenmal aufgelegt und durchaus revidirt, Teil I. Mit einem Vorwort von Erich Beyreuther und Gerhard Meyer und einer Einleitung […] von Gerhard Meyer. [Lieder 1–972]; Teil II. Anhang I–XII [Lieder 973–2156]; Teil III. Zugabe [Lieder 2157–2355]. Mit einem Verfasserverzeichnis von Gudrun Meyer-Hickel, Hildesheim – New York 1981 (Zinzendorf. Materialien und Dokumente, Reihe 4, Bd. III/1–3); hier das „Verfasserverzeichnis zum Herrnhuter Gesangbuch von 1735 von Gudrun Meyer geb. Hickel“ als typoskriptgesetzter Anhang mit eigener Paginierung (S. 1–267) im Bd. III,3. Gerhard Meyer : Einführung in Zinzendorfs dichterisches Schaffen, ebd., S. VII–LXVII, hier S. IX und XL, reflektiert, was bei solcher „Säuberung“ eliminiert bzw. insbesondere von „Christian Gregor, dem großen Umdichter, und Spangenberg, dem großen Säuberer“ verballhornend „verbessert“ wurde. 6 Hans-Christoph Hahn: Das Bild Zinzendorfs nach seinem Tode. In: Neue Aspekte der Zinzendorf-Forschung. Hg. von Martin Brecht und Paul Peucker, Göttingen 2006 (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus, Bd. 47), S. 256–271. 7 Beispielhaft ausgeführt etwa für das Lied „Christi Blut und Gerechtigkeit“ (vgl. EG, Nr. 350) in Joseph Theodor Müller : Hymnologisches Handbuch zum Gesangbuch der Brüdergemeine. Reprint der Ausgabe Herrnhut 1916, Hildesheim – New York 1977 (Zinzendorf. Materialien und Dokumente, Reihe 4, Bd. IV), S. 87.
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Aussagen des Lieds. Über die verbliebene Selbstermunterung zur Pilgerschaft durch die Welt in der leidsamen Imitatio Christi hinaus war da nicht nur ein weit aktivistischerer Appell zu streiterlicher Ritterschaft, sondern auch ein mystisch-inbrünstiger Liebeston erklungen: JEsu, süsse Lust, aus der Liebes=brust! Nimm mich ein in deine stille: ein genuß aus deiner fülle macht mich seliger als ein wollust=meer.8
Überdies sind alle Ich-Appelle in Wir-Gebete umgewandelt; aus todessehnsüchtigem „nimm mich bey der hand, j weg zum vaterland“ wird – als Projektion in eine ungewisse Zukunft – „führ uns an der Hand j bis ins Vaterland“.9 Und die Anrede „Liebster“ ist ebenso in das (nach Zinzendorfs sonstigem Gebrauch) als Vokativ gedachte „Jesu“ konventionalisiert, wie die doch gemeinhin namengebende erste Strophe offensichtlich wegen ihrer allzu barock anmutenden Apostrophen „SEelen=Bräutigam“ und „GOttes=Lamm“ weichen mußten. Die noch weit massiveren Umbauten von Herz und Herz vereint zusammen (EG 251) nach der Gregor-Knappschen Doppelrevision gehen in dieselbe Richtung. Wenngleich aus dem im Herrnhuter Gesangbuch achtstrophigen Gedicht, das der Dreiundzwanzigjährige ursprünglich der sächsischen Regierung zugeeignet und variantenreich auf zehn Strophen erweitert hatte,10 immerhin ein siebenstrophiges Lied (mit sechs Anlehnungen und einer vorbildlos hinzugesetzten Strophe) erhalten ist, ist kaum ein Stein auf dem andern geblieben. Eine Gegenüberstellung nur der ersten drei Strophen in der heutigen Kirchengesangfassung und in Zinzendorfs Version im Herrnhuter Gesangbuch mag das beispielhaft veranschaulichen:
8 Herrnhuter Gesangbuch (wie Anm. 5), Nr. 415, Str. 3 (Teil 1, S. 371). Zur Entstehung des Gedichts schon in Zinzendorfs Jugend zwischen 1719 und 1721 als Gelegenheitspoem auf Sophie Christiane von Brandenburg-Bayreuth-Culmbach, vgl. Gudrun Meyer-Hickels „Verfasserverzeichnis“, ebd., Teil III, S. 97. Ich zitiere die Lieder im Gegensatz zum fortlaufenden Druck der Gesangbücher in ihrer verslichen Gedichtstruktur. Beim Zitieren nur weniger Verse ohne Einzug im laufenden Text markiere ich die Versgrenzen durch senkrechte Markierungsstriche j. Für die Liedstrophen verwende ich (zur Unterscheidung von deren Einzelversen) nicht die kirchenübliche Bezeichnung „Vers“, sondern die Terminologie der Lyrik-Analyse. 9 EG (wie Anm. 1), Nr. 391. 10 Meyer-Hickel: Verfasserverzeichnis (wie Anm. 5), S. 125, vgl. die Detailnachweise der Drucke bei Müller: Hymnologisches Handbuch (wie Anm. 7), S. 147.
Zinzendorf als Poet Heute ist zu singen: [EG]
Zinzendorf aber hatte gedichtet: [HG]
1. Herz und Herz vereint zusammen sucht in Gottes Herzen Ruh Lasset eure Liebesflammen lodern auf den Heiland zu. Er das Haupt, wir seine Glieder, er das Licht und wir der Schein, er der Meister, wir die Brüder, er ist unser, wir sind sein.
1. HErz und herz vereint zusammen sucht in GOttes herzen ruh, keusche liebes=geistes=flammen lodern auf das Lämmlein zu; das vor jenes Alten throne in der blut=rubinen pracht, und in seiner unschulds=krone sich den seinen herrlich macht. Offenb. 5.
2. Kommt, ach kommt, ihr Gnadenkinder und erneuert euren Bund, schwöret unserm Überwinder Lieb und Treu aus Herzensgrund; und wenn eurer Liebeskette Festigkeit und Stärke fehlt, o so flehet um die Wette bis sie Jesus wieder stählt.
2. Kommt / ach kommt, ihr gnaden=kinder richtet wieder auf den bund, schweret unserm Überwinder : er sey GOTT, und wir sein mund: er das Haupt, wir seine glieder : er das Licht, und wir der schein: bringt er Canaan herwieder, ey! so nehmen wir es ein. […]
3. Legt es unter euch, ihr Glieder, auf so treues Lieben an, daß ein jeder für die Brüder auch das Leben lassen kann. So hat uns der Freund geliebet, so vergoß er dort sein Blut; denkt doch, wie es ihn betrübet, wenn ihr euch selbst Eintrag tut.
3. Aber unter euch, ihr glieder haltet es auf diese maaß, daß vor seinen freund ein jeder gerne leib und leben laß.* So hat uns der Freund geliebet, so zerschmolz er dort in blut: denkt doch, wie es ihn betrübet, wenn ihr euch selbst eintrag thut: * 1 Joh. 3. v. 16
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Wo die Anstöße liegen, die das auswählende Zusammenschneiden der Strophen und die Eingriffe in Bilder und Diktion regieren, läßt sich an dieser Probe recht gut erkennen. Weniger die historische Ferne der Sprache erzwingt den Eingriff für die heutige Anverwandlung in der Gemeinde: denn sehr ist zu bezweifeln, ob man noch mit allgemeinem Verständnis rechnen darf für die Formel von „unserm Überwinder“ in bezug auf Christus (keineswegs freilich in der vom heutigen Sprachgebrauch nächstliegenden Bedeutung, er habe uns überwunden, sondern im weithin obsolet gewordenen Dativ ethicus: er hat für uns [Sünde und Tod] überwunden), für das lexisch ausgestorbene „sich Eintrag tun“ im Sinne von sich selbst schädigen, sogar für das dem Zinzendorf-Text substituierte Ersatzbild einer wieder zu „stählenden“ Liebeskette.
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Vielmehr sind es die für alle frommen Konventionen des Gemeindegesangs zumutungsreiche, bisweilen unerträgliche Kühnheit der Zinzendorfschen Wortprägungen, die Sprunghaftigkeit seiner Gedankenführung, die Kraßheit seiner Metaphern, aber auch die Anstößigkeit der dadurch mit buchstäblicher Bildkonsequenz angedrungenen Lehrpositionen, die so ungewöhnlich weitreichende Umbauten regiert haben. Wenn Gott-Vater – in Übernahme seiner Benennung Dan 7,22 in Luther-Bibeln des 18. Jahrhunderts – unter den Begriff „jenes Alten“ fällt, ist das heute für ein singendes Gemeinschaftsbekenntnis zweifellos ebenso ein Skandalon wie die zunehmend terminologisch, also unmetaphorisch gebrauchte Jesus-Apostrophierung als „das Lämmlein“ (ungewöhnlich genug ist uns ja schon seine Bezeichnung als „der Freund“ geworden und gewagt das Bild, daß er am Kreuz „zerschmolz“, also zerronnen sei). Daß wir Gottes Sprachrohr seien, er der „Herwiederbringer“ Canaans (in deutlicher Begriffsanlehnung an die dogmatisch bedenkliche ApokatastasisLehre nach Apg 3,21) erscheint um der Nähe zu radikalpietistischen und inspirierten Positionen willen supprimiert und ebenso der Appell an freudige Märtyrerbereitschaft. Allerdings ersetzt das von den Überarbeitern hierfür eingesetzte Gern-Sterben „für die Brüder“ (in Aufnahme des Bezugs auf 1Joh 3,16) Zinzendorfs Imitatio-Bild durch ein aus heutiger Sicht weit skandalöseres, der Gemeinschaft verpflichtetes „dulce et decorum“-Pathos des 19. Jahrhunderts. Im Ausmerzen von neologisch-krassen Bildprägungen für Zinzendorfs Streitertheologie, den keusch-lodernden „Liebes-Geistes-Flammen“ oder der nachzueifernden „Unschulds-Krone“ wird ebenso ein Sondergut eliminiert, das für das Singe-Bekenntnis der Gemeinde offenbar als anstößig befunden wird, wie mit der Streichung des hochbarocken Bilds der Blutrubinen-Pracht seine überplastische Ausmalung der Gnadenlehre mittels eines Anteilgewinnens an Blut und Wunden der Passion. Hier liegt offenbar auch der Grund für das Weglassen der dogmatisch zentralen Strophe vom Gottes Zorn geradezu wegschwemmenden Abwaschen der Erbsünde in Herz und Herz vereint zusammen: Nichts, als nur des Bräut’gams stimme sey die regul unsrer that, weil er nicht mit löwen=grimme uns in staub getreten hat, sondern mit gehäuften strömen seines bluts den zorn ertränkt. Ey! wer will sich nicht bequemen, daß er sich ihm wiederschenkt.
Ebenso offensichtlich liegt in der Kraßheit solcher Bilder der Grund auch für die vollständige Nichtberücksichtigung der produktivsten und originellsten Phase der Zinzendorfschen Lieddichtung für die Gesangbuch-Auswahl, in der just solche Züge noch gehäufter und drastischer zum Ausdruck gelangen. Die Rede ist freilich von den für Zinzendorfs poetische Neuerungen nach heute
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allgemeiner Auffassung unkonventionellsten Jahren 1743–1750, von der sogenannten ,Sichtungszeit‘ der Gemeinschaft in der Wetterau.11 Wenn also in den allgemeinen Kirchengesangbüchern bis heute Zinzendorfs Namen vergleichsweise gut, der Wortlaut und Geist seiner Lieder dagegen (nicht allein in Rücksicht auf den winzigen hier überhaupt nur fortlebenden Prozentsatz seines lyrischen Gesamtschaffens) äußerst schlecht und schon gar nicht repräsentativ vertreten ist, dann deutet dies wohl an, daß man zwar dem charismatischen Kirchenmann, Gemeinschaftsgründer und Missionsorganisator ein bereitwilliges Gedächtnis zollt, daß man seine hochindividuelle Originalpoesie aber nicht – jedenfalls nicht mehr – für gemeinschaftssangbar hält. Die Gattung des gemeinsame Glaubensüberzeugungen aussprechenden Kirchenliedes scheint tatsächlich durch den spezifischen Gestus und die Funktion dieser Texte verfehlt zu werden. Denn schwer ist zu leugnen, daß die originalen Lieder zu großen Teilen ohne die wohlmeinenden Retuschen der entschärfenden Bearbeiter jede durchschnittlich heterogene Pfarrgemeinde überfordern müßten, daß also auch die Herausgeber der Jubiläumsausgabe der geistlichen Gedichte Zinzendorfs vor hundert Jahren recht hatten, wenn sie die neuerliche Textredaktion ihrer ja weder Historikern noch Literarhistorikern zugedachten Auswahl begründeten: 11 Vgl. schon den entsprechenden Passus bei Gerhard Meyer : Einführung in Zinzendorfs dichterisches Schaffen. In: Nikolaus Ludwig von Zinzendorf: Teutsche Gedichte. XII. Anhang und Zugaben I–IV zum Herrnhuter Gesangbuch (Zinzendorf. Ergänzungsbände zu den Hauptschriften. Hg. von Erich Beyreuther und Gerhard Meyer, Bd. II), Hildesheim 1964, S. LVIIf. Als erste gründliche literaturwissenschaftliche Analyse liefert ein neues Fundament die auf dieses Textcorpus konzentrierte Dissertation von Jörn Reichel: Dichtungstheorie und Sprache bei Zinzendorf. Der 12. Anhang zum Herrnhuter Gesangbuch, Bad Homburg – Berlin – Zürich 1969 (Ars poetica. Studien, Bd. 10), S. 13–18. Zum Begriff ,Sichtungszeit‘ auch Gerhard Meyer : Zinzendorf und die Gesangbücher als Ausdruck barocken Lebensgefühls. In: Herrnhuter Gesangbuch, Reprint, Teil I (wie Anm. 5), S. XII–XVII. Hans-Georg Kemper sieht in seiner gründlich textanalytisch fundierten Überblicksdarstellung zu Zinzendorfs gesamter Gedichteproduktion im Kapitel „Religion als ,Herz=Sache‘ (Zinzendorf)“ seiner Lyrikgeschichte gegenüber früheren Tendenzen zur Ausblendung oder Apologetik eine zunehmende Konvergenz in der neueren Forschung: „Heute besteht weitgehend Einigkeit darüber, daß die ,Sichtungszeit‘ die kreativste Phase im Leben und Denken Zinzendorfs war.“ Kemper: Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit. Bd. 6/1: Empfindsamkeit, Tübingen 1997, S. 19–57, hier S. 49. Ein früherer Aufsatz desselben Forschers liefert die Grundlagen speziell zur ,Sichtungszeit‘ und auf dem Herrnhaag entstandenen Poesie. Hans-Georg Kemper: Geistliche Liebesspiele. Die Herrnhuter in Büdingen. In: Literarisches Leben in Oberhessen. Hg. von Gerhard R. Kaiser und Gerhard Kurz, Gießen 1993 (Gießener Diskurse, Bd. 11), S. 47–72. Bestätigung finden diese Neueinsichten in den auf die historischen Ereignisse gegründeten Abhandlungen zu dieser Phase, Hans-Walter Erbe: Herrnhaag. Eine religiöse Kommunität im 18. Jahrhundert (= Unitas Fratrum 23/24, [1988]); Paul Peucker : „Blut’ auf unsre grünen Bändchen“. Die Sichtungszeit in der Herrnhuter Brüdergemeine. In: Unitas Fratrum 49/50 (2002), S. 41–94; knapp auch Dietrich Meyer: Zinzendorf und die Herrnhuter Brüdergemeine 1700–2000, Göttingen 2000 (Kleine Reihe V&R, Bd. 4019), S. 49–56 (Kap.: „Die Gemeinden in der Wetterau und der Blut- und Wundenkult“). Dazu kommen eindrucksvoll plastische Informationen von Craig Atwood: Interpreting and Misinterpreting the Sichtungszeit. In: Neue Aspekte der Zinzendorf-Forschung (wie Anm. 6), S. 174–187.
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Zinzendorf war im ersten Entwurf seiner Lieder oft sehr kühn, rücksichtslos kühn. Er mutete seinen Lesern und Hörern Gedankengänge und Sprünge zu, die ihm der einfache fromme Christ nicht nachmachen konnte.12
Ganz entsprechend deutet in diplomatischer Formel auch die ZinzendorfKurzcharakteristik der im Anhang zum Evangelischen Gesangbuch zuhanden des Benutzers gegebenen „Liederkunde“ an, daß der eigentliche und angemessene Sitz im Leben für diese Poesie die historische Situation der Formierung der besonderen, stark auf den Grafen ausgerichteten Gemeinschaft war und kaum der allgemeine Gottesdienst sein kann: „Mit […] seinen 2000 Liedern hat er das geistliche Singen als gemeinschaftsbildende Glaubensäußerung verstanden.“13 Diese Lyrik aber im ganzen zu durchschauen, schon gar auszuloten, stellt für die Literaturwissenschaft noch ein beträchtliches Forschungsdefizit dar. Eine verläßliche Gesamtausgabe, die auch jene zahllosen Varianten, Umbildungen und Neuzusammenstellungen sichtbar machte, die Zinzendorf selbst seinen Liedern in Neuausgaben oder durch die Einbettung in neue Funktionskontexte (den Umbau etwa von Gelegenheitsdichtung in Gemeinschaftsgesang) angedeihen ließ, die überdies kommentierend die Menge aktueller Bezüge erschlösse, fehlt: Dringend erwarten wir hier die langprojektierte kritische Edition im Rahmen der „Texte zur Geschichte des Pietismus“.14 Eine unerläßliche Basis überhaupt zur Identifikation des Zinzendorf Zugehörigen schaffen Joseph Theodor Müllers Hymnologisches Handbuch zum Gesangbuch der Brüdergemeine von 1916 (Reprint 1977), Gudrun Meyer-Hickels Verfasserverzeichnis zum Herrnhuter Gesangbuch von 1735 (1981 im Nachdruck zu dessen „Zugabe“ von 1748)15 und Dietrich Meyers Bibliographisches Handbuch zur Zinzendorf-Forschung von 1987.16 Textanalytische Spezialstudien aber sind noch rar : nach eher geistesgeschichtlich-theologischen, dabei weithin apologetisch getönten Einordnungsversuchen wie Hans-Günther Huobers Dissertation über Zinzendorfs Kirchenliederdichtung von 1943 und den schon früheren Studien im Aufsatz-Umfang von Friedrich Wilhelm Kölbling17 oder von Rudolf Marx18 stellte die literaturwissenschaftliche Dis12 Bauer und Burkhardt: Vorrede. In: Geistliche Gedichte (wie Anm. 4), S. VII. 13 Evangelisches Gesangbuch (wie Anm. 1), S. 957 f. 14 Der im Rahmen der kritischen Zinzendorf-Edition in der Reihe „Texte zur Geschichte des Pietismus“ (Abteilung IV) den poetischen Texten des Grafen gewidmete Band 5 („Poetische und liturgische Schriften) war seit langem konkret geplant. Trotz verschiedener Anläufe ist eine Verwirklichung aber derzeit noch nicht in Sicht. 15 Für beide vgl. oben, Anm. 5 und 7. 16 Bibliographisches Handbuch zur Zinzendorf-Forschung. Unter Mitarbeit von Hans Christoph Hahn, Jörn Reichel, Hans Schneider und Gudrun Meyer, hg. von Dietrich Meyer, Düsseldorf 1987. 17 F[riedrich] W[ilhelm] Kölbling: Der Graf von Zinzendorf. Dargestellt aus seinen Gedichten. Eine Skizze, Gnadau – Leipzig 1850 (77 S.). 18 Rudolf Marx: Zinzendorf und seine Lieder, Leipzig – Hamburg 1936 (Welt des Gesangbuchs, Bd. 11) (52 S.).
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sertation von Jörn Reichel über Dichtungstheorie und Sprache bei Zinzendorf. Der 12. Anhang zum Herrnhuter Gesangbuch im Jahr 1969, betreut durch Wilhelm Emrich, einen rechten Quantensprung dar. Analysiert wurde da allerdings nur, wie schon der Untertitel zu erkennen gibt, die Gemeinschaftslyrik der sogenannten ,Sichtungszeit‘, der Wetterauer Periode also auf dem Herrnhaag, die bis dahin auch in der Gemeine als Ausdruck peinlichster Entgleisungen und Angemessenheits-Verfehlungen gegenüber dem religiösen Sujet eher im Verborgenen gelassen oder verdrängt war, von Reichel nun aber gerade in ihrer Eigenwilligkeit als die sprachlich und bildlich ingeniöseste, ausdruckskräftigste und so partiell auch am kühnsten zukunftsweisende Tranche der Zinzendorf-Dichtung umgewertet wurde.19 Die Akzeptanz dieser mit dem Neudruck der Teutschen Gedichte im Ergänzungsband II der Zinzendorf-Ausgabe von 196420 bereits vorbereiteten Neubewertung zeigt sich daran, daß genau derselbe Text im Umfang von immerhin 477 Seiten innerhalb derselben Edition im II. und III. Band zum Herrnhuter Gesangbuch integraliter abermals faksimiliert wurde. Die jüngste umfassende Darstellung nun (1997) hat Hans-Georg Kemper im Kapitel „Religion als ,Herz=Sache‘ (Zinzendorf)“ seines zugleich mit profunden Forschungsberichten aufwartenden Handbuchs Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit vorgelegt, eine erste Gesamtdarstellung, die unter aktuell-literaturwissenschaftlichen Standards historische und geschmackssoziologische, gattungssystematische, bild- und sprachanalytische Perspektiven einbezieht.21 Seither führen für die Lyrik, namentlich ihre befremdlichen Terminologien in der Sichtungszeit und ihre epochengeschichtlichen, poetologischen und v. a. theologischen Fundamente zwei neuere Aufsätze weiter, von Julian Kümmerle und von Vernon H. Nelson,22 die allerdings in die Analyse der Machart und der formgeschichtlichen Leistung kaum eintreten. 19 Vorsichtig in diese Richtung wies bei Erörterung der ,Sichtungszeit‘ bereits die wenige Jahre zuvor, fundiert auf die parallel herausgebrachte große Zinzendorf-Reprintausgabe und zweifellos auch im Gesprächskontakt mit Reichels Forschungseinsichten erarbeitete populäre Bildmonographie von Erich Beyreuther: Nikolaus Ludwig von Zinzendorf in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek 1965 (Rowohlts Monographien, Bd. 105), S. 114–132 (seitenidentischer, doch um einen Anhang vermehrter Neudruck unter gleichem Titel im SteinkopfVerlag, Stuttgart 1975); in der Neuausgabe mit veränderter Bildausstattung und einer „Einführung von Peter Zimmerling“ (S. V–XXIII, auch mit einem knappen Hinweis auf das poetische Werk, S. XVIIIf.), S. 99–108. Vgl. auch die Präsentation und Interpretation der Quellen: Zinzendorf und die Herrnhuter Brüder. Quellen zur Geschichte der Brüder-Unität von 1722 bis 1760. Hg. von Hans-Christoph Hahn und Hellmut Reichel, Hamburg 1977, S. 162–176 (Kap. „Die Sichtungszeit 1743 bis 1750“). 20 Nikolaus Ludwig von Zinzendorf: Teutsche Gedichte. XII. Anhang und Zugaben I–IV zum Herrnhuter Gesangbuch, mit der fast monographisch umfänglichen Einleitung von Gerhard Meyer: Einführung, ebd. (wie Anm. 11), S. VII–LXVII. Der Wiederabdruck desselben Textmaterials in seiner revidierten dritten Auflage innerhalb dieser Edition erfolgte im Rahmen des Gesamtreprints des Herrnhuter Gesangbuchs. 21 Nachweis oben, Anm. 11. 22 Julian Kümmerle: „So suender=schamroth inniglich, so suender=maeßig spielerlich“. Niko-
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Wie schmal bei alledem die Basis des Zugangs zu dem so umfangreichen und vielgestaltigen, dabei fortdauernd verstörenden Gedichtwerk immer noch bleibt, wird beispielhaft sichtbar daran, daß der Jubiläumskatalog des Jahres 2000, Graf ohne Grenzen. Leben und Werk von Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf, dieser Lyrik auf seinen 123 Seiten nur wenige Zeilen widmet23 und auch sonst in der auf anderen Feldern so fruchtbaren neueren ZinzendorfForschung die Erörterung seiner Poesie meist randständig in die Position der allenfalls unter „ferner liefen …“ zu erwähnenden Restthemen gerät. Dabei zeigt sich der Graf gerade in seiner Lyrik ebenso entschieden „ohne Grenzen“ wie irgend sonst in seinen theologischen Innovationen und seinem weltumspannenden Missionswerk. Mit seinem ungehemmten, neologismenreich überströmenden Versefluß, mit seiner Einrichtung ganzer häuslich-gemeindlicher Dichtergruppen von bis zu 20 Mitstreitenden, die nach vorgesetzten Themen, Tönen, Eingangsversen oder Bildbereichen improvisierend und einander dann kritisch kontrollierend um die Wette dichteten, müßte er eigentlich das auch grenzenlose, insonderheit poetologiegeschichtliche und dichtungssoziologische Interesse eines jeden Literaturwisssenschaftlers herausfordern. laus Ludwig von Zinzendorf und die Dichtung im 12. Anhang des Herrnhuter Gesangbuchs. In: Freikirchen-Forschung 10 (2000), S. 429–443; Vernon H. Nelson: The ,Geistliche Gedichte‘ of Zinzendorf and the Brüder-Unität 1745–1748: In: „Alles ist euer“ (wie Anm. 4), S. 827–838. Ebenfalls von der Poesie und ihren verstörenden Bildern, Begriffen und Vorstellungen ausgehend, wendet sich auch der Aufsatz von Hans-Walter Erbe: Herrnhaag – Tiefpunkt oder Höhepunkt der Brüdergeschichte? In: Unitas Fratrum 26 (1989), S. 37–51, rasch der Abwägung der Ambivalenzen der ,Sichtungszeit‘ für die Geschichte der Herrnhuter Gemeinschaft insgesamt zu. Dazu auch Sigurd Nielsen: Die Spiritualität der frühen Herrnhuter. In: Unitas Fratrum 27/28 (1990), S. 133–155, hier S. 139 f. – Hinzukommen Untersuchungen von Einzelsegmenten des lyrischen Werks oder Einzelgedichten: Otto Uttendörfer : Die Dichtungen Zinzendorfs von 1750 bis 1760. In: Unitas Fratrum 1 (1977, Nachdruck 1979), S. 3–25; Dietrich Meyer: Zinzendorfs englische Gelegenheitslieder und das englische Gesangbuch von 1754. In: Unitas Fratrum 6 (1979), S. 107–142; Hans-Walter Erbe: Die Herrnhaag-Kantate von 1739. Ihre Geschichte und ihr Komponist Philipp Heinrich Molther. In: Unitas Fratrum 11 (1982), S. 7–90; Jörn Reichel: Die Wahrheit in der Empfindung. Zu Zinzendorfs geistlichem Lied „Christen sind ein göttlich Volck“ [„Lied vor eine Königl. Erb=Printzeßin“]. In: Gedichte und Interpretationen, Bd. 2. Hg. von Karl Richter, Stuttgart 1983 (Reclams Universal-Bibliothek, Bd. 7891), S. 40–52. 23 Graf ohne Grenzen (wie Anm. 4), S. 188, Einführungstext zu drei Exponaten: „Für Zinzendorf war der Gesang der Gemeinde ein wichtiges Mittel, die Glaubensfreude zu äußern und Gemeinschaft zu bilden. Im Gesang stimmte die Gemeinde mit den himmlischen Chören ein. In den gottesdienstlichen Versammlungen der Brüdergemeine stand der Gesang an erster Stelle. Ein Gesangbuch war oft nicht nötig, da ein Kantor die Lieder vorsang und die Gemeinde die meisten Lieder auswendig kannte. Zinzendorf war ein begabter Liederdichter, der viele Lieder vor der Gemeinde aus dem Stegreif dichtete.“ Im allgemeinen Teil des Katalogs dagegen, der Wirken und Wirkungen Zinzendorfs in monographischen Zugriffen vorstellt, vermißt man eine über diese Grundinformation hinausgehende Würdigung der Lieddichtung. Vollends fehlt eine Erörterung des Gedichtcorpus in der systematischen Darstellung von Zinzendorfs Leistung bei Arthur J. Freeman: An Ecumenical Theology of the Heart. The Theology of Nicholas Ludwig von Zinzendorf, Bethlehem, PA 1998, bzw. deutsche Ausgabe, ders.: Zinzendorfs ökumenische Herzenstheologie – ins Deutsche übersetzt von Barbara Reeb, Basel 2000.
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Den auf bemessenem Raum ohnehin hoffnungslosen Versuch, die gräfliche Lyrik nochmals im Ganzen historisch zu situieren oder zu charakterisieren, ihre Entwicklung, Gattungs- und Themenschwerpunkte nachzuzeichnen, kann ich mir unter Verweis auf Reichels und Kempers solide Vorarbeit sparen; schon gar nicht kommt es mir zu, die theologischen Dimensionen zu umreißen oder gar den Grafen aufgrund seiner krassen, historisch zwar nicht beispiellosen,24 aber doch in ihrer orgiastischen Obsession längst vor der ,Sichtungszeit‘ übersteigerten und von allen Zeitgenossen als extrem empfundenen Blut-, Wunden- und Leichnamsbildlichkeit neuerlich auf eine Psychoanalytikercouch legen zu wollen. Vielmehr beschränke ich mich auf ein paar wenige Hinweise und Textbeispiele zu jenen zwei Bereichen, in denen seine Poesie mir vorrangig innovativ und als ein noch isolierter Vorklang für nachfolgende oder gar viel spätere Epochen der Dichtungsgeschichte erscheint: Einerseits ist das seine vorauseilende Teilhabe am goethezeitlichen Wandel der Gelegenheitsdichtung aus konventionalisierter Sozialübung zu gesellschaftlichen Anlässen wie Geburtsfesten, Hochzeiten, Neujahrsfeiern oder Leichenbegängnissen hin zu einer aus konkreten Lebenseindrücken motivierten Empfindungspoesie. Zum andern ist hier seines inspirationsgegründeten Vorgriffs auf seit dem Barock erst vereinzelt vorbereitete Ausdrucksformen einer sprachexperimentellen Dichtung zu gedenken, mit einem freien Spiel der Wortfügungen, Klänge und Assoziationen, wie sie erst in unserem Jahrhundert in der konkreten Poesie und der ,8criture automatique‘ ihren verbreiteten Ausdruck gefunden hat. Zinzendorf also in seinen kühnsten Wörterexperimenten, Disjunktionen von Wort und Sinn mit dem Anreiz zu einem emotional engagierenden Dechiffrier-Rätselspiel für die mitsingende Gemeinschaft und den lesenden Einzelnen, in seinen einhämmernden rhythmischen Stakkati und einem puren, Affekte erregenden Klangrausch, ein Kurt Schwitters oder Ernst Jandl avant la lettre – erscheint das nun nicht als eine befremdliche und jedenfalls ziemlich anachronistische Zurechtlegung? Zunächst einmal: Zinzendorfs Lyrik ist von der Regelpoetik der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts her kaum zu fassen25 – ein Versuch, selbst im Vergleich mit Dichtern des zweiten und dritten Ranges, müßte zum Urteil führen: „total mißlungen!“ Nicht nur fehlt in der überlang aneinandergereihten Strophenfülle oft ein konsistenter gedanklich-motivlicher Aufbau, die Argumentation erfolgt assoziativ-sprunghaft, und diese Assoziationen laufen häufig leer in stereotype Reihungen. Dazu kommen – nach Auffassung der 24 Grundlegend für die Erforschung dieser dem Grafen als Erbe aus dem frühen Barock-Spiritualismus zugekommenen Tradition bleibt die ungedruckt gebliebene Dissertation des Schriftstellers Paul Alverdes: Der mystische Eros in der geistlichen Lyrik des Pietismus, Diss. phil. [masch.] München 1921. 25 Darauf, daß hier der Maßstab der traditionellen Ästhetik nicht anzumessen sei, legt Gerhard Meyer in seiner „Einführung in Zinzendorfs dichterisches Schaffen“ (wie Anm. 11), S. XLIX, LVIII und LXIV, besonderen Nachdruck.
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Regelpoetik seiner Zeit – Kunstfehler, massive Tonbeugungen, überfüllte Metren (Verse also mit in ihrer Senkungsüberfüllung ,schrecklich vielen Füßen‘),26 höchst unreine und oft banale, in ödem Wiederholungszwang ständig wiederkehrende Reime: Immer und immer wieder reimt sich da „Liebe“ auf „Triebe“, immer „Herzen“ auf „Schmerzen“, „Leiden“ auf „Freuden“, „Lieder“ auf „nieder“, „Mund“ auf „Herzensgrund“ – seit den 1740er Jahren zunehmend auch „Seele“ auf „Höhle“. Den Gegenpol zu einem dergestalt Naiv-Scheinenden bildet eine freilich nicht minder unlyrisch anmutende Tendenz zur Fremdwörterei – nicht allein zum französischen AdelsKavalierston. Zum Verständnis solcher Erscheinungen muß man sich klar machen, daß Zinzendorfs Bezugspunkt und auch dichterische Schulung keineswegs die Poetiken oder Musterbücher der gelehrten Dichtkunst waren.27 Sofern er nicht einfach einen Lehrinhalt oder vorbildlichen Gefühlsausdruck in das metrische Muster und die Tonvorgabe eines bekannten Kirchenliedes hineingoß, konnte er sich auf zwei vollkommen unterschiedliche modellgebende Traditionen gründen. Einerseits gehörte zur höfischen Erziehung eines jeden Adligen ebenso wie auch (Goethe hat uns im 5. Buch des 1. Teils von Dichtung und Wahrheit einen launigen Bericht darüber hinterlassen)28 zum Comment eines Jura-Studenten im 18. Jahrhundert ganz selbstverständlich die Übung des rhetorischen Formel- und metrisch-prosodischen Formenschatzes der gesellschaftlichen Gelegenheitsdichtung, Casualcarmina zu Geburt und Tod, aber auch zu Hochzeiten, Neujahrs- oder Geburtstagsfesten.29 Zinzendorf, dem also diese Übung von ständischer Herkunft wie Ausbildung her doppelt 26 Wortspielender Begriff bei Andreas Gryphius: Absurda Comica Oder Herr Peter Squentz. Schimpfspiel. Kritische Ausgabe. Hg. von Gerhard Dünnhaupt und Karl-Heinz Habersetzer, Stuttgart 1983, 2. Aufl. 1986, S. 26 : „Der Vers hat schrecklich viel Füsse“. 27 Aus Gerhard Meyers Rekonstruktion von Zinzendorfs Lektüre (mit ihren Schwerpunkten in französischer und spanischer Literatur, antikem und mystischem Schrifttum, vgl. Meyer : Einführung [wie Anm. 11], S. XIf., XVIIf., XXXIV–XXXVII) und aus Paul M. Peuckers Auswertung einer Liste von 67 Büchern, die er sich 1758/59 in die Niederlande nachschicken ließ (Paul Peucker: Was las der Graf von Zinzendorf ? Eine unbekannte Bücherliste aus dem Jahre 1758. In: Unitas Fratrum 38 [1995], S. 31–49), wird gut ersichtlich, daß Muster der deutschen Dichtung oder gar Dichtungstheorie und poetologische Rezeptbücher darin keine Rolle spielten. 28 Goethe: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Werke (Hamburger Ausgabe). Bd. 9, bearb. von Lieselotte Blumenthal und Erich Trunz, Hamburg – München 1955 u. ö., S. 171–173, 175, vgl. Kommentar, S. 672. 29 Einen vorzüglich kompakten Überblick, zugleich auch über das „präzise u. ausführl. Regelwerk der Poetiken“ und der zunftmäßigen Musterbücher für ein rhetorisch, metrisch-prosodisch und in der Reimverwendung perfektes, dem sprachlichen Decorum adäquates Herstellen von Gedichten gibt (mit Lit.) der Artikel von Wulf Segebrecht: Gelegenheitsdichtung. In: Literatur Lexikon. Begriffe, Realien, Methoden. Hg. von Volker Meid, Gütersloh – München 1992 (Literatur Lexikon, hg. von Walther Killy, Bd. 13), S. 356–359, vgl. insbes. ders.: Das Gelegenheitsgedicht. Ein Beitrag zur Geschichte und Poetik der deutschen Lyrik, Stuttgart 1977, und ders.: Zur Produktion und Distribution von Casualcarmina. In: Stadt – Schule – Universität – Buchwesen und die deutsche Literatur im 17. Jahrhundert. Hg. von Albrecht Schöne, München 1974, S. 523–535.
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nahegebracht war, hat deren Formen perfekt beherrscht, z. B. in seinen Epicedien (Leichabdankungsgedichten) im Wechsel des Nachrufs an den Verstorbenen und seinem Rückruf an die trauernd Hinterbliebenen. Die Teutschen Gedichte sind ganz überwiegend zunächst solche Poesien zu Gelegenheiten. Für das Originelle und Besondere Zinzendorfs aber weit wichtiger ist die andere Tradition, das seit dem Beginn des 18. Jahrhunderts nämlich en vogue geratende Modell eines Poeten-Propheten, dem seine Verse inspirativ, also ungeplant und aus höherer Gnadenfülle zuströmen.30 Ein ungesuchtes Hervorbrechen von in Versen und Reimen gebundener Rede, der Form nach ein kindliches Lallen, ohne die Schulung an den Kunstregeln der gelehrten Rhetorik und Prosodik, in der Bedeutung aber von durchdringender Kraft, das hatte den Apologeten einer neuen Offenbarung seit dem ausgehenden Barock als Erkennungszeichen einer göttlich inspirierten Ekstasis gegolten. Von der ,Erfurtischen Liese‘, einer der in der Endzeitstimmung des niedergehenden Barockjahrhunderts in größerer Zahl auftretenden ,begeisterten Mägde‘, hatte es 1692 geheißen: „Wann sie den Paroxysmum hatte, redete sie meist in Versen, daher sie auch die pietistische Sängerin hieß“.31 Über des Perückenmachers und „Gottes=Cantzellist[en]“ Johann Tennhardt „kindisch=einfältige Reimelein / welche einer der Reim=Kunst Erfahrener fast nicht wohl hören kan / weil sie mit den Grund=Reguln nicht überein kommen“, insofern sie zwar „MetricH und in Reimen“, aber doch unregelmäßig nach Art der „Dithyrambi“ daherkamen, hieß es 1711, daß „GOTT als Author primarius sich dieses seines Po[matischen Genii mag […] bedient haben.“32 Der Kleinbauer und Handwerker Christoph Schütz berichtet in seiner Autobiographie von 1728 aus der Jugendzeit, wie ihm,
30 Diese für Zinzendorfs Dichtungskonzept fundamentale Traditionslinie, die von den „geistlichen Genies“ etwa zwischen Quirinus Kuhlmann und den Inspirierten (tonangebend dort ihr führender Prophet und zugleich fruchtbarster Poet, Johann Friedrich Rock) mit ihrem als göttlich inspiriert erfahrenen Zustrom der Worte und Verse weiterreicht bis zu den Sturm- und DrangPoeten (und von da zu den Romantikern) mit ihrer willenlos, unerklärbar und unkontrollierbar aus den Kräften der Empfindung und des Gemüts hervorbrechenden Dichtung, habe ich verschiedentlich in Spezialstudien zu umreißen versucht und dabei die Zugänge der Forschung detaillierter ausgewiesen, als es hier möglich wäre. Vgl. Schrader: Vom Heiland im Herzen (1994, L 19), im vorliegenden Band S. 115–133, bes. S. 126, 130–133, bzw. ders.: Le Christ dans le cœur (1994, L 18), bes. S. 62, 67–72; ders.: Inspirierte Schweizerreisen (2000, L 24), im vorliegenden Band S. 517–546, insbes. S. 519 f., 531–546 (an das S. 545 zur Geschichte der Inspirationstheorie Ausgeführte schließt sich hier der nachfolgende Absatz eng an); ders.: Propheten zur Rechten (2001, L 25), insbes. S. 370, 373–375; im Umriß auch bereits ders.: Literaturproduktion (1989, L 1), S. 34–37, 350 f. 31 Artikel „Begeisterte Mägde“. In: Johann Michael Mehlig: Historisches Kirchen= und Ketzer=Lexicon. [Bd. 1], Chemnitz 1758, S. 174 f. 32 I.N.J. Anonymi Alethophili [Tennhardts Apologet Jacob Friedrich Golther]: Schrifftmäsziges Judicium theologicum Von Johann Tennhardts […] Buche, o.O. 1711, S. 4, vgl. S. 6 f.
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wann ich draussen im Feld hinter dem Pflug herging und ackerte […] mein Seufftzen, Bitten und Verlangen, wie auch mein Dancken und Loben GOttes […] reimweiß= oder in Form eines Lieds in Sinn kam und solches thönete mir dann […] bis ich etwa nach Hause kam […]. So satzte ich mich dann geschwind nieder und schrieb solche Lied oder Reimen […] geschwind auf.33
Ähnlich mußte auch der Inspiriertenführer Eberhard Ludwig Gruber „wie ein Kind spielend reimen“34 und ähnlich, weit ungefüger als dem bekanntesten Propheten-Poeten unter den Inspirierten, Johann Friedrich Rock, den Zinzendorf immerhin sein eigenes Töchterlein aus der Taufe hatte heben lassen, flossen die Verse beispielsweise dem Nachfolger in der Leitung der Inspirationsgemeinde, Paul Giesebert Nagel,35 und anderen „Po[matischen Genii“ aus dem ungelehrten Pietisten-Volk gleich geistlichen Sturzbächen aus der Feder. Über das der eigenen Willkür entzogene Fortspielen der Weise sind Äußerungen Rocks häufig wie:
33 [Christoph Schütz]: Das kündlich grosse Geheimniß der Gottseeligkeit […] von einem Christlichen Schüler, o.O. 1728, S. 81, vgl. Schrader: Literaturproduktion (1989, L 1), S. 225, 266, 351, 476, 491. Wie dergleichen Erfahrungen und Bezeugungen von unstudierten und mit den Regeln der Dichtkunst unvertrauten Kleinhandwerkern und Bauern auch andere einfache Leute zu literarischer Selbstoffenbarung ermutigen konnten, zeigt aus dem Ostschweizer „Bauernpietismus“ das Beispiel Ulrich Bräkers, vgl. seine „Lebensgeschichte“ (1789). Ulrich Bräker : Sämtliche Schriften. Bd. 4: Lebensgeschichte und vermischte Schriften. Bearb. von Claudia Holliger-Wiesmann, Andreas Bürgi, Alfred Messerli, Heinz Graber, München – Bern 2000, S. 355–557, hier S. 514. Vgl. dazu Schrader: Sphärensprünge (2004, L 36), bes. S. 99–102. 34 Mitteilungen über den Lebenslauf und Ende der in Gott ruhenden Brüder Johann Philipp Kämpf, Eberhard Ludwig Gruber [u. a.], Amana, Iowa 1875, S. 213–240 („Eberhard Ludwig Grubers Lebens= und Glaubenslauf, Kampf und Ende“), hier S. 224. Näheres dazu und zu Grubers Gedichtsammlung „J.J.J. JEsus=Lieder für seine Glieder“, o.O. 1720–1725 (Neudruck: Ebenezer, N.Y. 1857) Schrader: Inspirierte Schweizerreisen (2000, L 24), im vorliegenden Band S. 526 f. 35 Vgl. zu den Reimereien von Paul Giesebert Nagel, Rocks Nachfolger in der Gemeindeleitung der Inspirierten, Gottlieb Scheuner: Inspirations=Historie oder Historischer Bericht von […] der wahren Inspirations=Gemeinde. Teil 1, Amana, Iowa 1884, S. 315, 327. Grundlegende Informationen über sein Wirken gibt die Monographie von Ulf-Michael Schneider: Propheten der Goethezeit. Sprache, Literatur und Wirkung der Inspirierten, Göttingen 1995 (Palaestra, Bd. 297), vgl. Register. Zwischen Nagel und Johann Caspar Lavater ist die Brücke einer pneumatischen Poesieauffassung erweislich: die beiden sind auf der berühmten Geniereise Lavaters mit Basedow und Goethe in Bad Ems zusammengetroffen und haben öffentlich disputiert, Lavater hat den Propheten für seine physiognomischen Sammlungen porträtieren lassen. Auch Goethe, der bei dieser auf Spuren des geistlichen Geniewesens konzentrierten Reise am Tag darauf, am 29. Juni 1774 (vor dem gemeinsamen Besuch der Neuwieder Herrnhuter Kolonie), wieder zu den Freunden stieß, hat zweifellos aufgeschlossen und anteilnehmend von jenem emphatischen Diskurs gehört. Zu diesen Begegnungen und ihren literarischen Nachwirkungen vgl. Schrader: „Unleugbare Sympathien“ (2003, L 29), bes. S. 59–63. Über die dann in Neuwied gepflegten brüderischen Kontakte vgl. auch Horst Weigelt: Lavater und die Stillen im Lande. Distanz und Nähe. Die Beziehungen Lavaters zu Frömmigkeitsbewegungen im 18. Jahrhundert, Göttingen 1988 (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus, Bd. 25), S. 77 f.
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Endlich wurde mir das Lied in Sinn gelegt: O allerhöchster Menschen=Hüter usw. So bald ich es sunge, so bald wich aller Schmerz; Nach dem singen spielte das Lied im Geist fort, da ich dann folgendes Lied machte nach dessen Melodie:
oder : Unterm Liedmachen besuchte die Liebe mein Herz, darauf kam der Ausfluß des folgenden auch.36
In Zinzendorfs Gesangbuch-Vorreden, die über die Entstehung und Funktion der von ihm und in seiner Gemeine entstandenen Lieder Rechenschaft geben, findet man oft ähnliche Formulierungen. Die Lieder seien „ungekünstelt“ erdacht und aufgeschrieben, „wie mir ist, so schreibe ich“, ja, er „bekam [die Verse] ins Gemüt“.37 Zinzendorfs eigenständige Leistungen und Anteile an der Erneuerung des Gelegenheitsgedichts kann ich hier knapp nur skizzieren.38 Von Anfang an treten bei ihm die Anlässe, zu denen das Gedicht entstand und auf deren Begängnis zunächst es ja zielte, deutlich zurück gegenüber einer die Ausgangssituation übersteigenden theologischen Aussage mit ganz aktuell realisierbarem Appellcharakter im Impetus seiner Streitertheologie.39 Nur zwei Beispiele mögen dies belegen: In ein Lied An Weyhnachten wird zugleich mit der vom Anlaß her erwartbaren Frohbotschaft der Fleischwerdung Christi (Inkarnation) (vermutlich, weil im Gottesdienst die Eucharistie gefeiert wurde) das Erlösung bringende Kreuzesopfer aufgerufen, also eine Karfreitagsverkündigung: Blut und Wunden, :,: Haben uns mit GOtt verbunden; Denn Er ehrte unser Blut. Er ließ sich damit vermählen 36 Beide Zitate in: Das dritte Tage=Buch, das Br. Rock geschrieben, voll schöner Lieder, je, nachdem der Geist Ihn angetrieben [1718] = J.J.J. XVII. Samlung. Das ist: Der XVII. Auszug Aus denen Jahr=Büchern Der Wahren Inspirations=Gemeinschaften, o.O. 1776, S. 201, 186. Wie anachronistisch bereits die zünftige Dichtungslehre mit ihrem Ankreiden von „Kunstfehlern“ in solchen inspirativen Versergüssen geworden war, zeigt beispielhaft Schneider: Propheten (wie Anm. 35), S. 108–114, an dem Spottgedicht des kaiserlich gekrönten Dichters Christian Gottlieb König auf die Verse „Des Sattlers Rock“ und seiner Anhänger und am dadurch ausgelösten Literaturstreit. Umfassender über Rocks Lyrik sowie die „Inspirierten und die Literatur im 18. Jahrhundert“ ebd., S. 108–189. 37 Zinzendorf: Vorrede. In: Ders.: Teutsche Gedichte. Neue Auflage, Barby 1766 (Erg.-Bd. II: Teutsche Gedichte, vgl. Anm. 11), S. A 2v (mit dem Zusatz: „Die Regeln setze ich aus den Augen ums Nachdrucks willen“) und S. A 3v. Vgl. Kemper: Lyrik 6/1 (wie Anm. 11), S. 34 und Kümmerle: „So suender=schamroth“ (wie Anm. 22), S. 431–434. 38 Vgl. ebd. Meyer : Einführung (wie Anm. 11), S. XXXVIIIf. und Kemper: Lyrik 6/1 (wie Anm. 11), S. 31 f. 39 Auf diese Tendenz, die „sehr bewußte Veranschaulichung einer in sich geschlossenen Gedankenwelt“ bei einer sonst eher unterentwickelten poetischen Bildphantasie verweist entschieden Reichel: Die Wahrheit in der Empfindung (wie Anm. 22), S. 47.
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Zinzendorf als Poet Und zu denen Menschen zehlen; Das macht unsern Schaden gut.40
Abweichend von festen Regelvorgaben können auch Gelegenheitsgedichte zu hochoffiziellen Anlässen nicht nur humoristisches Spiel mit komischen Tönen, z. B. kraft der im aufgeprägten Jambusmaß tonbeugenden Dreifachbetonung des (dem neuen ,Eheknecht‘ antithetisch gegenübergestellten) Begriffs „Freygelassener“, sondern auch eine Tendenz zu freiem Improvisieren entfalten, die aus dem neuartig inspirativen Dichtungskonzept in die traditionsgebundene Gattung hineinverpflanzt scheint. Anstelle strenger Komposition und ökonomischer Straffung tritt hier der aus dem Stegreif gestaltende Poet willkürlich hervor, im beliebigen Ungefähr seiner Hinterlassenschaft dichtend (wie Jean Paul sagen würde) wie ein ,spazierengehender Hund‘: Auszug aus einem Hochzeit=Gedichte an den jungen Herrn Franken in Halle. Ein Ehe=Mann Ist übler dran, Dann Christi Freygelassener, Und eine Ehe=Frau hats schwer. […] Erlaube mir, hier abzubrechen, Herr Bräutigam, und nur mit Dir, Noch ein Ermuntrungs=Wort zu sprechen […].41
Der goethezeitliche Wandel der Gelegenheitslyrik vom für einen bestimmten Anlaß geschriebenen Poem zu Versen „bei Gelegenheit“, die aus der Stimmung und dem Empfinden einer anrührenden Situation heraus ,zufallen‘, zeichnet sich in Zinzendorfs Gelegenheitsstrophen bisweilen schon ab: So lockt der Abend zu andächtigen Betrachtungen, die nicht nur in dem präzis resümierten Natureindruck auf die Seele, sondern auch in ihrer klangmalenden Eindrücklichkeit an Matthias Claudius gemahnen: Abend=Gedanken. […] Es ziehn der Sonnen Blikke, Mit ihrem hellen Strich Sich nach und nach zurükke, Die Luft verfinstert sich, Der dunkle Mond erleuchtet Uns mit erborgtem Schein, Der Thau, der alles feuchtet, Dringt in die Erde ein. 40 1720, Zinzendorf: Teutsche Gedichte VIII (wie Anm. 11), S. 23. 41 1722, Zinzendorf: Teutsche Gedichte XIX, ebd., S. 57 f.
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Das Wild in wüsten Wäldern Geht hungrig auf den Raub; Das Vieh in stillen Feldern Sucht Ruh in Busch und Laub; Der Mensch von schweren Lasten Der Arbeit unterdrükt, Begehret auszurasten, Steht schläfrig und gebükt. Der Winde Ungeheuer Stürmt auf die Häuser an, Wo ein verschloßnes Feuer Sich kaum erhalten kan: Wenn sich die Nebel senken, Verliert man alle Spur; Die Regen Ström ertränken Der flachen Felder Flur. Da fällt man billig nieder Vor GOttes Majestät, Und übergibt Ihm wieder Was man von ihm empfäht: Die ganze Kraft der Sinnen Senkt sich in Den hinein, Durch welchen sie beginnen, Und dem sie eigen seyn. Das heißt den Tag vollenden, Das heißt sich wohl gelegt: Man ruht in dessen Händen, Der alles hebt und trägt. Die Himmel mögen zittern, Daß unsre Veste kracht; Die Elemente wittern; So sind wir wohl bewacht.42
Gleichsam die theologische Summe aller Gelegenheiten zieht das durch den kühnen Umschwung der beiden Schlußverse in den adhortativen Trochäus in die Aufforderung zu unmittelbarem Handeln einmündende Spruchgedicht: 42 1721, Zinzendorf: Teutsche Gedichte XI, ebd., S. 31. Ein echtes Naturgefühl Zinzendorfs und seine Freude, unbegrenzte Landschaften im großen zu übersehen, berichtet Meyer : Einführung (wie Anm. 11), S. XXII–XXV, mit Hinweis etwa auf sein (in einer Zeit, als Bergsteigen noch als ein unsinniges Unterfangen angesehen wurde) Erklimmen des 1380 Meter hohen SalHve bei Genf im Jahr 1741, um den Blick von diesem ,Balcon du L8man‘ aus über die Weite des Genfer Sees zu genießen.
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Zinzendorf als Poet Plan meiner Lehre und Wesens Motto am Schluß der Vorrede. Mein Zeugnis vor der Welt, Bleibt bey der Gnad und Kraft; Beym Blut; Beym Lösegeld Von der Gefangenschaft: Und daß wir ihm schon auf Erden Reichlich sollen dankbar werden.43
Weit interessanter aber als solche bisweilen schon einmal auf neue Entwicklungen hin offenen Auffrischungen der im Prinzip am leichtesten lernbaren Tradition herkömmlicher Poesie-Übung sind freilich, im Faszinosum der gelegentlich aufblitzenden Genieleistung wie auch im Tremendum einer nicht selten öde leerlaufenden Geschwätzigkeit und elenden Reimeschmiederei, die dem neuartigen inspiratorischen Typus zuzuordnenden Lieder. Sie sind nicht nur weit eigenständiger, sie machen vielmehr auch bereits den größeren, zweifellos charakteristischeren Teil der Lyrik des Grafen aus. Denn seiner begeisterten Gemeine galt solches Stegreif-Geschaffene gerade nicht als etwas ohne rechte Bemühung lieblos und mangelhaft Hingeschludertes, sondern als Kennzeichen des von oben begnadeten charismatischen Ingeniums.44 Für diesen Typus gebe ich nur mehr eine Reihe beispielhafter Proben, dazu einige, die im ekstatischen, Zuhörende und Mitsingende mitreißenden Stakkato ihrer Wort- und Klangkaskaden die Wirkungen des Anschwalls inspirativer Begeisterung bis zum Äußersten, fast bis zur Trance steigern. Angesichts der Suggestivität solcher Texte kann ich meinen Kommentar auf ein Minimum beschränken. Kühne Neologismen, v. a. in der Wortkomposition, daneben auch schiefe Bilder, die aus willfährigem Aufgreifen der vom Reimzwang diktierten bzw. dem Singenden unwillkürlich zufallenden Begriffe entspringen, dabei ein sujetferner Kavalierston, der mitbewirkt wird durch Zinzendorfs Neigung zu manieristischem Fremdwörterspiel zeigt das Lied:
43 1735, Zinzendorf: Teutsche Gedichte, Vorrede, ebd., S. A 4v. 44 Damit hängt auch Zinzendorfs programmatische Unlust am Ausfeilen und Redigieren zusammen, die freilich dem inspirativ-ingeniösen Zuflug der Gedanken und Verse nachträglich die Flügel stutzten. Auf die unbedenklich akzeptierte genialische Rohheit dessen, was er so „ungezwungen aus meinem Herzen herausgesungen“ hatte (Gedicht auf Jonas Paulus Weiß am 23. Januar 1757), weist Otto Uttendörfer : Aus Zinzendorfs Alltagsleben. In: Mitteilungen aus der Brüdergemeine 1939, 3. H., S. 55–84 [mit Forts. im 4. H., S. 85–108], insbes. S. 60–63, hier S. 62 hin, nicht ohne das dabei bisweilen entstandene Produkt als „furchtbare Reimereien“ in „unmöglichen Dichtungen“ zu qualifizieren. Wie der „Vorbericht“ zur Neuauflage, Zinzendorf: Teutsche Gedichte (wie Anm. 11), S. A 5v, ausweist, wurden glättende Durchsicht und AutorRedaktion aber auch ebenso wenig grundsätzlich verworfen.
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DIe schrift redt so naturell Die man JEsu erst geschlitzt, seine bunds=glieds=wunde: was die dörner=cron geritzt: was der holz=blok schunde: Was ums creuz am rükken rum furchen=züge wären, das kan seiner wunden summ wunderbar vermehren, Theures volk der gnaden=wahl von dem blute sausend, weistu, daß der wunden zahl seyn soll bey fünf tausend. Ave, wunden=legion! singt mit tausend thonen alles was die läsion des speers darf bewohnen.45
Wie stark das Einmontieren fremdsprachiger Wörter mit Überraschungseffekten Spielcharakter hat, die die mitsingende Gemeine über ein Bewußterhalten ihrer weltweiten Konnexionen hinaus zu einer verschworenen Gemeinschaft Vertrauter mit sondersprachlicher Abgrenzungslust gegenüber den Nichtzugehörigen macht (ganz wie bei Kindern, die sich als Gruppe definieren, indem sie spielerisch ihre eigene Sprache erfinden), zeigen die Strophen: GEmeine, mein Herz In lumpen und heu verhülleter Boy*, das herze entbrennt, so oft man dein kripplein uns zeigt oder nennt. * Angl. Knäblein. Ihr schäfelein all im lieblichen stall, die blutige pracht hat euch zu der sehenden wunder gemacht.46 45 Herrnhuter Gesangbuch, XII. Anh. (wie Anm. 5), Nr. 1878, S. 1800. Alle im folgenden aus diesem Sammelwerk zitierten Texte sind in Müllers „Hymnologischem Handbuch“ (wie Anm. 7) oder Hickels „Verfasserverzeichnis“ (wie Anm. 5) als von Zinzendorf selbst stammend ausgewiesen. 46 Herrnhuter Gesangbuch, XII. Anh. (wie Anm. 5), Nr. 1890, S. 1812.
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Ein ungebremstes Eingehen auf die sich willenlos und jedenfalls ungesucht einstellenden, also als empfangen in inspiriertem Zustrom empfundenen Wörter und Bilder führt bis an die Grenze einer ,8criture automatique‘. Von einem Ausgangsbild her läßt sich der frommbegeisterte Poet über beliebige Reimassoziationen forttreiben: Wie arm ist doch ein menschlich herz […] Ein admirabler vortheil ist seit einger zeit vorhanden, seitdem das lämmlein JEsus Christ im stuhle aufgestanden, und sich mit seinem rothen strich der heerde präsentiret; ich meine den empfangnen stich, der unser heil vollführet: Seitdem ist herz und mund geschmiert, die ohren sind bestrichen, die sachen werden kaum berührt, so werden sie geglichen; und ehe eines sünders mund das wort beschliessen können, so fühlt des andern herzens=grund das draus entstandne brennen. […]47
Wenn auch freilich das Begriffsinventar theologischen Sinn aufruft und der ,Gemeine‘ Kompositionen ihrer Glaubenslehre ohrwurmartig iteriert, scheint für die vorrangig affektische Religiosität die kindliche Ausgelassenheit eines gemeinschaft-zusammenschweißenden Jesus-Närrlein-Spiels48 bedeutsamer als der dogmatische Gehalt des Gesungenen:
47 Ebd., Nr. 1943, S. 1855. 48 Über den Kult der frühkindlichen Vollempfindung (noch vor einem rationalitätsbedingten Verlust präexistenter Erfahrungen und Einsichten – so wie ihn dann ja die Romantiker und nach ihnen das neoromantische Fin de siHcle, insbes. Hofmannsthal und Altenberg, übernehmen) und über dessen oft kindische Ausdrucks- und Spielformen während der ,Sichtungszeit‘ (ähnlich wie sie Gottfried Keller in seiner Züricher Erzählung „Ursula“ aus Herrnhuter Frömmigkeitsverstiegenheit in karikierender Absicht auf die reformationszeitlichen Täufergemeinschaften überträgt) ist freilich in der o.g. Literatur (Anm. 11, 19 und 22) zur Gemeindegeschichte auf dem Herrnhaag wiederholt die Rede. Vgl. insbes. Peucker : „Blut’ auf unsre grünen Bändchen“ (wie Anm. 11), S. 52–55. Die Lyrik-Reflexe erwägt Kemper: Lyrik 6/1 (wie Anm. 11), S. 40. Die poetische Sehnsucht nach Kindheitsempfindung und Einfalt in der geistlichen Lyrik von Gerhard Tersteegen (mit ihren philosophisch-spekulativen Grundlagen) ist umrissen bei Schrader: Hortulus mystico-poeticus (1997, L 21), im vorliegenden Band S. 479 f.
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Wie freu ich mich aufs Fürsten tag […] Nun beugt euch als ein einigs herz vor eurem GOtt und manne. Er zählt die zährlein unterm schmerz, und macht auf seiner pfanne den lieblichsten geruch daraus, trotz allen weyrauchs=hügeln, er zehlet eure wohl voraus, und wird ihr krüglein siegeln. […]49
Vom festen Gruppenzusammenhalt her können im einprägsam rhythmischen, die Herzen zusammenschmiedenden Gemeinschaftsgesang die gleichstrebenden Brüder und Schwestern zur Rechten wie zur Linken, die ,Prophetenkinder‘ der Inspirationsgemeinde, selbst orthodoxe Juden und Mennoniten in philadelphischen Schulterschluß genommen werden, scharf dagegen wird die Grenze gezogen gegen gesetzliches Muckertum und Scheinheiligkeit: ICh danke meinem Lamme […] Mich stören kirch und kanzeln so wenig als das fanzeln enthusiastscher art; was schadt der Quacker zittern, der Mosis=Diener schüttern, der alten Täuffer hut und bart. Wenn sie nur herzlich lehren von JEsu blutgen zähren, von tauff und abendmahl, von nutz und krafft der Bibel, vom schaden im gegrübel, von Thomä blick ins nägelmaal. Ein einig volk auf erden will mir zum ekkel werden, die sind mir wiederlich, die miserablen Christen, die niemand Pietisten betittelt, als sie selber sich. […]50
Durch spontan versifizierte, auch lautmalerisch vereindringlichte Reimenrede kann (wie bei den Inspirierten) lehrhafte Vermahnung in der Gemeindeversammlung gegen schädliche Abirrungen vereindringlicht werden, so daß sie zugleich eine regulierende, sanft disziplinierende Funktion erreicht. Dies zeigt 49 Herrnhuter Gesangbuch, XII. Anh. (wie Anm. 5), Nr. 1944, S. 1857. 50 Textbeispiel aus: Ebd., Nr. 1980, S. 1888.
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die unmittelbare Zurückweisung des bei einer offenbar übereifrigen, jedenfalls zudringlich-lästigen jungen Bekennerin bemerkten eigensüchtigen Monopolanspruchs auf brautmystische Erquickung durch den „Mann“ Jesus, als sie in rhetorisch geäußerter Sterbensbegier eine rechte Bereitschaft zur Einordnung in den gemeinschaftlichen Handlangerdienst am Bau des Gottesreichs vermissen ließ: Ueber eine junge Person, die ganz krank nach der Auflösung ist. Die Jungfrau, die itzt redte, Ist eine Klette, An dem, der sie beredte; So sehr sie kan, Sie lieben in die Wette, Sie und ihr Mann: Sie denkt: wer Flügel hätte, Ich flög ins Bette: Die Bauarbeiter=Kette, Steht ihr nicht an. […] Nun Seele! sey gelinde, Dein Wunsch ist Sünde; Bedenk das Haus=Gesinde, Die Creutz=Gemein, Verlaß nicht so geschwinde Dein Fleisch und Bein. […]51
Weit häufiger aber dienen klangliche und rhythmische Stakkati der Beförderung des Gemeinschaftserlebnisses unter den sich im Mitsingen und im Mittun als Teil der auserwählten Streiterschar Begreifenden52 wie etwa in den Namengedichten, die Länder- Völker- und Ortsnamen der Herrnhutischen Mission schwindelerregend aufhäufen:
51 1734, Zinzendorf: Teutsche Gedichte (wie Anm. 11), Nr. CXXVI, S. 356 f., eindringlich ausgelegt in der „Einführung“ Meyers, ebd., S. XLV–XLVII, wo der disziplinierende Ordnungsruf gar gefeiert wird als „Geist von dem Geiste, der Preußen groß gemacht hat“. Zur gemeindlichsuggestiven Leistung der Lieder in Bezug auf Lehrinhalte oder als Schule des Fühlens vgl. Kemper: Lyrik 6/1 (wie Anm. 11), S. 8, 41. 52 Dies ist freilich auch der Ansatzpunkt zum für die Herrnhutische Lieddichtung so charakteristischen, geradezu ansteckenden Um-die-Wette-Dichten in der Gemeinschaft, zunächst im gräflichen Familienkreise, dann aber auch unter den Getreuen, die dafür regelrechten Unterricht zum Nachtun erhielten oder die Losvorgabe von Eingangsversen, Liedtönen bzw. Metren, und die bei besonderen Poeten-Liebesmählern das Ergebnis dann mutueller Kritik unterwarfen. Hinweise dazu etwa bei Kemper: Lyrik 6/1 (wie Anm. 11), S. 37, 40, 45. Vgl. auch, mit weiterer Lit., Kümmerle: „So suender=schamroth“ (wie Anm. 22), S. 435.
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Zeugen=Lied. […] Malatten=volk rufft er zur zeugen=wolk, Wilde und Mohren: Hottentotten ohren lassen sich durchbohren: J’hudim: Mamelukken, Hanakken, Heydukken beugen die Tschakanen vor des creutzes fahnen. Wie gefällt der zeugen=wolk Das Märsche volk? […] Die Lappische seen, Grönlands rauhe cüsten, die Sanct Thomas höhen, Susquehanna wüsten haben uns gesehen, Canada, (Kehelle**!) Mugurugampelle, die Cafferschen wiesen, die braunen Barbiesen, Aquanuschioni, Schawanohs, Huroni. Der Finne und Esthe kennt die Märsche gäste. Hitland, Man und Norge, spürt des Heilands sorge, seelen zu erlösen, selbst die Zingalesen.
**Ist ein Wort der Hurons, bedeutet so viel als: Ey, ist das so?
[…] Laßt die Corsaren die Menschen stehlen, das Lamm befrey nur der sclaven seelen; und fang an in den Türken durch sein blut zu würken. […]53
Ähnlich geht’s von Herrnhut in die Welt: DAs wort, das wörtlein blut mach unserm Hause muth! Es geh allenthalben, 53 Herrnhuter Gesangbuch, XII. Anh. (wie Anm. 5), Nr. 1867, S. 1792 f.
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Zinzendorf als Poet zu Bethel, Herrenhut, Herrnhaag und Niesky salben; Ronneburg, Berlin, Bethlehem, Yrin, Nazareth, Stettin. Gnadek, Frey, Berg und Thal, Crux, Thomas, Seiten=maal, Schul ins Lämmleins Lende, Cap, Got Haab, Montmirall, Barbies, Lamb’s=Inn, Meil=Ende, London, Amsterdam, Lamb’s Hill, Herrendam, Philadelphiam. Ach wär es unserm Mann, (zu Genf, Neusalz und Jan, Rößnitz, Copenhagen, Colombo, Kittidan’, Dom, Lammsberg,) Ja zu sagen; (Torn’, Cocallico, Paramaribo,) gings in jubilo.54
Die unter die Haut gehende rhythmische Adhortation, verbunden mit affektisch gemütserschütternden Begriffen und Vorstellungen, zugleich aber einem sie surrealistisch montierenden Spieltrieb55 könnte heutige Reklamestrategen neidisch machen, etwa „den 8. Januarii 1747“, SO immer seit=wärts=schielerlich, so seiten=heimweh=fühlerlich, so Lamms=herz=gruft=durchkriecherlich, so Lamms=schweiß=spur=beriecherlich an der magnetschen Seit : j: […] so leichnams=luft=anzieherlich, so wunden=naß=ausspüherlich, so grabes=dünste witterlich, aufs Mensch=Sohns zeichen zitterlich, dem licht in Salems gassen, wenn sonn und mond erblassen. 54 Ebd., Nr. 1870, S. 1795. 55 Diesem verdanken wir so kostbare Formulierungen wie den Vergleich zwischen den Kirchenreform-Bemühungen Philipp Jacob Speners und Johann Conrad Dippels im Preisgedicht auf den letzteren, „Auf Democritum* den Christianer*“, 1734, Zinzendorf: Teutsche Gedichte (wie Anm. 11), Nr. CXXVI, S. 355: „Was Spener nicht erweint, das wollte Er erlachen.“
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Indeß so Lammhaft seliglich, einfältig, tauben=artiglich, so sünder=schamroth inniglich, so sünder=mäßig spielerlich, worein’s doch immer stumm: efflavit animum; vor creuzes=freuden weinerlich, so brust=blat=jünger=mäßiglich, wie Sanct Johannes; so Marter=Lamms=herzhaftiglich, so JEsus=knabenhaftiglich, so Marie Magdalenelich, kindlich, jungfräulich, ehelich, soll uns das Lamm erhalten, bis zum kuß seiner Spalten.56
Durchaus ernster Gehalt präsentiert sich in nicht minder surrealer Spiellust, die zweifellos lustvoll-lustig bis zu Albernheiten gemeinschaftsbindend einen Ton findet, der bereits an den skurrilen Expressionismus eines Jacob van Hoddis (Weltende, 1910) gemahnt: Angenehme Sterbens=Gedanken Die Bäume blühen ab, Die Blätter stürzen: Mir wird das liebe Grab Mein Elend kürzen Getrost, ich sehe schon Das Bäumlein blühen, Und meines Leibes Thon Gerader ziehen. Mein Grabstein springt entzwey, Der Schlaf vergehet: Der Leib wird Kerker=frey, Mein Tod verwehet. […] […] Der Wind von Jehova Wird ausgeblasen: 56 XII. Anh. zum Gesangbuch der Evangelischen Brüdergemeinen in der Ausg. von 1743, III. Zugabe (hier im Reprint-Band von Zinzendorf: Teutsche Gedichte, wie Anm. 11), Nr. 2278, S. 2174. Das Lied ist freilich für die Kennzeichnungen der Charakteristika der Sichtungszeit opulent nachgedruckt und erörtert worden, vgl. Meyer : Einführung (wie Anm. 11), S. LXII; Kemper: Lyrik 6/1 (wie Anm. 11), S. 44; Kümmerle: „So suender=schamroth“ (wie Anm. 22), S. 441.
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Zinzendorf als Poet Die Beine liegen da In grünen Rasen. […] Triumph! der hier erscheint Im rothen Kleide, Der ist mein weisser Freund: Eins sind wir beyde. […]57
In der Substitution des Sinns durch reinen Klang und iterative Häufung (im Lexischen wie in der adaptierten Melodie) kommen einige Lieder den Lautgedichten des 20. Jahrhunderts vom Dadaismus bis zur Konkreten Poesie nahe, insbesondere wo im Klang der heiligen Sprachen, in abenteuerlich reimend gemachtem Griechisch oder rhythmischem Umspielen hebräischer Begrifflichkeit, auf ein Sinnerfassen der ,Gemeine‘ gar nicht mehr zu rechnen ist, ihr vielmehr ein besonderes Hausrecht im Heiligtümlichen suggeriert wird. Nur ein Beispiel für jede dieser emphatisch-ekstatischen Spielformen: Wie schön leuchtet der Wundenstern. […] Des wundten Creuz=GOtts bundes=blut, die wunden=wunden=wunden=fluth, ihr wunden! ja, ihr wunden! eur wunden=wunden=wunden=gut macht wunden=wunden=wunden=muth, und wunden, herzens=wunden. Wunden! wunden! wunden! wunden! wunden! wunden! wunden! wunden! wunden! wunden! O! ihr wunden!58. [Lamms-Kreuz-Wundenlied] )lm¹r, )lm¹r, b ha}lastor, kupo}lemor, ja· l³m viko}lemor: jaqd_a lou oq loO , oq, oq 5stim !lmoO , ja· toO stauqoO, toO tqa}lator, list¹r toO aVlator.59 57 1721, Zinzendorf: Teutsche Gedichte (wie Anm. 11), Nr. XII, S. 32 f., 34. 58 Herrnhuter Gesangbuch, XII. Anh. (wie Anm. 5), Nr. 1945, S. 1858. Auch dieses Gedicht ist oft vorgestellt worden, vgl. etwa Meyer: Einführung (wie Anm. 11), S. LX und LXV; Kemper: Lyrik 6/1 (wie Anm. 11), S. 40–44; Kümmerle: „So süender=schamroth“ (wie Anm. 22), S. 431–441; Nelson: The ,Geistliche Gedichte‘ (wie Anm. 22), S. 834. 59 Herrnhuter Gesangbuch, XII. Anh. (wie Anm. 5), Nr. 1952, S. 1867. Abweichend gibt die Textversion von 1743 in Erg.-Bd. II: Teutsche Gedichte (wie Anm. 11), S. 1867 als Begriff für das
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Wie bin ich doch so herzlich froh Wie bin ich doch so herzlich froh, daß die Chabbfflrah beziddo dem Tolah ist gespalten! Ich Posche hab auch Ch8lek dran; ich kriech hinein so gut ich kan: er wird mich drin erhalten. Eli*! Zuri**! laß die Jonim*** * mein Gott vor den Sonim† *** tauben sicher liegen, und nie aus dem fels=loch fliegen.60
** mein fels † den feinden,
HERR JESU Christ! dein tod [hebräisch, mit beigesetzter Transkription] 898= F9M= 8=@N @F ýN9B ý7J5 8L95; ýNLJ NF: ýBF N9MHD LBMN 8= 45N =? 7F :8@8K8 M9L Jeschfflah Jehovah mot’ch# al telij#h chabbur# bezidd8cha seat zarathech# tischmor naphschot amm8cha. ad ki tavo jah rosch hakkehill#h.61
An den Beschluß sei ein Gedicht gestellt, das in seiner Mischung aus ernsten Gedanken und einem heiter-gelassenen Ton Wilhelm Buschs Kritik des HerLamm statt „)lm¹r“ den gleichsinnigen Ableitungsbegriff „)qmºr“. Die in sprunghaft harter Fügung aus für Zinzendorfs Verkündigung und Poesie kennzeichnenden griechischen und hebräischen Begriffen zusammengefügten Gedichte waren für die Gemeinde freilich kaum verstehbar, zielten eher auf die emotionale Wirkung der Rhythmen und Klänge aus „heiligem Wortmaterial“. Eine konsistenten Sinn stiftende Übersetzung ist kaum möglich, der Bedeutungszusammenhang ließe sich mit einiger Brachialgewalt etwa so wiedergeben: „Lamm, Lamm, dies wunderbare, Anlass zur Trauer, doch wirklich geliebt, mein Herz ist nicht meins, nein, nein, es gehört dem Lamm, dem Kreuz und der Wunde, der Abgeltung [wäre aber lish¹r] durch das Blut.“ 60 Herrnhuter Gesangbuch, XII. Anh. (wie Anm. 5), Nr. 2000, S. 1902. 61 Ebd., Nr. 2002, S. 1902. Zu Wortkomposition und Sinnerfassung vgl. Anm. 59. Ebenso freier Versuch einer Sinnkonstitution: „Dein Tod durch Dein Hängen [am Kreuz], die Seitenwunde, der Schweiß Deiner Angst, bewahrt die Seelen Deines Volkes, bis Du [wieder-]kommst, HERR, Haupt der Gemeinde.“
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zens entstammen könnte und so einen weiteren eingängigen Ton aus der genialischen Registervielfalt des Gemeindevorsitzenden Zinzendorf anklingen läßt (auf vielen herrnhutischen Missionsbildern wird der „Rosch HaKehillah“ Christus seiner Physiognomie bedenklich angenähert), die von Nachklängen und Transformationen der barocken Erbschaft reicht bis zu Vorgriffen auf goethezeitliche Erlebnisdichtung und romantisches Klingespiel, ja bis zur experimentellen Dichtung der Moderne. In sicherem Griff für den situativ geeignetsten Ton vermochte es der diese Register zum Klingen bringende Graf ohne Grenzen offenbar wie kein anderer, die Herzen und Sinnen der Mitsingenden zu rühren und sie emphatisch zu einer willig in seine Ideen und Töne einstimmenden Gemeinschaft zusammenzuschmieden: Aufrichtige Erklärung, wies ihm ums Herz ist. […] Wenn einer in dem Glanz des Lichts Sich sieht, und sieht, er tauge nichts, Und geht und greifft die Sache an, Und thut nicht, was er sonst gethan,* Und müht sich selber viel und mancherley, Der lernet nie, was ein Erlöser sey.
*Er bessert sich wirklich.
Wenn aber ein verlornes Kind Vom Tod erwacht, sich krümmt und windt, Und sieht das Böse böse an, Und glaubet, was es sonst nicht kan, Verzagt an sich, es geht ihm aber nah; Kaum sieht sichs um, so steht der Heiland da. [.. .]62
62 1734, Zinzendorf: Teutsche Gedichte (wie Anm. 11), Nr. CXXX, S. 366 f.
Inspirierte Schweizerreisen [2000, L 24]
Der Titel meines Beitrags1 mag ein bißchen enigmatisch erscheinen. Doch möchte ich bitten, das Rätsel eine kleine Weile noch bestehen zu lassen. Auf dem Wege zu seiner Lösung möchte ich einladen, mir in der Imagination auf eine Reise ins 18. Jahrhundert zu folgen. Vorsichtshalber muß ich gleich ankündigen: dies wird in eine ziemlich gemischte Gesellschaft führen, zunächst in den Tabak- und Alkoholdunst einer nicht eben feinen Dorfschenke. Die Reisenden aber, die da anzutreffen sind, dürfen unser Interesse beanspruchen; wir gelangen mit ihnen nämlich an einen der Kreuzungspunkte, von denen aus die Wege weitergehen zu den für die Ideen- und Dichtungsgeschichte dieses Jahrhunderts folgenreichsten Neuorientierungen, auch im Wechselverhältnis von Lesen und Schreiben. Und die Szene, in der uns diese Reisenden begegnen, ist eine für ihr Wandern und Tun ebenso wie für ihre unmittelbaren Wirkungen exemplarische: Hunderte von Malen hätten wir mit ihnen kreuz und quer durch Mitteleuropa etwas Gleiches oder Ähnliches wiedererleben können. Wir treffen sie an einem unangenehm feuchtkalten Dezemberabend, irgendwo in der Schweiz, in tiefster Provinz. Auf der matschigen Dorfstraße draußen liegt wässeriger Schnee. Drin in der niedrigen Schankstube ist es zwar warm, aber, wie gesagt, eine Luft zum Schneiden. Und ein ohrenbetäubender Lärm: an der Theke zanken ein paar Angetrunkene, bei den Bauern und Handwerkern an den Tischen werden die Karten ausgereizt. Der Schulmeister des Orts führt wie üblich das große Wort. Trotzdem ist die Stimmung nicht ganz wie an andern Abenden. Immer mal wieder lugt man zu den beiden Fremden hinüber, die da, als ginge sie dies alles gar nichts an, in der hintersten Ecke sitzen und sich beim Flackerlicht der Kerze mit Feder und Tinte über ihre Papiere beugen. Provokativ ist nicht nur deren Beiseitesitzen; merkwürdige Wämser haben die an, zumindest der eine ist dem Dialekt nach Ausländer. Nach dem wenigen, was er sagt, ist’s wohl ein Schwabe. Abwechselnd sieht der 1 Als Vortrag (dessen Redeform hier beibehalten wurde) zuerst auf der Jahresversammlung der Schweizerischen Akademischen Gesellschaft für Germanistik (SAGG) in Fribourg (Freiburg / Schweiz) am 23. 11. 1991 und später erneut im Vortragszyklus des Freien Deutschen Hochstifts (Senckenberg-Museum Frankfurt) am 23. 10. 1996 und beim von Alfred Messerli und Roger Chartier geleiteten Schweizerischen Nationalfonds-Kolloquium „Lesen und Schreiben“ auf dem Monte Verit/ in Ascona am 12. 11. 1996 vorgestellt.
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auf sein Papier und in die Luft; der andere scheint etwas von einem verknitterten Blatt auf ein frisches abzuschreiben. Die Wirtsleute lassen die beiden überhaupt nicht aus dem Blick – wer weiß, was sich da für ein Gelichter einquartiert hat: Zu Fuß sind die angekommen, schon in der Dunkelheit von den Bergen her, völlig durchnäßt, mit verdreckten Schuhen. Die Kammer haben sie akkordiert, ohne einen Blick hineinzuwerfen. Ein Reiseziel wußten sie nicht anzugeben, sie wollen „über die Berge“. Kaufleute jedenfalls sind das nicht, auch keine Studierten den Händen nach. Was die wohl aushecken mögen mit ihrem Geschreibe? Schmuggler könnten das sein oder politisches Gesindel, hinter dem die Gendarmen her sind – man wird aufpassen müssen, daß sie nicht in der Früh versuchen, sich wegzuschleichen, ohne Essen und Nachtlager zu bezahlen. Die Szenerie dürfte so genügend ausgemalt sein; ich kann mich auf den dokumentarisch sicheren Boden der schriftlichen Überlieferung begeben und zitiere aus dem Reisetagebuch dessen, der da so eifrig abgeschrieben hatte: als ich Abends im Wirthshaus schrieb, war die Wirthin neugierig, und fragte: ob ich Lieder abschriebe? Br. Friedrich fragte sie: ob sie eine Liebhaberin guter Lieder sey? sie sagte: ja! Hierauf kriegte er Gnade und Trieb, unter dem Getümmel der spielenden Gäste ein Lied in 16. Versen zu verfertigen von der Welt Eitelkeit, und wie man selbiger absagen und das Ewige suchen solle. Ich schrieb hernach diß Lied sauber ab, und gab solches der Frau, diese zeigte es ihrem Mann und dem Schulmeister, welcher erst lange in der Karte gespielet. Diese Leute waren ganz geschlagen und an uns irr.2
Der „Bruder Friedrich“, der da nach einer Tageswanderung durch naßkaltes Dezemberwetter „unter dem Getümmel der spielenden Gäste“ so plötzlich von „Gnade und Trieb“ erfaßt wurde, in größter Geschwindigkeit ein 16-strophiges Gedicht auf sein Blatt zu werfen, und der so die mißtrauischen Umstehenden zur Änderung ihrer Vorurteile, fast in ehrfürchtige Ratlosigkeit brachte, war trotz des gleichtönenden Dialekts nicht etwa der junge Friedrich 2 J.J.J. Aus dem Dunckelen ins helle Licht gestellet; nemlich: Bruder Johann Friedrich Rocks Reise=Beschreibung, von der Ronneburg […] bis Breslau […] im Jahr 1723. bis Jenner 1724, o.O. 1781, S. 108. Aufzeichnung des den Propheten begleitenden Schnellschreibers Gottfried Neumann (vgl. ebd., S. 7) vom 5. Dezember 1723. Rocks eigenes poetisches Tagebuch von dieser Wanderung, „Reyß=Büchlein Auf Bayreuth, Breslau und Prag […] beschrieben von Tag zu Tag; […] In Fortwährenden Reysen“ [= Kryptonymen-Formel für Johann Friedrich Rock] erschien als Anhang zu: J.J.J. XIII. Sammlung Das ist [ – ] Der XIII. Auszug Aus denen Jahr=Büchern Der Wahren Inspirations=Gemeinschafften, [o.O.] 1758, enthält unterm 5. Dezember aus Grimberg S. 194–197 jenes 16-strophige Lied mit Hinweis auf den Anlaß und die im Bericht genannten Situationsangaben: „Des Sonntag Abends, unter dem Getümmel der Gäste im Wirthshauß. […] Auf Begehren der Wirths=Leute / […] wurde eine Abschrifft hievon ihnen auch gegeben / und ihr Schulmeister lase es ihnen gleich vor / worüber alles gantz bestürtzt und still worden.“ Vgl. entsprechend auch S. 136 f.: „Den 15. October im unruhigen Wirthshaus zu Döbelsbach“. Dieses Reisetagebuch ist ebenso wie der poetische Ertrag der beiden im folgenden näher zu beleuchtenden Schweizerreisen enthalten in einem Sammelband von Inspiriertenschriften in der BCU Lausanne: TP 1200.
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Schiller auf seiner Flucht. Der hat ja bekanntlich nie helvetischen Boden betreten und gehört daher, wie auch immer er später die Schweizer Literatur inspiriert hat, nicht in ein Referat über inspirierte Schweizerreisen. Und auch Friedrich Leopold von Stolberg kann schon von der Mundart her dieser „Bruder Friedrich“ nicht gewesen sein, wenn auch der referierte Inhalt des Gedichts halbwegs ins Themenspektrum des poetischen Grafen hätte passen können, dem im Inkognito-Gewande bis Zürich mitwandernden Weggenossen des jungen Goethe auf seiner ersten Schweizerreise von 1775. Also war auch der aufschreibende Berichterstatter nicht das Kraftgenie des Sturm und Drang – das Zitat wäre sonst ja bekannt gewesen. Trotzdem paßt Goethes spätere Charakterisierung (in Dichtung und Wahrheit) seines eigenen phantastischen Durchstreifens der Schweiz im Jahr 1775 irgendwie auch auf diesen Bruder Friedrich: „Wenn einer zu Fuße, ohne recht zu wissen warum und wohin, in die Welt lief, so hieß dies eine Geniereise“.3 Denn ein Poete und Prophete ist ganz entschieden auch schon dieser gewesen, wenngleich keineswegs ranggleich in seiner ebenso als zuströmend erfahrenen Dichtung. Einen den Literaturkennern bekannt gebliebenen Namen aber hat dieser voraufgegangene Fußreisende leider überhaupt nicht. Denn die unermeßliche Fülle seiner Gedichte hat die Literaturgeschichte völlig übersehen. Unser Interesse aber, meine ich, und auch unser sprach- und literaturgeschichtliches Augenmerk verdient er doch, wenn auch die Themen seiner Poesie unaufhörlich die gleichen blieben und die Gewandtheit seines versifikatorischen Ingeniums und einige in körniger Sprachkraft und kühnen Metaphern aufblitzende herrliche Passagen kaum entschädigen für das oft automatenhafte Leerlaufen seines Reimenredens. Denn die Poetologie dieses Propheten und etlicher seiner vom selben Geist begnadeten oder getriebenen Brüder präformiert in wesentlichen Zügen diejenigen der Geniereisenden des Sturm und Drang – und das schon gut 50 Jahre vor deren erster Schweizerreise. Und die Stürmer und Dränger haben auch (anders als die Literaturhistoriker) von diesen Vorgängern gewußt, sie haben sich sogar für ihre eigene Dichtungslehre explizit an dem inspirativen Treiben der religiösen Genies vor ihnen inspiriert. Das Neuartige, das in deren Prophetenrede aufgebrochen war, das sich die Genies der frühen Goethezeit ganz analog zueignen konnten, markiert einen Wendepunkt nicht allein in der Auffassung von Poesie als 3 Johann Wolfgang Goethe: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Hg. von Klaus-Detlef Müller, Frankfurt 1986 (Sämtliche Werke I, Bd. 14; Bibliothek deutscher Klassiker, Bd. 15), S. 823. Vgl. den umfassenden Altersrückblick auf die Etappen und Eindrücke dieser Geniereise im IV. Teil, 18. und 19. Buch; die erhaltenen Dokumente aus der Feder des Reisenden in: Der junge Goethe. Neu bearb. Ausg., hg. von Hanna Fischer-Lamberg, Bd. 5, Berlin – New York 1973, S. 230–237. Der Ton, in dem bereits der Inspiriertenprophet Rock die Nähe Gottes und seine Eingebung beim Versemachen besungen hatte, entsprach durchaus schon dem, in dem Goethe jetzt sein Gedichtlein an die Wand von Lavaters Pfarrhausstube schreibt (S. 233): „Bist du hier, jj bin ich dir jj immer gegenwärtig, jj machst du hier jj machst mit mir jj deine Werklein fertig.“
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irrational-intuitiver Gabe aus einer höheren Sphäre als jener des kunsthandwerklich Formbaren, sondern auch in den kulturellen Verhaltensnormen, in dem aller bisherigen poetischen Produktion erklärtermaßen zugrunde liegenden Wechselverhältnis von Lesen und Schreiben. Bis ins Zeitalter der Aufklärung, noch in der Witzkultur des Rokoko und in der Tränenkultur der Empfindsamkeit, hatte sich literarische Produktion ja programmatisch an der Vorbildkette der Tradition orientiert und in sie eingereiht. Das Ingeniöse im Nacheifern kanonischer Muster lag in der Nuance der Abweichung, in einer überraschenden Variation oder geistvoll-gelehrten Neukombination der Traditionssegmente, die vom Rezipienten freilich ebenfalls zu vergleichendem Genießen wiedererkannt werden mußten. Diese mehr oder weniger geschlossene Rückkoppelung in der Wahl der Gattungen, Themen und Kunstformen zwischen Angelesenem und dem jeweils neuen Schreiben nobilitierte das Neuproduzierte dadurch, daß es so selbst fortwirkend hineintrat in die Kette der großen Muster, aus denen es hervorgegangen war. Zumindest intentional ist die Genielehre der 1770er Jahre mit ihrer programmatischen Entkoppelung der literarischen Produktion von zur Nachahmung studierten Modellen bekanntlich aus diesem Regelkreis ausgebrochen. Die Berufung auf das Unlernbare, also auch nicht lehrend Weiterzugebende einer inneren Stimme und spontanen Schöpferkraft, die sich selbst die gemäße „innere Form“ schaffe, gibt Prinzipien der Subjektivität und Originalität Raum, einer Literatur aus individueller Erfahrung, Empfindung, ja momentanen Gestimmtheit, die vordem noch als indezent und peinlich erschienen wäre. Das hier vorzustellende Beispiel eines bereits früheren Schwellenübergangs hin zu dieser bis weit über die Romantik hinaus wirksam bleibenden poetologischen Neuorientierung soll den Blick dafür schärfen, daß auch hier nicht ein vom Dichter-Freundeskreis einer einzigen Generation bewirkter Traditionsbruch zu konstatieren ist, sondern ein durch Generationen vorbereiteter Paradigmenwandel, in dem ein zur bisherigen Orientierung an kanonischen Lehrexempeln querstehendes Modell sukzessive dominant wird. Die Theoreme und Schreibimpulse der mit dem letzten Viertel des 18. Jahrhunderts hervortretenden poetischen Genies haben sich seit dessen Beginn schon durch die Bekundungen einer Serie von religiösen Genies vorbereitet. Deren erhebliches Aufsehen erregendes Auftreten haben nicht nur sie selbst fasziniert wahrgenommen, es hat auch im Publikum beigetragen zur Aufnahmebereitschaft für neue, enthusiastische Sprachbotschaften.4 4 Vgl. für das Folgende grundlegend (mit umfassenden Literaturnachweisen, auch zur kirchengeschichtlichen Forschung) Ulf Michael Schneider: Propheten der Goethezeit. Sprache, Literatur und Wirkung der Inspirierten, Göttingen 1995 (Palaestra, Bd. 297); ausblickend auf andere neuprophetische Wegbereiter der Sturm- und Drang-Poetologie auch Schrader: Le Christ dans le cœur (1994, L 18) bzw. ders.: Vom Heiland im Herzen (1994, L 19), im vorliegenden Band S. 115–133.
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Der Bruder Friedrich, den ich hier exemplarisch vorstelle, war von Beruf ein Sattlergeselle. Er hieß Johann Friedrich Rock,5 hat von 1678 bis 1749 gelebt und war das Oberhaupt der neuprophetischen Inspirationsgemeinschaft, deren zahllose aufsehenerregende und die Bevölkerung ebenso wie die Obrigkeiten bewegende Wanderzüge gerade durch die Schweiz größte (und bekannte) Bedeutung für die Kirchen- und Frömmigkeitsgeschichte gehabt haben – aber eben auch (weithin noch unbekannte) für die Literaturgeschichte. Wenn wir exemplarisch ein Stück weit den poetischen Wegspuren dieser Schweizer Inspirierten-Reisen nachgehen wollen, um den Blick frei zu bekommen auf die Brücken, die von ihrem geistlichen Ufer zu dem weltlichen der jüngeren Genies der Epochenschwelle hinüberführen, kann ich einen kleinen Umweg, aber mit möglichst vielen Abkürzungen, durch die Kirchenund Frömmigkeitsgeschichte des frühen 18. Jahrhunderts nicht vermeiden.6 Das ausgehende Barock und das beginnende Folgejahrhundert waren eine Zeit gesteigerter eschatologischer Naherwartung. Besonders unter den ängstlich um ihr Seelenheil bekümmerten Frommen aus der gesamtprotestantischen Reformbewegung des Pietismus wurden die vermeintlich wahrnehmbaren oder die spekulativ errechneten Zeichen des nahenden Jüngsten Gerichts als persönlicher Auftrag für ihre Lebensführung begriffen: nicht nur zu indivi5 Außer der im literaturwissenschaftlichen Hinblick grundlegenden Abhandlung von U.-M. Schneider: Propheten der Goethezeit (wie Anm. 4) mit der chronologischen Übersicht aller Inspirationsaussprachen, einem Standort-Nachweis aller nachweisbaren Inspirierten-Drucke und einer umfassenden Bibliographie S. 193–242 vgl. zu Rocks Biographie insbes. Paul Krauß: Johann Friedrich Rock, Separatist und Inspirierter. 1678–1749. In: Lebensbilder aus Schwaben und Franken. Bd. 15, hg. von Robert Uhland, Stuttgart 1983, S. 86–114; im Überblick Ulf-Michael Schneider: Rock, Johann Friedrich. In: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon. Hg. von Friedrich Wilhelm u. Traugott Bautz. Bd. 8, Herzberg 1994, Sp. 458–462. Rocks autobiographische Rechenschaften aus verschiedenen Lebensetappen sind jetzt ediert und kommentiert in: Johann Friedrich Rock: Wie ihn Gott geführet und auf die Wege der Inspiration gebracht habe. Autobiographische Schriften. Hg. von Ulf-Michael Schneider, Leipzig 1999 (Kleine Texte des Pietismus, Bd. 1). Nur die Texte sind zu Rocks 250. Todestag auch am heutigen Sitz der Inspirierten-Gemeinschaft (in englischer Übersetzung und mit einer „Translator’s Note“ von Janet W. Zuber) erschienen: Johann Friedrich Rock: The Humble Way. An Autobiographical Account of God’s Guidance, Amana, Iowa 1999. 6 Grundlegend für den Forschungszugang zur Inspiriertenbewegung bleiben insbes. Friedrich Wilhelm Winckel: Kurze Geschichte der Inspirationsgemeinden. In: Monatsschrift für die evangelische Kirche der Rheinprovinz und Westphalens 1844 (H. 11), S. 233–262; Max Goebel: Geschichte der wahren Inspirations=Gemeinden, von 1688 bis 1850. In: Zeitschrift für historische Theologie 24 (1854), S. 267–322, 377–438, 25 (1855), S. 94–160, 327–425 und 27 (1857), S. 131–151; Max Goebel / Theodor Link: Geschichte des christlichen Lebens in der rheinischwestfälischen evangelischen Kirche. Bd. 3, Koblenz 1860, Reprint: Gießen – Basel 1992, S. 126–165; Walter Grossmann: The European Origins of the True Inspired of Amana. In: Communal Societies 4 (1984), S. 133–149 und Hans Schneider: Inspirationsgemeinden. In: Theologische Realenzyklopädie. Bd. 16, Berlin – New York 1987, S. 203–206. Als jüngere Überblicksdarstellung (mit Lit.) sei zudem erwähnt Ulf Lückel: Die Inspirierten in Wittgenstein und das prophetische Werkzeug Johann Friedrich Rock. In: Wittgenstein, Jg. 85, Bd. 61, H. 4 / 1997 (Sonderheft Radikaler Pietismus in Wittgenstein, Donald Durnbaugh zum 70. Geburtstag), S. 147–157.
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dueller Buße, Umkehr und Heiligung, sondern auch zu einer Versammlung der erweckten und berufenen Zeugen Christi. Durch deren praktische Bauarbeit wollte Gott ja, nach apokalyptischer Verheißung, sein künftiges Friedensreich aufrichten. Für die radikalen Pietisten bedeutete dies eine Trennung aus dem nach ihrer Auffassung unrettbar in sektiererischem Konfessionenstreit und in verweltlichtem Gewohnheits-Gottesdienst verfallenen Kirchenwesen. Eintreten wollten sie statt dessen in eine rein geistige ,philadelphische‘ Gemeinschaft der entschiedenen Wegbereiter des Herrn – aus allen Konfessionen ebenso wie aus aller weltlichen Herren Länder. Die auf landeskirchliche Territorialverfassungen gegründeten kirchlichen und staatlichen Obrigkeiten reagierten repressiv : mit Gesinnungsdruck und Zwangsvorführungen zum öffentlichen Gottesdienst, mit Verboten der außerkirchlichen Erbauungsversammlungen, mit Arretierungen und Leibesstrafen, schließlich mit Landesverweisungen der ,Rädelsführer‘. Statt plangemäß das Feuer auszutreten, haben sie es so ausgebreitet: Die Zwangsexilierten durchstreiften bußpredigend die Lande, durch immer neue Strafmaßnahmen für andere religiös erregte Gemüter ausgezeichnet als Märtyrer in der Nachfolge Christi. Und sie fanden sich zu Erwecktenkolonien in jenen Landstrichen zusammen, deren Obrigkeiten ihnen gegen alle Bestimmungen der Reichsgesetze Duldung und Gewissenstoleranz verbrieften, sei es aus religiöser Gleichgestimmtheit, sei es aus politischem oder merkantilistischem Kalkül. Vornehmliche Sammelpunkte wurden schon vor der Jahrhundertwende die politisch unbedeutenden Territorien der sogenannten Wetterauer Grafenbank: die isenburgischen Länder um Offenbach und Büdingen im Frankfurter Raum und etwas nordwestlich davon die wittgensteinischen um Berleburg im heutigen Westfalen. Diese Länder wurden auch Kernzonen der späteren Inspiriertengemeinschaft.7 Der Prozentsatz der Schweizer, meist vertriebene Pfarrer oder Theologiekandidaten, die sich separatistischer Neigungen verdächtig gemacht hatten, war schon vor dem Beginn der Inspirationsbewegung hoch. Denn insbesondere die Berner und die Schaffhausener Regierungen waren mit Landesverweisungen schnell bei der Hand gewesen, ohne doch konspirative Kontakte 7 Vgl. zur Genese und Entwicklung dieser radikalpietistischen und philadelphischen Bewegung innerhalb der nachreformatorischen Frömmigkeitsgeschichte allgemein jetzt (mit Aufschluß der älteren Forschung) insbesondere Hans Schneider: Der radikale Pietismus im 17. Jahrhundert. In: Der Pietismus vom siebzehnten bis zum frühen achtzehnten Jahrhundert. Hg. von Martin Brecht, Göttingen 1993 (Geschichte des Pietismus, Bd. 1), S. 391–437 und bes. ders.: Der radikale Pietismus im 18. Jahrhundert. In: Der Pietismus im achtzehnten Jahrhundert. Hg. von Martin Brecht und Klaus Deppermann, Göttingen 1995 (Geschichte des Pietismus, Bd. 2), S. 107–197 sowie ders.: Der radikale Pietismus in der neueren Forschung. In: Pietismus und Neuzeit 8 (1982), S. 15–42 und – für den Inspirierten-Kontext insbesondere – 9 (1983), S. 117–151; aus literaturwissenschaftlicher Sicht Schrader: Literaturproduktion (1989, L 1), insbes. S. 41–73, 108–135, 176–183, 354–386, 418–440, 461–465 und im Überblick ders.: Pietismus (1993, L 63) sowie danach den Artikel „Pietismus“ in Volker Meid: Sachwörterbuch zur deutschen Literatur, Stuttgart 1999, S. 395–397; Ulf-Michael Schneider: Pietismus. In: Goethe-Handbuch. Bd. 4/2: Personen, Sachen, Begriffe. Hg. von Hans-Dietrich Dahnke und Regine Otto, Stuttgart – Weimar 1998, S. 850–852.
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der Exilierten mit ihren daheim verbliebenen Gesinnungsbrüdern verhindern zu können. In der Wetterau rings um Frankfurt wurden am Anfang des 18. Jahrhunderts etwa 40 Exulanten aus der Schweiz gezählt; unter denen im Wittgensteinischen waren an den bereits kurz vor der Jahrhundertwende ausbrechenden ekstatischen Erscheinungen aus dem Bernbiet etwa Samuel König, Carl Anton Püntiner (Bündner), Jacob Knecht und Nicolaus Tscher beteiligt. Später kamen andere, literarisch noch produktivere dazu, auch aus der Westschweiz, wo der antikirchliche Separatismus politische Oppositionsbewegungen gegen Bern in sich aufgesogen hatte, etwa Nicolas-Samuel de Treytorrens oder der aus Frankreich zugewanderte Apostel der Madame Guyon, Marquis Charles Hector de Marsay.8 Die ekstatischen Aspekte im Auftreten dieser separatistischen Wanderprediger hängen mit ihrer akuten Endzeiterwartung zusammen. In der Apokalypse war vor dem Weltende das Auftreten neuer Propheten (göttlicher, aber auch falscher) vorhergesagt. Aufsehenerregende und vielfältig sogleich in Druck verbreitete visionäre Gesichte, Geistesaussprachen und Glossolalien waren so in den 1690er Jahren, zeitgleich mit dem Anwachsen des Pietismus zu einer den gesamten Protestantismus durchwirkenden Massenbewegung, gang und gäbe. Die sogenannten „begeisterten Mägde“ in Erfurt und Halberstadt, ungebildete Frauen, deren oft unverständliches Trancereden als Kundgebung Gottes, auch in alttestamentlichen Bibelsprachen, ausgegeben wurde, gehörten dazu9 ebenso wie theologisch Gebildete, etwa der Superintendent Johann Wilhelm Petersen und seine adlige, visionsbegabte Frau Johanna Eleonora,
8 Den kirchen- und allgemeingeschichtlichen Hintergrund umreißt Rudolf Dellsperger: Die Anfänge des Pietismus in Bern. Quellenstudien, Göttingen 1984 (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus, Bd. 22). Als Forschungsgrundlage für die Aktivitäten und Wirkungen der Inspirierten in der Schweiz vgl. noch immer Wilhelm Hadorn: Die Inspirirten des XVIII. Jahrhunderts mit besonderer Berücksichtigung ihrer Beziehung zur Schweiz. In: Schweizerische Theologische Zeitschrift 17 (1900), S. 184–224; ders.: Geschichte des Pietismus in den Schweizerischen Reformierten Kirchen, Konstanz – Emmishofen 1901, insbes. S. 30–33, 107–128, 138–156, 166–219 sowie Kurt Guggisberg: Bernische Kirchengeschichte, Bern 1958, S. 398–423. 9 Vgl. die Artikel „Catharina Halberstadiensis“, „Anna Margaretha Janin“ und „Anna Maria Schuchartin“ in Johann Heinrich Feustking: Gynaeceum haeretico fanaticum, Oder Historie und Beschreibung Der falschen Prophetinnen, Frankfurt – Leipzig 1704, Reprint (hg. von Elisabeth Gössmann, mit Einleitung von Ruth Albrecht) München 1998 (Archiv für philosophie- und theologiegeschichtliche Frauenforschung, Bd. 7), S. 339, 371–377 und 537–569; Johann Michael Mehlig: Historisches Kirchen= und Ketzer=Lexicon. [Bd. 1], Chemnitz 1758, S. 174 f.: „Begeisterte Mägde“. Dazu jetzt auch die kommentierte Quellensammlung „Begeisterte Mägde“. Hg. von Ruth Albrecht, Leipzig 2018 (Edition Pietismus-Texte, Bd. 10). Von orthodoxen Widersachern war fälschlich unter August Hermann Franckes Namen eine „Eigentliche Nachricht Von Dreyen Begeisterten Mägden / Der Halberstädtischen Catharinen / Quedlinburgischen Magdalenen / und Erffurtischen Liesen“, o.O. 1692 erschienen, die Francke sogleich replizierte: Entdeckung der Boßheit / So mit einigen jüngst unter seinem Nahmen fälschlich publicirten Brieffen Von dreyen so benahmten begeisterten Mägden […] begangen, Cölln a. d. Spree 1692.
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oder die hochadlige Seherin Rosamunde Juliane von der Asseburg. Die Inspirationsbewegung hat sie später als Vorboten angesehen.10 Die unmittelbaren Wegbereiter der Inspirationsgemeinschaft aber kamen von außen, aus den französischen Cevennen. Unter den nach Ludwigs XIV. Widerruf des Edikts von Nantes im Jahr 1685 bedrückten und ihrer Prediger beraubten Hugenotten waren dort laikale Propheten aufgetreten, die in ihrer unter körperlichen Erschütterungen ausgestoßenen Gottesrede das Weltende verkündeten. Nach ihrer Vertreibung oder Flucht zogen diese ,Camisarden‘ durch Europa, kamen über England auch nach Deutschland, erregten die pietistischen Gemüter und die ihrer Gegner in Halle und Berlin und erweckten durch ihren ansteckenden Feuergeist allenthalben neue Propheten. 1714 ist eine Gruppe davon in die Wetterau gekommen, wo sie unter den verstreuten Separatisten nach anfänglich-erschrockener Abwehr eine so breite Anhängerschaft und neue Zeugen des prophetischen Geistes fanden, daß es nur hier zu einer regelrechten Gemeindebildung kam. Die bei den anfänglichen ekstatischen ,Liebesmälern‘ unter tagelangem Kirchenliedsingen und Erbauungspredigen neuerweckten ,Werkzeuge‘ der zungenredend ausgestoßenen göttlichen Verbaloffenbarungen (unter den frühesten war eine exilierte Bernbietlerin aus Thun namens Ursula Meyer)11 behielten das Gebaren der Camisardenpropheten bei, von deren einem ein Berliner Zeitungsartikel von 1714 berichtet, daß dessen Gebährden, wan er den vermeinten paroxismum hat, entsetzlich anzusehen sein sollen. Er hat einen Concipienten bey sich, der sich Dithman [recte: Johann Dittmar] nennet: waß nun jenem der Geist eingiebt, muß dieser aufschreiben.12 10 Für dieses eigene Traditionsbewußtsein der Inspirierten vgl. die Eingangspassagen ihrer offiziösen Gemeindegeschichten aus dem 18. und 19. Jahrhundert: [Paul Giesebert Nagel]: Kurze Historie der Inspirirten Und Inspirations=Gemeinden; Auf Teutsch: Der Propheten=Kinder“ […]. In: J.J.J. XVI. Samlung. Das ist [ – ] Der XVI. Auszug Aus denen Jahr=Büchern Der Wahren Inspirations=Gemeinschaften, [o.O.] 1772, S. 238–244 bzw. Gottlieb Scheuner: Inspirations=Historie oder Historischer Bericht von […] der wahren Inspirations=Gemeinde während J. F. Rocks Lebzeiten und auch nach ihm bis zur Zeit der neuen Erweckung. Teil 1, Amana, Iowa 1884, S. 7–9. Vgl. dazu U.-M. Schneider: Propheten der Goethezeit (wie Anm. 4), S. 13–36. 11 Ihre Aussprachen der Jahre 1715/16 erschienen unter dem Titel: J.J.J. Ein Himmlischer Abendschein, Noch am Feyerabend In und Mit der Welt, Ans Tages=Licht gestellt. […] Welchen der Geist der wahren Inspiration, durch Ursula Meyerin […] hat bezeugen […] lassen, o.O. 1781. Vgl. U.-M. Schneider: Propheten der Goethezeit (wie Anm. 4), S. 28 und 218, detaillierter mit Quellennachweisen Goebel: Geschichte der wahren Inspirations=Gemeinden (wie Anm. 6), S. 275 f., Guggisberg: Bernische Kirchengeschichte (wie Anm. 8), S. 417 sowie jetzt insbes. Isabelle Noth: Ekstatischer Pietismus. Die Inspirationsgemeinden und ihre Prophetin Ursula Meyer (1682–1743), Göttingen 2005 (Arbeiten zur Geschiche des Pietismus, Bd. 46). 12 Bericht über ein Berliner Auftreten des frühen Inspiriertenpropheten Pott am 1. 9. 1714, der zusammen mit seinen Brüdern das Inspirationsfeuer ins Isenburgische gebracht und auch Johann Friedrich Rock dafür entfacht hatte, Eberhard Buchner: Religion und Kirche. Kulturhistorisch interessante Dokumente aus alten deutschen Zeitungen (16. bis 18. Jahrhundert), München 1925, S. 221–224, hier 222.
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Nicht nur die körperlichen Verrenkungen, Augenrollen und Mundschlappern, die die Aussprache begleiteten, wurden als Zeichen der göttlichen Anfassung gedeutet (übrigens auch von Jesus abgeleitet, von dem Mk 3,21 f. und Joh 10,20 die Widersacher ebenfalls gesagt hatten, „fti 1n´stg“ und „fti Beekfebo»k 5wei ja· fti 1m t` %qwomti t_m dailom¸ym 1jb²kkei t± dailºmia“, bzw. „dailºmiom 5wei ja· la¸metai“: „Er ist außer sich selbst gesetzt; er hat den unsaubern Geist und sein Geistestreiben kommt vom Häuptling der Dämonen“ bzw. „Er ist vom bösen Geist besessen und redet irr.“13 Auch, daß das „Werkzeug“ sofort „vergeße“, was der Geist durch seinen Mund verkündet habe,14 daß der Prophet beim Wiederzusichkommen nicht einmal mehr den Inhalt des soeben Ausgesprochenen wiedergeben könne, galt als Beleg, daß hier nicht der Herren eigener Geist im Spiele gewesen war. Und die überprüfbare Widerspruchsfreiheit zur Altoffenbarung der Bibel, die durch die neue Gottesrede vermeintlich ergänzt wurde, galt als Siegel der Wahrheit. :t´qair ck¾ssair, in fremden Zungen und hebraisierenden Tönen, wurde nur anfänglich geredet, etwa von dem Handwerker Johann Carl Gleim, so daß die dem Propheten beigeordneten Schreiber oder ,Concipienten‘ nach Maßgabe ihres Verstehens nur „einige Wörter hiervon / doch ohne connexion“ mitbekommen konnten: […] ruschebalacha. allaschetechora. ruachadonai. rachamana. ruachchatischema. schabuschadealla. halluschamene. roschana. rachatischeba. roschatalacha […].15
Später dann bekundete sich der Herr ihnen nur noch in ihrer Muttersprache, eher systematisch-theologisch, erwecklich und erbaulich. Zu den Mitgliedern der ,Wahren Inspirationsgemeinschaft‘ haben zeitweilig bedeutende Leute gehört, der von den Junghegelianern wiederentdeckte Philosoph Johann Christian Edelmann etwa, von der Alchimie herkommende Ärzte wie der spätere Reor13 Bestätigt sahen sich die Inspirierten in ihrer Auffassung, Christus sei von ganz ähnlich ekstatischen Konvulsionen ergriffen gewesen wie ihre eigenen Propheten, u. a. durch die Auslegung dieser Bibelverse von Johann Henrich Reitz („hielten ihn für einen Unsinnigen; ebenso wie die Verwandte Christi den Heiland selbsten / Marc. 3 / 21.“) in seiner Biographie des Conrad von Beuningen: Reitz: Historie Der Wiedergebohrnen. Neudruck (1982, L 2), Bd. 2, Teil IV, Idstein 1716, S. 124. Vgl.: Ein unpartheyisches Urtheil, von den heutigen so genannten INSPIRIRTEN, […] Aufgesetzt von einem Liebhaber der Wahrheit, o.O. 1716, S. 23 und: Unterschiedliche Erfahrungs=volle Zeugnisse / Welche Einige in Gott verbundene Freunde Von der so sehr verhassten und verschreyten INSPIRATIONS=SACHE […] offentlich dargeleget haben. [Hg. von Christian Fende], o.O. 1715, S. 17. Im Bild erscheint diese Auffassung im Titelkupfer zu Johann Henrich Reitz: Die Nachfolge JEsu Christi / Nach seinem Leben, Lehr und Leiden / Kürtzlich vorgestellet, Wesel, 1. Aufl. 1707 und Leipzig, 2. Aufl. 1730 (die Inschrift auf dem Kreuzesquerbalken auf Golgatha, an dem der Nachfolgende emporsteigt, lautet „Mainetai. Mainetai“). Ebenso die für die Exegese des radikalen Pietismus maßgebliche ,Berleburger Bibel‘: Der Heiligen Schrifft Fünffter Theil / oder des Neuen Testaments Erster Theil […], Berleburg 1739, S. 354. 14 Buchner : Religion (wie Anm. 12), S. 222. 15 [Johann Carl Gleim]: Das Geschrey zur Mitternacht / Durch den Geist der Weissagung gewürcket und verkündiget […] als ein Zeugnüß Der wahren INSPIRATION, o.O. 1715, S. 1; vgl. U.-M. Schneider: Propheten der Goethezeit (wie Anm. 4), S. 58.
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ganisator des dänischen Medizinalwesens Johann Samuel Carl, ein fruchtbarer Erbauungsschriftsteller, und noch aus Goethes Bekanntschaft Johann Christian Senckenberg, Theologen auch wie der Bibelübersetzer Johann Friedrich Haug. Graf Zinzendorf stand mit ihnen in langjähriger Verbindung, bestimmte etwa den Bruder Johann Friedrich Rock zum Paten einer seiner Töchter. Von einem Theologen wurde die neue Gemeinschaft geleitet: Eberhard Ludwig Gruber war ein amtsverstoßener Pfarrer aus Württemberg, ohne eigenes Geistreden, doch ein begabter Kirchenlieddichter.16 Sein Sohn Johann Adam, Zeugmacher (Uniformschneider) von Beruf, war das erste ,Werkzeug‘, das, vom November 1716 bis zum Januar 1717, separatistische Gesinnungsfreunde in der Schweiz besucht hat: in Basel, Schaffhausen, Winterthur und Zürich, in Bern und im Berner Oberland vor allem: Thun, Beatenberg, Leissigen, aber auch im frankophonen Westen: Neuch.tel, Yverdon, Vevey und Lausanne.17 Die Gabe der ,Aussprache‘ aber behielt nach 1717 nur noch der „Bruder Friedrich“. Rock war als Jüngling beim Besuch pietistischer Konventikel in Halle und Berlin zum Separatisten geworden, hatte sich in einer epochentypischen Selbstverschreibung dem Herrn verpflichtet.18 Dieserhalb in Württemberg mit Berufsverbot belegt, war er auf den Spuren des exilierten Pfarrers Gruber in die 16 Seine Autobiographie und die seines anfänglich selbst als „Werkzeug“ auftretenden Sohns Johann Adam findet sich in der Bekenntnissammlung: Unterschiedliche Erfahrungs=volle Zeugnisse (wie Anm. 13), S. 1–15, eine Biographie „Eberhard Ludwig Grubers Lebens= und Glaubenslauf, Kampf und Ende“ in: Mitteilungen über den Lebenslauf und Ende der in Gott ruhenden Brüder […], Amana, Iowa 1875, S. 213–240. Zur kirchengeschichtlichen Bedeutung vgl. Donald F. Durnbaugh: Eberhard Ludwig Gruber & Johann Adam Gruber. A Father & Son as Early Inspirationist Leaders. In: Communal Societies 4 (1984), S. 150–160. Zu E. L. Grubers Lyrik, insbesondere zur dreiteiligen Sammlung „J.J.J. JEsus=Lieder für seine Glieder“, o.O. 1720–1725, Neudruck Ebenezer, NY 1857, vgl. Reinhard Müller: Gruber, Eberhard Ludwig. In: Deutsches Literatur-Lexikon. Biographisch-bibliographisches Handbuch. 3. Aufl., Bd. 6, Bern – München 1978, Sp. 910; U.-M. Schneider: Propheten der Goethezeit (wie Anm. 4), S. 117, 220 und 225; Schrader : Vom Heiland im Herzen (1994, L 19), im vorliegenden Band S. 127. 17 Johann Adam Gruber : J.J.J. Buß= Weck= und Warnungs=Stimme / Welche der Geist der Wahren INSPIRATION In dem Dietzischen / Zweybrückischen / Elsaß und in der Schweitz insonderheit erschallen lassen / Im Jahr 1716. und 1717. […] o.O. 1718. Darin Reisetagebuch der Schweizerreise (in Begleitung der Schreiber Sigmund Heinrich Gleim und Blasius Daniel Mackinet) S. 55–411. Zu dieser Reise vgl. Scheuner: Inspirations=Historie, Bd. 1 (wie Anm. 10), S. 56–58, 67–68. 18 Autobiographischer Aufsatz von 1707: Rock: Wie ihn Gott geführet (wie Anm. 5), S. 15. Zur Tradition formeller Selbstverschreibungen von Erasmus Francisci bis Gerhard Tersteegen vgl. Rudolf Mohr: Gerhard Tersteegens Leben im Licht seines Werkes. In: Monatshefte für evangelische Kirchengeschichte des Rheinlandes 20 (1971/72), S. 197–244. Für die Selbstübergabe an Gott mit Leib und Seele der Elisabeth Funck, geb. Küpfer, in Bern scheint Rocks Vorbild ausschlaggebend gewesen zu sein. Vgl. Paul Wernle: Der schweizerische Protestantismus im XVIII. Jahrhundert. Bd. 3, Tübingen 1925, S. 118. Auch Ulrich Bräker wird noch von dieser emphatischen Selbstverschreibungsidee berührt und beunruhigt. Vgl. seine Tagebuch-Notiz vom 10. Januar 1770: „ach das ich mich Jesum meinem treüen und liebrichen freünd auf ewig möchte verschriben, dan seine treu an mir ist täglich neu“. Ulrich Bräker : Sämtliche Schriften. Bd. 1: Tagebücher 1768–1778, bearb. von Alfred Messerli und Andreas Bürgi, München – Bern 1998, S. 127.
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Wetterau entwichen. 39-jährig war er schon, als ihn der Inspirationsgeist überfiel. Der isenburgische Hofsattler hatte durchaus theologische Kenntnisse: sein Vater war Pastor gewesen, sein Bruder ein Lateinschulrektor. Trotzdem erstaunt die Diskrepanz an sprachlicher Kraft, die Rocks konventionell-trockenes erbauliches Gemeindereden von dem Feuer seiner festgehaltenen ekstatischen Aussprachen unterscheidet. Bis zu seinem Ende als 70-jähriger lag der Zwang zur inspirativen Verkündung auf ihm, nach dem Tod des alten Gruber 1728 auch die Leitung der Gemeinschaft. Die bestand (und besteht noch heute in Amerika) als evangelikale Sekte bzw. als „Communal Society“ fort. Nach Rocks Tod war sie in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts vor allem bemüht, die zugewandten Gruppen in Deutschland, im Elsaß und der Schweiz lebendig zu halten und das neuprophetische „Gotteswort“ durch den Druck zu sichern und zu verbreiten: Nur wenige der Inspirierten-Zeugnisse waren schon im Anfangsstadium der neuen Prophetie, nach 1715, mit vorrangig apologetischen und missionarischen Zielsetzungen publiziert worden, die große Masse kam aus den Gemeindearchiven erst 1736–1789, während der Goethezeit und bis an die Schwelle der Romantik in 42 Bänden zum Druck: „EXTRACTA Aus dem allgemeinen Diario Der wahren INSPIRATIONS=Gemeinen“.19 Seit 1817 schließlich tauchten unter den Resten der Gemeinde, im Ansturm der romantisch-neupietistischen Erweckungsbewegung, neue Propheten auf. Deren Nachkommen sind, 1857 durch hessisch-preußischen Druck vertrieben, nach Amerika ausgewandert, wo sie in Iowa als Amana Church Society fortleben:20 dort sind viele der Inspiriertenpublikationen wiederholt neu aufgelegt worden (seit 1936 auf englisch) und reichlicher zuhanden als in europäischen Bibliotheken. Schon 1716, bald nach der Gemeindegründung, hat die Reisetätigkeit der inspirierten ,Werkzeuge‘ und ihrer begleitenden Schnellschreiber eingesetzt – durch ganz Europa mit Mahnaussprachen an weltliche und kirchliche Machthaber und Behörden, zur Gewissensrührung und Seelenstärkung der Gläubigen. An ihnen schieden sich die Geister. Einkerkerungen, Leibesstrafen, Schriftenkonfiszierung und Expulsion durch die Behörden oder schlichtes Verprügeln durch aufgebrachte Bürger und Bauern einerseits waren ständige Begleiterscheinungen, auf der anderen Seite Neugier, Verunsicherung, materielle Unterstützungen, gerade in der Schweiz auch landesweite Erweckungsphänomene, in jedem Fall aber gewaltiges Aufsehen. 19 Komplette Titel- und Standortnachweise, auch der Nachdrucke des 19. Jahrhunderts in Amerika, bei U.-M. Schneider: Propheten der Goethezeit (wie Anm. 4), S. 210–225. 20 Zum transatlantischen Fortleben der Inspirationsgemeinschaft vgl. außer Scheuner: Inspirations=Historie (wie Anm. 10) v. a. Karl Knortz: Die wahre Inspirations=Gemeinde in Iowa. Ein Beitrag zur Geschichte des christlichen Pietismus und Communismus, Leipzig 1896; Bertha M. Horack Shambaugh: Amana That Was and Amana That Is. 3. Aufl. (erw. Neuausg. der seit 1908 wiederholt publizierten Darstellung: Amana: the Community of True Inspiration), New York 1976; Diane L. Barthel: Amana. From Pietist Sect to American Community, Lincoln – London 1984 und U.-M. Schneider: Propheten der Goethezeit (wie Anm. 4), S. 18–21.
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Johann Friedrich Rock, vom Naturell her ein stiller, von Selbstzweifeln und Entmutigungen gequälter Mystiker, dessen Aussprachen sich inhaltlich überhaupt nicht vom Gemeintypus pietistischer Theologie und Mahnrede der mystischen Richtung unterschied, ist der inspirativ empfangenen und auf den Wanderungen ebenso durch Geistzusprache von Station zu Station konkretisierten ,Reisordre‘ zu den Gesinnungsverbundenen in der Nähe oder Ferne insgesamt wenigstens 94mal gefolgt21 (die offizielle Gemeindegeschichte schreibt ihm gar über 100 Wanderungen zu).22 Seine Fernreisen gingen am häufigsten ins heimatliche Schwaben. Neunmal wandert er von dort weiter in oder durch die Schweiz, zwischen 1719 und 1741, seinem 42. und 64. Lebensjahr. Das Kryptonym I. F. R. seines Namens Johann Friedrich Rock auf seinen Schriften ist so auch am häufigsten als „In Fort=währendem Reisen“ aufgelöst oder (nach dem auch unter Not und Leid mystisch-gottgelassenen Seelenzustand) „In Fried und Ruh“. (Die Kennchiffre „J.J.J.“ im Haupttitel aller Inspiriertendrucke wird meist als Trinitätssymbol „Jesus, Jehova, Immanuel“ ausgelegt oder als Stoßgebet um göttlichen Beistand, „Jesus Immanuel Juva“.)23 Rocks Besuche etwa 1737 und 1738 im Toggenburg gehören in die Vorgeschichte des dortigen separatistischen Konventikeltreibens, von dem der ,arme Mann‘ Ulrich Bräker berichtet. Wenn Bräker aber in seinem Tagebuch (Pfingst-Dienstag, 29. Mai 1787) sein Schwanken zwischen den Extremen und frühere Ausbruchsversuche aus dem häuslichen Elend reflektiert, es hete offt nicht viel gefehlt ich wäre zum jnspirierten worden – hete alles verlassen – wäre in der welt umhergezogen – und hete buße geprediget,24
wenn er diesen ihm offenbar obsessiv wiederkehrenden Drang abermals in seiner Lebensgeschichte einbekennt, Oft fiel’s mir gar ein, ich sollte, gleich den Herrnhutern und Inspirirten, in der weiten Welt herumziehen, und Buß’ predigen,25 21 J.J.J. XIV. Sammlung, Das ist [–] Der XIV. Auszug aus denen Jahr=Büchern, o.O. 1761, S. 241 und J.J.J. XVII. Samlung, o.O. 1776, S. 241. 22 Lebensresümee und Nachruf auf Rock bei Scheuner: Inspirations=Historie, Bd. 1 (wie Anm. 10), S. 248: „Im Jahr 1714, als er 5 mal 7 Jahre alt war, kam er zur Gabe des Geistes der Weissagung und that in diesen Wegen bis 1742 in 4 mal 7 Jahren über 100 kleine und große Reisen […], als er 9 mal 7 oder 63 Jahre alt war, hörte er auf in die Ferne zu reisen“. Auch Krauß: Johann Friedrich Rock (wie Anm. 5), S. 99, zählt 94 Missionsreisen. Die Divergenz ergibt sich durch das Mitzählen (oder Nicht-Mitzählen) von Gemeindebesuchen im näheren Umkreis. 23 Vgl. etwa Shambaugh: Amana (wie Anm. 20), S. 331 und U.-M. Schneider: Propheten der Goethezeit (wie Anm. 4), S. 38. 24 Bräker: Sämtliche Schriften (wie Anm. 18), Bd. 2, Tagebücher 1779–1788, bearb. von Heinz Graber und Claudia Holliger-Wiesmann, München – Bern 1998, S. 583. Vgl. Christian Holliger, Claudia Holliger-Wiesmann, Heinz Graber, Karl Pestalozzi: Chronik Ulrich Bräker, Bern – Stuttgart 1985, S. 303. 25 Ulrich Bräker : Lebensgeschichte und Natürliche Ebentheuer des Armen Mannes im Tockenburg. Hg. von Samuel Voellmy, Basel 1945 (Leben und Schriften, Bd. 1; Birkhäuser Klassiker,
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dann denkt er dabei wohl an schon bewußt selbsterlebte Begegnungen mit späteren Gemeinde-D8l8gu8s, die nicht mehr vom unmittelbar durchdringenden Gotteswort erschüttert waren. Denn die Gesamtmenge der oft mehr als halbjährigen Inspirierten-Reisen durch die Schweiz zähle ich zwischen 1716 und 1810 (bis jenseits der Helvetik also und tief in die napoleonische Ära) auf 29.26 Und lang ist auch die Serie der Gegenbesuche der Schweizer Gesinnungsbrüder in der Wetterau. Nach dem Erlöschen der Prophetie nahmen aber diese Reisen nach und nach den Charakter bloßer bestärkender Gemeindebesuche oder gar privater Kontaktpflege unter den immer mehr zerfallenden inspirationsgläubigen Gruppierungen in immer provinzielleren Rückzugsgebieten an, im Schaffhauser Raum, in Graubünden und vor allem im Bernbiet (mit dem angrenzenden Aargau und Solothurner Raum), etwa in Diessbach bei Büren, Ursellen, Richigen und Roggwil, in Signau bei Thun oder Rothrist, später auch in Herzogenbuchsee, wo etwa der Gotthelf-Freund Joseph Burkhalter noch mit solchen Frommen in Verbindung stand.27 Bei der ersten Prophetenreise durch die Schweiz, von dem 21-jährigen Johann Adam Gruber und seinen beiden Schreibern im Jahr 1716/17, gab es aufgrund seiner im Rathaus abgegebenen scharfen Aussprache über Stadt und Land die härtesten Abstrafungen durch den Zürcher Rat: Die Inspirierten wurden verhört, im Wellenberg und Läuseturm „bei Wasser und Brod und großer Kälte gefangen gesetzt“, nach ein paar Tagen öffentlich an Pranger und Halseisen gestellt und das Zeugnis vor ihnen durch den Henker verbrannt,
schließlich wurden sie „von Henkersknechten mit Ruthen durch die Stadt gepeitschet“ sowie „des Landes verwiesen und über die Grenzen geführt.“28
Bd. 39), S. 250. Vgl. zu Bräkers Faszination durch die Inspirierten-Begegnung und seine umfassenderen radikalpietistischen Lektüren U.-M. Schneider: Propheten der Goethezeit (wie Anm. 4), S. 131–137 (im Kapitel über „Die Inspirierten und die Schweizer Literatur“), ders.: „Nachwort“ zu: Rock: Wie ihn Gott geführet (wie Anm. 5), S. 112–114 und schon Schrader: Literaturproduktion (1989, L 1), S. 307–313 und 511–513. 26 Genaue Angaben über diese (kirchengeschichtlich noch weithin unausgewerteten) Reisen, Besuche und Gegenbesuche bei Scheuner: Inspirations=Historie, Bd. 1 (wie Anm. 10), S. 56 (erste Reise des jungen Gruber zusammen mit Gleim und Mackinet in die Schweiz) bis S. 419 f. (letzte dokumentierte Schweizerreise im Auftrag der Inspirationsgemeinschaft durch die 1810 von der Gemeindekonferenz im isenburgischen Lieblos heimkehrenden „Schweizer=Brüder Namens Joh. Wagner und Samuel Schmitter“ aus Unterholz): Im „Berner=Gebiet“ („Rodrist, Roggwyl, Rummeldingen, Richigen und Diesbach“) hatten sich „überall noch kleine Häuflein von der früheren herrlichen Erweckungszeit in dasiger Gegend, aus den 50er, 60er und 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts, erhalten.“ 27 Nachweise vgl. Schrader : Literaturproduktion (1989, L 1), S. 321–324 und 517–518. 28 Scheuner: Inspirations=Historie, Bd. 1 (wie Anm. 10), S. 67, vgl. Sigmund Heinrich Gleims Bericht „J. A. Grubers und H. S. Gleims Leiden zu Zürich vom 2. bis 7. Januar 1717“ sowie Paul Giesebert Nagels moritatenhaftes Gedicht darüber ebd., Bd. 2, Amana 1884, S. 109–132. Umfassender Bericht, etwa auch von den Besuchen bei Margret Zeerleder in Bern und ihrem Bruder
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Dergleichen ist auch Rock auf seinen Reisen in Bern und Schaffhausen häufiger begegnet – und vielfältig seinen einheimischen Freunden und Helfern. Im Äußeren waren also höchst unerfreuliche Wanderbegebenheiten zu bestehen, zumal da die geistdiktierten ,Reisordres‘ wenig Rücksicht nahmen auf häufige wanderungswidrig-winterliche Jahreszeiten. Natürlich haben sich die Zeitgenossen vor allem für die aus göttlicher Vollmacht, meist als „Ich“-Äußerung Gottes, hervorgestoßenen Aussprachen interessiert, die uns die Reisetagebücher der Schreiber unter genauen Angaben von Datum, Ort, Anlaß und den Namen der Anwesenden überliefern. Auf diese unmittelbaren Verbalinspirationen auch bezieht sich der von den Berichten über die Inspirierten faszinierte und mit mehreren von ihnen bekannte junge Goethe, wenn er 1773 im ,Pastor-Brief‘ schreibt: Die Schwärmer und Inspiranten haben sich oft unglücklicher Weise ihrer Erleuchtung überhoben, man hat ihnen ihre eingebildete Offenbarung vorgeworfen; aber weh uns, daß unsre Geistlichen nichts mehr von einer unmittelbaren Eingebung wissen […]. Wollt ihr die Würkungen des heiligen Geistes schmälern? bestimmet mir die Zeit, wenn er aufgehöret hat an die Herzen zu predigen, und euern schaalen Diskursen das Amt überlassen hat, von dem Reiche Gottes zu zeugen. […] Nicht wahr, unaussprechliche Dinge? […] O meine Herren, eure Dogmatick hat noch viel Lücken.29
Oder ähnlich, auch 1773, im Aufsatz „Was heißt mit Zungen reden? (ckossair kakeim)“: Was willst du uns von der Sprache des Geistes sagen, wenn du den Geist nicht kennst, ist dir gegeben worden mit Zungen zu reden? […] Die göttlichste Empfindung strömt aus der Seel in die Zunge, und flammend verkündigt sie die grosen Thaten Gottes in einer neuen Sprache (2teqair ckossair) und das war d i e S p r a c h e d e s G e i s t e s.30
Und Bodmer und Breitinger haben auch die Aussprachen dieser spezifischen Propheten gemeint, nicht nur emphatisches Wesen allgemein, wenn sie die Samuel Lutz in Yverdon Ende Nov. / Anfang Dez. 1716 in: J.J.J. Buß= Weck= und Warnungs=Stimme (wie Anm. 17). 29 Johann Wolfgang Goethe: Brief des Pastors zu *** an den neuen Pastor zu ***, 1773. In: Der junge Goethe. Neu bearb. Ausg. in fünf Bänden, hg. von Hanna Fischer-Lamberg. Bd. 3, Berlin 1966, S. 114–115, vgl. auch die Faksimile-Ausgabe vom (nur noch in zwei Exemplaren nachweisbaren) Originaldruck (mit einem Nachwort von Paul Raabe), Halle an der Saale 1999 (Kleine Texte der Franckeschen Stiftungen, Bd. 7), S. 20 f. [Neben dem von Raabe faksimilierten vermeintlichen Unikat in der UB Leipzig ist jetzt noch ein zweites Original-Exemplar in der Stiftung Martin Bodmer, Cologny/Genf, aufgetaucht. Nachweise und Titelkopie in: Goethe et la France (vgl. L 56). Hg. v. Jacques Berchtold, Genf 2016, S. 45 (Titel-Faksimile), 48 f., 82, 85, 124.] 30 Goethe: Zwo wichtige bisher unerörterte Biblische Fragen (1773), Andere Frage. In: Der junge Goethe, Bd. 3 (wie Anm. 29), S. 122.
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Nähe der neuen Dichter-Genies und ,Gottesspürhunde‘ zu den ,Inspiranten‘ beklagten.31 Höchst reizvoll wäre es also sicher, hier näher einzugehen auf die mitgeschriebenen Geistreden: reizvoll nicht nur kulturgeschichtlich und regionalgeschichtlich, sondern auch sprachgeschichtlich, denn die historische Linguistik geht ja bisher von der Grundannahme aus, gesprochene Rede sei aus älterer Zeit nie anders denn als nachträglich überformte und stilisierte greifbar.32 Bei dem zuhauf überlieferten Aussprache- und Inspirations-Material läßt sich aber erweisen, daß die zum Teil von mehreren Schreibern penibel kollationierten wörtlichen Mitschriften (schließlich ging es ja um Gottes Rede, die kein Mensch verfälschen durfte) nicht etwa einer späteren redigierenden Bearbeitung unterzogen wurden; genau wird sogar vermerkt, wenn einmal die Schreiber dem Redefluß nicht nachkommen konnten.33 Gleichwohl aber richtet sich meine Fragestellung weniger auf die offiziellen Reisetagebücher der Schreiber mit ihren Nachschriften der Prophetenrede als auf die persönlichen des inspirierten Reisenden Johann Friedrich Rock selbst mit ihrer Eindrucks- und Gemütsanalyse, ihren Gebeten und Andachtbetrachtungen, insbesondere aber mit ihrer reichen Fracht an Lyrik. Denn diese Texte, die Gedichte zumal, werden als auf der Grenze zwischen göttlichem Zustrom und formender Eigenproduktion inspiriert erfahren, ihre implizite und explizite Poetologie kommt damit der Dichterauffassung der Stürmer und Dränger am nächsten.34 Deshalb konzentriere ich mich im folgenden ganz auf Rocks erste beiden großen Schweizerreisen, im Winter 1719/20 und im Spätherbst 1727, von denen nämlich seine poetischen Reisetagebücher vollständig, als Anhänge zur X. und XI. Sammlung der EXTRACTA der Gemeindediarien, überliefert sind: der erste Zyklus unter dem Titel Lichte und Leichte, Auch Dunckele und Schwehre Stunden […] Auf der Reyß Biß nach Genf, der zweite Weise […] Auf seiner Reyse, Ein Tag=Buch, beide erst publiziert in seinem Todes- und Goethes Geburtsjahr 1749.35 Die beiden Wanderungen sind 31 Vgl. hierzu und zu den vielfältigen Berührungspunkten mit Goethe und Einwirkungen auf die Dichtungskonzeption und -praxis des Sturm und Drang U.-M. Schneider: Propheten der Goethezeit (wie Anm. 4), S. 142–189. 32 So Helmut Henne und Helmut Rehbock: Einführung in die Gesprächsanalyse, Berlin – New York, 2. Aufl. 1982, S. 234–241; vgl. dazu U.-M. Schneider, Propheten der Goethezeit (wie Anm. 4), S. 10 f. 33 Vgl. zu den Techniken der schriftlichen Fixierung der Aussprachen U.-M. Schneider: Propheten der Goethezeit (wie Anm. 4), S. 44–52. 34 Dies ist auch das Ergebnis des Kapitels über „Subjektivität und Individualität in der Lyrik Johann Friedrich Rocks“ bei U.-M. Schneider: Propheten der Goethezeit (wie Anm. 4), S. 108–126. 35 Beide Sammlungen sind auch enthalten im o.g. (wie Anm. 2) Sammelband von Inspiriertendrucken in der BCU Lausanne: Lichte und Leichte, Auch Dunckele und Schwehre Stunden […] aus Gnaden gefunden, Auf der Reyß Biß nach Genf, und in der Schweitz. […] Einfältig und ohnverstellt aufgezeichnet In Fortwährendem Reisen, o.O. 1749 (mit eigener Paginierung,
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überdies die einzigen, die nicht nur durch fast die gesamte Deutschschweiz, sondern auch durch die Romandie bis nach Genf geführt haben (zwischen beiden lagen noch, 1721 und 1725, Wanderungen, die nur bis Schaffhausen gingen). Befragen möchte ich die beiden Rockschen Reisetagebücher nach einer knappen Umrißcharakteristik zunächst darauf, was in ihnen überhaupt von der äußeren Realität seines Reisens durchschlägt und wie das Wandererlebnis verarbeitet wird. In einem zweiten Schritt versuche ich dann, die Gedichte selbst in ihrer thematischen, sprachlich-bildlichen und formalen Eigenart zu umreißen, auch nachzuverfolgen, von welchen konkreten Impulsen das Reimenreden ausgelöst werden konnte, um dann schließlich drittens bloßzulegen, was in ihnen von der Poetologie einer zum Sturm und Drang hinführenden Dichtungsauffassung greifbar und explizit zur Sprache gebracht wird. Zunächst also zum Äußeren der beiden Wanderreisen und ihrem Niederschlag in Rocks poetischem Tagebuch: Beide Wanderungen waren im Frühherbst nach inspirativ empfangener ,Reisordre‘ mit mehreren SchreiberBegleitern ins Württembergische begonnen worden. Für die nachbeorderten, in den Winter führenden Fortsetzungen im Schweizerland mußte den Propheten nur noch ein einziger Weggenosse begleiten: dieser Bruder, Johann Jacob Schultheß, der Mitschreiber also der Aussprachen und Verfasser des gemeindeoffiziellen Reisediariums, war ein in der Wetterau exilierter amtsentsetzter Zürcher Geistlicher.36 Er hatte so nicht nur die nötigen Landeskenntnisse, sondern erfüllte auch die wichtigste Voraussetzung für die fernere Wegstrecke: Br. Schulthes war der französischen Sprache mächtig und konnte auch die Zeugnisse nach dem wahren Geistessinn ins Französische übersetzen. Dadurch waren sie im Stande dem Willen und der Anforderung des HErrn, auch selbst unter den Welschen nachzukommen.37
In der Schweiz führte die erste große Reise38 ab Ende Oktober 1719 von Kreuzlingen aus zu Sammelpunkten separatistischer Gesinnungsgenossen oder auch zu pietistischen Pfarrern und Erwecktenzirkeln, besonders in jene S. 3–192) sowie: Johann Friedrich Rocks Weise war Auf seiner Reyse, Ein Tag=Buch zu führen, Um Müßige Stunden auch nicht zu verliehren, o.O. 1749, als durchpaginierter „Anhang“ (S. 185–296) zu: EXTRACTA […] XI. Sammlung, […] Der Anhang ist: Joh. Fr. Rocks Tage=Buch auf der zweyten Reyß […] in die Teutsche und Welsche Schweitz, o.O. 1749. Zur Entlastung des Anmerkungsapparats weise ich im folgenden die Zitate aus diesen beiden Zyklen direkt im Text mit den Kurztiteln [Lichte Stunden] bzw. [Tag=Buch] und Seitenangabe aus. 36 Guggisberg: Bernische Kirchengeschichte (wie Anm. 8), S. 418. 37 Scheuner: Inspirations=Historie (wie Anm. 10), Bd. 1, S. 102. 38 Ebd., S. 101–103, offizielles Reisetagebuch in den EXTRACTA XXXV bis XXXIX, o.O. 1784–1786, Reprint Ebenezer, NY 1855/1856, vgl. U.-M. Schneider: Propheten der Goethezeit (wie Anm. 4), S. 195 f., 219 f. und 223 f.
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Orte, aus denen selbst prophetische Erscheinungen vernehmbar geworden waren: zunächst vom Bodensee nach Schaffhausen, wo eine starke Sympathisantengruppe bestand, dann über den Rhein für eine Woche nach Zürich, wo es drei Jahre zuvor dem jungen Gruber so schlecht ergangen war und nun neues Aufsehen vermieden wurde. Die Stationen im Aargau waren Villmergen, Leutwil, Birwil am Hallwiler See und Zofingen. In Bern, über Burgdorf erreicht, blieben die Reisenden 14 Tage bis Anfang Dezember im Kreis der radikalpietistisch erweckten Margret Zeerleder, der Schwester des einflußreichen Pietistenpfarrers Samuel Lutz, in scharfen Auseinandersetzungen mit dem anscheinend aus der Wetterau zu Besuch in der Heimat weilenden Samuel König. Vom Thunersee (Wimmis) und dem Simmental (Weissenbach, Saanen), wo in diesen Jahren trügerische Bauernpropheten Unruhe stifteten, kam gegen stärkstes Zaudern und Zagen der Ruf übers verschneite Gebirge zu den Erwecktengruppen im Welschland. Dort nämlich hatten sich ebenfalls vielfältig prophetische Geister hervorgetan, mit denen eine Begegnung und Konfrontation zur Prüfung ihrer Lauterkeit gesucht wurde: über den Col de Jaman wurde das Erwecktenzentrum Vevey, über Lausanne, Morges, Rolle und Coppet wurde kurz vor Weihnachten Genf erreicht. Hier hielt sich der noch aus Vevey verbannte Pietistenführer FranÅois Magny auf, auch eine Gruppe von Verwandten und Anhängern des Mystikers Marsay. Im neuen Jahr 1720, längs des Genfer Sees zurück, waren die Ziele Yverdon am Neuenburger See mit dem Kreis des Pfarrers Lutz, dann Moudon, wo es zu heftigen Aussprachegefechten mit der frankophonen „Falschinspirierten“ Mlle. de Burnon kam. Nach abermaliger Winterüberquerung des Saaner Gebirges (über L’Etivaz) wurden bis Ende Februar abermals die Konventikel im Simmental und dann ausführlicher die im Gebiet des Thuner Sees besucht: Erlenbach, Leissigen, Beatenberg und Thun. Nochmals über Bern und Zofingen, mit mehrtägigem Aufenthalt in Biel, konnten die beiden Wanderer nach viereinhalb Monaten voller Demütigungen und Reisebeschwer, nachdem sie allenthalben ihr neues Wort Gottes übergeben, Widersprechern gewehrt und Zugetane bestärkt hatten, Mitte März Basel erreichen und die Heimreise antreten. Die zweite große Reise Rocks mit Schultheß in der Schweiz,39 vom Eintritt in Schaffhausen am 18. September 1727 bis zur Ausreise ebendort am 14. November, berührte weithin dieselben Stationen. Wieder war Genf das Ziel, erreicht diesmal über Baden, Solothurn, Biel, Neuch.tel und Colombier (Kreis des Pfarrers Bodmer und des Junkers de Muralt). Während in Genf einem ,Falschinspirierten‘ Josineau begegnet werden mußte, war in den ,Gnadenort‘ Vevey mittlerweile der Gesinnungsbruder Magny zurückgekehrt, der Seelenführer der Mme. de Warens, die später Rousseaus Freundin wurde. So ist auch dieser große Exponent der Epochenschwelle mit radikalpietistischem und 39 Scheuner: Inspirations=Historie, Bd. 1 (wie Anm. 10), S. 139–143, offizielles Reise-Tagebuch in EXTRACTA XVII (wie Anm. 21), vgl. U.-M. Schneider: Propheten der Goethezeit (wie Anm. 4), S. 199 f. und 215.
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inspiriertem Gedankengut vertraut geworden.40 Wichtig wurden 1727 Rocks Kontakte zur Familie von Wattwyl. Wiederbesucht wurden neben Yverdon die meisten Orte der Anreise, dann Bern. Auf dem Weg nach Burgdorf kehrten die beiden bei der von der Berner Regierung auf dem Thorberg unter Bewachung gehaltenen blinden Seherin Christina Kratzer ein, genannt das „blinde Stineli“. Von ihr hieß es, sie habe 38 Monate ohne Speise und Trank allein vom Zustrom der göttlichen Gnade gelebt. Allein diese Prophetin konnten die Wanderer unter allen begegnenden Geistesverkündern als wahrinspiriert befinden – und ihre (soweit das ihr rasches Sprechen zuließ) mitgeschriebene Aussprache über die Besucher nahmen sie ins Gemeindediarium auf. Unter fortwährendem Schneefall konnten sie dann über Zofingen und Baden wieder Schaffhausen erreichen. Von den 136 Schweizer Tagen auf der ersten Reise sind in Rocks Reisediarium neben Gebeten und täglichen Selbstprüfungen seines Seelenzustands 154 Gedichte und oft vielstrophige Lieder enthalten, aus den nur 58 Tagen in der Schweiz auf der zweiten Reise resultieren gar 126 poetische Bekundungen, täglich also im Durchschnitt mehr als zwei. Aber einen Lobpreis der Schönheit der durchwanderten Landstriche, Beschreibungen der Wasserfahrten über Bodensee, Thuner-, Bieler-, Neuch.teler oder Genfer See und der Gebirgswanderungen, etwa zwischen dem Berner Oberland und Montreux, Schilderungen des Landschaftscharakters und der Flora, des Menschenschlags oder auch nur der individuell Begegnenden würde man hier vergebens suchen. Nicht einmal ein – von einer Missionswanderung doch eigentlich erwartbares – Bild der Konfessionsverhältnisse in der Schweiz wird gegeben – über die Indizien hinaus, wo es Erweckte und Ekstatiker zu besuchen gab, wo hingegen es Verfolgungen setzte. Freilich mußten die katholischen Regionen, wo wenig Neigung für geistgetriebene Alfanzereien zu finden war, nach Möglichkeit umgangen werden: in Villmergen etwa kam eine empfindliche Prob über uns, und fielen Catholischen Bauren in die Händ, welche uns als Diebe arrestirten, und musten die gantze Nacht unter grosser Unruh mit 5. Mann verwahrt werden als Uebelthäter […] den gantzen Tag […] und wurden erst, da es Nacht war, von dem Arrest loß; Musten alles ohne Schuld bezahlen, und noch darbey sitzen, wie unser Geld versoffen wurde. […] Es war zwar eine Seelen=Pein, Allein es kont nicht anders seyn, Wir musten uns nur geben hin, Wider Vermuthen, Will und Sinn, 40 Näheres dazu in den Arbeiten von EugHne Ritter : Jeanne Bonnet, 8pisode de l’histoire du pi8tisme / GenHve (1724–1726). In: Ptrennes Chr8tiennes 12 (1886), S. 114–147; ders.: Les id8es religieuses de Madame de Warens. In: R8vue Internationale 22 (1889), S. 273–291 und 439–457 sowie ders.: Magny et le pi8tisme romand. In: M8moires et documents publi8s par la Soci8t8 d’histoire de la Suisse romande II,3, Lausanne 1891, S. 255–324.
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Und Schaden leiden leiblich viel; Doch glaub ich, es sey auch dein Will, Uns zu probiren mannigfalt, Zu unserm Heyl, mein Aufenthalt! Es sey, HErr, wie es immer will, Ich will ja gerne halten still. [Lichte Stunden, S. 58–60]
Von den Konkreta des äußeren Erlebens ist in der soeben zitierten Passage vergleichsweise schon ungewöhnlich viel mitgeteilt: die Wegstationen sind selbst im Prosatext meist nur abbreviierend benannt (bisweilen sogar müssen sie mit den näheren Umständen aus dem Schreiberdiarium rekonstruiert werden). Das Augenfällige tritt erstaunlich zurück: ein Lesen im ,Buch der Natur‘, die doch in dieser Epoche erwartbare physikotheologische Transgression von der ins Auge fallenden Schönheit und Majestät des Landes auf einen Lobpreis der Vollkommenheit im göttlichen Schöpfungswerk unterbleibt, sieht man einmal ab von drei Gedichten, bei denen der Fund eines vier-, fünf- oder sechsblättrigen Klees ein Nachdenken über die Zahlenordnung im Heilsplan der Oeconomie divine veranlaßt. Selbst die mit dem prophetischen Reiseauftrag zusammenhängenden Ereignisse, die Versammlungen, Gespräche und Konfrontationen, die Begegnungen und Bewirtungen, kleine Konflikte mit dem Reisebegleiter, auch die fast täglich erfolgenden Aussprachen und die Reaktionen darauf gewinnen in diesem Reisediarium nur insofern Notiz und Gewicht, als sie den Bezug eröffnen aufs innere Zentrum des Tagebuchs: ein stündlich-penibles Aufmerken auf die Wechsel der Seelen- und Gemütszustände im mystischen Gegenüber mit Gott. Der Blick ist ganz nach innen gezogen, auf die Notifikation der psychischen Schwankungen zwischen Entmutigung und Erquickung, Angstanfällen und überschwenglichem Gottesgenuß. Der Eintrag schon beim Eintritt in die Schweiz zeigt, wie die sinnlichen Eindrücke des Tages nachgerade abgeschirmt werden müssen, damit die allein relevante innere Wahrnehmung nicht verdunkelt werde – und wie die Prosa des Tagebuchs im Moment des Außer-sich-Kommens geradezu automatisch in Verse übergeht: Den 28ten [Oktober 1719] habe durch mein starckes Lauffen fast wie verlohren gehalten, und den gantzen Tag niemahl zu meinem Hertzen kommen können, welches mich gegen Abend sehr beugete; Unter dem Nacht=Gebet aber wurde mein Hertz in eine solche innige Stille gezogen, daß ich fast wie ausser mir kam. Ach JEsu! welche Seeligkeit Hast du mir Armen zubereit, Wann deine Gnad mich einwarts zieht, Und also mein gantz Hertz durchglüht!
