Sprache und Staat: Studien zur Sprachplanung und Sprachpolitik 9783110852752, 9783110104363


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German Pages 292 Year 1985

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Table of contents :
Vorwort
I. Die sprachliche Aufteilung der Welt – Sprache, Dialekt, Nation
II. Ideologisierung und politische Instrumentalisierung der Sprache
Sprache und Nationalismus
Modernisierung und Reglementierung der Volks¬sprache
Inhalte und Probleme der Sprachplanung
III. Vielsprachigkeit in der Gesellschaft
Sprachminderheiten und Minderheitensprachen
Die neuen Minderheiten: Migration und Sprach¬loyalität
IV. Cuius regio, eius lingua – das sprachliche Erbe des Kolonialismus
Europäische Zivilisationsmission
Kolonialsprache Französisch
Kolonialsprache ohne Alternative? Suaheli in Tansania
Cuius lingua, eius regio? Der Fall Somalias
V. Pidgin- und Kreolsprachen
Pidgin, Kreol und lingua franca
Jamaika und Haiti
Kreolisierung
VI. Englisch als Weltsprache
Die Entnationalisierung des Englischen
Englisch in einer vielsprachigen Gesellschaft: Das Beispiel Indiens
VII. Verschriftung und Alphabetisierung, Sprachplanung und soziale Kontrolle
Indien
Sowjetunion
China
VIII. Modernisierung und Sprachplanung: die Fälle Indonesiens und Japans
Indonesien
Japan
IX. Schlußbemerkung: Sprache als Politikum
Bibliographie
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Sprache und Staat: Studien zur Sprachplanung und Sprachpolitik
 9783110852752, 9783110104363

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Sprache und Staat Studien zu Sprachplanung und Sprachpolitik von

Florian Coulmas

w DE

G 1985 Walter de Gruyter · Berlin · New York

SAMMLUNG GÖSCHEN 2501 Dr. Florian Coulmas Seminar für Allgemeine Sprachwissenschaft der Universität Düsseldorf

Meiner Mutter

CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek

Coulmas, Florian: Sprache und Staat : Studien zur Sprachplanung u. Sprachpolitik / Florian Coulmas. — Berlin ; New York : de Gruyter, 1985. (Sammlung Göschen ; 2501) ISBN 3-11-010436-9 NE: GT

© Copyright 1985 by Walter de Gruyter & Co., Berlin 30 - Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden - Printed in Germany - Satz: Fotosatz Otto Gutfreund, Darmstadt — Druck: Arthur Collignon GmbH, l Berlin 30 —Bindearbeiten: Lüderitz & Bauer, Berlin 61

Vorwort Die ungeheure Wichtigkeit der Sprache für unsere Kultur und für die Menschheit im allgemeinen läßt es nicht zu, daß ihre wissenschaftliche Behandlung in einer einzigen Disziplin geleistet wird. Die Entwicklung der Sprachwissenschaft in den letzten 25 Jahren hat neue Fragestellungen erbracht, die zunehmend die Kooperation mit benachbarten Disziplinen implizieren. Wie wird Sprache vom Individuum erworben - oder beim Individuum geschädigt? Wie wird sie im Gehirn gespeichert und verarbeitet? Wie spielen die Sprache und andere symbolische Mittel in der menschlichen Kommunikation zusammen? Auf welche Weise wirkt Sprache als Symbol der Identifizierung sozialer Gruppen, und welche sozialen Determinanten bestimmen den Gebrauch sprachlicher Varietäten? Welche Zusammenhänge bestehen zwischen Sprache und Schrift, und welche Unterschiede gibt es zwischen geschriebenen und ungeschriebenen Sprachen? Welches sind die anthropologischen Konstanten der Sprache? Wie werden sie unter dem Einfluß geschichtlicher und kultureller Kontingenzen ausgeformt? Solche und viele andere Fragen lassen sich nur im interdisziplinären Gespräch beantworten. So ist es auch mit den Fragen, die in diesem Buch angesprochen werden. Sie betreffen einen Teilbereich der Soziolinguistik, aber ihre Antworten haben auch historische, sozialpsychologische, kulturanthropologische und vor allem politische Aspekte. Es sind Fragen, die den Zusammenhang von Sprache und Staat thematisieren, der traditionell nicht im Mittelpunkt soziolinguistischer Forschung steht, sich aber im letzten Jahrzehnt zu einer eigenen umfangreichen Forschungsdomäne ausgeweitet hat. Was ist, wie entsteht und welche Funktion erfüllt eine Nationalsprache? Worin unterscheiden sich Nationalsprachen von anderen Spra-

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Vorwort

chen? Ist diese Unterscheidung nur im Kontext einer politischen Begrifflichkeit relevant oder hat sie auch Korrelate auf der Ebene des sprachlichen Substrats? Was unterscheidet Sprachen von Dialekten - für den Linguisten und für die nicht sprachwissenschaftlich gebildeten Sprecher einer Sprache? Lassen sich Sprachen durch gezielte Planung zu Nationalsprachen machen? Sind bewußte, planerische Eingriffe in die Entwicklung von Sprachen überhaupt möglich? Inwiefern ist Sprache bzw. sind Sprachen ein Gegenstand politischer Verantwortung des Staates? Wie lassen sich Sprachen politisch instrumentalisieren und unter welchen Bedingungen wird Sprache zum Politikum? Welche rechtlichen Probleme verbinden sich mit Sprachen in vielsprachigen Gesellschaften? Welche politischen Aspekte hat der gesellschaftliche Multilingualismus? Was spricht für, was gegen politische Maßnahmen zum Schutz von Minderheitensprachen und wie lassen sie sich realisieren? Viele andere, detailliertere Fragen betreffen die politischen und sozialen Dimensionen sprachlich definierter Gemeinschaften, die als oder in Gesellschaften zusammenleben; wie sie sich zu ihren Sprachen und zueinander verhalten; wie Sprachen in einem Staat hierarchisch organisiert sind; welche Faktoren es sind, die den Status einer Sprache für ihre Sprecher und die anderer Sprachen bestimmen. Unter historischer Perspektive sind diese Fragen ebenso faszinierend wie als aktuelle politische Probleme. Sie reichen von der Indienststellung der Sprache für die Zwecke des Nationalismus über die durch den Kolonialismus herbeigeführte Veränderung der linguistischen Weltkarte bis zu den Versuchen mancher Entwicklungsländer, ihre Sprachen zu modernisieren und den heutigen Bedürfnissen technischer, wissenschaftlicher und institutioneller Kommunikation anzupassen. Die entwicklungspolitische Notwendigkeit bewußter Sprachpianung wird noch immer nicht von allen Entwicklungspolitikern

Vorwort

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genügend gewürdigt und vielen, die sich mit Sprache wissenschaftlich beschäftigen, ist Sptachplanung zutiefst suspekt, da Wissenschaft die Aufgabe hat, zu beschreiben und zu analysieren, nicht aber Anweisungen zu planerischem Handeln zu geben. Diese Haltungen mögen mit dafür verantwortlich sein, daß eine umfassende Theorie der Sprachplanung bisher aussteht. Dieses Buch geht davon aus, daß die wissenschaftliche Begründung einer Sprachplanung im Dienst einer vernünftigen und humanen Sprachpolitik wünschenswert ist. Wenn es einen Beitrag dazu leisten könnte, die Gründe dafür plausibel zu machen, hätte es seinen Zweck erfüllt. Düsseldorf, April 1984

Inhalt Vorwort I. Die sprachliche Aufteilung der Welt - Sprache, Dialekt, Nation II. Ideologisierung und politische Instrumentalisierung der Sprache Sprache und Nationalismus Modernisierung und Reglementierung der Volkssprache Inhalte und Probleme der Sprachplanung III. Vielsprachigkeit in der Gesellschaft Sprachminderheiten und Minderheitensprachen Die neuen Minderheiten: Migration und Sprachloyalität

9 41 41 58 76 91 91 105

IV. Cuius regio, eius lingua — das sprachliche Erbe des Kolonialismus Europäische Zivilisationsmission Kolonialsprache Französisch Kolonialsprache ohne Alternative? Suaheli in Tansania Cuius lingua, eius regio? Der Fall Somalias

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V. Pidgin- und Kreolsprachen Pidgin, Kreol und lingua franca Jamaika und Haiti Kreolisierung

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VI. Englisch als Weltsprache Die Entnationalisierung des Englischen Englisch in einer vielsprachigen Gesellschaft: Das Beispiel Indiens

113 113 119

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VII. Verschriftung und Alphabetisierung, Sprachplanung und soziale Kontrolle Indien Sowjetunion China VIII. Modernisierung und Sprachplanung: die Fälle Indonesiens und Japans Indonesien Japan IX. Schlußbemerkung: Sprache als Politikum Bibliographie Register

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I. Die sprachliche Aufteilung der Welt — Sprache, Dialekt, Nation The greatest and most important phenomenon of the evolution of language in historic times has been the springing up of the great national common-languages... the ,standard' languages which have driven out, or are on the way to drive out, the local dialects purely conditioned by geographical factors. (Otto Jespersen 1946: 39.)

Nachdem die mit dem zweiten Weltkrieg einsetzende Phase der Entkolonialisierung mehr oder weniger abgeschlossen ist, besteht die Welt gegenwärtig aus etwa 160 Staaten, die die Kontinente fast vollständig untereinander aufgeteilt haben. Praktisch jeder Mensch ist heutzutage zumindest nominell Bürger eines Staates und gehört damit einer Organisationsform menschlicher Gesellschaft an, wie sie seit der Französischen Revolution und den Napoleonischen Kriegen in Europa und der ganzen Welt immer bestimmender geworden ist. Herrschaftsbereiche mit unbestimmter Ausdehnung gibt es heute noch weniger als nomadische Völker oder Stämme, deren gesellschaftliche Organisationsform nicht mit einem Siedlungsgebiet verbunden ist. De facto gibt es zwar in vielen Ländern der dritten Welt immer noch Völker, für deren Selbstverständnis die Zugehörigkeit zu einem Staat von untergeordneter oder überhaupt keiner Bedeutung ist; und es gibt auch Staatsgrenzen, deren Verlauf nur auf dem Papier klar und eindeutig ist. Dieser Eindeutigkeit auf dem Papier wird jedoch von Seiten der zentralisierten Staatsgewalt im Zeitalter des Bewußtseins der Begrenztheit natürlicher Rohstoffe immer mehr Bedeutung beigemessen, weswegen es kaum noch einen Flecken Land gibt, auf den nicht ein Staat als Teil seines Hoheitsgebiets Anspruch erhebt. Die daraus resultierende nahezu vollkommene Aufteilung des Globus stellt einen neuen Zustand in der Weltgeschichte dar.

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Diese Aufteilung der Welt, wie sie sich z. B. in der Mitgliedschaft der Organisation der Vereinten Nationen widerspiegelt, suggeriert, daß es sich hier um Einheiten gleicher oder ähnlicher Art handelt. Freilich gehört nicht sehr viel dazu, zu erkennen, daß dem nicht so ist. Die Staaten der heutigen Welt, die sich ihre Existenz mit wenigen Ausnahmen gegenseitig anerkennen, sind mitnichten Einheiten gleicher Art. Es ist nicht Gegenstand dieses Buches im einzelnen zu untersuchen, was sie verbindet und was sie trennt und welche Voraussetzungen es überhaupt rechtfertigen, sie alle unter einen Begriff zu subsumieren. Dennoch können wir auf eine wie immer notdürftige und vortheoretische Bestimmung des Staatsbegriffs nicht verzichten, da wir immer wieder von ihm Gebrauch machen werden und außerdem der Staat die wichtigste Instanz ist, auf die Sprachpolitik, Sprachplanung und Sprachenrecht bezogen sind. Der Staat wird oft als die Organisationsform einer Nation bezeichnet. Carl Schmitt schrieb in seiner Verfassungslehre (1927: 205): „Staat ist ein bestimmter Status eines Volkes, und zwar der Status politischer Einheit... Staat ist ein Zustand." Hier wird der Begriff „Volk" verwendet, von dessen Inhalt die von Carl Schmitt gegebene Definition offensichtlich abhängt. Was sie unberücksichtigt läßt — wie immer man den Begriff „Volk" inhaltlich füllt — ist die Organisation des Vielvölkerstaats. Als Carl Schmitt schrieb, 1927, war ein großer Teil der Welt noch nicht in Form moderner zentralistischer Staaten organisiert. Die großen Kolonialreiche in Asien und Afrika waren noch nicht auseinandergebrochen, und sehr umfangreiche Territorien hatten nicht die Organisationsform selbständiger Staaten. Auf die meisten europäischen Staaten traf Schmitts Definition des Staats als Zustand politischer Einheit eines Volkes aber weitgehend zu. Die europäischen Staaten waren und sind mehrheitlich Nationalstaaten, und natürlich haben sie Staatstheorie und Staatsphilosophie seit Kant, Fichte und Hegel geprägt. In der heutigen Welt, wenn man sie sich wiederum am Modell der Vereinten Nationen betrachtet, ist die Bedeutung Europas jedoch stark geschrumpft, und die Realitäten in Europa setzen nicht mehr den Maßstab noch die Begriffe für die interne und externe Organisation der Gruppen, die in den etwa 160 Staaten der Erde leben.

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Ohne Zweifel bietet die Form des europäischen Nationalstaates noch immer ein Beispiel dafür, wie Staaten als politische Einheiten zu organisieren sind (Young 1976: 66ff.), außerdem gibt es jedoch sowohl die bewußte Abkehr vom europäischen Beispiel als auch und häufiger die den faktischen Gegebenheiten geschuldete Unmöglichkeit, die Realitäten europäischer Nationalstaaten zu kopieren: Indien wird nie ein Staat in dem Sinne sein wie das Vereinigte Königreich von Großbritannien, denn alle historischen Voraussetzungen dieser beiden Länder sind verschieden. Diese Unterschiede sind es, auf die es im Zusammenhang mit unserem Thema ankommt, wobei vor allem diejenigen relevant sind, die Sprache und Sprachen von Nationen und Staaten betreffen. Traditionell wird Sprache als eins der wichtigsten Kriterien der Einheit und der Besonderheit einer Nation genannt. Wilhelm von Humboldt schrieb in seiner berühmten Abhandlung Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaus und ihren Einfluß auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts, „daß der Bau der Sprachen im Menschengeschlechte darum und insofern verschieden ist, weil und als es die Geisteseigenthümlichkeit der Nationen selbst ist" (Humboldt 1830-1835, VII 43). Sprache und Nation hingen für ihn eng miteinander zusammen und obwohl er immer wieder die der Sprache inhärenten Tendenzen und Gesetzmäßigkeiten als wesentlichen Faktor ihrer Entwicklung hervorhob, sah er in den Einzelsprachen doch vor allem ein Produkt ihrer Nation. „In der Sprache sind also", schreibt er in derselben Abhandlung, „da dieselben immer eine nationeile Form haben, die Nationen, als solche, eigentlich und unmittelbar schöpferisch" (op. cit. VII 38). Hier scheint es, als sei erst die Nation da und dann die Sprache der Nation, was in manchen Fällen durchaus den Tatsachen entspricht. Frankreich bietet dafür ein gutes Beispiel, das ausführlich von Karl Voßler erörtert wird. „Die französische Sprache... ist, als Kunstsprache betrachtet, am Grundstock der politischen Mystik, am Stamm des französischen Nationalgefühls, am Pfeiler des königlichen Einheitsgedankens emporgewachsen. Gehalten und getragen von der nationalen Dichtung, ist sie über die benachbarten Mundarten hinausgewachsen" (1913: 31).

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Erst die Nation also und dann die Sprache bzw. die Nationalsprache. Die Sprache stiftet nicht die Einheit für die Nation, sondern es ist umgekehrt die Nation, die eine einheitliche Sprache als Ausdruck ihrer Identität schafft. Sprache kann aber auch ein wesentliches Identität stiftendes Element für eine Gruppe sein, wie etwa im Falle der Basken: Inaki Oliveri, der Sprachbeauftragte der baskischen Regionalregierung im spanischen Baskenland, sagt: „Wir können die Nation des Baskenlandes nicht von Euskara trennen". Euskara ist die baskische Bezeichnung für Baskisch. „Unsere Sprache definiert uns", fährt er fort (Newsweek S.Juni '83). Mehr als alle anderen Kriterien, die eine Nation ausmachen, eint die Basken ihre Sprache. Sie stellt den Kern des Zusammengehörigkeitsgefühls der Basken dar, das ihren Nationalismus begründet. Die deutsche Nation, um ein näherliegendes Beispiel zu nennen, definiert sich ebenfalls ganz wesentlich über die deutsche Sprache. Die Geschichte der letzten 500 Jahre ist eine Geschichte politischer Zersplittertheit. Einzig die deutsche Sprache hat die deutsche Nation seit Luther und in verstärktem Maße seit Herder, der deutschen Klassik und der französischen Revolution geeint. Die Sprache ist jedoch weder eine notwendige noch eine hinreichende Bedingung für die Existenz einer Nation oder gar eines Staates. Trotz der Sprachenspaltung spricht man von der kanadischen, der belgischen oder der schweizer Nation,"weil die anderen Faktoren, die eine Nation ausmachen, in den genannten Fällen hauptsächlich das Bewußtsein der gemeinsamen Geschichte, schwerer wiegen als der Unterschied zwischen den Sprachen. Allgemein kann man sagen, daß es vor allen Dingen das Gefühl der Zusammengehörigkeit einer Gemeinschaft ist, das einer Nation Bestand verleiht — keine Nation also ohne Nationalbewußtsein. Worauf dieses Bewußtsein beruht, kann sehr verschieden sein, was von den jeweiligen historischen Kontingenzen abhängt: Abstammung, Sprache, Kultur, Religion, gemeinsame geschichtliche Vergangenheit sind die wichtigsten Kriterien, aus denen eine Nation ihre Einheit bezieht, in unterschiedlicher Gewichtung und Auswahl (Mitscherlich 1931). „Nation" ist also ein sehr abstrakter Begriff, der sehr unterschiedliche Gruppen bezeichnen kann. Zudem kann die Nation dem Staat oder umgekehrt, der Staat der Nation

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vorausgehen. Wenn man von der Organisation der Vereinten Nationen spricht, ist das eigentlich eine unzutreffende Bezeichnung, denn die Mitglieder dieser Organisation sind weniger Nationen als Staaten. Nationen, die keinen Staat haben, wie z. B. die Kurden, die Armenier oder die Palästinenser, sind bei der UNO nicht vertreten, allenfalls als Beobachter. Staaten sind politische Gebilde, sie sind nicht dasselbe wie Nationen oder Völker. Die Anzahl der Staaten koinzidiert nicht mit der der Nationen: Die arabische Nation bspw. erstreckt sich nach Ansicht vieler Araber vom Atlantik bis zum Persischen Golf, aber die dort lebenden Menschen sind bekanntlich Bürger mehrerer, zum Teil miteinander verfeindeter Staaten. Viele Völker andererseits haben weder einen Staat noch überhaupt einen Anspruch auf einen solchen — eine Situation, wie sie besonders häufig in den ehemaligen Kolonien Afrikas anzutreffen ist, wo praktisch alle Länder Viel-Völker-Staaten sind, und wo nationale Grenzen nicht Resultat der inneren Geschichte des Kontinents sind, sondern Ergebnis seiner Aufteilung unter die Kolonialmächte. Interessant an der afrikanischen Situation ist, daß die Grenzen der unabhängig gewordenen Länder relativ stabil geblieben sind. Alle befinden sich mehr oder weniger in derselben Lage: Ein Staat muß eine Nation schaffen. Bei der überall anzutreffenden Völkervielfalt ist das eine schwere Aufgabe, denn es muß ein Zusammengehörigkeitsgefühl erzeugt werden, das Gruppen unterschiedlicher Abstammung und Sprache verbindet, die zwar immer nebeneinander gelebt haben, ihre Identität aber typischerweise in Gruppierungen hatten, die kleiner waren als die Nationen, die mit der Entkolonialisierung aus dem Boden gestampft wurden. Es ist vielleicht nicht sinnvoll, von jungen oder alten Völkern zu reden, aber es ist sinnvoll, von jungen oder alten Nationen zu reden, und es ist ganz gewiß sinnvoll, von jungen oder alten Staaten zu sprechen. Die große Mehrheit der Staaten der Welt ist weniger als 200 Jahre alt, und sehr viele von ihnen haben ihre Identität als unabhängige politische Einheiten erst nach dem Zweiten Weltkrieg erlangt. Für sie dieselben Begriffe — Staat und Nation — zu verwenden wie für die „klassischen" Nationalstaaten Europas, bringt zwangsläufig eine Erweiterung und Diffusierung dieser Begriffe mit sich. Man muß deshalb, speziell was den Begriff

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,Nation' anlangt, Grade oder Abstufungen unterscheiden. Das typische Bild, was sich einem bei der Betrachtung der Dritten Welt bietet, ist, daß Nationen ihre Nationalität erst schaffen müssen, weil die sozialpolitischen Organisationsformen, die ihre Geschichte beherrschten, größer und kleiner waren als der Staat, der sie geworden sind: Größer, da sie politisch Teile kolonialer Imperien waren und kleiner, weil sie sozial aufgegliedert waren in Stämme und Völker, für die eine zentrale Autorität eines Staates in vielen Fällen ohne Bedeutung war. Die faktische Aufteilung der Welt in 160 Staaten, 160 Mitglieder der Organisation der Vereinten Nationen, suggeriert klar geordnete Verhältnisse zwischen Einheiten gleicher Art, Verhältnisse, die so nicht gegeben sind, da viele dieser Einheiten erst dabei sind, ihre nationale Identität zu entwickeln. Bei diesem Prozeß der Entwicklung von Nationen spielt unweigerlich die Sprache eine bedeutende Rolle, sei es, daß sie identitätsstiftendes historisches Erbe ist, das für die Zwecke der Nationentwicklung ausgenutzt wird, oder sei es, daß sie der Einigung entgegensteht, weil die verschiedenen Sprachen eines Landes manifester Ausdruck der Verschiedenartigkeit der Gruppen und ihrer Traditionen sind, die zu einem Ganzen verschmolzen werden sollen. Daß Sprache Uneinigkeit mindestens ebenso häufig stiftet wie Einigkeit, sollte eine rein numerische Überlegung klar machen: Die Zahl der Sprachen der Welt ist um ein Vielfaches größer als die Zahl der Nationen oder gar der Staaten der Welt. Mit dieser Aussage bewegt man sich noch auf sicherem Boden, denn daß die Zahl der Sprachen der Welt größer ist als 160, ist unbestritten. Der Versuch, diese Aussage weiter zu präzisieren, stößt aber auf Schwierigkeiten, Schwierigkeiten, die für die Sprachwissenschaft von sehr grundsätzlicher Bedeutung sind. Natürlich kann man immer noch unangefochten eine Aussage machen, die inhaltsreicher ist als „viel mehr als 160", z. B. „mehrere Tausend", aber auch nur die Tausender zu spezifizieren, zu sagen, eher 8000 als 3000, ist äußerst schwierig, und mit jeder Aussage, die an Präzisierung darüber hinausgeht, begibt man sich auf eine außerordentlich schwer zu verteidigende Position. Wir finden solche Positionen in der Literatur: Z. B. wird immer wieder die Zahl 2796 zitiert, die zuerst Louis H. Gray 1939 in

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seinen Foundations of Language genannt hat. Zehn Jahre später finden wir dieselbe Zahl bei Mario Pei (1949), und das sind nicht 2796 plus/minus 10 oder 20, sondern einfach 2796. Das sieht sehr ermutigend aus, denn selbst wenn sie nicht stimmt, erweckt sie doch den Eindruck, als könnte sie stimmen und wenn nicht sie, dann eine andere, ähnliche Zahl. Genau das ist aber die Frage — eine für Sprachwissenschaftler sehr mißliche Frage, denn es wäre ja schon geradezu peinlich, wenn wir nicht dazu in der Lage wären, etwas für unsere Wissenschaft so Zentrales wie Sprachen zu zählen. Das hieße, daß wir den Gegenstand unserer Wissenschaft nicht fest im Griff haben. Genau das ist auf dem gegenwärtigen Stand der Linguistik aber leider der Fall. Wir finden in der Literatur auch andere präzise Zahlenangaben, die höher als 2796 liegen. Die Indices von Voegelin und Voegelin (1976) und den Wycliff Bible Translators (Grimes 1978) zählen beide über 4000 lebende Sprachen auf; das ändert jedoch nichts daran, daß die Sprachwissenschaft immer noch nicht in der Lage ist, eine wohlbegründete, eindeutig bejahende Antwort auf die Frage zu geben, ob wir Sprachen zählen können. Das leuchtet vielleicht leichter ein, wenn wir eine verwandte Frage mit dazunehmen, nämlich die nach der Zählbarkeit von Dialekten. „Wieviele Sprachen gibt es auf der Welt?" und „Wieviele Dialekte gibt es in einer bestimmten Sprache oder in einem bestimmten Land?" Eine Tatsache, mit der wir uns vielleicht nicht abfinden, die wir aber zur Kenntnis nehmen müssen, ist, daß die Sprachwissenschaft auf diese Fragen gegenwärtig keine einfachen Antworten hat. Im Zusammenhang mit dem Thema dieses Buches ist das ein äußerst wichtiger Umstand, der nämlich bedeutet, daß die Linguistik selber der Sprachplanung und Sprachpolitik keine Kriterien liefert, aufgrund derer sich die Objekte, die Gegenstand von Planung und Politik sind, abgrenzen lassen. Vielmehr müssen Linguisten zur Kenntnis nehmen, daß die Gegenstände, die Gegenstand ihrer Forschung sind — eben die Sprachen — primär und hauptsächlich sprachpolitisch und sprachplanerisch voneinander abgegrenzt sind und nicht aufgrund ihnen eigener, intrinsischer Eigenschaften.

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Linguisten gehen heutzutage davon aus, daß Sprachen als Gegenstand ihrer Forschung Objekte ein und derselben Art sind. Ansichten wie die Humboldts, daß Sprachen natürlich unterschiedlicher Qualität seien, sind gegenwärtig nicht sehr populär. „Daß Nationen von glücklicheren Gaben und unter günstigeren Umständen vorzüglichere Sprachen, als andere, besitzen, liegt in der Natur der Sache selbst", schrieb er (op. cit. VII 20). Mit der Rede von vorzüglicheren und weniger vorzüglichen Sprachen zögen sich Linguisten heute unweigerlich den Vorwurf des Ethnozentrismus zu und zudem gerieten sie in große theoretische und begriffliche Schwierigkeiten, wenn sie Kriterien angeben sollten, die es erlauben, verschiedene Arten von Sprachen zu unterscheiden. Für den theoretischen Linguisten sind alle Sprachen daher zunächst einmal Objekte derselben Art. Wären sie das, sollte es eigentlich keine Schwierigkeiten bereiten, sie zu zählen. Wer sich jedoch mit den sozialen Dimensionen der Sprache beschäftigt, weiß, daß es viele Aspekte gibt, in denen sich Sprachen unterscheiden: die Größe der Sprachgemeinschaft z.B., die linguistische Umgebung, die Verkehrsformen innerhalb einer Sprachgemeinschaft und über deren Grenzen hinweg, die relative Homogeneität oder Aufgesplittertheit einer Sprachgemeinschaft, die Schrifttradition einer Sprache und die Literalität ihrer Sprecher usw. Bezüglich dieser und ähnlicher Kriterien unterscheiden sich Sprachen auf leicht ersichtliche Weise in geringerem oder stärkerem Maße. Ob sie qualitative Unterschiede zwischen Arten von Sprachen begründen können, ist eine Frage, auf die wir zurückkommen werden. Nicht-Linguisten fällt es manchmal leichter, die Frage nach verschiedenen Arten von Sprachen zu beantworten bzw. sie machen ungefragt bestimmte Unterschiede. Ein solcher Unterschied ist besonders auffällig: der zwischen Sprache und Dialekt. Für NichtLinguisten ist er wesentlich klarer als für Linguisten. Sie haben für Dialekt meist eine doppelte Verwendung, dergestalt, daß einerseits regionale Nicht-Standard-Varietäten der eigenen Sprache als Dialekt bezeichnet werden und andererseits exotische Sprachen, die nicht als Kultursprachen bekannt sind. Kru und Agni, zwei WestSudansprachen bspw. figurieren in diesem Sprachgebrauch als Dialekte. Gemeinsam ist den so bezeichneten Varietäten, um einen

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neutralen Ausdruck zu wählen, daß sie von ihren Sprechern nicht geschrieben werden. Für Nicht-Linguisten macht das einen wichtigen Unterschied aus, ja, eine Sprache im eigentlichen Sinn ist ihnen nur, was auch eine Schrift hat. Linguisten haben demgegenüber gelernt, diesen Unterschied zu ignorieren bzw. als Scheinunterschied zu entlarven, da die Schrift ja nur eine historisch kontingente Randerscheinung ist, die mit dem Wesen der Sprache nichts zu tun hat (Bloomfield 1927). Möglicherweise haben die Nicht-Linguisten aber ebenso recht, wenn sie die Wichtigkeit der Schrift betonen und Unterschiede zwischen Sprachen und Dialekten an ihr festmachen. Jedenfalls müssen wir die Wichtigkeit, die der Schrift dabei beigemessen wird, als ein wichtiges soziales Faktum konstatieren, denn was im Bewußtsein der Mitglieder einer Sprachgemeinschaft an Kenntnissen, Annahmen oder Vorurteilen vorhanden ist, kann auf die Wirklichkeit der Sprache selber Einfluß haben. Worin besteht nun aber der Unterschied zwischen Sprache und Dialekt für den Linguisten, und wo kommt er her? Interessanterweise war von Dialekten zum erstenmal im Zusammenhang mit geschriebenen Varietäten die Rede, nämlich im klassischen Griechenland. Dort herrschte in der klassischen Zeit eine Situation, in der es keine einheitliche Norm gab, da die Sprache in verschiedenen Landesteilen zu Hochformen entwickelt worden war. Statt einer allgemein anerkannten einheitlichen Norm gab es eine Menge eng verwandter Normen, die nicht nur dem Sprachgebrauch einer Region entsprachen, sondern auch funktionsspezifische Unterschiede aufwiesen. Vor allem drei Varietäten konnten unterschieden werden: das Ionische, das Dorische und das Attische. Alle drei wurden geschrieben, aber für jeweils andere Zwecke: das Ionische für die Geschichtsschreibung und andere Frühformen der Prosa, das Dorische für Lyrik und Chorgesang und das Attische für Drama und Rhetorik (Browning 1969: 27f.). In dieser Zeit war das, was Griechisch genannt wird, also eine Menge verschiedener aber verwandter Normen, die Dialekte genannt wurden. Diese Dialekte haben eine gemeinsame Wurzel im Griechischen der vorklassischen Zeit, aus dem sie durch sprachliche Divergenz hervorgegangen waren. In der nachklassischen Zeit werden demgegen2

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ber die Unterschiede zwischen den Dialekten durch den gegenl ufigen Proze sprachlicher Konvergenz eingeebnet. Durch die vereinheitlichende Wirkung der Schrift und durch die Zentralisierung von Macht und Kultur in Athen entstand eine einheitliche griechische Norm, die dem Athener Dialekt sehr nahe κοινή διάλεκτος, die allgemeine Verkehrssprache der hellenistischen Welt. Die Unterschiede zwischen den Dialekten, die sehr pr gnant waren, und von denen wir wissen, weil sie schriftlich berliefert sind, wurden also zugunsten einer einzigen dominanten Norm, die die griechische Sprache inkarnierte, aufgegeben. vorklassisches Griechisch Griechisch

Divergenz Ionisch

Attisch

Dorisch Konvergenz

/ Koine Abb. 1: Divergenz und Konvergenz in der griechischen Sprache

Diese Entwicklung der griechischen Sprache gibt das Modell ab f r alle sp teren Verwendungen der Begriffe „Sprache" und „Dialekt", wie Einar Haugen (1966a) uns in seinem lichtvollen Aufsatz Dialect., Language, Nation belehrt, und die Unklarheiten und Schwierigkeiten, die dabei manchmal anzutreffen sind, resultieren aus den Unklarheiten der geschilderten Situation: Synchroniser! betrachtet kann sich der Begriff „Sprache" entweder auf eine einzige sprachliche Norm oder auf eine Menge verwandter Normen beziehen. Und diachronisch bezieht sich „Sprache" entweder auf eine Sprache, die im Begriff ist, sich durch Divergenz aufzul sen, oder auf eine aus Konvergenz resultierende Gemeinsprache. Dieser Proze wiederholt sich zyklisch, was nichts anderes bedeutet, als da „Sprache" und „Dialekt" relative Begriffe sind. Unverndert bleibt das Verh ltnis zwischen beiden jedoch insofern, als

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"Sprache" immer der übergeordnete, "Dialekt" immer der untergeordnete Begriff ist. Letzterer ist nur sinnvoll in Bezug auf ersteren zu verwenden: Ein Dialekt muß immer ein Dialekt einer Sprache sein, und wenn eine Sprache nicht mehrere Dialekte hat, ist es ebenfalls nicht sinnvoll, diesen Begriff zu benutzen. Also: die Sprache Sx hat die Dialekte D l5 D2, D 3 . . . und der Dialekt Dn ist ein Dialekt der Sprache Sy. Die Sprachensituation Europas ist seit der Renaissance sehr stabil, deshalb ist für uns Europäer der Zyklus von Divergenz und Konvergenz nicht so augenfällig. Er läßt sich jedoch anhand von Beispielen aus unserer allernächsten Umgebung illustrieren: Deutsch und Holländisch sind beide bekanntlich germanische Sprachen und zwar eng verwandte Sprachen. Wenn sie heute als selbständige Sprachen gelten, so ist doch die Verwandtschaft zwischen ihnen für jedermann sichtbar, und offensichtlich ist dieses Vorhandensein zweier Sprachen Resultat einer Divergenz. Wenn man nun auf der anderen Seite das Schwyzertütsch betrachtet, kann man leicht feststellen, daß die Distanz zum Hochdeutschen ebenso groß ist wie die Distanz vom Niederländischen zum Hochdeutschen. Trotzdem wird gemeinhin Niederländisch als Sprache gezählt, während Schwyzertütsch als Dialekt des Deutschen gilt. Aus linguistischer Sicht ist diese unterschiedliche Einschätzung des Niederländischen und Schwyzertütschen nicht gerechtfertigt, denn die Interkommunikabilität zwischen Hochdeutsch und Niederländisch und Hochdeutsch und Schwyzertütsch ist gleich gering. Umgekehrt ist die Interkommunikabilität über die deutsch-holländische Grenze ebenso gut wie über die deutsch-schweizer Grenze. Warum also wird Niederländisch, nicht aber Schwyzertütsch als Sprache akzeptiert? Schwyzertütsch wird im Gegensatz zum Niederländischen nicht geschrieben, was dem erwähnten vortheoretischen Begriff von Dialekt entspricht. Schriftlichkeit ist im Bewußtsein vieler das kritische Merkmal, das Sprache von Dialekt unterscheidet. Aus sprachwissenschaftlicher Perspektive ist diese Begrifflichkeit nicht akzeptabel, denn nach der ihr zugrundeliegenden Auffassung würden von den vielen Tausend Sprachen der Welt nur ein paar Hundert übrig bleiben, der Rest wären Dialekte, weil sie nicht

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geschrieben werden. Aber dennoch ist die vortheoretisch hergestellte Beziehung zwischen Schrift und Sprache bzw. zwischen Schriftlosigkeit und Dialekt nicht gänzlich abwegig, speziell wenn man die europäische Situation im Auge hat. Niederländisch ist nicht zuletzt deshalb eine Sprache, weil die zum Deutschen bestehenden Unterschiede festgeschrieben und damit gleichzeitig mit dem Prestige der Schrift versehen wurden. In erster Linie ist das eine politische Entscheidung, denn die Varietäten des Deutschen und Niederländischen stellen ein Kontinuum dar. Als eigene Sprache hat sich das Niederländische erst seit dem ausgehenden 16. Jahrhundert vom Deutschen bzw. von den deutschen Dialekten getrennt, als die Vereinigten Niederlande von der spanischen Krone abfielen. Auch auf dem Gebiet der Sprache akzentuierten sie ihre Eigenständigkeit. Dadurch, daß für die in den Niederlanden gesprochenen Dialekte ein schriftsprachlicher Standard entwickelt wurde, wurde sie in einem Prozeß der Divergenz von der deutschen Sprache abgekoppelt und erlangten den Status einer unabhängigen Sprache, die die Sprache der niederländischen Nation geworden ist. Ähnlich ist es mit Afrikaans, einem dem Niederländischen sehr ähnlichen niederdeutschen Dialekt, der in der Republik Südafrika in den Rang einer offiziellen Sprache erhoben wurde. Hier wird ebenfalls Distanz betont, was angesichts der geographischen Distanz zu den übrigen germanischen Sprachgemeinschaften naheliegend ist. In der Schweiz ist die Situation eine ganz andere. Die schweizer Nation hat keine Nationalsprache bzw. hat vier offizielle Sprachen, von denen drei die Nationalsprachen großer europäischer Nationen sind: Deutsch, Französisch und Italienisch. An der deutschsprachigen Literatur haben Schweizer entscheidend mitgewirkt. Schwyzertütsch zu schreiben, würde bedeuten, diese Verbindung zu kappen. Aber nicht nur das — die drei großen Gruppierungen der schweizerischen Nation, die germanophonen, die frankophonen und die italophonen Schweizer haben eine Gemeinsamkeit in ihrer Verschiedenheit — die Sprache der benachbarten Kulturnation. Schwyzertütsch zu schreiben, würde eine völlig neue Situation schaffen. Nicht nur würde die Trennung von einer großen Kulturgemeinschaft vollzogen; einer solchen würde zweifellos seit dem

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zweiten Weltkrieg an sich geringer Widerstand entgegengesetzt werden. Hitler hat die positiven Gefühle, die der deutschen Sprache seitens der deutschsprachigen Schweizer entgegengebracht wurden, unterminiert. Wichtiger noch ist aber die Tatsache, daß die größte der vier schweizer Bevölkerungsgruppen mit der Schreibung des Schwyzertütschen eine schweizer Sprache schaffen würden, die es außerhalb der Schweiz nicht gibt. Das Schwyzertütsche erhielte damit einen ganz anderen Status, tendenziell nämlich den Status einer schweizerischen Nationalsprache, der es vom Genfer Französischen und vom Tessiner Italienischen aber auch vom Rätoromanischen unterscheiden würde. Der daraus entstehende politische Anspruch müßte zwangsläufig zu Konflikten mit den anderen schweizer Sprachgemeinschaften führen. Da es aber im allgemeinen schweizer Interesse ist, solche Konflikte zu vermeiden, besteht gegenwärtig kein stark motiviertes Bedürfnis nach einer schriftsprachlichen Normierung des Schwyzertütschen. Es wäre jedoch verkehrt, das Schwyzertütsche als Dialekt dem Deutschen als Sprache gegenüberzustellen. Damit wäre die Sprachsituation in der deutschsprachigen Schweiz nur unzulänglich beschrieben. Anders als die Niederländer haben sich die DeutschSchweizer nie von der deutschen Sprachgemeinschaft distanziert. Das Schwyzertütsche gibt es nicht, es gibt nur eine Reihe schwyzertütscher Dialekte, die allerdings ein wichtiges Symbol schweizerischer Identität sind. Durch ihre Pflege und die gleichzeitige Beteiligung der Schweizer an der Entwicklung der deutschen Gemeinsprache durch die Jahrhunderte ist es zu einer Situation gekommen, für die Charles Ferguson (1959) den Begriff Diglossie geprägt hat, eine Situation nämlich, in der die schriftlich fixierte Hochsprache durch einen tiefen Graben von der gesprochenen Umgangsprache getrennt ist. Die sprachliche Eigentümlichkeit der deutschsprachigen Schweiz manifestiert sich also nicht wie die niederländische durch Abspaltung, sondern dadurch, daß eine Diglossiesituation toleriert, ja gepflegt wird und nicht darauf hingearbeitet wird, die Dialekte der gesprochenen Sprache zu nivellieren und dem Standard der Schriftsprache anzupassen. Daß die Entwicklung unter Umständen entgegen dem Willen der Sprachgemeinschaft durch innere Erosion der Dialekte trotzdem auf Nivellierung zuläuft

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(Keller 1982), ist eine andere Frage. Wichtig im gegebenen Zusammenhang ist, daß sich das Verhältnis zwischen Schwyzertütsch und Deutsch aufgrund der Haltung der deutsch-schweizerischen Sprachgemeinschaft von dem zwischen Niederländisch und Deutsch unterscheidet. Die Ausdehnung des Geltungsbereichs eines schriftsprachlichen Standards, das zeigt sich daran, ist zumindest zum Teil von Einstellungen und politischen Entscheidungen abhängig. Kehren wir noch einmal zurück zu der Frage des Verhältnisses von Sprache und Dialekt. Der Begriff „Dialekt" ist, wie gesagt, immer bezogen auf den der Sprache: Ein Dialekt ist eine bestimmte Ausprägung einer Sprache, die sich von anderen Ausprägungen durch phonologische, lexikalische und in geringerem Maße auch syntaktische Merkmale unterscheidet. Impliziert das nun, daß jeder gegebene Dialekt ein Dialekt einer und nur einer Sprache ist? Kaum, und darin liegt ein weiterer Grund dafür, daß es schwierig ist, Sprachen zu zählen. Nehmen wir zwei Sprachen wie Deutsch und Niederländisch, die aufgrund politischer Motive voneinander abgegrenzt sind, und betrachten wir einen Dialekt, z. B. den Niederrheinischen Dialekt, der an der Peripherie des einen Sprachgebiets und nahe dem anderen gesprochen wird. Dieser Dialekt ist mit dem ersten Dialekt jenseits der Grenze interkommunikabel, aber jener ist ein Dialekt des Niederländischen, während dieser ein deutscher Dialekt ist. Nehmen wir nun an, daß sich die politischen Grenzen zwischen beiden Ländern in der einen oder anderen Richtung verschöben, dann wäre es u. U. gerechtfertigt, den fraglichen Dialekt der jeweils anderen Sprache zuzuschlagen. Oder man muß eine übergeordnete Sprache im Sinne einer Sprachgruppe annehmen bzw. rekonstruieren, so daß dieselbe Menge von Varietäten einmal als divergente Dialekte und einmal als konvergente Sprachen erscheinen, was sich nach einem Vorschlag von Thümmel (1977) so darstellen läßt:

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Westgermanisch

DI Jiddisch

D2 Letzeburgisch

D3 D4 D5 D6D7 Deutsch D8 D9 D10 D n D12 Niederländisch

D 15 Friesisch Abb. 2: Westgermanische Dialekte

Jiddisch, Letzeburgisch, Deutsch, Niederländisch und Friesisch als westgermanische Dialekte zu bezeichnen, ist in ihrer genetischen Verwandtschaft begründet. Von den Sprechern wird diese Bezeichnung jedoch meist nicht akzeptiert, weil der Begriff „Dialekt" oft pejorativ verwendet wird. „Der spricht Dialekt" sagt man oft, ohne zu sagen, welchen Dialekt er spricht, um auszudrücken, daß er eine Varietät mit niedrigem Prestige spricht. Im Französischen wird hier noch eine zusätzliche Differenzierung gemacht: Außer von dialecte spricht man von patois, wobei der Unterschied wiederum mit der Schrift zu tun hat. Wie im Griechischen haben im Galloromanischen verschiedene Dialekte eine Schrifttradition entwickelt. Politisch hat sich das Französische gegenüber dem Okzitanischen durchgesetzt, aber lange Zeit bestanden die verschiedenen geschriebenen Dialekte nebeneinander. Ein patois ist demgegen-

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über ein Dialekt, der nicht für schriftliche wendet wird. Im Deutschen und Englischen chung dieser Unterscheidung, so daß der stärkerem Maße noch als im Französischen

Kommunikation vergibt es keine EntspreBegriff „Dialekt" in mehrdeutig ist.

Im allgemeinen Sprachgebrauch ist das Verhältnis von Sprache und Dialekt durch die Wahrnehmung sozialer Beziehungen und Statusunterschiede beeinflußt. Die Varietäten mit hohem Prestige, d. h. die Sprechweisen gesellschaftlich hochstehender Schichten werden typischerweise nicht als „Dialekt" bezeichnet. „Dialekt" deutet vielmehr auf ländliche oder sozial niedrige Sprechweisen hin. Inwieweit Dialekte zur Sprache gehören, bleibt im allgemeinen Sprachgebrauch offen. Das ist doch kein Deutsch, kann man als pejorative Qualifikation einer Redeweise hören, die nicht der herrschenden Norm bzw. der Prestigevarietät entspricht. Eine solche Sicht- und Redeweise ist Resultat der Herausbildung einer Standardsprache, die sich, meist gestützt von der Schrift, gegenüber anderen Varietäten durchgesetzt und den Platz an der Spitze der Prestige- und Machtpyramide einnimmt. Ein Dialekt ist demgegenüber eine Sprache ohne Erfolg, eine Sprache, die sich nicht hat durchsetzen können. Häufig ist sie sozial stigmatisiert, insofern, als sie in gehobenen Kreisen nicht akzeptiert wird. Dialekte werden erst salonfähig, wenn sie verwässert worden sind und sich der Standardsprache angenähert haben, wie z. B. die deutschen Dialekte, die im wesentlichen auf einen Akzent reduziert worden sind. Einige Besonderheiten in der Lexik sind noch vorhanden als Kolorit, aber Unterschiede in der Syntax sind minimal. Als Sprache der Elite wächst dem Standard ein Wert an sich zu. Nur geringfügige Abweichungen von einem etablierten Standard resp. von einer als gültig anerkannten Hochlautung werden ohne soziale Stigmatisierung akzeptiert und auch nur insofern sie nicht als Konkurrenz zum Standard angesehen werden. Die Etablierung eines sprachlichen Standard stiftet Einheit und steht somit in engem Zusammenhang mit dem Prozeß der Herausbildung von Nationen — zumindest in der europäischen Geschichte. Daß das in anderen Teilen der Welt nicht in der Weise der Fall war, wird im weiteren deutlich werden. In Europa freilich hat dieser

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Zusammenhang eine lange Tradition: Daß Sprache und Nation einander bedingen, wurde schon in der Renaissance klar formuliert. 1589 schrieb der englische Höfling und Kritiker der Elisabethanischen Zeit George Puttenham in seinem anonym veröffentlichten Werk The Arte of English Poesie: After a speach is fully fashioned to the common understanding, and accepted by consent of a whole country and nation, it is called a language.

Die Herausbildung einer Standardsprache beruht also zumindest zum Teil auf politischer Förderung sprachlicher Konvergenz, und daran wurde in verschiedenen Ländern Europas seit der Renaissance mehr oder weniger bewußt gearbeitet. Dialekte wurden teilweise aktiv, unterdrückt, teilweise „aufgesogen". Andererseits setzte sich aufgrund vermehrten vergleichenden Sprachstudiums im 18./ 19. Jahrhundert zunehmend die Erkenntnis durch, daß Einzelsprachen aus Dialektteilung, also aus sprachlicher Divergenz hervorgegangen sind, was das wissenschaftliche Interesse an Dialekten förderte. Die Beschäftigung mit Dialekten wiederum führte zu einem neuen Modell des Verhältnisses von Sprache und Dialekt bzw. von Dialekten zueinander. An die Stelle des Abstammungsbaumes, der als große Errungenschaft der dem europäischen Kolonialismus auf dem Fuße folgenden vergleichenden Sprachforschung anzusehen ist (vgl. Abb. 1), trat das Modell der Isoglossen, mit dem die unterschiedliche Verteilung sprachlicher Merkmale zum erstenmal die Vorstellung von kontinuierlich variablen Größen Eingang in die linguistische Theorie fand. Damit trat an die Stelle eines Dialekts, der eine bestimmte Position in einem Abstammungsbaum einnimmt, eine Kernlandschaft, in der Isoglossen am deutlichsten koinzidieren bzw. von der sie ausgehen. Der Vorstellung von einer Sprache oder einem Dialekt als einheitlicher Struktur mit fest umrissenen Grenzen wurde ein Modell entgegengesetzt, das kontinuierliche Übergänge vorsah. Diese beiden Modelle sind kaum kompatibel. Für den theoretischen Linguisten stellt das „Einheitliche-Struktur-Modell" eine gute Arbeitshypothese dar, die jedoch dem Umstand, daß Kommunikation zwischen Sprechern eindeutig verschiedener Varietäten möglich ist, nicht Rechnung tragen kann. Außerdem kann sie nicht

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auf den theoretisch unbefriedigenden, da nichts erklärenden Begriff der „freien Variation" verzichten d.h. auf die Annahme des scheinbar beliebig variierenden Vorkommens alternativer, systematisch gleichwertiger Formen in gegebenen Kontexten. Das Verhältnis zwischen Sprache und Dialekt bzw. die Definition dieser Begriffe richtet sich für den theoretischen Linguisten nach strukturellen Gesichtspunkten: die genetische Verwandtschaft zwischen verschiedenen Varietäten wird nach strukturellen Eigenschaften bestimmt, wobei die Lautgesetze eine zentrale Rolle spielen. Damit haben wir aber noch kein Kriterium an der Hand, das die Unterscheidung zwischen Sprache und Dialekt wirklich begründet. Außer strukturellen Gesichtspunkten müssen daher auch funktionale Gesichtspunkte herangezogen werden: Sie betreffen die soziale Verwendung von Varietäten und bedürfen einer soziologischen bzw. soziolinguistischen Interpretation. Der theoretische Linguist kann feststellen, daß die im Nordosten Indiens gesprochene Sprache Anami zwei klar voneinander geschiedene Dialekte hat: den östlichen und den westlichen. Aufgabe des Soziolinguisten ist es, zu beobachten, daß hier ein Prozeß der Divergenz stattfindet, der zur Herausbildung zweier Sprachen führt. Aufgabe des Sprachplaners schließlich ist es, diesen Prozeß nicht nur zu beobachten, sondern darüber nachzudenken, ob und wie man ihn fördern oder verhindern kann. Entscheidend für die funktionale Beurteilung des Verhältnisses von Sprache und Dialekt ist der Gebrauch, der von einer Varietät in einer Gesellschaft gemacht wird und die Einstellung der Sprecher zu ihr. Eine Sprache ist das Kommunikationsmedium von Sprechern verschiedener Dialekte. Manche Sprachgemeinschaften ermangeln eines solchen Kommunikationsmediums. Die Sprecher verschiedener Dialekte erkennen deren Verschiedenheit an und meist auch die Tatsache, daß andere Dialekte eng mit ihrem eigenen verwandt sind, aber sie verfügen nicht über eine von allen Gruppen anerkannte Varietät, die sie gemeinsam benutzen. So gibt es z. B. verschiedene Apachen-Dialekte, den Jicarilla-Dialekt, den Mescalero-Dialekt u. a., aber es gibt keine übergeordnete Varietät, die von allen Sprechern als das Apachische akzeptiert würde. Für jeden Apachen ist Apachisch seine Muttersprache. Das erscheint

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tautologisch, ist es aber nicht, denn für die Sprecher deutscher Dialekte bspw. ist Deutsch in gewissem Sinne nicht die Muttersprache, jedenfalls nicht die Varietät, die als erste gelernt wird. Die Muttersprache ist vielmehr ein Dialekt, und Deutsch ist eine den Dialekten übergeordnete Varietät. Sprachen unterscheiden sich also funktional insofern, als manche sich nur als Menge von Dialekten darstellen, während andere durch eine Varietät repräsentiert werden, die als allgemein akzeptierte Norm über den Dialekten steht. Beides gilt nur im Rahmen genetischer Verwandtschaft. Von einer Menge von Dialekten zu sprechen, ist nur sinnvoll, wenn diese Dialekte genetisch miteinander verwandt sind, und die Definition von Sprache als Kommunikationsmedium der Sprecher verschiedener Dialekte umfaßt ebenfalls nur genetisch verwandte Dialekte. Beide Typen von Sprachen — die nur-Dialektmengen und die Dialekten übergeordneten Varietäten — unterscheiden sich durch das Niveau ihrer Standardisierung, und das hängt, wie noch verschiedentlich deutlich werden wird, sehr mit der Verschriftung bzw. mit der Existenzform einer Sprache als Schriftsprache zusammen. Die Schrift ist der Sprache prinzipiell äußerlich, damit haben die Systemlinguisten vordergründig recht. Aber für die Funktion einer Varietät in der Sprachgemeinschaft ist diese Äußerlichkeit von so großer Wichtigkeit, daß sie ihr Verhalten zu der Sprache wesentlich beeinflußt. Was geschrieben wird, ist eine Sprache, wird dadurch, daß es geschrieben wird, zur Sprache und unterscheidet sich dadurch von der Mundart, dem Dialekt, der nicht in schriftlicher Kommunikation verwendet wird. Dialekte sind so gesehen unterentwickelte Sprachen, Varietäten, die nicht in allen gesellschaftlichen Domänen verwendet werden, sondern funktional beschränkt sind auf einen Stamm oder auf ländliche Gemeinden und nicht im Behördenverkehr, in den Schulen und anderen überregionalen staatlichen Institutionen gebraucht werden. Offenkundig ist eine derartige funktionale Differenzierung zwischen Sprache und Dialekt erst auf einem relativ hohen Entwicklungsniveau arbeitsteilig organisierter Gesellschaften sinnvoll. Erst in komplexeren und größeren Gesellschaften ergibt sich die Notwendigkeit übergeordneter Varietäten, die von Sprechern ver-