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Inspirierte Schweizerreisen Ach eine Lieb, die niemand kennt, Als der in solcher Liebe brennt! […] [Lichte Stunden, S. 42]
Freilich schlägt die Realität doch durch ins Rechenschaftgeben und Dichten, wenn sie nämlich zum Auslöser wird für die Reflexion der Gemütsbefindlichkeiten oder Stimmungswechsel – nicht allein körperlicher Unpäßlichkeiten, Wandermüdigkeit, Fußentzündungen und nervöser Kopfschmerzen (etwa vor dem Prophetenduell mit der Burnon) – oder wenn ein körperlicher Eigenwille den geistlichen Auftrag zu beschädigen droht: Aus unwürdigopulentem Essen (etwa in Saanen) erfolgen Schuldgefühle und böse Träume. Ein Zurückhalten des Geistesdrangs aus weltlichen Rücksichten oder ein Verzögern der gebotenen Abreise zieht innere und äußere Bestrafungen nach sich wie ein tagelanges Waten im Schnee: Den 5ten December reiseten wir von Bern ab, und weil wir nicht unsrer Ordre gemäß gleich abreiseten, sondern uns über die Zeit aufhielten, so wurde mein Hertz voller Anfechtung, und der Feind stürmete sehr auf mich loß, so daß ich auch am hellen Tag meinen Reiß=Gefehrten verlohr und irr gieng. Mel. Meine Krafft ist hin usw. Ach ein Tag des Leids, Den ich gieng beyseits; Mit viel Hertzeleyd, Drinn ich mich must plagen, Und mein Elend tragen. Ach ein Tag des Leyds. Ich ward müd und matt, Und des Reisens satt, Hatte keine Ruh, Und must vieles tragen, Mich im Jammer plagen, GOtt entbehrn darzu. [… ] Ach HErr! laß mich nicht! Meines Glaubens Licht Will jetzt wanckend seyn. Mein Hertz ist im Sincken, Es muß wie ertrincken, Meine Zuversicht. […] [Lichte Stunden, S. 94]
Oder, angesichts der Winterdurchquerung des schroffen Pays d’Enhaut zwischen Simmental und Genfer See am 28./29. Januar 1720, auf das Sanerland, auf Aria. Dieser Tag war mir ein Angst=Tag, daran ich billig gedencken solte. Wir musten durchs Gebürg, und wußten keinen Weg, darzu war es dunckel von starckem Schnee [… ], da in mir Ungedult aufsteigen wolte [… ], da wir musten den gantzen Tag zwischen den Bergen im Schnee=Wasser waten biß Abend.
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Hier ist Gedult mir Noth, HErr du getreuer GOtt! Du wollest sie mir geben, Und mich dir machen eben, Daß ich recht durch die Leiden Erlangen mög die Freuden. [Lichte Stunden, S. 153 f.]
So kann trotz auflauernder Wegelagerer im Abstieg nach Vivis (Vevey) die zum Ebenbild Gottes zurückführende compassio Christi als Engelsschutz erfahren werden: Der Berg war leichter als das Thal, Weil darauf nicht so Angst und Quaal Mich ängstete wie in der Nacht, Fried hat er bracht Mich an das Licht durch GOttes Macht. Ich kont ihn übersteigen leicht, Weil JEsus hat mein Hertz erweicht, Und mitgetheilt der Engel Schutz, Zu meiner Nutz, Kont ich den Mörder bieten Trutz. […] [Lichte Stunden, S. 103]
„Der Berg war leicht“ oder, im einleitenden Prosatext: „Diesen Tag konten wir gantz ruhig unsere Strassen reisen, und überstiegen also auch diesen Berg“ – das ist ebenso wörtlich zu verstehen wie bildlich, als Letavoq² eQr !kko cemor. Und so sind denn die äußeren Eindrücke dieser Reise „zu Wasser und zu Land“41 am deutlichsten greifbar als Anlaß zu allegorischen Sinnausweitungen: die notwendigen, diesem Propheten-Poeten offenbar angstbesetzten Fluß- oder Seeüberfahrten geben ihm Anstoß zu Schiffahrtsallegorien des Lebens, der Besuch des Kirchhofs in Birwil zu ars-moriendi-Assoziationen. Ortsnamen wie Thun oder Stille im Aargau leiten zur Reflexion über das gottgebotene Tun, über das mystische Stille-Sein.42 Anders aber als beim barocküblichen Allegorisieren ist hier immer schon wie im Goetheschen Symbolverständnis neben der Verweisung ins Allgemeine zugleich auch ganz konkret das angesprochene Besondere gemeint: die ein unbildlich Bezeichnetes bedeutenden Zeichen also gewinnen einen Bedeutungsüberhang. Und die Gedichte wenden sich, schon ganz wie im Goetheschen Konzept vom Gelegenheitsgedicht, von der Bezogenheit auf einen Anlaß, gar von seiner 41 So im Tag=Buch (EXTRACTA XI, 1749), S. 233, vgl. 247 u. ö. – Durchaus in pietistischer Traditionslinie taucht diese Formel wiederholt in Titeln abenteuerlicher Lebensberichte wieder auf, z. B. [Gottfried August Bürger]: Wunderbare Reise zu Wasser und Lande […] des Freiherrn von Münchhausen, London [recte: Göttingen] 1786 oder [Johann Christian Stahlschmidt]: Die Pilgerreise zu Wasser und zu Lande, oder Denkwürdigkeiten der göttlichen Gnadenführung […] in seinen Reisen durch alle vier Haupttheile der Erde [mit einer Vorrede von Johann Heinrich Jung, gen. Stilling], Nürnberg – Mülheim 1799. 42 Lichte […] Stunden, S. 95 bzw. Tag=Buch, S. 249 (wie Anm. 35).
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beschreibenden Widerspiegelung, ab zur Evokation des Widerhalls dieses Anlasses in der eigenen Brust.43 Auch wenn die Formensprache aus eigener Kraft der Stürmer und Dränger weder erstrebt noch auch erreicht wird und häufig sichernde Anlehnung an Metrum und Ton vertrauter Kirchenlieder gesucht wird: das poetische Sprechen wird von diesem Geistgetriebenen schon als ein Müssen erfahren. Sogar die Formel der späteren Genies für ihr Programm einer Revolutionierung von Kunst und Leben, ,Sturm und Drang‘, ist bei ihm schon ähnlich vorgeprägt: Auf der zweiten Reise beim Eintritt in die Schweiz heißt es: Ist mir schon öffters bang, Und dencke, wie so lang Soll ich im Elend baden? Hilff du nur aus Genaden, So wird es nicht zu lang Bey allem Druck und Drang. [Tag=Buch, S. 233]
Am stärksten traumatisierend übrigens werden nicht einmal Wetter-, Wasserund Bergängste, Konfrontationen mit Behördenbütteln oder Räubergesindel und die für widergöttlich befundenen Antipropheten erfahren, sondern der Verlust der sprachlichen Orientierung, das Ausgesetztheitsgefühl im fremden Sprachgebiet. Zwei Beispiele der Beängstigung durch das „Welsche“ und der Erleichterung beim Wiedereintauchen ins deutsche Sprachgebiet gibt, aus Colombier und Biel, das „Tag=Buch“ der zweiten Reise, am 28. und 31. Oktober 1727: Nun gehets aus der Welschen Schweitz Morgen mit GOtt allbereits: HErr! es sey die Ehr allein Dem so grossen Nahmen dein! Der so gnäd= und vätterlich Durchgeholffen, da du mich Wiederum durch manche Noth Hast geführet, o mein Gott! […] GOtt hat alles wohl gemacht, Darum sag ich gute Nacht Erstlich dieser Welschen Schweitz Doch bleibt sie mir allbereits Innig nah im Hertzens=Grund […]! Den 30ten Dito ruhen wir zu Biel / und bringen unsere Zeit mit schreiben nach Hauß zu. 43 Dazu auch U.-M. Schneider: Propheten der Goethezeit (wie Anm. 4), S. 119–126.
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Wir sind in der Teutschen Schweitz Und gesegnet allerseits, GOtt wirds auch hie machen so, Daß wir endlich werden froh. [–] Den 31. Dito beschliessen wir Das Besuchen auch allhier. Es geht näher zu dem End, Biß ich meine Heimath find. Ich verlange recht darnach, Schicke darum manches Ach Zu dir meinem treuen GOtt, Weil du weissest meine Noth. Ach wie bin ich doch so matt, Und der Schweitz von Hertzen satt! O hätt ich bald, was begehr, So würd mein Lauff nimmer schwer! [Tag=Buch, S. 276 f.]
Wie „Innig nah im Hertzens=Grund“ die „Welsche Schweitz“ auch gepriesen wird, das Hilfloswerden der „Mutter=Sprach“ führt diesen Sprecher in Vertrauenskrisen und tiefste Verlassenheiten. Nur wenige Beispiele von vielen, in Prosa und Vers, von der Sprachgrenze auf der ersten Reise: Als wir ins Wirthshauß kamen, sahe es wohl recht einer Mörder=Grube gleich; doch wurde das Vertrauen auf meinen GOtt Meister in mir, und kamen in der Nacht mehr Gäste, welchen zwar, als Welschen, gleich des Wirths Leuten, nicht trauen konte. […] Wir konten kaum ruhen vor ihrem Geschwätz, und lag eine grosse Angst und Last auf mir, so bald ich mich legte; Als ich kaum halb schlaffend war, wurde ich recht von finstern Anfällen oder Gespenstern überfallen, und dabey kam mir ein solches Gethön, als viel Geläutes in die Ohren, und wolte es mir wie den Hals zustricken […]. [Lichte Stunden, S. 101 f.]
Und dann, am nächsten Tag: Heute hast du mir ziemlichen Kummer abgenommen, o mein getreuer GOtt! indem ich wohl sehe und erkenne, wie du mit mir in der rechten Mutter=Sprach handlen wilt, ob ich gleich unter welschen Leuten bin, biß es deiner Liebe gefallen wird, uns wiederum zu unsern Lieben zu führen. [Lichte Stunden, S. 104]
Dem Herrn gegenüber – und im poetischen Impuls – aber ist die eigentliche „Mutter=Sprach“ das zeichen- und wortlose Zusammenströmen der Empfindung: In Genf, am Morgen nach dem Weihnachtsfest, Den 27ten December arbeiteten wir, und nicht ohne Seegen, wiewohl mein Hertze immer in Furchten war unter diesem Welschen Volck:
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Inspirierte Schweizerreisen Dabey giebst du mir nach und nach, Mein GOtt, die rechte Mutter=Sprach, Die ich kan reden ohne Wort Zu Hauß oder an fremden Ort. […] Mein Hertz hierzu je mehr bereit, Mein GOtt! in Zeit und Ewigkeit. Amen. [Lichte Stunden, S. 127 f.]
Über die gehäuften Heimwehanfälle im Unverstehbarwerden der Umgebung kann die Selbsttröstung der Gottunmittelbarkeit des wortlosen Empfindungszustroms dem Bruder Rock freilich auch nicht hinweghelfen. Kurzfassen kann ich mich nach diesen durchaus exemplarischen Proben mit einer Charakterisierung der Themen und sprachlich-formalen Organisation der Gedichte im Rockschen Reisetagebuch. Der zentrale Gegenstand des Dichtens ist das Ausloten des in äußeren und inneren Fährnissen schwankungsvollen Seelenzustands des Sprechers vor Gott, dazu das Themenspektrum religiöser Lyrik überhaupt: Klage in Lebensnot, Bitte um Beistand und Stärkung, Lobpreis der göttlichen Größe und Gnade; immer wieder Reflexion der eigenen Endlichkeit und Sehnsucht nach der ruhebringenden Ewigkeit. Theologisch radikale oder separatistische Sondertendenzen, Visionen, Endzeitemphasen oder zornig-selbstgerechte Bußforderungen treten nirgends hervor. Die Aussage bleibt ganz im Rahmen des im Pietismus Üblichen, sieht man einmal ab von einem stärkeren Vorherrschen mystischer Gehalte und Formeln (mystische Versenkung, Gelassenheit und Entbildung, Gleichförmigwerden mit Gott, braut- und blutmystische Bilder, Fließmetaphorik) und den Reflexionen auf das Sprechenmüssen, das nicht bloß als Gnade und gar nicht als prophetische Auszeichnung erfahren wird, sondern zumeist als eine kaum tragbare Last und Anfechtung. Formal heben sich die kürzeren Gedichte als versifizierte Morgen- oder Abendgebete, in denen verstärkt aktuelle Reisesituationen und Stationen den Ausgangspunkt geben, von überlangen (bis 22- und durchschnittlich 9-strophigen) Liedern ab. Ganz wie Kirchenlieder sind diese Texte tauglich zum Gemeinschaftsgesang, das heißt, das SprecherIch nimmt fast durchgängig so entschiedenen Abstand vom IndividuierendBesonderen, daß die Aussage zur Identifikation für jede nachlesende und mitsingende fromme Seele verfügbar wird. Das ist insofern bemerkenswert, als Rock seine Lieder ja nicht zur Publikation gedacht oder gebracht hat:44 So heißt es im Eingangsgedicht der Reise von 1719 Die Ursach meines Reimen=Spiel Ich schreib die Reimen nur vor mich, Damit die Zeit nicht liederlich 44 Belege dazu ebd., S. 116 und 120.
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Verschwendet werd auch auf der Reiß, Drum halt ich diese Kinder=Weiß. [Lichte Stunden, S. 3]
und später, in Bern: Du weißt, was mir mein Hertz abnagt, Und wie mich mancher Kummer plagt. […] Drum schütt ich solches aus für dir Wart, biß du gnädig hilffest mir. Solls seyn, so seys! ich geb mich drein, Glaub doch, du werdest bey mir seyn, Auch mitten in Verlassenheit, Betrübniß, Noth und Hertzeleyd […]. [Lichte Stunden, S. 73]
Der erklärte Zweck also dieses Reimens war neben der eigenen Seelenstärkung ein Ausnützen der müßigen Stunden in einer vor Gott von Minute zu Minute rechenschaftspflichtigen Lebenszeit. Nur seine kürzeren Gedichte aus dem Jahr 1740, die „Beinbruch=Reimlein“ vom Krankenlager nach einem Reitunfall, bei dem der Prophet in Übertretung des Auftrags zur apostolischen Fußreise ein Pferd genommen und dafür seine Strafe gefunden hatte, hat er selbst zum Druck gebracht.45 All seine sonstige Lyrik ist erst beim ,Einsammeln der übrigen Brocken‘ (nach Joh 6,12) von der Gemeinde publik gemacht worden. Immerhin aber hatte Rock nichts dagegen, daß einige seiner Lieder in das seit 1718 häufig erweiternd aufgelegte Inspirierten-Gesangbuch Davidisches Psalter=Spiel der Kinder Zions aufgenommen wurden (dessen 2. Auflage 1727 in Schaffhausen erschien, seit der 8. Auflage von 1869 wurde es im amerikanischen Amana gedruckt).46 Die Fälle einer solchen Aufnahme ins Gesangbuch weisen die Reisetagebuch-Herausgeber durch Fußnoten nach. Alle Gedicht-Texte haben Reimstruktur, neben dem häufigsten einfachen Paarreim auch Kreuz- und umarmende, Schlag- und Binnenreime, in einer 45 Einige Reimlein, aufgesetzt unter mancherley Leibes=Schmertzen, Doch GOtt Lob In Friede und Ruhe im Hertzen […] Im Jahr 1740, o.O. 1744, als eigenpaginierter (und auch selbständig vertriebener) Anhang zu EXTRACTA IX, o.O. 1744 (vgl. U.-M. Schneider: Propheten der Goethezeit [wie Anm. 4], S. 212), auch im Sammelband der BCU Lausanne (wie Anm. 2). – Das Gedicht vom 7. April 1740 (S. 106) weist nach, daß die Publikation dieser Verse von dem „Concipienten“ Jonas Wickmark erdrungen worden war: „Der Jonas will von mir die Lieder. jj Sie sind vor mich, nicht vor die Brüder. jj Ich hab nichts als das Reimen=Spiel: jj Für starcke Brüder taugts nicht viel. jj Für Kinder mag es noch so seyn; jj Doch was nicht taugt, das bleibet mein.“ Diese Strophe ist der Sammlung zugleich (S. 2) als Motto vorangesetzt, doch wird auch hier, von der konkreten Gelegenheit ablösend, statt des Mitarbeiternamens die KryptonymenChiffre gesetzt, die als den eigentlichen Initiator dieser Lyrik Jesus oder Jahwe / Jehova andeutet: „Der J… will von mir die Lieder“. 46 Die komplizierte Auflagengeschichte im Überblick bei U.-M. Schneider: Propheten der Goethezeit (wie Anm. 4), S. 209. Zur Fortwirkung der häufig nachgedruckten Auswahlausgabe: Das kleine Davidische Psalterspiel Der Kinder Zions, Germantown 1744, in Amerika vgl. Hedwig T. Durnbaugh: The German Hymnody of the Brethren 1720–1903, Philadelphia, PA 1986, S. 40–60, 146–148; Titel-Faks. S. 137.
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(verglichen mit den Zeitgenossen) überwiegend achtbaren Vielfältigkeit und Reinheit. Beweglich sind (beim Vorwiegen einfacher Metren) auch die prosodischen Strukturen: häufig drei- bis vierhebige Jamben und Trochäen, aber auch stärker gegliederte Maße, meist jedoch in Anlehnung an den (oft auch ausgewiesenen) Ton von Kirchenliedern: Tonbeugungen jedenfalls sind bei diesem poetischen Sattler auffallend selten. Ein Charakteristikum der Inspiriertenlyrik überhaupt ist das von der geistlichen Lyrik des Barock, vor allem Kuhlmanns und der Greiffenberg, bekannte Übereinandersetzen divergierender Lesungen in Spitzklammern ins selbe Metrum: nicht im Sinne einer vom Leser zu wählenden Alternative des Ausdrucks, sondern als Signal einer Sprachnot, daß für das Bewußtsein hier ein Zuströmendes Zugleich von Bestimmungen eines mystischen Eindrucks nur durch Ineinsdenken der defizienten Wörter erreichbar werden kann (bei Goethe werden daraus die Haufenwörter wie „Knabenmorgenblüthenträume“). Der vergleichsweise breiten formalen Diversität und Stimmigkeit entspricht aber, zumal in den längeren Texten, nur selten eine ebensolche Formkraft und Stringenz der Gedankenführung. Durch das beständige Kreisen der Gedichte um immer dieselben Grundthemen entsteht oft ermüdende Wiederholung, ein Leerlaufen der Reimenrede. Wenn schon in einer Strophe der Kerngehalt bündig umrissen sein kann, werden die Amplifikationen der übrigen oft austauschbar ; mein ausschnittweises Zitieren tut einer solchen Lyrik keine Gewalt an. Über das der eigenen Willkür entzogene Fortspielen der Weise sind Äußerungen Rocks häufig wie: Endlich wurde mir das Lied in Sinn gelegt: O allerhöchster Menschen=Hüter usw. So bald ich es sunge, so bald wich aller Schmerz; Nach dem singen spielte das Lied im Geist fort, da ich dann folgendes Lied machte nach dessen Melodie:
oder : Unterm Liedmachen besuchte die Liebe mein Herz, darauf kam der Ausfluß des folgenden auch.47
Untersucht man die Texte auf den poetischen Impuls, die Auslösefaktoren des dammlosen Versestroms, dann sieht man, wie wörtlich solche Aussagen über das Unwillkürliche, der planenden Organisation Entzogene des Schaffensprozesses zu nehmen sind. Das Singen eines Kirchenlieds führt fort zu einer 47 Das dritte Tage=Buch, das Br. Rock geschrieben, voll schöner Lieder, je, nachdem der Geist Ihn angetrieben [1718], o.O. 1776 = EXTRACTA XVII: J.J.J. XVII. Samlung. Das ist: Der XVII. Auszug Aus denen Jahr=Büchern Der Wahren Inspirations=Gemeinschaften, o.O. 1776, S. 201 und 186. Auch aus Rocks anderen Liedersammlungen ließen sich vielfältig ähnliche Aussagen über die Unwillkürlichkeit des Versezustroms beibringen. Wie anachronistisch bereits die Kunstfehler-Kritiken der zünftigen Dichtungslehre gegenüber einer solchen Inspirations-Poetologie geworden waren, zeigt U.-M. Schneider: Propheten der Goethezeit (wie Anm. 4), S. 108–114 an dem Spottgedicht des kaiserlich gekrönten Dichters Christian Gottlieb König auf die Verse „Des Sattlers Rock“ und seines Anhangs und am dadurch ausgelösten Literaturstreit.
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taglangen Liederserie im selben Metrum und Ton; eine Bibel-, vor allem Psalmenlektüre löst Gedichte aus, die die Bildlichkeit des Gelesenen weiter umspielen. Ähnliche Reaktionen auf äußere Anlässe (,Gelegenheiten‘) habe ich schon vorgestellt: In Birrwil am Hallwiler See, „Als mich in der Sonnen wärmete“, entquillt diesem Dichter eine ganze Serie von Gedichten, nicht nur immer „Nach obiger Melodie“, sondern auch in der Variation des einen Zentralmotivs von Sonne und Glanz: Meine Sonne scheint, nach dem Regen heunt, Darinn ich mich kann erquicken, Und mich in sie wie verzücken. Es ist wohl gemeynt, weil die Sonne scheint. […] Ach du Liebes=Glantz! Komm, erwärm mich gantz, Laß mich nicht im Kalten bleiben, Du kannst mich wohl einverleiben Durch die Liebe gantz, HErr, in deinem Glantz. [Lichte Stunden, S. 66]
Ganz häufig ist es, daß eine Tagebuchnotiz in Prosa wie mechanisch in serielles Gereime übergeht. Nur ein weiteres Beispiel über die aus Colombier und Biel hinaus: Den 6ten October Sollen wir auf Genf zu reisen, Nach des lieben GOttes Weisen: Es sey Wasser oder Land, Jesu reiche deine Hand! [Tag=Buch, S. 247]
Der Mangel an Lakonik, am Goetheschen 1pijqateim d¼mashai, das Verharren allein bei den Facetten des religiösen Empfindens, das Kindlich-Spielerische des Reimens und oft auch der Wortwahl, all dies markiert bei dem geistlichen Genie den unverkennbaren Abstand zu den späteren weltlichen Geistesbrüdern. Alles dies sind aber hier, zwei Generationen vor ihnen, noch notwendige Implikate eben jener inspirativen Poetologie, die sie sich modifizierend zu eigen gemacht haben. Ein paar beschließende Hinweise auf die in Rocks Gedichten entwickelte poetische Inspirationstheorie sollen die Brücke markieren von den älteren Propheten zu den jüngeren Poeten. Im „Tag=Buch“ vom 27. Oktober 1727, am Abend vor dem Inspirationsduell mit der Genfer Prophetin Jeanne Bonnet im Haus des Beat Ludwig von Muralt48 spricht Rock nach dem Bericht über eine Auseinandersetzung mit Pfarrer Johann Heinrich Bodmer in Colombier von drei unterschiedlichen Arten des Sprechens: 48 Vgl. außer den (in Anm. 40 ausgewiesenen) Aufsätzen EugHne Ritters mit weiterführenden Lit.Ang. Dellsperger: Die Anfänge des Pietismus (wie Anm. 8), S. 173–175, Hellmut Thomke: Muralt, Beat Ludwig von. In: Literatur Lexikon (wie Anm. 7), Bd. 8, 1990, S. 299–300 und U.-M. Schneider: Propheten der Goethezeit (wie Anm. 4), S. 138–140.
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Inspirierte Schweizerreisen Mein Bruder kan kein Wort ertragen, Drum will ich ihme nichts mehr sagen, Sondern gerne schweigen still Ueber meinem Reimen=Spiel […] [Tag=Buch, S. 273]
Diese Lizenz allerdings bleibt ihm nur so lange eingeräumt, „Biß ich reden muß und soll“ [ebd.]. – Das Wort, das menschenklug zurückgehalten werden darf, ist das der zornigen Replik, des Streits oder der Vermahnung ohne göttlichen Auftrag. Was Rock aber nicht zurückhalten darf, sobald er „reden muß und soll“, ist die prophetische Geistrede, die zwingende göttliche Aussprache, die sich seines Mundes nur als Werkzeug bedient. Zwischen beiden, zwischen selbstgeformter Menschenrede und dem ins Herz gelegten Gottesdiktat steht, auch der Dignität nach, das sprachschöpferische Werk der Stille, das poetische „Reimen=Spiel“, ein halb passives Empfangen und halb aktives, freilich kindlich gehorsames Ausgestalten. Aktivisch kann er davon sagen „Ich sing heute von dem Sieg“, aber ebenso kann davon auch passivisch die Rede sein: „Will Er sich mir einergiessen, Und ich solle dann ausfliessen“ [beide Tag=Buch, S. 274]. Auf der ersten Schweizerreise von 1719/20 wird das poetische Schaffen, „daß ich mich üb“, „Weil mich meines JEsu Lieb Darzu trieb“, als ein halbes Müssen nur um Nuancen geschieden vom prophetischen Auftrag: „Ich muß zeugen, Darf nicht schweigen“ [Lichte Stunden, S. 172]. Die Ambivalenz wird deutlicher noch in einem vorausgehenden Gedicht, aus Ralligen am Ostufer des Thunersees vom 16. Februar : Du giebsts, drum geb ichs wieder dir, O meiner Seelen=Leben! Du giebsts zu einer Morgen=Gab, Ich gebe wieder was ich hab […]. Drum kan ich innig hören Singen, Klingen, Im Gemüthe, GOttes Güte Muß nun fliessen! [Lichte Stunden, S. 164 f.]
Als Voraussetzung für solch „seelige Geschäffte“ nennt Rock (im Ton von Philipp Nicolais Wie schön leuchtet der Morgenstern) stille Versenkung und kindliche Folgsamkeit. Ach still, Mein Will! Dich ersencke […] Dann wird ein angenehmer Thon […] Aufsteigen und erschallen [und:] Wann ich Kindlich mich ersencke, Sein gedencke
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Fließt viel Seegen In mein Hertz auf seinen Wegen. [Lichte Stunden, S. 164–167]
Ein ungesuchtes Hervorbrechen von in Versen und Reimen gebundener Rede, der Form nach ein kindliches Lallen, ohne die Schulung an den Kunstregeln der gelehrten Rhetorik und Prosodik, in der Bedeutung aber von durchdringender Kraft, das hatte den Apologeten einer neuen Offenbarung seit dem ausgehenden Barock als Erkennungszeichen einer göttlich inspirierten Ekstasis gegolten. Von der „Erfurtischen Liese“, einer der „begeisterten Mägde“, hatte es 1692 geheißen: „Wann sie den Paroxysmum hatte, redete sie meist in Versen, daher sie auch die pietistische Sängerin hieß“.49 Über des Perückenmachers und „Gottes=Cantzellisten“ Johann Tennhardt „kindisch=einfältige Reimelein / welche einer der Reim=Kunst Erfahrener fast nicht wohl hören kan / weil sie mit den Grund=Reguln nicht überein kommen“, insofern sie zwar „MetricH und in Reimen“, aber doch unregelmäßig nach Art der „Dithyrambi“ daherkamen, hieß es 1711, daß „GOTT als Author primarius […] sich dieses seines Po[matischen Genii mag […] bedient haben.“50 Der Kleinbauer und Handwerker Christoph Schütz berichtet in seiner Autobiographie von 1728 aus der Jugendzeit, wie ihm, wann ich draussen im Feld hinter dem Pflug herging und ackerte […] mein Seufftzen, Bitten und Verlangen, wie auch mein Dancken und Loben GOttes […] reimweiß= oder in Form eines Lieds in Sinn kam und solches thönete mir dann […] bis ich etwa nach Hause kam […]. So satzte ich mich dann geschwind nieder und schrieb solche Lied oder Reimen […] geschwind auf.51
Ähnlich mußte auch der Inspiriertenführer Eberhard Ludwig Gruber „wie ein Kind spielend reimen“52 und ähnlich, weit ungefüger als Bruder Rock, flossen die Verse seinen Gemeindenachfolgern und anderen „Po[matischen Genii“ aus dem ungelehrten Pietisten-Volk gleich geistlichen Sturzbächen aus der Feder, wie es 1710 in der THEOSOPHIA PNEUMATICA geheißen hatte: „wie ein Strom und Wasser=Rauschen“ oder wie ein klares und lauteres Bächlein […]. Der Stylus und Vortrag ist beiderseits sonderbar und eines grossen Geistes / penetrant und durchdringend […] eine Stimme des HErrn / welche auf den Wassern gehet.53 49 Mehlig: Kirchen= und Ketzer=Lexicon (wie Anm. 9), S. 174 f. 50 I.N.J. Anonymi Alethophili [= Jacob Friedrich Golther] Schrifftmäsziges JUDICIUM THEOLOGICUM Von Johann Tennhardts […] Buche, o.O. 1711, S. 4, vgl. S. 6 f. 51 Das kündlich grosse Geheimniß der Gottseeligkeit […] von einem Christlichen Schüler, o.O. 1728, S. 81, vgl. Schrader: Literaturproduktion (1989, L 1), S. 225, 266, 351, 476, 491. 52 Mitteilungen über den Lebenslauf (wie Anm. 16), S. 224, vgl. ähnlich über die Reimereien des späteren Inspirierten-Führers Paul Giesebert Nagel: Scheuner: Inspirations=Historie, Bd. 1 (wie Anm. 10), S. 315 und 327. 53 THEOSOPHIA PNEUMATICA, Oder Geheime GOttes=Lehre, Idstein 1710, S. E 4r, vgl. Schrader : Literaturproduktion (1989, L 1), S. 171, 456 f.; jetzt insbes. ders.: Haugs radikalpietistischer „Studenten=Gesang“ (2011, L 46), im vorliegenden Bd. S. 633–655.
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Bei den „wahren Gottes=Erleuchteten“ wird die inspirative Kraft noch von einer Wirkkraft außer ihnen abgeleitet, wenngleich von der höchsten: „Dann sie seynds nicht die da reden / sondern ihres Vaters Geist ists / der durch sie redet. Matth. 10/20.“54 Ihre Poesie bricht noch nicht aus einem inneren Impuls hervor, der dithyrambisch Reime und Metren durchbricht. Aber, wie’s der junge Goethe vom Überkommen seiner inneren Stimme berichtet, muß auch schon der Bruder Rock am Anfang seiner ersten Schweizerreise „aus meinem Bettlein auf, da legte mir der HErr auch etwas von dem Seegen in Sinn“ – und als Gedicht muß er’s aufschreiben.55 Und auch er weiß im Grunde, daß der diktierende Gott im Innern wohnt. 1740 drückt er das so aus: Was richtige Reimen Sind besser als träumen; Sie folgen von innen, Erfrischen die Sinnen, Und fliessen herfür Ich wähle sie mir.56
Damit ist sichtbar, wohin die Reise weitergeht. Doch wenn da im genialischen Vollbringen der Schwellenzeit der 1770er Jahre auch markante Schwellen überschritten werden, nachdem das poetische Schreiben nicht mehr hergeleitet wird aus akkumuliert verarbeitetem Gelesenem, war der Weg dahin nicht vollends ungebahnt. Wegweisend vorangeschritten waren jene Propheten, die ihr Reiseziel bereits gefunden hatten: Nun gute Nacht, du Schweitz, Mir recht gesunde Beitz! Kein Tag war ohne Proben, O daß ich doch könt loben Den, ders so wohl gemacht, Ich sage: Gute Nacht!57 54 Grund des Glaubens und der Hoffnung / wie er gelegen in dem Anno 1720. selig verstorbenen […] Johann Henrich Reitz […] als eine erbauliche Reliquie, Berleburg 1724, S. 350, vgl. Schrader Literaturproduktion (1989, L 1), S. 588. 55 Lichte […] Stunden (wie Anm. 35), S. 8. Eine ebenso vermittelnde Position der Poetologie zwischen göttlichem Zustrom und einer handwerklichen Ausgestaltung der Gedichte bleibt für die geistliche Lyrik des Pietismus im 18. Jahrhundert charakteristisch. Vgl. die Beispiele von Gerhard Tersteegen und Ernst Gottlieb Woltersdorf bei Schrader: Hortulus mystico-poeticus (1997, L 21), im vorliegenden Band S. 457–487, bes. S. 486 f. und ders.: Vom Heiland im Herzen (1994, L 19), im vorliegenden Band S. 132 f. 56 Rock: Einige Reimlein (wie Anm. 45), S. 42. Dieses ganze Gedicht ist als locus classicus der neuen inspirativen Dichtungsauffassung analysiert bei U.-M. Schneider: Propheten der Goethezeit (wie Anm. 4), S. 125 f. 57 Rock: Abschieds=Lied aus der Schweitz. In: ders.: Lichte […] Stunden (wie Anm. 35), S. 186–192, hier Str. 14, S. 189.
Conrad Beissels Ephrata-Gemeinschaft und seine Poesie Ein philadelphisch-mystisch-arkanes „Vorspiel der Neuen Welt“* [2006, L 41]
In seinem Artikel „Protestantismus III.“ („Beurteilung vom Standpunkt des Katholizismus“) für die 3. Auflage des evangelischen Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft, Die Religion in Geschichte und Gegenwart, hat 1961 der damals noch Bonner Professor für Fundamentaltheologie Joseph Ratzinger und spätere Papst Benedikt XVI. als Schwierigkeit einer dogmatisch eindeutigen Beurteilung nicht allein den Sachverhalt hervorgehoben, daß „die einzige eingehende lehramtliche Äußerung“ durch das Tridentinum im 16. Jahrhundert die „endgültige lehramtliche Bestimmung“ vieler Fragen offengelassen habe, sondern in primärer Dimension, daß der Protestantismus selbst ein so „vielfältiges Phänomen“ darstellt. Anders als die am Papstamt festhaltenden „schismatischen“ Ostkirchen seien die protestantischen Gemeinschaften nach „amtliche[r] Terminologie“ nicht als „ecclesia“, „Kirche“, anzusprechen, doch lasse die „Existenz ekklesialer Elemente“ wie Taufe, Schrift und Symbola und die verbleibende „Ordnung des Prophetischen“ gleichwohl „eine gewisse Anwesenheit kirchlicher Wirklichkeiten“ konstatieren, so daß man füglicher als mit dem (in der Kirchentradition nach Feuer und Schwert rufenden) Begriff der „Häresie“ von protestantischen „Dissidenten“ spreche, denen die „Rückkehr in die kath. Einheit“ (als Ziel aller Ökumene) offenzuhalten sei.1 * Für den II. Internationalen Kongreß für Pietismusforschung (28. August bis 1. September 2005) hatte der eminente Erforscher der Geschichte der aus dem europäischen Pietismus hervorgewachsenen amerikanischen Religionsgemeinschaften, Donald F. Durnbaugh, der mich selbst nach Ephrata geführt und dort eingeführt hat, einen Beitrag angekündigt „The Anthropological Teachings of Conrad Beissel, Founder of the Ephrata Society“, postum veröffentlicht in: Pietismus und Neuzeit 32 (2006), S. 220–232.. Er starb bei der Anreise, so daß sein Vortrag nur mehr verlesen werden konnte (vgl. Udo Sträter : Vorwort. In: Pietismus und Neuzeit 31 [2005], S. 6). Die vorliegende Studie, vorgetragen am 7. September 2005 beim Kolloquium „Aspekte einer vergleichenden transatlantischen Religionsgeschichte vom 18.–20. Jahrhundert“ zur Verabschiedung Hartmut Lehmanns als Direktor des Göttinger Max-Planck-Instituts für Geschichte, ist Durnbaughs grundlegenden Vorarbeiten verpflichtet, siehe auch bereits Donald F. Durnbaugh: Ephrata. An Overview. In: Rezeption und Reform. Festschrift für Hans Schneider zu seinem 60. Geburtstag. Hg. von Wolfgang Breul-Kunkel und Lothar Vogel, Darmstadt – Kassel 2001 (Quellen und Studien zur hessischen Kirchengeschichte, Bd. 5), S. 251–265. 1 Joseph Ratzinger: Protestantismus III. In: Die Religion in Geschichte und Gegenwart (im folgenden RGG). 3., völlig neubearb. Aufl., Bd. 5, Tübingen 1961, Sp. 663–666. Vgl. das Mitarbei-
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Conrad Beissels Ephrata-Gemeinschaft und seine Poesie
Vom Standpunkt einer sich im Besitz der Vollwahrheit einzig gültig dünkenden Kirche, die deshalb, wie Ratzinger konstatiert, bei aller Möglichkeit zum Gespräch mit anderen Glaubensgruppen grundsätzlich „einer substantiellen Bereicherung durch die Wiedervereinigung mit den Getrennten nicht fähig ist“,2 ist das radikalpietistische Konzept einer ,philadelphischen‘ Sammlung der auf je getrennten Wegen nach ihrem Seelenheil in Christus Strebenden und so nach Kräften am Bau des künftigen Gottesreichs Mitwirkenden unendlich weit entfernt,3 selbst wenn auch die diesem Ziel verpflichteten Gruppen in praxi nicht immer ein Muster der Toleranz waren gegenüber den ihnen in einigen Auffassungen und Riten getrennten Brüdern. Die Idee aber einer bruderliebenden Einheit aller wahrhaft Erweckten ohne Ansehung ihrer Konfessionszugehörigkeit oder etwaiger Sondermeinungen ist die vielleicht entscheidendste religionspolitische Mitgift, die der Alte Kontinent dem Neuen in der Phase seiner geistigen Konstitution übermittelt hat, als Grundlage nicht nur einer weit vielfältigeren Kirchenverfassung, sondern auch einer im Institutionellen wie im Personellen verstärkten Übergängigkeit und Neudifferenzierung zwischen Gruppen und Anschauungen, die in der Alten Welt unter länger bestimmend bleibenden staatskirchlich-autoritären Verfassungen in strengerer Sonderung verharrt sind. Von dem Gründer und Oberhaupt einer der vielen protestantisch-pietistischen Splittergruppen und Sonderkirchen soll hier die Rede sein, wie sie bis heute das religiöse und kirchliche Leben in Nordamerika prägen. Entsprechend ihrer Grundauffassung fundiert sich deren Gemeinschaft außer freilich auf das Wort auf eine Kongruenz in den persönlich maßgeblichen Glauterverzeichnis ebd., Registerband [Bd. 7], Tübingen 1965, Sp. 195. Ein entsprechender Teilartikel ist in der 4. Aufl. der RGG nicht mehr enthalten. 2 Ebd., Sp. 665. Vgl. dazu auch Ratzingers Stellungnahme in seinem Artikel: Theologie III. Kath. Theologie (in: RGG, Bd. 6, Tübingen 1962, Sp. 775–779, hier Sp. 778) die unter Bezug auf die Enzyklika Pius’ XII., „Humani generis“ von 1950 über den abzulehnenden „dogmatischen Relativismus“ „eine Abfolge verschiedener Stile von Theologie für möglich hält“. 3 Vgl. als Grundinformation (mit weiterführender Lit.) den Artikel von Hans Schneider: Philadelphier. In: RGG, 4., völlig neu bearb. Aufl., Bd. 6, Tübingen 2003, Sp. 1266, sowie neuerdings ders.: „Philadelphische Brüder mit einem lutherischen Maul und mährischen Rocke“. Zu Zinzendorfs Kirchenverständnis. In: Neue Aspekte der Zinzendorf-Forschung. Hg. von Martin Brecht und Paul Peucker, Göttingen 2006 (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus, Bd. 47), S. 11–36. Eine Übersicht über das philadelphische Ideengut und den Zusammenhalt zwischen den Zentren und Tendenzen der philadelphischen Sammlung findet sich in Schrader: Literaturproduktion (1989, L 1), im vorliegenden Band S. 44–62. Vgl. seither Peter Vogt: „Philadelphia“ – Inhalt, Verbreitung und Einfluss eines radikal-pietistischen Schlüsselbegriffs. In: Interdisziplinäre Pietismusforschungen. Beiträge zum Ersten Internationalen Kongress für Pietismusforschung 2001. Hg. von Udo Sträter, Hartmut Lehmann [u. a.], Bd. 2, Halle – Tübingen 2005 (Hallesche Forschungen, Bd. 17/2), S. 837–848 sowie Barbara Becker–Cantarino: Das „neue Jerusalem“. Jane Leade, die Philadelphian Society und die Visionen von lebensweltlicher Erneuerung in den 1690er Jahren. In: Alter Adam und Neue Kreatur. Pietismus und Anthropologie. Beiträge zum II. Internationalen Kongress für Pietismusforschung 2005. Hg. von Udo Sträter [u. a.], Teil 1, Halle 2009 (Hallesche Forschungen, Bd. 28/2), S. 151–164.
Ein philadelphisch-mystisch-arkanes „Vorspiel der Neuen Welt“
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bensgewißheiten ihrer Glieder. Die Praxis der ekklesialen Elemente und heiligtümlichen Lebensformen hat sich in deren Zusammenschluß herausgebildet durch die Übernahme von überzeugungsgerecht befundenen Vorbildern oder Anregungen aus der ganzen reichen Vielfalt der gesamten Kirchengeschichte seit der Urgemeinde. Dem Prophetischen wird mehr als im verfaßten Kirchenwesen Europas eine fernerhin aktuale Kraft zugetraut, und philadelphische Verbundenheit und Liebe wird entsprechend dem Auftrag einer Bruderliebe über die engere Kommunität hinaus eingefordert zu all den anderen, die sich mit Entschiedenheit dem gemeinsamen Ziel eines christlich erneuerten Lebens verpflichtet haben. Den Übergang von Ideen bzw. Glaubensgrundsätzen, vorgeprägten Anschauungen und Argumenten, den Transfer auch von gläubiger Lebenspraxis aus dem Alten Kontinent in den Neuen und das dortige Erstehen von etwas aus solch synkretistischem Zusammenbau doch inkommensurabel Eigengeprägtem möchte ich exemplifizieren an dem Orden der Einsamen, der späteren Siebentäger-Täuferkirche von Ephrata, und ihrem Gründer und Lehrer Georg Conrad Beissel:4 Weniger soll das geschehen in neuerlichem Nachvollzug der geschichtlichen Faktenüberlieferung (abbreviatorisch kann ich da nur nachvollziehen, was gründliche Forschung über mehr als hundert Jahre zusammengetragen hat)5 als im Vergleich von mitgebrachter Anregung und neuer 4 Die korrekte Namenlesung Georg Conrad Beissel [oder Beusel] (1691–1768) wurde (gegenüber der – soweit nicht nur sein Rufname „Conrad“ genannt ist – irrtümlichen Angabe „Johann Conrad Beissel“) erst 1985 aufgrund des Eberbacher Kirchenbuchs richtiggestellt. Vgl. Journal of the Historical Society of the Colalico Valley 10 (1985), S. 75. Dazu die Monographie mit systematisch sozialgeschichtlichen und volkskundlichen Zugriffen zu Beissel und Ephrata: Jeff Bach: Voices of the Turtledoves. The Sacred World of Ephrata, University Park – Göttingen 2003 (Publications of the Pennsylvania German Society, Vol. 36: zugleich Arbeiten zur Geschichte des Pietismus, Sonderband), S. 3, 219. Die anhaltende Verwirrung ergab sich daher, daß die mit Abstand ergiebigste Quelle zu seinem und der Siebentäger Leben und Wirken die falsche Vornamensform einführt (ehe von ihm dann nur mehr in seiner Amtskennzeichnung „der Vorsteher“ oder mit seinen Klosternamen die Rede ist): Chronicon Ephratense. Enthaltend den Lebens=Lauf des ehrwürdigen Vaters in Christo Friedsam Gottrecht, Weyland Stiffters und Vorstehers des geistl. Ordens der Einsamen in Ephrata in der Grafschaft Lancaster in Pennsylvania. Zusammen getragen von Br. Lamech u. Agrippa [Jacob Gass und Johann Peter Müller], Ephrata 1786, S. 2: „war sein Geschlechts=nahme Johann Conrad Beissel“, S. 95: „Des Vorstehers gewöhnlicher Nahme war Conrad Beissel: daher er insgemein wurde Bruder Conrad genennet.“ Neuedition auf Mikrofiche (New York: Readex Microprint 1985 = Early American Imprints. Ed. by Clifford Kenyon Shipton and the American Antiquarian Society, Ser. I, 19558), zugleich Digitalisat im Internet. Die Chronik liegt auch in amerikanischer Übersetzung vor: Chronicon Ephratense; A History of the Community of Seventh Day Baptists at Ephrata, Lancaster County, Pa., by Lamech and Agrippa, translated (from the original German) by J. Max Hark, Lancaster, Pa. 1889. 5 Detailreiche historische Darstellungen entstanden bereits im 19. Jahrhundert: Oswald Seidensticker: Ephrata, eine amerikanische Klostergeschichte, Cincinnati, Ohio 1883; ders.: Bilder aus der Deutsch=pennsylvanischen Geschichte. In: Geschichtsblätter. Bilder und Mitteilungen aus dem Leben der Deutschen in Amerika, Bd. 2, New York 1885, insbes. S. 85–250; ders.: Die beiden Christoph Saur in Germantown [Artikelserie in Fortsetzungen]. In: Der Deutsche Pionier 9 und
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Ordnung und im Hinweis auf einige signifikante poetische Exempla von zugleich programmatischem Gewicht.6 Denn: Beissel7 war nicht nur eine charismatische religiöse Führergestalt, er 10 (1877/78), sowie ders.: The First Century of German Printing in America 1728–1830, Philadelphia 1893; ferner (ebenso grundlegend): Julius Friedrich Sachse: The German Sectarians of Pennsylvania 1708–1742. A Critical and Legendary History of the Ephrata Cloister and the Dunkers, 2 Bde., Philadelphia 1899–1900, Reprint New York 1971. Für die Etappen der deutschen Einwanderung und Koloniebildungen vgl. insbes. Friedrich Nieper: Die ersten deutschen Auswanderer von Krefeld nach Pennsylvanien. Ein Bild aus der religiösen Ideengeschichte des 17. und 18. Jahrhunderts, Neukirchen/Moers 1940, S. 80–190. Weniger zuverlässig ist Walter C. Klein: Johann Conrad Beissel, Mystic and Martinet 1690–1768, Philadelphia, Pa. 1942. Dessen skeptische Sicht auf Beissel als unsauberen Trunkenbold und geistlichen Diktator wurde als Produkt unkritischen Umgangs mit einer polemischen, zudem manipulierten Quelle relativiert von Felix Reichmann: Notes and Documents. Ezechiel Sangmeister’s Diary. In: The Pennsylvania Magazine of History and Biography 68 (1944), S. 292–313. Vgl. auch James E[manuel] Ernst: Ephrata. A History. Posthumously edited, with an Introduction by John Joseph Stoudt, Allentown, Pa. 1963. Einen Progreß markiert erst wieder die historisch-chronologische Arbeit von E[verett] G[ordon] Alderfer: The Ephrata Commune. An Early American Counterculture, Pittsburg, Pa. 1985, ihre gründliche Bibliographie (S. 247–262) eröffnet den besten Gesamtüberblick über die Vorgaben der Forschung. Vgl. jetzt auch in der jüngsten Monographie: Bach: Voices of the Turtledoves (wie Anm. 4), S. 208–217 („Secondary Literature“), ergänzend Jeff Bach: Heilung, Medizin und Alchimie in Ephrata, Pennsylvania. Conrad Beissel, Samuel Eckerlin, Jacob Martin. In: Medizin- und kulturgeschichtliche Konnexe des Pietismus. Heilkunst und Ethik, arkane Traditionen, Musik, Literatur und Sprache. Hg. von Irmtraut Sahmland und Hans-Jürgen Schrader, Göttingen 2016 (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus, Bd. 61), S. 211–222. Neben den in der Eingangsfußnote genannten Spezialstudien vgl. von Donald F. Durnbaugh: Christopher Sauer. Pennsylvania-German Printer. His Youth in Germany and Later Relationships with Europa. In: The Pennsylvania Magazine of History and Biography 82 (1958), S. 316–340; ders.: Work and Hope. The Spirituality of the Radical Pietist Communitarians. In: Church History 39 (1970), S. 72–90; ders., Radikaler Pietismus als Grundlage deutsch-amerikanischer kommunaler Siedlungen. In: Pietismus und Neuzeit 16 (1990), S. 112–131 (bes. S. 114–120); ders.: Radical Pietist Involvement in Early German Emigration to Pennsylvania. In: Yearbook of German-American Studies 29 (1994), S. 29–48 (bes. S. 34–36), und als Gesamtüberblick: ders.: Fruit of the Vine. A History of the Brethren 1708–1995, Elgin, Ill. 1997, bes. S. 12–102. Nähere Information (mit Lit.) über die Wittgensteiner und Wetterauer Separatisten, Schwarzenauer Täufer und Inspirierten, mit denen Beissel vor seiner Auswanderung in Kontakt stand, erschließt die Überblicksdarstellung von Hans Schneider: Der radikale Pietismus im 18. Jahrhundert. In: Der Pietismus im achtzehnten Jahrhundert. Hg. von Martin Brecht und Klaus Deppermann, Göttingen 1995 (Geschichte des Pietismus, Bd. 2), S. 107–197, bes. S. 123–139, 145–152. Der Beitrag im selben Band von A. Gregg Roeber : Der Pietismus in Nordamerika im 18. Jahrhundert, S. 666–699, stellt auf S. 676–682 das Ephrata-Experiment in weitere landesgeschichtliche Zusammenhänge. 6 Vgl., abbreviativ und summarisch, F. Ernest Stoeffler: Mysticism in the German Devotional Literature of Colonial Pennsylvania, Allentown, Pa. 1950, S. 34–49, 49–65. Eine (in der Übersetzung allerdings oft fehlerhafte) englischsprachige Auswahl von Ephrata- und Beissel-Texten gibt die Textsammlung: Johann Conrad Beissel and the Ephrata Community : Mystical and Historical Texts. Ed. by Peter C. Erb, Lewiston, N.Y. 1985. 7 Unter den Lexikon-Artikeln zu Beissel sind einführend besonders zuverlässig die von John B. Frantz in: American National Biography, Bd. 2, New York – Oxford 1999, S. 484–486; Hans Schneider in: RGG, 4. Aufl., Bd. 1, Tübingen 1998, Sp. 1228, auch J. E. R[iley] in: The Brethren Encyclopedia. Ed. by Donald F. Durnbaugh, Bd. 1, Philadelphia, Pa. 1983, S. 112 f. Ältere noch nützliche Artikel von Viktor Hantzsch in: Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 46 (Nachträge),
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war zugleich ein geistlicher Dichter von einiger Bedeutung, der in seiner weithin vergessenen Übergangs- und Vermittlungsstellung füglich seinen Platz haben sollte in der deutschen wie in der amerikanischen Literaturgeschichte.8 Wenn sein Name einer breiteren gebildeten Öffentlichkeit heute noch bekannt geblieben ist, dann ist der Grund allerdings nicht seine poetische Leistung. In den USA sind es, da seine Täufergemeinschaft bis auf wenige Reste erloschen bzw. in verwandten Kirchen aufgegangen ist, vor allem die unerhört eindrucksvoll erhaltenen hölzernen Klostergebäude in Ephrata, Pennsylvania (mit Ausnahme des am Ende des 19. Jahrhunderts als typhusverseucht abgerissenen Brüderhauses, das im amerikanischen Bürgerkrieg als Lazarett gedient hatte), die als älteste Zeugnisse einer archaisch erscheinenden Frühzeit des Kontinents die Erinnerung an den Gründer wachhalten. Neben der urtümlichen (,medieval‘ nach amerikanischer Lesart) architektonischen Hinterlassenschaft, einem touristischen ,must‘ für jeden Besucher des pennsylvanischen Lancaster County,9 und der Pionierbedeutung in der Geschichte
Leipzig 1902, Nachdruck Berlin 1971, S. 341–344 (mit präziser Übersicht der Beisselschen Publikationen) und von P[aul] S. L[einbach] in: Dictionary of American Biography, Bd. 2, London – New York 1929, S. 142 f. Unergiebig dagegen sind die Beissel-Artikel von Fritz Braun in: Neue Deutsche Biographie [im folgenden NDB], Bd. 2, Berlin 1955, S. 22 f., Friedrich Wilhelm Bautz in: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon [im folgenden BBK], Bd. 1, Hamm 1970/75, Sp. 467 und (ungezeichnet) in: Deutsche Biographische Enzyklopädie. Hg. von Walther Killy, Bd. 1, München 1995, S. 22 f. 8 Vgl. hierzu den umfassenden Forschungsbericht aus literaturwissenschaftlicher Perspektive von Guy T. Hollyday und Christoph E. Schweitzer: The present Status of Conrad Beissel/Ephrata Research. In: Monatshefte für deutschen Unterricht, deutsche Sprache und Literatur 68 (1976), H. 2, S. 171–178, in dem Beissel (S. 171) als „one of the most fascinating personalities of 18thcentury German-American culture“ vorgestellt wird, zugleich aber (S. 178) in Bezug auf seine literarische Hinterlassenschaft, insbesondere die bedeutsame mystische Poesie, ein gravierendes Forschungsdefizit konstatiert wird. Vgl. ebenso Frantz: Beissel (wie Anm. 7), S. 486: „Beissel’s German-language poetry has not received the attention it deserves.“ Diesen Sachverhalt hat bereits John Joseph Stoudt: Pennsylvania German Poetry 1683–1830, Allentown, Pa. 1956, S. XXIIf., vgl. S. XXIXf., beklagt, ohne daß sich daran seither viel geändert hätte. 9 Abbildungen auf den Buchumschlägen und Illustrationsbeigaben der wissenschaftlichen Ephrata-Monographien, so Alderfer : The Ephrata Commune (wie Anm. 5). Vgl. dort die historischen Aufnahmen mit Datierung der einzelnen Häuser und Bauabschnitte, S. 109–111, und Bach: Voices of the Turtledoves (wie Anm. 4) mit aktuellen und musealen Außen- und Innenabbildungen sowie Lageplänen der Kloster-Niederlassungen (S. 22, 122, 124, 126, 131–137). Vgl. die populären Broschüren, die im Ephrata Cloister Museum Store vertrieben werden, Charles Graffius: Ephrata Cloisters and German Seventh Day Baptists, Then and Now, Martinsburg, Pa. o. J. (konzipiert als Bilder-Rundgang durch Ephrata und die jüngeren Bauten der Tochtergemeinschaft Snow Hill Society bei Waynesboro, Pa.); Emma C. Monn: Historical Sketch of Snow Hill (Nunnery) [1927], Ephrata/Waynesboro o. J.; Russel Wieder Gilbert: A Picture of the Pennsylvania Germans [1962], Gettysburg, 3. Aufl. (2. Abdruck) 1971, S. 6, 25, 42 zu Ephrata, vgl. ebd. S. 6, 24–27, 49 f. Durnbaugh: Fruit of the Vine (wie Anm. 5), zeigt im Vergleich der Täuferheimstätten und Eremitagen im „Hüttental“ von Schwarzenau und der Baulichkeiten von Ephrata und Snow Hill (S. 25, 95, 101), wie auch in der Konstruktionsweise deutsche Vorprägungen und Gepflogenheiten in der Neuen Welt leitend blieben.
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des (deutsch-) amerikanischen Buchdrucks10 sowie des Chorgesangs11 erregen allenfalls die Relikte der in Ephrata und im Tochterkloster Snow Hill ge-
10 Jenseits der bereits von Seidensticker und Sachse sowie bei Friedrich Kapp: Der deutschamerikanische Buchdruck und Buchhandel im vorigen Jahrhundert, Bd. 1, Leipzig 1878, bes. S. 61–69 zusammengetragenen Angaben – ist hier grundlegend Eugene E. Doll und Anneliese M. Funke: The Ephrata Cloisters. An Annoted Bibliography, Philadelphia 1944, bes. 2. Teil, S. 83–126 (Liste aller in Ephrata erschienenen Drucke). Vgl. die Zusammenstellung der Primärquellen im „Bibliographical Essay“ bei Bach: Voices of the Turtledoves (wie Anm. 4), S. 197–207 („Primary Literature“). Die Buchproduktion in Ephrata ist deshalb von so herausragender Bedeutung für die Pionierzeit des amerikanischen Buchdrucks, weil Beissels Schriften seit 1730 (und später die Gesang- und Hymnenbücher der Ephrata-Brüderschaft) der Reihe nach in den frühesten und bedeutendsten Druckereien im kolonialen Nordamerika produziert wurden: bei Benjamin Franklin, wo in „englischen“ Antiqua-Typen Beissels erste Bücher erschienen, bei Johann Christoph Sauer, dem ersten deutschen Drucker, der in Amerika Publikationen in Fraktur herstellte, und schließlich nach dem Zerwürfnis mit diesem, auf der eigenen (gleichermaßen von deutschen Pietisten beschafften) Klosterpresse, die u. a. mit ihrer Neuausgabe des großen täuferischen Märtyrer-Gedenkbuchs (T[ieleman] J[anszoon] v[an] Braght: Der Blutige Schau=Platz oder Martyrer Spiegel der TauffsGesinnten oder Wehrlosen=Christen, Ephrata 1748/49. Titelfaksimile in Amos B. Hoover: The Jonas Martin Era, Denver, Pa. 1982, S. 980, vgl. S. 1084 f.) das umfänglichste amerikanische Druckwerk vor 1800 überhaupt herstellte. Vgl. dazu neben der Untersuchung von Durnbaugh: Christopher Sauer (wie Anm. 5), ergänzend ders.: Fruit of the Vine (wie Anm. 5), S. 94, und der Überblicksdarstellung von Stephen L. Longenecker : The Christopher Sauers. Courageous Printers Who Defended Religious Freedom in Early America, Elgin, Ill. 1981, auch meine Rekonstruktion der diesbezüglichen transatlantischen Zusammenarbeit und Handelskontakte zwischen den radikalen Pietisten diesseits und jenseits des Ozeans: Schrader: Literaturproduktion (1989, L 1), S. 223–227: „Exkurs: Die Berleburger Presse und die Anfänge radikalpietistischer Literatur in Amerika“, Anm. S. 475–477 (mit Lit.). 11 Grundlegend für die Lieder- (und damit auch Gedichte-)Produktion Beissels und seiner Nachfolger, mit zahllosen Faksimiles, insbesondere auch der Titelblätter der in Ephrata gedruckten Liedersammlungen in ihren verschiedenen Ausgaben und Auflagen ist die Monographie von Julius Friedrich Sachse: The Music of the Ephrata Cloister, also Conrad Beissel’s Treatise on Music as set forth in a Preface to the „Turtel Taube“ of 1747, Lancaster 1903, Neudruck New York 1971, mit Titelblatt-Reproduktionen S. 33–45. Als neue Auswahledition der Gesänge mit mehrstimmigem Notensatz vgl. Ephrata Cloister Chorales. A Collection of hymns and anthems composed by Conrad Beissel. Ed. by Russell P. Getz, New York – London 1971, Neudruck Ephrata 1990 (mit einer klostergeschichtlichen Einführung von John L. Kraft und einem musikgeschichtlichen Vorwort von R. P. Getz). Vgl. den Forschungsbericht von Hollyday und Schweitzer : The Present Status (wie Anm. 8), S. 176, sowie die Zusammenstellung der neuesten musikwissenschaftlichen Recherchen im Aufsatz von Durnbaugh: Radikaler Pietismus (wie Anm. 5), S. 118 (Fußnote 14). Vgl. insbes. Betty Jean Martin: The Ephrata Cloister and Its Music, Ph. Diss. Univ. of Maryland 1977, und (unter Verarbeitung ihrer Ergebnisse) Hedwig T. Durnbaugh: Ephrata, Amana, Harmonie. Drei christliche kommunistische Gemeinschaften in Amerika: Beispiele kirchlicher Identität im Kirchenlied. In: IAH-Bulletin. Publikationen der Internationalen Arbeitsgemeinschaft für Hymnologie 24 (1996), S. 203–218. Eine Tonaufnahme des Ephrata Cloister Chorus: Early American Music („Music of the Ephrata Cloister, performing edition by Russel P. Getz“), aufgenommen bei Konzertabenden im Herbst 1989 im „Ephrata Cloister Saal (Meetinghouse)“, ist (zusammen mit Liedern von Kelpius, den Herrnhutern und anderen Gruppen der kolonialen Frömmigkeitsgeschichte) als Kassette der Ephrata Cloister Associates/Trout Audio Labs, Ephrata/York, Pa. 1990, verfügbar.
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pflegten Fraktur-Schriftmalerei12 noch sentimentale Aufmerksamkeit und erzielen auf den Kunstauktionen Höchstpreise. In Europa dagegen, speziell in ihrem Ursprungsland Deutschland, sind Ephrata und Beissel weniger durch eine fasziniert-explizite Nota bene-Charakteristik Voltaires13 (und allenfalls einen Hinweis Lord Byrons in seinem Don Juan auf die in zölibatärer Lebensund kommunaler Wirtschaftsform den Ephrata-Täufern verwandte deutschpennsylvanische Pietistensiedlung der Harmonisten)14 als vielmehr durch die 12 Jeff Bach: Voices of the Turtledoves (wie Anm. 4), widmet diesem kunsthandwerklichen Ausdruck der Frömmigkeitsübung in Ephrata und seinen Schwester-Kolonien ein ganzes Kapitel (S. 141–169, 258–262) und illustriert seine Monographie opulent mit Illuminationsbeispielen und Proben der Schriftmalerei in Fraktur. 13 Die (durchweg vage und unbelegte) Angabe einiger Ephrata-Forschungen, Voltaire habe auf Ephrata hingewiesen, ließ sich nur mühsam verifizieren, weil sein bei allen ironischen Obertönen durchaus faszinierter Bericht den Namen der Gemeinschaft (er stellt sie sich als städtische Siedlung statt als Kloster vor) fehlschreibt, so daß Registerhilfen versagen. Der Abschnitt, der die Religionsgemeinschaft recht ausführlich vorstellt, deren Mitglieder er trotz ihres (ausführlich referierten) ,Irrtums‘ der Allversöhnungslehre „les plus justes & les plus inimitables des hommes“ nennt, findet sich angehängt an seine Charakteristik der pennsylvanischen Quäker und ihres philadelphischen Zusammenhalts in seinem Artikel „Eglise“ in: [Voltaire]: Questions sur L’Encyclopedie, distribu8es en forme de dictionnaire. Par des amateurs, 5. Teil, 2. Aufl., London 1771, S. 117: „NB. L’exemple des primitifs nomm8s quakers a produit dans la Pennsilvanie une soci8t8 nouvelle dans un canton quelle appelle Euphrate, c’est la secte des dunkards, ou des dumplers, beaucoup plus d8tach8e du monde que celle de Penn, espHce de religieux hospitaliers, tous vÞtus uniformement; elle ne permet pas aux mari8s d’habiter la ville d’Euphrate, ils vivent / la campagne qu’ils cultivent. Le tr8sor public fournit / tous leurs besoins dans les disettes. Cette soci8t8 n’administre le baptÞme qu’aux adultes; elle rejette le p8ch8 originel [Ursprungssünde des Beischlafs] comme une impi8t8, & l’8ternit8 des peines comme une barbarie.“ Die Grundlage seiner Kenntnis war zweifellos der Besuch zweier Philadelphier 1764 in Ferney. Vgl. dazu und zu den anteilnehmenden Berichten Voltaires über die pennsylvanischen Religionsgruppen (namentlich die Quäker) und über den dort herrschenden Toleranzgeist Jean Goulemots Artikel „Am8rique“ und „Pennsylvanie“, in: Jean Goulemot, Andr8 Magnan und Didier Masseau: Inventaire Voltaire, Paris 1995, S. 50–53, 1028 f. mit Raymond Naves’ Zusammenstellung der Äußerungen Voltaires über diese Gruppen im Kommentar zu den ersten vier „Philosophischen Briefen“ von 1734, „Sur les Quakers“, (S. 1–22). Textbelege bei Voltaire: Lettres philosophiques ou Lettres anglaises […], Paris 1962, S. 182–187, „Euphrate“Hinweis S. 187. 14 Die als on-dit noch vagere, völlig unbelegte Behauptung, Ephrata sei in Byrons poetischem Werk erwähnt, bezieht sich offenbar auf die im XV. Canto des „Don Juan“ (1819–24; Stanzen 35–37) der dekadenten Lebensführung des Helden gegenübergestellte Forderung nach sexueller Reinheit und kommunitär-ökonomischem Altruismus in den radikalpietistischen deutschen Siedlergemeinschaften in Pennsylvania, für die Beissels Kommunität (nach dem ihm vorbildlichen Kelpius-Experiment „Weib in der Wüste“) das früheste, ideologisch ausstrahlende Beispiel bot. Explizit ist da aber nicht Ephrata genannt, sondern die ideenverwandte „Harmonie“Gemeinschaft des Georg Rapp (gegründet erst 1804, heute New Harmony und Old Economy): „When Rapp the Harmonist embargoed marriage jj In his harmonious settlement – (which flourishes jj Strangely enough as yet without miscarriage […]). Why call’d he ,Harmony‘ a state sans wedlock? jj Now here I have got the preacher at a dead lock.“ Byron’s Don Juan. AVariorum Edition. Ed. by Willis W. Pratt, Bd. 3, Austin, Tex. 1957, S. 471. Vgl. Byrons historisch differenzierenden Selbstkommentar von 1823/24 zu den wilden Zynismen aus der Don-Juan-Perspektive (ebd., Bd. 4, S. 272): „This extraordinary and flourishing German colony in America
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zur Romanhandlung kontrapunktische Erinnerung bekannt geblieben, die ihm Thomas Mann in mehrfachen Wiederaufnahmen in seinem Roman Dr. Faustus gewidmet hat. Denn da bestimmt sie über periphere Hindeutungen hinaus die ganze intellektuelle Entwicklung des Helden unterschwellig mit. Über die Grundlage, mühevolle Integration und tragende Funktion dieser Reminiszenz hat Thomas Mann dann erneut in seinem den Roman zeitgeschichtlich verortenden und kommentierenden Spätwerk Die Entstehung des Dr. Faustus berichtet.15 Entsprechend dem Werdegang seines Protagonisten Adrian Leverkühn zum modern-teufelsbündnerischen Musikerneuerer hat does not entirely exclude matrimony, […] but lays such restrictions upon it to prevent more than a certain quantum of births […]. These Harmonists (so called from the name of their settlement) are represented as a remarquably flourishing, pious, and quiet people.“ Lord Byron: The Complete Poetical Works. Ed. by Jerome J. McGann. Bd. 5: Don Juan, Oxford 1986, S. 599 f. und (Komm.) S. 763. Zum knappen Vergleich der Ideologie Ephratas und der Harmonisten vgl. Hedwig T. Durnbaugh: Ephrata (wie Anm. 11), S. 203–205, 208–213, Lit. zur Harmony Society ebd., S. 217. 15 Ich zitiere im folgenden (Belege durch Seitenangaben am Zitatschluß) beide Romane nach der Ausgabe „Gesammelte Werke in dreizehn Bänden“ des S. Fischer Verlags, Frankfurt 1960, 2., durchges. Aufl. 1974: Thomas Mann: Doktor Faustus. Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn erzählt von einem Freunde, Bd. 6 sowie ders.: Die Entstehung des Doktor Faustus. Roman eines Romans. In: Reden und Aufsätze 3, Bd. 11, S. 145–301, mit den zusätzlichen Äußerungen von 1947/48 und 1954 über den „Faustus“-Roman, den er „mit Siebzig“ als sein „wildestes Buch“, „mit einer Art von wilder Rücksichtslosigkeit“ gegen sich selbst geschrieben habe. – Die richtungweisende Analyse der Beissel-Passage und ihrer zahllosen Wiederaufnahmen bei Thomas Mann (er schreibt, gemäß der in seiner Quelle vorgefundenen traditionellen Namenslesung, doch zusätzlich „ss“ in „ß“ germanisierend, durchgängig „Johann Conrad Beißel“), zu Manns Umgang mit der amerikanischen Quelle, unter Herausarbeitung der weitreichenden Bedeutungspotenzen sowohl für Leverkühns Werdegang als auch zur Kennzeichnung des Deutschen im Höllensturz aus vormalig himmelsstürmendem Streben, gibt Theodor Karst: Johann Conrad Beissel in Thomas Manns Roman „Doktor Faustus“. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 12 (1968), S. 543–585 (vgl. dort die Übersicht S. 546–548 über die musikhistorische Forschung zu Beissel und die Vorarbeiten zum Thema in der Thomas-Mann-Forschung). Die Grundlagen der Beissel-Reminiszenzen im „Doktor Faustus“ recherchieren (ohne Bezug auf diese Grundlagenarbeit) aus hymnologisch-frömmigkeitsgeschichtlicher Sicht auch Christian Bunners: The Birth of Freedom. Out of Bondage. Thomas Mann and the German-American Poet-Composer Johann Conrad Beissel (transl. by Hedda Durnbaugh). In: The Hymn 38 (1985), H. 3, S. 7–10. Vgl. ders.: Musik. In: Glaubenswelt und Lebenswelten. Hg. von Hartmut Lehmann, Göttingen 2004 (Geschichte des Pietismus, Bd. 4), S. 428–455, hier S. 436, aus musik- und quellenhistorischer Perspektive auch Volker Scherliess: Zur Musik im Doktor Faustus, zuletzt in: „Und was werden die Deutschen sagen?“ Thomas Manns Doktor Faustus. Hg. von Hans Wißkirchen und Thomas Sprecher, Lübeck, 2. Aufl. 1998, S. 113–151, hier S. 119–126. Vgl. als Zusammenfassung (nach Karst) Alderfer: The Ephrata Commune (wie Anm. 5), S. 200–205, 244 f. – Ansonsten wird in der Mann-Forschung meist nur ohne jedes Wissen über die Vorgabe, doch die feine Ironie des Mannschen Referats mit abwertendem Kennergestus vergröbernd, geredet von der „Musik des Kauzes Johann Conrad Beißel, der um die Mitte des 18. Jahrhunderts ein skurril-primitives Kompositionssystem von großer Strenge erfand“, bzw. von einer „von jenem sympathischen Musiktölpel ausgeheckte[n]“ Ordnung. Erich Heller : Doktor Faustus und die Zurücknahme der Neunten Symphonie. In: Thomas Mann 1875–1975. Vorträge in München, Zürich, Lübeck. Hg. von Beatrix Bludau, Eckhard Heftrich und Helmut Koopmann, Zürich [u. a.] 1977, S. 173–188, hier S. 182.
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Mann das Interesse an dem eigenbrötlerischen Gottsucher und Sektengründer Beissel konzentriert auf seine eigenwillige Leistung als Komponist und Musiktheoretiker und auf den rücksichtslosen Willen zur Durchsetzung seiner Chormusik in der Gemeinde. Darin ist ihm auch eine vergleichsweise gliederreiche musikhistorische Forschung nachgefolgt, während Beissel als Poet – unter den wenigen Mystikern der neuzeitlichen deutschen Literatur immerhin in einer Linie mit Johann Scheffler (Angelus Silesius) und Gerhard Tersteegen – weithin in Vergessenheit blieb. Nicht einmal der Umfang seines dichterischen Werks ist präzis überschaubar, insofern in den späteren Ephrata-Gesangbüchern seine Lieder mit übernommenen Liedern anderer Autoren untermischt sind sowie mit solchen, die durch seine vom ,furor poeticus‘ mitergriffenen Anhänger hinzugedichtet worden waren. Und fast das gesamte Werk harrt noch eindringlicher Analyse und Interpretation. Selbst im sonst so penibel alle deutschsprachigen Autoren auch zweiten und dritten Rangs versammelnden ,Killy-Lexikon‘16 sucht man einen Artikel über ihn vergebens. Zu knapper historischer Verortung kann man durchaus von Thomas Manns Geschichtserzählung ausgehen, die er während der Arbeit an seinem Roman in einem amerikanischen Zeitschriftenaufsatz aufgefunden, mit Sorgfalt durchgearbeitet und in seinen Text hineinmontiert hat.17 Im 8. Kapitel des Doktor Faustus eröffnet sie den letzten der vier musikhistorischen Vorträge, die Adrian Leverkühn zusammen mit seinem Schulkameraden, dem Romanerzähler Serenus Zeitblom, beim stotternden deutsch-amerikanischen Musiklehrer Wendell Kretzschmar hört. Bekanntlich ist diese Vortragsserie mit den anknüpfenden Beleuchtungen der Übergänge in die Atonalität der Moderne Gegenstand der intensiven musiktheoretischen Debatten und Korrekturkooperationen zwischen Thomas Mann und Theodor W. Adorno gewesen, dessen Modell in einigen Zügen Kretzschmars, aber auch Leverkühns sichtbar bleibt.18 Kretzschmars Beissel-Vortrag „Das Elementare in der Musik“ über die Möglichkeit, von der differenziertesten Höhe der Kunst immer wieder zurückzufinden zu ihren uranfänglichsten Grundlagen, die das Gemüt der Hörer mit ungeteilter Kraft rühren und erschüttern, bestimmt Leverkühns Nachdenken und die Richtung seiner späteren kompositorischen Praxis aber weit stärker als die anderen Ausführungen des Stotterers, die doch 16 Literatur Lexikon. Autoren und Werke deutscher Sprache. Hg. von Walther Killy [u. a.], 15 Bände, Gütersloh [u. a.] 1988–1993. 17 Hans T. David: Hymns and Music of the Pennsylvania Seventh-day Baptists. In: AmericanGerman Review 9, Nr. 5 (Juni 1943), S. 4–6, 36; vgl. Karst: Beissel (wie Anm. 15), S. 547, ebd. die synoptische Gegenüberstellung der (mit den Anstreichungen und Annotationen des Romanciers heute im Thomas-Mann-Archiv Zürich aufbewahrten) Quelle mit den Entsprechungspassagen im Romankapitel S. 550–561. Vgl. (mit einem Faksimile aus dem Zeitschriftenheft mit Manns Unterstreichungen) Scherliess: Zur Musik (wie Anm. 15), S. 123 f. 18 Ebd., S. 119 f., 125, 128 f., vgl. Donald A. Prater : Thomas Mann. Deutscher und Weltbürger. Eine Biographie, aus dem Englischen [Oxford 1995] von Fred Wagner, München [u. a.], 3. durchges. Aufl. 1995, S. 501.
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die Spitzenkunst Bachs und Beethovens, Bruckners und Wagners vorgestellt und analysiert hatten. Immer wieder kommen die Freunde noch nach Jahren auf diese schicksalhafte Anregung zurück, das faszinierte Innewerden, wie hier gleichsam „abseits der Zeit […] eine kleine Sondergeschichte […] auf verschollenem Nebenwege zu so eigentümlichen Beseligungen zu führen vermag“, wie hier „einsam und unbelauscht von der Welt, wunderliche Höhen absonderlichster Schönheit“ neu entstehen können, „ein Vorgeschmack des Himmels“ (Doktor Faustus, S. 88 und 93). Thomas Mann hat sich mit einer ihn ästhetisch befriedigenden Ausführung und integrativen Verzahnung dieses Vortrag-Kapitels über Jahre hin in immer neuen Anläufen und Umarbeitungen abgeplagt; die Zwingkraft eines ganz naiv Ordnung stiftenden, aber auch gewaltsam seine Ordnungsprinzipien gegen die „Kuhwärme“, „animalische Wärme“ (Doktor Faustus, S. 94–96) des musikalisch Stimmungshaften durchsetzenden Geistes hat er ja beladen mit schwerer doppelter Determination. Die magische Wirkung über die Gemüter, das „so ganz eigentümlich und ergreifend“ „schlechthin Außerordentliche“ (Doktor Faustus, S. 92), welche den Chören „dieses naiv-tyrannischen Neubeginners der Musik“ (Entstehung des Doktor Faustus, S. 226), „archaischrevolutionären Schulmeister[s]“ und „Systemherrn“ (Doktor Faustus, S. 252 f., vgl. Entstehung, S. 170) dadurch zugeschrieben wurden, daß auf Grundakkorde Reduziertes von zu diesem Dienst in strengster Askese, Zucht und Diät gehaltenen Gottesdienern in ätherischem Diskantgesang vorgetragen werden mußte, wollte er ja zugleich transparent werden lassen auf die in gewaltsamer Neuordnung gemütbezwingende Kunst des (ebenfalls unbedingter Dienstbarkeit verpflichteten) intellektuellen Teufelsbündners Leverkühn wie auch auf den verderblich dienst- und ordnungswilligen Weg seines Hitler verfallenen deutschen Heimatlands aus Himmelsgesängen in Höllensturz. Diese Doppeldetermination und ihre Ableitung aus den teutonischen Grundlagen „eines Seelentums, bedroht von Versponnenheit, Einsamkeitsgift, provinzlerischer Eckensteherei, neurotischer Verstrickung, stillem Satanismus“ (Doktor Faustus, S. 411) fand er am Ende so zulänglich wie überhaupt möglich gelungen und nachvollziehbar ; an seinen Musiker-Sohn Michael schrieb er, voller Lob über dessen mitgeteilte Lektürereaktionen, am 31. Januar 1948: „Daß du Beißel als zugehörig erkennst, freut mich. Adorno riet mir immer von ihm ab, und doch ist er irgendwie am Platze.“19 Mir aber geht es hier nicht um die Musiktheorie, die der von Mann als ein von seinem gottesdienstlichen Auftrag Besessener gezeichnete Beissel, über den „schon hoch in den Fünfzigern“ das Komponieren wie „eine neue Ein19 Thomas Mann: Briefe 1948–1955 und Nachlese. Hg. von Erika Mann, Frankfurt a. M. 1965, S. 16 f., zitiert auch bei Karst: Beissel (wie Anm. 15), S. 585. Ähnlich erfreut war der Dichter über die Zustimmung zu dieser Passage durch den nicht weit entfernt exilierten Konzert- und Operndirektor Bruno Walter, vgl. Prater : Thomas Mann (wie Anm. 18), S. 517. Ebd., S. 512, zum biographischen Kontext der Besichtigung der Beissel-Manuskripte in der Washingtoner Library of Congress.
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gebung und Heimsuchung“ gekommen sei („Es schien, als sei er im Begriffe, die ganze Heilige Schrift nach eigenem Rezept in Musik zu setzen“, Doktor Faustus, S. 90, 92), vorgestellt hatte in der „Vorrede über die Sing=Arbeit“20 seiner spätesten Hymnensammlung, Das Gesäng der Einsamen und Verlassenen Turtel=Taube Nemlich der Christlichen Kirche (Ephrata 1747/49, Nachklang 1755, erw. Neuausgabe 1762). Und ebensowenig möchte ich erneut die Interpretation beleuchten, die der Romancier der Komposition gegeben hat, die auf der Grundlage des Dreiklangs den Wortakzentuierungen, also der Sprachmelodie zu folgen suchte. Der Kretzschmar-Mannsche Vortrag aber kann Wegweisung geben auch für die Frage nach der Zusammensetzung der in der Neuen Welt zu neuartiger Ganzheit verschmolzenen Elementarteile an Ideen und Argumenten, aus religiöser sowie (religiös überlieferter) arkaner Tradition und nach deren gemeinschaftsprägendem Ausdruck in Beissels Poesie. Von diesem Begründer der täuferisch-asketischen Gemeinschaft von Ephrata und Snow Hill,21 „in dessen Charakter sich innige Gottergebenheit mit den Eigenschaften eines Seelenführers und Menschenbeherrschers, schwärmerische Religiosität mit einer kurz angebundenen Energie vereinigt hatten“, läßt Mann Kretzschmar berichten, wie ihm frühe Kontakte „mit Pietisten und Anhängern der baptistischen Brüderschaft […] den Hang zu sonderlichem Wahrheitsdienst und freier Gottesüberzeugung […] geweckt hatten“, bis er dreißigjährig beschloß, „die Unduldsamkeit der alten Erde zu fliehen, […] in der Wildnis als Klausner ein völlig einsames, karges und nur auf Gott bedachtes Leben zu führen“. Die von seinem frommen Vorbild angelockten „Nachahmer seiner Absonderung“ aber hätten ihm solch eremitische Beschaulichkeit nicht zugelassen, „statt der Welt ledig zu werden, war er unversehens und im Handumdrehen zum Haupt einer Gemeinde geworden“ (Doktor Faustus, S. 88 f.). Schaut man sich die einzelnen Stationen seines historisch-realen Werdegangs in den wegleitenden Berührungen und Einflüssen genauer an, wie sie das Chronicon Ephratense detailreich nachzeichnet,22 dann sieht man, wie sie 20 Eine sehr deutliche „Beschreibung, Wie sich das hohe und wichtige Werck unserer geistlichen Sing=Arbeit Erboren, und was der Nutzen von der gantzen Sach sey. Gegeben von einem Friedsamen und nach der stillen Ewigkeit wallenden Pilger“ [mit dem Kolumnentitel „Vorrede über die Sing=Arbeit“], ist faksimiliert abgedruckt in: Sachse: The Music of the Ephrata Cloister (wie Anm. 11), S. 59–65. 21 Über die in Snow Hill fortgesetzte Pflege der Beisselschen Choralmusik berichtet speziell die (ungedruckte) Doktorarbeit von Denis Ann Seachrist: Snow Hill and the German Seventh-Day Baptists: Heirs to the musical traditions of Conrad Beissel’s Ephrata Cloister, Ph.D.-Diss. Kent University, Kent, Ohio 1993 (Copy : Ann Arbor, Mi 1994). 22 Eine akzentuierte Kurzfassung der Beissel-Biographie und Gemeindeentstehung gibt auch die „Vorrede“ zum ersten großen Ephrata-Gesangbuch: Zionitischer Weyrauchs Hügel Oder: Myrrhen Berg […] Zum Dienst Der in dem Abend=Ländischen Welt=Theil als bey dem Untergang der Sonnen erweckten Kirche GOttes, und zu ihrer Ermunterung auf die Mitternächtige Zukunfft des Bräutigams, Germantown: Christoph Sauer 1739, S. )( 2r–)( )( 2v. Vgl. dazu insbes.
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sich im Denken des hochbegabten jungen Manns, dann in der religiösen Lebenspraxis seiner pennsylvanischen Mitstrebenden und später in der Ephrataer Klostergemeinschaft zu neuem Amalgam verbinden. Seit der in Eberbach am Neckar vaterlos geborene, mit acht Jahren voll verwaiste Knabe, der sich alle Denkanregung eklektisch von Vorbildern und befreundeten Seelenführern einsammeln mußte, nach seiner Bäckerlehre und Anleitung zum Violinspiel mit Pietisten und Separatisten der unterschiedlichsten Couleur zusammengekommen war, war all sein Bestreben auf heiligtümliche Erfüllung und Überbietung aller Muster eines asketisch Gott gewidmeten Lebens gerichtet. Wenn das Chronicon berichtet, nach seiner „Bekehrung“ habe er sich 25jährig in „übermenschliche Treue zu GOtt“ gewendet (S. 3) und auch später immer wieder durch „hefftige Buß=Arbeit“ strapaziert (S. 7), bestätigt sich das in seinen Marienborner Berührungen mit den Inspirierten, unter denen ihn der philadelphische Arzt und Alchimist Johann Samuel Carl heilen muß aus einer durch lebensbedrohendes Fasten bewirkten Auszehrungskrise („mein Freund, er imaginieret zu viel in die finstere Welt“, Chronicon, S. 8), ehe der Prophetenführer Johann Friedrich Rock in einer Aussprache seinen geistlichen Hochmut abstraft und ihn so zur Abkehr bringt von dieser Gemeinde (S. 9). Die Suche nach Mustern der rigidesten gesetzlichen Askese und soweit möglich körperloser Spiritualität hatte ihm schon andere ideenleitende Kontakte nahegebracht: Durch einen spekulativen Gelehrten, der im Briefwechsel stand mit Johann Georg Gichtel, dem böhmistischen Vordenker der radikalzölibatären Engelsbrüdergemeinschaft, war ihm neben Böhmescher Pansophie das Ideal sexueller Enthaltsamkeit und Ehelosigkeit, als Dienst an der himmlischen Sophia, nahegebracht worden (S. 4 f., 58–62). Der Hinweis dieses Lehrmeisters auf die Eremitenkolonie im wittgensteinischen Schwarzenau, „damals aller Frommen Pella und Sammelplatz“ (S. 5), hatte ihn mit der dortigen neutäuferischen (d. h. als ,Tunker‘ die Erwachsenentaufe durch Untertauchen praktizierenden) Gemeinschaft von Alexander Mack und Peter Becker bekannt gemacht, auf die heute die gliederreiche amerikanische Church of the Brethren zurückgeht, und mit den wiederum philadelphischen, auch philosemitischen Lehren ihres Vordenkers Hochmann von Hochenau (S. 1 f., 12 f., 39 f., 213). Überall in diesen Gruppen wurde heftig das durch die philadelphischen Landkäufe und Siedlungsgründungen der Vorgeneration (Germantown, heute Philadelphia, gegründet durch Franz Daniel Pastorius)23 trotz aller Überfahrt-Fährnis realistisch gewordene Ziel diskutiert, ins Sachse: German Sectarians, Bd. 1 (wie Anm. 5), S. 312–329, weiterführend Hedwig T. Durnbaugh: Ephrata (wie Anm. 11), S. 204 f., 212, 215. 23 Dazu Klaus Deppermann: Pennsylvanien als Asyl des frühen deutschen Pietismus. In: Pietismus und Neuzeit 10 (1984), S. 190–212, insbes. S. 199–205, auch schon H[ermann] Dechent: Die Gründung von Germantown im Jahre 1683 und die Frankfurter Kompagnie. In: Frankfurter Nachrichten 279 (7. Okt. 1908), S. 6 f., Nieper : Die ersten deutschen Auswanderer (wie Anm. 5), S. 80–116, sowie Erich Mende: Franz Daniel Pastorius gründete Germantown. In: Damals, Zeitschrift für geschichtliches Wissen 10 (1978), S. 123–136.
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„Quäcker=land“ (S. 11) Pennsylvania auszuwandern, nicht allein, um der Gewissensbedrängung durch das Babel der Alten Welt zu entfliehen, sondern um als bruderliebende Gemeinschaft den Einbruch der nahen Endzeit auf jungfräulichem Boden zu erwarten als das verheißene wehengeschüttelte „Weib in der Wüste“ (Apk 12,1 und 12,6)24 und bereitzustehen zum Bau des Gottesreichs. Und entsprechend konnte Beissel jenseits des Meeres etliche seiner einstigen deutschen Kontaktpersonen und Gemeinschaften wiedertreffen. Beim Entschluß zum Übertritt in die Neue Welt im Herbst 1720, um „sein Leben mit GOtt in der Einsamkeit zu zu bringen“ (Chronicon, S. 11), hatte Beissel ganz konsequent auch im Sinne, sich der ihm vom Hörensagen bekannt gewordenen, mit der böhmistisch-philadelphischen Sozietät in London verbundenen zölibatären Eremitengemeinschaft pansophischer (mathematisch-astrologischer, medizinisch-alchimistischer und arkane Magie spekulierender) Gelehrter in der Wildnis der Ridge bei Germantown (mit ihrem Namen „Das Weib in der Wüste“) anzuschließen, doch fand er diese nach dem Tod ihres Gründers Johannes Kelpius bereits zerfallend.25 Den Geist und die Sprachallegorie vom heilsgeschichtlich komplementären Wechselbezug zwischen dem Abendland (woher die erweckten Bauleute kommen) und dem morgenfrischen Kontinent über dem Meer, Geist einer eschatologisch-spekulativen Amerikabegeisterung, reproduziert er in einer im Chronicon zitierten Epistel: Abend und Morgen wird wieder einen Tag machen Gen. 1. Das Licht gegen den Abend wird einen Schein setzen gegen dem Morgen: und der letzt verheißene Abend=Regen wird dem Morgen zu hülf kommen, und wird das Ende bringen: als dann wird Jacob fröhlich seyn und Israel sich freuen.26 24 Das schwerverständliche Bild hatte die in die frühesten pennsylvanischen Landkauf- und Auswanderungspläne (der „Frankfurter Compagnie“ und des „Saalhof“ um Franz Daniel Pastorius seit 1682) stark involviert gewesene Johanna Eleonora Petersen in ihrer „Anleitung zu gründlicher Verständniß der Heiligen Offenbahrung Jesu Christi“ (Frankfurt – Leipzig 1696, S. 121–123) auf das ganze „noch unbekehrte Israel gedeutet“, „welches nach den so vielfältigen Weissagungen aller Propheten in der letzten Zeit sich zu GOtt bekehren und Christum im Geist gebähren soll“. Vgl. Martin Schmidt: Judentum und Christentum im Pietismus des 17. und 18. Jahrhunderts. In: Kirche und Synagoge. Hg. von Karl Heinrich Rengstorf und Siegfried von Kortzfleisch, Bd. 2, [Stuttgart 1970], 2. Aufl. München 1988, S. 87–128, hier S. 116 f., 127 f., spezifischer (mit entsprechenden Forschungsreferenzen) Ruth Albrecht: Johanna Eleonora Petersen. Theologische Schriftstellerin des frühen Pietismus, Göttingen 2005 (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus, Bd. 45), S. 74 f. (Amerika-Auswanderungspläne) und S. 252–254 (Aufschluß der „Anleitung“ über die „vielfältige und mehrschichtige Symbolik“ des Weibs in der Wüste im Kontext der radikalpietistischen Auslegungstradition). 25 Ausführlichere Information zu dieser auf den württembergischen pansophischen Mathematiker und Astronomen Johann Jacob Zimmermann (der aber vor der Überfahrt starb) zurückgehenden böhmistischen Exulantengruppe und ihrer Ideologie in neueren Arbeiten etwa bei Durnbaugh: Work and Hope (wie Anm. 5), S. 73–76; ders.: Radikaler Pietismus (wie Anm. 5), S. 114–117. 26 Zitiert aus Beissels 5. Epistel in: „Chronicon Ephratense“ (wie Anm. 4), S. 10. Die Eingangs-
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Nicht allein Pietismus und Täufertum, die in der Alten Welt bei allen theologischen Berührungspunkten deutlich geschieden bleiben,27 verbinden sich in den Erwecktengemeinschaften der Neuen Welt folgenreich: Weil die gesuchte Eremitenkolonie nicht mehr existiert, wendet sich Beissel dort zunächst zu der ihm aus Schwarzenau bekannten Gruppe. Er lernt bei Peter Becker das Weberhandwerk (den Demutsberuf also des mystischen Pietisten Gerhard Tersteegen, der zwischen Mülheim und Elberfeld eine ähnliche Verbindung eheloser Separatisten in klösterlicher Kongregation, der Pilgerhütte Otterbeck, inspirierte)28 und läßt sich von ihm nach erneutem Experiment gemeinschaftlichen Eremitenlebens im Pequea-Fluß neu taufen (Chronicon, S. 12, 20 f., 78 f.). Zeitweise tritt er mit in die organisatorische Leitung der Tunk-Täufer-Gemeinde ein. Aber neben der Erwachsenentaufe werden auch alle anderen asketischen und spekulativen Sondertraditionen aus dem radikalen Pietismus der Alten Welt in der nach seinem Bruch mit den Tunkern 1728 ganz seinem eigenen Charisma folgenden Gemeinschaft am Conestoga wiederaufleben, die schließlich auch dem wiederum weltflüchtig zum Klausner Gewordenen auch in die Cocalico-Senke (indianisch für „Schlangen=höhle“)29 nachfolgt. Aus dieser Einsiedlerkolonie vormaliger KelpiusAnhänger,30 aber auch abgespaltener Tunker und anderer nach strikteren
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spekulation gründet sich auf Gottes Tag-Erschaffen („aus Abend und Morgen“) und dient freilich der Begründung der Sabbat-Feier vom Freitagabend bis Samstagabend analog zum jüdischen Shabbat. Über den spekulativen Hintergrund der eschatologischen Erwartung (u. a. nach Röm 11,25 ff.) im Zitat-Schluß vgl. Schrader : Sulamiths verheißene Wiederkehr (1988, L 15), im vorliegenden Band S. 169–204, bes. S. 182 f., 193–204. In Europa sind beide Stränge infolge der Ausgrenzung und scharfen Verfolgung der Täufer seit der Reformationszeit getrennt geblieben. Erst in der Berührung der aus dem Radikalpietismus zur Erwachsenentaufe tendierenden Gruppen (Schwarzenauer Täufer um Mack und Becker, angeregt durch Hochmann von Hochenau) entsteht im Zuge ihrer gemeinschaftlichen Auswanderung mit den alttäuferischen Gemeinschaften jene Angleichung, die in Amerika in einem Prozeß gegenseitigen Gebens und Nehmens die profunde Ideenverwandtschaft der verschiedenen mennonitischen Kirchen produziert hat. Solche Annäherungen und Überzeugungsgemeinschaften unter Radikalpietisten namentlich der Wetterau und im Wittgensteinischen stellt Durnbaugh: Fruit of the Vine (wie Anm. 5), S. 12 f., 15–33 besonders heraus. Über die gegenläufige geistige Beeinflussung der jüngeren Baptistenbewegung durch den Pietismus informiert Günter Balders: Vom Verhältnis des Baptismus zum historischen Pietismus. In: Theologisches Gespräch. Freikirchliche Beiträge zur Theologie 27 (2003), S. 135–165. Auf die Analogien explizit hingewiesen hat Horst Neeb: Gerhard Tersteegen und die Pilgerhütte Otterbeck in Heiligenhaus 1709–1969. Geschichte und Tersteegen-Briefe an die Bewohner, Düsseldorf 1998, S. 32–35 (Kap. VII: Das Ephrata-Kloster in Pennsylvanien). Abgeleitet von der entsprechenden Bezeichnung der ortsansässigen Delaware-Indianer („KochHalekung“), vgl. „Chronicon Ephratense“ (wie Anm. 4), S. 52, danach Bach: Voices of the Turtledoves (wie Anm. 4), S. 1. Die Namensadaption fast aller pennsylvanischen Flußnamen aus indianischer Mündlichkeit ist ursächlich für ihre oft sehr unterschiedliche Schreibung in den Quellen (das „Chronicon“ schreibt den Fluß wie die daran gegründete Township als „Cocalleco“). „Chronicon Ephratense“ (wie Anm. 4), S. 14. Vgl. Traditionsanknüpfung „in der Wüste“, S. 45, 51 und S. 53, 248. Programmatisch wird auch auf der Titel-Rückseite des frühesten in deutscher
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Glaubensnormen suchender „Flüchtlinge aus Babel“ (Chronicon, S. 58) läßt dort sein starker Wille um 1734 Ephrata31 hervorgehen. Mit dem Ziel eines gemeinschaftlichen Lebens ohne Privatbesitz in rigidester Askese werden fallweise auch außerprotestantische Reinheitsvorschriften und Entsagungssymbole kopiert: Nach katholischem Vorbild wird, nachdem der „Vorsteher Beissel“ als „Priester“, ja „Pontifex maximus“ eingesetzt ist (S. 63, vgl. S. 2, 222, 248), aus den Einsiedeleien eine klösterliche Gemeinschaft geformt und erbaut, getrennt für die Chöre der ehelosen „einsamen Brüder“ und „geistlichen Jungfrauen“ sowie für als Familien lebende „Hausstände“ (S. 50 f., 55, 64 f., 91 f.) von minderem Spiritualitätsgrad, die aber immerhin durch ihren Nachwuchs das Überleben der Gemeinschaft bis ins 20. Jahrhundert ermöglicht haben. Die Mitglieder erhalten Klosternamen (Beissel neben dem seinen, „Friedsam Gottrecht“, den Ehrentitel „Vatter“, S. 94 f.), in Anlehnung an das Mönchswesen läßt man sich zeitweise sogar tonsurieren.32 Als Signal bibelfundamentalistischer Absonderung und fromType gedruckten Ephrata-Gesangbuchs aus überkommenen und (von Beissel, aber auch von anderen Gemeindegliedern) neugeschaffenen Liedern, Zionitischer Weyrauchs Hügel (wie Anm. 22), S. )( 1v, der Text der „Weib in der Wüste“-Offenbarung „Apocal. 12, v. 1.2.5.6.“ unter die Zueignung gesetzt: „Allen In der Wüsten girrenden und Einsamen Turtel=Taeublein Als Ein geistliches Harpffen=Spiel […]“. 31 Der Name des Klosters ist nicht allein eine Reminiszenz an das alttestamentliche Ephrata, die patriarchenzeitliche Ursprungsbezeichnung Bethlehems Gen 35,19, also den Herkunftsort zunächst Davids und dann Jesu Christi und damit typologisch den Ort, von dem das Heil in die Welt gekommen ist. Vielmehr ist ,Ephrata‘ schon in der radikalpietistischen Tradition auch eschatologisch besetzt und nimmt die Symbolik der von Beissel hochgeschätzten Eremitengesellschaft „Weib in der Wüste“ auf. Aufschlußreich dafür ist der Kommentar der ,Berleburger Bibel‘ zu Mi 5,2–4: „Du aber Bethlehem Ephrata / es ist was geringes / daß du bist unter den Tausenden von Juda! Aus dir soll mir hervorkommen der in Israel Herrscher sey : und dessen Ausgänge sind von Anfang her / von den Tagen der Ewigkeit her. Darum wird er sie dahin geben bis auf die Zeit daß die so gebähren soll gebohren habe: da werden die übrigen seiner Brüder wiederkehren nebst den Kindern Israel […] und sie werden wohnen: dann nunmehr wird er gros seyn bis zu den Enden der Erde.“ Als Grunderklärung wird da gegeben: „Ob aber schon Jerusalem wird eingenommen werden, […] so darff deßwegen Zion doch noch nicht verzagen: weil zu seiner Zeit sich vor dasselbe wird ein mächtiger Erretter finden.“ Daran aber schließt sich die Erläuterung der „Dreyerley Geburt Christi“ an, nämlich als der „Erstgebohrne […] vor aller Creatur, Col. 1,15“, dann als der in Bethlehem geborene Jesus und schließlich als der wiedererscheinende „Messias“, den „die gantze Erde […] als ihren HErrn erkennen“ wird: Der Heiligen Schrift Alten Testaments Vierter Theil: Nämlich die […] Propheten […] Nebst der buchstäblichen und geheimen Erklärung […] nach der innern und äussern Haushaltung GOttes, Berleburg 1732, S. 771 f. Eine gleichartige Programmatik schwingt freilich auch mit, wenn die Herrnhuter 1740 gar nicht weit von Ephrata ihr neues „Bethlehem“ gründen (heute Ausbildungs- und Verwaltungszentrum der Moravian Church). In gleichem Sinn wie in der ,Berleburger Bibel‘ werden die zitierten Micha-Verse auch sonst gedeutet, vgl. Johanna Eleonora Petersen: Leben, von ihr selbst mit eigener Hand aufgesetzet. Autobiographie. Hg. von Prisca Guglielmetti, Leipzig 2003 (Kleine Texte des Pietismus, Bd. 8), S. 45 und (Kommentar) S. 85. Zu den Stadien des Aufbaus Ephratas vgl. im Überblick Durnbaugh: Fruit of the Vine (wie Anm. 5), S. 91–94. 32 Dazu und zur dadurch evozierten Aufregung vgl. Seidensticker: Ephrata (wie Anm. 5), S. 63.
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mer Selbstkasteiung werden aber auch jüdische Vorschriften aufgenommen. Beissels neben der Erwachsenentaufe fortan zum namengebenden Grunddogma der Gemeinde werdender Entschluß, zur Feier des Sabbats, des siebten Tags als Ruhetag, zurückzukehren (S. 35 f., 46 f.), ist neben der Gichtelschen Enthaltsamkeitsideologie und der Offenheit für inspirierte Neuprophetie der einzige theologische Trennpunkt von den Mack/Beckerschen Tunker-Gemeinschaften, aber auch religiös verwandter Täufergruppen nichtpietistischer Genese wie der Old order Mennonites und der Amish. Vorwürfe der Einführung judaisierender Bräuche gründen sich auf das zeitweilige Befolgen von Kashrut-Regeln im Kloster („Schweinen=fleisch und unreine Speisen“ werden geächtet, ebenso aber auch Gänse, „weilen sie den Menschen müssen die Federn zu ihrer Wollust anschaffen“, S. 26) und gar die Beschneidung einzelner Brüder zum Zeichen ihres auszeichnenden Gottesbunds (S. 23, 25, 27).33 Daß Beissel schon in der Heimat wie Hochmann philadelphische Kontakte zu Juden gesucht hatte und wohl auch zur Selbstkasteiung koschere Nahrung bereitet hatte, zeigt der Bericht, daß sein Brot auch bei Juden gefragt war, daß eine Jüdin mit Eingaben gegen seine Ausweisung als unruhestiftender Pietist aus der Pfalz protestiert hatte.34 Ähnlich findet man aus der abendländischen Anregung aber auch andere asketische, emphatische oder hermetische Kennzeichen und Traditionen wieder. Die Gewandung der Gemeinschaft wird bis zur Einführung von Ordenskleidern den Quäkern nachgeahmt (S. 45). Anfänglich lehrt und leitet Beissel seine Gemeinschaft ganz in inspirierter, dem Buchstabenwesen absa33 Die Auslegung dieser (mit Ausnahme der Befolgung des biblischen Ruhetags jeweils nur auf Zeit erprobten bzw. observierten) Frömmigkeitsübungen als (entsprechend der gegnerischen Vorwürfe) „Judaizing practices“ hat Durnbaugh: Fruit of the Vine (wie Anm. 5), S. 87–89, aufgegriffen. Mir scheint es richtiger, darin (wie das Beispiel der Gänse-Bannung zeigt) dominant den Willen zu einer auszeichnenden, gewollt lebenserschwerenden Askese zu sehen (so wie etwa bei den Amish im Verbot stoßabfedernder Luftgummireifen und zahlloser anderer technischer Lebenserleichterungen). Hollyday und Schweitzer: The present Status of Conrad Beissel/Ephrata Research (wie Anm. 8), S. 175, sprechen in diesem Sinne von einem in Ephrata konstatierbaren „system of self-flagellation […], which replaced the external oppression experienced in Europe“. Die grundsätzlich unpolemische, ja philadelphisch-brüderliche Haltung, die die Beisselianer auch mit anderen radikalpietistischen Gruppen gegenüber der jüdischen Frömmigkeit einnahmen, ist aber freilich unverkennbar. 34 Für alle diese Angaben und Indizien vgl. „Chronicon Ephratense“ (wie Anm. 4), S. 5 f., 23 f., 27, zu Beissels erster Publikation, dem „Büchlein vom Sabbath“, sowie der milden Reaktion der eigentlich mit der christlichen Grundordnung auf das Sonntagsgebot verpflichteten Landesobrigkeit (auch in Rücksicht auf sabbatarische Gruppen unter den eingewanderten Engländern) ebd., S. 35–37. Für den umfassenderen Kontext, die aufgrund der philosemitischen Traditionen der spiritualistisch-pietistischen Einwanderer in Amerika von Anfang an unvergleichlich günstigeren Einstellungen den Juden gegenüber, für die Bedeutung, die dabei Hochmann als Vordenker gewinnt, und die Wirkungen auf die Einstellungen der Dunker, Siebentäger und Inspirierten vgl. Schrader : Philadelphian Hope (2003, L 28), im vorliegenden Band S. 205–231; zu Beissel und zur Bedeutung alttestamentlicher Vorbilder in den Namengebungen, Kolonienund Gebäudebenennungen und in der Kanaanssprache der Siebentäger vgl. dort S. 205–211, S. 224–229.
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gender Manier durch geistgetriebene (außerhalb der Ekstase ihm selbst oft gar nicht mehr erinnerliche) Aussprachen, denen durch Mitschreiben, Abschreiben und Versenden Dauer und Geltung verschafft wird; erst danach werden alle Lehrpositionen wieder an biblische Vorgabe gebunden (S. 25 f., 35–39, 41, 51). Überhaupt spielt ekstatisch-visionäres Wesen, eschatologische Emphase und geheimes Wissen eine große Rolle, unverkennbare Erbschaften aus den spiritualistischen und pansophisch-kabbalistischen Traditionen der Gichtelianer und Philadelphier. Apostolische Liebesmähler wie bei den Inspirierten und Herrnhutern werden gefeiert (S. 19), und Metten um Mitternacht erwarten die Wiederkunft des Bräutigams zu den klugen Jungfrauen (S. 64). Bei den Neu- und Umtaufen werden Engelchöre vernommen (S. 29), insbesondere die magnetische Attraktion, das unbezwingliche Charisma des Vorstehers auf andere Menschen wird häufig betont (S. 9, 25 f., 58 f., 88), am meisten auf die Frauen, die in Scharen ihren Männern und Familien davonlaufen, um sich dem ,Orden der Geistlichen Jungfrauen‘ anzuschließen (S. 30, 45–50). Kein Wunder, daß dadurch geschädigte Ehemänner die so verführerischen Ephrata-Leute, den Anführer vor allem, der Magie (S. 30 f., 53, 65, 86) zeihen35 und das Ideal der Enthaltsamkeit beargwöhnen, gar „eine neue Evische Rotte“ voll geistlicher Promiskuität heraufziehen sehen (S. 66).36 Geheimwissenschaftliche, alchimistische und kabbalistisch-magische Spekulationen und Versuche sind in der Tat, wie neuerdings sichtbarer herausgearbeitet wurde, als es die vorsichtigen Andeutungen des Chronicon bereits erkennen lassen, in Ephrata ebenso angestellt worden wie vielfältig schon 35 Die prominenteste Stimme unter solchen Verdächtigern war der Druckerpionier Christoph Sauer, dessen Frau über Jahre hin den eigenen Haushalt verlassen und sich der Klostergemeinschaft angeschlossen hatte, wo sie als „Schwester Marcella“ zur Unterpriorin aufstieg. Vgl. den Bericht im „Chronicon Ephratense“ (wie Anm. 4), S. 45, mit Publikation von Sauers Briefen vom 17. und 20. November 1738 in der (für die Lebensverhältnisse der pietistischen Immigranten, auch schon die Fährnisse der Überfahrt und verbreitete Not und Entwurzelung auf der neuen Erde ungemein aufschlußreichen) Flugschrift: Abdruck einiger wahrhaften Berichte und Briefe eines sichern Freundes zu Germantown in Pennsylvanien vom 17. Novembr. 1738. Betreffende den inn= und äusserlichen Zustand dererjenigen die dahin gezogen […], Berleburg: Johann Jacob Haug 1739, S. 7–11. Zum Magie-Vorwurf vgl. ebd., S. 9. Angaben über Sauers Buchdruckerei und spannungsreiche Durchführung des Drucks des Ephrata-Liederbuchs „Zionitischer Weyrauchs Hügel“ ebd., S. 6, 9 f. und 13 f., sowie den Wiederabdruck dieser Materialien auch in der Zeitschrift der von Berleburg ausgehenden philadelphischen Sammelbestrebungen: Geistliche Fama, in sich haltend einige Nachrichten von […] Erweckung und Führung in diesen Zeiten, 25. Stück, [Berleburg] 1739, S. 72–96. 36 Zur jüngeren Forschung über die ebenfalls kommunitär lebende und durch ihre krause Sexualideologie berüchtigt gewordene „Buttlarsche Rotte“ oder „Sozietät der Mutter Eva“, die zeitweilig auch in den Wittgensteiner Ländern Zuflucht gefunden und unter den dortigen Radikalpietisten Anhang gewonnen hatte, vgl. insbes. Willi Temme: Eva Margaretha v. Buttlar. In: RGG, 4. Aufl., Bd. 1 (1998), Sp. 1925 f., und umfassender ders.: Die Buttlarsche Rotte – Ein Forschungsbericht. In: Pietismus und Neuzeit 16 (1990), S. 53–75, sowie ders.: Krise der Leiblichkeit. Die Sozietät der Mutter Eva (Buttlarsche Rotte) und der radikale Pietismus um 1700, Göttingen 1998 (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus, Bd. 35), auch Schneider: Der radikale Pietismus (wie Anm. 5), S. 133–135 („Die Sozietät der Mutter Eva“).
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unter den deutschen Ideengebern am linken Flügel des Pietismus,37 namentlich in den philadelphischen Gruppierungen (vgl. S. 10 f.). Alle diese Tendenzen aber durchdringen auch Beissels schriftstellerisches Werk und machen es gedanklich wie sprachlich über den heute ohnehin nur mehr wenigen verständlichen Formelschatz der Mystik hinaus schwer zugänglich und erläuterungsbedürftig. Auch den merkwürdigen Poetenkollegen Beissel, der zwar nie „eine nennenswerte Bildung genossen, aber des Lesens und Schreibens […] sich im Selbstunterricht mächtig gemacht“ habe (Doktor Faustus, S. 89), hat Mann im Referat seines Tonsetzer-Romans nicht vergessen. Unter Nennung einiger seiner thetischen und poetischen Hauptwerke, die ihm der Geist früher schon inspiriert habe, ehe er ihn „nötigte […], zu der Rolle des Dichters und Propheten diejenige des Komponisten an sich zu reißen“ (Doktor Faustus, S. 90), nähert er sich ihm mit jenem charakteristischen Anflug von Ironie, mit dem er überall in der Schwebe hält,38 wie sehr „dessen Figur in meinem Roman eine so hintergründige Rolle spielt“ (Entstehung, S. 226, vgl. S. 170): da sein Gemüt von mystischen Gefühlen und Ideen wogte, so geschah es, daß er hauptsächlich als Schriftsteller und Dichter sein Führeramt ausübte und die Seelen der Seinen speiste: ein Strom didaktischer Prosa und geistlicher Lieder ergoß sich aus 37 Bach: Voices of the Turtledoves (wie Anm. 4), widmet dem meist übergangenen Komplex der geheimwissenschaftlichen Spekulationen und Experimente und ihren Traditionen in Ephrata ein ganzes, besonders kenntniserweiterndes Kapitel (Kap. 7: „Heavenly Magic“. Hidden Knowledge at Ephrata, S. 171–191, 262–269). Vgl. bereits Jon Butler : Magic, Astrology, and the Early American Religious Heritage, 1600–1760. In: American Historical Review 84 (1979), S. 317–346. Wie auch Zauberbücher, oberflächendomestiziert mit christlichen Argumenten (als Anleitungen zur weißen Magie für durch ernstes Bußwerk gegen die Anläufe des Teufels gerüstete gottergebene Gelehrte), durch radikalpietistische Kreise gedruckt und verbreitet wurden, habe ich an der vom Goetheschen „Faust“ zur Geisterbeschwörung eingesetzten „Clavicula Salomonis“ aufgezeigt: Schrader: Salomonis Schlüssel (2001, L 26); vgl. Christa Habrich: Alchemie und Chemie in pietistischer Tradition. In: Goethe und der Pietismus. Hg. von HansGeorg Kemper und Hans Schneider, Tübingen 2001 (Hallesche Forschungen, Bd. 6), S. 45–77, auch dies.: Von der Alchemie zur Förderung der chemischen Wissenschaft und Technik. Goethe zwischen hermetischem Denken und Pragmatismus. In: Von der Pansophie zur Weltweisheit. Goethes analogisch-philosophische Konzepte. Hg. von Hans-Jürgen Schrader und Katharine Weder, Tübingen 2004, S. 9–29. 38 Ganz entsprechend heißt es da von Adrian Leverkühn und seiner nur oberflächlich ironisch distanzierenden Reaktion auf die Beissel-Erzählung, er habe sorgsam auf die Ambivalenz geachtet, „sich im Spott die Freiheit zur Anerkennung zu salvieren, – auf das Recht, um nicht zu sagen: das Vorrecht also, einen Abstand zu wahren, der die Möglichkeit wohlwollenden Gehenlassens, bedingter Zustimmung, halber Bewunderung zusammen mit der Mokerie, dem Gelächter in sich schließt.“ Thomas Mann: Doktor Faustus (wie Anm. 15), S. 93. Einen Analogiefall Thomas Mannschen ironischen Vorführens von pietistischem Gebaren und vermeintlich pietistischem Erbe, zugleich aber doch auch einer gewissen Faszination an deren sondersprachlichen Verstiegenheiten, habe ich an der Einfügung der sogenannten „RabenaasStrophe“ in seinem Romanerstling „Buddenbrooks“ diskutiert, Schrader : Die Sprache Canaan, Auftrag der Forschung (2005, L 38), im vorliegenden Band S. 233–260, hier S. 233–236. Ganz Ähnliches gilt für Manns Altersroman „Der Erwählte“, vgl. im vorliegenden Band S. 785–787.
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seiner Feder zur Erbauung der Brüder und Schwestern in stillen Stunden und zur Bereicherung ihres Gottesdienstes. Sein Stil war verstiegen und kryptisch, beladen mit Metaphern, dunklen Anspielungen auf Stellen der Schrift und einer Art von erotischem Symbolismus. [Doktor Faustus, S. 89]
Im gegebenen Rahmen kann ich diese durchaus treffende Grobkennzeichnung nur ansatzweise differenzieren und versuche das an wenigen Textbeispielen, die ich aus den drei mir von seinem weit umfänglicheren Lyrikwerk zugänglich und bekannt gewordenen Beisselschen Liedersammlungen ziehe. Es handelt sich hierbei um die beiden frühen Drucke, die noch in Ermangelung einer deutschen Druckerei auf transatlantischem Boden bei Benjamin Franklin in Philadelphia (dem späteren führenden Staatsmann)39 hatten geordert und im Antiquasatz gedruckt werden müssen: Vorspiel der Neuen-Welt. Welches sich in der letzten Abendroethe als ein paradisischer Lichtes-glantz unter den Kindern Gottes hervor gethan von 1732 (mit 119 Liedern auf 200 Seiten) sowie Jacobs Kampff- und Ritterplatz allwo Der nach seinem Ursprung sich sehnende geist der in Sophiam verliebten Seele […] den Sieg davon getragen von 1736 (mit weiteren 31 Liedern auf 46 Seiten), schließlich als postume Sammlung aus dem auf der selbsterbauten Ephrata-Presse in Fraktur hergestellten Gesangbuch der Gemeinschaft, Paradisisches Wunder=Spiel, Welches sich In diesen letzten Zeiten und Tagen in denen Abendländischen Welt=Theilen, als ein Vorspiel der neuen Welt hervorgethan von 1766, in dem die ersten 441 Lieder (teilweise nachgedruckt nach den früheren Sammlungen) als Dichtungen „des in GOTT ehrwürdigen Vaters Friedsam Gottrecht“ – also Beissels – ausgewiesen sind (S. 296).40 – Das von Thomas Mann auch noch Beissel zugeschriebene große Gesangbuch Zionitischer Weyrauchs Hügel (Mann läßt es in Freudscher Fehlleistung zum „Zionistischen“ werden, Doktor Faustus, S. 89), das die Ephrata-Gemeinschaft 1739 im Umfang von 806 Seiten beim Germantowner radikalpietistischen Druckerpionier Christoph Sauer herstellen ließ, enthält neben Beisselschen und Ephrataer Gesängen ganz überwiegend die Liederfracht anderer pietistischer und täuferischer Gesangbücher aus der Alten Welt, namentlich aus dem Davidischen Psalterspiel (seit 1718).41 Was darin vom „Vorsteher“ selbst stammt, wird allenfalls nach einer Entwirrung der Textgenesen bestimmbar werden.42 39 Die Bedeutung des von dem armen Seifensiedersohn aus Bildungsdrang erwählten DruckerBerufs in Franklins Leben und für sein Selbstverständnis (bis hin zum Motto seines Grabsteins) tritt in alten Konversationslexika noch nachdrücklich hervor. Vgl. Art. „Benjamin Franklin“. In: Allgemeine deutsche Real=Encyklopädie für gebildete Stände (Conversations=Lexikon), 5. Orig. Aufl., 3. Abdr., Bd. 3, Leipzig: F. A. Brockhaus 1822, S. 800–803, bzw. in: Meyers Konversationslexikon. 5. gänzl. umgearb. Aufl., Bd. 6, Leipzig – Wien 1894, S. 706–708 (mit Lit.). 40 Zur druckgeschichtlichen Literatur über die Ephrata-Presse vgl. oben Anm. 5 und 10. Faksimiles aller Titelblätter der Gesangbücher und Beissel-Schriften bei Sachse: The Music (wie Anm. 11), S. 34–45, 98. 41 Zu diesem ohne Ortsangabe (in Schaffhausen) zuerst 1718 publizierten, von Alexander Macks Neutäufer-Gruppe und den Inspirierten nach Amerika mitgebrachten radikalpietistischen
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Vieles an Beissels Liedern entspricht durchaus dem Geist und Ton durchschnittlicher pietistischer Kirchenlieddichtung in Deutschland und lehnt sich auch explizit (in der Melodievorgabe – entsprechend auch im Rhythmus und Metrum) an diese, etwa an Tersteegen-Gesänge, an.43 Spezifische und radikalere Botschaft, etwa die Sabbatlehre, die Reinheits- und Keuschheitsforderung oder apokalyptische Naherwartungen, sind oft nur aus hermetischer Bibel-Bildlichkeit oder dem Böhme-Gichtelschen Formelschatz zu erheben.44 Überraschend gelingen ihm immer wieder ganz ursprungsfrische gefühlsund stimmungsechte Sprachbilder und Neuschöpfungen, deren Intensität aus frommer Innigkeit gespeist erscheinen, so etwa in den Natureingängen, die die Erneuerung der Welt in Frühlingsbeginn oder Sonnenaufgang ausmalen zum Vorbild der Wiedergeburt und neuen Kreatur des erweckten Christen. Aber solche Ereignisse reizvoller poetischer Eigenkraft werden immer wieder erstickt durch eine ermüdende copia verborum, den für die pietistische Lieddichtung ja insgemein charakteristischen Leerlauf unendlicher Wiederholungen in zwanzig- oder mehrstrophigen Gesängen, die bisweilen in trivialer Reimerei oder metrischem Stolpern die insularen Schätze verschütten. Insofern die Gesänge kohärente Gedankenführung und bildliche Geschlossenheit selten erreichen, tut man ihnen keine Gewalt an, wenn man einzelne Partien oder Strophen als hervorstechend oder aber exemplarisch heraushebt. Dieses freilich ist nicht als ein Indiz für spezifische Kunstdefizite Beissels zu bewerten; es entspringt vielmehr einer den Kriterien für weltliche Formbeherrschung und Kunstschönheit bewußt entgegengesetzten Poetologie eines Gesangbuch und seinem Derivat, „Das Kleine Davidische Psalterspiel“, zuerst Germantown (Sauer) 1744 (danach zahllose Neuauflagen), in das seinerseits Lieder aus „Zionitischer Weyrauchs Hügel“ aufgenommen wurden, vgl. grundlegend Hedwig T. Durnbaugh: The German Hymnody of the Brethren 1720–1903, Philadelphia, Pa. 1986, S. 41–60, 136 f., 146–148, 298 f., 302. Der ebd. genannte Druckort der Zweitauflage von „Davidisches Psalter Spiel“ wäre richtig (statt „Hamburg“) anzugeben „Homburg v. d. H.: Johann Philipp Helwig, 1740“. Vgl. im Kontext der gesamten pietistischen Gesangbuchproduktion auch Bunners: Musik (wie Anm. 15), S. 436, 453, und Hedwig T. Durnbaugh: Ephrata (wie Anm. 11), S. 204 f., 206 f., 215–218. 42 Einige Identifikationen Beisselscher Lieder (auch noch in der späteren Auswahl aus dem „Kleinen Davidischen Psalterspiel, Die Kleine Harfe“, Chestnuthill [Samuel Saur] 1792) hat Hedwig T. Durnbaugh bereits geleistet: German Hymnody (wie Anm. 41), S. 58 f., 62, 286 (unter Rückverweis auf die Nummern der Liedregister S. 160–229, 230–256). Das „Chronicon Ephratense“ (wie Anm. 4), S. 250, gibt die Gesamtzahl der gedruckten Lieder Beissels mit 441 an: „viele davon sind prophetisch, und stellen die nahe vor der Thür seyende Sabbatische Kirche, samt der Sammlung des Volcks Gottes vor.“ 43 Ein recht charakteristisches Beispiel hierfür ist das (aus dem „Vorspiel“ von 1732 gezogene) Lied „O Stille friedens ruh“ (nach der Lehnmelodie einer Vorgabe „Mein geist verlangt“), das Christian Bunners in seiner Anthologie abgedruckt hat: Lieder des Pietismus aus dem 17. und 18. Jahrhundert. Hg. von Christian Bunners, Leipzig 2003 (Kleine Texte des Pietismus, Bd. 6), S. 56–58, Biographie, Fundnachweis und Kommentar S. 119–121 und Nachwort, S. 154–156. 44 Wenn in einigen Lexikonartikeln zur Charakteristik dieser Lieder behauptet wird, daß sie „von einem überschwänglichen Schwärmertum zeugen“ (so Braun: Beißel. In: NDB, S. 23, oder Bautz: Beissel. In: BBKL, Sp. 467, [beide wie Anm. 7]), ist das im Vergleich mit sonstiger radikalpietistischer Lieddichtung kaum haltbar.
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geistgewirkten geistlichen Versezustroms, die Beissel mit den inspirierten Reimeschmieden, auch den bekannt gebliebenen fruchtbarsten Lieddichtern seiner Epoche wie Zinzendorf und selbst Tersteegen teilt.45 Die Bedeutung des philadelphischen Gedankens bei Beissel und in seinem Ephrata-Orden tritt in allen drei Sammlungen zutage, die früheste hat eine ganze Abteilung mit Gesängen „Von der wahren treu und unverfälschten bruder-liebe“: in der gemeinsamen Gefolgschaft der Bekehrten zum Heiland, in einem mystisch erfaßten Zusammenfließen im Meer der Gottheit muß „die liebes gemein“, will sie in „bruder-liebe grünen“, immer mehr den Streit um trennende Meinungen und Satzungen überwinden, mit denen man „seinen bruder noch beschweret, Und sein Mitglied im Geiste drückt“ (Vorspiel, Lied 76, S. 124–126). Das wahre Philadelphia, die „rechte treue brüder-schafft“ im Zusammenschluß derer, „die sich Gott erkoren“ haben und „aus seinem geist geboren“ sind, ist hienieden aber nur als Vorspiel zu verwirklichen,46 vollends wird es erst erreichbar sein im endzeitlichen Friedensreich, in „Zion“ (Jacobs Kampf, „Lied Von der hoffnung Zions“ Nr. 17, S. 29–31), „wann thät im Licht erscheinen, ein neue Kirchen=Zeit“ (Wunder=Spiel, Lied 315, S. 212). Die wohl eindrücklichste Leistung des Beisselschen Liederschatzes, mit der er aus dem ererbten Vokabular der Mystik noch einmal ebenso zu einem offenbar empfindungsechten Eigenton gelangt wie vor ihm die drei großen neuzeitlichen Mystiker der katholischen, lutherisch-theosophischen und re45 Auf diese Linie einer poetologischen Sondertradition geistlicher Genies habe ich wiederholt aufmerksam zu machen versucht, allgemein für den Pietismus und die Übernahme entsprechender Argumente bei den Geniedichtern des Sturm und Drang: Schrader: Vom Heiland im Herzen (1994, L 19), im vorliegenden Band S. 115–133; ursprünglich französisch, ders.: „Le Christ dans le cœur“ (1994, L 18); für die Inspirierten, v. a. die Gedichte Johann Friedrich Rocks, ders.: Inspirierte Schweizerreisen (2000, L 24), im vorliegenden Band S. 517–546; für Tersteegen: ders.: Hortulus mystico-poeticus (1997, L 21), im vorliegenden Band S. 457–487; für Zinzendorf: ders.: Zinzendorf als Poet (2006, L 40), im vorliegenden Band S. 489–516, bes. S. 499–516; für die Aufnahme beim Sturm-und-Drang-Goethe ders.: Propheten zur Rechten (2001, L 25). Vgl. auch Thomas Tillmann: Vom Sprechen zum Lallen. Glossolalie und Prophetie in Goethes „Zwo wichtige bisher unerörterte biblische Fragen“. In: Goethe und die Bibel. Hg. von Johannes Anderegg und Edith Anna Kunz, Stuttgart 2005 (Arbeiten zur Geschichte und Wirkung der Bibel, Bd. 6), S. 17–33. 46 Auch im „Chronicon Ephratense“ (wie Anm. 4), S. 58 f., ist entsprechend (anknüpfend an die biblische Verkündigung über die Gemeinde in Philadelphia Apk 3,8) davon die Rede, zwar habe „die kleine Philadelphische Kirchen=Krafft“ Ephratas den „Erweckungs=geist über dieselbe gantze Gegend ausgebreitet, also daß ihm alle Thüren offen stunden; aber man hat bemercket, daß diese Erweckung ist in gewisse Gräntzen eingeschränckt gewesen“. – Zu Voltaires Interesse an dieser philadelphischen Brüderschaft unter den nordamerikanischen Erweckten verschiedener Konfessionszugehörigkeit als Muster religiöser Toleranz, namentlich in seinem „Trait8 sur la Tol8rance“ von 1763 und in seinem Artikel „Tol8rance“ des „Dictionnaire philosophique portatif“ (1764–69), vgl. Voltaire: Lettres philosophiques (wie Anm. 13), Kommentar von Raymond Naves, S. 183–186 (S. 183, aus dem „Trait8 sur la Tol8rance“, Kap. 4: „la discorde, la controverse, sont ignor8es dans l’heureuse patrie qu’ils se sont faite; et le nom seul de leur ville de Philadelphie, qui leur rappelle / tout moment que les hommes sont frHres, est l’exemple et la honte des peuples qui ne connaissent pas encore la tol8rance.“).
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formierten Tradition, Angelus Silesius, Gottfried Arnold und Gerhard Tersteegen, liegt aber wohl im poetischen Ausdruck seiner mystischen Ergebung an Gott, in glühender Braut- und Sophienerotik. Nach Tersteegens Vorbild erbaut Beissel ein „Mystisches und sehr Geistreiches A B C“ aus lakonischen Epigrammen (Vorspiel, S. 189–191), so wie er es auch sonst liebt, das Alphabet zur anagrammatischen Perlenschnur seiner Lieder- bzw. Strophenfolgen zu wählen (vgl. die Beisselsche Liedfolge, aber auch im Strophenakrostichon durchs ganze Alphabet führende Lieder wie Nrn. 4 und 5, Wunder=Spiel, S. 2–5). In dieser mystischen Spruchdichtung und in einzelnen Passagen, die die Einsenkung, Stille und willenlose Gelassenheit in Gott besingen, gelingen ihm noch einmal die ganze Dichte und der sondersprachliche Zauber des alten spekulativen Formelschatzes: Nichtes wollen nichtes wissen, Darauf sey mit Ernst beflissen, So wird Gott dir alles seyn, Dass du kanst in ruhe seyn. [Vorspiel, S. 190] Wir wollen nun schliessen und dringen hinein Ins jnnere, wo man in Gott kan genesen. Da müssen aufhören die bilder und schein, Samt allem was menschliches sinnen erlesen. Denn das ist auch Gottes selbständiger wille, Drum auf! und ersenckt euch hinein in die stille. [Vorspiel, S. 7]
Bei den zahllosen brautmystischen Gesängen ist das Bildreservoir des Hohelieds kraftvoll neubelebt zu aktualer Empfindungsaussprache, die tragende Motivschicht aber ist die des Gleichnisses von den klugen Jungfrauen, die im Gegensatz zu den törichten wohlbereitet dem Bräutigam entgegengehen können, wenn das „Geschrei um Mitternacht“ ertönt. Die so markante Bevorzugung dieses Bildes aus Mt 25,1–13 resultiert daraus, daß hier das Motiv der geistlichen Jungfernschaft, die sich mit reinerhaltenen Kleidern aufbewahrt für den Herrn,47 verbunden ist mit brautmystischer Hohelied-Inbrunst,
47 Die zölibatäre Auslegung im Reinheitsideal Ephratas erscheint analog auch angedeutet im radikalpietistischen Kommentar der ,Berleburger Bibel‘ zu diesem Gleichnis: „Die wahre Jungfrauschafft bestehet in Enthaltung vom Unreinen, und also in einem unbefleckten Leben. […] Denn ein Bußfertiger muß sich der weltlichen Lüste und Tohrheiten unausbleiblich entschlagen: und wann er den ernstlichen Willen Gottes höret, daß man ausgehen soll aus Babel; so bequemet er sich gern auch zu solchem Gehorsam.“ Der Heiligen Schrift Fünffter Theil […] Nebst der buchstäblichen und geheimen Erklärung […] nach der innern und äussern Hauß=haltung GOttes, Berleburg 1735, S. 262. Vgl. die eschatologische Interpretation des Geschreis um Mitternacht: „GOtt muß auch in der letzten Zeit um der Frommen willen die Bußposaunen verdoppeln. Alle Posaunen in der Offenbarung gehören hieher, ja das gantze Buch. Es wird eine gewaltige und plötzliche Veränderung geben, wenn er kommen wird heimzuholen seine Braut“, ebd. S. 265. Textsammlung zu Herkunft und Verbreitung solcher
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der eschatologischen Konnotation seiner Wiederkunft und der Vorstellung einer (philadelphisch) auserwählten Schar, die am Abend der Welt sein großes Friedensreich vorbereitet hat und die durch ihre Teilhabe an der göttlichen Natur als Erstling eintreten wird ins himmlische Jerusalem: Die klugen jungfrau’n sind erwacht, Durch das geschrey zur mitternacht, Der wächter die nicht stille seyn, Bis das der volle tag bricht ein, Drum wird man sie nun nicht mehr schlaffen seh’n, Weil sie dem Bräutigam entgegen gehn. Der glantz von ihrem kleider pracht, Vertreibt die dunckelheit der nacht, Die leichter [Leuchter] sind nun angebrandt, Und leuchten hell in alle land, Damit man seh und höre nah und fern, Dass sich bereitet zu das volck des Herrn. [Jacobs Kampf, S. 5: Eingangsgedicht] Ich thu ja deine tritte spüren, Im thaue deines liebes gangs, Den ruch der reinen liebes myrrhen, Den hall vom creutzes lobgesang, Dabei vernimm der tauben stimm, So ruffet aus die frühlingszeit, Der vollen blüthe fruchtbarkeit. Drum schallen deine liebes-lieder, Mein freund in meinem hertzen schön, Wenn ich in berg und thällern nieder, An reinen frischen wassern thön, Und hör den schall Vom wiederhall, Der süssen lock und liebesstimm, Dass ich es tieff zu hertzen nimm. Dann zeig’stu mir in deinem garten, Die pflantzen deiner liebes zier, Von viel und mancher wunder arten, So dass mein geist zu lobe dir, Viel lieder singt Ideen: Geschlechtlichkeit und Ehe im Pietismus. Hg. von Wolfgang Breul und Stefania Salvadori, Leipzig 2014 (Edition Pietismustexte, Bd. 5).
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Conrad Beissels Ephrata-Gemeinschaft und seine Poesie Und opffer bringt, Die dein geheimer liebes rath selbst in mich eingepflantzet hat. Ich dringe ein in deinen willen, Und beug mich wie du es haben wilt, Nach deinem sinn ihn zu erfüllen, Zu schaffen mich nach deinem bild, Damit ich werd Gantz von der erd Entbunden, dass ich frey und blos, Von allen creaturen los. So werd ich gäntzlich einverleibet, Zu einem glied an deinem leib, Und ist auch nichts das mich abscheidet, Wenn ich dir so ergeben bleib, Nach deinem sinn, nimm mich gantz hin, Und führ mich stets nach deinem rath, Den deine lieb beschlossen hat. [Vorspiel, Lied 10 „Von der stillen einwesenheit“, Str. 7–11, S. 21 f.]
Und dazu kommt die schon von Gottfried Arnolds Liedern präformierte Liebesinbrunst für die himmlische Sophia, die für die männliche Seele als bräutliches Gegenbild angerufen wird zum von der weiblichen Seele ersehnten Bräutigam Jesus. O Sophia! du reines Licht und Glantz der Ewigkeiten: wer dir vermählt, kan ewig nicht mehr fallen oder gleiten. Dein Adel hat mich dir verwandt, weil ich verliebet worden, daß aller Welt würd unbekannt durch deinen hohen Orden. […] O reiner Glantz, du ewigs Licht, und Lustspiel meiner Seelen! bedenck, in was vor Eydes=Pflicht ich mich dir thät vermählen; da du die erste blicke gabst, wie ich ließ alles fahren, weil du so GOtt=erfreulich labst, die sich einmal dir paaren. Dein Nam, der so ausbündig schön, kommt nie aus meinem Hertzen, das stetig deinem Fuß nachgehn, vertreibet alle Schmertzen. Wird nur gerufen, Sophia! so thut mein Hertz aufwallen, als wann du selber wärest da, so wohl thut mirs gefallen.
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Die Brunst, die ich im Hertzen trag, verlieret nicht ihr Brennen, trag ich schon Hohn den gantzen Tag, ich thu mich Ihr bekennen: und rufe darzu überlaut (es muß nicht seyn verheelet) Sophia ist mein edle Braut, ich bleibe ihr vermählet. [Wunder-Spiel, Nr. 293, S. 194] O Sophia! diß sol mein Endschluß bleiben, weil kommen nun zu dir in deine Kammer ein, daß ich mich wil aufs neue dir verschreiben, um ferner hin auf ewig, ewig dein zu seyn. Jetzt ist mein Lauf zum ziel gebracht, wornach ich hab so lang gejagt, Den Treu=Schatz wird GOtt selbst bewahren, Wo kein Ziel mehr von Zeit und Jahren. [Ebd., Nr. 436, S. 294]
Ganz an den Schluß, ohne in diesem Rahmen mehr als Andeutungen einer entschlüsselnden Analyse unternehmen zu können, möchte ich noch ein komplettes Lied als Beispiel stellen, wie sich die geistliche Erotik und ihre apokalyptische Ausrichtung mit arkanen Chiffrierungen durchmischen können, deren Hermetik nur aus der ganzen Fülle einer aus der Alten in die Neue Welt hinübergetragenen Spiritualität durchdringbar wird, eines Geisteserbes, dessen Hinterlassenschaft von beiden Welten noch recht zu entdecken bleibt: HEut ist mein Geist vom Schlaf erwacht nach der so langen Creutzes=Nacht, da mir ein Kind geboren, wo die Jungfrau den Mann beschlief, und alle Welt von Wunder rief, die meyntens seyn verloren. Da es von unten lag so schwer, kam die Jungfrau vom Himmel her. 2. Und lößte auf den schweren Bann, macht jungfräulich, was hieß ein Mann: jetzt wird man können leben, wo man der Braut entgegen geht, alwo kein böser Wind mehr weht, noch was sich wolt erheben. Jetzt ist die Jungfrau oben an, weil sie umgeben allen Mann. 3. Dann wird die Zahl, die GOtt sich hat erwählt nach vorbedachtem Rath, das Ruder dorten führen: biß alle Creatur verneut,
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Conrad Beissels Ephrata-Gemeinschaft und seine Poesie und was vom Schöpffer sich gezweyt, und so den Himmel zieren. Das ewig Evangelium wird seyn der Jungfraun hoher Ruhm. 4. Die Pristerschafft wird ewig stehn, biß zu dem Ende alle Wehn, und so den Tempel zieren. Diß ist die Braut= und Tauben=Zahl, die GOtt nach gar geheimer Wahl wird in sich selbst einführen. Alsdann wird seyn die letzte Nacht, da allem Leid ein End gemacht. [Wunder-Spiel, Nr. 124, S. 89]
Wer, mit den Ausdrucksmitteln und der speziellen Semantik der aus der Alten Welt in die Neue mitgebrachten ,Sprache Canaan‘48 unvertraut, ein solches Gedicht von den heute geläufigen Grundbedeutungen der Wörter her zu verstehen sucht (und für einen amerikanistischen Fremdsprachlerzugriff wäre schon deren Vollbesitz ein Glücksfall), wird hier kaum mehr als Nonsens, wo nicht gar psychische Abartigkeit eingeschrieben finden. Denn das Lied präsentiert in charakteristischer Weise aus der neuplatonischen Spekulation in die christliche Bildlichkeit eingewanderte Konzepte und Argumente, durchmischt mit typologisch (im sensus mysticus) auf das Verhältnis von Seele und Gott umgedeuteten Bibelallusionen (neben dem Matthäus-Gleichnis von den klugen Jungfrauen namentlich aus Hohelied und Apokalypse) in einer pansophisch-böhmistischen Bildlichkeit. Angemessenes Verständnis ist daher heute wie bei vielen Ephrata-Gesängen auf gleichsam interlineare Übersetzung angewiesen. Die erste Strophe geht aus von dem traditionellen Erweckungstopos des 48 Vgl. als Forschungsbericht und intendierten Forschungsimpuls meinen Hauptvortrag zum Hallenser Ersten Internationalen Kongreß für Pietismusforschung 2001, Schrader: Die Sprache Canaan, Auftrag der Forschung (2005, L 38), im vorliegenden Band S. 233–260 mit Hinweis auf sondersprachliche Tendenzen Beissels und Ephratas S. 252; gekürzte Vorversion ders.: Die Sprache Canaan. Pietistische Sonderterminologie (2004, L 35), bes. S. 416; Hinweis auf Beissels bedeutsame Eigenstimme im Konzert der pietistischen Lyrik auch bei Schrader: Die Literatur des Pietismus – Impulse (2004, L 34), im vorliegenden Band S. 91–114, bes. S. 105. Sondersprachliche Elemente der im engeren Sinne hermetischen, insbes. alchimistischen und magischen Tradition erscheinen aber stärker als bei Beissel selbst in den Liedern einiger Gefolgsleute seiner Gemeinschaft, besonders bei Georg Adam Martin. In dessen ins „Chronicon Ephratense“ (wie Anm. 4), S. 207–220 aufgenommener Autobiographie wird die geistlich auszeichnende Qualität dieses spirituellen Spezialidioms auch thematisiert: „In Deutschland wäre ich gerne in die höchste Classen der hohen Schulen gegangen; aber hier mußte ich wider meinen Willen auf die hohe Schule gehen, die Sprache Canaan erlernen, und am A anfangen. […] Hier mußte ich die Sprache Canaan erlernen, ich wolte oder wolte nicht.“ S. 215. Zum Beleg für das daran selbst in Ephrata kaum mehr Gemeinverständliche wird ebd., S. 220 f., Martins „Lilien=Lied“ abgedruckt.
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Übergangs von Schlaf bzw. Traum zum Erwachen, von wüster Verworrenheit zur Klarheit, wobei die Wunderlichkeit der Bilder zunächst noch den Eindruck nährt, hier wirkten Traumgesichte fort. Die der Bußzerknirschung (Kreuzesnacht) folgende Wiedergeburt (Kindsgeburt)49 wird daraus abgeleitet, daß sich der Sophiengeist (moOr) durchdringend und formgebend über die ungestalt formlose Materie (rkg) legt, ein Req|r c\lor zwischen der himmlischen Jungfrau Sophia und dem alten Adam, Ursache für dessen Neuwerdung. Daß die gewählte Strophenform aus am Anfang und Schluß je einem Paarreim-Verspaar, das die vier Mittelverse mit ihrem weiblich-männlich umarmenden Reim von außen abermals umarmt, diese Aussage formal getreu abspiegelt, sei nur als Indiz einer durchaus kunstbewußten Kalkulation des Gestaltens erwähnt. Die zweite Strophe nimmt das Brautschaftsbild Sophias auf: Die psychische Verbannung ins alt-adamische Exil wird durch die Herabsenkung der himmlischen Jungfrau, ihr Oberhandgewinnen und umhüllendes Umarmen aufgehoben, sprich: Erbsünde und Eigenwillen (Neigung zur Selbsterhebung) werden überwunden. Im locus amoenus des geistlichen Liebeswerbens (mit dem Anhalten böser Winde Apk 7,1) erlangt die zuvor verunreinigte Seele neues Leben, die Fähigkeit, der Braut wie im Hohelied entgegenzugehen (Hhld 5,1 und Apk 22,17). Mit der dritten Strophe wechselt der Blick von der Hohelied- zur Apokalypse-Sphäre, von der wiedergeborenen Einzelseele zur Gemeinschaft der jungfräulichen Seelen, also von der auserwählten Schar der Überwinder, jener philadelphischen Gemeinschaft, die „dorten“, im tausendjährigen Friedensreich Christi, zur Herrschaft mitberufen ist bis zum Anbruch der (durchs „ewige Evangelium“, Apk 14,6 ausgerufenen) Stunde des Gerichts und schließlich zur Wiederbringung aller, jener Allversöhnung (!pojat²stasir p²mtym, Apg 3,21),50 die auch die vom Herrn Entzweiten und schuldhaft Abgefallenen in den Himmel seiner alliebenden Gnade zurückführt. Die Schlußstrophe schließlich preist noch einmal diese Schar der Auser49 Zu der in der pietistischen Sprache überhaupt, im radikalen Pietismus aber gesteigert ausgeführten Inseminations- und Perinatalmetaphorik für das zentrale Theologem der ,Wiedergeburt‘ vgl. für die Ephrata-Klostergemeinschaft „Chronicon Ephratense“ (wie Anm. 4), S. 41. 50 Diese Lehre von der Endlichkeit der jenseitigen Bestrafungen, damit einer von der Liebe Gottes zu erwartenden schließlichen Erlösung selbst der schwärzesten Übeltäter, hat Voltaire in seinen „Questions sur l’Encyclopedie“ (mit zweifellos nur gespielter Abgrenzung) als Besonderheit der Ephrata-Gemeinschaft herausgestellt und damit den offiziellen Kirchenlehren entgegengesetzt. Die Ewigkeit der Höllenstrafe werde dort als Barbarei empfunden: „Leur vie pure ne leur laisse pas imaginer que Dieu puisse tourmenter ses cr8atures cruellement, & 8ternellement. Egar8s dans un coin du nouveau monde, loin du troupeau de l’8glise catholique, ils sont jusqu’/ pr8sent, malgr8 cette malheureuse erreur, les plus justes & les plus inimitables des hommes.“ [Voltaire]: Questions (wie Anm. 13), S. 117. – Zur geistesgeschichtlich ungemein produktiven Tradition dieser Allwiederbringungs-Lehre vgl. (mit Literaturverweisen) Schrader: Von Patriarchensehnsucht zur Passionsemphase (2005, L 39), bes. S. 84–88, auch ders.: Erfahrung der äußersten Anfechtung (2012, L 47), im vorliegenden Band S. 763–788, bes. 779–788.
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wählten, zur melchisedekischen ewigen Priesterschaft (Ps 110,4) Berufenen, die Tempeldiener des himmlischen Jerusalem, gleichsam als Geburtshelfer des in Wehen gebärenden endzeitlichen Weibs in der Wüste (Apk 12,2 und 6). Hier wird die Transparenz auf Ephrata und ihren von der Gemeinschaft als neuen Melchisedek gefeierten Vorsteher51 am deutlichsten: Sie sollen Mitberufene sein unter den philadelphischen Zurüstern des neuen Jerusalem. Sie gehören zu der Zahl der durch göttliche Gnadenwahl versiegelten Knechte des Herrn (Apk 7, 3–4 und 22,4) oder (in anderen Bildern) der klugen Jungfrauen (Mt 25,2) und der vom Herrn erkannten Hoheliedbräute, mit Gott vereinigt und in ihm geschützt wie die mit Sulamith verglichenen Tauben in den Felsklüften (Hhld 2,14). So kann das Gemeindelied ausklingen im Ausblick auf jenes herrliche Friedensreich, in dem nach der letzten Nacht alles Leid, Geschrei und aller Schmerz dieser Welt nicht mehr vorhanden sein soll (Apk 21,4), ja selbst die Hölle aufgehoben ist. Es endet mit dem Nachklang der Verheißung im letzten Kapitel der Offenbarung, Apk 22,5: Und es wird keine Nacht daselbst seyn […] dieweil GOtt der HErr sie erleuchtet: und sie werden als Könige regiren in die Ewigkeiten der Ewigkeiten.52
51 Vgl. in der beschließenden Würdigung Beissels im „Chronicon Ephratense“ (wie Anm. 4), S. 248: „Und um dieser seiner Treue willen hat ihn GOtt gekrönet mit Preiß und Ehre, und hat ihn darzu verordnet, daß durch ihn […] beydes das Melchisedeckische Priesterthum und die himmlische Jungfrauschaft solte wieder auf den Leuchter gestellet werden.“ Auch ebd. S. 221 im „Lilien=Lied“ Martins: „Hier ist auch Melchisedechs güldner Altar, der Meister und Pfleger der reinesten Schaar“. 52 ,Berleburger Bibel‘ (wie Anm. 31), Apk 22,5: Der Heiligen Schrifft Siebender Theil […] Nebst der buchstäblichen und geheimen Erklärung, Berleburg 1739, S. 413.
Traveling Prophets: Inspirationists Wandering Through Europe and to the New World Mission, Transmission of Divine Word, Poetry [2009, L 42]
In contrast to legally anchored church establishments, Radical Pietist groupings have always constituted peripatetic churches (‘ecclesiae ambulatoriae’). As a sign of special piety and as evidence of their active contribution to the creation of the divine kingdom founded upon worldwide awakenings, all pious scholars and the nobility, on their grand finishing tours (‘Kavalierstour’), and artisans in their wanderings as journeymen sought to visit such special meetings in addition to attending regular worship services. These figures particularly sought out the most pious of the community – persons praised for the outstanding strength of their faith and the extraordinary gifts of grace they enjoyed. Pietists sought contact and exchange with other ‘awakened’ souls in other regions and countries.1 Those who traveled with the special purpose of visiting the ‘places of Zion’ – the main provincial cities of the kingdom of God, as it were – included not only the messengers and functionaries of individual small church communities (‘ecclesiolae’), but also seekers of a path conducive to their soul’s salvation who were not affiliated with a specific movement. Therefore not only did they visit places like Halle and, later, Herrnhut where organizational centers of the new piety and mission had developed, but also those regions where the 1 This paper had been presented to a conference, held by Jonathan Strom, Hartmut Lehmann and James van Horn Melton at the Emory Candler School of Theology, University of Atlanta, Ga, in march 2004. I would like to thank my deceased colleague, friend and eminent scholar in the field of American Radical Pietism research Donald F. Durnbaugh of Juniata College, Huntingdon, Pa, for his amiable service in translating this contribution from German to English and his wife, Dr. Hedda Durnbaugh, as well as the editors of this volume, for revising it again. The English translations of my citations from the German sources, given in the footnotes of the original publication (Farnham / Surrey – Burlington, Vt 2009, 2nd edition London 2016, compare L 42), have been dropped for this imprint. – Don Durnbaugh passed away on his journey to the Halle Pietism congress on August 27, 2005; see the obituary by Udo Sträter in: Pietismus und Neuzeit 31 (2005), p. 6. For an overview of recent research on Radical Pietism and American Church Societies see Donald F. Durnbaugh: Pietism. A Millennial View from an American Perspective. In: Pietismus und Neuzeit 28 (2002), pp. 11–29 and his contribution to the Halle meeting, “The Anthropological Teachings of Conrad Beissel, Founder of the Ephrata Society”, posthumously edited in: Pietismus und Neuzeit 32 (2006), pp. 220–232. Compare Schrader : Conrad Beissels Ephrata-Gemeinschaft (2006, L 41), in the present volume, pp. 547–574.
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‘awakened’ of all kinds had found refuge thanks to the extraordinary tolerance of local rulers and where they competed with each other in pious zeal. The Basel theologian and hymn writer Hieronymus Annoni traveled during the time of his religious seeking to such Pietist sites: first in 1730–31 in his own country, then in the following years to all corners of Germany – to the fraternal colonies of Schwarzenau and Berleburg in Wittgenstein, Halle, Herrnhut, and Wernigerode. He gave an account of his quiet journeys in a travel diary as well as in a song about his travels that was as heartfelt as it was rough-hewn. It prayerfully appealed to the heavenly guardian of the fraternal gatherings for continued blessings on all the colonies of the ‘awakened’. Cited are some of the verses from Annoni’s so called Hochwacht-Lied that relate to the most important groups that later emigrated to America. Ein Christ besuchet oft und gerne Die Zions=Kinder nah und ferne, Und ist im Geist bey Tag und Nacht, Um allgemeines Wohlergehen Den Bundes=Engel anzuflehen Trotz allem Sekten=Neid! bedacht. […] [4.] Es dringe des Gesätzes Schrecken, Und denn das Evangelium, Durch Schlösser, Alpen, Dörfer, Flecken Mit Gnaden Kraft und Frucht herum. […] [14.] Laß dir in Deutschlands weiten Kreisen Noch manchen Christen=Garten blühn, Wo dich die Geistes=Pflanzen preisen, Draus Gärtner in die Ferne ziehn. […] [15.] Vollende die Geschwister alle, Die ich gesehn von Angesicht, In Frankfurt, Augspurg, Sachsen, Halle; Vergeß auch die verborg’nen nicht, Daß man zum heil’gen Tempel=Bau Die Sammlung immer reicher schau. […] [17.] Ach, herze du die lieben Herzen In der verachten Schwarzenau. Erquicke sie bei Lust und Schmerzen, mit deines Geistes Perlen=Thau. Die Inspirirten grüsse auch Mit deines Mundes Kuß und Hauch. [18.] Die, so sich Mär’sche Brüder heißen, Bewirke, HErr, nach deinem Rath, In ihrem Pred’gen, Singen, Reisen,
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Und kröne denn auch ihre Saat. Zum allgemeinen Nutz und gut. So wachs’ auch Herren=Hag und Hut. […] [25.] Die, so im Neuen Lande wallen, Mach auch im ganzen Wesen neu. Laß Eben=Ezer dir gefallen, Es wachs an Pflanzen, Gnad und Treu. Sey auch den Schweitzer=Pilgern nah. Es lebe Philadelphia!2
The above stanzas reflect the widespread custom of fraternal visits to the pious of varying types and religious communities; manifest above all, however, is the brotherly ‘Philadelphian’ ethos, which, despite the numerous differences in their teachings and rites, envisioned Pietists as united in one spirit as a community constructing God’s kingdom, which could not be allowed to disintegrate in mutual resentment and sectarian envy. In Germany special emphasis was given to those places of freedom and toleration where the Radical Pietist groups that formed the core of the Pietist and Anabaptist migrations to America had found asylum. They had traveled as ‘gardeners to foreign parts’ to tend the ‘Christian gardens’ on the other side of the Atlantic. These were, aside from church-minded Lutherans and the emissaries of the Halle Pietist institutions, the groups that settled in and around Frankfurt and in Wetteravia including the Moravian Brethren from Herrnhut that had founded a daughter colony at Herrnhaag. This worldwide community still shapes the Moravian Church, now based in the United States. There was also the Inspirationist movement itself as well as the separatist hermits and New Baptists (‘Tunk-Täufer’, ‘Dunkers’) in Schwarzenau in the southern part of Wittgenstein with their spiritual forerunners Hochmann and Mack (to whom the now defunct Ephrata Society and today’s Church of the Brethren stem back). 2 Annoni’s poem of 1746 (“Das Hochwacht-Lied”) has recently been facsimiled from the first imprint in the source book: Dem rechten Glauben auf der Spur. Eine Bildungsreise durch das Elsaß, die Niederlande, Böhmen und Deutschland. Das Reisetagebuch des Hieronymus Annoni von 1739. Ed. by Johannes Burkardt, Hildegard Gantner-Schlee, Michael Knieriem, Zürich 2006, pp. 290–297 (source of my citation). “Perlen=Thau” in stanza 17 is related to the Philadelphian circle at Berleburg, the capital of the major Sayn-Wittgenstein county, some miles from Schwarzenau, the first gathering point of the later Dunker Community (Church of the Brethren). In a modernized form, with some qualification of some critical expressions regarding the Moravians, and with a brief commentary it had already been published by Christoph Johannes Riggenbach: Hieronymus Annoni. Ein Abriß seines Lebens sammt einer Auswahl seiner Lieder, Basel 1870, pp. 76–82, here pp. 76–77, 79–81. In the new comprehensive research by Hildegard Gantner-Schlee: Hieronymus Annoni 1697–1770. Ein Wegbereiter des Basler Pietismus, Basel 2001, these travels are portrayed in detail and categorized according to contemporary trends and manifestations of religious tourism to the rapidly changing centers of spiritual life, see especially pp. 70, 93–103, 118 and 151; on Swiss emigration waves to Northern America, see ibid., pp. 122 ff.
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Finally, the court residence of Berleburg (“Perlenthau” takes up an allegorical tradition) was located in the neighboring, northern part of Wittgenstein. Here was the trans-confessional Philadelphian Community, whose idea of a missionary community of all awakened had already led to the foundation in Pennsylvania of the city of Philadelphia itself. In addition to these groups there were also the Inspirationist congregations, which were tolerated in both Wittgenstein counties and from which today’s Amana Church Society in Iowa emerged. Community migration and the missionary and prophetic travels of their leaders probably had a greater foundational significance for the Inspirationists than for any other group of early Pietists. The Inspirationists emerged as a well-defined group in the late autumn of 1714 from among traveling missionaries, some of whom were in exile because of their faith.3 Playing a central role in this development were the three brothers Pott who had traveled from Halle, whence they had been expelled for disturbing the peace, to Hanau and the Wetteravia region (Wetterau) east of Frankfurt.4 With their sermons, 3 Early communal histories already designate November 16, 1714, as the day on which the community was founded (“Gründungstag der Gemeinde”). On this date the first prayer gathering (“Gebetsversammlung”) took place in Himbach/Marienborn in the house of Eberhard Ludwig Gruber, who only days earlier had been won for the spirit of Inspiration and who would go on to become longtime community head. It was also at this point that his son Johann Adam Gruber received the gift of Inspiration. Gottlieb Scheuner: Inspirations=Historie oder Historischer Bericht von […] der wahren Inspirations=Gemeinde während J.F. Rocks Lebzeiten und auch nach ihm bis in die Zeit der neuen Erweckung, Vol. I, Amana, Iowa, 1884, p. 13; compare [Paul Giesebert Nagel]: Kurtze Historie der Inspirirten Und Inspirations=Gemeinden; Auf Teutsch: Der Propheten=Kinder. In: J.J.J. XVI. Samlung. Das ist [–] Der XVI. Auszug Aus denen Jahr= Büchern Der Wahren Inspirations=Gemeinschaften, n.p. [Homburg v. d.H.], 1772, p. 245. In the Amana Church Society November 16 is still celebrated as “birthday of the community” (“Geburtstag der Gemeinschaft”); see Bertha M. H. Shambaugh: Amana That Was and Amana That Is, New York, 3rd ed. 1976, p. 295; (1st ed., Iowa City, 1932; repr.,1970, 1978). 4 Johann Tobias Pott (1691–1757), Johann Heinrich Pott (1692–1777), and August Friedrich Pott (1695–1766), from Halberstadt, all studied at the University of Halle. For this synopsis of Inspirationist history I draw principally upon the best-founded and comprehensive monograph on Inspirationist communities and their religious, churchly, and literary-historical impact (with only sparing use of supplementary works found in his bibliography of Inspirationism research, which is likewise comprehensive): Ulf-Michael Schneider: Propheten der Goethezeit. Sprache, Literatur und Wirkung der Inspirierten, Göttingen, 1995 (Palaestra 297, Vol. 297), here p. 28. Compare the supplementary commentary and bibliographical references in Schneider’s edition of the most important testimonials of the leading Inspirationist prophet: Johann Friedrich Rock: Wie ihn Gott geführet und auf die Wege der Inspiration gebracht habe. Autobiographische Schriften. Ed. by Ulf-Michael Schneider, Leipzig, 1999 (Kleine Texte des Pietismus, Vol. 1). This publication has also appeared in English with a translator’s note from Janet W. Zuber: Johann Friedrich Rock: The Humble Way. An Autobiographical Account of God’s Guidance, Amana, 1999. The following are the most important articles on Inspirationism in reference works: Donald F. Durnbaugh: Community of True Inspiration. In: The Brethren Encyclopedia, Vol. 1, Philadelphia, PA, 1983, pp. 330 ff.; Hans Schneider: Inspirationsgemeinden. In: Theologische Realenzyklopädie, Vol. 16, Berlin, 1987, pp. 203–206; Hans Schneider: Inspirationsgemeinden. In: Religion in Geschichte und Gegenwart, 4th ed., Vol. 4, Tübingen, 2001, p. 175.
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which were supposedly divinely inspired, calling for repentance and awakening, these prophets encountered a substratum of Pietists, most of who had been driven from Württemberg and had found asylum in the area thanks to the tolerant policy of the counts of Isenburg/Ysenburg. Because of their isolation these people were more receptive to this kind of divine appeal than the churchgoers of the areas where the missionaries had traveled before. They were moved by the trance-like ecstatic speeches of the Potts, which their scribe Diedemann immediately recorded as messages from God.5 They were also stunned by the spectacular manifestations of the divine that accompanied the sermons such as “severe shaking and […] jumping of the entire body” as well as “shaking of the head, flapping of the mouth, jerking of the shoulders, and knocking of the knees,”6 which were taken as proof that the prophetic “instruments” (‘Werkzeuge’) were seized by the divine. In the following weeks some of the foreign separatists and a few of the local residents became caught up by this new spirit. Included among the converts were also some prudent and initially reluctant persons, such as the Pastor Eberhard Ludwig Gruber, who had been expelled from Württemberg and who was soon to be chosen as the organizer of the community. Another was his compatriot, the pastor’s son and master saddle-maker Johann Friedrich Rock. The latter was the only one among the new prophets who maintained his gift of uttering testimonies infused by the “kiss and breath” of God’s mouth until the end of his life, that is, for more than 35 years. He thus became the charismatic head and leading prophet of the community. The prehistory of this movement, to which its various official historical records explicitly refer, was characterized by migrations due to expulsion, which took place across several regions and involved differing religious confessions encompassing large and sometimes geographically distant parts of Europe. The origins go back to the ‘Inspir8s’ in Southern France. They were Huguenots who had reacted with guerrilla actions and religious radicalization of the laity to the oppression and expulsions of their congregations after Louis XIV revoked the Edict of Nantes in 1685. These lay people traveled throughout the country, giving sermons on the approaching end-time, supposedly dictated by God, which caused great sensations and brought about further expulsions. They were accompanied by devoted speedwriting scribes who recorded the prophetic word, collated it, copied the messages for their addressees, and finally had them printed.7 5 Gottlieb Scheuner: Inspirations=Historie (like note 3), p. 10. 6 Eberhard Ludwig Gruber : Nöthiges und Nutzliches Gespräch Von der Wahren und Falschen Inspiration: auffgesetzt Von Einem Licht=Genossen, n.p., 1716, p. 39; also cited in Schneider: Propheten (like note 4), p. 60. 7 The French sources and their German translations, obviously published by the Inspirationists themselves, are refered in the abstract of the prehistory of the movement, Schneider: Propheten (like note 4), pp. 24 f. – The Shakers in America (Millennial Church or United Society of Believers) can be traced back directly to these “Inspir8s” see Donald F. Durnbaugh: Work and Hope:
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During their more than 25 years of travel throughout Southern England and The Netherlands, the French expellees gained many adherents and numerous short-lived congregations appeared before members of the movement were banished and subsequently returned to the Continent, with Halle being one of their principal destinations. These newcomers were able to pass the baton to the German Pott brothers, who in turn would later found the Community of True Inspiration. As one surveys the further historical development of this particular movement,8 it quickly becomes apparent that communal resettlements and migrations of its adherents, brought about by persecution and repeated The Spirituality of the Radical Pietist Communitarians. In: Church History 39 (1970), pp. 72–90, here p. 84. Compare too Schrader: Points de contact (2016, L 56). 8 Beyond printed “diaries,” the referential basis here is provided above all by the two traditionforming historical surveys written anonymously by Rock’s successor as congregation leader, Paul Giesebert Nagel, which represent a sort of official history of the congregation: Kurtze Historie der Inspirirten Und Inspirations=Gemeinden; Auf Teutsch: Der Propheten=Kinder. In: J.J.J. XVI. Samlung. Das ist [–] Der XVI. Auszug Aus denen Jahr=Büchern Der Wahren Inspirations=Gemeinschaften, n.p. [Homburg v. d.H.] 1772, pp. 238–251 and [Paul Giesebert Nagel]: Zweytes Stück. Kurze Historie der so genannten Inspirirten. In: J.J.J. XVII. Samlung. Das ist [–] Der XVII. Auszug Aus denen Jahr=Büchern Der Wahren Inspirations=Gemeinschaften, n.p. [Homburg v. d.H.] 1776, pp. 233–266; there is also the far more comprehensive, source-based scholarly account and collection of sources gathered in Amana: Gottlieb Scheuner: Inspirations=Historie. Vol. 1, Amana, Iowa, 1884; Vol. 2: Inspirations=Historie oder Verschiedene Aufätze und Erzählungen von […] Inspirations=Wegen und Führungen, […] der Inspirations=Historie […] Zweiter Theil, Amana, Iowa, 1884. Scheuner, born in the later Inspirationist colony Engelthal/Hesse-Darmstadt, was initially the scribe of the new “instrument” Christian Metz, then became schoolmaster in 1853 and finally superior of the Inspirationist community in 1885; see Shambaugh: Amana (like note 3), pp. 328 ff. A few works that provide overviews of older research based on particularly skillful treatment of primary sources deserve mention: Max Goebel: Geschichte der wahren Inspirations=Gemeinden, von 1688 bis 1850. In: Zeitschrift für historische Theologie 24 (1854), pp. 267–322, 377–438, 25 (1855), pp. 94–160, 327–425; 27 (1857), pp. 131–151; Max Goebel and Theodor Link: Geschichte des christlichen Lebens in der rheinischwestphälischen evangelischen Kirche, Vol. 3, Koblenz, 1860; repr. Gießen – Basel, 1992), pp. 126–165; Wilhelm Hadorn: Die Inspirirten des XVIII. Jahrhunderts mit besonderer Berücksichtigung ihrer Beziehung zur Schweiz. In: Schweizerische Theologische Zeitschrift 17 (1900), pp. 184–224; and Wilhelm Hadorn: Geschichte des Pietismus in den Schweizerischen Reformierten Kirchen, Konstanz – Emmishofen, 1901, particularly pp. 30–33, 107–128, 138–156, 166–219. As for newer surveys aside from the wide-ranging studies and articles named above, see, among others, Walter Grossmann: The European Origins of the True Inspired of Amana. In: Communal Societies 4 (1984), pp. 133–149; Ulf Lückel: Die Inspirierten in Wittgenstein und das prophetische Werkzeug Johann Friedrich Rock. In: Radikaler Pietismus in Wittgenstein, Donald Durnbaugh zum 70. Geburtstag, special issue, Wittgenstein. Blätter des Wittgensteiner Heimatvereins 61/4, (1997), pp. 147–157. For more details regarding the community-leader and historian Nagel in Neuwied, his follower Jonas Wickmark and their publishing of the official diaries of the Inspirationist community (“Samlung”, “Extracta”) in Homburg v. d.H. (and perhaps partially in Neuwied, too) see Schneider: Propheten (like note 4), p. 246 (index) and especially Konstanze Grutschnig-Kieser : Der “Geistliche Würtz= Kräuter= und Blumen= Garten” des Christoph Schütz. Ein radikalpietistisches “Universal-Gesang=Buch”, Göttingen, 2006 (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus, Vol. 49), pp. 259–263.
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expulsion, continued until they finally achieved a measure of peace in a region along the Iowa River near Cedar Rapids. Daughter congregations formed first in the Wetteravian villages, then in Himbach and the Ronneburg castle, a place of refuge for a variety of Separatists, in Büdingen, the count’s seat of residence, and later, after several partial expulsions in the Wittgenstein centers of religious tolerance (Berleburg, Schwarzenau, especially Homrighausen), in the Palatinate, the Middle Rhine area, and in Switzerland. All these communities were very active in mutual visits and exchanges. In most instances, the forced migrations of the congregations, or parts of them, resulted in the founding of new house groups and congregations. After Eberhard Ludwig Gruber was expelled for threatening the Count of Marienborn with the pronouncement of the wrath of God if he would not repent, he resettled in the Dunkers’ colony in Schwarzenau9 (the ‘Tunk-Täufer’ themselves had come there from the Isenburg lands with their founder Alexander Mack)10 and founded an Inspirationist congregation there. The revocation of the Inspirationists’ place of refuge in the Ronneburg in July 1725 made Himbach their new center and led parts of the community to seek asylum anew, particularly in the Palatinate.11 The physician, government official, and alchemist Johann Philipp Kämpf (whose sons were the spa physicians and confidants of Goethe, Lavater, and Basedow on their famous ‘journey of genius’ to the Lahn River in 1774), after his call to the court of Bad Homburg, organized an Inspirationist congregation there (which Rock visited in 1737). This congregation became a strong new center as, largely thanks to Kämpf ’s efforts, brethren from his home area found refuge there after being expelled by the Duchess of Palatinate/Zweibrücken.12
9 Scheuner: Inspirations=Historie (like note 8), Vol. 1, pp. 10 ff., 14, 19 ff. Compare Paul Krauß: Johann Friedrich Rock. Separatist und Inspirierter. 1678–1749. In: Lebensbilder aus Schwaben und Franken. Vol. 15, Stuttgart, 1983, p. 97 and Donald F. Durnbaugh: Eberhard Ludwig Gruber & Johann Adam Gruber : A Father & Son as Early Inspirationist Leaders. In: Communal Societies 4 (1984), pp. 150–160. 10 The essential information on the “Tunk-Täufer”, or Dunkers, to whom today’s Church of the Brethren can be traced back, can be found in Oswald Seidensticker : Ephrata, eine amerikanische Klostergeschichte, Cincinnati, 1883, pp. 19–30; Friedrich Nieper : Die ersten deutschen Auswanderer von Krefeld nach Pennsylvanien. Ein Bild aus der religiösen Ideengeschichte des 17. und 18. Jahrhunderts, Neukirchen-Moers, 1940, pp. 124–142; Marcus Meier : Die Schwarzenauer Neutäufer. Genese einer Gemeindebildung zwischen Pietismus und Täufertum, Göttingen, 2008 (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus, Vol. 53). 11 Scheuner: Inspirations=Historie (like note 8), Vol. 1, p. 128. On the exodus from the Ronneburg to Eckartshausen, see entry of July 8, 1725, in the official Inspirationist diary, J.J.J. XIV. Sammlung. Das ist: [–] Der XIV. Auszug aus denen Jahr=Büchern Der Wahren Inspirations=Gemeinschafften., n.p. [Homburg v. d.H.], 1761, p. 35. 12 Scheuner: Inspirations=Historie (like note 8), Vol. 1, p. 116, 203, 210. For newer information upon the Kämpf family compare Konstanze Grutschnig-Kieser: “Tingiere du uns noch mit göttlicher Tinctur […]. Zum Wirken des inspirierten Mediziners Johann Philipp Kämpf (1688–1753). In: Medizin- und kulturgeschichtliche Konnexe des Pietismus. Ed. by Irmtraut
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In similar fashion Neuwied became a new local congregation in 173913 after the Inspirationists from Meisenheim had to flee oppression there and, thanks to a toleration edict issued specially by Count Friedrich Alexander zu Wied,14 found a new home. One generation step later, on their journey to Neuwied, just before Goethe joined them again, Lavater and Basedow on July 14, 1774, were involved in a public disputation with Paul Giesebert Nagel, who at that time (after Rock’s death) was the leader of the entire Inspirationist movement. The disputation dealt with “the sacraments, baptism, inner word etc., [containing] much truth in strange terminology.”15 Lavater had a drawing made of the prophet Nagel for his physiognomy collection. Finally in 1740, after the Inspirationists had been forced to leave their main center at Himbach due to economic pressure and the aggressive courting of their members by the Herrnhuter mission, the castle of Gelnhausen became the new center of the movement and the residence of the aging prophet Rock, Sahmland and Hans-Jürgen Schrader, Göttingen, 2016 (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus, Bd. 61), pp. 113–141. 13 Scheuner: Inspirations=Historie (like note 8), Vol. 1, p. 211; on Nagel’s background and activities in the area, see ibid., Vol. 1, p. 215. 14 Both the previous edict of Count Friedrich Wilhelm zu Wied permitting settlement, freedom of conscious, and freedom of religion for pious communities – the Mennonites, then the Moravians (“Herrnhuter”) – of February 17, 1733, as well as the special ordinance of his son Friedrich Alexander for the established Inspirationists of March 22, 1740, (the actual authorization for settlement from January 1739 has been lost) are published in the source addendum in Dietrich Fabian: Kinzing und Roentgen. Uhren aus Neuwied. Leben und Werk der Uhrmacherfamilien Kinzing und der Kunstschreiner Abraham und David Roentgen, Bad Neustadt, 2nd ed. 1984 (Schriften zur Kulturwissenschaft der Internationalen Akademie für Kulturwissenschaften, Vol. 61), pp. 367 ff., also pp. 21–34; on the Inspirationist Christian Metz, who, having immigrated from Zweibrücken, was employed in the workshop of the Dunker Kinzing and whose son (also named Christian) became the new prophet who, during the second wave of Inspirationism that broke out in the post-Napoleonic period, took the lead in organizing emigration to America in 1846, see ibid., p. 73; compare Scheuner: Inspirations=Historie (like note 8), Vol. 1, pp. 431 ff., Schneider: Propheten (like note 4), p. 36. On the context of the policy of tolerance in Neuwied, see Wilhelm Ströhm: Die Herrnhuter Brüdergemeine im städtischen Gefüge von Neuwied. Eine Analyse ihrer sozioökonomischen Entwicklung, Boppard, 1988 (Veröffentlichungen der landeskundlichen Arbeitsgemeinschaft im Regierungsbezirk Koblenz, Vol. 12), pp. 42–50. 15 Citation of an entry from Johann Caspar Lavater’s journal in: Goethes Rheinreise mit Lavater und Basedow im Sommer 1774 – Dokumente. Ed. by Adolf Bach, Zurich, 1923, p. 88, compare p. 96 and p. 205. On Nagel’s concurrent work in Homburg v. d.H. on the revision of the Inspirationist hymnbook – “einer neuen Auflage des Psalterspiels, dem noch mehrere Lieder beigefügt und das Ganze mit einem neuen Materien=, Melodien= und alphabetischen Register versehen wurde” – see Scheuner: Inspirations=Historie (like note 8), Vol. 1, p. 356, GrutschnigKieser : Der “Geistliche Würtz= Kräuter= und Blumen= Garten” (like note 8), pp. 259 f., 313. – On the inspired family of the doctor Kämpf and the historical-intellectual significance of its encounter with the friends of Goethe and with Goethe himself during their visit to the awakened colonies in Neuwied as well as Lavater’s so-called dispute with the Neuwied Inspirationist leader Paul Giesebert Nagel, from whom he took a portrait by his painter, see Schrader: “Unleugbare Sympathien” (2003, L 29), pp. 41–68, particularly pp. 59–64.
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who was no longer able to travel, and was visited and venerated by devotees from near and far.16 Part of this congregation left the area after official protection was rescinded following Rock’s death in 1753 and moved to the Isenburg village of Lieblos and once again to the Ronneburg.17 This was a repeat of the situation at Homburg where the Inspirationists came under pressure after the death of the tolerant Landgrave Friedrich Carl. Inspirationists also settled at the former Moravian site of Herrnhaag, where they remained until their emigration to America in the 1820s.18 The time between Rock’s death and the onset of new prophetic utterances in 1817 at the height of the awakening is less well documented, as testimonies and congregational diaries are absent. Arnsberg and Engelthal in Hesse-Darmstadt, however, are mentioned as further congregational colonies.19 Almost from the beginning of the Inspirationist movement, there were several groups in German-speaking Switzerland that were open to the spirit of Inspiration, even some who considered themselves actual Inspirationists.20 This situation had to do with the fact that the severely regressive policy of the Reformed Cantonal Great Councils (especially in Bern, but also in Zurich, Schaffhausen and elsewhere) had already driven Pietists from Switzerland at the end of the seventeenth century. Most of them fled to the same territories that provided freedom of conscience in the Wetterau and in Wittgenstein where the Inspirationists were later able to establish their main center.21 One of the earliest ‘instruments’ of the first period of Inspiration – from March 1715 on – was the stocking-weaver Ursula Meyer, who hailed from Thun.22 She had come as a Separatist with her sister Helene to the Ronneburg 16 17 18 19 20
Scheuner: Inspirations=Historie (like note 8), Vol. 1, p. 216. Ibid., p. 258 ff., 270 ff. Ibid., p. 272; compare Krauß: Rock (like note 9), p. 111. Shambaugh: Amana (like note 3), p. 53. See basically Hadorn: Die Inspirirten (like note 8), pp. 184–223, on Inspirationist impacts in Switzerland (and especially the transition from prophetism to poetry in the diaries Johann Friedrich Rock) Schrader: Inspirierte Schweizerreisen (2000, L 24), in the present volume pp. 517–546. 21 Hadorn: Die Inspirirten (like note 8), p. 213, counts 40 Swiss exiles in the Wetterau already in 1717. An overview of the important influence of Swiss exiled theologians on the forming of Radical Pietism in its early centers, Offenbach, Büdingen and Berleburg, at the turn from 17th to 18th century (Samuel König, Carl Anton Püntiner [Bündner], Jacob Knecht), and of specific research is given in my monograph, Schrader : Literaturproduktion (1989, L 1), pp. 133 f., 178–182, esp. p. 463, n. 183, see also Schrader: Inspirierte Schweizerreisen (2000, L 24), in the present volume, pp. 523, 529. More detailed information is given by Rudolf Dellsperger: Samuel Königs “Weg des Friedens” (1699–1711). Ein Beitrag des radikalen Pietismus in Deutschland. In: Idem: Kirchengemeinschaft und Gewissensfreiheit. Studien zur Kirchen- und Theologiegeschichte der reformierten Schweiz: Ereignisse, Gestalten, Wirkungen, Bern, 2001 (Basler und Berner Studien zur historischen und systematischen Theologie, Vol. 71), pp. 96–132 (previously in Pietismus und Neuzeit 9, 1983, pp. 152–179). 22 See [Nagel]: Kurze Historie, [part 1] (like note 8), p. 247, 250 and Scheuner: Inspirations=Historie (like note 8), Vol. 1, pp. 18, 21–23, 44 ff., 50. A thoroughgoing investigation of the Thun Inspirationist prophetess, her religious-political background, and her posthumously printed
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and had been converted to the Inspirationists. All of these Swiss refugees maintained contact with like-minded friends in their homeland. Some were able, after a period of exile, to return home and once again became active in their respective circles.23 Although there were sympathetic households and groups in Basel, Chur, Zurich, Bern, and as far as the French-speaking areas (Vevey, at the upper end of Lake of Geneva, and Yverdon as well as Colombier, at the Lake of Neuch.tel),24 actual congregations existed for a short time in Toggenburg, where Ulrich Bräker was influenced by the Inspirationists,25 but above all in Schaffhausen and some villages in the Bernese uplands around Thun and as far as the Simmen Valley, with a center in (Ober-)Diessbach26 near Thun. “Always making a completely new beginning […] is our vocation; and yet […] to rest in faith, hope, and love and to seek perfection in the cross […] is
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collected testimonies, entitled “J.J.J. Ein Himmlischer Abendschein”, n.p., 1781, has been published by Isabelle Noth: Ekstatischer Pietismus. Die Inspirationsgemeinden und ihre Prophetin Ursula Meyer (1682–1734), Göttingen, 2005 (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus, Vol. 46). See her announcing abstract to this monograph, Isabelle Noth: Eine radikalpietistische Prophetin: Ursula Meyer (1682–1743) und der Himmlische Abendschein (1781). In: Dem Schweigen entronnen: Religiöse Zeugnisse von Frauen des 16. bis 19. Jahrhunderts. Ed. by Doris Brodbeck, Würzburg, 2006, pp. 220–231. For Johann Jacob Schultheß from Zurich, companion and scribe of the prophet Johann Friedrich Rock on the Switzerland journey of 1727, see Schneider: Propheten (like note 4), p. 247 (index), Schrader: Inspirierte Schweizerreisen (2000, L 24), in the present volume, pp. 523, 532 sq., for the Meyer-sisters and Nicolaus Vögele from Ursellen Scheuner: Inspirations=Historie (like note 8), Vol. 1, pp. 102, 199, 206 f. and 217. For the Radical Pietist infrastructure and the Inspirationist contacts in French speaking Western Switzerland (Vevey, Colombier, Yverdon) see source- and research-information in Schrader: Inspirierte Schweizerreisen (2000, L 24), in the present volume, pp. 523, 533 sq. On the massive furor occasioned by Rock’s journey through the Toggenburg region in 1738 that led to near-riots, see Scheuner: Inspirations=Historie (like note 8), Vol. 1, pp. 207–209; on Nagel’s stay in the community that emerged there in 1745, ibid., p. 232. For the impact of Inspirationist mission’s journeys on Ulrich Bräker, “the poor man in Tockenburg”, see basically Schneider: Propheten (like note 4), pp. 131–137; Ulrich Bräker : Sämtliche Schriften. Ed. by Andreas Bürgi […], Vol. 1, Munich – Bern, 1998, p. XVIII (introduction by Alfred Messerli), Vol. 2, ibid., 1998, p. 583 (diary of may 29, 1787: “es hete offt nicht viel gefehlt ich were zum jnspirierten worden – hete alles verlassen – wäre in der welt umhergezogen – und hete busse geprediget”), Vol. 5, ibid., 2000, esp. pp. 391–359 (“Lebensgeschichte und Natürliche Ebentheuer des Armen Mannes im Tockenburg“, pp. XXII–XXIV). Compare Schrader: Sphärensprünge (2004, L 36), pp. 93–115, esp. pp. 95–102. An overview of the Swiss communities that remained loyal as of 1735/37 can be found in Hadorn: Die Inspirirten (like note 8), p. 214. Rock visited this community for the last time in 1741, the “Swiss brothers” Johannes Wagner and Samuel Schmitter from the Wetteravian community did so in 1810. Compare Scheuner: Inspirations=Historie (like note 8), Vol. 1, pp. 419 ff., where the longstanding communities in the Berne area “Rodrist, Roggwyl, Rummeldingen, Richigen and Dies[s]bach” are named. Samuel Lutz, who is counted among the most tolerant Pietists and who received the prophets in his home, was parson of Oberdiessbach from 1738; see Rudolf Dellsperger: Samuel Lutz. In: Religion in Geschichte und Gegenwart. 4th ed., Vol. 5, Tübingen, 2002, p. 621.
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our fundamental solace.”27 Political changes, sometimes opportunistic and often arbitrary, on the part of territorial governments and church authorities had a large part in determining the migration pattern of the community or its daughter congregations (if, for instance, their temporary permits of settlement were revoked). Toleration of the private exercise of religion of course also depended on the whims of local authorities. As long as rulers, towns, or council governments considered profitable the presence of these quiet, industrious craftsmen – who boosted the economy in under-populated areas, desolate villages, and in abandoned domains and castles – or if out of religious considerations even wished to offer them a refuge, the congregations remained undisturbed. However, as soon as they created internal unrest among the local population or a community gained a bad reputation by their presence, or conflict with other imperial estates for some other reason threatened – or merely after the death of a tolerant territorial ruler – the pilgrim congregation would have to take up its traveling staff. According to imperial law, any “quarta species religionis” other than the single permitted confession of a given territory, be it Catholic, Lutheran, or Reformed, was expressly forbidden.28 Separatism and special communities in general, to say nothing of groups with creeds clearly deviating from official church doctrine (the notion of continuing divine revelation, for example) were not permitted on principle. This reason is most important for explaining why all these sects could by no means come to a formal establishment with regular membership – in contrast to their situation after emigrating to America – and why their areas of concentration within the Empire (not least for reasons of security) remained limited to diverse rural districts. The restrictive religious policy of the old Empire continued for some time under the sovereign territorial states that emerged after the Empire’s dissolution following the Napoleonic wars and the Wars of Liberation. This policy ultimately prompted, in connection with a new awakening of the Inspirationist spirit among the decimated remnants of the movement, the Inspirationists’ emigration to America. After 1817, in the period of the church awakening, there appeared new prophets. First there was the itinerant tailor Michael Krausert from Alsace and then the servant girl Barbara Heinemann, who soon identified Krausert as a false Inspirationist. She continued her testimonies until her death in 1883, as the last ‘instrument’ in the Amana Communities. Her ‘gift of the Divine word’ 27 “Immer ganz neu anfangen […] ist unser Beruf; und doch […] im Glauben, Hoffnung und Liebe ruhen […] ist unser wesentlicher Trost.” Johann Philipp Kämpf communicated this message to the community that was expelled from Meisenheim/Palatinate and that sought refuge in Neuwied in 1739, Scheuner: Inspirations=Historie (like note 8), Vol. 1, p. 212. 28 Tolerance restrictions regarding confessions and publications, as arranged in the Peace of Westphalia (1648) are surveyed by Schrader: Literaturproduktion (1989, L 1), pp. 108–123, 419–430.
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was succeeded by that of the cabinet-maker Christian Metz, who hailed from the older community at Neuwied and later resided at the Ronneburg.29 In the subsequent, decisive decades Metz would become the leading figure in the movement. As early as 1826 he called for a re-gathering of the old settlements (also in the Palatinate, in Alsace and Switzerland) and their establishment as revitalized communities in the wilderness on the other side of the ocean. This occurred exactly one hundred years after several of the young prophets of the early period, particularly Johann Adam Gruber, Blasius Daniel Mackinet, and Sigmund Heinrich Gleim, emigrated to Pennsylvania against the will of their elders. However, this early attempt to found a transatlantic Inspirationist congregation failed.30 But it was only the renewed oppression of the charismatic sect after 1841 by the Prussian and Hessian governments (an exemption from Lutheran public schools and military service for their children had been lifted) and the expulsion of approximately 800 Inspirationists from the Wetterau region in the spring of 1844 that prompted the great migration of the entire community. In subsequent years this group was followed by all those from Wittgenstein, Neuwied, the Palatinate, and Switzerland (where the Inspirationists found themselves pressed by governmental demands for adherence to oaths of fidelity) who were still faithful to the prophetic cause.31 Their intention was to 29 Going beyond that of Scheuner, the most detailed accounts of the new awakening, the events that led to the emigration to America, settlement there, and the subsequent history of the Amana community can be found in Shambaugh: Amana (like note 3), pp. 17, 24, 32 ff. and Diane L. Barthel: Amana: From Pietist Sect to American Community, Lincoln, Neb., 1984, pp. 8–41 (after an extremely brief summary of the “Early Beginnings” and before a detailed consideration of communal and particularly socio-economic changes in the twentieth century). A survey is provided in Donald F. Durnbaugh: Work and Hope: The Spirituality of the Radical Pietist Communitarians. In: Church History 39, no. 1 (1970), pp. 72–90, as well as in the section entitled “Amana History” in the informational pamphlet of the Amana Heritage Society (Museum of Amana History) and in Jonathan G. Andelson: Amana Society. In: Religion in Geschichte und Gegenwart, 4th ed., Vol. 5, Tübingen 2002, p. 387. A good summary of the transmission of traditions in the community itself can be found in the work of the church elder Henry Schiff: Before & After 1932: A Memoir. In: Communal Societies 4 (1984), pp. 161–164. 30 Some traces of these first Inspirationist immigrants in colonial America, Johann Adam Gruber’s letter from Germantown, Oct. 1749, and Blasius Daniel Mackinet’s “Schreiben von der Göttlichkeit der wahren Inspiration”, Germantown, 1749, have been published in the official Inspirationist diary : J.J.J. Aufrichtige und Wahrhafftige Extracta, XII. Sammlung, n.p., 1751, pp. 3–18 and 124–143, see for contexts [Nagel]: Kurze Historie, [part 1] (like note 8), p. 247, Zweytes Stück (like note 8), p. 247, more detailed source publications Scheuner: Inspirations=Historie (like note 8), Vol. 1, p. 56, 131, 157; Vol. 2, pp. 64–104. The Berleburg Radical Pietist Periodical “Die Geistliche Fama” 25 (1739), p. 83 gives a letter from Christoph Sauer on his neighbor Johann Adam Gruber and his efforts to win over the separatists in Germantown to the Inspirationist spirit; compare Seidensticker: Ephrata (like note 10), p. 17, and Goebel / Link: Geschichte (like note 8), p. 143. Compare Grossmann: The European Origins (like note 8), pp. 142–144, Schrader: Philadelphian Hope (2002, L 28), in the present volume, pp. 205–231, in particular pp. 208–210 and 221 sq. 31 Detailed information on this phase – largely based on William Rufus Perkins / Barthinius L.
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erase all their congregation’s memories of one hundred years of persecution in Europe, so they decided to take all their books and documents along with them. This is the main reason why their printed writings are scarcer than all other Radical Pietist imprints in European libraries, which, while produced in large quantities, were intended only for members. It is thus quite difficult to track down extant individual items, some of which come from earlier donations or materials confiscated by censors while others are inherited items returned from America.32 The first Inspirationist settlement on American earth, built completely in the style of the homeland, comprised six scattered villages near Buffalo on both the American and the Canadian side of the Niagara River. The community named the settlement ‘Ebenezer’ after 1 Samuel 7:12 and 4:1: “Hitherto the Lord has helped us”, which, as Annoni’s poem shows, represented a place of refuge long familiar among the awakened in their pious Pietist language of Canaan.33 The newly settled Inspirationists adopted a communal form of sharing goods while they earned their living as they had done at home – primarily through a cottage industry in textiles as well as agriculture.34 However, the arrival of the last congregations saw the area of Ebenezer become too crowded and conflicts with the Seneca Indians as well as moral corruption encroaching from the nearby city of Buffalo spoiled this site of Inspirationist refuge. Wick: History of the Amana Society or Community of True Inspiration, Iowa City, 1891; repr., New York, 1975 – can be found in Barthel: Amana (like note 29), pp. 10–16. 32 On this, see the remarks on source access in newer European research on the Inspirationists: Schneider: Propheten (like note 4), pp. 20 ff., 210–220; Noth: Eine radikalpietistische Prophetin (like note 22); and Konstanze Grutschnig-Kieser : Radikalpietistische Spuren in der Landgrafschaft Hessen-Homburg. In: Radikalpietistische Spuren in der Landgrafschaft HessenHomburg. Ed. by Konstanze Grutschnig-Kieser, Bad Homburg vor der Höhe, 2006, pp. 7–40. 33 On the Ebenezer settlement, founded in Georgia by displaced Protestants, see the contributions of James Van Horn Melton: Pietism, Print Culture, and Salzburg Protestantism on the Eve of Expulsion. In: Pietism in Germany and North America 1680–1820. Ed. by Jonathan Strom, Hartmut Lehmann [a.o.], Farnham/Surrey – Burlington, VT, 2009, 2nd Edition London 2016, pp. 229–250, and Helene M. Kastinger Riley: “If you want to be the Lord’s servant, Resign yourself to Confrontation”. The Pietist Challenge in Early Georgia, ibid, pp. 199–216. – On the Pietist special expressions (“Language of Canaan”) see Schrader: Die Sprache Canaan, Auftrag der Forschung (2005, L 38), in the present volume, S. 233–260. 34 Quite instructive for this phase of Inspirationist history are the historical overviews written by Friedrich Wilhelm Winckel, the second pastor in Berleburg. These were composed before the message on the continued emigration of the community into the Iowa Valley and based on Winckel’s personal familiarity with several Inspirationists, who demanded back all written sources from him for their emigration: Friedrich Wilhelm Winckel: Kurze Geschichte der Inspirationsgemeinden, vorzüglich in der Grafschaft Wittgenstein. In: Monatsschrift für die evangelische Kirche der Rheinprovinz und Westfalens (1844), pp. 233–262, particularly pp. 233 ff. and 252–256; see also the posthumously published article: Max Goebel: Inspirierte und Inspirationsgemeinden. In: Real-Encyklopädie für protestantische Theologie und Kirche, 2nd ed., ed. by Johann Jakob Herzog and Gustav Leopold Plitt, Vol. 6, Leipzig, 1880, pp. 764–769, particularly p. 769.
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Consequently, following new testimonies from Metz, they reorganized themselves in 1854 in accordance with a more strictly communitarian constitution and, after having unsuccessfully searched elsewhere,35 migrated to the Iowa River valley where they founded their present settlement of Amana, a name taken from the Song of Solomon 4:8, which their prophet found by means of sortilege.36 Here they again established six daughter villages along both sides of the river, continuing as a community sharing goods communally until reorganization in 1932. The Community of True Inspiration – more than other Radical Pietist groups – became a peripatetic church, but this was not due solely to the continual persecution and displacements discussed above, which the entire community or some daughter congregations were forced to endure as a result of their position outside existing legal and confessional norms. Although this aspect cannot be dealt with within the framework of the present investigation, the travels of some congregational members, which demanded almost superhuman endurance, represent not the least conspicuous example of the Inspirationists’ migrations. This is especially true of their emissaries and prophets as well as the scribes who were sent along to record the divinely revealed words. Their sole prophet, Johann Friedrich Rock, and his two attendant scribes, along with the later community superiors, traveled about, often for months or years at a time, frequently on foot, and with scarcely a moment of rest in between. These journeys were prompted either by a divine “travel order” communicated in an Inspired utterance or by means of a wordless, inward message. These travel orders began in 1715 and, at least at the beginning, when several “instruments” had to set out at the same time, had in a narrow sense a missionary character. In 1716 one group traveled throughout northern Germany by way of Berlin and Prague to Breslau and back through Saxony and Thuringia, another to Württemberg, a third through the Palatinate and Alsace to Switzerland – and this is aside from the walking tours that lasted days and that were meant to consolidate the congregations between the Wetterau and Wittgenstein. Insofar as only the belief in the special Inspirationist manner of divine revelation – not other deviations from accepted doctrines and norms – separated the community from the basic beliefs of the Radical Pietists, one of their chief goals was the gathering and strengthening of all the awakened, which was seen as a prerequisite for the imminent coming of the Kingdom of God. The other goal was to call to repent a sinful world, especially the authorities and church leaders, so that “in most cases during their travels the instruments […] usually had to visit pastors, to bring them testimonies, and
35 On this, see Barthel: Amana (like note 29), pp. 17–34, 39; for the time after 1932, see pp. 65 ff. 36 Schiff: Before & After (like note 29), p. 162.
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to make them aware of the importance of their calling.”37 Such endeavors naturally involved, in addition to the vicissitudes of road and weather conditions faced year-round, robberies, beatings, meager food, weeklong incarcerations with only bread and water, the pillory and neck irons, deportation by the hangmen’s assistants, and expulsion from territories. Rock himself, by nature a rather shy and quiet mystic, full of self-doubt and disappointment, who considered the inner compulsion to make utterances a burden of martyrdom rather than a distinction, undertook under such circumstances, according to the official reckoning, 94 often lengthy journeys – 27 to Württemberg, 9 throughout Switzerland, 43 to Wittgenstein, and others to Thuringia, Saxony, all the way to Herrnhut, into the Palatinate, and through Alsace, so that his cryptonym “In Fortwährenden Reisen” – always on the road – was more than justified. During the last nine years of his life, physically and mentally exhausted, he was able to rest at Gelnhausen “In Fried und Ruh”– in peace and rest – highly honored and now himself being visited by innumerable members from afar.38 His successor as superior of the community, Paul Giesebert Nagel, relieved him of his traveling duties long before this and particularly aided in the maintenance of contact with Switzerland. Rock already had added to the task of Philadelphian gathering the strengthening and, where necessary, the disciplining of the visited congregations. Under Nagel these purely internal objectives within the community – “strengthening and encouraging” – came to dominate completely.39 He also effected the publication of the greatest part of the communal and personal diaries and the poems, biographies, and necrologies of the prophets and important members. Thanks to the complete list of Rock’s testimonies in the appendix to UlfMichael Schneider’s monograph, we are able to gain a rather comprehensive overview of Rock’s traveling chronology. However, systematic research of the entire system of Inspirationist contacts among the Radical Pietist circles in Europe and their effects upon the network of the pious communities in colonial America and contrasting their accounts with references in local histories and in the biographies relating to church history still remain an extremely fruitful field of enquiry. Permit me, as one who pursues literary scholarship, to add that the same is true for the analysis of the linguistic form of their reports, their parenthetic expressions, and the testimonies given in inspiration, as well as the immense 37 Scheuner: Inspirations=Historie (like note 8), Vol. 1, p. 47; see pp. 34–66 on parallel travel activities. 38 The basis for this statistic can already be found in [Nagel]: Kurze Historie, Zweytes Stück (like note 8), p. 242; concrete discussions thereof in Scheuner: Inspirations=Historie (like note 8), Vol. 1, p. 294, Hadorn: Die Inspirirten (like note 8), p. 202, and Krauß: Rock (like note 9), p. 99. 39 See Nagel’s collective biography with discussion of his significance and position in the community in Scheuner: Inspirations=Historie (like note 8), Vol. 1, pp. 215 ff. and (after the death of J. Fr. Rock) pp. 252 ff., citation p. 218.
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amount of religious lyric that the leading figures – Rock, both Grubers, Nagel – have left us from their travels and that in the transition between religious inspiration and the secularized concepts of poetical inspiration during the early Goethe era may have occupied an important intermediate position.40
40 On the religious poetry of the Inspirationists and other Radical Pietist beleevers to dictations or directions of an “inner word”, on the connections between prophetical geniuses and the secular poetical geniuses of the German Storm-and-Stress-era and the affinities in the concepts of inspiration, I wrote some investigations in addition to the articles, cited before, “Inspirierte Schweizerreisen” (see note 20) and “Conrad Beissels Ephrata-[…] Poesie” (see note 1), e. g. Schrader: Vom Heiland im Herzen (1994, L 19), in the present volume, pp. 115–133; idem: Propheten zur Rechten (2001, L 25), pp. 361–377; idem: Zinzendorf als Poet (2006, L 40), in the present volume, pp. 489–516; idem: Points de contact (2016, L 56).
Zores in Zion Zwietracht und Missgunst in Berleburgs toleranzprogrammatischem Philadelphia* [2009, L 44]
Im autobiographischen Rückblick Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit gibt Goethe beim Resümieren der prägenden Ereignisse, Begegnungen und Anregungen seiner Jugend Einblicke in die Genese und in den Grundbestand seiner religiösen Überzeugungen. Ziemlich eklektisch habe er sich die Leitvorstellungen seine Glaubens zusammengebastelt, im Kontakt mit Frommen unterschiedlicher Couleur, mehr aber noch in ausgebreiteter Lektüre von theologischen, kirchengeschichtlichen, erbaulich-paränetischen, spekulativen, ja alchimistisch-geheimwissenschaftlichen Büchern. Ganz selbstverständlich hat sich der junge Mann dabei die Freiheit herausgenommen, sein persönliches Credo unbekümmert um die Lehrsatzungen seiner lutherischen Erziehung und Kirchenlehre zu entwerfen. Er postuliert sogar im theologischen Feld geradeso wie für alle anderen kulturellen, weltanschaulichen und lebenspraktischen Orientierungen ein individuelles Recht, sich nach eigener Wahl das zuzueignen, was den eigenen Überzeugungen „gemüthlich“ scheint: Der Geist des Widerspruchs und die Lust zum Paradoxen steckt in uns allen. Ich studirte fleißig die verschiedenen Meynungen, und da ich oft genug hatte sagen hören, jeder Mensch habe doch seine eigene Religion; so kam mir nichts natürlicher vor, als daß ich mir auch meine eigene bilden könne, und dieses that ich auch mit vieler Behaglichkeit. Der neue Platonismus lag zum Grunde; das Hermetische, Mystische, Cabbalistische gab auch seinen Beytrag her, und so erbaute ich mir eine Welt, die seltsam genug aussah.1 so bildete ich mir ein Christenthum zu meinem Privatgebrauch, und suchte dieses durch fleißiges Studium der Geschichte, und durch genaue Bemerkung derjenigen die sich zu meinem Sinne hingeneigt hatten, zu begründen und aufzubauen.2 * Öffentlicher Abendvortrag zum „Tag der Westfälischen Kirchengeschichte“ unter Leitung von Johannes Burkardt und Bernd Hey am 1. August 2008 im Christushaus, Bad Berleburg. 1 Goethe: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit, II. Teil, 8. Buch. Hier ebenso wie für die weiteren für pietistisch-„philadelphische“ Ideen des Dichters zu zitierenden Passagen gegründet auf die umfassendste Quellensammlung seiner einschlägigen Äußerungen, Johann Wolfgang von Goethe: Träume und Legenden meiner Jugend. Texte über die Stillen im Lande. Hg. von Paul Raabe, Leipzig 2000 (Kleine Texte des Pietismus, Bd. 3), S. 130. 2 Ebd. [aus III. Teil, 15. Buch] (wie Anm. 1), S. 149.
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Ein solches Recht auf einen Glauben und somit auch auf ein Christsein gemäß eigener Fassenskraft ohne große Besorgnis um die Rechtgläubigkeit einer spezifischen Konfession bzw. des im Lande gültigen verfassten Kirchenwesens, gesteht er allen Suchenden zu, in der Überzeugung, dass es einen für jeden die Seligkeit verbürgenden Königsweg nicht geben könne: „Man wiederholte so oft in jenen toleranten Zeiten, jeder Mensch habe seine eigene Religion, seine eigene Art der Gottesverehrung.“3 Das Kundgeben der in jungen Jahren gefassten intimsten Überzeugungen, die der mittlerweile gealterte und allbekannt im öffentlichen Leben stehende Mann mit einer Schutzschicht aus zartironischen Formeln vorsichtig auf Abstand rückt, ist in den programmatischen Äußerungen aus jener Studienzeit klarer ausgesprochen, am systematischsten in den sogenannten Biblischen Briefen von 1772/73. Hier werden sie aber als durchaus noch anstößiges Gedankengut anonym vorgetragen bzw. weltkundig-altersweisen Landpredigern in den Mund gelegt, schließlich brachten sie ähnlich heterodoxe Auffassungen wie jene unter die Leute, um derentwillen die Straßburger Fakultät Goethes kirchengeschichtliches Promotionsprojekt abgewiesen und leider auch seine eingereichte Doktorarbeit zum Verschwinden gebracht hatte:4 Wir sind alle Christen, und Augsburg und Dordrecht machen so wenig einen wesentlichen Unterschied der Religion als Frankreich und Deutschland in dem Wesen des Menschen […]. Warum sollte ich läugnen, daß der Anfang der Reformation eine Mönchszänkerey war, und daß es Luthers Intention im Anfang gar nicht war, das auszurichten was er ausrichtete. Was sollte mich antreiben, die Augspurgische Confeßion für was anders als eine Formel auszugeben, die damals nötig war und noch nötig ist etwas fest zu setzen, was mich aber nur äusserlich verbindet, und mir übrigens meine Bibel läßt. […] Denn wenn mans beym Lichte besieht, so hat jeder seine eigene Religion, und Gott muß mit unserm armseligen Dienste zufrieden seyn, aus über großer Güte, denn das müßte mir ein rechter Mann seyn, der Gott diente wie sich gehört. […] Einem Meynungen aufzwingen, ist schon grausam, aber von einem verlangen, er müsse empfinden was er nicht empfinden kann, das ist tyrannischer Unsinn.5
Die individuelle Freiheit des Glaubens und der Religionsausübung von den dogmatischen Vorgaben einer spezifischen Kirchenlehre, in unserer Zeit eine 3 Ebd. [aus III. Teil, 14. Buch] (wie Anm. 1), S. 143. 4 Vgl. dazu auch (mit Kontexten und Belegen) meine Aufsätze: Schrader: Propheten zur Rechten (2001, L 25) und ders.: Von Patriarchensehnsucht zur Passionsemphase (2005, L 39), S. 72 f., 81 f., 85 f. 5 Goethe: Brief des Pastors zu *** an den neuen Pastor zu ***. Aus dem Französischen [1773]. In: Goethe: Träume und Legenden (wie Anm. 1), S. 26–29. Eine Faksimile-Edition des ,Pastor-Briefs‘ hat Paul Raabe nach dem Erstdruck von 1773 (UB Leipzig) vorgelegt, Halle/Saale 1999 (Kleine Texte der Franckeschen Stiftungen, H. 7). Inzwischen ist ein weiteres Exemplar in der Fondation Bodmer, Cologny/Genf, aufgetaucht. Vgl. [Katalog der Ausstellung] Goethe et la France. Hg. von Jacques Berchtold, Genf 2016, S. 45, 48 f., 81–85.
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selbstverständliche Voraussetzung der grundgesetzlich geschützten Religionsfreiheit, war für Goethe und seine Generationsgenossen zwar in der Praxis kaum mehr obrigkeitlich zu unterbinden, solange sie nicht skandalstiftend öffentlich propagiert wurden. Schon die faktische Straflosigkeit persönlicher Sonderbekenntnisse aber war ein Novum ohne rechtliches Fundament, die öffentliche Verbreitung solcher Ideen hingegen blieb heikel und potentiell justitiabel. Eine Generation zuvor war bekanntlich noch jede offene Abweichung von den Lehraussagen der für das eigene Territorium allein gültigen und verbindlichen Kirchenlehre unter Strafe gestellt, sei diese nun (aufgrund des Konfessionsstandes im durch den Westfälischen Frieden angesetzten „Normaljahr“ 1624) katholisch, lutherisch oder reformiert. Amtsverlust, Beugehaft und Landesverweisung waren die häufigsten Sanktionen. Kirchenzuchtverfahren und polizeiliche Vorführung zum Gottesdienst drohten bereits, wenn jemand in den Ruf geriet, sich dem Kirchgang oder Abendmahl zu entziehen. Insbesondere aber wachte das in Reichs-, Kirchen- und Staatsinstanzen gestaffelte System der Zensur noch insistent über die Konformität jeder Veröffentlichung zur rezipierten Kirchenlehre. Wenn Goethe für seine Studienjahre vom „in jenen toleranten Zeiten“ praktisch durchgesetzten Individualrecht auf ein „Privatchristentum“ ohne dogmatische Konfessionsbindung sprechen kann, das den „tyrannischen Unsinn“ aufhob, präformierte Glaubenssätze einzufordern, die den eigenen Überzeugungen zuwiderliefen, hat er freilich auch den inzwischen vollendeten Siegeszug der Aufklärung im Blick, die effektiv jedem Menschen freistellte, ob überhaupt und nach welcher Fasson er selig werden wollte. Seiner skeptischen Haltung aber gegen die geistige Dürre der Aufklärungsphilosophie, ihren Vernunftkult und die voraussetzungslose Beliebigkeit sowie bequeme Indifferenz ihrer Toleranzpostulate gibt er auch im Brief des Pastors zu *** an den neuen Pastor zu *** Ausdruck: Es ist nichts jämmerlicher, als Leute unaufhörlich von Vernunft reden zu hören, mittlerweile sie allein nach Vorurteilen handeln. Es liegt ihnen nichts so sehr am Herzen als die Toleranz, und ihr Spott über alles was nicht ihre Meynung ist, beweist wie wenig Friede man von ihnen zu hoffen hat.6
Die Toleranzkonzeption seines Landgeistlichen wie auch die der Mosaikstücke seines eigenen eklektischen Systems religiöser Grundüberzeugungen gründen unverkennbar weit profunder in der älteren Entdogmatisierungswelle des radikalen Pietismus, die schon vor dem Siegeszug der Aufklärung zum Zusammenbruch der konfessionellen Gesinnungszensur über alles gedruckte Wort geführt hat. Schriften aus dieser Genese und die durch sie vermittelten neuplatonisch-pansophischen Spekulationen hat er sich in seiner Frankfurter Krankheitskrise von 1768/69 inbrünstig angeeignet. Es ist namentlich die unter den Böhme-Anhängern der Barockzeit, Paul Felgenhauer, Johann Georg 6 Goethe: Brief des Pastors (wie Anm. 5), S. 25.
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Gichtel oder Jane Leade mit ihrer Londoner ,Philadelphischen Sozietät‘ vorformulierte, dann von den Pietisten, etwa Johann Wilhelm Petersen, stimmenreich aufgefangene und schließlich im wittgensteinischen Berleburg unter den um ihrer Sondermeinungen und abweichenden Formen der Gottesverehrung willen heimatvertriebenen Erweckten unterschiedlichster konfessioneller Herkünfte am wirksamsten in Erscheinung getretene Konzeption einer ,philadelphischen‘ Geistes- und Liebesgemeinschaft der entschiedenen Christen aus allen Religionen,7 die bis in die Begrifflichkeit hinein Goethes Aussagen über religiöse Toleranz geprägt hat, – noch einmal in den Worten seines geistlichen Sprachrohrs im ,Pastor-Brief‘: Da habt Ihr also die eine Ursache, warum und wie tolerant ich bin, ich überlasse wie Ihr seht alle Ungläubigen der ewigen wiederbringenden Liebe, und habe das Zutrauen zu ihr, daß sie am besten wissen wird, den unsterblichen und unbeflecklichen Funken, unsere Seele […] mit einem neuen und unsterblich reinen Kleide zu umgeben. Und diese Seligkeit meiner friedfertigen Empfindung vertausche ich nicht mit dem höchsten Ansehn der Infallibilität. […] Wenn wir […] mit brüderlicher Liebe unter alle Sekten und Parteyen träten, wie würde es uns freuen, den göttlichen Saamen auf so vielerley Weise Frucht bringen zu sehen. Dann würden wir ausrufen: Gottlob daß das Reich Gottes auch da zu finden ist wo ichs nicht suchte. […] Und ein vor allemal, eine Hierarchie ist ganz und gar wider den Begriff einer ächten Kirche. Denn mein lieber Bruder, betrachtet nur selbst die Zeiten der Apostel gleich nach Christi Tod, und Ihr werdet bekennen müssen, es war nie eine sichtbare Kirche auf Erden. Es sind wunderliche Leute die Theologen, da prätendiren sie was nicht möglich ist. Die christliche Religion in ein Glaubensbekänntniß zu bringen, o ihr guten Leute!8 7 Grundlegende Zusammenfassung der zuvor nur isoliert gesehenen Gruppierungen, Denkansätze, Vernetzungen und Forschungslinien in Schrader : Literaturproduktion (1989, L 1), im vorliegenden Band S. 19–62. Im knappen Aufriss weiterführend Hans Schneider: Der radikale Pietismus im 17. Jahrhundert. In: Der Pietismus vom siebzehnten bis zum frühen achtzehnten Jahrhundert. Hg. von Martin Brecht, Göttingen 1993 (Geschichte des Pietismus, Bd. 1), S. 391–437, hier S. 405–421, Lit. S. 428–437. Vgl. dazu ergänzend Peter Vogt: ,Philadelphia‘ – Inhalt, Verbreitung und Einfluss eines radikal-pietistischen Schlüsselbegriffs. In: Interdisziplinäre Pietismusforschungen. Beiträge zum Ersten Internationalen Kongress für Pietismusforschung 2001, Bd. 2. Hg. von Udo Sträter [u. a.], Tübingen 2005 (Hallesche Forschungen, Bd. 17/ 2), S. 837–848; für eine der Einflusslinien Douglas H. Shantz: Between Sardis and Philadelphia. The Life and World of Pietist Court Preacher Conrad Bröske, Leiden – Boston 2008 (Studies in Medieval and Reformation Traditions, Bd. 133). 8 Goethe: Brief des Pastors (wie Anm. 5), S. 26–28. Die Bedeutung, die im Rahmen der philadelphisch-transkonfessionellen Denkanleihen insbesondere das Theologem von der „Wiederbringung aller“ („!pojat\stasir p\mtym“, Apg 3,21), damit von der Unmöglichkeit einer bis in alle Ewigkeit dauernden Verwerfung aus der Gnade Gottes, zeitlebens für Goethe hatte, so dass er exemplarisch die Wiederannahme zweier nach der geläufigen Vorstellung seiner Zeit unrettbar Verworfenen, eines Teufelsbündners und eines Selbstmörders, gestaltet hat, habe ich (mit Nachweisen zur Ideentradition und Forschungslage) ausgeführt, Schrader: Modell des Menschen: Hiob (2003, L 33), S. 159–190, insbes. 180–185; ders.: „Hiob“ in deutscher Dichtung (2004, L 32), S. 1–32, insbes. S. 15–18 sowie ders.: Von Patriarchensehnsucht zur Passionsemphase
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Die sprachlichen Topoi der Goetheschen Argumentation im ,Pastor-Brief‘ kann man vorgeformt wiederfinden in jeder der Propagandaschriften einer ,philadelphisch‘-brüderliebenden Geistesgemeinschaft der wahrhaft Erweckten aus allen Konfessionslagern oder Glaubensrichtungen, die nach dem Vorbild der apokalyptischen Gemeinde zu Philadelphia beitragen wollen zur Herrichtung des neuen Zion und endzeitlichen Friedensreichs Christi bis zum Tag der Wiederbringung aller zum allliebenden Vater: Christlich zu sein – statt päpstisch, lutherisch oder reformiert –,9 wird als bibel-gebotenes Ziel des Glaubens betont, damit der Anspruch der Konfessionskirchen auf Infallibilität und alleinige Rechtgläubigkeit unterlaufen. Diese Amtskirchen selbst (und nicht etwa bloß die reichsrechtlich ja noch gar nicht zulässigen Sondergruppen an ihrem Rand oder gar außerhalb ihrer Organisation) erscheinen polemisch als „Sekten und Parteyen“. Ihre trennenden Dogmen werden zu bloßen „Meinungen“ relativiert, die ebenso wie private Spezialüberzeugungen jedermann belassen bleiben sollen, der sie für seine praxis pietatis hilfreich findet, sonst aber brauchen sie niemanden zu bekümmern. Gott als Synonym für Liebe, der auch die Irrenden und selbst die ärgsten Sünder vor dem Ende der Zeiten „wiederbringen“ wird, lässt zur Erlösung die verschiedensten Wege zu, auch nach Riten, die uns fremd sind. Den auf Hierarchie, Zeremonien und menschliche Autorität gegründeten ,Mauerkirchen‘ wird eine unsichtbare ,Geistkirche‘ ohne ein verpflichtend detailliertes „Glaubensbekänntniß“ auf dem Fundament „brüderlicher Liebe“ entgegengestellt, eben die philadelphische. Bad Berleburg, der Ort, an dem dieses philadelphische Experiment in produktiver Gebets- und Geistesgemeinschaft der nach ihren Lehrauffassungen Getrennten und insbesondere durch den Druck und Vertrieb ihrer unbotmäßigen Schriften am wirkungsreichsten ins Werk gesetzt worden ist – (2005, L 39), S. 84–88 und, ausblickend bis ins 20. Jahrhundert, ders.: Erfahrung der äußersten Anfechtung (2012, L 47), im vorliegenden Band v. a. S. 779–787. 9 Dieses in der antikonfessionell-separatistischen Propaganda häufig verwendete Argument tritt markant hervor im Titel einer apologetischen Schrift zugunsten des kurz danach – und nach häufigen Einkerkerungen – als Prediger für die reformierte Mutter und die lutherische Gattin des Grafen Casimir an den Berleburger Hof berufenen, dann als Seelsorger für die katholischen Gemeinden im Norden der Grafschaft eingesetzten radikalen Separatisten und vormaligen Beförderers philadelphischer Bestrebungen im Oberharz, Victor Christoph Tuchtfeld. Ob die Schrift von einem Schüler oder nur unter dem Anschein fremder Feder von Tuchtfeld selbst stammte, ist nicht sicher: „Von Einem Nicht Paulisch, nicht Kephisch, Nicht Lutherisch, nicht Tuchtfeldisch, Sondern mit Paulo, Petro, Luthero und Tuchtfelden Nach Christo gesinneten Philadelphier Angestellte Genaue Forschung […] Wie übel es sich verhalten in […] Derer ansehnlichen Herren Prediger in Nürenberg […] Vermahnung und Warnung wieder [!] Victor Christoph Tuchtfelden einen Philadelphischen Zeugen JESU Christi […] Zur Ermunterung der Philadelphischen Genossen […] Auf Unkosten der Philadelphischen Freunde“, Frankfurt – Leipzig 1732. Grundlegende Information über Tuchtfeld bei Hans Schneider: Der radikale Pietismus im 18. Jahrhundert. In: Der Pietismus im achtzehnten Jahrhundert. Hg. von Martin Brecht und Klaus Deppermann, Göttingen 1995 (Geschichte des Pietismus, Bd. 2), S. 107–197, hier S. 166 f.
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im Impressum mehrerer dieser Schriften prangt statt des Ortsnamens sogar die stolze Selbstbezeichnung „Philadelphia“ –, hat also bei solcher Geistesverwandtschaft auch ohne ein Reise-Begegnen ,im Fleische‘ mit vollstem Recht einen „Goetheplatz“. In corpore ist der Dichter der Stadt während seines Volontariats am Reichskammergericht Wetzlar 1772 und seiner Lahnreise 1774 wohl nur relativ nahe gekommen.10 Störungen des erstrebten philadelphischen Zustands der brüderlichen Liebe und Eintracht der Verschiedenen beim Bau des Gottesreichs werden auf den Titeleien von Berleburger Drucken, namentlich dem periodischen Organ der philadelphischen Erwecktengemeinschaft, Geistliche Fama, schon dadurch angedeutet, dass die hochherzig-selbstbewusste Ortsbezeichnung „Philadelphia“ (1. bis 5. Stück, 1730/31) zeitweilig durch jene ersetzt wird, die in den Anreden des apokalyptischen Engels der philadelphischen Botschaft voran- bzw. nachadressiert sind: „Sarden“ (6. bis 10. Stück, 1731–33) steht typologisch für die noch in Äußerlichkeiten und Zwietracht zerfallene Gemeinschaft, die die offene Tür Philadelphias noch nicht gefunden hat, „Laodicäa“ (21. und 30., letztes Stück, 1736 und 1744) für die in Lauheit und Gewohnheitsdienst versunkene und damit aus dem Wohlgefallen Gottes herausgefallene Gemeinde.11 Dass sich das Ideal der Toleranz in praxi oft mit intolerantem Gebaren verband, auch bei den doch brüderlicher Liebe verschriebenen Erweckten, dessen freilich war sich der junge Goethe ebenso bewusst: Seinen Landprediger lässt er klagen,
10 Wie aber gerade auch diese Geniereise von 1774 zusammen mit den prophetischen Strudelköpfen Lavater und Basedow zu späteren Toleranzorten und Sammelplätzen radikalpietistischer Gemeinschaften (Pietisten, Herrnhuter, Neutäufer und Inspirierte) dem Nachspüren ihrer Offenbarungsgabe und arkaner Weltzusammenhänge galt – und wie Goethe dann diese Eindrücke literarisch transformiert hat, habe ich in einer speziellen Studie untersucht, Schrader: Unleugbare Sympathien (2003, L 29), S. 41–68. Johann Bernhard Basedow hat noch eine Generation später ein philadelphisch-ökumenischem Geist verpflichtetes Gemeinde-Liederbuch herausgegeben: Allgemein=Christliches Gesangbuch für alle Kirchen und Sekten, Riga – Altona 1781. Zugeeignet hat er es S. )(3r „den Selbstforschenden Christen aller Kirchen und Sekten“ und dem philadelphischen Ziel, S. a4v, „wegen der so sichtbaren Uebereinstimmung aller Christen über so viele, so wichtige und (ich möchte fast sagen) so zureichende Punkte, eine christliche Bruderliebe, die leider so sehr fehlt, unter ihnen [zu] stiften und unterhalten.“ 11 Übersicht über diese allegorischen Ortsangaben im Rahmen der Gesamtübersicht der Berleburger Drucke bei Schrader: Literaturproduktion (1989, L 1), S. 209 f., vgl. S. 194–198 sowie Schrader: Nachwort des Herausgebers. In: Reitz: Historie Der Wiedergebohrnen. Neudruck (1982, L 2), Bd. 4, S. 150*f., ferner Ulf Lückel: Johann Samuel Carl (1676–1757). In: Wittgensteiner Pietismus in Portraits. Ein Beitrag zur Geschichte des radikalen Pietismus in Wittgenstein. Hg. von Andreas Kroh und Ulf Lückel, Bruchsal 2003, S. 35–41, hier S. 40, und Rainer Lächele: Die „Sammlung auserlesener Materien zum Bau des Reichs Gottes“ zwischen 1730 und 1760. Erbauungszeitschriften als Kommunikationsmedium des Pietismus, Tübingen 2006 (Hallesche Forschungen, Bd. 18), S. 141–146, 291–295.
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das Haupt=Elend der Intoleranz offenbart sich doch am meisten in den Uneinigkeiten der Christen selbst, und das ist was trauriges. […] Unser lieber Herr […] wollte anklopfen an der Thüre und sie nicht einschmeissen.12
Im Bild der vom Herrn geöffneten Tür, die er nicht wieder versperren lassen will, nimmt Goethe abermals einen zentralen Topos der philadelphischen Reflexion und Propaganda auf, heißt es doch in den arkanen biblischen Bestimmungen der philadelphischen Gemeinschaft Apk 3, Vs. 7/8 und 10, in der Übersetzung der ,Berleburger Bibel‘: Und dem Engel der Gemeine zu Filadelfia schreibe: Diß saget der Heilige, der Wahrhafftige, der den Schlüssel Davids hat, der aufthut, daß es niemand zuschliesset, und zuschliesset, daß es niemand aufthut: Ich weiß deine Wercke. Siehe ich habe eine geöffnete Thür vor deinem Angesicht gegeben, und niemand kan dieselbe zuschliessen: […] so will ich dich auch behalten aus der Stunde der Versuchung.13
Der ausbündig umfängliche Kommentar gibt die programmatische Auslegung der dunklen Verse, aus der ich nur einige Zentralpositionen zusammenziehen kann. Über die „Gemeine zu Filadelfia“ heißt es da, welcher Name Bruder=Liebe heisset, und ein vortreffliches Sinnbild ist der wahren Kirche, die eine Brüderschafft seyn soll […]. Wilt du nun Theil hieran haben, so werde in dir selbst das Filadelfia, und sehe zu, daß du den Liebes=Geist empfangest, und aus der Gesellschaft derer ausgehest, die da sagen, sie seyen Christen und Bekenner, und sinds nicht […]. So ist nun Filadelfia ein Bild von einem bessern Kirchen=Zustand: welches aber geistlich zu verstehen ist, wie […] sichs auch zu dem Namen Filadelfia schicket. Denn was ist und soll die Kirche anders seyn als eine Sammlung der Brüder? Durch Brüder aber werden nicht blos tugendhaffte Leute verstanden, sondern […] es setzet die Wiedergeburt zum Grund. Und also wird eigentlich verstanden eine Versammlung der Wiedergebohrnen. […] Diesen Schluß läßt die falsche Kirche […] nicht gelten. […] Man machet das eben zu einem Hauptsatz: Die Unheiligen gehören auch mit zur wahren Kirche. […] Filadelfia muß 12 Goethe: Brief des Pastors. In: Ders.: Träume und Legenden (wie Anm. 5), S. 26 und 28. 13 [,Berleburger Bibel‘, Bd. VII]: Der Heiligen Schrifft Siebender Theil, oder des Neuen Testaments Dritter Theil, mit dessen letzten Schrifften […]: Nach dem Grund=Text aufs neue übersehen; Nebst der buchstäblichen und geheimen Erklärung […]. Gedruckt zu Berlenburg, Im Jahr der Menschwerdung Christi 1739, S. 273. – In der Geschichte der Bibelausgaben aus spiritualistischpietistischem Geist war nicht nur die gemeinhin als Vorgabe der ,Berleburger Bibel‘ genannte „Mystische und Profetische Bibel“ (Marburg 1712) von Henrich Horch unter Mitarbeit von Ludwig Christof Schefer prononciert philadelphischem Geist verpflichtet, sondern weit entschiedener noch die (von dem Gichtelianer Johann Otto Glüsing initiierte) „Biblia Pentapla“, 3 Bde., Schiffbek – Wandsbek 1710–1712. Vgl. Schrader : Die Literatur des Pietismus – Impulse (2004, L 34), im vorliegenden Band S. 104, und spezieller ders.: Lesarten der Schrift (1996, L 20), im vorliegenden Band S. 293–299; vgl. Hermann Patsch: Arnoldiana in der „Biblia Pentapla“. Ein Beitrag zur Rezeption von Gottfried Arnolds Weisheits- und Väterübersetzung im radikalen Pietismus. In: Pietismus und Neuzeit 26 (2000), S. 94–116.
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anderst aussehen; das werdet ihr nicht hindern können: wie ihr auch mit aller eurer Macht doch nicht habt hindern können, daß nicht ein und anderes Filadelfia schon hervorgebrochen […]. Der Filadelfische Zustand wird also seyn der wahrhafftige und heilige Zustand, aufgeschlossen durch den Schlüssel Davids […]. Aber die menschliche Vernunfft ist nicht der Schlüssel dazu. […] Das Fundament alles Aufschließens ist die Verheissung […], daß endlich ein Filadelfia da stehe. […] Die Welt wird alles versuchen einen Riegel vorzuschieben […]. Versuchet es doch einmal, ihr Zäncker, und schliesset zu, wenn der HErr was öffnet, wenn der Schall des Evangelii durchbricht mit groser Krafft! […] Die Filadelfische Gemeine […] bestehet anfänglich nur in den wenigen Namen zu Sarden, die ihre Kleider nicht besudelt haben: von welchen aber aus dem Kleinesten sollen tausend werden […]. Daran ist bis hieher gearbeitet worden, und diese Arbeit setzet der Geist Christi fort, bis […] man die Stadt GOttes sieht. Das ist das rechte Filadelfia in seiner Erfüllung: vorher ist es noch in der Sammlung und Zubereitung.14
Das sprachliche Bild von der offenen Tür ist in dem Kupferstich-Frontispiz (Abbildung) zum Bibelwerk15 gleichsam als Motto für das unter Graf Casimirs Schutz und auch dank seiner maßgeblichen finanziellen Förderung entstandene Gesamtwerk ins sinnfällige Zeichen übersetzt: Es stellt ein gewaltiges weit geöffnetes Portal vor, im Zuweg von Palmen umstanden, in dessen Türkrone ein von einem hellen Stern und von einem Kerzenlicht zugleich bestrahltes Buch aufgeschlagen liegt: „Die Heilige Schrift Altes und Neues Testaments“. Durch die von Engelsputten gehaltenen Zeichen der Gesetzestafeln und des Kreuzes wird das Buch als das hier eröffnete Bibelwerk selbst verstehbar, mit einem Verweis auf „2. Petr. 1,19“: Und wir haben was vesteres an dem profetischen Wort, da ihr wol thut, daß ihr darauf Acht habt, als auf ein Licht, das da scheinet in einem dunckeln Ort, bis der Tag angebrochen, und der Morgenstern aufgegangen in euren Hertzen.16 14 [,Berleburger Bibel‘, Bd. VII] (wie Anm. 13), S. 273–278. 15 Martin Brecht, der in seinem Vortrag von 1981 „Die Berleburger Bibel. Hinweise zu ihrem Verständnis“. In: Pietismus und Neuzeit 8 (1982), S. 162–200, das Kupfer aus dem Exemplar des Grafen Casimir reproduziert und beschrieben hat (S. 180–182), stellt es als konstitutiven Bestandteil des Bibelwerks dar: „Der 1. Band besitzt ein Titelkupfer, das im 8. Band nochmals gebracht wird.“ Gleiches notiert (mit nochmaliger Reproduktion des Sinnbilds und unter Verweis auf Brechts Aufsatz) in seinem den gesamten Forschungsstand über den radikalen Pietismus seit 1700 mit seinen Schwerpunkten in der Wetterau und im Wittgensteinischen zusammenführenden monographischen Artikel Hans Schneider: Der radikale Pietismus im 18. Jahrhundert (wie Anm. 9), S. 163. In Bad Berleburg gibt es bis heute mehrere entsprechend ausgestattete Ausgaben. Vgl. auch die Reproduktion im Artikel von Andreas Kroh: Johann Friedrich Haug (1680–1735). In: Wittgensteiner Pietismus in Portraits (wie Anm. 11), S. 66–72, hier S. 70. Dies lässt vermuten, dass der in vielen Bibliotheksexemplaren (wie auch in meinem eigenen) fehlende Stich zur Vermeidung zensorischen Aufsehens nicht generell in die Gesamtauflage, wohl aber in mehrere Vorzugsstücke des Bibelwerks eingebunden wurde – namentlich freilich für die philadelphisch Gesonnenen am Hof und im Lande. 16 [,Berleburger Bibel‘, Bd. VII] (wie Anm. 13), S. 159, mit opulenter Kommentierung.
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Von dem Palmenzugang zu Füßen des Portals (aufgeschlüsselt durch den Schriftverweis „Ps. 92. 13.14“): Der Gerechte wird grünen wie ein Palmbaum: er wird wachsen wie ein Ceder auf dem Libanon. Die gepflanzet sind in dem Hause des HErrn / werden in den Vorhöfen unsers GOttes grünen17 17 [,Berleburger Bibel‘, Bd. III] Der Heiligen Schrifft und zwar Alten Testaments Dritter Theil: Nämlich Die Bücher Hiob, die Psalmen Davids […] nach dem Grund=Text aufs neue übersehen; Nebst der buchstäblichen und geheimen Erklärung […]. Gedruckt zu Berlenburg, Im Jahr unsers Heylandes JEsu Christi 1730, S. 440.
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führen sieben Stufen18 zu einer weit geöffneten Tür, in der ein herzförmiger Schlüssel steckt, als Liebessymbol für das Aufschließen. Im Türsturz oben unter der von zwei weiteren Engeln gehaltenen Krone („Crone der Unschuld, der brüderlichen Liebe und Vereinigung“)19 steht als Inschrift „Die Philadelphische Gemeinde“ und darunter über einem Medaillon mit der Umschrift „Friedens=Fürst – Friedenskinder“ um das Trinitätssymbol mit Liebesflammen und Strahlenkranz der bezug-öffnende Bibelspruch: Offenb: c.3. v. 7–13. Sihe ich habe vor dir gegeben eine offene Thür, und niemand kann sie zuschliessen, denn du hast eine kleine Kraft und hast mein Wort behalten und hast meinen Namen nicht verläugnet.
Auf dem Hochplateau aber, das über die sieben Staffeln und durch die offene Tür erreicht wird, sieht man vor den Judäischen Bergen das Himmlische Jerusalem liegen, für das die Philadelphische Gemeinde nur den Eintritt bereitet, mit Engelswächtern über seinen zwölf Toren. Auf der Mittellinie dieser Zionsstadt (der „Stadt GOttes“, die der Kommentar als das „rechte Filadelfia in seiner Erfüllung“ auslegt)20 – heute etwa auf der Trennlinie, die das muslimische und jüdische Viertel des irdischen Jerusalem vom christlichen und armenischen abscheidet, – thront (gerade da, wo die Via Dolorosa sie durchschneidet), auf einem Hügel das Gotteslamm mit der Siegesfahne. Dass es die von Goethe beklagten traurigen „Uneinigkeiten der Christen selbst“ sind, die am profundesten die Zionsgemeinschaft der erweckten und wiedergeborenen Bauleute am Gottesreich gefährden und durch „das Haupt=Elend der Intoleranz“ die offene Tür ihrer auf brüderliche Duldung fundierten Sammlung „einschmeissen“ können, das hatte auch die ,Berleburger Bibel‘ schon in den neun Jahren seit ihrem hoffnungsfrohen Beginn sorgenvoll konstatiert, als sie 1739 bis zum Ende des Neuen Testaments und also zur Kommentierung der „Gemeine zu Filadelfia“ vorgerückt war – und so die Warnung auslegte, „daß niemand deine Crone nehme“:21
18 Auf die Bedeutung der „Sieben=Zahl der Briefe, Sigel und Posaunen, oder auch der 7 Haupt=Visionen des Buchs“ geht in der ,Berleburger Bibel‘ die Einführung zur Apokalypse ein: „Die Offenbahrung Johannis des Theologen“, ,Berleburger Bibel‘, Bd. VII (wie Anm. 13), S. 225–229, hier S. 228. Als aufgerufener Sinn der sieben Stufen kommen hier vorrangig die sieben „Engel der Gemeinden“ in Betracht, die für die „7 Zeitläuffe“ der Kirchengeschichte stehen (S. 228): „durch die 7 Briefe an die 7 Gemeinen; da der Sohn GOttes klaget über das nach und nach einschleichende Abnehmen der ersten Einfalt und apostolischen Lauterkeit, und den Verfall des ersten Zustands“ (S. 229). All dies muss vor dem Aufstieg in das erst im himmlischen Jerusalem vollgültig erfüllte Philadelphia überschritten sein. 19 Kommentar zu Apk 3,11, ebd., S. 277. 20 Kommentar zu Apk 3,12, ebd., S. 278, vgl. ebd. die Erläuterungen zur „Stadt meines GOttes“ und „Des neuen Jerusalems“. 21 Diese Mahnung wird in der Einführung, ,Berleburger Bibel‘, Bd. VII (wie Anm. 13), S. 225, als Inbegriff und zentraler Auftrag der gesamten Apokalypse exponiert: „Darauf ist alles gerichtet.“
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Bey dem Glantz des Filadelfischen Zustandes darff man drum nicht sicher seyn: es ist noch Gefahr vorhanden. Der Mensch kan noch um seine Crone kommen, wo er sich überwinden lässet. Auch bey dem besten Zustand muß wachen iederman. Der Feind wird sehen, wie ers wieder durchlöchere. Diese Gefahr ist ja wol gutentheils unserer Zeit zimlich eigen, da ein klein bisgen von Filadelfia zu sehen gewesen. Denn wo ist jetzt die brüderliche Liebe? Man hat den Namen, daß man lebet, und ist todt. Einer geht da- der andere dort=hinaus, ein ieder in das Seine, und will von GOtt allein dependiren und gelehrt seyn. Einer sieht den andern über die Achsel an, und die Mutterkinder kennen sich nicht und sind von einander getrennet. […] Man kan ja wol sagen, daß zu unsern Zeiten etwas und ein Vorblick von Filadelfia gewesen […]: es war ein Hertz und eine Seele bey vielen. Das kan man aber jetzt nicht sagen, sondern wir stehen in der Schande […]. Der Name Filadelfia ist zum Spott worden in vieler Spötter Schrifften. Und die das Wort annehmen, haben eben nicht allemal etwas davon im Hertzen […]. Was sollen Filadelfische Gebehts=Versammlungen, wenn nicht der gantze Grund gefaßt und fortgesetzt, und Filadelfia in seiner gantzen Breite gesucht wird!22
Offenbar sind die Klagen über den nie vollends erreichten und wiederum verlorenen Zustand eines schon halbwegs ins Werk gesetzten Philadelphia ganz konkret gemeint und beziehen sich unmittelbar auf jene Versammlung der Wiedergeborenen, denen der Mitarbeiterstab am Berleburger Bibelwerk selbst zugehörte. Nur die in rascher Folge 1730/31 ausgegebenen ersten fünf Hefte der Geistlichen Fama waren als „Gesammelt und gedruckt in Philadelphia“ bzw. bloß mit dem Druckortpseudonym „Philadelphia“ erschienen. Dem folgt bis zum 10. Stück 1733 (in den Zweitauflagen bis 1736) „Sarden“, Bezeichnung eines ernüchternden Rückfalls in vorwaltende geistliche Todesstarre unter dem Anschein des Lebens, unter der nur eine kleine Schar Getreuer unbesudelt geblieben sei. Seit 1736 schließlich lautet die Ortsangabe (soweit vorhanden) bis zum beschließenden 30. Stück (1744) grämlich „Laodicäa“, die Stadt der lau Gewordenen, der vom Herrn Verworfenen. Selbst eine vom Präsidenten des Sayn-Wittgensteinischen Konsistoriums (Hofprediger Ludwig Christof Schefer) gezeichnete Amtsdrucksache mit Anweisungen zur Durchführung der Gottesdienste in allen Kirchen des Landes anlässlich des 200. Jubiläums der Confessio Augustana am 25. Juni 1730 (mit doch bestimmungsgemäß reformatorisch-konfessionalistischen, also wenig philadelphischen Zungenschlägen gegen „die Päbstliche Gewissens=Herrschaft“ und die durch das „Pabstthum geschehene Verdunckelung der reinen Lehre“) beklagt ein in „ietziger Zeit“, kurz vor dem großen Gerichtstag, fortgesetztes Verharren „in der unsaubern Sardischen Gemeinde (obgleich dabey der / wiewol noch etwas schwache / Anbruch der Philadelphischen sogar nicht zuläugnen).“23 22 Ebd., S. 277. 23 Ein Exemplar dieses zuvor unbekannten (achtseitigen) Berleburger Drucks hat Johannes Burkardt 2000 beim Ordnen des Archivs der Kirchengemeinde Birkelbach aufgefunden und mir
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Die Gefahr der wieder zugeworfenen Tür droht zufolge des Bibelkommentars von außen, von den Kräften der Bosheit, der Welt und von orthodoxen Glaubenswächtern ebenso wie von innen, von den Abgefallenen und doch wieder ihrem Eigensinn folgenden bloßen Heuchlern der Friedfertigkeit und Liebe: Wenns die Welt muß geschehen lassen, daß eine Thür aufgehet, so wenden sie es um und […] verstellen sich mit Heucheln. Das sind hernach die falschen Filadelfer, wodurch der Satan Filadelfia verdächtig zu machen suchet. […] Das ist des Satans Werck. Das sind verborgene Sardenser, die noch drunter stecken, bis sie Zeit kriegen, daß sie hernach offentlich als Laodicäer erscheinen […] und kan nicht anderst seyn. Wenn die Kinder GOttes und die Kinder der Bosheit unter einander seynd, so verstellet sich der Satan in einen Engel des Lichts.24
Über die faszinierend-utopische Idee eines allen Schulenstreit überwindenden, nur auf schwesterlich-brüderliche Liebe verpflichteten neuen Philadelphia, wie sie hier in Berleburg in Bündelung der schon jahrhundertlang vereinzelt präformierten Traditionsvorgaben am nachhaltigsten und vielstimmigsten verkündigt und ansatzweise auch am sichtbarsten ins Werk gesetzt worden ist – mit weltumspannendem Widerhall bis hin zur Gründung neuer Gemeinschaften und Kirchen im kolonialen Nordamerika – habe ich hier 1980, anlässlich einer Tagung der Raabe-Gesellschaft in diesem Ort, informieren dürfen. Das Thema des dann von Stadtvätern und Heimatverein publik gemachten kleinen Geschichtskollegs war Berleburgs Beitrag zur Geschichte der religiösen und literarischen Toleranz in Deutschland. Die Linien sind seither von vielen, gelegentlich auch von mir selbst, weiter ausgezogen und präzisiert worden. Auf die das hehre Ideal gefährdenden und in der Praxis liebenswürdig in Kopie übersandt. Der vollständige Titel ist: „A. Y. Versprochener Unterricht / Instruction und nähere Anleitung / Wie auf gnädigsten Befehl und Verordnung Sr. Hochgräfl. Gnaden / des Regierenden Herrn Grafens zu Sayn=Wittgenstein=Berlenburg / Das am 25. Jun. Als den 3. Sonntag nach Trinitatis 1730. mit einfallende Augsburgische Confessions-Jubilæum in Dero hiesigen Grafschafft und Lande feyerlich zubegehen. – Berlenburg / gedruckt bey Johannes Kürßner / Hochgräfl. Sayn=Wittgensteinischem Hof= und Cantzley=Buchdrucker.“ Zitat: S. 7, vgl. S. 4. Der mit gräflichem Siegel ausgefertigte Druck ist gezeichnet „Berlenburg den 19. Junii 1730. Zum Gräfl. Sayn=Wittgensteinischen Consistorio allhier gnädigst verordnete Director, Räthe und Assessores.“ (S. 8). Ebenso wie in meiner Liste der Berleburger Drucke (Schrader: Literaturproduktion [1989, L 1], S. 201–221) fehlt er unter den Publikationen des 1730 noch als Kommissionsvorsitzender amtierenden Ludwig Christof Schefer; vgl. Ulf Lückel: Ein fast vergessener großer Berleburger: Inspektor und Pfarrer Ludwig Christof Schefer (1669–1731). Eine erste Spurensuche. In: Wittgenstein. Blätter des Wittgensteiner Heimatvereins. Jg. 88 (2000) [Bd. 64], S. 137–159, hier S. 147 f., zu Schefers Position (neben seinem Amt als Erster Pfarrer) als leitender Konsistorialrat und Vertrauter des Grafen Casimir ebd., S. 152 f. Ausführlich ist diese Gottesdienstordnung für das Konfessionsjubiläum seither analysiert von Johannes Burkardt: Reformierte, Lutheraner, Pietisten. Ein Beitrag zur Konfessionsgeschichte Wittgensteins vom 17. bis 19. Jahrhundert. In: Westfälische Forschungen 56 (2006), S. 89–116, hier S. 95–100. 24 Lückel: Ein fast vergessener großer Berleburger (wie Anm. 23), S. 276.
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zum Einsturz bringenden „Zionsrisse“ hatte ich seinerzeit nur im Ausblick hingewiesen, mit dem Bemerken, es seien die frühen radikalpietistischen „Propagatoren und Promotoren der Toleranzidee […] selbst noch befangen geblieben in eifernder, missionssüchtiger Engherzigkeit“; mitgelaufen sei „eine gehörige Portion an Streitsucht und Klatsch, scheinheiliger Heuchelei und Muckertum“.25 Auf diese ,Zores in Zion‘ möchte ich mich im folgenden Aufriss konzentrieren, scheinen sie mir doch nicht akzidentiell, sondern der großartigen Idee bereits als Geburtsfehler inhärent – als unvermeidlich fleckende Kehrseite des leuchtenden Programms. Vom Faszinosum der Idee selbst, auch ihrer – wie es Utopien eben eigen ist – Richtschnurtauglichkeit, vielleicht sogar gerade im Wissen um die nur Halbheiten gewährende gebrechliche Einrichtung der Welt, sollen diese Hinblicke aufs einfallende Menschliche und Menschelnde aber keinen Deut zurücknehmen. Der über das gleichlautende jiddische Wort für „Beängstigung und Sorgen“ in die deutsche Umgangssprache mit der Bedeutung „Ärger, Krach, Durcheinander“ eingewanderte Begriff „Zores“26 stammt vom biblisch-hebräischen 8L)J), zarah,27 von Luther mit „Angst“, „Weh“ oder „Not“ übersetzt. Die ,Berleburger Bibel‘ überträgt die Prophetie Jer 6,24 über die Gefährdungen der „Tochter Zion“: „die Hände sind uns entsunken: Angst hat uns ergriffen / und Wehen wie eine Gebährerin.“28 Aus den Zores, also aus Ärger und Unglück, Beängstigung und Durcheinander, konnte in der Praxis der kleinen in den wittgensteinischen Grafschaften versammelten brüderliebenden Gemein25 Schrader: Berleburgs Beitrag (1981, L 11), S. 119 und 128, in der Separatausgabe S. 3 und 12. 26 Artikel „Zores“. In: Duden, Etymologie. Herkunftswörterbuch der deutschen Sprache. Bearb. von Günther Drosdowski. Nach den Regeln der neuen deutschen Rechtschreibung überarb. Nachdr. der 2. Aufl., Mannheim [u. a.] 1997 (Der Duden, Bd. 7), S. 835, vgl. Andreas Nachama: Jiddisch im Berliner Jargon oder Hebräische Sprachelemente im deutschen Wortschatz, Berlin, 1. Aufl. 1994, 6. Aufl., ebd. 2000, S. 73 („Sorgen, die man sich aus Kummer macht“; mit Hinweis darauf, dass sich davon verballhornt auch die vielgescholtene „Sauregurkenzeit“ herleitet, S. 63: die Zeit der „Zorot jerakot“, also die „Sorgen um die Teuerung“, in der keine Geschäfte zu machen sind) oder schon Peter Wehle: Sprechen Sie Wienerisch? von Adaxl bis Zwutschkerl, Wien, erw. und bearb. Neuausgabe 1980, S. 294. – Friedrich Kluge: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, 19. Aufl., bearb. von Walther Mitzka, Berlin 1963, S. 891, sowie Hermann Paul: Deutsches Wörterbuch, 9., vollst. neu bearb. Aufl. von Helmut Henne und Georg Objartel, Tübingen 1992, S. 1082, geben neben der Grundbedeutung aus „hebr. zaro¯th ›Nöte‹“ als über das Rotwelsche vermittelte regionalsprachliche Sonderbedeutungen hess. „Gesindel“ und südwestdt. „Wirrwarr, Lärm“. 27 Philippe Reymond: Dictionnaire d’H8breu et d’Aram8en Bibliques, [Paris] 1991, S. 323, im Neuhebräischen hat sich die Bedeutung zu „Not“ verschoben, vgl. Hebräisch – Deutsches Wörterbuch, bearb. von Oded Achiasaf [u. a.], Tel Aviv – Stuttgart 1993, S. 158. 28 Der hier ziemlich tautologisch-geschwätzige, einen anagogischen Verweisungssinn gar nicht erwägende Kommentar paraphrasiert das „zarah“ „wir wurden höchst=bestürtzt / und es überfiel uns eine grose Furcht.“ [,Berleburger Bibel‘, Bd. VI]: Der Heiligen Schrifft Alten Testaments Vierter Theil: Nämlich die vier grosen Profeten […] und die zwölff kleinen […]: Nach dem Grund=Text aufs neue übersehen; Nebst Der buchstäblichen und geheimen Erklärung […]. Gedruckt zu Berlenburg im Jahr unsers grosen Profeten JEsu Christi 1737, S. 246.
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schaft gelegentlich sogar ein rechter Zoff werden, nach Ps 73,19 ein „Ende mit Schrecken“ (hebr. G9E, sof)29 und „Verwüstung“,30 in geharnischter Auseinandersetzung und öffentlicher Denunziation. Die Zahl und die geistesgeschichtliche Prominenz der seit den letzten Jahren des Barockjahrhunderts in den weltentlegenen Wittgensteiner Grafschaften am Südhang des Rothaargebirges unter dem Banner Philadelphias zusammengeströmten unruhvollen, eigengeprägt-produktiven, oft aber auch unverträglichen und problematischen Geister aus ganz Deutschland, der Schweiz, sogar aus Frankreich muss immer wieder erstaunen. In der von den Machtzentren der Zeit entlegensten Peripherie findet man hier, in Berleburg, der Kapitale der nördlichen Obergrafschaft, und in den zugehörigen Dörfern wie Raumland und Homrighausen, sowie in der Untergrafschaft im Süden, namentlich im Tal der Eder um Schwarzenau, zumindest auf Zeit fast all jene beisammen, die noch heute als Wortführer des radikalen Pietismus Rang und Namen behalten haben. Die wenigen markanten Gestalten, die wie Johann Jacob Schütz, Gottfried Arnold, das Ehepaar Petersen oder Johann Tennhardt nicht selbst hierher zu- oder durchgewandert sind, hatten doch auch hier ihre Korrespondenten und Gefolgsleute. Und Schriften von ihnen sind hier publiziert oder zumindest durch Johann Jacob Haugs nachhaltig wirkungsreichstes Verlags- und Buchhandelsunternehmen des radikalpietistischen Buchmarkts mit verbreitet worden. Klarer als zuvor ist dabei durch die neuere Forschung herausgestellt worden, in wie hohem Maße nicht bloß ein sympathetisches Gewährenlassen, sondern auch planmäßige Anwerbung, aktive Förderung und engagierter Schutz durch die gräfliche Landesherrschaft weit über die Grenzen des legal zu Verantwortenden hinaus diese Zusammenballung ermöglicht hat. Insoweit lässt sich das Zusammenkommen und das Zusammenspiel der religiösen Eigenbrötler und Genies im Umkreis der Höfe in Berleburg unter Hedwig Sophie und Casimir sowie in Laasphe unter Henrich Albrecht und Friedrich in der ganzen ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts durchaus mit dem Entstehen und der Blüte des Weimarer Musenhofes unter Herzoginmutter Anna Amalia und Herzog Carl August in dessen letztem Drittel vergleichen. Beide Erscheinungen haben diesen beiden gleichermaßen politisch unbedeutenden Territorien ihren Platz in der Geschichte und eine unvergleichliche Wirkung verschafft. Recht unverständlich ist es daher, dass in Bad Berleburgs Stadt- und Fremdenverkehrswerbung (ganz ungleich der29 Reymond: Dictionnaire (wie Anm. 27), S. 261, Nachama: Jiddisch (wie Anm. 26), S. 73, Paul: Wörterbuch (wie Anm. 26), S. 1081, als Ableitung über das Rotwelsche „mieser Z. ›Böses Ende, Ärger‹“ zur heutigen ugs. Bedeutung „Zank, Streit“. 30 Die ,Berleburger Bibel‘, Bd. III (wie Anm. 17), S. 384, übersetzt Ps 73,19 „Wie sind sie so augenblicklich zur Verwüstung worden! Sie haben gäntzlich ein Ende genommen für Schrecken!“ und kommentiert dies „auch mit ihrem selbst=eigenen Schrecken in den schröcklichen Gerichten GOttes. Wer seinen Wandel nicht mit Furcht vor GOtt führet / sondern […] als ein Gottsvergessener ; der wird ein Zeuge davon werden. Und wie wird nicht alle menschliche Klugheit und Scheinheiligkeit sobald ein Ende haben!“
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jenigen für Weimar) die gar nicht so kurze Phase einer geistesgeschichtlich singulären Weltgeltung allenfalls marginal erwähnt wird und ungenutzt bleibt.31 Selbst die „Philadelphia-Zitronentorte“, die man im Schlosscaf8 serviert bekommen kann, scheint eher auf den zur Zubereitung verwendeten Frischkäse als im Sinne von Goethe-Baisers oder Mozartkugeln auf den großen Geschichtsmoment zu verweisen, als dieser Ort Deutschlands Philadelphia war und stolz so benannt wurde. Aber freilich waren es – und daraus resultierten die Friedlosigkeiten unter dem Banner der Friedfertigkeit – ganz andere Köpfe und ganz andere Scharen als ein bis zwei Generationen später in Weimar, die hier zusammenkamen: in beiden Grafschaften hatten die Landfremden, polternde Babelsstürmer oder still in sich selbst versenkte Mystiker, von der ortsbürtigen Bauern- und Bürgerschaft schon in Kleidung und Sprechweise unterschieden, auf dem Höhepunkt des Zustroms die Bevölkerungsmehrheit inne – was die zugereisten Dichter und Schöngeister in Weimar freilich nie haben erreichen können. In der Frühphase, seit Johann Georg Hinsberg gern und in vergleichbarer Analogie durchaus treffend bezeichnet als „Sturm- und Drang-Epoche“ der hiesigen radikalpietistisch-philadelphischen Gemeinschaftsbildung,32 fehlten noch die ortsansässig-publizistischen Voraussetzungen, Druckerei und Verlag, für eine vollends überregionale Ausbreitung sowohl der neuen Ideen als auch der mitlaufenden Streitpunkte unter den frommen Immigranten. Hans Schneider hat in seinem Überblick über den radikalen Pietismus die Signale einer in den Jahren 1699/1700 kulminierenden „apokalyptischen fin-de-siH31 Durchaus erwartbar wäre hier ein in der Stadtwerbung omnipräsentes Schlagwort wie „Historische Toleranzstadt Bad Berleburg“. In den Prospekten aber muss man nach den spärlichen Hinweisen auf die große Phase und weltweite Ausstrahlungskraft der Stadtgeschichte lange suchen. Man findet sie am ehesten versteckt in bereits eine Generation alten, noch in der Erstauflage angebotenen Broschüren wie Werner Wasilewski: Kulturhistorisches Berleburg – Streiflichter einer 2500-jährigen Geschichte, Bad Berleburg 1981, hier S. 37–44 (mit Hinweisen namentlich auf die ,Berleburger Bibel‘, von der das Titelblatt des VI. Teils, 1737, wie Anm. 28, auf dem Titelblatt faksimiliert ist). Entsprechend war die Zeitungsberichterstattung über den vorliegenden Tagungsbeitrag auf diese Nebenbemerkung konzentriert: „Tipps für Tourismus. Unerwartete Erkenntnisse eines wissenschaftlichen Vortrags“. In: Siegener Zeitung, Ausg. Wittgenstein, Mo., 4. August 2008, S. 8. 32 Georg Hinsberg: Die Sturm= und Drangperiode des Pietismus in der Grafschaft Berleburg um 1700. In: Mitteilungen des Vereins für Geschichte und Volkskunde Wittgensteins, Jg. 1, H. 1, Berleburg [1913], S. 12–20. Vgl. die von den Herausgebern in Kommentaren, Referenzen und Bildbeigaben behutsam auf aktuellen Stand gebrachte hinterlassene Monographie, Johann Georg Hinsberg: Geschichte der Kirchengemeinde Berleburg bis zur Regierungszeit des Grafen Casimir (18. Jh.). Eingel., hg. und komm. von Johannes Burkardt und Ulf Lückel, Bad Berleburg 1999, namentlich mit den Kapiteln „Die Sturm- und Drangperiode des Pietismus im 18. Jahrhundert“, S. 65–78, „Ludwig Christoph Scheffer: Der gelehrte Inspektor“, S. 78–87, „Der zweite Pfarrer Wilhelm Abresch“, S. 87–94, „Die Separatisten in den letzten Lebensjahren der Gräfin Hedwig Sophie“, S. 95–97, „Graf Casimir und die philadelphische Bewegung“, S. 97–104 sowie „Die inspirierten Homrighäuser Schwaben“, S. 105–126, und „Die Mennisten“ S. 127 f. (sowie Anm.).
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cle-Stimmung“ herausgestellt: aus der Erwartung eines Anbruchs des endzeitlichen Tausendjährigen Reichs zum Jahrhundertwechsel heraus wuchs allenthalben die Risikobereitschaft zum Widerspruch gegen engherzige Lehraufsicht und verkrustete Strukturen in der Kirche und die Faszination für Separation, für inspirativ-visionäre Charismatiker und die en vogue geratenen philadelphischen Ideen. Symptomatisch hierfür genannt sei hier nur der Titel eines (in Johann Wilhelm Petersens Bibliothek dem Johann Jacob Schütz zugewiesenen) Traktats schon aus dem Jahr 1684: Abdruck eines Discurses über die Frage: Ob die Außerwehlte verpflichtet seyen / sich nothwendig zu einer heutigen grossen Gemeinde und Religion insonderheit zu bekennen und zu halten? Item / von der sichtbaren Kirche / und Liebe der Brüderschafft / oder brüderlichen Liebe, Frankfurt, Duisburg und Wesel: Andreas Luppius o. J. [1684]33
Oder im ersten Band der auf drei Folianten anwachsenden Begründung der Wiederbringungslehre des Johann Wilhelm Petersen selbst, LUSTGQIOM APOJATASTASEYS PAMTYM, Das ist: Das Geheimniß der Wiederbringung aller Dinge […] Durch JESUM CHRISTUM, Den Wiederbringer aller Dinge, „Pamphilia“ 170034 die Widmungszuschrift: DEr gantzen Gemeine des Lebendigen Gottes […] Insonderheit der Philadelphischen Gemeine / Die auß dem Geist / und Liebe gebohren / Gott zum Vatter / Den 33 Duodez-Bändchen von 40 unpaginierten Seiten [SUB Göttingen, auch digitalisiert im Netz]. Vgl. die Zuschreibung in: Bibliotheca Peterseniana […], Berlin 1731, S. 136, Nr. 121. Zum verlegerischen Kontext schroff heterodoxer, auch magischer und pansophischer Literatur vgl. insbes. Willem Heijting: Hendrick Beets (1625?–1708), publisher to the German adherents of Jacob Böhme in Amsterdam. In: Quærendo, Bd. 3, Amsterdam 1973, S. 250–280, sowie speziell (mit weiterer Lit.) Schrader: Salomonis Schlüssel (2001, L 26), S. 241. 34 Den gedanklichen Anstoß zu dieser in drei Foliobänden Offenbach bzw. Frankfurt 1700–1710 vorgelegten umfänglichsten Begründung der Wiederbringungslehre (vgl. Schrader: Literaturproduktion [1989, L 1], S. 138, 150, 444) hatte seine Frau schon 1691 in ihrem Traktat „Ewiges Evangelium“ gegeben: Ruth Albrecht: Johanna Eleonora Petersen. Theologische Schriftstellerin des frühen Pietismus, Göttingen 2005 (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus, Bd. 45), S. 271–301, 360, vgl. dies.: Die Apokatastasis-Konzeption bei Johanna Eleonora Petersen. In: Alles in allem. Eschatologische Anstöße. Hg. von Ruth Heß und Martin Leiner, NeukirchenVluyn 2005, S. 199–214, sowie Prisca Guglielmetti: Nachwort. In: Johanna Eleonora Petersen, geb. von und zu Merlau: Leben, von ihr selbst mit eigener Hand aufgesetzet. Hg. von Prisca Guglielmetti, Leipzig 2003 (Kleine Texte des Pietismus, Bd. 8), S. 89–109, hier S. 107–109. In Berleburg war der Erste Pfarrer, Hofprediger, Konsistorialdirektor und engagierte Mitarbeiter am Bibelwerk Ludwig Christof Schefer ein eifriger Wortführer der Wiederbringungslehre, namentlich in seiner Predigtensammlung, Ludwig Christoph Schefer: :5( M1;) @@)M)1 L8úB( daß ist Raube bald / Eile beute oder Vorstellung Einer unlängst an den Tag gekommenen Schrecklichen Weissagung Vom Untergang der Babylonischen Christenheit […] in Zweyer Buß=Predigten, Berleburg: Christoph Konert 1714. Vgl. (mit Faksimile des Titelblatts) Ulf Lückel: Ein fast vergessener großer Berleburger (wie Anm. 23), S. 146 f., 149–151. Zu diesem Titel vgl. auch den Hinweis bei Johannes Anderegg: Mephisto und die Bibel. In: Goethe und die Bibel. Hg. von Johannes Anderegg und Edith Anna Kunz, Stuttgart 2005 (Arbeiten zur Geschichte und Wirkung der Bibel, Bd. 6), S. 320.
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Eingebohrnen / Und Erstgebohrnen Sohn Gottes zum Bruder […] Und das Jerusalem / das oben ist / Die ewige unbefleckte Weißheit Zur Mutter hat / Die da geheim ist und offenbahr […] Und dennoch als eine Stadt auff dem Berge Allenthalben gesehen wird.
Die für den beim Tod seines Vaters 1694 erst siebenjährigen Junggrafen Casimir bis zu dessen Regierungsmündigkeit als 25jähriger 1712 vormundschaftlich regierende Gräfin Hedwig Sophie, selbst erweckt durch Ernst Christoph Hochmann von Hochenau, den charismatischsten der damals allenthalben auftretenden Wanderprediger, hatte bekanntlich auch andere wegen ihrer Verteidigung von Separatisten und Visionären spektakulär ihres Amtes entsetzte Pfarrer ins Land und auf die Kanzel der gerade vakanten Ersten Pfarre Berleburgs gezogen wie den schrillen Ekstatiker Henrich Horch oder die gemäßigteren Johann Henrich Reitz und Philipp Jacob Dilthey.35 Andere Gesinnungsvertriebene waren hinzugekommen, so aus der Schweiz Samuel König, Carl Anton Püntiner (Bündner), Nicolaus Tscher und Jacob Knecht. Weder von Seiten der Verwaltung (der Oberamtmann Dr. Metting war als Schwiegersohn des Johann Jacob Schütz dem Treiben gewogen) noch aus der Kirche gab es Hemmnisse (der – ohne einen vorgesetzten Amtsbruder – Zweite Pfarrer Dietrich Otto Schmitz fiel den enthusiastischen Umtrieben zu).36 In einem, wie Hans Schneider schreibt, „regelrechten apokalyptischen Taumel“ wurde an Ostern 1700 unter massiver Beteiligung der Damen des Hofes mit tagelangen Gebetsversammlungen, neuen Bruder- und Schwesternamen der Wiedergeburt (unter Berufung auf die Ordnung des messianischen Priesterkönigs Melchisedek, Ps 110,4) eine neue philadelphische Gemeinschaft gefeiert.37 Die ekstatischen Erscheinungsformen haben Johannes Burkardt und Ulf Lückel in ihrer kleinen Monographie über Das Fürstliche Haus zu Sayn–Wittgenstein–Berleburg bündig zusammengefasst: Ohne Rücksicht auf Geschlecht oder sozialen Stand wurden ca. 50 Personen durch Handauflegung eingesegnet und erhielten neue biblische Namen. Gräfin Hedwig Sophie erhielt den Namen Maria. Unter Singen und Beten, oftmals in Trance und vom Geist ergriffen, wurden biblische Perikopen ausgelegt, wobei einige Teilnehmer oft von Glossolalie (Zungenreden) beherrscht wurden. Die Zusammenkünfte […] be35 Vgl. dazu mit näheren Literaturangaben, außer Hinsberg: Geschichte der Kirchengemeinde Berleburg (wie Anm. 32), Wittgensteiner Pietismus in Portraits (wie Anm. 11), insbes. die Artikel von Ulf Lückel: Ernst Christoph Hochmann von Hochenau (1699/1700–1721), S. 73–77, Hedwig Sophie Gräfin zu Sayn-Wittgenstein-Berleburg (1669–1738), S. 123–128, Johann Henrich Horch (1652–1729) und Samuel König (1671–1750), S. 167–171, und von Andreas Kroh: Johann Henrich Reitz (1655–1720), S. 99–106. 36 Resümierung der Ereignisse mit Verweis auf die ältere Spezialforschung in Schrader: Literaturproduktion (1989, L 1), S. 71 f. und Anm. S. 382–384 (im vorliegenden Band S. 58–62) sowie S. 178–181 und Anm. S. 463 f. 37 Dieses „apokalyptische Fieber“ und den „apokalyptischen Taumel“ (Termini: S. 418 f.) beschreibt Hans Schneider: Der radikale Pietismus im 17. Jahrhundert (wie Anm. 7), S. 404–410, 418–421.
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wirkten, dass sich alle als „Kinder Gottes“ und als große geeinte Gemeinde verstanden. Lange Zeit wurde die Gräfin von einem langen geistlichen Lachen ergriffen – andere gerieten bei den Gebeten in Verzückung und taumelten in ihrer Ekstase durch die Versammlungsräume des Berleburger Schlosses.38
Störung und Friktionen werden in dieser Phase noch weniger im Binnenraum der philadelphischen Schar als von und nach außen manifest. Das enthusiastische Predigen so vieler hochfahrend-aggressiver Kirchengegner in der Kirche und das befremdliche Gebaren der Obrigkeit brachten verständlicherweise das bekenntnis- und gottesdienstkonservative ortsansässige Kirchenvolk in Harnisch. Proteste bei dem als Mitvormund des Erbgrafen fungierenden Bruders der Hedwig Sophie, Rudolf zu Lippe-Brake, führten bekanntlich zu der operettenhaften Militäraktion mit anschließendem Verfahren vor dem Reichskammergericht, die diesen ersten Versuch gewaltsam ausgelöscht haben, Philadelphia in Berleburg zu verwirklichen, wie kurz zuvor (namentlich unter Horchs und Königs Einfluss) an der Werra oder in Laubach.39 Unverkennbar aber beruht die Implosion des Experiments zunächst und vor allem auf den internen Unstimmigkeiten. Beispielhaft lässt der Ablauf erkennen, wie im Rausch ideologisch-ekstatischer Umwälzungen die Schrillsten und Radikalsten die Oberhand gewinnen, wie sie die Besonnenen verdrängen und in fortschreitendem Realitätsverlust die an sich faszinierende Grundidee bis zur Karikatur überspitzen und der Lächerlichkeit preisgeben. Mit der Maßlosigkeit des Henrich Horch, der nach seiner Entlassung als Herborner Theologieprofessor bekundet hatte, „die Kirche wäre ein Teuffels=Hauß […]; die heilige Tauff […] Ein Götzen=werck, das Predig=Amt eine Leyer“, der sich als kraft der Wiedergeburt der Sünde überhoben wähnte40 und wegen Wahnvorstellungen und häuslicher Gewalt außer in Gefängnisse wiederholt in Irrenanstalten gekommen war, ließ sich sowieso kein Staat machen, schon gar nicht ein neugeordneter Kirchenstaat.41 Die von ihm initiierten philadelphischen Konventikel in Hessen gerieten durchweg in Radikalisierung und waren von nur kurzer Dauer. Ebenso wenig wie der grundsätzlich neuer kirchlicher Organisation misstrauende Hochmann war Horch bei den Berleburger Oster-Gebetsversammlungen persönlich anwesend. Die zum Untergang führende Überhitzung der Sturm- und Drangphase von 1699/ 38 Johannes Burkardt und Ulf Lückel: Das Fürstliche Haus zu Sayn-Wittgenstein-Berleburg, Werl, 3. überarb. Aufl. 2006 (Deutsche Fürstentümer, H. 17), S. 13. 39 Dazu (mit Lit.): Hans Schneider: Der radikale Pietismus im 17. Jahrhundert (wie Anm. 7), S. 416–421, 436 f. 40 [Hermann Hildebrandt]: Antwort Auf Henrich Horchens Send=Schreiben / An die Zuhörer zu Herborn, Frankfurt 1698, S. 6 f. – Gegen die radikale Auffassung der „Unsündlichkeit der Wiedergeborenen“ hat am heftigsten in der zweiten Phase des Berleburger philadelphischen Experiments Johann Christian Edelmann polemisiert und sich deshalb auch geweigert, an den Neuausgaben und Erweiterungsbänden der „Historie Der Wiedergebohrnen“ mitzuarbeiten. Vgl. Schrader: Literaturproduktion (1989, L 1), S. 96 f., 407–410. 41 Hans Schneider: Der radikale Pietismus im 18. Jahrhundert (wie Anm. 9), S. 119 f.
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1700 wird schließlich daran sichtbar, dass die in radikales Fahrwasser geratenen seriös gebildeten Theologen wie Reitz und König still das Feld geräumt haben und eben nicht als Pfarrer behalten wurden. Horch kam 1703 nochmal kurzzeitig nach Berleburg zurück. Fürs dortige Philadelphia aber bleibt er dadurch von Bedeutung, dass er gemeinsam mit dem hier nach langer Vakanz 1702 als Erster Pfarrer und Inspektor angestellten Ludwig Christof [Christoph] Schefer die Mystische und profetische Bibel, Marburg 1710, erarbeitet hat (was spätere öffentlich ausgetragene Zores zwischen den beiden keineswegs ausschloss).42 Diese ,Marburger Bibel‘ wurde, insofern die Initiatoren ihre geplante mystische Kommentierung bis auf knappe Vorreden der Bibel-Bücher hatten aufgeben müssen, die eigentliche Vorgabe für die Planungen und Ausarbeitungen des Berleburger Bibelwerks, für die Schefer, wie Lückel jüngst zeigen konnte, gemeinsam mit dem Grafen Casimir, die erste treibende Kraft geworden ist.43 Das wird übrigens nicht nur erkennbar durch seine Erarbeitung und Herausgabe des 1164 Seiten starken grundlegenden Arbeitsmittels für die Übersetzung des Alten Testaments, 75L MLM [Schoresch Dawar] Oder Hebreisches Wörter=Buch, Berleburg 1720. Gewidmet hat er das Werk „Denen wahren Gliedern Der Philadelphischen Gemeinde / Welche der HErr in unsern Zeiten hat wollen lassen zum Vorschein kommen / und ihr geben will eine offene Thür“.44 Sein direktes Mittun wird auch explizit bestätigt durch die Acta der evang. Kirche zu Berleburg betreffend Druck der Berleburger Bibel im Synodalarchiv des Kirchenkreises Wittgenstein, wo nämlich der verhandlungsführende Inspektor Schefer in einem Pro memoria vom Februar 1722, Unterthäniger Vorschlag, wie die verlangte 1000. fl Zur Einrichtung einer Druckerey unter Gottes Segen können herbey geschafft werden, mit der hochgemuten Selbstverpflichtung „Ich erbiete mich unter des Herrn Beystand zu – 200. fl.“ ebenso viel Bares für die erforderte Infrastruktur aufzubringen verspricht wie er zudem „Auß den Kirchenmitteln“ beisteuern will. Das ist jeweils derselbe Betrag, wie der Graf selbst ihn zuschießen will (die Spende der noch fehlenden 200 Gulden war gemeinschaftlich dem Gräflichen Leibarzt Andreas Kock – Vorgänger des Johann Samuel Carl – und den fünf Predigern auferlegt). Auch die Verhandlungen zur Einsetzung des theologischen Hauptverantwortlichen Johann Friedrich Haug zum Inspektor des Waisenhauses als Träger der (mit Pacht-Geschäftsführern) in staatliche Eigenregie übernommenen Druckerei 42 Dazu jetzt der die Leistung Schefers erstmals präziser herausstellende Aufsatz von Ulf Lückel: Ein fast vergessener großer Berleburger (wie Anm. 23), S. 137–159, hier 145 f. und 148 f. Siehe auch schon den Abriss, Ulf Lückel: Ludwig Christof Schefer (1669–1731). In: Wittgensteiner Pietismus in Portraits (wie Anm. 11), S. 141–146. 43 Ulf Lückel: Ein fast vergessener großer Berleburger (wie Anm. 23), S. 151–153. 44 Dedikation im Titelbogen, umfassender zitiert bei Lückel: ebd., S. 145, vgl. 148. Vgl. zu diesen philologischen Grundlagenarbeiten Schrader: Literaturproduktion (1989, L 1), S. 186 f., 203, sowie ders: Sulamiths verheißene Wiederkehr (1988, L 15), im vorliegenden Band S. 179 und ders: „red=arten u[nd] worte behalten“ (2014, L 53), im vorliegenden Band S. 342.
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und als gesamtverantwortlichen Subunternehmer am 21. März 1725, ein Jahr, ehe der erste Band ausgeliefert werden konnte, fand „in der Herrn Inspectoris Schefers Behaußung“ und offenbar unter seiner Leitung statt.45 Doch damit bin ich vorausgeeilt. Die militärische Ausschaffung der Störenfriede und ein nur kurzfristiges juridisches Aussetzen der vormundschaftlichen Rechte ihrer Beschützerin im Jahr 1700 verschoben das Zentrum der philadelphischen Aktivitäten – und der sie begleitenden Streitigkeiten – bis jenseits des Regierungsantritts Casimirs zunächst für ein paar Jahre in die Südgrafschaft Wittgenstein. Dahin, unter den Schutz des nicht eben geistesstarken, geistlich aber heftig ergriffenen Grafen Henrich Albrecht,46 waren die meisten ausgewichen und hatten, insofern reichrechtliche Maßnahmen gegen ihn im Sande verliefen, gute Ruhe bis 1719, als Graf August [David] die Mitregentschaft für seinen schwachen Vetter und praktisch die Herrschaft im Lande übernahm und entschieden durchgriff.47 Denn mittlerweile hatten neue Radikalisierungen den Hof in Laasphe noch ärger in Verruf gebracht: die förmlichen Eheschlüsse dreier wegen ihrer Armut kaum standesgemäß zu verheiratenden Wittgensteiner Prinzessinnen mit hergelaufenen Separatisten (weil doch der Seelenadel von höherem Rang sei als der irdischer Abstammung) und die Aufnahme der aus einem philadelphischen Horch-Konventikel an der Werra hervorgewachsenen „Societät der Mutter Eva“ oder – in der Bezeichnung der Gegner – der „Buttlarschen Rotte“ im Lande. Diese ekstatische Gemeinschaft unter Leitung der Eva von Buttlar glaubte das chiliastische Reich schon angebrochen und sah sich zur „Reinigung von der bösen Lust der Erbsünde“ und zum Wiedergewinn paradiesischer Reinheit und Freiheit zu ritueller Sexualpromiskuität aufgerufen. Solcherart abstruse Verstiegenheiten riefen natürlich nicht nur den lachenden Hohn der Pietistengegner hervor, sondern gerade auch die heftige öffentliche Abwehr der mit der Pervertierung ihrer Ideen in schräges Licht geratenden philadelphisch Gesonnenen. Während sonst Verdammungen selbst entfernter Gesinnungsgenossen vermieden wurden, haben sich Spener, Petersen und Dippel von den der ganzen Bewegung gefährlichen Schwärmereien unzweideutig distanziert. Auch der tolerante Graf Henrich Albrecht sah sich schließlich zum Eingreifen genötigt, ließ 45 Vgl. dazu bereits Schrader: Literaturproduktion (1989, L 1), S. 187 und 189 f. Zum Engagement des sonst in den Aktivitäten der Berleburger Philadelphier kaum hervortretenden Andreas Kock vgl. ebd., S. 191 und 467, v. a. aber, aufgrund des Tagebuchs des Grafen Casimir, Christa Habrich: Mediziner und Medizinisches am Hofe des Grafen Casimir zu Sayn-Wittgenstein (1687–1741). In: Beiträge zur Geschichte der Pharmazie (Beilage zur ,Deutschen Apotheker Zeitung‘), Bd. 32 (1983), S. 143. Unter den zu geschichtlicher Bedeutung gelangten pietistischen Waisenhausgründungen ist leider das in Berleburg übergangen im Ausstellungsband: Kinder, Krätze, Karitas. Waisenhäuser in der Frühen Neuzeit. Hg. von Claus Veltmann und Jochen Birkenmeier, Halle 2009 (Kataloge der Franckeschen Stiftungen, Bd. 23). 46 Vgl. Ulf Lückel: Henrich Albrecht Graf zu Sayn-Wittgenstein-Hohenstein (1658–1723). In: Wittgensteiner Pietismus in Portraits (wie Anm. 11), S. 135–140. 47 Schrader: Literaturproduktion (1989, L 1), S. 181, 206, 219 und 464.
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die neue Sekte vom gemieteten Gut Saßmannshausen weg 1704 in den Kerker nach Laasphe holen, 1705 aber wieder entweichen.48 Das bedeutendste Philadelphia seines Ländchens aber wuchs im Tal der Eder um den gräflichen Gutshof Schwarzenau heran, wo sich seit dem Jahrhundertbeginn im ,Hüttental‘ alle möglichen Separatisten in Einsiedeleien und Hausgemeinschaften angesiedelt haben, hauptsächlich Anhänger des hier seit 1703 (und mit Unterbrechungen bis zu seinem Tod 1721) eremitisch lebenden Hochmann von Hochenau, die sich ihm auf seinen Missionswanderungen angeschlossen hatten. Aber auch andere radikale Pietisten von weitreichender literarischer Wirksamkeit sind hier im ersten Jahrzehnt zeitweise zugewandert wie der prophetisch-visionäre Babelsstürmer Johann Maximilian Daut und die einflussreiche Vermittlungsgestalt des überregionalen separatistischen Buchhandels Andreas Gross (Groß). Oder sie haben sich dauerhaft da angesiedelt, seit 1709 die aus dem Buttlarschen Konventikel ausgebrochene Asketikerin Clara Elisabeth von Callenberg, seit 1712 der mit ihr eine ,geistliche‘ Eheverbindung eingehende Hugenotte Charles Hector de Marsay, später Zentralgestalt der quietistischen, nach den mystischen Lehren der Madame de Guyon ausgerichteten Zirkel in Deutschland. Zusammen mit seinem Schüler Johann Friedrich von Fleischbein wurde er Hauptinitiator der reichen Berleburger quietistischen Buchproduktion noch der späten dreißiger und frühen vierziger Jahre49 – in enger Verbindung mit Gerhard Tersteegen. Dieser Fleischbein, der in der Nähe auf Schloß Hayn bei Siegen 1735–41 um Marsay eine quietistische Hausgemeinschaft, die „Gesellschaft der Kindheit Jesu-Genossen“, zusammengeführt hat,50 war übrigens der Großonkel Goethes, mit dem er auch noch korrespondiert hat.51 Goethe war für ihn als junger 48 Zusammenfassend: Hans Schneider: Der radikale Pietismus im 17. Jahrhundert (wie Anm. 7), S. 420 f., 437 sowie ders.: Der radikale Pietismus im 18. Jahrhundert (wie Anm. 9), S. 133–135 und 180 f., monographisch Willi Temme: Krise der Leiblichkeit. Die Sozietät der Mutter Eva (Buttlarsche Rotte) und der radikale Pietismus um 1700, Göttingen 1998 (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus, Bd. 35). 49 Ausführliche Untersuchung mit Literaturnachweisen in Schrader : Madame Guyon, Pietismus (2002, L 27), im vorliegenden Band S. 419–456, vgl. ders.: Fleischbein (2000, L 65) und v. a. ders.: Goethes Verbindung zum mystischen Quietismus (2016, L 57). Zu Tersteegen als Dichter und zur quietistischen Sprachtradition vgl. ders.: Hortulus mystico-poeticus (1997, L 21) im vorliegenden Band S. 457–487. 50 Dazu ist grundlegend die Edition von Michael Knieriem und Johannes Burkardt: Die Gesellschaft der Kindheit Jesu-Genossen auf Schloß Hayn. Aus dem Nachlaß des von Fleischbein und Korrespondenzen von de Marsay, Prueschenk von Lindenhofen und Tersteegen 1734 bis 1742. Ein Beitrag zur Geschichte des Radikalpietismus im Sieger- und Wittgensteiner Land, Hannover 2002. 51 Nur ein Brief Goethes ist überliefert: Brief 210 in: Der junge Goethe. Neu bearb. Aufl. Hg. von Hanna Fischer-Lamberg, Bd. 4, Berlin 1968, S. 3 f., vgl. Kommentar S. 321 f. Daraus und aus Fleischbeins Notizen aber ist ein umfassenderer Briefwechsel zu erschließen, vgl. Knieriem und Burkardt: Gesellschaft (wie Anm. 50), S. 57 f. Deren Angabe, Goethe werde sich da mit dem frommen Fleischbein „einen Scherz erlaubt haben, als er seinen Briefstil nachahmte, ja karikierte, um seinen weitläufig mit ihm verwandten Vetter der Lächerlichkeit preiszugeben“, ist aus
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Rechtsanwalt mittätig am Austausch und Zahlungsverkehr mit guyonistischen Mystikerkreisen in der Westschweiz. Zunächst in Schwarzenau hatte sich übrigens auch der streitselige Christoph Seebach angesiedelt, der sich durch seine Infragestellungen der Gottheit Jesu (und entsprechenden Verketzerungen als ,Arianer‘ oder ,Socinianer‘ – Angriffspunkt auch der Geistlichen Fama)52 unmöglich gemacht hat und 1719 ausgewiesen wurde. Auch dieser unruhige Geist fand aber sogleich nebenan in Berleburg Aufnahme, wo er einerseits als gelehrter Orientalist für das Bibelwerk nützliche Arbeitsmittel publiziert hat (das Infragestellen seiner Mitarbeit an der Bibeledition selbst durch Martin Brecht 1982 hat sich seither in der Forschung durchgesetzt), andererseits aber auch durch unablässige Streitschriften zum Unfrieden in der Philadelphierschar beitrug. Die bleibendste philadelphisch intendierte Gemeindegründung aus den Schwarzenauer Eremitenkreisen hat wiederum für die entschiedensten Auseinandersetzungen zwischen den radikalen Pietisten gesorgt. Anhänger Hochmanns hatten sich 1707/08, als er selbst gerade auf einer seiner Predigtreisen in Nürnberg im Gefängnis saß, aufgrund seiner Verwerfung der Kindertaufe zu einer Gemeinschaft mit Alexander Mack als Wortführer zusammengeschlossen, die nach dem Vorbild der Taufe Jesu Erwachsenentaufen durch Untertauchen praktizieren wollte. Diese Schwarzenauer Neutäufer (Dunkers, Dompelaers) leben heute in den USA als mitgliederstarke Church of the Brethren fort.53 Der ersten Neutaufe in der Eder Anfang August 1708 hat man am 3. August 2008 zum 300. Jahrestag in einer großen Gedenkveranstaltung in Schwarzenau und mit einer Reihe von Erwachsenentaufen am historischen Ort gedacht.54 Mit dem Zusammenschluss der Schwarzenauer breiterer Kenntnis der lebenslang hochgradigen Adressatenadaption des Briefschreibers Goethe und seines dabei auch noch parallel zu seiner Sturm- und Drang-Poesie beibehaltenen Kurialstils (schon gar in seiner Rechtsanwalt-Korrespondenz) entschieden zu bestreiten. Dazu grundlegend Schrader: Goethes Verbindung zum mystischen Quietismus (2016, L 57), vgl. auch ders.: Points de contact (2016, L 56). 52 In der grundsätzlichen Rechtfertigung des Separatismus in: Geistliche Fama, 6. Stück, 2. Aufl., „Sarden“ 1736 (mit dem Titel-Motto von Hugo Grotius: „Nulla est secta, quæ habet omne verum; Sed non est secta, quæ non habet aliquid ex vero.“), S. 8 ff.; Streitgedicht gegen die Arianer und Socinianer: 7. Stück, „Sarden“ 1732, S. 91. 53 Grundlegend, auch als Zuweg zu früheren Forschungsansätzen, ist die Monographie von Marcus Meier: Die Schwarzenauer Neutäufer. Genese einer Gemeindebildung zwischen Pietismus und Täufertum, Göttingen 2008 (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus, Bd. 53), insbes. S. 19–36, 99–106, 147–179. Vgl. auch die historischen Beiträge in dem zur 300-Jahrfeier vorgelegten Sammelband: Schwarzenau 1708–2008, Jubiläumsschrift zur 300-Jahrfeier – 2008 Brethren World Assembly. Hg. von Otto Marburger, Bad Berleburg 2008, sowie Ulf Lückel: Alexander Mack (1679–1735). In: Wittgensteiner Pietismus in Portraits (wie Anm. 11), S. 83–87. Für das Aufgreifen philadelphischer Positionen in den nordamerikanischen Filialgemeinschaften vgl. (mit Lit.) Schrader: Philadelphian Hope (2002, L 28), im vorliegenden Band S. 205–231. 54 Dazu ausführliche Photo-Berichterstattung in der „Wittgensteiner Zeitung“ („Westfalenpost“, Ausg. PBB 3), Nr. 180, Mo., 4. August 2008, [Heiner Lenze (hal.):] 700 Gäste aus 18 Nationen wieder „zuhause“. […] Feierlichkeiten zum Brethren-Jubiläum. Vgl. die Untersuchung zur
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Neutäufer hatte anders als bei den bisherigen formlosen Wohn- und Gebetsgemeinschaften eine regelrechte Gemeinschaftsgründung mit zunehmend strenger innerer Ordnung und in Abgrenzung zu den übrigen radikalpietistischen Frommen stattgefunden, überdies schritt man zur Mission für eine spezifische Sondergemeinschaft und Bekenntnisnorm. Deshalb und nicht allein wegen der Wiederaufnahme von Lehrsätzen und Riten der im 16. Jahrhundert mit Feuer und Schwert verfolgten alten Taufgesinnten setzte es unverzüglich massive Auseinandersetzungen. Der eigene Lehrvater Hochmann widersprach dem Aufbau einer neuen „Sekte“ aus der Überzeugung heraus, das wahre Philadelphia könne nur eine „Geist=Kirche“ sein,55 und beharrte auch (ähnlich wie übrigens Dippel)56 auf der Konzeption einer bloß symbolischen Geist-Taufe statt der materialen Wassertaufe. Polemisch aber trat der entlassene Württemberger Diakon und spätere Gemeindeälteste der Inspirierten, Eberhard Ludwig Gruber,57 gegen die Tauflehre der Mack-Leute auf, half ihnen so, in der Auseinandersetzung mit seinen Einwänden ihr eigenes Credo auszuarbeiten.58 Die auch reichsrechtlich eingeklagte Gründung einer „quarta species religionis“ jenseits der drei im Westfälischen Frieden privilegierten Konfessionen konnte den Neutäufern nichts anhaben (zu ihren beredten Anwälten gehörte der 1708/09 in Schwarzenau angesiedelte und der Mack-Gruppe zugefallene Nicolas de Treytorrens),59 solange Henrich Albrecht engagiert ihren Schutz verbürgte. Nach seiner Entmachtung 1719 mussten sie weiterziehen, über Krefeld und Friesland bis schließlich in die Neue Welt. Die leuchtendste Verwirklichung aber eines philadelphischen Zusam-
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großen Gedächtnisfeier fünfzig Jahre zuvor, Johannes Burkardt: Die 250-Jahrfeier der Church of the Brethren in Schwarzenau 1958. Ein ökumenisches Großereignis der Nachkriegszeit. In: Kirchenarchiv mit Zukunft. Festschrift für Bernd Hey zum 65. Geburtstag. Hg. von Claudia Brack, Johannes Burkardt [u. a.], Bielefeld 2007 (Schriften des Landeskirchlichen Archivs von Westfalen, Bd. 10), S. 167–179, gekürzter Wiederabdruck (mit engl. Übersetzung von Hermann Pabst) in: Schwarzenau 1708–2008 (wie Anm. 53), S. 170–193. Vgl. auch sein in der „Geistlichen Fama“, 28. Stück, 1741, S. 90–98 abgedrucktes Schreiben vom 4. April 1711, „Protestation in Sachen Zion contra Babel“. Streitschriften der Auseinandersetzung um ein materielles oder symbolisches Verständnis der Taufe sind bei Hans Schneider: Der radikale Pietismus im 18. Jahrhundert (wie Anm. 9), S. 181, Anm. 210, zusammengestellt, vgl., auch zum Eintreten Christoph Seebachs in den Streit, Schrader: Literaturproduktion (1989, L 1), S. 166, 452, sowie Marcus Meier: Die Schwarzenauer Neutäufer (wie Anm. 53). Andreas Kroh: Eberhard Ludwig Gruber (1665–1728). In: Wittgensteiner Pietismus in Portraits (wie Anm. 11), S. 61–65. Grundforschende Fragen, welche denen Neuen Täufern im Wittgensteinischen, insonderheit zu beantworten vorgeleget worden, [Idstein] 1713, Näheres bei Hans Schneider: Der radikale Pietismus im 18. Jahrhundert (wie Anm. 9), S. 138 und 183, speziell ders.: „Basic Questions on Water Baptism“: An Early Anti-Brethren Pamphlet. In: From Age to Age. Historians and the Modern Church. A Festschrift for Donald F. Durnbaugh. Ed. by David B. Eller, Oak Brook, Ill. 1998, S. 31–63. Vgl. Hans Schneider: Der radikale Pietismus im 18. Jahrhundert (wie Anm. 9), S. 183, Schrader: Literaturproduktion (1989, L 1), S. 172, 458, speziell Pierre Barthel: Die „Lettre Missive“ (1717) des Nicolas S. de Treytorrens. In: Pietismus und Neuzeit 11 (1985), S. 1–39.
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menwirkens der in ihren religiösen Sonderlehren buntscheckig unterschiedlichen Pietistenschar entstand doch in der Nordgrafschaft seit dem Regierungsantritt des Grafen Casimir, also seit 1712.60 Dieser hat, erst in der späten Studienzeit durch die Begegnung mit Jane Leade-Anhängern in London zu philadelphischen Konviktionen gelangt, als ein zugleich repräsentationsbewusster Barockfürst (nicht allein mit dem Bau des Mitteltrakts und der Orangerie des Schlosses) durchaus planmäßig die religiös-kirchenpolitische Profilierung seines Ländchens auch im Sinne einer wirtschaftlichen Meliorierung betrieben. Das freundschaftliche Zusammenspiel mit dem Berleburger Kircheninspektor und Ersten Pfarrer Ludwig Christof Schefer, von dem als treibender Kraft für das Bibelwerk und die Druckerei des Waisenhauses schon vorgreifend die Rede war, und auch mit etlichen der herbeigezogenen prominenten und gelehrten Gesinnungsverfolgten aus anderen Ländern hat diese Leistung maßgeblich befördert. Sein persönliches Engagement an der Bibelarbeit bestand nicht allein in finanziellen Zuwendungen und Garantien, im Einsatz für die im Schloss ein- und ausgehenden Mitarbeiter und Zuarbeitenden, sondern auch direkt durch seine Übersetzung der umfassenden, in die Kommentierung aufgenommenen Bibel-Auslegungen der Madame Guyon.61 Diese Kommentarbasis bleibt in Umfang, Auswahl und Genauigkeit, aber auch in der mengenmäßigen Verwendung und im Grad des Einflusses auf die Verserläuterungen noch genauer zu untersuchen.62 So wissen wir auch nicht, ob die unlängst von Johannes Burkardt aufgespürten (in meiner Titelliste der Berleburger Drucke also noch fehlenden) Publikationen der Guyonschen Bibel-Erläuterungen Fleischbeins aus den Vierziger Jahren in Kenntnis und unter Nutzung dieser landesherrlichen Vorarbeit entstanden sind.63 60 Biogramm und Literaturhinweise bei Ulf Lückel: Casimir, Graf zu Sayn-Wittgenstein-Berleburg (1687–1741). In: Wittgensteiner Pietismus in Portraits (wie Anm. 11), S. 113–122. Vgl. zu seiner Epoche im Überblick (mit Lit.) Hans Schneider: Der radikale Pietismus im 18. Jahrhundert (wie Anm. 9), S. 160–167 und 192–195 (Abschnitt „Berleburg und die Spätblüte der philadelphischen Bewegung“). 61 Für den historischen und frömmigkeitsgeschichtlichen Kontext vgl. Schrader: Pietistisches Publizieren unter Heterodoxieverdacht (1988, L 14), im vorliegenden Band S. 261–283 sowie ders.: Madame Guyon, Pietismus (2002, L 27), im vorliegenden Band S. 419–456. 62 Der französische Guyon-Text und exemplarische Ableitungen in der Bibel sind minutiös verglichen in der Studie von Jean-Marc Heuberger: Les commentaires bibliques de Madame Guyon dans la „Bible de Berleburg“. In: La Bible / la crois8e des savoirs. Hg. von Maria-Cristina Pitassi. In: Revue de Th8ologie et de Philosophie 133 (2001), S. 303–323. Auf Casimirs Handschrift im Berleburger Schlossarchiv wird dort S. 305 hingewiesen, sie und die Art, wie der gedruckte Kommentar zur Bibel damit umgeht, sind aber auch hier nicht eingehend untersucht. Heuberger zitiert aus dem Manuskript nur Casimirs Eintrag zum Hohelied (AT-Kommentar-Bd. III, wie Anm. 17, S. 1940): „Das hohe Lied Salomonis habe ich nicht vertiert [übersetzt] dieweil es schon auf Teutsch durch jemand anderes übergesetzt und gedruckt worden ist.“ Gerade das Hohelied wird dann aber in der Bibel, Bd. III, 1730, Vorrede S. 741–743, typologisch auf die Prophezeiungen der Apokalypse bezogen, dabei (S. 743) der Beginn der Philadelphischen Zeit auf das Jahr 1722 berechnet. 63 Die Titelkopien der auf dem Antiquariatsmarkt aufgefundenen Bände (nachzutragen bei
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Spätestens 1718 fand sich in eigener geschlossener Formation im Weiler Homrighausen eine starke Gruppe der kurz zuvor aus Separatisten in der büdingischen Wetterau zusammengewachsenen Gemeinschaft ein, der ,Inspirierten‘ oder ,Prophetenkinder‘. Sie wurden von vielen wegen des neuerwachten Geists der Weissagung und der vermeintlichen Neubekundung Gottes durch den Mund der von ihm erwählten ,Werkzeuge‘ zunächst als die endlich wahre Erfüllung des endzeitlichen Philadelphia begrüßt. Öffentliche, in Gottesanreden gipfelnde Sing- und Gebetsversammlungen haben sie häufig auch in Schwarzenau und Berleburg gehalten. Unter ihrem Gemeindeleiter Eberhard Ludwig Gruber und ihrem führenden (bald einzig verbleibenden) Propheten Johann Friedrich Rock entwickelte sich die Inspirationgemeinde aber bald wie schon die Neutäufer zu einer abgeschlossenen Sondergruppierung im Zentrum wütender Polemiken, mit scharfer Gemeindedisziplin nach innen und Abgrenzung bzw. missionarischer Proselytenwerbung nach außen. Mehrere der führenden Berleburger Philadelphier, der Bibelübersetzer Haug und sein zeitweilig die Druckerei leitender Vater, der Hofarzt und FamaHerausgeber Carl und noch der kurzzeitige Mitarbeiter an beiden Projekten Edelmann, haben zuvor eine Weile den Inspirierten angehört und sind ihnen nach quälenden Ablösungsprozessen entlaufen. Namentlich die vom Propheten Rock als Gottesrede ausgestoßenen massiven Disziplinierungsversuche Johann Samuel Carls, dem als Witwer unter Vorhaltung des einem Wiedergeborenen unwürdigen fleischlichen Sündenstands der Ehe zuerst eine Neuverheiratung mit einer reichen Heilbronner Witwe hintertrieben, dann aber eine Verbindung mit dem Berleburger Hoffräulein Johanna Sophie von Bülow massiv widerraten wurde, zeigen ein vollkommenes Heraustreten aus dem philadelphischen Gemeinschaftsgeist über trennende Auffassungen hinweg, damit „die massive Intoleranz des inspirierten Absolutheitsanspruchs“.64 1711 fand diese Hochzeit dann doch als eine ohne geistliche Schrader: Literaturproduktion [1989, L 1], S. 220) danke ich Johannes Burkardt: „Das Buch Hiobs, erklärt von Madame Guion. In frantzösischer Sprach geschrieben / und nun treulich ins Teutsche übersetzt. […] Berlenburg / gedruckt bey Christoph Michael Regelein. 1743.“ und „Das Alte Testament mit Erklärungen, das Innere Leben betreffend, von Madame Jeanne Bouviere de la Mothe Guion. In zwölff Theile eingetheilet […] Aus dem Frantzösischen in die Teutsche Sprache übersetzt. Gedruckt im Jahr JEsu Christi 1744.“ – mit Übersicht gewährendem Inhaltsverzeichnis S. 29 f. (Aus dem „Avertissement des Uebersetzers“, S. A2r, geht hervor, dass zuvor auch der Kommentar zur „Apocalypsis in teutscher Sprach“ veröffentlicht wurde). Vgl. dazu Knieriem und Burkardt: Gesellschaft (wie Anm. 50), S. 69 f. Ob – wie zu vermuten steht – alle diese gleich den anderen zwischen 1735 und 1740 ebenso ohne Druckortangabe erschienenen Mystikerdrucke noch in der Berleburger Offizin des Christoph Michael Regelein hergestellt worden sind, müsste durch Druckbildvergleich (incl. Zierleisten und Signets) mit seinen anderen Arbeiten dieser Jahre untersucht werden. 64 Hans Schneider: Der radikale Pietismus im 18. Jahrhundert (wie Anm. 9), S. 164. – Grundlegend für die Geschichte der Inspirierten und ihre Filialgemeinde im Wittgensteinischen sind namentlich Ulf Michael Schneider: Propheten der Goethezeit. Sprache, Literatur und Wirkung der Inspirierten, Göttingen 1995 (Palaestra, Bd. 297), Isabelle Noth: Ekstatischer Pietismus. Die
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Amtshandlung vom Bräutigam selbst vollzogene höchst spektakuläre Inspiriertentrauung in Anwesenheit der Grafenfamilie und des Inspektors Schefer, als höchstem geistlichem Würdenträger im Land, aber auch Rocks und anderer Inspirierter statt. Der Grund für die in diesem Fall besonders langwierigen und beidseitig traumatischen Auseinandersetzungen lag darin, dass Carl, der schon in seiner Jugend gemeinsam mit seinem Kollegen Dr. Brigel eine philadelphische Ärzte-Sozietät im nordwürttembergischen Kocher-Tal ins Leben gerufen hatte,65 als prominenter Isenburgischer Hofarzt und Literat zugleich in der Wetterauer Gemeindeleitung engagierter Ältester einer Filialgemeinde, regelmäßiger Prediger und Schriftausleger, Missionsreisender bis in die Schweiz und fallweise auch Prophetenschreiber, eine Art VorzeigeInspirierter war, den man nicht leicht ziehen lassen wollte – und der auch selbst in der Ablösungsphase immer wieder von der prophetischen Gewissensrührung erschütterbar blieb. So trafen ihn die Vorwürfe hart, er sei durch fleischliche Verführung zum „weibischen Mann“ und aus Ehrsucht „Creutz=flüchtig“, zum hochmütigen „Zäncker“ und (besonders nach seiner Wegberufung an den Kopenhagener Hof) Fürstenknecht geworden. Als die anfänglich um Ausgleich bemühte neue Frau Carl sich weigerte, den Inspirierten beizutreten, folgten Anfeindungen und Repliken in aller Öffentlichkeit
Inspirationsgemeinden und ihre Prophetin Ursula Meyer (1682–1743), Göttingen 2005 (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus, Bd. 46), insbes. S. 102–116, 272–286, Konstanze Grutschnig-Kieser : Der „Geistliche Würtz= Kräuter= und Blumen=Garten“ des Christoph Schütz. Ein radikalpietistisches „Universal-Gesang=Buch“, Göttingen 2006 (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus, Bd. 46), insbes. S. 174–232. Vgl. die Artikel von Andreas Kroh: Gruber. In: Wittgensteiner Pietismus in Portraits (wie Anm. 11) und Ulf Lückel: Johann Friedrich Rock (1678–1749), ebd., S. 107–112, sowie die Edition der Selbstzeugnisse des führenden Inspirierten-Propheten, Johann Friedrich Rock: Wie ihn Gott geführet und auf die Wege der Inspiration gebracht habe. Autobiographische Schriften. Hg. von Ulf-Michael Schneider, Leipzig 1999 (Kleine Texte des Pietismus, Bd. 1). Aufschlüsse zur Verbreitung radikalpietistischer Literatur durch die regelmäßigen Missionswanderungen der Inspirierten, namentlich in die Schweiz, auch in Schrader: Inspirierte Schweizerreisen (2000, L 24), im vorliegenden Band S. 517–546 sowie ders.: Sphärensprünge (2004, L 36), S. 98–102, und ders.: Traveling Prophets (2009, L 42), im vorliegenden Band S. 575–590. 65 Der Sozietätsgründer neben Carl, der zufolge des „Catalogus amicorum in Germania“ der Londoner Philadelphischen Sozietät später in Wetzlar tätig war, bleibt in der Literatur allgemein ohne Vornamen. Nicht vollends gesichert ist meine Erwägung (Literaturproduktion [1989, L 1], im vorliegenden Band S. 48), es könne sich um den offenbar ebenfalls zur pietistischen Medizin tendierenden Johann Matthäus Brigel aus Reutlingen handeln, der 1688 in Tübingen eine (auf Griechisch) an Christus als unseren Arzt adressierte „Dissertatio medica De Clysmatibus“ (über das Klistieren) vorgelegt hat und dessen Vater Gottfried Brigel laut Widmung eine Apotheke in Reutlingen betrieb. Es könnte sich jedoch auch um den Bietigheimer Stadtphysikus Dr. Leonhard Brigel gehandelt haben, der mit dem Handwerker-Wanderprediger Johann Georg Rosenbach ebenso in Verbindung stand wie dann auch mit Carl und Andreas Gross. Vgl. Eberhard Fritz: Radikaler Pietismus in Württemberg. Religiöse Ideale im Konflikt mit gesellschaftlichen Realitäten, Epfendorf/Neckar 2003 (Quellen und Forschungen zur württembergischen Kirchengeschichte, Bd. 18), S. 75 f.
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und schließlich der Bruch.66 Erst 1728 ist Carl, der zuvor von Büdingen aus nur fallweise im Berleburger Schloss tätig geworden war, wenn die gräfliche Familie seines consilium medicum bedurfte, für acht Jahre fest nach Berleburg übersiedelt. Von hier aus hat er 1730 seine vielbeachtete, über pietistische Zeitschriften und Erbauungsbücher verbreitete Philadelphische Einladung zu einer gewissen Gebehts=Versammlung im Geist67 und dann auch die Geistliche Fama ausgesandt und neben theologisch-spekulativen Schriften einen Zusatzband zur Reitzschen Historie Der Wiedergebohrnen betreut, die mit ihren Zeugnissen der Erweckung und exemplarischen christlichen Lebensweise in den unterschiedlichen religiösen Lagern eine Art Philadelphia in Buchform darstellte.68 Auch an der Bibelarbeit dürfte Carl beteiligt gewesen sein.69 Insofern die Inspirierten jene Wanderpropheten, die nicht zu ihrer Gruppe gehörten, als vom Teufel verführte Falschinspirierte bekämpften, war der Konflikt auch vorprogrammiert mit dem literarisch hochproduktiven Tobias Eisler, der bis zum Fortzug nach Helmstedt 1735 für eine Weile nach Berleburg
66 Näheres bei Ulf-Michael Schneider: „Strohkram und Wage“. Johann Samuel Carl in seinem Verhältnis zu den Inspirierten. In: Pietismus und Neuzeit 16 (1990), S. 76–101. 67 Ein Exemplar der bislang für verschollen geltenden vierseitigen Flugschrift von 1729 habe ich im ,Fonds des .mes int8rieures‘ der BCU Lausanne auffinden können, vgl. Schrader: Goethes Verbindung zum mystischen Quietismus (2016, L 57), S. 45 und S. 50 ff. Nachgedruckt wurde dieses fliegende Blatt in einem anonymen Erbauungsbuch: Schule des Heiligen Geistes. Das ist, eine deutliche Beschreibung der Gnaden=Wirkungen des Heiligen Geistes […]; Nebst einer Philadelphischen Einladung zu einer gewissen Gebets=Versammlung im Geist, o.O. 1730. Vgl. die ausführliche Besprechung in: Zuverläßige Nachricht von den Büchern der Privilegierten Buchhandlung des Waysenhauses zu Züllichau, Züllichau 1740, S. 80 f. Dann erneut abgedruckt in der unter Pietisten weit verbreiteten Zeitschrift: Supplementa der Auserlesenen Materien zum Bau des Reichs Gottes 1 (1737), S. 32–34. Ulf Lückel: Carl. In: Wittgensteiner Pietismus in Portraits (wie Anm. 11), S. 39, zitiert diese Schrift, allerdings ohne näheren Nachweis (vielleicht eine Neuauflage der Flugschrift im Bad Berleburger Schlossarchiv?), als eigenständige Druckschrift „Berleburg 1730“. 68 Zu Carls publizistischer Arbeit in Berleburg vgl. (mit Lit.) bereits Schrader : Literaturproduktion (1989, L 1), S. 90–93, 402–404 (und vgl. Reg.), ders.: Johann Samuel Carl (1979, L 61), im vorliegenden Band S. 625–631 sowie die (seither erweiterte) Serie der medizingeschichtlichen Spezialstudien (vgl. auch Anm. 45) von Christa Habrich: La m8decine entre Hippocrate et J8susChrist: M8decins et patients pi8tistes. In: La Bible / la crois8e des savoirs (wie Anm. 62), S. 325–342; dies.: Alchemie und Chemie in der pietistischen Tradition. In: Goethe und der Pietismus. Hg. von Hans-Georg Kemper und Hans Schneider, Tübingen – Halle 2001 (Hallesche Forschungen, Bd. 6), S. 45–77; dies.: Von der Alchemie zur Förderung der chemischen Wissenschaft und Technik. Goethe zwischen hermetischem Denken und Pragmatismus. In: Von der Pansophie zur Weltweisheit. Goethes analogisch-philosophische Konzepte. Hg. von Hans-Jürgen Schrader und Katharine Weder, Tübingen 2004, S. 9–29. 69 Ein von Hans Schneider mitgeteilter Brief Carls vom 9. August 1730 im Herrnhuter Unitätsarchiv begründet den Plan, „monatlich eine geistliche Fama von geistlichen neuigkeiten, göttlichen führungen, erweckungen, wegen, gerichten, wercken zusammenzubringen“ geradezu aus diesem Bibel-Engagement: „Bey unserer Bibel-Arbeit […] wollen oft gute freunde um nachricht anhalten, wie es um das reich Christi stehet.“ Hans Schneider: Der radikale Pietismus im 18. Jahrhundert (wie Anm. 9), S. 193 f.