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schiedener Dialekte gesprochen werden. Das kann eine Handelssprache sein, für die jedoch charakteristisch ist, daß sie gerade nicht in allen gesellschaftlichen Kommunikationsbereichen verwendet wird, oder es kann eine höher entwickelte, über den Dialekten stehende Standardsprache sein, die als solche zur Sprache einer Nation werden kann. Welche Varietät in einer gegebenen historischen Situation zur Standard- oder Nationalsprache entwikkelt wird, hängt nicht von sprachlichen Eigenschaften ab sondern primär von Macht. Das Prestige, das eine Sprache genießt, ging in der Geschichte immer mit Macht einher, sei es verflossener oder neu errungener. Nolens oder volens haben sich Eroberer manchmal den von ihnen unterworfenen Völkern kulturell angepaßt und ihre Sprache übernommen - wie z.B. die Manchus Chinesisch annahmen. Das geschah jedoch nie, wenn die Unterlegenen nicht vorher mächtig und kulturell hoch entwickelt gewesen waren. Häufiger geschah es, daß Eroberer ihre Sprache auch in den unterworfenen Gebieten durchsetzten, wie es die Griechen und Römer im Altertum taten und unterstützt von modernen Technologien, vor allem der Druckerpresse, sowie der höheren Entwicklung industrieller, administrativer und schulischer Infrastrukturen, sehr viel effizienter die Kolonialmächte der Neuzeit. In Europa war der Prozeß der Nationenbildung unauflösbar mit dem der Herausbildung der Nationalsprachen verbunden. Die Verbreitung von Schriftkenntnis und Schrifttum, die sukzessive Steigerung des gesamtgesellschaftlichen Bildungsniveaus und die damit einhergehende generelle Etablierung der europäischen Nationalsprachen waren entscheidend wichtige Komponenten der Nationenbildung und Konsolidierung. Das geschah nicht von allein und die Nationalsprachen waren nicht im vorhinein als solche gegeben. Vielmehr wurden durch die Konsolidierung der Herrschaftsbereiche und der Machtzentren der europäischen Nationen (im Westen eher als im Osten) die Dialekte der Macht oder die von der Macht adaptierten Dialekte zu den Nationalsprachen (Jespersen 1946). Besonders deutlich war dieses Ineinandergreifen von Konsolidierung der politischen Macht und Nationalsprachenentwicklung bei den Nationen, die zu den großen Kolonialmächten wurden: Spanien, Portugal, England, Frankreich und die Nieder-

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lande. Italien und Deutschland waren Nachzügler, die Zentralisierung der Macht und die Einigung der Nation gelang ihnen erst im Zuge des aufflammenden Nationalismus des 19. Jahrhunderts, und auch bei der landesweiten Etablierung ihrer Nationalsprache hinkten sie hinterher. Freilich konnte das für die Durchsetzung einer Standardsprache wesentliche Prinzip der Minimierung der internen Differenzen ihres gegebenen oder prospektiven Geltungsbereichs d. h. der tendenziellen Nivellierung von Dialekten und der korrelativen Maximierung der Differenzen nach außen d. h. Abgrenzung gegenüber benachbarten Sprachgemeinschaften meist nicht ohne Druck wirksam werden; denn die Fokussierung der Loyalität der Bevölkerung auf ein fernes Machtzentrum und eine so abstrakte Idee wie die der Nation ergibt sich nicht naturwüchsig sondern als Resultat von Konflikten. Wenn man sich etwa vor Augen hält, daß Standardfranzösisch, die Sprache der prototypischen zentralistischen Nation, noch im ausgehenden 18. Jahrhundert, als es außerhalb Frankreichs längst nicht nur als Sprache Frankreichs anerkannt sondern zur Kultursprache der europäischen Eliten geworden war, nur von einer Minderheit der Bevölkerung beherrscht wurde, wird ersichtlich, daß die Französisierung Frankreichs, die seit der Gründung der Academic Frangaise 1637 gezielt betrieben wurde, ein langwieriger und konfliktreicher Prozeß war. Eine im Auftrag des Nationalrats 1793 unter der Leitung von Abbe Gregoire durchgeführte Untersuchung ergab, daß nur drei von 26 Mio. Einwohnern Frankreichs Standardfranzösisch d. h. den Dialekt der lie de France fließend sprechen konnten (Bourhis 1982: 37). Interessanterweise wurde von den Vertretern der französischen Revolution daraus nicht die Konsequenz gezogen, mehr Toleranz gegenüber den anderen Dialekten walten zu lassen (de Certeau, Julia, Revel 1975). Im Gegenteil, die anderen Dialekte galten als feudalistische Relikte, sie paßten nicht zu der Republik, wie et indivisible; ihre Sprecher waren potentielle Verräter an der Sache der Revolution (Trabant 1981), weswegen es Gregoire und anderen gerechtfertigt erschien, die „Volkssprache" von oben zu verordnen. Die sich universalistisch gebende französische Revolution hatte einen nationalistischen Kern, der sich unübersehbar in der Behand-

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lung der nicht-französischsprachigen Bevölkerungsteilen manifestierte, wobei kein großer Unterschied zwischen den nicht-französischen galloromanischen Dialekten, vor allem dem Okzitanischen, und anderen, mit dem Französischen nicht verwandten Sprachen wie dem keltischen Bretonisch und dem Deutschen im Elsaß gemacht wurde. Durch die Gesetzgebung von 1881-1884 wurde Französisch als einzige Unterrichtssprache der obligatorischen Grundschule eingesetzt, die patois wurden systematisch diskriminiert. Die Verachtung gegenüber den nicht-französischen Sprachen resp. Dialekten gipfelte in der Praxis, Schulkindern, die dabei ertappt wurden, ihre — okzitanische, bretonische, korsische, deutsche — Muttersprache zu sprechen, ein Strafzeichen anzuheften, das sie nur wieder loswerden konnten, indem sie einen Mitschüler wegen desselben Vergehens denunzierten (Bourhis op. cit. 38). Maßnahmen dieser Art blieben nicht ohne Erfolg, nicht von ungefähr ist Französisch zu einer der höchststandardisierten Sprachen geworden. In anderen Ländern wurden ähnliche Eingriffe in die Entwicklung der Sprachen zu einem anderen Zeitpunkt oder auf weniger konsequente Weise oder überhaupt nicht vorgenommen, und zumindest zum Teil ist es darauf zurückzuführen, daß sich die soziolinguistischen Situationen der Staaten der Welt bzw. die Verteilung der Sprachen in der Welt so sehr unterscheiden. Französisch ist zur Muttersprache der Mehrheit der französischen Nation gemacht worden und soll die Muttersprache aller Franzosen sein. Was bedeutet unter so einer Prämisse aber der Begriff der Muttersprache? Schon von der Gabelentz hat versucht, ihn näher zu bestimmen. „Nun gilt es nur noch, den Ausdruck Muttersprache richtig zu verstehen. Es ist die Sprache und Mundart, die wir als Kinder von den Erwachsenen, die uns umgeben, gehört haben... In den meisten Fällen wird dies nur eine Mundart einer Sprache sein" (1901: 62).

Ebenso wie Sprache kann auch der Ausdruck Muttersprache Verschiedenes bedeuten. Von der Gabelentz bezieht ihn auf eine Mundart als die Varietät, die vom Individuum tatsächlich als erste erlernt wird. Neben dieser plausibel erscheinenden Verwendung des Begriffs gibt es aber auch die Redeweise von der langage

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maternel franqais, der „Muttersprache des Deutschen Volkes" usw., wo er nicht auf das Individuum sondern auf ein Volk bezogen ist. Offensichtlich liegt eine andere Bedeutung des Ausdruckes vor, wenn eine Gruppe, eine ganze Sprachgemeinschaft oder Nation zum Träger der Muttersprache gemacht wird, als wenn von der Varietät die Rede ist, die ein Individuum zunächst in seiner unmittelbaren Umgebung erlernt, eine Bedeutung nämlich, mit der die Gemeinsamkeiten verschiedener Varietäten hervorgehoben werden und das Zusammengehörigkeitsgefühl ihrer Sprecher bzw. das Gefühl sprachlicher Zugehörigkeit gefördert wird. Ideolektale und dialektale Unterschiede treten zugunsten der Identifikation mit einer größeren Gruppe in den Hintergrund. In wieweit das erreicht werden kann, durch Druck oder Überzeugung, kann für die Entwicklung einer Sprache resp. des Verhältnisses verschiedener Varietäten zueinander bestimmend sein. Über das Verhältnis des Tschechischen und Slowakischen zueinander bspw. schrieb 1953 Martinet: „Es ist eher das unterschiedliche Zugehörigkeitsgefühl, das aus Tschechisch und Slowakisch zwei getrennte Sprachen macht, als die tatsächlichen materiellen Unterschiede zwischen den beiden Literatursprachen" (1977: 10). Die Verfassung der Tschechoslowakei von 1920 erklärt, daß es eine tschechoslowakische Sprache gibt, die in zwei Formen existiert, die vor dem Gesetz gleich sind, Tschechisch und Slowakisch. Da diese beiden Formen aber beide geschrieben werden und außerdem von ethnisch und kulturell verschiedenen Bevölkerungsgruppen gesprochen werden, entspricht es dem Bewußtsein der Sprecher trotz weitgehender Interkommunikabilität von Tschechisch und Slowakisch mehr, die beiden Varietäten als zwei Sprachen aufzufassen (Salzmann 1980); und das ist letzten Endes entscheidend. Angesichts solcher Situationen, die davon zeugen, daß rein linguistische Kriterien für die Abgrenzung von Sprachen voneinander und für die Bestimmung des Unterschieds zwischen Sprache und Dialekt nicht ausreichen, hat Heinz Kloss (1952 [1978]) die Begriffe Ausbausprache und Abstandsprache in die Diskussion eingeführt, die vielfach aufgenommen worden sind, obwohl sie einer präzisen Definition ermangeln. Nach Kloss (1967) repräsentiert Slowakisch in seinem Verhältnis zu Tschechisch den Typ der

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Ausbausprache d. h. einer Sprache, die im Laufe der letzten zweihundert Jahre absichtlich umgeformt wurde, um als schriftliches Medium den Ansprüchen literarischer und wissenschaftlicher Kommunikation genügen zu können. Inhaltlich verbinden die Begriffe „Ausbausprache" und „Abstandsprache" linguistische und soziologische Kriterien, wobei der relative Abstand zwischen je zwei Varietäten/Sprachen als Mindestabstand und Höchstabstand linguistisch motiviert ist. Von dieser Begrifflichkeit Gebrauch machende Klassifikationen werden aufgrund folgender kriterieller Fragen vorgenommen: Besteht ein Mindestabstand von der nächstverwandten Sprache, der es gestattet, von einer selbständigen Sprache zu sprechen, falls die soziologischen Voraussetzungen, nämlich die Anwendung in allen oder doch den meisten Kulturbereichen, erfüllt sind? Im Falle einer positiven Beantwortung dieser Frage liegen die Bedingungen für die Existenz oder das Entstehen einer Ausbausprache vor, wie beim Slowakischen gegenüber dem Tschechischen, beim Belorussischen gegenüber dem Russischen oder beim Okzitanischen gegenüber dem Katalanischen. Besteht ein Höchstabstand von der nächstverwandten Sprache, der auch dann von einer selbständigen Sprache zu reden erlauben bzw. zwingen würde, falls keinerlei soziologische Voraussetzungen hierfür gegeben waren? Im Falle einer positiven Beantwortung dieser Frage liegen zwei Abstandsprachen vor, wie z. B. im Falle des Baskischen gegenüber Spanisch, Katalanisch und Französisch. Selbst wenn die Basken bereit wären, ihre Identität aufzugeben und sich an eine der benachbarten Bevölkerungsgruppen anzulehnen, wäre ihre Sprache aufgrund des Abstands dennoch eigenständig.

Der Vorzug von Kloss' Ansatz gegenüber anderen, die Sprachen aufgrund sprachlicher Kriterien allein oder aufgrund gegebener resp. fehlender Interkommunikabilität voneinander abgrenzen zu wollen, ist, daß er die Wichtigkeit nicht-sprachlicher Faktoren uneingeschränkt zugesteht und außerdem auf der Einsicht beruht, daß nicht von Linguisten sondern von der jeweiligen Sprachgemeinschaft entschieden wird, ob ein Dialekt den Status einer Sprache hat bzw. erhält oder nicht. Auch von Kloss wird das fundamentale Problem des sprachlichen Affinitätsgrades, das letz3

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ten Endes in dem Übergang von Mengen kontinuierlicher Idiolekte zu diskreten Einteilungen in verschiedene Sprachen begründet ist, nicht endgültig gelöst. Aber immerhin gibt es einige Hinweise für Kriterien, nach denen sich der relative Abstand verschiedener Varietäten bestimmen läßt. Das gemeinsame Auftreten mindestens zweier der folgenden fünf Merkmale begründet es seiner Auffassung nach, von einer Abstandsprache zu sprechen. (1) Durchgehend anderer Lautbestand in Bezug auf einen sehr großen Teil der Mitlaute; (2) sehr stark divergierender Wortschatz; (3) bei einer der beiden verglichenen Varietäten sehr starke Lehn- und Fremdwort-Einfuhr, die ihr das Gepräge einer Mischsprache gibt; (4) bei einer der beiden Varietäten starke Beeinflussung durch ihr eigentümliche Lehnübersetzungen; (5) bei einer der beiden Varietäten Fortfall des in der anderen erhaltenen Formguts.

Bei der Anwendung dieser Kriterien auf Einzelfälle erweist sich, daß sie noch weiterer Ausarbeitung bedürfen, bevor sie als Grundlage linguistisch sinnvoller und dem Sprachbewußtsein der fraglichen Sprachgemeinschaft(en) gerecht werdender Einteilungen taugen. Im Griechischen etwa ist das Verhältnis von Dhimotiki und Katharevusa zwar durch die Merkmale (2) und (5) gekennzeichnet, aber da zwischen beiden Varietäten eine funktionale Differenzierung besteht, wie sie für Diglossiesituationen typisch ist, wird normalerweise von einer griechischen Sprache gesprochen, was auch dem allgemeinen Sprachbewußtsein der Griechen entspricht. In vielen anderen Fällen ist Kloss' Begrifflichkeit nichtsdestotrotz nützlich. Der von ihm verwendete Terminus „Ausbausprache" verweist auf einen Prozeß, dessen Ergebnis eine voll ausdifferenzierte Sprache ist, die in allen oder doch in fast allen Lebensbereichen den funktionalen Ansprüchen ihrer Sprachgemeinschaft als Kommunikationsmedium genügt. Er verweist auch, zumindest implizit, auf die Wichtigkeit des Bewußtseins und der Einstellung einer Sprachgemeinschaft zu ihrer Sprache bzw. zu ihrem Dialekt. Sie muß zum Ausbau bereit sein. Daran kommt keine Sprachpolitik, die auf die Etablierung einer neuen Sprache gerichtet ist, vorbei. Die sehr

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unterschiedlichen Bedingungen, unter denen das in der jüngeren Vergangenheit gelungen ist, zeugen auch von der Wichtigkeit dieses außersprachlichen Faktors. Sowohl im Finnland des 19. als auch im Israel des 20. Jahrhunderts, um nur zwei prominente Beispiele zu nennen, ist der Sprachausbau gelungen. Die Ausgangsbedingungen könnten verschiedener nicht sein: Im einen Fall ging es darum, aus einer ungeschriebenen Mundart eine Standardsprache zu machen, während im anderen einer nur schriftlich überlieferten klassischen Sprache der Lebensatem der gesprochenen Volkssprache eingehaucht werden sollte. In beiden Fällen war es die positive Einstellung der Bevölkerung, die den Erfolg sicherte. In vielen anderen Fällen haben auf das gleiche Ziel gerichtete Bemühungen bisher nicht zu den gewünschten Ergebnissen geführt, weswegen die fraglichen Varietäten ihren Sprechern sowie anderen Gruppen als bloße Dialekte oder patois gelten, die wesentlicher Attribute vollausgebauter Sprachen ermangeln. Der Ausbau einer Varietät zu einer vollgültigen modernen Standardsprache beinhaltet zwei sprachliche Teilaspekte: 1. die Kodifizierung der Form (Normierung, Standardisierung) und 2. Erweiterung/Differenzierung der Funktion. Die Erfolgsaussichten für diese beiden Prozesse sind gering, wenn sich die fragliche Sprachgemeinschaft nicht auf eine Varietät als Modell für die zu erreichende Norm einigen kann bzw. wenn eine von den Führern getroffene Entscheidung von der Gemeinschaft nicht angenommen wird. Besonders schwierig ist die Lage dort, wo eine Wahl zwischen zwei verschiedenen regionalen Varietäten zu treffen ist. Eine Mundart als Grundlage für die Norm zu wählen, bedeutet, die Gruppe, die diese Mundart als Muttersprache spricht, vorzuziehen, was unter Umständen Widerstand bei anderen Gruppen provoziert. Ein solcher Widerstand korreliert oft mit der relativen Distanz einer Varietät zum Standard. Wie das Beispiel Chinas zeigt, muß das aber nicht der Fall sein. Dort bemühen sich die Sprecher der südlichen, von Putunghua, der chinesischen Standardsprache, weiter entfernten Dialekte oft mehr darum, die Norm richtig zu beherrschen, als die Sprecher der nördlichen Dialekte, die damit rechnen können, sich verständlich machen zu können,

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auch ohne sich der Norm anzupassen. Die Etablierung von Putunghua als Standardsprache ist ein Beispiel auch dafür, daß bei einem solchen Prozeß sowohl regionale als auch soziale Kriterien zum Tragen kommen: Putunghua ist nicht nur eine dem Stadtdialekt von Beijing ähnliche Varietät, sondern auch die kontinuierliche Fortentwicklung des Mandarin, der traditionellen Sprache der chinesischen Machtelite. Wenn es eine Elitevarietät gibt, so ist es stets höchstwahrscheinlich, daß sie es ist, die in einem Standardisierungsprozeß zum Standard erhoben wird, weil das Prestige der jeweiligen Sprechergruppe die beste Voraussetzung für die Durchsetzung einer Vereinheitlichung ist. Es ist auch möglich, daß, wie etwa in Deutschland, wo ein einziges Machtzentrum fehlte, ein regional zentraler Dialekt als Grundlage der Norm gewählt wird, der zwischen extremen Varietäten an der Peripherie eines Sprachgebiets vermittelt. Nicht der Fall ist das natürlich in mehrsprachigen Ländern, in denen keine Sprachgemeinschaft die überwiegende Mehrheit stellt. Da müssen dann entweder mehrere Normen akzeptiert oder eine fremde Norm übernommen werden, wie es in den ehemaligen Kolonien Afrikas der Fall ist. Auf einige jüngst unabhängig gewordene Länder wird gesondert eingegangen. An dieser Stelle sei nur soviel vermerkt, daß die Übernahme der Kolonialsprache oft als Mangel empfunden wird, Mangel nämlich an einer autochthonen Norm, die allgemein oder zumindest von einer einflußreichen Gruppe der Gesellschaft akzeptiert würde, und die allen wesentlichen Anforderungen an eine moderne Nationalsprache gerecht werden könnte. Dieses Akzeptieren von einer Elite und schließlich von der Sprachgemeinschaft als ganzer ist für die Geburt und das Leben einer Standardsprache von entscheidender Bedeutung: Wenn nicht entweder eine prestigereiche Gruppe oder ein sehr großer Teil der Bevölkerung die Norm annimmt bzw. pflegt, hat sie keine Chance, sich durchzusetzen resp. zu erhalten. Die Attraktivität von Standardsprachen liegt in dem gesellschaftlichen Status, den sie symbolisieren. Er ist der Hauptmotor ihrer Verbreitung. Die Möglichkeit der Verbesserung der eigenen sozialen Stellung durch die Sprache liefert eine starke Motivation, sie zu lernen und zu benutzen. Es ist natürlich denkbar, daß sozialer Status nicht sprachlich, sondern

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durch andere Kriterien bestimmt wird. In modernen Gesellschaften spielt die Beherrschung der Standardsprache dabei aber typischerweise eine wichtige Rolle, was ihrer Verbreitung natürlich förderlich ist. Sprachen, denen von ihren Sprechern und den Mitgliedern anderer Sprachgemeinschaften der Status vollgültiger Standardsprachen im Gegensatz zu Dialekten zuerkannt wird, unterscheiden sich auf charakteristische Weise nicht nur hinsichtlich ihrer strukturellen Eigenheiten, sondern auch bezüglich ihres soziolinguistischen Profils, da die Kommunikationsstrukturen verschiedener Gesellschaften gemäß ihrem relativen Entwicklungsniveau unterschiedliche funktionale Ansprüche an die Sprache stellen. Hinzu kommt, daß die Standardisiertheit, die ein wichtiges Attribut vollausgebauter Sprachen ist, eine graduelle Eigenschaft ist. Ferguson (1962) hat eine Klassifikation für Sprachen vorgeschlagen, die nach zwei funktionalen Kriterien dimensioniert ist: 1. der Grad der Standardisierung (St 0, St l, St 2) und 2. der Schriftgebrauch (W 0, W l, W 2, W 3). Der niedrigste Grad, 0, charakterisiert Sprachen, die nicht in schriftlicher Form verwendet werden und nicht standardisiert sind. Das ist zweifellos die Mehrheit aller Sprachen. Den Standardisierungsgrad St l haben alle die Sprachen, die in verschiedenen Varietäten standardisiert sind wie z. B. Dhimotiki und Katharevusa im Griechischen. St 2 hingegen steht für eine einheitliche, weithin akzeptierte Norm. Beim Schriftgebrauch unterscheidet Ferguson drei Stufen, W l, die schriftliche Kommunikation für normale Zwecke wie persönliche Briefe, Zeitung, schöne Literatur usw., W 2, den Schriftgebrauch in naturwissenschaftlichen Zusammenhängen und W 3, die Übersetzung wissenschaftlicher Schriften aus anderen Sprachen. Das funktionale Kriterium der Schriftlichkeit wird also weiter differenziert nach den Kommunikationsdomänen, in denen von einer Sprache in schriftlicher Form Gebrauch gemacht wird. Die Auswahl der Kommunikationsdomänen ist nicht zufällig, denn für eine effektive Kommunikation im wissenschaftlichen Bereich sind die ausdifferenziertesten Terminologien und der höchste Grad der Übereinstimmung bezüglich ihres Gebrauchs erforderlich. Mit Fergusons Einteilung lassen sich kritische Unterschiede zwischen

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Sprachen darstellen, die unterschiedliche Entwicklungsniveaus ihrer jeweiligen Gesellschaften reflektieren und die Funktionen, die sie in ihnen erfüllen. Die Kennzeichnung St 2/W 3 trifft nur auf sehr wenige Sprachen zu, die mehrheitlich die hochentwickelten Kultursprachen Europas sind. Sie werden allen Kommunikationsanforderungen des modernen Lebens gerecht und umfassen ein breites Spektrum formeller und informeller Stile, regionaler Akzente, funktionsspezifischer Stile und Fachsprachen. Da diese verschiedenen Varietäten funktional spezialisiert sind und nicht allzu sehr vom Standard abweichen, der sie alle überdacht, ist es sinnvoll von einer Sprache zu reden. Eine derartige Funktionsvielfalt und gesellschaftsweite Verbreitung von einer oder allenfalls zweier Standardsprachen ist das Privileg (wenn es eins ist) der westlichen Welt. Die Sprachenvielfalt und die historischen Voraussetzungen haben in den meisten anderen Teilen der Welt bisher keine ähnlich hoch entwickelte linguistische Uniformierung zugelassen. In vielen Ländern werden verschiedene Kommunikationsfunktionen in verschiedenen Sprachen erfüllt und daneben gibt es rivalisierende Normen für ein und dieselbe Kommunikationsfunktion. Es gibt Sprachen sehr unterschiedlicher Entwicklungsniveaus und sehr unterschiedlicher funktionaler Reichweite. Entsprechend variieren auch die soziolinguistischen Situationen, die man in den verschiedenen Staaten der Welt vorfindet, über ein breites Spektrum. In Anlehnung an Rustow (1968: 97ff.) lassen sich sechs Typen soziolinguistischer Situationen unterscheiden: 1. Eine Standardsprache ist im ganzen Land vorherrschend wie Französisch in Frankreich oder Japanisch in Japan. Ohne daß diese Länder und andere desselben Typs im strengen Sinne einsprachig wären, ist doch die nationale Standardsprache in allen wesentlichen Kommunikationsdomänen unangefochten dominant. Diese Sprache ist ein wichtiges Symbol der Nationalität (s.u. Kap.II). 2. Eine Sprache dominiert in mehreren benachbarten Ländern wie Spanisch in Lateinamerika oder Arabisch im Nahen Osten und Nordafrika, zwischen denen daher besonders intensive und sehr spezielle Beziehungen bestehen. Sie sind weniger stark voneinander abgegrenzt als Länder verschiedener Sprachen.

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3. Mehrere verwandte Sprachen sind in einem Land vorherrschend, deren eine die Funktion der offiziellen Sprache erfüllt. Indonesien exemplifiziert diesen Typ, wo aus der großen malaiischen Sprachfamilie Bahasa Indonisia ausgewählt und zur Nationalsprache ausgebaut wurde. Da diese Sprache schon vorher als Handelssprache weitverbreitet war, sind die Aussichten ihrer Adaption als Nationalsprache durch die Bevölkerung gut (s.u. Kap. VIII). 4. Von mehreren verschiedenen Sprachen, die in Gebrauch sind, verfügt nur eine über eine substanzielle Schrifttradition, wie bspw. das Arabische gegenüber den Berbersprachen in Marokko oder Spanisch gegenüber Quechua, Aymara und anderen autochthonen Sprachen in Bolivien. Situationen dieses Typs sind oft repressiv und tendieren zur politisch angestrebten oder durch die Macht der Umstände herbeigeführten Assimilation der Sprachgemeinschaften ohne Schrifttradition. 5. Die Bevölkerung eines Landes setzt sich aus mehreren Sprachgemeinschaften nicht verwandter Sprachen, die alle keine Schrifttradition haben, zusammen. Manche postkolonialen Länder Afrikas exemplifizieren diese Situation, in der es besonders schwierig ist, die Sprache der ehemaligen Kolonialherren durch eine einheimische zu ersetzen (s.u. Kap.IV). 6. In einem Land werden mehrere nichtverwandte Sprachen gesprochen, die alle über ihre je eigene Schrifttradition verfügen. Indien, Malaisia und Sri Lanka sind Beispiele dieses Typs, der Situationen kennzeichnet, in denen Sprachkonflikte mit besonderer Härte ausgetragen werden und sich oft als die nationale Integration gefährdende, kaum zu lösende Probleme darstellen (s.u. Kap. VI). Das Verhältnis von Sprache und Staat, das verdeutlicht diese Typologie, ist durch eine große Vielfalt möglicher Konfigurationen gekennzeichnet, durch die die Rahmenbedingungen sehr unterschiedlicher politischer Haltungen zu Fragen der Sprache abgesteckt sind. Die Attraktivität des europäischen Modells des Typs l auch in Regionen, wo dessen Bedingungen nicht gegeben sind, ist dabei freilich nicht zu übersehen. Und darin ist der Grund dafür zu

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sehen, daß ein sehr spezifisches politisches Verhältnis zur Sprache fast überall in der Welt anzutreffen ist: die wie ein Thema mit diversen Variationen gespielte Verquickung von Sprache und Nationalismus.

II. Ideologisierung und politische Instrumentalisierung der Sprache ... und es ist uns seitdem häufig wiederholt worden, daß, wenn auch unsere politische Selbständigkeit verloren sey, wir dennoch unsere Sprache behielten und unsere Literatur, und in diesen immer eine Nation blieben ... Wie es ohne Zweifel wahr ist, daß allenthalben, wo eine besondere Sprache angetroffen wird, auch eine besondere Nation vorhanden ist, die das Recht hat, selbständig ihre Angelegenheiten zu besorgen und sich selber zu regieren. (J. G. Fichte, Reden an die deutsche Nation, Zwölfte Rede.)