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gekommen war, aber eifrig dem Nürnberger Wanderpropheten Johann Tennhardt zugetan blieb, dessen Briefe er 1730 auch ediert hat.70 Das Gedeihen des Bibelwerks wie überhaupt der literarische Widerhall und die nachhaltige Wirkung der wittgensteinischen Pietistengemeinschaft war entscheidend mit der Zuwanderung der Familie Haug zu Beginn der Zwanziger Jahre verbunden. Der Hauptübersetzer und Kommentator der Bibel, Johann Friedrich Haug,71 war schon als Straßburger Theologiestudent 1704/05 treibende Kraft einer philadelphischen Separatistenvereinigung im Elsaß gewesen. Als Korrektor in der Druckerei seines Vaters David Haug in Idstein/ Taunus und Mitarbeiter im von seinem Bruder dort gegründeten radikalpietistischen Buchhandels- und Verlagsunternehmen hat er 1710 eine Kampfschrift zum Ausgang aus dem Babel des verfassten Kirchenwesens, Theosophia pneumatica (mit dem auch einzeln verbreiteten Neudruck des programmatischen Traktats Ein wichtiges Gespräch vom Kirchen=Gehen und Predigt=Hören), herausgebracht.72 Nach der eher lautlosen Ablösung von den Inspirierten hat er in Berleburg seine ganze Kraft in die wissenschaftliche, arbeitspraktische, organisatorische und auch finanzielle Planung und Ausführung des Bibelwerks investiert. Dafür und für die Weiterführung der 1714 als „Hoff=Buchdruckerey“ gegründeten, 1722 dem Waisenhaus unterstellten und durch Pächter betriebenen, schließlich elf Jahre später privatisierten Berleburger Druckerwerkstatt hat sein greiser Vater drei Jahre lang vom 76. Lebensjahr bis kurz vor dem Tod nochmal das alte Handwerk ausgeübt. Für 70 Vgl. die Angaben nach der ,Berleburger Chronik‘, in Schrader: Literaturproduktion (1989, L 1), S. 412, zur Tennhardt-Briefausgabe ebd., S. 377, 403, über Eislers kryptonym herausgegebene Sammelbiographie „Merkwürdige und Erbauliche Exempel und Lehren Rechtschaffener Taht=Christen“, Büdingen 1719–1722, ebd. S. 496 und detaillierter in Schrader: Nachwort des Herausgebers. In: Reitz: Historie Der Wiedergebohrnen. Neudruck (1982, L 2), Bd. 4, S. 131*f. Im Lebensabriss bei Friedrich Braun: Joh. Tennhardt. Ein Beitrag zur Geschichte des Pietismus, München 1943, S. 125–130, ist die Berleburger Zeit übergangen. Eislers oft kolportierte Mitwirkung an der ,Berleburger Bibel‘ ist von Martin Brecht: Die Berleburger Bibel (wie Anm. 15), S. 180, sicher zu Recht in Frage gestellt, vgl. Hans Schneider: Der radikale Pietismus im 18. Jahrhundert (wie Anm. 9), S. 193. 71 Lebensabriss von Andreas Kroh in: Wittgensteiner Pietismus in Portraits (wie Anm. 11), S. 66–72. Vgl. für sein philadelphisches Engagement und seine Bemühung um radikalpietistische Schriftenmission bereits in Straßburg und Idstein sowie seine zentrale Rolle bei der Ausarbeitung des Berleburger Bibelwerks, auch als Inspektor des Waisenhauses, zu dem zeitweilig die Druckerei gehörte, Schrader: Literaturproduktion (1989, L 1), vgl. Register, insbes. S. 71 f. mit Anm. S. 382 f., 126–129, 169, 189–191, 433 f., 454, 469–471, zur Gründung einer philadelphischen Gemeinschaft Michaela Scheibe: Rekonstruktion einer Pietistenbibliothek. Der Büchernachlass des Johann Friedrich Ruopp in der Bibliothek der Franckeschen Stiftungen, Tübingen 2005 (Hallesche Quellenpublikationen und Repertorien, Bd. 8), S. 1–4 und 10–14, und die Rezension von Schrader: Scheibe: Rekonstruktion (2005, L 66), im vorliegenden Band S. 657–663. 72 Nähere Hinweise in Schrader: Die Sprache Canaan, Auftrag der Forschung (2005, L 38), im vorliegenden Band S. 240, 256 f.; vgl. bereits ders.: Vom Heiland im Herzen (1994, L 19), im vorliegenden Band S. 130 f. sowie insbes. ders.: Haugs radikalpietistischer „Studenten=Gesang“ (2011, L 46), im vorliegenden Band S. 639 f.
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die Verbreitung dieser Drucke, überhaupt für den großräumigen Bücher- und Literaturaustausch zwischen den unterschiedlichsten pietistischen Verlagsunternehmungen und Erwecktengruppen, anstoßgebend auch für die Herstellung und Verbreitung pietistischer Bücher unter den frommen deutschen Auswanderern nach Nordamerika, hatte als Verleger und Buchhändler die größte Bedeutung sein Bruder Johann Jacob Haug.73 Für die Rekonstruktion dieses gesamten Spezialbuchmarkts, freilich auch hier wieder die verschiedenen internen Frontstellungen und Friktionen in den 1720er und 1730er Jahren, sind seine im Berleburger Schlossarchiv erhaltenen gedruckten Sortimentskataloge von größter Bedeutung.74 Das Druck- und das Verlagsunternehmen ist neben der landesherrlichen Förderung die entscheidende Voraussetzung, dass Berleburgs Philadelphia alle übrigen so entschieden überstrahlen und so viele produktive und renommierte Heterodoxe anziehen und einbinden konnte. Weit über hundert Drucke aus der Berleburger Offizin haben, teils im Auftrag des Haug-Verlags, teils durch die Verbreitung über den Haug-Buchhandel, die Stimmen aus Philadelphia überregional hörbar gemacht. Die wichtigsten Großunternehmungen waren dabei neben dem Bibelwerk und der Fama die sechste und siebte Auflage der auf sieben Teile anwachsenden Historie Der Wiedergebohrnen (der letzte Band, ebenso wie die große postume Werkausgabe Johann Conrad Dippels von 1747, wurde von Carls Nachfolger als Hofmedicus, Johann Conrad Kanz, betreut), sodann, auch in sieben Bänden, die deutsche Ausgabe von Pierre Poirets Oeconomie divine, an der der Bibel- und Fama-Mitarbeiter Johann Christian Edelmann mitgewirkt hat (im 1. Teil, 1737 kryptonym als Übersetzer hervortretend, der „Jn Christlicher Einfalt Wahrheit sucht“ [Johann Christian Edelmann aus Weißenfels]), schließlich die Serie der Mystikerdrucke aus der Feder und dem guyonistischen Autoritätenkreis Marsays, übersetzt und finanziert von Fleischbein. Streitbare Geister und Unruhestifter in der Friedensversammlung sind die meisten Genannten gewesen, Marsay etwa zieht auf französisch wie auf deutsch gegen den „Esprit de l’Inspiration“ bzw. „Inspirations=Geist“ los und verkündet neben der guyonistischen Mystik allerlei krause hermetisch-magische Sonderlehren. Mehrere der Autoren gehören zu den letzten nach Berleburg Zugewanderten: der theologisch-systematisch eigenständige Gottfried Arnold-Freund Johann Conrad Dippel, ein begabter Polemiker im 73 Für seine Lebensleistung mit den Verlags- und Buchhandelsunternehmen in Idstein und Berleburg grundlegend: Schrader : Literaturproduktion (1989, L 1), vgl. Register, insbes. S. 163–165, 175–178, 227–238, 448–450, 461–463, 474–482, für den eng mit ihm kooperierenden pietistischen Buchmarkt im kolonialen Nordamerika ebd., S. 223–227, 475–477. Kurzbiogramme von Johannes Burkardt: Johann Jacob Haug. In: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon, Bd. 19, Nordhausen 2001, Sp. 635–637, sowie in: Wittgensteiner Pietismus in Portraits (wie Anm. 11), S. 166. 74 Nachweis in Schrader: Literaturproduktion (1989, L 1), S. 209 und 219, Auswertung S. 229–238, 478–482.
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Übergang zur Aufklärung, neben seiner Medizinaltätigkeit aber auch notorischer Alchimist, kam erst 1729 für seine letzten fünf Jahre hierher.75 Im Jahr darauf kam für drei Jahre als gemäßigter Hallenser Pietist – berufen zum lutherischen Hofprediger für Casimirs Gemahlin – Adam Struensee, der durch die Atmosphäre am Hof und die Ehe mit einer Tochter Carls seine zuvor schroffe Ablehnung des Separatismus milderte, doch lebenslang in Kirchenämtern verblieb.76 1732 noch kam der schon genannte Victor Christoph Tuchtfeld, der intensiv an einer philadelphischen Sozietät im Oberharz mitgearbeitet hatte und als wandernder Bußprediger immer wieder in Gefangenschaft gezogen war. Gleichwohl und trotz seiner wütenden Kirchenkritik setzte ihn Graf Casimir als Prediger für die Angehörigen aller drei Konfessionen bei Hof und im Lande ein.77 Der letzte schließlich unter den Zionankömmlingen war der auf Haugs Einladung erst 1736 nach Berleburg gekommene Edelmann, auch ein Arnold-Anhänger.78 Hitzige Auseinandersetzungen provozierte er in den vier Jahren seines Hierseins nicht nur durch gichtelianische Askese-Lehren, die Bestreitung des Status eines wiedergeborenen Christen gegenüber jedermann, da ein solcher nicht mehr der Sünde unterworfen sei, sondern auch durch seine hochfahrende Zurückweisung jeder um die Einheitlichkeit des Kommentars besorgten redaktionellen Bearbeitung seiner Bibelexegesen. Nachdem er sich bei Inspirierten, asketischen Mystikern und Herrnhutern umgetan und mit ihnen zerstritten hatte, fiel er durch ein 75 Der Artikel von Tobias Kaiser : Johann Konrad Dippel. In: Wittgensteiner Pietismus in Portraits (wie Anm. 11), S. 42–50, stellt dessen Theologeme ebenso klar heraus wie die um ihn entbrandenden Fehden. Ausführlicher Hans Schneider: Der radikale Pietismus im 17. Jahrhundert (wie Anm. 7), S. 406, 410 und 416 f., sowie ders.: Der radikale Pietismus im 18. Jahrhundert (wie Anm. 9), S. 155 f. und 168 f., 188 f. – Zum Berleburger Druck seiner „Grund=Lehren“ und auch zur Herausgabe der großen Werkausgabe durch Johann Conrad Kanz vgl. Schrader: Literaturproduktion (1989, L 1), S. 102–105, 416–418 und vgl. Register. 76 Kurzbiogramm und Lit. in: Wittgensteiner Pietismus in Portraits (wie Anm. 11), S. 177–179, vgl. Johannes Burkardt: Reformierte, Lutheraner, Pietisten (wie Anm. 23), S. 91–93. 77 Tuchtfeld-Artikel (mit Lit.) von Andreas Kroh in: Wittgensteiner Pietismus in Portraits (wie Anm. 11), S. 153–156. Ausführlicher (mit Lit.) Hans Schneider: Der radikale Pietismus im 18. Jahrhundert (wie Anm. 9), S. 164–167 und 194 f. („Christoph Seebach und Victor Christoph Tuchtfeld“). Zu Tuchtfeld, dem in keiner der protestantischen Enzyklopädien ein eigener Artikel gewidmet wurde, informieren neuerdings detaillierter Hannelore Lehmann: Das Tuchtfeldsche Soldatenkonventikel in Potsdam 1725/27. Erziehung zum frommen Soldaten oder „Verleidung“ des Soldatenstandes? In: Militär und Religiosität in der Frühen Neuzeit. Hg. von Michael Kaiser und Stefan Kroll, Münster 2004, S. 279–286, 292, Johannes Burkardt: Berleburg – Mühlhausen – Bielefeld – Hamburg: Eine Reise des Radikalpietisten Victor Christoph Tuchtfeld im Jahr 1733. In: Jahrbuch für Westfälische Kirchengeschichte 110 (2014), S. 73–90, hier insbes. S. 73 f., 76 f., 78, 86–90, mit weiteren Literaturhinweisen auch Schrader: Lutherisch-reformierte Konfessionsirenik (2018, L 58), insbes. S. 99–101. Zu Tuchtfelds philadelphischen Versammlungen im Harz vgl. Manfred Jakubowski-Tiessen: Religiöse Konflikte und soziale Proteste. Bergarbeiterunruhen und radikalpietistische Bewegungen im Oberharz im 18. Jahrhundert. In: Jahrbuch der Gesellschaft für Niedersächsische Kirchengeschichte 94 (1996), S. 123–138, hier 124–126. 78 Für Edelmann in Berleburg vgl. (mit Lit.) Tobias Kaiser: Johann Christian Edelmann (1698–1767). In: Wittgensteiner Pietismus in Portraits (wie Anm. 11), S. 51–60.
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Erweckungserlebnis der radikalen Aufklärung zu und wurde zum satirischen Spötter wider alle Religion. Wenn 1739 im Apokalypse-Kommentar der ,Berleburger Bibel‘, wie eingangs zitiert, die schon sichtbar gewesene Türöffnung und der Vorschein Philadelphias als aufs äußerste bedroht, wenn nicht gar katzenjämmerlich schon als verloren angesprochen wurde, dann liegt das nicht allein an dem hier skizzierten fortgeschrittenen Zerfall der Gemeinschaft in Personalfehden, Missgunst und Vereinzelung. Die Ernüchterung vielmehr war dadurch gesteigert, dass auch noch ein letzter hoffnungsfroh begonnener Versuch, gerade auch die widerspenstigsten Einzelgänger in eine Liebesgemeinschaft mit haltbaren Strukturen und Zuständigkeiten zusammenzuführen, als Strohfeuer zerstoben war und größere Zerstörung als die vorgefundene zurückgelassen hatte. Mit seinem mitreißenden Charisma im raschen Wechsel zwischen adligen Herrschafts- und brüderlichen Demutsgebärden, auch der entsprechend fremdtönenden Sprachmischung aus französischem Hofjargon und Kanaansidiom, hatte der seit der Kindheit für philadelphische Ideen aufgeschlossene Graf Zinzendorf im September 1730 sowohl in Berleburg als auch in Schwarzenau die verstreuten Erweckten in überfallartiger Charme-Offensive zu einer Liebesverbindung zusammengezogen.79 In Schwarzenau mit Hilfe Marsays und der Wittgensteiner Gräfin Henriette, ihrer Schwester Sophie von Castell und des Inspektors Keßler, in Berleburg mit Unterstützung des gräflichen Standesgenossen Casimir und seiner Frau Esther-Polyxena, seines Leibarzts Carl und des Inspektors Schefer gelang es ihm in mehrtägig hochgestimmten Gebets- und Ermahnungsversammlungen, eine freie Gemeinde mit festen Statuten auszurufen. Mit dem Zuweisen von Gemeindeämtern sollten gerade die unverträglichsten Einzelgänger eingebunden werden. Die verfeindeten Seebach und Dippel konnten so wie Marsay und Carl, selbst der reformierte Zweite Pfarrer Wilhelm Abresch, kurzfristig in eine Gemeindedisziplin gezogen werden. Ein ähnlich enthusiastischer Zusammenschluss Zinzendorfs zwischen den Herrnhutern und den Inspirierten in der Wetterau hielt sogar ein paar Jahre länger, immerhin wurde der Prophet Rock zum Taufpaten für sein Töchterlein geladen, während ein entsprechender Vereinigungsversuch der Separatisten in Frankfurt um Andreas Gross wie der in Berleburg rasch verpuffte. Denn Zinzendorf konnte sich Philadelphia nicht anders als in Herrnhuter Formen denken. Vor jeder Konsolidierung war er, stets volatil, schon wieder anderwärts missionstätig, wo er gewachsene Strukturen ebenso wenig kannte. Die zur Pflege der gestifteten Verbindungen 79 Auf diesen Missionsbesuch fokussiert der Artikel von Ulf Lückel in: Wittgensteiner Pietismus in Portraits (wie Anm. 11), S. 159–163, umfassender Werner Wied: Berleburg und Herrnhut. Der Besuch des Grafen Zinzendorf in Berleburg im Spiegel des Grafen Casimir von Berleburg. In: Wittgenstein, Jg. 69, Bd. 45 (1981), S. 95–116. Vgl. Hans Schneider: Nikolaus Ludwig von Zinzendorf als Gestalt der Kirchengeschichte. In: Graf ohne Grenzen. Leben und Werk von Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf. Hg. von Paul Peucker [u. a.], Herrnhut 2000, S. 10–29, hier 20.
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entsandten Emissäre aber sollten und wollten diese ebenso in Herrnhut-Filialen umformen, wie die Besten der zusammengefangenen Separatisten sogleich ins weltweite Netz der Herrnhuter Mission eingeflochten werden sollten. So entluden sich vorhersehbar in kürzester Zeit die heftigsten Friktionen und ein wütender Streitschriftenkrieg aller sich in ihren Hoffnungen getäuscht Sehenden gegen den missionssüchtigen Grafen und von ihm mit nicht geringerer Selbstgerechtigkeit und Gehässigkeit gegen jeden von ihnen. So blieb es in Berleburg bei dem Beisammenleben philadelphisch Gesonnener ohne eine philadelphische Vereinigung noch bis zur mühsamen (kaum mehr hoffnungsfrohen) Vollendung des Bibelwerks. Mit dem Tod des erst 54jährigen Zionsbeschützers Graf Casimir bald darauf im Juni 1741 und dem Regierungsantritt seines aufklärerisch gesonnenen und mehr an Lustspielen als an philadelphischer Verbrüderung interessierten Sohns Ludwig Ferdinand war das Experiment zweier Generationen ohnehin abgebrochen, zugleich aber auch die überregionale Bedeutung und Ausstrahlungskraft Berleburgs für alle Zeit verspielt. Die Gründe, die zum Scheitern der Utopie in der Praxis geführt haben und zweifellos führen mussten, seien zum Abschluss knapp resümiert. Als Grundlage des Werbens um Einigkeit in der Verschiedenheit zum Bau des Reichs Gottes hatte die Geistliche Fama ein Motto von Hugo Grotius ins Titelblatt des 6. Stücks (Sarden, 2. Aufl., 1736) gesetzt: „Nulla est secta, quæ habet omne verum; sed non est secta, quæ non habet aliquid ex vero.“ Und noch am Ende der Arbeit, in der Allgemeine[n] Vorrede ihres III. Bandes von 1744, wurde als eine von keiner der Binnengruppen in Frage gestellte Autorität im gleichen Sinne Philipp Jacob Spener bemüht: es bleibet dabey, wie eben dieser selige Mann schreibet, daß alle Kinder GOttes, unter welchem Haufen sie auch stecken, Glaubens=Brüder sind, ob sie schon nicht alle miteinander Kirchen=Brüder seyn können, und der parteyische Sinn solche Wahrheit nicht einsiehet noch annimmt. [S. )(5r]
Die grundlegende Crux aber lag darin, dass das Ausgehen aus Babel die – nach Worten der Fama – „Separation und Absonderung von innen und aussen“80 gegenüber der ,Mauerkirche‘ mit ihren ,Weltkindern‘ und ,Mietlingen‘ oder ,Bauch-Dienern‘ voraussetzte. Dies aber verwehrte nicht nur faktisch gegen den eigenen Anspruch den Einbezug der in ihren Kirchen Verharrenden, sondern auch die Übernahme kirchlicher Riten und Formen, diskreditierte sogar jedes Bemühen um Kirchenreform als ,Babelsflickerei‘. Alle um ihres Gewissens willen zu Separatisten Gewordenen waren – abgesehen von einer besonderen Disposition unter solchen zu jeder Konsequenz bereiten Grundsatzaposteln zu Streitsucht und Verfolgungswahn – besonders sensibel gegen jede gewissensbindende Festlegung in einer neuen Gemeinschaft. Sollte philadelphische Überzeugung Zukunft gewinnen, musste sie in einen for80 25. Stück, 1739, S. 15.
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mellen Zusammenschluss mit festen Regeln und Zuständigkeiten münden. Aber genau dadurch – das zeigen die daraus real erwachsenen Zusammenschlüsse der Buttlarschen Sozietät, der Schwarzenauer Täufer, der Inspirierten wie schließlich der freien Gemeinden nach dem Muster Herrnhuts oder der quietistischen Hausgemeinschaft – waren sie wieder zu einer ,Sekte‘ mit verbindlichen Bekenntnissen geworden. Die aber brachte nicht nur wegen des eindeutigen Verstoßes gegen das Verbot jeder ,quarta species religionis‘ in der Reichsverfassung den landesherrlichen Schutz in Gefahr, sie stieß vielmehr durch ihre inhaltlichen Festlegungen einen jeweils überwiegenden Teil der überzeugten Separatisten zurück. Und sie zerschnitt, insofern die Einigung auf gemeinsame Positionen immer sofort Missionsaktivitäten hervorrief, die Harmonie mit den Andersdenkenden, nicht Anschlusswilligen. Zwischen denen aber gab es in just den Spezialüberzeugungen, die sie in die Separation getrieben hatten – in den Fragen von Gottesdienstpraxis und Sakramenten, namentlich der Taufe, im Gottes- und Trinitätskonzept und in der Bereitschaft zur Annahme göttlicher Offenbarungen, in Askese, Ehe- und Sexualauffassungen, im Bild von Wiedergeburt und Weg zum Heil, schließlich in der Integrationsbereitschaft von magischer und alchimistischer Praxis und in der endzeitlichen Theorie und Verortung –, vollends unausgleichbare Inkompatibilitäten. Solche Auffassungsunterschiede aber waren eben nicht im Namen der beschworenen Toleranz ausgleichbar, weil in jedem Fall geradeso wie in der Auseinandersetzung mit den Kircheninstitutionen die Frage einer Anordnung und Einsetzung durch Gott oder aber eines Stör- und Zwietrachtmanövers eines noch fest geglaubten und in jeder Auseinandersetzung als Totschlagargument an die Wand gemalten leidigen Satans zur Diskussion stand, mit dem der geringste Ausgleich ins Verderben führen musste. Berleburg betreffend, sind es aber nicht die inneren Widersprüche und die menschliche Fallibilität im Umgang mit Philadelphia, die Geschichte gemacht haben – es ist vielmehr die Schönheit und Größe der Utopie, der hier mit erstaunlicher Dauer und Wirkungskraft die Tür geöffnet wurde. Der Durchblick durch diese Tür auf ein unverlierbares Ideal aber hat die Welt und unser Denken ein gutes Stück weiter gebracht.
Carl, Johann Samuel (1677–1757) [1979, L 61]
CARL, Johann Samuel, getauft 16. 8. 1677 (nach eigener Angabe geboren 1676) Öhringen, Hohenlohe, gestorben 13. 6. 1757 Meldorf, Süderdithmarschen; ev.luth., zeitweise Inspirierter und Separatist. – Arzt, radikalpietistischer Schriftsteller, Organisator philadelphischer Gemeinden. Eltern: Johann Ernst Carl (1653–1706), Apotheker in Öhringen; Anna Maria, Tochter d. Lateinpräzeptors am Böhringer Gymnasium Johann Conrad Rapp. Ehefrau: 1.) Rosina Dorothea, gestorben vor 1721 Büdingen (?); verheiratet 1704 Wertheim; Tochter des Wertheimer Kammerrats Christian Scheller. 2.) Johanna Sophie von Bülow, geboren 1684/85, gestorben 1733 Berleburg; verheiratet 17. 12. 1726 Berleburg (durch Carls selbst vollzogene Inspiriertentrauung); Hoffräulein der Berleburger Gräfin Maria Esther Polyxena. Kinder : Zwei Söhne: Johann Christian, geboren ca. 1712 Büdingen, gestorben 1762 Meldorf, Süderdithmarschen, Arzt; und August Ernst, geboren ca. 1713 Büdingen, Arzt (immatrikuliert Universität Halle 1730); eine Tochter : Maria Dorothea, geboren 31. 7. 1716 Büdingen, gestorben 31. 12. 1792 Schleswig, verheiratet 8. 5. 1732 Berleburg mit Adam Struensee. Bereits im elterlichen Apothekerhaus, das pietistischen Konventikeln, aber auch umherziehenden Laboranten offenstand, geriet Carl unter den Einfluß exponiert religiöser und alchimistischer Ideen. Der Vater erteilte ihm pharmazeutisch-chemische, der Gräflich Hohenlohische Leibarzt Hennicke medizinische Unterweisung. 1696 wurde Carl zum Medizinstudium an die pietistisch geprägte Universität Halle geschickt. Er zog ins Haus ihres damaligen Rektors, des Medizinprofessors Friedrich Hoffmann, bei dem er auch studierte und 1698 öffentlich disputierte. Stärker schloß er sich, wie viele religiöse Geister, dem jungen Chemiker und Medizinprofessor Georg Ernst Stahl an, dessen Lehre auf spekulativ-theosophischen Grundlagen basierte und hermetisch-alchimistische Elemente enthielt. Besonders beeinflußt durch Stahls medizinische Animismus-Lehre, derzufolge Krankheiten immer zugleich Erkrankungen der Seele und von dort her zu kurieren seien, wurde Carl sein gepriesener Meisterschüler, 1699 durch ihn promoviert, später Heraus-
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geber Stahlscher Schriften und Popularisator seiner Theorien. 1701 immatrikulierte er sich noch einmal in Straßburg, wo er an philadelphisch-separatistischen Konventikeln teilgenommen hat. Als Stadtphysikus in Öhringen (1704 Gehilfe der Kaiserlichen Akademie der Naturforscher) mußte sich Carl 1703 wegen Gemeinschaft mit dem schwärmerischen Sporergesellen Johann Georg Rosenbach verantworten. Auch anderen Separatisten gewährte er Unterschlupf. 1704 war er die treibende Kraft zur Gründung einer philadelphischen Sozietät erweckter Ärzte des württembergischen Unterlands und entwarf ihre Programmschrift: Jesus Immanuel. Schediasma de vera orthodoxia christiana. Genötigt, sich wegen Schwärmerei und alchimistischer Experimente zu rechtfertigen, lieferte Carl ein so heterodoxes Glaubensbekenntnis ab, daß er vom Abendmahl ausgeschlossen und mit Entlassung bedroht, offenbar wenig später des Landes verwiesen wurde. Gewissensfreiheit fand er im ysenburgischen Büdingen, wurde dort 1708 Hofarzt des Grafen Ernst Casimir, wobei er noch andere pietistische Höfe der Wetterauer Grafenbank (Linien der Häuser Isenburg/Ysenburg und Stolberg in Marienborn, Wächtersbach, Königstein/Ts. und Gedern) mitzuversorgen hatte und die vor- und nachuniversitäre Ausbildung von Ärzten und Apothekern leitete. 1714 schloß er sich der Sekte der Inspirierten an, weil er in ihr die Möglichkeit einer Sammlung der verstreuten Erweckten erblickte. Als ,Ältester‘ predigte er in ihren Versammlungen und begleitete mehrfach ihren visionären Propheten Johann Friedrich Rock auf Missionswanderungen zu den Gemeinden in der Wetterau, im Wittgensteinischen und nach Württemberg. Im Frühjahr 1726 reiste er zu Glaubensbrüdern bis in die Schweiz und ins Elsaß. Durch seine Stellung bei Hof und seine Verbindungen hat Carl wesentlich zur Konsolidierung der Inspiriertengemeinschaft beigetragen. Erhebliches Aufsehen erregte Carls Trauung im Berleburger Schloß mit dem Hoffräulein Johanna Sophie von Bülow am 17. 12. 1726, eine vom Bräutigam selbst geleitete, nur durch Händedruck der Brautleute besiegelte Zeremonie im Rahmen einer Inspiriertenandacht in Anwesenheit des Hofes. Gegen den Willen der Inspirierten folgte Carl im Mai 1728 dem Ruf des Grafen Casimir von Sayn-Wittgenstein als Hofmedicus nach Berleburg. Ein für beide Seiten quälender Lösungsprozeß Carls von den ,Prophetenkindern‘ (Streitschrift 1729: Abwägung des Feuers in der Inspirations-Sache, anscheinend unpubliziert) stellte die Übereinstimmung im Ziel nicht in Frage. Berleburg bot als Sammelplatz der Glaubensvertriebenen und religiösen Sonderlinge unter dem Schutz des pietistischen Grafen ideale Bedingungen für Carls geistliches Wirken zugunsten eines überregionalen, überkonfessionellen und außerinstitutionellen philadelphischen Zusammenhalts der Erweckten. Zu seinen Freunden, Konventikelbesuchern und Mitstreitern zählten neben dem Grafen selbst u. a. Charles Hector de Marsay, Johann Friedrich Haug, Johann Christian Edelmann, Tobias Eisler und Johann Conrad Dippel. In Berleburg verfaßte Carl zur Propagierung seiner Ideen zahlreiche (meist anonym publizierte) Erbauungsschriften (wichtig v. a. seine Fortsetzung [Teil VI, 1730] von Johann Henrich Reitz’
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Historie Der Wiedergebohrnen) und begründete das im radikalen Pietismus nachhaltig wirksame Organ der philadelphischen Sammlung Die geistliche Fama, deren erste 19 Stücke (bis 1736) er herausgab. Sie schuf durch Carls ausgedehnte Verbindungen über trennende Sonderlehren hinweg Zusammenhalt unter den exaltierten Gottsuchern in und außerhalb der Kirchen und Konfessionen – bis hin zu den anabaptistischen Exulanten in Amerika, deren Kirchengründer Conrad Beissel vor der Emigration von Carl betreut und durch körperlich-seelische Behandlung von schwerer Krankheit geheilt worden war. Versuche des Grafen Zinzendorf, der lockeren Berleburger Separatistengemeinschaft bei einem Besuch 1730 Statuten nach Herrnhuter Muster zu verordnen, scheiterten auch an Carls Widerstand gegen alle Satzungen. 1736 ließ König Christian VI. von Dänemark durch Vermittlung seines Vetters und pietistischen Mitstreiters Graf Christian Ernst zu Stolberg-Wernigerode Carl ans Krankenlager der Königin Sophie Magdalene nach Kopenhagen rufen. Eine dauerhafte Anstellung des suspekten religiösen Sonderlings sollte ausgeschlossen sein. Diesen Vorsatz revidierte der König bereits bei Carls Anreise in Altona. Denn der hier bei einem Inspektionsbesuch lebensgefährlich erkrankte Monarch sah sich durch Carls Behandlung umgehend geheilt. Im Sommer 1736 zum königlichen Leibmedicus ernannt, wurde Carl sogleich in eine Dreierkommission zur Schlichtung von Streitigkeiten zwischen der medizinischen Fakultät und dem Theatrum anatomico-chirurgicum entsandt. Sie sicherte ihm bedeutenden Einfluß auf medizinische Theoriebildung und Reformen des Gesundheitswesens im Gesamtstaat (1740 Gründung des Collegium medicum, 28. 8. 1739 Ernennung Carls zum dänischen Justizrat). 1740 entfesselte Carl einen politischen Skandal durch ein radikalpietistisches Pasquill Neue Klagen Mosis über des zweyten Israels Policey-Gesetze und Geschäfte (Anhang zur Medicina aulica, Altona 1740), das scharf mit Kirche, Obrigkeit, Heer und Kommerzwesen ins Gericht ging, als Satire gegen den dänischen Staat und Hofprediger Bluhme ausgelegt wurde und so den König kompromittierte. Als Carl, dessen Warnungen mißachtend, seine Angriffe durch neue mystisch-separatistische Traktate bekräftigte (Neue Klag-Lieder Jeremiae über die Hirten Israels […], zusammen mit den Klagen Mosis publiziert in Johann Samuel Carls bestrittene Zeugnisse […], Berleburg 1741, 2. Aufl. Frankfurt 1743), zudem durch persönliche Schroffheit, hartnäckige Weigerung, die verlangten Goldpulver und sonstigen Purgativarzneien der hippokratischen Schule zu verordnen und durch neugeknüpfte Kontakte zu den Herrnhutern die Ungnade des Königs provozierte, schickte ihn dieser Anfang 1742 mit einem Gnadengehalt in Pension und außer Landes, äußerte aber bereits im Sommer gegenüber dem Stolberger Vetter Reue über den zu raschen Entschluß. Der 64jährige Carl zog zu seinem Schwiegersohn Adam Struensee (1708–1791) nach Halle. Seinen Lebensabend verbrachte er bei seinem Sohn Johann Christian, der vorher Assessor am Theatrum anatomico-chirurgicum in Kopenhagen, seit 1740 Landphysicus in Eiderstedt und Dithmarschen war,
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Carl, Johann Samuel (1677–1757)
in Meldorf. Das Emporkommen und tragische Ende seines Enkels Johann Friedrich (Graf von) Struensee (1737–1772) am dänischen Hof hat Carl nicht mehr erlebt. Zusammenfassende Darstellungen wurden bisher nur der medizinhistorischen Bedeutung Carls gewidmet. Sie besteht in der Fortentwicklung und Verbreitung von Stahls Animismus-Lehre, in der Forderung anatomischer Sammlungen, botanischer Gärten und chemischer Labors für die Medizinerausbildung, die grundlegend für dänische Medizinalreformen unter Christian VI. wurde. Historisch weit folgenreicher waren Carls lebenslange Aktivitäten zur Förderung eines radikalpietistisch-spiritualistischen Christentums, die mutige und wirkungsvolle Formulierung seiner extremen Fürsten-, Kirchen- und Sozialkritik und der Einsatz für Tolerierung und Sammlung der verfolgten ,Erwählten‘. Carl ist der wichtigste Vertreter philadelphischer Sammlungsideen im mittleren Pietismus. Deren z. T. dunkle mystizistische Sprache und okkulte Ideen machten seine Schriften schon den von den Denkformen der Aufklärung geprägten Zeitgenossen schwer verständlich. Die geistliche Aktivität war Voraussetzung auch der medizinischen Wirkung Carls, die nur durch die Förderung gesinnungsverwandter pietistischer Höfe ermöglicht wurde. Wie er die auf individuelle Bewußtseinserfahrung gegründete Denkungsart der Stahlschen Schule auf die Gotteserkenntnis übertrug, folgerte er aus der engen Verbindung von Körper und Psyche die ,Wiederbringung‘ (Apg 3,21) der Seele zu Gott als das ,Unum Necessarium‘ (Lk 10,42) der Medizin. Quellen: Kirchenbuch Öhringen (Taufeintrag). – Fürstlich Ysenburgisches Archiv Büdingen (Ys. Bestallungen XI, Bl. 10, ausgestellt vom Marienborner Grafen Carl August im Namen der isenburgischen und stolbergischen Linien). – Autobiographischer Bekehrungsbericht in Bekenntnissammlung der Inspirierten: Unterschiedliche Erfahrungsvolle Zeugnisse […] von der […] Inspirations-sache, o.O. 1715, S. 15–20. – Autobiographischer Bericht „von Fatis Chymicis“ als Anhang zu Carl: Zeugnuß von Chymischer Storgerey […], Frankfurt – Leipzig 1733. – Johann Georg Rosenbach: Wunder= und Gnaden=volle Führung Gottes […], o.O. o. J. (1704), S. 455–473. – J.J.J. Aufrichtige und wahrhaftige Extracta Aus dem allgemeinen Diario Der wahren Inspirations-Gemeinen […], IV. Slg., o.O. 1739, S. 17, 21, 29–33, 37 f., 52, 64, 79. – VI. Slg., o.O. 1741, S. 9, 162–171, 206. – XI. Slg., o.O. 1749, S. 52 f., 57–59, 86 f. – XII. Slg., o.O. 1751, S. 18, 107, 115, 200. – [fortgesetzt unter dem Titel:] J.J.J. XIII. Sammlung, Das ist: Der XIII. Auszug aus denen Jahr-Büchern Der Wahren Inspirations-Gemeinschafften […], o.O. 1758, S. 84. – XIV. Slg., o.O. 1761, S. 34 f., 37, 106, 119, 129, 135, 211 f. – XV. Slg., o.O. 1764, S. 4, 14 f., 21, 24, 57, 83, 85 f., 88, 131–136, 141, 149–153. – XVI. Slg., o.O. 1772, S. VI–XVI, 20, 28, 54. – XVII. Slg., o.O. 1776, S. 159. – XVIII. Slg., o.O. 1780, S. 41, 51 f., 55, 58–60, 77–79, 108, 111–113. – XIX. Slg., o.O. 1780, S. 67, 74. – XX. Slg., o.O. 1780, S. 24–26, 30. – XXI. Slg., o.O. 1781, S. 96, 101. – XXII. Slg., o.O. 1781, S. 17, 31, 117, Anhang S. 12, 92, 120. – Geheimer Brief-Wechsel Des Herrn Grafens von Zinzendorf Mit denen Inspirirten, Frankfurt –
Carl, Johann Samuel (1677–1757)
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Leipzig 1741, S. VIII, 22–26, 34–38, 43, 57, 69, 83 f., 362–364 [Nachdruck der IV. Sammlung der Extracta]. – Chronicon Ephratense (Ephrata 1786), Lancaster 1889, S. 10, 13. – Die Berleburger Chroniken […]. Hg. von Wilhelm Hartnack, Laasphe 1964 (Wittgenstein, Beiheft 2), S. 142 f., 151 f. – [Johann Conrad Kanz]: Dippelii Personalia. In: Johann Conrad Dippel: Eröffneter Weg zum Frieden […], Bd. 3, Berleburg 1747, S. 753, 756–760. – Gerhard Tersteegen: Geistliche und erbauliche Briefe […], Speldorf/Ruhr, 2. Aufl. 1789, (an Carl:) I, 1, S. 331–336, I, 2, S. 246–248. – Sammlung Auserlesener Materien zum Bau des Reichs GOttes, Bd. 1, 7. Beitrag, Frankfurt – Leipzig 1732, S. 774 f. – Neue Zeitungen von Gelehrten Sachen 7, Leipzig 1721, S. 213; 12, 1726, S. 45; 15, 1729, S. 531; 23, 1737, S. 801 f. – Theodor Wotschke (Abdruck von Briefen). In: Monatshefte für Rheinische Kirchengeschichte 24 (1930), S. 289; 26 (1932), S. 57; 27 (1933), S. 184. – Brief Zinzendorfs an Carl (1740) in: Büdingische Sammlung 1, 3. Stück, Büdingen 1741, S. 407 f. [Nachdruck in: Zinzendorf: Hauptschriften, Ergänzungsband 7, Hildesheim 1965]. – Kirkehistoriske Samlinger, R. 5, Bd. 3, Kopenhagen 1905, S. 183; Bd. 4, 1908, S. 337. – Christian Ludwig Scheidt: Abgedrungene Apologie und Schutz=Rede […], Kopenhagen 1740. – Autobiographie in: Georg Ernst Stahl: Propempticon inaugurale de novo specifico anti phthisico, equitatione, [Halle 1699], S. X4rf. Werke: Die vollständigste und sorgfältigste Bibliographie der Schriften Carls bei Börner: Nachrichten (vgl. Literatur) 2,2, S. 339–363 (übersichtlicherer Auszug bei Christian Gottlieb Jöcher / Johann Christoph Adelung: Allgemeines Gelehrten=Lexicon, Fortsetzungen und Ergänzungen, Bd. 2, Leipzig 1787 (Nachdruck Hildesheim 1960), Sp. 112–114. – Zu ergänzen außer Nachauflagen und selbständigen Teilausgaben bei Börner : Nachrichten (1751, s. u.) genannter Titel: Disputatio de Autocheiria implicita. – Ichnographia Chymiae fundamentalis ex specimine Stahliano collecta, Büdingen 1722. – Ichnographia Anatomiæ nomenclaturam oeconomiæ Animalis Tabulis Synopt. exhibens, Büdingen 1722. – Georg. Ernest. Stahlii Fundamenta Chymiae Dogmaticae & experimentalis […] hermeticæ atque alchimiæ, mit einer Præfatio ad Lectorem philochymicum. Hg. von Johann Samuel Carl, Nürnberg 1723. – Fundamenta Pharmaciæ chymicæ manu Methodoque Stahliana posita, Büdingen 1728. – Selectus formularum pro specimine, Büdingen 1728. – Unterricht von dem Diaetischen und Medicinischen Verhalten in jetzigen Land=Seuchen, Büdingen 1730. – [anon.]: Philadelphische Einladung zu einer gewissen Gebehts=Versammlung im Geist [Flugschrift von 1729, Originaldruck [4 S.] in der BCU Lausanne: Fonds des .mes int8rieures; Wiederabdruck in:] Schule des Heiligen Geistes, das ist, eine deutliche Beschreibung derer Gnaden=Würckungen […], Züllichau 1730. – [anon. Hg.]: Historie Der Wiedergebohrnen / Oder Exempel gottseliger […] Christen […]. VI. Theil, Berleburg 1730, Neuauflage [Herborn] 1753. [Fortsetzung der Sammelbiographie von Johann Henrich Reitz: Historie Der Wiedergebohrnen, 1698 ff. zu deren 5. und 6. Aufl. 1724 ff. bzw. 1740 ff. – Reitz: Historie Der Wiedergebohrnen. Neudruck (1982, L 2)] – [anon. Hg. und zahlreiche Beiträge]: Geistliche Fama, mittheilend Einige Neuere Nachrichten von Göttlichen Erweckungen / Wegen / Führungen und Gerichten, Bd. I u. II [Stück 1–19], Philadelphia [= Berleburg]
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Carl, Johann Samuel (1677–1757)
1730–1736. – [anon.]: Mystica Marci, Das ist; Jesu Christi / des […] Wiederbringers / Innere Gnaden-Arbeit zum neuen Leben […], Berleburg 1732. – [anon.]: Theologia Moralis, Oder des neuen Lebens Aeussere Gestalt und Geschäffte / aus der Evangelischen Historie Lucä, Berleburg 1732. – [anon.]: Theocratia N. T. in der Apostolischen Haushaltung / um die wahre Policey-Ordnung zu suchen […], Berleburg 1732. – Medicina mentis durch Wiederbringung zu dem Leben Gottes aus Marco & Luca, Berleburg 1734. – Lineae gratulatoriae ad dissertationem de phthisi consummata sive tussi […] Georgii Friderici Fabri, Halle 1744. – Ascetische Betrachtung des Evangelii St. Johannis, Kopenhagen 1744. – Medicinische und moralische Einleitung in die Natur-Ordnung […] in einigen Sammlungen medicinischer Bedenken, Halle 1747 [mit Widmung an den dänischen Kronprinz Christian (VII.); enthält: Medicinischer Bedencken, Sammlung 1–4]. – De crebriore sanguinis missione foecunda […], Halle 1758. – Geheimniß der Freiheit. – Epicedien in Leichenpredigten auf [den Onkel, Hohenlohischen Hof-Medicus] Johann Conrad Rapp, Öhringen 1693, S. 120 f. und auf [den Fürstlich Württembergischen Leib-Medicus] Ludwig Friedrich Breyer, Stuttgart 1746, S. 80 f. Literatur : August Hirsch: Art. „Carl, Johann Samuel“. In: Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 3 (1876), S. 782 f. – Anton Tautscher : Art. [zum Bruder] „Carl, Ernst Ludwig“. In: Neue Deutsche Biographie, Bd. 3 (1957), S. 139. – Carl F. Bricka: Dansk biografik Leksikon, Bd. 3 (1889), S. 375 f. – Dansk biografik Leksikon, Bd. 4 (1934), S. 509 f. – Friedrich Börner : Nachrichten von […] Lebensumständen und Schriften Jeztlebender berühmter Aerzte […], Bd. 2, St. 2, Wolfenbüttel 1751, S. 334–363; Bd. 3, St. 5, ebd. 1764, S. 629. – Jens Worm: Forsøg til et Lexicon over danske […] lærde Mænd […], T. 1, Helsingør 1771, S. 208 f. – Jöcher / Adelung: Allgemeines Gelehrten=Lexicon. Fortsetzung und Ergänzungen [s. o.], Bd. 2, Leipzig 1787 (Nachdr. Hildesheim 1960), Sp. 112–114. – Albrecht von Haller: Bibliotheca Medicinæ practicæ, Bd. 4, Basel – Bern 1788, S. 354–358. – Friedrich Wilhelm Winckel: Aus dem Leben Casimirs […], Frankfurt/M. 1842, S. 116–139. – Ders.: Casimir, regierender Graf zu Sayn-Wittgenstein-Berleburg […], Bielefeld 1850 (Sonntags-Bibliothek, Bd. 4, H. 1), bes. S. 37 f., 67–97. – Max Goebel: Geschichte der wahren Inspirations-Gemeinden von 1688 bis 1850 […]. In: Zeitschrift für die historische Theologie 24 (1854), H. 2 u. 3; 25 (1855), H. 1 u. 3. – Ders.: Geschichte des christlichen Lebens in der rheinisch-westphälischen evangelischen Kirche, Bd. 3, Koblenz 1860 (vgl. Register). – V[ilhelm] Ingerslev : Danmarks Læger og Lægevæsen […] indtil aar 1800 […], Bd. 2, Kopenhagen 1873, bes. S. 297–302. – Albrecht Ritschl: Geschichte des Pietismus, Bd. 2, Bonn 1884, Nachdruck Berlin 1966, S. 353, 372–381, 523. – Gottlieb Scheuner : Inspirations-Historie […], Bd. 1, Amana/Iowa 1884, zahlreiche Hinweise S. 49–216. – Hans Larsen Møller : Kong Kristian den sjette og grev Kristian Ernst af Stolberg-Wernigerode […], Kopenhagen 1889, S. 127–131, 137. – Julius Petersen: Den danske Lægevidenskab 1700–1750 […], Kopenhagen 1893, S. 58–62, 160–165, 193–204, vgl. Register. – Christoph Kolb: Die Anfänge des Pietismus und Separatismus in Württemberg. In: Württembergische Vierteljahrschrift für Landesgeschichte, N. F. 10 (1901), S. 240–242. – Kristian Carøe: Den danske lægestand
Carl, Johann Samuel (1677–1757)
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[…], Bd. 1, Kopenhagen 1909, S. 24. – Ders.: Medicinalordningens historie indtil […] 1803, Kopenhagen 1917 (vgl. Register). – Victor Pleß: Die Separatisten und Inspirierten im Wittgensteiner Land […], Diss. Lic. theol. [masch.] Münster 1921, zahlreiche Hinweise bes. S. 77–159, Anm. S. 30–37. – Chauncey David Ensign: Radical German Pietism (c. 1675 – c. 1760), Diss. phil. [masch.] Boston 1955 (Kopie: Ann Arbor/Mich. 1976), Hinweise S. 311–368. – Winfried Zeller : Geschichtsverständnis und Zeitbewußtsein. Die „Geistliche Fama“ als pietistische Zeitschrift. In: Pietismus und Neuzeit 2 (1975), S. 89–99. – Die wichtigste Ergänzung seit der Erstpublikation dieses Artikels bietet die medizingeschichtliche [masch.] Habilitationsschrift von Christa [Meyer-] Habrich: Untersuchungen zur pietistischen Medizin und ihrer Ausprägung bei Johann Samuel Carl (1677–1757) und seinem Kreis, München 1981. Die postume Publikation dieser Monographie bereitet Irmtraut Sahmland für die Reihe „Arbeiten zur Geschichte des Pietismus“ vor. Das diesem Band beigefügte Verzeichnis der Schriften Christa Habrichs weist eine Reihe ihrer neueren Spezialstudien zur pietistischen Medizin, Alchimie und Pharmazie aus, insbes. zu Johann Samuel Carl. Vgl. auch Irmtraut Sahmland: Das „Decorum Medici von denen Machiavellischen Thorheiten gereiniget“ – eine medizinethische Anleitung von Johann Samuel Carl [1719, 2. Aufl. 1723]. In: Medizin- und kulturgeschichtliche Konnexe des Pietismus. Heilkunst und Ethik, arkane Traditionen, Musik, Literatur und Sprache. Hg. von Irmtraut Sahmland und Hans-Jürgen Schrader, Göttingen 2016 (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus, Bd. 61), S. 19–44. Portr-ts: Kupfer von Gabriel Spizel (nach Johann Jacob Haid) und von C. Liebe im Nationalhistorischen Museum Frederiksborg, Neg. 9303 a/9304 a (W 1996/97), beide abgedruckt in Reitz: Historie Der Wiedergebohrnen. Neudruck (1982, L 2), Bd. 3, S. [VIf.]; andere Exemplare vgl. Hans Wolfgang Singer : Allgemeiner Bildniskatalog, Bd. 2, 1967 [Nachdruck der Ausg. 1930], Nr. 12159 und 12160; vgl. auch Johann Carl Wilhelm Moehsen: Verzeichnis einer Sammlung von Bildnissen […], Berlin 1771, S. 24.
Johann Friedrich Haugs radikalpietistischer „Studenten=Gesang“ als „Anweisung zur Seligkeit in allen Facultäten“ (2011, L 46)
Ein Lehrgedicht zur Studienreform aus dem Jahre 1710 möchte ich hier vorstellen.1 Zur Debatte stehen da wie in unseren heutigen Reformdisputen um Pisa-Studien und Bologna-Harmonisierungen die perspektivische Gesamtorientierung, auf die alle fachlichen ebenso wie die intellektuell-charakterlichen Lernziele im Unterricht, von der schulischen Vorbereitung an und dann besonders auf akademischem Niveau, bezogen sein sollen, ferner die Inhalte der Ausbildung und die Auswahl der für das Studienziel und seine gesellschaftliche Nutzbarkeit geeignetsten Paradigmata. Ausgeblickt schließlich wird auf Fragen der Lehrmethode, der Evaluierung und Abschlüsse bzw. Erfolgsbescheinigungen. Das zwanzig Strophen lange Gedicht unter dem Titel Studenten=Gesang mit seiner erschöpfenden Systematik beim Besichtigen des Studiums in allen Fakultäten ist nun nicht, wie man von Gattung und Gegenstand, Entstehungszeit, beträchtlicher Länge und lückenloser Gründlichkeit des Argumentierens vermuten könnte, ein Stück der aufklärerischen Lehrpoesie. Sein gegenläufiger Ansatz, verwandter dem, den August Hermann Francke für die akademische Ausbildung, insbesondere der Theologen an der jungen Universität Halle von seinem Timotheus von 1695 über den Großen Aufsatz von 1704 bis zu seiner Methodus studii theologici von 1723 vorgegeben hat,2 ist 1 Beitrag zur Tagung „Literatur und Theologie im 18. Jahrhundert“ des Interdisziplinären Zentrums zur Erforschung der Europäischen Aufklärung und des Interdisziplinären Zentrums für Pietismusforschung der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Halle, Franckesche Stiftungen, 5. Juni 2004. Kursorisch vorgestellt hatte ich das hier analysierte Gedicht bereits auf einem Kolloquium, das wir Schüler Albrecht Schönes unserem Lehrer im Juli 1995 im alten Kloster Bursfelde zu seinem 70. Geburtstag dargebracht haben. 2 Vgl. die Übersicht und sorgsame Erörterung der verschiedenen Programmschriften und Anleitungen Franckes zur akademischen Theologenausbildung im Kontext der pietistischen Reformbemühungen in der detailreich und solide informierenden Münsteraner theol. Diss. von Chi-Won Kang: Frömmigkeit und Gelehrsamkeit. Die Reform des Theologiestudiums im lutherischen Pietismus des 17. und des frühen 18. Jahrhunderts, Gießen – Basel 2001 (Kirchengeschichtliche Monographien, Bd. 7), S. 33 f., 56 f., 330–423 (zum „Großen Aufsatz“ S. 352 f., 413 f.). Am entschiedensten über den engeren Blickkreis der Theologenausbildung hinaus, mit den perspektivischen Zielsetzungen der akademischen Reform zu einer christlichen Welt- und Gesellschaftserneuerung, weist August Hermann Franckes Schrift über die Reform des Erziehungs- und Bildungswesens als Ausgangspunkt einer geistlichen und sozialen Neuordnung der
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Johann Friedrich Haugs radikalpietistischer „Studenten=Gesang“
schon durch den Rahmen angedeutet, in den diese Verse bei ihrer Publikation gestellt sind. Das Buch nämlich, das sie als unpaginierter „Nachklang“ beschließen, verkündet schon im Titel ein Gegenprogramm: Theosophia Pneumatica, oder / Geheime GOttes=Lehre / Die Dinge Gottes vortragend Im neuen Wesen des Geistes / abthuende Das alte Wesen des Buchstabens […] Gedruckt im Jahr 1710.3
An die Stelle des selbsttätigen Verstands und des intellektuellen Wissens, deren sich Geistliche vernunftgemäß bedienen sollten, tritt also eine Weisheit, die aus Gott kommt, verborgen und geheim, nicht auf offenem Markte zu prüfen. Das Titelwort der Theosophie nimmt nicht allein einen Leitbegriff der paracelsisch-böhmistischen Tradition auf,4 Theosophia pneumatica war vielmehr der Untertitel bereits einer der heterodoxesten Erscheinungen des radikalpietistischen Buchmarkts überhaupt, jener uns als zauberisches Hilfsbüchlein des Goetheschen Faust bekannten Anleitung zur weißen Magie, die der Weseler Drucker-Verleger Andreas Luppius 1686 zwischen allerlei paracelsischen und Böhmisten-Werken unter dem Titel Claviculæ Salomonis Et Theosophia Pneumatica herausgebracht hatte.5 Wie überall dort wird auch hier höheres Wissen auf pneumatologische Eingebung gegründet, es kann nicht selbst erarbeitet werden durch intellektuelle Anstrengung. Dass im Evangelischen Kirche des 18. Jahrhunderts: Der Grosse Aufsatz. Mit einer quellenkundlichen Einführung hg. von Otto Podczeck, Berlin 1962 (Abhandlungen der sächs. Akademie der Wissenschaften zu Leipzig. Phil.-hist. Kl., Bd. 53/3). Vgl. jetzt die Auswahl aus Franckes Studienreform-Schriften („Idea studiosi Theologiae“, 1712, „Project des Seminarii Ministerii Ecclesiastici“, 1714) und die Kommentare in: Pietas et eruditio. Pietistische Texte zum Theologiestudium. Hg. von Klaus vom Orde, Leipzig 2016 (Edition Pietismustexte, Bd. 8), S. 60–82, 252–257, 282 f. 3 Theosophia Pneumatica, oder / Geheime GOttes=Lehre, o.O. [Idstein] 1710. Nach dem Exemplar der SB Braunschweig: I 9/377. Das Exemplar der BCU Lausanne enthält nicht die dort beigebundenen Anhänge, also auch nicht den das Buch als „Nachklang“ beschließenden „Studenten=Gesang“. Rezensiert ist das Gesamtwerk in: Unschuldige Nachrichten von Alten und Neuen Theologischen Sachen, Bd. 12, Leipzig 1712, S. 465–471, vgl. in: Unschuldige Nachrichten, Bd. 13, Leipzig 1713, S. 1072 und Vollständige Register Uber die anderen Zehen Jahr, Leipzig 1728 bzw. Theologische Annales, Bd. 1, Leipzig 1731, S. 551. Die Theologie, die diesen Band prägt, hat schon in der frühen Pietismusforschung Beachtung gefunden, vgl. Albrecht Ritschl: Geschichte des Pietismus, Bd. 2, Bonn 1884 (Reprint Berlin 1966), S. 352. 4 Vgl. die Titel der zweiten (Hamburger) und dritten Böhme-Gesamtausgabe, „Theosophia relevata“, 1715 bzw. 1730 und den Titel der Böhme-Korrespondenzausgabe, „Theosophische Sendbriefe“, die „Theosophicae epistolae Leidenses“ und den Titel der Werkausgabe des Böhmisten Johann Georg Gichtel, „Theosophia practica“. 5 CLAVICULÆ SALOMONIS Et THEOSOPHIA PNEUMATICA, Das ist / Die warhafftige Erkänntnüß Gottes / und seiner sichtigen und unsichtigen Geschöpffen / Die Heil. Geist=Kunst genannt / Darinnen der gründliche einfältige Weg angezeigt wird / wie man zu der rechten wahren Erkänntnüß GOttes / auch aller sichtigen und unsichtigen Geschöpffen / aller Kuensten / Wissenschafften und Handwercken kommen soll. [ – ] Wesel – Duisburg und Franckfurth / Druckts und verlegts Andreas Luppius, Privil. Buchhändler daselbst / 1686. Für nähere Aufschlüsse zu diesem Buch, seinen Kontexten und Wirkungen vgl. Schrader : Salomonis Schlüssel (2001, L 26), bes. S. 240 f.
„Anweisung zur Seligkeit in allen Facultäten“
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Entgegensetzen des neuen Geists gegen den alten Buchstaben außer der aufklärerischen Wissenschaftskultur vorrangig die konfessionellen Orthodoxien ins Visier geraten, zeigt übrigens die Fortsetzung des Buchtitels, Zur Entwöhnung der Säuglinge Von ihren Sectirischen Mutter=Brüsten. Im typischen Polemikwortschatz der radikalen Pietisten, spezifischer ihrer „philadelphischen“ Spielart,6 die eine neue Erwecktengemeinschaft jenseits aller Kirchenzugehörigkeit und Konfessionsdogmatik begründen wollte, werden damit die Amtskirchen als Sekten verunglimpft: Mit ihrer falschen Buchstabenkost hätten sie die geistliche Nahrung von Geburt an verkümmert.7 Das anonym gedruckte, rar gewordene Buch ist, wie neben zeitgenössischen Bezeugungen auch das Kryptonym J.F.H. unter der Vorrede anzeigt,8 von dem nur fünf Jahre zuvor wegen seiner philadelphischen Umtriebe aus dem Straßburger Kirchendienst entlassenen Theologen Johann Friedrich Haug9 kompiliert und herausgegeben worden. Der hat sich kurz darauf zeit6 Vgl. im Überblick Hans Schneider: Der radikale Pietismus im 17. Jahrhundert. In: Der Pietismus vom siebzehnten bis zum frühen achtzehnten Jahrhundert. Hg. von Martin Brecht, Göttingen 1993 (Geschichte des Pietismus, Bd. 1), S. 391–437 und speziell S. 405 f.; ders.: Der radikale Pietismus im 18. Jahrhundert. In: Der Pietismus im achtzehnten Jahrhundert. Hg. von Martin Brecht und Klaus Deppermann, Göttingen 1995 (Geschichte des Pietismus, Bd. 2), S. 107–197, speziell S. 112 f., 123–128, 160–166; zu den verschiedenen Phasen und Zentren der philadelphischen Sammlung und ihrer Bedeutung für die Toleranzgeschichte Schrader: Literaturproduktion (1989, L 1), S. 63–73, 373–386, auch Konstanze Grutschnig-Kieser: Der „Geistliche Würtz= Kräuter= und Blumengarten“ des Christoph Schütz. Ein radikalpietistisches „Universal-Gesang=Buch“, Göttingen 2006 (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus, Bd. 49). 7 Die doppelte Stoßrichtung wird in der Herausgeber-Vorrede auf den Begriff gebracht: Das Buch richte sich gegen jene, die sich anmaßen, in „Religions= oder Glaubens=Streitigkeiten zu decidiren / und die Schrifft auszulegen / nach den Principiis der Reguln ihrer ungesunden Vernunfft und deren Theologie“ (Theosophia Pneumatica [wie Anm. 3], Erste Vorrede. Den Liebhabern der Warheit Gnade und Licht durch JEsum Christ!, S. C 3v). 8 Die neunzigseitige, nur mit Bogensignaturen paginierte „Erste Vorrede“ mit ihrer Abhandlung „Eine Untersuchung der Academischen Theologie und dero Systematischen Lehr=Art“ (so die Überschrift dieser Vorrede auf dem Titelblatt des Bandes) unterzeichnet deren Verfasser mit dem zugleich auf seine Ausgrenzung durch die Weltlichgesinnten [Ps 120,5] wie auf sein Erwählen des besten Teils [Lk 10,42] verweisenden Kryptonym „J.F.H.“, „ein armer Fremdling in Mesech / der seine Lust bey Jesu Füssen Hat“. Außer den orthodoxen Kritikern (zuerst Georg Gustav Zeltner) in: Unschuldige Nachrichten, Bd. 13 (wie Anm. 3), S. 1071 f. haben auch kooperierende Gesinnungsfreunde Johann Friedrich Haug als Herausgeber namhaft gemacht, vgl. Johann Christian Edelmann: Selbstbiographie. Geschrieben 1752. Hg. von Carl Rudolph Wilhelm Klose, Berlin 1749 (Reprint: Sämtliche Schriften in Einzelausgaben. Hg. von Walter Grossmann, Bd. 12, Stuttgart-Bad Cannstatt 1976), S. 241. Das Braunschweiger Exemplar trägt auf dem Schmutztitel den Eintrag von alter Hand „Der Vorredner ist Joh. Fr. Haug, der Bearbeiter der Berlenburger Bibel.“ – Nähere Aufschlüsse über dieses Buch, seine Verfasserschaft und den Ort bzw. die Umstände der anonymen Publikation bei Schrader : Literaturproduktion (1989, L 1), S. 170 f., 456 f. 9 Vgl. die Artikel (mit Lit.) von Hans Schneider: Johann Friedrich Haug. In: Religion in Geschichte und Gegenwart [im Folgenden RGG4], 4. Aufl., Bd. 3, Tübingen 2000, Sp. 1472 sowie von Andreas Kroh: Johann Friedrich Haug (1680–1753). In: Andreas Kroh und Ulf Lückel: Wittgensteiner Pietismus in Portraits. Ein Beitrag zur Geschichte des radikalen Pietismus in Wittgenstein, Bruchsal 2003, S. 66–72. Kontextuelle Angaben in Artikeln über den Verleger-Bruder, Johannes
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Johann Friedrich Haugs radikalpietistischer „Studenten=Gesang“
weilig der noch radikaler spiritualistischen Gemeinschaft der Inspirierten angeschlossen;10 seine bedeutsamste Leistung freilich war später die Hauptverantwortung für die Planung, Neuübersetzung, Kommentierung und den Vertrieb der ,Berleburger Bibel‘ und darüber hinaus sein Einsatz für die Buchproduktion und die Literaturvermittlung der radikalen Pietisten überhaupt.11 Das über tausend Seiten starke Buch, zusammengesetzt aus unterschiedlichen, vom Herausgeber z. T. aus der Handschrift veröffentlichten oder übersetzten schroff separatistischen, hermetischen und eschatologisch-proBurkardt: Johann Jacob Haug. In: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon. Hg. von Friedrich Wilhelm Bautz, Bd. 19, Herzberg 2001, Sp. 635–637 sowie von Andreas Kroh: Johann Jacob Haug ([recte: 1690–1756]), in: Kroh / Lückel: Wittgensteiner Pietismus, ebd., S. 166. Grundlegende Information über die Haug-Familie Schrader: Literaturproduktion (1989, L 1), S. 163 f., 448 f. und Register. – Zu den Auseinandersetzungen um Johann Friedrich Haugs philadelphische Aktivitäten und seine Amtsenthebung in Straßburg, denen im Januar 1705 die Ausweisung und bald darauf auch Ausschaffung aus Straßburg (im Januar / Februar 1707 ebenfalls die aus Esslingen) folgte, vgl. die Streitschriften des Professors der Straßburger Universität, Johann Nicolaus Hardtschmidt: Dissertatio de Conventiculis, 1705, rez. in Unschuldige Nachrichten, Bd. 6, Leipzig 1706 (wie Anm. 3), S. 693–695, die Erwiderung an solche „Hirten / welche zugleich Wölffe sind / und die Schaafe zerreissen“, Bedächtliches Antwort=Schreiben An einen guten Freund / Worinnen Von den letztern ruchbaren Begebenheiten mit denen so genannten Pietisten in Straszburg raisoniret wird [o.O. 1705], v. a. aber die offizielle Rechenschaftslegung seitens des Kirchenkonvents-Präsidenten und vormaligen Professors Haugs, [Johann Joachim Zentgraf]: Deß Evangelischen Kirchen=Konvents in Straßburg Abgenöthigter Historischer Bericht / Von der jüngst daselbs entstandenen Pietistischen Brüderschafft / Und Philadelphischen Gesellschaft, Straßburg 1706. Ergänzende Information in der darauf erfolgenden apologetischen Entgegnung, Johann Friderich Haug: Zeugnusz der Liebe an die Inwohnere der Stadt Straßburg und Eßlingen, o.O. 1708. Detaillierte Geschichtsdarstellung aus kirchenamtlicher Perspektive: Johann Adam: Evangelische Kirchengeschichte der Stadt Strassburg bis zur franzoesischen Revolution, Straßburg 1922, S. 472–478. 10 Vgl. seinen für die Entstehung der Inspiriertengemeinschaft höchst signifikanten Rechenschaftsbericht vom 25./26. März 1715 im Rahmen der frühesten Bekenntnissammlung der Inspirierten: Unterschiedliche Erfahrungs=volle Zeugnisse / Welche Einige in Gott verbundene Freunde Von der so sehr verhassten und verschreyten Inspirations=Sache […] dargeleget haben, o.O. 1715, S. 117–135 (mit Rechenschaft auch über die Inspirationserweckung seines alten Vaters, des Straßburger, dann Idsteiner und schließlich nochmals Berleburger Druckers David Haug). Eine knappe Autopsychographie Haugs enthält auch seine Vorrede zur Theosophia Pneumatica, S. E 8rf. Umfassenderes zur Autobiographie Haug: Zeugnusz der Liebe (wie Anm. 9), insbes. S. 8–31, 54–59. Vgl. Ulf-Michael Schneider: Propheten der Goethezeit. Sprache, Literatur und Wirkung der Inspirierten, Göttingen 1995 (Palaestra, Bd. 297), insbes. S. 34. 11 Ausführlichste Rechenschaft über Haugs Anteil an diesem Bibelwerk und seine organisatorischen Verdienste auch um die drucktechnische Herstellung und den Vertrieb, für den er die Infrastruktur und das Kontaktsystem des Verlags seines Bruders Johann Jacob Haug nutzen konnte, bei Schrader : Literaturproduktion (1989, L 1), S. 182 f., 189–197, 207, 465, 469–472. Vgl. dazu auch Martin Brecht: Die Berleburger Bibel. Hinweise zu ihrem Verständnis. In: Ders.: Ausgewählte Aufsätze, Bd. 2: Pietismus, Stuttgart 1997, S. 369–408 und ders.: Die Bedeutung der Bibel im deutschen Pietismus. In: Glaubenswelt und Lebenswelten. Hg. von Hartmut Lehmann, Göttingen 2004 (Geschichte des Pietismus, Bd. 4), S. 106 f.
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phetischen Traktaten (darunter ein wohl auf den Barock-Spiritualisten Paul Felgenhauer zurückgehendes Wichtiges Gespräch vom Kirchengehen12 oder, in deutscher Übersetzung, Jacob Brills Weg des Friedens,13 auch eine Sammlung steifer Alexandriner-Gedichte mit gemeinpietistischen Lehrinhalten, Der Dienst GOttes und der Welt), ist ohne Druckerangabe erschienen in der Idsteiner Druckerei des Erdmann Andreas Lyce.14 Dort waren – neben ordnungsgemäß imprimierten pietistischen Lehr- und Erbauungsbüchern – ungefähr gleichzeitig ebenso anonym Selbstbekenntnisse und Bußpredigten prophetischer Handwerker von beträchtlicher theologischer Radikalität herausgekommen, von Johann Tennhardt und Johann Maximilian Daut, auch separatistische Traktate eines vertriebenen Theologen, Wilhelm Christian Gmelin, dazu eine für die Fortwirkung der spätmittelalterlichen Mystik aufschlussreiche Neuedition der Lehrschriften Johannes Taulers.15 Zumindest den Druck der Theosophia pneumatica hat der Herausgeber Haug selbst als Korrektor in der Druckerei überwacht16 und wohl auch für den Absatz gesorgt. Die in dem wahlweise auf billigem Druckpapier oder in gehobener Ausstattung auf Schreibpapier lieferbaren Band zusam12 Felgenhauers Urheberschaft dieses Traktats wird in der Besprechung der in ihren Zuschreibungen meist recht zuverlässigen, von Valentin Ernst Löscher gegründeten kontroverstheologischen Zeitschrift der Orthodoxie vermutet: Unschuldige Nachrichten (wie Anm. 3), Bd. 12, Leipzig 1712, S. 471. Dieselbe Zuschreibung findet sich im (Versteigerungs-)Katalog der Bibliothek Johann Wilhelm Petersens, Bibliotheca Peterseniana, id est Apparatvs librarivs, qvo, dvm viveret, vsvs est Ioan. Gvilielmvs Petersenivs, Berlin 1731, S. 107 f. (Nr. 342). Allerdings ist dieser Titel nicht enthalten in dem rund 100 Titel ermittelnden gründlichen Werkverzeichnis von Ernst Georg Wolters: Nachweis der Druck- und Handschriften Felgenhauers. In: Jahrbuch der Gesellschaft für niedersächsische Kirchengeschichte 54 (1956), S. 71–84, aus dem aber erkennbar wird, dass Felgenhauer seine frühen Schriften oft mit dem Namenszusatz „Theosophiae Discipulus“ herausgab (S. 72 f.). Vgl. den ihm und seiner Versammlung einer „Philadelphia“-Gemeinde in Bederkesa schon im frühen 17. Jahrhundert gewidmeten Abschnitt in der Übersichtsdarstellung von Martin Brecht: Die deutschen Spiritualisten des 17. Jahrhunderts. In: Der Pietismus vom siebzehnten bis zum frühen achtzehnten Jahrhundert (wie Anm. 6), S. 205–240, hier 220 f. und den Artikel von Gertraud Zaepernick: Paul Felgenhauer, in: RGG4, Bd. 3, Tübingen 2000, S. 63. – Der Traktat „Ein wichtiges Gespräch vom Kirchen=Gehen“ ist vom selben Druck auch als gesondert verkauftes Einzelheft verbreitet; wohl auch für diese zusätzliche Absatz-Option erhielt er eine neue Paginierung. 13 Zur Exempel-Biographie des Verfassers und seiner Rezeption im Pietismus vgl. Schrader: Die Sprache Canaan. Pietistische Sonderterminologie (2004, L 35), S. 405, 417 f. 14 Charakteristische Signets und Vignetten machen den Druck eindeutig zuweisbar, vgl. die detaillierten Nachweise bei Schrader : Literaturproduktion (1989, L 1), S. 171, 457 f. 15 Belege und Genaueres ebd., S. 168–174, 454–461. 16 Vgl. das Postskript zur Vorrede, Theosophia Pneumatica (wie Anm. 3), S. F 6v : „Als wir dieses geschrieben und uns bereits gegürtet hatten / das gantze Werck der Preß zu überantworten / und der Ausfertigung selber beyzuwohnen / kam uns erst von vertrauter Hand ein gewisses Gespräch zu von allerhand geistlichen Materien / daß es möchte mit beygedruckt werden / welchem dann sein Platz gleich vor dem Weg des Friedens angewiesen worden“; vgl. die Vorrede zu diesem neu paginierten [Felgenhauer-]Anhang: Ein Wichtiges Gespräch vom Kirchengehen (wie Anm. 12), S. [2]. Nachweise zur Verbreitung Schrader: Literaturproduktion (1989, L 1), S. 457, Anm. 160.
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mengefügten Einzelschriften sind z. T. gesondert paginiert, so dass sie auch einzeln verkäuflich waren. Laut Angabe im Messekatalog des Erscheinungsjahrs war der von der Reichszensur nicht erreichbare theosophische Buchhandel in Amsterdam am Vertrieb beteiligt,17 später dann die für die Radikalgesonnenen marktführende Buchhandlung von Haugs jüngerem Bruder, dem Berleburger Verleger Johann Jacob Haug.18 Wer den Studenten=Gesang geschrieben hat, ist nicht mit vollkommener Sicherheit anzugeben. Johann Friedrich Haug ist mit hoher Wahrscheinlichkeit selbst der Verfasser gewesen. Darauf deuten recht weitgehend analoge Argumente und sogar wörtliche Anklänge zwischen seiner ja auch thematisch verwandten Buchvorrede (Eine Untersuchung der Academischen Theologie und dero Systematischen Lehrart) und dem Gedicht. Ebenso wie die Vorrede hatten schon Haugs Straßburger philadelphische Briefe, aus der Zeit, in der er – offenbar auch mit eigenen Liedtexten – ein für heterodox erachtetes Gesangbuch Jesus=Lieder herausgebracht hatte,19 und sein wenige Jahre späteres 17 Catalogus Universalis, Leipzig, Michaelis 1710, S. C 3r. 18 Sein Catalogus oder Verzeichniß derjenigen Bücher / welche in der Berlenburgischen Buchhandlung bey Johann Jacob Haug in beygesetzem Preiß anjetzo zu haben seynd, 1729, S. G 3r, bietet die „Theosophia pnevmatica, oder geheime GOttes=Lehre. 88. 1710“ in beiden Ausstattungen an, auf Normalpapier für 50 Kreuzer, auf feinem Schreibpapier für einen Gulden. 19 Dieses Liederbuch, ein „Kern geistlicher Lieder“ von vier Bogen Stärke (64 S.), das Haug 1704, vermutlich in der Druckerei seines Vaters und unter eigener Mithilfe, an der Zensur vorbei in einer Auflage von annähernd 400 Stück ans Licht gebracht hatte und als dessen (im Gegensatz zum Drucker nicht zensurpflichtiger) Verleger er sich selbst bezeichnet, diente offensichtlich dem konventikularen Gottesdienst und wurde unter philadelphischen Gesinnungsfreunden verbreitet. Nähere Angaben dazu sowohl in der orthodoxen Beschuldigungsschrift, Zentgraf: Historischer Begriff (wie Anm. 9), S. 86, 200, 205 als auch in Haugs Apologie, Haug: Zeugnusz der Liebe (wie Anm. 9), S. 102 f. (vgl. S. 54 f.). Vgl. den in den „Archives et BibliothHque de la Ville de Strasbourg“ handschriftlich erhaltenen Bericht „Fanatische Dogmata und Lehren Johann Friderich Haugen, welche vornemlich aus seinen Briefen gezogen seind“ (Titelbl. und 6 S.), S. 2 f.: Damit „seine Separatisten aber auch ihr eigenes und besonderes gesangbüchlein hätten, hat er […] ein sonderlich Liederbüchlein drucken laßen, 400 exemplaria, welches er hin und wieder in statt und land außgestreuet, und verschicket […]“. – Adam: Evangelische Kirchengeschichte (wie Anm. 9), S. 476, bezeichnet den nach seiner Absetzung aus seinem Pfarramt in Goxwiller bei Obernai (Pays de Bar / Elsaß, jenes „Gottesweiler“, wo Philipp Jacob Spener eine seiner ersten Predigten zu halten hatte) nach Halle abziehenden philadelphischen Lehrmeister Haugs, Johann Friedrich Ruopp, als für das Philadelphier-Liederbuch mitverantwortlich und als einen der Textlieferanten: „Eines dieser Lieder, ,Erneure mich, o ewges Licht‘, das heute in einigen elsässischen Gesangbüchern sich vorfindet, ist von ihm selbst gedichtet.“ Dieses Lied hat sich bis ins heutige EG erhalten (Evangelisches Gesangbuch. Ausgabe für die EvangelischLutherischen Kirchen in Niedersachsen, Bremen – Hannover 1994, Nr. 390, vgl. S. 957. Im alten EKG, Hannover – Göttingen, 4. Aufl. 1952, trug es die Nr. 264). Dabei wurde eine offenbar als zu schroff empfundene Strophe weggelassen: „Ertödt in mir die schnöde Lust, feg aus den alten Sündenwust, ach rüst mich aus mit Kraft und Muth zu streiten wider Fleisch und Blut.“ Neueingerichtetes Evangelischlutherisches Gesangbuch zum Gebrauch der Stadt Halle, Halle 1790, S. 425 (Nr. 498), vgl. noch Gesangbuch für evangelische Gemeinen und Schulen, Berlin [1860], S. 59 (Nr. 81). Zum elsässischen Philadelphierkreis um Ruopp und Haug vgl. Schrader : Scheibe: Rekonstruktion (2009, L 66), im vorliegenden Band S. 657–663.
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Inspirationsbekenntnis fulminante Belege einer ungewöhnlich expressiven Sprachkraft. Der bei allem Geschick der Gedankenführung und aller Strahlkraft der Bilder formal doch recht holprige Studenten=Gesang, der sich überdies anlehnen kann an die (explizit ausgewiesene) metrisch-musikalische Vorgabe eines Kirchenlieds, ist Haugs von keiner Literaturgeschichte erfaßtem poetischem Ingenium also zweifellos zuzutrauen.20 Bis ins Wörtliche analog zur Vorrede polemisiert das Gedicht gegen akademisches „Schul=Gezäncke“ (Vorrede, S. A7r) bzw. „Schulen=Gezäncke“ (Str. 4), gleichlautend wird die „Weißheit“ des theologisch unverfälschten christlichen Sophia-Logos (als „sov_a 1m lust^qi\“, S. E1v)21 gegen den „verworrenen Circul und Maßstab“ (S. B4r) des akademischen Lehrbetriebs bzw. dessen „buchstäbliches Wischwasch“ (Str. 4) abgegrenzt, in beiden Fällen schließlich finden wir den „Gradum“ der göttlich gekrönten „Doctoren und Meister“ (Str. 20) weit über alle „Gradus“ der akademischen „Doctoren oder Licentiaten / Magister und Baccalaureen“ (S. D8v) erhoben.22 Analog ist ferner die Aufforderung, dass von Grund auf (beginnend mit dem Buchstabieren des göttlichen „Abba“Vaternamens)23 die „Canaans Sprach“ (Str. 6) bzw. „die Sprache deß Geistes 20 Auch später noch ist Johann Friedrich Haug anlassgebunden poetisch hervorgetreten, so mit einem vierseitig gedruckten Gelegenheitsgedicht zur Geburt einer Tochter des Grafen Casimir, des nachhaltigen Förderers seines Berleburger Bibelwerks: Bey abermalig=glücklicher Entbindung Der Hochgebohrnen Gräfin […] Maria Esther POLYXENA […] Grafen […] Casimirs […] Frau Gemahlin. Berleburg [1725], vgl. Schrader: Literaturproduktion (1989, L 1), S. 206. 21 Denselben Begriff verwendet Haug auch bereits in einem philadelphischen Sendschreiben vom 15. Oktober 1704 an den bereits Anfang Januar 1703 aus Straßburg vertriebenen TheologieKandidaten Johann Friedrich Klein: „Grüsse alle die bey dir sind / und lust haben an der sov_a 1m lust^qi\“. Abgedruckt in [Zentgraf]: Historischer Bericht (wie Anm. 9), S. 70, 201 [recte: 199]. Vgl. zum Kontext Adam: Evangelische Kirchengeschichte (wie Anm. 9), S. 473 f. 22 Der ganze polemisch mit der geläufigen universitären Theologenausbildung ins Gericht gehende Passus der Haugschen Vorrede über „die Methode, Weise und das Oel / wie und womit man die Theologiæ Candidatos auf den Academien und Universitäten salbet und ausrüstet / tauffet und ersäuffet“ (S. D8r), lautet: „Haben sich die jungen Scholaren nur auf ihren sophistischen Schwätz=Schulen u. Officinen oder Werckstätten müßiger Speculationen und unzahlbarer Grillenfängereyen frisch gehalten / die Aussprüche u. oracula ex tripode Facultatis Theologiæ aufgefangen / die verba Magistri eingeschluckt / und ihren Speichel aufgeleckt / auch manche Stunden exercitii gratia zu seichtigen Wortkriegen employret / und wohl pro & contra disputiren und declamiren gelernt / daß sie auf dialectische Art von ihren Articuln und Glauben subtil argumentiren und mit andern sich wacker herum schlagen und fechten können / und einen habitum in der Kunst zu widersprechen und schwätzen erlangt haben / so stehet ihnen der Gradus und summi honores, oder / nach dem Stylo Lutheri, [T. 2. Alt. f. 162 a. T. 2. Jen. f. 106 a. f. 119 b.] der Bestien=Character, offen / und der Archi-Synagogus macht denn allerhand Pickelhäring aus ihnen / Doctoren oder Licentiaten / Magister und Baccalaureen / als Stützen des Anti=Christenthums / wann und wie es ihnen beliebet; doch mit dem Beding / daß sie auch Geld / wann schon keinen Geist haben. […] Das ist nun die Ursach / warum auch Lutherus so sehr gegen die hohe Schulen geeyfert hat / weil er nemlich den Betrug wol sahe und erkannte.“ (S. D8r). 23 Ganz gleich wie im „Studenten=Gesang“ verwendet auch Haug: Zeugnusz der Liebe (wie Anm. 9), den göttlichen „Abba“-Namen (Mk 14,36, Röm 8,15, Gal 4,6): „Und da gefiel es dem treuen Abba seinen Sohn / das Geheimnuß des Worts / je mehr und mehr zu offenbaren in seinem
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und die schöne und erbauliche Friedens=Sprache“ (S. F1v) erlernt werden müsse. Am deutlichsten schließlich ist der identifikatorische Bezug des Johann-Friedrich-Haug-Kryptonyms dessen, „der seine Lust bey Jesu Füssen Hat“, auf die Einladung der 14. Gedichtstrophe, „sitzet zun Füssen Dessen / der heisset der göttliche Sohn“. Für die Autorschaft vollends beweiskräftig allerdings sind diese Analogien zwischen dem Gedicht und Haugs zur Drucklegung geschriebener Vorrede deshalb nicht, weil er theoretisch bei deren Niederschrift freilich auf einen ihm womöglich schon vorliegenden Studenten=Gesang eines anderen Verfassers hätte Bezug nehmen können. Jedenfalls fehlen im Gedicht die für Haug so charakteristischen Werbungen für einen aus allen Gemeinschaften zu sammelnden Bruderbund der Erweckten ebenso wie seine radikal ekklesiomachischen Polemiken. Die propagierte Orientierung weg von akkumulierter Stoffgelehrsamkeit und Disputierkunst24 hin zur Herzensoffenbarung der heilsamen Lebenslehre und zur armen Geschöpffe / und es demselben zur Wohnhütte zuzubereiten.“ (S. 46). Und er erläutert ihn im Kommentar zur ,Berleburger Bibel‘ als „das kindliche Rufen des Geistes in den Hertzen der Gläubigen“, Der Heiligen Schrifft Fünffter Theil […] Nach dem Grund=Text aufs neue übersehen: Nebst der buchstäblichen und geheimen Erklärung, Berleburg 1735, S. 434, vgl. (mit syr.-hebr. etymologischen Ableitungen dieses Lall-Namens) ebd., Sechster Theil. Berleburg 1737, S. 263, 589 als das knappste Gebet und einfältig-inbrünstige „Geschrey der Seelen“, das „den Kindern des neuen Bundes zu allererst mitgetheilet wird […], ohne daß sie einer weitern Anweisung von der künstlichen Ordnung bedürfften.“ Zum Zensurprozess um dieses von Haug und seinen Mitarbeitern herausgegebene Bibelwerk vgl. Schrader: Pietistisches Publizieren unter Heterodoxieverdacht (1988, L 14); im vorliegenden Band S. 261–283 sowie Schrader: Literaturproduktion (1989, L 1), S. 126–129, 186–198, 207, 433., 467–473. 24 Johann Friedrich Haugs eigene Negativerfahrungen mit diesem traditionellen Übungsfeld einer auf die dogmatisch verketzernde Abwehr jeder Abweichung von den dominierenden Lehrauffassungen der eigenen Kirche ausgerichteten akademischen Kontroverstheologie spiegelt seine während des Straßburger Studiums vorgelegte und (wie üblich) unter dem Namen des das Disputthema festlegenden Professors veröffentlichte Abhandlung über die Irrtümer der Mystiker, mit der er als „Respondens“ geprüft wurde. Das in der Tholuck-Bibliothek der Franckeschen Stiftungen erhaltene Dokument, das Haugs profunde Kenntnisse der gesamten mystischen Tradition von der Antike bis zu Spener, Bourignon, Horch, Petersen und der philadelphischen Societät spiegelt, verdiente eine quellenkundliche Edition, Übersetzung und Analyse: Johannes Fridericus Haug, Argentorat (Resp.), Q. D. B. V. De Mystica Theologia. In: Joh. Joachimus Zentgravius: Exercitatio Historico-Theologica, de Lapsu Q. Sept. Florent. Tertulliani, Ad Montanistas, Seculi secundi fanaticos, Straßburg 1706 (34 S.). Die Aufgabe war dem verdächtigen Haug offenbar spezifisch in der Absicht einer dogmatischen Festlegung erteilt, waren doch zweifellos zum (nicht genau ausgewiesenen) Zeitpunkt der Disputation bereits seine Observierungen wegen philadelphischer Kontakte und Abirrungen im Gange (spätestens seit 1703), vgl. den handschriftlichen Bericht „Fanatische Dogmata […] Johann Friderich Haugen“ (Anm. 19), in dem er (S. 5 f.) als „turbator tranquillitatis Ecclesiasticæ […], und ein Subtiler Chiliast […] und als ein friedensstöhrer und Lermenblaser“ attackiert wird. Haug hat in dieser Disputation zwar alle erforderten Zurückweisungen von „Lehrabweichungen“ der mystischen Tradition geliefert, die reine Mystik aber „secundum doctrinam Evangelii, orthodoxe et scripturis traditi“ verteidigt (S. 31) und sich zu ihr bekannt: „§ XXIII. Ab his & similibus abusibus, quos supra jam tetigimus, repurganda est Theologia Mystica, quam secundum DEI verbum repurgatam non rejicimus, nisi ipsam Theologiam Asceticam rejicere velimus.“ (ebd.).
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,praxis pietatis‘ entspricht vielmehr, wie beispielreich etwa Wolfgang Martens in seiner Studie Hallescher Pietismus und Gelehrsamkeit nachgewiesen hat,25 gemeinpietistischen Forderungen. Falls also Haug selbst hier – woran ich keinen Zweifel habe – zur Poetenfeder gegriffen hat, hat er jedenfalls darauf geachtet, dass sein Studenten=Gesang im Vermeiden aller Sonderlehren mitsingbar sei für alle, die pietistische Kernüberzeugungen teilten. Das war sicher auch der Grund für die beigesetzte Tonvorgabe „Mel. Grosser Prophete / Mein Hertze begehret“, mit der das Muster eines unter Pietisten allbekannten Lieds aufgerufen wird, des vorletzten aus Joachim Neanders weitverbreitetem Gesangbuch von 1680, Einfältige Bundeslieder und Dankpsalmen,26 und damit Georg Christoph Strattners Melodie von 1691.27 Das poetische Medium – ganz besonders dank der persuasiven Kraft des Mitvollzugs im gemeinsamen Gesang – schien jedenfalls mit dem mitreißenden Dreivierteltakt seiner vierhebigen Daktylenverse am eindringlichsten, um zugleich mit der pietistischen Glaubenslehre auch die Anregung zur Studienreform auszubreiten und in die Herzen einzugraben. Einige Passagen des zunächst in extenso abgedruckten Lieds möchte ich in sprunghaftem Durchgang sodann etwas näher beleuchten:
Offensichtlich einem anderen Autor mit nur gleichem Vornamen gehört die in der Bibliothek der Franckeschen Stiftungen unter „JOHANNES HAVG, Argentinensis. Autor“ (lange nach Johann Friedrich Haugs Vertreibung aus der Stadt) gedruckte Disputation zu, die ebenfalls mit dem Namen des Prüfers herauskam: Bernhardus Wagner: Be-Jahve Disputatio theologica, Miseriam Damnatorvm juxta ductum dicti Prophetici Esajæ, Straßburg 1712. 25 Wolfgang Martens: Hallescher Pietismus und Gelehrsamkeit oder vom „allzu großen Mißtrauen in die Wissenschaften“. In: Res Publica Litteraria. Die Institutionen der Gelehrsamkeit in der frühen Neuzeit. Hg. von Sebastian Neumeister und Conrad Wiedemann, Bd. 2, Wiesbaden 1987 (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung, Bd. 14/2), S. 497–523; Neuveröffentlichung (unter dem Titel: Hallescher Pietismus und Gelehrsamkeit. Oder von der „nimia differentia in litteris“) in: Ders.: Literatur und Frömmigkeit in der Zeit der frühen Aufklärung, Tübingen 1989 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur, Bd. 25), S. 50–75. 26 In der Neuedition, Joachim Neander: Einfältige Bundeslieder und Dankpsalmen. Hg. von Rudolf Mohr, Leipzig 2002 (Kleine Texte des Pietismus, Bd. 4), S. 95 f., vgl. dazu den Kommentar S. 176 f. und die Übersicht über abgeleitete Ausgaben, u. a. Gerhard Tersteegens GOtt=geheiligtes Harfen=Spiel der Kinder Zion, Cleve 1768. Die fortgesetzte Nutzung des Liedes im pietistischen Gemeindegesang zeigt sich auch in seiner Aufnahme (mit einer neuen 4. Strophe, wahrscheinlich aus Zinzendorfs eigener Feder) im ,Herrnhuter Gesangbuch‘: Christliches Gesang-Buch der Evangelischen Brüder-Gemeinen von 1735 zum drittenmal aufgelegt und durchaus revidirt [1741]. [Reprint] Mit einem Vorwort von Erich Beyreuther und Gerhard Meyer, Hildesheim – New York 1981 (Nikolaus Ludwig von Zinzendorf. Materialien und Dokumente, Reihe 4, Bd. III: Herrnhuter Gesangbuch), Nr. 69, S. 69 f., vgl. Gudrun Meyer, geb. Hickel: Verfasserverzeichnis zum Herrnhuter Gesangbuch von 1735. In: Ebd., Teil III: Zugabe, Hildesheim – New York 1981, S. 80 [zu Nr. 69]. 27 Vgl. die für den Kirchengebrauch mit den Noten gedruckte Ausgabe, Joachim Neander : Bundeslieder und Dankpsalmen von 1680. Historisch-praktische Ausgabe mit ausgesetztem Generalbaß von Oskar Gottlieb Blarr, Köln – Bonn 1984, S. 116 f., zur Melodie S. 7–9.
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Johann Friedrich Haugs radikalpietistischer „Studenten=Gesang“ Studenten=Gesang / Das ist / Eine hertzliche Vermahnung an die studirende Jugend / und Anweisung an den rechten Lehrmeister / bey welchem sie in allen Facultäten heilsamlichst kan unterwiesen werden zur Seeligkeit. Mel. Grosser Prophete / mein Hertze begehret. 1. JEsu / mein JEsu! ach lehre mich kennen Dich / du gecreutzigter Bräutigam! schau / Wie das unbändige Fleische zu rennen Lüstert von Deiner so heilsamen Au! Deine Zucht / grosser Prophete! mich lehre / Meinem Geist alles ausschweiffen verwehre! 2. Ach daß ich mögte dein Jünger verbleiben / Gantz zu vergessen / was ausser dir ist / Alle Adamische Witz zu vertreiben Und zu verlieren als Gräuel und Mist! JEsu / mein JEsu! du Lehrer der Thoren / Nimm du mein Hertze / mein’ Augen und Ohren! 3. Wisset ihr Lehrer der Juden und Griechen / Wisset ihr Weise und Kluge der Welt / Daß zum gecreutzigten JEsu zu kriechen Sey mein Vergnügen / das Weißheit darstellt! Euer buchstäbliches Wischwasch vergehet / Wesen und Warheit in JEsu bestehet! 4. Kommet ihr liebe studirende Brüder / Werdet bey meinem Exempel doch weiß! Fliehet den Schatten / und suchet die Güter / Die euch gedeyen zur himmlischen Reiß! Meidet / ach meidet die teufflische Räncke / Bücher=Gewirre und Schulen=Gezäncke!
„Anweisung zur Seligkeit in allen Facultäten“ 5. Kommet / wir wollen Collegium halten Bey dem Professor der oberen Schul! Lasset das übrige alles erkalten / Nahet zu diesem
{
ehrwürdigen verzuckenden
}
Stul!
Kommet / und bringet unmündige Hertzen / Kauffet die Lehr ohne Geld / ohne Schertzen! 6. Erstlich so müssen wir hier buchstabiren / A/b/ab : b/a/ba : Abba / o GOtt! Diese Anfänge im Grunde dociren Mag wol alleine der himmlische GOtt / Der da ist A und O / Anfang und Ende / Canaans Sprach er belehret behende. 7. Logicam, eure Gedancken zu führen / Lehret mein JEsus in himmlischer Kunst; Logos, das Worte / der Warheit Gebühren Weiset ohn falschen und schädlichen Dunst: Seine methode durch Beten und Weinen Analysiret der Himmel den Seinen. 8. Alle Philosophi / stoltze Sophisten / Werden durch JEsum in Irre gebracht; Alle scharffsinnige Academisten Mit dem zweyschneidigen Schwerdte geschlacht: Kommet ihr Redner / und lernet erblassen / Worte des ewigen Lebens zu fassen! 9. Wollt ihr natürliche Dinge studiren? Höret den himmlischen Salomon an! Sollte der Schöpffer nicht best penetriren Seiner Geschöpffen unendlichen Plan / Sonne / Mond / Sternen / und dero Geschäfften / Erde / Feur / Wasser / und irdische Kräfften?
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Johann Friedrich Haugs radikalpietistischer „Studenten=Gesang“ 10. Was metaphysisch und übernatürlich / Lernt man in JEsu geheimester Lieb / Wann man verläugnet das / was creatürlich / Embsig zu folgen dem göttlichen Trieb: Lasset uns lieben / studiren und loben JEsum / der über die Himmel erhoben! 11. Sucht ihr der Artzeney gründliche Kräffte? Er ist das Leben / das tödtet den Tod: Alle balsamische heylsame Säffte Quellen in ihme mit labendem Brod: Schmertzen und Kranckheit und Tode vergehet / Wann man in JEsu Gemeinschafft bestehet. 12. Liebt ihr Gerichte / Gesetze und Rechte? Alle Gerechtigkeit hat er erfüllt: Seine Responsa, so lauter und schlechte / Sind wol ein unüberwindlicher Schild: Moses und David und Salomon haben Ihre Politic in ihme gegraben. 13. Sollt nicht der Stiffter der göttlichen Rechten / Der die Gerechtigkeit wesentlich ist Seinen geheimesten Freunden in Nächten Oeffnen der G’heimnüssen Schätze und Kist? Freundlich und offen / und frey wie die Sonne / Bleibst du / o JEsu / mein eintzige Wonne! 14. Endlich ihr Freunde! wir wollen begrüssen Ihn als den besten Theologum nun: Kommt mit Maria / und sitzet zun Füssen Dessen / der heisset der göttliche Sohn / Vater der Ewigkeit / Herrscher der Erden / Huldiget ihme mit Ehren=Gebärden!
„Anweisung zur Seligkeit in allen Facultäten“ 15. Göttliche Tieffen im Grunde zu wissen / Samt den Abgründen der heiligen Schrifft / Könnet ihr diesen Propheten nicht missen / Der die Propheten all weit übertrifft: Was er gesehen und was er gehöret / Weiset er treulich und nimmer bethöret. 16. Diesen fürtrefflichen mächtigen Lehrer Rühmet der gantze Prophetische Chor : Er ist der Sünden= und Lügen=Verstörer ; Wer ihn nicht kennet / der bleibet ein Thor : JEsu / mein JEsu / du Meister der Warheit / Laß mir auffgehen die himmlische Klarheit! 17. Dumme mit Gaben der Weißheit begaben / Blinde mit Augen und Stumme mit Stimm / Todte mit Manna des Lebens erlaben / Sänfftigen unsern unsinnigen Grimm / Fordert die Kräfften der ewigen Armen / Samt unerschöpfflichem Liebes=Erbarmen. 18. Unsre Begierden und Sinnen bezwingen Ist ein unendliches göttliches Werck: Alle auffsteigende Bilder verschlingen Bleibet der Allmacht gewissestes Märck: Solte sonst jemand vermögen zu räumen Menschliche Hertzen / die Unflat ausschäumen? 19. Theurster Immanuel! der du gesprochen Zu den Unmündigen: Lernet von mir! Lasse die fleischliche Witz seyn gebrochen / Daß doch die Schüler sich nahen zu dir! Schaffe gelehrsame / glaubige Hertzen / Glüende Geister und brennende Kertzen.
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Johann Friedrich Haugs radikalpietistischer „Studenten=Gesang“ 20. Liebe mit DEmuth den Gradum erhaltet / Weil du der König der Demuth und Lieb; Liebe bleibt ewig und nimmer erkaltet / Weilen sie flammet im göttlichen Trieb: Nur die verliebten Jungfräulichen Geister Werden gecrönet Doctoren und Meister.
Die Geringachtung aller bloß buchstäblichen Gelehrsamkeit, sofern sie nicht allein auf den Erwerb des lebensverwandelnden Heiligen Geistes gerichtet ist, gehört, wie gesagt, zu den topisch wiederholten Argumenten der pietistischen Paränese.28 Besonders die Theologie wird da immer wieder angeprangert, sie sei in ihrer bis in die Predigtpraxis hinein einseitigen Fixierung auf Dogmatik und kontroverstheologische Polemik zu Matäologie, zu leerem Wortschwall, verkommen.29 In allen pietistischen Programmäußerungen wird, wie in Speners De impedimentis studii theologici von 1690, zu einer Ausbildungsreform gerufen, kraft deren „die Theologie nicht nur mit dem Kopf, sondern auch mit dem Herzen erfaßt und getrieben […] und im Leben bewährt werden soll“.30 Aussagen August Hermann Franckes, beispielsweise aus Briefen von 1691: 28 Haugs „Studenten=Gesang“ ist auch abgedruckt und kommentiert in Klaus vom Ordes Textsammlung „Pietas et eruditio“ (wie Anm. 2), S. 191–197, vgl. S. 266 und 284. Gerade dieser Topos der Schädlichkeit von Wissenschaft und Vielwissen für die Seele bildet auch die Grundlage für Johann Friedrich Haugs Pädagogik, als ihm nach der Vertreibung aus Straßburg sein philadelphischer Gesinnungsfreund Andreas Groß 1705 eine Hauslehrerstelle in Esslingen vermittelt: „Du darffst wenig / oder gar keine Bücher mitbringen. Ich habe kaum 12. Bücher in allem / mit groß und klein. Ich bekümmere mich nicht umb die vernunfft der Knaben nicht / daß sie was fassen und excoliren. Wann nur die Seele was fasset / auffs künfftige / damit sie bewahret werde vor dem zorn.“ (Groß’ Einladebrief an Haug, abgedruckt bei [Zentgraf]: Historischer Bericht [wie Anm. 9], S. 193). 29 Das bis ins 18. Jahrhundert ebenso das Theologiestudium wie auch die Kirchenverkündigung beherrschende und gleichsam als Krone aller theologischen Übung fungierende Exerzitium des Lehrstreits, des ,Refutierens‘ aller von der vorgegebenen Linie abweichenden Auffassungen im ,Elenchus‘ (,Gegenbeweis‘ – an dem die Pietisten in der Abwehr gemeinsamer Gegner durchaus teilhatten), wird mit einer gewichtigen Fracht an Quellenbelegen namentlich herausgestellt von Martin Gierl: Pietismus und Aufklärung. Theologische Polemik und die Kommunikationsreform der Wissenschaft am Ende des 17. Jahrhunderts, Göttingen 1997 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, Bd. 129), insbes. S. 13, 16, 31, 62–75, 125, 165, 471–479. Dazu gibt förderliche Zusatzinformation in Rücksicht auf den institutionellen Studienaufbau Rudolf Mau: Programme und Praxis des Theologiestudiums im 17. und 18. Jahrhundert. In: Theologische Versuche XI (1980), S. 71–91, hier 73, 76 f., 82–84. Stärker die antidogmatische und philadelphische Tendenz der pietistischen Reformbemühungen wird herausgestellt in der grundlegenden Abhandlung von Kang: Frömmigkeit (wie Anm. 2), insbes. S. 219–224, 236, 288, 295, 359 f., 497, 501. 30 Auch diese Spener-Abhandlung ist neu greifbar bei vom Orde: Pietas et eruditio (wie Anm. 2), S. 29–59, vgl. S. 242–252, 283 f. Vgl. Kang: Frömmigkeit (wie Anm. 2), S. 224 und ebd. S. 236, 258 sowie S. 333 (Franckes Aufgreifen exakt der Spenerschen Formel); Gierl: Pietismus und Aufklärung (wie Anm. 29), S. 273–291, Mau: Programme und Praxis (wie Anm. 29), S. 73, vgl.
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Wenn man mir gleich alles nähme, so habe ich doch in meinem Hertzen den Weg, wie man zu Gott kommen soll [ – ]. Aber der natürliche Mensch vernimmet nicht, was des Geistes Gottes ist, und wenn er 1000 Commentarios lese. [ – ] Wer den Heil. Geist erst im Hertzen hat, und durch denselben den großen Schatz und Reichthum des göttlichen Worts erkennet, der kann unmöglich die Bücher so hoch halten,31
unterscheiden sich nur durch ihren moderateren Ton von solchen der Haugschen Theosophia-Vorrede, die unmittelbar auf die Methode und Praxis des Theologiestudiums zielen.32 Und ganz so, wie Haug 1710 anstelle des von den akademischen Institutionen gebotenen berufs-irrelevanten Wissenschaftstrainings ein Studieren bei Jesus als dem einzig rechten Lehrmeister anempfahl: O wie gar anderer Qualitäten / Ursprungs und Nutzens / ist doch die wahre und reine Theologie […]! Wie ihr Principium und Ursprung JEsus ist / in welchem alle Schätze der Weißheit und Erkäntniß verborgen liegen / also ist sie auch: Die Ectypa machts der Archetypæ nach,33
konnte Francke noch wenige Jahre vor seinem Tod, in seiner Methodus studii theologici von 1723, postulieren: Sic enim finis studii Theologici discendus est, CHRISTUS: quatenus nimirum ille est via, veritas et vita, per quem solum ad Patrem venire licet.34
Die akademischen Konventikel, die Spener bereits 1676 in Frankfurt gegründet hatte, versuchten wohl, einem solchen Leitbild näher zu kommen – geradeso wie Franckes zu Eklats und schließlich 1690 zum formellen Verbot führende erbauliche und erweckliche Ausrichtung des Leipziger Collegium
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überdies die Analyse der Predigt Speners am 1. Juli 1694 in der Berliner Nicolaikirche anlässlich der Eröffnung der Universität Halle. Dietrich Blaufuß: „Pflanzgarten des Glaubens und dessen Früchten“. Philipp Jacob Speners Predigt anläßlich der Eröffnung der ,pietistischen‘ Universität Halle. In: Humanismus und Reformation. Historische, theologische und pädagogische Beiträge zu deren Wechselwirkung (Festschrift Friedhelm Krüger). Hg. von Reinhold Mokrosch und Helmut Merkel, Münster – Hamburg – London 2001 (Arbeiten zur historischen und systematischen Theologie, Bd. 3), S. 154–169, hier S. 162 f. Wie weitgehend Speners und Franckes Analysen und Empfehlungen zur Studienreform konvergieren bzw. präformiert erscheinen in Adam Rechenbergs alle Fakultäten umfassendem Reformprogramm „De studiis academicis“ von 1691, ist vergleichend herausgestellt im Aufsatz von Dietrich Blaufuß: „Scibile et pie“. Adam Rechenbergs und Philipp Jacob Speners theologische Studienanleitungen. Wegweiser zur Aufklärung? In: Die Universität Leipzig und ihr gelehrtes Umfeld 1680–1780. Hg. von Hanspeter Marti und Detlef Döring, Basel 2004, S. 329–358. Nach A. H. Francke: Vier Briefe August Hermann Franckes, zur Säcularfeier seines Geburtstags hg. von Gustav Kramer, Halle 1863, S. 5 f. zitiert bei Martens: Hallescher Pietismus (wie Anm. 25), 1987: S. 500 und 503; 1989: S. 54, 57 f.; vgl. Kang: Frömmigkeit (wie Anm. 2), S. 358–362. Haug: Erste Vorrede. In: Theosophia Pneumatica (wie Anm. 3), S. D 8v, vollständig zitiert s. o., Anm. 22. Ebd., S. E 1v. Vgl. Kang: Frömmigkeit (wie Anm. 2), S. 356 f., vgl. 352, 402, 409.
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philobiblicum, bei dem seit 1687 über die Studentenschaft hinaus viel Stadtpublikum, auch Handwerker und Frauen, zusammenströmte und sogar ungraduierte Studierende Gebetsversammlungen und selbst akademische Kollegia über die kleinen paulinischen Briefe abhalten durften.35 Und diesen beiden Vorbildern war fallweise an anderen Universitäten nachgestrebt worden, namentlich in Jena, Gießen, Tübingen und insbesondere an der zur zentralen Pflanzstätte einer pietistischen Theologenausbildung erwachsenden jungen Universität Halle (seit 1690/93).36 Aber trotz allen Wehgeschreis der Reformkritiker wie des Orthodoxen Johann Benedikt Carpzov, dergleichen Frömmigkeitsübungen mit ihrem auch außeruniversitären, teilweise gar weiblichen Publikum zerrütteten in der Mißachtung gründlichen Basiswissens, kontroverspolemischer Disputationen und systematischer Theologie überhaupt eine solide Universitätsausbildung (entsprechende Veranstaltungen seien durch das Fernbleiben der Studenten sogar schon ausgefallen), sind Auswirkungen auf die schwerfälligen institutionellen Strukturen und Studienpläne zunächst doch kaum zu konstatieren – nicht einmal in Halle, wo zwar ein größeres Gewicht auf individuelle Studienberatung gelegt wurde, Änderungen aber aufgrund der durch politische Rücksichtnahmen gebotenen „Beibehaltung des traditionellen Rahmens des theologischen Lehrbetriebs“ allenfalls subinstitutionell, durch eine veränderte Einstellung der Lehrenden und Lernenden zu den überkommenen Lehrinhalten, wirksam werden konnten, indem „herkömmliche Elemente des Studiums in eine neue Relation zueinander gesetzt und dem pietistischen Grundanliegen […] dienstbar gemacht wurden.“37 35 Vgl. dazu außer Kang: Frömmigkeit (wie Anm. 2), S. 225 f., 308, 316–318, 336 bereits Wilhelm Schrader: Geschichte der Friedrichs-Universität zu Halle, 1. Teil, Berlin 1894, S. 21–23, besonders aber die ausführliche Analyse (auch hinsichtlich der zunehmenden Unterstützung seitens des zunächst skeptischen Spener) Klaus vom Orde: Der Beginn der pietistischen Unruhen in Leipzig im Jahr 1689. In: Die Universität Leipzig (wie Anm. 30), S. 359–378, insbes. S. 365–372, 375. 36 Eher vage Hinweise auf die präzis offenbar schwer zu fassenden Initiatoren, Gruppen und Wirkungen geben Schrader: Geschichte der Friedrichs-Universität, 1. Teil (wie Anm. 35), S. 19, 118, Kang: Frömmigkeit (wie Anm. 2), S. 56, 345 f., 415–417, Gierl: Pietismus und Aufklärung (wie Anm. 29), S. 37, 43 f. 37 Auf diesen augenfälligen Sachverhalt weist mit besonderer Klarheit Mau: Programme und Praxis (wie Anm. 29), S. 75, 81, 83, 86 hin (zitiert: S. 86, 83). Ein besseres Licht auf die tieferen Gründe für die doch befremdliche Diskrepanz zwischen der intendierten Reform der Lehrinhalte und einer unverändert übernommenen bzw. fortbestehenden Studienordnung an der Universität Halle wirft Udo Sträter in seinem Beitrag „Spener und August Hermann Francke“ zum Berliner Symposion „Philipp Jakob Spener. Begründer des Pietismus und protestantischer Kirchenvater“, gedruckt in: Philipp Jakob Spener – Leben, Werk, Bedeutung. Bilanz der Forschung nach 300 Jahren. Hg. von Dorothea Wendebourg, Halle – Tübingen 2007 (Hallesche Forschungen, Bd. 23), S. 89–104. Er zeigt, wie die theologischen Gegner in der Hallenser Professorenschaft, insbesondere aber die staatliche Aufsichtsbehörde argwöhnisch über jede Neuerung im Programm der jungen Universität wachten, so dass es als eine unentbehrliche Vorsichtsmaßnahme pietistischer prudentia ecclesiastica anzusehen ist, wenn der neue Wein
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Neu und weitergehend ist da doch der Aufruf im Gedicht zur Wegweisung an die studierende Jugend, in allen einzeln erwogenen Fakultäten und Studienfächern solle sie ihre gesamte Studienpraxis vollends an Jesus, ihrem himmlischen Dozenten, orientieren. Als „grosser Prophete“ wird der gleich in der ersten Strophe mit der Anrede des gleichsam fortgesungenen NeanderLieds apostrophiert, als eine Instanz, deren Offenbarung nicht abgeschlossen ist, sondern ständig neu vernehmbar und auf Zukunft gerichtet bleibt. Für die „heilsamliche“ Unterweisung „zur Seeligkeit“, die als profundestes Lernziel aller Studien jenseits ihrer weltlichen Anwendungsfelder verlangt wird, muss seine Pädagogik Liebe und Fürsorge mit strenger „Zucht“ kombinieren, können doch die Sünden der Jugend (das „Ausschweiffen“) auch im Geiste begangen werden. In konsequenter Adaption des akademischen Institutionen-Wortschatzes wird eine grundlegende und gesamthafte Studienreform gefordert, die in jeder Fachausbildung als Endziel aller Erudition und Erkenntnisprogresse die fundamentale Umwandlung des Menschen im christlichen Sinn und nach pietistischem Verständnis ansetzt. Die Strophen 2 bis 4 grenzen noch ohne fachliche Spezifikation die angestrebten Methoden und Ziele von denen des geläufigen Studienbetriebs ab. Das Studium darf nicht aus der Jesusnachfolge abführen, zu der vorzüglich die unverbildeten „Thoren“ über Erfahrungen ihres Herzens und ihrer Sinne hinfinden (ein Gedanke, den die 17. Strophe wieder aufnimmt),38 während die Vernunft (als greuelhafter ,adamischer Witz‘) den Weg versperrt. Die buchstäbliche Nachfolge zum Kreuz ist im Gegensatz zum intellektuell akkumulierten Wissen und zu spitzfindiger Disputierkunst der Inbegriff von Weisheit, Wahrheit und Wesen. Hier werden platonisch-neuplatonische Begriffe aufgenommen: im Exempel Christi ist im Gegensatz zu bloßen Schatten (sjia_) wahres Sein oder Wesen, ontologische Substanz (oqs_a) zu finden. Deshalb soll (Str. 5) das Studium bei Jesus, dem für die Hochschul-Oberstufe zuständigen Ordinarius, absolviert werden, von dessen Lehrkanzel in seiner privatissime et gratis gehaltenen Vorlesung nicht bloß der Verstand gespeist werde, sondern eine verzückende, ernstlich enthusiasmierende Botschaft zu gewinnen sei. Dieses aber setze anstelle des stolzen Aufklärungsgebots, sich mündig des eigenen Verstandes zu bedienen, „unmündige Hertzen“ voraus, eine Tabula rasa, in die der Geist seine Zeichen einschreiben kann. Ganz von vorn muss, wie die Strophe 6 zur Einführung der neuen Lehrreformierter Lernziele und Lehrmethoden in die alten Schläuche traditioneller Firmierungen gefüllt wurde. 38 Gedanke und Begriff finden sich etwa auch in der „Historie von Anna Maria von Schurmann / einer welt=berühmten / gelehrten und gottseligen Dame“, die ein Wunderbeispiel weltlicher Gelehrtheit gewesen und zur melioris partis electio gelangt sei: Sie verlängert so die Reihe der „Exempel, daß die himmlische Weißheit die Gelehrten und Klugen dieser Welt auch erhaschet / und sie in die göttliche Thorheit eingeführt / daß sie alles vorige Wissen dagegen für Stückwerck / ja für Koth und Schaden geachtet“ (in: Reitz: Historie Der Wiedergebohrnen. Neudruck [1982, L 2], Bd. 3, Teil VI [hg. von Johann Samuel Carl], Berleburg 1730, S. 67 f).
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methode anweist, begonnen werden, mit einer Grundstudienpropädeutik, die beim Neuerlernen des Alphabets einsetzt, bei einem neuen Sprechenlernen, das die infantes aus den zwei Eingangsbuchstaben des Alphabets schon den Vaternamen jenes göttlichen Lehrmeisters zu lallen lehrt, in dem Anfang und Ende beschlossen liegen. Vom „Abba, mein Vater“ (Mk 14,36, Röm 8,15, Gal 4,6) aus39 kommt man rasch voran im Lernen der gesamten Fach- und Sonderterminologie der Erleuchteten („Canaans Sprach“),40 die sich von der außerhalb der himmlischen Akademie gesprochenen Adamssprache fundamental unterscheidet. Nach diesen Ziel- und Methodenvorgaben nun werden von der 7. bis zur 15. Strophe alle Studienrichtungen in systematischer Folge erwogen, um aufzuzeigen, wie der Heiland in ihnen allen das oberste Leitbild und Ziel biete. Der Reihe nach durchmustert werden Disziplinen und Ausbildungsschritte, zuerst das Trivium der artes liberales mit ihrem collegium logicum, philosophicum und rhetoricum, dann auch die höheren Studien der angewandten und letzter Erkenntnis zugewandten Wissenschaften, die Physik und Metaphysik, Medizin und Pharmazie, Jura mit Staatskunst und Kameralistik, schließlich auch die Theologie. Nur wenige Explikationen, wie man sie alle durchaus studieren soll mit heißem Bemühn, laufen im Kern auf eine Erkenntnis hin, die jenseits von allem Wissen liegt: Logik ist hier die Wissenschaft vom k|cor, also von Christus, dem im Fleisch offenbarten Gotteswort, Joh 1,1–4. Seine angemessene Analysemethode ist statt kontroverser Disputation die Erschütterung des Gemüts in „Beten und Weinen“. Der Gipfel aller Philosophie ist sov_a, „Weißheit“ statt akademischer Sophisterei, die Krone aller Rhetorik sind die Lebensworte des endzeitlichen Herrn („aus seinem Munde ging ein scharfes, zweischneidiges Schwert und sein Angesicht leuchtete“, Apk 1,16, vgl. 2,12 und 19,15). Wer „natürliche Dinge studiren“ will, also die Physica, Aufbau und Ei39 Dasselbe Motiv wird wiederholt auch in der „Historie Der Wiedergebohrnen“ ausgeführt. Ein Gebet des (mit einem Beitrag auch in der „Theosophia Pneumatica“ präsenten) Jacob Brill sagt „Ich will lieber sitzen auf der untersten Banck deiner A b c=Schüler / denn auf den Hohen Stühlen der Gelehrten dieser Welt“ (Reitz: Historie Der Wiedergebohrnen. Neudruck [1982, L 2], Bd. 2, Teil IV, Idstein 1716, S. 188 [Dieser Band erschien zuerst in derselben Druckerei wie die „Theosophia Pneumatica“, verlegt von Johann Friedrich Haugs Bruder, Johann Jacob Haug]). Noch präziser nehmen die „Reimen von der elenden Beschaffenheit des falschen und von der seligen Art des wahren Christenthums der einfältig=weisen Seelen“ diesen Gedanken auf: „Das falsche Christenthum lernt stets das A b c, Und lernt doch nimmermehr im Geist das Abba sagen.“ (Ebd., Bd. 3, Teil VI, S. 88). Beide Passagen sind auch zitiert (die letzte mit irrtümlicher Seitenangabe) bei Martens: Hallescher Pietismus (wie Anm. 25), 1987: S. 502 und 505; 1989: S. 56, 59. Auch für Spener war eine universitäre Studienreform mit dem Leitbild des erweckten Akademikers bereits in der kindlichen Erziehung zur Frömmigkeit zu fundieren, setzte also eine christliche Schulreform voraus: „Ohne Berücksichtigung der Schulerziehung der angehenden Theologiestudenten wäre also eine grundlegende Reform der Theologenausbildung nicht denkbar.“ (Kang: Frömmigkeit [wie Anm. 2], S. 276 f.) 40 Vgl. als Forschungsbericht Schrader: Die Sprache Canaan, Auftrag der Forschung (2005, L 38), im vorliegenden Band S. 233–260.
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genschaften des Kosmos und der irdischen Elemente, ihrer Kräfte und Gegenkräfte, lernt freilich am Besten beim Schöpfer selbst, der deren Bauplan ersonnen hat (wenn er als der höchste Magus erscheint, der himmlische Archetyp des von göttlicher Weisheit erfüllten Magierkönigs Salomon, klingt die in der pietistischen Naturforschung noch sehr virulente Erkenntnisssuche über geheimwissenschaftlich-alchimistische Praxis an).41 Wer aber über die Physik hinaus zur Metaphysik fortschreiten will, kann keinesfalls auf geheimste Offenbarung verzichten, die sich (etwa auch zufolge der ClaviculÆ Salomonis Et Theosophia Pneumatica) nur dem göttlich rein Strebenden (dem Talmid) erschließt.42 Während die 10. Strophe solche arkaneren Anwendungen nur dem mit radikalpietistischem Laborantenvokabular Vertrauten durchschaubar macht,43 wird die Quintessenz der Gleichsetzung von Studium mit Liebe und Lobpreis Gottes allen pietistisch Gesonnenen eingängig. Sofern der hermetische Hintersinn nicht realisiert wird, kann man unanstößig sprechen und singen vom „göttlichen Trieb“ und von „JEsu geheimester Lieb“. Christus als Arzt und als Apotheker sind in der pietistischen Medizin und Pharmazie (wie auch schon in der spiritualistisch-christlichen Emblematik) ebenso geläufige Bildvorstellungen44 wie das gemeinchristliche (neutesta41 Vgl. Karl Hoheisel: Christus und der philosophische Stein. Alchemie als über- und nichtchristlicher Heilsweg. In: Die Alchemie in der Europäischen Kultur- und Wissenschaftsgeschichte. Hg. von Christoph Meinel, Wiesbaden 1986 (Wolfenbütteler Forschungen, Bd. 32), S. 61–84. 42 Vgl. hierzu die Angabe oben, Anm. 5. 43 Dazu, mit weiteren Literaturverweisen, Christa Habrich: Alchemie und Chemie in der pietistischen Tradition. In: Goethe und der Pietismus. Hg. von Hans-Georg Kemper und Hans Schneider, Tübingen 2001 (Hallesche Forschungen, Bd. 6), S. 45–77 und neuerdings dies.: Von der Alchemie zur Förderung der chemischen Wissenschaft und Technik. Goethe zwischen hermetischem Denken und Pragmatismus. In: Von der Pansophie zur Weltweisheit. Goethes analogisch-philosophische Konzepte. Hg. von Hans-Jürgen Schrader und Katharine Weder, Tübingen 2004, S. 9–29. 44 Einen historischen Überblick über diese Bildtradition gibt Christa Habrich: La m8decine entre Hippocrate et J8sus-Christ: M8decins et patients pi8tistes. In: La Bible / la crois8e des savoirs. Ed. par Maria-Cristina Pitassi (Revue de Th8ologie et de Philosophie, vol. 133; 2001/III), GenHve – Lausanne – Neuch.tel 2001, S. 325–342 (mit Abschnitten wie „Les influences de l’alchimie sur la m8decine pi8tiste“, „,Iatroth8ologie‘ en tant que synthHse entre la Bible et la m8decine“ und „Le Christ en tant que m8decin qui apporte le salut pour l’.me et le corps“). Vgl. ergänzend den Katalogband von Fritz Krafft: Christus ruft in die Himmelsapotheke. Die Verbildlichung des Heilandsrufs durch Christus als Apotheker. Begleitbuch und Katalog zur Ausstellung im Museum Altomünster. Mit Beiträgen von Christa Habrich und Woty Gollwitzer-Voll, Stuttgart 2002 (Quellen und Studien zur Geschichte der Pharmazie, Bd. 81). Für das Motiv aufschlußreich ist die Liedpredigt des Potsdamer, dann Berliner Pfarrers und geistlichen Dichters Daniel Schönemann (vgl. den Artikel von Heimo Reinitzer in: Literatur Lexikon. Hg. von Walther Killy. Bd. 10, München 1991, S. 356 f.), „Der Sarg Als Ein Rechter Artzt, allen und jeden Zur genauen Uberlegung GOtt=liebenden Gemüthern aber zur vergnügenden Erbauung In gebundener Rede fürgestellet“, Berlin: Haude 1725. Auf dem Titelkupfer bereitet Christus neben einem Sarg mit der Deckelaufschrift „Wer kranck ist hat hir Artzeney jj Es sey die kranckheit wie sie sey“
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mentliche) Paradox vom irdischen Tod als Eingang ins geistliche Leben und vom zu Tode Gekreuzigten als Überwinder des Todes. Helfer und Anleiter also ist er zu einer über menschliche Therapien und Medikationen hinausgehenden Heilkunst. Im Fortschreiten zu den Studieninhalten der Rechts- und Staatsrechtswissenschaften (Str. 12/13) wird erinnert, dass die reinen und einfachen (lauteren und schlichten) Lehren bzw. Rechtsgutachten von Gottvater und Sohn die Gerechtigkeit wesenhaft verkörpern.45 Sie studiert man also aufs Beste am Ursprung alles ius divinum. Wiederum ausgeblickt wird für die politischen und kameralistischen Anwendungen auf geheimeres Wissen (Scutum Davidis, nur den Adepten nächtlich offenbarte Schätze), zu dem die akademischen Pedanten nie Zugang gewinnen. Als höchstes und letztes Ziel allen Studierens wird (Str. 14/15) zuletzt die Theologie aufgerufen. Sie wird so noch einmal in die im Wissenschaftsaufbau durchaus schon angefochtene Spitzenstellung über den anderen Fakultäten versetzt, hoch über ihrer ancilla, der Philosophie. Die wahre Gottesgelehrtheit lerne man statt im Eifer unseliger Geschäftigkeit am besten, wenn man der Heilslehre lauscht ohne Umtriebigkeiten und Eigenwirken in der Demut jener Maria, die nach Lk 10,39–42 „das gute Teil erwählt“ hat, das einzige, das nottut: Sie „setzte sich zu Jesu Füßen und hörte seiner Rede zu“. Was aber den Aufschluss der göttlichen Geheimnisse angeht, sind sie schon gar nicht im Wortstreit um biblische loci zu ergründen, sondern nur im mystischen Hinhören auf den Propheten vor allen Propheten: abyssus abyssum invocat! Mit dem Wecken der Herzensbegier nach dem großen Propheten endet der und mit darin liegenden Medikamentenpackungen wie „Gott=Tinctur“ und „Essent. Dulc.“ in einem Mörser eine „Universal=Medicin“ zu. Die Bildunterschrift lautet: „Ich sehe dich mein Sarg mit Glaubens Augen an Und weiß, daß ich an dir, viel gutes finden kan Mein Jesus legt in dir, die Besten Artzeneyen Und übergiebt Sie mir, so werden sie gedeyen Sehr wohl wan ich mit fleiß, für meinem Sarge steh Er tröstet mich, weil ich, als meinen Artz Ihn seh.“ Zur Motivgeschichte vgl. überdies Johannes Burkardt: Christus als Apotheker oder Bemerkungen zur Vorstellungswelt des Pietismus im 18. Jahrhundert anhand eines Bildes im Herrenhaus Schwarzenau. In: Wittgenstein. Blätter des Wittgensteiner Heimatvereins, H. 4/1974, S. 136–146, sowie die Reproduktion dieser Darstellung auf dem Cover der Textsammlung Gerhard Tersteegen: Abhandlung zu Frömmigkeit und Theologie. Hg. von Johannes Burkardt, Leipzig 2018 (Edition Pietismustexte, Bd. 12), vgl. Nachweis S. [4]. – Zum Bild von Christus als Hebamme (in der krassen Perinatalmetaphorik pietistischer Wiedergeburtsbilder), noch in Goethes Gedicht „Der ewige Jude“, vgl. Irmtraut Sahmland: „Die Natur in einer schönen Verknüpfung“: Goethes Adaption der „Aurea Catena Homeri“. In: Von der Pansophie (wie Anm. 43), S. 55–84, hier S. 61, Anm. 21. 45 In seiner Predigt zur Eröffnung der Universität Halle hatte Spener aus allen profanen Studien gerade die Rechtswissenschaft ausgeführt. Sie bedürfe als Lehranstalt am sichtbarsten einer „werckstätte […], darinnen der H. Geist wircke“, insofern die juristische Praxis am Wohl der Menschen orientiert sein müsse, also akademisches Wissen ohne Liebe verderblich sei. Vgl. Blaufuß: „Pflanzgarten des Glaubens“ (wie Anm. 30), S. 163.
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Durchgang durch die Fakultäten und die Ausrichtung der Lehrinhalte und Lernweisen jedes Faches auf immer denselben „Professor der oberen Schul“, und das Gedicht kehrt zu seinem Ausgangsmotiv zurück. Was ihm noch anzusprechen bleibt, ist zunächst die Evaluierung, die Auflistung der Kennzeichen, an denen der erstrebte Studienerfolg messbar wird, und die Applikation auf den Sprechenden (bzw. die Mitsingenden) selbst, wobei sich die Argumente der Lernziel-Fixierung notwendig wiederholen. Himmelsklarheit anstelle der irdischen Nebel und Schatten muss erreicht werden (ob die Kandidaten selbst schon in den Chor der Propheten gestellt sind, lässt das Examen klüglich offen). Vormalige Toren sind unter der Anleitung des magister veritatis (gerade im Verzicht auf gelehrten Wissensdunst) weise geworden, Blinde sehend, Stumme zu Sprechern, geistlich Tote haben das Leben erlangt. Als Kennzeichen des Studienerfolgs gilt nicht allein die Überwindung der hoffärtigen Begierden und fleischlichen Sinnlichkeit, sondern auch der Schutz vor verführerischer Einbildungskraft („auffsteigende Bilder“ der Phantasie, wobei im Dichten und Trachten des Lügengeists die traditionelle Fiktionsverdammung der Pietisten anzuklingen scheint). Nur der herkulische Gottesheld könne im Augiasstall des menschlichen Herzens solchen „Unflat ausschäumen“. Die Apostrophe der vorletzten Strophe an den Heiland und „Immanuel“ (Jes 7,14, Mt 1,23)46 ist ein Gebet, er möge die Studiosi, die ihm und seiner Lehre nachfolgen wollen und dafür auf weltliche Vernünftelei Verzicht leisten, auch wirklich annehmen, er möge ihnen das in allen Studien zu bewährende gläubige Herz geben. Die nicht unbedenkliche Konsequenz der auf Unmündigkeit und eine Gängelband-Pädagogik gegründeten pietistischen Hochschuldidaktik sind nicht kritisch wägende, sondern enthusiastische Propagatoren der eingesogenen Lehre, „brennende Kerzen“ nicht nur als strahlende Kirchenlichter bei deren Verkündigung, sondern auch als sich Verzehrende und Aufopfernde für die Verbreitung dieses Lichts: lucendo consumor! Die akademischen Gradus, die in dieser Hohen Schule zu erlangen sind, und auf die die Schlußstrophe ausblickt, können nur die in Demut und Liebe bewährten klugen Jungfrauen des Jesus-Gleichnisses Mt 25,1–13 erringen, weil sie ihre Lampen allzeit bereit gehalten haben. Die Qualifikation gilt, wie der Eingangsvers dieser Parabel sagt, für „das Himmelreich“. Insofern die Studiosi dem König der Demut und Liebe nachfolgend ganz zugehörig und 46 Die gemeinpietistisch (insbesondere dann unter den Inspirierten) beliebte Jesus-Anrede als „Immanuel“ (nach der Heilandankündigung Jes 7,14) wird in den Sendschreiben der Straßburger Philadelphier gern als Kennchiffre verwendet, so im Brief des befreundeten Pfarrers, Mag. Johann Friedrich Ruopp, an Johann Friedrich Haug [undatiert, Herbst 1704], wo „Immanuel! In demselben lieber Bruder“ zur Eingangsformel dient und die Namensübersetzung („Gott mit uns“) zum Schlussgruß: „Der HErr ist mit uns / Alleluja! Ich grüße euch alle hertzlich“ oder in Haugs eigenem Schreiben an seinen später langjährigen Mitstreiter, Andreas Groß in Esslingen, vom 2. Sept. 1704 als Eingangsformel: „Immanuel!“. In: [Zentgraf]:Historischer Bericht (wie Anm. 9), S. 106 f., 111.
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ähnlich geworden sind, werden sie gekrönt mit den höchsten Zertifikaten der Himmelsakademie. Als deren Doktoren und Magister halten sie, Apk 2,10 und 3,11, die Krone des Lebens in Händen, die niemand ihnen rauben soll. Bei all seiner offenbaren metaphorischen Übertragbarkeit auf das ,unum necessarium‘ jeder christlichen Lebensorientierung, auf Umkehr und Neuwerdung überhaupt, verkündet der Studenten=Gesang zweifellos in erster Dimension ganz unmetaphorisch das pietistische Programm einer Studienreform, die die notwendige (bei aller Ablehnung eines funktionslos nur der Hoffahrt dienenden Wissensdunsts im Gedicht gar nicht in Frage gestellte) fachliche Ausbildung für die weltlichen Zielberufe stets auf die Perspektive jenes höheren ,necessarium‘ bezogen sehen will. Orthodoxe Kasuistik und Disputiersucht, aber auch ein aufklärerisches ,sapere aude‘ ohne vor religiösen Kernpositionen aufgerichtete Denkverbote sollen damit abgewehrt werden; zugleich aber wird auch positiv dem an den Universitäten um sich greifenden Pennalismus und Pedantentum ein ethisches Korrektiv entgegen gesetzt47 und eine allumfassend-höhere gesellschaftliche Verantwortlichkeit. Ein poetischer Ausblick sei mir im verbindenden Interesse an Literatur und Theologie im 18. Jahrhundert verstattet jenseits des analysierten Studienreformprogramms in Versen, das 1710, gerade zwölf Jahre, nachdem Gottfried Arnold sein akademisches Lehramt in Gießen um ähnlicher Skrupel willen niedergelegt hatte,48 gegen einen Wissenschaftsbetrieb Front gemacht hatte, der Wissen produzierte, nicht aber Herzenseinkehr. Nur des Zitats bedarf es dafür jener allbekannten Dramenverse, die zwei Generationen später (und sicher ohne die Vorlage dieses Gedichts)49 ein noch einmal nach höherer 47 Zu deren Bedeutung auch für die junge Universität Halle vgl. Schrader: Geschichte der Friedrichs-Universität (wie Anm. 35), 1. Teil, S. 116–118, Mau: Programme und Praxis (wie Anm. 29), S. 79. 48 Über Arnolds „Offenhertzige Bekäntnis / welche Bey unlängst geschehener Verlassung eines Academischen Amptes abgeleget worden“ von 1698 und das ungeheure dadurch erregte Aufsehen (rasch nach Erscheinen mindestens zehn Auflagen) vgl. abbreviativ Schneider: Der radikale Pietismus im 17. Jh. (wie Anm. 6), S. 412 f., detaillierter ders.: Gottfried Arnold in Gießen. In: Standfester Glaube (Festschrift J.F.G. Goeters). Hg. von Heiner Faulenbach, Köln 1991, S. 247–275. Kommentierte Neuedition von Dietrich Blaufuß in: Gottfried Arnold. Radikaler Pietist und Gelehrter. Hg. von Antje Mißfeldt, Köln – Weimar – Wien 2011, S. 193–199 (vgl. S. 191–261), zugehörige Quellen in Gottfried Arnold: Gießener Antrittsvorlesung sowie andere Dokumente seiner Gießener Zeit und Gedoppelter Lebenslauf. Hg. von Hans Schneider, Leipzig 2012 (Edition Pietismustexte, Bd. 4), vgl. S. 204 f. und 113–134. 49 Die Serie der möglichen Vorgaben für den in gleichartigem Durchprüfen aller Fakultäten geäußerten D8go0t an akademischem Wissenschaftsbetrieb und einem auf Wissenskumulierung gegründeten Gelehrtenideal vor Fausts Verzweiflungsmonolog im Eingang des Goetheschen Dramas bedürfte wohl noch näherer Studien (denn die neueren „Faust“-Kommentare geben dafür nur wenig Hilfestellung, vgl. noch am einlässlichsten dazu Ulrich Gaier: Goethes Faustdichtungen. Ein Kommentar. Bd. 1: Urfaust, Stuttgart 1989, S. 272, 276–278). Zugrunde liegt (auf welchen Vermittlungswegen auch immer) zweifellos die Schelte der akademischen Wissenssparten in Faustus’ Eingangsmonolog des Dramas von Christopher Marlowe: The Tragedie of Dr. Faustus (entstanden um 1592, früheste Drucküberlieferung von 1602). Vgl. The Complete Works of Christopher Marlowe. Ed. by Fredson Bowers, Cambridge 1973, S. 162 f.; The Complete
„Anweisung zur Seligkeit in allen Facultäten“
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Einsicht Fahndender, dabei für die radikalpietistische Kritik an Institutionen, Denk- und Verhaltensformen sehr Aufgeschlossener, seinem Protagonisten nach dem ganz gleichartigen Durchgang durch die akademischen Fakultäten in den Mund gelegt hat. In ihrer ursprünglichen Fassung hatten die gelautet: Hab nun ach die Philosophey Medizin und Juristerey Und leider auch die Theologie Durchaus studirt mit heisser Müh. Da steh ich nun ich armer Tohr. Und bin so klug als wie zuvor. Heisse Docktor und Professor gar […] Und seh daß wir nichts wissen können, Das will mir schier das Herz vebrennen. Zwar bin ich gescheuter als alle die Laffen Docktors, Professors, Schreiber und Pfaffen […]. Dafür ist mir auch all Freud entrissen Bild mir nicht ein was rechts zu wissen Bild mir nicht ein ich könnt was lehren Die Menschen zu bessern und zu bekehren.50
Works of Christopher Marlowe. Ed. by Roma Gill, Oxford 1990, Bd. 2: Dr Faustus, S. 4 f. – In dieser wird, im „Commentary“ des Herausgebers (S. 53), auf eine Analogie hingewiesen bereits in John Lily: Euphues (1578). In: The Complete Works of John Lily. Ed. by R. Warwick Bond. Bd. 1, Oxford 1902, S. 241. Auf eine Adaption in der Vorgeschichte pietistischen Denkens wies mich liebenswürdig Karl Pestalozzi hin (und machte mir den Text zugänglich), die erste Szene im 1. Akt von [Johann Valentin Andreae]: TVRBO, Sive moleste et frvstra per cuncta divagans Ingenivm. In Theatrum productum. o.O. [„Helicone, Iuxta parnassum“] 1616, S. 8–42 (und, den Überblick der Fakultäten kurzfassend, im vorangestellten „Argumentum Comoediae“, S. 6 f.); vgl. die deutsche Übersetzung, Johann Valentin Andreae: Turbo oder der irrende Ritter vom Geist […] mit allen seinen höchst kläglichen und müßigen Kreuz= und Querfahrten. Aus dem Lateinischen übersetzt von Wilhelm Süß, Tübingen 1907, S. 25–55. In seiner Einleitung weist der Übersetzer auf die bereits vorgängige Tradition ähnlicher „Dramen vom Studentenleben“ (S. 12) hin und macht auf Entsprechungen im Monolog Turbos zur Faust-Klage aufmerksam: „Alle Wissenschaften hat er studiert, überall hat man ihn zum Narren gehalten, seine curiositas hat nirgends einen Ruhepunkt gefunden, die Burg der Weisheit liegt in weiter, unfaßbarer Ferne.“ (Ebd., S. 15, vgl. S. 18–20). Eineinhalb Generationen jenseits des Haugschen „Studenten=Gesang“ liegt die Rousseausche Wissenschafts- und Studienkritik (vgl. Gaier: Goethes Faustdichtungen, wie oben, S. 272), die für Goethe eine Bestätigung eigener Vorbehalte geboten haben mag, wo aber die charakteristische Inspektion eines erprobten Studiengangs durch alle Fakultäten fehlt: Vorwort zum Lustspiel „Narcisse ou l’amant de lui-mÞme“ (1752). In: JeanJacques Rousseau: Œuvres complHtes. Ed. par Bernard Gagnebin et Marcel Raymond. Bd. 2, Paris 1964 (BibliothHque de la Pl8iade, Bd. 153), S. 955–974, hier S. 963 f. 50 Johann Wolfgang Goethe: Faust. Frühe Fassung nach der Handschrift des Hoffräuleins Luise von Göchhausen, Vs. 1–20. In: Ders.: Faust. Texte. Hg. von Albrecht Schöne, Frankfurt 1994 u. ö. (Sämtliche Werke (FA), I. Abt., Bd. 7/1; Bibliothek deutscher Klassiker, Bd. 114), S. 496; Erläuterungen, ebd.: Kommentare, Bd. 7/2, S. 827–834.
Rezension zu Michaela Scheibe: Rekonstruktion einer Pietistenbibliothek. Der Büchernachlass des Johann Friedrich Ruopp in der Bibliothek der Franckeschen Stiftungen, Tübingen 2005 Tübingen: Verlag der Franckeschen Stiftungen Halle im Max Niemeyer Verlag 2005 (Hallesche Quellenpublikationen und Repertorien, Bd. 8). – XII, 227 S. [2005, L 66]
Die Bibliothek der Franckeschen Stiftungen in Halle ist in der Anfangszeit aus privaten Stiftungen und Erbschaften zusammen gewachsen – bei dringenderem Geldbedarf für den Aufbau des Waisenhauses und seiner rasch anwachsenden Institutionen, für den Unterhalt und die Ausbildung der Zöglinge war ein Budgetposten zum Bücherkauf noch gar nicht vorgesehen. Wie sein gesamtes missionarisches Aufbauwerk einer schrittweisen Umwandlung der Welt durch die Umwandlung der Herzen hat der fromme Gründer auch das Einsammeln an geistig-geistlicher Nahrung getrost der göttlichen Fürsorge anheimgestellt. Wenn sich ohne systematische Ankäufe schon bald eine Bibliothek von spezifischem und für die Anstalten bedarfsgerechtem, also vorrangig theologischem und insbesondere pietistischem Profil zusammenfügte, dann lag das daran, dass die Schenker und Erblasser dem Gründer selbst und seinen Idealen nahestanden, also Bücher hinterließen, die auch hier gefragt waren. Es brauchten für den geordneten Ausbau nach jeder Erweiterung nur die Dubletten für den Gebrauch (und sukzessiven Verbrauch) im Unterricht oder zur Aufstellung in anderen Institutionen der Stiftungen ausgegliedert zu werden. Oder aber die nicht benötigten Bände konnten zu Geld gemacht werden – sei es zu gezielten Ankäufen, sei es, um anderweitiger Notwendigkeit zu steuern. Infolgedessen waren die ersten Kataloge der Bibliothek die hintereinander gestellten Verzeichnisse der einkommenden Sammlungen, beginnend mit der 1704/05 nach Halle gestifteten Teilbibliothek des spiritualistischen Kirchenund Gesellschaftskritikers Friedrich Breckling, über deren Rekonstruktion und Erschließung die heutige Bibliotheksleiterin Brigitte Klosterberg wiederholt berichtet hat.1 Gleich die im Jahr 1708 hinzugelangende zweite Privatbibliothek, ehe die Bestände durch Schenkung oder Hinterlassenschaft anderer den Anstalten Gewogener oder in ihr Tätiger wie Justus Lüders, Carl Hildebrand von Canstein, Andreas Achilles, Paul Anton und Heinrich Milde
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Michaela Scheibe: Rekonstruktion einer Pietistenbibliothek
anwuchsen, war der Buchbesitz des bereits 36jährig als Inspektor der Waisenhaus-Freitische (also Stipendienverwalter der Anstalten) und Adjunkt der Theologischen Fakultät verstorbenen Elsässers Johann Friedrich Ruopp (1672–1708). Der hatte seine Büchersammlung bereits im Vorgefühl des Todes im Mai 1708 seinem Förderer Francke, der ihn Anfang 1705 nach dem Verlust seiner Pfarrstelle in Goxwiller unterm Odilienberg („Gottesweiler“) und der Ausschaffung aus den französischen Landen aufgenommen und in Brot gesetzt hatte, an das Waisenhaus vermacht. Durch die bescheidene Herkunft Ruopps aus einer Schuhmacherfamilie, einen turbulenten Lebensgang, der ihn nur kurzzeitig ins Amt und nie zu Vermögen kommen ließ, und durch den frühen Tod konnte die Buch-Hinterlassenschaft weder der Menge noch dem Wert nach etwas Besonderes sein: zu rekonstruieren sind bloß 359 Titel, ganz überwiegend zu Lebzeiten des Käufers erschienen und kulminierend aus seinen letzten Jahren. In der Abfolge der Fußstapfen auf dem langen Marsch der Stiftungen zu künftig institutioneller Größe aber war die Übernahme doch ein zweiter wichtiger Schritt. Es sind auch nicht Größe, Wert oder auffallende Besonderheiten, die den Bearbeitungs- und Erkenntniswert dieser kleinen, so früh in die Bibliothek der Franckeschen Stiftungen eingegliederten bzw. ihnen durch teilweise Umnutzung oder Veräußerung zusammengekommenen Sammlung ausmachen. Wäre der Bestand nicht so überschaubar und überdies so wohl dokumentiert (im Stiftungsarchiv erhalten nämlich ist neben dem Testament die Verlassenschaft Ruopps vom 19./20. Juni 1708, ein grob nach Diktat angefertigtes Inventarium seiner Bücher – meist ohne Erscheinungsorte und oft ohne Jahresangaben, bei Sammelbänden fast immer nur den zuoberst eingebundenen Titel erfassend –, und die gründlichere Katalogisierung zum Einordnen in die Bibliothek der Stiftungen, das Bücherverzeichnis Nachlass Ruopp vom Juli 1708), dann hätte er gar nicht im gegebenen Rahmen erfasst und erforscht werden können. Die überschaubare Titelzahl, die Möglichkeit, durch den Quellenvergleich und die Abgleichung mit dem heutigen Bibliotheksbestand bzw. mit den einschlägigen bibliothekarischen Hilfsmitteln zu präzisen Angaben, aber auch zu einem Bild über das sogleich Ausgegliederte oder anderweitig Verwendete zu gelangen, machte das Sujet optimal geeignet für den Zweck einer Abschlussarbeit (an der Fachhochschule Köln) im Assessorexamen für den Höheren Bibliotheksdienst. Zur Publikation ausgebaut werden aber konnte die Studie und Dokumentation nicht zuletzt auch aufgrund des Quellenwerts der Sammlung für die Pietismusforschung, erschließt sie doch den Buchbesitz eines kaum mehr bekannten, also wenig erforschten, gerade dadurch vielleicht aber besonders „typischen“ Pietisten, von immerhin bleibenden Leistungen (vor allem als Kirchenlieddichter) und von bedeutsamer Konnexion für die Regionalgeschichte des Pietismus. In ihrem „Vorwort“ (S. IX–XI) resümiert Brigitte Klosterberg, offensichtlich die Anregerin dieser für das eigene Haus so interessanten Sujet-Wahl, wie die Verfasserin Michaela Scheibe (heute tätig in der Abteilung „Historische
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Drucke“ der Staatsbibliothek zu Berlin) während ihres Referendariats mit der Bibliothek der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg und jener der Franckeschen Stiftungen (also auch mit den Ruopp-Bibliotheksverzeichnissen) als geeignetem Objekt für die „zeitlich knapp bemessene Assessorarbeit“ vertraut wurde (S. XI). Sie würdigt über den bibliothekarischen Ertrag hinaus die bedeutsamen Verdienste um Revision und Ergänzung unserer Kenntnisse um das Leben und die Leistung dieses Pietisten – auch um die Identifikation seines Gesangbuchs von 1704, das in den Streitschriften der Jahre 1701–1705 um die durch Verhöre, Amtsenthebungen und Landesverweisungen brutal niedergeschlagenen pietistischen Unruhen in und um Straßburg oft als Gemeinschaftswerk Ruopps mit dem ihm befreundeten Theologiekandidaten Johann Friedrich Haug genannt und dem Vorwurf einer zensurumgehendanonymen Herausgabe und Verbreitung verdächtiger Lehren ausgesetzt war. In den Quellen, v. a. der vom Kirchenkonventspräsidenten und vormaligen Professor der beiden zusammen mit allen ihren Gesinnungsfreunden gemaßregelten Jungtheologen an der Universität Straßburg herausgegebenen Streitschrift (Johann Joachim Zentgraf: Deß Evangelischen Kirchen=Convents in Straßburg Abgenöthigter Historischer Bericht / Von der jüngst daselbs entstandenen Pietistischen Brüderschafft Und Philadelphischen Gesellschafft, Straßburg: Lerse 1706), und in der nicht minder voluminösen Apologie des Wortführers der Gegenpartei, des späteren Hauptübersetzers, Kommentators und Editors der ,Berleburger Bibel‘, Johann Friedrich Haug (Zeugnusz der Liebe An die Inwohnere der Stadt Straßburg, o.O. 1708), war dieses Gesangbuch ohne genaue Titelangabe als „Kern geistlicher Lieder“ oder als „Jesus=Lieder“ benannt, hatte bislang aber trotz aller Mühe nicht eruiert werden können. In der Tat ist in zahllosen Details unsere Kenntnis der Biographie Ruopps durch die akribisch recherchierte „Einführung“ der Verfasserin maßgeblich befördert: damit auch von Hintergründen und Zusammenhängen des frühen kurzzeitigen Experiments einer Philadelphischen Gemeinschaft im Elsass, die 1701 angestiftet war von dem aus dem hessischen Allendorf, also der Einflusssphäre Henrich Horchs, nach Straßburg heimgekehrten Lehrers, weiland Schuhmachers, Johann Heinrich Krafft, und die durch die Austreibung Haugs wesentlich noch eingewirkt hat auf das Philadelphia der Zwanziger- und Dreißigerjahre in Berleburg, dieses herausragende Zentrum des radikalpietistischen Buchdrucks und Buchhandels in Deutschland mit seinen Vernetzungen bis ins koloniale Nordamerika. Herausgearbeitet wird hier, wie Ruopp, ein streng lutherisch-orthodox Erzogener und Ausgebildeter (etwa in seiner Disputation bei Zentgraf von 1692 über den Dichterwahnsinn, „furor poeticus“ nach Platons Dialogen Ion und Phaidros und in der folgenden Erhebung zum Poeta laureatus), während eines Leipziger Aufbaustudiums durch die Konversion des Sächsischen Kurfürsten um der Königskrone Polens willen in Zweifel über alles bisher Erlernte verfällt und dann nach dem Wechsel an die junge Universität Halle bei den Professoren Breithaupt, Anton, Francke, in der
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Freundschaft mit exponiert pietistischen Kommilitonen wie Johann Daniel Herrnschmidt und dem Straßburger Andreas Gross (Groß) zum später unter dem Druck der Behörden zunehmend radikalisierten Pietisten wird. Verwandtschaftliche und freundschaftliche Bande zwischen den Elsässer Philadelphiern werden sichtbar : Ruopp war Cousin des Mitstreiters Johann Georg Röderer, er war selbst der initiale Anreger für Haugs kirchen- und dogmenfeindlichen Pietismus. Übrigens erweisen die Quellen sein Eintreten für die von der Verfasserin eher übergangenen spezifisch philadelphischen, auch mystischen Impulse, dabei sein Bemühen um Ausgleich (Scheibe, S. 11) und die Verteidigung der Bruderliebe unter den profilierungs- und verfolgungsbegierigen stürmisch institutionenkritischen Eigenbrötlern. So schreibt Ruopp an seinen Bruder im Herrn Immanuel, den Brausekopf Haug, offenbar im Sommer 1704, nach misstrauenstiftenden Intern-Zwistigkeiten der sich zu brüderlicher Duldsamkeit über konfessionelle Grenzen hinaus und zur Vorbereitung des Gottesreichs berufen glaubenden Gemeinschaft: SChon einige zeit lieget mirs immer im sinn / es werde eine Sichtung unter uns vorgehen. Ich förchte / wir handlen unter einander so gar nicht nach der Liebe. Man urtheilt diß, man urtheilet das. Dardurch werden die hertzen untereinander zertrennet / durch allerley bittern Saamen der Eigenliebe / und des daher rührenden Argwohns. […] Ein jeder will der klügste seyn. Damit erstürbet brüderliche und allgemeine Liebe. […] Wers nicht in allen Stucken mit uns halten will / den werffen wir gantz dahin. […] Gewiß liebe / erbarmung / gedult / und Sanfftmuth […] ist uns sehr noth. Ich deute solches auch auff mich. Haltet mir aber auch zu gut das wort der ermahnung an euch! Lasset uns vor einander ringen vor dem Angesicht JEsu Christi / dass wir in seinem Hertzen recht zusammen fliessen / und in dem Feur seines Geistes zusammen schmeltzen. [Abgedruckt bei Zentgraf: Bericht, S. 106 f.]
Haug lässt sich das offenbar eine Lehre sein (in einem Jesuslied dichtet er „Ich wünsche nur der kleineste zu seyn jj In Gottes Volck“, ebd., S. 23). In einem Brief aus Straßburg berichtet er später an die Brüder vom Erscheinen des unter Zensurumgehung gegen die Glaubenswächter der Orthodoxie gerichteten Gesangbuchs: DEn Kern geistlicher Lieder in vier Bogen bestehend / haben wir hier trucken lassen / ist auch würcklich fertig: welches ohne zweiffel neuen Sturm verursachen wird / weil es ohn ihr wissen geschehen / und aber eines darunter ist von Ruoppen verfertiget / das ihnen sehr wehe thun wird. Der HErr [El Schaddai] aber wird schon alles hinauß führen zu seinen Ehren [Abdruck bei Zentgraf: Bericht, S. 200 f.].
Dieses für die heterodoxe Liedverbreitung und für den Gemeinschaftsgesang in den kirchenkritischen Konventikeln bedeutsame Buch nun hat die Verfasserin (zufolge der Fußnote mit der Ermittlungshilfe des FreylinghausenGesangbuch-Editors Wolfgang Miersemann) identifizieren und ein Exemplar in der Bibliothek der Franckeschen Stiftungen nachweisen können, somit der hymnologischen Erforschung zugänglich gemacht. Es ist betitelt Geistreiche
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Gesänge Vor JEsum-liebende Seelen und trägt die Signatur 64 I 30. Von Ruopp, der v. a. bekannt geblieben ist durch sein in die Kirchengesangbücher der Gegenwart überkommenes Lied Erneure mich, o ewigs Licht (EKG 264 / EG 390), kann sie vier der durchweg anonymen Gesänge darin nachweisen, neben dem in Haugs Brief angesprochenen Hilf lieber Gott, wie große Not drei weitere dadurch, dass sie in Freylinghausens Gesangbuch, das insgesamt sieben Ruopp-Lieder präsentiert, aufgenommen wurden (S. 12, vgl. S. 1 und XI). Solche Erkenntniszugewinne sind für die Pietismusforschung wenigstens ebenso bedeutsam wie die mit größter Sorgfalt und quellenkritischer Behutsamkeit ausgeführte bibliographische Erschließungs- und Einordnungsarbeit. Die beiden Quellenschriften aus dem Todesjahr für den vermachten Buchbesitz, die Verlassenschaftsliste und die spezifiziertere Erstkatalogisierung, massiv divergierend einerseits durch Entnahmen vor der Eingliederung in den Bestand der Waisenhaus-Bibliothek, andererseits durch das erst beim Katalogisieren weitgehende Mitverzeichnen von Angebundenem, sind im Band in systematischer Mehrfachpräsentation optimal erschlossen: sie sind im Abbildungsteil faksimiliert, in Konkordanzen mit Übersichten über die Abweichungen (Titel, die nur in einer der Auflistungen vorkommen) und mit ergänzenden Listen der in beiden Bestandaufnahmen übersehenen Bestände an Angebundenem in eindeutig auf Ruopps Bibliothek zurückgehenden Bänden erschlossen. Zusätzlich noch sind die Originalwortlaute im Hauptteil der Arbeit als Basisbeleg vor jede bibliographische Titel-Identifikationen nach heutigen Standards gesetzt. Überdies sind sie systematisch nach Wissenskategorien und Druckorten aufgeschlossen (mit dem wenig überraschenden Befund, dass die reichlich vorhandenen reformatorischen und Bekenntnisschriften sowie das theologische Rüstzeug oft in Wittenberg, Leipzig oder Jena gedruckt war, dass Frankfurt stark präsent war durch die reichlicher als Luther-Werke gesammelte Spener-Literatur, dass der Elsässer viel in Straßburg Verlegtes, auch mancherlei Französischsprachiges besaß und schließlich, dass Amsterdam als Druckort ausgewiesen ist auf vielen Beständen aus der spiritualistischen Tradition, von Böhme und den Böhme-Schülern und -Editoren bis hin zu einem philadelphischen Traktat von Jane Leade). Sehr nützlich ist das zusätzliche Drucker-/Verlegerverzeichnis, ein ergänzendes „Sachregister“ freilich muss grob bleiben. Mit Bedauern wird wiederholt der Verzicht auf weitere Ausgriffe mit der bestimmungsgebundenen Knappheit der Ausarbeitungszeit begründet. Mir aber scheint die Katalogisierung und monographische Erschließung vollkommen hinlänglich, bisweilen sogar fast über Bedarf ausgeführt. Der Erkenntnisgewinn etwa der als nicht geleistet genannten Erhebungen, welche der Bände der heutigen Bibliothek auf Ruopp zurückgehen und wo sie durch Bestände besseren Erhaltungszustandes ersetzt wurden, Ermittlungen möglicher Provenienzen der Ruopp-Ankäufe oder einer zusätzlichen Autopsierung der doch nach zuverlässigen modernen Titelaufnahmen ausgeführten
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Michaela Scheibe: Rekonstruktion einer Pietistenbibliothek
bibliographischen Angaben schiene mir gering. Vielleicht hat die zeitliche Begrenzung der Arbeit sogar dienlich sein können. Denn für den Ruoppschen Büchervorrat muss man sagen: Durch das Vorhandensein etlicher für die Geistigkeit des Pietismus formender Traditionslinien aus Mystik, Spiritualismus, Basisliteratur der Frömmigkeitsreform selbst und einem hohen Anteil an Erbaulichem und Exempelbüchern ist hier zwar ein pietistisches Sammelinteresse augenscheinlich, keineswegs aber außergewöhnlich hervortretend oder gar in radikal zugespitzter Tendenz ausgeprägt. Hierfür wäre als einzig gewichtiges Desideratum dieser sorgfältigen buchgeschichtlichen Studie zu erinnern, dass wir als Vergleichsmaßstab ja nicht nur die modernen forscherlichen Rekonstruktionen von Pietistenbibliotheken, etwa von Spener oder Gottfried Arnold und neuerdings von Breckling oder Locher zur Verfügung haben, sondern zuhauf die gedruckten Auktionsverzeichnisse nach dem Tode der Sammler, etwa von Johann Wilhelm Petersen, Friedrich Adolf Lampe, Johann Jacob Rambach, Johann Salomon Semler, Johann Christian Gottfried Jahn, aber auch die von Widersachern, die die gegnerischen Publikationen sammelten (Erdmann Neumeister) oder Kirchengeschichtlern (Johann Lorenz Mosheim, Paul Jacob Förtsch), schließlich die Sortimentsverzeichnisse der im pietistischen Buchmarkt exponierten Verleger und Buchführer (Betkius, Launoy, Luppius, Johann Jacob Haug, Walther). In solchen Vergleichsmaßstäben aber war der pietistische Buchbesitz Ruopps durchaus begrenzt und im Zuschnitt wenig radikal. Im Vordergrund standen da – neben natürlich Spener (20 Titel neben Herausgegebenem und Bevorwortetem, mehr als von jedem anderen Autor!) und Arndt als Vorbereiter (3 Schriften) – insbesondere die Hallenser Lehrer und Bekannten, Francke (7 Titel), Lange (4 Titel), Breithaupt (3 Titel) sowie, mit jeweils nur einem Werk, Paul Anton, Christian Friedrich Richter, Johann Caspar Schade, Gottfried Vockerodt. Stellt die Verfasserin den erstaunlichen Sachverhalt heraus, dass der Liederdichter nur ein einziges geistliches Liederwerk sein eigen nannte, dann ist die Kargheit der übrigen Vertretung des Pietismus nicht minder erstaunlich. Abgesehen von (mit Herausgaben) 9 kirchengeschichtlich-erbaulichen Schriften Gottfried Arnolds sind das zumeist Bibel-Ausgaben (Johann Henrich Reitz’ NT-Übersetzung) und bibelexegetische Schriften (3 Titel von Johann Henrich May, 2 von Christoph Seebach, 1 Titel von Johanna Eleonora Petersen). Damit bleibt (abgesehen von Nicolaus Tscher : Abbildung des verborgenen Menschen des Herzens) der radikal-spekulative Anteil spärlich. Für einen Philadelphier erstaunt auch das Vorhandensein nur eines einzigen Jane-Leade-Traktats, während allerdings Böhme (Gichtels Gesamtausgabe und 6 Einzelschriften) und seine Schule (Franckenberg) so stattlich repräsentiert sind wie in den meisten Pietistenbibliotheken. Eine gewisse (aber auch keineswegs außergewöhnliche) Nähe zur Mystik wird sichtbar im Besitz von Speners Tauler- und Arnolds Ruusbroec-Ausgabe, von Angela von Foligno und Catharina von Genua, Pierre Poiret und drei Sammelausgaben der
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Madame Guyon (Nr. 113, 152, 332, die, in ihrem Zusammenhang nicht erkannt, zusammen hätten stehen sollen: das Quietistische klingt in Ruopps Liedern nach). Bei der Erbauungsliteratur zeigt das (nur S. 25 statistisch ersichtliche, nicht verbalisierte) Vorhandensein eines Drittels aus katholischer Genese die vergleichsweise geringe Bedeutung des Konfessionellen für die praktische Herzensfrömmigkeit. In diesem Sektor findet sich ein gewisses Interesse an Exempelsammlungen (Scrivers Seelenschatz, Feinlers Theatrum morientium und Arnolds Leben der Gläubigen) – alles in allem sehr wohl eine ganz gewöhnliche, eher aber unterdurchschnittlich profilierte ,Pietistenbibliothek‘. Bedenkt man die Herkunft und Ausbildung der Verfasserin aus der Bibliothekskunde, nicht aus theologischen oder kirchengeschichtlichen Disziplinen, muss man den Grad an Korrektheit bei den Zuordnungen und die Triftigkeit der Interpretationen bewundern. Hier nachzubessern wären allenfalls Kleinigkeiten: obwohl beide zur außerkanonischen Weisheitsliteratur gehören, wären die Bücher Sapientia Salomonis und Sirach (in Arnolds Übersetzung) nicht unter denselben Titel „Sapientia ‹dt.›“ zusammenzustellen, und die (freilich mit Bedenken erfolgende, S. 121, vgl. S. 15) Auflösung einer beim Hören der Verlassenschaftsdiktate ungenau erfassten „Opitij amatoria“ als Ovids Liebeskunst stünde so weit außerhalb des in dieser Pietistenbibliothek Enthaltenen und Erwartbaren (eher könnte es sich um Opitz’ Hohelied-Nachdichtung gehandelt haben), dass auf so vages Entschlüsseln besser verzichtet würde. Ein Buch aber liegt vor von gewichtigem Verdienst und Nutzen. Es erschließt (und lässt zum Glück nicht bloß in einer Datenbank verschwinden) paradigmatisch eine vollkommen durchschnittliche, unspektakulär-pietistische Pfarrerbibliothek, macht damit ein weiteres Glied unserer Kenntnis von Bucherwerb und häuslicher Lektüre in solchen Kreisen greifbar. Es bringt aber auch einen wesentlichen Zutrag unserer Kenntnis über das Wachsen der Franckeschen Anstalten und ihrer Bibliothek, über deren sänftigenden Einsatz zugunsten verfolgter Pietisten, selbst über die Reichsgrenzen hinaus, und vor allem über eine sympathische Mittelsgestalt des regionalen Pietismus im Übergang aus spiritualistischer Spekulation und philadelphischem Eifer in beruhigte, kirchlich kanalisierte Gemeindefrömmigkeit.
Kanonische neue Heilige Sammelbiographien des Pietismus und der Erweckungsbewegung* [2013, L 51]
I. In den zahllosen Sammlungen erbaulicher Lebensgeschichten, die in der Kernepoche des Pietismus, aber auch in den anknüpfenden Strömungen seit der Erweckungsbewegung Beispiele der unterschiedlichen Wege Gottes zu Bekehrung und Heiligung der Seelen und zur Führung in ein geheiligtes, vorbildliches Leben zusammenstellten, bleiben wahre Schätze auch an wissenschaftlicher Einsicht noch zu heben. Als Teil der kaum überschaubaren Flut des gemeinhin eher zu Herzensrührung, Zuspruch oder heilsamem Rat im Leben als zu Faktenaufschluss oder konziser theologischer Reflexion bestimmten Erbauungsschrifttums haben diese Sammlungen das Interesse der Forschung allenfalls peripher gefunden. So ist diese Literatur wie alles Erbauliche schon in ihrer Entstehungszeit in den wissenschaftlichen Bibliotheken kaum systematisch gesammelt worden. Wer sich heute nicht nur für Einzeltitel interessiert, muss alle diese Sammelwerke aus der Zerstreuung verschiedener Bibliotheken zusammensuchen. Oft lückenreich oder in Exemplaren, die aus mehreren Auflagen zusammengebunden sind, sind sie zumeist nicht durch gezielte Anschaffung, sondern erst aus privaten Buchnachlässen in die Schatzkammern der Wissenschaft gelangt. Digitalisiert ist erst ein recht kleiner Teil verfügbar. Viele dieser Sammlungen enthalten mustergültige Lebensgeschichten (Biographien bzw. Autobiographien) oder Seelenführungsberichte (Psychographien und Autopsychographien) aus der ganzen Geschichte der Christenheit, andere sind spezialisiert auf Glaubensvorbilder nur aus bestimmten Epochen (Altväter, Reformation, Neuzeit), nur aus bestimmten Ständen und Gruppen (Adlige, Geistliche, Malefikanten) oder Regionen (Sachsen, Schweiz). Andere beschränken sich allein auf fromme Männer oder nur auf Frauen, auf einzelne Konfessionen oder Gruppierungen (Katholiken, Protes* Beitrag zur Tagung der Evangelisch-Theologischen Fakultät Mainz und des Interdisziplinären Zentrums für Pietismusforschung Halle, „Geschichtsbewusstsein und Zukunftserwartung in Pietismus und Erweckungsbewegung“ unter Leitung von Wolfgang Breul und Carsten Schnurr im Historischen Waisenhaus der Franckeschen Stiftungen zu Halle am 24. März 2011.
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Kanonische neue Heilige
tanten, Inspirierte, Herrnhuter), berichten nur von bestimmten Lebensabschnitten, von Kindheit, Bekehrung und Anfechtungen oder aus der Nähe des Todes. Einige geben in signifikanten Anekdoten, Andachtsreflexionen, Brief-, Gedicht- oder Gebet-Bekenntnissen bloße Momentaufnahmen aus einer christlichen Biographie. Angelegt sind sie als abgeschlossene Einzelbände oder von vornherein als Fortsetzungswerke, wenn nicht gar als fester Bestandteil in oft serienreichen Zeitschriften, die neben der Einladung zu frommer Besinnung und Praxis Nachrichten an die Hand geben wollten über den Aufbau und Fortgang des Gottesreichs auf Erden.
II. Einen ersten Gesamtüberblick über die Tradition dieser Sammlungen in Pietismus und Erweckungsbewegung habe ich schon vor über drei Jahrzehnten zu geben versucht, als ich die 1698 von Johann Henrich Reitz begründete und von Nachfolgern bis 1745 (in Einzelbandnachdrucken bis 1753) fortgeführte Historie Der Wiedergebohrnen als explizites oder implizites Muster der meisten späteren Sammelwerke in kritischer Reprintedition der Erstdrucke und aller in den späteren Auflagen markant veränderten oder hinzugekommenen Teile wieder greifbar gemacht habe.1 Von den da als „die neue Gattung“ zusammengestellten Sammelbiographien2 sind die frühesten, von namhaften Wegbereitern des Pietismus her1 Reitz: Historie Der Wiedergebohrnen. Neudruck (1982, L 2). Im beschließenden 4. Band: Teil VII (1745) mit dem Register und dem werkgeschichtlich-editorischen Anhang zum Gesamtwerk ist zum Ende des Herausgeber-Nachworts (Abschnitt VI: Editionsbericht. Zum Neudruck der „Historie Der Wiedergebohrnen“, S. 191*–203*) die Publikationsgeschichte des Sammelwerks resümiert und sind alle im Anhang zusammengestellten Zusatzmaterialien aus den späteren Auflagen nachgewiesen. Die detaillierte Rekonstruktion der Werk- und Publikationsgeschichte, die Ermittlung der englischen independentistischen Quelle ihres I. Teils (Vavasor Powell: Spirituall Experiences, Of sundry Beleevers. 2. Aufl., London 1653, in Auszügen faksimiliert ebd., S. 85*–113*, mit der für Reitz vorbildgebenden ersten deutschen Adaption im Erbauungsbuch seines theologischen Lehrers Theodor Undereyck: Christi Braut Unter den Töchtern zu Laodicæa. 1. Aufl., Hanau 1670, vgl. ebd., S. 115*–124*) und die Identifikation der beiden postumen Herausgeber des VI. Teils (1730), Johann Samuel Carl, und des VII. Teils (1745), Johann Conrad Kanz, finden sich in der Monographie von Schrader: Literaturproduktion (1989, L 1), Kap. III, S. 74–106 (Anmerkungen S. 387–418); ebd., 107: „Schematische Übersicht über die Werkgeschichte“. 2 Schrader: Nachwort des Herausgebers. In: Reitz: Historie Der Wiedergebohrnen (1982, L 2), Bd. 4, S. 125*–203*, hier Kap. I: Die neue Gattung. Die „Historie Der Wiedergebohrnen“ als Vorbild der pietistischen Sammelbiographien, S. 127*–153*. Sofern die nachfolgend aufgeführten Sammlungen dort genannt und beschrieben sind, verweise ich darauf in der Fußnote. Vgl. auch die bibliographischen Übersichten bei Schrader: Die Literatur des Pietismus – Impulse (2004, L 34), im vorliegenden Band S. 91–114, hier S. 106–111. – Über die Verbreitung dieser Sammlungen in pietistischen Bibliotheken sind umfassend Nachweise gesammelt und diskutiert bei Schrader: Literaturproduktion (1989, L 1) und dort über das Register leicht nachschlagbar.
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ausgegebenen (oft übrigens aus dessen eher radikalem, konfessions- und kirchenkritischem Flügel), noch vergleichsweise bekannt geblieben und gelegentlich zitiert worden als Zeugnisse pietistischen Sprach- und Gedankenguts. Dazu gehören neben der Reitzschen Historie Der Wiedergebohrnen selbst Gottfried Arnolds Das Leben der Gläubigen, 1701 (zweite Auflage noch 1732),3 Gerhard Tersteegens (als Ergänzung zur Reitzschen Sammlung auf katholische Exempel konzentrierte) Außerlesene Lebens=Beschreibungen Heiliger Seelen von 1733 (bis 1786 in drei Auflagen verbreitet und zur Zeit der Erweckungsbewegung 1814/15 erneut in zwei Bänden bearbeitet von Johannes Evangelista Goßner)4 und eine regionale Folgeunternehmung der Reitzschen Sammlung, die vier Teile mit z. T. mehreren Anhängen umfassende Sammlung des Dresden-Lockwitzer Pfarrers Christian Gerber, Historia derer Wiedergebohrnen in 3 Die Sammlung (1. Aufl., Halle 1701) hat Arnold als Fortsetzung seiner früheren Neuausgabe von Georg Major: Vitae Patrum oder Leben der Altväter, Lübeck 1654 verstanden, die er über die dort vorgefundenen Exempel der urchristlichen Väter hinaus bis zu den Viten der mittelalterlichen Mystiker und „biß auff die Zeiten der Reformation“ fortgesetzt hatte: Gottfried Arnold: Vitæ Patrum Oder Das Leben der Altväter und anderer Gottseeligen Personen Auffs Neue erläutert und vermehret, Halle 1700, S. 36 f., 42. Revidierte Neuausgabe von Johann Daniel Herrnschmidt, Halle 1718, Neuauflage des Ursprungswerks Halle 1732. – Über die Viten der „Altväter“ nicht hinausgelangt ist trotz anfänglicher Fortsetzungspläne mit „Extracten von denen erbaulichsten Tahten u. Lehren wahrhaftig glaubiger Christen von allen Zeiten her“ (Vorrede, gezeichnet T.E. vom 16. Jan. 1719, S. 3) die stark an Arnold angelehnte anonym von Tobias Eisler herausgegebene Sammlung „Merkwürdige und Erbauliche Exempel und Leben Rechtschaffener Taht=Christen / Denen heutigen Christen zur Bespiegelung und selbsteigenen Prüfung vor Augen gestellet“, vier Hefte, Büdingen 1719–1722. Vgl. auch die Sammlung des Altonaer Separatisten Johann Otto Glüsing: Der erste Tempel GOttes in Christo, darinnen das keusche Leben der I. H. Alt=Väter, II. H. Matronen und III. H. Märtyrer in der Ersten Kirchen abgebildet ist, [Hamburg] 1720. – Auf diese spezielle Tradition der Exempel aus der Frühzeit der Christenheit gehe ich hier nicht näher ein. Die Wirkung dieser altkirchlichen Biographien bleibt aber bis in die Goethezeit (besonders im „Werther“-Roman) nachhaltig, vgl. Schrader: Von Patriarchensehnsucht zur Passionsemphase (2005, L 39). 4 Die Erstausgabe umfasste zunächst nur die zwei ersten Bände: [Gerhard Tersteegen]: Außerlesene Lebens=Beschreibungen Heiliger Seelen / In welchen / nebst derselben merckwürdigen äussern Lebens=Historie hauptsächlich angemercket werden die Innere Führungen GOttes über Sie / und die mannigfaltige Außtheilungen seiner Gnaden in Ihnen, Bd. 1, Frankfurt – Leipzig – Duisburg 1733; Bd. 2, ebd. 1735. Bd. 3 kam erst 1753 hinzu, konnte so auch gleich die 2. Aufl. von 1755 komplettieren; 3. Aufl., Essen 1784–1786. Zur Zeit der Erweckungsbewegung kamen noch zwei Auszüge heraus, anonym: Leben heiliger Seelen. Ein Auszug aus Gerhard Tersteegens Auserlesenen Lebensbeschreibungen heiliger Seelen, Basel – München 1811/12 und namentlich von Johannes Gossner: Leben heiliger Seelen. Ein Auszug aus Gerhard Tersteegens auserlesene Lebensbeschreibungen heiliger Seelen. 2 Bde., München 1814/15. Erörtert bei Horst Weigelt: Die Allgäuer katholische Erweckungsbewegung. In: Der Pietismus im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert. Hg. von Ulrich Gäbler, Göttingen 2000 (Geschichte des Pietismus, Bd. 3), S. 85–111, hier S. 96, 108. Noch gegen Ende des 19. Jahrhunderts gab es eine Neuausgabe, Johannes Biegler : Leben heiliger Seelen. Nach Tersteegen und Gossner Kindern Gottes dargeboten, Basel 1887. Zur Sammlung vgl. Rudolf Mohr : Eigenart und Bedeutung von Tersteegens „Auserlesenen Lebensbeschreibungen heiliger Seelen“. In: Gerhard Tersteegen – Evangelische Mystik inmitten der Aufklärung. Hg. von Manfred Kock, Köln 1997 (Schriftenreihe des Vereins für Rheinische Kirchengeschichte, Bd. 126), S. 181–206.
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Sachsen von 1726–1729 (drei Auflagen bis 1737).5 Hinzu kommen Spezialsammlungen mit Mustern erbaulichen Sterbens wie Erdmann Heinrich Graf Henckels Die letzten Stunden einiger der Evangelischen Lehre zugethanen […] selig in dem Herrn Verstorbenen Personen, Halle 1720–1733, solche mit Berichten über Kindererweckungen wie Johann Jacob Rambachs Erbauliches Handbüchlein für Kinder, seit 1734 (111750) und über zur Hinrichtung geführte bekehrte Arme Sünder wie Johann Jacob Mosers anonym edierte Sammlung Selige letzte Stunden Einiger dem zeitlichen Tode übergebener Missethäter (11740, 21742–45) oder Bezeugungen wundersamer Geistes- und Seelenheilungen durch die von der Hallenser Waisenhausapotheke schwunghaft vertriebene Panazee, Merckwürdige Exempel, Der Unter dem Seegen Gottes Durch die Essentiam dulcem geschehenen Curen schon von 1702.6 Von den Zeitschriften, die fromme Biographien und Glaubensanekdoten vorstellen, gibt es einige forscherliche Aufschlüsse über die früheste, das von Johann Samuel Carl, dem Herausgeber des VI. Teils der Historie Der Wiedergebohrnen, gegründete Organ der philadelphisch gesonnenen radikalen Pietisten, Geistliche Fama, mittheilend Einige Neuere Nachrichten von Göttlichen Erweckungen / Wegen / Führungen und Gerichten, das zwischen 1730 und 1744 (in drei Bänden) 44 Stücke erreichte,7 und ebenfalls über deren bekanntestes Gegenstück auf Seiten des kirchlichen Pietismus, Sammlung Auserlesener Materien zum Bau des Reichs Gottes (begründet von Traugott Immanuel Jerichow).8 Von dieser Zeitschrift erschienen zwischen 1731 und 5 Nachweise zu allen diesen Sammlungen im Nachwort Schrader: Die neue Gattung (wie Anm. 2). Dass schon bei Christian Gerber: Historia derer Wiedergebohrnen in Sachsen, Oder Exempel solcher Personen / mit denen sich im Leben oder im Tode viel merckwürdiges zugetragen. 4 Bde. und Anhänge. 1. Aufl., Dresden 1726–1730, 2. Aufl., Dresden 1732, 3. Aufl., Greiz/Vogtland 1737 wie in den meisten anknüpfenden Sammlungen die von Reitz mit großer Souveränität vollzogenen „Grenzüberschreitungen“ der traditionellen weltlichen Sonderungen in Ständen, Geschlechtern, Konfessionen, Berühmten und Unberühmten oder Altersgruppen entschieden mutloser wieder zurückgenommen werden, betont in seiner ausführlichen Besprechung besonders Dietrich Blaufuß: Religions- und Geistesgeschichte des 17./18. Jahrhunderts. Die wissenschaftliche Neuausgabe der pietistischen Sammelbiographie von Johann Henrich Reitz: „Historie Der Wiedergebohrnen“ Teil I bis VII 1698 bis 1745. In: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 37 (1985), S. 344–350, hier 349. 6 Nachweise mit Standorten bei Schrader : Die neue Gattung (wie Anm. 2). Zu den wiederum serienreichen Nachfolgern dieser bahnbrechenden Spezialsammlungen bzw. Untergattungen vgl. unten. 7 Winfried Zeller : Geschichtsverständnis und Zeitbewußtsein. Die „Geistliche Fama“ als pietistische Zeitschrift. In: Pietismus und Neuzeit 2 (1975), S. 89–99; Schrader: Literaturproduktion (1989, L 1), S. 194–198, 209 f, 286 f., 473; Hans Schneider: Der radikale Pietismus im 18. Jahrhundert. In: Der Pietismus im achtzehnten Jahrhundert. Hg. von Martin Brecht und Klaus Deppermann, Göttingen 1995 (Geschichte des Pietismus, Bd. 2), S. 107–197, hier S. 162–164: „Johann Samuel Carl und die Geistliche Fama“; Rainer Lächele: Die „Sammlung auserlesener Materien zum Bau des Reichs Gottes“ zwischen 1730 und 1760. Erbauungszeitschriften als Kommunikationsmedium des Pietismus, Tübingen 2006 (Hallesche Forschungen, Bd. 18), S. 141–146. 8 Lächele: Die „Sammlung auserlesener Materien“ (wie Anm. 7). In dieser Monographie, die die
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1734 zunächst drei Bände mit 24 „Beyträgen“ (Einzelheften). Daran schlossen sich unterschiedliche Serien z. T. konkurrierender Weiterführungen und Nachahmungen an, die Fortgesetzte Sammlung Auserlesener Materien zum Bau des Reichs Gottes (als 25. bis 38. „Beytrag“, Fortsetzung bis Bd. 6), die Supplementa Der Auserlesenen Materien zum Bau des Reichs Gottes (in zwei Bänden, 16 Sammlungen, 1737–1740), die im selben Verlag konkurrierende Verbesserte Sammlung Auserlesener Materien zum Bau des Reichs Gottes (vier Bände in 32 Stücken, 1739–1742) und die Closter=Bergische Sammlung Nützlicher Materien zur Erbauung im Wahren Christenthum (fünf Bände, 40 Stücke, 1741–1761),9 schließlich kurzlebige, teilweise komplett nur mehr aus Bücherverzeichnissen rekonstruierbare Nachahmungsserien, von denen hier und da Einzelhefte erhalten geblieben sind, die Coburger Zeitschrift Steine und Kalck zum Bau Zions (1748–1751 in zwei Bänden zu je acht „Zurichtungen“) oder die Weimarer Neue Sammlung zum Bau des Reichs Gottes von 1756 bzw. die vom Penziger Pfarrer Immanuel Gottlob Friedrich Helmershausen im selben Jahr herausgegebenen Sammlungen Fußstapfen der Schaafe JEsu in der Lehre, im Leben, im Leiden und Sterben, Oder neue Sammlung zum Bau des Reiches GOttes10 sowie Biographia Piorum das ist Lebens=Beschreibungen Und Letzte Stunden gottseeliger Personen.11
III. Schon für die vom Pietismus dominierte Epoche ist mit diesen Titeln aber erst ein Bruchteil der biographisch-psychographischen Sammlungen erfasst. „Materien“ als Paradigma des gesamten in der Kernphase des Pietismus entstandenen Zeitschriftenwesens erörtert, werden neben der detaillierten Untersuchung dieser Zeitschrift auch einige der anderen pietistischen Periodika kursorisch charakterisiert. Vgl. auch meine Zusammenstellung der Sammlungen, die schon im Titel die Funktion aufrufen, im Zusammentragen der Musterbiographien Baumaterialien für das Gottesreich bereitzustellen, Schrader: Propheten zur Rechten (2001, L 25), hier S. 363. Zur Bedeutung des Leipziger Verlegers der „Materien“, Samuel Benjamin Walther, für den pietistischen Buchmarkt vgl. Schrader, Literaturproduktion (1989, L 1), Register, S. 634, speziell für den Vertrieb mystisch-quietistischer Schriften Schrader : Pietistisches Publizieren unter Heterodoxieverdacht (1988, L 14), im vorliegenden Band S. 261–283, hier S. 282 f.; ders.: Madame Guyon, Pietismus (2002, L 27); im vorliegenden Band S. 419–456, hier S. 431–433. 9 Auch hierzu Angaben bei Schrader: Die neue Gattung (wie Anm. 2). Nur einige dieser Fortsetzungen hat Lächele in seine Untersuchung einbezogen. 10 In Ergänzung meiner Liste der ermittelten Sammlungen pietistischer Lebenszeugnisse im Nachwort zum Neudruck von Reitz: Historie Der Wiedergebohrnen (1982, L 2) nachgewiesen in der Rezension dieser Edition durch Reinhard Breymayer: Historie Der Wiedergebohrnen. In: Buchhandelsgeschichte. Aufsätze, Rezensionen und Berichte zur Geschichte des Buchwesens (Beilage zum Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel, Frankfurter Ausgabe, 41. Jg.), H. 4 (1986), S. B 150–153, hier B 152, Anm. 5. 11 Ebd.
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Auch Friedrich Christoph Oetinger beispielsweise hat schon als junger Mann 1735 eine vergleichbare Sammlung vorgelegt, Die Unerforschlichen Wege der Herunterlassung Gottes, zumeist von Erweckungen in fernen Ländern, in Frankreich, Spanien oder unter den Indianern, doch auch mit eingestreuten heimischen Exempeln und einer Rechtfertigung außerkirchlicher Frömmigkeit,12 und bald darauf erschienen weitere unspezifizierte anonyme Publikationen, Erbauliche Nachrichten von göttlichen Führungen der Seelen, angeblich von Fürchtegott Thuerecht Weber und Ernst Gottlieb Woltersdorf (2 Bände zu vier Heften, Lobenstein 1739–1741, Neuauflage bei Frommann in Züllichau 1754–1775),13 1754 eine einbändige Sammlung erbaulicher Lebensgeschichte gottseliger Personen aus allerhand Ständen.14 In Analogie zu Reitz und Gerber (Wiedergeborene aus Sachsen) bringt der Pfarrer im Aargauischen Mandach, Johannes Meyer, Die grossen und seligen Thaten der Gnade, in der Historie einiger Wiedergebohrnen aus der Schweitz 1759 in einem Band15 heraus. Weitere Sammlungen „Auserlesener Exempel frommer Kinder“16 sowie gesammelter Thanatographien, also Berichte erbaulichen Sterbens, und letzter Reden17 bzw. Malefikantenbekehrungen (mehrere davon von Johann 12 [Friedrich Christoph Oetinger]: Die Unerforschlichen Wege der Herunterlassung Gottes, Leipzig 1735. Außer den jeweils unter eigene Überschriften gestellten Lebensläufen sind enthalten das autobiographische Gebet einer „lutherischen Jungfrau“, S. 254–256, ein Brief D. Camerers über göttliche Einsprachen, S. 254–258, ein briefliches Selbstzeugnis Nicolaus Tschers (4. Stück [mit neuer Paginierung], S. 101 f.) und ein Traktat „Schriftmäßige Erwegungs=Gründe vom Separatismo und Condescensu, oder von der Absonderung und tragsamen Herunterlassung“, ebd., S. 3–118. Angehängt sind noch (S. h5r–i8r, 24 Seiten) zwei Exempel, kompiliert aus Gottfried Arnolds Sammlung „Vitæ Patrum“ (wie Anm. 3). 13 Bibliographische Zusatzinformation und Nachweis des 2. Stücks in der ULB Halle bei Breymayer : Historie (wie Anm. 10), S. B 152 (Anm. 6 und 7). 14 Sammlung erbaulicher Lebens=Geschichte gottseliger Personen aus allerhand Ständen […] Nebst einer Abhandlung des seligen Herrn D. Joh. Jac. Rambachs von den Pflichten eines Christen in Absicht auf gute Exempel, Berlin 1754. 15 Zürich 1759. 16 Bibliographisch nachweisbar (aber kaum mehr komplett erreichbar) sind die Sammlungen „Lob Gottes im Munde der Jungen Kinder / Oder wahrhaffte Erzehlung was Gott der HErr in einigen kleinen Kindern […] bewürcket“, [Offenbach] 1699; Jacob Janneway: Geistliches Exempel=Buch für Kinder. Verteutschet von C. L., Lübeck 1700, 2. Aufl., Lübeck 1702, 3. Teil, Leipzig 1732, Neuausg. Nürnberg 1738, weitere Ausgaben Nürnberg 1717, ebd. 1729–1731, ebd. 1735 und Tübingen 1732; Johann Jacob Rambach: Erbauliches Handbüchlein für Kinder (Leipzig 1734), 11., verm. u. corr. Ausg. Leipzig 1750; Daniel Büttner: Christliches und Biblisches Exempelbüchlein für Kinder, Leipzig 1736, Neuaufl. ebd. 1759; Conrad Daniel Kleinknecht: Gute Exempel für die zarte Jugend; Das ist: Eine gantz neue Sammlung Auserlesener Exempel frommer Kinder, Augsburg 1743. Nähere Nachweise im Nachwort Schrader: Die neue Gattung (wie Anm. 2), S. 146*–148*. – Zu dem in diesen Sammlungen, deren kindliche Protagonisten häufig zu Lehrmeistern und Vorbildern für die Erwachsenen werden, sich spiegelnden Kult der Kindheit und zu dessen Übernahme und Neumotivierungen in der Romantik vgl. (mit Hinweisen zur Forschung) Schrader : „Werd ein Kind!“ (2010, 22011, L 45), im vorliegenden Band S. 701–730, hier S. 716–730. 17 Zu nennen sind insbes. Christoph Sommer: Epilogi Pie Demortuorum. Oder Exemplarische Sterbe=Schule in sich haltend Denckwürdige letzte Reden und Seufzer, Leipzig – Jena – Ru-
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Jacob Moser)18 kommen schon in der Blütezeit des Pietismus hinzu. Zu dieser Gruppe gehört auch noch, mit nur drei Stücken, die vom Gießener Professor und Darmstädtischen Metropolitan Heinrich Daniel Müller herausgebrachte Geschichte bekehrter Seelen […] besonders in ihren letzten Stunden von 1755 mit ihren „Nachrichten aus dem Reich Christi“. Moser hat auch eine neue, auf Nachrichten dieser Art gerichtete Zeitschrift begründet, von der 1733–1739 drei Bände in 24 Teilen herauskamen, Altes und Neues aus dem Reich Gottes […] Bestehende in glaubwürdigen Nachrichten von allerley merckwürdigen Führungen GOttes, sonderlich in dem Werck der Bekehrung, erbaulichen und erschröcklichen letzten Stunden, erwecklichen Lebens=Beschreibungen. Und ebenfalls auf 24 Teile wuchsen 1747–1760 die Pastoral-Sammlungen jenes Frankfurter Pfarrers Johann Philipp Fresenius an,19 der Goethe getauft und seine Kinderjahre begleitet hat. Wie intensiv alle heute weithin nur mehr schwer greifbaren Serien (nur für die Reitzsche Historie ist durch die Neuedition der Zugriff auf die Originalausgaben entbehrlich geworden) in ihrer Zeit namentlich von pietistischen Frommen und Gelehrten abonniert, gesammelt und genutzt wurden, habe ich in der Auswertung zahlloser Buchnachlass- und Auktionszeugnisse nachweisen können.20
dolstadt 1676; Erdmann Heinrich Graf Henckel: Die letzten Stunden einiger Der Evangelischen Lehre zugethanen […] selig in dem HERRN Verstorbenen Personen, Halle 1720–1733; Christoph Gottlieb Erdmann [Pseud. für Johann Jacob Moser]: Die Erbaulichen Todes=Stunden vieler gottseeliger Personen, Tübingen 1730; Christoph Bürkmann [Birkmann]: Bündlein der Lebendigen / worinn Dreisig Knechte und Kinder GOttes […] vor ihrem Ubergang aus der Zeit in die seelige Ewigkeit, Nürnberg 1748, 2. Aufl. Hildburghausen 1765; Heinrich Daniel Müller : Geschichte bekehrter Seelen / und der göttlichen Führungen derselben besonders in ihren letzten Stunden, mit praktischen Anmerkungen, Marburg 1755. Nähere Nachweise im Nachwort Schrader: Die neue Gattung (wie Anm. 2), S. 143*–145*; für die (schon auf vorpietistische Tradition zurückgehenden) Sammelthanatographien vgl. ebd., S. 135*f. (mit ergänzendem Nachweis für Martin Mylius: Sterbenßkunst / Gefasset in Schöne außerlesene Exempel / etlicher frommer Christen, Görlitz 1593 bei Breymayer : Historie [wie Anm. 10], S. B 152 mit Anm. 4). 18 Im Nachwort Schrader: Die neue Gattung (wie Anm. 2), S. 145*f. sind vorgestellt [Johann Jacob Moser]: Selige Letzte Stunden Einiger dem zeitlichen Tode übergebener Missethäter, Ebersdorf 1740, 2. Aufl. Jena 1742, Fortsetzung Leipzig 1745; Johann Adam Brehmens Geistliche Betrachtungen und Reden bey zum Tode verurteilten Maleficanten, Jena 1752 und Ernst Gottlieb Woltersdorf: Der Schächer am Kreutz – Das ist, Vollständige Nachrichten von der Bekehrung und seligem Ende hingerichteter Missethäter [1753–1755], 2. Aufl., 2 Bde., Bautzen – Görlitz 1761 und 1766. Von zwei Exempeln dieser Sammlung (Christian Friedrich Ritter und Anna Martha Hungerland) liegt neuerdings eine kommentierte Neuedition vor mit wertvollen Hinweisen zu dieser speziellen Untergattung: Bekehrung unterm Galgen. Malefikantenberichte. Hg. von Manfred Jakubowski-Tiessen, Leipzig 2011 (Edition Pietismustexte, Bd. 3), Nachweise S. 163 f, Nachwort, S. 143–154. 19 Nachweise auch dieser Zeitschriften im Nachwort Schrader: Die neue Gattung (wie Anm. 2). 20 Schrader: Literaturproduktion (1989, L 1), Kap. „Besitznachweise in den Verzeichnissen privater Bibliotheken“, S. 268–280, 491–501.
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IV. Vollends schwer überschaubar aber wird die Masse der gesammelt publizierten Lebens- und Glaubenszeugnisse, wenn man über die Epoche, in der der Pietismus seine größte geistige und gesellschaftliche Breitenwirkung entfalten konnte, hinausblickt auf die Sammlungen und Periodica aus der Zeit des Spätpietismus und der beginnenden Christentumsgesellschaft im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts, auf die parallel zur Romantik kulminierende Erweckungsbewegung und deren Nachfolgetraditionen bis in den Neupietismus. Die wichtigste Sammelbiographie aus der Epoche des Spätpietismus, mit allen epochentypischen Amalgamierungen von pietistischen, aufklärerischen und philanthropischen Tendenzen, waren die in sechs Bänden („Sammlungen“) 1776–179021 erscheinenden und mehrfach nachgedruckten Nachrichten von dem Leben und Ende gutgesinnter Menschen mit praktischen Anmerkungen des aus Schleswig stammenden, als Domprediger in Braunschweig wirkenden Jakob Friedrich Feddersen. Dieser fruchtbare Erbauungsschriftsteller, auch Kirchenlieddichter und Sittenlehrer, hat 1777–1779 auch eine dreibändige Neubearbeitung der Vier Bücher vom wahren Christentum von Johann Arndt vorgelegt. In der Biographiensammlung wird explizit auf das Gattungsvorbild der Reitzschen Historie Der Wiedergebohrnen rekurriert und (am Ende des Zweiten Teils, S. 385–416) eine ganze Serie „Auszüge aus J.H. Reitzens Historie der Wiedergebohrnen“, überwiegend aus dem Ersten Teil mit puritanisch-independentistischen Exempeln, aufgenommen. Auf die Tendenzen der Bearbeitung in dieser Phase einer aufgeklärt-pietistischen Mischtheologie komme ich später zu sprechen. Von der Erstausgabe dieser Nachrichten Feddersens kam mit Verlagsort Speyer und Druckort Worms eine auf 1780 vordatierte, stark bearbeitete und verbilligte zweibändige Raubdruckauswahl durch eine „Gesellschaft der Menschenfreunde“ heraus, die sich sogar eines vom Fürsten Colloredo ausgestellten kaiserlichen Privilegiums Josephs II. rühmen konnte und in aufklärerischer Tendenz außer den Exempeln Philipp Jacob Speners (I, S. 277–291), des Grönland-Missionars Hans Egede (I, S. 352–358) und (im 2. Teil) des irischen Independenten James Ussher (II, S. 340) alle Exempel der pietistischen Tradition unterdrückte.22 So 21 Jakob Friedrich Feddersen: Nachrichten von dem Leben und Ende gutgesinnter Menschen mit praktischen Anmerkungen. Die Erstauflage erschien in Stettin und Halle, Bd. 1, 1776, Bd. 2, 1778, Bd. 3, 1781, Bd. 4, 1784, Bd. 5, 1785 und Bd. 6, 1790, hg. von Friedrich Wilhelm Wolfrath. Vom 1. Bd. gab es 1779 in Halle eine „Zweyte und verbesserte Auflage“ mit von Feddersen unterzeichneter Widmung an Abt Joh. Friedr. Wilh. Jerusalem und den braunschweigischen Staatsrat Otto Friedrich Müller „Braunschweig den 27ten des Aprils 1778.“ 22 Jakob Friedrich Feddersen: Nachrichten von dem Leben und Ende gutgesinnter Menschen. Speyer. In Verlage der Gesellschaft, Bd. 1 [1780], „Privilegium“ im Vorsatz S. )(2r–)(3r ; Vorrede mit Rechtfertigung der Übernahme des Buchs in „einem anscheinenden Nachdrucke“, mit dem
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war hier das Gewicht verschoben auf die in der Originalausgabe mitlaufenden Biographien und Anekdoten von berühmten Leuten, die kaum als Pietisten oder deren Wegbereiter zu bezeichnen sind wie Philipp Melanchthon (I, S. 185–211), Gerlach Adolf von Münchhausen (I, S. 103–109), der die dänische Staatskirche zur Aufklärung umwendende König Friedrich V. (I, S. 163–176),23 die empfindsamen Dichter Christian Fürchtegott Gellert (I, S. 3–35) und Friedrich von Hagedorn (I, S. 225–229) sowie der auch noch von Goethe und seinem Herzog angestaunte philosophische Bauer „Jakob Gujer, von Wormetschweil, in dem Kanton Zürich; – auch Kleinjogg genannt“ (II, S. 8–37), der auch Lavater zu einem physiognomischen Hymnus hingerissen hatte.24 Feddersen selbst hat in seiner Vorrede (S. VIII) zur zweiten verbesserten Auflage (nur des 1. Bandes, Halle 1779) auf die Mängel des unautorisierten Speyerer Raubdrucks hingewiesen, sei es, dass er schon vor dessen Drucklegung davon gehört hatte, sei es, dass dieser in der Jahreszahl vordatiert war. Interessant ist immerhin, dass eine genuin pietistische Gattung, von der man mit dem eingetretenen Bedeutungsverlust des Pietismus und der fortschreitenden Säkularisation in der Phase der breitenwirksamen Durchsetzung der Aufklärung annehmen könnte, sie sei obsolet geworden, Nachfrage genug versprach, um einen konkurrierenden Raubdruck hervorzurufen, und dass sogar ideologisch konträre Tendenzen der Volksliteratur um sie wetteiferten. Eine in der Auswahl der Exempel ganz vergleichbare Sammlung erbaulicher Anekdoten, also kürzerer Momentaufnahmen aus dem Glaubensleben (von Johann Hus bis zu Albrecht von Haller und Christian Fürchtegott Gellert) hat der Pastor aus Tischendorf im Vogtland, Georg Friedrich Kirsch, in fünf Bänden 1780–83 unter dem Titel Anekdoten für Christen herausgebracht.25 Hinweis auf Verbesserungen gegenüber dem „etwas unkorrekten und nachlässigen Ausdruck des Herrn Verfassers“ sowie der Datierung „Speier, den Iten März 1780“, „Die Gesellschaft“ ebd., S. I–VIII. Dass. Zweyter Band – Mit allerhöchster Kaiserlichen Freiheit. Speier Im Verlag der Gesellschaft. 1780. 23 Als Nachfolger des pietistischen Dänen-Königs Christian VI. führte er einen radikalen kirchenpolitischen Wechsel hin zur Aufklärung durch. Dass damit aber nicht nur für die Pietisten, sondern ebenso für die Juden im Staate herbe Einschränkungen ihrer Autonomie und Gemeinschaftsrechte verbunden waren, zeigt das spektakuläre Beispiel des mehrfach umbestatteten philosemitischen Spiritualisten Jens Pedersen Gedeløcke. Zu diesem Geschichtsexempel für die Begrenztheit der Toleranz auch in aufgeklärten Zeiten und zu seiner Umwandlung in eine burleske Novelle des 19. Jh., das weltanschaulich-religiösem Eifern keinen Kredit mehr einräumte, vgl. Schrader: „Gedelöcke“ (2009, L 43), jetzt auch in durchgesehener Fassung in: Ders.: Wilhelm Raabe. Studien zu seiner avanciert-realistischen Erzählkunst, Göttingen 2018, S. 197–227. 24 Karl Otto Conrady : Goethe. Leben und Werk, Bd. 1, Frankfurt 1987, S. 266 f., 384; Christoph Siegrist: Schweiz. In: Goethe Handbuch, Bd. 4/2. Hg. von Bernd Witte [u. a.], Stuttgart – Weimar, 2. Aufl. 2004, S. 968–972, hier S. 969. Porträt von Johann Heinrich Lips und übersteigerte Charakteristik bei Johann Caspar Lavater: Physiognomische Fragmente zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe, Bd. 1, Leipzig – Winterthur 1775, Reprint Leipzig 1968, S. 234–238 (17. Fragment, Kap. ,Kleinjogg‘). 25 Georg Friedrich Kirsch: Anekdoten für Christen, auch für solche, die es nicht sind. 5 Bde., Leipzig
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V. Unter den Vorboten und dann namentlich während der stürmischen Ausbreitung der Erweckungsbewegung nehmen dagegen die deutlich pietistischen Züge in der Biographienauswahl, in den Leitbildern und Argumenten, aber auch in den Sprachformeln und Begriffen einer neuen Welle von in erbaulichen Sammlungen zusammengetragenen „Anekdoten, Lebensbeschreibungen, Bekehrungsgeschichten, und Umkehrungsgeschichten“26 markant wieder zu. Zwischen 1800 und 1805, schon bald nach dem Ende der Feddersen-Sammlung, bringt der aus dem Isenburgischen stammende und zum Freundeskreis Jung-Stillings gehörende Johann Ludwig Ewald seine auf die Sammlung solcher Materialien ausgerichtete Christliche Monatsschrift, zur Stärkung und Belebung des christlichen Sinns heraus und adressiert sie ebenso wie an Herrnhuter, Mennoniten und Mystiker an „ernste und liebevolle Pietisten, die für sich ringen, um einzugehen durch die enge Pforte, sich aber nicht anmassen, über den Ernst und die Frömmigkeit derer zu urtheilen, die einen andern Weg gehen, eine andre Sprache führen, als sie“. Denn geeint seien sie alle im Streben nach der Erfahrung, „was gänzliche Aenderung des Sinnes, innere Wiedergeburt ist“.27 Johann Caspar Lavater, der auch im beinahe den gesamten pietistisch geprägten gräflich-fürstlichen Adel Westdeutschlands umfassenden Subskribentenverzeichnis als Bezieher der Zeitschrift genannt ist, hat dazu Beiträge geliefert.28 Von den zwei ersten Heften erscheint sogar eine niederländische Übersetzung, Christelijk tijdschrift tot opwecking en sterking van den christelijken zin.29 Zur Zeit der Erweckungs-
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1780–83, Expl. der BSB München auch als Google-Book elektronisch und bei Nabu-Press 2011 als Book on demand verfügbar. So die programmatische Einleitung zum ersten Stück von Johann Ludwig Ewald: Christliche Monatsschrift, zur Stärkung und Belebung des christlichen Sinns, 1. Jahrgang, Stück 1–4, Nürnberg, im Verlag der Raw’schen Buchhandlung 1800, S. 4. Für die späteren Jahrgänge, aber auch die eher auf erbauliche Anekdoten und Aufmunterungen für alle Tage gerichteten Periodika, die Ewald in der Folge an die Stelle der Lebensvorbilder setzt, vgl. das Werkverzeichnis bei Hans-Martin Kirn: Deutsche Spätaufklärung und Pietismus. Ihr Verhältnis im Rahmen kirchlich-bürgerlicher Reform bei Johann Ludwig Ewald (1748–1822), Göttingen 1998 (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus, Bd. 34), S. 553. In der auf Ewalds Lebensgang und Theologie fokussierten Abhandlung wird ein näherer Aufschluss der Monatsschrift und ihrer Nachfolger nicht gegeben. Vgl. auch den Artikel von Karl Dienst: Johann Ludwig Ewald. In: Religion in Geschichte und Gegenwart [im Folgenden RGG], 4. Aufl., .Bd. 2, Tübingen 1999, Sp. 1759. Ewald: Christliche Monatsschrift (wie Anm. 26), S. 2. Subskribenten-Verzeichnis in: ebd., S. 154. Lavater-Beitrag z. B. im Dritten Stück, S. 188–192, mit einem Neujahrsgedicht zur Epochenschwelle: „Zürich am Ende des achtzehnten Jahrhunderts oder die Hoffnung am Neujahrstage 1800.“ Kirn: Deutsche Spätaufklärung und Pietismus (wie Anm. 26), Ewald-Werkverzeichnis, S. 553. Vgl. die Charakterisierung dieser Zeitschrift, mit Ausblick auf die anderen Erbauungsperiodika zwischen Spätpietismus und Erweckungsbewegung wie Lavaters „Monat-Schrift für Ungelehrte“ 1794/95; Pfenningers „Christliches Magazin“, 4 Bde., 1779–1781, fortgesetzt durch seine
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bewegung brachte der den Herrnhutern nahestehende Gottlob Friedrich Hillmer dreißig Jahre lang (1806–1836) ein Nachfolgeperiodikum, Christliche Zeitschrift für Christen, heraus, das kurz nach seinem Tod erlosch.30 Auf die Ewaldsche Monatschrift ebenso wie auf die große pietistische Tradition der Sammelbiographien bezieht sich das für die Exempelsammlungen der Erweckungsbewegung initiale Serienunternehmen, mit dem der vormals romantisch-humoristische Schriftsteller, Freund Jean Pauls, Diplomat und Orientalistikprofessor Johann Arnold Kanne,31 der nach einem während der Befreiungskriege erfahrenen Bekehrungserlebnis nur mehr religiöse und erbauliche Schriften verfasst hat, seit 1815 an die Öffentlichkeit getreten ist. In Ergänzung einer ersten, eher auf kürzere, anekdotische Berichte ausgerichteten dreiteiligen Serie Sammlung wahrer und erwecklicher Geschichten aus dem Reiche Christi, und für dasselbe, Nürnberg 1815–1822, die 1836 nochmals in Neuauflage erschien,32 publizierte Kanne 1816/17 wieder in drei Teilen in Bamberg eine Sammelbiographie umfassenderer Lebenszeugnisse, Leben und aus dem Leben merkwürdiger und erweckter Christen aus der protestantischen Kirche, die er großenteils aus den alten Sammlungen des Pietismus schöpfte und legendarisch-amplifizierend bearbeitete (sie ist in zweiter seitenidentischer Auflage erneut 1842 in Leipzig erschienen). Dem ersten Teil hat er seinen eigenen religiösen Erfahrungsbericht angeschlossen: „Aus meinem Leben“.33 Insofern sich die Aufteilung des Gesammelten auf unterschiedliche Serien als
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„Sammlungen zu einem Christlichen Magazin“, 4 Bde., 1781–1783; Jung-Stillings „Der graue Mann. Eine Volksschrift“, 4 Bde., 42 Stücke, 1795–1833, komm. Neudruck, hg. von Erich Mertens und Martin Völkel, Nordhausen 2009; Ewalds eigene „Zeitschrift zur Nährung des christlichen Sinns“ (1815–1819) oder noch Hillmers „Christliche Zeitschrift für Christen“ (s. u.) ebd., S. 544–551. Dazu bei Kirn: Deutsche Spätaufklärung und Pietismus (wie Anm. 26), S. 116 f., 549. Artikel von Wilhelm Füssl: Johann Arnold Kanne. In: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon. Hg. von Traugott Bautz, Bd. 3, Herzberg 1992, Sp. 1017–1019. Johann Arnold Kanne: Sammlung wahrer und erwecklicher Geschichten. 3 Teile, Nürnberg 1815, 1817, 1822. Vgl. dazu neuerdings im Überblick über die Sammelbiographien der Erweckungsbewegung Jan Carsten Schnurr : Weltreiche und Wahrheitszeugen. Geschichtsbilder der protestantischen Erweckungsbewegung in Deutschland 1815–1848, Göttingen 2011 (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus, Bd. 57), S. 112 f. Spezifisch zu Kannes Sammelbiographien auch Martin Hirzel: Lebensgeschichte als Verkündigung. Johann Heinrich Jung-Stilling – Ami Bost – Johann Arnold Kanne, Göttingen 1998 (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus, Bd. 33), S. 153–202. Johann Arnold Kanne: Leben und aus dem Leben merkwürdiger und erweckter Christen aus der protestantischen Kirche, 1. Teil, Bamberg – Leipzig 1816, Selbstbiographie S. 263–296; „Zweite Ausgabe“, Leipzig 1842. In der Erstauflage, Teil I, 43, steht die Referenz auf Ewalds „Christliche Monatsschrift“ bei Übernahme der dort anonym berichteten „Gebethserhörung“ der Detmolder Rätin Kellner (Ewald: Monatsschrift [wie Anm. 26], Jg. 1800, 2. Stück, S. 145–151). Den autopsychographischen Bericht ergänzt Kanne im Zweiten Teil seiner „Sammlung wahrer und erwecklicher Christen“, Nürnberg 1817, S. 1–5 („Der Herr lässet sich nicht unbezeugt einem jeglichen unter uns.“). Von Kannes Autobiographie gibt es (mit einem Anhang anderer Selbstzeugnisse) einen modernen Nachdruck, Johann Arnold Kanne: Aus meinem Leben, Wien 1994.
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unpraktikabel erwies, führte er mit der typischen Tendenz der Sammelbiographien zur Serienbildung 1824 beide Unternehmungen, also „Biographien und einzelne christliche Anekdoten zugleich“,34 gemeinsam weiter unter dem Monstertitel: Fortsetzung der zwei Schriften: Leben und aus dem Leben merkwürdiger und erweckter Christen aus der protestantischen Kirche, und Sammlung wahrer und erwecklicher Geschichten aus dem Reiche Christi und für dasselbe. Viel noch Ungedrucktes enthaltend. In der Vorrede zu Leben und aus dem Leben kennzeichnet Kanne den frömmigkeitlichen Renouveau, der im Gefolge der romantischen Transzendenzerfahrung und der antinapoleonischen Befreiungskriege mit dem Aufschwung nationaler Emphasen und zunehmend ständisch-konservativer Gesinnung Hand in Hand ging. Die Anlage erwecklich-erbaulicher „Beyspielsammlungen“ scheint ihm erfordert „besonders in unserer Zeit, wo das Reich Christi augenscheinlich wieder zu wachsen beginnt“.35 Zugleich aber greift er dabei in scharfer Abgrenzung gegen die Aufklärungstheologie der „Neologen“, denen der Heiland bestenfalls ein achtungswürdiger Sittenlehrer sei, in direkter Anknüpfung auf die pietistische Tradition des frühen 18. Jahrhunderts zurück: Anders hätte ich diese Biographien auch, wie Reitz und Gerber, Leben der Wiedergebornen nennen können. Die Wiedergeburt eben ist jenes große über alles andere Große erhabene Wunder, das Christus an der Seele verrichtet, so groß, daß es Engel gelüsten könnte, gefallen zu seyn, um, durch den Erlöser wiedergeboren, wieder aufzustehen von ihrem Falle, denn viel herrlicher ist das wiedergewonnene, als das noch nicht verlorene Paradies.36
Wie sich dabei die Diktion gegenüber der nachbarocken Kanaanssprache der altehrwürdigen Vorbilder, die in der Sammlung fleißig ausgeschrieben werden, romantisiert hat, wird allein an dieser Textprobe schon hörbar. Wie entschieden in dieser Zeit die alten wie die neuen Beispielsammlungen noch einmal Gegenstand der intensiven Auseinandersetzung auch junger Intellektueller mit eher philosophisch-psychologischen als religiösen Motivationen geworden ist, zeigt die Aufzeichnung des zwanzigjährigen Arthur Schopenhauer als Erstsemesterstudent der Philosophie an der Göttinger Georgia Augusta, wo er als Belege für die menschliche Disposition zum „Aufgeben des Willens zum Leben“ verweist auf die Lebensbeschreibungen derjenigen Personen welche bald heilige Seelen, bald Pietisten, Quietisten, fromme Schwärmer u.s.w. genannt sind, und deren Biographien zu verschiedenen Zeiten einzeln erschienen, auch gesammelt sind, z. B. in Tersteegens Leben heiliger Seelen, Reiz Gesch[ichte] der Wiedergebornen, neuerlich von Kanne in einer Sammlung die unter manchem sehr Schlechten doch einiges Gute enthält z. B. 34 Johann Arnold Kanne: Fortsetzung der zwei Schriften, Frankfurt a.M. 1842, Vorrede, S. III. 35 Kanne: Leben und aus dem Leben (wie Anm. 33), 1. Teil, S. X. 36 Ebd., S. XI.
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das Leben der Beata Sturmin; man lese besonders das Leben der Frau von Guion […].37
Romantisch-naturphilosophischer Geist, zugleich ein ebensolcher Rückgriff auf die überlieferten Muster des Pietismus bestimmt auch die andere Sammelbiographie der frühen Erweckungsbewegung, die, wie die häufigen gegenseitigen Verweise aufeinander zeigen, in enger Abstimmung mit Kannes Sammelbemühungen stand,38 Gotthilf Heinrich Schuberts seit 1817 erscheinende Sammlung Altes und Neues aus dem Gebiet der innren Seelenkunde,39 die bis 1859 auf sieben Bände anwuchs und deren erste Teile seit 1825 eine zweite Auflage erfuhren. 1847–1850 hat ihnen derselbe Herausgeber auch noch eine vierbändige Serie Biographien und Erzählungen zur Seite gestellt. Schubert, der Verfasser der für das naturspekulative Transzendenzdenken der Hoch- und Spätromantik grundlegenden Ansichten von der Nachtseite der Naturwissenschaft (1808), der in seinen Privatvorlesungen etwa auch Kleist mit den für sein Spätwerk fundamental bedeutsamen Phänomenen des „tierischen Magnetismus“ bekannt gemacht hat,40 hat nicht nur in seinen Sammelwerken wiederholt insbesondere auf Reitz’ Historie Der Wiedergebohrnen zurückgegriffen, vielmehr hat er schon 1814 in seiner für die psychoanalytische Traumforschung grundlegenden Abhandlung Die Symbolik des Traumes dieses Werk häufig als Beleg für psychologische Phänomene herangezogen.41 Das biographische Material, zuvor nur dargeboten als Muster frommer Le37 Arthur Schopenhauer: Manuskripte 1817 (Bogen 15,2–6). Zitiert nach der kritischen Ausgabe, ders.: Der handschriftliche Nachlaß, 1: Frühe Manuskripte (1804–1818). Hg. von Arthur Hübscher, Frankfurt a.M. 1966, S. 475 f. Ganz ähnlich dann auch übernommen in ders.: Die Welt als Wille und Vorstellung. 3. verb. und beträchtlich verm. Aufl. [Ausgabe letzter Hand], Bd. 1, Leipzig 1859, S. 454. – Erörterung und Nachweise bei Schrader: Literaturproduktion (1989, L 1), S. 324 f., 518, 535. 38 Zu Schubert und seiner Freundschaft und Kooperation mit Kanne vgl. die Hinweise (mit Lit.) bei Kirn: Deutsche Spätaufklärung und Pietismus (wie Anm. 26), S. 65, 116 f. 39 7 Bd., Leipzig, dann Erlangen – Frankfurt 1817–1859, z. T. in 2. Aufl. Erlangen 1838–1841. – Knapper Hinweis auch bei Schnurr : Weltreiche und Wahrheitszeugen (wie Anm. 32), S. 113. 40 Dazu einführend Schrader : Kleists Heilige (2003, L 31). Umfassendere, grundlegende Recherche bei Katharine Weder: Kleists magnetische Poesie. Experimente des Mesmerismus, Göttingen 2008, S. 109–143 und Reg. (unter „Schubert“, S. 412); vgl. (auch zum Verhältnis Schuberts zu Kanne) Volker Roelcke: Kabbala und Medizin der Romantik. Gotthilf Heinrich Schubert. In: Kabbala und Romantik. Hg. von Eveline Goodman-Thau, Gerd Mattenklott und Christoph Schulte, Tübingen 1994 (Conditio Judaica, Bd. 7), S. 119–142. Zu Schuberts und seiner Nachfolger Umdeutungen pietistischer Berichte über ekstatische Visionen und Auditionen in romantische Exempelerzählungen für magnetisch gesteigerte Seelenwahrnehmungen und Clairvoyance vgl. jetzt meine Fallstudie über die Hemme-Hayen-Überlieferung, Schrader: Vom ekstatisch-prophetischen zum magnetischen Beispielfall (2016, L 55), im vorliegenden Band S. 731–761. 41 G. H. Schubert: Die Symbolik des Traumes, Bamberg 1814; Faksimile-Neudruck mit Nachwort von Gerhard Sauder, Heidelberg 1968 (Deutsche Neudrucke, Reihe [4] Goethezeit, Bd. [9]). Die Nachweise der Reflexe auf die Reitzsche „Historie Der Wiedergebohrnen“ bei Schrader: Literaturproduktion (1989, L 1), S. 510, vgl. ferner zu den Sammlungen Schuberts und Kannes ebd., S. 305.
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bensführung und Rüstzeug für die Seele, gewinnt so mehr und mehr auch die Funktion, Einsicht zu stiften in die Gesetzmäßigkeiten psychischer Prozesse. Im Überblick über Sammelbiographien der Erweckungsbewegung hat Jan Carsten Schnurr in seiner großen Monographie außer auf Kanne und Schubert auf einige ihnen zeitgenössische Sammlungen hingewiesen, darunter Christian Gottlob Barths Süddeutsche Originalien, die in vier Heften, Stuttgart 1828–1836,42 erstmals die ,Schwabenväter‘ gesammelt vorstellte, und Georg Christian Knapps Leben und Charaktere einiger gelehrter und frommer Männer des vorigen Jahrhunderts, einbändig Halle 1829.43 Von 1833–1848 erschien, begründet von Johann Christian Friedrich Burk, die Erbauungszeitschrift Der Christen=Bote, in jedem Heft eröffnet mit einem „Christlichen Kalender“, in dem jeweils an einen vorbildlichen Glaubenszeugen erinnert wurde, wobei im Ersten Heft Philipp Jacob Spener den Auftakt machte. 1848, gleichzeitig mit Kannes Fortsetzung, brachte in Erlangen Karl Alfred Gustav Ernst Glaser eine oft aus den alten Sammelbiographien gespeiste fast 800 Seiten starke Anekdotensammlung heraus: Erzählungen aus dem Reiche Gottes Zum Gebrauche bei dem Religionsunterrichte in Kirche, Schule und Haus.44 Aus der Erweckungsbewegung hervorgewachsen ist schließlich noch, angeregt und bevorwortet durch Friedrich August Gottreu Tholuck und „Herausgegeben von Freunden des Reiches Gottes“ (Ernst Müller und A[ugust] Rische) die von 1844–1864 auf zehn Bände anwachsende Sonntags=Bibliothek. Lebensbeschreibungen christlich-frommer Männer zur Erweckung und Erbauung der Gemeine.45 Jeder der Bände setzt sich aus (normalerweise sechs) monographischen Einzelheften zusammen, die zusätzlich auch einzeln käuflich waren. Jedes Heft enthielt eine vom Autor namentlich gezeichnete umfängliche Biographie aus der Frömmigkeits- und Kirchengeschichte, von der Antike bis zur Gegenwart. Viele davon markieren auch hier den Übergang aus erbaulicher Vorbildfunktion zu wissenschaftlicher Faktenübermittlung. Noch über die Erweckungsbewegung hinaus hat die Tradition Nachfolger gefunden. Schnurr verweist auf Sammlungen des unmittelbaren Nachmärz, von Andreas Gottlob Rudelbach, einbändig 1850, Christliche Biographie. Lebensbeschreibungen der Zeugen der christlichen Kirche als Bruchstück zur Geschichte derselben, von Theodor Fliedner, Buch der Märtyrer und anderer Glaubenszeugen der evangelischen Kirche, vierbändig Kaiserswerth 1851–1860, angelegt als „ein rechter Kirchenkalender“ der „Heiligen“ der protestantischen Tradition.46 1870 hat im Verlag des Christlichen Vereins im nördlichen Deutschland in Eisleben Johannes Hübner noch eine zweibändige 42 43 44 45
Vgl. (mit Lit.) Schnurr : Weltreiche und Wahrheitszeugen (wie Anm. 32), S. 113 f. Dazu ebd., S. 114 f. Erlangen 1842, als Google-Book im Internet verfügbar. Die acht Bände der Ursprungsserie der ,Sonntags=Bibliothek‘ finden sich in der UB Basel, kurzer Hinweis bei Schnurr: Weltreiche und Wahrheitszeugen (wie Anm. 32), S. 115. 46 Charakterisierung, Zitate und Lit. ebd., S. 116.
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Sammlung Lebensbeschreibungen frommer Männer aus allen Ständen in älterer und neuerer Zeit erscheinen lassen, der er ebd. 1873 auch Lebensbeschreibungen frommer Frauen und Jungfrauen nachschickte. Kurz darauf, 1874/75, gibt Ferdinand Piper in Leipzig eine weitere, vierbändige heraus: Die Zeugen der Wahrheit. Lebensbilder zum Evangelischen Kalender auf alle Tage des Jahrs. Und Nachfolgeunternehmen gibt es, namentlich aus neupietistischevangelikalen Kreisen, bis weit ins 20. Jahrhundert hinein. Eine durchgängige Brücke vom Spätpietismus bis an die Schwelle des Ersten Weltkriegs bildete mit vollen 130 Jahrgängen die von Johann August Urlsperger 1783 unter dem Titel Auszüge aus dem Briefwechsel der Deutschen Gesellschaft thätiger Beförderung reiner Lehre und wahrer Gottseligkeit begründete erbauliche Monatsschrift, die von der Basler Deutschen Christentumsgesellschaft vom 4. Jahr an als Sammlungen für Liebhaber christlicher Wahrheit und Gottseligkeit 1786 bis 1912 (neue Zählung, Bde. 1–127) weitergeführt worden ist.47 Diese sogenannten „Basler Sammlungen“, eine der weltweit längstlebigen Zeitschriften überhaupt, verdienten eine eigene monographische Auswertung. Ihre biographischen Schätze so wie die der meisten sicher noch keineswegs vollständig genannten Sammlungen sind bis heute weitestgehend ungehoben, werden in Abhandlungen über die Biographierten nur selten wahrgenommen, geschweige denn einer vergleichenden Untersuchung unterzogen.
VI. Die historiographische Funktion, die schon in den frühesten pietistischen Sammelbiographien immer wieder neben den erbaulich-modellgebenden und den theologisch-thetischen genannt war, also neben Zielsetzungen wie Belehrung, Erbauung und Erweckung, dem Erweis des ganz individuellen Gnadenwirkens Gottes in jeder Menschenseele, der Beförderung der Kräfte am Bau seines Reiches und schließlich der Ausbreitung eines überkonfessionellen Gemeinschaftsbegriffs, wird programmatisch noch einmal im Titel einer von Jörg Erb in drei Bänden nach dem Zweiten Weltkrieg, 1951–1954 im Kasseler Stauda-Verlag, herausgegebenen Sammlung hervorgehoben: Die Wolke der Zeugen. Lesebuch zu einem evangelischen Namenskalender. Zugleich eine Kirchengeschichte in Lebensbildern.48
47 Beide Serien sind komplett vorhanden wohl nur in der UB Basel, die „Auszüge aus dem Briefwechsel“ (1783–1785) zudem in der ihr eingegliederten Annoni-Bibliothek. 48 Für diese (und noch einige zusätzliche) Sammelbiographien des späteren 19. und des 20. Jahrhunderts, denen zweifellos noch etliche weitere, vielleicht auch noch neuere, an die Seite zu stellen wären, vgl. die bibliographischen Nachweise im Nachwort Schrader : Die neue Gattung (wie Anm. 2), S. 134*. Der Begriff der „Wolke der Zeugen“ war im Pietismus für die exemplarischen Glaubens- und Lebensvorbilder häufig verwendet, so z. B. programmatisch von Oe-
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Es ist die „Wolke der Zeugen“, nach Heb 12,1, die lange Serie der mustergültigen Vorbilder eines gottgefällig-christlichen Glaubens und Tuns „in dem Kampf, der uns verordnet ist“, und nicht die Geschichte der Institutionen und Kirchenfürsten, der Konzile, Synoden und Lehrgebäude, die nach der Überzeugung der pietistischen Sammler und Kompilatoren die Geschichte des Christentums, der Gemeinschaft der Heiligen, der Bauleute am Gottesreich ausmacht. Durch das Zusammenstellen der Lebensbilder gebe man nicht nur ein Kaleidoskop illustrativer Exempla, man schreibe dadurch vielmehr Kirchengeschichte. Diese Idee hatte Gottfried Arnold schon in seiner Unparteyischen Kirchen= und Ketzer=Historie vorgetragen,49 Reitz hat sie in seiner „Historie / Von Gottfried Arnold“ (IV, 19) geradezu als Kernaussage dieses Buchs bezeichnet. Er stellt dort heraus, daß die Vorstehere der Kirchen / Bischöffe / Hirten und Lehrer / insgemein die Verfolgere der wahren Christen gewesen / und […] die Widerchristliche und falsche Kirche jederzeit ihr Werck gemacht und ihr Heiligthum gesetzt in äusserlichen Dingen / Bildern / Schatten / Sacramenten / Manieren und Ceremonien / [dass dagegen die wahre Kirche,] die Kirch unterm Creutz allzeit am schönsten geblühet / und niemals die größste Meng und die Verfolgerin / sondern vielmehr die kleine Heerd und die Verfolgte / gewesen.50
Arnold hat den Gedanken dann nochmals als grundlegend für seine Sammelbiographie Das Leben Der Gläubigen aufgenommen: Mit der Zusammenstellung der Musterviten schicke er sich an, „dieses Stück der Kirchen=Historie zu untersuchen“: Denn solche Geschichte[n] von der gleichen wahrhafftigen Gliedmassen Christi möchten mit viel bessern Recht eine Kirchen=Historie heissen / als die Erzehlung von den unterschiedlichen Wort=kriegen und Thorheiten der verderbten Lehrer: Weil nun diese von der falschen Kirche / jene aber von der wahren unsichtbaren und verborgenen […] Kirche Christi handeln.51
Ganz entsprechend hatte er ein Jahr zuvor auch schon seine Sammlung aus der älteren Kirchengeschichte, Vitæ Patrum,52 als eine Ergänzung seiner Kir-
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tinger im Ersten Stück seiner Sammelbiographie „Die Unerforschlichen Wege“ (wie Anm. 12), S. 3 (Notiz Oetingers bereits aus dem Jahr 1732). Die aus der Serie der wahren Christen und Zeugen der Wahrheit geformte innere Geschichte der Kirche steht damit der Geschichte der äußeren Kirche und ihrer Institutionen gegenüber, die Arnold bekanntlich als eine Negativfolge fortschreitenden Verfalls („Depravationstheorie“) darstellt. Zur Wirkung dieses Geschichtsdeutungsmodells noch auf den jungen Goethe vgl. Schrader: Von Patriarchensehnsucht zur Passionsemphase (2005, L 39), S. 71 f. Reitz: Historie Der Wiedergebohrnen. Neudruck (1982, L 2), Bd. 2, Teil IV, 1716, S. 262 f. Derselbe Gedanke klingt schon an in der Vorrede zur eigenen Sammlung von 1698, Bd. 1, Teil I, S. )( )( 2v. Arnold: Das Leben Der Gläubigen, 1701 (wie Anm. 3), Vorerinnerung, S. ):( ):(1vf. Arnold: Vitæ Patrum (wie Anm. 3), S. 41 f.
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chen= und Ketzer=Historie bezeichnet. Und ähnlich hatte Tersteegen unter Verweis auf Arnold seine Sammlung Auserlesene Lebensbeschreibungen Heiliger Seelen begründet, daß die Lebens=Beschreibungen solcher Seelen nicht nur der Kirchen=Historie ein grosses Licht geben / sondern die eigentliche Kirchen=Historie sind: so hab ich auch in der Absicht diese Arbeit nicht weniger als nützlich und nöthig angesehen.53 Diejenigen aber, welche Kirchenhistorien schreiben wollen, sollten billig dieser Spur nachgehen, daß sie nämlich in allen Sæculis die Geschichten, Thaten, Leiden und Erfahrungen solcher heiligen Leute mit Fleiß aufsuchten, als welche eigentlich die Kirche ausmachen.54
Solche exemplarischen „Lehr= wie That=Unterweisungen“ sind nach dem eröffnenden „Vorbericht“ der radikalpietistischen Zeitschrift Geistliche Fama nützlicher zu lesen, „als wann wir mit einer hochtrabenden Polyhistorie sollten ausgemästet seyn“,55 und auch für die Supplementa Der Auserlesenen Materien zum Bau des Reichs GOttes ist das Ziel des Sammelns der Individualzeugnisse ein historiographisches: die Geschichte des Gnadenhandelns Gottes an den Menschen ist der Wesenskern der im Zusammentragen der Exempla fassbaren Kirchengeschichte: „Dem Historico wird zu einer wahren Kirchen=Historie der Gemeine Christi Nachricht ertheilet, und ein Theil der Gelehrten Historie zugleich mercklich vermehret“.56 Ganz so explizit finde ich den Gedanken, dass die „Wolke der Zeugen“, die Lebens- und Seelengeschichte der Gläubigen (unabhängig von konfessionellen Bindungen und Sondertraditionen), der Wiedergeborenen und Tatchristen aller Zeiten und Stände die Kirchengeschichte nicht nur illustriere, sondern recht eigentlich ausmache, in den Sammelbiographien und biographiensammelnden Periodika der Erweckungsbewegung (die ich allerdings weit weniger gut überschaue) nicht exponiert – abgesehen vielleicht von der späten Bestimmung Rudelbachs (1850), der im Untertitel seiner Christlichen Biographie die „Lebensbeschreibungen der Zeugen der christlichen Kirche als Bruchstücke zur Geschichte derselben“ ausgewiesen hat. Dieses Konzept klingt aber doch schon in Johann Arnold Kannes Begründung seiner Sammelunternehmungen an. In der Vorrede zu Leben und aus dem Leben heißt es 1816:
53 Tersteegen: Außerlesene Lebensbeschreibungen, Bd. 1 (wie Anm. 4), 1. Aufl., Vorrede, S. † 7v. 54 Tersteegen: Außerlesene Lebensbeschreibungen, Bd. 3 (wie Anm. 4), 3. Edition, Essen 1786, S. 4. 55 Geistliche Fama, mitbringend verschiedene Nachrichten und Geschichte von göttlichen Erweckungen und Führungen, Bd. 1, Erstes Stück, 2. Aufl., „Philadelphia“ (Berleburg) 1730, S. 7. 56 Supplementa Der Auserlesenen Materien zum Bau des Reichs GOttes, Bd. 1, 2. Slg., Leipzig 1738, S. IV.
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Wie nun auf alle Arten, im Aeußerlichen und im Innerlichen, Christus sich in der spätern Kirche wirksam und gegenwärtig bewiesen, unternehme ich durch eine doppelte Sammlung der Beyspiele, in welchen dies geschehen ist, zu zeigen.57
Kannes Lehrabsicht geht, abgesehen von seiner oft wiederholten antikonfessionalistischen Dokumentationsabsicht im Erweis, dass Gott seine Wiedergeborenen auf unterschiedlichsten Wegen und ganz unabhängig von ihren spezifischen Konfessionen leite und beselige, vorrangig statt auf das in den pietistischen Sammlungen aufgerufene eklektisch-summarische Geschichtsverständnis auf ein typologisches (und damit auf eine geistesgeschichtlich weit ältere Argumentation): die gesamte Heilsgeschichte nämlich vollziehe und spiegele sich immer wieder erneut in der Seele jedes Einzelmenschen: In einer bestimmten Zeit fiel jeder von uns mit Adam, in einer bestimmten Zeit erschien Jesus Christus, um uns alle zu erlösen, in einer bestimmten Zeit, hier auf Erden, an jedem Tage, in jeder Stunde, soll jeder von uns sich erlösen lassen, und es hat eine tiefe Bedeutung, daß du ja diese Gnadenzeit hienieden, wo du fielest und wo dein Erlöser kam, ergreifest und dich erlösen lassest von Ihm.58
Die typologische Auslegung etwa in der ,Berleburger Bibel‘, derzufolge jeder Bibelvers neben dem in ihm historisch Ausgesagten immer auch aktual in der Heilsgeschichte und in der Einzelseele neu sich Ereignendes andeutet, war bereits im frühen 18. Jahrhundert nur mehr ein später Nachklang des mittelalterlichen Figuralverständnisses, das nunmehr im Horizont romantischer Spekulationen wieder aufgegriffen wurde.59 Der politisch strikt konservative Ansatz der Erweckungsbewegung wie dann auch größerer Teile des Neupietismus, der dem originären Pietismus noch ganz fremd gewesen war, hatte Kanne vielleicht vor der Aussage zurückschrecken lassen, die Kirchengeschichte sei im Grunde nichts anderes als die Summe aller erweckten Gläubigen. Der etwa dem Programm von Novalis’ Die Christenheit oder Europa vergleichbare Rückfall in ständisch-begründetes 57 Kanne: Leben und aus dem Leben (wie Anm. 33), Vorrede, S. 9. 58 Ebd., Vorrede, S. XXV. 59 Vgl. zu den mittelalterlichen Grundlagen die Studien von Friedrich Ohly: Synagoge und Ecclesia. Typologisches in mittelalterlicher Dichtung; Außerbiblisch Typologisches zwischen Cicero, Ambrosius und Aelred von Rievaulx; Halbbiblische und Außerbiblische Typologie. Versammelt in: Ders.: Schriften zur mittelalterlichen Bedeutungsforschung, Darmstadt 1977, S. 312–400; bei Luther : Friedrich Wilhelm Kantzenbach: Luthers Sprache der Bibel. In: Hans Volz: Martin Luthers deutsche Bibel. Entstehung und Geschichte der Lutherbibel. Eingeleitet von Friedrich Wilhelm Kanzenbach, Hamburg 1978, S. 7–18, hier S. 13; in der neuzeitlichen Dichtung Albrecht Schöne: Säkularisation als sprachbildende Kraft. Studien zur Dichtung deutscher Pfarrersöhne, Göttingen, 2. überarb. u. erg. Aufl. 1968 (Palaestra, Bd. 226), v. a. S. 88–91, 132–134, 268–298, vgl. Beispiele entsprechender Applikationen aus der ,Berleburger Bibel‘ und bei Johann Henrich Reitz bei Schrader: Vom Heiland im Herzen (1994, L 19), im vorliegenden Band S. 115–133, hier S. 124–127, zur krassen Übernahme postfigurativer Überspiegelungen noch beim jungen Goethe, ders.: Von Patriarchensehnsucht zur Passionsemphase (2005, L 39), hier S. 73–84.
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Ordo-Denken60 tritt deutlich im SchlussaperÅu von Kannes Vorwort hervor: „in der Kirche ist Monarchismus, im Staat Republikanismus vom Uebel, ja sie waren schon vom Teufel.“61
VII. Nicht solche Deutungsmodelle der Geschichte allerdings hatte ich im Sinn, wenn ich eingangs postuliert habe, der Wissenschaft blieben aus der fundierten Erschließung der noch so schlecht erforschten Serie erbaulicher Sammelbiographien und der mit ergänzenden biographisch-psychographischen Materialien aufwartenden Zeitschriften wahre Schätze noch an Einsichten zu gewinnen. Gemeint war damit zunächst einmal ein bislang kaum genutztes Reservoir an konkreter Sachinformation. Für die Biographien der einflussreichen oder vorbildgebenden Gestalten der pietistischen Bewegung sind diese selbstverständlich mit kritischer Aufmerksamkeit zu nutzenden Quellen bloß deshalb so wenig ausgeschöpft worden, weil sie bibliographisch und inhaltlich nicht erschlossen sind, infolgedessen bei Personalrecherchen schlicht übersehen werden. Referenzen darauf fehlen meist schon im zeitgenössischen Wissenschaftsdiskurs, der auf die erbaulichen Sammlungen kaum zurückgriff. So war beispielsweise der reichen Oetinger-Forschung bis zu Dieter Isings vollständiger Textpräsentation in der neuen Reihe Edition Pietismustexte (EPT) die wichtige, umfängliche erste Teilpublikation der Selbstbiographie des schwäbischen Gottesgelehrten entgangen, weil sie eine volle Generation vor dem ersten bekannten Druck in zwei Heften einer der Erbauungszeitschriften des Spätpietismus publiziert worden ist, in den Sammlungen zu einem Christlichen Magazin des Zürcher Lavater-Freundes Johann Konrad Pfenninger (1781).62 Noch interessanter als der Mitteilungsgehalt des einzelnen Lebensbilds aber sind die Serienbildungen der in den verschiedenen Sammlungen wiederkehrenden Lebensberichte, aus denen sich allgemach ein eigener Kanon pietistischer neuer Heiliger formt. Aus ihrer Zusammenschau wird nicht nur deutlich, wie sich das Bild einzelner Gestalten der Vorgeschichte oder der Geschichte des Pietismus in den einzelnen Epochen und Rezeptionssträngen verändert. Der äußerst umstrittene, unduldsame Kirchenkritiker und Pazifist Christian Hoburg etwa wird bei Reitz 1702 noch unter vorsichtigen Kautelen 60 Hervorgehoben etwa in Hans-Jürgen Schmitt: Romantik I, Stuttgart 1974 (Die deutsche Literatur. Ein Abriß in Text und Darstellung, Bd. 8; Reclams Universal-Bibliothek, Bd. 9629), S. 161–182; Herbert Uerlings: Novalis (Friedrich von Hardenberg), Stuttgart 1998 (Reclams Universal-Bibliothek, Bd. 17612), S. 93–117. 61 Kanne: Leben und aus dem Leben (wie Anm. 33), Vorrede, S. XXXIV. 62 Genaue Nachweise in der jüngsten und bestkommentierten Neuedition: Friedrich Christoph Oetinger: Genealogie der reellen Gedancken eines Gottes=Gelehrten. Eine Selbstbiographie. Hg. von Dieter Ising, Leipzig 2010 (Edition Pietismustexte, Bd. 1), S. 215 f., 252.
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in die Ahnenkette der propagierten pietistischen Frömmigkeit eingereiht, Gerber traut sich zunächst gar nicht, den allgemein verketzerten Namen zu offenbaren und biographiert ihn 1726 in seiner Historie […] eines frommen und sehr verfolgten Theologi bloß unter dem Pseudonym „Nicodemus“. Später muss er seine freilich von den orthodoxen Widersachern rasch durchschaute Aufnahme des Heißsporns wiederholt rechtfertigen. Die Sammlung auserlesener Materien kann auch 1732 Hoburgs Schriften nur mit dem Hinweis empfehlen, der fromme Mann sei „nicht gantz ohne Fehler und Gebrechen“ gewesen, man müsse alles prüfen und das Gute behalten.63 Erst Kanne kann Hoburg 1817 in einer erzählerisch breit ausgeschmückten Musterbiographie ganz vollmundig als „Kirchenlehrer“ ausloben und nach Hagiographenbrauch alle seine Kritiker ins Unrecht setzen. Die Referenzkette der jeweils eigenen frömmigkeitlichen Positionen kann überhaupt erst aus der Auswahl der aufgenommenen und wiederaufgenommenen Frommen vollends überschaubar werden. Denn diese Kirchengeschichte der Wiedergeburt weicht von einer theologischen Kirchengeschichte des Pietismus und seiner geistigen Vorbereiter mannigfach ab. Ein erschließendes Forschungsunternehmen müsste zunächst einmal die Übersicht einer Datenbank über das gesamte hier greifbare biographische Material gewinnen.
VIII. Schon vor der erforderten gründlichen Erschließung aber lassen sich aufgrund der noch nicht komplett überschaubaren Wiederaufnahmen von oft wieder gewählten Glaubensmustern bereits erste Beobachtungen anstellen. Die Wiederkehr ist ja nicht nur eine Folge der völlig unbestreitbaren und in den Sammlungen auch bereitwillig ausgewiesenen materialen Abhängigkeit von bereits vorliegenden früheren Sammelbiographien. Vielmehr verrät jede Wiederaufnahme einen Selektionsprozess und ein auszeichnendes Für-WertHalten für die eigene Zeit und führt so bei häufigerem Rückgriff auf dasselbe Muster zu Kanonisierungsprozessen, die sich auch in den jeweiligen Bearbeitungen und Kommentierungen spiegeln. Ich habe auf die diesbezüglich verräterische Diktion in neueren Sammlungen hingewiesen. Ähnlich wie 1833 Burks Christen-Bote („Christlicher Kalender“) oder Fliedners Buch der Märtyrer seit 1851 („ein rechter Kirchenkalender“) verheißen auch Pipers Die 63 Zur heterodoxen Tradition und Verwendung dieses in der radikalpietistischen Argumentation bevorzugt zur Abwehr einer Verketzerung aufgerufener Referenzen eingesetzten Spruchs 1Thess 5,21 vgl. meine nur exemplarische Belegsammlung, Schrader: Literaturproduktion (1989, L 1), S. 385 f. Als Titelmotto gewählt wurde der Spruch für die Festschrift zum 65. Geburtstag von Hans Martin Barth: „Prüft alles und das Gute behaltet“. Zum Wechselspiel von Kirchen, Religionen und säkularer Welt. Hg. von Friederike Schönemann und Thorsten Maassen, Frankfurt 2004.
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Zeugen der Wahrheit von 1874/75 „Lebensbilder zum Evangelischen Kalender auf alle Tage des Jahrs“ und Erbs Die Wolke der Zeugen nennt sich noch 1951–1954 ein „Lesebuch zu einem evangelischen Namenkalender“. Unverkennbar also hat sich in der Serie der Sammlungen ein evangelischer Heiligenkanon herausgebildet, der vollständig abweicht von einer etwa erwartbaren Ehrengalerie der Reformatoren und der späteren richtungweisenden, traditionsbildenden Theologen (die in den frühen Serien der wiederkehrend Biographierten sogar auffällig selten vorkommen). Luther (bei Arnold, Gerber, in einer Sammelthanatographie von Quinos und bei Glaser), Spener (bei Reitz, Gerber und Burk) und Francke (bei Gerber, Moser, Glaser und in der Sonntags=Bibliothek) gehören erwartungsgemäß zu den mehr als einmal Bedachten. Durch häufigere Präsentation und Bearbeitungen laufen ihnen im pietistischen Heiligenkalender aber andere, bemerkenswert oft übrigens Frauen, deutlich den Rang ab. Dazu zählen Exponenten einer mystischen Frömmigkeit wie Catharina von Genua (Arnold, Gerber, Tersteegen, Supplementa Der Auserlesenen Materien), Armelle Nicolas (Reitz, Gerber, Tersteegen, Materien) oder Laurentius de Resurrectione (Reitz, Arnold, Tersteegen, Supplementa), die Erweckungstheologen John Bunyan (Reitz, Arnold, Sammlung erbaulicher Lebensgeschichte und Kanne) und Johann Arndt (Sommer : Epilogi Pie Demortuorum, Reitz, Arnold, Gerber), der achtjährig verstorbene Knabe Christlieb Leberecht von Exter (Reitz, Gerber, Kleinknechts Geistliches Exempelbuch für Kinder und Kanne)64 oder schließlich die „Württembergische Tabea“ Beata Sturm (Reitz, Materien, Supplementa, Moser, Kanne). Nur in zwei skizzenhaften Hinblicken kann ich Wahrnehmungen andeuten, die sich gerade aus der Wiederkehr immer derselben Muster im Biographienbestand erheben lassen. Beide fragen nach den Modifikationen derselben Geschichte, nach Episodenauswahlen und Bearbeitungstendenzen, die fast immer nicht nur etwas über die theologischen Einstellungen, Argumentationsziele und sprachlichen Stilisierungen der Kompilatoren und Herausgeber aussagen, sondern auch viel über epochentypisch veränderte Intentionen in der langen Geschichte des Pietismus. Im ersten Zugriff möchte ich im exemplarischen Querschnitt Beispiele der Bearbeitung der Serie von aus dem englischen Independentismus übernommenen Exempeln im Frühpietismus – bei Reitz 1698 und 1701 – und in der aufklärerisch durchwirkten Übergangstheologie des Spätpietismus – bei Feddersen 1776–1790 – vergleichen, im zweiten im historischen Längsschnitt 64 Diesen Fall einer (mit starker Beteiligung der Sammelbiographien) durch die Generationen weitergereichten exemplarischen Kinder-Biographie, Wilhelm Erasmus Arends: Eines zehen=jährigen Knabens Christlieb Leberechts von Exter / aus Zerbst / Christlich geführter Lebens=Lauff, Halle 1708 u. ö., habe ich (mit Lit.) skizziert, Schrader : „Werd ein Kind!“ (2010, L 45), im vorliegenden Band S. 701–730, hier S. 721 f.
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nur einen einzigen Fall einer neuen protestantischen Musterheiligen, der Beata Sturm, durch die Sammlungen und Generationen verfolgen.
IX. Feddersen hat in seinen Nachrichten von dem Leben und Ende gutgesinnter Menschen im geschlossenen Anhang zur „Zweyten Sammlung“ von 1778, aber auch als breiter ausgeführte Kapitel seines Biographienschatzes „Auszüge aus J.H. Reitzens Historie der Wiedergebohrnen“ übernommen. Ausgewählt hat er vier von den schematisch-kryptonymen Kurzexempeln aus den beiden ersten Teilen der alten Sammelbiographie, die Reitz im I. Teil seiner Sammlung aus Vavasor Powells Spirituall Experiences adaptiert hatte, zusätzlich, aus dem II. Teil der Historie, fünf fromme Frauen und zwei Männer, die ebenfalls dem englischen Puritanismus entstammten. Verteilt über seine Sammlung stellt er eine weitere Engländerin vor, Johanna Gray, und, in der vierten Sammlung, als einzige nicht englische jener Mustergestalten, die bereits in der Historie (VI, 22) präsent waren, Johann Ludwig Müller aus Hanau. Dass der einstmals amtsentsetzte und mit allen Radikalen sympathisierende Reitz als Gewährsmann der vorgestellten Lebensbilder noch immer bei Feddersens Leserschaft, die nicht auf Pietisten begrenzt sein sollte, Berührungsängste auslösen konnte, zeigt die Begründung in der Vorrede, nur ein Teil der Leser begehre Muster, „die sehr lebhaftes und warmes Gefühl der Religion in ihren Worten und Handlungen bewiesen haben“, während mancher „andere sagt: das ist Schwärmerey ; und will nur Exempel solcher Tugendhaften, die mit heller Vernunft und kühlem Herzen gedacht und gehandelt haben“. „Tugend“ und „Vernunft“ sind nun freilich aus der Aufklärung eingewanderte, der Psychagogik des alten Pietismus durchaus fremde Leitbegriffe. In Rücksicht auf den eher der Aufklärung zuneigenden Leserteil begründet Feddersen dann auch apologetisch: Diese Erinnerung muß ich besonders wegen der Auszüge aus Reizens Historie der Wiedergebohrnen machen. Was mir in diesem Buche überspannte Einbildung oder wahre Schwärmerey schien, habe ich ganz weggelassen; aber alle wörtliche und Thatzeugnisse der herzlichen warmen Liebe und Zuversicht zu Gott und dem Erlöser sorgfältig angeführt.65
Der Leitbegriff der ,Tugend‘ wird in seiner Sammlung immer wieder aufgerufen – wobei deutlich wird, dass er darunter mehr als spezifisch christliche Vorzüge soziale Qualitäten wie staatsbürgerliche Wohlanständigkeit, Rechtlichkeit und hausväterliche Verantwortung versteht. Entsprechend werden die fundamental-christlichen Exempel in ihrer Auswahl und – trotz einiger 65 Feddersen: Nachrichten von dem Leben (wie Anm. 21), Vorrede, S. )( 5vf.
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wörtlich beibehaltener Passagen – in einer massiven Bearbeitung eher in ein bürgerliches Juste-Milieu gemeingesellschaftlicher Nützlichkeit hinunter dividiert: Ich habe hier keine Heiligen der ersten Grösse; – nicht solche, die mit ihren Andachtsübungen und christlichen Werken einen ungewöhnlichen Enthusiasmus verknüpft, oder gar die mehrste Zeit mit geistlichen Uebungen zugebracht, angeführt. Ich habe lieber Beyspiele aus der mittleren Gattung rechtschaffener Christen gewählt […], Muster der obrigkeitlichen, bürgerlichen und häuslichen Frömmigkeit.66
Auch die unter den Namen des Biographierten gestellten Historien sollen so vorrangig verstanden und auch appliziert werden als Modelle ständischen Wohlverhaltens eines jeden Christenmenschen: „der treue Unterthan; – der arbeitsame Bürger ; – der redliche Diener ; – der edelmütige Bruder und Freund; der weise Vater; – das dankbare Kind!“67 Die im Spätpietismus häufig mitlaufende philanthropische Zielsetzung wird daran sichtbar, dass in den Vorreden des Werks zu menschenfreundlichen Spenden als Aufbauleistung in Notsituationen aufgerufen wird: in der dritten Sammlung 1781 für die im Jahr zuvor fast völlig niedergebrannte Stadt Gera,68 1784 für die unterstützungsbedürftige protestantische Gemeinde in Brünn (Mähren),69 jahrs darauf „An Menschenfreunde, die Aufbauung der abgebrannten Stadtkirche zu Creutzburg an der Werra betreffend“.70 Damit ist eine empfindsame Note durchaus kompatibel. Für die Tendenz der Bearbeitung, die alles potentiell Heterodoxe, Krasse oder Übersteigerte, auch außergewöhnliche religiöse Erfahrungen oder Zusprachen herausstreicht oder mildert, wird Bezug auf Lavater und seine Physiognomischen Fragmente genommen: „Ich suche lieber an Gottes Ebenbildern die Schönheiten und Tugenden auf, als die Flecken.“71 Und, im Vorwort zur – übrigens dem Braunschweiger Abt Jerusalem, dem Vater von Goethes Werther-Vorbild, gewidmeten – Zweiten Sammlung (mit dem Anhang der Reitz-Exempel): „Wer aber Fehler von ihnen weiß, der meide Sie, und folge ihren Tugenden nach! – – ***“ – ganz entsprechend dem Leserzuspruch im Frontispiz der vier Jahre zuvor erschienenen Leiden des jungen Werthers: Ihr könnt seinem Geist und seinem Charakter eure Bewunderung und Liebe, und seinem Schicksaale eure Thränen nicht versagen. 66 Ebd., Erste Sammlung, Vorrede zur 1. Aufl., S. X. 67 Ebd., S. XII. 68 Ebd., Dritte Sammlung, Halle 1781: statt einer Vorrede, S. 31 (öffentliche Gebäude und [S. 686] Privathäuser waren niedergebrannt). Vgl. Meyers Konversationslexikon, 5. Aufl., Bd. 17, Leipzig – Wien 1897, S. 372 f. 69 Feddersen: Nachrichten von dem Leben (wie Anm. 21), Vierte Slg., Halle 1784: der Vorrede vorangestellter Aufruf. 70 Ebd., Fünfte Slg., Halle 1785, Annonce statt einer Vorrede. 71 Ebd., Erste Sammlung, Vorrede, S. XI.
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Und du gute Seele, die du eben den Drang fühlst wie er, schöpfe Trost aus seinem Leiden, und laß das Büchlein deinen Freund seyn […].72
Einige der Reitz-Geschichten erkennt man in der goethezeitlichen Bearbeitung kaum wieder. Das Exempel vom „Kind von sechs Jahren“, dem gegen das Fluchen und Schwören der Erwachsenen Abscheu zeigenden Rupertgen, ist aus dem von Reitz her nicht mitübernommenen Selbstzeugnis der kryptonymen J.B. herausgeschält. Überall sind extreme Anfechtungen weggelassen, so mehrfach die Angst, die Sünde wider den Heiligen Geist begangen zu haben (M.N., Elisabeth Wilkinson),73 ebenso Gewissheiten der Begnadung und die „Beweißthume“ des erlangten Glaubens und der Wiedergeburt. Sogar Gewissenspein nach Tanz oder Komödienbesuch (Johanna Ratcliffe) und asketische Kasteiungen werden übergangen. Statt der Mitteilung bei Reitz, dass der fromme Ignatius Jordan „alle Morgen zwischen zwey und drey Uhr auffstund“, erwähnt Feddersen bloß, „daß er alle Morgen früh aufstund“. So bleiben in freier Nacherzählung (aber doch unter dem Anschein eines Selbstzeugnisses) bisweilen neben breit ausgeführten Tugendkatalogen nur mehr Begleiterscheinungen des Seelenprozesses übrig, nicht dieser selbst (M.N., Elisabeth Wilkinson), und dieses Übrigbleibende ist auch nicht nur dazu bestimmt, als Glaubensvorbild zu dienen, sondern psychologische Einsicht zu fördern. Der Lesende wird auch mehr Achtung für die menschliche Natur, mehr heilsames Mitleiden mit dem Verfall, mehr Liebe und Zuneigung zu guten Menschen, mehr ehrfurchtsvolle Freude an dem Urheber und Urbilde aller Vollkommenheiten und alles Guten bekommen.74
Mit der sprachlichen Bearbeitung, meist Modernisierung und Abmilderung, werden die allegoriereichen Blüten der pietistischen Barocksprache ersatzlos ausgemerzt, so bei Johanna Ratcliffe, Die Wehen ihrer Neuen=Geburt waren so peinlich / und zuweilen so schrecklich / daß man ihr keinen Trost beybringen konte; Doch nach der Zeit erwiese sich der HErr als ein Arzt ihrer Seelen.75
72 Johann Wolfgang Goethe: Die Leiden des jungen Werthers, Leipzig 1774. Hg. von Joseph Kiermeyer-Debre, München 1977 (dtv-Bibliothek der Erstausgaben, Bd. 2602), S. 7. 73 Die extremen Beängstigungen, die aus der Furcht resultierten, unwillentlich diese in Zeit und Ewigkeit unvergebbare Sünde (Mt 12,31 f und anklingend Mk 3,29 und Lk 12,10) begangen zu haben, spiegeln sich in pietistischen Selbstzeugnissen (am eindringlichsten beim Bernbieter Pfarrer Samuel Schumacher, Reitz: Historie Der Wiedergebohrnen. Neudruck [1982, L 2] Bd. 1, Teil III, S. 215–236) und sind auch in der poetischen Literatur von Bürgers „Lenore“ über Büchners „Lenz“ bis zu Thomas Manns „Der Erwählte“ mannigfach reflektiert. Vgl. dazu Schrader: Erfahrung der äußersten Anfechtung (2012, L 47), im vorliegenden Band S. 779–788. 74 Feddersen: Nachrichten von dem Leben (wie Anm. 21), Erste Slg., Vorrede, S. XI. 75 Reitz: Historie Der Wiedergebohrnen. Neudruck (1982, L 2), Bd. 1, Teil II, S. 110. Zu der in der pietistischen Metaphorik nicht ungewöhnlichen Perinatalbildlichkeit für das Konzept der
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Perinatale Körpermetaphern eines frommen Erlebens wie dem der ,Wiedergeburt‘ sind offenbar anstößig geworden – und damit verdünnen sich auch die rigorosen theologischen Forderungen des früheren Pietismus. Hieß es in der Historie von Jordan, dass er testamentarisch eine „merckliche Summ an die Armen zu Lime / wo er gebohren / und dann an die Armen zu Gernsey / wo er wiedergeboren war / vermachte“, dann wird daraus bei Feddersen „vermachte er auch eine grosse Summe an die Armen des Ortes, wo er gebohren war, wie an die Notleidenden auf der Insel Gernsey, wo Gott an seiner Seele grosse Barmhertzigkeit gethan hatte“. Und wenn Reitz von Margaretha Corbet konstatierte, „Wie nun ihr Leben heilig war, So konte ihr Tod anders nicht dann selig seyn“ [II, S. 201], moralisiert dagegen Feddersen: „Weil sie in ihrem Leben gottesfürchtig, rechtschaffen und menschenfreundlich war, so konnte ihr Tod auch nicht anders, denn selig seyn.“ [II, S. 414] Ähnlich kontrastiert Reitz [II, S. 199] Ihre Liebe war ungemein gegen alle Heiligen / die die Herrlichen und Edlen auf Erden seynd / so sehr / daß wann sie etwas Göttliches in jemand bemerckte / wann er auch schon ihrer Meynung in allem nicht war / sie ihn liebte / und in Einfalt und Holdseligkeit ihm den Irrthum zu benehmen trachtete.
mit Feddersens Weichspülung [II, S. 413]: Ihre Hochachtung gegen alle christlichgesinnten und rechtschaffnen Gemüther war allgemein. Wenn sie Gutes und Löbliches an jemand fand: so hegte sie Hochachtung und Liebe für denselben, obgleich er auch nicht von einer Religionspartey mit ihr war. Glaubte sie an ihm schädliche Irrthümer zu finden, So suchte sie ihm dieselben mit Freundlichkeit zu nehmen.
Feddersen scheint sich nur deshalb (mit nur einer Ausnahme) auf die Auswahl vollkommen unbekannter puritanischer Exempel von den fernen britischen Inseln begrenzt zu haben, weil ihm diese für seine Zeitgenossen unanstößiger erschienen sein mögen als die neuen Heiligen der pietistischen Tradition in Deutschland mit der Unnachsichtigkeit ihrer Buß- und Umkehrforderungen. Was ihn aber in der aufklärerisch reduzierten Spätzeit doch mit dem frühen Pietismus verbindet, ist die aus dem letzten Zitat ersichtliche und immer von neuem eingeschworene Toleranzforderung für die Überzeugungen anderer. Allerdings haben sich da – im Jahr des letzten Lessingschen Anti-Goeze, gerade ein Jahr vor dem Erstdruck von Nathan der Weise – andere Begründungsformeln eingeschoben – wie in der Historie des Oxforder Professors Rupert Harris um die Auseinandersetzungen zwischen der High Church und den verschiedenen Ausprägungen der independenten Low Churches:
Wiedergeburt vgl. Schrader: Die Sprache Canaan. Auftrag der Forschung (2005, L 38), im vorliegenden Band S. 233–260, hier S. 255.
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Als er einmal gefragt wurde, an wem die Schuld läge, daß zwischen den Bischöffen und Presbyterianern und wieder zwischen diesen und den Independenten, solche Trennungen und Streitigkeiten wären? antwortete er : Es läge an beiden Theilen. Fromme und verständige Leute und aufrichtige demütige Herzen trügen einander. Aber es wären an beiden Seiten hitzige, stolze, eigennützige Menschen. Diese bliesen die Kohlen an, und machten die Trennungen und Zänckereyen; eben als wenn keiner auf Christi Wegen gehen könnte, als nur derjenige, der mit ihnen ganz übereinkommend dächte.
Dazu fügt Feddersen den Kommentar : An dieser Antwort liegt wahre Weisheit, ächte Toleranz und christliche Billigkeit. Wie viel Unglück, Streit, Haß und Verfolgung würde weniger in der Welt seyn, wenn alle Geistliche dächten wie Harris, und ihre Zuhörer zu einer solchen Denkungsart zu bringen suchten. […] Sollten wohl nicht manche, die überlaut schreyen: unsere Meynung so ganz, wie sie ist, ist die wahre; und die denjenigen gleich verdammen, der hie und da Zweifel dagegen hegt […] und mit Wahrheitsliebe nach Licht und Gewißheit forscht – sollten nicht diese Männer, in der Ewigkeit wo uns in allen Religionswahrheiten ein näheres Licht aufgehen wird, auch oft erkennen, daß sie als Menschen geirret, und ihren Brüdern unrecht gethan? [Feddersen II; S. 406 f.]
X. In der entfalteten Erweckungsbewegung dagegen sind die hier teil-verabschiedeten theologischen Gehalte, auch Begriffe (namentlich der der Wiedergeburt) und spirituell-asketischen Rigorismen, wenngleich in einer anderen, oft romantisierenden Sprache und in einer heiligtümlichen legendarischen Erzählweise, die die Nähe zur zeitgleichen nazarenischen Malerschule verrät, im Rückgriff auf den frühen Pietismus wieder etabliert. An einem Beispiel nur, der stufenreichen Kette der Wiederaufnahmen und Neuausgaben der Lebensgeschichte der Stuttgarter Beamtentochter Beata Sturm, möchte ich die Genese einer protestantischen Hagiographie und ihrer schrittweisen Durchsetzung zu kanonischer Geltung skizzieren und zeigen, welche Bedeutung den Sammelbiographien und biographiensammelnden Erbauungszeitschriften in dieser Traditionsbildung zukam, woran sich zugleich umfassender, als hier anzudeuten ist, der Wandel der Interessen, theologischen Postulate, frömmigkeitlichen Ziele und literarischen Strategien zwischen der Blütezeit des Pietismus und den Erben im 19. Jahrhundert zeigen ließe. Das äußerlich ganz unspektakuläre Leben der Ende 1682 in eine gutbürgerliche Stuttgarter Familie (väterlicherseits Juristen, mütterlicherseits Theologen) Hineingeborenen, die am selben Ort Anfang 1730 im Haushalt ihres Bruders ledig verstorben ist, konnte vielleicht deshalb „zu einem Klas-
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siker der württembergisch-pietistischen Erbauungsliteratur“ werden, weil es gerade aufgrund seiner äußeren Ereignislosigkeit und für sich genommen kirchengeschichtlich totalen Bedeutungslosigkeit zu einem perfekten „Muster an pietistischer Frömmigkeit“ kirchlich-lutherischer Prägung taugte.76 Die bemerkenswerten Ereignisse ihrer Biographie waren nach dem frühen Tod ihrer Mutter ihr Fast-Erblinden als Kind an Glaukomen, das in ihrem elften Lebensjahr durch eine Serie von fünf nur partiell gelingenden Operationen soweit gebessert werden konnte, dass es zum Lesen ausreichte (und sie in strengem Tagesprogramm dreißigmal die ganze Bibel durchlas), dann einige Jahre der Abwesenheit des Vaters, den die Truppen Ludwigs XIV. zur Sicherung geforderter Reparationszahlungen verschleppt hatten, und später, nach seinem Tod, zwei weitere im Haushalt eines ihm befreundet gewesenen Geistlichen in Blaubeuren, wo sie schwere Anfechtungen, sogar Lebensüberdruss, zu durchstehen hatte. Daran schloss sich, bis zu ihrem Sterben mit 47 Jahren, das einförmige Leben im Stuttgarter Haus des Bruders an. Zum Muster machte sie, dass sie ausbündig war in allen christlichen Tugenden, demütig, aber bekenntnisfreudig, sozial aktiv in Worten, Spendenbereitschaft und praktischem Tun, v. a. eine große und beständige Beterin, deren Fürbitte man wunderbare Wirkungen beimaß und die sich in regelmäßigen schriftlichen Selbstverpflichtungen ihrem Heiland verschrieb – überdies freilich, dass sie gleich nach ihrem Tod in ihrem Stuttgarter Prediger Georg Konrad Rieger einen erfahrenen Erbauungsschriftsteller als Hagiographen fand, der ihre Erlebnisse, Einstellungen und Verhaltensweisen als herausragendes Vorbild publik machte. Schon im Titel ihrer in sicher nur kleiner Erstauflage 1730 76 Charakterisierungen und umfassendere Literaturangaben bei Werner Raupp: Beata Sturm. In: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon (wie Anm. 31), Bd. 11, Herzberg 1996, Sp. 139–141; Zitate Sp. 140. Vgl. Martin Brecht: Der württembergische Pietismus. In: Der Pietismus im achtzehnten Jahrhundert (wie Anm. 7), S. 225–295, hier S. 243 (Abdruck des Porträts S. 244): „Beata Sturm eigneten alle Züge einer evangelischen Heiligen. Dies wurde von den Zeitgenossen bereits wahrgenommen und von ihren Biographen auch stilisiert.“ – Zum gleichsam Kanonischwerden dieser Biographie vgl. im Abriss Schrader: Die Literatur des Pietismus – Impulse (2004, L 34), im vorliegenden Band S. 106 f. – Gerade in den letzten Jahren ist dem Phänomen eine ganze Serie neuerer Untersuchungen gewidmet worden. Gisela Schlientz: Bevormundet, enteignet, verfälscht, vernichtet. Selbstzeugnisse württembergischer Pietistinnen. In: Geschriebenes Leben. Autobiographik von Frauen. Hg. von Michaela Holdenried, Berlin 1995, S. 61–97; Sophie Pataky : Lexikon deutscher Frauen der Feder, Bd. 2, Berlin 1998, S. 348; Martin H. Jung: Beata Sturm. In: Ders.: Frauen des Pietismus. Zehn Porträts von Johanna Regina Bengel bis Erdmuthe Dorothea von Zinzendorf, Gütersloh 1998 (Gütersloher Tb., Bd. 1445), S. 86–96 (auf dem Umschlagtitel ist ihr Porträt mit abgebildet); Ulrike Gleixner: Pietismus und Bürgertum. Eine historische Anthropologie der Frömmigkeit, Göttingen 2005 (Bürgertum, N. F., Bd. 2), S. 171–178, 375–391 und dies.: Pietistische Erinnerungskultur im württembergischen Bürgertum des 18. und 19. Jahrhunderts. In: Leonberger Symposion. Paradigmen der Familienforschung im Spannungsfeld zwischen Natur- und Geisteswissenschaften. Hg. von der Werner-Zeller-Stiftung, Göttingen 2008, S. 25–42; Hermann Ehmer: Beata Sturm (1682–1730). Mystikerin und Wohltäterin. In: Frauen gestalten Diakonie, Bd. 1: Von der biblischen Zeit bis zum Pietismus. Hg. von Adelheid M. von Hauff, Stuttgart 2007, S. 385–392.
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ohne Verfasserangabe bei Metzler und Erhard erschienenen Biographie, heute nur mehr in einem Exemplar der Württembergischen Landesbibliothek Stuttgart nachweisbar,77 war der Schritt zu einer literarischen Selig- und Heiligsprechung gebahnt: Die Würtembergische TABEA, Oder Das Merckwürdige äussere und innere Leben und selige Sterben Der Weyland Gottseeligen Jungfrauen / BEATA Sturmin, Welche den 11. Jan. 1730. Zu Stuttgardt im Herzogthum Würtemberg durch einen seeligen Tod ist vollendet worden…78 Programmatisch war das Anagramm der beiden in Versalien hervorgehobenen Worte, ihres Vornamens Beata, der die Gottselige, nun selig Verstorbene, bereits zur Seligen prädestinierte, und des daraus buchstabenschüttelnd umgeformten (gleich zu Beginn des Buches erläuterten) Namens der Tabea von Joppe aus der Apostelgeschichte, der sie gar unter die Heiligen versetzte: Denn auch von der neutestamentlichen Vorbildfrau war gesagt, „Die war voll guter Werke und Almosen, die sie gab“ (Apg 9,36–43).79 Die in den Kreis der Heiligen eintretende joppische Tabea hatte der Apostel Petrus durch sein Gebet wieder zum Leben erweckt, was bei der württembergischen freilich nur im geistlichen Sinn statthaben konnte. Die zunächst nur lokal verbreitete Biographie, die aber, wie die beziehungsreiche Zueignung an den Thanatographien-Sammler Erdmann Graf Henckel zeigt, von ihrem Verfasser offenbar schon zum breitenwirksamen Erbauungsexempel bestimmt war, wurde kurz nach Erscheinen im Startheft der Sammlung Auserlesener Materien zum Bau des Reichs GOttes (Bd. I, 1. Stück, Frankfurt und Leipzig 1731, S. 29–66) ausführlich empfehlend vorgestellt in umfänglichen Textproben, mit zusätzlichen Bezeugungen („Der seel. Jungfer Sturmin geistlicher Character und eigentliche Seelen=Gestalt“, S. 44) und erbaulichen Anwendungen: „Was GOtt vor Gnade an der auserwehlten Sturmin offenbar werden lassen / ist in diesen unsern Tagen etwas ganz ausnehmendes“ (S. 40). Hier wird Rieger als der anonyme Verfasser ausgewiesen (S. 38) und sein Büchlein im Zitat als Ansatzpunkt für eine Historie der Wiedergeborenen in Württemberg ausgelobt: „Und ob schon noch keine Historie der wiedergeborenen Würtemberger geschrieben ist, so sind doch
77 Freundlicher Hinweis von Martin H. Jung, der einen Abriss der Auflagengeschichte vorgelegt hat (Jung: Beata Sturm [wie Anm. 76], S. 93 f.) und eine Neuedition in der Reihe ,Edition Pietismustexte‘ plant. Vgl. Gottfried Mälzer: Die Werke der württembergischen Pietisten des 17. und 18. Jahrhunderts. Verzeichnis der bis 1968 erschienenen Literatur, Berlin – New York 1972 (Bibliographie zur Geschichte des Pietismus, Bd. 1), S. 302, Nr. 2324 und S. 314, Nr. 2425. 78 Übersicht der nachfolgenden Auflagen und Einzelausgaben ebd., S. 314 f., Nr. 2426–2430. 79 In der „Historie Der Wiedergebohrnen“ wird die Jungfer Sturm in einer Überbietungsformel gar noch über die neutestamentliche Heilige erhoben: „Sie waren beyde voll Glaubens / und daher voll guter Wercke; wo nicht die selige Beata jene Tabeam in der Fülle der guten Wercke noch übertroffen hat: denn sie hat nicht allein in Stuttgard, der sehr volckreichen Stadt, sondern auch im gantzen Lande, ihres gleichen nicht gehabt an Uebermaaß der Tugenden und allerley guten Wercken.“ (Reitz: Historie Der Wiedergebohrnen. Neudruck [1982, L 2], Bd. 4, Teil VII [1745], S. 170.)
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etliche anschauliche Exempel der Unsern in die auswärtige Lebens=Beschreibungen aufgenommen worden.“80 Das Startheft der Materien war so gefragt, dass noch im selben Jahr eine zweite Auflage mit dieser rühmenden Annonce ins Land ging, und erbrachte so viel Nachfrage nach dem angepriesenen Buch, dass Rieger 1732 in offenbar erheblich größerer Auflage die bis heute weit verbreitete erweiterte Neuauflage herausbrachte.81 Der Autor, der nun unter der Zueignung am zweiten Todestag der Verewigten „Stuttgard den 11. Jan. 1732 M. Georg Cunrad Rieger“ namentlich hervortrat, hatte jetzt nicht nur ein zu diesem Behuf gestochenes Porträt der mildtätig Frommen vorangestellt, sondern auch Briefe und erbauliche Betrachtungen von ihr und verschiedene Nachrichten anderer Lebenszeugen eingearbeitet.82 Als Parallelgeschichte hatte er überdies einen „Brief Hieronymi von dem Leben der Heiligen Paula“ (S. 377–408) hinzugefügt, die sich im 4. Jahrhundert in Bethlehem „mit glühender Hingabe den Werken der Frömmigkeit u. christlichen Caritas“ gewidmet hatte,83 wodurch Rieger die Sanktifizierung seiner Seligen noch offener postulierte als durch seine leitmotivische „Tabea“-Typologie. In der „Nacherinnerung bey der zweyten Edition“ wurde die landesweit ungemeine Nachfrage nach ihrer Vita durch den (unausgewiesenen) Hinweis auf einen bereits erfolgten Raubdruck und eine bevorstehende niederdeutsche Übersetzung unterstrichen.84 Auch die zweite rechtmäßige Ausgabe wurde in den biographiensammelnden pietistischen Zeitschriften sofort ausführlich vorgestellt, die auch auf die hinzugekommenen Ergänzungen hinwiesen: Die trotz des ImpressumAusweises auf die Messeorte „Franckfurt und Leipzig“ (statt ordnungsgemäß 80 Sammlung Auserlesener Materien zum Bau des Reichs GOttes, I. 1. St. Frankfurt– Leipzig 1731, S. 39. Nachauflage dieses Startheftes noch im selben Jahr. 81 [Georg Konrad Rieger]: Die Würtembergische Tabea. Zweyte Auflag, Stuttgart 1732 (Das Exemplar der StUB Göttingen ist auch digitalisiert im Internet). Vielleicht ist die Auswahl dieses Werkes zur digitalen Bereitstellung auch dem Zufall zu danken, dass die in der Bibliothek Zuständige für digitale Langzeitarchivierung ebenso wie die Biographierte Beate Sturm heißt, vgl. Bibliotheksdienst 42 (2008), H. 10, S. 1073. 82 Die Beigaben aus der Feder der Beata Sturm sind bei Mälzer: Die Werke der württembergischen Pietisten (wie Anm. 77), S. 366, Nrn. 2636–2838 aufgeschlüsselt, über die weiteren Beilagen informiert im Buch selbst eine „Nacherinnerung bey der zweyten Edition“, Bog. )( )( )( 1r– )( )( )( 3r. Genaue Angaben zum nach Augenzeugenberichten vom pietistischen Stuttgarter Hofmaler Johann Isaak Liefkopf postum gemalten Porträt der Beata Sturm und zum danach für den Druck vom Augsburger Kupferstecher [Johann Jacob] Kleinschmidt hergestellten Stich sowie zum beigesetzten Personalpoem von Philipp Heinrich Weissensee bei Jung: Beata Sturm (wie Anm. 76), S. 94. 83 H[ieronymus] Engberding: Paula, hl., aus Rom (347–404). In: Lexikon für Theologie und Kirche. 2. neubearb. Aufl., Bd. 8. Hg. von Michael Buchberger, Freiburg i.Br. 1936, Sp. 18 f; vgl. Silvia Latsch-Brunner: Paula (347–26.1.404). In: RGG, 4. Aufl., Bd. 6, Tübingen 2003, Sp. 1030. Zum Anhang in der Sturm-Biographie Jung: Beata Sturm (wie Anm. 76), S. 94. 84 [Georg Konrad Rieger]: Die Würtembergische Tabea, 2. Aufl. 1732, Nacherinnerung (wie Anm. 81). Tatsächlich gibt Georgi: Allgemeines Europäisches Bücher=Lexikon. 2. Teil, Leipzig 1742, eine sonst nicht ausweisbare Ausgabe „Beatæ Sturmin Lebens=Beschreibung, Stuttgart 1731“.
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auf den Druck- und Verlagsort Stuttgart) im selben „Verlag Joh. Benedict Metzlers und Christoph Erhards“ 1733 (zunächst auch ohne Nennung des Herausgebers Johann Jacob Moser) neu herauskommende neue Zeitschrift Altes und Neues aus dem Reich Gottes und der übrigen guten und bösen Geister stellte die neu erschienene Sturm-Vita gleich im Ersten Heft in ihren „Nachrichten von erbaulichen geistlichen teutschen Büchern“ unmittelbar hinter eine Neuerscheinung von Dantes „Ubung des wahren Christentums“,85 und die Supplementa Der Auserlesenen Materien zum Bau des Reichs GOttes übernahmen die Empfehlung in ihrer Werbung für die neue Mosersche Sammlung.86 „Die Würtembergische TABEA“ hatte damit als Musterbeispiel für typisch pietistisches Frömmigkeitsgebaren und seine Kanaanssprache so viel Bekanntheit gewonnen, dass sie zum Ausstellungsobjekt der aufklärerischen Satire für pietistische Kuriositäten taugte: Die 22-jährige Luise Adelgunde Victorie Gottsched setzte in ihrer Komödie Die Pietisterey im Fischbein=Rocke; Oder die Doctormäßige Frau von 1736 den Titel des Buches in voller Länge in den vom Bücherhöker Jacob der Frau Glaubeleichtin und der Frau Seufzerin feilgehaltenen Vorrat sinnverwirrender modischer Pietistenschriften. Es verwundert nicht, dass dort das Werk in der Liste von allein durch ihre Titel komisch wirkenden Lektüren oft radikaler Pietisten wie Gottfried Arnold, Johann Tennhardt oder Victor Christoph Tuchtfeld der Lächerlichkeit preisgegeben wird, zwischen denen auch biographische Sammelwerke vorgeführt werden: „Der erste Tempel GOttes in Christo, darinnen das keusche Leben der heiligen Alt-Väter, heiligen Matronen und heiligen Märtyrer in der ersten Kirchen abgebildet ist […] von Johann Otto Glüsing, Anno 1720“,87 „Sammlung Auserlesener Materien zum Bau des Reiches GOttes. Leipzig 1736“ und Oetingers „Die Unerforschlichen Wege der Herunterlassung GOttes“, Leipzig 1735.88 85 Altes und Neues aus dem Reich Gottes, I. H. 1, Frankfurt – Leipzig 1733, S. 88–94, Besprechung „DIe Würtembergische Tabea […] Zweyte Auflag. Stuttgardt 1732. 8.“, S. 92–94. 86 Supplementa Der Auserlesenen Materien (wie Anm. 56), Bd. 1, H. 1, Leipzig 1737, S. 50–71, zur Beata-Sturm-Vita vgl. S. 54 f. 87 Vgl. die Titelaufnahme oben Anm. 3. Der Verfasser war (im Titel ebenso anonym) auch der Herausgeber der synoptischen „Biblia Pentapla“, [Schiffbek bei Altona] 1711/12, deren initiale Bedeutung insbes. in der erstmaligen Transliterierung eines jiddischen (jüdisch-deutschen) Alten Testaments für christliche Leser besteht. Dazu Schrader : Lesarten der Schrift (1996, L 20) im vorliegenden Band S. 285–305; dazu auch (mit neuer Lit.) ders.: „Gedelöcke“ (2009, L 43), hier S. 99 f., durchges. Fassung in ders: Wilhelm Raabe (wie Anm. 23), S. 211 f. 88 Luise Adelgunde Victorie Gottsched: Die Pietisterey im Fischbein-Rocke. Hg. von Wolfgang Martens, Stuttgart 1968 (Reclams Universal-Bibliothek, Bd. 8579), Szene IV,6, S. 104–109, „Tabea“ ebd., S. 105. Eine detailliertere Untersuchung, die allerdings selten über Martens’ Nachwort und Kommentierung hinaus gelangt, gibt William E. Petig: Literary Antipietism in Germany during the First Half of the Eighteenth Century, New York [u. a.] 1984 (Stanford German Studies, Bd. 22), S. 41–75; geringere Aufschlüsse zum Katalog des Bücherhökers S. 69–71. Zu diesem Spottkatalog vgl. Schrader: Probleme der bibliographischen Erschließung (1988, L 16), im vorliegenden Band S. 63–90, hier S. 88–90; zum Hintergrund und zur pole-
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1737 brachte Rieger bald nach den Buchwerbungen durch die Erbauungszeitschriften noch eine 3. Auflage, Stuttgart 1737 heraus, neuerlich um eine weitere Heiligengeschichte, diesmal aus der Reformationszeit, vermehrt, die er zuvor schon einzeln publiziert hatte: Die Würtembergische TABEA […] Mit einem Anhang. Von dem Leben der Argulae Grumbachin, gebohrnen von Stauffen, Stuttgart 1737.89 In diesem Fall nahm die Historie Der Wiedergebohrnen, sonst oft Ausgangspunkt der sammelbiographischen Kanonisierungsprozesse der pietistischen Musterviten, die Stafette erst spät auf. Deren VI. Teil als erste, zur 5. Auflage der Sammlung hinzugekommene Weiterführung nach dem Tod des Johann Henrich Reitz, war 1730, im Jahr der Erstausgabe von Riegers Werk, vielleicht schon vor dessen Erscheinen, herausgekommen, zu früh, um auf die Vita zu reagieren. Der beschließende, von dem Schwaben Johann Conrad Kanz zur 6. Werkauflage 1745 in Berleburg hinzugetragene VII. Teil, der dann 1750 als Herborner Titeldruck nochmals auf den Markt kam,90 widmet dem „Leben der gottseligen Jungfrau BEATA Sturmin, aus einer authentiquen gedruckten Nachricht extrahirt“ (Rieger als Quelle wird nicht genannt) dann aber immerhin den außergewöhnlichen Umfang von 65 Seiten.91 Ich komme zum Beschluss nochmals darauf zurück. Die vierte Einzelausgabe von Riegers Biographie folgte nach der von 1737 erst mit Generationenabstand im Spätpietismus, 1791 herausgegeben mit einer Vorrede des einflussreichen Bengel-Schülers Magnus Friedrich Roos (und so 1845 noch einmal nachgedruckt).92 In der Phase einer Dominanz aufklärerischen Denkens auch in der Theologie wurde der Rückgriff auf katholisierend-pietistische Heiligenideale offenbar als unzeitgemäß empfunden, jedenfalls brachte der Kreis um den Heilbronner Generalsuperintendenten Christian Friedrich Duttenhofer, Verfasser einer Geschichte der religiösen Schwärmereyen in der christlichen Kirche (2 Bände, Heilbronn – Rothenburg 1796/97),93 eine Abwehrschrift heraus: Würtembergische Heiligen Legende
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mischen Stoßrichtung der Komödie auch ders.: Vom Heiland im Herzen (1994, L 19), im vorliegenden Band S. 119 f. Zur hinzugefügten Biographie der Argula von Grumbach vgl. Jung: Beata Sturm (wie Anm. 76), S. 93, 95, auch seinen Artikel, ders.: Argula von Grumbach (geb. v. Stauf; 1492–1554). In: RGG, 4. Aufl., Bd. 3, Tübingen 2000, Sp. 1305. Details bei Schrader: Literaturproduktion (1989, L 1), S. 93–107, 219–222, 405–418 und 474, zur Sturm-Biographie und deren Besitzvermerken in pietistischen Büchersammlungen vgl. ebd., Register, S. 633. Reitz: Historie Der Wiedergebohrnen. Neudruck (1982, L 2), Bd. 4, Teil VII, Berleburg 1745, S. 166 (dort auch der Titelbogen mit der neuen Vorrede zum Titeldruck „Frankfurt und Leipzig“ [Herborn] 1750, S. 73*–80*), „Siebende Historie. Die Würtembergische Tabea“, S. 166–231. Zitate sind im Folgenden zur Entlastung des Fußnotenapparats direkt im Text ausgewiesen. Stuttgart: Erhard 1791 (digitalisiert verfügbar aus der StaBi Berlin) und Stuttgart: Henne 1845. Nachweise bei Mälzer : Die Werke der württembergischen Pietisten (wie Anm. 77), S. 315, Nrn. 2428/29. Vgl. zu dieser antipietistischen Polemik Brecht: Der württembergische Pietismus (wie Anm. 76),
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oder das Leben der heil. Tabea von Stuttgard. Als ein Beleg zu Duttenhofers Untersuchungen über Pietismus und Orthodoxie. Nebst einem Anhang von der heil. Paula, Halle 1798.94 Im Gegensatz dazu aber griffen die Erweckungsbewegung und der anknüpfende Neupietismus auch hier das frömmigkeitliche Heiligenideal aus der Blütezeit des Pietismus wieder auf: Johann Arnold Kanne nahm „Beata Sturmin, oder die Würtembergische Tabea“ 1816 (55 Seiten lang) in den Ersten Teil seiner Sammelbiographie Leben und aus dem Leben merkwürdiger und erweckter Christen aus der protestantischen Kirche auf.95 Dass diese Sammlung – und in ihr besonders die Lebensgeschichte der Sturmin, auf die am Schluss zurückzukommen sein wird – die beifällige Aufmerksamkeit des jungen Schopenhauer gefunden hat, habe ich schon angedeutet.96 1854 (im Jahr darauf schon in 2. Auflage) folgte in der Volksschriftenserie des Christlichen Vereins im nördlichen Deutschland in Eisleben und Leipzig als „eine neue Bearbeitung eines schon vor mehr als hundert Jahren erschienenen Buches“ von dem fruchtbaren Erbauungsschriftsteller Carl Friedrich Ledderhose Beata Sturm, nach ihrem Leben dargestellt,97 und die Buchhandlung der Evangelischen Gesellschaft in Stuttgart präsentierte sie abermals in ihrem Volksschriftenprogramm (Kleine Schriften, Traktate und Bilder, 58) als 6. und 7. Abdruck 1875 und 1880 – eine Ausgabe, die als Book on Demand heute wieder lieferbar ist.98 So wanderte die Vita der so ortsfesten ,ausbündig‘ Heiligen über moderne Biographiensammlungen des Schwäbischen Pietismus, Wilhelm Claus’ Württembergische Väter. Von Bengel bis Burk (1887, 2 1900, 31926), wo ihr unter dem geistlichen Vater Georg Konrad Rieger ein eigenes Kapitel gleichsam als Mädchenzimmer eingeräumt war,99 oder noch Julius Roessles Von Bengel bis Blumhardt (1959)100 mit Neuauflagen 21960,
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S. 289: „Der Pietismus gilt […] als Teil des rückständigen württembergischen Systems als überholt in seiner biblisch-archaischen Sprache, seinen Verhaltensmustern, seiner ,entarteten‘ Frömmigkeit“. Vorhanden BCU Lausanne. Kanne: Leben und aus dem Leben (wie Anm. 33), Bd. I, 1816, S. 55–110. Die nachfolgend häufigen Zitate aus Kannes Beata Sturm-Biographie weise ich zur Entlastung des Fußnotenapparats aus diesem Band direkt mit Kurztitel am Zitatschluss aus. Vgl. oben, Anm. 37. Das Exemplar der BSB München ist auch digitalisiert greifbar, Zitat aus dem Vorwort. Ledderhose schrieb auch den Artikel in der Allgemeinen Deutschen Biographie (ADB), Bd. 37, Leipzig 1894 (Nachdr. Berlin 1967), S. 2–4. Die Ausgabe „um 1775“ auch bei Mälzer : Die Werke der württembergischen Pietisten (wie Anm. 77), S. 315, Nr. 2430, die von 1880 findet man bei Google-Books. Wilhelm Claus: Württembergische Väter, Bd. 1: Von Bengel bis Burk. Bilder aus dem christlichen Leben Württembergs, 2. verb. u. verm. Aufl., Stuttgart 1900, S. 97–116 („Beata Sturm“) mit Kolumnentiteln, die die Lebensabschnitte, Tugenden und Gnadenauszeichnungen resümieren: „Des Vaters Tod“, „In Blaubeuren“, „Gebetsübung“, „Erhörungen“, „Mildtätigkeit“, „Nüchterner Sinn“, „Der Heimgang“. Julius Roessle: Von Bengel bis Blumhardt. Gestalten und Bilder aus der Geschichte des
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1962, 41966 und 51975, bis an die Schwelle der Jetztzeit also, wo ihr von Pietismusforschung und feministischen Traditionsbestimmungen wieder ein aufmerksamer Empfang bereitet wird.
XI. Die einzelnen Bearbeitungen über 230 Jahre hin kontrastiv in ihren jeweils programmatischen Interessen und Stilisierungen zu beschreiben, wäre eine eigene, aufwendige Untersuchung. Hier muss es genügen, in ausblickhaft knappem Szenenvergleich die Redaktionen zwischen dem Hochpietismus der Historie Der Wiedergebohrnen und der Erweckungsbewegung in Kannes Leben und aus dem Leben einander gegenüberzustellen, wobei sich die Tendenzen bestätigen, die die Querschnittanalyse der sammelbiographischen Tradition sichtbar gemacht hatte. Die breite Passage, die Kanz in der Historie der zwar in „Ansehung der Absonderung vom äussern Kirchen=Wesen“ vom Verständnis für Separatisten bestimmten, aber doch entschieden lutherischkirchlich geprägten, Gottesdienst und Abendmahl bejahenden Haltung der Sturmin widmet (S. 202–205), ist für Kanne in seiner Phase einer stürmischinnerkirchlichen Resakralisierung ohne jedes Interesse (wird dagegen bei Roessle angesichts separatistischer Stündler-Tendenzen im schwäbischen Pietismus nach dem Zweiten Weltkrieg wieder hervorgehoben, S. 105 f: „Ihrer Kirche und Gemeinde war sie in Treue verbunden“). Dagegen malt Kanne andere Episoden, die Kanz nur nüchtern-knapp berichtet hatte, breit und einfühlsam psychologisierend mit einem wiedererwachten Geschmack für das Wunderbare, auch für heiligtümliche Askeseforderungen, aus – in einem treuherzig-moralisierenden Tonfall, der an die von Auflage zu Auflage zunehmend verbürgerlichenden Amplifikationen in den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm gemahnt. Zur Illustration stelle ich nur die initiale Episode aus den besonders bei Kanne weit ausführlicheren Berichten über die Anfechtungen der jungen Sturmin in Blaubeuren einander gegenüber. In der Historie war diese erste in der Serie der vom Teufel in verkappter Gestalt wie als Zweifelsgeist in ihrer Seele gegen sie bewirkten Versuchungen ihrer Frömmigkeit in der (abgesehen von Kuraufenthalten in Bad Teinach und Zaisenhausen) einzigen kurzen Zeit, die sie außerhalb Stuttgarts verbracht hat, relativ knapp umrissen: In dem Closter zu Blaubeyren / dahin sie einige Jahre nach ihres sel. Vaters Tod in die Kost gegangen, hat sie noch etliche schwere Anfechtungen erfahren und ausgestanden, wozu sie auf der Hinreyse gleichsam præparirt worden: denn weil der Fuhrschwäbischen Pietismus, Metzingen 1959, S. 101–107 („Beata Sturm die württembergische Tabea 1682–1730“).
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mann, der sie auf einer Chaise dahin führte, den gantzen Weg dahin über den Weg und über die Pferde entsetzlich fluchte, ward sie dadurch angetrieben, mit groser Inbrünstigkeit und Zuversicht mit Hertz und Mund zu bäten und GOtt zu loben bis ins Closter hinein. Allda machte ihr nachgehends der Versucher das Bäten so saur und so schwer / daß sie GOtt keinen Vater mehr nennen konte, sondern eitel Widerspruch und Zurückstossen leiden mußte. Sie konte ie länger ie weniger im Gebät vor GOtt kommen, und wurde ihr endlich alles genommen, was noch Hoffnung oder Trost hätte geben sollen. Endlich fiel ihr durch eine verborgene Gnadenwirkung des H. Geistes ins Gemüth, daß GOtt ein Vater der Waysen sey, Ps. 68,6. Welches Wort sie ergriffen und sich daran gehalten; darauf es denn wieder anfangen heiterer in ihrem Gemüth zu werden. [Historie VII, S. 181]
Diesen Mitteilungskern walzt Kanne zu einer ganzen Theologie der Anfechtung als einer Nachstellung des leibhaftigen Satans gegen alle Christusnachfolger aus, wobei er nicht vergisst, eine Polemik gegen die Aufklärung einzuflechten, deren Einfluss die Menschen so herrlich weit gebracht habe, die Anfechtungen zarter Gewissen ebenso für schädliche Einbildungen zu halten wie den Teufel selbst. Während sie betete, fluchte und schwor ihr roher Kutscher entsetzlich über Pferde und schlechten Weg, und es war die Reise gleichsam die Einleitung zu dem, was ihr in Blaubeuren widerfuhr. Denn hier war es, wo die heftigsten Anfechtungen sie bestürmten. […] Aber Anfechtung? Versuchung? Wie mag ein gescheuter Mann noch davon zu sprechen wagen, nach den Fortschritten, die wir bis hieher gemacht haben? Darauf antworte ich: Gleich den Pilgern, die zum heiligen Grabe wollten, müssen wir gerade die Schritte, die wir vorwärts gethan haben, wieder rückwärts thun, wenn wir zum Heiligthum kommen wollen: die Sonne der Aufklärung ist in ihrer Bahn just bis zur Sommer=Sonnenwende – bis zum Zeichen des Krebses fortgerückt, wo es endlich Zeit ist rückwärts zu gehen, um vorwärts und zum Ursprunge zu kommen. Wohl kann uns dringendes Bedürfniß zu Christo hintreiben, und wohl erquickt er uns dann mit den Erstlingen seiner Gnade, aber ganz an Christum, ganz sein Erlösungswerk glauben, können wir nur, wenn wir ganz an den Satan glauben, und wie an Christi Einwirkung auf jeden einzelnen, so an des Widersachers Gegenwirkung bey demselben […] Diese gerade, die der Erlöser zur Wiedergeburt und Erstgeburt bringen will, müssen im einzelnen den Widersacher immer noch ebenso am heftigsten und merkbarsten erfahren, wie jene ganze Zeit ihn am sichtbarsten erfuhr, als der Heiland zuerst im Fleische erschien, um sein Reich zu zerstören […] Sie gerieth in jenen Zustand, den beynahe alle Seelen erfahren haben, die den Weg der Heiligung geführt sind; in den Zustand, wo der Himmel sich allen Gebeten verschließt, wo kein Liebesblick von Ihm die trostlose Seele erquickt. Es ist eine Zeit der Prüfung, die bey dem einen länger oder kürzer – bey manchem mehrere Jahre – gedauert hat, bey andern öfter wiederkehrt; denn dem Nachfolger Christi muß es gehen, wie Christo selbst, der beym Antritt seiner Laufbahn in einer Wüste geprüft wurde, und am Ende derselben, da er alles überwinden sollte, rufen mußte: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? [Kanne: Leben und aus dem Leben, S. 68–70]
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XII. Der Autor der Erweckungsbewegung kommt in der Theologie der Wiedergeburt und Nachfolge Christi wie in der Dämonologie dem Pietismus wieder näher – wenngleich wortreicher und in pathetischer Heilsbringerpose – als den Vertretern der neologischen Theologie, die in der dazwischenliegenden Phase des späten 18. Jahrhunderts pietistische und aufklärerische Anregung verschmolzen hatten. Auch hier aber zeigt sich die schon oben an den Zeugnissen der Erweckungsbewegung vermerkte dumpf-konservative (wie die Gegner im 19. Jahrhundert sagten, „muckerische“) und latent xenophobe Zutat, die dem originären, grundsätzlich institutionenskeptischen, also staatswie kirchenkritischen Pietismus noch vollkommen fremd gewesen war. Hieß es in der Historie über die Gefangenschaft des Vaters Sturm, durch die er der frommen Tochter auf Jahre entzogen war, neutral Bey dem Einfall der Frantzosen A. 1693. hat er nicht allein sich selbst freywillig zur Geiselschafft angeboten, sondern auch andere dazu aufgemuntert, und damit seine Treue gegen das Vaterland bewiesen [Historie VII, S. 172]
– so verwandelt Kanne in der Zeit eines zunehmend chauvinistischeren Franzosenhasses nach der napoleonischen Besetzung und den Befreiungskriegen Patriotismus in Nationalismus, denn in dem Kriege, in welchem die Franzosen am Rhein so fürchterlich gewütet hatten, und noch 1693 im Würtembergischen brandschatzten, ward er, als freywillige Geisel, nach Frankreich abgeführt. [Kanne: Leben und aus dem Leben, S. 56]
Das Bewusstsein aber, in der Erbschaft des alten Pietismus zu stehen und zur Versammlung der Heiligen für das künftige Gottesreich berufen zu sein, ist ungebrochen, selbst wenn der Impetus sich von der Weltverwandlung durch Menschenverwandlung zum letzteren, eher individualistisch-psychagogischen verschoben zu haben scheint (der soziale Aspekt erwacht erst wieder in der Diakoniebewegung). Diese Traditionsanknüpfung zeigen nicht nur die zahlreichen in Kannes Erzählung eingewobenen Stücke aus anderen pietistischen Musterviten, sondern speziell auch die Hinweise auf jene generationenweit zurückliegenden Sammelbiographien, deren Kette Kanne mit seinem Werk fortführen will. Explizit (z. T. mehrfach) genannt werden davon allein in seiner Redaktion der Beata-Sturm-Vita neben allerlei einzeln erschienenen Erbauungsbiographien „Reitzens Geschichte der Wiedergebornen“ (S. 60 und 72, vgl. 108), „Tersteegens Leben heiliger Seelen“ (S. 72 und 89, vgl. 64), die „Sammlung zum Bau des Reichs Gottes“ (S. 55, 89 und 102), die „Verbesserte Sammlung zum Bau des R. G“ (S. 72), das „Berlinische Hebopfer“ und die „Bremer theologische Bibliothek“ (S. 83), schließlich „des Grafen Henkel letzte Stunden“ (S. 109). Über die pietistische Heilige Tabea und über ihre Nutzung der frommen Vorbilder und Wolke der Zeugen aber wird gesagt:
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sie ließ sich […] große Muster zu ihrem Besten dienen. Ist dieser Mensch, dachte sie, nicht auch von Adam? Hat er nicht auch ein so böses Herz gehabt wie du es hast? Ists also nicht bloße Gnadengabe, was er jetzt hat? Dann lief sie hin, und hielt es dem himmlischen Vater vor : „lieber Gott, du bist ja auch mein Vater, ich auch dein Geschöpf, hast du es diesem aus Gnaden geschenkt, so schenke mirs auch.“ [Kanne: Leben und aus dem Leben, S. 101]
„Werd ein Kind!“ im „Wunderhorn“ Pietistische Mitgiften an die Romantik* [2010, L 45]
Wenn jemand, der sich ein bisschen auskennt in der literarischen Erbschaft des Pietismus, zur Erholung hier und da herumblättert in dem seltsamen Sammelhort für „Alte deutsche Lieder“, die uns die Romantikerfreunde Achim von Arnim und Clemens Brentano seit 1805 (auf dem Titelblatt des Ersten Teils vordatiert auf 1806) unter dem merkwürdigen Titel Des Knaben Wunderhorn zum ewigen Hausschatz einer lebensnah-situationsgeborenen, ursprungsechten Volkspoesie zusammengestellt haben,1 dann wird er im letzten Drittel des ersten Teils elektrisiert auffahren: da nämlich stößt er auf eine dem Gedicht vorangestellte wohlbekannte Quellenangabe, die in solchem Konvolut bei all seiner Buntheit doch kaum zu erwarten war. Mehr noch als die Gedichtüberschrift selbst, die heutige unbefangene Leser sicher einigermaßen surreal anmuten wird, die gleichsam Naturgesetze umkehrende Aufforderung nämlich „Werd ein Kind.“, springt den so Däumelnden der Herkunftsnachweis an: „Historie der Wiedergebornen. 1742. S. 18.“ Wie passt, so fragt man sich, ein Textzitat aus der frühesten und zugleich in ihren vielen Auflagen wirkungsstärksten pietistischen Sammlung erwecklichfrommer Musterbiographien unter das, was seit der Romantik als Sammelbecken und Inbegriff des deutschen „Volkslieds“ gilt? Ein Irrtum nämlich ist * Öffentlicher Vortrag zur Internationalen wissenschaftlichen Tagung „Der radikale Pietismus – Bilanz und Perspektiven der Forschung“ unter Leitung von Wolfgang Breul, Marcus Meier und Lothar Vogel anlässlich der Emeritierung von Prof. Dr. Hans Schneider im Fachbereich Evangelische Theologie der Philipps Universität Marburg am 28. März 2007. 1 Des Knaben Wunderhorn. Alte deutsche Lieder gesammelt von L. A. von Arnim und Clemens Brentano. Erster Band, Heidelberg, bey Mohr u. Zimmer ; Frankfurt bey J.C.B. Mohr 1806 [recte: 1805]. Zitatgrundlage (bei bloßen Zitatnachweisen mit Liednummer und Seitenangabe im Text) ist im Folgenden die vollständige und kommentierte Edition (beruhend auf seiner Editionsleistung in der „FBA“, Clemens Brentano: Sämtliche Werke und Briefe. Bd. 6: Des Knaben Wunderhorn, Teil 1. Hg. von Heinz Rölleke und Bd. 9/1: Lesarten und Erläuterungen. Hg. von Heinz Rölleke, Frankfurt 1975): Des Knaben Wunderhorn. Alte deutsche Lieder, gesammelt von Achim von Arnim und Clemens Brentano. Kritische Ausgabe. Hg. und kommentiert von Heinz Rölleke. 3 Bde., Stuttgart 1987 (Reclams Universal-Bibliothek, Bd. 1250–1252) [hier: Bd. 1]. Zum Titel der Sammlung und zugleich des Eingangsgedichts nach einem ursprünglich anglonormannischen Lied, das Arnim und Brentano in einer der ihrem romantischen Impetus richtungweisenden Sammlungen aus dem Geist des Sturm und Drang vorgefunden hatten (A[nselm] Elwert: Ungedruckte Reste alten Gesangs nebst Stücken neurer Dichtkunst, Gießen – Marburg 1784, S. 13 f.), ebd., Bd. 1, S. 420 f., Bd. 3, S. 503.
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ausgeschlossen: das erweist schon der Kommentar von Heinz Röllekes kritischer Gesamtausgabe von Des Knaben Wunderhorn, der zu Arnim/Brentanos Belegangabe erläutert: Vorlage war ein vierstrophiges Gedicht ohne Titel (vgl. aber V. 19) aus der von Johann Heinrich Reitz zusammengestellten Sammlung erbaulicher Lebensläufe Historie der Wiedergebornen (1742; S. 18), das den Weg der wahren, d. h. naiven „Gottesgelehrtheit“ weisen will.2
Nicht die gleichsam wissenschaftliche Quellenangabe an sich ist das Erstaunlichste in dieser doch volkstümlich gewollten, programmatisch ja nicht für Gelehrte, sondern für jeden Hausstand bestimmten Sammlung sogenannter „Volkslieder“: Fast bei jedem Gedicht nämlich haben die Sammler einen solchen Nachweis unter den Titel gesetzt, sei es auch nur mit den häufig wiederkehrenden Formeln „Mündlich.“ wie im Lied „So treiben wir den Winter aus“ (I, 161a, S. 144) oder „Fliegendes Blat.“ wie im bekannten „Der Schweizer.“-Lied „Zu Straßburg auf der Schanz“ (I, 145, S. 130), in zwischen Unbestimmtheit und Präzision schwebend gehaltenen Angaben wie „Fliegendes Blat vom Kloster Einsiedeln.“ (I, 79, S. 73) bzw. „Aus einem Gesangbuche der Wiedertäufer v. J. 1583. S. 53“ (I, 146, S. 131). Andere Belege geben unter all den Namenlosen und Anonymen ohne nähere Fundortbezeichnung den Namen bekannter Dichter wie „Martin Opitz.“ (z. B. beim Gedicht „Aurora.“, I, 291a, S. 264), bisweilen aber sind diese Angaben pedantischer noch spezifiziert als im hier erwogenen Falle, so etwa bei den „Nachtmusikanten“ (I, 29, S. 30): „Narren-Nest von Abraham a St. Clara. Wien 1751. III. T. S. 89.“ oder in der Heinrich Heine zu seiner ironischen Transformation anregenden Angabe zur Ballade „Der Tannhäuser.“ (I, 86, S. 79): „Venus-Berg von Kornmann, dann in Prätorii Bloksberg-Verrichtung. Leipzig, 1668. S. 19–25.“ Wir wissen, dass diese Angaben der Suggestion einer überlieferungsgetreuen Echtheit und zugleich des zumeist ehrwürdigen Alters der zusammengetragenen Texte dienen sollten: in Wirklichkeit waren die Lieder ja von Brentano – und bisweilen willkürlicher noch von Arnim – durchgreifend bearbeitet und mit schroffen Kürzungen zurechtgestutzt, so dass sie zugleich dem intendierten Bild einer überreichen, nur bisweilen noch in entlegenen Drucken aufzustöbernden und so vor dem Vergessen zu bewahrenden präund paraliterarischen Dichtungstradition des deutschen Volkes entsprachen, grob-kernig und alogisch-sprunghaft, oft schwer nachvollziehbar zersungen. Damit erst kamen sie dem in der „Nachschrift an den Leser“ alludierten Konzept kollektiv entstandener oder doch wenigstens vom Volksgeist variantenreich adaptierter „Volkslieder“ entgegen – insofern der so spielerisch assimilationsbegabte Brentano seine „Volkslieder“ nicht überhaupt gleich selbst gedichtet hatte und unter Formeln verborgen wie „Mündlich.“ oder 2 Heinz Rölleke: Kommentar. In: Des Knaben Wunderhorn (wie Anm. 1), Bd. 3 (1987), S. 510.