Sprache und Nationalismus Seit der französischen Revolution ist der Zusammenhang zwischen Sprache und Nation zu einem wichtigen Ideologen! geworden. Eugen Lemberg schreibt in seinem zweibändigen Werk über Nationalismus (1964), die modernen europäischen Nationen, die nach der französischen Revolution entstanden, erwachten als Gemeinschaften der Sprache. Mit seiner Kritik an der von ihm so gescholtenen Gallomanie des deutschen Adels hatte Herder dieser Ideologie in Deutschland den Boden bereitet. In seinen berühmten „Briefen zu Beförderung der Humanität" spielt das Thema „Sprache und Nation" immer wieder eine wichtige Rolle, immer wieder polemisiert er gegen die Geringschätzung der eigenen Sprache: „Eine Nation, die ihre eigene Sprache weder kennet noch liebt und ehret, habe sich ihrer Zunge und ihres Gehirns, d. i. ihres Organs zur eigenen Ausbildung und zur edelsten Nationallehre selbst beraubt." (Zehnte Sammlung 116)

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Zwar war Herder keineswegs der einzige, noch der erste, der die Sprache als ein Stück nationaler Identität, ja als „Organ" der Nationenbildung thematisierte, aber zweifellos verlieh er diesem Thema zu seiner Zeit am beredtesten Ausdruck. Wilhelm von Humboldt führte Herders Gedanken weiter und verallgemeinerte sie. In seinen Schriften zur Sprache betonte er immer wieder die Besonderheit jeder Einzelsprache und stellte Zusammenhänge zwischen den Einzelsprachen und den Völkern, die sie sprechen, her. In seinem Aufsatz „Latium und Hellas" von 1806 bezeichnet er die Sprache als „Seele der Nation", die wie nichts anderes die Besonderheiten, den Charakter der Nation zum Ausdruck bringt und verkörpert. Damit hebt er sie über die bloße Instrumentalität hinaus und läßt ihren Charakter als Symbol einer Gemeinschaft hervortreten. Ein weithergeholter Gedanke war das gewiß nicht, denn wenn man sich überlegt, was Bestand hat, was die Existenz einer Nation in der Geschichte verewigt, so spielen sprachliche Zeugnisse gewiß eine wichtige Rolle. Aber unter Humboldts Hand wurde die Sprache gewissermaßen zum entscheidenden Kriterium der Nation erhoben. Im Europa nach der französischen Revolution fiel diese Sicht der Dinge auf fruchtbaren Boden, denn Symbole der Eigenständigkeit, Einheit und Besonderheit waren bei den Ländern, die von Napoleon mit Krieg überzogen wurden, sehr gefragt. Vor allem die deutschen Königreiche und Fürstentümer lehnten sich im Zuge der Befreiungskriege, die 1814/15 zum Zusammenbruch der neuen, von Napoleon etablierten europäischen Ordnung führten, gegen die dominierende Rolle der französischen Kultur und Sprache in ihren eigenen Ländern auf. Herder hatte dafür das ideologische Fundament schon gelegt. In der vierten Sammlung der schon zitierten „Briefe zu Beförderung der Humanität" ging er die Ursachen der Dominanz der französischen Kultur und Sprache bei den deutschen Machteliten zwar ironisch aber in vollem Ernst an: Woher nun der französische Nachahmungsgeist, der, unserem Nationalcharakter ganz entgegen, dennoch so fürchterlich Überhand genommen hat? Im engsten Vertrauen will ich Ihnen einen französischen Club entdekken, der über hundert Jahre bereits in Deutschland existiert und alles dieses bewirkt hat. Als der dreißigjährige Krieg sich mit dem Westphälischen Frieden endigte

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und darauf das glänzende Jahrhundert Ludwigs 14. eintrat; da wars, da schuf sich allmählich ein Deutsches Frankreich, oder ein französisches Deutschland. Die Souverains errichteten kleine Versaillerhöfe, DianenTempelchen zum Nachbilde des Tempels der großen Göttin Diana; und hier wurde die französische Sprache, hier wurden französische Sitten, das Etiquette des Heiligthums. Aus Fürstlichen Gnaden waren Altesses Serenissimes geworden; aus fürstlichen Junkern und Fräuleins wurden Princes et Princesses, aus Edelknaben Pages, aus Kammerfräulein Dames d'honneur, aus Edelleuten Cavaliere, aus Deutschen Gesellschaften assemblees et cercles. Deutschland bekam eine Noblesse! eine Noblesse, deren Blühte darin ausging, daß sie ihrer Geburt wegen ein von der Deutschen Nation geschiedenes corps französischer Undeutschen seyn müßte. Mit wem man bei Hofe Deutsch sprach, wenn er auch die wichtigsten Stellen des Landes verwaltete, war domestique; wer mit Deutschen Ahnen seine devoirs französisch erfüllte, der hatte die zwei größten Vollkommenheiten, die ein Sterblicher haben konnte, naissance et qualites... Was diese arme Thorheit unserem Lande für Schaden gebracht hat, ist unsäglich. Nicht nur wurde damit der Erziehung der sogenannten oberen Stände die niedrigste, Seelenloseste, flachste von allen. Man lernte chere mere et chere soeur sagen und die Regeln der Conversation beobachten; da aber ins Deutsche Hirn selten ein Hauch von französischem Geist ging, da man die Bücher, die für eine fremde Nation nach ihren Verhältnissen, ihrem Ton, ihren Fähigkeiten geschrieben waren, meistens nicht verstand, noch weniger außer Frankreich anwenden konnte: so blieb nichts als der platteste Mißbrauch ihrer Formeln übrig... Das dicke Deutsche Gehirn ward ausgespült; mit dem angebohrnen, natürlichen Ausdruck seiner Empfindungen, mit der Sprache seiner Welt war dem in einer fremden Sprache Lallenden sein letzter gesunder Verstand, sein Interesse und alle Herzlichkeit und Originalität genommen. (Vierte Sammlung 43) In einer fremden Sprache zu lallen, waren die Intellektuellen in Deutschland zwar schon lange nicht mehr zufrieden, aber zu einem nationalen Anliegen wurde die Besinnung auf den Wert der deutschen Sprache erst, als der Nationalismus in Deutschland durch den in den Revolutionskriegen nach außen getragenen französischen Nationalismus angefacht wurde. Dieser deutsche, besser gesagt: europäische Nationalismus war ursprünglich eine emanzipatorische, antidiskriminatorische Bewegung. Emanzipation nämlich nicht nur von der Herrschaft der französischen Truppen, sondern auch von den französisierten eigenen Eliten, gegen die, wie gesagt, vor allem die geistigen Eliten polemisierten. Durch ihr

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Wirken wurde Sprache zu einem Politikum. Nationalismus steht so gesehen neben Reformation und Aufklärung als eine ursprünglich progressive Emanzipationsbewegung. Scheinbar ganz unvermittelt gegenüber stehen dem die Konnotationen, die heute mit dem Begriff Nationalismus verbunden sind — irrationale, chauvinistische Tendenzen, die Gefühlen mehr als nüchternen Gedanken das Feld politischer Philosophien überlassen. Allerdings sind die schrillen Töne des chauvinistischen Nationalismus auch schon Anfang des neunzehnten Jahrhunderts hörbar, vor allem in dem nach Einung strebenden Deutschland. Wenn man sich das Verhältnis Deutschlands zu Frankreich in der Zeit um die Französische Revolution betrachtet, erkennt man eine Ähnlichkeit zu dem Verhältnis zwischen unterdrückten Nationen in Mittel-, Ost- und Südeuropa zu Deutschland, Österreich-Ungarn und Russland in der Zeit nach dem Wiener Kongreß oder auch zu dem gegenwärtigen Verhältnis mancher afrikanischer und asiatischer Staaten gegenüber dem Westen: eine Situation wirtschaftlicher, politischer und kultureller Abhängigkeit, die dadurch gekennzeichnet ist, daß in den abhängigen Ländern die Sprache der Herrschenden nicht die Sprache der Beherrschten ist und dieser Unterschied von den Herrschenden zur Konsolidierung bzw. Verteidigung ihrer Macht benutzt wird. Dabei sind es typischerweise die Eliten der abhängigen Länder selber, die für die Sprache der jeweils dominierenden Macht optieren: Frankreich hat den deutschen Höfen die französische Sprache nicht aufgezwungen. Vielmehr war es das Prestige und die Macht des Sonnenkönigs, das auf die französische Sprache abfärbte, und die deutschen Machteliten gewissermaßen korrumpierte. Ähnlich verhielt es sich in den nichtdeutschsprachigen Gebieten der Doppelmonarchie: Deutsch war die Sprache der Macht in Wien, und der Aufstieg in der Machthierarchie setzte die Beherrschung dieser Sprache voraus, auch für Serben, Tschechen, Slovaken und andere Völker der Donaumonarchie. Die Forderung nach Bildung und Erziehung in der Sprache der Macht kommt in der Regel von der Oberschicht in Abhängigkeit geratener Länder, die anpassungswillig sind (Alisjahbana 1984), die Überlegenheit der fremden Kultur akzeptieren und die dann von den Usurpatoren als Statthalter kooptiert werden. Darin

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ist auch einer der Gründe dafür zu sehen, daß so große Kolonialreiche entstehen konnten: Die gehobenen Schichten kolonialisierter Länder kooperierten mit den Kolonisatoren — oft mehr volens als nolens — und durch ihre Anpassung verhalfen sie der fremden Sprache der fremden Macht in ihren Ländern zu Prestige und benutzten sie ebenso wie die Kolonialherren zur Konsolidierung ihrer Macht. Die Forderung nach westlicher Erziehung in Indien beispielsweise wurde primär von der indischen Führungsschicht erhoben, und Englisch ist in Indien noch heute, 35 Jahre nach der Unabhängigkeit, die Sprache mit dem größten Prestige, die den Herrschenden als Instrument der sozialen Kontrolle dient - auch gegen den Willen mancher Politiker (Khubchandani 1981; s.u. Kap. VI). Das Gewicht, das Staaten politisch und wirtschaftlich in die Waagschale zu werfen haben, färbt auf deren Sprachen ab, so war es jedenfalls bei den großen europäischen Kolonialmächten, aber auch bei den Arabern, die ihre Sprache im Zuge der Ausbreitung des Islam bis nach Indien und zum malaiischen Archipel trugen. Gegen solche Nationen und Staaten übergreifende Tendenzen der sprachlichen Unifizierung kommt es oft zu gegenläufigen Bewegungen, die dafür stehen, das gesunkene Prestige von den eigenen Machteliten selbst diskriminierter autochthoner Sprachen wieder zu heben, diese Sprachen zum Symbol der Identität eines Volkes oder einer Nation zu machen und mit der fremden Sprache, derer sich die Machtelite bedient, die Fremdherrschaft abzuschütteln. Der europäische Nationalismus des 19. Jahrhunderts zeigt überall solche Neigungen, aus denen das Konzept des Nationalstaats erwachsen ist, des Staats also für eine Nation. Politische Motive unterliegen diesem Konzept allemal, und sie werden von verschiedenster Seite ausgenutzt und ausgedeutet. Napoleon etwa, dessen Feldzüge die ganze politische Ordnung Europas umwälzten, machte sich dieses Ideologem in seiner Auseinandersetzung mit der Habsburger Monarchie zunutze, indem er versuchte, einen Keil zwischen Österreich und Ungarn zu treiben, dadurch, daß er Ungarn dazu aufrief, sich auf seine eigene Nationalität zu besinnen. In einer Proklamation 1809 schrieb er:

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„Ihr habt nationale Sitten und eine nationale Sprache; ihr rühmt euch einer langen und illustren Vergangenheit; besinnt euch wieder auf eure Existenz als Nation. Nehmt euch einen König eurer Wahl, der für euch regieren wird und in eurer Mitte lebt. Versammelt euch also in einer Nationalversammlung, wie es eure Vorfahren taten (zit. nach Kedourie 1960: 94)."

Der agitatorische Zweck dieser Worte liegt offen zutage; gewiß wußte Bonaparte genau, auf welchem Klavier er spielte und welche Akkorde es anzuschlagen galt: die nationalen Sitten, die nationale Sprache und die lange Vergangenheit. Genau diese Elemente sind es, auf die nationalistische Bewegungen ihre Legitimation aufbauen. Die Orientierung an der Vergangenheit um der Zukunft eine Richtung zu geben. Diese Orientierung an der Vergangenheit impliziert nicht unbedingt ideologischen Konservatismus, und typischerweise ist sie äußerst selektiv und hebt eben die Aspekte der Vergangenheit hervor, die dem Zweck der nationalen Einheit dienlich sind. Die Diaspora beispielsweise ist ein Stück jüdischer Geschichte, aber die Legitimation israelischen Nationalismus greift auf die Geschichte vor der Diaspora zurück. Einheit und Historität wird dadurch gestiftet, nicht konstatiert. Rumänische Nationalisten im 19. Jahrhundert, um ein anderes Beispiel zu nennen, besannen sich auf die römische Kolonie Dacia, die vom Jahre 107 bis 270 unserer Zeitrechnung unter römischer Kontrolle stand, und gaben der gesamten polyglotten Region, die sie vor sich hatten, diese Kolonie als gemeinsame Vergangenheit. Eine Vergangenheit wird also partiell rekonstruiert, um die Gegenwart als rationale Fortsetzung erscheinen zu lassen und einer Nation die Rolle des bewußt handelnden Subjekts der Geschichte zu geben. Die in der Vergangenheit begründete Authentizität wird von nationalistischen Bewegungen betont, um das Ziel der Einigkeit und Unabhängigkeit zu legitimieren. Das Junktim zwischen Sprache und Nationalität war besonders naheliegend für große Völker, die politisch geteilt waren und nach Einheit strebten. Die französischen Revolutionskriege und die wirtschaftlich-soziale Umwälzung im Zuge der industriellen Revolution schufen dafür in Europa die Voraussetzungen. Vor allem Deutschland und Italien und später auch die osteuropäischen Länder benutzten die Sprache als ideologisches Vehikel der

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politischen Einigung. Die Sprache definierte die Zugehörigkeit zur Nation und die Nation war die natürliche Grundlage des Staates. Die Idee des Nationalstaats begründet den Anspruch einer Nation auf einen unabhängigen Staat. Zu der Verquickung von Sprache und Nationalismus in Europa hat die Sprachwissenschaft ihren eigenen Beitrag geleistet. Seit dem sechzehnten Jahrhundert entstanden diverse Theorien, die die Überlegenheit einzelner Sprachen (vornehmlich der Französischen, der Italienischen (Toskanisch) und der Deutschen) über andere hauptsächlich durch deren vermeintlich besonders nahe Verwandtschaft mit den heiligen Sprachen — also Hebräisch und Griechisch, weniger Latein — nachzuweisen versuchten. Auf diese Weise wurden Reflexionen über die Sprache im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert in Frankreich (vgl. Calvet 1974, Kap. I) und im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert in Deutschland zum Bestandteil nationalistischer Bestrebungen. Sowohl in Deutschland als auch in Italien waren es antifranzösische Gefühle, die der Nationalstaatsideologie im 18. Jahrhundert zur Dominanz verhalfen, und in beiden Fällen wurde die Sprache mit zum Träger dieser Ideologie, weil sie das deutlichste und mächtigste Symbolsystem ist, das Gruppenzugehörigkeit nach außen anzeigt und nach innen schafft. Speziell in Deutschland wurde der Nationalstaatsgedanke gegen die rationalistischen Gesellschafts- und Staatstheorien Englands und Frankreichs gepflegt, die als mechanistische Notlösungen und Resultat des Gemischs ihrer Bevölkerungen lächerlich gemacht wurden. Entgegengehalten wurde ihnen die Einheit von Volk, Nation und Staat, die sehr wesentlich durch die Sprache symbolisiert wurde. Die der Nationalstaatsphilosophie innewohnende Problematik und Gefahr exemplifiziert die deutsche Geschichte beispielhaft. Denn als es schließlich zu einem geeinten Deutschland unter preußischer Führung kam, war dies keineswegs der lange prophezeite und ersehnte Nationalstaat. Vielmehr schloß er einerseits nicht-deutsche Bevölkerungsteile ein (Elsässer beispielsweise und Lothringer, Dänen und Polen) und schloß andererseits keineswegs alle Deutschen bzw. Deutschsprachigen zu einer nationalstaatlichen Einheit zusammen. Insbesondere blieb die deutschsprachige Bevölkerung unter Habsburgischer

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Herrschaft außerhalb des deutschen Staatsverbandes sowie zahlreiche kleinere Gruppen, die im Osten Europas zwischen zunehmend selbst nationalistisch werdenden slawischen Völkern lebten. Die daraus sich ergebenden Spannungen trugen letzten Endes wesentlich zu den Katastrophen bei, die sich in diesem Jahrhundert ereignen sollten. Die in der Nazizeit ertönenden Rufe, „Heim ins Reich", die den Anschluß Österreichs und der Tschechoslowakei begleiteten und selbst an die deutsche Schweiz gerichtet wurden, sind das letzte lautstarke Echo der Nationalstaatsphilosophie des 18./l9. Jahrhunderts und der falschverstandenen und überzogen interpretierten Humboldtschen Sprachphilosophie. Freilich ist die ideologische Verbindung von Sprache und Nation bzw. Staat älter. Heinrich IV. von Frankreich argumentierte schon 1631 bei der Aneignung neuer Provinzen so: „Wenn er von Natur die französische Sprache spricht, so ist es sinnvoll, daß er ein Untertan des französischen Königs sei. Ich stimme zu, daß die spanische Sprache dem Spanier und die deutsche dem Deutschen gehören. Aber das ganze Gebiet der französischen Sprache muß mir gehören" (zit. nach Fishman 1972a: 1).

Die Verbreitung einer Sprache wird also schon Anfang des 17. Jahrhunderts zitiert, um einen politischen Anspruch zu legitimieren. Nationalistische Bewegungen, die es unter den gegebenen demographischen Voraussetzungen können, machen sie sich zu eigen: die Deutschen und die Italiener, die nach Einheit streben, die Griechen, die sich Anfang des 19. Jahrhunderts von türkischer Herrschaft befreien und später die osteuropäischen Länder: Ungarn, Polen, Rumänien, Ukraine, Norwegen, die Ostseeländer usw. Von außen betrachtet nehmen sich all diese Bewegungen provinzialistisch und borniert aus. Warum schließlich sollte man nicht die jeweilige kulturelle Überlegenheit einer Nation akzeptieren und an der Hochkultur partizipieren? So berechtigt diese Frage erscheint, die im 19. Jahrhundert so brisant war, es aber heute, wenn auch in anderen Regionen der Welt, nicht minder ist, so darf man doch nicht übersehen, daß die verschiedenen europäischen Sprachbewegungen des 19. Jahrhunderts (vgl. Kloss 1952) nicht nur aus einem engstirnigen Nationalismus heraus entstanden, sondern auch von emanzipatorischen Idealen getragen waren, vor allem von dem

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Wunsch der Vereinheitlichung der Sprache der Bildung für alle Schichten. Allerdings übertönten die schrillen Töne der Xenophobie und der sturen Urtümelei nur zu oft die demokratischen Klänge der Hymnen, die mit dem Ziel der Etablierung neuer Nationalsprachen angestimmt wurden. Die Schriften des Nationalisten Ernst Moritz Arndt sind dafür ein illustres Beispiel. 1814, als die napoleonische Ordnung zusammengebrochen war, schrieb er, der damals Privatsekretär des Freiherrn vom Stein war, im Rheinischen Merkur den geistreichen Vers: Und wo der Teutschen Sprache Laute tönen, Erblühe nur ein Reich des Kräftigen und Schönen.

In seinen „Schriften für und an seine lieben Deutschen" appellierte Arndt — unverdrossen trotz seines nur drittrangigen poetischen Talents - an seine Landsleute, oder besser gesagt, Kompatrioten, ihr „heiligstes Heiligtum", die deutsche Sprache eben, zu ehren. Auch er sah in der Sprache einen Hebel zur Konstituierung politischer Einheit für die deutsche Nation, ein Anliegen, das er freilich auf weit niedrigerem Niveau als Herder der Öffentlichkeit vortrug. 1813 bedichtete er des Deutschen Vaterland: Was ist des Deutschen Vaterland? So nenne endlich mir das Land! So weit die deutsche Zunge klingt Und Gott im Himmel Lieder singt Das soll es sein, das soll es sein Das, wackrer Deutscher, nenne dein

(Arndt 1845) Arndt sah sehr klar, daß die innerdeutschen Differenzen am besten durch die Opposition gegen einen gemeinsamen Feind überwunden werden konnten, weswegen er nicht nur den Kosmopolitismus verdammte, sondern auch unverhohlen Haß gegen die Franzosen predigte. Dem Adel hält er wie vor ihm Herder seine Gallomanie vor und warnt vor dessen Folgen. „Wenn ein Volk so thöricht und unglücklich ist, daß es eine fremde Sprache gar zu seiner vornehmen und gleichsam adlichen Sprache macht und alles, was es künftig leiten und regieren soll, von Kind auf in dieser fremden 4

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Sprache unterweisen und bilden läßt, so weiß es nicht mehr, wo der Geist seines Lebens niedergelegt ist... es hat Lust zu vergehen und unterjocht zu werden" (Arndt 1845: 386). Das übergeordnete Ziel seiner agitatorischen Bemühungen formuliert Arndt ganz offen: „Man sieht jetzt wohin ich will. Ich will die Übung und den Gebrauch der französischen Sprache in Deutschland abgeschafft wissen" (op. cit. 390). Und damit sprach er vielen Deutschen, die für Deutschland eine andere Bestimmung sahen, als die, Frankreich zu kopieren, aus der Seele. Arndt artikulierte den Geist der Zeit. Was sechzig Jahre später Hermann Riegel, Kunsthistoriker und Gründer des „Allgemeinen Deutschen Sprachvereins" formulierte, klingt wie ein Echo auf seine Beschwörungen: Wie den Boden ihr gereinigt von dem alten bösen Feind, der die Väter arg gepeinigt, daß sie Thränen viel geweint: Also reinigt auch die Sprache von dem fremden Quatsch und Tand, haltet auch hier treue Wache und sprecht deutsch im deutschen Land. (Riegel 1885: 47)

Die Reichseinigung war, wenn auch nur in der kleindeutschen Version erreicht, die deutsche Nation hatte einen verfaßten Staat und eine Nationalsprache. Jetzt galt es, dieselbe konsequent zu benutzen und zu pflegen. Riegel brauchte nicht mehr wie Arndt den Verzicht auf den Gebrauch anderer Sprachen resp. des Französischen zu fordern, sondern lediglich die Reinhaltung der deutschen Sprache und ihre Befreiung von fremdländischem Tand. Diese Art von Purismus ist ein Leitmotiv, das die Instrumentalisierung der Sprache für nationalistische Zwecke begleitet und das man in den verschiedensten Kontexten antrifft (Havränek 1936). In Zeiten politischer oder kriegerischer Auseinandersetzungen finden die Prediger des Sprachpurismus bzw. der Sprachsäuberung besonderen Anklang. 1917 erschien Eduard Engels patriotische Schrift mit dem militärisch knappen Titel „Sprich Deutsch!" die im Untertitel als „Hilfsdienst am Vaterland" ausgewiesen wurde. Von demselben Verfasser wurde 1918 „für jeden, der fortan reines

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Deutsch sprechen und schreiben will", das „Verdeutschungswörterbuch für Amt, Schule, Haus, Leben" veröffentlicht, dem dieser den unmißverständlichen Titel „Entwelschung" gab. Es richtete sich in erster Linie gegen den französischen Lehnwortbestand im Deutschen, aber das „Leierkastenitalienisch", das „Stallknechtenglisch" und das „Apothekergriechisch" kommen im Wörterbuch nicht besser weg. Für „Konzert" sollen „gebildete Deutsche, die guten Willens zur deutschen Sprache sind", „Musikabend" sagen, für „Pessimist" „Weltschmerzler", für „Inflation" „Papierwirtschaft" und für „Watercloset" „Spülsitz", etc., etc. Deutschland war im „Weltkrieg ums deutsche Dasein", wie es in der Angabe des Erscheinungsjahrs von „Sprich Deutsch!" heißt, und das sicherte den Werken von Professor Engel großen Absatz - der Lexikologe war zum Sachwalter nationaler Interessen avanciert. In Italien, das ebenso wie Deutschland erst spät nationale Einigung ereichte, nahm die ideologische Verquickung von Sprache und Politik die Form des sogenannten Irredentismus an. Nach der Einigung Italiens 1866 blieben italienischsprachige Gebiete außerhalb des italienischen Staatsverbandes unter Österreich-ungarischer Herrschaft. Diese Gebiete wurden als terra irredenta, als nichterlöstes Land bezeichnet, deren Bewohner den Anschluß anstrebten — eine Nation, eine Sprache, ein Staat. Tatsächlich ist der Nationalstaat, der sich über Sprache definiert, eine Fiktion, ein ideologisches Konstrukt, das poltischen Opportunitäten dient. Solange es terra irredenta gab, wurde in Italien der Irredentismus gepflegt. Als sich aber die dem verallgemeinerbaren Grundgedanken des irredentismus kraß zuwiderlaufende Möglichkeit der Annektierung Südtirols mit seiner mehrheitlich nichtitalienischsprachigen Bevölkerung bot, zögerte die italienische Regierung nicht. Italien erhielt Südtirol als Preis dafür, an der Seite der Entente in den ersten Weltkrieg einzutreten; die terra irredenta waren vergessen. Der Fall Südtirols illustriert aufs Deutlichste, daß das Prinzip der Einheit von Sprachraum und Nation da zur politischen Instrumentalisierung der Sprache herangezogen wird, wo außerhalb der Staatsgrenzen Teile der dominanten Sprachgemeinschaft leben, nicht aber dort, wo es implizieren würde, auf Teile des Staatsgebiets zu verzichten. Die Provinz Bozen ist und war in noch

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stärkerem Maße zum Zeitpunkt der Annexion mehrheitlich deutschsprachig. Dessen ungeachtet betrieb die italienische Regierung eine entschlossene Italienisierungspolitik durch forcierte italienische Einwanderung in die Provinz und aktive Unterdrückung der deutschen Sprache. Schließlich wurden die so gewaltsam geschaffenen Fakten auch von der deutschen Regierung anerkannt. Im Stahlpakt von 1939 vereinbarten die beiden faschistischen Regierungen eine Umsiedlungsaktion, durch die deutschsprachige Südtiroler ins Reichsgebiet gebracht werden sollten, denn die Logik des Nationalismus europäischer Prägung impliziert, wie Minogue (1967: 127) feststellt, massive Umsiedlungen von Bevölkerungen. Dieser Vereinbarung folgten nur in sehr geringem Umfang Maßnahmen für ihre Realisierung. Daß sie überhaupt getroffen wurde, zeigt, daß sich auch die, die offensichtlich dagegen verstoßen, der Ideologie des Sprachnationalismus verpflichtet fühlen. Interessant ist, daß die Idee des Nationalstaats, eben des Staats einer Nation, gepflegt wird und wurde, obwohl eigentlich immer offensichtlich war, daß sie kaum realisiert und realisierbar war. Es stellt sich also die Frage, ob unter dem Etikett des Nationalstaats nicht immer oder vorwiegend die Staatsnation verkauft wird. Gewiß ist, daß der Nationalstaat in reiner Form fast nicht vorkommt. Dies kann man leicht erkennen, wenn man sich die Situation in Europa vergegenwärtigt, der Heimat der Nationalstaatsphilosophie: Von den 34 Staaten Europas haben lediglich 10 keine Volksgruppen d. h. nationale Minderheiten, die in engen sozialen Beziehungen zu einem oder mehreren Fremdvölkern — im Gegensatz zum Mehrheitsvolk des eigenen Landes — stehen. Diese 10 Länder sind, was nicht überrascht, die kleinsten Europas. Das Handbuch der europäischen Volksgruppen, das 1970 im Auftrag der 1949 gegründeten Föderalistischen Union Europäischer Volksgruppen (FUEV) herausgegeben wurde (Straka 1970), macht folgende Angaben.

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Europäische Staaten — mit keiner Volksgruppe:

- mit einer Volksgruppe:

— mit zwei Volksgruppen:

— mit drei Volksgruppen:

— mit vier Volksgruppen:

— mit fünf Volksgruppen:

mit mehr als fünf Volksgruppen:

Andorra, Liechtenstein, Monaco, San Marino, Vatikanstadt, Irland, Island, Luxemburg, Malta, Portugal. DDR (Sorben), Niederlande (Westfriesen), Norwegen (Samen), Schweiz (Rätoromanen). Bulgarien (Mazedonier, Türken), Dänemark (Deutsche, Fähringer), BRD (Nordfriesen, Dänen), Schweden (Finnen, Samen). Albanien (Slawen, Griechen, Aromunen), Belgien (Wallonen, Deutsche, Francophone in Flandern), Finnland (Samen, Esten, Schweden), Österreich (Kroaten, Magyaren, Slowenen), Spanien (Basken, Galizier, Katalanen). Griechenland (Albaner, Aromunen, Bulgaren, Türken), Tschechoslowakei (Deutsche, Magyaren, Polen, Ukrainer), Ungarn (Deutsche, Kroaten, Rumänen, Slowaken). europäische Türkei (Griechen, Bulgaren, Juden, Mazedonier, Aromunen), Großbritannien (Schotten, Walieser, Nordiren, Manx, kornische Volksgruppe). Polen (Deutsche, Litauen, Slowaken, Tschechen, Ukrainer, Weißrussen), Frankreich (Basken, Bretonen, Elsässer, Lothringer, Katalanen, Korsen, Flamen), Jugoslawien (neun Volksgruppen), europäische Sowjetunion (12 Volksgruppen), Rumänien (Serben, Kroaten, Bulgaren, Slowaken,

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Tataren, Türken, Griechen, Armenier, Polen, Deutsche, Magyaren, Ukrainer, Ruthenen, Huzulen), Italien (Friuler, Griechen, Kroaten, Ladiner, Sarden, Katalanen, Deutsche). Die Einheit von Sprache, Nation und Staat ist also praktisch nirgends gegeben, obwohl man konstatieren muß, daß sich die einzelnen Staaten sehr in ihrer sprachlichen und ethnischen Homogeneität unterscheiden. Dabei ist das Maß der Vielsprachigkeit eines Staates kein Indiz für die Stärke der Konflikte, die sich aus der Nichtidentität von Sprache, Nation und Staat ergeben. Die Verbreitung des nationalstaatlichen Nationalismus seit der Französischen Revolution hat allerdings dazu beigetragen, daß dort, wo Sprachgemeinschaft und Staat nicht übereinstimmen, Konfliktstoff entstand. In den meisten Fällen bedeutet die Vielsprachigkeit eines Staates nicht, daß verschiedene Sprachgruppen und Sprachen gleichberechtigt koexistieren, sondern daß es dominante und unterlegene Gruppen gibt und daß es Sprachen mit mehr oder weniger Prestige gibt, denen im Staat unterschiedliche Funktionen zufallen. In vielen Staaten, vor allem jenen, in denen die Nationalstaatsideologie sehr gepflegt wurde, gibt es eine dominante Sprache, der gegenüber den anderen Priorität eingeräumt wird. Diese Standardsprachen — Französisch, Russisch, Englisch, Italienisch usw. — genießen nicht nur weitere Verbreitung sondern auch höheres Prestige als die kleineren Sprachen; und das zum Teil auch bei deren Sprechern. Sprachkonflikte sind Ausdruck gespaltener Loyalitäten, die in sehr unterschiedlichen Ausprägungen auftreten, je nachdem wie sich die einzelnen Gruppen wirtschaftlich, sozial und politisch zueinander verhalten. Einige Beispiele von Sprachkonflikten, die immer wieder durch die Presse gehen, sind gut bekannt, z. B. der ewige Konflikt zwischen den Flamen und Wallonen in Belgien oder der ebenso dauerhafte Konflikt zwischen anglophonen und francophonen Kanadiern. Das Phänomen des Sprachkonflikts ist aber sehr viel verbreiteter, als die selektive Berichterstattung in den Medien vermuten läßt. Wenn man sich nur deutsche Sprachgruppen in Europa betrachtet,

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wird deutlich, was für ein Ausmaß das Problem des Sprachkonflikts hat: Deutschsprachige Gruppen gibt es außer in den vier mehrheitlich deutschsprachigen Staaten in Italien in Südtirol (0,3 Mio.), in Belgien (0,1 Mio.), in Frankreich in Elsaß-Lothringen (1,2 Mio.), in Polen (0,7 Mio.), in Rumänien (0,37 Mio.), Ungarn (0,22 Mio.), in der Tschechoslowakei (0,24 Mio.), Dänemark (23000) (vgl. Grulich, Pulte 1975). Bis zum zweiten Weltkrieg lebten über eine Million Deutsche im europäischen Teil der Sowjetunion an der Moldau. Nach den durch den Krieg bedingten demographischen Veränderungen leben heute die meisten deutschstämmigen Einwohner der Sowjetunion in der kazachischen SSR im asiatischen Teil der Sowjetunion. Der II. Weltkrieg war in jeder Hinsicht ein schwerer Einschnitt, der die deutsche Nation nicht nur geschlagen, sondern in ihrer Identität tief verunsichert zurückließ. Es ist deshalb kein Wunder, daß deutsch-ethnische Außengruppen in anderen europäischen Ländern nach dem Krieg von den deutschen Staaten, vor allem der BRD zwar behutsam unterstützt wurden, Sprachkonflikte wie etwa der im Elsaß aber nicht geschürt wurden. Andererseits waren auch diese Außengruppen im allgemeinen nicht sehr militant. Eine Ausnahme ist Südtirol, wo der Sprachkonflikt auf den ersten Weltkrieg zurückgeht. Die Südtiroler haben eine große Sprachgemeinschaft außerhalb ihres Staates, mit der sie sich solidarisch fühlen und die Zugehörigkeit zu der sie verteidigen. Oft werden solchen Gruppen größere Zugeständnisse gemacht als Sprachgruppen, die keine große Sprachgemeinschaft haben, auf die sie sich stützen können, wie z.B. die Friauler in Italien. Daß Gruppen, die diese Art von Unterstützung nicht haben, ebenso militant sein können, zeigen die Beispiele der Basken oder der Korsen, die beide mit großer Militanz um Eigenständigkeit kämpfen, wobei die sprachliche Besonderheit der Basken unbestritten ist, während Korsisch oft als patois gilt. Sowohl Spanien als auch Frankreich sind stark zentralisierte Staaten, aber die Situation der nicht von der Zentralregierung akzeptierten Sprachen in beiden ist sehr unterschiedlich. Das zeigt ein

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kurzer Vergleich der Katalanen in beiden Ländern. Frankreich betreibt seit über 350 Jahren eine konsequente Sprachpolitik, die auf die im Auftrage Richelieus 1635 von der Academic Fra^aise durchgeführte Kodifizierung der französischen Sprache zurückgeht (Bourhis 1982). Diese Politik hatte immer zwei Aspekte, die auch heute noch deutlich erkennbar sind: die Exklusivität des Französischen und den Purismus. Exklusivität bedeutet dabei, daß der französischen Sprache der eindeutige Vorrang vor allen anderen in Frankreich gesprochenen Sprachen eingeräumt wurde, oder, anders gesagt, eine starke Diskriminierung anderer Sprachen. Die Ausrichtung auf das nationale Zentrum in Paris machte Französisch auch in der ursprünglich nicht-französischsprachigen Provinz zum Mittel des sozialen Aufstiegs. U. a. hatte das zur Konsequenz, daß die Eliten der anderssprachigen Bevölkerungsgruppen sich tendenziell französisierten, was dazu führte, daß deren Sprachen an Prestige verloren und funktional eingeschränkt wurden oder blieben (Schlieben-Lange 1973). D.h. sie wurden nur in privaten oder halbprivaten Bereichen gesprochen, während der öffentlichen Sphäre Französisch als Kommunikationsmittel vorbehalten blieb. Nur das Französische kann dort im Bewußtsein der Sprecher den höheren Ansprüchen einer Kultur- und Wissenschaftssprache genügen. In Nord-Katalonien, das zu Frankreich gehört, gilt daher sehr weitgehend die Zuordnung von Katalanisch = Sprache des Plebs und Französisch = Sprache der Gebildeten. Zum Teil liegt das daran, daß Nord-Katalonien kein eigenes wirtschaftliches und kulturelles Zentrum hat. Im sogenannten Principal, dem Kernland Kataloniens ist die Situation anders. Mit dem Zentrum Barcelona und der wirtschaftlichen Stärke der Region fällt das Principat in Spanien ganz anders ins Gewicht als Nord-Katalonien in Frankreich. Das entsprechend größere Selbstbewußtsein der Katalanen im Principat motiviert eine starke Autonomiebewegung, die sprachpolitische und kulturelle Forderungen stellt. Unter Franco wurde diese Bewegung und mit ihr das Katalanische als ihr Ausdruck und Symbol mit repressivsten Maßnahmen unterdrückt. Kastilianisch — die Sprache der Zentralgewalt - wurde als einzige offizielle Sprache anerkannt. Der öffentliche Gebrauch von Katalanisch wurde bestraft. Die

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katalanische Sprache hat diesem Druck jedoch standgehalten und ist seit der demokratischen Erneuerung Spaniens im Aufschwung. Ein schwelender Sprachkonflikt ist freilich geblieben. Die Frage ist, wohin die zukünftige Entwicklung führt. Zwei Faktoren spielen dabei eine wichtige Rolle: 1. die Migration ins katalanische Kernland und 2. die Frage der offiziellen Sprache dortselbst. Das katalanische Kernland, vor allem Barcelona und die angrenzenden Regionen sind wirtschaftlich höher entwickelt als der Durchschnitt des spanischen Staatsgebietes. Deshalb gibt es eine starke Migrationsbewegung nicht katalanisch-sprechender Spanier in dieses Gebiet. Kastilianisch ist Staatssprache, aber Katalanisch ist in Katalonien durchaus eine prestigereiche Varietät, da es eine Bourgeoisie gibt, die sich dieser Sprache bedient. Wie soll also mit den Zuwanderern (40%) verfahren werden? Offenbar lassen sich viele von ihnen wegen der wirtschaftlichen Überlegenheit Kataloniens katalonisieren, aber andererseits gilt ganz Katalonien als zweisprachig. Sollen die Zuwanderer gezwungen werden, Katalanisch zu lernen und zu benutzen oder soll die Verwendung des Kastilianischen toleriert werden? Damit stellt sich die Frage der Zweisprachigkeit. Katalonien ist gezwungenermaßen zweisprachig und auf eine Weise, die die Anhänger der Autonomiebewegung bekämpfen, denn Kastilianisch macht immer noch ein höheres Prestige geltend, obwohl Katalanisch in schriftlicher Form verwendet wird und seit Anfang des Jahrhunderts in einer der Sprechweise Barcelonas entsprechenden Form kodifiziert ist. Von Verfechtern der Autonomie Kataloniens wird die Zweisprachigkeitspolitik als Beschwichtigung und Beschönigung verdammt. Sie wollen ein katalonisches Katalonien und die Anerkennung des Katalanischen als einzige offizielle Sprache, weil sie darin die einzige Chance dafür sehen, daß Katalanisch das Stigma des restringierten Kodes, der low variety in einer Diglossiesituation, überwindet. Nur wenn Katalanisch nicht nur in der schönen Literatur, sondern auch in fachsprachlicher Literatur und als Amtssprache verwendet wird, kann es gleichberechtigt neben Kastilianisch bestehen. Diese Forderung zeugt von großem Selbstbewußtsein, da sie praktisch den Verzicht auf Kastilianisch als Mittel des sozialen Aufstiegs beinhaltet, was natürlich in der relativ starken Position Kataloniens im

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spanischen Staatsverband begründet ist. Aber abgeschlossen ist der Prozeß noch nicht, denn viele Kastilianischsprachige sagen, „alle sprechen Spanisch". Interessant ist außerdem, daß seitens der katalanischen Autonomiebewegung der Kampf um die Gleichberechtigung ihrer Sprache mit der kastilianischen nicht mit Sezessionsbestrebungen einhergeht. Das steht im starken Kontrast zu dem radikalen Flügel der baskischen Sezessionisten, für die der Sprachkonflikt mit nationalistischen Ansprüchen verquickt ist. Das Beharren auf der Pflege der eigenen Sprache kann also politisch sehr unterschiedliche Auswirkungen haben. In manchen Fällen zielt es auf die Bildung einer eigenen politischen Einheit, wie etwa in Norwegen, wo nach dem Ende der Union mit Dänemark 1814 mit der politischen Selbstbestimmung auch die Schaffung einer rein norwegischen Nationalsprache zum Programm erhoben und in den letzten 150 Jahren realisiert wurde (Haugen 1959). In anderen Fällen, wie bei den spanischen Katalanen, geht es nicht um politische Unabhängigkeit, sondern um die Behauptung des eigenen Gewichts und der Gleichberechtigung einer Gruppe gegenüber einer anderen innerhalb eines Staatsverbandes, der als solcher anerkannt wird. Das Engagement für die Erhaltung und Tradierung einer Kultur mag dabei mit der Einsicht zusammenspielen, daß die sozialen Chancen jeder neuen Generation auch davon abhängen, ob ihre Muttersprache Medium der allgemeinen Erziehung ist. Nicht immer jedenfalls sind Sprachbewegungen, auch wenn sie sich im nationalistischen Gewand präsentieren, auf die nationale Unabhängigkeit der fraglichen Sprachgemeinschaft gerichtet. Und überall dort, wo es sie gibt, weil einer Sprachgemeinschaft von einer anderen, dominierenden nicht zugestanden wird, ihre Sprache in all den Kommunikationsdomänen zu verwenden, in denen sie sie verwenden will, sind sie berechtigt.

Modernisierung und Reglementierung der Volkssprache Nationalismus war in erster Linie Emanzipation von fremder Herrschaft und stand somit in seiner anfänglichen Phase neben den anderen großen Emanzipationsbewegungen des neuzeitlichen EU-

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ropa, der Reformation und der Aufklärung. In allen drei nahm die Sprache einen zentralen Platz ein. Alle drei richteten sich gegen die Polarität der Sprache der Herrschenden und der Sprache der Beherrschten. Luthers Bibelübersetzung war nicht nur ein genialer politischer Schachzug, durch den er die Auslegung der Schrift der absoluten Autorität des heiligen Stuhls entzog, sondern auch eine aufklärerische Tat ersten Ranges, die den Weg zur Teilnahme des Volkes am geistigen Leben, wenn nicht eröffnete, so doch leichter gangbar machte. Luther war gleichwohl nicht der erste, der den direkten Zugang zum Evangelium von der Kenntnis einer der drei heiligen Sprachen, Hebräisch, Griechisch und Lateinisch, unabhängig machen wollte. Er hatte Vorläufer. Schon im 9. Jahrhundert, bevor es noch die deutsche Sprache gab, verfaßte der Mönch Otfried von Weissenburg ein Evangelienbuch in der Sprache des Volkes: Fränkisch. Mit diesem Unternehmen der Abfassung eines Evangelienbuchs in der Volkssprache stand Otfried unter einem starken Legitimationsdruck. Für so eine ungewöhnliche Tat mußten gute Gründe geltend gemacht werden. Der Gebrauch der Muttersprache solle ihnen [Männern von bewährter Frömmigkeit] ermöglichen, sich in die Süßigkeit der Evangelien zu vertiefen und so den Schall der eitlen Dinge von ihren Ohren abzuwehren... Denn ich wollte, daß der, welcher bei den Dichtungen der genannten lateinischen Schriftsteller von der Schwierigkeit der fremden Sprache zurückschreckt, in meinem Werk den Inhalt der hochheiligen Worte infolge der Verwendung der Muttersprache gründlich kennen lerne, das Gesetz Gottes durch den Gebrauch der eigenen Sprache verstehe und infolgedessen heilige Scheu bekomme, durch eigenes falsches Denken, sei es auch nur ein wenig, davon abzuweichen. (Zit. nach der Übersetzung von Franz Saran 1925: 53 f.)

Otfried argumentiert ganz wie später Luther: Die Botschaft ist in der Schrift, nicht bei denen, die sie auslegen. Aber die große Wirkung, die Luther erzielte, blieb ihm versagt, die Zeit war nicht reif. Eine Handschrift anzufertigen, war zu seiner Zeit ein so teures Unternehmen, daß sein Evangelienbuch das Volk niemals erreichen konnte, obwohl es in der Sprache des Volkes geschrieben war. Nur wenige Kopien konnten hergestellt werden und zudem war die Kunst des Lesens im Volk nur spärlich verbreitet. Luther hingegen

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kam Gutenberg zu Hilfe, seine Schriften konnten gedruckt werden, was ihnen weite Verbreitung und großen Einfluß sicherte. Die Verwendung der Sprache des Volkes für den Gottesdienst war stets Anzeichen und Element emanzipatorisch-reformistischer Bewegungen: In Deutschland ebenso wie später in anderen Ländern, etwa der Türkei, wo Atatürk in den 20er Jahren dieses Jahrhunderts als Teil seines Modernisierungsprogramms den Koran ins Türkische übersetzen ließ und das Arabische ablehnte. Oder in Böhmen und Mähren, wo die Tschechen sich gegen das Deutsche wandten. Von alters her steht Gottesdienst in engem Zusammenhang mit Bildung und Erziehung, weswegen die Legitimierung der Verwendung der Volkssprache für religiöse Zwecke in jedem Fall ein aufklärerischer Schritt war. Überall in Europa spielten die Lateinschulen bis ins 18. Jahrhundert hinein eine wichtige Rolle: Systematische Erziehung in der Volkssprache gab es nicht oder fast nicht. Sie mußte erkämpft werden. Die Ankündigung von Christian Thomasius 1687 in Leipzig, eine Vorlesung auf Deutsch zu halten, war Heräsie auf der profanen Ebene, die ihm heimgezahlt wurde. Drei Jahre später wurde er aus Leipzig vertrieben. Die Aufklärer setzten sich das ganze 18. Jahrhundert für die Etablierung der Volkssprache als Bildungssprache ein. Leibniz, der selber vorwiegend auf Lateinisch und Französisch schrieb, plädierte in der von ihm verfaßten Stiftungsurkunde der Königlich Preußischen Societät der Wissenschaften vom 11. Juli 1700 dafür, daß „was zur Erhaltung der Teutschen Sprache in ihrer anständigen reinigkeit, auch zur ehre und zierde der Teutschen Nation gereicht, absonderlich mit besorgt werden", sollte (zit. nach Harnack 1900: 84). Sprachwissenschaftler wie Gottsched und Adelung, deren Pedanterie bei der Normierung des Ostmitteldeutschen zur deutschen Schrift- und Standardsprache von vielen bedeutenden Zeitgenossen kritisiert wurde (von Polenz 1972: 112f.), sahen in der strengen Normierung eine Voraussetzung dafür, die Sprache des Volkes zur Sprache der Bildung zu machen. Als Senior der „Deutschübenden Poetischen Gesellschaft" fühlte sich Gottsched noch fünfzig Jahre nach Thomasius, ebenfalls in Leipzig, in seiner Lob- und Gedächtnißrede auf den Vater der deutschen Dichtkunst Martin Opitzen von

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Boberfeld 1739 dazu bemüßigt, gegen die „Feinde des Vaterlandes" zu wettern, die der Verwendung der Volkssprache für wissenschaftliche Arbeit ihre Zustimmung versagten. Wie die alten Ägypter, schrieb er, machten sie aus dem Studium ein Geheimnis und hielten so alle die, die nicht die klassischen Sprachen gelernt hatten - die „Unstudierten", „den größten und edelsten Theil eines Volkes", wie er sie nannte — in fast bestialischer Unwissenheit (vgl, Blackall 1959: 116). Aber was ist die Nation, was die Volkssprache? Wie das erste Kapitel gezeigt hat, ist eine Antwort auf diese beiden Fragen nicht leicht zu geben und von je verschiedenen historischen Umständen abhängig. Nicht zuletzt deshalb ist die Verwendung der Volkssprache für Bildung und Gottesdienst keine Selbstverständlichkeit. Die Schwierigkeiten, die dem anfänglich entgegenstehen, sind beträchtlich. Man trifft sie überall dort, wo Versuche dieser Art unternommen wurden. Der erwähnte Otfried äußerte sich schon um das Jahr 810 in der Vorrede zu seinem Ludwig dem Deutschen gewidmeten Evangelienbuch über die Schwierigkeiten bei der schriftlichen Fixierung des Fränkischen: Freilich die unlateinische Sprache, die ich verwende, ist ungepflegt, nicht zu zügeln und besonders nicht gewohnt, den Regelzaum der Grammatik zu tragen. Daher ist sie denn auch bei vielen Worten infolge der Anhäufung von Buchstaben und deren fremdartiger Lautung schwer zu schreiben ... Unsre Sprache gilt ja für bäurisch, weil sie von unsern Landsleuten weder durch einfachen schriftlichen Gebrauch, noch durch irgendwelche kunstmäßige Behandlung jemals verfeinert worden ist. Denn die Franken überliefern weder die Geschichte ihrer Vorfahren, wie viele Völker sonst, dem Gedächtnis, noch schildern sie ihre Taten und ihr Leben, begeistert für ihren Wert, dichterisch. Wenn es aber geschieht (es kommt selten vor), dann wählen sie, um sich auszudrücken, lieber die Sprache fremder Völker nämlich der Lateiner und Griechen. Dabei nehmen sie sich in Acht vor entstellenden Fehlern in ändern Sprachen, aber sie scheuen nicht solche in der eigenen. Sie hüten sich ängstlich in den ändern Sprachen, die Grammatik auch nur mit einem kleinen Buchstaben zu verletzen, ihre eigene Sprache aber macht fast in jedem Wort einen Fehler. (Zit. nach Saran 1925: 55.)

Die Sprache des Volkes weist nach Otfrieds Diagnose gewisse Defizite auf, weil sie nicht die Sprache der Bildung ist. Sie ist es

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„nicht gewohnt, den Regelzaum der Grammatik zu tragen", sie ist, mit einem Wort, nicht standardisiert. Und das hängt, wie er richtig erkennt, damit zusammen, daß sie nicht oder doch fast nicht in schriftlicher Form verwendet wurde. Was Otfried über seine Sprache und die Schwierigkeiten ihrer Adaptierung für die Zwecke elaborierter schriftlicher Kommunikation schreibt, läßt sich auf andere Sprachen und auf andere historische Epochen übertragen. Was das Deutsche betrifft, so wird Luther oft das Verdienst zugeschrieben, den entscheidenden Schritt zur Standardisierung der deutschen Literatursprache getan zu haben. Obwohl er mit seinem gigantischen Werk wichtige Grundlagen dafür legte, war zu seinen Lebzeiten der Kampf um die deutsche Gemeinsprache doch noch lange nicht ausgefochten. Ihre Tauglichkeit speziell für die höheren Kommunikationsfunktionen der Wissenschaft wurde erst im 18. Jahrhundert durch Zähigkeit und systematische Arbeit geschaffen. 1697 schrieb Leibniz in seinen Unvorgreiflichen Gedanken betreffend die Ausübung und Verbesserung der Teutschen Sprache über die seinerzeitigen Unzulänglichkeiten des Deutschen: Am allermeisten aber ist unser Mangel, wie gedacht, bey Worten zu spühren, die sich auff das Sitten-wesen, Leidenschaften des Gemüths, gemeinlichen Wandel, Regierungs-Sachen, und allerhand bürgerliche Lebens- und Staats-Geschäfte ziehen: Wie man wohl befindet, wenn man etwas aus ändern Sprachen in die unsrige übersetzen will. (§ 15)

Im Interesse einer Anhebung des allgemeinen intellektuellen Niveaus in Deutschland wünschte Leibniz, daß die deutsche Sprache in all diesen Kommunikationsbereichen benutzt würde, was durch die Einrichtung einer Institution, einer teutsch'gesinnten Gesellschaft, für die Pflege derselben erreicht werden sollte. Der besondere Zweck dieser Anstalt wäre, wie er in derselben Schrift ausführte, „auf die Teutsche Sprache zu richten, wie nehmlichen solche zu verbessern, auszuzieren und zu untersuchen" sei. Verbessern, auszieren und untersuchen — in der damaligen Diktion sind das die Ziele vieler sprachplanerischer Projekte von heute, durch die bisher nicht kodifizierte Sprachen für den Gebrauch in entwickelter wissenschaftlicher, technischer und institutioneller Kommunikation

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ausgebaut werden sollen. Wissenschaftliche Beschäftigung mit Sprache war ein normatives Unternehmen. Als Leibniz schrieb, war die Academic Fra^aise schon 70 Jahre alt, und die florentinische Accademia della Crusca war noch 50 Jahre älter. In den Unvorgreiflichen Gedanken wird die Academic Fra^aise lobend erwähnt, und einige ihrer Ziele schwebten Leibniz auch als Aufgaben einer deutschen Sprachpflegeinstitution vor. Artikel 24 der Statuts et Reglements de l'Academie von 1635 spezifiziert die Aufgaben der Akademie bezüglich der Sprache: Die Hauptfunktion der Akademie wird es sein, mit allem erdenklichen Fleiß und aller Hingabe daran zu arbeiten, unserer Sprache feste Regeln zu geben und dafür zu sorgen, daß sie rein, ausdrucksstark und dazu fähig ist, die Künste und Wissenschaften zu behandeln.*

Wie kaum eine andere vergleichbare Institution hat die Academie diese Aufgabe erfüllt. Die Vorstellung, daß Sprache etwas ist, das zum Objekt gezielter Maßnahmen für ihre Pflege und Verbesserung gemacht werden kann, ist keine Selbstverständlichkeit und wird auch heute noch nicht von jedem akzeptiert. Sie wurde und wird von verschiedenen Völkern in verschiedenen Epochen sehr unterschiedlich beurteilt. Während die französische Akademie schon bald nach ihrer Gründung zu einer wichtigen Kulturinstitution Frankreichs wurde, konnten sich die Befürworter einer entsprechenden deutschen Einrichtung, selbst Männer von solchem Ansehen wie Leibniz und Gottsched, nicht durchsetzen, was der politischen Zersplittertheit Deutschlands geschuldet war, wie auch die retardierte Sprachvereinheitlichung des Deutschen gegenüber sowohl dem Französischen als auch dem Englischen zweifellos durch die nicht vorhandene nationale Einheit im 16. und 17. Jahrhundert bedingt war (Guxman 1977: 24). Auch in England hat es nie eine Akademie gegeben, und niemals wurde in dem Maße wie in Frankreich versucht, auf die Entwicklung der Sprache Einfluß zu nehmen. In späteren Kapiteln wird deutlich werden, daß sich darin ein grundsätzlicher Unterschied im * La principal function de l'Academie sera de travailler avec tout le soin et toute la deligence possible ä donner des regies certaines ä notre langue et ä la rendre pure, eloquente et capable de traiter les artes et les sciences.