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„Aus mündlicher Ueberlieferung in Maria’s Godwi. Bremen 1802. II. B. S. 113. abgedruckt.“ (I, 19, S. 21).3 Des Knaben Wunderhorn wurde ja, zusammen mit Ludwig Tiecks etwa gleichzeitig angelegter (schon 1803 erscheinender) Sammlung des hochmittelalterlichen Minnesangs, Minnelieder aus dem schwäbischen Zeitalter, das früheste Beispiel jener durchweg zugleich Sammlungs- und stilisierenden Redaktionstätigkeit, mit dem ein kleiner romantischer Studenten-Freundesund bald durch interne Eheliaisonen mehr und mehr auch Verwandtenkreis der sogen. „Heidelberger“ oder auch „mittleren“ Romantik halb gelehrt und halb fiktional die ganze ungemein wirkmächtige Serie an vermeintlich altdeutsch-ursprungkräftiger Volksdichtungen versammelte und auf den Markt warf, mit denen angesichts der Erschütterungen der Napoleonischen und der Befreiungskriege deutscher Traditionsreichtum und deutsche Volkskraft, Gefühlstiefe, Treuherzigkeit und Biedersinn ausgestellt werden sollten: seit 1807 erschienen, vom Freund der Wunderhorn-Sammler Joseph Görres, Die deutschen Volksbücher, seit 1812, von Brentano mit angeregt, die Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm, dann die ganze Serie der Sammlungen Jacob Grimms: seit 1816 Deutsche Sagen, schließlich noch 1828 Deutsche Rechtsaltertümer und 1838 Deutsche Mythologie. Wie wirksam und im geschickten Auffangen und Nachahmen begabter Dichter und dann auch KunstliedKomponisten produktiv dieses Amalgam aus Sammlungs- und Schöpfergeist war, zeigen etwa die Belobigungen des begabtesten unter den Nachgestaltern, Heinrich Heines, der in seinem Essay Die romantische Schule gerade das im Wunderhorn tiefgreifend umgestaltete „rührende Lied ,Zu Straßburg auf der Schanz‘“ zum Muster des ganz ursprünglichen, durch keinen sentimentalischen Dichtergeist imitierbaren Volkslieds erhebt: „Welch ein schönes Gedicht! Es liegt in diesen Volksliedern ein sonderbarer Zauber […], die unzersetzbare sympathetische Naturkraft. In diesen Liedern fühlt man den Herzschlag des deutschen Volks“. Die konkreten Beispiele aber, die Heine für diese naturhafte Ursprungsnähe aufführt, entstammen, wie Rölleke Zug für Zug nachgewiesen hat, zur Gänze Brentanos eigener Feder und eben nicht der langatmig-hölzernen Quelle, die er erst zum „Volkslied“ umgeschaffen hat.4 3 Eine exzellente Kennzeichnung des im „Wunderhorn“ zusammengetragenen „mixtum compositum“ höchst unterschiedlicher Textbestände, die durch den Verzicht auf klare Auswahlkriterien in extenso gelesen „enttäuschend langweilig“ werden könnten, gibt Heinz Rölleke: „Des Knaben Wunderhorn“ – eine romantische Liedersammlung: Produktion – Distribution – Rezeption. In: Das „Wunderhorn“ und die Heidelberger Romantik: Mündlichkeit, Schriftlichkeit, Performanz. Kolloquium der Internationalen Arnim-Gesellschaft. Hg. von Walter Pape, Tübingen 2005 (Schriften der Internationalen Arnim-Gesellschaft, Bd. 5), S. 3–19, hier S. 3, 5 f., 10: „Wirklich direkt aus lebendiger Volksüberlieferung sind von Brentano neben einigen Kinderliedern nur verschwindend wenige Texte gewonnen, jedoch so gut wie nichts von Arnim.“ (S. 8). 4 Heinrich Heine: Die Romantische Schule, Drittes Buch. In: Ders.: Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke (DA), Bd. 8/1, bearb. von Manfred Windfuhr, Hamburg 1979, S. 202. Dazu Heinz Rölleke: Nachwort in seiner neuen, um die Nachweise und Kommentare der Anmerkungen verkürzten einbändigen Insel-Ausgabe: Des Knaben Wunderhorn. Alte deutsche Lieder. Ge-
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Erstaunlicher wie gesagt als der Belegnachweis selbst muss im Wunderhorn die Quelle für das Volksliedmuster in der pietistischen Sammelbiographie erscheinen, dieses am Ende auf sieben Bände angewachsenen alten Trösters, der nicht allein bald nach seiner sechsten und letzten Auflage von 1740 bis 1745 vom Buchmarkt verschwunden war, sondern auch vorher nie über seine reiche Wirkung in pietistischen Zirkeln hinaus in die Sphären schöngeistiger Aufmerksamkeit gelangt war – schon infolge der schroff antifiktionalen Tendenz der Pietisten und ihrer Verdammung einer nicht zu Gottesdienst und Seeleneinkehr dienenden Ästhetik. Freilich hatten Arnim und Brentano außer Kalendern, Flug- und Jahrmarktsschriften, Chronik-, Lieder-, Schwank- und Kuriositätenbüchern auch einiges Geistliche und Gesangbücher mit durchgesehen, eher selten aber aus der ihnen recht fernliegenden protestantischen Tradition (und wenn, dann aus dem Reformationsjahrhundert und dem Dreißigjährigen Krieg), nie jedoch aus pietistischer, noch dazu biographischautobiographischer Erbauungsliteratur. Allerdings ist für ein grundsätzlich weiterhin wirkkräftiges Interesse noch der Romantiker zu bedenken, dass die Reitzsche Historie Der Wiedergebohrnen in den zur Erweckungsbewegung hin tendierenden protestantischen Literatenkreisen bald darauf als Bezugs-, Exempel- und Quellenwerk wiederentdeckt, argumentativ – etwa zur Stützung naturwissenschaftlich-psychologischer oder magnetischer Spekulationen – genützt und in neuen erbaulichen Viten-Sammlungen passagenweise ausgezogen und nachgedruckt wurde. Das geschah namentlich in Gotthilf Heinrich Schuberts berühmter Symbolik des Traumes (erstmals 1814) und in seiner späten Sammelbiographie Altes und Neues aus dem Gebiet der innren Seelenkunde (seit 1817) oder im Umkreis Jean Pauls in Johann Arnold Kannes Sammlung wahrer und erwecklicher Geschichten aus dem Reich Christi und für dasselbe (zuerst 1815) mit ihren Filiationen Leben und aus dem Leben merkwürdiger und erweckter Christen aus der protestantischen Kirche (zuerst 1816) und schließlich Fortsetzung der zwei Sammlungen (1824), auch schon 1810 in einem wohl ebenfalls auf Kanne zurückgehenden anonym publizierten Traktat Lebensgeschichte des Hemme Hayen, eines niederländischen Bauern und wahrhaften Clairvoyanten.5 sammelt von Achim von Arnim und Clemens Brentano. Hg. von Heinz Rölleke, Frankfurt – Leipzig 2003, S. 1193–1211, hier S. 1203–1206, vgl. seine Charakterisierung der Sammel- und Bearbeitungstendenzen des Gesamtwerks im Katalog: Clemens Brentano 1778–1842. Ausstellung Freies Deutsches Hochstift – Frankfurter Goethe-Museum, Frankfurt 1978, S. 146–150. Im Aufsatz „Des Knaben Wunderhorn“ (wie Anm. 3) kennzeichnet Rölleke das „Straßburg auf der Schanz“-Lied als die „berühmteste Fälschung“ in der so viel an Brentano-Eigentexten einmischenden Sammlung (S. 11, vgl. die Detailuntersuchung S. 9–13). – Gut und knapp charakterisiert die Brentanosche „Restaurierungs“-Tätigkeit an den zumeist aus gedruckten Quellen kompilierten Gedichten sowie allgemeiner den biographischen Kontext der Wunderhorn-Sammeltätigkeit auch Hartwig Schultz: Clemens Brentano, Stuttgart 1999 (Reclams Universal-Bibliothek, Bd. 17614), S. 16 f., 42–44. 5 Genaue Nachweise und deren knappe Interpretation in meiner (die „Wunderhorn“-Reminis-
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Was es nun mit der Aufnahme von „Werd ein Kind.“ ins Wunderhorn auf sich hat, kann man dank der seit 1982 allenthalben ja bequem zugänglichen Neuedition der Historie Der Wiedergebohrnen (übrigens auch diese ein historisches Langzeitprodukt, insofern der Reprint aller Teile in ihren Erstausgaben nach mehr als einer Generation noch nicht ausverkauft und weiterhin lieferbar ist)6 mühelos nachschlagen. Da kann man sehen, dass das fragliche Lied dem erst zur vierten Auflage der seit ihrem Erstdruck ständig vermehrten Sammlung hinzugefügten V. Teil entstammt, der erstmals 1717 in Idstein im Taunus im Verlag des Johann Jacob Haug erschienen war. Es war dies der letzte Band, den noch der Gründer der Sammlung Johann Henrich Reitz zusammengestellt hatte, nachdem er 42jährig durch seine Entlassung aus dem reformierten Pfarrdienst (weil er für religiöse Ekstatiker Partei ergriffen hatte) vollends in außerkirchlich-philadelphische Bahnen gedrängt worden war (die Teile VI und VII sind dann von theologisch noch umstritteneren Radikalen, dem zeitweiligen Inspirierten Johann Samuel Carl und dem Berleburger Dippel-Gefolgsmann und Editor Johann Conrad Kanz kompiliert worden).7 Dieser fünfte Band ist dann bei den Folgeauflagen des Gesamtwerks in den Jahren 1726 und 1742 wieder nachgedruckt worden. Arnim und Brentano beziehen sich also auf die Ausgabe der in der philadelphischen Verlagsbuchhandlung Haugs in Berleburg erschienenen 6. und letzten Auflage der Historie, die dort zeitgleich mit dem achten und letzten Band des berühmten Berleburger Bibelwerks und mit der großen Serie an quietistisch-mystischer Erbauungsliteratur erschienen war, dem grundlegenden Lektüreschatz etwa für Karl Philipp Moritz, aber auch noch für Jean Paul.8 Wie die beiden Romantiker an den in dieser späten Ausgabe ziemlich raren Band oder eine Abschrift des Liedes mit der Quellenangabe gekommen sind, ist kaum auszumachen, auch nicht, wer von beiden das Lied beigesteuert hat. Dass Brentano selbst das Buch in seiner mit Trüffelsuchbegier nach dem Entlegenen und Kuriosen zusammengetragenen Bibliothek besaß, die den Grundfundus für den ersten Wunderhorn-Band hergegeben hat, ist denkbar, aber wenig wahrscheinlich: eher könnte das Exemplar in der Königlichen Bibliothek in Arnims Heimatstadt Berlin zugrunde gelegen haben, in der er sich 1804 und 1805/06 wiederholt aufgehalten und systematische Quellenrecherchen für das Wunderhorn angestellt hat.9
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zenz noch nicht erfassenden) Rekonstruktion der Wirkungsgeschichte der „Historie Der Wiedergebohrnen“ in Schrader: Literaturproduktion (1989, L 1), S. 305, 510, 534 f. Reitz: Historie Der Wiedergebohrnen. Neudruck (1982, L 2). Schrader: Literaturproduktion (1989, L 1), S. 89–107, 401–418, auch Reitz: Historie Der Wiedergebohrnen. Neudruck (1982, L 2), Bd. 4, S. 157*–l63*, 185*–192*. Vgl. dazu Schrader : Literaturproduktion (1989, L 1), S. 93 f., 98 f., 107, 183, 197 f., 207–210, 214–219; zum Kontext an parallel in derselben Berleburger Offizin gedruckter und auch über Haugs Buchhandlung vertriebener quietistischer Literatur zudem Schrader: Madame Guyon, Pietismus (2002, L 27), im vorliegenden Band S. 422–426, 444–448, 453 f. Vgl. zu seinen Aufenthalten seit 1804 in Berlin, wo er überdies einen potentiell hilfreich zuar-
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Das Gedicht war in diesem Band angehängt (S. 18) an die „Zweyte Historie / Von Johanne Jessenio, berühmtem Doctore Medicinæ, und Von Georg Balthasar / einem einfältigen Baursmann in Böhmen.“ Während die JesseniusGeschichte (vermittelt durch Theodor Kampfs Der wunderbare Todes-Bote) noch in Wilhelm Raabes Roman Das Odfeld späten literarischen Niederschlag gefunden hat,10 ist von der Geschichte des wegen seiner Visionen und Verkündigungen hingerichteten böhmischen Bauern dieses beschließende Gedicht durch die Wunderhorn-Wiedergabe zu weltliterarischen Ehren gelangt. Solche Gedichte, die die zentralen Botschaften und Glaubensanleitungen der vorangehenden Lebensgeschichte noch einmal in konzentrierter und gebundener Form zur Meditation brachten, hatte Reitz seit dem IV. Teil seiner Sammlung (vorher nur seltener) den Einzelhistorien regelmäßig nachgestellt, sicher auch im Sinne einer vereindringlichenden Besinnungspause vor der Lektüre des nächsten Exempels. Die Wunderhorn-Sammler hätten also, wären ihnen Adhortationen zu christlicher Frömmigkeit als solche aufhebenswert erschienen, auch hier eine ganze Fülle an außerkanonischer und paraliterarischer Lyrik aus dem Buch gewinnen können. Aber nur dies eine Stück haben sie sich angeeignet. Wie für die meisten der Gedichte, sofern sie nicht direkt der für das Lebensexempel verwendeten bzw. nachgedruckten Quelle entstammten (etwa aus einem Leichenpredigten-Druck), hat Reitz auch in diesem Fall keine Herkunftsangabe und auch keinen Verfassernamen benannt – seine vermutlich in irgendeinem Traktat bereits gedruckte Quelle habe auch ich nicht gefunden. Das somit nur anonym überlieferte Gedicht blieb in der Historie noch titellos. Zur Zusammenfassung seiner Paränese, die die zugleich antiakadebeitenden Bekanntenkreis hatte, den Katalog von Jürgen Behrens [u. a.]: Clemens Brentano. Ausstellung Freies Deutsches Hochstift – Frankfurter Goethemuseum, Bad Homburg – Berlin – Zürich 1970, S. 40 f., vgl. S. 49–52; speziell zur Sammeltätigkeit für das „Wunderhorn“ im Dezember 1805 / Januar 1806 (als allerdings der 1. Band bereits erschienen war) Hinweise im von Renate Moering und Hartwig Schultz bearbeiteten Katalog: Achim von Arnim 1781–1831. Ausstellung Freies Deutsches Hochstift – Frankfurter Goethe-Museum, Frankfurt 1981, S. 37 f., 43–45. Dazu Nachweis der erhaltenen Exemplare (u. a. in der Staatsbibliothek Berlin) Schrader: Literaturproduktion (1989, L 1), S. 406, 527. Denkbar wäre, dass Arnim auf Reitz, der ja von 1711 bis zu seinem Tod 1720 im niederrheinischen Wesel gewohnt und gewirkt hatte, zunächst bei historischen Vorstudien für sein Drama „Die Vertreibung der Spanier aus Wesel im Jahre 1629“ gestoßen ist, in das er jedenfalls ein nach Oktober 1804 in Berlin geschriebenes Gedicht integriert hat: Katalog: Achim von Arnim, S. 37. 10 Intertextuelles Spiel mit der in eine Sammlung abergläubischer Prodigien gefallenen Erbschaft der pietistischen Sammelbiographie (Theodor Kampf: Der wunderbare Todesbote, oder Schrift= und vernunftmäßige Untersuchung, was von Leichenerscheinungen […] und andern Anzeigungen des Todes zu halten, Lemgo 1728) in Wilhelm Raabes Erzählung „Das Odfeld“ (1886/87): Werke in Einzelausgaben. Hg. von Hans-Jürgen Schrader, Bd. 6, Frankfurt 1985 (Insel-tb, Bd. 886), S. 63: „Johann Jessenius, ein Böhme“, vgl. S. 46 f. Nachweis aller Bezüge bei Fritz Jensch: Wilhelm Raabes Zitatenschatz, Wolfenbüttel 1925, S. 44, bester Aufschluss bei Helmuth Mojem: Der zitierte Held. Studien zur Intertextualität in Wilhelm Raabes Roman „Das Odfeld“, Tübingen 1994 (Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte, Bd. 72), S. 43–48.
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mischen wie antiliterarischen Botschaften der vorangehenden Bauerngeschichte wieder aufnahm (auch einer lyrischen „Kinder=Lection“, die er im IV. Teil zum Abschluss der Biographie des Jodocus van Lodenstijn aus dessen Uitspanningen übersetzt hatte),11 hatte Reitz dem Gedicht allerdings eine Gebrauchsanleitung vorangesetzt: „Zum Beschluß und Wiederholung / daß die von Menschen und aus Büchern gefassete Gottgelehrtheit / die nur eine Welt=Weißheit und Philosophie ist / auffblähe und an der wahren Gottgelehrtheit hindere / so setzen wir hieher : 1. Klein und arm an Hertz und Munde Mußst du seyn / wann Christus soll Gehen auff in deinem Grunde: Denn die Rose und Viol Wächst im Thal der nidern Seelen / Die nichts Hohes hier erwählen! 2. Mögtst du nur so seyn demüthig Wie die nidre Sarons=Blum / Und demnach stehn ehrerbietig Und vor GOtt gebücket=krumm: So soltst du gar bald die Gaben Seines Geistes in dir haben. 3. Wann dich aber hoch beflecket Deiner Weißheit stoltze Witz; Sich alsdenn vor dir verstecket Wahrer Wahrheit klarer Blitz: Wann der Buchstab dich gefangen / Kanst du nicht zum Geist gelangen. 4. Werd ein Kind / werd arm und kleine / Sey nicht hoch noch weiß bey dir ; Setze dich in Staub / und weyne / Biß dich GOtt zur Schule führ / Da sein Geist die Arm= und Blöden Weißlich lehret von ihm reden.12
Eine pietistisch-quietistische Demutslehre also wird da geboten: neben allem Eigenwirken wird alle stolze Gelehrsamkeit denunziert. Um zur zündenden 11 Reitz: Historie Der Wiedergebohrnen. Neudruck (1982, L 2), Bd. 2, Teil IV, S. 41. 12 Ebd., Teil V, S. 18.
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und allein wesentlichen Einsicht und Weisheit zu gelangen („Wahrer Wahrheit klarer Blitz“), so wird hier gesagt, muss man sich der eigenen Verstandeserkenntnis ganz entschlagen und wieder zu jener tabula rasa werden, in die Gott als einzig rechter Lehrmeister seine Inschrift setzen kann, wann immer er einen solchen Grund-Schulunterricht für richtig hält. Gesagt wird das nicht nur in rhythmisch-adhortativen vierhebigen Trochäusversen, die nach einer kreuzgereimten Reflexion in jeder Strophe die einzuprägende Pointe paarreimig vereindringlicht, sondern vor allem in den vom Lesenden mitzuerschließenden biblischen Bildern: Das Ausgangsbild der zwei ersten Strophen aus dem Hohelied (Hhld 2,1 und 2,2: „Ich bin eine Blume in Saron und eine Lilie im Tal. Wie eine Lilie unter den Dornen, so ist meine Freundin unter den Mädchen.“) macht mit einem brautmystisch-erotischen Bezug das dem Eigenwillen entsagende Demutsverhältnis zu Jesus verlockend, gleich ihm arm und klein zu sein an „Herz und Munde“ (Doppelformel nach Sir 39,41). Die „Gaben des Geistes“ (Apg 2,38, oder „Gaben der Weisheit“ nach SapSal 7,15), so lehrt das Lied weiter, werden nicht aus selbsteigenem Studieren gewonnen, nicht aus dem tötenden Buchstaben, sondern nur aus dem lebendigmachenden Geist (2Kor 3,6) der unmittelbaren göttlichen Zusprache. Die aber muss in kindlicher Demutsgesinnung lauschend im Staub zu Jesu Füßen erwartet werden – ein deutlicher Reflex jenes „unum necessarium“, mit dem Lk 10,42 Maria, die Schwester der geschäftigen Martha, „das gute Teil erwählt“ hat.13 Denn zu den Armen im Geiste muss man sich in Jesu Schule gesellen, so schärft die Schlussstrophe mit der Bergpredigt Mt 5,3 als Quintessenz ein, wenn man recht von ihm reden und durch ihn das Himmelreich erlangen will.14 13 Für das Argument der gegenüber der bewundertsten Welt-Gelehrsamkeit höherwertigen Selbstbescheidung in demütiger Herzenseinfalt war diese Mustererzählung der „melioris partis electio“ in der Annahme des „Marien-Teils“ seit der Beispielerzählung der ihrem Gelehrsamkeitsruhm entsagenden Labadistin Anna Maria van Schurman topisch geworden, die allem Ruhm der für Frauen unerhörten Bildung, namentlich in den alten Sprachen, zugunsten einer weltabgewandten praxis pietatis entsagt hatte: A. M. / Schurman: EYKKHPIA seu Melioris Partis Electio. Tractatus Brevem Vitae ejus Delineationem exhibens, 2 Teile, Altona 1673 / 1685. Vgl. die erst goethezeitlich-späte deutsche Ausgabe aus philanthropischen Kontexten: Der Anna Maria von Schurman EYKKHPIA oder Erwählung des besten Theils. – Eine Schrift, die zugleich einen kurzen Abriß ihres Lebens enthält. – Luc. X, 41. 42. Eins ist Noth. Maria hat das beste Theil erwählt. – Aus dem Lateinischen übersetzt, Dessau und Leipzig 1783. – In der „Historie Der Wiedergebohrnen“ (Neudruck [1982, L 2], Bd. 3, Teil VI, Berleburg 1730 [hg. von Johann Samuel Carl], S. 67–77) beschließt sich die „Sechste Historie von Anna Maria von Schurmann / einer welt=berühmten / gelehrten und gott=seligen Dame“, die „sich als eine andere Maria aufführen und das beste Theil erwählen wollen“ (S. 74), mit einem Lied, in dem es (S. 76) heißt: Ich dichte nicht von eitler Waar, Wie der gelehrten Heyden Schaar : Mein Musen=Lied ist Engel=Thon; Mein Lorbeer=Kranz die Dornen=Kron / Und Golgatha mein Helicon. 14 Einige dieser Bibelallusionen hat Heinz Rölleke bereits im Kommentar zur FBA vermerkt:
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Für das Wunderhorn nun ist dieses Gedicht von den Romantiker-Herzensfreunden integraliter und mit vergleichsweise nur recht geringen redaktionellen Änderungen übernommen worden. Indem allerdings der Auftakt zur letzten Strophe, „Werd ein Kind“ nun dem Gesamtlied als Überschrift vorangesetzt wird, wird die Beleuchtung verschoben, vom im Historie-Gedicht dominanten Auftrag, sich der Gelehrsamkeit zu entschlagen und sich in der Schule Gottes für das jenseitige Himmelreich zuzurüsten, hin zu einem in diesem Leben voluntaristischen Wiedergewinnen des Kindersinns vor aller ratio. Bei Arnim / Brentano lautet das Gedicht nun so: Werd ein Kind. Historie der Wiedergebornen. 1742. S. 18. Klein und arm an Hertz und Munde Mußt du seyn, wenn Christus soll Gehen auf in deinem Grunde: Denn die Rose und Viol Wächst im Thal der niedern Seelen / Die nichts hohes hier erwählen! Mögst du nur so seyn demüthig, Wie die niedre Sarons Blum, Dennoch stehen ehrerbietig Und vor GOtt gebücket krumm: Also mögst du bald die Gaben Seines Geistes in dir haben. Wenn dich aber hoch beflecket Deiner Weisheit stolzer Witz, Sich alsdann vor dir verstecket Wahrer Wahrheit klarer Blitz: Wenn der Buchstab dich gefangen, Kanst du nicht zum Geist gelangen. Werd ein Kind, werd arm und kleine, Sey nicht hoch noch weis’ bei dir, Setze dich in Staub und weyne, Bis dich GOtt zur Schule führt, Da sein Geist die Arm’ und Blöden Weislich lehret von ihm reden. Brentano: Werke, Bd. 9/1 (wie Anm. 1), I, S. 292. Dort auch die Auflistung der nachfolgend interpretierten „Lesarten“ (meint hier : Divergenzen zwischen der „Historie“-Quelle und der „Wunderhorn“-Bearbeitung).
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Die meisten Eingriffe nehmen bloß lautlich, orthographisch, interpunktionell und in Tilgung der gesangbuchartigen Einzüge allzu fremdartig Gewordenes zurück, ohne doch das archaische Klangbild aufzuheben. Wenn dabei im Auftrag des Demütigwerdens aus dem „Mögtst du nur“ ein „Mögst du nur“, also aus dem dringlicheren Verlangen „möchtest du doch!“ im Sinne des lateinischen „utinam“ eine bloße Wahlentscheidung „wenn du nur willst“ wird, scheint das in der Aussage beabsichtigt, denn anstelle des imperativen „So soltst du gar bald“ des Annehmens von Gottes Geistesgaben wird ja dieselbe Formel der Konsequenz des Wählens, „Also mögst du bald“, eingesetzt. Gegen die Logik volksliedhaft aufgerauht, gleichsam künstlich zersungen, wird der Text durch das adversative „Dennoch“ der zweiten Strophe, mit dem das Gebückt-vor-Gott-Stehen sinnwidrig zum Demütigsein in Widerspruch gerät, oder in der letzten Strophe durch das Einführen eines doppelt unreinen Reims („dir“ auf „führt“), indem der ja durchaus verständlich bleibende Konjunktiv „führ“ der Historie-Version (im Sinne von „führen mag“) in den ,populäreren‘ Indikativ umgesetzt wird. Wirklich tiefgreifend form- oder sinnverändernd aber ist dies alles nicht. Die Reverenz der Quellenangabe bleibt vollkommen berechtigt. Bekanntlich haben Arnim und Brentano Des Knaben Wunderhorn im Eingangsbogen zum Ersten Teil „Sr. Excellenz des Herrn Geheimerath von Göthe.“ dediziert,15 und Arnim selbst ist mit einem druckfrischen Exemplar sogleich nach Weimar gereist, um es dem Angewidmeten persönlich in die Hand zu geben.16 Das war zwar auch, aber sicher nicht nur, wie die den ehrgeizigen jungen Dichtern Übelwollenden argwöhnten, ein Wurf mit der Wurst nach der Speckseite, um ihr Vorhaben gleichsam dem Patronat des gefeiertsten Poeten der Epoche zu unterstellen. Schließlich hatten sich die beiden Herzensfreunde ja während ihres Studiums in Göttingen 1801 auf einer studentischen Ehrenfeier kennengelernt, die dem hier zu wissenschaftlichen Studien an Akademie und Bibliothek weilenden Dichterfürsten dargebracht wurde. Und Brentano, der sicher gehört hatte von Goethes einstigem Umwerben seiner Mutter Maximiliane von La Roche, fühlte sich noch mehr zu ihm hingezogen durch den aufmunternden Begleitbrief, mit dem er das für ein Weimarer Preisausschreiben geschriebene Lustspiel Ponce de Leon zurückgesandt hatte, nachdem man eine Siegerentscheidung wegen der Unspielbarkeit aller eingesandten Stücke ausgesetzt hatte. Vor allem aber wussten Arnim und er natürlich ebenso wie die Öffentlichkeit, der der so gewidmete Band nun übergeben wurde, dass Goethe selbst in seiner Straßburger Studienzeit Volkslieder sammelnd und musterstiftend hinzudichtend den regsten Anteil gehabt hatte an der für die eigene Sammlung vorbildlichen Sturm-undDrang-Emphase zur Bewahrung und sichernden Überlieferung der „Volks-
15 Des Knaben Wunderhorn (wie Anm. 1), S. 9. 16 Katalog: Achim von Arnim (wie Anm. 9), S. 44.
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poesie“.17 Gemeinsam mit Goethe hatten ihnen da ja Herder, Bürger und Elwert auch schon die fertige Theorie für ihr eigenes Unternehmen vorentworfen (zugleich den konservatorischen Aspekt eines Bewahrens dieses urkräftigen, nicht intellektuell und regelhaft ersonnenen Schatzes deutscher Volksüberlieferung vor dem Verklingen, zum andern auch jenen, der sich zur Erfrischung und Erneuerung der Kunstproduktion an den Mustern solcher „Naturpoesie“ an Gegenwart und Zukunft richtete). Über die Besuchstage in Weimar anlässlich der Überreichung des Wunderhorn-Widmungsexemplars und die unerwartet enthusiastische Aufnahme durch den Minister und machtvollsten Dichter hat Arnim seinem Mitherausgeber in Heidelberg am 16. Dezember 1805 in heller Wonne berichtet: Göthe, der viel, sehr viel Güte für mich hat […] grüßt Dich, dankt für unsre Sammlung, findet sie sehr angenehm, hat sie gegen viele in Weimar gelobt und wird vielleicht selbst einige Worte in der Jenaischen Literaturzeitung sagen. Er hat mich auf alle Tage eingeladen zum Mittagessen, fast über jedes Lied gesprochen […].18
Jetzt, wenige Monate nach Schillers Tod, begann für Goethe gerade der Prozess einer schrittweisen Loslösung von den „verteufelt humanen“ Abstraktionen des klassischen Bemühens, die Wirrnis der Zeit bannend auf Abstand zu halten. Zum einen knüpfte er da wieder an die („altdeutschen“ und „natur“analogischen) Interessen der eigenen Jugendjahre an, zum andern öffnete er sich gegenüber den romantischen Kunstorientierungen der jetzigen Jugend. Von beiden Seiten her mussten ihm die neuen Bemühungen um die Volkspoesie umso anregender erscheinen, als sie nun so prononciert als Verwirklichung seiner eigenen frühen Wünsche präsentiert wurden. So hat denn Goethe bekanntlich sein halbes Versprechen Arnim gegenüber wahr gemacht, in seinem Hausorgan, der Jenaer Literaturzeitung, die Liedersammlung freundlich zu besprechen. Diese Rezension dürfte, in ihren knappen und höchst subjektiven, stempelartig aufgeprägten Eindruck-Umrissen einzelner Lieder, die Mittagessen-Konversation mit dem jungen Sammler spiegeln. Uns aber führt sie zu unserem pietistischen Gedicht zurück. Eröffnet wird Goethes Anzeige des Bandes – die seiner in den ersten hundert Jahren nur zähen Verkäuflichkeit übrigens keineswegs aufgeholfen hat19 – durch eine lobende Gesamtwürdigung, in der die eigenen frühen Ideen 17 Zu dieser Tradition und zu den auch dichtungsprogrammatischen Intentionen Goethes in seiner „Wunderhorn“-Rezension vgl. Walter Pape: „keineswegs unmittelbar und augenblicklich aus dem Boden entsprungen“. Goethes „Wunderhorn“-Rezension und sein Konzept des Naturpoeten und der Improvisation. In: Das „Wunderhorn“ (wie Anm. 3), S. 225–237. Pape zitiert hier (S. 232) auch Goethes wohlgefällige Notiz in den „Tag- und Jahresheften“ vom 2. 6. 1806 über den Abschluss seiner Arbeit (FA 1,17, S. 189): „Das ,Wunderhorn‘, altertümlich und phantastisch, ward seinem Verdienste gemäß geschätzt und eine Rezension derselbsten mit freundlicher Behaglichkeit ausgefertigt.“ 18 Katalog: Achim von Arnim (wie Anm. 9), S. 44. 19 Nach Rölleke: „Des Knaben Wunderhorn“ (wie Anm. 3), ist das bis 1900 in der Erstauflage trotz
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über die kulturstiftende Kraft solcher aufgelesenen oder mit gehöriger Sensibilität für das ihr Eigentümliche selbsterzeugten Gebrauchspoesie wieder aufgenommen sind. Der Klassiker entwirft da ein geradezu romantisches Programm: Von Rechtswegen sollte dieses Büchlein in jedem Hause, wo frische Menschen wohnen, am Fenster, unterm Spiegel, oder wo sonst Gesang- und Kochbücher zu liegen pflegen, zu finden sein, um aufgeschlagen zu werden in jedem Augenblick der Stimmung oder Unstimmung, wo man denn immer etwas Gleichtönendes oder Anregendes fände, wenn man auch allenfalls das Blatt ein paarmal umschlagen müßte. […] Würden dann diese Lieder […] von Mund zu Mund getragen, kehrten sie, allmählich, belebt und verherrlicht, zum Volke zurück, von dem sie zum Teil gewissermaßen ausgegangen: so könnte man sagen, das Büchlein habe seine Bestimmung erfüllt, und könne nun wieder, als geschrieben und gedruckt, verloren gehen, weil es in Leben und Bildung der Nation übergegangen ist.20
Abgesehen aber vom Programm einer gleichsam der Produktion einer dichtenden Volksseele analogen Nutzung und Wirkung solcher Literatur in allen Schichten und Bildungsstufen der Bevölkerung finden wir hier einen Nachklang der pietistischen Jugendprägung des Rezensenten. Wie die Gesangbücher, aber auch wie die Bibel und die Alten Tröster will er solche Liedersammlungen von einer aufgeschlossenen Leserschaft aufs Geratewohl aufgeschlagen sehen. Ihr Gemüt werde so aus Zerstreuung in Sammlung geführt: „Gleichtönendes und Anregendes“ zu ihrer aktuellen Seelenlage könne damit wohltuend und wegweisend werden für den gegenwärtigen Augenblick. Ganz in diesem Sinne hat Goethe ja auch den West-östlichen Divan, mit dem er ein knappes Jahrzehnt später nach dem klassisch-antikischen Anregungspotential auch das mittelalterlich-romantische verlässt, um zum orientalischen weiterzuschreiten, als ein „Manuscript für Freunde“21 den Geneigten zu einer däumelnden oder bibelstechenden Nutzung übergeben: Solcher Art ist die überall herkömmliche Orakelfrage an irgendein bedeutendes Buch, zwischen dessen Blätter man eine Nadel versenkt, und die dadurch bezeichnete Stelle beym Aufschlagen gläubig beachtet. Wir waren früher mit Personen genau verbunden, welche sich auf diese Weise bey der Bibel, dem Schatzkästlein und ähnlichen Erbauungswerken zutraulich Raths erholten und mehrmals in den größten wiederholter Verbilligungsaktionen immer noch nicht ausverkaufte Buch ein „verlegerischer Mißerfolg ersten Ranges“ gewesen (S. 8, vgl. S. 4). 20 Goethes „Wunderhorn“-Rezension in der ,Jenaer Allgemeinen Literatur-Zeitung‘ 18 (12. 1. 1806) und 19 (22. 1. 1806), zitiert nach der FA, Johann Wolfgang Goethe: Ästhetische Schriften 1806–1815. Hg. von Friedmar Apel, Frankfurt 1998 (Sämtliche Werke, Abt. 1, Bd. 19; Bibliothek deutscher Klassiker, Bd. 152), S. 253–267, Komm. S. 810–814, hier 253 f. 21 Goethe: Besserem Verständnis („Noten und Abhandlungen“), Abschnitt „Künftiger Divan“. In: West-östlicher Divan, Teil I. Hg. von Hendrik Birus, Frankfurt 1994 (Sämtliche Werke Abt. 1, Bd. 3/1; Bibliothek deutscher Klassiker, Bd. 113), S. 214.
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Nöthen Trost, ja Bestärkung fürs ganze Leben gewannen. Im Orient finden wir diese Sitte gleichfalls in Uebung […]. Der westliche Dichter spielt ebenfalls auf diese Gewohnheit an und wünscht daß seinem Büchlein gleiche Ehre wiederfahren möge.22
Oder, um dasselbe mit den Versen des „westlichen Dichter[s]“ im zu däumelnder Aneignung übergebenen Divan-Büchlein selbst zu sagen: Talismane werd’ ich in dem Buch zerstreuen, Das bewirkt ein Gleichgewicht. Wer mit gläubiger Nadel sticht Ueberall soll gutes Wort ihn freuen.23
Für einen solchen zugleich vertrauten und heiligenden Gebrauch – in Rücksicht auf die „höhere innere Form“ der einzelnen Gedichte – ist dem Wunderhorn-Rezensenten dagegen der sehr wohl wahrgenommene markant überformende, in Struktur und Klang einheitstiftende Revisionsprozess gegenüber den disparaten Quellen, ja selbst das Unterschieben von Selbstgedichtetem in vergleichbaren Tönen nicht tadelnswert, sondern (schließlich war er früher selbst so verfahren) eine geradezu gattungsgebotene Notwendigkeit. So resümiert er nach dem kursorischen Durchgang durch die Einzeltexte: Diese Art Gedichte, die wir seit Jahren Volkslieder zu nennen pflegen, ob sie gleich eigentlich weder vom Volk, noch fürs Volk gedichtet sind, […] sind so wahre Poesie, als sie irgend nur sein kann […]. Hier ist die Kunst mit der Natur im Konflikt […]: so finden wir […] Ursache, eine sondernde Untersuchung, in wiefern das alles, was uns hier gebracht ist, völlig echt, oder mehr oder weniger restauriert sei, […] abzulehnen […], und das hie und da seltsam Restaurierte, aus fremdartigen Teilen verbundene, ja das Untergeschobene, ist mit Dank anzunehmen. Wer weiß nicht, was ein Lied auszustehen hat, wenn es durch den Mund des Volkes, und nicht etwa nur des ungebildeten, eine Weile durchgeht! Warum soll der, der es in letzter Instanz aufzeichnet, nicht auch ein gewisses Recht daran haben?24
In der Auswahl der Einzelgedichte, denen er im Zentrum der Rezension eine stichwortartig-bündige „Charakterisierung aus dem Stegreife“ gibt, ohne sympathetischeren Zugängen vorgreifen zu wollen, „die durch wahrhaft lyrischen Genuß und echte Teilnahme einer sich ausdehnenden Brust viel mehr von diesen Gedichten fassen werden“,25 treten kritische, ja ablehnende Geschmacksäußerungen eher zutage als in der Gesamtwürdigung des Unternehmens. Und ein expliziter Unmut Goethes gegen die Ausführung eines ihm an sich schätzenswerten Sujets trifft auch das pietistische Gedicht. Kurz und 22 23 24 25
Ebd., Abschnitt „Buch-Orakel“, S. 208 f. Eingangsepigramm zum „Buch der Sprüche“, ebd., S. 62. „Wunderhorn“-Rezension (wie Anm. 20), S. 265–267. Ebd., S. 265.
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unwirsch dekretiert er dazu: „Werd’ ein Kind, (291.) Ein schönes Motiv, pfaffenhaft verschoben.“26 „Pfaffenhaft“, das meint hier nicht wie bei der Kennzeichnung des Gedichts I, 193 von den Elftausend Kölner Märtyrer-Jungfrauen („Nicht zu schelten; doch spürt man zu sehr das Pfaffenhafte.“)27 ein Dokument aus der Tradition kirchlich-katholischer Frömmigkeit. In beiden Fällen vielmehr geht die Kritik offenbar auf das Übergewicht einer ihm widrigen dogmatischen Lehrhaftigkeit vor der ästhetischen Schlüssigkeit. Dass nämlich dominant dies die Kategorie seines Wertens ist und nicht der jeweils vorherrschende Konfessionsstandpunkt, erkennt man leicht aus den Stichwortbewertungen der anderen, immer dann durchaus belobigten religiösen Gedichte, wenn sie nicht durch eine mit dem Holzhammer forcierte Lehrabsicht oder aber durch formlose Redundanz und banale Unstimmigkeiten des Tonfalls missraten. Ich belege dies im bloßen Zusammenstellen jener in Rücksicht auf ihre ästhetische Plausibilität höchst unterschiedlichen Rezensenten-Charakterisierungen, in denen das „Christliche“ oder spezifisch Konfessionsgebundene ausdrücklich angesprochen ist: „Des Sultans Töchterlein, (15.) Christlich zart, anmutig.“, dagegen „Die hohe Magd, (40.) Christlich pedantisch.“, „Die Eile der Zeit in Gott, (64.) Christlich, etwas zu historisch; aber dem Gegenstande gemäß und recht gut.“, „Ritter St. Georg, (151.) Ritterlich, christlich, nicht ungeschickt dargestellt, aber nicht erfreulich.“, „Des Herrn Weingarten, (165.) Liebliche Versinnlichung christlicher Mysterien.“ Gleichartige Deutungshinsicht herrscht offenbar vor, wo Goethe, ziemlich unbekümmert um political correctness, das typisch Konfessionsgebundene stichwortartig anspricht, wobei er wie zu „Ernte-Lied. (55.) Katholisches Kirchen-Todeslied. Verdiente protestantisch zu sein.“ den eigenen Standpunkt nicht verschweigt, ohne ihn jedoch zum Kriterium des Wertens zu machen. So steht neben Beurteilungen wie „Antwort Mariä auf den Gruß der Engel, (406.) Das liebenswürdigste von allen christ-katholischen Gedichten in diesem Bande.“ abstufend „David, (79) Katholisch hergebracht, aber noch ganz gut und zweckmäßig“ „Der Tannhäuser, (86.) Großes christlich-katholisches Motiv.“ (so trotz des massiv papst- und institutionenkritischen Schlusses!) oder „Der englische Gruß, (140.) Die anmutige, bloß katholische Art, christliche Mysterien ans menschliche, besonders deutsche, Gefühl herüber zu führen.“ und „Maria auf der Reise. (375.) Hübsch und zart, wie die Katholiken mit ihren mythologischen Figuren das gläubige Publikum gar zweckmäßig zu beschäftigen und zu belehren wissen.“, schließlich aber, zugleich den verwirrenden Klingklang und die dem Rezensenten widrige Einschärfung der Lehre von der Unendlichkeit der Höllenstrafe bezeichnend, „Ewigkeit. (263 b.) Katholischer Kirchengesang. Wenn man die Menschen konfus machen will, so ist dies ganz der rechte Weg.“ Die Unlust, nicht an den unterschiedlichen Standpunkten selbst, 26 Ebd., S. 261. 27 Ebd., S. 258.
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sondern an einer penetranten Art ihrer Lehrhaftigkeit äußert sich im Kontrapunkt des Urteils übers „Kriegslied gegen Karl V, (97.) Protestantisch, höchst tüchtig.“ gegenüber dem grobianisch-parodistischen „Petrus, (382.) Scheint uns gezwungen freigeistisch.“ oder gleichartig, ohne dass ein spezifisch religiöser Standpunkt benannt wäre, „Überdruß der Gelahrtheit, (57.) Sehr wacker. Aber der Pedant kann die Gelahrtheit nicht loswerden.“ Eine solch wackere Abfertigung der Gelahrtheit unternimmt ja auch das „Werd’ ein Kind“-Gedicht, an dem Goethe auch ausdrücklich „ein schönes Motiv“ anerkennt, das er aber offenbar ebenfalls als zu pedantisch dogmatisch und dadurch „pfaffenhaft verschoben“ empfindet. Bloß dadurch erscheint es ihm wohl in dieser Sammlung naturnah erwünschter Volkspoesie fehl am Ort. Seine Schlussempfehlung an die Sammler, für geplante Folgebände doch sorgfältiger auf das Ausschalten von dem Ton nach Nichthergehörigem zu achten und das Poetische als einziges Wahlkriterium zu wahren, scheint so auch das pietistische Lied zu betreffen, wobei wir denn freilich wünschen, daß sie sich vor dem Singsang der Minnesänger, vor der bänkelsängerischen Gemeinheit und vor der Plattheit der Meistersänger, so wie vor allem Pfäffischen und Pedantischen höchlich hüten mögen […], so legen wir den Herausgebern desto ernstlicher ans Herz, ihr poetisches Archiv rein, streng und ordentlich zu halten.28
Anders als für Arnim oder Brentano haben wir für Goethe keinerlei Indiz, dass er die Historie Der Wiedergebohrnen je selbst in der Hand gehabt hätte. In ihrem philadelphischen Standpunkt oberhalb der dogmatischen Konfessionsunterschiede, in ihrer grundsätzlichen Institutionenkritik und vorbildhaften Präsentation unterschiedlichster Sonderlehren, gerade auch der von den Amtskirchen verfolgten, kam ihre Tendenz durchaus all den Dokumenten und Haltungen nahe, die ihn an Gottfried Arnolds Kirchen= und Ketzer=Historie so angesprochen haben. Goethes Interessen und Vorlieben am Pietismus waren außer auf herrnhutische Innigkeit und mystische Erfahrungen ganz entschieden auf das Dogmensprengende und besonders auf die von Reglementierungen freigesetzte Empfindungs- und Sprachkraft der geistlichen Genies konzentriert. Diesen radikaleren Außenseitern des radikalen Pietismus der unterschiedlichsten Couleurs, den sprachgewaltig-prophetischen, visionären und revelatorischen Erscheinungen vor allem, hat er auf seinen jugendlichen Geniereisen bekanntlich mit lebhaftestem Interesse nachgespürt; in Dichtung und Wahrheit, seiner das Anstößige vorsichtig auf Abstand rückenden Rückschau der späten Jahre, aber hat er nur wenige seiner persönlichen Berührungspunkte wie auch Lektüren offenbar gemacht, so dass man hinsichtlich einschlägiger Lektüren über das Genannte hinaus kaum Anhaltspunkte findet. Was ihn auch am Mainstream des Pietismus störte, war jedenfalls ein gesetzlicher Muckergeist. Und für den fand er offenbar im 28 Ebd., S. 267.
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grundsätzlich schönen Motiv des Gedichts, das ihm hier „pfaffenhaft verschoben“ schien, ärgerliche Spuren, die ihn wünschen ließen, die „Wunderhorn-Sammler“ hätten sich davor „höchlich hüten“ sollen. Der Begriff der Wiedergeburt im Quellenbeleg hatte sich ihm ja längst von einem auf Joh 3,3 gegründeten Theologem, dem Durchbruch zum Leben in der Gnade womöglich nach bußkämpferischer Selbstquälerei, zu einem höchst individuellen Konzept der Entelechie und Palingenesie namentlich für jene verschoben, die aus eigener Energie im aktuellen Leben Höchstes leisten. Widrig und pfäffisch erschien ihm so zweifellos die so wiederholungsreiche Einschärfung demütigen Untertanengeists (in „Demut“ klingt noch der etymologische Ursprung „die-muot“, „Gesinnung einer Magd“, nach): Den preist das Gedicht in der Tat massiv : „klein und arm“, „niedern Seelen“, „nichts hohes hier erwählen“; „demüthig“, „nieder“, „ehrerbietig“, ja sogar „gebücket krumm“, „nicht hoch noch weis’ bei dir“, Weinen im Staube. Für die Romantiker wird aber gerade in diesen für sie deutlich zusammengehörigen Motivschichten der Reiz des alten Gedichts gelegen haben. Und namentlich in der neuen Akzentuierung, die sie ihm gegenüber der bloßen (ihnen theoretisch nicht minder geläufigen) Gelehrsamkeitskritik durch das programmatische Heraufziehen des Imperativs „Werd ein Kind.“ in den Titel gaben, konnten sie sich dem pietistischen Streben durchaus verwandt empfinden. Der romantische Kult der Kindheit gründet sich vor allem darauf, dass die irdische Geburt selbst schon als eine Art Wiedergeburt gesehen wird, ein Hinübergesetztwerden aus einer Sphäre der Präexistenz in eine andere Existenzform. Mit ihrem Hineinversetztwerden ins scharfe Licht des Tages, in die auf Kausalität und Rationalität gegründete Werkeltagswelt, verlieren die Menschen den bergenden Bezug zum Unendlichen, in dem sie beim Eintritt in diese Welt wissend noch an allem Geheimnis teilhatten. Kleine Kinder aber, im Stande der Unschuld und vor dem Hineinerzogenwerden ins Reich der Ratio, haben noch Zugang zu jener Sphäre der Bedeutungen und bildhaften Rückerinnerungen, an die später nur mehr selten die träumende oder ahnende Seele in Momenten der Entgrenzung heranreichen kann. Brentano selbst hat in Gedichten („Szene aus meinen Kinderjahren“, „Rückblick in die Jahre der Kindheit“ wie im Roman Chronika eines fahrenden Schülers) dieser Verklärung der Kindheit Bilder gegeben,29 ich zitiere nur aus der Klarinettenstimme des frühen Symphonie-Gedichts Phantasie: Die ganze Welt Umwölbt ein Zelt, Über jeglicher Pforte Stehn goldene Worte. 29 Vgl. die Hinweise bei August Langen: Clemens Brentano, Schwanenlied. In: Ders.: Gesammelte Studien zur neueren deutschen Sprache und Literatur, Berlin 1978, S. 372–382, hier S. 374.
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Das Aug der Sonne glühet Zur Blume […] Und wer mit beiden Nicht kindlich spricht, Dem leuchtet kein Licht, Der findet den Ein- und den Ausgang nicht, Der kann nicht kommen, nicht scheiden.30
In Friedrich von Hardenbergs, also Novalis’, 1802 aus dem Nachlass fragmentarisch publiziertem Roman Heinrich von Ofterdingen wird dieses in der Romantik unendlich oft abgewandelte Motiv im Blick auf den metaphysischen Mehrwert des Kindes explizit. Im Gespräch zwischen Heinrich und Sylvester, aus dem ich hier die Kernaussagen zusammenziehe, werden wir angeleitet, eine stille Ehrfurcht und Gottesfurcht vor allen unbegreiflichen und höhern Erscheinungen zu haben, und daher das Aufblühen eines Kindes mit demüthiger Selbstverleugnung zu betrachten. Ein Geist ist hier geschäftig, der frisch aus der unendlichen Quelle kommt und dieses Gefühl der Überlegenheit eines Kindes in den allerhöchsten Dingen[,] der unwiderstehliche Gedanke einer nähern Führung dieses unschuldigen Wesens, das jetzt im Begriff steht eine so bedenkliche Laufbahn [ins irdische Leben hinein] anzutreten, bey seinen nähern Schritten, das Gepräge einer wunderbaren Welt, was noch keine irrdische Flut [d. h. keine Überflutung durch Ratio und gelehrtes Wissen] unkenntlich gemacht hat, und endlich die Sympathie der SelbstErinnerung jener fabelhaften Zeiten [vor dem Geborenwerden], wo die Welt uns heller, freundlicher und seltsamer dünkte und der Geist der Weissagung fast sichtbar uns begleitete, alles dies hat […] gewiß zu der andächtigsten und bescheidensten Behandlung vermocht. […] Wir Alten hören am liebsten von den Kinderjahren reden […] als […] den Duft einer Blume einziehn […], da Blumen die Ebenbilder der Kinder sind. Den vollen Reichthum des unendlichen Lebens, die 30 Clemens Brentano: Werke. Hg. von Geno Hartlaub, Hamburg o. J., S. 11. Vgl. ebd., S. 31: „Aus der Kindheit“: „Gesegnet seid, ihr ernsten nächtgen Scheine, j Die ihr mir in die junge Seele fielet!“ – Der romantische Regressionswunsch „Werd ein Kind“ aus der Erkenntnis zurück in ahnungsvolle Kinderunschuld klingt gelegentlich noch in der jüngsten Dichtung auf, so in der Erzählung „Ich habe einen Traum“ des Zürcher Altachtundsechzigers Dieter Meier : Hermes Baby. Geschichten und Essays, Zürich 2006 (Meridiane, Bd. 93), S. 152–155: Ins Paradies will ich zurück Zu Werden wie ein Kind Nichts zu wollen großes Glück Wenn ich das Kind nur find’ […]. Der Leibhaftige kichert, die Sinnfalle schnappt zu […] als ich das Paradies des Nichts-Seins und Nichts-Wollens besuchen durfte, erscheinen als verschwommenes Glück, aus dem der Kratzfüßige schon mit dem Nennen meines Namens mich herausriß ins gesegnete und verfluchte Land der Erkenntnis, in dem das Menschenkind herumirrt, seit es eines ist. Den Apfel möcht’ ich kosten, Erkenntnis heißt der Baum, Ins Paradies zurück darf ich jetzt nicht mehr schaun Der Traum des Nichts-mehr-Wollens, er küßt mich selten wach Und dann holt mich der Teufel unter sein Sinnendach. (S. 154 f.)
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gewaltigen Mächte der spätern Zeit, die Herrlichkeit des Weltendes und die goldne Zukunft aller Dinge sehn wir hier noch innig ineinander geschlungen […]. So ist die Kindheit in der Tiefe zunächst an der Erde, da hingegen die Wolken vielleicht die Erscheinungen der zweyten, höhern Kindheit, des wiedergefundnen Paradieses sind, und darum so wohlthätig auf die Erstere herunterthauen.31
Das ins Wachbewusstsein heraufschlagende Entsinnen der Präexistenz, „eine sonderbare Erinnerung aus frohen Zeiten“ und „klare bilderreiche Sehnsucht […] wie ein Wetterleuchten“,32 gewährt wie ein Dichtertraum Einblick in die das Leben umlagernde Sphäre der Transzendenz: Ist nicht jeder, auch der verworrenste Traum, eine sonderliche Erscheinung, die auch ohne noch an göttliche Schickung dabey zu denken, ein bedeutsamer Riß in den geheimnißvollen Vorhang ist, der mit tausend Falten in unser Inneres hereinfällt?33
Ein aus der Kindheit verbliebenes Wissen um die transzendente Heimat im Jenseits (Jung-Stillings Roman Das Heimweh von 1794 zählte zu Novalis’ Lieblingslektüren) prägt auch das geheimnisvolle Gespräch der ersten Begegnung Ofterdingens mit Zyane, deren Antlitz ihm im Dichtertraum der blauen Blume schon früh gestalthaft erschienen war (,Centaurea cyana‘ ist der botanische Name der blauen Kornblume): Seit wann bist du hier? Seitdem ich aus dem Grabe gekommen bin? Warst du schon einmal gestorben? Wie könnt’ ich denn leben? […] Woher kennst du mich? O! von alten Zeiten […]. Wo gehn wir denn hin? Immer nach Hause.34
Geradeso zu des „Vaters Wohnung“ sieht sich das vom Wechsel in die versehrende Lichtwelt des Tages verschreckte Kind auch in Novalis’ Gedicht An Tieck (1802) von einem Greis mit ihm „so kindlich und so wunderbar“ bekannten Zügen heimgeführt: Ein Kind voll Wehmuth und voll Treue, Verstoßen in ein fremdes Land, Ließ gern das Glänzende und Neue, Und blieb dem Alten zugewandt.“35
Dieses Konzept vom Mehrwert der Kindheit und ihrer noch unverlorenen Einheit mit dem Göttlichen und mit allen Geheimnissen des Kosmos bleibt für 31 Novalis: Heinrich von Ofterdingen. Ein nachgelassener Roman. In: Ders.: Werke, Tagebücher und Briefe. Hg. von Hans Joachim Mähl und Richard Samuel, Bd. 1: Das dichterische Werk, München – Wien 1978, Darmstadt 1999, S. 375, 378 (meine interlinearen Erläuterungen im Zitat sind als nicht zum Text gehörig in eckige Klammern gesetzt). 32 Ebd., S. 282 und 280, vgl. ausführlicher S. 255 f. 33 Ebd., S. 244. 34 Ebd., S. 373, vgl. 251. 35 Friedrich Leopold Freiherr von Hardenberg: An Tieck [Erstdruck]. In: Novalis: Werke (wie Anm. 31), Bd. 1, S. 137 (die ursprüngliche Handschriftfassung, ebd. S. 135, zeigt in dieser Eingangsstrophe nur Schreibvarianten).
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die ganze Romantik bestimmend, leitmotivisch etwa noch in Justinus Kerners Erzählung Die Heimatlosen (ursprünglich unter dem Titel Der Wanderer zum Morgenrot, 1816): Die Natur, die gar liebreiche Mutter […] legt uns so gern an ihre Brust, daß wir die Harmonie ihres Herzens vernehmen, wenn wir uns nur nicht so fremd und großgezogen gebärdeten […], denken wir uns nur nicht so gar großgewachsen, denn dann tritt die sittsame scheue Mutter zurück und verhüllt vor uns Großen ihre Geheimnisse.36
Noch in Heinrich Heines Harzreise von 1824 wird es – ironisiert zwar, aber dadurch doch nicht um seine poetische Geltung gebracht – aufgerufen, und zwar just nachdem der Erzähler über Volkslieder, Echtes und Unechtes im Wunderhorn und über Goethe räsonniert hatte: Die Kinder, dacht’ ich, sind jünger als wir, können sich noch erinnern, wie sie ebenfalls Bäume oder Vögel waren, und sind also noch imstande, dieselben zu verstehen; unsereins aber ist schon alt und hat viel Sorgen, Jurisprudenz und schlechte Verse im Kopf.37
Der Anruf „Werd ein Kind“ des pietistischen Liedes, sein Hinweis auf die besondere, aber von raschem Verfall bedrohte Begnadung des frühen Kindheitsstandes, in dem Christus selbst sonnenhaft aufgehen kann im demütigen Seelengrunde, in dem Gott selbst die Ausbildung übernimmt und sich zu wissender Zeugenschaft offenbart, zeigt das romantische Konzept zumindest schon vorgeprägt. Freilich redeten die Romantiker in halbsäkularisierender Verschiebung des Heiligen eher vom Unendlichen, außerdogmatisch von der Gottheit, von der ewigen Weisheit und wunderbaren jenseitigen Heimat, oder meinten doch dies, auch wenn sie Gott oder Christus sagten. Und die bezaubernd poetischen Bilder von den arm-aber-ehrlichen Blümlein im lieben Seelental, vom Röschen und Veilchen und von der geheimnisvollen Saronsblume38 als sympathetischen Verkleidungen der liebeharrenden Anima hätten ebenso Brentanos eigener Palette entsprungen sein können. Auch das Bild einer tabula rasa, in die allein jenseitige Erkenntnis sich einschreibt, formt romantisches Denken vor. Angenommen freilich wird auch hier nur jener Teil der überkommenen Erbschaft, der hineinpasst in den eigenen geistig-seelischen Haushalt – geradeso wie auch bei dem aus dem (zumeist radikalen) Pietismus kommenden oder durch ihn weitergegebenen Großmobiliar an 36 Justinus Kerner: Die Heimatlosen. In: Kerners sämtliche poetische Werke, Bd. 3, Leipzig o. J. [1905/1906], S. 282. 37 Heinrich Heine: Reisebilder. Erster Theil. Die Harzreise. In: Historisch-kritische Gesamtausgabe (DHA), Bd. 6. Hg. von Jost Hermand, Hamburg 1973, S. 91. Der „Wunderhorn“-Exkurs kam erst in der 2. Aufl. von 1830 hinzu. Vgl. ebd., S. 568. 38 Gleichartig poetisch kommentiert die ,Berleburger Bibel‘ „Saron“, Hhld 2,1, in heilsgeschichtlicher Dimension: „ein Bild der fruchtbaren Ebene der neuen Erde.“ Der Heiligen Schrift / und zwar Alten Testaments / Dritter Theil, Berleburg 1730, S. 750.
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Psychologie, Naturspekulation, mystisch-arkanen und alchemistischen Traditionen oder medizinisch-magnetisch-kabbalistisch-magischen Vorstellungen, deren weitergereichte Substanzen wie auch Vermittlungsstränge noch ganz entschieden detaillierterer Erforschung harren. Die angedeuteten Verbindungen, auch jene der persönlichen Kontakte und Lektüren, zeigen deutlich, ein wie fruchtbares Forschungsfeld bezüglich des Fortwirkens und der Transformationen pietistischer Konzepte und Axiome, Argumente und Sprachmittel der Romantik einerseits, zum andern aber auch umgekehrt aus romantischen Horizonten in das Denken und die Ausdrucksformen der Erweckungsbewegung und des Neupietismus hinein noch fast brach liegt und zu bestellen bleibt. Während die Interaktionen zwischen dem Pietismus und der Empfindsamkeit sowie dem Sturm und Drang von vielen Seiten her häufig erwogen worden sind, gibt es zur Romantik hin nur punktuelle Ansätze zu biographischen Berührungen (etwa für Novalis, beide Schlegel, Luise Hensel, Johann Arnold Kanne) und namentlich sympathetisch-naturspekulative Geisteserbschaft (so wiederum für Novalis, Jean Paul, Gotthilf Heinrich Schubert, Justinus Kerner, für Schelling und Baader oder die romantischen Züge in den Werken Kleists und des nachklassischen Goethe).39 Auch im pietistischen Konzept des Kindes ist die Vorstellung vom Mehrwert gegenüber dem Erwachsenenalter verbreitet – wenngleich eher gegründet auf eine noch nicht weltverdorbene Ursprungs-Unschuld als auf noch nachwirkende Reminiszenzen aus der Jenseitssphäre der vorgeburtlichen Präexistenz. Die leitende Referenz freilich ist – wie im „Werd ein Kind“Gedicht – die exklusive Heilsverheißung des Bergpredigt-Spruchs Mt 18, 3–4, im Übersetzungswortlaut der ,Berleburger Bibel‘: Wahrlich ich sage euch, wann ihr nicht umgekehrt werdet, und werdet wie die Kindlein, so werdet ihr mitnichten in das Königreich der Himmeln einkommen! Wer nun sich selbst erniedrigen wird wie dieses Kindlein, derselbe ist der Gröseste in dem Königreich der Himmeln.“40 39 Als Beispiele für vereinzelte Toröffnungen in dieses Feld hinein nenne ich nur Aufsatzsammelbände wie: Medizin und Romantik. Justinus Kerner als Arzt und Seelenforscher [Teil 2 in:] Justinus Kerner. Jubiläumsband zum 200. Geburtstag. Hg. von Heinz Schott, Weinsberg [1990], S. 193–483; Kabbala und Romantik. Hg. von Eveline Goodman-Thau, Gerd Mattenklott und Christoph Schulte, Tübingen 1994 (Conditio Judaica, Bd. 7); Traces du mesm8risme dans les litt8ratures europ8ennes du XIXe siHcle – Einflüsse des Mesmerismus auf die europäische Literatur des 19. Jahrhunderts. Hg. von Ernst Leonardy [u. a.], Brüssel 2001 (Travaux et recherches, Bd. 45), oder das „Ausblick“-Kapitel in Burkhard Dohm: Poetische Alchemie. Öffnung zur Sinnlichkeit in der Hohelied- und Bibeldichtung von der protestantischen Barockmystik bis zum Pietismus, Tübingen 2000 (Studien zur deutschen Literatur, Bd. 154), S. 359–368. Sprachgeschichtliche Anknüpfungspunkte sind auch schon hervorgehoben bei August Langen: Der Wortschatz des deutschen Pietismus, Tübingen, 2. erg. Aufl. 1968. Eine Fallstudie für die romantische Aneignung und Umdeutung der pietistischen Erbschaft gibt neuerdings mein Aufsatz Schrader: Vom ekstatisch-prophetischen zum magnetischen Beispielfall (2016, L 55), im vorliegenden Band S. 731–761. 40 Der Heiligen Schrifft Fünffter Theil / oder des Neuen Testaments Erster Theil, Berleburg 1735,
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Schaut man sich die stattliche Reihe der Exempelbiographien oder sammelbiographischen Vorbildbücher für Kinder an, stößt man immer wieder auf den Topos der Beschämung der in Lebenskompromisse geratenen Erwachsenen durch die Unbedingtheit des frommen Kindes. Beispielhaft nenne ich nur das wohl verbreitetste Kinder-Leben des zehnjährig verstorbenen Christlieb Leberecht von Exter, das, von seinem Lehrer aufgezeichnet und von August Hermann Francke in Druck gebracht, in die Historie Der Wiedergebohrnen aufgenommen und von da in zahllose Sammelbiographien und Kinder-Exempelbücher übernommen wurde.41 Der pietistische Muster-Knabe ist als ein Ausbund an Frömmigkeit, Demut und erbaulichem Redefluss präsentiert, der die ganze Familie ebenso wie „die Dienst=Boten durch GOttes Wort und Vermahnung zu recht führete“. „Und also leuchtete er in seines Vaters Hauß wie der Mond unter den Sternen“.42 Aber das kann er nicht aus kindlicher Unverbildetheit und ahnendem Erinnern, sondern weil er mit seinem wachen Kopf schon in früher Kindheit ein Übermaß an Belehrung und Erziehung eingeschluckt hat, bereits mit drei S. 180. Der Kommentar, überwiegend eher predigtartig auf die Metanoia bezogen, bestimmt das „wie die Kindlein“: „am Aeussern, auch mit ihnen wieder in die Schule gehet, aber des H. Geistes“. 41 Schon in fünf Auflagen erschien die von dem Präzeptor und Pastor des Knaben, Wilhelm Erasmus Arends, verfasste, aber von Francke im Waisenhaus-Verlag publizierte und dem Fürsten Anton Günther zu Anhalt dedizierte Exempelerzählung (zwei Auflagen bereits 1708, 4. und 5. noch 1718 und 1757) als Einzeltraktat: August Hermann Francke: Eines zehen=jährigen Knabens Christlieb Leberecht von Exter / aus Zerbst / Christlich geführter Lebens=Lauff, 3. Aufl., Halle 1709 (darin S. 135–154 „Etliche Briefe Des sel. Christlieb Leberechts von Exter“ mit autopsychographischen Bekundungen). Vgl. August Hermann Francke. Bibliographie seiner Schriften. Hg. von Paul Raabe und Almut Pfeiffer, Tübingen – Halle 2001 (Hallesche Quellenpublikationen und Repertorien, Bd. 5), S. 594–596. Wieder aufgenommen wurde sie in Reitz: Historie Der Wiedergebohrnen. Neudruck (1982, L 2), Bd. 2, Teil IV, Idstein 1716, „Vierzehnte Historie“, S. 207–216. Geradezu kanonisch wird sie in die Sammelbiographien bis in die Ära der Spätromantik hinein übernommen, z. B. Christian Gerber: Anhang zu der Historie der Wiedergebohrnen in Sachsen, Dresden 1730 (Nr. 9), S. 234–259; Des Geistlichen Exempel=Buchs Für Kinder / Dritter Theil […] Nach der Art Jacob Janneway, Nürnberg 1738 (Nr. 19), S. 68–93; Conrad Daniel Kleinknecht: Gute Exempel für die zarte Jugend, Augsburg 1743, S. 14, 25, 40, 47, 55, 92 (systematisch zugeordnet im Katalog vorbildlicher Qualitäten); Johann Arnold Kanne: Fortsetzung der zwei Schriften: Leben und aus dem Leben merkwürdiger und erweckter Christen […] und Sammlung wahrer und erwecklicher Geschichten, Frankfurt a. M. 1824 (Nr. 22), S. 204 f. Vgl. zur Tradition der Sammelbiographien und ihrer Kanonisierung von Glaubensmustern neuer Heiliger Schrader: Die neue Gattung. Die „Historie Der Wiedergebohrnen“ als Vorbild der pietistischen Sammelbiographien. Nachwort in: Reitz: Historie Der Wiedergebohrnen. Neudruck (1984, L 2), Bd. 4, S. 127*–203*, zu Exter S. 172*. Ausführlich behandelt das Exter-Exempel und die darüber geführten Debatten Cornelia Niekus Moore: „Gottseliges Bezeugen und frommer Lebenswandel“. Das Exempelbuch als pietistische Kinderlektüre. In: Das Kind in Pietismus und Aufklärung. Beiträge des Internationalen Symposions vom 12.–15. November 1997 in den Franckeschen Stiftungen zu Halle. Hg. von Josef N. Neumann und Udo Sträter, Tübingen 2000 (Hallesche Forschungen, Bd. 5), S. 131–142, hier S. 137–139. 42 Reitz: Historie Der Wiedergebohrnen. Neudruck (1982, L 2), Bd. 2, Teil IV, Idstein 1716, S. 208.
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Jahren zur Schriftlesung angeleitet war, bald darauf gar zum Lateinverstehen: „Unermüdet war er im Lesen / Beten / Studiren und Meditiren.“43 Das präfigurative Modell seiner als bescheidentlich gepriesenen „Vermahnungen“ ist also eher der lehrende Jesusknabe im Tempel als eine noch nicht aus der Gnade gefallene unverbildete Gotteskindschaft. Exters Erwähltheit zur Gotteskindschaft ist verbunden mit einem erziehlich geweckten Wiedergeburtseifer.44 Und im Reproduzieren, ja offenbar bisweilen im papageienhaften Nachplappern von ihnen frühkindlich eingeprägten Sprachformeln pietistischer Kernanforderungen machen einige der gesammelt publizierten exemplarischen Kinderviten heute den Eindruck peinvoller, durch Eltern- oder Präzeptoreneitelkeit inszenierter Dressurgeschichten. Ganz ohne Sensorium für das Gewalthafte solcher Verbiegungen feiert etwa der Leipheimer Pfarrer Conrad Daniel Kleinknecht als Herausgeber der Sammlung Gute Exempel für die zarte Jugend; Das ist: Eine gantz neue Sammlung Auserlesener Exempel frommer Kinder ; So wohl von ihrem Gottseeligen Bezeugen und frommen Lebens=Wandel / als auch frölich= und seeligen Sterben, Augsburg 1743, die Modellierbarkeit der frühen Jahre: die Jugend ist gleich den jungen zarten Bäum= und Sträuchlein / die sich ziehen, biegen, wenden und binden lassen, wie man will, und so wachsen sie alsdenn: Jung gewohnt, alt gethan.45
Die jüngst intensivierte Forschung zur pietistischen Erziehungslehre erweist, dass der von Francke und den Seinen vollzogene „entscheidende religionspädagogische Schritt“ die „Ausrichtung des Lehrens und Erziehens an der subjektiven Aneignung der religiösen Überlieferung durch das Kind“ und damit „eine Hinwendung zur religiösen Subjektivität im Sinne einer Herzensfrömmigkeit“ ist.46 Das ist schon sehr viel, grenzt man es ab gegen die 43 Ebd., S. 209. Charakteristisch in ihrem Schwanken zwischen dem die Sehnsucht nach ursprünglicher Unverbildetheit wachhaltenden Heimweh-Status der Kindheit und einem Konzept der Kindheit als günstigstem Moment für normative habituelle und intellektuelle, aber auch Glaubens-Einprägungen ist Franckes Pädagogik (und sein „Kurzer und einfältiger Unterricht Wie die Kinder zur wahren Gottseligkeit und Christlichen Klugheit anzuführen sind“, 1702) gekennzeichnet in zwei Beiträgen des Symposienbandes: Das Kind (wie Anm. 41), S. 143–182 (Werner Loch: Die Darstellung des Kindes in pietistischen Autobiographien) und S. 349–362 (Friedrich Schweitzer : Die Entdeckung der Religion des Kindes zwischen Pietismus, Aufklärung und Romantik). 44 Abriss der Ideen und praktischen Maßnahmen einer pietistischen Pädagogik bei August Hermann Francke („Francke war durch und durch Erzieher“, S. 82) bei Martin Schmidt: Pietismus, Stuttgart [u. a.] 1972 (Urban-Tb, Bd. 145), S. 68–82, vgl. jetzt Werner Loch: Pädagogik am Beispiel August Hermann Franckes. In: Glaubenswelt und Lebenswelten. Hg. von Hartmut Lehmann, Göttingen 2004 (Geschichte des Pietismus, Bd. 4), S. 264–308 (sowie Markus Matthias: Bekehrung und Wiedergeburt, ebd., S. 49–79). 45 Kleinknecht: Gute Exempel (wie Anm. 41), Vorrede, S. )( 4r. 46 Friedrich Schweitzer: Die Entdeckung (wie Anm. 43), S. 351. Ausführlichere neue Quellenstudien von Peter Menck: Die Erziehung der Jugend zur Ehre Gottes und zum Nutzen des Nächsten. Die Pädagogik August Hermann Franckes, Tübingen 2001 (Hallesche Forschungen, Bd. 7) und
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weiterhin auf die Erbsünde-Lehre47 fundierten Erzieh-Ideale zwischen Orthodoxie und Aufklärung, auf die das Kirchenlied des Braunschweiger Generalsuperintendenten Elieser Gottlieb Küster (nach der Melodie „Alle Menschen müssen sterben“!) die scharfe Zucht zu Gottesfurcht, Tugend und gesellschaftlicher Nützlichkeit gründet: 1. Kinder gut und fromm erziehen, Dies ist für die Menschlichkeit Stets das wichtigste Bemühen. Glücklich sie hier in der Zeit, Nützlich sie der Welt zu machen, Sie des Himmels fähig machen, Diese Pflicht ist teu’r und groß. Nichts spricht von ihr Eltern los. 2. Wächst der Mensch in seiner Jugend Ungebildet roh heran, Ohn’ Erkenntnis, ohne Tugend, Kann er dann des Lebens Bahn Würdig mit Vernunft betreten? Würdig seinen Gott anbeten? Seinem Nächsten brauchbar sein? Einst den Himmel erben? Nein! 3. O ihr, denen Gott hier Kinder, Himmelspfänder, anvertraut, Ach, bedenket, sie sind Sünder. Denkt, wie ihr ihr Glück hier baut. Lehrt sie früh den Schöpfer lieben, Jede Tugend auszuüben […] [6.] Führ sie selbst die Tugendbahn, Daß ihr Fuß nicht gleiten kann.48 von Axel Oberschelp: Das Hallesche Waisenhaus und seine Lehrer im 18. Jahrhundert. Lernen und Lehren im Kontext einer frühneuzeitlichen Bildungskonzeption, Tübingen, 2006 (Hallesche Forschungen, Bd. 19). 47 Die tritt im Pietismus stärker zurück, ist aber keineswegs theologisch relativiert. Auch in der in die Reitzsche Sammlung übernommenen Exter-Historie (wie Anm. 41), S. 221 wird sie noch im angehängten Gedicht aufgerufen: Geh hin / mein Kind / zu JEsu Freuden ein! Der Sünden=Rock ist dir nun abgenommen; Du magst im güldnen Schmuck vor GOtt jetzt kommen. […] 48 Elieser Gottlieb Küster (1732–1799): Für die Erziehung der Jugend. In: Neues Braunschweigisches Gesangbuch nebst einem kurzen Gebetbuche zum öffentlichen und häuslichen Gottesdienste, Braunschweig 1887, Nr. 392, S. 210 f., vgl. zum Verf. ebd., S. [XIX].
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Dominant für die Erziehungslehre auch noch des Pietismus bleibt die Konzeption des Kindes als Objekt einer erziehlichen Einwirkung, kraft deren es vom „Kinderglauben“ weg und zum Mehrwert des Erwachsenen-Vorbilds erst hingeführt werden muss. Vernehmlich gibt es daneben aber doch schon jene Tendenz zur Heiligung und zum Kult des Kindheitsstandes, die im Wunderhorn-Lied zumindest einen Teil der Botschaft ausmacht und die sich also die Romantiker vollgültig vom Pietismus zu eigen machen konnten (auch hier wiederum gegründet auf eine im Radikalen wurzelnde Nebentradition). Der Grundgedanke ist die unverlorene Gottesnähe des von der Welt noch nicht bemächtigten Gotteskinds. Schon die ,Berleburger Bibel‘ gibt im vornehmlich auf die Metanoia zur Wiedergeburt zielenden Kommentar zur „Werd ein Kind“-Aufforderung der Bergpredigt einen versteckten Hinweis auf die mit der ersten Geburt in diese Welt herübergebrachte flüchtige Mitgift dieser Gottesnähe: Der HErr ruft uns zurück zu unserm Stand der Kindheit, nachdem wir von unserer anfänglich gehabten Natur gantz ausgeartet. […] O daß dieser Spiegel der rechten kindlichen Einfalt und Lauterkeit uns allen stäts tief ins Hertz leuchtete!49
Aufgenommen ist da die später auch durch Lavaters Physiognomische Fragmente50 verbreitete Auffassung beispielsweise Hochmanns von Hochenau, nur 49 Beide Zitate: Der Heiligen Schrifft Fünffter Theil / oder des Neuen Testaments Erster Theil, Berleburg 1735, S. 180. 50 Lavaters Grundauffassung des Kindes in der Exegese der noch kaum die Anlagen des künftigen Charakters spiegelnden Kindergesichter ist noch die einer tabula rasa, die erst vom künftigen Leben zu beschreiben bleibt. Mitgebrachte Unschuld steht gleichermaßen offen für böse oder gute Formung: Johann Caspar Lavater : Physiognomische Fragmente zur Beförderung der Menschenkenntnis und Menschenliebe. Bd. 2, Leipzig – Winterthur 1776; Reprintausgabe Leipzig 1968, S. 66: „Schlimme Anlagen hat eigentlich kein Mensch; moralisch gute, genau zu reden, auch keiner. Keiner kommt lasterhaft, keiner tugendhaft auf die Welt. Alle Menschen sind anfangs Kinder, und alle neugeborne Kinder sind, – nicht Bösewichter, und nicht Tugendhelden – sind unschuldig. Wenige Menschen werden sehr tugendhaft; wenige werden sehr lasterhaft; alle aber sündigen, so wie alle sterben.“ Ebd., Bd. 3, 1777, Repr. 1969, S. 137: „Doch wie Verfall auf Unschuld folgt; so Tugend auf Verfall – und ewige Güte auf Tugend der Erde!“ (vgl. die entsprechenden Analysen des Fragments „Ueber jugendliche Physiognomien“, ebd. S. 135–162). Dass für ihn ausschließlich das Kindergesicht (wie sonst nur das Christusantlitz als das höchste und nachstrebend immer nur stufenweise zu erreichende Ideal aller Menschenphysiognomien) den unverbildeten Stempel des Ebenbilds Gottes und den Widerschein seines Geistes trägt, wird aber ganz deutlich in seiner emphatischen Beschreibung von Benjamin Wests von der Bergpredigt inspiriertem Gemälde Jesu mit einem über seinen Schoß gebeugten Kind, „Solcher ist das Reich Gottes!“, ebd., Bd. 4, 1778, Repr. 1969, S. 450 f. (mit zwischen beide Seiten gefügtem Nachstich des West-Gemäldes durch Johann Heinrich Lips): „Stille Ruhe, und ungezierte Einfalt verbreitet sich über alles. Es ist nirgends eine Spur von Verworrenheit und Geziertheit – nichts lästiges, studiertes, hineingeflicktes.“ Expliziter noch ebd., S. 451, als „Beylage“ Lavaters Brief an den Maler West vom 19. Sept. 1777: „Kindereinfalt. Das Kind, wie ist’s so ganz Kind! […] Der Mann Christus – wie ist er Kind! Sein Gesicht sagt dem Auge, was sein offner Mund dem Ohre sagen würde, wenn er lebte! Welche Einfalt im Auge! welche Kindheit und Leidenschaftlosigkeit in der Nase… und in der Stirne! […] die Hände, wie herrlich ge-
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bei den Kindern finde man das noch unverlorene Ebenbild Gottes.51 Am eindringlichsten und zugleich poetischsten aber haben dieser nun wahrhaft vorromantischen Konzeption zwei der entschieden vom spekulativen Denken des radikalen Pietismus geprägte Liederdichter Ausdruck gegeben, von denen ich einige exemplarische Verse zu Abschluss und Ausblick präsentiere. Der eine ist Graf Zinzendorf, der uns das schöne Bild von den „kleinen Majestäten“ geschenkt hat, die die Welt der Erwachsenen beschämen. Darum ja hat er den Kindlichkeitskult und das Nachspielen kindhafter Sprach- und Lebensäußerungen zeitweise zur Gemeindemaxime erhoben: 1187. Aufs kleine Wiegen=Kinderchor. Stille sie, du kinder=amme! mach’ sie warm, du geistes flamme! vater! laß dis wahre lallen deinem herzen Wohlgefallen. […] grosse! komt, nun zu erröten vor den kleinen Majestäten. 1187. Aufs Knaben=chor. (Kleiner knabe mit dem Stabe) […] laß sie weiden in den freuden, deiner kindheit, JEsu Christ! lehr sie stündlich, treu und kindlich seyn, wie du gewesen bist!“52 zeichnet! wie edel! wie physiognomisch!“ (vgl. ebd., S. 65:) „Der Geist ists, der da lebendig macht. […] Ebenbilder Gottes – werden geschaffen – geboren – und nicht aus dem Willen des Fleisches, noch aus dem Willen des Mannes – sondern aus Gott.“ 51 Den Gedanken, dass der Fall ins Fleisch die Ebenbildlichkeit zerstöre, dass diese aber in Rückwendung und Wiedergeburt zum ursprünglichen Stand der Sündlosigkeit schon auf Erden wiedergewinnbar sei, führt Hochmann häufiger aus: Vgl. Ernst Christoph Hochmanns von Hochenau Glaubens=Bekänntnüs / Geschrieben aus seinem Arrest, o.O. 1702, 2. Aufl. 1709, S. 5: „Von der Vollkommenheit glaube ich / daß / ob ich schon in sündlichen Saamen gezeuget und geboren bin / ich dennoch durch Christum nicht allein gerecht / sondern auch vollkommen geheiligt werden kan; so daß gar keine Sünde in mir bleiben darff […]. Daß man aber vollkommen werden könne / ist aus der gantzen Schrift […] zu beweisen.“. Es muss „diese Erlösung von Sünd / Tod / Teufel und Hölle / inwendig in meine Seel […] gewircket werden […] biß zu Erlangung des vollkommenen Ebenbildes GOttes“ (S. 6, vgl. auch S. 152). 52 Herrnhuter Gesangbuch: Christliches Gesang-Buch der Evangelischen Brüdergemeinen von 1735 (Zinzendorf. Materialien und Dokumente, Reihe 4, Bd. III, Teil 2), Hildesheim – New York 1981, 6. Anhang, Nr. 1187 und 1188, S. 1074; vgl. Gudrun Meyer-Hickel: Verfasserverzeichnis [in: Reihe 4, Bd. 3: Teil 3], S. 73, 153. – Zu Zinzendorfs Ideal eines bewahrten Kindersinns vgl. beispielhaft Loch: Die Darstellung des Kindes (wie Anm. 43), S. 153–158, ferner Pia Schmid: Die Kindererweckung in Herrnhut am 17. August 1727. In: Neue Aspekte der Zinzendorf-Forschung. Hg. von Martin Brecht und Paul Peucker, Göttingen 2006 (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus, Bd. 47), S. 115–133 sowie (dort anschließend) für die Bedeutung von Kindersinn und
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Der andere aber, der bewusst und wirklich ein Leben in kindlicher Niedrigkeit führende, kraftvolle Dichter Gerhard Tersteegen, hat die Schar seiner Anhänger als „der Kindheit Jesu Genossen“ geformt.53 Sein Geistliches Blumen=Gärtlein Inniger Seelen (1729)54 weist immer neu auf die Gotteskindschaft des Jesuskinds als Vorbild für eine wundervoll bewahrte Gotteskindschaft der Christen: Tugend=Spiegel in der Kindheit JEsu.
Matth. 18: 3.4. Warlich / ich sage euch: Es sey denn / daß ihr euch umkehret / und werdet wie die Kinder / so werdet ihr nicht in das Himmelreich kommen. Wer sich nun selbst erniedriget / wie diß Kind / der ist der Grösseste im Himmelreich. [O JEsu / göttlich Wunder=Kind!] Melod. Wie schön leucht uns der [etc.] [3.] Die Einfalt leucht dir im Gesicht, Du bist gantz Wahrheit / Recht und Licht / Nichts Falsches kan sich regen […]. [4.] JEsu / Wie du Laß mich werden noch auf Erden / Daß ich gerne Von dir deine Demuth lerne. [14.] Mein Kindgen [JESU] ich umarme dich / Komm drück dein Kinder=Bild in mich / Spiel auch in Zinzendorfs und der Herrnhuter Dichtung Schrader : Zinzendorf als Poet (2006, L 40), im vorliegenden Band S. 489–516. 53 Zu dieser Selbstbezeichnung vgl. beispielhaft unten Anm. 63. Dazu als grundlegende Quellenerschließung zum Kreis der Guyonisten und Tersteegenianer : Michael Knieriem / Johannes Burkardt: Die Gesellschaft der Kindheit Jesu-Genossen auf Schloß Hayn. Aus dem Nachlaß des von Fleischbein und Korrespondenzen von de Marsay, Prueschenk von Lindenhofen und Tersteegen 1734 bis 1742. Ein Beitrag zur Geschichte des Radikalpietismus im Sieger- und Wittgensteiner Land, Hannover 2002, dazu auch die kenntnisreiche Besprechung („Das historische Buch“) von Christof Wingertszahn: Uns gehört nichts als das Elend. Eine neue Edition zum europäischen Radikalpietismus. In: Neue Zürcher Zeitung Nr. 204 (4. Sept. 2002), S. 54. Zum Kreis der Tersteegenianer vgl. auch Horst Neeb: Gerhard Tersteegen und die Pilgerhütte Otterbeck in Heiligenhaus 1709–1969. Geschichte und Tersteegen-Briefe an die Bewohner, Düsseldorf 1998 (Schriften des Archivs der Evangelischen Kirche im Rheinland, Bd. 15). 54 Ich zitiere im Folgenden alle bereits in dieser noch namenlos (nur mit dem Kryptonym „G. T. St.“ unter dem „Vorbericht“ von „M[ülheim] den 24. Aug. 1727.“) publizierten Erstausgabe enthaltenen Gedichte nach dem Original: Geistliches Blumen=Gärtlein Inniger Seelen; Oder Kurtze Schluß–Reimen […] Nebst einigen Geistlichen Liedern, Frankfurt – Leipzig 1729 (234 S.). Die erst in den späteren Ausgaben hinzugekommenen Texte dagegen belege ich nach der Stuttgarter Stereotypausgabe von 1910 (s. u.).
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Laß mich dir ähnlich werden / Ein klein / unschuldig Kindelein […].55
In einem die Jesus-Geburt reflektierenden Brief vom Vorabend des Heiligen Abends 1736, auf den Gustav Adolf Benrath bei Untersuchung einiger Facetten des Kindheitsmotivs in Tersteegens Lyrik hingewiesen hat, geht die Meditation des Auftrags, wieder ein Kind zu werden, in kindliches Reimen über : Kindlein, ja arme kleine Kindlein sollen wir werden in Ihm, der ein Kindlein für uns worden ist, und in uns werden will. […] Ich bücke mich zur Krippen hin, dieses Gott=Kind anzubäten, und mich […] zu verlieren in dessen Kleinheit, Unschuld und völligen Kinder= Gestalt. JEsulein nimm uns ein daß wir dein und wie du Kinder seyn! Amen.56
Freilich weiß der sentimentalische Dichter, dass diese Umkehr zur Naivität der Ursprünge nicht wirklich gelingen kann, so dass er sie ehrlich in Optative, wenn nicht in den Irrealis kleidet: Bild der christlichen Kindheit. 1. O Liebe Seele! könnt’st du werden, Ein kleines Kindgen / noch auf Erden; Ich weiß gewiß / es käm noch hier GOtt / und sein Paradies in dir. 6. Der Menschen Ansehn gilt ihm wenig / Es fürchtet weder Fürst noch König: O Wunder! und ein Kind ist doch So arm / so schwach / so kleine noch. 7. Es kennet kein verstelltes Wesen / Man kan’s aus seinen Augen lesen: Es thut einfältig was es thut / Und denckt von andern nichts als gut. 55 Blumen=Gärtlein (wie Anm. 54), IV („Geistliche Lieder und Andachten“), Nr. 6, S. 183–188. Vgl. Gerhard Tersteegen’s geistliches Blumengärtlein inniger Seelen, nebst der Frommen Lotterie. Stereotypausgabe, Stuttgart 1910, Drittes Büchlein: Geistliche Lieder und Andachten, Nr. 6, S. 223–227. 56 Brief an unbekannte Anhängerin vom 23. Dezember 1736, vgl. Gustav Adolf Benrath: Jauchzet, ihr Himmel. In: Kirchenlied im Kirchenjahr. Hg. von Ansgar Franz, Tübingen 2002 (Mainzer Hymnologische Studien, Bd. 8), S. 115–121, hier S. 121. Vgl. zur Bedeutung des Kindheitsmotivs im „Blumengärtlein“ bereits Schrader: Hortulus mystico-poeticus (1997, L 21), im vorliegenden Band S. 457–487.
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„Werd ein Kind!“ im „Wunderhorn“ 8. Mit Forschen und mit vielem Dencken Kann sich ein Kind das Haupt nicht kräncken, Es lebt in süsser Einfalt so, Im Gegenwärtigen gantz froh. 16. O Süsse Unschuld! Kinder=Wesen! Die Weißheit hab ich mir erlesen; Wer dich besitzt, ist hoch=gelehrt / Und in des Höchsten Augen werth. 17. „O Kindheit, die GOtt selber liebet; „Die JEsu Geist alleine giebet / „Wie sehnet sich mein Hertz nach dir! „O JEsu bilde dich in mir! 18. „O JEsu: laß mich noch auf Erden / „Ein solch unschuldigs Kindlein werden: Ich weiß gewiß / so kommt noch hier GOtt / und sein Paradies in mir.57
Ähnlich, Der schwachen Kinder Trost. Nun, ich lieb die Kleinheit; Hätt ich nur die Reinheit, Die den Kindern ziemt! Könnt ich so ergeben Grund=einfältig leben, Wie man Kinder rühmt! […] Nimm mich ein, Und mach mich rein Daß ichs mög in allen Sachen Wie dein Schooskind machen.58
Oder Wär ich so! Klein / und rein / und abgeschieden / Sanft / einfältig / still im Frieden / Willenloß / und innig froh; Ach / wär mein Gemüte so!59 57 Blumen=Gärtlein (wie Anm. 54), IV, Nr. 7, S. 188–190, vgl. Blumengärtlein (wie Anm. 55), III/7, S. 227–229. 58 Blumengärtlein (wie Anm. 55), Drittes Büchlein: Geistliche Lieder und Andachten, Nr. 61, S. 327 (fehlt noch in der Erstausgabe). 59 Blumen=Gärtlein (wie Anm. 54), I, Nr. 20, S. 16.
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Fast irreale, beschwörende Optative bestimmen auch das Sehnsuchtsziel der Umkehr in die Einfalt in Tersteegens Exempelerzählung über Margaretha von Beaune („von der Kindheit JEsu“) im dritten Band seiner Sammelbiographie Außerlesene Lebensbeschreibungen Heiliger Seelen:60 „Kinder werden: das klingt seltsam.“ schreibt er da und führt als Bedingung der Möglichkeit unserer Wiedervereinigung mit Gott (einer Regression also bis an die Schranke des Mutterleibs) aus, dass wir nicht müßten große und selbstkluge Leute bleiben, sondern umkehren und werden wie die Kindlein. Dies aber nicht allein, sondern es ist uns auch in der Geburt und Kindheit Jesu dieses Kinderwesen, das ist: die in Adam verlorene Unschuld wieder geschenkt; das Kind Jesus ist uns ein Quellbrunn der vollkommensten Unschuld, Einfalt, Reinigkeit, Kleinheit und Abhänglichkeit. Der Glaube kanns da sehen und nehmen.61
„Ein willenloses Kind j In Einem alles findt“. So steht es in plotinischer MystikFormel in dem Tersteegen-Lied, das der Aufforderung der pietistischen Verse im Wunderhorn am nächsten kommt. Aufmunterung zum Kinderleben. 1. Kommt, laßt uns Kinder werden, Einfältig, klein und rein, Von allem Trost der Erden In Gott gekehret sein; Des Vaters Wink und Zügen Aufmerken und vergnügen, Und wie die Kindlein thun, In seinem Schoose ruhn. 7. Kommt, laßt uns Kinder werden, Die ganz des Vaters sein. Und, liebn wir nichts auf Erden, Einander lieben rein: Vernunft und Welt mag lachen, Natur und Abgrund krachen, Wir trösten uns der Pein Und wollen Kinder sein.62 60 Tersteegen: Auserlesene Lebensbeschreibungen. 3. Bd., 3. Aufl., Essen 1786, Lebenslauf 13, S. 8–52. 61 In der Tersteegen-Blütenlese Gerhard Tersteegen: Ich bete an die Macht der Liebe. Eine Auswahl aus seinen Werken. Hg. von Dietrich Meyer, Gießen – Basel 1997, S. 185–187, unter die Überschrift gestellt „Vom Kinderwerden“ und da abgedruckt aus Tersteegen: Weg der Wahrheit Die da ist nach der Gottseligkeit, Solingen, 4. Aufl. 1768, S. 135–138. Zitat: S. 186 f. 62 Blumengärtlein (wie Anm. 55), Drittes Büchlein: Geistliche Lieder und Andachten, Nr. 60, S. 325 f. (fehlt noch in der Erstausgabe).
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Nicht nur aber die mystische Motivintention der romantischen WunderhornSammler prägt sich vor, wenn Tersteegen den frommen, innerweltlich aber nur im Wunder zu erfüllenden Auftrag in die epigrammatisch-lakonische Konzentration der Schlussreime seiner däumelnd oder bibelstechend zu nutzenden Frommen Lotterie zusammenfasst. Wir können vielmehr sicher sein, dass auch Goethe an dem „schönen Motiv“ nichts „pfaffenhaft Verschobenes“ mehr zu beklagen gefunden hätte: Jesus spricht: 370. Werde mit ein Kind – Gott nahm die Menschheit an auf Erden, Doch wollt er nur ein Kindlein werden: Im Punct der Kindheit kann allein Ein Mensch mit Gott vereinigt sein. 372. Arm und blos – Schau, ich verlaß des Vaters Schos, Und werd ein Kind, so arm und blos: Nur solch ein arm und bloses Kind Den Schos des Vaters wieder findt. 374. Unschuldig und einfältig – Die Unschuld wird im Stall geboren, Die in dem Paradies verloren: Soll sie in dir geboren sein, Werd auch einfältig, arm und klein.63
63 Blumengärtlein (wie Anm. 55): „Der Frommen Lotterie Drittes Büchlein, Zugabe einiger Lose vom Kindlein Jesu empfangen, und der Kindheit Jesu Genossen mitgetheilt“, S. 469 (fehlt noch in der Erstausgabe). Vgl. auch Benrath: Jauchzet, ihr Himmel (wie Anm. 56), S. 120.
Vom ekstatisch-prophetischen zum magnetischen Beispielfall: Hemme Hayen* (2016, L 55)
I. Wie viel aus den Requisitenkammern und Schnürböden der pansophischen Theorie, im Rückgriff auf paracelsische oder – aus noch weiterer Ferne – neuplatonische Traditionen von den Pietisten aufgegriffen und an spätere Epochen weitergegeben ist, ist in Umrissen bekannt.1 Der federführend von Hartmut Lehmann gestaltete Band 4 der großen Geschichte des Pietismus (Glaubenswelt und Lebenswelten) hat diese untergründige Traditionslinie überall aufscheinend im Feld der Philosophie und Psychologie, im Geschichtsdenken, den Sexual- bzw. Ehelehren und in der Gebetspraxis, in der Wirkung auf unsere Sprach- und Literaturgeschichte und natürlich besonders auf die Herausbildung der modernen Medizin und Pharmazie vielfältig sichtbar werden lassen.2 In den Literaturwissenschaften hat man besonders die Einflüsse spiritualistischer, alchimistischer, radikal pietistischer Denkmuster für die Enthusiasmus- und Genieerfahrung in der frühen Goethezeit herausgestellt, für einen Schaffensimpuls kraft innerer Begnadung oder Ein* Beitrag zur im Auftrag der Historischen Kommission zur Erforschung des Pietismus gemeinsam mit Irmtraut Sahmland am 11. und 12. April 2014 im Dominikanerkloster [Evangelischer Regionalverband] in Frankfurt a.M. veranstalteten Tagung „Pietismus und Heilkunst. Ethik, pansophisch-alchimistische und magnetische Traditionen“. 1 Vgl. einführend in diese Tradition Walter Pagel: Paracelsus als „Naturmystiker“ [und] ders.: Johannes Baptista van Helmont als Naturmystiker. In: Epochen der Naturmystik. Hermetische Tradition im wissenschaftlichen Fortschritt. Hg. von Antoine Faivre und Rolf Christian Zimmermann, Berlin 1979, S. 52–104 und 169–211 bzw. Wolf-Dieter Müller-Jahncke: Paracelsus [und] Antonio Clericuzio: Johannes (Joan) Baptista van Helmont. In: Alchemie. Lexikon einer hermetischen Wissenschaft. Hg. von Claus Priesner und Karin Figala, München 1998, S. 169–171 und 267–270. 2 Glaubenswelt und Lebenswelten. Hg. von Hartmut Lehmann, Göttingen 2004 (Geschichte des Pietismus, Bd. 4), darin die Artikel von Ulrich Gäbler : Geschichte, Gegenwart, Zukunft, S. 19–48; Johannes Wallmann: Frömmigkeit und Gebet, S. 83–101; Walter Sparn: Philosophie, S. 227–263; Horst Grundlach: Psychologie, S. 309–331; Richard Toellner: Medizin und Pharmazie, S. 332–356; Schrader : Die Literatur des Pietismus – Impulse (2004, L 34), im vorliegenden Band S. 91–114; ders.: Die Sprache Canaan. Pietistische Sonderterminologie (2004, L 35), S. 404–427; Andreas Gestrich: Ehe, Familie, Kinder im Pietismus. Der „gezähmte Teufel“, S. 498–521 und Ruth Albrecht: Frauen, S. 522–555.
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sprache, einen Deus in nobis und eine Erkenntnis per analogiam, dadurch, dass wir nur das erkennen können, dem unsere Wahrnehmungsorgane entsprechen.3 Die aus der Anschauung einer den Menschen umfassenden ganzheitlichen Ökonomie des Kosmos ausdifferenzierbare anthropologisch-medizinische Lehre eines sogenannten animalischen oder Körpermagnetismus wurde – dies ist bislang noch kaum ansatzweise untersucht – ebenso durch den Pietismus weitergereicht und mitgeformt. Pietistische Mediziner und gelehrte Erbauungsschriftsteller der Erweckungsbewegung wurden die einflussreichsten Vermittler dieses in der Hoch- und Spätromantik zu größter Entfaltung gelangenden Denksystems. Die gegenüber den Einwirkungen auf den ,Sturm und Drang‘ wenigstens ebenso große Bedeutung einer Transformation pietistischer Theoreme und Argumente für die gut eine Generation spätere Romantik, auch für den nachklassischen „romantischen“ Goethe, bleibt allerdings insgesamt noch grundlegend zu erforschen.4 Das liegt zunächst daran, dass die Pietismusforscher nur selten Kenner auch der naturphilosophischen und poetischen Schriften der Romantik sind und vice versa, dass ferner die Erforschung von Spätpietismus und Erweckungsbewegung auch auf theologisch-frömmigkeitsgeschichtlicher Seite gegenüber der vorangehenden Epoche des beginnenden und mehr und mehr das gesamte protestantische Kirchenwesen durchdringenden Pietismus noch völlig rudimentär ist5 und dass die personalen und theoretisch-motivlichen Konnexionen zwischen Pietismus und Romantik bislang noch kaum an einzelnen Fallbeispielen erhellt worden sind.6 3 Vgl., mit Wegleitung zur früheren Forschung, u. a. Schrader : Vom Heiland im Herzen (1994, L 19), im vorliegenden Band S. 115–133, zuletzt ders.: Schöne Seelen (2013, L 52). 4 In einer früheren Fallstudie für diesen Zusammenhang habe ich mit Nachweis einiger Pilotarbeiten darauf hingewiesen, dass „bei dem aus dem (zumeist radikalen) Pietismus kommenden oder durch ihn weitergegebenen Großmobiliar an Psychologie, Naturspekulation, mystischarkanen und alchemistischen Traditionen oder medizinisch-magnetisch-kabbalistisch-magischen Vorstellungen deren weitergereichte Substanzen wie auch Vermittlungsstränge noch ganz entschieden detaillierterer Erforschung harren“ und dass ein „fruchtbares Forschungsfeld bezüglich des Fortwirkens und der Transformationen pietistischer Konzepte und Axiome, Argumente und Sprachmittel der Romantik einerseits, zum andern aber auch umgekehrt aus romantischen Horizonten in das Denken und die Ausdrucksformen der Erweckungsbewegung und des Neupietismus hinein noch […] zu bestellen bleibt.“ Schrader: „Werd ein Kind!“ (2010, L 45), im vorliegenden Band S. 719 f. 5 Einen wichtigen Fortschritt auf dem Feld des Geschichtsdenkens markiert die Monographie von Jan Carsten Schnurr : Weltreiche und Wahrheitszeugen. Geschichtsbilder der protestantischen Erweckungsbewegung in Deutschland 1815–1848, Göttingen 2011 (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus, Bd. 57). 6 Gründliche Einstiege bieten hier etwa: Kabbala und Romantik. Hg. von Eveline Goodman-Thau, Gerd Mattenklott und Christoph Schulte, Tübingen 1994 (Conditio Judaica, Bd. 7), v. a. im Beitrag von Volker Roelcke: Kabbala und Medizin der Romantik, S. 119–142; ferner Hans-Martin Kirn: Deutsche Spätaufklärung und Pietismus. Ihr Verhältnis im Rahmen kirchlich-bürgerlicher Reform bei Johann Ludwig Ewald (1748–1822), Göttingen 1998 (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus, Bd. 34); Martin Hirzel: Lebensgeschichte als Verkündigung. Johann Heinrich JungStilling – Ami Bost – Johann Arnold Kanne, Göttingen 1998 (Arbeiten zur Geschichte des Pie-
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II. Ein solches exemplarisches Fallbeispiel möchte ich hier vorstellen, bei dem die ungebrochene Überlieferungstradition derselben autobiographischen Erzählung gut erkennen lässt, wie sich die Auffassungen und Deutungen von einem Modell göttlicher Führung, Erweckung und außergewöhnlicher Begnadung hin zu einem Lehrparadigma für magnetisch-psychologische Begabungen und Gesetzmäßigkeiten verschieben. Denn vom 17. bis ins 20. Jahrhundert hat die fromme Exempelerzählung von dem 1633 in Engerhafe im ostfriesischen Brookmerland zwischen Aurich und Norden geborenen Bauernsohn Hemme Hayen (richtiger Heyen geschrieben, ich bleibe aber bei der durch die Jahrhunderte überlieferten Namensform)7 eine erstaunliche Karriere gemacht. Dieser gesellschaftlich unscheinbare Mann hatte zusammen mit seiner ihm in allen seinen wunderlichen Zumutungen treu ergebenen Frau aus der Dorf-Nachbarschaft, Imme Lamberts, und mit zwölf, meist schon jung verstorbenen Kindern nahe des elterlichen Hofs selbst einen Bauernbetrieb geführt, den „Baumhof“ in Upgant bei Marienhafe.8 Im Alter hatte er, offenbar als „Schwärmer“ aus der Heimat vertrieben, Anschluss an die Freundeskreise Gichtels und Brecklings in Amsterdam gefunden.9 Was er „auff Begehren einiger Freunde“ bei einem Spaziergang zwischen Leer und dem östlich davon gelegenen Loga am 10. Mai 1689 von seinem Leben und seinen Gesichten erzählt hat, haben diese auftismus, Bd. 33) sowie Burkhard Dohm: Poetische Alchemie. Öffnung zur Sinnlichkeit in der Hohelied- und Bibeldichtung von der protestantischen Barockmystik bis zum Pietismus, Tübingen 2000 (Studien zur deutschen Literatur, Bd. 154). 7 Begründung der korrekten Namensform „Heyen“ (nach dem Vater Heye Lübben) in der Spitzenfußnote zur Edition jener im Archiv der Franckeschen Stiftungen erhalten gebliebenen handschriftlichen Version der Lebensgeschichte, die der Hallesche Emissär Hieronymus Brückner zur Prüfung des Falles mitgebracht hatte, in Walter Hollweg: Die Geschichte des älteren Pietismus in den reformierten Gemeinden Ostfrieslands von den Anfängen bis zur großen Erweckungsbewegung (um 1650–1750), Aurich – Leer 1978 (Abhandlungen und Vorträge zur Geschichte Ostfrieslands, Bd. 57), Anhang 3, S. 215–230, hier S. 215, unter Berufung auf Menno Smit: Ostfriesische Kirchengeschichte, Pewsum 1974, S. 332. – Außer in den (vom postumen Herausgeber der Monographie Hollwegs, Heinz Ramm, überarbeiteten) Fußnoten zu dieser Edition wird aber auch in dieser grundlegenden Arbeit sinnvollerweise die in allen Quellen und der gesamten Wirkungsgeschichte überlieferte Namensform „Hayen“ beibehalten. 8 Ergänzende Nachricht in der Sammlung mennonitisch-philadelphischer Mystikerzeugnisse von Michiel Vinke: De Zilvere Arke, bestaande in Geestelyke Gezangen, Stichtelyke Rymen en Historie-Liederen, Haarlem: Izaäk Ensched8, 1723. Vgl. das Titelblatt des in der UB Amsterdam einzig erhaltenen Exemplars dieser gedruckten Version der variantenreich schon 1689 und 1692 handschriftlich verbreiteten Sammlung bei Hollweg: Die Geschichte des älteren Pietismus (wie Anm. 7), Abb. 6 und die detaillierten Angaben über die Sammlung, ihren Hintergrund und die Verbreitung ebd., S. 180–183, 189 sowie, mit Übersetzungen aller dort (auch in den Varianten der Handschriften) aufgenommenen Hayen-Bezeugungen, S. 230 f. 9 Dazu Hollweg: Die Geschichte des älteren Pietismus (wie Anm. 7), S.189 f.
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geschrieben und handschriftlich verbreitet. August Hermann Franckes Emissär, der Waisenhausinspektor Hieronymus Brückner, hat eine solche Handschrift nach Halle gebracht, wo sie erhalten geblieben ist; Walter Hollweg hat sie 1978 kritisch herausgegeben.10 Publiziert wurde die Erzählung zuerst in niederländischer Sprache (die Hayens friesischem Platt ja verwandt ist): Levensloop van Hemme Hayen, Op begeeren van eenige Vrienden door hem verhaald, en door de zelven aldus opgeschreeven, den 10 Mey, Ao 1689, Haarlem, bei Izaac Ensched8 1714. Davon hat es 1745 noch eine zweite Auflage gegeben.11 Ein Bild von Hemme Hayen gibt es nicht. Fast unbegreiflich aber ist die Konstanz des Erinnerns und Wiederaufgreifens der Geschichte dieses unscheinbaren, trotz des erwähnten Hausgesindes in aussichtsloser Bedürftigkeit lebenden Landsmanns angesichts der phantastisch-unglaubwürdigen und durch die Fallhöhe zwischen erhabenunaussprechlichen göttlichen Gesichten und ihrer Konstellation mit trivialsten Fakten passagenweise unerträglich banal wirkenden Berichte. Holprig auch im Aufbau und in sprachlicher Redundanz ergeben sie den Eindruck einer vollends ins Triviale abgesunkenen Mystik. Und wo diese herkommt, zeigen auch die angedeuteten Referenzen. Einflussreich für den Knaben, der schon als Kind seinen Vater verliert und lutherisch aufwächst, werden zuerst sein mennonitischer Stiefvater und die Lektüre, in die er sich vergräbt – durch einen Unfall lebenslang gehbehindert, kann er nicht an den Spielen der anderen Heranwachsenden teilnehmen – , die Bibel und mystische Lektüren wie Thomas / Kempis’ Nachfolge Christi und Christian Scrivers Seelenschatz. 10 Die (gegenüber der bloßen Datierung in der „Historie Der Wiedergebohrnen“) genaueren Umstände des Aufschreibens durch die Hayen nach seinen geistlichen Erlebnissen ausfragenden Gesinnungsfreunde sind in dieser Hallenser Handschrift angegeben. Über die Übermittlung in die Franckeschen Anstalten informiert Hollweg: Die Geschichte des älteren Pietismus (wie Anm. 7), S. 183 und 187 sowie bei der Edition dieser Quelle S. 215–230. – Anscheinend hat der Übermittler Brückner Geistesoffenbarungen mit ähnlicher Grundsatzkritik an den Konfessionskirchen zugunsten eines außerinstitutionell philadelphischen Christentums auch sonst fleißig gesammelt und handschriftlich verbreitet. Das Manuskript von 9 Textseiten, „Eine Botschafft an die Philadelphische Gemeinde wo sie auch immer zerstreuet sein mag den 30 t May St.Vt. 1695“, das sich in den „Acta Pietistica“ der StUB Göttingen erhalten hat, trägt die Aufschrift: „Bezeugt durch Jane Leade zu London in Engellandt. Dieses hat Herr Schönberg von Erfurt mit bracht von Herrn D. Brücknern.“ Nachweis bei Schrader: Literaturproduktion (1989, L 1), S. 376. 11 Titel-Kopie der zweiten Auflage „Te Haerlem, – Gedrukt by Izaak en Johannes Ensched8“, 1745, aus dem Besitz des British Museum bei Hollweg: Die Geschichte des älteren Pietismus (wie Anm. 7), Abb. 7. Das Verb „verhalen“, erzählen, leitet sich vom Substantiv „verhaal“, Geschichte, Erzählung, ab. Alle Angaben über Hemme Hayen, von dem sich ergänzende Lebenszeugnisse nur bei Vinke: De Zilvere Arke (wie Anm. 8) erhalten haben, beruhen auf dieser Quelle und den wenigen Zusatzinformationen der Halleschen Handschrift. Sie sind aus profunder kirchengeschichtlicher Detailkenntnis (also mit korrigierter Schreibung von Namens- und Ortsangaben) zusammengetragen bei Hollweg: Die Geschichte des älteren Pietismus (wie Anm. 7), S. 180–192 und in den Kommentaren zur kritischen Handschrift-Edition ebd., S. 215–231, danach übersichtlich zusammengefasst im Artikel von Martin Tielke: Hemme Hayen (Heyen). In: Biographisches Lexikon für Ostfriesland. Hg. von Martin Tielke, Aurich 1993, S. 148 f.
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Später wird er, seine auf den 4. Februar 1666 genau datierte „Erleuchtung“ vorbereitend, von dem spiritualistischen Kreisen zugetanen lutherischen Prediger zu Marienhafe, Benjamin Potinius,12 an Traktate von Jacob Böhme gewiesen. Mit dem kirchenkritischen Kirchenmann diskurriert er bei beständigen Hin- und Herbesuchen Böhmes Lehren und Offenbarungen, von ihm wird er in seinem häufig wiederholten Wunsch unterstützt, doch womöglich auch selbst solcher Begnadungen gewürdigt zu werden. Von ihm auch wird er dann geistlich sensationsbegierig über seine Gesichte und wiederholten Begegnungen mit Gott, Vater und Sohn, ausgefragt. Potinius attestiert ihm, seine unbewusst und unverständlich hervorgestoßenen Glossolalien „mit außländischen Worten“ seien in den Bibelsprachen Hebräisch, Griechisch und Latein erfolgt, worauf Hayen antwortet: „Ich weiß nicht / was es ist: allein es heißt so.“13 Zunächst in Kontakt mit den mennonitischen „Feinen“,14 hält er sich dann, weil ihm keine Gemeinschaft Genüge gibt, von allen Gemeinden fern, zeigt ihm doch eine Vision, wie alle Konfessionen vor dem Tor zum Himmel anhalten müssen, während die wahren Gläubigen aus ihnen die (Apk 3,8 der philadelphischen Gemeinde verheißene) „offene Tür“ passieren dürfen.15 Auf biblische, brautmystische, böhmistische, spiritualistische und philadelphische Vorstellungen, Formeln und Bildvorstellungen lassen sich die Hayenschen Bekundungen durchweg zurückführen,16 doch erscheinen deren 12 Vgl. zum Hintergrund und Kontaktsystem dieses Benjamin Potinius, dessen Vater Conrad Potinius bereits als lutherischer Pastor ein radikaler Spiritualist gewesen war und Umgang hatte mit ebenso radikalen Philadelphiern und Kirchenkritikern wie Paul Felgenhauer und Friedrich Breckling, Hollweg: Die Geschichte des älteren Pietismus (wie Anm. 7), S. 184, vgl. 218. Dort wird S. 185 f. wahrscheinlich gemacht, dass Einflüsse in gleicher Richtung auch von den in dieser Zeit wieder vermehrt in Ostfriesland aktiven Anhängern des Täuferführers David Joris auf Hayen anzunehmen sind, dessen Schriften für mehrere seiner Gesichte vorbildlich gewesen sein dürften. 13 Reitz: Historie Der Wiedergebohrnen. Neudruck (1982, L 2), Bd. 2, „Zehende Historie Von Hemme Hayen Lebens=Lauff“ im V. Teil, Idstein 1717, S. 169–199, hier S. 184. Justinus Kerner: Die Seherin von Prevorst – Eröffnungen über das innere Leben des Menschen und über das Hereinragen einer Geisterwelt in die unsere. I. u. II. Teil, Stuttgart – Tübingen: J. G. Cotta 1829, hier Teil I, S. 284 und 277, behauptet ein solches Sprachenwunder auch von seiner magnetisch behandelten prophetischen Patientin Friederike Hauffe, geb. Wanner (1801–1829). 14 Zu dieser Gruppierung der Nadere Reformatie und zu Hayens sowie seines Stiefvaters Bindung an sie vgl. Hollweg: Die Geschichte des älteren Pietismus (wie Anm. 7), S. 183 f., 218, 224. 15 Ebd., S. 187. Die Bedeutung des Bibelspruchs zur Symbolisierung des Eintritts der Wiedergeborenen aus allen Konfessionen ins Himmlische Jerusalem bis hin zum Titelkupfer der von philadelphisch gesonnenen radikalen Pietisten neu übersetzten und kommentierten ,Berleburger Bibel‘ (1726–1742) ist reflektiert bei Schrader : Zores in Zion (2009, L 44), im vorliegenden Band S. 591–623, hier S. 597–602, 617–621. 16 Hollweg: Die Geschichte des älteren Pietismus (wie Anm. 7), S. 182 f., 184, 189 f. weist philadelphisches Gedankengut nicht nur bei den die „Zilvere Arke“ tragenden Mennonitenkreisen und entsprechende Kontakte in der Potinius-Familie nach, sondern legt auch nahe, dass Hayen über den weniger als zehn Kilometer von seinem Geburts- wie auch Wohnort residierenden Verbindungsmann der Londoner Philadelphischen Sozietät um Jane Leade und Thomas Bromley, Dodo Freiherr zu Inn- und Knyphausen, auch mit dieser in persönliche Bezüge geraten
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Gehalte weithin trivialisiert, mit an magische Formeln gemahnenden Geistanweisungen und blinden Motiven so angefüllt, dass man geneigt ist, von einer Mystik zu reden, die vom Kothurn des Erhabenen niedergestiegen ist in die Hauspantoffeln: Als der Prediger weggegangen war / sagte der Geist zu mir : Ziehe deine Schuhe an; (dann ich hatte Pantoffeln an:) allein binde den lincken Schuh nicht zu! Ich that also. Wiederum sprach diese Stimm / welche auch sehr deutlich war : Gehe aus! ohne daß ich wußte / wohin. Ich gieng zu unserer Vorder=Thür hinaus / und […] thate (welches so seyn mußte) die Thür hinter mir zu. Als ich aber nun hinaus=gekommen war / wurde ich von einer Person geleitet / welche beständig mit mir redete / und der HErr JEsus selbst war ; gleichwie er auch selbst mit deutlichen Worten wol=versichert mir zu erkennen gab / und sagte: Förchte dich nicht! Dann Ich bins selber. […] Und allda wurden sonderbare Dinge gesprochen / die nicht dienen gesagt zu werden.17
III. Dass Johann Henrich Reitz die an Wunderbarem und Wunderlichem randvolle Bezeugung als „Zehende Historie / Von Hemme Hayen Lebens=Lauff“ 1717 aufgenommen hat in den V. Teil seiner danach noch in zwei weiteren Auflagen weit verbreiteten Exempelsammlung vorbildlicher Muster göttlicher Lebensführungen, der Historie Der Wiedergebohrnen,18 und ihn dadurch vor raschem Vergessenwerden bewahrt hat, ist leicht biographisch erklärbar. Schließlich hatte er selbst 1697 seine Stellung als Superintendent („Inspektor“) und Hofprediger in der Grafschaft Solms-Braunfels verloren, weil er für den mit ganz ähnlichen Visionsaussprachen Unruhe in die leichtgläubige und ist. Vgl. den Überblick über die vielgliedrige Geschichte der philadelphischen Bestrebungen bei Schrader: Literaturproduktion (1989, L 1), im vorliegenden Band S. 44–62, und ders.: Zores in Zion (L 44, 2009), im vorliegenden Band S. 591–623; vgl. auch Peter Vogt: ,Philadelphia‘ – Inhalt, Verbreitung und Einfluss eines radikal-pietistischen Schlüsselbegriffs. In: Interdisziplinäre Pietismusforschungen. Beiträge zum Ersten Internationalen Kongress für Pietismusforschung 2001. Hg. von Udo Sträter [u. a.], Bd. 2, Halle 2005 (Hallesche Forschungen, Bd. 17/2), S. 837–848. 17 Reitz: Historie Der Wiedergebohrnen. Neudruck (1982, L 2), Bd. 2, V. Teil, S. 189 f. 18 Ebd., S. 169–199. Zum Gesamtwerk kam der V. Teil erst in der 4. Auflage hinzu und wurde dann postum wieder aufgelegt in der 5. Auflage, Berleburg 1726 und in der 6. Auflage 1742. Übersicht über die Auflagengeschichte im Anhang der Edition, ebd., Bd. 4, S. 191*–195*, vgl. auch Schrader: Literaturproduktion (1989, L 1), S. 87–89 und 107. Wie die Transkription der in Halle aufbewahrten Handschrift und die ihr in den Fußnoten kritisch hinzugesetzten wenigen Varianten der Reitz’schen Hayen-Historie zeigen, hat Reitz offenbar nicht, wie bisher angenommen wurde, eine eigene Übersetzung der angegebenen niederländischen „Levens=Loop“-Publikation erstellt, sondern hatte eine der kursierenden Handschriften als Grundlage, die der von Brückner für Halle beschafften sehr ähnlich war, aber zufolge der signifikanten Unterschiede doch kaum dieselbe gewesen sein kann.
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nach religiösen Sensationen begierige Bevölkerung tragenden Kasseler Separatisten Balthasar Christoph Klopfer eingetreten war. Er hat nie wieder ein Kirchenamt angenommen. Philipp Jacob Spener hat ihm, wenngleich vorsichtiger, zugestimmt: Es sei nicht auszuschließen, dass Klopfers Verhalten und Bekundungen vom göttlichen Geist diktiert seien.19 68 Jahre, nachdem die wunderliche Geschichte in der letzten Auflage der Historie Der Wiedergebohrnen nochmals unter die Leute gekommen war, erschien 1810 in Nürnberg anonym eine Separatausgabe, deren Titel schon die gründlich veränderte Blickrichtung auf die Offenbarungserzählung erkennen ließ: Lebensgeschichte des Hemme Hayen, eines niederländischen Bauern und wahrhaften Clairvoyanten, nebst einigen Bemerkungen des deutschen Herausgebers.20 Der anonyme Herausgeber war zufolge der (leider unbelegten) Zuschreibung der Spezialforschung der aus pietistischem Pfarrhaus stam19 Biographische Grundinformation: Rudolf Mohr: Ein zu Unrecht vergessener Pietist: Johann Henrich Reitz (1655–1720). Leben und Werk. Korrekturen und Ergänzungen der Biographie. In: Monatshefte für Evangelische Kirchengeschichte des Rheinlandes 22 (1973), S. 46–109, zur Klopfer-Affäre S. 72–88. Bei Hollweg: Die Geschichte des älteren Pietismus (wie Anm. 7), S. 187 f. sind die Angaben zu Reitz vielfältig fehlerhaft. Neuere „Reitz“-Artikel (mit Lit.) von Erich Wenneker in: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon. Hg. von Friedrich Wilhelm Bautz und Traugott Bautz. Bd. 7, Herzberg 1994, Sp. 1587–1592 und Udo Sträter in: Religion in Geschichte und Gegenwart. 4. Aufl., Bd. 7, Tübingen 2004, Sp. 256. – Reitz hatte Klopfer und sein eigenes Verhalten verteidigt in einem Traktat, der die Möglichkeit fortgesetzter göttlicher Offenbarungen an die Menschen bis heute postuliert, die die biblische Botschaft ergänzen und präzisieren können, „Ein Kurtzer Begriff Deß Leidens / der Lehr / und deß Verhaltens Joh. Henrichs Reitzen. [Offenbach] Außgefertiget Im Jahr Christi 1698.“ Gegen diese Apologie hatte Johann Eberhard Scholl unter dem Kryptonym J.E.S. eine Replik gerichtet: Eine einfältige kurtze Erforschung und Widerlegung des Kurtzen Begriffs [o.O., wohl auch Offenbach] 1699, und dagegen hatte der Angegriffene eine Duplik verfasst: Joh. Henrich Reitzen Send=Schreiben […] worinnen er gebührend antwortet Auff Hn. Joh. Eberhard Schollen […] Einfältige Kurtze Erforschung, Offenbach 1699. Zum Streitschriftenkrieg und den zeitgenössischen Reaktionen vgl. Rudolf Mohr: Niederländer und Niederländische Literatur in der „Historie Der Wiedergebohrnen“ von Johann Henrich Reitz. In: Pietismus und R8veil. Hg. von J. van den Berg und J.P. van Dooren, Leiden 1978 (Kerkhistorische Bijdragen, Bd. 7), S. 192–206, hier S. 195 f. und Schrader: Literaturproduktion (1989, L 1), S. 557 f., 581–583. – Spener hat sich zu der Affäre in Briefen vom 6. September 1697 und 29. Oktober 1697 sowie in einem ausführlichen Gutachten vorsichtig abwägend mit einem „bekäntnüß meiner ungewissenheit in dergleichen dingen“ geäußert: Was Klopfer, den er für „einen es mit GOtt nicht allein treumeynenden, sondern auch in feinem licht der erkänntnüß stehenden mann“ halte, da offenbart habe, „gemahnet mich unterschiedlich an Jacob Böhmens schreib=art, die ich von dem wenigen, was darvon angesehen, auch nicht verstehe, und mich daher des urtheils über ihn zu enthalten benötigt finde“. Dass solche Offenbarungen göttlich inspiriert seien, dürfe man nicht ausschließen, andererseits müsse man die Gefahr sehen, dass sich dabei „auch falsches Licht unter das wahre mit einschleichet“. Jedenfalls bedaure er „nicht allein, daß der mann […] hart tractiret, sonderlich ferner Herr Reitz seinetwegen verstossen worden, auch Herr D. Horch der sache wegen in das getränge kommet.“ Philipp Jacob Spener : Letzte Theologische Bedencken / und andere Briefliche Antworten, Halle 1721, 3. Teil, S. 430–434, 573 f., vgl. 1. Teil, S. 231–246. 20 Lebensgeschichte des Hemme Hayen […]: Nürnberg, in der Steinschen Buchhandlung 1810. Das Werk ist erhalten in der BSB München, auch digitalisiert im Internet.
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mende romantische Naturphilosoph Gotthilf Heinrich Schubert.21 Der hatte, nach einem Theologiestudium 1803 in Jena als Mediziner promoviert, 1806 auf Anregung Adam Müllers und Heinrich von Kleists die vielbesuchten Dresdener Vorträge über Magnetismus, Clairvoyance und Träume gehalten, die fundamental auf Kleists poetische Inventionen eingewirkt haben,22 war dann 1808 mit dem Grundbuch der romantischen Naturphilosophie, Ansichten von der Nachtseite der Naturwissenschaft, hervorgetreten. Dass er selbst die Hayen-Geschichte neu bearbeitet und gedeutet hat, wird dadurch nahegelegt, dass er in seinem Grundlagenwerk Die Symbolik des Traumes 1814 nicht nur zahllose Belege auf die Reitz’sche Historie Der Wiedergebohrnen gegründet hat,23 sondern auch Hemme Hayen unter Hinweis auf die Sepa21 Vgl. den gründlichsten biographischen Artikel von Dieter Wölfel: Gotthilf Heinrich (seit 1853 von) Schubert. In: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon (wie Anm. 19), Bd. 9, Herzberg 1995, Sp. 1030–1040, hier Sp. 1033. Die auch sonst häufiger aufgegriffene Zuschreibung geht offenbar zurück auf die profund informierende Studie des Kirchenhistorikers Friedrich Wilhelm Kantzenbach: Gotthilf Heinrich von Schubert (1780–1860). Zur Bedeutung seines Briefwechsels für die Geschichte der Erweckungsbewegung. Mit einem Verzeichnis von Schuberts Schriften. In: Erlanger Beiträge zur fränkischen Heimatforschung 25 (1978), S. 6–25, hier S. 22 („G.H. Schuberts Schriften“, Nr. 7): „Leben des Hemme Hayen, Nürnberg 1810“. Zur Bedeutung Schuberts für die Erweckungsbewegung vgl. auch Ernst Staehelin: Die Zeit der Christentumsgesellschaft von der Zeit der Erweckung bis zur Gegenwart. Texte aus Briefen, Protokollen und Publikationen, Basel 1974, S. 133 und Register (S. 697). 22 Dazu grundlegend Katharine Weder: Kleists magnetische Poesie. Experimente des Mesmerismus, Göttingen 2008. Kulturgeschichtlicher Aufriss zu Magnetismus und Somnambulismus ebd., S. 19–108, „Zum biographisch-historischen Kontext: Kleist und der animalische Magnetismus“, insbesondere zum Einfluss Schuberts S. 109–134, mit den Konsequenzen für die Werkanalyse S. 135–382. Als anstoßender Hinweis, auch mit Erörterung der aus dem Pietismus kommenden Vorgaben und der Relevanz für das Verständnis insbesondere von „Cäcilie“ und „Käthchen“, „Bettelweib“, „Kohlhaas“ und „Homburg“, bereits Schrader: Kleists Heilige (2003, L 31) (Vorversion bereits in dem für die internationale Medizin- und Kulturgeschichte des Magnetismus belangvollen Sammelband: Traces du mesm8risme dans les litt8ratures europ8ennes du XIXe siHcle. Hg. von Ernst Leonardy [u. a.], Brüssel 2001 [Travaux et recherches, Bd. 45], S. 93–117). Vgl. bereits Ursula Thomas: Heinrich von Kleist and Gotthilf Heinrich Schubert. In: Monatshefte für deutschen Unterricht 51 (1959), S. 249–261. – Bedeutsam als Vermittlungsinstanz elektromagnetischer Theorien der menschlichen Psyche zwischen dem pietistischen Theosophen Friedrich Christoph Oetinger und Schubert sowie noch Justinus Kerner ist der ebenfalls in pietistischer Tradition stehende Heilbronner Arzt Eberhard Gmelin („Ueber Thierischen Magnetismus“, Tübingen 1787). Vgl. dazu Gerhard Bauer: Eberhard Gmelin, sein Konzept des „thierischen Magnetismus“ und sein Einfluß auf Justinus Kerner. In: Medizin und Romantik. Justinus Kerner als Arzt und Seelenforscher. Hg. von Heinz Schott (= Justinus Kerner. Jubiläumsband zum 200. Geburtstag), Teil 2, Weinsberg [1990], S. 224–231, vgl. auch Stephen R. Huff: Heinrich von Kleist und Eberhard Gmelin. Neue Überlegungen. In: Euphorion 86 (1992), S. 221–239, Ingrid Kollak: Literatur und Hypnose. Der Mesmerismus und sein Einfluß auf die Literatur des 19. Jahrhunderts, Frankfurt – New York 1997, S. 87 und Schrader: Kleists Heilige (2003, L 31), S. 88, Anm. 42. – G[otthilf] H[einrich] Schubert: Ansichten von der Nachtseite der Naturwissenschaft, Dresden 1808, reprograph. Nachdr. Darmstadt 1967, S. 327, 330, 338, 344, 349 preist Gmelins aller Scharlatanerie der Wunderheiler entsagenden medizinisch-wissenschaftlichen Magnetismus und beruft sich wiederholt auf ihn. 23 G[otthilf] H[einrich] Schubert: Die Symbolik des Traumes, Bamberg 1814. Reprint: Mit einem
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ratausgabe unter die „Beyspiele einer […] höheren Clairvoyance“ stellt.24 Noch 1817 führt er im ersten Band seiner neupietistischen Sammlung erbaulicher Anekdoten, Altes und Neues aus dem Gebiet der inneren Seelenkunde, Hemme Hayen als Beispiel für die dem Weltmenschen unverstehbare fromme Leidensbegierde an, die „gerade in dem, was die Welt Leiden nennt, den Trost und die Nähe der ewigen Liebe“ verspürt.25 Übrigens ist Schubert, nach Kantzenbachs Urteil eine „Zentralgestalt der deutschen Erweckungsbewegung“, selbst 1863 noch – in Tholucks Sonntags=Bibliothek – zum Gegenstand einer neupietistisch-erbaulichen Musterbiographie (von immerhin 214 Seiten Umfang) geworden.26 Bereits das Vorwort zur Clairvoyanten-Geschichte betont, wie es da heißt, dessen „eigentümlich einfältige“27 Schilderungen seien zum Theil sehr mit den gewöhnlichen Erscheinungen des Somnambulismus verwandt: Mit dem lezteren theilen sie auch die gleichsam symbolische Traumgestalt, die sie hie und da zeigen. […] Aus diesem Grunde besonders, hat man es für gut gehalten, diese längst vergeßene Geschichte […] noch einmal in den Druck zu geben.28
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Nachwort von Gerhard Sauder, Heidelberg 1968 (Deutsche Neudrucke. Reihe [4] Goethezeit [Bd. 9]), S. 61, 64, 130, 137, 152, 174, 176–182. Ebd., S. 21 f. Mit Fußnote S. 22: „Leben des Hemme Hayen, eines niederländischen Bauren, Nürnberg 1810.“ Implizite Hinweise auch auf S. 104 und 133. Gotthilf Heinrich Schubert: Altes und Neues aus dem Gebiet der inneren Seelenkunde, Bd. 1. [1817]. Zweite Ausgabe, Leipzig 1825, S. 413. Er beruft sich hier (S. 444) aber zum Beleg nicht auf die Einzelausgabe der Hayen-Autobiographie von 1810, sondern auf die gerade herausgekommene bekannte Sammelbiographie Johann Arnold Kannes: „Auf eine ähnliche Art äußerte sich auch Hemme Hayen über das Ausbleiben der äußeren Leiden. M[an] s[ehe] Kannes Lebensbeschreibungen.)“. Auf die „Historie Der Wiedergebohrnen“ rekurriert Schubert dort ebenfalls in Bd. 3 (2. Aufl.), Erlangen 1838, S. VI und 145 sowie Bd. 4/1 (2. Aufl.), Erlangen 1841, S. 177. K[arl] Schneider: Gotthilf Heinrich von Schubert. Ein Lebensbild, Bielefeld 1863 (Sonntags=Bibliothek. Lebensbeschreibungen christlich-frommer Männer zur Erweckung und Erbauung der Gemeine, hg. von Ernst Müller, eingeleitet von Friedrich August Gottreu Tholuck, Bd. 1, H. 3). Neudruck (Nabu-Press) 2011. Zu Schuberts Bedeutung für die Erweckungsbewegung vgl. Kantzenbach: Gotthilf Heinrich von Schubert (wie Anm. 21), S. 7 (Zitat) und 9–15. Lebensgeschichte des Hemme Hayen (wie Anm. 20), S. 58. Schubert: Altes und Neues (wie Anm. 25), S. 4 f. Damit wird nur implizit auf Reitz’ „Historie“ hingewiesen. Von Reitz übernommen ist auch der Hinweis auf die niederländische Originalausgabe von 1714, die offenbar Anlass zu der irrtümlichen Bezeichnung Hayens im Buchtitel als Holländer gegeben hat. Dieser Irrtum hat Eingang auch in die wissenschaftlichen Abhandlungen gefunden. Vgl. Werner Mahrholz: Deutsche Selbstbekenntnisse. Ein Beitrag zur Geschichte der Selbstbiographie von der Mystik bis zum Pietismus, Berlin 1919, S. 108; Ernst Benz: Die Vision. Erfahrungsformen und Bilderwelt, Stuttgart 1969, S. 274; Mohr : Niederländer und Niederländische Literatur (wie Anm. 19), S. 204, auch in der umfänglichen Fußnote zu Hemme Hayen, Schrader: Kleists Heilige (2003, L 31), S. 106 f. Die phänomenologische Verwandtschaft einiger Begnadungsmomente in den frommen Exempelbiographien mit den an Somnambulen beschriebenen Erscheinungen wird noch von Kerner: Die Seherin von Prevorst (wie Anm. 13), Teil I, S. 7 hervorgehoben.
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Und die somnambulen und Clairvoyance-Erscheinungen werden dort – darauf komme ich später zurück – als typische Phänomene des „Magnetismus“ und der magnetischen Sympathetik erläutert.29 Damit aber ist die alte HayenGeschichte auf dem Höhepunkt der romantischen Bewegung wieder in Konjunktur gekommen. Sechs Jahre später hat sie der zum Missionsschriftsteller der Erweckungsbewegung konvertierte gelehrte Orientalist und Jean-PaulFreund Johann Arnold Kanne als Spitzenbeitrag in den ersten Teil seiner auch sonst häufig auf Reitz’ Historie Der Wiedergebohrnen gegründeten neuen Sammlung erwecklicher Biographien und Selbstzeugnisse (darunter seiner eigenen Bekehrungserzählung) gestellt: Leben und aus dem Leben merkwürdiger und erweckter Christen, Bamberg und Leipzig 1816.30 Ganz bewusst hat Kanne mit dieser (wie auch bei den nachfolgenden Biographien) reichlich popularpsychologisch und paränetisch im Stil romantischer Volkserzählungen ausgeschmückten und so treuherzig moralisierend auf 26 Seiten aufgeschwellten Wiederaufnahme eine heikle, provozierende Eröffnung für sein Sammelwerk gewählt. Am Schluss seiner Eingangsfußnote bekennt er : Ich lasse hier Hemme Hayen, nur die Schreibart ändernd, nach der Reitzischen Uebersetzung erzählen. Mit Fleiß habe ich diese wunderbare Geschichte vorangestellt. Wer sich an dem Buche stoßen will und stoßen muß, der stoße sich hier daran, und gehe dann vorüber.31
Tatsächlich haben sich Interesse und Kritik an Kannes Sammelwerk vorrangig an dieser zumutungsreichen Erzählung entzündet. So ist denn interessanter als die Erneuerung der pietistischen Botschaft, dass Gott seine Erwählten auf vielfältigen, bisweilen anstößig scheinenden Wegen zur Wiedergeburt und Zeugenschaft führt, die ausführliche, über zehn Seiten seiner Vorrede zum zweiten Teil der Sammlung von 1817 füllende Apologie, dass er dieses merkwürdige Stück überhaupt aufgenommen hat. Wortreich nämlich weist er darin die ihm von verehrten Freunden nahegelegte Interpretation als psychologisch-magnetischen Beispielfall zurück.32
29 Lebensgeschichte des Hemme Hayen (wie Anm. 20), S. 58. 30 Johann Arnold Kanne: Leben und aus dem Leben merkwürdiger und erweckter Christen aus der protestantischen Kirche. Erster Theil. Nebst angehängter Selbstbiographie des Verfassers. Bamberg und Leipzig, bey Carl Friedrich Kunz, 1816. Ich zitiere nach dem Exemplar der UB Basel. Vgl. zum Autor und zu diesem Werk insbes. Hirzel: Lebensgeschichte als Verkündigung (wie Anm. 6), S. 153–201 und seither Schrader: Kanonische neue Heilige (2013, L 51), im vorliegenden Band S. 665–700, hier S. 675 f., 682, 696–699. 31 Schluss der Eingangsfußnote in Kanne: Leben und aus dem Leben (wie Anm. 30), S. 1; Kennzeichnung der Kanneschen Bearbeitungstendenzen der Hayen-Biographie bei Hirzel: Lebensgeschichte als Verkündigung (wie Anm. 6), S. 189 sowie (am Beispiel der Beata-Sturm-Biographie) bei Schrader: Kanonische neue Heilige (2013, L 51), im vorliegenden Band S. 677, und (am Beispiel der Biographie Christian Hoburgs) ders.: „Reisset nieder ewer Inwendiges Babel“ (2012, L 48), im vorliegenden Band S. 353–380, hier S. 354 f., 357 f. 32 Kanne: Leben und aus dem Leben merkwürdiger und erweckter Christen aus der protestanti-
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Im Spannungsfeld zwischen dem ironischen Verriss als einer Phantasiegeschichte, die sogar pietistisch Gläubigen allzu große Leichtgläubigkeit abverlange, und der Präsentation als kostbares Zeugnis für ein magnetisch erhöhtes Bewusstsein bewegen sich die Reaktionen auch in den wiederum ganz unproportional der Hemme-Hayen-Erzählung gewidmeten Rezensionen des Kanneschen Werkes. Hohn und Spott gießt die Augsburgische Ordinari Postzeitung darüber aus und rechnet durch bloßes Zitieren und Paraphrasieren mit dem neupietistischen Zeitgeist der Erweckungsepoche ab: Wer Kontraste liebt, nehme […] das Buch zur Hand: „Leben und aus dem Leben erweckter Christen aus der protestantischen Kirche“, von Herrn Professor Kanne. Da kommt gleich zuerst ein gewisser „Hemme Hayen“ vor, zu dem der liebe Gott sagt: „Wenn jetzt dein dreijähriges Söhnlein ins Feuer fiele, würdest du dich unterstehen, (es) zu retten? Nein, Herr, antwortete Hemme Hayen, und übergab das Kind gänzlich Gott dem Herrn. Und als es wirklich fiel, und der Vater meynte, es müsse ins Feuer gefallen seyn, half er ihm nicht auf.“ Was für Armseligkeiten man seit einiger Zeit unter dem Titel „Frömmigkeit und Erweckung“ verkauft, ist nicht auszusprechen.33
Die Jenaische Literatur-Zeitung widmet der Kanneschen Sammlung gleich zwei ausführliche Besprechungen, deren erste, vom Februar 1818 und gezeichnet mit dem Kryptonym „H J K L“, 16 große Spalten lang, aus „neologischer“, d. h. christliche mit aufklärerischen Argumenten verbindender Warte recht ausgewogen den Ertrag des Sammelwerks herausstellt, aber doch mit spezifischem Bezug auf die Hayen-Geschichte (auch bereits deren verunglückte Abraham-Isaak-Postfiguration) zu erkennen gibt, dass er manches hier Gepriesene für Folge beschränkter Ansicht oder irregeleiteter und kranker Einbildungskraft hält […] und dass er es für schädlich ansieht, Verirrungen und Beschränktheit als höhere Vollkommenheit, und eine gewisse Gestalt der Frömmigkeit als das Wesen derselben vorzustellen.34
Mit der nüchternen Detailvorstellung des Kanneschen Werks waren die Herausgeber des Jenaer Blattes offenbar nicht vollauf zufrieden, jedenfalls ließen sie in den ,Ergänzungsblättern‘ zu ihrer Zeitung eine zweite, nur mit der Sigle „Mpi“ (oder „Mp;“, das ist im Druck nicht klar zu erkennen) gezeichnete erscheinen – mit einem ganz anderen Tenor. In Hayens Berichten erblickt der auf dem Boden romantischer Religiosität argumentierende Nach-Rezensent nun nicht nur ein Zeichen „der Wiedergeburt“ als der „Haupt- und CardinalLehre des Christenthums“, sondern zugleich schen Kirche. Zweiter Theil, Bamberg und Leipzig, bei Carl Friedrich Kunz, 1817, Vorrede, S. VI–XVI. 33 Augsburgische Ordinari Postzeitung von Staats[-], gelehrten, historisch= u. ökonomischen Neuigkeiten. Nro. 187, Donnerstag, den 6. Aug. Anno 1818, S. 4. 34 Jenaische Allgemeine Literatur-Zeitung, Nr. 24, Februar 1818, Sp. 185–192 (Zitat hier Sp. 189) und Fortsetzung Nr. 25, Sp. 193–200 (nochmal zu Hayen in Bezug auf Kannes Vorrede zum II. Teil, wie Anm. 32, Sp. 198–200).
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in der Physik des Geistes wohlbegründete Steigerungen jener Phänomene, die sich z. B. im Somnambulismus oder in dem begeisterten Zustand jedes Menschen von höherem Genius zeigen
und die „im gewöhnlichen magnetischen Zustande etwas Gemeines und Allbekanntes“ sind.35 Auf die wiederum magnetischen Auslegungen komme ich zurück.
IV. Die erstaunliche Karriere der Hemme-Hayen-Geschichte aber ist mit ihrer romantischen Umdeutung noch nicht zu Ende. Nach wiederum größerem Zeitabstand wird sie im 20. Jahrhundert neuerlich, und zwar wiederholt, aufgegriffen: Der Münchner Germanist, Schriftsteller und Journalist Werner Mahrholz, der Hayens Lebensgeschichte bereits unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg in seiner Monographie Deutsche Selbstbekenntnisse als ein Beispiel aufrichtig frommer Gottergebenheit vorgestellt hatte,36 hat sie dann 1921 unter der Überschrift „Der Quietismus“ in seiner umfassenden Quellensammlung Der deutsche Pietismus in einer auch lexikalisch eingreifenden sprachlichen Modernisierung neuerlich nachgedruckt.37 Auszüge in Quellensammlungen sind ihm gefolgt.38 Obwohl Mahrholz neben der Reitz’schen Historie auch die romantische Bearbeitung von 1810 als Quelle ausweist und partiell danach zitiert,39 geht er auf die Auslegung als Dokument einer magnetischen Affektation der Seele gar nicht ein. Hayens sprachliches Ungeschick legt er als das Arrheton der Ergriffenheit in ekstatischer Schau aus. Noch 1969 wird der wunderliche Ostfriese einer der Kronzeugen für visionäres Erleben und Berichten in der epochenübergreifenden Studie Die Vision. Erfahrungsformen und Bilderwelt des Marburger Kirchenhistorikers 35 Ergänzungsblätter zur Jenaischen Allgemeinen Literatur-Zeitung, Bd. 1, Jena 1818 (ohne Monatsangaben), Nr. 30, Sp. 233–240, hier Sp. 236 und 238; Fortsetzung der Besprechung im Folgeheft, ebd., Bd. 1, Jena 1818, Nr. 31, Sp. 241–248, davon noch zur Hayen-Geschichte Sp. 241 f. 36 Mahrholz: Deutsche Selbstbekenntnisse (wie Anm. 28), S. 104, 108 f., 239. Hayen erscheint Mahrholz hier etwas widersprüchlich zugleich als „frommer Ekstatiker“ und (abwegiger) als „durchaus reiner Vertreter quietistischer Mystik“. 37 Der deutsche Pietismus. Eine Auswahl von Zeugnissen, Urkunden und Bekenntnissen aus dem 17., 18. und 19. Jahrhundert. Eingeleitet u. hg. von Werner Mahrholz, Berlin 1921, S. 7, 37–57, 455. 38 Bruno Schremmer: Der Pietismus, Leipzig 1926 (Religionskundliche Quellenbücherei), S. 19–24: „Der Pietismus in den verschiedenen Volkskreisen: Hemme Hayen, der Bauer (um 1675)“. Hollweg: Die Geschichte des älteren Pietismus (wie Anm. 7), S. 188 kritisiert mit Recht, dass dieser erbauliche Auszug „die Eigenart und die Glaubensüberzeugungen des Mannes“ nur unzulänglich spiegele. 39 Mahrholz: Deutsche Selbstbekenntnisse (wie Anm. 28), S. 108, 239 f.
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Ernst Benz.40 Ohne Berücksichtigung der romantischen Interpretation ordnet er dieselben Episoden des Hayen-Berichts, die dort als Kennzeichen magnetischer Kräfte und Heilungspotenzen erläutert wurden, in die phänomenologischen Modelle ein, die er als typisch für visionäre Offenbarungen herausarbeiten kann. Die „heilende Wirkung der Vision“, das „Sprachenwunder“ von Glossolalien, die von Zeugen als Reden in biblischen Sprachen identifiziert werden, die Erfahrung der „Entraffung“, also eines „Erlebens der Trennung der Seele vom Leib und der Schau des ,unten‘ liegenden entseelten Leibes“, die „biblischen Visionen“, die in der Schau Arkana der Heiligen Schrift erschließen, beispielsweise in „einer ökumenischen Vision“.41 Benz nimmt also auch die ersichtlich aus den Predigten in böhmistischer und täuferischer Tradition oder aus dem separatistischen Diskurs aufgeschnappten exzentrischen Bekundungen dieses Landmanns durchaus als Zeugnisse einer visionären Begnadung ernst. Bisweilen jedoch kann er sich der Ironie nicht enthalten, wenn er etwa referiert: So hat eine der biblischen Visionen Hemme Hayens Salomo und seine siebenhundert Frauen und dreihundert Kebsweiber zum Gegenstand. Hemme Hayen ist großzügig genug, ihnen allen die Seligkeit zu versichern,
oder wenn er von anderen Hayen-Offenbarungen über „Kuriositäten der alttestamentlichen Heilsgeschichte“ sagt, sie verharrten auf der Ebene eines „neutralen visionären ,sight-seeing‘“.42 In England erschien übrigens im selben Jahr 1969, zugleich in einer Zeitschrift und als Separat-Ausgabe der Catholic Records Press, eine englische Version der Hayen-Autobiographie.43 Eine eher der wissenschaftlichen Dokumentation dienende bislang letzte Ausgabe der Hayen-Erzählung schließlich hat 1978 Walter Hollweg als Anhang zu seiner Geschichte des älteren Pietismus in den reformierten Gemeinden Ostfrieslands vorgelegt, der die zuvor nie genutzte Abschrift in den Francke40 Benz hat vermutlich, obwohl er sich auf die „Historie Der Wiedergebohrnen“ als Quelle beruft, die Ausgabe von Mahrholz benutzt, denn er bezieht alle Belege (mit den korrekten Seitenangaben der „Historie“) statt auf diese irrtümlich auf Gottfried Arnolds „Unpartheiische Kirchen= und Ketzerhistorie“, vgl. Benz: Die Vision (wie Anm. 28), S. 663–665, 667, 670–672 und Hinweis Schrader : Literaturproduktion (1989, L 1), S. 390, 547. Der Irrtum erklärt sich daraus, dass in den lakonischen Belegangaben bei Mahrholz: Deutsche Selbstbekenntnisse (wie Anm. 28), S. 239, die Nachweise zur (da nur im Bezugstext genannten) „Historie Der Wiedergebohrnen“ direkt auf Belege aus Arnolds Werk folgen und also auf den ersten Blick ebenfalls darauf zu verweisen scheinen. 41 Begriffe jeweils im Kontext ausführlicher Zitate aus Hayens Autobiographie (in der Version der „Historie Der Wiedergebohrnen“) und ihrer paraphrasierenden Ausdeutung bei Benz: Die Vision (wie Anm. 28), S. 29, 216, 274, 461 und 609. 42 Beide Zitate Benz: Die Vision (wie Anm. 28), S. 461 f. 43 The Autobiography of a Seventeenth-Century Pietist [the Dutch Anabaptist Hemme Hayen]. Hg. (und übersetzt) von D[erek] E[dward] Bowman und G[eorge] M[urray] Burnett, Exeter 1969 („Reprinted from the Downside Review, Bd. 87, Nr. 286, January 1969, p. 26–45“). Auf diese Edition stieß ich nur im Internet, sie ist mir nicht zugänglich geworden.
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schen Stiftungen ediert und in Gegenüberstellung mit den wichtigsten Varianten der Historie Der Wiedergebohrnen erläutert. Für die kontroverse Deutungsgeschichte ist Hollwegs Studie insofern von Interesse, als er jene rational unerklärbaren Berichte Hayens, die bislang, wenn nicht als psychopathologische Phantasieprodukte auf der Grundlage von wirr Angelesenem,44 entweder als Kennzeichen einer gläubig nachzueifernden spezifischen Gnadenführung Gottes oder als Wirkung magnetischer Konnexe oder schließlich als charakteristische Erscheinungsformen visionären Erlebens gedeutet worden waren, ohne Kenntnis der romantischen Auslegungen jetzt mit Hinweisen auf Forschungsansätze der zeitgenössischen Parapsychologie verständlicher zu machen sucht. Diese mit der Esoterikwelle seit den Siebzigerjahren des Zwanzigsten Jahrhunderts stark in die öffentliche Diskussion getretene Bemühung, häufig bezeugte unerklärbare Erscheinungen und Gesichte als Manifestationen aus der Geisterwelt zu erfassen und psychologisch zu ergründen, ist seither wieder aus der Mode gekommen. Sie hatte sich aber genau auf jene Phänomene gerichtet, die für den größeren Teil des 19. Jahrhunderts noch durch die Theorie vom tierischen Magnetismus erklärbar schienen, die – bei aller Kritik an mitlaufender Scharlatanerie – bis zu ihrem schrittweisen Außerkursgeraten45 allgemein als seriöses wissenschaftliches Erklärungsmuster akzeptiert war.
V. Ich kann im Folgenden nur exemplarisch die Umdeutung von besonderer Gottesbegnadung in Signale einer körpermagnetisch begründeten Clairvoyance in den Blick bringen und dabei deutlich machen, wie die magnetischen Denkmuster bereits im Pietismus selbst ihre Heimstatt hatten und aus paracelsisch-spiritualistischen Theoremen weitergereicht worden waren. Dabei ist zunächst darauf hinzuweisen, dass mit Magnetismus bei Pietisten wie bei Romantikern im Allgemeinen nicht oder jedenfalls nicht allein die noch recht junge medizinische Applikation und Heilungsmethode gemeint ist, die Franz Anton Mesmer in seinem theoretisch durchaus epigonalen (auf Anregungen besonders von Paracelsus und Maximilian Hell, dem naturexperimentellen Lehrer auch Friedrich Christoph Oetingers, beruhenden) M8moire sur la d8couverte du magn8tisme animal46 ausgerufen und eine Schar von oft win44 Diesen Verdacht hatte schon Hayens Schwester geäußert, als der Bruder ihr offenbart hatte, er fühle sich in den Himmel gehoben: „Bistu auch im Haupt nicht wol verwahrt? Hastu auch zu viel gelesen?“ Reitz: Historie Der Wiedergebohrnen. Neudruck (1982, L 2), Bd. 2, V. Teil, S. 182. 45 Den Paradigmenwechsel in der Akzeptanz des Magnetismus als wissenschaftliches Erklärungsmuster zeigt der Vergleich zwischen den „Magnetismus“-Artikeln der Konversationslexika (Brockhaus und Meyer) zwischen 1820 und 1896, ausgeführt bei Schrader: Kleists Heilige (2003, L 31), S. 70 f. und 84 f. 46 Genf und Paris 1779, deutsche Ausgabe „Abhandlung über die Entdeckung des thierischen
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digen Adepten in skandalumwitterten Wunderkuren mittels magnetischer Bestreichung und Hypnose gewinnbringend umgemünzt hatte. Auch bei Hayen ist einmal von einer außergewöhnlichen Heilung, jedoch ohne menschliche Fremdeinwirkung, die Rede: Kurz nachdem seine Frau gestorben war, hatte ihn – magnetisch deutbar, denn zu ihr hatte er einen zwingenden Seelenrapport, der sie in seine Erleuchtung hereinzog und ihn schon früh zu dem Wissen führte, dass sie vor ihm werde sterben müssen – ein Tertianfieber ergriffen, das ihn in Ohnmacht und zum Empfinden der völligen Auslöschung brachte. Seine dauerhafte Heilung leitet er aber nicht aus einer ärztlichen Therapiebehandlung und nicht aus einem psychischen Kraftzustrom der verstorbenen Frau her, sondern er schreibt sie einer ihn ins Leben zurückführenden Christus-Erscheinung zu.47 Vielmehr geht es erheblich umfassender um weit ältere Hypothesengebäude von magnetisch-fluidalen Elementarkräften im Bauplan der Schöpfung, die alles Geschaffene, den Makrokosmos wie jeden Mikrokosmos ganz analog energetisch durchwirken, die den Menschen im Normalzustand ihres Wachbewussteins aber nicht wahrnehmbar werden. Es geht also um das, „was die Welt im Innersten zusammenhält“, und um Gesetzmäßigkeiten der daran teilhabenden menschlichen Psyche. Sichtbar wird diese alldurchdringende Kraft am Menschen nur selten, im noch vorrationalen Naturzustand und in außergewöhnlich gesteigerten Extremzuständen der Seele, in denen die Verbindung zum Elementaren zutage tritt, in noch unverstellt naturoffenen wie in extrem gesteigerten Seelenlagen, etwa durch religiöse Überwältigung oder in Situationen des Heraustretens der Seelenkräfte aus der Verstandeskontrolle und ihrer Ablösung vom Körper, am häufigsten in schwerer Krankheit oder Todesnähe. In dem alles durchwirkenden Magnetismus und in den ihm verwandt gedachten neu entdeckten Kräften elektrischer Spannungen werden für den Spätpietisten und Romantiker Schubert in seinen Ansichten von der Nachtseite der Naturwissenschaft 1808 die „innre Uebereinstimmung des organischen Lebens mit den kosmischen Momenten der anorganischen Natur“48 greifbar, die umfassende „Harmonie des Einzelnen mit dem Ganzen“49 als „Schimmer einer höheren Welt“50, also „jenes geistige Band, welches die Natur
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Magnetismus“, Karlsruhe 1781, Nachdruck Tübingen 1985 (beides als Digitalisat im Internet). Vorbereitend, aber noch nicht zu Wirkung gekommen waren seine paracelsierende „Dissertatio physico-medica de planetarum influxu“, Wien 1766, und sein „Sendschreiben über die Magnetkur“ (1766, erweiternd umgearbeitet 1775). Reitz: Historie Der Wiedergebohrnen. Neudruck (1982, L 2), Bd. 2, V. Teil, S. 173 (unerklärbar zuströmendes Wissen um ihr Sterben vor seinem eigenen Tod), S. 191 (Unempfindlichkeit und Unversehrtheit bei der Feuerprobe, als durch empfundenen Geistbefehl beide „unsern rechten Fuß mitten ins Feur“ stecken müssen), S. 196 f. (ihr Hineingerissenwerden in seine Erleuchtung „beynahe am Ende ihres Lebens“ und sein lebensbedrohliches Fieber kurz nach ihrem Sterben). Dieses „dreymal […] dreytägige Fieber“ (S. 196) deutet Benz: Die Vision (wie Anm. 28), S. 23. Schubert: Ansichten von der Nachtseite (wie Anm. 22), S. 207, vgl. 205. Ebd., S. 12, vgl. 7. Ebd., S. 374.
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von Glied zu Glied gehend, um alles Lebendige geschlungen, und wodurch die einzelnen Züge zu einer großen Schrift voll tiefen Sinnes werden“.51 Der spätromantische Weinsberger Dichter-Arzt Justinus Kerner wird den Gedanken dann schon in der Einleitung seines dem „verehrungswürdigen Gotthilf Heinrich Schubert“ gewidmeten Buchs Die Seherin von Prevorst noch 1829 so aufnehmen: daß vermöge dieses innern Lebens der Mensch in einer alten ewigen Verbindung mit der Natur steht, von der ihn die einseitige Ausbildung des Gehirnlebens nur scheinbar freistellen kann. Seinem für die Außenwelt thätigen Gehirne wird zwar dieses innere Leben verdunckelt, aber dennoch lebt dieses im Innern sein unabänderliches Leben fort, und hält, ein steter geheimer Wächter, Rechnung über den Haushalt des Aeußern.52
In Schuberts Ausgabe der Lebensgeschichte des Hemme Hayen von 1810 ist der Text, abgesehen von rein graphischer Modernisierung, strikt nach der Historie Der Wiedergebohrnen gegeben. Erst im 12seitigen Anhang Einige Bemerkungen zu der vorstehenden Geschichte tritt die Erläuterung der naturgesetzlich magnetischen Wirkkräfte hinzu, die hier bei einem unverbildet gleichsam im Naturzustand verbliebenen, deshalb auch nur zu so plumper Wiedergabe seines Erlebens befähigten „Menschen von sogenannten geringeren Ständen […], überhaupt Menschen von demüthigem kindlichen Sinne“53 besonders klar hervorträten. In diesem vorreflexiven Zustand nämlich lägen alle künftigen höheren Entfaltungsmöglichkeiten noch so sichtbar zutage, wie die Seziermethode Jan Swammerdams an der Raupe bereits alle Organe und Anlagen des Schmetterlings sichtbar gemacht habe: Man sieht es mit besonderem Intereße und Vergnügen, wenn in dem sogenannten Swammerdammischen Experiment, durch einen leichten Kunstgriff, in der Raupe, nach zerschnittenen, hinweggenommenen Häuten, die Flügel und Fühlhörner des künftigen Schmetterlings sichtbar gemacht werden; oder wenn sich in der Blumenzwiebel die künftige Blüthe, mit all ihren Theilen, deutlich aufzeigen läßt. Mit noch viel höherem Intereße sollte man billiger Weise ein ähnliches Experiment im Großen betrachten, wo in einzelnen Menschen offenbar Anlagen und Kräfte, noch im Zustande des jetzigen Lebens zum Vorschein kommen, die bei den meisten erst in den Frühlingstagen eines neuen Lebens hervorbrechen werden. […] Ein solches 51 Ebd., S. 270, vgl. 153, 380. 52 Kerner: Die Seherin von Prevorst (wie Anm. 13), S. 3, vgl. ebd. die Widmung an Schubert auf dem Vorblatt, S. [V]. Zu Kerners Verbindung mit Schubert, seiner Verehrung für ihn und geistigen Nachfolge vgl. Kantzenbach: Gotthilf Heinrich von Schubert (wie Anm. 21), S. 15. 53 Lebensgeschichte des Hemme Hayen (wie Anm. 20), S. 52. Ganz ähnlich argumentiert Schubert noch in den „Ansichten von der Nachtseite der Naturwissenschaft“ (wie Anm. 22) S. 303 und Kerner: Die Seherin von Prevorst (wie Anm. 13), Teil I, S. 18 f. – Zum romantischen (ebenfalls im Pietismus präformierten) Kult des Kindlichen als zum Elementaren noch unverstellt offenen Urund Naturzustands der Psyche vgl. auch Schrader: „Werd ein Kind!“ (2010, L 45), im vorliegenden Band S. 701–730.
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Experiment aus der Physik Gottes, ist es, lieber Leser! das wir dir hier vorgestellt haben. Es […] ist um so mehr zu berücksichtigen, da hier im ganz gesunden Zustande, bei noch rüstiger Lebenskraft das geschieht, was sonst noch wohl öfterer im krankhaften Zustande, oder in den lezten Tagen vor dem Tode bemerkt wird […]. Das Experiment zeigt sich vollständiger als gewöhnlich, mit allen seinen äußern und innern Bedingungen.54
So wie Karl Philipp Moritz die pietistische Selbstbeobachtung zur experimentellen „Erfahrungsseelenkunde“, Vorstufe der modernen Psychologie, säkularisiert hatte,55 soll hier das gleichsam Parapsychologische, der gesteigerte, auf überirdische Erkenntnis, Zusammenhänge und Wirkkräfte verweisende Seelenzustand durch ein „Experiment aus der Physik Gottes“ in seinen Gesetzmäßigkeiten erkennbar werden. Als charakteristische Momente dieses erhöhten Seelenzustandes, Zeichen nicht von Krankheit, sondern einer höheren Gesundheit, werden hervorgehoben: die (etwa aus „der Mondsucht und anderen Nervenkrankheiten“ bekannte) „ungewöhnliche Erhöhung aller körperlichen Kräfte“ wie das von Hayen berichtete Schreien, seine körperliche Frische auch ohne Schlaf und Nahrungsaufnahme, das „unwillkürliche Sprechen von Worten, die dem Sprecher gleichsam ,in den Mund gelegt‘ werden“, bis hin zur „Gabe der Sprachen“, die man auch im Delirieren des Einschlafens oder im Traum erleben könne, schließlich das ClairvoyanceWissen von Zustand und Aufenthaltsort psychisch Nahestehender (hier der Frau, einer Tochter56 sowie des Predigers Potinius), eine „Wechselwirkung der Geister“ mit ihnen auch in der Ferne und ihr Teilhabenlassen an den eigenen Gesichten. All dies sei „in der Physik des Geistes nichts Unbekanntes, und schon der thierische Magnetismus spricht davon.“57 In Schuberts Symbolik 54 Lebensgeschichte des Hemme Hayen (wie Anm. 20), S. 49–51. – Vgl. die Artikel über Jan Swammerdam (1637–1680) in: Allgemeine deutsche Real=Encyclopädie. 5. Orig.-Aufl., Bd. 9, Leipzig 1822, S. 674 f. und, weit lakonischer, in: Meyers Konversations=Lexikon. 5. Aufl., Bd. 16, Leipzig – Wien 1897, S. 600. Auf das Swammerdamsche Experiment bezieht sich auch Mephisto in seiner ironischen Entelechie-Applikation auf den naseweisen Baccalaureus, „Faust“-Vers 6729 f.: „Die Raupe schon, die Chrysalide deutet / Den künftigen bunten Schmetterling.“ Vgl. Albrecht Schöne: Johann Wolfgang Goethe. Faust. Kommentare, Frankfurt 1994 (Werke, FA, I, Bd. 7/2; Bibliothek deutscher Klassiker, Bd. 114), S. 500, 624. Einen impliziten Hinweis auf das Experiment gibt auch Schubert: Die Symbolik des Traumes (wie Anm. 23), S. 42. 55 Dazu grundlegend Fritz Stemme: Die Säkularisation des Pietismus zur Erfahrungsseelenkunde. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 72 (1951), S. 144–155 sowie August Langen: Karl Philipp Moritz’ Weg zur symbolischen Dichtung. In: Ders.: Gesammelte Studien zur neueren deutschen Sprache und Literatur, Berlin 1978, S. 153–237, insbes. 186–200. 56 Zusatzüberlieferung über den von Hemme Hayen in der Ferne verspürten Moment, als „seiner Tochter Esse Hemmens das Licht der Gnade in ihrem Gemüt aufging“ in zwei Versionen von „De Zilvere Arke“ (wie Anm. 8), abgedruckt bei Hollweg: Die Geschichte des älteren Pietismus (wie Anm. 7), S. 230 f. 57 Zitate: Lebensgeschichte des Hemme Hayen (wie Anm. 20), S. 52 und 55–58. Diese Gedanken werden 1818 von dem späteren Jenaer Rezensenten „mpi“ der Kanneschen Sammlung „Leben und aus dem Leben merkwürdiger und erweckter Christen“ breiter ausgeführt: „Merkwürdig ist, dass dieser erhöhte Geisteszustand bey Hemme Hayen nicht etwa eine Folge körperlicher
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des Traumes werden solche magnetisch hervorrufbaren, in Krankheits- und Sterbesituationen oder in psychopathologischen Zuständen beobachtbaren Phänomene mit einer langen aus den pietistischen Sammelbiographien belegten Beispielsammlung von Erweckten parallelisiert, die „von neuem Organ einer höheren Liebe geworden, […] mit einer göttlich=magischen Gewalt […] über die Beschränkungen des Raumes und der Zeit […] hinüber wirken“.58
VI. Kanne beruft sich weder in seiner Nacherzählung noch in seiner Apologie der Hayen-Geschichte auf diesen romantischen Einzeldruck. Er bezieht sich aber nach dem Hinweis, dass neben minder eklatanten Gnadenführungen auch spektakulärere „äußerlich-innerliche Offenbarungen“ für göttlich anzuerkennen seien, wenn aufrichtige Frömmigkeit die Gewähr dafür gebe, dass hier nicht ein „Geist der Täuschung“ wirksam sei,59 ausdrücklich auf einen befreundeten und verehrten Anhänger der magnetischen Lehre, der zugleich „einer unserer erleuchtetsten christlichen Schriftsteller“ ist (damit spielt er erkennbar auf Gotthilf Heinrich Schubert an), der ihm ein solches Verständnis nahegelegt habe, das er hier jedoch zurückweisen müsse: Dieser ehrwürdige Mann, dessen Stimme sonst bei Gegenständen dieser Art vielmals mehr gelten muß als die meinige jemals gelten kann, schrieb mir nemlich, daß er sich Hemme Hayens, sowie Hans Engelbrechts wunderbarliche Geschichte von jeher aus dem thierischen Magnetismus erklärt hätte, und ich gestehe, daß ich Anfangs auch dabei an den Somnambulismus gedacht habe, wie mir einige Erscheinungen an beiden Männern gar zu deutlich darauf hinzuweisen schienen.60 Kränklichkeit ist, sondern bey vollkommen gesunder und rüstiger Kraft eintritt, weshalb hier von Fieberträumen, überspannter Einbildungskraft u. dgl. schwerlich die Rede seyn kann. Die Gesundheit seines äusseren und inneren Menschen bekundet sich nicht allein in seinem lebendigen Glauben an Gott, sondern auch in so manchem anderen Zuge“. Ergänzungsblätter zur Jenaischen Allgemeinen Literatur-Zeitung (wie Anm. 35), Bd. 1, Fortsetzung, Nr. 31, Sp. 241. 58 Schubert: Die Symbolik des Traumes (wie Anm. 23), S. 196–198 im Vergleich zu den magnetisch induzierten Erscheinungen S. 104–106. 59 Kanne: Leben und aus dem Leben, Zweiter Theil (wie Anm. 32), S. VIII und X. 60 Ebd., S. XI mit einer Fußnote, dass er ursprünglich auch die ebenfalls aus der „Historie Der Wiedergebohrnen“, Neudruck (1982, L 2), Bd. 1, II. Teil, 11. Exempel, [Offenbach] 1701, S. 120–131, zu ziehende „Historie Hans Engelbrechts von Braunschweig / so er selbst beschrieben / und erst zu Hamburg 1640. […] gedruckt ist“ mit ihren Revelationen aus dem Totenreich habe abdrucken wollen. Auf diese Engelbrecht-Historie hatte Kanne auch bereits in einer Fußnote zur Hayen-Erzählung hingewiesen, ebd., Erster Theil (wie Anm. 30), S. 14. – Tatsächlich ist Engelbrecht, ebenso wie Hayen, bei Schubert: Die Symbolik des Traumes (wie Anm. 23), mit übrigens häufigen Fußnotenverweisen auf Kannes orientalistische Forschungen, S. 181 (und vgl. S. 22) erwähnt. Der andere von Kanne im Anschluss an die Kritik der magnetischen Auslegung zurückgewiesene Einwand von einem ebenfalls „innig vertrauten Freund“
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Eine solche phänomenologische Analyse, das Eindringen experimenteller Forscher also „von draußen“ in ,Gottes Physik‘, weist Kanne als ebenso unangemesssen und geradezu frevelhaft zurück wie das erwähnte Swammerdamsche Raupen-Experiment, „denn diese werden, wie der Thieranatom, das Leben erst tödten, um es sodann kritisch-psychologisch zu zerlegen.“61 Die Berichte in den pietistischen Selbstzeugnis-Sammlungen etwa von Reitz oder Tersteegen seien bei aller äußeren Nähe zu den magnetisch beobachteten von diesen in Ursache und Wirkung doch dadurch von kategorial unvergleichbarer Art, daß man von allem, was man im magnetischen Schlafe erfährt, nach dem Erwachen gar kein Bewußtsein mehr hat, was doch aber weder bei Hemme Hayen, noch bei allen Andern der Fall gewesen ist. […] Hellsehende Männer haben sich längst zum Magnetismus nichts Gutes versehen wollen, und daß aus jenem Schlafwandler, der bald ins Feuer, bald ins Wasser fällt, ein böser Geist getrieben wird (Matth. 17), mag uns ein Fingerzeig seyn, welche Kräfte bei den somnambülen Zuständen überhaupt mitwirksam sind. […] Es ist in beiden Fällen einerlei That der Seele, aber entsprungen aus zweierlei Geist und darum im Wesentlichen auch verschieden. […] Aber ihr [der Magnetiker] Werk ist aus dem Fleische und geht auch nicht auf ’s Himmlische aus; ihre Ekstase löset wohl einige Banden der gefangenen Natur, aber sie löset nicht den dünnsten Faden von der Fessel der Sünde.62
Da die Rückerinnerung an das in der Ekstase Erlebte und Geschaute bei Hayen ebenso wie bei den Protokollen magnetischer Beobachtungen nur fallweise gegeben ist – während er Anderes ihm Offenbarte explizit nicht erinnern kann – und weil die Propagatoren magnetischer Lehren die psychischen Kippsituationen, in denen kurzfristige Einblicke und Ausgriffe in höhere Sphären möglich werden, ja nicht als Momente einer psychischen Krankheit, sondern vielmehr einer höheren Gesundheit bezeichnen, bleibt also unterscheidend nur die Behauptung einer bei den religiösen Ekstatikern göttlichen, bei den anderen aber – wie bei dem Mt 17 von Jesus durch Austreiben des bösen Geists geheilten mondsüchtigen Knaben – potentiell satanischen Wirkkraft.63 gegen seine prononciert geäußerte Wissenschaftsfeindlichkeit kann sich nicht auch auf Schubert beziehen, denn von diesem Gewährsmann ist dort als von „dem nun entschlafenen edlen Manne“ die Rede: Kanne: Leben und aus dem Leben, Zweiter Theil (wie Anm. 32), S. XIVf. – Eher unplausibel hatte Hirzel: Lebensgeschichte als Verkündigung (wie Anm. 6), der doch S. 160, 167 f. und 183 auf die enge Freundschaft mit Schubert und Kooperation der beidseitigen Erbauungsbiographien hingewiesen hat, S. 175 den magnetischen Ideen aufgeschlossenen Freund vermutungsweise als Jung-Stilling identifiziert. 61 Kanne: Leben und aus dem Leben, Zweiter Theil (wie Anm. 32), S. VIII. 62 Ebd., S. XII–XIV. 63 Der Kommentar zur ,Berleburger Bibel‘, Der Heiligen Schrifft Fünffter Theil, oder des Neuen Testaments Erster Theil, Berleburg 1735, S. 177 erläutert dagegen, zur psychischen Affektation des Knaben komme hier Krankheit und Besessenheit hinzu: „Mondsüchtig wird der genennet, welcher bey anwachsendem Monds=Licht […] mit der schweren Noth befallen wird. Bey diesem hier aber war vielerley beysammen: er war dabey noch taub und stumm von Natur, und
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Ein auch schon durch den Pietismus vermitteltes Moment, das dem späteren Jenaer Rezensenten wichtig wird, der Kannes Werk in einer vollständigen Harmonisierung der christlichen Programmatik der Erweckungsbewegung mit den alt-neuen magnetischen Theorien bespricht, hat Kanne gar nicht erwähnt, die besondere Bedeutung nämlich, die Begriffe und Erscheinungen des Leuchtens, gewaltsamer Entladungen von Licht und Glanzerfahrungen (neben dem Schmecken geistlicher Süße und einer zum Schreien nötigenden Taumelfreude) in Hayens Bericht gewinnen. Vom (genau datierten) Durchbruch in seinen Zustand der göttlichen Begnadung spricht Hayen nicht in den geläufigen Termini der ,Wiedergeburt‘ oder ,Erweckung‘, sondern durchgängig mit dem Begriff der ,Erleuchtung‘. Sechsmal verwendet er in seiner Erzählung dieses Wort für seine blitzartige Erfahrung einer allaufschließenden Veränderung, des geistlichen Verständnisses dunkler Schriftstellen und der visionären „Gemeinschafft mit dem allgemeinen Wesen“, einmal auch für die sympathetische Teilhabe seiner Frau an diesem Zustand. Zunächst erscheint dies nur als Verbal- (und sicher auch Epigonal-)Bezug auf Jacob Böhme, dessen „Erleuchtung“ Hayen analog auch für sich erbittet und vom Prediger Potinius zugesichert bekommt, sodass ihm fortan „dieser erleuchtete Mann also im Sinn lag“64 : Potinius […] hatte etwas von den Schrifften Jacob Böhmen […]. Da truge es sich ungefähr ein halb Jahr vor meiner Erleuchtung zu / daß er einsmals von diesem Mann und dessen hohen Erleuchtung mit mir redete / und ich zu ihm sagte: Herr Prediger! Was dünckt euch? Solte wol eine solche Erleuchtung und Gnade auch noch jemand widerfahren können? Und als er sahe / daß ich dieses mit einem hertzlichen Ernst sagte; schlug er […] auff meine Schulter und sagte: Hemme, es soll euch in kurtzem ein groß Licht aufgehen! Vergesset ja nicht / mir alsdann auch was mitzutheilen!65
Aber auch sonst ist in seinem Bericht beständig von mit gesteigerten Sinnen aufgefangenen, überwältigenden Lichterscheinungen und Glanzerfahrungen die Rede, meist als erlebtes Gnadenlicht, andererseits aber auch als teuflische Anfechtung wie die funkenumsprühte kosmische Vision, die ihn selbst ins Feuer zieht, und die grässliche körperliche Begegnung mit dem überdas vom Teufel besessen“ – und er verbindet die Geschichte von der Heilung des Mondsüchtigen durch den bereits verklärten Heiland S. 178 mit Berichten über den wunderbarlich Berge versetzenden Glauben. 64 Reitz: Historie Der Wiedergebohrnen. Neudruck (1982, L 2), Bd. 2, V. Teil, S. 176 f., vgl. (für Böhme) S. 174, für die Frau S. 196, als Selbstaussage Hayens sieben Belege auf den S. 170–175. 65 Ebd., S. 174, weitere Belege für das Gebet und das vom wundersüchtigen Geistlichen unterstützte sehnsüchtige Verlangen Hayens, ähnlicher Jacob-Böhme-Erleuchtungen teilhaftig zu werden, auch S. 176, 179 und 182. In den Zusatzepisoden, die „De Zilvere Arke“ (wie Anm. 8) mitteilt, tauchen diese Bilder gehäuft auf. Gott erscheint als „Vater des Lichts“, der uns teilhaben lässt am „Licht seiner Gnade“ bzw. „Licht der Gnade“, abgedruckt bei Hollweg: Die Geschichte des älteren Pietismus (wie Anm. 7), S. 231. Ebd., S. 185 f. weist Hollweg darauf hin, dass Hayen ähnliche Licht- und Glanz-Bilder nicht nur häufig bei Böhme, sondern auch bei David Joris finden konnte.
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„Stern=Geist“, „eine von den schwersten Versuchungen […] / die ich gehabt habe“66 – und die stark gemahnt an die in E.T.A. Hoffmanns Erzählungen häufige, schon in der Antonelli-Episode in Goethes Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten aufgerufene magnetische Überwältigung durch ein personales feindliches Prinzip.67 Nicht nur überstehen Hayen und seine Frau eine tranceartig selbstinszenierte Feuerprobe, Lichtphänomene begleiten vielmehr auch das Erleben eines Aus-dem-eigenen-Körper-Heraustretens, einer Emporhebung und Entraffung: mein neuer Mensch schiede gleich als bey der Seiten am Bett von dem alten ab / und ließ den auff dem Bett als einen todten Klotz ligen. Ich wande mich um / und sahe meinen naturlichen Leib so todt ligen / und kam allda wieder in den hohen Glantz / umgeben mit einem sehr grossen Licht: und der neue Leib / den ich da trug / war so 66 Reitz: Historie Der Wiedergebohrnen. Neudruck (1982, L 2), Bd. 2, V. Teil, S. 192 und 195. Die teuflische Versuchung entspringt für die Pietisten aus der sich eindrängenden Phantasie. Vgl. den Artikel „Phantasia“ in Friedrich Christoph Oetinger: Biblisches und Emblematisches Wörterbuch. Hg. von Gerhard Schäfer [u. a.], Teil I: Text, Berlin – New York 1999 (Texte zur Geschichte des Pietismus, Abt. VII, Bd. 3,1), S. 252 f.: „Man setze, in dem Lichts-Kleid GOttes (Psal. 104) sey die versehrende Schärfe, die keiner Kreatur erträglich ist. Damit sie aber der Kreatur erträglich werde, so gibt sich GOtt selbst einen Modum […]. Die Attraction, Zusammenziehung, Neutons ist etwas ewiges in GOtt, dieser widerspricht die Extension […]. Da kommen zwei Sachen zusammen, Feuer und das sanfte Licht des Lebens. Nun weil alles in GOtt Leben ist, so kann sich durch die Freiheit in der Kreatur etwas von der […] Coordination der Kräften abbrechen und in ein nachgeäftes Leben einführen. Das heißt eigentlich Phantasie, und aus dieser gauckelt der Teufel alle Gestalten der Dinge nach. Also hüte man sich vor diesen falschen Wesenheiten, die ein Mittel sind zwischen Leib und Geist. Dadurch wirkt Satan in uns und führt uns scheinbar ab aus der Warheit“ (S. 253). 67 Zu Hoffmann die umfassende Abhandlung über Spiegelungen des Magnetismus in der Literatur der Goethezeit, Jürgen Barkhoff: Magnetische Fiktionen. Literarisierung des Mesmerismus in der Romantik, Stuttgart – Weimar 1995, S. 199–204 (insbes. zur Erzählung „Der Magnetiseur“), ferner Laurent van Eynde: Goethe et E.T.A. Hoffmann en contraste. Les enjeus compar8s du magn8tisme et du galvanisme. In: Traces du mesm8risme (wie Anm. 22), S. 81–92. Übersicht über die Magnetismus-Diskussion in der Erzählliteratur auch bei Kollak: Literatur und Hypnose (wie Anm. 22), S. 140 f. – Für Goethes literarische Reflexionen des animalischen oder Körpermagnetismus grundlegend Christian Lepinthe: Goethe et l’occultisme, Paris 1957 (Publications de la Facult8 des Lettres de l’Universit8 de Strasbourg, Bd. 134), S. 67–69, 120–149; Michael Holtermann: „Thierischer Magnetismus“ in Goethes Roman ,Die Wahlverwandtschaften‘. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 37 (1993), S. 164–197, Jürgen Barkhoff: Tag- und Nachtseiten des animalischen Magnetismus. Zur Polarität von Wissenschaft und Dichtung bei Goethe. In: Goethe und die Verzeitlichung der Natur. Hg. von Peter Matussek, München 1998, S. 75–100 und 484 f.; Peter von Matt: Versuch, den Himmel auf der Erde einzurichten. Der Absolutismus der Liebe in Goethes ,Wahlverwandtschaften‘. In: Über die Liebe. Ein Symposion. Hg. von Heinrich Meier und Gerhard Neumann, München – Zürich 2001 (Serie Piper, Bd. 3233), S. 263–304, zuletzt, auch mit Hinweis auf die pietistische Tradition, Schrader: „Unleugbare Sympathien“ (2003, L 29), S. 45–53. – Die Schreckensvorstellung einer magnetischen Instrumentalisierung durch ein feindliches Prinzip begegnet im Pietismus schon bei Charles Hector de Marsay, der sich von Nicolaus Ludwig von Zinzendorf verfolgt fühlt (Nachweise Schrader : Kleists Heilige [2003, L 31], S. 88 f.). Sie wird mit vielen Fallbeispielen diskutiert bei Schubert: Die Symbolik des Traumes (wie Anm. 23), S. 196 und wiederholt noch angeführt bei Kerner: Die Seherin von Prevorst (wie Anm. 13), Teil I, S. 33, 40 f., und 55.
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hell und herrlich / daß sein Glantz die Sonne weit übertraff. Ich glaube und zweiffle nicht daran / daß / so jemand zu der Zeit bey meinen äusserlichen Leib gekommen wäre / er selbigen nicht anders als todt solte gefunden haben / so lang die Entzückung währete.68
Die Vorstellungen Jacob Böhmes von einer die Schöpfung wie auch die menschliche Seele bewegenden schöpfungskräftigen Licht-Tinctur hat im Pietismus Friedrich Christoph Oetinger, ehe noch magnetische Hypothesen zur Mode und Heilmethode wurden, mit den aufkommenden Beobachtungen über elektromagnetische Triebkräfte verbunden.69 Von diesem energetischen 68 Reitz: Historie Der Wiedergebohrnen. Neudruck (1982, L 2), Bd. 2, V. Teil, S. 195. – Kerner: Die Seherin von Prevorst (wie Anm. 13), Teil I, S. 57, 94, 161 und 172 f. beschreibt ganz ähnliche Erfahrungen der Entraffung und des Emporschwebens über den eigenen Körper bei einem referierten Fall von 1620 und bei seiner Patientin Friederike Hauffe. 69 Vgl. Roland Pietsch: Friedrich Christoph Oetinger und Jakob Böhme [und] Guntram Spindler : Das „Wörterbuch“ als Werk der Philosophia sacra, in: Friedrich Christoph Oetinger : Biblisches und Emblematisches Wörterbuch. Hg. von Gerhard Schäfer [u. a.], Teil 2: Anmerkungen, Berlin – New York 1999 (Texte zur Geschichte des Pietismus Abt. VII, Bd. 3,2), S. 71–84 und 85–107. – Auf die gemeinhin übersehene pietistische Vermittlung und Beisteuer zur Magnetismus-Reflexion hat in der ihr gewidmeten Fachliteratur ansatzweise besonders Martin Blankenburg: Der „thierische Magnetismus“ in Deutschland. Nachrichten aus dem Zwischenreich (= Anhang zur deutschsprachigen Ausgabe der Monographie von Robert Darnton: Der Mesmerismus und das Ende der Aufklärung in Frankreich. Mit einem Essay von Martin Blankenburg), Frankfurt 1986, S. 191–228, hier S. 198, 206, 215 f. aufmerksam gemacht; vgl. detaillierter auch Rolf Christian Zimmermann: Das Weltbild des jungen Goethe. Studien zur hermetischen Tradition des deutschen 18. Jahrhunderts. Bd. 1, München 1969, S. 140–142, 149–158, 329–334. Für die elektrisch-galvanischen Kräfte zeigt noch Jung-Stilling besonderes Interesse. So schreibt er in einem Brief anlässlich der Todesnachricht Kleists am 2. Januar 1812 an Fouqu8: „Sobald man […] das himmlische elektrische Feuer annimmt und dessen empfänglich wird, so werden die moralischen Kräfte erhöht, und dann vermögen wir Alles durch Christum.“ Am 28. Oktober 1815 schreibt er an Johann Friedrich von Meyer: „Der Magnetismus schaltet und waltet überall: In Stuttgardt hat die Jgfr Römerin während ihrem Hellsehen eine wunderbare Maschine aus verschiedenen Metallen angegeben, in welcher Galvinismus und Elektrizität /: Dinge, wovon das gute Mädchen kein Wort wuste:/ miteinander verbunden sind und womit man Menschen soll magnetisiren können. Sie ist so complizirt, daß die Mechaniker sie nicht begreifen konnten, bis die Somnambüle sie im Hellsehen nach dem verjüngten Maaßstab in Papier aufschnizte“. Johann Heinrich Jung-Stilling: Briefe. Ausgew. u. hg. von Gerhard Schwinge, Gießen – Basel 2002, S. 497 und 579. Ein ähnliches Magnetisiergerät, den heute noch im Weinsberger KernerMuseum erhaltenen „Nervenstimmer“, hat Justinus Kerners „Seherin“ Friederike Hauffe im Trancezustand entworfen und zu Heilbehandlungen eingesetzt, worüber er selbst berichtet, Justinus Kerner: Die Seherin von Prevorst (wie Anm. 13), Teil I, S. 36 f., 68, Teil II, S. 264 und 186–188. Abbildung des von Kerner ins Reine gezeichneten Bauschemas in: Justinus Kerner. Dichter und Arzt 1786–1862. Bearb. von Friedrich Pfäfflin und Reinhard Tgahrt, Marbach 1968, 2. Aufl. 1990 (Marbacher Magazin Bd. 39/1986, Sonderh.), S. 23 und Kollak: Literatur und Hypnose (wie Anm. 22), S. 116 (dort S. 118 f. Hinweise zu den Konnexen zwischen magnetischer und elektrischer Theorie), Abbildung des danach konstruierten Geräts in Kurt Seeber : Führer durch das Kernerhaus in Weinsberg, Weinsberg 1966, S. 31 f. Vgl. dazu Heinz Schott: Der „Okkultismus“ bei Justinus Kerner – eine medizinhistorische Untersuchung. In: Justinus Kerner: Nur wenn man von Geistern spricht. Briefe und Klecksographien. Hg. von Andrea BergerFix, Stuttgart 1986, S. 71–104, Abb. S. 77 f. und 83 f., ferner Helmut Siefert: Die Seherin von
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Nerven-Fluidum schreibt er im Artikel „Tinctur“ seiner spekulativen Enzyklopädie Biblisches und Emblematisches Wörterbuch von 1776 (von dem eine spätromantische Teil-Neuausgabe 1849 übrigens von Gotthilf Heinrich Schubert bevorwortet wurde): Diß Fluidum heißt J. Bçhm die Tinctur. Davon lese man seine eigenen Worte. Siehe 3 Principia, Kap. 12,20 sagt er : Die Tinctur ist […] die Ursach des Glanzes, durch sie sehen und leben die Kreaturen; von Ewigkeit ist sie gewesen in GOtt, aber sie hat sich in alle Dinge miteingebildet […]. Es ist nur ein Ens penetrabile, nur eine Tinctur im Himmel und auf Erden, aber sie hat mancherlei Arten nach jedes Dings eigenthumlichem Wesen; in Thieren ist sie anderst als in dem Menschen, in Steinen und Edelsteinen auch wieder anderst.70
Und der Artikel „Leben“ erläutert: Das psychische geringere Leben pflanzt sich durch eine unmerkbar fortschreitende Electrisirung immer weiter fort. […] Die Circulation geschieht nicht ohne ein Reiben. […] Die Welt ist microcosmice im Menschen […]. Aus dem lezten Schreiben Herrn Mesmers D. Med. und aus Pater Hells Experimenten de Magnetismo animali ist solches auch zimmlich klar. Die Arznei-Gelehrtheit bekommt einen neuen Fund, so Hellmonts und Bçhms Lehren bestättigen. […] Es ist also ein doppeltes Leben im Menschen das empfindliche und verständliche. Jenes ist electrisch, diß ist weit über die Electricit8. Man kann aber die Grenzen nicht bestimmen. Mit dem verständlichen ist in den Wiedergebohrnen der Geist JEsu vereinbar. So viel kann man aus electrischen Proben und aus den Worten GOttes von der Seele schliessen. […] Das gibt ein System, da alles in jedem und jedes in allem ist.71 Prevorst. Tiefenpsychologische Aspekte. In: Medizin und Romantik (wie Anm. 22), S. 422–430, hier S. 428 und Heinz Schott: Zerstörende und heilende Bestrebungen des „Magnetischen Lebens“: Kerners Forschungsperspektive im Kontext der zeitgenössischen Medizin. Ebd., S. 443–449, hier S. 447. 70 Oetinger: Wörterbuch, 1776, Teil I (wie Anm. 66), S. 324. – Zur Ausgabe in der Zeit der Spätromantik: Des Württembergischen Prälaten Friedrich Christoph Oetinger Biblisches Wörterbuch. Neu herausgegeben […] von Dr. Julius Hamberger. Mit einem Vorwort von Dr. Gotthilf Heinrich v. Schubert, Stuttgart 1849 (Reprint o.O. 2010), vgl. ebd., S. XXII. 71 Oetinger: Wörterbuch, 1776, Teil I (wie Anm. 66), S. 218 f. Vgl. die ganz analogen, aber die Herleitung von Jacob Böhme und Johann Baptista van Helmont bis hin zu dem Wiener Hofastronomen und Erforscher elektromagnetischer Spannungen Maximilian Hell (über ihn: Kollak: Literatur und Hypnose [wie Anm. 22], S. 28 f.) noch weiter ausführenden Angaben in den Artikeln „Krankheit, Nosos“, Oetinger : Wörterbuch, S. 207 und „Mitte des Himmels, Mesuranema“, ebd., S. 240 f. Ähnlich auch über die „elastische Volatilität“, in der „das active und passive oder das wirkende und leidende Feuer […] einander die Wage“ halten (noch näher den spekulativen Überzeugungen Goethes von den Kräften, die den gesamten Kosmos durchwirken), im Artikel „Bliz und Donner, Astrapae, Brontae“: „Daher entstehet bei leichten annäherenden Körpern eine Abwechslung der annähernden und wegtreibenden Kraft. Heißt sonst sistole und diastole als der Anfang des Lebens, so daß sich näher bei dem Centro oder QuellPunct das active durchs passive mit einer Entzündung durchschlägt und zur Durchblizung sich vereinigt.“ Ebd., S. 56, vgl. auch den Artikel „Feuer, Pyr“, ebd., S. 120 f. mit Hinweis auf Oetingers Korrespondenz und wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem durch seine Er-
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Schon in der Vorstufe von 1759, dem Versuch eines Biblischen und Emblematischen Wörterbuchs, hatte Oetinger im Vorwort typische Begriffe der magnetischen Sympathetik für Erscheinungen, die auch an Hemme Hayen konstatierbar waren, vorweggenommen, die Erleuchtung aus göttlicher Offenbahrung lehret uns […], wie unzählig viel Freyheit, contingenz, Sympathie in die Ferne, Transformabilitaet […] aus der unsichtbaren Welt in die sichtbare komme.72
VII. Diese von Kanne in seiner Abwehr einer magnetischen Auslegung der HayenGeschichte übergangenen Aspekte werden vom Jenaer Rezensenten 1818 mit der gemeinpietistischen Auslegung explizit harmonisiert. Für ihn gehört Kannes Werk zu den in der aktuellen Erweckungsbewegung „verheißungsvolle[n] Zeichen der Zeit“, die die tröstliche Gewissheit geben, dass im Kampf zwischen dem „Reich der Finsternis“ gegen das „Reich des Lichts“ bald „der forschung elektrischer Phänomene und den Bau eines Blitzableiters schon vor Benjamin Franklin bedeutenden mährischen Prämonstratenser Prokop Divisˇ. Dazu und für die Ideenvermittlung zwischen der frühneuzeitlich-energetischen Spekulation und der romantischen Naturphilosophie sowie modernen experimentellen Wissenschaft grundlegende Hinweise bei Ernst Benz: Theologie der Elektrizität. Zur Begegnung und Auseinandersetzung von Theologie und Naturwissenschaft im 17. und 18. Jahrhundert, Mainz 1971 (Akademie der Wissenschaften und der Literatur [Mainz], Abhandlungen der geistes- und sozialwiss. Klasse Bd. 12/1970), insbes. S. 8–14, 16, 27–48, 68–73, 86–91, wichtige Ergänzungen bei Reinhard Breymayer: Vom Weinsberger Dekan Friedrich Christoph Oetinger zu Justinus Kerner: Theosophische Traditionen. In: Medizin und Romantik (wie Anm. 22), S. 295–310, bes. 298–302 und 307, mit (S. 302–305) der Edition des lat. Oetinger-Briefs an Divisˇ, Weinsberg, 27. Februar 1753 (Stadtbibl. Olmütz). Bedeutsam für Oetingers pansophisches und elektromagnetisch-psychologisches Denken ist auch seine von Breymayer (S. 297 und 307) herausgestellte Verbindung zu pietistischen Medizinallehren: Der aus einer Ärztefamilie Abstammende hatte vor seiner Hinwendung zur Theologie selbst kürzere Zeit bei dem Hallenser Medizinprofessor Johann Juncker (1679–1759) und bei dem radikalpietistischen, zeitweilig inspirierten Homburger Hofmedicus Johann Philipp Kämpf studiert. Für ihn vgl. Konstanze Grutschnig-Kieser : „Tingire du uns noch mit göttlicher Tinctur / Und heile durch und durch Natur und Creatur!“ Zum Wirken des inspirierten Mediziners Johann Philipp Kämpf (1688–1753). In: Medizin- und kulturgeschichtliche Konnexe des Pietismus. Heilkunst und Ethik, arkane Traditionen, Musik, Literatur und Sprache. Hg. von Irmtraut Sahmland und Hans-Jürgen Schrader, Göttingen 2016 (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus, Bd. 61), S. 113–141). – Zur Rezeption bei Goethe und zur Bedeutung magnetischer Konzepte nicht allein in den „Wahlverwandtschaften“, sondern bereits in den „Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten“ vgl. überdies Schrader : „Unleugbare Sympathien“ (2003, L 29), S. 49–53. 72 Vorrede, „Herrenberg 1759“, in der kritischen Ausgabe Oetinger: Wörterbuch, 1776, Teil I (wie Anm. 66), S. 4. Insbesondere Schubert: Ansichten von der Nachtseite (wie Anm. 22), S. 205, 311, 328, 330, 350, 374 hat sich Oetingers Auffassung der Verwandtschaft elektrischer und magnetischer Kräfte und Wirkungen in der Seele zu eigen gemacht.
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längst schon ersehnte schöne Tag der Menschheit in unvergänglichem Glanze ausbrechen“ werde: Ja, auch die menschliche Wissenschaft, besonders jene der Natur, zeigt sich von diesem neuen, höheren Geiste ergriffen, und die Nachwelt wird in diesem Betracht vor allem das Verdienst des vortrefflichen Schubert – dieses Schöpfers einer wahrhaft christlichen Physik – zu würdigen wissen.73
Mit Kanne ist der Rezensent sich einig: „Die Lehre von der Wiedergeburt ist […] die Haupt- und Cardinal-Lehre des Christentums.“ Ohne aber Kannes Zurückweisung überhaupt zu erwähnen, betont er, dass gerade durch sie die durch den Sündenfall verlorene Erkenntnis der höheren Welt und ihrer Strukturen wieder verfügbar werde, „jener Silberblick des Daseyns, welche den Menschen mit dem Ewigen wiedervermählt“, und dass besonders unverbildeten „Menschen im Stande der Natur“ wie Hemme Hayen „das Ewige […] gleichsam im schnellen Blitze erscheint“. Dabei handle es sich um „in der Physik des Geistes wohlbegründete Steigerungen jener Phänomene, die sich z. B. im Somnambulismus oder in dem begeisterten Zustand jedes Menschen von höherem Genius zeigen“. Und diese Phänomene werden noch systematischer ausgelegt als in der Hayen-Broschüre von 1810. Der Rezensent bezieht sich auf die elektromagnetischen Ereignisse im wiederholt verwendeten Bild vom Aufblitzen des Ewigen bei einer „jener kindlicheren Seelen, in welchen daher der Vorgang einer neuen geistigen Geburt ungetrübter und gleichsam natürlicher erscheint“,74 und erläutert die hier schon in nuce erkennbare künftige Vollkommenheit wiederum am Swammerdamschen Entelechie-Experiment: Wie das Licht z. B. nur ein höheres Seyn der Materie, so ist auch hier, vom Tiefsten bis zum Höchsten, Alles durch, wenn auch oft leise, Übergänge und Zwischenglieder vermittelt, und die Kette nothwendiger Wirkungen nirgends gesprengt oder unterbrochen. Die Entwickelung jener höheren Kräfte selbst, was ist sie anders, als die höher potenzirte Erscheinung des bekannten Versuches, welches uns in der Raupe schon den künftigen Schmetterling zeigt? Von diesem Standpuncte betrachtet, bieten die Erscheinungen jenes höheren Geisteszustandes durchaus nichts dar, was der Natur, der Vernunft widerspräche. Der Übergang in diesen Zustand geschieht gewöhnlich wie bei Hemme Hayen (S. 7), plötzlich und unerwartet.75 73 Beide Zitate: „Mpi“-Kanne-Rezension in: Ergänzungsblätter zur Jenaischen Allgemeinen Literatur-Zeitung (wie Anm. 35), Sp. 233 f. 74 Zitate: Ebd., Sp. 236–238. Ausgeführter noch in der Fortsetzung der Rezension: „Man lächle daher nicht, wenn unser H.H. bisweilen von höheren Dingen und Geheimnissen gewissermassen noch kindlich lallt, noch öfter gar keine Worte für seine Anschauungen findet. Denn das ist nicht immer das Höchste und Beste, was der Mund, kaum empfangen, in geläufiger Rede sogleich weiter zu fördern vermag; und ist alle unsere Weisheit im Grunde wohl etwas Anderes, als ein solches Unmündiges Lallen?“ Ebd., Nr. 31, Sp. 242. 75 Kanne-Rezension in: Ergänzungsblätter zur Jenaischen Allgemeinen Literatur-Zeitung (wie Anm. 35), Sp. 238. – Einem energetischen Zustrom der Sonne vergleicht noch Justinus Kerner
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Die „Schärfung aller Sinne im Zustande eines erhöhten geistigen Lebens“, die sonst meist nur beobachtbar sei in Grenzsituationen schwerer Krankheit „und zumal kurz vor dem Tode, wo das Geistige bereits minder an seine materielle Grundlage gebunden scheint“, ist bei diesem mit den alttestamentlichen Propheten verglichenen „Clairvoyant“ im erleuchteten Zustand noch von seiner Präexistenz her dauerhaft verfügbar, durch einen dem Kind und dem kindlich gebliebenen Menschen noch nicht verstellten Zugang zum Ewigen.76 Hier berührt sich, auch in den Begründungen, der pietistische Kult des Kindes und der Kindlichkeit, der in zahllosen Viten, besonders aber in der Poesie Tersteegens und Zinzendorfs zum Ausdruck kommt, mit dem romantischen.77 Zu den Gaben seiner Clairvoyance-Lichtbegnadung gehören auch „das unwillkürliche Sprechen von Worten, die dem Sprecher in den Mund gelegt werden“, und schließlich die „Gabe fremder Sprachen“.78 Interessant ist, dass das gesteigerte Bewußtsein in der Entrückung des sogenannten magnetischen Schlafs: „Nenne, mein Lieber, diesen Zustand nicht Schlaf: denn er ist vielmehr das hellste Wachen, das Aufgehen einer innern, viel hellern Sonne, als die ist, die deinem Aug von Außen leuchtet, ein helleres Licht als das ist, das dir durch deine Begriffe, Schlüsse, Definitionen und Systeme im wachen Leben werden kann, ein Zustand, der mit dem ursprünglichen des Menschen Aehnlichkeit hat, wo der Mensch wieder in alte innige Verbindung mit der Natur tritt und ihre Gesetze und Urtypen zu erschauen fähig werden kann.“ Kerner: Die Seherin von Prevorst (wie Anm. 13), Teil I, S. 20. 76 Kanne-Rezension in: Ergänzungsblätter zur Jenaischen Allgemeinen Literatur-Zeitung (wie Anm. 35), Sp. 239 f. 77 Auf die Begründungszusammenhänge ist beispielhaft hingewiesen bei Cornelia Niekus Moore: „Gottseliges Bezeugen und frommer Lebenswandel“. Das Exempelbuch als pietistische Exempellektüre. In: Das Kind in Pietismus und Aufklärung. Hg. von Josef N. Neumann und Udo Sträter, Tübingen 2000 (Hallesche Forschungen, Bd. 5), S. 131–142; Friedrich Schweitzer : Die Entdeckung der Religion des Kindes zwischen Pietismus, Aufklärung und Romantik, ebd., S. 349–362 sowie auch Schrader: „Werd ein Kind!“ (2010, L 45), im vorliegenden Band S. 701–730. Zu Tersteegens und seiner quietistischen Gesinnungsgenossen Kult der Kindlichkeit außerdem ders.: Hortulus mystico-poeticus (1997, L 21), im vorliegenden Band S. 479–481, sowie insbes. Michael Knieriem und Johannes Burkardt: Die Gesellschaft der Kindheit JesuGenossen auf Schloß Hayn. Aus dem Nachlaß des von Fleischbein und Korrespondenzen von de Marsay, Prueschenk von Lindenhofen und Tersteegen 1734 bis 1742, Hannover 2002, bes. S. 12, 17, 26, 64, 117, 146, 148, 150, 156, 160. – Zu Zinzendorfs Ideal eines bewahrten Kindersinns vgl. auch Werner Loch: Die Darstellung des Kindes in pietistischen Autobiographien, im genannten Sammelband von Neumann / Sträter: Das Kind in Pietismus und Aufklärung, S. 143–182, hier S. 153–158, ferner Pia Schmid: Die Kindererweckung in Herrnhut am 17. August 1727. In: Neue Aspekte der Zinzendorf-Forschung. Hg. von Martin Brecht und Paul Peucker, Göttingen 2006 (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus, Bd. 47), S. 115–133 sowie (dort anschließend) für die Bedeutung von Kindersinn und Spiel auch in Zinzendorfs und der Herrnhuter Dichtung Schrader: Zinzendorf als Poet (2006, L 40), im vorliegenden Band S. 501–509, 516. Aus der Reitz’schen „Historie Der Wiedergebohrnen“ (IV,14) übernimmt auch Johann Arnold Kanne: Fortsetzung der zwei Schriften: Leben und aus dem Leben merkwürdiger und erweckter Christen […] und Sammlung wahrer und erwecklicher Geschichten aus dem Reich Christi und für dasselbe, Frankfurt 1824, S. 204–210 das hierzu (auch durch August Hermann Francke) verbreitetste Exempel (XXII) „Der Knabe Christlieb Leberecht von Exter (1698–1707)“. 78 Vgl. dazu die Erläuterungen (und Hinweise auf gleichartige Überlieferungen z. B. von der stigmatisierten Therese Neumann von Konnersreuth) bei Benz: Die Vision (wie Anm. 28), S. 216 f. und bei Hollweg: Die Geschichte des älteren Pietismus (wie Anm. 7), S. 221 und 223.
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diese übernatürlichen Fertigkeiten nicht nur wieder auf Nachrichten über Jacob Böhme zurückbezogen werden, der in der Erleuchtung ebenso, ohne des Griechischen mächtig zu sein, „sogleich den Sinn des Wortes, und zwar in ächtplatonischer Anschauung“ erfassen konnte, sondern auch (wie im ,Sturm und Drang‘) als ähnlich zwischen den glossolalierenden alten und neuen Propheten und den Poeten, somit verwandt mit dem Ingenium und der inspirativen, rational unverfügbaren Impulskraft des Dichters gesehen werden. Dies sei in Zuständen der Art etwas Häufiges, und schon die Entstehung jedes guten Gedichts ist nicht ohne eine ähnliche „Eingeistung“ denkbar, so wie denn auch den Dichtern der Deus in nobis schon von Alters her zugestanden wird.79
Bereits in seinem Brief an den mährischen Prämonstratenser, elektromagnetischen Experimentator und (parallel mit Benjamin Franklin) Blitzableiter-Erfinder Prokop Divisˇ hatte Friedrich Christoph Oetinger am 27. Februar 1753 die Materialisierung eines elektrischen Seelenimpulses als Grundlage der Imaginationskraft erwogen: „Muß denn nicht die Einbildungskraft im empfindenden Gehirn materiell und elektrisch aufgefaßt werden?“ („Nonne igitur imaginatio in sensuali cerebro materialiter et electrice concipi debet?”),80 und sein getreulicher Schüler Gotthilf Heinrich Schubert hat in seiner Symbolik des Traumes in einem umfassenderen Sinne auch „bey der Sprache des Traumes […] jene eigenthümliche Ideenassociation und den Geist der Weissagung“ wirksam gesehen, die innig und produktiv übereinstimmen „mit unserm versteckten Poeten“, der uns tief in der eigenen Brust überweltliche Offenbarung zuspricht.81 Schon gar werden in der Kanne-Rezension alle anderen von Hayen berichteten Wunderphänomene als häufig beobachtet und in der magnetischen 79 Kanne-Rezension in: Ergänzungsblätter zur Jenaischen Allgemeinen Literatur-Zeitung (wie Anm. 35), Sp. 238–240. Zu dieser Modellübertragung vgl. Schrader: Vom Heiland im Herzen (1994, L 19), im vorliegenden Band S. 130–133, vgl. etwa auch ders.: Inspirierte Schweizerreisen (2000, L 24), im vorliegenden Band S. 523–546 (insbes. Reisepoesie des Inspiriertenführers Johann Friedrich Rock); ders.: Zinzendorf als Poet (2006, L 40), im vorliegenden Band S. 501–516, und ders.: Schöne Seelen (2013, L 52), S. 224 f., 236–241, 246–248. 80 Oetingers Brief an Divisˇ (vgl. Anm. 71) bei Breymayer: Vom Weinsberger Dekan (wie Anm. 71), in der lat. Edition (S. 304) und der treffenden Übersetzung (S. 301) des Verfassers. Dort auch Schuberts Bekenntnis zu Oetinger, der seine „elektrische Psychologie“ (S. 299) präformiert hat, im Brief an Justinus Kerner am 24. August 1829: „Nur in Oettingers Schrifften (z. B. in seinem biblischen und emblematischen Wörterbuch) fand ich Dinge, die mich einiges von dem ahnen machten, was mir durch Ihr Buch mehr als Ahnung geworden.“ S. 307, nach: Justinus Kerners Briefwechsel mit seinen Freunden. Hg. von Theobald Kerner. Bd. 1, Stuttgart 1897, S. 573 f., hier S. 574. Zu der Parallelität der Experimente und Konstruktionen von Franklin und Divisˇ zur Ableitung von Blitzen vgl. den Art. „Blitzableiter“ in Meyers Konversations-Lexikon, 5. Aufl. (wie Anm. 54), Bd. 3, 1894, S. 92–94. 81 Schubert: Die Symbolik des Traumes (wie Anm. 23) S. 30. Für die Ähnlichkeit mit früheren genuin pietistischen Vorstellungen vgl. ebenfalls Schrader : Vom Heiland im Herzen (1994, L 19), im vorliegenden Band S. 115 f., 119–127, 130–133.
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„Physik des Geistes wohlbegründet“ erklärt: zum Ersten die Konnexe der zueinander in magnetischem Rapport Stehenden in die Ferne (Hayens Wissen darum, wo Potinius sich aufhält, so wie Eduard und Ottilie in Goethes Wahlverwandtschaften voneinander wissen und einander sogar sehen, als er fern im Kriege steht,82 und ebenso in Kleists Käthchen der schon durch seinen Namen gleichsam elektromagnetisch aufgeladene Graf Wetter vom Strahl und sein Mädchen einander in Todeskrankheit bzw. im Traum in der Holunderlaube fernaktiv begegnen können). So auch zum Zweiten der Zustand der „Entraffung“ in der Trennung des sichtbar werdenden seelischen Scheinleibs von dem wie tot auf seinem Lager zurückbleibenden grob-physischen Körper (bei den Pietisten etwa beschrieben in der Exempelbiographie Richard Baxters, ursprünglich von 1691) in der Historie Der Wiedergebohrnen, wo der Geistleib einer sterbenden Mutter in feinstofflicher Sichtbarkeit vor ihren weit entfernten Kindern erscheinen kann, um Abschied zu nehmen,83 ähnlich um 1730 in vielen Berichten der radikalpietistischen Zeitschrift Die geistliche Fama, in Charles Hector de Marsays Astralleib-Spekulationen,84 1785 in La82 Barkhoff: Tag- und Nachtseiten (wie Anm. 67), S. 86 belegt an einer Äußerung gegenüber Eckermann vom 7. Oktober 1827, dass der alte Goethe, gegenüber dem spekulativen Überschwang der Romantiker stets skeptisch und sorgfältig sondernd, neben den Phänomenen der Telepathie und der Fernwirkungen psychischer Energien auch prophetische Bekundungen als potentiell „magnetisch“ bewirkt anerkannte. 83 Reitz: Historie Der Wiedergebohrnen. Neudruck (1982, L 2), Bd. 1, III. Teil, 1701, S. 90–112 (und die erweiternden Varianten der späteren Ausgaben: Neudruck, Bd. 4, S. 24*–29* und 39*–65*), vgl. dazu Schrader: Literaturproduktion (1989, L 1), S. 83 f. und 335. Über das dem vegetativen Nervensystem zugeordnete „Ferngefühl“ handelt (unter Verweis auf entsprechende Bezeugungen) Schubert: Die Symbolik des Traumes (wie Anm. 23), S. 133–137, eine Systematisierung der verschiedenen Erscheinungsformen erhöhter Wahrnehmung gibt er ebd. S. 196–198. Noch Justinus Kerners Seherin-Medium Friederike Hauffe sieht Schutzgeister in der verklärten Erscheinung ihres Bruders oder der Großmutter als solche energetischen Seelenausströmungen neben und hinter sich, Kerner: Die Seherin von Prevorst (wie Anm. 13), I. Teil, S. 36, 41; ebensolche Erscheinungen beschreibt bereits der Quietist Charles Hector de Marsay in seinem anonym publizierten Traktat: T8moignage d’un Enfant de la Verit8 [!] & Droiture des Voyes de l’Esprit ou Explication des trois premiers chapitres de la Genese, Berleburg 1738, insbes. S. 247 und 250 f. Ein der Baxter-Geschichte analoges Beispiel des Erscheinens des materialisierten Geists einer Mutter in ihrer Sterbestunde an fernem Ort hat Kerner noch 1831 unter dem Titel „Die Schlüssel“ berichtet: Blätter aus Prevorst. Eine Auswahl von Berichten über Magnetismus, Hellsehen, Geistererscheinungen aus dem Kreise Justinus Kerners […]. Hg. von Hermann Hesse, Frankfurt 1987, S. 16–18. Zur Phänomenologie vgl. Benz: Die Vision (wie Anm. 28), S. 274. 84 In zahlreichen Berichten der vom pietistischen Arzt Johann Samuel Carl 1730 zur Sammlung der philadelphischen Gemeinschaft begründeten Zeitschrift „Die geistliche Fama“ werden Schutzengel- und siderische Geistererscheinungen dargestellt. Über die Manifestation von Geistern entfernter Schwerkranker oder Abgeschiedener – neben Bekundungen des krudesten Aberglaubens auch in Bemühung um eine Ordnung und Unterscheidung solcher Geister – vgl. Bd. I, 3. Stück, 2. Aufl., [Berleburg] 1734, S. 34–110; 5. Stück, 1731, S. 39–61, 95–104; 8. Stück, 1732, S. 11–39; Bd. II, 17. Stück, 1735, S. 75–98; Bd. III, 21. Stück, 1736, S. 24–40; 26. Stück, 1740, S. 3–76; 27. Stück, 1741, S. 58–60, 75, 79 f., 83; 28. Stück, 1741, S. 66–89; 30. Stück, 1744, S. 18 f.; zu Marsay vgl. oben, Anm. 83.
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vaters glühender Propaganda für magnetische Ideen, Etwas Geschichtliches vom sog. Thierischen Magnetismus,85 und noch 1808 in Jung-Stillings Theorie der Geisterkunde.86 Heinrich von Kleist hat dies poetisch ausgestaltet, bei der im Starrschlaf auf ihr Lager hingestreckten und zugleich, von allen wahrnehmbar, eine Messe dirigierenden Schwester Antonia in Die Heilige Cäcilie oder der gleichzeitig im brennenden Schloss verharrenden und in Engelgestalt daraus hervortretenden Protagonistin im Käthchen von Heilbronn.87 Oetinger hatte 1776 im Biblischen und Emblematischen Wörterbuch erläutert: „Die Körper haben unsichtbare Kraise um sich, magnetische Ausflüsse, die man messen kann per quadrata Distantiarum“, und er hatte diese begründet aus dem „Ens penetrabile der Tinctur“ der Seele, dadurch auch könne sie „an so vielen Orten zugleich seyn. Die Seele […] kann durch die Tinctur Berge umstürzen.“ – „Wenige sehen so weit wie NIEUWWENTIJT, der in jedem Menschen einen doppelten Leib erweißt, einen verborgenen siderischen oder ätherischen und einen offenbaren“.88 Oder schließlich zum Dritten erläutert 85 Lavaters überschäumende Begeisterung für den Magnetismus wurde allerdings von pietistischen Weggenossen skeptisch aufgenommen. Sie ist untersucht etwa von Karl Bittel: Der berühmte Hr. Doct. Mesmer. 1734–1815 […] mit einigen neuen Beiträgen zur Mesmer-Forschung, Überlingen 1939, S. 12, detaillierter von Gisela Luginbühl-Weber: Johann Kaspar Lavaters physiko-theologische Sicht des animalischen Magnetismus. In: Gesundheit und Krankheit im 18. Jahrhundert. Referate der Tagung der Schweizerischen Gesellschaft zur Erforschung des 18. Jahrhunderts […] 1993. Hg. von Helmut Holzhey und Urs Boschung, Amsterdam 1995 (Clio Medica, Bd. 31), S. 205–212. Vgl. Holtermann: „Thierischer Magnetismus“ (wie Anm. 67), S. 172 sowie Horst Weigelt: Johann Kaspar Lavater. Leben, Werk und Wirkung, Göttingen 1991 (Kleine Vandenhoeck-Reihe, Bd. 1556), S. 41–45, auch dessen Artikel: Johann Kaspar Lavater (1741–1801). In: Theologische Real-Enzyklopädie. Bd. 20, Berlin – New York 1990, S. 506–511, hier S. 509. – Jung-Stilling konnte Lavaters Emphase allerdings, wie er ihm in einem um Wiederherstellung der im theologischen Streit prekär gewordenen Freundschaft bemühten Brief vom 12. Juli 1797 einbekennt, nur bedingt folgen und hätte daher Hayens Berichte von den wiederholten Heilandserscheinungen kaum gebilligt: „Ich weiss, daß Du von jeher sehr aufmerksam auf ausserordentliche Erscheinungen aus dem Geisterreich warest; […] Deine […] Erwartungen in Ansehung des Magnetismus […] und noch mehreres der Art, das ich von Dir gehört hatte, überzeugte mich: […] Allein da […] alle sinnliche Phänomene aus dem Geisterreich erstaunlich gefährlich und trüglich sind, […] wollte ich Dich warnen. […] Ich glaube nicht, daß der Herr persönlich jemand erscheint bis zu seiner Wiederkunft“. Jung-Stilling: Briefe (wie Anm. 69), S. 211 f. 86 Für Jung-Stillings Stellungnahmen zum Magnetismus vgl. Barkhoff: Magnetische Fiktionen (wie Anm. 67), S. 243 (und ebd. für Kerner S. 310–314), zu seinen darauf gegründeten okkulten Spekulationen („Theorie der Geisterkunde“) auch Gerhard Schwinge: Jung-Stilling als Erbauungsschriftsteller der Erweckung, Göttingen 1994 (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus, Bd. 32), S. 267 f. und Sukeyoshi Shimbo: Kerners Parapsychologie im Lichte der Jung-Stillingschen ,Geisterkunde‘. In: Medizin und Romantik (wie Anm. 22), S. 311–320. 87 Detailliertere Analysen, auch zu den Zusammenhängen mit den pietistischen Vorgaben und Anregungen bei Schrader : Kleists Heilige (2003, L 31), S. 72–90. 88 Oetinger: Biblisches und Emblematisches Wörterbuch, Bd. I (wie Anm. 66), S. 5 (Vorrede), S. 295 (Art. „Seele“) und S. 325 (Art. „Tinctur“). Vgl. ebd., I, S. 222 (Art. „Leib, Soma“, vgl. S. 294, Art. „Seele“), dazu Kommentar ebd., Bd. II (wie Anm. 69), S. 144 und 217. Diese Vorstellungen waren Oetinger freilich auch aus dem radikalpietistischen Schrifttum, z. B. der „Geistliche[n] Fama“ oder von Marsay (Anm. 83 und 84) bekannt.
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der Jenaer Kanne-Rezensent aus magnetischer Sympathie den Einbezug von Hayens Frau in seine auch ihr Empfinden überwältigenden Beglückungen und Gesichte (in Goethes Wahlverwandtschaften werden dem die sympathetischen Kopfschmerzen Eduards und Ottilies und die Angleichung ihrer Handschrift entsprechen). Der spätpietistische Arzt Justinus Kerner hat noch später Phänomene dieser Art häufig aufgerufen, sowohl 1829 in der Analyse der parapsychischen Erfahrungen seines Mediums Friederike Hauffe in Die Seherin von Prevorst als auch 1831 in seiner Sammlung ähnlich übernatürlicher Phänomene in der Zeitschrift Blätter aus Prevorst (in der er bezeichnenderweise, ebenso wie im Nachfolge-Blatt Magikon auch würdigende Erinnerungen an Oetinger erscheinen ließ).89 Im ständigen Bezug auf Kannes Hayen-Geschichte gibt der Rezensent „Mpi“ die durchweg magnetischen Erklärungen: Die Fähigkeit, auch in der Entfernung zu wissen, was mit geistig oder leiblich bekannten Personen sich ereignet (S. 13), ist schon im gewöhnlichen magnetischen Zustande etwas Gemeines und Allbekanntes […]. Dass die Ehefrau des Hellsehers endlich auch an dem Zustande ihres Mannes Theil nimmt (S. 24), ist eine in der leichten Mittheilbarkeit ähnlicher, z. B. magnetischer Zustände an organisch oder psychisch verwandte Personen so wohl begründete Erscheinung, dass hier vielmehr das Gegentheil auffallen müsste.90
Während die Romantiker sich für die umstrittenen medizinischen Wirkungen und Erfolge der magnetischen Heilbehandlungen Mesmers und seiner Schüler ebenso wie bereits vor ihnen die Pietisten weniger interessieren (Lavaters magnetische Heilungs- und Tranceexperimente waren da eine Ausnahme)91
89 Der Artikel im 7. Heft der „Blätter aus Prevorst“ stammt wahrscheinlich von Kerner selbst, der im „Magikon“ von Johann Friedrich von Meyer, vgl. Breymayer: Vom Weinsberger Dekan (wie Anm. 71), S. 296. 90 „Mpi“-Kanne-Rezension in: Ergänzungsblätter zur Jenaischen Allgemeinen Literatur-Zeitung (wie Anm. 35), Sp. 238 und 240. 91 Vgl. Johann Caspar Lavaters Rechenschaft an Seine Freunde. Erstes Blat [!]. – Winterthur 1786 (darin S. 3–24 „An meine Freunde, über Magnetismus, Cagliostro, geheime Gesellschaften und Nichtchrist Atheist“; zum Magnetismus S. 3–8). Der durch den Spott über Lavaters magnetisches Experimentieren in der Berlinischen Monatsschrift von 1785 (S. 434) erforderte apologetische Charakter dieses selten gewordenen Privatdrucks (vh.: BibliothHque de GenHve) wird schon in dessen Einleitung betont: „Viele von meinen Freunden verlangen über einige Punkte, die mich betreffen, und die in der Welt viel Geredes veranlassen, verständigt zu werden, um im Stande zu seyn, redlichen Nachfragern, redliche und zuverlässige Antwort geben zu können.“ Der davon in der Werkausgabe gegebene Teildruck, Johann Caspar Lavaters ausgewählte Werke. Hg. von Ernst Staehelin. Bd. 3, Zürich 1943, S. 195 f., übergeht gerade die Hinweise des Originaldrucks auf die magnetischen Experimente mit Lavaters „in ekstatischen Zustand“ versetzter eigener Frau und mit dem Arzt Hinrich Matthias Marcard, die aber auch aus den unter den Sammeltitel „Lavater und der Magnetismus. 1785/1786“ gestellten Erläuterungen und Briefen ersichtlich werden. Vgl. Peter Weber: Die „Berlinische Monatsschrift“ als Organ der Aufklärung. In: Berlinische Monatsschrift (1783–1796). Hg. von Friedrich Gedike und Johann Erich Biester.
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als für die übernatürlichen Kräfte und Einsichtsmöglichkeiten in den göttlichkosmischen Weltzusammenhang, leitet der Kanne-Rezensent auch die Heilung des nach dem Tod der Frau in lebensbedrohliches Fieber gefallenen Hemme Hayen aus magnetischer Einwirkung ab und weiß diese als ein naturgesetzliches Faktum aufs Schönste mit der pietistischen Wiedergeburtslehre zu harmonisieren: Die heilende Kraft des Geistes, wovon S. 24 ein merkwürdiges, aber gar nicht seltenes Beyspiel vorkommt, fliesst nothwendig aus der Kraft des zum rechten lebendigen Seyn gekommenen Geistes über die untergeordnete Natur, und schon die gewöhnliche Natur- und Heilkunde zeigt uns Fälle der Art in Menge auf.92
In einem Brief an den Philologen Georg Ludwig Spalding, Sohn des bekannten Aufklärungstheologen, über magnetische Wirkungen am Menschen fasst Johann Caspar Lavater bereits am 22. Oktober 1785, elf Jahre nach seiner Reise mit Goethe an Rhein und Lahn, die auch dessen Nachdenken über Galvanik, Magnetismus und divinatorische Inspiration entscheidend angeregt hat, in einer auf die Romantik und Erweckungsbewegung vorausweisenden Zusammenschau die pietistisch-christliche und die magnetisch-naturspekulative Deutung solcher Phänomene zusammen, wie Hemme Hayen sie beschrieben hatte: Je mehr neue, wohlthätige Kräfte wir im Menschen erkennen, desto mehr erkennen und verehren wir den unsichtbaren, wohlwollenden Mächtigen, desto glücklicher, existenter, Existenz verbreitender sind wir durch dieß religiöse Erkennen. […] Ich verehre diese neu sich zeigende Kraft als einen wohlthätigen Strahl der Gottheit, als einen königlichen Stern der menschlichen Natur, als ein Analogon der unendlich vollkommenen prophetischen Gabe der Bibelmänner, als eine von der Natur selbst mir dargebotene Bestätigung der biblischen Divinationsgeschichten […], als ein Analogon der apostolischen Handauflegung, welche ähnliche, nur unendlich höhere Effekte hervorbrachte.93
Die Berge versetzende Kraft aber des, wie Schubert sich ausgedrückt hatte, „versteckten Poeten“ in uns – als göttlicher Funke und Begnadung oder als uns in der „Physik Gottes“ eingegebene Mitgift und Divinationsgabe – bewahrt, heraufdrängend aus den Tiefen des Unbewussten, bis heute ihre unenträtselten Geheimnisse. Auswahl, Leipzig 1986 (Reclams Universal-Bibliothek, Bd. 1121), S. 356–452, hier S. 414–417, dazu die Polemiken gegen Lavater ebd., S. 110 und 161–167. 92 „Mpi“-Kanne-Rezension in: Ergänzungsblätter zur Jenaischen Allgemeinen Literatur-Zeitung (wie Anm. 35), Sp. 240. 93 Lavater : Ausgewählte Werke, Bd. 3 (wie Anm. 91), S. 192, vgl. Schrader: „Unleugbare Sympathien“ (2003, L 29), S. 61–64, mit Lavater-Tagebuchnotizen über die Gespräche von der Divinationskraft bei Gichtkranken und Kataleptikern, über Chemie, magia naturalis und weitere „Geheimniße der göttlichen Weisheit“.
Erfahrung der äußersten Anfechtung Die Sünde wider den Heiligen Geist (Mt 12,31) in literarischen Reflexen* [2012, L 47]
Während in heutigen Kirchenpredigten der Begriff der Sünde ein seltener Gast geworden ist – aus dem erbaulichen Diskurs scheint er wie der Teufel mitsamt dem Beelzebub ziemlich erfolgreich ausgetrieben – ist früheren Generationen die Besorgnis, ein unübersteigbares Sündenbollwerk könnte den Weg zum Heil blockieren, ein peinigendes Schreckbild gewesen. Dessen profunde Beängstigungen bleiben in der Literatur noch weit über die Säkularisierungsschwelle hinweg manifest. Als Beispiel dafür möchte ich mit der Erzählung des wegen revolutionärer Umtriebe in Deutschland steckbrieflich gesuchten Georg Büchner von 1835 beginnen, also aus der Vormärzzeit, in der sich Auseinandersetzungen mit christlichen Glaubensinhalten bereits aus der Dichtung zu verabschieden beginnen, noch ehe sie in der Nachfolgegeneration, im poetischen Realismus, als Thema fast ganz aus dem Blick geraten. In der mit ihrem offenen Schluss fragmentarisch-aussichtslos hinterlassenen feinsten psychologischen Novelle seiner Epoche, Lenz,1 hat der 21-jährige Studiosus und Autor auf seiner Flucht in Straßburg denn auch zur Thematisierung eigener Kindheitserfahrungen mit radikal christlichem Ethos um zwei Generationen zurückgegriffen für das Psychoporträt des an den pietistisch-rigiden Gehorsamkeitsforderungen seines Vaters zerbrochenen baltischen Kant-Schülers, dann Theologie-Kandidaten und Straßburger Goethe-Freundes Jacob Michael Reinhold Lenz (1751–1792).2 * Plenarvortrag zum III. Internationalen Kongress für Pietismusforschung, „Aus Gottes Wort und eigener Erfahrung gezeiget“, im Freylinghausen-Saal der Franckeschen Stiftungen zu Halle am 2. September 2009. 1 Zitate und Belege im Folgenden nach dem emendierten Lesetext der historisch-kritischen Ausgabe (Marburger Ausgabe) Georg Büchner: „Lenz“. Hg. von Burghard Dedner und Hubert Gersch, Mainz – Darmstadt 2001, S. 31–59 (Sämtliche Werke und Schriften, Bd. 5). 2 Zu dem traumatischen Verhältnis von Jakob Michael Reinhold Lenz zu seinem pietistischen Vater Christian David Lenz vgl. jenseits der richtungweisenden Analyse von Albrecht Schöne: Säkularisation als sprachbildende Kraft. Studien zur Dichtung deutscher Pfarrersöhne, Göttingen, 2. Aufl. l968 (Palaestra, Bd. 226), S. 92–138, Christian Soboths Artikel über Vater und Sohn in: Religion in Geschichte und Gegenwart. 4. Aufl., Bd. 5, 2002, Sp. 263 f. und, detailliert eindringend, ders.: Christian David Lenz und Jakob Michael Reinhold Lenz zwischen Halle und Herrnhut. In: Pietismus und Neuzeit 29 (2003), S. 101–133 (Übersicht zur neueren Forschung
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Erfahrung der äußersten Anfechtung
Die Erzählung fokussiert sich auf die kurze Phase im ersten Halbjahr 1779, als der verstörte Sturm-und-Drang-Poet nach dem Scheitern seiner hochfliegenden Bestrebungen um einen auch lebensauskömmlichen poetischen Ruhm eine gastliche Aufnahme und Pflege im nordelsässischen Waldersbach/ Steintal beim spiritualistisch-philanthropischen Pfarrer Johann Friedrich Oberlin gefunden hatte,3 die seine ausbrechenden manisch-depressiven Wahnvorstellungen allerdings nur auf kurze Zeit dämpfen konnten. Büchners Novelle, als Abrechnung mit sozialen Deformierungen und ekklesiogenen Traumata und darüber hinaus als hoffnungslose Theodizeekritik in der wahnhaften Suche nach Manifestationen der Güte eines unerkennbar-verborgenen Gottes, ist weithin bekannt. Auch weiß man längst, welche herausragende Bedeutung – wie in Büchners Gesamtwerk – biblische Typologien und Verbalallusionen gewinnen, die jedoch statt zum Zeichen himmlischer Ordnung und Begnadung zum Menetekel werden einer in Wunden liegenden Welt. Dem Modell und Metaphernsystem einer Imitatio Christi etwa entbinden sich, als Lenz vor der ärmlichen Gemeinde des Steintals predigt, ohne selbst Ruhe zu erlangen, so unterschiedliche Konnotationen wie mitmenschliche Empfindungsfülle und Wirken des guten Hirten, pietistische Leidensbegier (konzentriert in den sei es gesungenen, sei es nur imaginierten Kirchenliedversen des Hallenser Mediziner-Poeten Christian Friedrich Richter),4 schließlich die S. 102–106, Ankündigung einer Gesamtedition von Vater Lenz’ Tagebuch S. 107) sowie ders.: Von den „Tölpel-Jahren zur Männlichkeit“. Christian David Lenz und Herrnhut unter Zinzendorf und Spangenberg. In: Unitas Fratrum 61/62 (2009), S. 109–125. Einen für die rigide Selbstbeobachtung, aber auch die permanenten Stimmungswechsel zwischen Selbstanklage und überheblicher Selbstgerechtigkeit des Vaters Lenz signifikanten Auszug aus dem Tagebuch von 1741 publizierte und kommentierte schon (in der Forschung unbeachtet) Johannes Kirschfeldt: Der Pietismus des Christian David Lenz. In: Baltische Blätter für allgemein=kulturelle Fragen 2 (1924), H. 3, S. 99–105. 3 Zu Oberlin und seinen Pietismus-Konnexen vgl. Eberhard Fritz: Johann Friedrich Oberlin und die pietistische Bewegung in Straßburg. Zum Einfluss des radikalen Pietismus auf den elsässischen Pfarrer und Sozialreformer. In: Pietismus und Neuzeit 34 (2008), S. 167–188. 4 Schon in der detaillierten Aufschlüsselung der Quellenverwendung Büchners stellen die „Erläuterungen“ zur Historisch-kritischen Ausgabe von Dedner und Gersch (wie Anm. 1) einen Quantensprung der Forschung dar. Zur Kontamination der Versatzstücke in diesen Versen und den Übernahmen aus Richters Lied „Eines Krancken“ von 1711 vgl. ebd. S. 163, 404–406, im Zusammenhang der Werkgenese auch S. 143 f. Grundlegende Hinführungen zur Aufnahme und Umformung des Lieds geben schon Albrecht Schöne: Interpretationen zur dichterischen Gestaltung des Wahnsinns in der deutschen Literatur, Diss. phil. [masch.] Münster 1951, S. 51 f. und insbes. S. 202–205 [Exkurs zu Georg Büchners ,Lenz‘]; Heinrich Anz: „Leiden sey all mein Gewinnst“. Zur Aufnahme und Kritik christlicher Leidenstheologie bei Georg Büchner. In: Georg Büchner Jahrbuch 1 (1981), S. 160–168 und Heinz Rölleke: „Leiden sei all mein Gewinst“. Zur Vor- und Wirkungsgeschichte eines Büchner-Zitats. In: Euphorion 89 (1995), S. 331–334. Für Richter vgl. Eckhard Altmann: Christian Friedrich Richter (1676–1711). Arzt, Apotheker und Liederdichter des halleschen Pietismus, Witten 1972 (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus, Bd. 7). Vgl. ferner : Lieder des Pietismus aus dem 17. und 18. Jahrhundert. Hg. von Christian Bunners, Leipzig 2003 (Kleine Texte des Pietismus, Bd. 6), S. 113 f. sowie ebd. S. 64 f., 129 das Lied von Johann Jacob Moser, „Leiden ist jetzt mein Geschäfte“.
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Anähnlichung an die Bildtradition der Haltung und Gestik des Heilands am Kreuz und die Erfahrung der leidsamsten Gottesverlassenheit: Er sprach einfach mit den Leuten, sie litten alle mit ihm, und es war ihm ein Trost, wenn er über einige müdgeweinte Augen Schlaf, und gequälten Herzen Ruhe bringen, wenn er über dieses von materiellen Bedürfnißen gequälte Seyn, diese dumpfen Leiden gen Himmel leiten konnte. Er war fester geworden, wie er schloß, da fingen die Stimmen wieder an: Laß in mir die heil’gen Schmerzen, Tiefe Bronnen ganz aufbrechen; Leiden sey all’ mein Gewinnst; Leiden sey mein Gottesdienst. Das Drängen in ihm, die Musik, der Schmerz, erschütterte ihn. Das All war für ihn in Wunden; er fühlte tiefen, unnennbaren Schmerz davon […]. Er war allein, allein! Da rauschte die Quelle, Ströme brachen aus seinen Augen […], er konnte kein Ende finden der Wollust; […] er weinte über sich, sein Haupt sank auf die Brust […], die Locken fielen ihm über die Schläfe und das Gesicht, die Thränen hingen ihm an den Wimpern und trockneten auf den Wangen, so lag er nun da allein, und Alles war ruhig und still und kalt.5
Die existentiell empfundene Verzweiflung über das unsinnige und ungerechte Leiden in der Welt bestimmt Lenzens Denken: Oberlin sprach ihm von Gott. Lenz wand sich ruhig los und sah ihn mit einem Ausdruck unendlichen Leidens an, und sagte endlich: aber ich, wär’ ich allmächtig, sehen Sie, wenn ich so wäre, und ich könnte das Leiden nicht ertragen, ich würde retten, retten, ich will ja nichts als Ruhe, Ruhe, nur ein wenig Ruhe und schlafen können. Oberlin sagte, dies sey Profanation. Lenz schüttelte trostlos mit dem Kopfe.6
Das Skandalon so sinnlos erscheinenden Leidens und Sterbens, die Nachricht vom Tod eines unschuldigen Mädchens, treibt Lenz in den wahnwitzigen und natürlich erfolglosen Versuch einer Totenerweckung nach dem Vorbild des mitleidend wunderwirkenden Christus, der zur zwölfjährig verstorbenen Tochter des Jairus Mk 5,41 gesagt hatte: „Mägdlein, ich sage dir, stehe auf“, zum zu Grabe getragenen Jüngling in Nain: „ich sage dir, stehe auf!“ (Lk 7,14) und zum schon bestatteten und in Verwesung übergegangenen Lazarus: „Lazarus, komm heraus!“ (Joh 11,43). Dabei vertauscht Büchners Lenz, der sich in ernsthafter Askese zum Rettungswerk an der in schrecklicher Unordnung befundenen Welt reinigt, allerdings die Formel in jenes von Jesus 5 Büchner: „Lenz“ (wie Anm. 1), S. 35 f. 6 Ebd., S. 47. Die Quellen, darunter freilich in erster Linie Oberlins Bericht „Herr L“ vom Febr./ März 1778, sind vorgestellt, ediert und ausgewertet ebd., S. 215–368. – Unter „Quellenbezogener Text“, ebd., S. 51–73, sind die Einfärbungen graphisch sichtbar gemacht und als Marginalien ausgewiesen; Kommentar ebd., S. 481 f.
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zum Gichtbrüchigen am Teich Bethesda anbefohlene „Stehe auf und wandle“ Mt 9,5 (par.), woraus in magischen Denksystemen schon allein das Scheitern des hybriden Unterfangens resultieren müsste. In atemlosem Sekundenstil und Umschlag der Innen- und Außenperspektiven erscheint hier äußeres Geschehen und psychischer Zusammenbruch parallelgeführt: Am dritten Hornung hörte er, ein Kind in Fouday sey gestorben, er faßte es auf, wie eine fixe Idee. Er zog sich in sein Zimmer und fastete einen Tag. Am vierten trat er plötzlich in’s Zimmer zu Mad. Oberlin, er hatte sich das Gesicht mit Asche beschmiert, und forderte einen alten Sack; sie erschrack, man gab ihm, was er verlangte. Er wickelte den Sack um sich, wie ein Büßender, und schlug den Weg nach Fouday ein […]; er warf sich über die Leiche nieder ; der Tod erschreckte ihn, ein heftiger Schmerz faßte ihn an, diese Züge, dieses stille Gesicht sollte verwesen, er warf sich nieder, er betete mit allem Jammer der Verzweiflung, daß Gott ein Zeichen an ihm thue, und das Kind beleben möge […]; dann sank er ganz in sich und wühlte all seinen Willen auf einen Punkt, so saß er lange starr. Dann erhob er sich und faßte die Hände des Kindes und sprach laut und fest: Stehe auf und wandle! Aber die Wände hallten ihm nüchtern den Ton nach, daß es zu spotten schien, und die Leiche blieb kalt. Da stürzte er halb wahnsinnig nieder, dann jagte es ihn auf, hinaus in’s Gebirg. […] In seiner Brust war ein Triumph-Gesang der Hölle. Der Wind klang wie ein Titanenlied, es war ihm, als könne er eine ungeheure Faust hinauf in den Himmel ballen und Gott herbei reißen und zwischen seinen Wolken schleifen; als könnte er die Welt mit den Zähnen zermalmen und sie dem Schöpfer in’s Gesicht speien; er schwur, er lästerte. So kam er auf die Höhe des Gebirges […], und der Himmel war ein dummes blaues Aug und der Mond stand ganz lächerlich drin, einfältig. Lenz mußte laut lachen, und mit dem Lachen griff der Atheismus in ihn und faßte ihn ganz sicher und ruhig und fest.7
Diese Verzweiflung an Gott, an seiner Gerechtigkeit und Gnade, hier mit dem im 18. Jahrhundert häufig auf diese Befindlichkeit verengten Begriff des „Atheismus“ belegt, stürzt Lenz in noch profundere religiöse Skrupel. Die werden angedeutet in einer für seine seelische Ausweglosigkeit erstmals in der neuen kritischen Edition gebührend erschlossenen Abbreviativformel zu einem anderen literarisch hochrelevanten Bibelmodell, das sich auf einen 7 Ebd., S. 42 f., ausführlich, auch mit Erschließung der Bibel-Bezüge, kommentiert S. 450–457. – Schöne: Interpretationen (wie Anm. 4), S. 53, hebt den psychopathologischen Aspekt der extremen Bewusstseinsschwankungen gegenüber den Folgen der religiösen Obsession und Fixierung hervor: „Lenzens ,Atheismus‘ ist niemals Leugnung der göttlichen Daseinswirklichkeit, er stellt sich auch in den Stunden der weitesten Entfernung von Gott als eine Religiosität dar, die nur ins Negative gewandt ist. Nach dem Geschehnis am Grabe des toten Kindes findet der Kranke nie wieder zum göttlichen Troste zurück. Er versteht sich von dorther stets als Abgefallenen und in Ewigkeit Verdammten. […] Das letzte Wort, auch zu den religiösen Problemen, spricht wiederum die Krankheit. Weder der mystische Eingang ins Göttliche noch das Bewusstsein der ewigen Verdammnis bleiben im Selbstverständnis des Kranken bestehen und geben der Novelle einen durchgehenden Bezug. Dort, wo die stürmischen Gemütsbewegungen auslaufen in den Spät- und Dauerzustand des geistigen Zerfalls, ersterben auch die religiösen Phänomene.“
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einzigen nirgends näher bestimmten und dadurch umso bedrohlicher vielfach beziehbaren Vers gründet: die Angst, die in Ewigkeit unvergebbare und damit womöglich durch einen einzigen Moment der Verirrung in endlose Höllenqualen stürzende Sünde wider den Heiligen Geist begangen zu haben.8 An Lenz werden nach dem ihn vernichtenden Einfall die Wirkungen sogleich im Gespräch mit Oberlin offenbar : Am folgenden Tag befiel ihn ein großes Grauen vor seinem gestrigen Zustande, er stand nun am Abgrund, wo eine wahnsinnige Lust ihn trieb, immer wieder hineinzuschauen, und sich diese Qual zu wiederholen. Dann steigerte sich seine Angst, die Sünde in den heiligen Geist stand vor ihm. […] Über dem Gespräch gerieth Lenz in heftige Unruhe; er stieß tiefe Seufzer aus, Thränen drangen ihm aus den Augen, er sprach abgebrochen. Ja, ich halt’ es aber nicht aus; wollen Sie mich verstoßen? Nur in Ihnen ist der Weg zu Gott. Doch mit mir ist’s aus! Ich bin abgefallen, verdammt in Ewigkeit, ich bin der ewige Jude. Oberlin sagte ihm, dafür sey Jesus gestorben, er möge sich brünstig an ihn wenden, und er würde Theil haben an seiner Gnade. […] Beim Nachtessen war er wie gewöhnlich etwas tiefsinnig. Doch sprach er von allerlei, aber mit ängstlicher Hast. Um Mitternacht wurde Oberlin durch ein Geräusch geweckt. Lenz rannte durch den Hof, […] er stürzte sich dann in den Brunnentrog […] und so einigemal, endlich wurde er still. Die Mägde […] sagten, sie hätten […] ein Brummen gehört, das sie mit nichts als mit dem Tone einer Haberpfeife zu vergleichen wußten. Vielleicht war es sein Winseln, mit hohler, fürchterlicher, verzweifelnder Stimme.9 Sein Zustand war indessen immer trostloser geworden […]; die Welt, die er hatte nutzen wollen, hatte einen ungeheuem Riß, er hatte keinen Haß, keine Liebe, keine Hoffnung, eine schreckliche Leere und doch eine folternde Unruhe, sie auszufüllen. Er hatte Nichts.10
8 Die Problematik ist erstmals exzellent kommentiert und mit einer Vielzahl zeitgenössischer Belege sowohl für den Bewusstseinszustand als auch für seine theologische und psychiatrische Einschätzung illustriert in den „Erläuterungen“ zu Büchner : „Lenz“ (wie Anm. 1), S. 457–459, 461 f. Die Ungreifbarkeit der Substanz dieser Sünde wird da schon mit der Äußerung des Königsberger Philosophen, Kant-Nachfolgers (und Ehemanns der einstigen Kleist-Verlobten Wilhelmine von Zenge) belegt (Allgemeines Handwörterbuch der philosophischen Wissenschaften. Hg. von Wilhelm Traugott Krug, Bd. 4, Leipzig 1828, S. 83): „Die sog. Sünde wider den heiligen Geist aber ist ein so problematisches Ding, daß selbst die Theologen nicht wissen, was sie darunter verstehen sollen.“ 9 Büchner: „Lenz“ (wie Anm. 1), S. 43 f., vgl. im quellenbezogenen Editionstext S. 67 f. Im Kommentar auch Dokumentation der „vergleichsweise liberalen Deutung“ (d. h. Begrenzung auf den situativen Kontext der Jesus-Rede und der Auffassung ihrer Vergebbarkeit bei Reue zu Lebzeiten) von Büchners Religionslehrer Heinrich Palmer, die sich in einer Diktatnachschrift oder Zusammenfassung in Büchners Schulheft wiederfindet: „Die Vergebung dieser Sünde ist möglich.“ (Ebd., S. 458 f.). 10 Ebd., S. 46, Erläuterungen S. 472 f.
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Bezug genommen wird damit auf die wohl rätselhafteste Aussage in Jesu Lehren, Mt 12,31 f. (anklingend auch in Mk 3,29 und Lk 12,10), und auf traditionelle Auslegungsbemühungen durch Theologen und Angefochtene, es könne damit die Lästerung Gottes und seines Schöpfungswerks, die willentliche Zuwendung zum Bösen in der verstockten Zurückweisung der göttlichen Gnade, Atheismus oder Nihilismus, die hoffnungslose Verzweiflung und der Entschluss gemeint sein, dem eigenen Leben ein Ende zu setzen. Ich zitiere den Matthäus-Vers in der Version der ,Berleburger Bibel‘: [31:] Darum sage ich euch: Alle Sünde und Lästerung wird den Menschen vergeben werden. [32:] Und wenn iemand ein Wort wird geredet haben wider des Menschen Sohn, denen wird’s vergeben werden: Wenn aber iemand wider den H. Geist wird geredet haben, demselben wird’s nicht vergeben werden, weder in diesem Welt= Lauff noch in dem künfftigen.11
Diese „toO pme¼lator bkasvgl¸a“, die, ärger als ein Vergehen am menschgewordenen Jesus,12 „oute 1m to¼t\ t` aQ_mi oute 1m t` l´kkomti“ – wie Luther übersetzt „weder in dieser noch in jener Welt“ – vergeben werden kann,13 die also, wenn sie auch nur einmal begangen wurde, unrettbar der ewigen Verdammnis und Höllenpein überantwortet, scheint ja eine Grenze nicht nur der göttlichen Gnade, sondern sogar seiner Fähigkeit zur Sündenvergebung und damit seiner Allmacht zu markieren14 und hat somit die Phantasie und die 11 ,Berleburger Bibel‘, Bd. 5: Der Heiligen Schrifft Fünffter Theil / Oder des Neuen Testaments Erster Theil, Berleburg 1735, S. 124 f. – Hinweise zur Forschung u. a. bei Schrader : Zores in Zion (2009, L 44), im vorliegenden Band S. 597–602. 12 Die neueren Kommentatoren sind sich weitestgehend einig, dass der „Menschensohn“ (b uR¹r toO !mhq¾pou), den zu schmähen eine noch vergebbare Sünde sei, an dieser Stelle den menschgeborenen irdischen Jesus und nicht den gottgesandten Heiland meint, der kraft seiner göttlichen Qualität böse Geister austreibt und nur die Lästerung dieses göttlichen Wirkens als unvergebbare Schuld anspricht. Vgl. dazu etwa Eduard Schweizer: Das Evangelium nach Matthäus. Übersetzt und erklärt, Göttingen – Zürich 1986 (Das Neue Testament Deutsch. Neues Göttinger Bibelwerk. Hg. von Gerhard Friedrich und Peter Stuhlmacher, Tlbd. 2, 16. durchges. Aufl.), S. 184 f., 187, Donald A. Hagner: World Biblical Commentary, Vol. 33a: Matthew 1–13, Dallas 1993, S. 347: „Son of Man“ in der Bedeutung von „human being (see Mark 3:28; cf. Ps 8:4, quoted in Heb 2:6)“; Hubert Frankemölle: Matthäus Kommentar, Teil 2, Düsseldorf 1997, S. 148. 13 Luthers Auslegung, die den Kern der Sünde in der willentlichen und boshaften Zurückweisung des Glaubens an die göttliche Gnade bestimmt, ist in den Erläuterungen zu Büchner: „Lenz“ (wie Anm. 1), S. 457, zitiert: „Es ist keyn grösser sund, dann das man nit gleubt den artickel ,vorgebung der sundt,‘ wie wir beten im teglichen glauben, und diße sund heist die sund yn den heiligen geyst, die alle andere sund sterckt und unvorgeblich macht zu ewigen zeyten.“ Martin Luther : Werke. Kritische Gesamtausgabe (WA). Bd. 2, Weimar 1884, S. 717. 14 Während fast alle anderen Kommentare in ihrem Bemühen um eine rein kontextuelle Auslegung und damit situative Verharmlosung des scharfen Logions auf die Kritik der Pharisäer am Geistaustreiben Jesu als vermeintliches Teufelswirken das (damit freilich in keiner Weise aufgehobene) Problem einer impliziten Selbstbegrenzung der göttlichen Gnade und Liebe überspringen, wird dieser wichtige Aspekt in der grundlegenden Kommentierung hervorgehoben, die die Passage von ihrer problematischen Auslegungs- und Wirkungsgeschichte her beleuchtet: Ulrich Luz: Das Evangelium nach Matthäus, 2. Teilband: Mt 8–17 (EKK. Evangelisch-
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Ängste der Christen in allen Zeiten beschäftigt.15 Viele hat die Sorge, sie – womöglich unwillentlich – begangen zu haben, bis zur Verzweiflung getrieben, wie Ulrich Luz in seinem eindrücklichen Kommentar hervorhebt: Die theologische Sachfrage lautet: Gibt es eine Grenze für die Gnade? Widerspricht dieser Satz nicht der grenzenlosen Liebe Gottes, also dem Zentrum der Verkündigung Jesu, und damit auch der Überzeugung von der grenzenlosen Macht des heiligen Geistes? […] Mit ihr beschäftigten sich seit der alten Kirche unzählige Spezialabhandlungen und in der klassischen Dogmatik der locus der blasphemia Spiritus Sancti. […] Der theologische Fleiß hatte aber nicht nur theoretische Gründe. Im Laufe der Kirchengeschichte ist uns aus vielen Biographien bekannt, wie sensible und fromme Menschen durch die Furcht, die unvergebbare Sünde wider den heiligen Geist begangen zu haben, gequält wurden. Heute ist die Sünde wider den heiligen Geist aus den Dogmatiken weithin verschwunden. Aber sie kommt immer noch in den Krankengeschichten frommer Menschen in psychiatrischen Kliniken vor.16
Gerade als die Sünde der desperatio, der endgültigen Aufsage des Vertrauens auf Gottes Gnade und damit womöglich Verzweiflungstat der Zerstörung des eigenen Lebens, ist diese unbestimmte schrecklichste aller Verfehlungen denn auch immer wieder aufgefasst worden, etwa schon in den einführenden Warnversen des Wolframschen Parzival, Ist zw%vel herzen n.chgeb0r, daz muoz der sÞle werden s0r,17 [wenn sich Verzweiflung in der Nachbarschaft des Herzens einnistet, dann muss das für die Seele verderblich werden.]
Katholischer Kommentar zum Neuen Testament. Hg. von Norbert Brox [u. a.], Bd. 1/2), Zürich [u. a.] 1990, S. 263, 265, 267 f. 15 In den „Erläuterungen“ zu Büchner: „Lenz“ (wie Anm. 1), S. 457 f. werden Belege der zeitgenössisch gehäuften religiösen „fixen Idee“, die unvergebbare Sünde begangen zu haben, einerseits aus dem persönlichen Umfeld Jung-Stillings („Szenen aus dem Geisterreiche“) und Goethes („Dichtung und Wahrheit“), andererseits aus der psychiatrischen Literatur der Romantik gegeben (in Bezug auf Depressionen, nach zeitgenössischer Terminologie „Melancholie“ oder „hypochondrische Zustände“ [,malum hypochondriacum‘]). Das in der romantischen Ära meisterwogene (vielleicht auch Büchner bekannt gewordene) Fallbeispiel waren die Beängstigungen des Francesco Spiera (16. Jh.): Einige Bemerkungen über die Sünde wider den heiligen Geist, veranlaßt durch die Schrift: Francesko Spiera’s Lebensende. In: Evangelische Kirchenzeitung, Berlin 1830 (Nr. 15, 20. Febr.), S. 113–116. 16 Luz: Evangelium nach Matthäus (wie Anm. 14), S. 263 f. In den Fußnoten verweist Luz auf eine Zusammenstellung von allein 26 Monographien zu diesem Thema zwischen 1619 und 1824 und gibt Beispiele entsprechender Angefochtenen-Berichte (darunter auch den des Francesco Spiera). 17 Wolfram von Eschenbach: Parzival. Hg. von Albert Leitzmann, H. 1: Buch I–VI, 6., verb. Aufl. Tübingen 1953, S. 1 (I. Buch, Vs. 1 f.). Die nachfolgende Übertragung der beiden Verse ins Neuhochdeutsche habe ich vorgenommen.
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Die furchtbare Bedrohung, womöglich dies Nichtwiedergutzumachende verschuldet zu haben und damit erlösungsunfähig geworden zu sein, kommt namentlich in zahlreichen puritanischen und pietistischen Selbstzeugnissen zur Sprache, bis dann doch die Gewissheit durchbricht, dass sich Gottes Gnade als stärker erwies als die eigene ärgste Schuld, dass es – mit dem Titel der bekannten Selbstrechenschaft von John Bunyan aus dem Jahr 1666, Grace abounding to the Chief of Sinners –, „the exceeding Mercy of God in Christ to his poor Servant“ geben kann und muss.18 Von den pietistischen Beispielen möchte ich nur auf den literarisch besonders ausgearbeiteten und dadurch erschütternden Bericht des von Ulrich Luz auch exemplarisch genannten Berner Geistlichen Samuel Schumacher eingehen, der in Lützelflüh im bernischen Emmental Vikar wurde, somit ein Amtsvorgänger von Jeremias Gotthelf. Rudolf Dellsperger hat ihn in seiner Monographie über Die Anfänge des Pietismus in Bern (zusammen insbesondere mit seinen Berner Kommilitonen Samuel Güldin und Christoph Lutz, die mit ihm gemeinsam 1689 zum Studium nach Genf gekommen waren und dort nach einem Bekehrungserlebnis erste Konventikel begründet hatten) als „Keim zur späteren Bewegung“ eines pietistischen Renouveau in der Zentralschweiz näher untersucht, der „den neuen Geist in ihre Kirche“ gebracht habe.19 Dabei hat er auch einen abschriftlich im Archiv der Franckeschen Stiftungen erhaltenen umfassenden Rechenschaftsbericht Schumachers über die Ausbreitung dieses neuen Geists im Lande und seine eigene Seelenführung publiziert und detailliert erörtert.20 Der später aufs Pfarramt im nahen Melchenau gelangte pietistische Prediger hatte bereits am 3. April 1693, noch aus Lützelflüh, an die Gemeinde in Bremen (mit besonderen Grüßen an ihre dezidiert pietistischen Lehrer, „Herrn Undereick / wie auch […] Herrn de Haes / und Herrn Kreichmann“),21 einen 18 Vgl. zur zentralen Bedeutung der Sündenangst, die das Heil unerreichbar erscheinen lässt, den Artikel von K[laus] E[nsslen]: John Bunyan: Grace Abounding. In: Kindlers Neues Literatur Lexikon. Hg. von Walter Jens, Studienausgabe. Bd. 3, München 1988, S. 386 f. 19 Rudolf Dellsperger: Die Anfänge des Pietismus in Bern. Quellenstudien, Göttingen 1984 (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus, Bd. 22), S. 9. Auf diese gerade für die Biographie und Leistung Schumachers grundlegende Untersuchung bin ich erst nach Abfassung meines Vortrags aufmerksam geworden dank der Erwähnung in der Beispielliste der von der Besorgnis ewigen Heilsverlusts Angefochtenen bei Luz: Evangelium nach Matthäus (wie Anm. 14), S. 264. 20 Samuel Schumachers Brief an August Hermann Francke vom 22. 3. 1695. In: Dellsperger: Anfänge (wie Anm. 19), S. 177–202, mit Angaben zur Überlieferung S. 177 (vgl. ebd., S. 28); die detaillierte historiographische Quellenkritik und Auswertung ebd., S. 28–70. August Hermann Franckes Brief an Samuel Schumacher vom 31. 10. 1695, S. 203–208, geht als Antwortschreiben weder auf die ihm vorgetragene und durch die Beilage nochmals vereindringlichend dokumentierte persönliche Seelennot und Überwindungsgewissheit Schumachers noch auf die Details der berichteten pietistischen Aufbauarbeit im Bernbiet ein, sondern leitet vom Beklagen der eigenen Überarbeitung, die weitläufigeres Antworten nicht zulasse, direkt (und dann doch ziemlich weitläufig) zur Aufbauleistung und den Progressen in den eigenen Halleschen Anstalten über. 21 XV. Historie Samuel Schumachers / Pfarrers zu Melchenau. In: Reitz: Historie Der Wiedergebohrnen. Neudruck (1982, L 2), Bd. 1, III. Teil, [Offenbach] 1701, S. 215–236, Grüße an Un-
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langen Entschuldigungsbrief für die Ärgernisse übersandt, die er in seiner Seelennot dort während seines Aufenthaltes als Hauslehrer und Hilfsprediger bewirkt habe. Der Auszug dieses dann auch seinem Bericht an Francke beigefügten und in Halle ebenfalls (in zwei Abschriften) erhaltenen Schreibens, den Johann Henrich Reitz aus persönlicher oder vermittelter Bekanntschaft des Mannes im III. Teil der Historie Der Wiedergebohrnen von 1701 präsentiert und in dem er den Originalbrief „kurtz zusammen ziehen“ will (S. 215, 235), umfasst immer noch 17 Druckseiten. Das im Aufbau ziemlich sprunghafte, der obsessiven Seelenpein, von der er berichtet, entsprechend wiederholungsreich verworrene Schreiben22 handelt zentral von der in vielen frommen dereyck, de Hase und Kreichmann ebd., S. 234, vgl. auch zu diesen Bremer Kontakten und zur handschriftlichen Überlieferung des allerdings hier nicht mitpublizierten „Schreiben an einen Guten Freü[n]d in Brähmen abgegangen“ auch Dellsperger: Anfänge (wie Anm. 19), S. 42, 44, 46, 50. Als Übermittler des Schreibens und der ergänzenden biographischen Nachrichten aus der Folgezeit an Reitz zieht Dellsperger (ebd., S. 50) die vertriebenen Berner Pietisten Samuel König, Jacob Knecht und Karl Anton Püntiner in Betracht, die gleichzeitig mit ihm im wittgensteinischen Berleburg Zuflucht gefunden hatten. Denkbar ist allerdings auch, dass Reitz den Brief direkt von den ihm ja persönlich verbundenen Bremer Adressaten erhalten hat, schließlich hatte ihm sein Lehrer Theodor Undereyck durch seine Ausgabe puritanischer Erweckungsberichte (Vavasor Powell: Sprituall Experiences, London 1653, in Undereycks Adaption „Christi Braut unter den Töchtern von Laodicea“, Hanau 1670) das Vorbild für seine Exempelsammlung gegeben, aus dem er in dessen I. Teil reichlich geschöpft hatte. Vgl. Anhang in: Reitz: Historie Der Wiedergebohrnen. Neudruck (1982, L 2), Bd. 4, S. 85*–124*; 156*, 165*, 169*f. sowie Schrader: Literaturproduktion (1989, L 1), S. 77–82. Beispiele für mehr oder minder verwandte Seelennöte mit denen Schumachers sind in der Reitzschen Sammlung etwa die Exempel (aus dem Puritanismus) von A.O. (I, 18), M. W. (I, 22), J. L. (I, 33), Catharina Bretterg (II, 6), Elisabeth Wilkinson (II, 16) und Johanna Drake (III, 2), (aus dem Pietismus) von Theodor / Brakel (dessen Historie III, 3 mit schreckensvollem Bericht der befürchteten Versündigung wider den Heiligen Geist auf Deutsch just 1698 in Bern erschienen war, Schumacher also bekannt geworden sein dürfte [vgl. Historie, III, 34 und 38]), Gräfin Elisabeth Charlotte zu Sayn-Wittgenstein-Hohenstein (III, 4), einem von Johann Reinhard Hedinger verteidigten depressiven Selbstmörder (IV, 13), Johann Philipp Burck (VI, 15) und dem mit ihm verglichenen Blankenburger Theologen Michael Müller (VI, 12), schließlich Joachim Friedrich von Blanckensee (VII, 5) und Beata Sturm (VII, 7). Vgl. die Nachweise im Register der „Historie Der Wiedergebohrnen“ (Neudruck, Bd. 4, S. [322]: „Sünde in den H. Geist meynen offt Seelen begangen zu haben.“) – Die Schumacher-Belegzitate aus der „Historie Der Wiedergebohrnen“ weise ich im Folgenden durch die in Klammern gesetzten Seitenzahlen direkt am Zitatschluss aus. 22 Dellsperger: Anfänge (wie Anm. 19), S. 50 f., stellt ganz überzeugende Beobachtungen zur Reitzschen Redaktion des Originalschreibens an, bei denen allerdings zu berücksichtigen ist, dass die ihm vorliegende Abschrift von der durch Schumacher an Francke übersandten Kopie durch eine interessengeleitete Bearbeitung divergent gewesen sein kann: „Reitz hat […] Schumachers Brief nicht nur um den barocken und gefühlsmäßigen Überschwang einigermaßen verkürzt, nicht nur von Helvetismen, von lateinischen und französischen Zitaten gereinigt, sondern er hat das Manuskript auch in theologischer Hinsicht nicht unwesentlich zurechtgestutzt: So hat er mit dem Namen des Teufels auch denjenigen Christi bis auf einen unscheinbaren Restbestand getilgt und den bei Schumacher nicht seltenen enthusiastischen Realis in einen nüchternen Konditionalis zurückverwandelt. Die nähere Begründung und Ausführung dessen, was hier nur gerade angedeutet wurde, lohnte eine eigene Studie.“ – Eine solche bleibt weiterhin wünschbar, ist für meine Fragestellung jedoch eher unerheblich.
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Selbstzeugnissen beschriebenen Panik, durch das Begehen der unvergebbaren Schuld rettungslos in Zeit und Ewigkeit verloren zu sein, und von dem späteren Durchbruch zu der Gewissheit, doch auch der sich schon verloren Glaubende dürfe noch der Gnade und des Heils gewärtig sein. In der Berichtabsicht, die eigene Extremerfahrung solle andern zur Stärkung gereichen, gerät ihm das angekündigte Entschuldigungsschreiben aus Scham und Reue über sein anstoßerregendes (seine Wirtsleute zum Rücktransport des als psychisch krank Erlebten nach Holland veranlassendes)23 Verhalten in Bremen bei aller vorgegebenen Demütigung mehr und mehr zu einem eher selbstgerechten Lehrtraktat. Abgesehen von vagen Andeutungen, er habe sich bei nur äußerem Wohlverhalten im Bewusstsein seiner Unrettbarkeit als ein fresssüchtiger Genussmensch, ja um die Stimme seines Gewissens unbekümmerter „Libertiner“ verhalten („O Gewissen / halte nur deinen Mund / dieses gehet dich nicht an / ich bin jetzt ein Libertiner / ich will essen und trincken / dann morgen werd ich sterben!“ [S. 217]),24 gibt er allerdings nicht die geringste Andeutung, was an Schrecklichem er eigentlich verbrochen oder auch nur an blasphemischen Gedanken ausgebrütet habe.25 Denn nach seiner eigenen Darstellung hat er zumeist ein perfektes Doppelleben geführt: äußerlich als ein vorbildlicher Kirchenchrist, der sogar zum Gottesdienst und Abendmahl geht, in seinem Herzen aber überzeugt, dass all dies nur Schein sei, er selbst dem Satan anheimgegeben und daher bemüht, die abgrundtiefe Verzweiflung über seine ewige Verdammnis bestmöglich zu vertuschen. Dieser Zustand, „hohe Anfechtungen der Seelen“, die er selbst als „Zweiffels=Gedancken“ und im Brief an Francke als „gäntzliche desperation“26 anspricht – man denke an die desperatio des Wolframschen „zwivel“ – und die er keineswegs als „Melancholische Einbildung“ – in heutigen Termini also eine klinische Depression – gewertet sehen will [S. 216], habe zwei Jahre und zwei Monate angehalten, vom Oktober 1690 bis Dezember 1692. Als angehender Theologe weiß er, wie er seine Schuld dogmatisch zu begründen hat, nämlich 23 Dazu ebd., S. 42, 45 f. Ein vor dem Bremen-Besuch 1690 in Amsterdam kennengelernter Freund Zacharias Wenzel musste ihn als offenbar Selbstmordgefährdeten auf Veranlassung seines Logierherrn Le Bruyn nach dort zurückbringen, bis er Anfang März mit seinen von England zurückkehrenden Berner Kameraden in die Schweiz heimreisen konnte (Bericht an Francke, ebd., S. 184, 187). 24 Dellsperger zitiert ebd., S. 46, den Satz aus der von Schumacher an Francke mitübersandten Bericht-Abschrift: „Du gwüssen, halt das maul, dich geht diß nichts an, ich bin ein Libertiner, iß und trinck nur, dan morgens werden wir doch sterben“. 25 Im Brief an Francke: „Ich habe wieder den Heiligen Geist gesündiget […] da ich mit aufgehobener handt so offt ex odio et Diabolica malitia petulanter destinat. oper. contra Scientiam et Conscientiam gesündiget odio quodam directi contra Deum; non semel tantum sed aliquoties, da ich mir selbst vornahm, die Sünde wieder den heil. Geist zu begehen; Ich hatte auch wieder die protestirende Religion zuvor in Hollandt bey einigen Leuten geredet, und wieder die erkante Wahrheit des Evangelii mich gesetzet […] und auch selbst die Wahrheit des Evangelii bey einigen Leuthen in Hollandt verleugnet […]: Und also war ich auf Erden gleichsam in dem Standt der Verdamten.“ (Ebd., S. 185 f., vgl. 46). 26 Ebd., S. 186.
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als nicht etwa ihm nur peripher angeflogene, sondern als wider besseres Wissen um den erforderten Weg halsstarrig festgehaltene Abkehr : Daß es nun nicht Melancholische Einbildung gewesen / erscheinet daher / weil solche Zweiffels=Gedancken noch allezeit bey mir Tag und Nacht verblieben / ob schon ich es niemanden sagte / und meinen Beruff mit grossem Vergnügen meines Kostherrn in Unterweisung seines Sohns / und anderntheils die offentliche Stelle eines Vicarii versahe / da ich durch die Gnade Gottes grosse Erbauung bey der Gemeine thate; Dennoch / ob ich gleich also bey rechter Vernunfft war / so war ich dennoch völlig in meinem Hertzen überzeuget / die Sünde in den H. Geist begangen zu haben; Dann erstlich / so hatte ich bey mir befunden alles das jenige / was dieser Sünd vorher gehen muß / nemlich eine Uberzeugung der Warheit und schmeckung der kräften der zukünftigen Welt […]. Zum andern / so waren auch jenige Ding / die die Natur dieser Sünd außmachen / geschehen / nemlich eine wissende und berathschlagende Auffkündigung der Freundschafft des H. Geistes / dann ich gedachte / weil ich in der Meynung stunde / mit meinen zuvor aus Muthwillen begangenen Sünden diese Sünd in den H. Geist begangen zu haben / so seye nun keine Hoffnung mehr da / daß mich Gott zu Gnaden möchte annehmen. [S. 216 f.]
Die in ihrer Gewalt unbeschreiblichen Schrecknisse und Beängstigungen, als ärgster aller Sünder (also wie Bunyan „Chief of Sinners“) in alle Ewigkeit verstoßen zu sein,27 erreichen den äußersten Grad der Unerträglichkeit beim Heimatbesuch in Lützelflüh des Sommers 1691, trotz der gütigen Aufnahme und seelsorglichen Betreuung im dortigen Pfarrhaus bei dem erwecklichen Prediger (und Vorbereiter des Pietismus in Bern) Georg Thormann28 – geradeso wie sie später der verstörte Lenz bei Oberlin finden sollte. Und sie geben dem sich Erinnernden, nach zulänglichen Worten Ringenden, trotz aller Anleihen an die ihm anerzogenen biblisch vorgeprägten Formeln und Bildvorstellungen unerhörte Sprachkraft: Ob ich nun wohl in dieser Zeit die besten tröstreichsten Predigten anhörte / so war ich doch in meinem Hertzen überzeuget dieser grossen Sünd in den H. Geist / und dannenhero wol in einem verzweiffelten Zustand! Ach wo soll ich Wort finden / die es genugsam außtrucken können? Dann ich ein gantz Jahr lang den Rachen der Höllen vor mir auffgesperret sahe; Ich stellte mir vor / wie mich alle die Teuffel in Ewigkeit quäleten; Wie offt wünschte ich / daß ich doch ein Hund oder Katz seyn möchte / wie offt verfluchte ich meinen Geburtstag; Mein höchster Wunsch war / daß doch der 27 Dellsperger weist ebd., S. 40, 49, 51 f., unter Bezug auf historische und psychohistorische Forschungen auf das sozialpsychologische Phänomen einer verbreiteten Grundstimmung der Angst und quälenden Besorgnisse um die Möglichkeit hin, für das eigene Schuldkonto Gnade zu finden. Dieses selbstquälerische Zeitgefühl habe zweifellos die Ausbreitung des Pietismus und neuartig ekstatischer Frömmigkeitsformen begünstigt. Auch zeigt er (S. 56, 60, 68), wie das an Schumacher und seinen Freunden ausgewiesene Frömmigkeitsmuster in den von ihnen gebildeten Konventikeln ansteckungsartig zu analogen Gefühlslagen geführt habe. 28 Zu Thormann vgl. ebd., S. 30–34, 53–55, 129–132 und s. Reg., S. 221; Charakterisierung durch Schumacher im Brief an Francke S. 179, 188.
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jüngste Tag noch lang nicht möchte herein brechen / damit zum wenigsten mein Leib von den schrecklichen Flammen deß Gerichts möchte befreyet bleiben / und daß er noch Ruh im Grab möchte haben! Wie rief ich: O ihr Berge fallet über mich / usw. Ich förchtete mich offt / sie wurden mich lebendig mit Leib und Seel holen zum Schröcken der gantzen Welt. Ich achtete mich wegen dieser Sünd ärger dann Cain und Judam den Verräther / usw. Ja ich glaubte vest / daß niemand erschröcklicher würde gepeiniget werden als ich / und sancke also bereits in die tieffste Höll / und das war mir also lebendig vor Augen / als ob ich schon darinnen läge; Wie erschröcklich kam mir vor die Aufferstehung der Todten / und wie ich heulen würde an dem Ort / da ich aufferstehen müste / sonderlich gienge es mir durch Marck und Bein / so offt ich an das Wort Ewigkeit gedachte; Euere in Bremen durchfliessende Weeser stellete mir in den unzählbaren Tröpffleinen / die Ewigkeit erbarmlich vor; Alle Blätter in den Wäldern / alle Gräßlein in den Feldern über die ich reisete / schrien mir gleichsam allezeit zu: Ewigkeit / Ewigkeit! Wo ich nur ein Feur erblickte / das setzte mich in die Gedancken von der Höllischen Feurflammen. […] In dieser äussersten Seelen=Angst muste ich nicht nur an mir selbst / sondern auch nothwendig an Gott verzweifflen / so daß ich offt gedachte / Gott könne sonst allen anderen Menschen helffen / und ihme sey alles möglich / diß aber sey ihm unmöglich / daß er mir helffen könne […]. O Abgrund des Elends / wo führstu meine Feder hin [S. 218–220].
In dieser äußersten Verlassenheit zeigt ihm dann Gott aber doch in der bloß zur Vermeidung von Ärgernis besuchten Predigt seines Gastgebers, als „nach gewohntem Gebrauch in unserer Schweitzerischen Kirche 18. Tage vor dem Weihnacht=Fest communiciret werden solte“,29 einen „Regenbogen“ [221]. Die Predigt Thormanns geht über Eph 3, 14–21, die grenzenlose „Breite und Länge und Tiefe und Höhe“ der „Liebe Christi, die das Erkenntniß übertrifft; damit ihr erfüllt werdet zu aller GOttes=Fülle […] der Ewigkeit der Ewigkeiten“.30 Bei Schumacher löst sie einen jenseits aller rationalen Erklärbarkeit bleibenden Empfindungsschwall des Schmelzens und Zerfließens seines ver29 Die Angabe stimmt nicht mit dem an Francke vermeldeten Bekehrungsdatum des „18 Decembris 1692“ zusammen (S. 189), das auch Dellsperger, ebd., S. 45 u. 47, aufgreift. Sie ist aber auch in sich selbst unstimmig, kommt man doch „18. Tage vor dem Weihnacht=Fest“ weder auf „den 18. Octob“ (so die Datierung im Abdruck bei Reitz) noch auf „den 18 Decembris 1692“ (so im Brief an Francke). 30 Zitate aus der ,Berleburger Bibel‘, Eph 3,18 f. u. 21. Der Heiligen Schrifft Sechster Theil, oder des Neuen Testaments Zweyter Theil, Berleburg 1737, S. 627 u. 629, mit opulenter mystischer Kommentierung der ewigkeitsumspannenden Dimensionen: „Was für eine schöne Figur der Liebe ist da zu sehen! Sie ist so ordentlich, daß kein Mathematicus in der Natur was regulirters machen kann; und doch so übermässig, dass sie sich in allen Kreissen nach allen Seiten, nach unten und oben, kehret.“ (Ebd., S. 629). Im Brief an Francke projiziert Schumacher die seine Erlösung aus der Höllenangst bewirkende Bildlichkeit der Unermesslichkeit der Liebe auch schon auf die frühe Gnadenrührung zusammen mit den Berner Freunden in Genf zurück: „Er […] ist unß in unserm elenden und erschröckl. lauf in den Weg gestanden; O große Gedult und Langmuth! O himmelbreite Gnade! o unaussprächl. und unermäßliche Barmherzigkeit. O Länge! o Tieffe! o Breite der unbegreiffl. Weißheit Gottes!“ (In: Dellsperger: Anfänge [wie Anm. 19], S. 180).
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härteten Herzens aus, das in mystischer Erfahrung mit dem Herzen Jesu zusammenrinnt; Da er nun so herrlich die Länge und die Breite usw. der Liebe Gottes in Christo erklärte / da bewegte er mir daß Hertz / daß ich gedachte: Ach du elende Creatur / sihe alle / die hier sind / können sich trösten dieser Höhe und Breite der Liebe Gottes; Du allein und der Teuffel haben sich derselben in Ewigkeit nicht zu trösten! […] wie übel hastu dich zugerichtet / daß Gott auch selbst / wann er schon wolte / dir dennoch krafft seiner Gerechtigkeit und Warheit nicht helffen könte? Augenblicklich aber geschahe es / als durch einen sanfften Wind / daß mein zuvor eiß=kaltes Hertz solcher Gestalt zerschmoltzen / daß ich […] die gantze Predigt durch vor lauter Thränen zerflosse / welches mir so wunderlich vorkam / daß ich es nicht genug außtrucken kan. Nachdem nun die Predigt vollendet / und die Communion angieng / trate ich mit einem thränenden Hertzen hinzu / und war mein Hertz durch eine geistliche aber sehr liebliche Kraft gleichsam hinauff gerücket in das Hertz JEsu / als in den rechten himmlischen Saal / da das geistliche Abendmahl gehalten wird / und versenckte ich mich dort in seine Wunden / und vereinigte mich mit ihme / welches alles auf eine sehr empfindliche Weise geschahe. […] Gantz deutlich erschallet in meinen Ohren oder Seel die Stimm / daß mir meine Sünden vergeben. Darwider setzte sich zwar meine Vernunfft mit allen ersinnlichsten Gründen / es fielen mir aber dargegen so unzehliche Sprüche der H. Schrifft ein / an welche ich mein Lebtag nicht gedacht hatte / womit allen diesen Zweiffels=Einwürffen der Mund gestopfft worden / so daß nunmehro einer in und mit mir ist / der alleweg sieget. [S. 221 f.]
Allerdings bleibt diese Rettungsgewissheit, der „Reichthum der unendlichen Barmhertzigkeit Gottes / die sich so wunderbar an mir unwürdigen Nichts entdecket hat“ [S. 216], angesichts der mit rationalen und theologischen Argumenten abgestützten Ernsthaftigkeit des früheren Seelenzustands nicht beständig und kein gesicherter Besitz vor der Frage, ob die ephemere Erfahrungsflut, „nachdem in meiner Seelen der Außspruch gegeben / daß ich sey frey gesprochen von meinen Sünden“ [S. 225], „nicht ein Betrug des Hertzens sey“ [S. 227]. Die alten Dämonen in neuen Panikattacken, „daß ich fallen könnte in die allerschröcklichste Sünde wider den H. Geist“ [S. 231], können ihm trotz aller kasuistischen Selbstüberzeugungsversuche und emotionalen Aufschwünge in der Adaption biblischer Rettungsverheißungen oder wochenlangem Empfinden wunderbarer Erquickungen bei seiner eher depressiven Gemütsanlage31 nicht dauerhaft Ruhe schaffen („Ich bin von Jugend auff 31 Auch Dellsperger: Anfänge (wie Anm. 19), S. 45 f., 49, geht auf die Frage einer psychopathologischen Hypersensibilität Schumachers und auf manisch-depressive Momente seines „melancholischen“ Erlebens ein, die natürlich zu dessen Blickrichtung auf den Prozess einer Gnadenführung von Schuld über Sühne zum Heil inkompatibel ist. Die ebd. S. 49 (Anm. 56) wiedergegebenen Details psychosomatischer Hypochondrien machen Schumachers Aufzeichnungen aber zu einem geistesgeschichtlich ähnlich aufschlussreichen Dokument für den Übergang von pietistischer Seelen-Selbstanalyse zu ebenso minutiös registrierten Körperbe-
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zu keiner Freud geneigt gewesen / nun aber befinde ich / daß das Reich Gottes bestehet in Freude in dem H. Geist. Jauchtze / O meine Seele!“ [S. 231]). Der Herausgeberbericht nach dem in Reitz’ Historie auszugweise vorgelegten Brief bestätigt im Hinblick auf die spätere Zeit, als Samuel Schumacher in Melchenau als Pietist verdächtigt, vor die Synode gezerrt wird und zeitweise um sein Amt fürchten muss, was Schumachers eigener Text zwischen den Zeilen schon für die Zeit bald nach der psychischen Rettungserfahrung angedeutet hatte: Er hat vor einigen Jahren zum andern mahl die gröste Höllen=Angst ein gantzes Jahr außgestanden / und auff seiner Freund anhaltenden Rath die Wasser=Cur zu Baden gebraucht / aber schrifft=mündlich bekandt / daß diese Cur und Mittel ihme keine Befreyung von seiner tieffen Traurigkeit zuwegen gebracht / sondern die heilsame Hand Gottes es allein / ohne solche Cur gethan; Wie er dann präcise an dem Tag des Jahrs / und in der Stund / und in dem Ort / wann und wo er von der Höllen=Angst überfallen gewesen / auch davon erlöset worden. [S. 235]
Gegen die Vorstellung einer rätselhaften Sünde, die unaufhebbar ewige Verdammung nachzieht und also der vergebenden Gnade und sogar Allmacht Gottes eine Grenze zu setzen scheint, ist bei Schumacher die am eigenen Leibe und im eigenen Herzen erfahrene, jene als missverstanden beiseite gerückte Drohsatzung gleichsam wegspülende Grenzenlosigkeit der göttlichen Liebe und Erbarmung gestellt. In welchem Verhältnis die aber zu dem verstörenden Jesuswort von der ewigen Unvergebbarkeit der ärgsten aller Sünden steht und ob so monströse Schuld wirklich begangen oder nur eingebildet war, wird unter Berufung auf die Erfahrung der rettenden Gnade nicht weiter erwogen. Insofern und solange es jedes Wort der Bibel als göttlich inspiriert und obachtungen wie die in dieser Dimension häufiger untersuchte Autobiographie des Adam Bernd: M. Adam Bernds, Evangel. Pred. Eigene Lebens=Beschreibung, Samt einer Aufrichtigen Entdeckung, und deutlichen Beschreibung einer der grösten, obwohl großen Theils noch unbekannten Leibes= und Gemüths=Plage, Leipzig 1738 (mit den undatierten Nachträgen „M. Adam Bernds Fortsetzung seiner eigenen Lebens=Beschreibung.“ und „Ursachen, warum der Autor seine bisher herausgegebene Lebens=Beschreibung nicht fortzusetzen gesonnen.“). Vgl. dazu aus literaturwissenschaftlicher Sicht Hans-Jürgen Schings: Melancholie und Aufklärung. Melancholiker und ihre Kritiker in der Erfahrungsseelenkunde und Literatur des 18. Jahrhunderts, Stuttgart 1977; Jürgen Lehmann: Bekennen – Erzählen – Berichten. Studien zur Theorie und Geschichte der Autobiographie, Tübingen 1988 (Studien zur deutschen Literatur, Bd. 98); in medizingeschichtlicher Opsis Barbara Thums: „Solange Gott nicht der beste Arzt ist, so helfen alle Medicamente nichts“. Zur Diätetik der Seele und des Leibes in Adam Bernds ,Eigene Lebensbeschreibung‘ (1738). In: Interdisziplinäre Pietismusforschungen. Beiträge zum Ersten Internationalen Kongress für Pietismusforschung 2001. Hg. von Udo Sträter [u. a.], Bd. 2, Tübingen 2005 (Hallesche Forschungen, Bd. 17), S. 627–638. Im Zeitalter der Romantik wurde die selbstzerstörerisch extremste Sündenangst, wie die in den „Erläuterungen“ der Kritischen Ausgabe zu Büchner: „Lenz“ (wie Anm. 1), S. 458, gesammelten Äußerungen von Johann Valentin Müller (1798), Johann Christian Reil und Johann Christian Hoffbauer (1805/1808), auch noch Christoph Wilhelm Hufeland (erschienen 1840), zeigen, bereits vorrangig nach Krankengeschichten als Fall der Nervenheilkunde erörtert.
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damit nicht irrtumsfähig ansah, konnte das kirchliche Lehramt den Widerspruch zwischen möglicher Umkehr und Gnadenannahme auch noch des Verruchtesten und der hier aus heiligstem Mund bezeugten unaufhebbaren Verdammung nicht ohne Bemühen um dogmatischen Ausgleich auf sich beruhen lassen. Die bis heute unabgeschlossene Debatte kann ich freilich nicht nachzeichnen. Sie kulminiert in der vom Zürcher NT-Kommentator Ulrich Luz noch 1990 exponierten Frage nach einer möglichen „Grenze für die Gnade“ Gottes.32 Jenseits aller Divergenzen, etwa, ob die Sünde wider den Heiligen Geist mit den (nach Umkehr und Buße zu Lebzeiten kraft unermesslicher Gnade nach angemessener Strafzeit doch vergebbaren) Todsünden (1Joh 5,16) identisch oder kategorial davon zu trennen sei, ist die allen Debatten grundlegende dogmatische Basis weithin die gleiche.33 Augustinus schon hatte sie in einer ganzen Serie von Auseinandersetzungen mit den die Höllenangst instrumentalisierenden Häretikern gelegt, wie Thomas Gerhard Ring 2000 in einem minutiös-umfassenden Aufsatz ausführen konnte.34 Charakterisiert wird diese Sünde in der auch die Unendlichkeit ihrer Bestrafung begründenden Halsstarrigkeit des Menschen, der sich aus Bosheit lebenslang und wider besseres Wissen dem Gnadenhandeln des Heiligen Geistes widersetzt. Ihr muss also der „Charakterzug des Grundsätzlichen und Dauerhaften im Negativen“35 eignen: Das Wesen der Sünde wider den Hl. Geist machen also Unbußfertigkeit und Herzenshärte, impaedimentia und duritia cordis, aus, sie ist eine formale Sünde, die unterschiedliche materiale Inhalte haben kann, die aber alle im Widerstand gegen die Gnade gleich sind. Sie ist in diesem Leben wegen der Möglichkeit der Umkehr aufgrund der Langmut und Barmherzigkeit Gottes nur bedingt unvergebbar und verfestigt sich erst mit dem Tode des unbußfertigen Sünders zu endgültiger Unvergebbarkeit mit der Verdammung als Straffolge. Daher kann und darf niemand in diesem Leben der Sünde wider den Hl. Geist geziehen werden, sondern bei jedem ist Hoffnung auf Bekehrung und Heil angebracht.36
Alle Kirchendogmatiken übernahmen das Bemühen, gegen die Bedrohung der unterschiedlichsten Sektierer, schon ein unwillkürliches Handeln oder auch nur ein durch den Kopf schießender Zweifelgedanke gegen das Heilshandeln Gottes könne in ewige Verdammung stürzen, die Irreversibilität des Heilsverlusts über die Grenze des Lebens hinauszuschieben. Die kirchenpolitische 32 Luz: Evangelium nach Matthäus (wie Anm. 14, vgl. umfassenderes Zitat Anm. 16), S. 263. 33 Ebd., S. 264, unterscheidet historisch drei – untereinander aber weithin konvergierende – Auslegungslinien. 34 Thomas Gerhard Ring: Augustins Deutung der „Sünde wider den Hl. Geist” in Mt 12,3lf. In: Augustiniana. Tijdschrift voor de studie van Sint Augustinus en de Augustijnenorde 50 (2000), S. 65–84. 35 Ebd., S. 82. 36 Resümee ebd., S. 83 f. Ähnlich argumentiert auch Hagner: World Biblical Commentary (wie Anm. 12), S. 347.
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Zielung des augustinischen Reflektierens ist aber doch kirchengeschichtlich verhängnisvoll dadurch geblieben, dass er alle unbelehrt durch die ihnen verkündete Wahrheit lebenslang an ihren Irrtümern festhaltenden Häretiker, insofern sie ja halsstarrig dem in der Kirche verkörperten Heiligen Geist widerstehen, der selbstverschuldeten Ewigkeit ihrer Höllenstrafen zuweist. Diese augustinische Applikation gegen die Montanisten und Donatisten hält, soweit ich sehe, bis heute der katholischen Dogmatik eine eher verschwiegene Hintertür offen, alle Glieder anderer Kirchen als halsstarrige Apostaten für ewig verdammt zu erklären, wenn sie nicht vor dem Tod reumütig in den Schoß der allein seligmachenden Kirche zurückgekehrt sind.37 In der protestantischen Theologie wird stärker auf religionsgeschichtliche Parallelen (jüdische Sündenlehre, koptisches Henoch-Buch) und die Synoptikervergleichung sowie auf die kontextuelle Bedingtheit des Jesus-Logions hingewiesen: Seine Bedeutung habe es im Bezug auf die ihm arglistig widerstehenden Pharisäer, die gegen bessere Einsicht darauf beharren, der Geist, der aus ihm spreche, sei ein unreiner Geist. Die Argumente aber für die weitestmögliche Einschränkung einer alle Hoffnungen abschneidenden Gnadenversagung gegen voreilige Einbildungen und Verzweiflungsreaktionen der Gläubigen, sie könnten schon durch einen bloßen Lästergedanken unrettbar verloren sein, bleiben die seit Augustinus probaten. Gerade in biblizistischevangelikalen Gemeinschaften muss vor offenbar häufigen angstvollen Selbstapplikationen gewarnt werden, sind es doch meist Gläubige, Kinder Gottes, solche, welche den Heiligen Geist innewohnend haben, die sich dieser Sünde zeihen. Gerade sie aber geht diese Sünde gar nichts an. Ja, das Dämpfen [1Thess 5,19] und Betrüben des Geistes [Eph 4,30] bei sich und andern – das sind Sünden von Kindern Gottes, die können nur da geschehen, wo der Heilige Geist wohnt. Die können aber auch vergeben werden und werden auch vergeben dem Bußfertigen.38
Dies war auch schon die Position der für pietistisch um ihr Seelenheil Beängstigte geradeso paränetisch kommentierenden ,Berleburger Bibel‘ von 37 Bei Luz: Evangelium nach Matthäus (wie Anm. 14) wird allgemein auf die Gefahr hingewiesen, das Jesus-Logion als Mittel der kirchenpolitischen Disziplinierung zu missbrauchen: „Es eignete sich glänzend zur Verurteilung von Häretikern und damit zur eigenen Selbstbestätigung, nicht zuletzt in seiner augustinischen Zuspitzung auf die Kirche.“ (Ebd., S. 265). „Seine Wirkungsgeschichte gibt zu denken: Daß es immer wieder zur Untermauerung eigener Wahrheitsansprüche, zur Verabsolutierung der (eigenen!) Kirche und zur Vernichtung kirchlicher Gegner gebraucht worden ist, muß zur Frage führen, ob es wirklich ein guter Ausdruck des Evangeliums von Gottes Herrschaft und Gottes Liebe ist.“ (Ebd., S. 267). Dazu vgl. die Eingangsbeobachtungen bei Schrader: Conrad Beissels Ephrata-Gemeinschaft (L 41, 2006), im vorliegenden Band S. 547 f. 38 Theodor Böhmerle: Die Sünde wider den Heiligen Geist. In: Gnade und Herrlichkeit, Heilbronn, Jg. 1960, mir nur in digitalisierter Version zugänglich geworden (http://data.kahal.de/pdf/342TB-SWG.pdf [Aufruf 30. 06. 2018]); offensichtlich handelt es sich um eine Erläuterung aus dem Theologie-Kontext der „Zeugen Jehovas“.
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1735 zu Mt 12,31 f.: Gemeint seien keinesfalls Lästerungen, „die ohne Willen in dir aufsteigen. Darum sey versichert, daß dir solche GOtt nicht zurechne, und halte dich auch nicht dabey auf, sondern wirff dem Teuffel seinen Koth hin“. Gemeint sei allein die Sünde zum Tod, 1. Joh. 5,16. wovor die Pharisäer gewarnet werden […]. Da darff man nun nicht sagen, Christus mache die Leute desperat: denn er macht ja genug Unterscheid unter den Sünden, und zur Vergebung macht er die Thür weit genug auf. Wenn man sich aber dem Geist recht entgegensetzt, das ist keine menschliche Schwachheit, sondern die gräulichste Bosheit […] wie die Pharisäer damit daß sie dem Beelzebub zuschrieben, was er durch Gottes Geist gewircket, ihn selbst vor einen Zauberer, den Heiligen Geist aber vor den Beelzebub, hielten und ausschryen.39
Jeremias Gotthelf selbst wird zum Erweis der über alles Menschenmaß erhöhenden Gnadenfülle Gottes in seiner Novelle Die schwarze Spinne von 184240 ausgerechnet die aller Übel bezichtigte Landesfremde, die im Paktieren sogar mit dem Teufel ihr Seelenheil auf Ewigkeit verspielt zu haben scheint, im stellvertretenden Opfer die ganze Talschaft retten lassen und somit ihren Christus-Namen Christine mit figuraler Bedeutung erfüllen. Nur skizzieren kann ich hier, da dies ein Vortrag für sich wäre, die auf profunde Verstörung hinweisende Bedeutung, die das Motiv der auf Zeit und Ewigkeit unvergebbaren Sünde für Friedrich Schiller hat. Schon in Die Räuber (geschrieben 1779/80) reflektiert sie der ruchlose Franz Moor im Hohn auf die Langmut Gottes und trotzigen Entschluss, dem vermeintlichen Vatermord auch noch den Brudermord folgen zu lassen: Bin ich doch ohnehin schon bis an die Ohren in Todsünden gewatet, daß es Unsinn wäre zurückzuschwimmen […] – Ans Umkehren ist nicht mehr zu gedenken – Die Gnade selbst würde an den Bettelstab gebracht, und die unendliche Erbarmung bankerott werden, wenn sie für meine Schulden all gutsagen wollte.41
Selbst im Gespräch mit dem zur Buße mahnenden Pfarrer spottet er noch des göttlichen Erlösungswillens: Ich will aber nicht unsterblich sein […]. Ich will ihn zwingen, daß er mich zernichte […]. Sag mir, was ist die größte Sünde, und die ihn am grimmigsten aufbringt?
39 ,Berleburger Bibel‘, Bd. 5 (wie Anm. 11), S. 124 f. 40 Jeremias Gotthelf: Die schwarze Spinne. Noch immer maßgeblich die Edition in: Gotthelf [d.i. Albert Bitzius]: Werke in 24 Bänden. Hg. von Rudolf Hunziker und Hans Bloesch, Bd. 17/2: Kleinere Erzählungen. Bearb. von Hans Bloesch, München 1912, S. 5–98, Apparat und Kommentar S. 466–485. 41 Friedrich Schiller : Die Räuber. Ein Schauspiel [Fassung des Erstdrucks von 1781]. In: Ders.: Sämtliche Werke. Hg. von Gerhard Fricke und Herbert G. Göpfert. Bd. 1: Gedichte. Dramen 1, München – Darmstadt, 8. durchges. Aufl. 1987, S. 572 (Szene IV,2).
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Und doch erbleicht er voll Entsetzen, als ihm diese als „Vatermord“ und „Brudermord“ qualifiziert wird, denn „Tod, Himmel, Ewigkeit, Verdammnis schwebt auf dem Laut deines Mundes“.42 Auch sein als blutschuld-befleckter Räuber in Verzweiflung und Selbstmord-Anfechtung gefallener Bruder Karl scheint im Verzweifeln an göttlicher Rettung dieser äußersten Sünde zu verfallen („Ich bin mein Himmel und meine Hölle.“),43 während er zugleich den vermeintlich als untot umgehenden Vater für auch postum noch rettungsfähig hält: Geist des alten Moors! Was hat dich beunruhigt in deinem Grab? Hast du eine Sünde in jene Welt geschleppt, die dir den Eingang in die Pforten des Paradieses verrammelt? Ich will Messen lesen lassen, den irrenden Geist in seine Heimat zu senden.44
Als aber auch Karl rachsüchtig eine Blutspur ohnegleichen hinter sich herzieht, ehe er sich grauend vor der himmlischen der irdischen Justiz überliefert, bleibt die Frage der jenseitigen Erfüllbarkeit des väterlichen Segens offen: Siehe die Gottheit ermüdet nicht im Erbarmen, und wir armseligen Würmer gehen schlafen mit unserm Groll […]. Sei so glücklich, als du dich erbarmest!45
Im Lied An die Freude von 1785 scheint Schiller bereits die seit Klopstock im gesamten Idealismus verbreitete Überzeugung zu teilen, Gottes grenzenlose Liebe werde am Ende der Zeiten selbst die ärgsten Sünder und sogar den Teufel nach einer gebührenden Bestrafung in die Allversöhnung (!pojat²stasir p²mtym, Apg 3,21) aufnehmen,46 wenn er den frommen Lobgesang beschließt Großmut auch dem Bösewicht, Hoffnung auf den Sterbebetten, Gnade auf dem Hochgericht! Auch die Toten sollen leben! Brüder trinkt und stimmet ein, Allen Sündern soll vergeben, Und die Hölle nicht mehr sein.47 42 43 44 45 46
Ebd., S. 606 (Szene V,1). Ebd., S. 591 (Szene IV,5). Ebd., S. 593 (Szene IV,5). Ebd., S. 611 (Szene V,2). Diesen Aspekt habe ich – unter Hinweis auf andere poetische Ausgestaltungen der Allversöhnungslehre von Klopstock bis zu Hölderlin – ausführlich erörtert am Beispiel des Goetheschen „Werther“ (Wiederbringung eines Selbstmörders) und „Faust“ (Erlösung nicht nur des Teufelsbündners, sondern – wider Willen – sogar des Teufels selbst): Schrader: Modell des Menschen. Hiob (2004, L 33) u. ders.: Von Patriarchensehnsucht zur Passionsemphase (2005, L 39). Zu den geistesgeschichtlichen Grundlagen der Lehre vgl. (mit Lit.): Marcus Meier : Horch und Petersen. Die Hintergründe des Streits um die Apokatastasis im radikalen Pietismus. In: Pietismus und Neuzeit 32 (2006), S. 157–174. 47 Friedrich Schiller : An die Freude. In: Sämtliche Werke (wie Anm. 41), Bd. 1, S. 133–136, hier S. 136.
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Dieser Hoffnung darf sich am Ende im Wilhelm Tell von 1803 sogar auch der „des Vatermordes“ schuldige Parricida, Johann von Schwaben, hingeben, der für Macht und Besitz den Kaiser umgebracht hat. Diese Nebenfigur gewinnt ja ein dramaturgisch im Dramenschluss kaum zu rechtfertigendes Gewicht für eine minutiöse Diskussion der Bedingungen und Grenzen eines bis zum Tyrannenmord gehenden Widerstandsrechts. Tell verflucht ihn zunächst voller Entsetzen über eine Untat, die in Motivation und Umständen mit der eigenen Tötung des gewaltsam-ungerechten Vogts keinerlei Vergleich duldet. Euern Ohm Erschlagen, Euern Kaiser! Und Euch trägt Die Erde noch! Euch leuchtet noch die Sonne! […] Unglücklicher! Darfst du der Ehrsucht blutge Schuld vermengen Mit der gerechten Notwehr eines Vaters? Hast du der Kinder liebes Haupt verteidigt? Des Herdes Heiligtum beschützt? das Schrecklichste, Das Letzte von den Deinen abgewehrt? – Zum Himmel heb ich meine reinen Hände, Verfluche dich und deine Tat – Gerächt Hab ich die heilige Natur, die du Geschändet – Nichts teil ich mit dir – Gemordet Hast du, ich hab mein Teuerstes verteidigt.48
Dann aber empfiehlt Tell auch ihn gegen die „Verzweiflung“49 mit dem Auftrag härtester Buße der göttlichen Barmherzigkeit an und gibt ihm, was Menschen zu geben vermögen: Zuspruch, Wegweisung und Nahrung auf die weite Reise. Überschaubarer und konsistenter schließlich ist die Erfahrung äußerster Anfechtung und der Sünde gegen den Heiligen Geist in Gottfried August Bürgers Ballade Lenore abgehandelt,50 entstehend und erscheinend 1773/74 zugleich mit Goethes Werther-Geschichte eines der Allversöhnung überantworteten Selbstmörders.51 Ohne Rücknahme der Ernsthaftigkeit ihres Sujets ist die Verserzählung von Verzweiflung und hybrider Auflehnung gegen Gottes Ratschluss, von einer Aufsagung der Seligkeit aus irdischem Liebesleid in 48 Friedrich Schiller : Wilhelm Teil. Schauspiel. In: Sämtliche Werke (wie Anm. 41), Bd. 2: Dramen, München – Darmstadt 1981, S. 1025 (Szene V,2). 49 Ebd., S. 1027 (Szene V,2). 50 Zitate (mit beigesetzter Strophenzahl) nach der wiss.-krit. kommentierten Gesamtausgabe Gottfried August Bürger : Sämtliche Werke. Hg. von Günter und Hiltrud Häntzschel, München – Wien 1987. „Lenore“ dort S. 178–188 (mit Daniel Chodowieckis „Lenore“-Kupfer S. 183), Kommentar S. 1210–1216; zur Textbehandlung nach der letzten von Bürger veranstalteten Ausgabe der Gedichte von 1789 vgl. S. 1030. Ergänzend genutzt wurde die neuere Auswahl Gottfried August Bürger : Gedichte. Hg. von Gunter E. Grimm, Stuttgart 1997, S. 49–59 mit im Nachwort (S. 165–194) umrissener Rezeptions- und Interpretationsgeschichte (S. 174–181). 51 Vgl. oben Anm. 46.
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dieser frühesten und bekanntesten Sturm- und Drangballade in einen bänkelsängerischen Ironieton getaucht. Die Fülle der biblischen Allusionen auch über das Problem der unvergebbaren Sünde (Mt 12,31) hinaus überhöht die triviale Individual- und Gespenstergeschichte mit heilsgeschichtlicher Bedeutsamkeit.52 Schon die Verzweiflungsgeste des stummen Haarausraufens, als der geliebte Wilhelm nicht mit den andern Soldaten aus dem Feldzug zurückkehrt, rückt die lilienhändige Lenore an den gottverlassen-aufbegehrenden Hiob (1,20) heran: Als nun das Heer vorüber war, Zerraufte sie ihr Raabenhaar Und warf sich hin zur Erde Mit wütiger Geberde. [Vs. 29–32]
Dies aber und Lenores Hadern mit Gott ist in ganz aktuellen Kontext gestellt. Der Friedensschluss zwischen dem König und der Kaiserin, die ihres „langen Haders müde“ „endlich Friede“ machen und die Reste ihrer Heere mit „Kling und Klang“ heimziehen lassen (Vs. 9–14), bezieht sich auf den Frieden von Hubertusburg 1763 zwischen Friedrich dem Großen und Maria Theresia, der dem erstmals über den Atlantik weltweit ausstrahlenden und unvergleichlich verlustreichen Siebenjährigen Krieg ein Ende bereitet. Das in dramatischraschem Sprecherwechsel atemlose Zwiegespräch zwischen der Mutter, die alle traditionellen Tröstungen und Weisungen der Kirchenlehre reproduziert (und deren Sicht am Ende der Erzähler aufzunehmen scheint), und der im Innewerden des unwiederbringlichen Verlusts sich bis hin zur intentionalen Aufsagung des Seelenheils immer ärger in ihre Verzweiflung hineinsteigernden Lenore sind gespickt sowohl mit Bibel- als auch Kirchenliedallusionen, herausragend auf Phil 1,21, Hi 3,3, 7,16, 19,6, Lk 23,34 oder Apg 7,59, Samuel Rodigasts Lied Was Gott tut, das ist wohlgetan [EG 372] und Luthers Ein feste Burg [EG 362]: Die Mutter lief wohl hin zu ihr : – „Ach, daß sich Gott erbarme! Du trautes Kind, was ist mit dir?“ – Und schloß sie in die Arme. – „O Mutter, Mutter! Hin ist hin! Nun fahre Welt und alles hin! 52 Sehr viel umfassender sind die Bibel- und Kirchenliedreferenzen in ihrer strukturellen Bedeutsamkeit und die Funktionen dieser Bezüge im neuen Kontext bereits herausgestellt in Albrecht Schönes zwei großen Interpretationen der Ballade: Gottfried August Bürger, ,Lenore‘. In: Die deutsche Lyrik. Form und Geschichte. Interpretationen. [Bd. 1:] Vom Mittelalter bis zur Frühromantik. Hg. von Benno von Wiese, Düsseldorf 1957, S. 190–210, und, detaillierter noch, im das Gesamtwerk analysierenden Kapitel „Weltliche Kontrafaktur. Gottfried August Bürger“ (S. 181–224) seiner Abhandlung „Säkularisation als sprachbildende Kraft“ (wie Anm. 2), S. 205–210.
Die Sünde wider den Heiligen Geist in literarischen Reflexen Bei Gott ist kein Erbarmen. O weh, o weh mir Armen!“ – „Hilf Gott, hilf! Sieh uns gnädig an! Kind, bet’ ein Vaterunser! Was Gott tut, das ist wohlgetan. Gott, Gott erbarmt sich Unser!“ – „O Mutter, Mutter! Eitler Wahn! Gott hat an mir nicht wohlgetan! Was half, was half mein Beten? Nun ist’s nicht mehr vonnöten.“ – „Hilf Gott, hilf! wer den Vater kennt, Der weiß, er hilft den Kindern. Das hochgelobte Sakrament Wird deinen Jammer lindern.“ – „O Mutter, Mutter! Was mich brennt, Das lindert mir kein Sakrament! Kein Sakrament mag Leben Den Toten wiedergeben.“ – [Vs. 33–56] „[…] Laß fahren, Kind, sein Herz dahin! Er hat es nimmermehr Gewinn![…]“ – [Vs. 61 f.] „O Mutter, Mutter! Hin ist hin! Verloren ist verloren! Der Tod, der Tod ist mein Gewinn! O wär’ ich nie geboren! Lisch aus, mein Licht, auf ewig aus! Stirb hin, stirb hin in Nacht und Graus! Bei Gott ist kein Erbarmen. O weh, o weh mir Armen!“ – „Hilf Gott, hilf! Geh nicht ins Gericht Mit deinem armen Kinde! Sie weiß nicht, was die Zunge spricht. Behalt ihr nicht die Sünde! Ach, Kind, vergiß dein irdisch Leid Und denk an Gott und Seligkeit! So wird doch deiner Seelen Der Bräutigam nicht fehlen.“ – „O Mutter! Was ist Seligkeit? O Mutter! Was ist Hölle? Bei ihm, bei ihm ist Seligkeit, Und ohne Wilhelm Hölle! – Lisch aus, mein Licht, auf ewig aus!