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Verhältnis von Staat und Sprache in Frankreich und England ausdrückte. Anders als in Deutschland gab es aber in England schon lange ein politisches Machtzentrum, nach dem sich die Entwicklung der Sprache ausrichtete. Ohne Zweifel aber war Englisch noch in der Renaissance weniger stark standardisiert als das gepflegte Französisch. Noch in den letzten Jahren des 17. Jahrhunderts konnte der einflußreiche Kritiker und Dichter John Dryden über seine Schwierigkeiten mit dem Englischen schreiben: Ich bin oft ratlos, wenn ich mich frage, ob das, was ich schreibe, das gesprochene Idiom ist oder falsche Grammatik und Unsinn, der dem breiten Namen des Anglizismus untergeschoben wird; und um meinen Zweifel zu klären, bleibt mir keine andere Wahl, als mein Englisch ins Lateinische zu übersetzen, um dadurch zu sehen, welchen Sinn die Worte in einer stabileren Sprache (a more stable language) tragen. (Zit. nach Bolton 1967: 44.)

Vielen galt Englisch in der Renaissance als ungehobelt und ungeeignet für anspruchsvolle Kommunikationszwecke, für die außerdem in exzessivem Maße Fremdwörter aus dem Französischen und Lateinischen entlehnt werden mußten. Milton begann seine Dichterkarriere auf Latein, und Jonathan Swift konnte die englische Sprache noch 1712 in einem Pamphlet für die „Korrektur, Verbesserung und Stabilisierung der englischen Zunge" „extrem unvollkommen" nennen (Bolton op. cit. 48). Im 18. Jahrhundert wurden nach dem Vorbild Frankreichs wie in Deutschland Versuche unternommen, eine Sprachakademie einzurichten und in diesem Zusammenhang ernannte die Royal Society ein Komitee zur Verbesserung der englischen Sprache. Ihm wuchs aber niemals ein Prestige zu, das dem der Academic Fran9aise vergleichbar gewesen wäre. Vergleicht man die drei großen europäischen Sprachen Französisch, Englisch und Deutsch, so zeigt sich, daß keine von ihnen zu Beginn der Renaissance Volkssprache und Bildungssprache war. Die Vorherrschaft von Latein als Bildungssprache mußte in allen drei Fällen überwunden werden. Sie wurden von ihren Sprachgemeinschaften resp. von deren Bildungseliten nicht als für alle Kommunikationsfunktionen geeignet anerkannt und befanden sich damit in einer Lage, die der anderer Sprachen in anderen Teilen der

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Welt im 19. — z. B. Türkisch, Japanisch — und im 20. Jahrhundert — z. B. Suaheli, Bahasa Indonesia, Hindi — vergleichbar ist. Im 19. Jahrhundert waren Französisch, Englisch und Deutsch als Nationalsprachen fest etabliert, der Weg, den sie seit dem 16. Jahrhundert bis dahin zurückgelegt hatten, unterschied sich jedoch auf charakteristische Weise, da er mit der politischen Entwicklung zusammenhing: Frankreich hatte das politische Machtzentrum und die Sprachplanungsinstitution, England hatte nur das erstere, und Deutschland hatte keins von beiden. Plakativ, wie die Darstellung ist, hebt sie doch wichtige Unterschiede zwischen den drei Ländern hervor. Schon länger als andere hatte sich Frankreich mit der eigenen Sprache beschäftigt, sie zur Nationalsprache kultiviert und zum nationalistischen Symbol gemacht. England sah dafür aufgrund seiner insularen Lage und seiner liberaleren Staatsphilosophie nie eine solche Notwendigkeit. In Deutschland schließlich wurde die Notwendigkeit der Sprachstandardisierung zwar von vielen gesehen, die politische Zersplittertheit verzögerte jedoch ihren Vollzug. Der Kontrast zwischen England und Frankreich ist sehr auffällig. Anders als die Academic wurde die Royal Society nicht zum Sprachgesetzgeber, ihre Leistungen auf dem Gebiet der Sprache lagen weniger in der Sprachnormierung als in der Philologie. Wenn man sich unter dieser Perspektive die Geschichte der Sprachwissenschaft betrachtet, erscheint es nicht zufällig, daß aus einem nach innen gerichteten Interesse entsprungene theoretische Beiträge wie die Grammatik von Port Royal (1660) aus Frankreich kamen, während wesentliche Impulse für die auf einem nach außen gerichteten Interesse beruhende vergleichende Sprachforschung wie z.B. die Erforschung des Sanskrit durch Sir William Jones (1786) aus England kamen. Vielleicht am wenigsten von allen europäischen Nationen hat England seine Sprache für den Nationalismus instrumentalisiert. In Deutschland war das ein integraler Bestandteil des Prozesses der politischen Einigung und im 19. Jahrhundert wurde daraus ein europäischer Topos. Unter dem Einfluß des aufblühenden Nationalismus nach der Französischen Revolution in Europa kam es, wie bereits erwähnt, zu einer starken Ideologisierung der Sprache. Sie verkörpert den Geist einer Nation und definiert die Zugehörigkeit zu ihr. Der 5

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europäische Nationalismus benutzte die Sprache als Instrument. Aber um als solches benutzt werden zu können, muß eine Sprache bestimmten Bedingungen genügen, Bedingungen, denen einzelne Sprachen oft zunächst nicht genügen, und hierin liegt einer der Widersprüche, die das Verhältnis von Sprachplanung und Nationalismus kennzeichnen bzw. dem Unternehmen der Sprachplanung inhärent sind: Die Sprache ist Ausdruck der Vollkommenheit, Größe und Schönheit einer Nation, - so will es die nationalistische Ideologie — aber gleichzeitig ist sie untauglich für viele Zwecke des Nationalismus und muß deshalb zum Gegenstand gezielter Planung und Verbesserung gemacht werden. Diese Widersprüchlichkeit und die sich daraus ergebenden Spannungen sind charakteristisch für nationalistische Bewegungen: Der moderne Nationalismus seit der französischen Revolution, der Industrialisierung und der Entfaltung des Kapitalismus ist Bestandteil der Modernisierung und Entwicklung in einer Zeit, wo die Verschiebung politischer Machtverhältnisse und die Umwälzung sozialer Strukturen durch die Veränderung der Produktionsformen die Bildung neuer Einheiten notwendig macht. Der Nationalismus gibt diesen Einheiten - sei es im 19. Jahrhundert in Europa oder im 20. Jahrhundert in Asien und Afrika - eine Identität und ein Ziel. Für beides wird aber auf die Vergangenheit rekuriert, wo Reinheit, Größe und Bestimmung einer Nation der Vergessenheit entrissen oder projiziert werden. Der Nationalismus gründet sich auf die vermeintliche Authentizität einer Nation in der Vergangenheit, bezweckt jedoch deren Modernisierung in der Zukunft: Auf der einen Seite stehen die sentimentalen Gemeinsamkeiten als Grundlage kontinuierlicher sozialer Integration und das Streben nach reinem, genuinen Ausdruck des kulturellen Erbes, auf der anderen Seite steht die Rationalisierung politisch-operationaler Integration und das Streben nach neuen Lösungen gegenwärtiger Probleme. Widersprüche dieser Art sind charakteristisch für moderne nationalistische Bewegungen und charakteristisch für moderne nationalistische Sprachplanung. Nationalismus in der Dritten Welt ist der Versuch der Verquickung von Antikolonialismus und Modernisierung, was fast gleichbedeutend ist mit der Erstrebung dessen, was abgelehnt wird. Modernisierung ohne Verwestlichung ist die Zau-

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berformel, nach der alle Nationalisten in der Dritten Welt suchen. Dieses Dilemma spiegelt sich in Sprachplanung und Sprachpolitik wider, denn die Aufgabe der Sprachplanung ist es, das, was echt und natürlich ist, zu gestalten, sich auf das Genuine und Alte zu besinnen und dabei ein Instrument für moderne Ansprüche zu schaffen. In den zitierten Reglements de PAcademie Fra^aise ist das Dilemma schon formuliert: die Sprache soll zugleich pure und eloquente sein und capable de trailer les arts et les sciences. Worin besteht Sprachplanung im einzelnen? Was sind die typischen Schwierigkeiten? Unter welchen Bedingungen ist sie notwendig? Letztere Frage läßt sich allgemein recht bündig beantworten: Sprachplanung ist notwendig, wenn ein Staat nicht die Sprache hat, die er bzw. seine Repräsentanten für die Erfüllung seiner Aufgaben für nötig halten. Was die erstere Frage betrifft, so lassen sich verschiedene Teile der Sprachplanung unterscheiden, die sich in der einen oder anderen Ausprägung in den meisten Sprachplanungsprozessen identifizieren lassen. Haugen (1966) nennt als die vier wichtigsten Teile oder Phasen die folgenden: norm selection Wahl der Norm

codification Kodifizierung

selection

codification

elaboration Entwicklung Ausbau elaboration

implementation Durchführung Ausführung cultivation

Die erste Aufgabe ist also die Entscheidung für eine Varietät, die die Funktion einer nationalen oder regionalen Sprache erfüllen soll, nicht etwa die Schaffung einer solchen Varietät. Dabei handelt es sich um echte Entscheidungen, und die Wahl muß ideologisch begründet werden, sie muß den nationalistischen Zielen entsprechen. Gewählt wird natürlich eine Varietät, die an sich gut und schön ist. Sie wird nicht geschaffen, sondern gewählt und zwar wird sie gewählt, weil sie gut und schön ist. Gottsched, er ist es wieder, von dem wir über die ideologische Begründung deutscher Sprachplanung erfahren können, erläutert diesen Punkt 1748 so: „Meine Absichten sind nicht gewesen, Neuerungen in unserer Sprache zu machen. Ich gehöre nicht unter die Zahl derer, die sich einbilden, sie hätten Fähigkeiten genug, ihre Muttersprache zu verbessern, anders einzurichten, und zu verschönern... Alles was also, meines Erachtens, ein Sprachlehrer tun kann, ist dieses, daß er

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die verborgenen Schönheiten seiner Muttersprache aufsuche, entdecke, anpreise und bey seinen Landsleuten in Schwung bringen helfe." Das offene Eingeständnis der Notwendigkeit der Verbesserung verträgt sich nicht mit der Begründung der Wahl des Idioms und seiner Favorisierung vor anderen, die ja gerade in der überlegenen Qualität der Sprache gesehen wird. Dies ist ein Teil der Authentizitätsideologie: Auf das Gute, Reine und Echte muß man sich besinnen. Klopstock z.B. schrieb 1774 in „Die deutsche Gelehrtenrepublik" über das Deutsche, es sei „eine reichhaltige, vollblühende, fruchtschwere, tönende, gemesne, freye, bildsame, männliche, edel und vortref-fliche Sprache". Wie könnte so etwas — edel, männlich und vortrefflich - der Verbesserung bedürfen?! Eine Nation kann sich glücklich schätzen, wenn sie auf so eine Sprache zurückblicken kann. Nur entscheiden muß sie sich für sie, sie vielleicht etwas abstauben, reinigen und in ihrer natürlichen Form, ihrer Einmaligkeit wiederentdecken. Vor allem gilt das für die Eliten einer Nation, die ihr Prestige der Volkssprache leihen müssen. So sah das auch Gottsched schon, der in seiner captatio benevolentiae eben den „hochwohlgeborenen Excellenzen", denen er sein Werk widmete, seine eigenen Absichten unterstellte, nämlich daß sie „die Schönheiten unserer uralten, männlichen und lieblichen Mundart mehr in die Übung bringen, sie von einreißenden Mißbräuchen befreyen, und in ihrer Reinigkeit erhalten helfen. Sie wollen überdem unsere zum Theil gar zu ausländischgesinnten Landsleute, von der unmäßigen Hochachtung gegen fremde Sprachen zurückbringen, und sie dadurch zu wehrhaften deutschen Patrioten machen - die sich nicht schämen, eine Sprache zu reden, die von so unzählbaren tapferen Helden, großen Geistern und gelehrten Leuten geredet und geschrieben werden" (Gottsched 1748).

Es muß gelingen, die Eliten für die nationalistischen Bestrebungen zu gewinnen, nicht nur abstrakt sondern durch ihr Engagement für die Sprache des Volkes, was nicht immer leicht ist, denn das Loblied der Vorzüge einer Sprache klingt nicht sehr glaubwürdig aus dem Munde dessen, der diese Sprache nicht richtig beherrscht. Anläßlich nationalistischer Bewegungen kommt es daher oft dazu, daß die Führer der Bewegung erst einmal die Volkssprache lernen müssen, um sich, wie Fishman (1972: 122) sagt, zu reethnifizieren.

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Typischerweise werden nationalistische Freiheitsbewegungen von der Elite eines Landes geführt, diese Elite ist jedoch andererseits dem eigenen Volk oft entfremdet, spricht buchstäblich nicht seine Sprache, denn ihre Eliteposition verdanken sie ihrer Erziehung in einer fremden Sprache, der Sprache der dominierenden Kultur nämlich und der Anpassung an dieselbe. Von einem der Führer der indischen Unabhängigkeitsbewegung um die Jahrhundertwende, Aurobindo Cahose, bspw. wird berichtet, daß er Englisch sprach, weil er in England erzogen worden war und bei seiner Rückkehr nur gebrochen Bengalisch sprach, was er erst lernen mußte. Viele nationalistische Führer sind in einer Diglossie-Situation aufgewachsen, wo die Sprache des Volkes in privaten Kommunikationsdomänen verwendet wurde, aber nicht für politische Argumentation und Agitation. Für solche Zwecke waren sie es vielmehr gewohnt, die Sprache der dominanten Kultur zu verwenden, mit der sie freilich nicht das Volk erreichten. Der große finnische Nationalist John Wuorinen schreibt dazu: „Solange die oberen Schichten von den unteren durch eine sprachliche Kluft getrennt waren, hätten die Finnen nicht zu einer wirklich vereinigten Nation werden können. Diese Kluft konnte nur dadurch überbrückt werden, daß der Prozeß, der die Oberschicht immer schwedischer werden ließ, rückgängig gemacht wurde. Mit einem Wort, sie mußten Finnisch als ihre Muttersprache annehmen" (Wuorinen 1931: 53). Das ist eine seltsame Redeweise: ,eine Sprache als Muttersprache annehmen'. Aber sie trifft den Kern der Problematik. Um die Nation zu einen, muß die Kluft zwischen den oberen und den niederen Schichten überwunden werden, die sprachliche und kulturelle Anpassung an den Usurpator seitens der oberen Schichten muß rückgängig gemacht werden, sie müssen ihre Sprache als Muttersprache akzeptieren. Die deutschen Eliten mußten sich vom Französischen trennen, die tschechischen vom Deutschen, die ukrainischen vom Russischen, die finnischen vom Schwedischen usw. Für die Eliten war die Annahme der Volkssprache teilweise durchaus ein saurer Apfel, in den sie beißen mußten, um ihre politischen Ziele zu verwirklichen, denn die fremde Sprache war ja stets Symbol ihrer gesellschaftlichen Stellungen. Sie mußten gewisser-

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maßen „herabsteigen", ein Schritt, der oft durch andere als politische Argumente verbrämt, rationalisiert wurde. Die Propagierung der Volkssprache ist nicht nur politisch opportun, sondern durch die besonderen Vorzüge dieser Sprache gerechtfertigt. In seiner Oratio de Cultura Linguae Hungaricae sagt der frühe ungarische Nationalist Ribinyi 1751: „Italienisch ist gefällig, Französisch schön und Deutsch ernst; aber alle diese Eigenschaften sind im Magyarischen so sehr verbunden, daß es schwer ist zu sagen, worin seine Überlegenheit besteht" (Kedourie 1960: 94). Übertroffen wird diese Vielfalt positiver Eigenschaften nur noch durch das Russische, in dem M. W. Lomonossow die Herrlichkeit des Spanischen, die Lebendigkeit des Französischen, die Bestimmtheit des Deutschen, die Zärtlichkeit des Italienischen und außerdem den Ausdrucksreichtum des Griechischen und Lateinischen vereinigt fand (Schachobowa 1973: 93). Die Sprache des Volkes ist also alles andere als nur ein Instrument der Kommunikation. Sie ist Symbol der Eigenständigkeit und in sie werden Wunschvorstellungen projiziert. Die Sprache wird anthropomorphisiert — z. B. wenn behauptet wird, daß sie, die Sprache, fremde Vokabeln aufnimmt oder ablehnt — und ihr werden geistige Kräfte beigemessen. Z. B. macht sie frei. Von der griechischen Sprache heißt es Ende des 18. Jahrhunderts: „Wer einmal die Wunder der hellenischen Sprache in vollen Zügen genossen hat, unterwirft sich nicht mehr der Sklaverei" (Fishman 1972a: 51). Was mit nationalistisch inspirierter Sprachplanung bezweckt wird, wird also der Sprache selber als Eigenschaft zugeschrieben. Damit läßt sich die Option für die Sprache des Volkes am besten begründen. 1858 schrieb ein arabischer Nationalist, der sich gegen die Dominanz des Französischen im Beiruter Bürgertum wandte (Fishman 1972a): „Was man verstehen muß, sind die Eigenschaften, die das Arabische vor anderen Sprachen auszeichnen und seine besondere Ausstattung, die es ermöglicht hat, daß es so weite Gebiete völlig beherrscht. Und es ist erstrebenswert, das Geheimnis seiner Vitalität zu ergründen und uns der einzigartigen Kräfte, die unsere Sprache darstellt, zu bemächtigen, um sie für die Organisation unserer Gegenwart und die Gestaltung unserer Zukunft zu benutzen." Die eigene Sprache für die Gestaltung der

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eigenen Zukunft. Die Verwendung einer fremden Sprache kommt einem Verrat an der Sache der Nation gleich — jedenfalls für manche Nationalisten, die sich für die Sprache des Volkes stark machen. Über den Gebrauch von Suaheli in Tanganiyka schreibt ein taanganiykanischer Nationalist: „Laßt uns Suaheli benutzen, Angestellte und Bauern! Auch wenn ihr es nicht glaubt, Englisch wird weichen. Wir wollen keine fremden Sprachen. Wir empfinden sie als eine Schande. Suaheli ist eine gute Sprache, unsere ursprüngliche Sprache" (Whiteley 1969: 161). Fremde Sprachen sind eine Schande, Symbol der Unterdrückung. Suaheli ist eine gute Sprache. Die Bewertung von Sprachen, die Vorstellung, daß es gute und weniger gute Sprachen gibt, ist überhaupt nur vor dem Hintergrund einer gesellschaftlichen Situation zu verstehen, in der die Sprache der Herrschenden und die Sprache der Beherrschten nicht nur nicht identisch, sondern auch nicht vermittelbar sind. Die Präferenz der oberen Schichten für eine fremde Sprache muß durch den Nachweis der Vorzüge der eigenen entkräftet werden. Die Sprache ist nicht nur Ausdruck der Eigenschaften einer Nation, sondern als gemeinsame Sprache aller gesellschaftlicher Schichten auch Mittel ihrer Konstituierung. An der für jeden wahrnehmbaren Besonderheit einer Sprache kann sich das Bewußtsein von der Besonderheit derer, die sie sprechen als eigenständiger Gruppe mit dem Recht auf Selbstbestimmung aufrichten. Wo Gemeinsamkeiten politisch nicht opportun sind, werden daher u. U. Unterschiede akzentuiert und festgeschrieben. Der zweite Schritt der Sprachplanung, die Kodifizierung, bietet dazu die Gelegenheit. Als überregionales Kommunikationsmedium, das allen funktionalen Ansprüchen genügt, muß eine Sprache kodifiziert werden. Eine Stabilisierung der variablen und in gewissem Sinne amorphen Volkssprache muß erreicht, eine Norm errichtet werden. Wo geschriebene Varietäten in Gebrauch sind, müssen sie vereinfacht werden, wobei die unvermeidliche Kluft zwischen geschriebener und gesprochener Sprache zu berücksichtigen ist. Die Fixierung der Regeln der Grammatik ist ein wesentliches Element der Kodifizierung, das haben die Verfasser der Richtlinien der Academic Fran9aise schon klar gesehen: donner des regies certaines ä notre langue. Das betrifft den Zusammenhang zwischen selection und codification.

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Regies certaines gibt es für den Linguisten natürlich in jeder Sprache. Nur ihr Geltungsbereich mag sehr beschränkt sein. Das andere wichtige Element der Kodifizierung ist die Orthographie. Sie stellt scheinbar ein rein konventionelles Problem einer technischen Regelung dar, aber wie man im deutschen Sprachraum nur allzu gut weiß, können auch hier politische Untertöne mitschwingen. In den Vereinigten Staaten von Amerika entstand vor etwas mehr als 200 Jahren der Wille in der Bevölkerung, als eigenständige Nation ihr Schicksal selbst zu lenken. Gemeinsamkeiten mit dem Mutterland der nordamerikanischen Kolonien standen zu jener Zeit nicht hoch im Kurs, und es ist deshalb nicht überraschend, die politische Begründung zu lesen, die Noah Webster um die Wende des 18./l9. Jahrhunderts für eine amerikanische Orthographie gab: „Ein kapitaler Vorteil wäre, daß sie einen Unterschied zwischen der englischen und der amerikanischen Orthographie machen würde. Ich bin sicher, daß das weitreichende politische Konsequenzen hätte... Eine Nationalsprache ist ein Band nationaler Einheit." Und: „unsere Ehre als unabhängige Nation verlangt es, daß wir ein uns eigenes System haben, in der Sprache ebenso wie in der Regierung."

Noah Webster trug wesentlich zur Kodifizierung der amerikanischen Sprache bei. Über die Logik seiner Argumentation kann man gewiß streiten, und mancher wird vielleicht in Versuchung kommen, die Parallelität von eigener Regierung und Orthographie, beide von der Ehre gefordert, zu belächeln. Aber das ist kaum das Interessante an Äußerungen dieser Art. Sie sind Indiz politischer Verhältnisse und richten sich nach ihnen. Das zeigt gerade die Umkehrbarkeit der Argumentation: Eine Nation, eine Sprache — zwei Nationen, zwei Sprachen bzw. hier zwei orthographische Systeme. In jedem Fall die Ablehnung des Fremden, aber was fremd ist, kann eine politische Frage sein. Bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts wurde in der Slowakei Tschechisch als Schriftsprache verwendet. Erst seit dieser Zeit setzte sich die slowakische Volkssprache langsam im Schriftgebrauch durch. Im 19. Jahrhundert kommt es zu vermehrten literarischen Aktivitäten in der slowakischen Sprache und in den 40er Jahren wird auf

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der Grundlage des mittelslowakischen Dialekts eine vereinheitlichte Norm etabliert. Der mittelslowakische Dialekt weicht vom Tschechischen stärker ab als der westslowakische Dialekt, so daß durch seine Kodifizierung die Differenz zum Tschechischen maximiert wird: Tschechisch und Slowakisch werden zwei eigene Sprachen (Salzmann 1980). Kodifizierung als sprachplanerische Teilaufgabe kann also weitreichende Konsequenzen haben, die es zu antizipieren gilt, wenn solche Unternehmungen durchgeführt werden. Ein weiterer Teil der Sprachplanung, der der Kodifizierung nicht unbedingt zeitlich folgt, sondern mit ihr einhergehen kann, ist die Entwicklung, der Ausbau: Entwicklungsbedürftig sind Sprachen, die zum Gegenstand der Planung gemacht wurden, vor allem im Bereich der Lexik. Leibniz (ed. cit. IV, 144) machte die Beobachtung, daß die deutsche Sprache reich an Wörtern sei, die konkrete Gegenstände bezeichnen und mit handwerklichen Tätigkeiten verbunden sind, daß es ihr aber an Wörtern für die Bezeichnung nicht sinnlich wahrnehmbarer Dinge fehle, und die Gelehrten deshalb zum Lateinischen Zuflucht nehmen müßten. Tatsächlich verhält es sich natürlich genau umgekehrt: Der deutschen Sprache fehlten wissenschaftliche Termini, weil sie für wissenschaftliche Schriften nicht verwendet wurde. Was Leibniz vor 300 Jahren für die deutsche Sprache beobachtete, entspricht ziemlich genau den Problemen, die sich für den Ausbau z.B. des Finnischen im 19. Jahrhundert oder des indonesischen Malaiisch im 20. Jahrhundert stellen: Terminologien in Lebensbereichen, die unterentwickelt sind oder lange ausschließliche Domäne einer anderen Sprache waren: Wissenschaft, Technik, Verwaltung. Jede Sprache macht von Lehnwörtern Gebrauch. Gerade im Bereich von Terminologien, die nicht-autochthone Lebensbereiche betreffen, liegt das nahe, aber die Inkorporation großer Sondervokabulare einer anderen Sprache läuft der Ideologie der Sprachplaner häufig zuwider, denn die Sprache ist ja wegen ihrer Echtheit und Reinheit gewählt worden und rein muß sie gehalten werden. In seinem Buch „Nation, Sprache und Nationalismus" (1956: 97/99) schreibt Koppelman:

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„Es verrät eine geringe Meinung von der Muttersprache, wenn man ihr nicht die Kraft zutraut, mit eigenen Mitteln alles zu sagen. .. .die heiligsten Rechte hat die Sprache in ihrer Eigenschaft als besondere Nationale Sprache. Eine besonders schwere Stunde ist es darum, wenn man das echte, eigene Sprachgut mit fremden Wörtern durchsetzt."

Für den Ausbau des Wortschatzes heißt es also Lösungen finden, die nicht nur praktikabel, sondern auch emotional und ideologisch akzeptabel sind. Mit der Sprache ist die Selbstachtung einer Nation verbunden. Die allzu offensichtliche Abhängigkeit von anderen Sprachen verträgt sich damit nicht. Wiederum haben wir es hier mit einem der dem ganzen Unterfangen der Sprachplanung innewohnenden Widersprüche zu tun: Es geht darum, die Reinheit und Ursprünglichkeit der Sprache zu erhalten, aber gleichzeitig wird die Erneuerung und Bereicherung der Sprache angestrebt. Die Lehnübersetzung statt der Entlehnung des fremden Worts ist dafür die geeignete Strategie: Fernsprecher statt Telephon, Rundfunk statt Radio, Schaugeschäft statt Show business, Marschflugkörper statt cruise missiles etc. Sprachreinigung und Authentifizierung bei gleichzeitigem Ausbau des Wortschatzes ist die Devise. Sie bestimmt oder bestimmte in entsprechenden historischen Phasen das Verhältnis von Deutsch zu Französisch und Lateinisch, von Finnisch zu Schwedisch, von Estnisch zu Finnisch, von Türkisch zu Arabisch und Persisch, von Hindi zu Persisch oder von Französisch zu Englisch. Die Reinheit muß gesichert werden, oder das, was dafür gehalten wird. Anglizismen sind im Französischen verpönt, oder besser sollte ich sagen bei den Wächtern der Reinheit des Französischen, denn die Franzosen benutzen sie viel und gern. Der Rückgriff auf Latein oder Griechisch wird akzeptiert. Was authentisch ist, ist mindestens zum Teil eine ideologische Frage. Durch den Zwist zwischen Muslims und Hindus auf dem indischen Subkontinent ist Urdu stärker mit dem Islam, Hindi mit dem Hinduismus identifiziert. Bei der Erweiterung des Urdu-Wortschatzes wird in starkem Maße auf das Persische rekurriert, Hindi stützt sich auf Sanskrit - jeweils mit dem gleichen Argument der Authentizität. Die gehobenen Formen von Urdu und Hindi haben sich daher stark auseinanderentwickelt. Seit der Teilung Indiens wird diese Tendenz gefördert, weil außer den Religionsgemeinschaften auch noch Nationen mit den beiden Sprachen identifiziert sind.