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Erfahrung der äußersten Anfechtung Stirb hin, stirb hin in Nacht und Graus! Ohn’ ihn mag ich auf Erden, Mag dort nicht selig werden.“ – – – So wütete Verzweifelung Ihr in Gehirn und Adern, Sie fuhr mit Gottes Vorsehung Vermessen fort zu hadern; Zerschlug den Busen, und zerrang Die Hand, bis Sonnenuntergang, Bis auf am Himmelsbogen Die goldnen Sterne zogen. [Vs. 65–96]
Das Wüten der „Verzweifelung“ wird deutlich in den zwanghaft-obsessiven Wiederholungsstrukturen, das Anrennen allen Denkens und Empfindens (von „Gehirn und Adern“) gegen das alle Hoffnung zerstörende Leid, das sich die Verzweifelnde beständig repetieren muss: Verlustschock, Zweifel am himmlischen Erbarmen und an allen Gnadenmitteln, Verwechslung von irdischer und himmlischer Beseligung, Lebensüberdruss und Heilsaufsagung. Zugleich aber ist das Wiederholen auch ein Element des Magischen, das die anerzogene Volksfrömmigkeit durchwirkt und überformt: auch für die Mutter haben ihr eigenes Stoßgebet wie das der Tochter verordnete Vaterunser, der bannende Einsatz von Verheißungsformeln und der Verweis auf den Seelenbräutigam Beschwörungsfunktion für die einander polar entgegengestellten Kräfte von Himmel und Hölle. So wird das Hervorkommen der Gegenwelt, das Erscheinen des gefallenen Wilhelm als Untoter und Wiedergänger, gleichsam heraufgerufen: Und außen, horch! ging’s trap trap trap, Als wie von Rosseshufen; Und klirrend stieg ein Reiter ab […]! [Vs. 97–99]
Das bänkelsängerische Aufrufen der Geisterstundenszenerie durch den die Braut abholenden Toten, der sie auf fliegendem Feuerross in sein kühl-kleines, aus sechs Brettern und zwei Brettchen bestehendes „Hochzeitbettchen“ (Vs. 138) bringt – mit allen wiederholungsreich den Zauberplunder der Sage evozierenden, zugleich orgiastischen Laufversen („Wir satteln nur um Mitternacht“, „Komm, schürze, spring und schwinge dich“, „Und hurre, hurre, hop hop hop!“ „Graut Liebchen auch“, „Hurrah! die Toten reiten schnell!“), bis sich der Körper des beschworenen Bräutigams „zum Gerippe j Mit Stundenglas und Hippe“ (Vs. 239 f.) zurückverwandelt und „Lenores Herz, mit Beben, j Rang zwischen Tod und Leben“ (Vs. 247 f.) – kann ich hier übergehen. Mit dem Thema der Sünde wider den Heiligen Geist hat dieses Loslassen aller Dämonen insofern aber doch auch zu tun, als es eine Allegorie darstellt der Anfechtungsverzweiflungen, wenn alles Heil in Ewigkeit verloren scheint. Der als teuflischer Spuk erschienene Wilhelm ist, wie die blasphemische
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Umkehr der Sterbeworte Christi beim Erreichen des Lustorts der Verwesung mit dem Hahnenschrei, „Vollbracht, vollbracht ist unser Lauf!“ (Vs. 221), andeutet, bloßer Teil der satanischen Machination, wird nicht in die Erlösungsfrage einbezogen. Für die exemplarische Sünderin aber kommt der Schluss des Gedichts explizit darauf zurück in einer um ihre Seele entbrennenden Entscheidungsschlacht der himmlischen und höllischen Heerscharen (ganz ähnlich wie später am Ende des Goetheschen Faust): Geheul! Geheul aus hoher Luft, Gewinsel kam aus tiefer Gruft. […] Nun tanzten wohl bei Mondenglanz […] Die Geister einen Kettentanz […]: „Geduld! Geduld! Wenn’s Herz auch bricht! Mit Gott im Himmel hadre nicht! Des Leibes bist du ledig; Gott sei der Seele gnädig!“ [Vs. 245–256]
Das bedeutet doch aber : Im Prozess gegen die der ärgsten Sünde willentlicher Heilaufsagung Schuldige ist der höchstinstanzlich letzte Urteilsspruch noch nicht gefallen: die Strafe des irdischen Todes lässt auch hier jene gnädige Annahme des in seiner Gerechtigkeit doch Allliebenden und Allversöhnenden hoffen, die dann im sinn- und trostlosen Hinleben des Büchnerschen Lenz aufgegeben zu sein scheint. Kurz nur und ohne jeden Anspruch, in dieser Kürze die Bedeutungsfülle des bisweilen fast unaushaltbar kühnen Ironiespiels auszuloten, sei zum Abschluss noch ausgeblickt auf die Wiederaufnahme der Problematik in Thomas Manns 1948 bis 1950 entstandenem, 1951 publiziertem Spätroman Der Erwählte.53 In seiner die Slapstick-Technik moderner Legendenkontrafaktur seit Gottfried Kellers Sieben Legenden auf die Spitze treibenden, oft burlesken Neubeleuchtung hat Mann bekanntlich Hartmanns von Aue Gregorius-Roman (und die dahinter liegende Erzähltradition) von der Erhöhung eines durch übermenschliche Bußübung geläuterten großen Sünders zum gerechtesten der Päpste im auch sprachlich historisierenden „Ironiestil“ wiedererzählt – auch er, ohne durch diese Umgewandung im Kern die Aspekte von Schuld, Umkehr, rettender Barmherzigkeit und Erhöhung zu beschädigen.54 Der Be53 Da der Text in der „Großen kommentierten Frankfurter Ausgabe“, hg. von Heinrich Detering [u. a.], noch nicht vorliegt (angekündigt als Bd. 11, „in Planung“), zitiere ich (und belege wiederum nur durch die Seitennachweise in Klammern im Text) nach Thomas Mann: Gesammelte Werke in dreizehn Bänden, Bd. 7: Der Erwählte. Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull, Frankfurt a.M. 1960, 2. Aufl. 1974, S. 7–261. 54 Im Vergleich mit den anderen großen Romanen ist dieser vorletzte in der Forschung vergleichsweise wenig beachtet geblieben. Auf die Dichotomien von Sünde und Gnade, Ironie und großem Ernst wird namentlich eingegangen in den Analysen von Karl Josef Kuschel: Grundhaltungen zum Leben. Spiegelungen im Werk von Thomas Mann. In: Was bedeutet Leben?
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griff der Sünde wider den Heiligen Geist wird wiederum nicht explizit genannt. Der Heilige Geist findet nur negative Erwähnung: er habe offenbar nicht über der Wahl zweier Vorgängerpäpste und dem daraus entstandenen Schisma gewaltet, das Gregors göttliche Einsetzung nun glorreich überwindet (S. 196). Dass aber die halbbewusste Eheverbindung des aus inzestuöser Geschwisterverbindung entsprossenen Grigorß just mit seiner blutschänderischen Mutter Sibylla, die zugleich (als Schwester seines Vaters) seine Tante ist und mit der er neue Kinder zeugt, in die Kategorie der äußersten und nach menschlichem Ermessen unaustilgbaren Sünde falle, daran lässt Grigorß selbst und auch die Geschichte keinen Zweifel. Er selbst, „das Schandkind“, „Mann seiner Mutter, seines Großvaters Eidam, seines Vaters Schwäher, seiner Kinder greuliches Geschwister“ (S. 235, vgl. 177 f.), reflektiert wiederholt die durch sein eben doch ahnend bewusstes Vergehen gestifteten widernatürlichen Verwandtschaftsverhältnisse und preist Gott, „daß Satanas nicht allmächtig ist und es nicht so ins Extreme zu treiben vermochte, daß ich irrtümlich auch noch […] in ein Verhältnis geriet“ (S. 258) mit den Töchtern, die ihm seine „Mutter, seine Base, sein Weib“ geboren hatte (S. 243), „und etwa gar Kinder von ihnen hatte, wodurch die Verwandtschaft ein völliger Abgrund geworden wäre“ (S. 258 f.). Unverkennbar jedoch sind die Bezüge auf die äußerste der Sünden55 und auf die literarischen Reflexionen ihrer Vergebbarkeit nur durch ein Übermaß an Reue und Buße (17 lange Jahre kasteit sich Grigorß angekettet, doch göttlich genährt und erhalten auf einem vermeintlich „gottverlassen[en]“ [S. 188] Inselfels, bis er, eingeschrumpft zu einem kaum mehr menschengestaltigen „Wesen“ [S. 224 u. ö.], gerettet werden kann) – vor allem jedoch durch das Übermaß an unverdient barmherziger Gnade. Erst eine „Wandlung“ (S. 230 u. 231) – der Begriff aus der Messfeier ist mit Bedacht gewählt – gibt ihm Menschengestalt zurück. Der kraft seiner Buße Transsubstantiierte muss Sibylla, die ihre Geburt verflucht (S. 177) und weiß, „So ist unser Ort die unterste Hölle“ (S. 176), vor der äußersten „Verzweiflung“ warnen (S. 179) – und doch wälzt sie Selbstmordgedanken, „dem Judas gleich, der sich erhängte aus Reueekel vor seiner Tat“ (S. 178). Er selbst aber, gleich den vorerwähnten von schwerster Sünde Angefochtenen, versteht sich als der Chief of Sinners: „einen Beiträge aus den Geisteswissenschaften. Hg. von Urs Baumann, Frankfurt a.M. 2008, S. 219–242, im Kap. „Im Zeichen der Idee von Sünde und Gnade: ,Der Erwählte‘“, S. 213–235 (zum Ernst unter den Ironien der Präsentation S. 234 f.) und von Hermann Kurzke: Thomas Mann. Ein Porträt für seine Leser, München 2009, S. 182–189, vgl. auch schon ders.: Thomas Mann. Das Leben als Kunstwerk, München 1999, S. 581–584. 55 Deutlich genug macht Thomas Mann seine Absicht klar, den Inzest des bereits selbst durch Inzest Gezeugten als extremste Sündenlast zu kennzeichnen, wenn er in seinen „Bemerkungen zu dem Roman ,Der Erwählte‘“ von 1951 (Gesammelte Werke [wie Anm. 53], Bd. 11, Frankfurt, 2. Aufl. 1974), S. 687–691, hier S. 688, die Motivverwandtschaft zur Judas-Legende hervorhebt; zusätzlich weist er da (S. 690) unter seinen Anregungen auch auf den Wolframschen „Parzival“ hin – womit dessen ,desperatio‘-Eingangsvers aufgerufen scheint.
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Menschen, dermaßen in Sünde getaucht wie mich, gab es auf Erden nie oder ganz selten“ (S. 180). Demjenigen, „den Gott sich erwählt hat zum untersten, äußersten Sünder“, gebührt vor seiner erhöhenden Erwählung „die Buße von Gottes größtem Sünder“ (S. 226). Die Bewahrung aber in seiner entmenschend-monströsen Bußübung zeigt doch, „daß Gott […] es mit ihm, wenn er seine Eltern und sich selbst durch härteste Reue entsühnt haben würde, noch irgendwie gnadenvoll vorhabe“ (S. 192 f.). „Grace abounding“ hebt den entsühnten schwärzsten Sünder an die Spitze der Christenheit und gibt ihm die „Schlüsselgewalt“ (S. 258), zu binden und zu lösen. Sibylla mit den Kindern, die er schließlich in seiner „Drei-Einheit […] von Kind, Gatte und Papst“ (S. 256) von begangener wie von ererbter Sünde lossprechen wird, sagt zu ihm: „,Wie schonungslos mußt du gebüßt haben, daß Gott dich so über uns Sünder alle erhöhte.‘“ (S. 257), zugleich gesteht sie aber auch ein: „diese Geschichte ist so extrem, daß darin das Erstaunlichste einen nicht mehr erstaunt“ (ebd.). So, als wäre das Extreme der Ironie noch nicht genug, die ein zum Devotionalbild auf Goldgrund verkommenes letztes Erbarmungsgeschehen an auf ewig, in dieser wie in jener Welt, Verworfenen, im Abscheiden des Süßlichen der Legendenschicht wieder lesbar macht und darin das Extreme des Seelendramas neu erschließt, das aus hoffnungsloser Vernichtung zur Erlösungshoffnung wider alles Verdienst und Verdikt hinführt, gießt Thomas Mann die Erfahrung seines Papsts Gregor in klapprig-schräge Trochäen. Gebrochen und dennoch wahrhaftig56 umreißen diese Verse, mit denen ich meinen problem- und dichtungsgeschichtlichen Längsschnitt beschließen möchte, noch einmal den umschaffenden Prozess, durch den das Verdammungsurteil über die ärgsten der Sünder in letzter Instanz aufgehoben werden könnte: Soll ich meines Lebens Grauen Nun in Deiner Klarheit schauen – Herr! Wie sehr bewundr’ ich sie, Deine heilige Alchimie, Die des Fleisches Schmach und Leid Läutert in die Geistigkeit, Daß der Sohngespons der Sünde57 Höchlichst sich gewürdigt finde, 56 In seinen „Bemerkungen zu dem Roman ,Der Erwählte‘“ (wie Anm. 55), hier S. 691, hat Mann selbst (ähnlich wie im Brief an Ida Herz vom 10. 9. 1951) betont, bei allem parodistischen Umgang mit der Legendenschicht bewahre er doch „mit reinem Ernste ihren religiösen Kern, die Idee von Sünde und Gnade“. Vgl. auch Kurzke: Thomas Mann. Das Leben (wie Anm. 54), S. 581 u. 648. 57 In den ersten Ausgaben (Thomas Mann: Der Erwählte. Roman, Frankfurt 1951, 2. Aufl. 1956, S. 257), lautete der Vers noch „Daß der Buhlgespons der Sünde“, was der Autor dann offenbar, sei es aus persönlicher Einsicht einer im gegebenen Kontext überschrittenen Dezenzgrenze seiner Ironie, sei es auf äußeren Einspruch hin, modifiziert hat.
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Erfahrung der äußersten Anfechtung Ird’scher Notdurft allerorten Öffne Paradieses Pforten. [S. 234]58
58 Mit diesen beschließenden Versen appelliert Mann unverkennbar an die Schlussverse des Eingangsgedichts, „Hegire“ in Goethes „West-östlichem Divan“: „Wisset nur, daß Dichterworte j Um des Paradieses Pforte j Immer leise klopfend schweben j Sich erbittend ew’ges Leben.“ (Johann Wolfgang Goethe: West-östlicher Divan. Hg. von Hendrik Birus, Frankfurt 1994 [Sämtliche Werke, FA I. Abt., Bd. 3/1], S. 13, 305, vgl. S. 460 und 556). Zweifellos hatte er dabei die Wiederaufnahme des Begriffs „Paradieses Pforten“ im Gedicht „Berechtigte Männer“ des Schlusszyklus’ „Buch des Paradieses“ mit im Blick: „Und schon klopfen die verklärten Lieben j Paradieses Pforten kühnlich an.“ (Ebd., S. 128, 435, 574).
Pietismus-Studien Hans-Jürgen Schraders 1979–2018 Zu Sprache und Literatur des Pietismus, zu Einflüssen des Pietismus auf einzelne Werke und auf die Entwicklung der deutschen Literatur
Diese Bibliographie verzeichnet, geordnet nach Publikationsgattungen, chronologisch die Studien zu Sprache, Literatur und Wirkung des Pietismus, die Hans-Jürgen Schrader im Zeitraum von 1979 bis 2018 vorgelegt hat. Arbeiten, die im vorliegenden Band enthalten sind, sind mit * gekennzeichnet, so dass das Verzeichnis auch als Nachweis der Erstdrucke der in diesem Band versammelten Beiträge dient. Mit Hilfe der durchgehenden Nummerierung (L + Ziffer-Sigle) können die in den Beiträgen zur Entlastung des Anmerkungsapparats verwendeten Kurzverweise auf Aufsätze Hans-Jürgen Schraders [Beispiel: Schrader : Literaturproduktion (1989, L 1)] leicht aufgelöst werden. Monographie: L 1 Literaturproduktion und Büchermarkt des radikalen Pietismus. Johann Henrich Reitz’ „Historie Der Wiedergebohrnen“ und ihr geschichtlicher Kontext. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1989 (Palaestra. Untersuchungen aus der deutschen, englischen und skandinavischen Philologie, Bd. 283), 635 S. Edition: L 2 Johann Henrich Reitz: Historie Der Wiedergebohrnen. Vollständige Ausgabe der Erstdrucke aller sieben Teile der pietistischen Sammelbiographie (1698–1745) mit einem werkgeschichtlichen Anhang der Varianten und Ergänzungen aus den späteren Auflagen. 4 Bde., 724, 709, 417, 500 S. Tübingen: Max Niemeyer 1982 (Deutsche Neudrucke. Bd. 29/1–4). Redaktion und Mitherausgabe: Sammelbände: L 3 Jansenismus, Quietismus, Pietismus. Im Auftrag der Historischen Kommission zur Erforschung des Pietismus hg. von Hartmut Lehmann, Heinz Schilling und Hans-Jürgen Schrader. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2002 (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus, Bd. 42), 298 S.
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Pietismus-Studien Hans-Jürgen Schraders 1979–2018
L4
Von der Pansophie zur Weltweisheit. Goethes analogisch-philosophische Konzepte. Hg. von Hans-Jürgen Schrader und Katharine Weder, in Zusammenarbeit mit Johannes Anderegg. Tübingen: Max Niemeyer Verlag, 2004, 188 S.
L5
Medizin- und kulturgeschichtliche Konnexe des Pietismus. Heilkunst und Ethik, arkane Traditionen, Musik, Literatur und Sprache. Hg. von Irmtraut Sahmland und Hans-Jürgen Schrader. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2016 (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus, Bd. 61), 428 S.
Mitherausgabe von Reihen / Reihenbänden: L 6 Texte zur Geschichte des Pietismus [TGP. Ab Bd. VII,3 / 1999: Im Auftrag der Historischen Kommission zur Erforschung des Pietismus. Hg. von Hans Schneider, Christian Bunners und Hans-Jürgen Schrader, ab Bd. VI,2 / 2012: Hg. von Hans Schneider, Hans Otte und HansJürgen Schrader]. Berlin – New York: Walter de Gruyter (1999 ff.) – Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2007 ff. L7
Arbeiten zur Geschichte des Pietismus [AGP. Ab Bd. 34: Im Auftrag der Historischen Kommission zur Erforschung des Pietismus. Hg. von Martin Brecht, Gerhard Schäfer und Hans-Jürgen Schrader, ab Bd. 37: Hg. von Martin Brecht, Christian Bunners und Hans-Jürgen Schrader, ab Bd. 50: Hg. von Hans Schneider, Christian Bunners und Hans-Jürgen Schrader, ab Bd. 61: Hg. von Hans Schneider, Manfred JakubowskiTiessen, Hans Otte und Hans-Jürgen Schrader]. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1998 ff.
L8
Bibliographie zur Geschichte des Pietismus [BGP. Bd. 3 / 2015: Im Auftrag der Historischen Kommission zur Erforschung des Pietismus. Hg. von Hans Schneider, Hans Otte und Hans-Jürgen Schrader]. Berlin – München – Boston: Walter de Gruyter 2015.
L9
Kleine Texte des Pietismus [KTP. Im Auftrag der Historischen Kommission zur Erforschung des Pietismus. Hg. von Hans-Jürgen Schrader, Günter Balders und Christof Windhorst]. 12 Bände. Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 1999–2008.
L 10
Edition Pietismustexte [EPT. Im Auftrag der Historischen Kommission zur Erforschung des Pietismus. Hg. von Hans-Jürgen Schrader, Günter Balders und Christof Windhorst. Ab Bd. 3 hg. von Hans-Jürgen Schrader, Günter Balders, Dieter Ising und Christof Windhorst, ab Bd. 5 hg. von HansJürgen Schrader, Ruth Albrecht, Dieter Ising und Christof Windhorst, ab Bd. 7 hg. von Hans-Jürgen Schrader, Ruth Albrecht, Wolfgang Breul und Christof Windhorst, ab Bd. 9 hg. von Hans-Jürgen Schrader, Ruth Albrecht, Wolfgang Breul, Markus Matthias und Christof Windhorst], bislang 12 Bände. Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2010–2018.
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Aufsätze: L 11 Berleburgs Beitrag zur Geschichte der religiösen und literarischen Toleranz in Deutschland. In: Wittgenstein, Jg. 69. Bd. 45. Laasphe 1981, S. 117–128 [auch als Einzelschrift separat gedruckt]. L 12
„Denke Du wärest in das Schiff meines Glückes gestiegen“. Widerrufene Rollenentwürfe in Kleists Briefen an die Braut. In: Kleist-Jahrbuch 1983, S. 122–179.
L 13
Mit Feuer, Schwert und schlechtem Gewissen. Zum Kreuzzug der Hainbündler gegen Wieland. In: Euphorion, Bd. 78, 1984, S. 325–367.
L 14
* Pietistisches Publizieren unter Heterodoxieverdacht. Der Zensurfall „Berleburger Bibel“. In: „Unmoralisch an sich…“. Zensur im 18. und 19. Jahrhundert. Hg. von Herbert G. Göpfert und Erdmann Weyrauch. Wiesbaden: Otto Harrassowitz 1988 (Wolfenbütteler Schriften zur Geschichte des Buchwesens, Bd. 13), S. 61–88.
L 15
* Sulamiths verheißene Wiederkehr. Hinweise zu Programm und Praxis der pietistischen Begegnung mit dem Judentum. In: Conditio Judaica. Judentum, Antisemitismus und deutschsprachige Literatur vom 18. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg. Hg. von Hans-Otto Horch und Horst Denkler, Teil I. Tübingen: Max Niemeyer 1988, S. 71–107.
L 16
* Probleme der bibliographischen und editorischen Erschließung pietistischer Literatur. In: Bibliographische Probleme im Zeichen eines erweiterten Literaturbegriffs. Hg. von Wolfgang Martens. Weinheim: VCH-Verlag Acta Humaniora 1988 (DFG. Mitteilung IV der Kommission für Germanistische Forschung), S. 83–111.
L 17
Spuren Gottes in den Trümmern der Welt. Zur Bedeutung biblischer Bilder in Kleists „Erdbeben“. In: Kleist-Jahrbuch 1991, S. 34–52.
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Le Christ dans le cœur de ses fidHles. Quelques aspects „po8tiques“ de la christologie du pi8tisme. In: Le Christ entre orthodoxie et lumiHres. Actes du colloque tenu / GenHve en ao0t 1993. Pd. par Maria-Cristina Pitassi. GenHve: Droz 1994, S. 49–76.
L 19
* Vom Heiland im Herzen zum inneren Wort. ,Poetische‘ Aspekte der pietistischen Christologie. In: Pietismus und Neuzeit. Ein Jahrbuch zur Geschichte des neueren Protestantismus. Bd. 20, 1994, S. 55–74.
L 20
* Lesarten der Schrift. Die Biblia Pentapla und ihr Programm einer „herrlichen Harmonie Göttlichen Wortes“ in „Fünf=facher Deutscher Verdolmetschung“. In: Zwiesprache. Beiträge zur Theorie und Geschichte des Übersetzens. Hg. von Ulrich Stadler. Stuttgart – Weimar : Verlag J. B. Metzler 1996, S. 199–218.
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Pietismus-Studien Hans-Jürgen Schraders 1979–2018
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* Hortulus mystico-poeticus. Erbschaft der Formeln und Zauber der Form in Tersteegens „Blumengärtlein“. In: Gerhard Tersteegen. Evangelische Mystik inmitten der Aufklärung. Hg. von Manfred Kock. Köln: Rheinland-Verlag 1997 (Schriftenreihe des Vereins für Rheinische Kirchengeschichte, Bd. 126), S. 47–76.
L 22
Madame Guyon, le pi8tisme et la litt8rature de langue allemande. In: Madame Guyon. Rencontres autour de la vie et l’œuvre. Grenoble: Pditions J8rime Millon 1997, S. 83–129.
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Der Christengott in alten Kleidern. Zur Dogmen-Kritik in Kleists „Amphitryon“. In: Antiquitates renatae. Deutsche und französische Beiträge zur Wirkung der Antike in der europäischen Literatur. Festschrift für Renate Böschenstein zum 65. Geburtstag. Hg. von Verena Ehrich-Haefeli, Hans-Jürgen Schrader und Martin Stern. Würzburg: Königshausen & Neumann 1998, S. 191–207.
L 24
* Inspirierte Schweizerreisen. In: Lesen und Schreiben in Europa 1500–1900. Vergleichende Perspektiven – Perspectives compar8es – Perspettive comparate. Hg. von Alfred Messerli und Roger Chartier. Basel: Schwabe-Verlag 2000, S. 351–382.
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Propheten zur Rechten, Propheten zur Linken. Goethe im pietistischen Geleit. In: Rezeption und Reform. Festschrift für Hans Schneider zu seinem 60. Geburtstag. Hg. von Wolfgang Breul-Kunkel und Lothar Vogel. Darmstadt – Kassel: Verlag der Hessischen Kirchengeschichtlichen Vereinigung 2001 (Quellen und Studien zur hessischen Kirchengeschichte, Bd. 5), S. 361–377.
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Salomonis Schlüssel für die „halbe Höllenbrut“. Radikalpietistisch tingierte „Geist=Kunst“ im Faustschen „Studierzimmer“. In: Goethe und der Pietismus. Hg. von Hans-Georg Kemper und Hans Schneider. Tübingen – Halle: Max Niemeyer / Verlag der Franckeschen Stiftungen 2001 (Hallesche Forschungen, Bd. 6), S. 231–256.
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* Madame Guyon, Pietismus und deutschsprachige Literatur. In: Jansenismus, Quietismus, Pietismus. Im Auftrag der Historischen Kommission zur Erforschung des Pietismus. Hg. von Hartmut Lehmann, Heinz Schilling und Hans-Jürgen Schrader. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2002 (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus, Bd. 42), S. 189–225.
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* Philadelphian Hope. The Attitudes of Pietist Immigrants in Pennsylvania towards Jews. In: Pietismus und Neuzeit. Ein Jahrbuch zur Geschichte des neueren Protestantismus. Bd. 28, 2002, S. 185–212.
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L 29
„Unleugbare Sympathien“. Roentgen-Schreibtische, Magnetismus und Politik in Goethes „Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten“. In : Dazwischen. Zum transitorischen Denken in Literatur- und Kulturwissenschaft. Festschrift für Johannes Anderegg zum 65. Geburtstag. Hg. von Andreas Härter, Edith Anna Kunz und Heiner Weidmann. Göttingen : Vandenhoeck & Ruprecht 2003, S. 41–68.
L 30
Job dans la litt8rature allemande. ModHle de l’homme, symbole du chagrin juif, quÞte de la th8odic8e. In: De la Bible / la litt8rature. Pd. par Jean-Christophe Attias et Pierre Gisel. GenHve: Labor et Fides 2003 (Religions en Perspective, n8 15), S. 135–167.
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Kleists Heilige oder die Gewalt der Sympathie. Abgerissene Traditionen magnetischer Korrespondenz. In: Kleist-Bilder des 20. Jahrhunderts in Literatur, Kunst und Wissenschaft. IV. Frankfurter Kleist-Kolloquium. Hg. von Peter Ensberg und Hans-Jochen Marquardt. Stuttgart: Akademischer Verlag Hans-Dieter Heinz 2003 (Stuttgarter Arbeiten zur Germanistik, Bd. 414), S. 69–90.
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„Hiob“ in deutscher Dichtung („Faust“ – Joseph Roth – Lyrik nach der Shoah). Muster des Menschen – des jüdischen Leids – der Frage nach Theodizee. In : Monatshefte für Evangelische Kirchengeschichte des Rheinlandes, 53. Jg. Bonn : Verlag Dr. Rudolf Habelt 2004, S. 1–32. [Erschienen auch separat im Sammelband :] Religio in litteris. Vier Interpretationen deutscher Dichtung zwischen Aufklärung und Moderne in ihrer Beziehung zum Religiösen. Vorträge anläßlich des 70. Geburtstags von Dr. Rudolf Mohr. Hg. von Stefan Flesch, Beate Magen [u. a.] . Bonn : Verlag Dr. Rudolf Habelt 2004, S. 1–32.
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Modell des Menschen : Hiob im Goetheschen „Faust“. In : Colloquium Helveticum 34 (2003): Nach der Bibel – AprHs la Bible : Approaches to the Scriptures. Hg. von Florence Pennone und Roger W. Müller Farguell. Fribourg : Academic Press / Paulusverlag 2004, S. 159–191.
L 34
* Die Literatur des Pietismus – Pietistische Impulse zur Literaturgeschichte. Ein Überblick. In: Geschichte des Pietismus, Bd. 4: Glaubenswelt und Lebenswelten. Hg. von Hartmut Lehmann. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2004, S. 386–403.
L 35
Die Sprache Canaan. Pietistische Sonderterminologie und Spezialsemantik als Auftrag der Forschung. In: Geschichte des Pietismus, Bd. 4: Glaubenswelt und Lebenswelten. Hg. von Hartmut Lehmann. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2004, S. 404–427.
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Pietismus-Studien Hans-Jürgen Schraders 1979–2018
L 36
Sphärensprünge vom Landleben zur Literatur. Von Bräker bis Brandstetter. In: Schreibsucht. Autobiographische Schriften des Pietisten Ulrich Bräker (1735–1798). Hg. von Alfred Messerli und Adolf Muschg. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2004 (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus, Bd. 44), S. 93–115.
L 37
Pietistische Literatur – Impulse zur Literaturgeschichte. In: Hoffnung besserer Zeiten. Philipp Jacob Spener (1635–1705) und die Geschichte des Pietismus. Jahresausstellung der Franckeschen Stiftungen 2005. Halle an der Saale: Verlag der Franckeschen Stiftungen 2005 (Kataloge der Franckeschen Stiftungen, Bd. 15), S. 191–202.
L 38
* Die Sprache Canaan, Auftrag der Forschung. In: Interdisziplinäre Pietismusforschungen. Beiträge zum Ersten Internationalen Kongress für Pietismusforschung 2001. Hg. von Udo Sträter in Verbindung mit Hartmut Lehmann [u. a.]. Bd. 1. Halle – Tübingen: Verlag der Franckeschen Stiftungen – Max Niemeyer Verlag 2005 (Hallesche Forschungen, Bd. 7/1), S. 55–81.
L 39
Von Patriarchensehnsucht zur Passionsemphase. Bibelallusionen und spekulative Theologie in Goethes Werther. In: Goethe und die Bibel. Hg. von Johannes Anderegg und Edith Anna Kunz. Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft 2005 (Arbeiten zur Geschichte und Wirkung der Bibel, Bd. 6), S. 57–88.
L 40
* Zinzendorf als Poet. In: Neue Aspekte der Zinzendorf-Forschung. Hg. von Martin Brecht und Paul Peucker. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2006 (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus, Bd. 47), S. 134–162.
L 41
* Conrad Beissels Ephrata-Gemeinschaft und seine Poesie. Ein philadelphisch-mystisch-arkanes „Vorspiel der Neuen Welt“. In: Transatlantische Religionsgeschichte. 18. bis 20. Jahrhundert. Hg. von Hartmut Lehmann. Göttingen: Wallstein Verlag 2006, S. 31–63.
L 42
* Traveling Prophets: Inspirationists Wandering Through Europe and to the New World – Mission, Transmission of Divine Word, Poetry. In: Pietism in Germany and North America 1680–1820. Hg. von Jonathan Strom, Hartmut Lehmann [u. a.]. Farnham/Surrey – Burlington, VT: Ashgate Publishing 2009, 2. Aufl. London: Routledge 2016, S. 107–123.
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L 43
„Gedelöcke“. Der christlich-jüdische Skandalfall von 1729 in Wilhelm Raabes Novellentransposition. In: Integration und Ausgrenzung. Studien zur deutsch-jüdischen Literatur- und Kulturgeschichte von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart. Festschrift für Hans Otto Horch zum 65. Geburtstag. Hg. von Mark H. Gelber, Jakob Hessing und Robert Jütte. Tübingen: Max Niemeyer Verlag 2009, S. 87–113. Revid. Neudruck in: Hans-Jürgen Schrader : Wilhelm Raabe. Studien zu seiner avanciert-realistischen Erzählkunst. Göttingen: Wallstein Verlag 2018, S. 197–227.
L 44
* Zores in Zion. Zwietracht und Missgunst in Berleburgs toleranzprogrammatischem Philadelphia. In: Von Wittgenstein in die Welt. Radikale Frömmigkeit und religiöse Toleranz. Hg. von Johannes Burkardt und Bernd Hey. Bielefeld: Luther-Verlag 2009 (Beiträge zur Westfälischen Kirchengeschichte, Bd. 35), S. 157–194.
L 45
* „Werd ein Kind!“ im „Wunderhorn“. Pietistische Mitgiften an die Romantik. In: Der radikale Pietismus. Perspektiven der Forschung. Hg. von Wolfgang Breul, Marcus Meier und Lothar Vogel. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2010, 2. durchges. Aufl. 2011 (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus, Bd. 55), S. 419–449.
L 46
* Johann Friedrich Haugs radikalpietistischer „Studenten=Gesang“ als „Anweisung zur Seligkeit in allen Facultäten“. In: Literatur und Theologie im 18. Jahrhundert. Konfrontationen – Kontroversen – Konkurrenzen. Hg. von Hans-Edwin Friedrich, Wilhelm Haefs und Christian Soboth. Berlin: de Gruyter 2011 (Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung, Bd. 41), S. 139–160.
L 47
* Erfahrung der äußersten Anfechtung. Die Sünde wider den Heiligen Geist (Mt 12,31) in literarischen Reflexen. In: „Aus Gottes Wort und eigener Erfahrung gezeiget“. Erfahrung – Glauben, Erkennen und Gestalten im Pietismus. Beiträge zum III. Internationalen Kongress für Pietismusforschung 2009. Hg. von Christian Soboth und Udo Sträter, Bd. 1. Halle: Verlag der Franckeschen Stiftungen 2012 (Hallesche Forschungen, Bd. 33/1), S. 185–207.
L 48
* „Reisset nieder ewer Inwendiges Babel / vnnd heuchelt nicht mit deroselben außwendig.“ Christian Hoburg als Lektor in Lüneburg – Netzwerk und Schriften. In: Jahrbuch der Gesellschaft für niedersächsische Kirchengeschichte. Bd. 110, 2012, S. 43–74.
L 49
* Feindliche Geschwister? Der Pietismus als Widersacher und Weggefährte der Aufklärung. Sachverhalte und Forschungslage. In: Epoche und Projekt. Perspektiven der Aufklärungsforschung. Hg. von Stefanie Stockhorst. Göttingen: Wallstein 2013 (Das achtzehnte Jahrhundert. Supplementa. Bd. 17), S. 91–130.
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Pietismus-Studien Hans-Jürgen Schraders 1979–2018
L 50
Zwischen sprachlicher Aura und Umgangsdeutsch. Zur Sprachgestalt der Luther-Bibel und zur Problematik ihrer Revision. In: Anmut und Sprachgewalt. Zur Zukunft der Lutherbibel. Beiträge der Jenaer Tagung 2012. Hg. von Corinna Dahlgrün und Jens Haustein. Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft 2013, S. 145–180.
L 51
* Kanonische neue Heilige. Sammelbiographien des Pietismus und der Erweckungsbewegung. In: Geschichtsbewusstsein und Zukunftserwartung in Pietismus und Erweckungsbewegung. Hg. von Wolfgang Breul und Jan Carsten Schnurr. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2013 (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus, Bd. 59), S. 303–338.
L 52
Schöne Seelen – prophetische Genies – Herzenssprache. Goethes pietistische Konnexe. In: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts 2013, S. 207–249.
L 53
* „red=arten u[nd] worte behalten / die der Heil[ige] Geist gebrauchet“. Pietistische Bemühungen um die Bibelverdeutschung nach und neben Luther. In: Pietismus und Neuzeit. Ein Jahrbuch zur Geschichte des neueren Protestantismus. Bd. 40, 2014, S. 10–47.
L 54
* „Misbräuche“, „ärgerliches Christenthumb“ und „Teutscher Krieg“. Christian Hoburgs kirchenkritischer Pazifismus unter Herzog Augusts prekärer Protektion. In: Wirkungen des Pietismus im Fürstentum Wolfenbüttel. Studien und Quellen. Hg. von Dieter Merzbacher und Wolfgang Miersemann. Wiesbaden: Harrassowitz Verlag in Kommission 2015 (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung, Bd. 53), S. 47–87.
L 55
* Vom ekstatisch-prophetischen zum magnetischen Beispielfall: Hemme Hayen. In: Medizin- und kulturgeschichtliche Konnexe des Pietismus. Heilkunst und Ethik, arkane Traditionen, Musik, Literatur und Sprache. Hg. von Irmtraut Sahmland und Hans-Jürgen Schrader. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2016 (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus, Bd. 61), S. 179–210.
L 56
Points de contact entre Goethe et les courants „inspir8s“ et qui8tistes. In: Goethe et la France. Ouvrage 8dit8 / l’occasion de l’exposition Goethe et la France / la Fondation Martin Bodmer / Cologny (GenHve) du 12 novembre 2016 au 23 avril 2017. Hg. von Jacques Berchtold. Genf: La BaconniHre 2016, S. 80–97.
L 57
Goethes Verbindung zum mystischen Quietismus. Zu seinem Brief an Johann Friedrich von Fleischbein vom 3. Januar 1774. In: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts 2016, S. 28–97. Auch als Separatpublikation in: „Briefe mit freundschaftlicher Hand“. Für Albrecht Schöne zum 17. Juli 2015. Hg. von Anne Bohnenkamp. Göttingen: Wallstein Verlag [2017], [120 S.] („Sonderdruck aus: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts 2016“), S. 28–97.
Pietismus-Studien Hans-Jürgen Schraders 1979–2018
L 58
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Lutherisch-reformierte Konfessionsirenik. Vom Interesse des Berliner Hofs am Pietismus. In: Hallesches Waisenhaus und Berliner Hof. Beiträge zum Verhältnis von Pietismus und Preußen. Hg. von Holger Zaunstöck, Brigitte Klosterberg, Christian Soboth und Benjamin Marschke. Halle: Verlag der Franckeschen Stiftungen 2018 (Hallesche Forschungen, Bd. 48), S. 81–101.
L 58a „Erweckung und Bekehrung der Juden“ in quietistischer Perspektive. Charles Hector de Marsays Gutachten zu Glaubensfragen unterweisungsbedürftiger Konvertiten. In: Das Institutum Judaicum et Muhammedicum in Halle. Mission ohne Konversion? Studien zu Arbeit und Umfeld des Instituts. Hg. von Grit Schorch und Brigitte Klosterberg. Halle: Verlag der Franckeschen Stiftungen 2019 (Hallesche Forschungen, Bd. 51), S. 199–225 [im Druck]. L 58b Luthers Sprachleistung im Urteil Herders, Klopstocks und Heines. In: Herder – Luther. Das Erbe der Reformation in der Weimarer Klassik. Hg. von Michael Maurer und Christopher Spehr. Tübingen: Mohr Siebeck Verlag 2019, S. 101–119 [im Druck]. Miszellen, Rezensionen, Lexikonartikel: L 59 * Christian Hoburg (1607–1675). In: Schleswig-Holsteinisches Biographisches Lexikon. Bd. 5, Neumünster : Wachholtz 1979, S. 132–136. L 60
Johann Wilhelm Petersen (1649–1726). In: Schleswig-Holsteinisches Biographisches Lexikon. Bd. 5. Neumünster: Wachholtz 1979, S. 201–205.
L 61
* Johann Samuel Carl (1676–1757). In: Schleswig-Holsteinisches Biographisches Lexikon. Bd. 5. Neumünster : Wachholtz 1979, S. 59–63.
L 62
Zum Himmelreich gelehrt. Friedrich Christoph Oetinger 1702–1782. Württembergischer Prälat, Theosoph und Naturforscher. Hg. von Eberhard Gutekunst und Eberhard Zwink. Stuttgart: Württ. Landesbibliothek 1982. Rez. in: Germanistik. 25. Jg., 1984, S. 490 f.
L 63
Pietismus. In: Walther Killy : Literatur Lexikon. Bd. 14: Begriffe, Realien, Methoden. Hg. von Volker Meid. Gütersloh – München: Bertelsmann Lexikon Verlag 1993, S. 208–216. [Auszugsweiser namenloser Wiederabdruck:] In: Volker Meid: Sachwörterbuch zur deutschen Literatur. Stuttgart: Philipp Reclam jun. 1999, S. 395–397.
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Pietismus-Studien Hans-Jürgen Schraders 1979–2018
L 64
Pi8tisme. In: Encyclop8die du Protestantisme. Hg. von Pierre Gisel. Paris: Librairie du Cerf – Lausanne: Labor et fides 1995, S. 1156. [überarb. Wiederabdruck:] In: Carl-A. Keller / Denis Müller : La spiritualit8 protestante. Lausanne: Labor et fides – Paris: Librairie du Cerf 1998 (Dossiers de l’Encyclop8die du Protestantisme, N8 2; Entr8e libre, N8 41), S. 83–86. [überarbeitete Neuausgabe:] Pi8tisme. In: Encyclop8die du Protestantisme, 2e 8dition revue, corrig8e et augment8e. Hg. von Pierre Gisel unter Mitarb. von Lucie Kaennel. Paris: Presses Universitaires de France – GenHve: Labor et fides 2006, S. 1069 f.
L 65
Johann Friedrich von Fleischbein. In: Religion in Geschichte und Gegenwart. Vierte, völlig neubearbeitete Auflage. Bd. 3, Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 2000, Sp. 159.
L 66
* Michaela Scheibe: Rekonstruktion einer Pietistenbibliothek. Der Büchernachlass des Johann Friedrich Ruopp in der Bibliothek der Franckeschen Stiftungen. Tübingen: Verlag der Franckeschen Stiftungen Halle im Max Niemeyer Verlag 2005 (Hallesche Quellenpublikationen und Repertorien, Bd. 8). Rez. in: Pietismus und Neuzeit. Ein Jahrbuch zur Geschichte des neueren Protestantismus. Bd. 35, 2009, S. 296–302.
L 67
Pietistische Sympathetik. Grußwort zur Gedenkfeier für Christa Habrich im Medizinhistorischen Museum Ingolstadt, 14. Nov. 2013. In: Medizin- und kulturgeschichtliche Konnexe des Pietismus. Heilkunst und Ethik, arkane Traditionen, Musik, Literatur und Sprache. In memoriam Christa Habrich. Hg. von Irmtraut Sahmland und Hans-Jürgen Schrader. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2016 (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus. Bd. 61), S. 409–411.
Personenregister
Aalen, Leiv 89 Aben Aesra ! Abraham ben Meir ibn Esra Abrabanel, Isaak 301 Abraham a Santa Clara ! Megerle, Johann Ulrich Abraham ben Meir ibn Esra 301 Abresch, Wilhelm 270, 605, 621 Achiasaf, Oded 603 Achilles, Andreas 657 Adam, Johann 636, 638 f. Adam, Wolfgang 98 Adamzik, Kirsten 248 Adelung, Johann Christoph 293, 629 f. Adorno, Theodor W. 555 f. Aelred von Rievaulx 682 Agrippa [Hg. der Ephrata-Chronik] ! Müller, Johann Peter Aland, Kurt 82, 95, 113, 186, 251, 307, 312, 314 f., 317, 323, 326, 479 Albrecht, Günter 464 Albrecht, Michael 137 Albrecht, Ruth 100, 150, 162 f., 422, 433, 523, 559, 606, 731, 790 Albrecht-Birkner, Veronika 73, 86, 95, 103 f., 151 Alderfer, Everett Gordon 211, 216, 550 f., 554 Alethophilus 453 Alt, Peter-Andr8 137, 147 f., 250 f. Altenberg, Peter 508 Altmann, Eckhard 764 Alverdes, Paul 116, 429, 499 Ambrosius von Mailand 682
Ameln, Konrad 235 Ammersbach, Heinrich 350 Andel, Cornelis Pieter van 83, 432, 440, 443, 449, 458, 461, 463, 470 f., 481, 483 Andelson, Jonathan G. 586 Anderegg, Johannes 251, 567, 606, 790, 793 f. Andreae, Johann Valentin 93, 318, 368, 397, 399–403, 655 Andresen, Carl 139 Angela von Foligno 431, 662 Angelus Silesius ! Scheffler, Johannes 462, 464 f., 555, 568 Anhalt-Zerbst, Anton Günther, Prinz von 721 d’Annone, Hieronymus ! Annoni, Hieronymus Annoni, Hieronymus 576 f., 587, 679 Anschel [jüdischer Täufling in Laubach] 189 Anton, Paul 153, 331, 657, 659, 662 Anz, Heinrich 764 Apel, Friedmar 712 Arends, Wilhelm Erasmus 685, 721 Areopagita ! Pseudo-Dionysius Areopagita Arndt, Johann 21, 23, 30, 39 f., 78, 93, 100, 102 f., 121–123, 139–141, 145, 308, 311, 316–320, 322, 325, 333 f., 347–349, 353–355, 357–359, 363–367, 369 f., 372 f., 375, 379 f., 382, 386, 388, 396, 398–410, 429, 471, 662, 672, 685 Arndt, John Richard 458
800
Personenregister
Arnim, Achim von 701–706, 709–711, 715 Arnold, Antje 101 Arnold, Gottfried 31, 40 f., 45, 49, 74, 77 f., 86, 90, 96, 103–105, 107, 109, 150, 165, 209, 215 f., 251 f., 258, 288, 331 f., 335, 350 f., 353, 362, 373, 376, 383 f., 411 f., 429–431, 438, 465, 468, 473, 485, 489, 568, 570, 597, 604, 619 f., 654, 662 f., 667, 670, 680 f., 685, 694, 715, 743 Arnold, Werner 402 Arouet, FranÅois-Marie ! Voltaire Asseburg, Rosamunde Juliane, Freiin von der 49, 197, 524 Athias, Joseph ben Abraham 180 f., 216, 290, 292, 298–300, 303 f., 334, 336 Attias, Jean-Christophe 793 Atwood, Craig 495 d’Aubign8, Agrippa Th8odore 242 d’Aubign8, FranÅoise, Marquise de Maintenon 434 Augustin von Hippo 777 f. B., P. Ch. de [Rabbiner] 200 Baader, Franz von 97, 720 Bach, Adolf 112, 582 Bach, Carl Philipp Emanuel 145 Bach, Jeff[rey A.] 211, 218, 549–553, 560, 564 Bach, Johann Sebastian 360, 556 Bach, Peter 360 Bahr, Ehrhard 137 Bahrdt, Karl Friedrich 286 Baker, Elisabeth 244 Balay8, Simone 419 Balders, Günter 150, 235, 459, 490, 560, 790 Balsamo, Guiseppe ! Cagliostro, Alessandro Graf von Balthasar, Georg 706 Bambamius, Hartwig [tatsächlich wohl ! Edzardi, Sebastian] Barkhoff, Jürgen 148, 751, 758 f.
Barner, Wilfried 20 Barth, Christian Gottlob 678 Barth, Hans Martin 684 Barth, Karl 487 Barthel, Diane L. 527, 586–588 Barthel, Pierre 613 Barthold, Friedrich Wilhelm 44 Basedow, Johann Bernhard 61 f., 112, 502, 581 f., 596 Bass, Sabbatai ! Sabbatai ben Josef Bauckham, Richard 182 Bauer, Eberhard 192, 208, 220 f. Bauer, Gerhard 738 Bauer, Hermann 490, 496 Baumann, Bernhard ! Hoburg, Christian Baumann, Johann 473 Baumann, Urs 786 Baumann, Wilhelm 460 Baumgarten, Siegmund Jacob 154 f., 333 Baur, Gustav Adolf Ludwig 179, 341 Bautz, Friedrich Wilhelm 329, 428, 446, 521, 551, 566, 636, 737 Bautz, Traugott 329, 357, 428, 521, 675, 737 Baxter, Richard 65, 758 Becher, Johannes R. 136 Becker, Christian Wilhelm 89, 277, 304 Becker, Christoph 251 Becker, Peter 210, 218, 220, 230, 558, 560, 562 Becker, Ulrich 178 Becker-Cantarino, Barbara 548 Beer, Michael 184 Beethoven, Ludwig van 556 Beets, Hendrick ! Betkius, Henricus Beetz, Manfred 165, 216, 335 Behrens, Jürgen 706 Beissel, [Johann] Conrad 14, 105 f., 145 f., 194, 209–211, 215 f., 220 f., 224–230, 252, 258, 429, 547, 549–557,
Personenregister 559–562, 564–568, 572, 574 f., 590, 627, 778, 794 Belaval, Yvon 341 Beltz, Walter 227 Bender, Wilhelm 36 Benedikt XVI. ! Ratzinger, Josef Benelle, Jacob 113 Bengel, Johann Albrecht 71, 77, 83 f., 86, 95, 104, 108 f., 150, 177, 182, 191, 264, 267, 274, 286, 288 f., 307 f., 312, 325, 332, 341, 343, 451, 695 f. Bengel, Johanna Regina 691 Benrath, Gustav Adolf 86, 111, 437, 440, 463, 727, 730 Benz, Ernst 47, 49, 739, 743, 745, 754, 756, 758 Berbig, Roland 156 Berchtold, Jacques 530, 592, 796 Berg, Johannes van den 21, 737 Berger-Fix, Andrea 752 Bernd, Adam 108, 110, 146, 776 Bernhard von Clairvaux 476 BerniHres-Louvigny, Jean de 427, 449, 482 Berning, Stephan 174 Berns, Jörg Jochen 318, 366, 369, 394 f., 397, 399 f., 403 f., 409 Berns, Michael 181, 303, 334 Bertheau, Ernst 293 Berthold, Benjamin 384 Bertot, Jacques 427, 442, 453 Bertram, Johann Georg 350, 353, 355, 364, 394 Besch, Werner 291 Best, Otto F. 143, 462 Bethke, Eberhard 490 Betke, Joachim 120, 349–351, 356, 362, 373 f., 376 f., 385, 408, 411–413 Betkius, Henricus [Heinrich] 89, 267, 355, 372, 386, 606, 662 Betz, Otto 342 Beuningen, Coenraad van 182, 190, 525
801
Beuningen, Conrad von ! Beuningen, Coenraad van Beverley, Thomas 182 Beyer-Fröhlich, Marianne 73, 95 Beyreuther, Erich 26, 28, 36, 79, 85, 93, 95, 185, 189, 192, 241, 453, 460, 491, 495, 497, 641 Bianco, Bruno 154 Bie, J. P. de 362 Bieffer, Friedrich Wilhelm Adolf 450 Biegler, Johannes 667 Biester, Johann Erich 137, 760 Bigelmaier, Andreas 435 Binder, Wolfgang 248, 250 f. Birkenmeier, Jochen 161, 610 Birus, Hendrik 712, 788 Bister, Ulrich 94, 459, 463 Bittel, Karl 759 Bittinger, Emmert F. 208 Bitzius, Albert ! Gotthelf, Jeremias Blackall, Eric Albert 248 Blanckenberg, Conrad Gottfried 109, 178 Blanckensee, Joachim Friedrich von 771 Blankenburg, Martin 752 Blarr, Oskar Gottlieb 105, 641 Blastenbrei, Peter 166 Blaufuß, Dietrich 21 f., 72, 75, 77, 79 f., 84 f., 87, 94 f., 105, 647, 652, 654, 668 Blitz, Jaquthiel [Jekutiel] 299 Bloesch, Hans 779 Blok, P. J. 362, 408 Bludau, Beatrix 554 Bluhme, Johannes Bartholomæus 627 Blumenthal, Lieselotte 500 Blumhardt, Johann Christoph 71, 74, 84, 113, 150, 696 Böcher, Otto 182 Bodanus, Gualterus 243 Bodmer, Johann Heinrich 533, 543 Bodmer, Johann Jacob 73, 96, 530
802
Personenregister
Bodmer, Martin 530, 592, 796 Boekholt, Johannes 267 Bogatzky, Carl Heinrich von 108, 110, 112, 129 f., 485 Bohatta, Hanns 88 Böhme, Jacob 37–39, 45–48, 55, 57, 62, 89, 93, 140, 176 f., 179, 209, 258, 275 f., 293 f., 339, 349, 372, 429, 442, 451, 558 f., 566, 572, 593, 606, 634, 661 f., 735, 737, 743, 750, 752 f., 757 Böhmerle, Theodor 778 Bohnenkamp, Anne 796 Bolten, Johann Adrian 62, 175, 180, 293, 304, 351, 356, 362, 408 Bond, R. Warwick 655 Bonhoeffer, Dietrich 490 Böning, Holger 144 Böning, Thomas 143 Bonnelle, Louis 452 Bonnet, Charles 113, 191 Bonnet, Jeanne 534, 543 Boor, Friedrich de 79, 252 Börne, Ludwig 173 Börner, Friedrich 629 f. Borns, Catharina 260 Böschenstein, Renate 792 Boschung, Urs 759 Bosse-Huber, Petra 10, 15 Bosshardt, Hans Rudolf 345 Bost, Paul Ami Isaac David 99, 675, 732 Böttger, Hermann 452 Böttiger, Johann Georg 458, 466 Bougeant, Guillaume-Hyacinthe 119 Bourel, Dominique 341 Bourignon, Antoinette 37, 275, 338, 345, 349, 389, 426, 436, 445, 451, 453, 640 Bowers, Fredson 654 Bowman, Derek Edward 743 Brack, Claudia 613 Braght, Tielemann Janzoon van 552 Brakel, Dirk Gerritzoon 771 Bräker, Ulrich 96, 100, 109, 111–113,
253, 258, 344 f., 441, 448, 454, 502, 526, 528, 584, 794 Brandenburg ! Friedrich Wilhelm [der große Kurfürst], !Johann Sigismund, Markgraf; (vgl. auch ! Preußen) Brandenburg-Bayreuth-Kulmbach, Sophie Christiane 492 Brandes, Helga 161 Brandstetter, Alois 794 Bratke, Eduard 182, 195 Brauer, Christoph Friedrich 35 Braun, Friedrich 131, 159, 198, 618 Braun, Fritz 551, 566 Bräuning-Oktavio, Hermann 89 Braunschweig-Lüneburg[-Wolfenbüttel], Anton Ulrich, Prinz zu 366, 371, 380, 395, 405, 410 Braunschweig-Lüneburg[-Wolfenbüttel], August d. J., Herzog zu 316–318, 327, 348, 350, 358, 365–371, 374, 380–383, 386, 389–391, 394–397, 399–406, 409 f., 412, 414 f., 417, 796 Braunschweig-Lüneburg[-Wolfenbüttel], Rudolf August, Prinz zu 371, 380, 395, 405, 410 Braunschweig-Lüneburg-Celle, Christian d. Ä., Fürst von 401 Braunschweig-Wolfenbüttel-Bevern, Ferdinand Albrecht I., Prinz zu 371, 380, 395, 405, 410 Brecht, Christoph 399 Brecht, Martin 28, 46, 83, 91, 93, 100, 106, 112, 121, 140 f., 151, 155, 159, 202, 212, 223, 264, 271–274, 277, 288, 307, 310, 314, 316–318, 321, 324, 337 f., 342 f., 354, 356, 358 f., 363 f., 368, 379, 388, 397, 399 f., 402 f., 408, 417, 428 f., 445, 491, 522, 548, 550, 594 f., 598, 612, 618, 635–637, 668, 691, 695, 725, 756, 790, 794 Breckling, Friedrich 39, 93, 140, 349 f., 376, 411, 657, 662, 733, 735 Brehm, Johann Adam 671
Personenregister Breithaupt, Joachim Justus 33, 40, 108 f., 153, 171 f., 659, 662 Breitinger, Johann Jacob 530 Breitkopf, Bernhard Christoph 283 Breler, Melchior 316, 318, 368, 400 f., 404 Brentano, Clemens 465, 701–706, 709 f., 715–717, 719 Bretterg, Catharina 771 Breuer, Caspar 347, 355 Breuer, Dieter 251, 264 f. Breul, Wolfgang 70, 73, 95, 100 f., 103, 141, 150, 211, 216, 373, 391, 399, 547, 569, 665, 701, 790, 792, 795 f. Breyer, Ludwig Friedrich 630 Breyer, Margareta 236 Breymayer, Reinhard 22, 40, 49, 79 f., 83, 91, 94, 176, 195, 217, 250, 253, 342, 669–671, 754, 757, 760 Bricka, Carl F. 630 Brigel, Dr. [Johann Matthäus?] 48 f., 616 Brigel, Gottfried 616 Brigel, Leonhard 616 Brill, Jacob 130, 237 f., 637, 650 Brinkmann, Richard 41 Brockes, Barthold Hinrich 96, 147, 468, 474 Brockhaus, Friedrich Arnold 164, 354, 565, 744 Brodbeck, Doris 584 Bromley, Thomas 47, 56, 171, 735 Brös[s]ke, Conrad 49, 58, 182, 471, 594 Bröske, Johann Christoph 171, 471 Brox, Norbert 769 Bruch, Rüdiger von 152 Bruckner, Anton 556 Brückner, Georg Heinrich 47 Brückner, Hieronymus 733 f., 736 Bruckner, John A. 75 Brunn, Hieronymus 473 Brüske, Conrad ! Brös[s]ke, Conrad
803
Brüske, Johann Hermann 182 Bucer, Martin 24, 93 Buchberger, Michael 435, 693 Bücher, Friedrich Christian 37, 429 Buchner, Eberhard 62, 191, 524 f. Büchner, Georg 15, 73, 97, 688, 763–765, 767–769, 776, 785 Büchsel, Jürgen 45 Buddeus, Johann Franz 154, 281 Bugenhagen, Johannes 320 Bülow, Joachim Heinrich von 31 Bülow, Johanna Sophie von ! Carl, Johanna Sophie Bunners, Christian 105, 145, 150, 156, 252, 449, 458, 554, 566, 764, 790 Bunyan, John 236, 242, 685, 770, 773 Burck, Johann Philipp 771 Burdach, Konrad 247, 454 Bürger, Gottfried August 96, 537, 688, 711, 781 f. Bürgi, Andreas 96, 253, 345, 502, 526, 584 Burk, Johann Christian Friedrich 191, 678, 685, 696 Burkardt, Johannes 83, 103, 113, 127, 151, 217, 220, 259, 338, 443, 450, 463, 470, 577, 591, 601 f., 605, 607 f., 611, 613–615, 619 f., 635 f., 652, 726, 756, 795 Burkhalter, Joseph 454 f., 529 Burkhardt, Guido 490, 496 Bürkmann [Birkmann], Christoph 671 Burnett, George Murray 743 Burnon, Mlle. de 533, 536 Busch, Gudrun 99 f., 145 Busch, Wilhelm 515 Busenreuth, Johann Christoph 400 Bütikofer, Kaspar 358, 362, 372, 374, 380, 391, 406, 409 f., 416 Butler, Jon 218, 564 Buttlar, Eva von 58, 216, 563, 610 Büttner, Daniel 670 Byron, George Gordon, Lord 553 f.
804
Personenregister
Cacciatore, Guiseppe 165, 216, 335 Caflisch-Schnetzler, Ursula 103 Cagliostro, Alessandro Graf von 760 Cahnmann, Werner, J. 218 Calixt, Georg 400, 402 Callenberg, Clara Elisabeth von 428, 611 Callenberg, Johann Heinrich 166, 174, 188 Callot, Jacques 411 Calvin, Johannes [Jean] 136, 218 Camerer, Elias 670 Canstein, Carl Hildebrand, Frhr. von 82, 95, 113, 312–316, 321 f., 335, 657 Carl, Anna Maria, geb. Rapp 625 Carl, August Ernst 625 Carl, Ernst Ludwig 630 Carl, Gesine 166 Carl, Johann Christian 625, 627 Carl, Johann Ernst 625 Carl, Johann Samuel 11, 15, 48, 59–61, 79, 107 f., 158, 193, 258, 280, 333, 342, 450, 472, 525 f., 558, 596, 609, 615–617, 619, 620 f., 625–631, 649, 666, 668, 705, 708, 758, 797 Carl, Johanna Sophie, geb. von Bülow 615 f., 625 f. Carl, Maria Dorothea ! Struensee, Maria Dorothea Carl, Rosina Dorothea, geb. Scheller 625 Carøe, Kristian 630 Carpenter, Delburn 210, 223 Carpzov, Johann Benedikt 648 Carr8, Jean Marie 27 Carter, Douglas 425 Castell, Anna Sophie 621 Castell-Remlingen, Ludwig Friedrich Graf von 64 Castell-Remlingen, Sophie Theodora, Gräfin von 189 Catharina von Genua 431, 439, 662, 685
Catharina, Halberstädtische ! Reinecke, Catharina Cellin [schwed. Böhmist] 62 Cezanne, Stephan 231 Chantal, Jeanne-FranÅoise Fr8myot, Baronne de 427 Chartier, Roger 517, 792 Chavannes, Jules 424 Chevallier, Marjolaine 428, 434 Chodowiecki, Daniel 781 Christian IV., König von Dänemark und Norwegen 376, 411 Christian VI., König von Dänemark und Norwegen 165, 293, 627 f., 673 Christian VII., König von Dänemark und Norwegen 630 Christianus Democritus ! Dippel, Johann Conrad Christlieb, Carl Casimir ! Gumpel [jüdischer Täufling in Laubach] Christlieb, Friedrich Christian ! Anschel [jüdischer Täufling in Laubach] Cicero, Marcus Tullius 682 Cirksena, Carl Edzard, Fürst von Ostfriesland 304, 430 Clauder, Israel 171 Claudius, Matthias 465, 504 Claus, Wilhelm 191, 696 Clericuzio, Antonio 731 Cluß, Adolf 236 Coccejus, Johannes 183, 195, 289, 328 Cognet, Louis 434, 443, 446 Colberg, Ehregott Daniel 37, 429 f. Colloredo, Rudolph Joseph, Reichsfürst von 672 Comenius, Johann Amos 376, 411 Conrady, Karl Otto 673 Corbet, Margaretha 689 Cornelius, Georg 271 Corvinus, Johann Friedrich 357, 390 Cotta, Johann Georg 438, 735 Cramer, Daniel 142 Cramm [Kramm], Andreas 364, 371
Personenregister Crawelius, Antonius 271 Croce, Giovanna della 465, 478, 481 Cruse, Hermann 218 Cuba, Johannes von 472 Cysat, Renward 241 Dahlgrün, Corina 796 Dahnke, Hans-Dietrich 91, 250, 522 Dalman, Gustaf 189 Damm, Christian Tobias 324 Dänemark und Norwegen, Könige ! Christian IV.; ! Christian VI.; ! Christian VII.; ! Friedrich IV.; ! Friedrich V. Dänemark und Norwegen, Königin ! Sophie Magdalene Dänemark, Prinz ! Georg, Prinz von Dänemark Dann, Christian Adam 150 Dante Alighieri 694 Darnton, Robert 752 Daut, Johann Maximilian 108 f., 611, 637 David, Hans T. 555 Davidsohn, Hans ! Hoddis, Jacob van Dechent, Hermann 223, 558 Dedner, Burghard 763 f. Deghaye, Pierre 342 Deichgräber, Reinhard 461 Delan, Michel 91 Dellsperger, Rudolf 391, 523, 543, 583 f., 770–775 Demandt, Johannes 99 Denkler, Horst 169, 791 Denzler, Georg 139 Depkat, Volker 82 Deppermann, Klaus 75, 77, 93 f., 155, 210, 212, 337, 428, 522, 550, 558, 595, 635, 668 Derks, Paul 235 Detering, Heinrich 163 f., 201, 785 Diderot, Denis 422 Dieckmann [Diecmann], Johann 317, 320–322
805
Diedemann [Schreiber der Brüder ! Pott] 579 Diehl, Hans Georg 215, 221, 225 Diehl, Nikolaus 215, 221, 225 Diehl, Wilhelm 89 Diemert, Gudrun 74, 82, 95, 150 Dienst, Karl 674 Dietenberger, Johann 291 Dilthey, Philipp Jacob 607 Dinse, Helmut 180, 298, 300 Dippel, Johann Conrad 31, 36, 96, 258, 512, 610, 613, 619–621, 626, 629, 705 Dittmar, Johann 48 f., 57, 524 Divisˇ, Prokop 754, 757 Doerne, Martin 242 Dohm, Burkhard 99, 720, 733 Dohm, Christian Konrad Wilhelm von 163 f., 201 Doll, Eugene E. 80, 211, 552 Dooren, Jan-Pieter van 21, 737 Döring, Detlef 647 Dose, Kai 82, 343 Drake, Johanna [Jane] 771 Drosdowski, Günther 603 Dühmert, Anneliese 459 f. Duitsch, Salomon 200 Dumrese, Hans 316–318, 366–368, 374, 396–398, 400–403, 406 Dünnhaupt, Gerhard 355 f., 360, 363 f., 366, 369–371, 373, 384, 404 f., 500 Durnbaugh, Donald F. 205, 208–211, 223, 340, 521, 526, 547, 550–552, 559–562, 575, 578–581, 586, 613 Durnbaugh, Hedwig T. 458, 473, 541, 552, 554, 558, 566, 575 Dutoit, Jean Philippe 424, 443, 454 Duttenhofer, Christian Friedrich 695 Dyck, Joachim 98, 174 Ebsdorf, Catharine Margarethe von 371 Eck, Reimer C. 458
806
Personenregister
Eckerlin, Gabriel 211 Eckerlin, Israel 211 Eckerlin, Samuel 211, 213, 550 Eckermann, Johann Peter 758 Eckhardt, Martin 425, 427, 432, 434, 437, 440 f., 446, 448, 451, 454 Eckhart (Meister) 429, 476 Edelmann, Johann Christian 61, 77, 86, 96, 109 f., 272, 452 f., 525, 608, 615, 619 f., 626, 635 Edzard[us], Esdras 177–179 Edzardi, Sebastian 41 Egede, Hans 672 Egenolff, Christian 209, 212, 223, 473 Eggelhoff, Friedrich 354, 388 Ehmann, Carl Christian Eberhard 96, 105, 110, 177 Ehmer, Hermann 691 Ehrich-Haefeli, Verena 792 Ehring, Karl-Heinz 481 Eichendorff, Joseph von 465 Eisenhardt, Ulrich 264, 266 Eisenmenger, Johann Andreas 184 Eisler, Tobias 109, 131, 159, 272, 617 f., 626, 667 Elbogen, Ismar 191 Elers, Heinrich Julius 66, 188, 312, 321 f. Elias / Elias Artista ! Müller, Johann Daniel Eller, David B. 208, 613 Ellinger, Georg 464 Elwert, Anselm Karl 701, 711 Emrich, Wilhelm 497 Endter, Wolfgang Moritz 42 Engberding, Hieronymus 693 Engelbrecht, Hans 236, 244, 349, 748 Engels, Friedrich 235 f. Engels, Johann Caspar 236 Engels, Walter 462, 464, 472, 479 Ensberg, Peter 793 Ensched8, Izaak 733 f. Ensched8, Johannes 734
Ensign, Chauncey David 36, 44, 46, 268, 631 Ensslen, Klaus 236, 770 Erb, Jörg 679, 685 Erb, Peter C. 95, 362 f., 369, 389, 405, 408 f., 550 Erb, Rainer 184 Erbe, Hans-Walter 495, 498 Erdmann, Christoph Gottlieb ! Moser, Johann Jacob Erhard, Christoph 692, 694, 695 Erler, Georg 363, 409 Ernst, James Emanuel 209, 550 Ernst, Paul 84 Esse Hemmens ! Hemmens, Esse Ewald, Johann Ludwig 214, 257, 674–676, 732 Exter, Christlieb Leb[e]recht von 685, 721, 723, 756 Eynde, Laurent van 751 Faber, Georg Friedrich 630 Faber, Irene 216, 336 Faber, Marion 397 Fabian, Bernhard 293 Fabian, Dietrich 582 Fabricius, Barachias 171 f. Faivre, Antoine 425, 452, 731 Falk, Johannes Daniel 93, 99 Fatio, Olivier 115 Faulenbach, Heiner 24, 654 Feddersen, Jakob Friedrich 672–674, 685–690 Fehringer, Norbert 45, 49, 51, 171 Feinler, Gottfried 204, 663 Feldmann, Klaus 161 Feldtkeller, Andreas 91 Felgenhauer, Paul 39, 46 f., 93, 140, 182, 186, 195 f., 593, 637, 735 Fende, Christian 49, 107, 176, 525 F8nelon, FranÅois Salignac de la Mothe 245, 421, 423, 426 f., 435 Ferdinand III., deutscher Kaiser 368, 376, 398, 411
Personenregister Feustking, Johann Heinrich 57, 88, 433, 523 Figala, Karin 731 Fink, Gonthier-Louis 419 Fischer, Albert 235 Fischer, Georg Heinrich 440 Fischer, Hendrik 433 Fischer, Johann 308, 316 f. Fischer, Loth 47 Fischer, Samuel 554 Fischer-Lamberg, Hanna 132 f., 454, 519, 530, 611 Fleischbein, Johann Friedrich von 97, 113, 338, 423 f., 428, 437, 442 f., 452–455, 470, 611, 614, 619, 726, 756, 796, 798 Fleischer, Manfred 165 Flesch, Stefan 793 Fliedl, Konstanze 411 Fliedner, Theodor 679, 685 Fogleman, Aaron S. 230 Folter, Roland 80 Fontane, Theodor 156 Fontius, Martin 99 Förtsch, Paul Jacob 662 Fouqu8, Friedrich Heinrich Karl, Baron de la Motte 752 Francisci, Erasmus 526 Francke, August Hermann 33, 40, 66, 71, 74, 77, 79, 82, 84, 90, 94 f., 96, 108, 110, 113, 118, 123 f., 141, 150, 152–154, 161, 166, 178 f., 184, 187, 249, 251, 271, 307–310, 312–318, 321 f., 326 f., 330 f., 334 f., 341, 430, 523, 633 f., 646–648, 658 f., 662, 685, 721 f., 734, 743, 756, 770–774 Francke, Gotthilf August 109 f., 113, 154 f., 172, 233, 504 Franckenberg, Abraham von 39, 662 FranÅois, Etienne 344 Franke, Ilse 177, 289, 308 Frankemölle, Hubert 768 Franklin, Benjamin 228 f., 552, 565, 754, 757
807
Franklin, Burt 211 Frankreich, Kaiser von ! Napoleon I. Frankreich, König von ! Ludwig XIV. Frantz, John B. 550 f. Franz von Assisi 433 Franz, Ansgar 727 Franz, Günther 264 f. Freeman, Arthur J. 498 Freiligrath, Ferdinand 136 Freimark, Peter 175, 194 f., 201 Fresenius, Johann Philipp 35, 188, 343, 671 Freud, Sigmund 565 Freylinghausen, Johann Anastasius 106, 110, 233, 660 f., 763 Fricke, Gerhard 779 Fricke, Harald 70 Friedrich I., König in Preußen[= III., Markgraf von Brandenburg, Kurfürst] 152 f., 277, 279 Friedrich II. [d. Gr.], König von Preußen 27, 154, 782 Friedrich IV., König von Dänemark und Norwegen 293 Friedrich V., König von Dänemark und Norwegen 165, 246, 673 Friedrich Wilhelm [d.Gr.], Markgraf von Brandenburg, Kurfürst 156, 298 Friedrich Wilhelm I., König von Preußen 152 Friedrich, Gerhard 768 Friedrich, Hans-Edwin 144, 795 Friedrich, Martin 164, 166, 178, 181, 185 Fritsch, Matthias 154 Fritsche, Hans 428, 452 Fritz, Eberhard 340, 616, 764 Frommann, Friedrich 670 Froschauer, Christoph 217, 296, 320, 340 Fuchs, Hugo 182, 300 Funck, Elisabeth 526 Funke, Anneliese M. 80, 211, 552
808
Personenregister
Füssl, Wilhelm 357, 675 Füssli, Johann Heinrich 111, 344 Gäbler, Ulrich 94, 667, 731 Gagnebin, Bernard 655 Gaier, Ulrich 654 f. Galling, Kurt 287 Gallitzin, Amalie, Fürstin von 96 Gansäuer, Jürgen 402 Gantner-Schlee, Hildegard 577 Gass, Jacob [Pseud.: Lamech] 194, 211, 241, 549 Gaue, Johann Friedrich 354 Geck, Martin 91 Gedeløcke, Jens Pedersen 165, 170, 186, 193 f., 673, 335, 338, 694 Gedike, Friedrich 137, 760 Geer, Laurens de 349 Gelber, Mark H. 795 Gell, Robert 328, 342 Gellert, Christian Fürchtegott 112, 673 Gemähle [Begleiter von Jean-FranÅois Regnier] 230 Gentry, Francis G. 205 Genuvvit, Johannes 240, 245 Georg, Prinz von Dänemark [und Herzog von Cumberland] 241 Georgi, Theophil 71, 88, 273, 439, 693 Gerber, Christian 22, 107, 350, 354, 384, 431, 434, 667 f., 670, 676, 684 f., 721 Gerhardt, Paul 93, 156, 465 Germann, Wilhelm 110 Gersch, Hubert 763 f. Gersdorf, Friedrich Caspar, Graf von 441 Gersdorf, Henriette Catharina, Freifrau von 105 f. Gersdorf, Johanna Magdalene von 112, 129 f. Gestrich, Andreas 731 Getz, Russel P. 552
Geusau, Johanna Magdalene von ! Gersdorf, Johanna Magdalene von Gichtel, Johann Georg 39, 46 f., 63, 90, 93, 176, 179, 209, 215 f., 294, 331, 558, 562 f., 566, 593 f., 620, 634, 662, 733 Gierl, Martin 99, 646, 648 Gilbert, Russel Wieder 551 Gill, Roma 655 Gisel, Pierre 428, 793, 798 Glaser, Karl Alfred Gustav Ernst 678, 685 Gleim, Johann Carl 194, 525 Gleim, Sigmund Heinrich 222, 526, 529, 586 Gleixner, Ulrike 84, 146, 162, 691 Glüsing, Johann Otto 104, 179 f., 215, 293–296, 299, 327, 334, 597, 667, 694 Gmelin, Eberhard 738 Gmelin, Wilhelm Christian 50, 223, 245, 637 Göchhausen Luise von 655 Godfroid, Michel 30, 32 Goebel, Max 24, 45 f., 62, 175, 268, 432, 437, 452, 521, 524, 580, 586 f., 630 Goedeke, Karl Friedrich Ludwig 75 Goes, Albrecht 461 Goeters, Johann Friedrich Gerhard 432, 437, 440, 443, 654 Goethe, Johann Wolfgang [von] 13, 36–38, 41 f., 73, 91, 96 f., 98 f., 100, 102, 108, 111 f., 131–133, 148–150, 160, 188, 191, 201 f., 248–253, 343, 421–424, 443, 453 f., 457, 469 f., 483–485, 489 f., 500, 502, 519, 522, 526, 530 f., 537, 542 f., 546, 564, 567, 581 f., 590–597, 600, 605 f., 611 f., 617, 634, 651 f., 654 f., 671, 673, 680, 682, 687 f., 704, 706, 710–715, 719 f., 730, 732, 747, 751–753 f., 758, 760 f., 763, 769, 780 f., 785, 788, 792–794, 796 Goetschel, Willi 164 Goetz, Walter 202
Personenregister Goeze, Johann Melchior 154, 287, 304 f., 330, 332, 689 Goldfriedrich, Johann 264 Gollwitzer-Voll, Woty 651 Golther, [Jacob Friedrich], Mag. 198, 501, 545 Göltz, Klaus E. 241 Gondal, Marie Louise 434, 437 f., 443 Goodman-Thau, Eveline 218, 227, 677, 720, 732 Göpfert, Herbert G. 779, 791 Gordon, William 213 Görres, Joseph 703 Gorzny, Willi 293 Gössmann, Elisabeth 523 Goßner, Johannes Evangelista 122, 124, 667 Gotter, Ludwig Andreas 489 Gotthelf, Jeremias 64, 454 f., 529, 770, 779 Gottlieb, Christian 360 Gottrecht, Friedsam ! Beissel, [Johann] Conrad Göttsche, Dirk 156 Gottsched, Johann Christoph 146 f. Gottsched, Luise Adelgunde Victorie 88, 90, 102, 119 f., 162 f., 180, 195, 283, 694 Goulemot, Jean 553 Grabbe, Hans-Jürgen 209 Graber, Heinz 96, 345, 502, 528 Graevenitz, Gerhart von 248 Graf, Jacob von der 245 Graf, Johannes 166 Graffius, Charles 551 Gray, Johanna 686 Gregor, Christian 489–492 Greiffenberg, Catharina Regina von 465, 483 f., 542 Greschat, Martin 22, 24, 30, 40, 61, 189 Grimm, Gunter E. 143, 462, 781 Grimm, Jacob 234 f., 319, 419 f., 484 f., 697, 703
809
Grimm, Wilhelm 234 f., 319, 419 f., 484 f., 697, 703 Groh, Dieter 148 Groh, Ruth 148 Gronewegen, Henricus 244 Gröschel-Willberg, Evamarie 120, 350 f., 362, 374, 377, 385, 408, 413 Groß [Gross], Andreas 59 f., 79, 159, 209, 211, 271, 334, 611, 616, 621, 646, 653, 660 Gross [Pastor] 209 Großgebauer, Theophil 93, 103, 140 Grossmann, Walter 86, 96, 110, 272, 452 f., 521, 580, 586, 635 Grotius, Hugo 612, 622 Gruber, Eberhard Ludwig 79, 105, 127, 159, 208 f., 502, 526 f., 545, 578 f., 581, 590, 613, 615 f. Gruber, Johann Adam 60, 209, 221 f., 340, 526, 529, 533, 578, 581, 586, 590 Grumbach, Argula von 695 Grünbaum, Max 180, 299 f. Grünberg, Paul 79 Grundlach, Horst 148, 731 Grutschnig-Kieser, Konstanze 149, 159, 340, 473, 580–582, 587, 616, 635, 754 Gryphius, Andreas 500 Guggenheim, Joseph 200 Guggenheim-Grünberg, Florence 200 Guggisberg, Kurt 434, 523 f., 532 Guglielmetti, Prisca 109, 150, 561, 606 Gujer, Jakob 673 Güldi[n], Samuel 770 Gumpel [jüdischer Täufling in Laubach] 189 Gundert, Wilhelm 287, 291 Günther, Johann Christian 467 Günther, Rudolf 460 Gut, Judith 241 Gutekunst, Eberhard 176, 399, 797 Gutwirth, Jacques 174
810
Personenregister
Gutzen, Dieter 98, 174 Guyon, Jeanne Marie de 14, 97, 104, 129, 133, 239, 245, 250, 257, 261, 273, 275, 338 f., 342, 395, 419, 421–428, 430–456, 457, 467, 469 f., 475 f., 523, 611 f., 614 f., 619, 663, 669, 705, 726, 792 Habersetzer, Karl-Heinz 500 Habrich, Christa 471 f., 564, 610, 617, 631, 651, 798 Hadorn, Wilhelm 523, 580, 583 f., 589 Haefs, Wilhelm 144, 157, 795 Haeften, Benedictus van 122 Haes, de 770 f. Häfner, Ralph 147 Hagedorn, Friedrich von 673 Hagemann, Johann Georg 277, 304 Hagen, Johann Martin 439 Hagner, Donald A. 768, 777 Hahn Paulus, Beate ! Paulus, Beate Eleutherie Hahn, Hans-Christoph 491, 496 f. Hahn, Johann Jobst 67, 159 Hahn, Philipp Matthäus 71, 83, 95, 104 f., 111 f., 177, 288 f., 308, 331, 343 Hahn-Bruckart, Thomas 70 Haid, Johann Jacob 631 Haller [Johann Adam?] 215 Haller, Albrecht von 112, 148, 468, 630, 673 Hamann, Johann Georg 96, 108, 110, 285 f., 288–290, 294, 297, 304 Hamberger, Georg Christoph 88 Hamberger, Julius 62, 64, 110, 753 Hansen, Volkmar 234 Hantzsch, Viktor 550 Häntzschel, Günter 781 Häntzschel, Hiltrud 781 Harasimowicz, Jan 142, 145 Hardenberg, Friedrich Leopold, Frhr. von 73, 97, 253, 682 f., 717 f., 720 Harder, Richard 477
Hardtschmidt, Johann Nicolaus 636 Hark, J. Max 549 Harris, Rupert 689 f. Hart, J. Max 211 Härtel, Helmar 396 Härter, Andreas 793 Hartlaub, Geno 717 Hartmann von Aue 785 Hartmann, Rolf 161 Hartnack, Wilhelm 271, 629 Hartog, Gottreich Ehrenhold 104, 150 Harttmann, Gottlieb Friedrich 112, 177 Harttmann, Karl Friedrich 112, 165, 177 Hase, de ! Haes, de Haubrichs, Wolfgang 472 Hauck, Albert 70, 178, 293, 310 Haude, Johann Ambrosius 651 Hauff, Adelheid M. von 691 Hauff, Wilhelm 136 Hauffe, Friederike 735, 752, 758, 760 Haug, David 615, 618, 636 Haug, Johann Friedrich 15, 51, 59, 62, 65, 103 f., 130, 170, 239, 257, 270, 272, 275, 287, 337, 339, 446 f., 453, 526, 545, 598, 609, 615, 618, 620, 626, 633, 635–641, 646 f., 650, 653, 655, 659–661, 795 Haug, Johann Jacob 59, 89, 212, 270, 273 f., 304, 331, 430, 439, 472, 563, 604, 618 f., 636, 638, 650, 662, 705 Haug, Johannes 641 Haupt, Hans 180, 293 Häussermann, Friedrich 83, 176, 217, 253 Haustein, Jens 796 Hayen, Hemme 677, 704, 731, 733–751, 754 f., 757–761, 796 Hecht, Christian 189 Hecht, Coppel 176 Hedinger, Johann Reinhard 22, 288, 309 f., 318, 322, 333 f., 368, 771
Personenregister Heffernan, Valerie 148 Heftrich, Eckhard 234 f., 554 Hege, Christian 362, 408 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 97 Hegler, August Wilhelm 294 Heijting, Willem 89, 372, 606 Heim[ius], Wilhelm Christoph 371 f., 365 Heine, Heinrich 173, 702 f., 719, 797 Heineccius, Johann Michael 244 Heinemann, Barbara 585 Heinemann, Gerd 173 Heinemann, Johann Georg 112 Heinrich der Löwe, Herzog von Sachsen 413 Heinsius, Johann Georg 182, 361, 408 Heinsius, Wilhelm 71 Heiseler, Bernt von 460 Hell, Maximilian 744, 753 Heller, Erich 42, 554 Hellmund, Egidius Günter 110 Helmershausen, Immanuel Gottlob Friedrich 107, 669 Helmont, Johann Baptista van 731, 753 Helwig, Johann Philipp 566 Heman, Carl Friedrich 177, 188 Hemme Hayen ! Hayen, Hemme Hemmens, Esse 747 Hencke, Johann Christoph 470 Henckel, Erdmann Heinrich, Graf von 107, 171, 668, 671, 692, 699 Henckel, Wenzel Ludwig, Graf von 103 Henne, Friedrich 695 Henne, Helmut 531, 603 Hennicke, Christoph [d.Ä.] 625 Hensel, Luise 720 Heppe, Heinrich 21, 351, 362, 408, 422 Herder, Johann Gottfried 72, 96, 98, 101, 711, 797 Herlitz, Georg 182, 188, 191, 194, 300
811
Herman, Nicolaus ! Laurent de la R8surrection 719 Hermand, Jost Hermelink, Heinrich 48 Herrad von Hohenburg [von Landsberg] 471 Herrnschmidt, Johann Daniel 271, 334, 660, 667 Herz, Abraham 108, 111, 200 Herz, Ida 787 Herzog, Johann Jakob 45, 70, 178, 293, 299, 310, 437, 587 Herzog, Reinhart 20 Heß, Ruth 606 Hesse, Hermann 253, 758 Hessen-Homburg, Friedrich IV. Karl, Landgraf von 583 Hessing, Jakob 167, 795 Heuberger, Jean-Marc 338, 446, 614 Heukelbach, Werner 29 Heumann, Christoph August 177, 289, 308, 324 Hey, Bernd 591, 613, 795 Hieronymus [Kirchenvater] 319, 693 Hildebrandt, Hermann 608 Hiller von Gaertringen, Julia 308, 321 f. Hiller, Matthäus 291, 299, 334 Hiller, Philipp Friedrich 106, 299 Hilliard, Kevin 100 Hillmer, Gottlob Friedrich 675 Hinckelmann, Abraham 177 Hinneberg, Paul 27 Hinrichs, Carl 158 Hinsberg, Johann Georg 220, 605, 607 Hinske, Norbert 137, 146, 152, 154, 341 Hippokrates von Kos 617, 651 Hirsch, August 630 Hirsch, Emanuel 38 Hirschberg, Leopold 443 Hirzel, Martin 99, 675, 732, 740, 749 Hitler, Adolf 556
812
Personenregister
Hobbes, Thomas 155 Hoburg, Anna, geb. Dieden 347, 353 Hoburg, Christian 14, 39 f., 80, 93, 103, 120, 140, 258, 347–351, 353–382, 384–396, 398, 401–417, 683 f., 740, 795–797 Hoburg, Jürgen 347, 353 Hoburg, Maria, geb. Breuer 347, 355, 393 Hoburg, Philipp 267, 347, 349 f., 354–357, 361 f., 365, 369–371, 382, 385 f., 388 f., 393, 405, 408 Hocheisen, Johann Georg 309 Hochhuth, Carl Wilhelm Hermann 45 Hochmann von Hochenau, Ernst Christoph 58 f., 61, 158, 167, 186, 191 f., 196, 198, 206–211, 213–216, 218–221, 226, 230, 269, 558, 560, 562, 577, 607 f., 611–613, 724 f. Hoddis, Jacob van 513 Ho[ von Ho[negg, Matthias 397 Höfel, Rudolf op ten 470 Hoffbauer, Johann Christian 776 Hoffmann, Ernst Theodor Heinrich [„Amadeus“] 751 Hoffmann, Friedrich 625 Hoffmann, G. C. B. 458 Hoffmann, Georg 235 Hoffmann, Volker 110 Hoffmann, Wilhelm 436 Hofmann, Martin 271 Hofmannsthal, Hugo von 508 Hofmannswaldau, Christian Hofmann von 467 Hoheisel, Karl 651 Holdenried, Michaela 691 Hölderlin, Friedrich 73, 97 f., 102, 248, 780 Holle, Herbord von 359 Holle, Hermann Heinrich 267, 290, 293 Holliger, Christian 96, 345, 441, 528
Holliger-Wiesmann, Claudia 96, 345, 502, 528 Hollweg, Walter 733–735, 737, 742–744, 747, 750, 756 Hollyday, Guy T. 551 f., 562 Holme, Benjamin 273 Holsten, Walter 188 Holtermann, Michael 751, 759 Holtzhauer, Helmut 202 Holzhey, Helmut 759 Holzmann, Michael 88 Homer 324 Homfeld, Otto 436 Homma, Laurentius 236 Hoover, Amos B. 473, 552 Horch, Hans Otto 169, 791, 795 Horch, Henrich 31, 45, 49, 51 f., 55, 58, 104, 171, 217, 258, 271, 274, 287, 296, 308, 336 f., 340, 597, 607–610, 640, 659, 737, 780 Horn Melton, James van 575, 587 Horneck, Anthon 243 Horovitz, Jesaja halevi 301 Hosmann, Sigismund 184 Hoyers, Anna Ovena 376, 412 Hübner, Johannes 678 Hübscher, Arthur 456, 677 Huch, Ricarda 357 Hufeland, Christoph Wilhelm 776 Huff, Stephen R. 738 Hugo von St. Viktor 476 Hugo, Hermann 23, 145, 438–440, 467, 469 Hungerland, Anna Martha 671 Hunold, Christian Friedrich 106 Hunziker, Rudolf 779 Huober, Hans-Günther 496 Hus, Jan 385, 673 Hutter, Elias 179 Ikeda, Koichi 252 Ingen, Ferdinand van 460 f., 465 Ingerslev, Vilhelm 630
Personenregister Innhausen und Knyphausen, Dodo Frhr. zu 48, 735 Isaac, Abraham 190 Iselin, Jacob Christoff 362 f., 372 Isenburg ! auch Ysenburg Isenburg-Birstein, Amalia Louysa, Gräfin von 171 Isenburg-Marienborn, Carl August, Graf von 581, 628 Ising, Dieter 83 f., 110, 114, 144, 150 f., 177, 451, 683, 790 Ito, Toshio 252 Jacob, Joachim 91, 99 Jacobi, Friedrich Heinrich 96 Jacobi, Johann Georg 96 Jacobi, Juliane 152 Jacobs, Eduard 131 Jaeger, Johann Wolfgang 438 Jahn [Jan], Anna Margaretha 523 Jahn, Johann Christian Gottfried 662 Jakubowski-Tiessen, Manfred 107, 150, 158, 240, 620, 671, 790 Jandl, Ernst 499 Jannasch, Wilhelm 95, 182 Janneway, Jacob 189, 670, 721 Jaspert, Bernd 250, 462, 470 f., 481, 487 Jean Paul 97, 245, 357, 422, 425–427, 434, 504, 675, 704 f., 720, 740 Jens, Walter 236, 461, 770 Jensch, Fritz 706 Jerichow, Traugott Immanuel 107, 384 f., 668 Jerusalem, Johann Friedrich Wilhelm 672, 687 Jeschaja ! Horovitz, Jesaja halevi Jessen, Hans 136 Jessen[ius], Johannes 236, 706 Jöcher, Christian Gottlieb 41, 88, 293, 362, 408, 629 f. Johann Sigismund, Markgraf von Brandenburg 156 Johannes vom Kreuz 427, 435
813
John, Martin 363, 369, 389, 405, 409 Jongh, de 351, 362, 408 Jordan, Ignatius 688 f. Joris, David 349, 735, 750 Josel [Josef] von Witzenhausen ! Witzenhausen, Josef (Josel) ben Alexander Joseph II., deutscher Kaiser 201, 672 Josineau [„Falschinspirierter“] 533 Joss, Gottlieb 455 Juan de la Cruz ! Johannes vom Kreuz Juncker, Johann 754 Junckherrott, Johann Jakob 296, 308, 332 Jung, Martin H. 107, 150, 164, 214, 402, 442, 691–693, 695 Jung[-Stilling], Johann Henrich 28, 49, 62, 74, 80, 86, 89, 93, 96, 99, 101–103, 108, 111, 113, 150, 253, 257, 448 f., 537, 674 f., 718, 732, 749, 752, 759, 769 Junglas, Peter 435 Jüngst, Johannes 27, 30 Jurieu, Pierre 195 Jütte, Robert 795 Kaennel, Lucie 798 Kaiser, deutsche ! Ferdinand III.; Joseph II.; ! Karl V.; ! Karl VI. Kaiser, Gerhard 39 f., 98, 248 f. Kaiser, Gerhard R. 495 Kaiser, Michael 620 Kaiser, Tobias 620 Kalb, Charlotte Sophie Juliane von 425 Kampf, Theodor 706 Kämpf, Johann Philipp 502, 581 f., 585, 754 Kämpf, Johann 581 f. Kämpf, Wilhelm Ludwig 581 f. Kang, Chi-Won 633, 646–648, 650 Kanne, Johann Arnold 93, 99, 107, 111, 350, 354, 357, 365, 369, 385, 409, 448, 675–678, 681–685, 696–700, 704,
814
Personenregister
720 f., 732, 739–741, 747–750, 754–757, 760 f. Kant, Immanuel 137, 763, 767 Kanther, Marion 367, 386 Kantzenbach, Friedrich Wilhelm 682, 738 f., 746 Kanz, Johann Conrad 11, 96, 107, 434, 619 f., 629, 666, 695, 697, 705 Kanzog, Klaus 264 Kapp, Friedrich 223, 264, 552 Karl V., deutscher Kaiser 715 Karl VI., deutscher Kaiser 266 Karl, Bernhard Peter 41 Karnitscher, Tünde Beatrix 101 Karst, Theodor 554–556 Kastinger Riley, Helene M. 587 Katte, Maria von 317, 366, 394, 396 Katz, Jacob 185 Kaufmann, Christoph 96 Kaufmann, J. 182 Kawerau, Gustav 122 Kayser, Johann 296, 339 f., 442 Kayser, Karl 46, 59, 355, 362, 364, 394, 408 Kehoe-Winkler, Margaret 205 Keller, Carl-A. 798 Keller, Gottfried 143, 443, 508, 785 Kellner [Rätin in Detmold] 676 Kelpius, Johannes 215, 223 f., 227, 230, 552 f., 559 f. Kemp, Friedhelm 460 Kempe, Anders [Andreas] Pedersson 186, 196, 198 Kemper, Hans-Georg 99–101, 145–149, 250, 252, 258, 432, 440, 454, 462, 495, 497, 499, 503, 508, 510, 513 f., 564, 617, 651, 792 Kempffer, Andreas 179, 341 Kempis ! Thomas / Kempis Kerinthos [Gnostiker] 190 Kerner, Justinus 97, 719–720, 735, 738 f., 746, 751–760 Kerner, Theobald 757 Kertscher, Hans-Joachim 142
Keßler, Johann Friedrich 621 Ketterij, Cornelis van de 242, 247, 251 Kiermeyer-Debre, Joseph 688 Kiesewetter, Christoph 172, 239, 326 Killy, Walther 460 f., 500, 551, 555, 651, 797 Kimchi, David 301 Kimchi, Jochanan ! Müller, Johann Kimpel, Dieter 248 Kinzing, Christian 582 Kinzing, Peter 582 Kirchhoff, Hans 26 Kirn, Hans-Martin 214, 674 f., 677, 732 Kirsch, Georg Friedrich 673 Kirschfeldt, Johannes 112, 764 Kirschner, Bruno 182, 188, 191, 194, 300 Kißner, Elisabeth 127 Kittel, Arnold 307 Klammer, Jost 171, 436, 445 Klein, Johann Friedrich 639 Klein, Walter C. 550 Kleinert, Annemarie 161 Kleinjogg ! Gujer, Jakob Kleinknecht, Conrad Daniel 670, 685, 721 f. Kleinschmidt, Johann Jacob 693 Kleist, Heinrich von 13, 97, 201 f., 253, 430, 451, 677, 720, 738 f., 744, 751 f., 758 f., 767, 791–793 Klemm, Johann Christian 334 Klemm, Peter 235 Klettenberg, Susanna Katharina von 108 Klinckowström, Georg Ludwig von 443 Klingenberg, Anneliese 99 Klopfer, Balthasar Christoph 194, 737 Klopstock, Friedrich Gottlieb 73, 96 f., 99–102, 148, 253, 421, 467, 780, 797
Personenregister Klose, Carl Rudolph Wilhelm 110, 198, 453, 635 Klosterberg, Brigitte 166, 170, 188, 307, 373, 404, 657 f., 797 Kluge, Friedrich 603 Kluge, Johann Daniel 275, 442, 447 Knapp, Albert 106, 110, 150, 490, 492 Knapp, Georg Christian 678 Knecht, Jacob 523, 583, 607, 771 Knieriem, Michael 113, 236, 338, 470, 577, 611, 615, 726, 756 Knipping, Baptist 439 Knorr von Rosenroth, Christian 165, 176 Knortz, Karl 527 Köberle, Adolf 463 Koch, Gottfried 171 Koch, Hans-Albrecht 75 Koch, Uta 75 Kochs, Ernst 351, 363, 374, 377, 413 Kock, Andreas 609 f. Kock, Manfred 428, 458, 667, 792 Kohl, Katrin 100 Kohler, Daniela 101 Köhler, Hartmut 30 Köhler, Johann 236, 255 Kohlross, Christian 167 Kohlschmidt, Werner 70 Kolb, Christoph 22, 48, 630 Kölbling, Friedrich Wilhelm 496 Kollak, Ingrid 738, 751–753 Konert, Christoph 606 König, Christian Gottlieb 503, 542 König, Joseph 366, 397 König, Samuel 103, 171, 523, 533, 583, 607–609, 771 Königfeld, J. 175 Koopmann, Helmut 174, 554 Kopitzsch, Franklin 201 Köpke, Balthasar 37 Kopperschmidt, Josef 250 Kornmann, Heinrich 702 Kortzfleisch, Siegfried von 174, 214, 231, 559
815
Kosch, Wilhelm 70 Kosegarten, Johann Gottfried Ludwig 443 Kosegarten, Ludwig [Theobul] Gotthard 93, 443 Koselleck, Reinhart 20 Kossmann, Fr. K. H. 362, 408 Köster, Beate 82, 85, 95, 103, 116, 307, 309 f., 312, 314 f., 317–325, 327, 330, 332–335, 337–340, 342 f., 445 Köster, Heinrich Bernhard 179, 217, 223, 342 Köttelwesch, Clemens 75 Kottje, Raymund 40 Krafft, Fritz 651 Krafft, Johann Heinrich 659 Krafft, Wilhelm Ludwig 437, 440 Kraft, Heinrich 182 Kraft, John L. 552 Kramer, Gustav 110, 647 Kratzer, Christina 534 Krause, Gerhard 161, 287 Krausert, Michael 585 Krauß, Paul 521, 528, 581, 583, 589 Kregel, Henrich 364, 394 Kreichmann [Pietist in Bremen] 770 f. Kremer, Joachim 145 Kroh, Andreas 158, 322, 337, 596, 598, 607, 613, 616, 618, 620, 635 f. Kroll, Stefan 620 Kron, Wolfgang 461 Krüdener, Barbara Juliane, Freifrau von 425 Krug, Wilhelm Traugott 767 Krüger, Friedhelm 647 Krüger, Herman Anders 235 f., 242 Krüger, Johann Gottlob 238, 246 Kruse, Martin 350 f., 365 f., 369, 381 f., 388 f., 393, 395, 405, 414, 417 Krywalski, Dieter 20 Kuhlmann, Qurinus 39, 93, 465, 501, 542 Kuhn, Thomas K. 146
816
Personenregister
Kummer, Ulrike 83 Kümmerle, Julian 252, 497, 503, 510, 513 f. Kunisch, Hermann 461 Kuntsch, Margaretha Susanna von 105 f. Kunz, Carl Friedrich 740 f. Kunz, Edith Anna 567, 606, 793 f. Kunze, Reiner 137 f. Kurrelmeyer, Wilhelm 201 Kürs[s]ner, Johannes 51, 337, 602 Kurscheid, Georg 454 Kurtz, Johann Heinrich 446 Kurz, Gerhard 495 Kurzke, Hermann 786 f. Kuschel, Karl Josef 785 Küster, Elieser Gottlieb 723 Laag, Heinz 144 Labadie, Jean de 37, 78, 92, 212, 293, 349, 389, 430, 449, 708 Lächele, Rainer 100, 140, 385, 432, 596, 668 f. Lachmann, Carl Ludolf Friedrich 402, 413 La Combe, FranÅois 427, 435, 453 Lagerfeld, Karl-Eugen 490 Lagny, Anne 141, 399 Lamberts, Imme 733, 745, 747, 750 f. 760 f. Lamech [Hg. der Ephrata-Chronik] ! Gass, Jacob Lampe, Friedrich Adolf 489, 662 Landwehr, John 439 Lang, August 21 Lange, Joachim 90, 108, 110, 121–123, 153 f., 188, 251, 304, 309 f., 471, 489, 662 Lange, Johann Christian 49 Langen, August 12, 25, 27 f., 69, 72 f., 91, 94, 98, 148, 171, 245–249, 251–256, 258, 319, 447 f., 463, 474, 478, 484 f., 716, 720, 747 Längle, Ulrike 360
La Roche, Maximiliane von 710 Lassenius, Johannes 204 Latsch-Brunner, Silvia 693 Lau, Samuel 112 Launoy, Bonaventura de 55, 89, 328, 360, 471, 662 Laurent de la R8surrection 430 f., 438 f., 685 Lauterfeld, Gustav 485 Lavater, Johann Caspar 28, 83, 89, 93, 95, 99, 101, 103, 112 f., 166, 178, 185, 188, 190 f., 258, 421, 455, 502, 519, 581 f., 596, 673–674, 683, 687, 724, 758–761 Lazarowicz, Klaus 461 Lazarus, Paul 194 Leade, Jane 45, 47–49, 55, 62, 245, 275, 338, 445, 473, 548, 594, 614, 661 f., 734 f. Leberecht, Johann Christoph ! Herz, Abraham Le Brun, Jacques 421 f., 446 Le Bruyn [Vermieter Samuel Schumachers in Bremen] 772 Le Cam, Jean–Luc 366, 381, 389, 395–398, 403 Ledderhose, Carl Friedrich 696 Lehmann, Hannelore 620 Lehmann, Hartmut 33 f., 36, 94, 100, 141 f., 160, 236, 258, 307, 399, 419, 547 f., 554, 575, 587, 636, 722, 731, 789, 792–794 Lehmann, Jürgen 776 Leibniz, Gottfried Wilhelm 56, 154, 251 Leinbach, Paul S. 551 Leiner, Martin 606 Leiningen, Amalia Hedwig von 223 Leiningen-Westerburg, Wilhelmine Luise Friederike, Gräfin zu 189 Leitzmann, Albert 180, 299 f., 769 Lelong, Jacques 286 Lemmer, Manfred 252, 312, 317, 320, 328
Personenregister Lenz, Christian David 112, 763 f. Lenz, Jakob Michael Reinhold 62, 96, 99, 253, 763–767, 773, 785 Lenz, Rudolf 80, 161 Lenze, Heiner 612 Leonardy, Ernst 720, 738 Lepinthe, Christian 751 Leporin, Christian Polycarp 109 Lerse [Drucker in Straßburg] 659 Lessing, Gotthold Ephraim 96, 155, 164, 167, 201, 234, 251, 689 Levi ben Gerson [Gersom] 301 Levinson, Pnina NavH 231 Levitt, Cyril 212 Levy, Aaron 213 Lichtenberg, Georg Christoph 96 Liebe, C. 631 Lieberkühn, Samuel 189 Liebig, Heinz 144, 446 Lieburg, Fred van 242 Liefkopf, Johann Isaak 693 Liese, Erfurtische ! Schuchart, Anna Maria Lily, John 655 Linder, Leo G. 396 Lindner, Benjamin 112, 129 Lindner, Johann Gotthelf 286, 288 Link, Christoph 139 Link, Theodor 175, 268, 432, 437, 452, 521, 580, 586 Linß, Ludwig 95 Lippe-Brake, Dorothee Elisabeth, Gräfin zur 321 f. Lippe-Brake, Rudolf, Graf von 608 Lippe-Detmold, Friedrich Adolf, Graf von 206, 208 Lips, Johann Heinrich 673, 724 Liwerski, Ruth 20 Loch, Werner 161, 722, 725, 756 Locher, Johann Heinrich 354, 358, 388, 391, 662 Locke, John 155 Lodenstein, Jodocus von [Joost van] 21, 237, 707
817
Lo[n, Johann Michael von 251 Long, Jacobus de ! Lelong, Jacques Longenecker, Stephen L. 552 Loosjes, J. 362 Lope, Hans-Joachim 428, 470 Ljpez, Gregor[io] 245, 426 Löscher, Valentin Ernst 31, 41, 117, 183, 194, 237, 275, 304, 333 f., 424, 637 Löschhorn, Albert 83, 463 Löwenbrück, Anna Ruth 341 Lucius, Johann Jacob 357, 390 Lück, Alfred 452 Lücke, Friedrich 330 Lückel, Ulf 158, 220, 271, 322, 337 f., 342, 521, 580, 596, 602, 605 f., 607–610, 612, 614, 616 f., 621, 635 f. Luckhardt, Emil 136 Lüders, Justus 657 Ludewig, Hansgünter 430, 432, 461 Ludolf, Henrich Wilhelm 240 f. Ludovici [aus Altona, Bruder der Ephrata-Gemeinschaft] 226 Ludwig XIV., König von Frankreich 349, 356, 389, 434, 524, 691 Ludwig, Johann Paul 379, 416 Luginbühl-Weber, Gisela 113, 759 Luppius, Andreas 89, 157, 606, 634, 662 Lütgert, Wilhelm 28 Luther, Heinrich Ehrenfried 209, 212, 223, 473 Luther, Martin 40, 59, 64–66, 104, 122, 131, 166, 177, 179 f., 183, 186, 218, 233, 252, 256, 274 f., 286–290, 292, 294–296, 302–304, 307–324, 327–329, 331–335, 337, 339 f., 342–344, 368, 385, 401–403, 432, 444, 465, 485, 494, 592, 595, 603, 639, 661, 682, 685, 768, 782, 796 f. Luthry, David 473 Lütkemann, Joachim 140, 368 f., 402 f. Lutz, Christoph 770 Lutz, Samuel 434, 530, 533, 584
818
Personenregister
Luz, Ulrich 768–770, 777 f. Lyce, Erdmann Andreas 637 Maassen, Thorsten 684 Mack, Alexander 40, 210, 218, 220, 230, 558, 560, 562, 565, 577, 581, 612 f. Mack, Rüdiger 179 Mackinet, Blasius Daniel 209, 221 f., 526, 529, 586 Macquarrie, John 116 Magdalene, Quedlinburgische ! Jahn [Jan], Anna Margaretha Mägde, begeisterte ! Jahn [Jan], Anna Margaretha; ! Reinecke, Catharina; ! Schuchart, Anna Maria Magen, Beate 793 Mager, Inge 353, 400, 402, 404 Magnan, Andr8 553 Magny, FranÅois 533 f. Mähl, Hans Joachim 718 Mahrholz, Werner 73, 95, 247, 739, 742 f. Mai, Claudia 77 Maier, Johann Erich 99, 251 Maier-Petersen, Magdalene 99 Major, Georg 667 Makarios d. Gr. 37 Maletke, Alfred 471, 481, 486 Mallet, Friedrich 111 Mälzer, Gottfried 79, 94, 264, 340, 692 f., 695 f. Mann, Erika 556 Mann, Michael 556 Mann, Thomas 15, 105, 233–235, 554–557, 564 f., 688, 785–788 Mansfeld, Peter Ernst II., Graf von 361 Marburger, Otto 612 Marcard, Hinrich Matthias 760 Marche, Gottfried 89, 213 Margaretha von Beaune 729 Maria Theresia, Regentin von Österreich-Ungarn 782 Marlowe, Christopher 654 f.
Marmor, Johann Heinrich 266 Marquardt, Hans-Jochen 793 Marsay, Charles Hector, Marquis de 46, 108, 110, 113, 170 f., 193, 200 f., 224, 338, 342, 428, 434, 436, 440, 442–446, 449–453, 470, 523, 533, 611, 619, 621, 626, 726, 751, 756, 758 f., 797 Marschke, Benjamin 797 Martens, Wolfgang 63, 65, 88, 99, 101 f., 119 f., 143 f., 147, 163, 174, 180, 249 f., 283, 423, 468, 474, 641, 647, 650, 694, 791 Marti, Hanspeter 647 Martin, Betty Jean 552 Martin, Georg Adam 241, 572, 574 Martin, Jacob 218, 550 Martin, Jonas 552 Marx, [Johanna Bertha Julie] Jenny 236 Marx, Karl 235 f. Marx, Reiner 76 Marx, Rudolf 496 Masseau, Didier 553 Masser, Achim 264 Matt, Peter von 751 Mattenklott, Gert 677, 720, 732 Matthaeus Parisiensis 471 Matthias, Markus 82, 84, 110, 150 f., 430, 722, 790 Matussek, Peter 751 Mau, Rudolf 646, 648, 654 Maurer, Friedrich 148, 246 Maurer, Michael 797 Max, Frank Rainer 143, 462 May, Johann Heinrich 49, 179, 188, 341, 662 Mayer, Johann Friedrich 310 McGann, Jerome J. 554 McKenzie, Edgar C. 75, 473 McMullen, Diane Marie 106 Megerle, Johann Ulrich 702 Mehlig, Johann Michael 42 f., 88, 117, 194, 433, 501, 523, 545 Meid, Volker 500, 522, 797
Personenregister Meier, Dieter 717 Meier, Heinrich 751 Meier, Johann Christian 111 Meier, Marcus 100, 141, 357, 373, 390 f., 399, 410, 581, 612 f., 701, 780, 795 Meinel, Christoph 651 Meinhold, Peter 182 Meister-Karanikas, Ralf 231 Melanchthon, Philipp 673 Menantes ! Hunold, Christian Friedrich Menck, Peter 722 Mende, Erich 558 Mendelssohn, Moses 137, 164, 178, 185, 190 f., 300 Mennecke, Ute 83, 148, 463 Mennenöh, Peter Jürgen 89 Merian, Matthäus 348, 355, 370 f., 373–375, 379, 404–406, 410 Merkel, Helmut 647 Merker, Paul 70 Merlau, Johanna Eleonora von ! Petersen, Johanna Eleonora Mertens, Erich 675 Merzbacher, Dieter 381, 385, 796 Mesmer, Franz Anton 744, 753, 759 f. Messerli, Alfred 96, 100, 253, 345, 454, 502, 517, 526, 584, 792, 794 Metternich, Wolf von 453 Metting, Menco 607 Metz, Christian, jun. 582, 586, 588 Metz, Christian, sen. 580, 582 Metzler, Johann Benedikt 692, 694 Meulen, Cornelis van der 267 Meusel, Johann Georg 88 Mevorah, Barouch 178, 188, 191 Meyer, Dietrich 77, 79, 82, 89, 94, 106, 343, 430, 459, 490, 495 f., 498, 729 Meyer, Gerhard 85, 95, 185, 192, 241, 491, 495, 497, 499 f., 503, 505, 510, 513 f., 641 Meyer, Gudrun, geb. Hickel 77, 106, 230, 491 f., 496, 507, 641, 725
819
Meyer, Heinrich Wilhelm 321 Meyer, Helene [Helena] 583 f. Meyer, Jean 366, 381 Meyer, Johann Friedrich von 752, 760 Meyer, Johannes 670 Meyer, Matthias 490 Meyer, Ursula 100, 149, 524, 583 f., 616 Meyer-Habrich, Christa ! Habrich, Christa Meyfart, Johann Matthäus 81 Michael, Gerhard P. 459 Michaelis, Johann David 155, 341 Michaelis, Johann Heinrich 153, 286, 341 Michels, Christoph 275 f., 281, 442, 447 Miersemann, Wolfgang 99 f., 106, 145, 381, 660, 796 Milde, Heinrich 657 Miller, Norbert 245, 425 f. Minder, Robert 455 Mißfeldt, Antje 654 Mitchell, Philip M. 75 Mittelmann, Hanni 167 Mitzka, Walther 603 Mix, York-Gotthart 157 Moehsen, Johann Carl Wilhelm 631 Moeller, Bernd 40, 358, 382 Moering, Renate 706 Mohr, Jakob Christian Benjamin 701 Mohr, Rudolf 33, 105, 150, 161, 194, 250, 328, 433, 437, 443, 448, 462, 470 f., 481, 483 f., 490, 526, 641, 667, 737, 739, 793 Mohr, Wolfgang 70 Mojem, Helmuth 706 Mokrosch, Reinhold 647 Molanus, Gerald Walter 43 Molhuysen, Philipp Christian 362, 408 Molinos, Miguel de 427, 430, 433, 446 Möller, Christian 324
820
Personenregister
Møller, Hans Larsen 630 Moller, Johannes 350 f., 361, 370–373, 379, 388, 404 f., 408 Molther, Philipp Heinrich 498 Monn, Emma C. 551 Montaigne, Michel Eyquem de 425 Montaltus, Christianus ! Hoburg, Christian Montanus, (Paulus) van den Berch [Berghe] 237 Montenglaut, Henriette von 443 Moore, Cornelia Niekus 376, 412, 721, 756 Morgenstern-Wulff, Johanna 217 Mori, Gustav 209, 212, 223, 473 Moritz, Karl Philipp 96 f., 99, 422–425, 428, 435, 443, 448, 453, 455, 705, 747 Moritz, Peter 384 Moser, Johann Jacob 78, 88, 108–110, 668, 671, 685, 694, 764 Moses, Germanus ! Spaeth, Johann Peter Mosheim, Johann Lorenz 304, 438, 662 Mozart, Wolfgang Amadeus 605 Mpi [Kryptonym, Kanne-Rezensent] 741, 755, 760 f. Mühlenberg, Heinrich Melchior 82, 95, 110, 113, 209 Müller [Miller], Johann Peter [Pseud.: Agrippa] 194, 211, 241, 549 Müller Farguell, Roger W. 793 Müller, Adam Heinrich 738 Müller, Arnd 42 Müller, Denis 798 Müller, Ernst 678, 739 Müller, Gerhard 161, 287 Müller, Heinrich 33, 140, 489 Müller, Henrich Daniel 671 Müller, Jan-Dirk 70, 91 Müller, Johann Adam 171 Müller, Johann Daniel 108, 111, 195 Müller, Johann Ludwig 686
Müller, Johann Valentin 776 Müller, Johann 348, 379, 405 Müller, Johannes 188, 227 Müller, Joseph Theodor 106, 491 f., 496, 507 Müller, Klaus-Detlef 519 Müller, Konrad 139, 175, 261 Müller, Michael 771 Müller, Otto Friedrich 672 Müller, Philipp Casimir 337 Müller, Reinhard 526 Müller, Thomas 113 Müller[-Berns], Jörg-Jochen ! Berns, Jörg-Jochen Müller-Bahlke, Thomas 140, 142, 145, 241 Müller-Jahnke, Wolf-Dieter 731 Müller-Zehlendorf, J. 235 Münchhausen, Gerlach Adolf von 673 Münter, Balthasar 111 Muralt, Beat Ludwig von 533, 543 Muschg, Adolf 100, 253, 794 Mylius, Martin 671 Nachama, Andreas 216, 231, 336, 603 f. Nadler, Josef 110, 285 f., 288, 294, 297 Nagel, Paul Giesebert 502, 524, 529, 545, 578, 580, 582–584, 586, 589 f. Namowicz, Tadeusz 72, 94, 98 Napoleon I., frz. Kaiser 136, 202 Narr, Dieter 28 Nativit8, Jeanne de la 107 Naves, Raymond 553, 567 Neander, Joachim 105, 150, 475, 489 f., 641, 649 Neeb, Horst 113, 432 f., 437, 440 f., 452, 466, 485, 560, 726 Neff, Christian 362, 408 Nelle, Wilhelm 235, 458 f., 461, 463 f., 466 f., 470–472, 476, 479, 481, 483 Nelson, Vernon H. 497 f., 514 Nerling, Mark von 351, 362, 379, 408
Personenregister Nettelbeck, Petra 423 Nettelbeck, Uwe 423 Neubauer, Ernst Friedrich 88 Neukirch, Benjamin 467 Neumann, Bernd 110, 453 Neumann, Gerhard 751 Neumann, Gottfried 518 Neumann, Josef N. 721, 756 Neumann, Therese 756 Neumeister, Erdmann Gottwerth 32 f., 62, 184, 215, 281, 308 f., 312, 315, 333, 472, 662 Neumeister, Sebastian 65, 641 Neveux, Jean Baptiste 30 Nicolai, Christoph Friedrich 155, 163 Nicolai, Philipp 544 Nicolas, Armelle 106 f., 236, 431, 439, 685 Nielsen, Sigurd 45, 61, 498 Nieper, Friedrich 40, 175, 208, 210, 218, 223, 550, 558, 581 Nieuwentijt, Bernard 759 Nigg, Walter 459, 464 Niggl, Günter 98, 101 Nordmann, Walter 45, 58 Noth, Isabelle 100, 149, 159, 162, 524, 584, 587, 615 Novalis ! Hardenberg, Friedrich Leopold, Frhr. von Obereit, Jakob Hermann 453 Oberlin, Johann Friedrich 62, 764 f., 767, 773 Oberlin, Magdalena Salom8 766 Oberschelp, Axel 723 Objartel, Georg 603 Oetinger, Friedrich Christoph 62, 64, 71, 74, 76 f., 79 f., 83, 85, 94–96, 107 f., 110, 150, 165, 176 f., 217, 253, 258, 312, 342, 436, 442, 450, 670, 679 f., 683 f., 694, 738, 744, 751–754, 757, 759 f., 797 Ohage, August 455 Ohlemacher, Jörg 111
821
Ohly, Friedrich 682 Ohly, Konrad 83, 253 O’Malley, J. Steven 91 Opitz, Martin 663, 702 Oppenheimer, Joseph Süß 190 f., 442 Orde, Klaus vom 84, 103, 130, 150, 240, 463, 634, 646, 648 Origines 275, 297, 373, 410, 445 Osiander, Lukas 317 Ostertag, Heinrich Jonas 439 Otte, Hans 74, 82, 95, 307, 353, 790 Otte, Wolf-Dieter 316 Otto, Regine 91, 250, 522 Oudenrief, Joost van 236 Ovid 663 Pabst, Hermann 613 Pacelli, Eugenio ! Pius XII. Pagel, Walter 731 Palmer, Heinrich 767 Pältz, Eberhard 446 Pannenberg, Wolfhart 116 Pape, Walter 703, 711 Paracelsus, Theophrastus [Bombast von Hohenheim] 37, 93, 364, 408, 430, 634, 731, 744 f. Pascal, Blaise 426 Pastorius, Franz Daniel 222, 558 f. Pataky, Sophie 691 Patsch, Hermann 165, 216, 335, 597 Paul, Hermann 603 f. Paula von Rom 693, 696 Pauli, Oliger [Holger] 194 f., 298 Pauls, Theodor 95 Paulus, Beate Eleutherie 84, 95 Paulus, Rudolf F. 83, 112 Pautler, Stefan 99, 253 Pemow, Birger 188 Penn, William 218, 222, 553 Pennone, Florence 793 Perels, Christoph 460 Perkins, William Rufus 586 Perkins, William 21 Perrault, Charles 420
822
Personenregister
Peschke, Erhard 79, 82, 95 Pestalozzi, Karl 99, 345, 441, 528, 655 Pestana, Carla Gardina 213, 226 Peters, Christian 91 Peters, Jürgen 424 Petersen, Johann Wilhelm 31, 41, 44, 48–49, 56–58, 78, 90, 108 f., 118, 178, 184, 190, 194, 197, 255, 267, 275–277, 279, 350, 523, 594, 604, 606, 610, 637, 640, 662, 780, 797 Petersen, Johanna Eleonora 56–58, 74, 100, 108 f., 122, 150, 162, 182, 197, 222 f., 338, 445, 523, 559, 561, 604, 606, 662 Petersen, Julius 630 Petig, William E. 99, 694 Petrucci, Pietro Matteo 427 Peucker, Paul M. 77, 100, 252 f., 490 f., 495, 500, 508, 548, 621, 725, 756, 794 Pfaff, Christoph Matthäus 154, 334 Pfäfflin, Friedrich 752 Pfeiffer, Almut 79, 94, 430, 721 Pfeiffer, August 355 Pfeiffer, Philipp 355, 362 Pfenninger, Johann Konrad 177, 674, 683 Philipp, Franz Heinrich 175, 185, 189 Philipps, Albrecht 74, 82, 95, 150 Pico della Mirandola, Giovanni 176 Pierre, Jean de la ! Wetstein, Heinrich Pietsch, Roland 752 Pietscher, Christian 489 Pina, David 182 Pindar 324 Pinson, Koppel S. 248 Piper, Ferdinand 679, 684 Piscator, Johannes 180, 217, 290–292, 294–296, 302, 318, 331, 335, 340 Pitassi, Maria-Cristina 115, 338, 614, 651, 791 Pius XII. 548 Plard, Henri 343 Platon 37, 43, 176, 429, 659
Pleß, Viktor 46, 268, 631 Plitt, Gustav Leopold 299, 310, 437, 587 Plotin 470, 476–478, 480, 729 Podczeck, Otto 66, 634 Poiret, Pierre 80, 96, 102 f., 107, 195 f., 428, 430 f., 433–440, 442, 451, 470, 619, 662 Polenz, Peter von 248 Pordage, John 47, 49, 62 Portugal, König von ! Sebastian I. Potinius, Benjamin 735, 747, 750, 758 Potinius, Conrad 735 Pott, August Friedrich 524, 578–580 Pott, Johann Heinrich 524, 578–580 Pott, Johann Tobias 524, 578–580 Pottier, EugHne 136 Powell, Vavasor 666, 686, 771 Praetorius, Elias ! Hoburg, Christian Praetorius, Johannes ! Schultze, Hans Prater, Donald A. 555 f. Pratt, Willis W. 553 Praz, Mario 438 Pretten, Johannes 320–322 Preußen, Könige ! Friedrich I.; ! Friedrich II. [d. Gr.]; ! Friedrich Wilhelm I. (vgl. auch ! Brandenburg) Preußen, Königin ! Sophie Luise Priesner, Claus 731 Prill, Meinhard 98 Prueschenk von Lindenhofen, Karl Sigismund von 113, 338, 437, 470, 611, 726, 756 Pseudo-Dionysius Areopagita 476 Pufendorf, Samuel, Frhr. von 154 Püntiner [Bündner], Carl Anton 523, 583, 607, 771 Pyra, Jakob Immanuel 99 Quack, Jürgen 82, 271, 308, 316–319, 321, 324 f., 327, 337, 343, 446 Quandt, Johann Jakob 324
Personenregister Qui[e]sshausen, Baron von 365 Quinos, Bruno 685 Quirsfeld, Johann[es] 471 Raab[e], Johann Adam 48 f., 66, 108 f., 196, 255, 258 Raabe, Paul 79, 94, 99, 111, 142, 149 f., 160, 317 f., 366, 374, 394, 396, 400, 406, 430, 489 f., 530, 591 f., 721 Raabe, Wilhelm 13, 156, 165, 184, 194, 235, 335, 411, 602, 673, 694, 706, 795 Radin, Leonid P. 136 Rafetseder, Hermann 272 Rambach, Johann Jacob 94, 198, 489, 662, 668, 670 Ramm, Heinz 733 Ramsay, Andrew Michael 436 Rapp, Georg 553 Rapp, Johann Conrad 625, 630 Rasch, Wolfdietrich 247 Raschi ! Salomon ben Isaak Ratcliffe, Johanna [Jane] 688 Ratzinger, Josef 547 f. Rau, Johannes 106 Raulff, Ulrich 97 Raumer, Friedrich 44 Raupp, Werner 691 Raw, Johann Philipp 674 Rayez, Andr8 443 Raymond, Marcel 655 Rechenberg, Adam 647 Reeb, Barbara 498 Regelein, Christoph Michael 269, 338, 443, 615 Regnier [Reynier], Jean-FranÅois 230 Regnier [Reynier], Maria Barbara, geb. Knoll 230 Rehbock, Helmut 531 Reiche, Johannes Carl 433 Reichel, Gerhard 293 Reichel, Hellmut 497
823
Reichel, Jörn 98, 248, 252, 495–499, 503 Reichert, Otto 122 Reichmann, Felix 550 Reich-Ranicki, Marcel 461 f. Reil, Johann Christian 776 Reinecke, Catharina 523 Reinhard, Kurt 435 Reinhardt, Kurt 464, 481 Reinitzer, Heimo 287, 291, 296, 299, 312, 316–320, 324, 327, 334, 368, 461, 465, 651 Reitz, Johann Henrich 11, 22 f., 31, 45, 49, 56, 58, 63–66, 81, 86, 104, 106 f., 116, 118, 126 f., 129 f., 145, 162, 173, 176 f., 180, 182 f., 190, 193–195, 216, 225, 236–241, 243–245, 251, 255, 260, 273 f., 286–290, 292, 294, 296, 300, 302 f., 308 f., 319, 324, 326, 328–336, 344, 350, 354, 364, 384–386, 388, 394 f., 405, 431, 442, 483, 485, 525, 546, 596, 607, 609, 617 f., 626, 629, 631, 649 f., 662, 666–672, 676–677, 680, 682 f., 685–689, 692, 695 f., 699, 702, 704–707, 721, 723, 735–740, 742, 744 f., 749–752, 756, 758, 770 f., 774, 776, 789 Rengstorf, Karl Heinrich 153, 174 f., 214, 341, 559 Renkewitz, Heinz 208–210, 219–221 Renty, Gaston Jean-Baptiste, Marquis de 245, 426, 431 Reuven, Michael 194 Reymers, Christian 267 Reymond, Philippe 603 f. Rhebinder, Petrus 353 Richelieu, Armand-Jean du Plessis, Duc de 376, 411 Richter, Christian Friedrich 489, 662, 764 Richter, Elke 454 Richter, Johann Paul Friedrich ! Jean Paul
824
Personenregister
Richter, Karl 143, 462, 498 Riedesel, Karl-Ernst 217 Rieger, Georg Konrad 107, 190, 691–693, 695 f. Rieger, Paul 188 Riemeck, Renate 376, 411 f. Riggenbach, Christoph Johannes 577 Riley, J. E. 550 Ring, Thomas Gerhard 777 Rische, August 678 Ritschl, Albrecht 21, 24, 38, 198, 293, 362, 408, 446, 630, 634 Ritter, Christian Friedrich 671 Ritter, EugHne 534, 543 Roch, Holm Dieter 29 Rock [Bruder von Johann Friedrich Rock] 527 Rock, Johann Friedrich 14, 40, 63 f., 74, 76, 79, 108 f., 127, 129, 131, 149 f., 210, 255, 258, 340, 484, 501–503, 518 f., 521, 524, 526–546, 558, 567, 578–584, 588–590, 615 f., 621, 626, 757 Rock, Johann Heinrich 527 Röderer, Johann Georg 660 Rodigast, Samuel 782 Roeber, A. Gregg 205, 212, 550 Roelcke, Volker 218, 677, 732 Roentgen, Abraham 582 Roentgen, David 582 Roessle, Julius 176, 696 f. Roger of Wendover 471 Rolle, Johann Heinrich 145 Rölleke, Heinz 420, 701–704, 708, 711, 764 Roloff, Ernst August 412 Römeling, Christian Anton 198 Römer [„Jungfrau“ in Stuttgart] 752 Römer, Christof 402 Roos, Magnus Friedrich 334, 695 Rosbach, Conrad 472 Rosenbach, Abraham S. Wolf 212 f., 226
Rosenbach, Johann Georg 79, 108 f., 616, 626, 628 Rosenberg, Alfons 62 Rößler, Martin 80 Rötenbeck, Georg Paul 49 Rotermund, Hans-Martin 41, 117 Roth, Fritz 80, 161 Roth, Joseph 793 Roukema, R. 242 f. Rousseau, Jean-Jacques 155, 425, 533, 655 Rowell, Geoffrey 46, 452 Rückert, Hanns 22, 144 Rudelbach, Andreas Gottlob 678, 681 Rümelin, Georg Burckhard 179, 217, 342 Ruopp, Johann Friedrich 15, 618, 638, 653, 657–663, 798 Rupertgen [6jähriges Kind] 688 Rupp, Heinz 148, 246 Ruprecht, Rudolf 43, 47, 59 Rustmeier, Walther 194, 366, 382 Ruysbroek, Jan van 427, 465, 662 Rymatzki, Christoph 166, 227 Sa’adja ben Josef Gaon 301 Sabbatai ben Josef 300 Sachse, Julius Friedrich 208, 211, 216 f., 223, 228 f., 550, 552, 557 f., 565 Sachsen-Eisenach-Allstedt, Sophie Charlotte, Herzogin von 49 Sachsen-Weimar-Eisenach, Anna Amalia, Herzogin von 604 Sachsen-Weimar-Eisenach, Carl August, Herzog von 604, 673 Sadijah Gaon ! Sa’adja ben Josef Gaon Sadoul, Georges 411 Sahler, Benjamin 434 Sahmland, Irmtraut 101, 250, 550, 581 f., 631, 652, 731, 754, 790, 796, 798 Sales, FranÅois de 427 Salomon ben Isaak 301 Salomon, Christian ! Duitsch, Salomon
Personenregister Salomon, Gustav 441 Salvadori, Stefania 103, 150, 216, 569 Salzmann, Philipp 328 Samuel, Richard 718 Sandler, Aaron 188 Sangmeister, Ezechiel 108, 110, 550 Sangmeister, Heinrich 110 Sarcinator, Micarius 418, 624 Saubert, Johannes d. Ä. 373, 379, 417 Saubert, Johannes d. J. 318, 327, 350, 368 Sauder, Gerhard 677, 739 Sauer, [Johann] Christoph 104, 205–209, 211–213, 217, 221, 223, 225, 229 f., 274, 296 f., 331, 340 f., 473, 549 f., 552, 557, 563, 565 f., 586 Sauer, Johann Christian 552 Sauer, Maria Christina, geb. Gruber 209, 341, 563 Sauer-Geppert, Waldtraut Ingeborg 98, 252, 461 f., 471, 476, 478 Savij, Salomon 267 Sayn-Wittgenstein-Berleburg, Amalie Henriette, Gräfin von 621 Sayn-Wittgenstein-Berleburg, Casimir, Graf von 59, 157, 220, 268–271, 273, 276–280, 337 f., 438, 445–447, 595, 598, 602, 604 f., 607, 609 f., 614, 620–622, 626, 630, 639 Sayn-Wittgenstein-Berleburg, Hedwig Sophie, Gräfin von 220, 269, 322, 595, 604 f., 607 f. Sayn-Wittgenstein-Berleburg, Ludwig Ferdinand, Graf von 622 Sayn-Wittgenstein-Berleburg, Ludwig Franz, Graf von 268 Sayn-Wittgenstein-Berleburg, Maria Esther Polyxena, Gräfin von 270, 595, 620 f., 625, 639 Sayn-Wittgenstein-Berleburg, Sophia Wilhelmina Christiana, Gräfin von 639
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Sayn-Wittgenstein-Hohenstein, Elisabeth Charlotte, Gräfin zu 771 Sayn-Wittgenstein-Wittgenstein, August [David], Graf von 610 Sayn-Wittgenstein-Wittgenstein, Friedrich, Graf von 604 Sayn-Wittgenstein-Wittgenstein, Henrich Albrecht, Graf von 604, 610, 613 Schade, Johann Caspar 80, 109, 662 Schäfer, Gerhard 83 f., 112 f., 152, 218, 253, 307, 310, 342, 751 f., 790 Schäfer, Klaus 231 Schäffer, Heinrich Christian 332 Schanze, Helmut 250 Scharfe, Martin 34, 43, 93 Scharfenberg, Joachim 84 Schefer, Ludwig Christoph 179, 217, 270–272, 337, 342, 447, 597, 601 f., 605 f., 609 f., 614, 616, 621 Scheffer, Johann Adam 270 f. Scheffer, Johann Daniel 271 Scheffler, Johannes ! Angelus Silesius Scheibe, Michaela 618, 638, 657 f., 660, 798 Scheidt, Christian Ludwig 629 Scheit, Matthias 317 Scheller, Christian 625 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 97, 218, 720 Schellmann, Wolfgang 313, 317 f., 396, 398 Schelven, A. A. van 362, 408 Schelwig, Samuel 41, 117, 238 Scherchen, Hermann 136 Scheretz, Sigismund 397 Scherliess, Volker 554 f. Scheuner, Gottlieb 194, 222, 502, 524, 526–529, 532 f., 545, 578–586, 589, 630 Schicketanz, Peter 82, 94, 103, 113, 150, 152 f., 155 Schiff, Henry 586, 588
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Personenregister
Schiller, Friedrich [von] 73, 96, 102, 177, 234, 248, 518 f., 711, 779–781 Schilling, Friedrich Carl 316, 366, 396 Schilling, Heinz 100, 419, 789, 792 Schimmelmann, Adeline Karoline Luise, Gräfin von 74, 111, 150 Schimon ben Jochai [Rabbi] 176 Schings, Hans-Jürgen 98, 776 Schinkel, Eckhard 317, 366, 394 Schlaffer, Heinz 97 f. Schlebusch, Anna Elisabeth, Freiin von 472 Schlechtinger, Gotthart 313 Schlegel, August Wilhelm [von] 97, 720 Schlegel, Friedrich [von] 97, 720 Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst 97 Schlepper, Reinhard 461 Schleswig-Holstein-Gottorf, Christian August, Herzog von, Fürstbischof des Hochstifts Lübeck 293–295 Schlientz, Gisela 691 Schlu, Martin 360 Schmid, Ludolph Hinrich 356 Schmid, Pia 101, 162, 725, 756 Schmidlin, Johannes 458 Schmidt, Johann Lorenz 282 Schmidt, Josef 324 Schmidt, Martin 22–30, 36, 40, 59, 91, 93, 95, 120 f., 174, 177 f., 182, 184 f., 187 f., 194, 197, 214, 223, 227, 294, 307, 324, 327, 351, 354, 358, 362, 372, 374, 377, 379, 382, 388, 391, 408, 413, 417, 422, 431, 443, 559, 722 Schmidt, Michael 184, 203 Schmidt, Reinhard 217 Schmidt-Hannisa, Hans-Walter 146 Schmitt, Hans-Jürgen 683 Schmitt, Wolfgang 24, 33, 98, 101, 133, 144 f., 174 Schmitter, Samuel 529, 584 Schmitz, Dietrich Otto 607
Schmitz, Johann 113, 432 f., 437, 440 f., 452, 466, 470, 472, 485 Schnabel, Johann Gottfried 102 Schnee, Jacob 453 Schneider, Hans 13, 21, 30 f., 35 f., 38, 40, 43, 45, 61, 72, 82, 94, 100, 103, 109, 121, 150, 158 f., 167, 186, 189, 192 f., 208–211, 213 f., 219, 221, 223, 250, 266, 268, 337, 340, 364, 373, 399–401, 405 f., 408, 428, 496, 521 f., 547 f., 550, 563 f., 578, 594 f., 598, 605, 607 f., 611, 613–615, 617 f., 620 f., 635, 651, 654, 668, 701, 790, 792 Schneider, Karl 739 Schneider, Ulf-Michael 91, 99, 109, 131, 149 f., 159, 209 f., 250, 340, 468, 473, 484, 502 f., 520–522, 524–529, 531–533, 538, 541–543, 546, 578–580, 582, 584, 587, 589, 615–617, 636 Schneiders, Werner 91, 153, 161 Schnurr, Jan Carsten 100 f., 665, 675, 677 f., 732, 796 Schobinger, Jean-Pierre 422 Schoeller, Wilfried F. 461, 465 Schoeps, Hans Joachim 47, 165, 178, 182, 186, 194–196 Schoeps, Julius H. 165, 212 Scholder, Klaus 144 Scholl, Johann Eberhard 23, 737 Schöllkopf, Wolfgang 310, 334 Scholz, Wilhelm von 460 Schönberg [Philadelphier in Hannover] 47, 734 Schönborn, Johann Philipp von 291 Schöne, Albrecht 11, 184, 248 f., 265, 366, 385, 500, 633, 655, 682, 747, 763 f., 766, 782, 796 Schönemann, Daniel 651 Schönemann, Friederike 684 Schopenhauer, Arthur 455 f., 676 f., 696 Schorch, Grit 166, 170, 188, 797 Schott, Heinz 720, 738, 752 f. Schottel[ius], Justus Georg 380, 410
Personenregister Schrader, Christoph 366, 381 Schrader, Wilhelm 152, 648, 654 Schremmer, Bruno 95, 742 Schröder, Hans 293 Schröder, Jacob 309 f. Schubart, Christian Daniel Friedrich 96, 108, 111 Schubert, Gotthilf Heinrich [von] 62, 93, 97, 218, 357, 677 f., 704, 720, 738 f., 745–749, 751, 753–755, 757 f., 761 Schuchart, Anna Maria 501, 523, 545 Schudt, Johann Jacob 180, 298, 300, 334 Schulte, Christoph 218, 677, 720, 732 Schulte-Strathaus, Ernst 191 Schultheß, Johann Jacob 532 f., 584 Schultz, Hartwig 704, 706 Schultze, Hans 702 Schulze, Adolf 189 Schumacher, Samuel 64, 236, 688, 770–776 Schurman, Anna Maria van 108 f., 649, 708 Schürmann, August 89, 321 Schütz, Christoph 67, 108, 110, 149, 159, 209, 258, 340, 472 f., 501 f., 545, 580, 616, 635 Schütz, Johann Jacob 157, 429, 604, 606 f. Schwanke, Martina 249 Schwartz, Howard 205 Schwarzburg-Rudolstadt, Aemilie Juliane Gräfin von 129 Schweitzer, Christoph E. 551 f., 562 Schweitzer, Friedrich 722, 756 Schweizer, Eduard 768 Schwenckfeld, Caspar von 39 f., 93, 347, 349, 363, 373, 384, 394, 401, 405, 409 Schwinge, Gerhard 86, 99, 101, 113, 253, 752, 759 Schwitters, Kurt 499 Scriver, Christian 102 f., 468, 663, 734
827
Seachrist, Denis Ann 557 Sebastian I., König von Portugal 202 Seebach, Christoph 53, 270, 272, 342, 612 f., 620 f., 662 Seeber, Kurt 752 Seelen, Johann Heinrich von 243, 328 Segebrecht, Wulf 500 Seide, Oliver 77 Seidel, Christoph Matthäus 103, 150 Seidensticker, Oswald 211, 223, 229, 549, 552, 561, 581, 586 Seitz, Johann Christian 182 Sembdner, Helmut 202 Semisch, Carl Gottlob 182, 195 Semler, Johann Salomo 109 f., 155, 662 Senckenberg, Johann Christian 526 Serarius, Petrus ! Serrurier, Pierre Serrurier, Pierre 195 Seuberlich, Andreas ! Hoburg, Christian Seuse, Heinrich 465 Shambaugh, Bertha M. Horack 527 f., 578, 580, 583, 586 Shantz, Douglas H. 594 Shimbo, Sukeyoshi 251–253, 759 Shipton, Clifford Kenyon 549 Shockey, Jill 213 Sideraltus ! Hocheisen, Johann Georg Siefert, Helmut 752 Siegert, Reinhart 144 Siegrist, Christoph 112, 673 Sievernich, Gereon 216, 336 Sievers, Leo 191 Simon, Abraham 189 Simon, Ruben 190 Singer, Hans Wolfgang 351, 631 Sˇkreb, Zdenko 20 Slessarev, Helga 201 Smit, Menno 733 Snyder, Holly 205 Soboth, Christian 77, 82, 94, 100 f., 144, 307, 763, 795, 797 Söhngen, Oskar 26, 307, 312 f.
828
Personenregister
Sommer, Christoph 670, 685 Sommer, Heinrich 466 Sommer, Wolfgang 310, 318, 334, 353, 358 f., 363, 368, 382 Sonderegger, Stefan 291 Sophie Luise, Königin in Preußen 279 Sophie Magdalene, Königin von Dänemark 627 Spaeth, Johann Peter 194 Spalding, Georg Ludwig 761 Spalding, Johann Joachim 154, 761 Spamer, Adolf 438 f. Spangenberg, August Gottlieb 108, 111, 160, 230, 293, 491, 764 Sparn, Walter 116, 153, 731 Spehr, Christopher 797 Spener, Philipp Jacob 21–24, 30 f., 33 f., 36–40, 49, 65 f., 71 f., 77, 79 f., 84 f., 93, 95, 98, 103, 108 f., 113, 116 f., 120–123, 127, 139–141, 150, 153, 166, 178, 184–187, 194 f., 197, 215, 222, 245, 308, 310, 312, 314 f., 317, 320–322, 324, 327, 341, 350 f., 353 f., 373, 382, 384, 388, 395, 398, 401 f., 404, 426, 485, 512, 610, 622, 638, 640, 646–648, 650, 652, 661 f., 672, 678, 685, 737, 794 Sperber, Hans 25, 30, 247 Spiera, Francesco 769 Spijker, Willem van’t 24 Spindler, Guntram 752 Spinoza, Baruch de 293, 298, 356, 390 Spitzel, Gottlieb 93 Spizel, Gabriel 631 Spörri, Balz 345 Spranckhuysen, Dionysius 243 Sprecher, Thomas 554 Stachorski, Stephan 235 Stade, Dietrich von 328 Stadler, Alois 96 Stadler, Ulrich 791 Staehelin, Ernst 738, 760
Sta[l, Anne Louise Germaine de 419–421, 425, 456 180, 299 f. Staerk, Willy Stahl, Georg Ernst 625 f., 628 f. Stahlschmidt, Johann Christian 103, 111, 257, 448, 537 Stallmann, Martin 91 Stammler, Wolfgang 40, 70, 148, 247 Steidlin, Johann Matthias 439 Stein, Johann Adam 737 Steinhofer, Friedrich Christoph 106 Steinkopf, Johann Friedrich 458 f., 497 Steinmetz, Johann Adam 103 Stemme, Fritz 247, 747 Stenzel, Jürgen 143, 184, 460 Stern, Heinrich 313, 316–318, 320, 348, 356, 359, 365–370, 372, 374, 386, 388, 394–401, 403 f., 406, 410 Stern, Johann, jun. 313, 316–318, 320, 348, 356, 359, 365–370, 372, 374, 386, 388, 394–401, 403 f., 406, 410 Stern, Johann, sen. 367, 396 Stern, Martin 792 Stern, Meir, Rabbi in Amsterdam 300 Sternke-Menne, Sandra 308 Stern-Täubler, Selma 191 Stockhorst, Stefanie 135, 795 Stockmann, Ernst 23, 304, 330, 361, 408 Stoeffler, F. Ernest 52, 95, 216, 550 Stolberg-Stolberg, Friedrich Leopold, Graf zu 519 Stolberg-Wernigerode, Christian Ernst, Graf zu 35, 96, 627, 630 Stolberg-Wernigerode, Maria Elisabeth, Gräfin zu 112 Stolberg-Wernigerode, Sophia Charlotte, Gräfin zu 108, 110 Stoll, Jakob 473 Stolzenberg, Jürgen 154 Storr, Gottlob Christian 334 Storz, Jürgen 79 Stoudt, John Joseph 209, 550 f.
Personenregister Strasser, Gerhard F. 397 Sträter, Udo 82, 91, 94, 100 f., 141 f., 152, 160, 314, 329, 399, 547 f., 575, 594, 648, 721, 736 f., 756, 776, 794 f. Strattner, Georg Christoph 641 Strauss, Herbert A. 184 Strieder, Friedrich Wilhelm 88 Ströhm, Wilhelm 582 Strohmidel, Karl-Otto 82 Strom, Jonathan 575, 587, 794 Strothmann, Werner 37 Struensee, Adam 270, 620, 625, 627 Struensee, Johann Friedrich, Graf von 15, 108, 110 f., 270, 628 Struensee, Maria Dorothea 620, 625 Stuhlmacher, Peter 768 Sturm, Beata 106 f., 677, 685 f., 690–697, 699, 740, 771 Sturm, Johann Heinrich 697, 699 Süß, Wilhelm 655 Suter, Levin 397 Swammerdam, Jan 746 f., 749, 755 Sydow, Jürgen 22 Taube, Jacob 349 Tauler, Johannes 90, 92, 245, 365, 370, 421, 426 f., 465, 637, 662 Tautscher, Anton 630 Teelinck, Wilhelm 471 Telle, Joachim 101, 472 Teller, Wilhelm Abraham 328 Temme, Willi 216, 220 f., 563, 611 Tennhardt, Johann 44, 108 f., 131, 159, 197 f., 258, 272, 501, 545, 604, 618, 637, 694 Teresa von ]vila 426 f., 435 Tersteegen, Gerhard 14, 77 f., 83, 95, 102 f., 105–107, 113, 127, 145, 147 f., 150 f., 245, 252, 258 f., 338, 428, 430–433, 435–437, 439–444, 448–452, 457–487, 489, 508, 526, 546, 555, 560, 566–568, 611, 629, 641, 652, 667, 676,
829
681, 685, 699, 726 f., 729 f., 749, 756, 792 Tertullianus, Quintus Septimius Florens 640 Tgahrt, Reinhard 752 Theodor[us] / Brakel ! Brakel, Dirk Gerritzoon Therese von Konnersreuth ! Neumann, Therese Tholuck, Friedrich August Gottreu 23, 373, 404, 640, 678, 739 Thomas / Kempis 471, 473, 734 Thomas, Ursula 738 Thomasius, Christian 96, 153 f., 251, 350 Thomke, Hellmut 543 Thormann, Georg 773 f. Thums, Barbara 146, 776 Thune, Niels 45, 47–49, 57 Tieck, Ludwig 97, 443, 703, 718 Tielke, Martin 734 Tietz, Immanuel 57 Tillmann, Thomas 567 Tilly, Johann Tserclaes, Graf von 361 Toellner, Richard 731 Tourniac, Jean 435 Tradel, Georg Joachim 236 Trechsel, Friedrich 434 Treytorrens, Nicolas Samuel de 523, 613 Triller, Caspar Ernst 309, 330, 332 Trimp, Jan Cornelis 21 Trithemius, Johannes 397 Tritsch, Walter 460 Troeltsch, Ernst 27 Trunz, Erich 81, 500 Tscher, Nicolaus 243, 523, 607, 662, 670 Tschesch, Johann Theodor von 101 Tuchtfeld, Victor Christoph 59, 158, 258, 595, 620, 694
Überfeld, Johann Wilhelm 179, 294, 331 Ueberweg, Friedrich 421, 428
830
Personenregister
Ueding, Gert 91, 250 Uerlings, Herbert 683 Uhland, Robert 521 Uhlenberg, Caspar 180, 290 f. Ulrich, Johann Caspar 200 Undereyck, Theodor 22, 24, 103, 237 f., 666, 770 f. Uri Phoebus ben Aaron ha-Levi 299 Urlinger, Josef 271, 277, 308, 331, 337, 445 f. Urlsperger, Johann August 154, 679 Urner, Hans 95, 187 Ussher, James 672 Uttendörfer, Otto 498, 506 Vadianus [Joachim Vadian] 472 Vaenius, Otho ! Veen, Otto van Valenti, Ernst Joseph Gustav de 110, 436, 440 Valentin, Heinrich 452 Varenius, Heinrich 368, 401 f. Veen, Otto van 438 f., 467 Velsen, Jacob van 267 Veltmann, Claus 610 Veres, Magdolna 376, 411 Verweyen, Theodor 146 Vesper, Will 460 Vierhaus, Rudolf 164 Vinke, Michiel 733 f. Vockerodt, Gottfried 662 Voellmy, Samuel 528 Voeltzel, Ren8 443 Voetius, Gisbert 350 Vogel, Lothar 100, 141, 211, 373, 391, 399, 547, 701, 792, 795 Vogel, Matthias 249 Vögele, Nicolaus 584 Vogt, Peter 150, 164, 178, 206, 214 f., 548, 594, 736 Voigt, Friedemann 233 Völkel, Martin 675 Voltaire [Arouet, FranÅois-Marie] 164, 553, 567, 573 Volz, Hans 682
Voolen, Edward van 216, 336 Voß, Johann Heinrich 96 Vulpius, Christian August 245 Wachler, Ludwig 194 Wackenroder, Wilhelm Heinrich 97 Waczat, Andreas 145 Waesburge, Jason van 267 Wagenmann, Julius 299, 310 Wagenseil, Johann Christoph 166, 177 f., 297 Wagner, Bernhardus 641 Wagner, Fred 555 Wagner, Gaston 213 Wagner, Johannes 529, 584 Wagner, Richard 556 Walahfrid Strabo 472 Waldtreich, Hans Jürg 317 Wallmann, Johannes 22, 67, 84, 91, 93, 98, 113, 120 f., 141, 164, 166, 195, 316, 318, 354, 358, 366 f., 373, 380, 382, 388, 391, 399–405, 409, 429, 465, 470, 731 Walter, Bruno 556 Walther, Samuel Benjamin 282, 384 f., 431–433, 440–442, 453, 662, 669 Walzel, Oskar 202 Warens, FranÅoise-Louise de 533 f. Wasilewski, Werner 605 Waßmuth, D. 182 Wattenwyl, von [Watteville, de], Niklaus und Friedrich 534 Watteville, Jean de 451 Weber, Burkhard 37, 91, 429 Weber, Fürchtegott Thuerecht 670 Weber, Heinz-Dieter 148 Weber, Otto 26, 95, 288, 460 Weber, Peter 137, 760 Weck, Wilhelm 436 Weder, Katharine 564, 617, 651, 677, 738, 790 Wehle, Peter 603 Weidkuhn, Peter 43, 172, 242
Personenregister Weidmann, Heiner 793 Weigel, Theodor Oswald 112 Weigel, Valentin 37, 39, 92, 349 Weigelt, Horst 83, 99, 112, 502, 667, 759 Weihe, Karl 104, 150 Weimar, Klaus 70 Weiß, Jonas Paul 506 Weissensee, Philipp Heinrich 451, 693 Wellenreuther, Hermann 82, 112 f. Weller, Emil 88, 436, 438, 453 Weller, Jakob 320 Weltz, Justinian Ernst, Frhr. von 46 f. Wendebourg, Dorothea 648 Wendessen, Christoff von 390, 393, 414 f. Wenneker, Erich 329, 428, 737 Wenzel, Georg 234 Wenzel, Zacharias 772 Werdenhagen, Johann Angelius von 195 Wernerus [franz. R8fugi8 und Schneidergeselle] 127 Wernle, Paul 451, 453, 526 Wessel, Carola 112 West, Benjamin 724 Wetstein, Heinrich 47, 267, 436, 438, 473 Weyer-Menkhoff, Martin 80, 94 Weyhe-Eimke, Arnold von 360 f. Weyrauch, Erdmann 791 Wick, Barthinius L. 586 f. Wickmark, Jonas 541, 580 Wieckenberg, Ernst-Peter 185, 191 Wied, Werner 621 Wiedemann, Conrad 65, 641 Wied-Neuwied, Friedrich Wilhelm, Graf zu 582 Wied-Neuwied, Johann Friedrich Alexander, Graf zu 582 Wieland, Christoph Martin 96 f., 99, 108, 148, 163, 201, 454, 791
831
Wiener, Max 182 Wiese, Benno von 20, 782 Wieser, Max 32, 184, 309 Wiestling, John S. 473 Wilkinson, Elisabeth 688, 771 Will, Georg Andreas 42 Wille, Daniel 128 Winckel, Friedrich Wilhelm 268, 273, 445–447, 521, 587, 630 Winckler, Johann 308, 317, 322 Windfuhr, Manfred 173, 703 Windhorst, Christof 104, 150, 790 Wingertszahn, Christof 100, 726 Winkle, Stefan 293, 298, 356, 390 Winkler, Eberhard 91 Wißkirchen, Hans 554 Witt, Ulrike 99, 162 Witte, Bernd 91, 149, 250, 673 Wittenberg, Martin 189 Witzenhausen, Josef (Josel) ben Alexander 180, 216 f., 292, 298, 300 f., 327, 334–336 Woellner, Johann Christoph von 154 Woesler, Winfried 174 Wolf, Ernst 188 Wolf, Herbert 313 Wolf, Johann Christoph 180, 299 Wölfel, Dieter 738 Wölfel, Kurt 98 Wolff, Christian 27, 147, 154, 251 Wolff, Friedrich Wilhelm 235 f. Wolfram von Eschenbach 769, 772, 786 Wolfrath, Friedrich Wilhelm 672 Wolter, Gertrud 461 Wolter, Hans-Joachim 462 Wolters, Ernst Georg 46, 637 Woltersdorf, Ernst Gottlieb 107, 133, 283, 546, 670 f. Wonnecke von Kaub, Johannes ! Cuba, Johannes von Worm, Jens 630 Wotschke, Theodor 40, 172, 239, 271, 326, 334, 350, 379, 416, 629
832
Personenregister
Wrangel, Carl Gustav 348, 393 Württemberg, Antonia, Prinzessin von 83, 165, 176, 217, 253 Wust, Klaus G. 211, 213, 226 Ypey, Anneus 194 Ysenburg ! auch Isenburg Ysenburg-Büdingen, Ernst Casimir I., Graf von 626 Zaepernick, Gertraud 637 Zaunstöck, Holger 797 Zeerleder, Margret, geb. Lutz 108, 110, 529, 533 Zeim, Martin 94 Zeisberger, David 112 Zeller, Werner 691 Zeller, Winfried 22, 83, 193, 250, 351, 362, 408, 462 f., 479, 481, 631, 668 Zeltner, Gustav Georg 309, 330, 635 Zenge, Wilhelmine von 767, 791 Zenker, Ernst Victor 203 Zentgraf, Johann Joachim 62, 446, 636, 638–640, 646, 653, 659 f. Ziegler und Kliphausen, Heinrich Anselm von 109 Zimmer, Johann Georg 701 Zimmerling, Peter 497 Zimmermann, Ernst 95 Zimmermann, Johann Georg 191
Zimmermann, Johann Jacob 223, 258, 559 Zimmermann, Johann Liborius 131 Zimmermann, Rolf Christian 36–38, 40, 98, 731, 752 Zink, Samuel 184 Zinzendorf, Erdmuthe Dorothea, Gräfin von 691 Zinzendorf, Nicolaus Ludwig, Graf von 14, 35, 40, 45, 60 f., 71, 77, 79, 82, 85 f., 89, 94 f., 98, 100, 104–106, 108, 110, 112, 145 f., 150, 167, 175, 184–186, 188 f., 192, 213 f., 227, 230, 236, 241, 251 f., 258, 268, 274, 288, 296, 303, 308, 312, 332, 342 f., 441, 467, 484 f., 489–507, 510, 512–516, 526, 548, 567, 590, 621 f., 627–629, 641, 725 f., 751, 756 f., 764, 794 Zinzendorf, Theodora Caritas, Gräfin von 502, 621 Zollikofer, Georg Joachim 103 Zöllner, Johann Friedrich 136 f. Zrini, Nikolaus d. J., Graf von 376, 411 Zuber, Janet W. 210, 521, 578 Zunner, Johann David 317, 471 Zwetz, Rudolf 461 Zwingli, Huldrych 217 Zwink, Eberhard 176, 797