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Für eine nationalistisch inspirierte Sprachplanung ist es wichtig, daß die Sprache richtig modernisiert, der Wortschatz auf richtige Weise ausgebaut wird, so nämlich, daß die Entwicklung nicht mit der Authentizitätsideologie in Konflikt gerät. In die Entwicklung der Sprache speziell im terminologischen Bereich werden hohe Erwartungen gesetzt, Erwartungen, die auf zum Teil abenteuerlichen Projektionen beruhen. Der philippinische Sprachplaner Gonsalo del Rosario (1967) schreibt dazu: „Eine konsistente und intelligente Modernisierung ihrer Nationalsprachen würde die Malaisier, die Indonesier und die Philippines dazu in die Lage versetzen, die westlichen Nationen in Wissenschaft und Technik zu übertreffen; denn deren Sprachen sind mit einer Vielzahl von Begriffen belastet, die aus dem Lateinischen und Griechischen abgeleitet sind und Formen mit einander verbinden, die mit der Gemeinsprache nicht mehr konsistent sind. Japan mit seinem konsistenten Nippongo zeigt, daß so etwas möglich ist."

Die Fähigkeit, den Westen in Wissenschaft und Technik zu übertreffen, wie Japan sie demonstriert hat, soll also allein von der richtigen Sprachplanung abhängen, wobei hier besonders die Wichtigkeit der Konsistenz hervorgehoben wird. Wörter sollen nicht ungeregelt und nach verschiedenen Mustern in die Sprache inkorporiert werden, denn es soll ja schießlich Ordnung geschaffen werden. Das zitierte Beispiel freilich, das vermeintlich in dieser Hinsicht so konsistente Japanisch, ist eine reine Projektion eines Soll-Zustandes. Im Japanischen wird von diversen Wortentlehnungsmustern und Wortbildungsmustern Gebrauch gemacht. Konsistent kann man die Sprache in dieser Hinsicht gewiß nicht nennen (s.u. Kap. VIII). Das del Rosario vorzuhalten, würde aber den wesentlichen Punkt seiner Argumentation nicht treffen. Für Sprachplaner von heute ist Japanisch nicht wegen seiner Konsistenz ein attraktives Beispiel, sondern weil es die allen elaborierten Kommunikationsfunktionen gerecht werdende Sprache einer für die Entwicklungsplaner attraktiven Nation ist, die ihre Sprache in kurzer Zeit modernisiert hat, ohne in Abhängigkeit von der westlichen Welt zu geraten und die außerdem wie wenige andere die dem Ideal des Sprachnationalismus entsprechende Einheit von Staat, Sprachraum und Nation verkörpert.

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Inhalte und Probleme der Sprachplanung Sprachplanerische Eingriffe in die Entwicklung einer Sprache setzen eine Vorstellung davon voraus, was erstrebenswert ist. Hier greift die Ideologie von der Authentizität und wiederum wird der innere Widerspruch sichtbar, der das ganze Unternehmen Sprachplanung kennzeichnet: Unter dem Vorzeichen der als notwendig anerkannten Modernisierung wird der Rückgriff auf das Uralte, Authentische proklamiert. Dabei wird als Inkarnation des Echten häufig die vermeintlich unverdorbene, reine und einfache Sprache des „einfachen" Volkes, speziell des Bauern, zum Modell der Sprachplanung gemacht. Der Reichtum der bäuerlichen Sprache wird als authentisch glorifiziert und den gehobenen Varietäten gegenübergestellt, die unweigerlich mehr fremde Einflüsse aufweisen. In der deutschen Romantik bspw., die ja nicht nur zeitlich mit starken nationalistischen Strömungen zusammenfiel, war die Glorifizierung des Einfachen, des unverdorbenen Volksmundes ein Topos, der freilich in der historischen Legende noch beträchtliche Ausschmückungen erfuhr: Clemens Brentano wandelt singend über die Auen und die Brüder Grimm lauschen dem einfachen Landvolk die Märchen ab, die sie nur getreulich aufschreiben. Daß die Quellen der Grimms ebenso wie die von Arnims und Brentanos für die Lieder des Knaben Wunderhorn zum Teil ihre großen Bibliotheken mehr als das ungebildete Volk waren und daß sie nicht nur sammelten, sondern selbst gestalterisch auf die Sprache einwirkten, dadurch daß sie den Liedern und Märchen ihre Form gaben, gerät dabei leicht in Vergessenheit. Daß die Autoren den Ehrgeiz hatten, sprachschöpferisch und authentifizierend zugleich zu wirken, belegen kleine Beispiele wie etwa die Metamorphose von Prince über Prinz zu Königssohn im Dornröschenmärchen der ersten drei Auflagen der Grimmschen Sammlung. Ein anderes, sehr viel konsequenzenreicheres Beispiel authentifizierender Eingriffe in die Entwicklung einer Sprache stellt die Geschichte des Griechischen seit der Befreiung Griechenlands von ottomanischer Herrschaft Anfang des 19.Jahrhunderts dar. Obwohl die demotische Sprache — also die Sprache des Volkes — seit

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dem 12. Jahrhundert das anerkannte Medium der Poesie war (Alexiou 1982: 159), hielten es griechische Intellektuelle im Zuge der nationalen Auferstehung Griechenlands für geboten, sich auf ihre klassischen Wurzeln zu besinnen. Das Griechenland des klassischen Altertums wurde in Europa bewundert. Sollte es nicht möglich sein, einen Teil dieser Bewunderung auf die Gegenwart zu übertragen, wenn man die Sprache der Gegenwart nach dem klassischen Ideal ausrichtete? Solche oder ähnliche Gedanken müssen den Nationalisten Adamantios Korais (1748—1833) zur Schaffung der archaisierenden Katharevousa als griechische Hochsprache bewogen haben. Erfolgreich war er zweifellos, denn von 1834 bis 1976 war Katharevousa die Sprache des Staates, die im Parlament, vom Gericht, in der Armee und in der zivilen Verwaltung verwendet wurde. Aber ihre Einführung und offizielle Stützung richtete mehr Chaos als Ordnung an: Neben verschiedenen Varietäten der Dhimotiki bürgerten sich Mischformen von Dhimotiki und Katharevousa ein. Es gelang nicht, einen einheitlichen Standard zu etablieren, was gewiß daran lag, daß die demotische Volkssprache von ihren Sprechern nicht als unterentwickelte, der Verbesserung bedürftige Varietät betrachtet wurde. Katharevousa wurde als Artefakt in die Sprachgemeinschaft eingeführt. Die lebendige, natürlich gewachsene Dhimotiki wich ihr nicht. Den Widerspruch zu überwinden, den jede Sprachplanung beinhaltet, gelang nur unvollkommen: Die schriftliche fixierte einheitliche Version des archaischen Modells der variablen gesprochenen Sprache wurde nicht zu einer homogenen (gesprochenen) Umgangssprache. Einer zusätzlichen Schwierigkeit steht die Sprachplanung heute in den Entwicklungsländern gegenüber: Während Standardisierungsbemühungen in Europa zumeist auf natürlich gewachsenen, Konvergenz fördernden Schrifttraditionen aufbauen konnten, wird in den Entwicklungsländern vielfach gleichzeitig verschriftet und standardisiert. Der Entscheidung für die Norm kommt daher viel mehr Gewicht zu. Bei einer gegebenen Schrifttradition ist die Standardisierung gewissermaßen nur Feinarbeit, wo aber verschriftet wird, oder genauer gesagt, mit einer Alphabetschrift verschriftet wird, wird gleichzeitig ein Standard geschaffen. Das chinesische

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Beispiel zeigt, daß beides bei nicht-alphabetischen Systemen prinzipiell unabhängig ist: Trotz seiner langen Schrifttradition konnten sich die Dialekte des Chinesischen soweit auseinander entwickeln, daß sie heute nicht mehr interkommunikabel sind. Die chinesische Regierung betreibt deshalb eine Sprachplanung, die auf die Durchsetzung eines die Dialekte überdachenden Standards (Putunghua) zielt, der mit einer Alphabetenschrift (Hanyupinjin) fixiert wird (s. u. Kap. VII). Der Zusammenhang, der, wie ich versucht habe zu zeigen, zwischen Nationalismus und Sprachplanung besteht, sollte nicht den Eindruck erwecken, daß Sprachplanung von allen Nationalisten bejaht wird. Sprachplanung ist ja in erster Linie der Versuch, autochthone Sprachen gegen die Übermacht anderer zu verteidigen und so auszubauen, daß sie den Kommunikationsanforderungen moderner Gesellschaften genügen können. Sprachplanung heute ist Teil der in den Entwicklungsländern allfälligen Modernisierung und ist Teil der Nationenbildung als Symbol nationaler Einheit. Gegen Sprachplanung werden trotzdem von ebenfalls nationalistisch gesonnenen Politikern Argumente vorgebracht. Sie machen vor allem zwei Einwände geltend: Sprachplanung und Modernisierung der Sprache ist (a) unmöglich und (b) überflüssig. Wenn man sich vergegenwärtigt, daß die europäischen Kultursprachen erst in der Neuzeit Latein als Wissenschaftssprache ersetzen; daß bspw. Deutsch noch von Leibniz, wie oben schon bemerkt, als unzulänglich für die Wissenschaften angesehen und erst von Männern wie Wolff, Adelung, Gottsched und den Grimms zur Wissenschaftssprache „aufbereitet" werden mußte; wenn man außerdem bedenkt, daß sich die Entwicklung fachsprachlicher Terminologien verglichen mit der Zeit, in der sie im Zuge der Renaissance und der Industrialisierung in den europäischen Sprachen zuerst entstanden, um ein Vielfaches beschleunigt hat, daß also heute auf der Grundlage bereits entwickelter Terminologien kontinuierlich neue Termini eingeführt werden müssen; dann kann man verstehen, daß der Vorsprung, den die europäischen Sprachen in dieser Hinsicht selbst

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vor den höchst entwickelten Ländern der Dritten Welt haben, von manchen für zu groß gehalten wird, als daß er eingeholt werden könnte. Ein anderes Argument ist weniger quantitativer als qualitativer Art: Sprachplanung wird für unmöglich gehalten, weil Sprachen keine Objekte sind, die sich planen lassen. Die Sprache gehört dem Volk, und durch den Gebrauch, den das Volk von der Sprache macht, wird entschieden, was zur Sprache gehört. Schon Klopstock, der wie wenige die Wichtigkeit der Sprachplanung für die deutsche Gelehrtenrepublik erkannte, bedachte und problematisierte diesen Punkt. In einem Abschnitt Von einem zu schreibenden deutschen 'Wörterbuche (1975: 163) heißt es: „Diejenigen, die Wörterbücher schreiben, sollten ja die Sprache festsetzen. Festsetzen? Als wenn die unsrige nicht schon beynah durchgehende festgesetzt wäre? Und es eine lebende Sprache jemals ganz würde? Und dann sollen es vier, fünf, zehn, zwölf Männer thun können? Seit wann haben denn die Nationen aufgehört, ihre Sprache festzusetzen?" Klopstock spricht hier einen wichtigen Aspekt der Arbeit des Lexikographen an: Ob er will oder nicht, fallen ihm sprachplanerische Aufgaben zu, nämlich „die Sprache festzusetzen". Ein Wörterbuch gewinnt durch sein schieres Bestehen Eigenautorität. Das erklärte Ziel der Grimms war es, mit dem Wörterbuch jeder Familie den Sprachschatz schriftlich zu geben. Aber sollten das einige wenige Männer tun können? Wie sehr können und wie sehr sollten Einzelne durch planerische Eingriffe auf die geschichtliche Entwicklung einer Sprache einwirken? „Die Festsetzung" der Sprache, sagt Klopstock, wird von der Nation als ganzer besorgt. In jedem Fall ist sie die Instanz, die die Vorschläge von Sprachplanern sanktionieren muß. Von der Sprachgemeinschaft angenommen wird nur, was sie selbst produziert und das geschieht unabhängig von jeder Planung — so jedenfalls das Argument derer, die Sprachplanung für unmöglich halten. Die meisten Linguisten gehören dazu. Sie argumentieren, daß man in einer Sprache noch nicht einmal eine Flexionsendung willkürlich verändern könne. Wie soll es dann möglich sein, eine ganze Sprache planerisch in den Griff zu kriegen. Die Einstellung der Linguistik als Disziplin zur Sprachplanung kommt äußerlich sehr

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deutlich darin zum Ausdruck, daß Sprachplanung von denen, die sich mit Sprachgeschichte befassen, gemeinhin nicht als einer der Sprachwandel beeinflussenden Faktoren berücksichtigt oder anerkannt wird (Ferguson 1983); Sprachwandel ist ein gesetzmäßiger Prozeß, der sprachimmanenten Tendenzen folgt, die zwar in einem reaktiven Verhältnis zu sprachäußerlichen Faktoren stehen können, aber dennoch nicht planbar sind. Diese Haltung, die mehr auf Vorurteilen als auf gezielter Forschung beruht, ist dafür verantwortlich, daß bisher nur unzulängliche Erkenntnisse darüber vorliegen, wie und in welchem Maße Sprachplanung sich auf Sprachgeschichte auswirkt. Um diesen Punkt nicht ganz zu übergehen, ist es sinnvoll, zwei verschiedene Arten von Sprachplanung zu unterscheiden, die sich nicht mit den schon eingeführten vier sprachplanerischen Phasen Haugens (1966) -Normenauswahl, Kodifizierung, Ausbau, Implementierung - decken. Die Distinktion, um die es hier geht, liegt parallel zu der zwischen der Sprache als System und ihrem sozialen Gebrauch. Sprachplanung kann sich beziehen entweder auf Erweiterungen oder andere Veränderungen am System der Sprache oder Varietät oder auf den Gebrauch resp. die Funktion verschiedener Varietäten in einer Sprachgemeinschaft. Erstere Form der Sprachplanung wird Korpusplanung genannt, letztere Statusplanung. Bei der Korpusplanung geht es darum, Lexikon, Grammatik und Orthographie einer gegebenen Sprache zu standardisieren, zu erweitern oder in irgendeiner anderen Weise zu beeinflussen. Bei der Statusplanung geht es demgegenüber darum, den Status, den eine Sprache oder Varietät in einer Gesellschaft hat, zu verändern. Zum Beispiel verändert die Anerkennung des Arabischen als sechste offizielle Sprache der UNO (neben den beiden Arbeitssprachen Englisch und Französisch und den anderen drei offiziellen Sprachen Chinesisch, Russisch und Spanisch) dessen Status auf der internationalen Bühne. Diese Anerkennung hat hauptsächlich symbolische Bedeutung. Sie reflektiert das Gewicht, das den arabischsprachigen Ländern in der Welt zukommt. Ähnliche Prozesse gibt es auch auf der nationalen Bühne. Die Ersetzung des Lateinischen durch das Deutsche als Wissenschaftssprache betraf den Status dieser beiden Sprachen in der Gesell-

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schaft. Drastischer noch war die Einführung des Deutschen in den Gottesdienst in der Reformation. Bei diesem Beispiel ist noch augenfälliger, daß Sprachplanung an dieser Veränderung einen Anteil hatte, Sprachplanung, die die Funktion der Sprache in der Gesellschaft betraf. Andere Beispiele von Statusveränderungen, die Sprachen in einer Gesellschaft erfahren haben, sind Legion: das Französische, das zwischen dem 14. und 16.Jahrhundert seine Rolle als Sprache des Parlaments und der Gerichte in England einbüßte; das Färingische, das Dänisch auf den Faröer Inseln seit Anfang dieses Jahrhunderts als Sprache der Erziehung und der Kirche ersetzt hat; die sich gegenwärtig vollziehende Ersetzung vieler Funktionen des Englischen in Ostafrika durch Suaheli. Andererseits gibt es auch zahlreiche Beispiele von Sprachen, deren Sprecher sich um eine Veränderung des Status ihrer Sprache in ihrem Land bislang noch ohne den gewünschten Erfolg einsetzen: So etwa die Katalanen, die in Spanien für die Gleichstellung ihrer Muttersprache mit dem Kastilianischen kämpfen oder die Spanisch sprechenden Bevölkerungsteile der USA. Bei den Determinanten der Statusbestimmung von Sprachen in einer Gesellschaft greifen politische Entscheidungen, rechtliche Bedingungen sowie soziale Vorurteile und Spracheinstellungen ineinander. Den Status einer Sprache durch einen bloßen Verwaltungsakt aufzuwerten, ist deshalb äußerst schwierig. Obwohl ganze Viertel New Yorks spanischsprachig sind und obwohl Spanisch als Folge der starken Einwanderung aus der Karibik und Mittelamerika immer deutlicher zur zweitwichtigsten Sprache der USA wird, ist eine Statusaufwertung des Spanischen selbst in überwiegend spanischsprachigen Regionen wenig wahrscheinlich, weil Spanisch in den USA fast durchweg die Sprache sozial niedriger Schichten ist. Der Status von Spanisch in den USA ist an sich nicht gesetzlich geregelt, aber gerade dadurch ist er kompliziert: In welchen Institutionen bspw. darf Spanisch gesprochen werden? Kirche, ja, da Kirchen in den USA Privatsache sind. Schule ist schon komplizierter, aber in Regionen mit großem spanischsprachigen Bevölkerungsanteil wird für den Einzelfall entschieden. Problematisch ist das Gericht. Was geschieht, wenn ein amerikanischer Bürger, der 6

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Spanisch und nicht oder nur gebrochen Englisch spricht, in einen Rechtsstreit verwickelt wird und vor Gericht erscheinen muß? Diese Frage muß gesetzlich geregelt werden, weil sie mit erheblichen Kosten verbunden ist. Es muß geklärt werden, ob z. B. nur was ein Angeklagter zu sagen hat oder ein Zeuge gedolmetscht werden muß, damit es der Richter versteht oder ob auch der Angeklagte ein Recht darauf hat, daß ihm alles, was während des Verfahrens gesagt wird, gedolmetscht wird und wenn ja, auf wessen Kosten. Bevor es eine gesetzliche Regelung gab, hat es Gerichtsentscheidungen gegeben, z. B. in Massachusetts, in denen gegen die Verwendung anderer Sprachen als Englisch im Gerichtssaal entschieden wurde mit der Begründung, daß die USA kein vielsprachiges Land seien. 1978 ist unter der Regierung von Präsident Carter ein Gesetz verabschiedet worden, das den Einsatz von Dolmetschern vor Gericht regelt. Ein Stück der „melting pot"Ideologie wurde damit zurückgenommen (Arjona 1983). Denn der allgemeine Glaube, Englisch sei die offizielle Nationalsprache der USA ist durch nichts in der Verfassung verankert. Zwar ist Englisch die Sprache, die in den Vereinigten Staaten für fast alle öffentlichen Zwecke verwendet wird, eine gesetzliche Bestimmung liegt dieser Praxis jedoch nicht zugrunde. Die spanischsprachige Bevölkerung nimmt weiterhin stark zu, und ihr Selbstbewußtsein wächst. Von daher sind die Voraussetzungen für eine Statusveränderung des Spanischen in den USA gegeben. Was dem entgegensteht, ist jedoch ein Mangel an Korpusplanung: Mit den verschiedenen Einwanderungsgruppen sind verschiedene spanische Varietäten in den Vereinigten Staaten repräsentiert. Das puertorikanische Spanisch unterscheidet sich deutlich vom mexikanischen, einen verbindlichen Standard des Spanischen in USA oder gar in den beiden Amerikas zu etablieren, ist bisher nicht gelungen (Milan 1983). Statusplanung und Korpusplanung sind zwar zwei sehr verschiedene Aspekte der Sprachplanung, bei ihrer Implementierung besteht jedoch ein Zusammenhang zwischen beiden. Die Statusveränderung einer Sprache oder Varietät in einer Gesellschaft ist u.U. nicht realisierbar, ohne daß durch Korpusplanung die Voraussetzungen dafür geschaffen worden sind. Umgekehrt wird fast jede Korpusplanung auf Statusveränderung abzielen.

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Noch ein Beispiel aus dem juristischen Bereich soll das illustrieren. Papua-Neuguinea ist seit 1975 unabhängig. Mit seinen 3.3 Mio. Einwohnern und den von ihnen gesprochenen über 700 Sprachen ist dieser kleine pazifische Inselstaat das wohl relativ sprachenreichste Land der Welt. In der in englischer Sprache geschriebenen Verfassung werden drei Sprachen als offizielle überregionale Verkehrssprachen anerkannt: Englisch, Tok Pisin und Motu. Tok Pisin wird von etwa einem Drittel der Bevölkerung gesprochen (Brennan 1983) und hätte damit gute Voraussetzungen, zu der Sprache Papua Neuguineas zu werden. Aber besteht wirklich eine Chance für Tok Pisin, die Sprache der australischen Kolonialverwaltung, Englisch, zu ersetzen? Papua Neuguinea versucht, ein verfasster Staat zu werden mit einem kodifizierten Rechtssystem und den dazugehörigen Institutionen. Die Verfassung des Landes liegt bisher nur auf Englisch vor, Übersetzungen dieses Dokuments ins Tok Pisin und Motu sind versucht, aber bisher nur in kleinen Bruchstücken angefertigt worden. Die Unterrichtssprache in der Hochschule ist Englisch und ebenso die Sprache des Parlaments, eine Situation, mit der viele unzufrieden sind, weil sie im Gebrauch des Englischen ein koloniales Relikt sehen. Auch in dieser Hinsicht sind die Voraussetzungen der Sprachplanung, die auf eine Verbesserung des Status von Tok Pisin zielen, günstig. Das allein genügt aber nicht. Da Tok Pisin in juristischen Kontexten bisher nicht verwendet wurde, fehlt der Sprache eine juristische Terminologie. So elementaren Begriffen wie „Mord", „Totschlag", „Raub", „Einbruch" usw., ja selbst den Begriffen „schuldig" und „unschuldig" fehlen im Tok Pisin Entsprechungen mit einem exakt festgelegten Bedeutungsumfang. Hier müssen also durch gründliche und umfangreiche Korpusplanung erst die Bedingungen geschaffen werden, die sinnvolle Statusplanung ermöglichen. Juristische Terminologien gehören zu den kompliziertesten Terminologien überhaupt, da die verwendeten Wörter in ihrer Bedeutung ausschließlich definitorisch im Rahmen eines juristischen Kodex festgelegt sind und keineswegs aus sich heraus bedeutungsträchtig sind. Schon die Übersetzung juristischer Dokumente zwischen hochentwickelten Kultursprachen bereitet deswegen erhebliche

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Schwierigkeiten. (Es gibt bspw. zwei deutsche Versionen der Charta der Vereinten Nationen.) Die Probleme für Sprachen ohne ausgebildete Rechtsterminologie sind um ein Vielfaches größer. Sie sind so groß, daß sie manchmal für unüberwindlich und damit das ganze Projekt des Terminologieausbaus für nicht realisierbar gehalten werden. In den Chor derer, die Sprachplanung als unmöglich ablehnen, stimmen jene ein, die sie für überflüssig halten. Sprachen sind nach dieser Auffassung naturwüchsige und sich selbst regelnde Systeme, die sich ohne Planung den Kommunikationsbedürfnissen ihrer Sprachgemeinschaften anpassen (Hall 1950). In diesem Sinne äußerte sich bspw. Nehru bezüglich der Frage der Modernisierung von Hindi (bei ihm Hindustani): Ich persönlich würde es ermuntern, daß Hindustani viele Wörter aus dem Englischen aufnimmt und assimiliert— Da uns moderne Termini fehlen, ist das notwendig, und es ist besser, wohlbekannte Wörter zu haben, als neue und komplizierte Wörter aus dem Sanskrit, dem Persischen oder Arabischen herzuleiten. Puristen lehnen die Verwendung fremder Wörter ab, aber ich glaube, sie machen einen großen Fehler (Nehru 1953: 456).

Statt durch gezielte Korpusplanung Terminologien zu schaffen, plädierte Nehru also dafür, der Neigung sich ans Englische anzulehnen, ungehindert nachzugeben. Fraglich ist allerdings, ob er das Verhältnis von „wohlbekannten Wörtern" und „neuen und komplizierten Wörtern" richtig einschätzte, und ob er die Konsequenzen überblickte, die der Verzicht auf die Entwicklung fachsprachlicher Nomenklaturen in wenigstens einigen der großen indischen Sprachen und vor allem Hindi haben müßte — nämlich die Festschreibung der Abhängigkeit vom Westen auch in diesem Bereich. Denn einer verbreiteten gegenteiligen Annahme zum Trotz ist Indien kein englischsprachiges Land (s.u. Kap. VI). Die Schicht derer, die Englisch fließend beherrschen, ist äußerst dünn und außerdem, darüber sind sich Pädagogen und andere Beobachter der Sprachensituation in Indien einig, sinkt das Niveau der Englischkenntnisse kontinuierlich. Was wächst, ist demgegenüber die ungesteuerte Entlehnung englischer Fremdwörter auch in fachsprachlichen Bereichen, wodurch der Ausbau von Nomenklaturen

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in den indischen Sprachen inhibiert wird. Denn da Englisch zumindest als zweite oder dritte Sprache in Indien relativ verbreitet ist, bleiben viele dieser Wörter Englisch, d. h. sie werden nicht wirklich in die entlehnenden Sprachen - Hindi, Bengali, Gujarati, Tamil etc. — inkorporiert, werden ihnen nicht phonetisch und morphologisch angepaßt. Eine solche Situation ist nicht erstrebenswert, da sie der Entwicklung nicht förderlich ist. Aufgrund dieser laissez-faireHaltung und der besonderen Stellung des Englischen in Indien auf die zurückzukommen sein wird, gibt es bis heute in keiner indischen Sprache ausdifferenzierte Terminologien. Das Medium des wissenschaftlichen Diskurses ist nach wie vor Englisch, was von progressiven Sprachplanern (z.B. Khubchandandi 1981) weniger deshalb bedauert wird, weil Englisch die Sprache der früheren Kolonialmacht ist, als vielmehr wegen der Rolle, die Englisch als Sprache der Privilegierten spielt, die sich sprachlich vom eigenen Volk absentieren und den Zugang zu den privilegierten Bereichen in Politik, Wirtschaft und Wissenschaft zusätzlich erschweren. Inzwischen gibt es fast in allen indischen Staaten offizielle Komitees für die Entwicklung technischer, wissenschaftlicher, juristischer und administrativer Terminologien in den jeweiligen dominanten Regionalsprachen (Apte 1976: 151). Wieviel Erfolg sie haben werden, ist schwer zu prognostizieren. Zumindest zum Teil wird das von anderen, hauptsächlich von statusplanerischen Entscheidungen der Sprachpolitik der einzelnen Staaten abhängen. Was nicht zu übersehen ist, ist freilich, daß sich die Einstellung zur Sprachplanung geändert hat. Widerstand gegen Normen, wie sie ja durch sprachplanerische Tätigkeit gesetzt werden, erhebt sich überall dort, wo Sprachplanung mehr oder weniger auffällig an die Öffentlichkeit tritt. Aller Voraussicht nach wird das auch in Zukunft so sein. In Kanada erntet das Office de la Langue Franqaise, das alles daran setzt, päpstlicher als der Papst - nämlich die puristische Academic Frangaise — zu sein, nicht nur von anglophonen Kanadiern Hohn und Spott. In Israel ist bei der Generation, deren Muttersprache Hebräisch ist, wie Fishman (1983: 107 f.) berichtet, eine ebenso kritische Haltung gegenüber den Vorschriften der Akademie verbreitet, die als „Sonntagshebräisch" bezeich-

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net werden. Und manchmal äußern die Planer selber Zweifel an den Standards, die sie gesetzt haben. Der größte Teil des in diesen Büchern enthaltenen Suaheli ist grammatisch korrekt und läßt sich aus diesem Grund verteidigen. Grammatische Genauigkeit an sich stellt jedoch noch keine Sprache dar. Möglicherweise ist es gerade diese übertriebene Anwendung grammatischer Regeln, die uns von dem echten Suaheli weggeführt und dazu veranlasst hat, es durch etwas zu ersetzen, das im günstigen Fall leblos und verständlich und im ungünstigen Fall leblos und unverständlich ist. (Whiteley (1969: 87) zitiert das Bulletin of the Inter-territorial Language Committee.}

Zweifel bzw. Kritik an geltenden Normen wird in Abständen auch immer wieder unter Linguisten modern, deren Muttersprache schon hochstandardisiert ist und nicht erst Standardisierungsbemühungen unterzogen werden muß. Mit der antiautoritären Erziehung hatte in der BRD auch die Normenkritik Hochkonjunktur. Sie wurde bei der Gelegenheit, wie hier nur mit einem Zitat belegt werden soll, mit politischen Inhalten aufgeladen, die nicht immer im rechten Verhältnis zum Gegenstand zu stehen schienen. „Wer blind zu glauben gelernt hat, daß bei brauchen immer ein zu stehen muß, wird auch die Verteilung des Eigentums nicht in Frage stellen." (S. Jäger 1976: 13). Festgesetzte Regeln sind Terror — das jedenfalls kann man aus manchen Stellungnahmen fortschrittlich gesonnener Linguisten zur Problematik der sprachlichen Norm heraushören. „Alles, was sinnvoll ist, ist wohlgeformt" (H. J. Heringer*). So etwas kann nur jemand sagen, dem von seiner eigenen sprachlichen Sozialisation die Verwendungsbedingungen einer stark normierten Sprache so selbstverständlich sind, daß er sich die Probleme und Nachteile, die mit dem Fehlen eines fest etablierten Standards für bestimmte Kommunikationszwecke einhergehen, die vor allem in modernen Gesellschaften wichtig sind, gar nicht vorstellen kann. Normen können nur bestehen, wenn sie von einer Sprachgemeinschaft akzeptiert werden, aber von naturwüchsig entstandenen Konventionen unterscheiden sie sich dadurch, daß sie ein Moment * In einem fortschrittlichen Vortrag über Wortbildung, den er am 18. 11. 1983 in der Universität Düsseldorf hielt.

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der Setzung enthalten. Das muß keine gesetzte Vorschrift sein, die von außen neu an die Sprachgemeinschaft herangetragen wird, sondern kann in der Entscheidung für eine von verschiedenen Konventionen oder (dem Versuch) der Erhaltung einer Form oder Regel bestehen. Worin die Normierung aber auch besteht, ohne Widerstand kann nichts durchgesetzt oder erhalten werden. Durch Normierung wird Sprachwandel ja nicht unterbunden, sondern allenfalls verlangsamt und kanalisiert, u.U. aber auch forciert. Widerstand dagegen hat es in unterschiedlich starker Ausprägung gegeben und wird es weiterhin geben, denn Normen bedürfen einer Instanz, die sie setzt und schützt, und eine solche wird naturgemäß nicht von allen Betroffenen akzeptiert. Der Widerstand gegen (nationalistisch inspirierte) Sprachplanung macht, wie oben bemerkt, von zwei Argumenten Gebrauch: sie sei unmöglich oder überflüssig. Die seit der Entkolonialisierung durchgeführten Sprachplanungsprojekte — und nicht nur die haben diesen Argumenten aber einigen Wind aus den Segeln genommen: Heute kann nicht mehr so getan werden, als wären Korpus- oder Statusplanung nicht realisierbar und die Ansicht, daß sie überflüssig sind, hat speziell angesichts der überall wachsenden Bedeutung der Fachsprachenforschung auch erheblich an Popularität eingebüßt. Zudem ist Korpusplanung nicht mehr nur ein Unterfangen, das für Entwicklungsländer und deren Sprachen wichtig ist. Nicht nur dort, wo ein Rückstand in der Terminologiebildung aufzuholen ist, spielt Korpusplanung eine wichtige Rolle; auch in Industrienationen mit einer schnell-lebendigen, innovativen Wirtschaft besteht ständig Bedarf an neuen Bezeichnungen und Begriffen, den zu decken heutzutage nicht mehr ausschließlich der individuellen Phantasie überlassen wird: In der BRD bspw. sind dem Deutschen Institut für Normierung (D1N) mit der wachsenden Flut neuer Produkte und Erfindungen wichtige Aufgaben für deren Benennung zugewachsen. In der einen oder anderen Form wird in den meisten Industrieländern Korpusplanung betrieben, weil sie notwendig ist. Das haben inzwischen auch viele Linguisten eingesehen. Allerdings ist die Skepsis dagegen bei manchen in die ebenso verfehlte Auffassung umgeschlagen, daß Korpusplanung eine recht simple, nur das

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Lexikon betreffende, technische Frage sei. Fishman (1983) hat darauf hingewiesen, daß sie auf drei verkehrten Voraussetzungen beruht: Erstens wäre Korpusplanung keine simple Sache, selbst wenn sie nur das Lexikon beträfe, da dasselbe nicht eine bloße Liste ist, der man beliebig viele neue Einheiten hinzufügen kann. Vielmehr ist das Lexikon eine hochkomplizierte Struktur, deren Einheiten auf vielfache Weise miteinander in Beziehung stehen, was bei jedem gezielten Eingriff berücksichtigt werden muß. Zweitens betrifft Korpusplanung nicht das Lexikon allein, sondern kann ganze Stilregister betreffen wie z. B. Anredepronomina oder Suffixe (z.B. Jap. -kun als hierarchieneutralisierendes Anredesuffix im Parlament). Drittens schließlich besteht Korpusplanung nicht nur in der Aufstellung von Nomenklaturen, die auf linguistisch und technisch bzw. wissenschaftlich stichhaltigen Kriterien beruhen, sondern auch in der sozialen Durchsetzung. Aussichtsreiche Korpusplanung hat also die Untersuchung der soziokulturellen Bedingungen der Einführung neuer Begriffe bzw. der Eigenschaften, die neue Begriffe akzeptabel machen, zur Voraussetzung. Bspw. hat man sich bei der Bildung neuer Termini im Färingischen von der Anlehnung ans Dänische gelöst und macht stattdessen in stärkerem Maße bei dem dem Färingischen am nächsten verwandten Isländisch Anleihen, weil die von dort bezogenen Entlehnungen authentischer und somit akzeptabler wirken. Ein anderer Faktor der Akzeptabilität neuer Termini ist die Anpassung von Fremdwörtern an die Struktur der aufnehmenden Sprache. Das betrifft die Frage, ob man es zulassen soll, daß sich die phonologische Struktur und die Silbenstruktur einer Sprache durch die Aufnahme von Fremdwörtern ändert d.h. verkompliziert. (Die Phoneme /z/ (wie in Garage) und /]/ wie in Dschunke gibt es im Deutschen außer in Fremdwörtern nicht.) Da, wo Alternativen für Adaptionsstrategien bestehen wie z.B. im Bahasa Indonesia (Alisjahbana 1984 b) können in dieser Hinsicht durchaus Entscheidungen getroffen werden, durch die über die Vermittlung von Verlagen, Schulen, öffentlichen Medien etc. die Entwicklung der Sprache beeinflußt werden kann. Im Bahasa Indonesia gibt es keine Konsonantengruppen, da die Silbenstruktur äußerst einfach und auf vier mögliche Typen be-

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schränkt ist: V, KV, VK und KVK. Durch die zahlreichen Fremdwörter, die aus dem Javanesischen, Niederländischen und Englischen ins Indonesische gekommen sind, wird die Silbenstruktur der Sprache verkompliziert, weil Konsonantengruppen in den genannten Sprachen häufig sind (z.B. credit, glass, process). Da die Silbenstruktur mit phonologischen und morphologischen Regularitäten in Zusammenhang steht, verkompliziert sich durch die Inkorporation von Fremdwörtern mit Konsonantengruppen das ganze phonologische System. Es ist deshalb sinnvoll zu versuchen, Fremdwörter der Silbenstruktur des Indonesischen anzupassen (z.B. Engl. stop als setop zu adaptieren). Im Japanischen, das eine ähnlich einfache Silbenstruktur wie das Indonesische hat, werden Fremdwörter konsequent angepaßt (z. B. stop —» sutoppu). Dabei spielt mit Sicherheit die Schrift eine wichtige Rolle, da das japanische Schriftsystem die Silbenstruktur im Bewußtsein der Sprecher verstärkt und darüberhinaus viele Fremdwörter durch das schriftliche Medium eingeführt werden, in dem Konsonantengruppen gar nicht dargestellt werden können, so daß das zuerst gelesene neue Fremdwort von Anfang an japanisiert ist. Ein wesentlicher Unterschied zwischen dem japanischen und dem indonesischen Beispiel ist, daß es in Japan kein Illiteralitätsproblem gibt. Indonesien hingegen hat eine hohe Analphabetismusrate, so daß die geschriebene Sprache in viel geringerem Maß als ungefragt von allen anerkanntes Mittel der Korpusplanung bzw. Standardisierung eingesetzt werden kann. Vielmehr wird in Indonesien ja gerade erst ein schriftsprachlicher Standard geschaffen (Rubin 1977). Es ist nicht zuletzt deshalb äußerst schwierig, Prognosen über den Ausgang des Sprachplanungsprozesses in Indonesien zu machen. Dies gilt freilich generell. Zwar kann die Frage, Can language be planned? die noch vor fünfzehn Jahren den sehr passenden Titel eines wichtigen Sammelbandes zum Themenkomplex ,Sprachplanung' abgeben konnte (Rubin, Jernudd 1971), inzwischen als affirmativ beantwortet gelten. Das bedeutet jedoch nicht, daß die Konsequenzen von Sprachplanung im einzelnen abzusehen wären. Deshalb ist es durchaus berechtigt, daß immer wieder die Frage gestellt wird, warum Sprachplanung betrieben

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werden soll, wenn die Aussichten dafür doch ungewiß sind. In vielen Ländern fällt eine Antwort gleichwohl nicht schwer, in solchen nämlich, in denen es ernsthafte Sprachprobleme gibt, und das ist in einem großen Teil der Entwicklungsländer der Fall. Worin diese Probleme im einzelnen bestehen, wird in den folgenden Kapiteln behandelt. Im Vordergrund stehen die Länder der Dritten Welt, die großenteils durch Vielsprachigkeit gekennzeichnet sind und außerdem an den sprachlichen Folgen des Kolonialismus zu tragen haben.

III. Vielsprachigkeit in der Gesellschaft Sprachminderheiten und Minderheitensprachen Was sind Sprachminderheiten, was Minderheitssprachen, und wodurch ist die Unterscheidung beider Begriffe motiviert? Dies sind scheinbar recht einfach zu beantwortende Fragen. Wenn die Begriffe nicht für sich selbst sprechen, so sollten sie doch leicht zu klären sein. Der Große Brockhaus (1979) etwa gibt folgende Auskunft: Minderheit, Minorität, innerhalb einer Gemeinschaft eine an Zahl den übrigen Mitgliedern unterlegene Gruppe; die Zugehörigkeit zu einer Gruppe kann dabei durch verschiedene (z. B. politische, soziale, religiöse, ethnische, sprachliche) Kriterien bestimmt werden.

Das sieht nach einer klaren und einfachen Begriffsbestimmung aus, die ihr innewohnende Oberflächlichkeit erkennt man aber leicht, wenn man andere Begriffsbestimmungen bzw. Kommentare zu dem Begriff der Minderheit zum Vergleich heranzieht. Louis Wirth beispielsweise schrieb 1945 über das Problem der Minderheitengruppen in aller Welt und definierte eine Minderheit als eine rassische oder ethnische (kulturelle) Gruppe, deren Mitglieder wegen ihrer physischen oder kulturellen Charakteristika eine unterschiedliche und ungleiche Behandlung erfahren und/oder die sich selbst als Gegenstand kollektiver Diskriminierung betrachten. Während im Brockhaus zunächst nur die Gruppenzugehörigkeit gemäß bestimmter Kriterien konstatiert wird, beinhaltet Wirths Definition das qualitative Verhältnis von Minoritäten zu ihrer sozialen Umgebung sowie die Selbsteinschätzung dieses Verhältnisses. Sich selbst als diskriminierte Minderheit zu sehen, wird mit anderen Worten bei ihm zu einem wesentlichen Kriterium dafür, eine Gruppe sinnvoll als Minderheit zu bezeichnen. Kriterien dieser Art, die das Verhältnis verschiedener sozialer Gruppen zueinander und das Bewußtsein davon betreffen, sind, wie zu zeigen sein wird, letzten Endes für eine Klärung der Minderheitenproblematik wich-

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tiger als numerische Kriterien, die diesem Problem eine scheinbar objektive Dimension geben. Denn „Minderheit" ist, wie Haugen (1978: 11) so treffend formuliert hat, ein geläufiger Euphemismus zur Bezeichnung einer unterdrückten Gruppe, so daß es unter Umständen durchaus sinnvoll ist, von Minoritätensprachen zu sprechen, obwohl deren Sprecher in bestimmten Regionen tatsächlich die Mehrheit darstellen. Dieser wichtige Gesichtspunkt, der die Verquickung von quantitativem Bevölkerungsanteil und relativer Macht betrifft, muß in einer Begriffsbestimmung, der ein demokratisches Verständnis des Verhältnisses von Mehrheit und Minderheit zugrundeliegt — nach dem es kein anderes als das quantitative Kriterium geben sollte — ausgespart bleiben. In dem bereits zitierten Artikel des Brockhaus heißt es weiter unten: Völkerrechtlich ist eine Minderheit eine Gruppe von Angehörigen eines Staates, die sich durch Abstammung, Sprache, Religion oder Kultur von der Mehrheit des Staatsvolkes unterscheidet und eine gewisse soziale Einheit innerhalb der Gesellschaft bildet. Zum Schutz einer solchen Minderheit sind oft besondere rechtliche Maßnahmen erforderlich, so die Anerkennung ihrer Sprache als zweite Amtssprache, die Einrichtung von Minderheitsschulen und die Gewährung begrenzter Selbstverwaltungsbefugnisse.

Auffällig ist hier die eurozentrische Sichtweise: Es geht um eine Minderheit und ihr Verhältnis zur Mehrheit, um eine soziale Einheit innerhalb der Gesellschaft, um eine zweite Amtssprache. Zwar stimmt diese einfache Vorstellung auch in Europa nur in wenigen Fällen mit den Tatsachen überein — im Brockhaus wird das Beispiel der Sorben zitiert, deren Kultur und Sprache durch Artikel 40 der Verfassung der DDR geschützt werden - aber Europa ist, wie oben erwähnt wurde (Kap. II), die Heimat der Staatsphilosophie, in deren Mittelpunkt die Einheit von Nation und Staat bzw. der Gedanke vom Staatsvolk steht, und auf ihr beruht auch der Artikel im Brockhaus. Komplexere Situationen, wie sie für viele Länder der Dritten Welt typisch sind, wo es wohl dominierende und dominierte Gruppen, aber nicht unbedingt numerische Mehrheiten gibt, kommen nicht vor. Ein weiteres Defizit der Definition des Brockhaus ist, daß in ihr Kriterien gleichwertig nebeneinander gestellt werden, die grundsätzlich verschiedener Natur sind. Sprachminderheiten sind von

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durchaus anderer Art als politische Minderheiten, denn anders als letztere können erstere nicht ohne gezielte ethnopolitische Maßnahmen zu Mehrheiten werden. Minderheitenschutz hat für sie daher eine ganz andere Bedeutung als für politische Minderheiten, denn die politische Durchsetzung ihrer Ziele durch Mehrheitenbeschluß können sie nicht erhoffen, da die ja gerade nur für ihre Gruppe interessant sind. Das Mehrheitsprinzip muß hier eingeschränkt bzw. korrigiert werden, weil der Gleichheitsgrundsatz nicht gilt und zwar unter Umständen im Interesse der Minderheit nicht gilt, die auf ihrer Andersartigkeit beharrt, so daß Minderheitenschutz den Schutz dieser Andersartigkeit beinhaltet. Die Kehrseite ist, daß der Minderheit aufgrund ihrer rassischen oder kulturellen Besonderheiten von der Mehrheit bzw. der dominierenden Gruppe in einer Gesellschaft die Gleichheit nicht zugestanden wird, in welchem Fall Minderheitenschutz die Garantie der Gleichheit, Gleichberechtigung also beinhaltet. Dieses spannungsvolle Verhältnis zwischen dem Recht auf Gleichheit und dem Recht auf Verschiedenheit kennzeichnet die Problematik unveränderlicher Minderheiten in einem Staatsverband. Besondere Aufmerksamkeit ist dem Problem der Minderheiten seit ihrer Gründung von der Organisation der Vereinten Nationen geschenkt worden. In Artikel l, Absatz 3 der am 26. Juni 1945 verkündeten Charta der Vereinten Nationen wird erklärt, daß die „Achtung vor den Menschenrechten und Grundfreiheiten für alle, ohne Unterschied der Rasse, des Geschlechts, der Sprache oder der Religion, zu fördern und zu unterstützen ist." Ohne daß hier direkt von Minderheiten die Rede ist, werden gruppendefinierende Eigenschaften identifiziert, die gegen Diskriminierung geschützt werden sollen. Darauf aufbauend wurde von den Vereinten Nationen eine Definition kultureller Minderheiten entwickelt, mit der versucht wurde, sinnvolle Kriterien für die Identifikation schutzwürdiger Gruppen anzugeben. Nach einem Vorschlag von 1950 (Bagley 1950, zitiert nach Alcock et al. 1979: 3) sollten als Minoritäten in diesem Sinne nur solche nicht-dominierenden Gruppen einer Bevölkerung anerkannt werden, die dem Staat gegenüber loyal sind, aber ethnische, religiöse oder sprachliche Traditionen aufrechtzuerhalten wünschen, die sich deutlich vom Rest der Bevölkerung

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unterscheiden, und die außerdem groß genug sind, um dies tun zu können. Daß von nicht-dominierenden Gruppen gesprochen wird, ist darin begründet, daß die numerischen Minderheiten der europäischen Kolonialverwaltungen, die damals noch in vielen außereuropäischen Gebieten das Sagen hatten, aus der Kategorie der schutzwürdigen Minderheiten ausgeschlossen werden sollten. Außerdem wird von Minderheiten etwas unerwartet eine Mindestgröße verlangt, was gerade für Sprachminderheiten von besonderer Bedeutung ist, da die Erhaltung ihrer Traditionen unter Umständen mit Ansprüchen verbunden ist, die über Duldung hinausgehen und institutionelle Unterstützung seitens des Staates beinhalten. Allerdings, und das ist eine Schwäche dieser Definition, bleibt völlig offen, in welchem Maße sprachliche oder andere Traditionen von Minderheiten erhalten bleiben sollen. Überraschend ist diese Vagheit gleichwohl nicht, denn sie ist eine Konsequenz der Vielfalt und Vielschichtigkeit des Phänomens, das hier nicht nur systematisch sondern auch unter der Perspektive politischer Standpunkte erfaßt werden soll. Sprachminderheiten sind nicht nur, wie schon die Gegenüberstellung der Zahl der Staaten und der Sprachen der Welt im ersten Kapitel gezeigt hat, zahlreich, sondern auch vielfältig in ihrer Art. Bei weniger als vier Prozent aller Völker stimmen die Grenzen ihres Lebensbereichs mit den politischen Grenzen der Staaten, in denen sie leben, überein. Schon in Europa stellen die Sprachminderheiten ein erhebliches Problem dar (Stephens 1976). Nur in den kleinsten der 34 europäischen Staaten gibt es keine Volksgruppen mit eigenen sprachlichen Traditionen. Vergegenwärtigt man sich nun, daß in Europa nur etwas mehr als ein Prozent der Sprachen der Welt gesprochen werden, knapp doppelt so viele, nämlich wie die Anzahl der Staaten - Haarmann (1975: 17f.) nennt 67 europäische Sprachen — dann ist unmittelbar augenfällig, daß dieses Problem in anderen Teilen der Welt eine ganz andere Dimension hat (Coulmas 1983). Legt man den Index von Grimes (1978) zugrunde, der insgesamt 5103 lebende Einzelsprachen auflistete, ergibt sich folgende geographische Verteilung der Sprachen der Welt:

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Asien Afrika Pazifik Amerika (Nord und Süd) Europa Mittlerer Osten

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30% 30% 20% 16% l, 5% 1,5%

Diese Zahlen werden hier nicht mit Anspruch auf Exaktheit zitiert, aber wenn das angegebene Verhältnis auch nur ungefähr stimmt, zeigt sich sehr deutlich, daß in Europa, der Geburtsstätte des Nationalstaats, Minoritäten am relativ wenigsten vertreten sind und in den Ländern der Dritten Welt am meisten. Das Problem der Sprachminderheiten ist dort nur ein Aspekt eines allgemeinen Problems, des Problems der Vielsprachigkeit nämlich. In dieser Hinsicht unterscheiden sich einzelne Länder allerdings beträchtlich. Mit 1652 Einzelsprachen (vgl. Jalaluddin 1983; C. I. I. L. 1973) ist Indien ein genuin vielsprachiges Land, ähnlich wie viele andere asiatische und afrikanische Länder. Trotz seiner riesigen Bevölkerung von nahezu einer Milliarde gibt es in China nur vergleichsweise wenige Sprach- bzw. nationale Minderheiten: 55 (Coulmas, Thümmel, Wunderlich 1981). Zwar sind diese 55 genauer als „anerkannte Minderheiten" zu bezeichnen, und es ist, wie Edmondson (1984) feststellt, damit zu rechnen, daß sich die Zahl erhöhen wird. Weitere fünf oder zehn anerkannte Minderheiten in China werden jedoch an dem grundsätzlichen Unterschied zu der indischen Situation nichts ändern: In China sind Minderheiten eine Randerscheinung: Sie stehen der überwältigenden Mehrheit eines 95prozentigen chinesischen Bevölkerungsanteils gegenüber. In Indien gibt es demgegenüber keine Mehrheit. Vielmehr sind sprachliche und ethnische Vielfalt ein traditioneller Teil indischer Identität — wenn es denn eine solche gibt. Die Vielfalt der Sprachen Indiens existiert in einer Situation, in der sich individuelle und kollektive Mehrsprachigkeit überlagern: Nicht nur gibt es die große Zahl sprachlich definierter Gruppen; daß Individuen zwei- oder mehrsprachig sind, ist ebenfalls ein typisches Merkmal der Sprachensituation in Indien. Sprachliche Heterogenität ist in Indien so weitverbreitet und so normal, daß

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der situations- und partnerangepaßte Wechsel zwischen verschiedenen Sprachen mit dem Wechsel zwischen Registern oder Stilebenen einer Sprache in anderen Spachgemeinschaften verglichen werden kann (Khubchandandi 1981: 18). Sie ist so verbreitet, daß es Schwierigkeiten bereitet, den Begriff der Muttersprache in Indien wie in mehrsprachigen Kontexten generell (Le Page 1964: 21) ebenso zu interpretieren wie anderswo. Das Phänomen multipler Muttersprachen ist in Indien eine Realität (Khubchandandi 1975). Wie sonst sollte man Zensusdaten interpretieren, die für die Muttersprachler des Rajasthani im Laufe von 60 Jahren eine Reduktion von 16, 3 Millionen 1891 auf 12, 69 Millionen 1921 und schließlich 0, 65 Millionen 1951 ausweisen. Das läßt sich nicht mit statistischen Fehlern erklären, wie sie in jeder Volkszählung vorkommen, sondern nur damit, daß die Befragten zu verschiedenen Zeitpunkten unterschiedliche Antworten auf die gleiche Frage nach ihrer Muttersprache gaben. Dieses Beispiel steht nicht allein. Die Zahl derer, die Bihar-Sprachen als ihre Muttersprache angeben, ist zwischen 1951 und 1961 um 14611% (!) gestiegen (Khubchandandi 1981: 14). Nicht einmal das phänomenale Bevölkerungswachstum Indiens kann solche Zahlen erklären. Sie -werden nur verständlich, wenn man sie im Zusammenhang der Vielsprachigkeitssituation in Indien sieht, in der Sprachgruppenzugehörigkeit und das Bewußtsein davon variable Größen sind, die von anderen als sprachlichen Kriterien überlagert werden. Eine allgemeine Konsequenz aus diesen Beobachtungen ist, daß der Begriff der Sprachminderheit für Indien anders zu fassen ist als etwa für China, wo alle Minoritäten in bezug auf die große Mehrheit der Han-Nation definiert werden können. Die für Indien genannten Zahlen täuschen allerdings, denn die indischen Sprachgemeinschaften unterscheiden sich im großen Maßstab in ihrer Größe. Die größten Gruppen umfassen -zig, ja über hundert Millionen Sprecher und die kleinsten weniger als Hundert. Die indische Verfassung erkennt 15 Sprachen als Staatssprachen an: Assamesisch, Bengalisch, Gujaratisch, Hindi, Kannaresisch, Kaschmirisch, Malayalam, Marathisch, Oriya, Pandschabisch, Sanskrit, Sindhi, Tamilisch, Telugu, Urdu. Nicht einmal die bei weitem größte Sprache, Hindi mit 123 Millionen Sprechern,

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stellt die numerische Mehrheit der indischen Gesamtbevölkerung. Ist Indien also ein Staat, in dem nur Minderheitensprachen gesprochen werden? Diese Sichtweise wäre kaum sinnvoll und würde der Minderheitenproblematik nicht gerecht, denn natürlich besteht ein nicht nur quantitativer Unterschied zwischen Hindi oder einer der anderen großen indischen Sprachen und Mahili, einer austrischen Sprache der östlichen Mundagruppe mit knapp 20000 Sprechern, Von Sprachen wie Mahili kann man sinnvollerweise als von Minderheitensprachen sprechen. Von solchen Sprachen gibt es viele. Für Indien wie für die ganze Welt gilt: Die überwältigende Mehrheit aller Sprachen sind Minderheitensprachen, was nur heißen kann, daß zwischen der Anzahl der Sprachen und der ihrer Sprecher eine große Disproportion besteht. Das indische Beispiel macht das schon deutlich: die 15 anerkannten offiziellen Sprachen decken den größten Teil der Bevölkerung ab. Weltweit betrachtet stellt sich dieser Zusammenhang so dar: Die Sprachgemeinschaften von nur fünf Sprachen, nämlich Chinesisch, Englisch, Spanisch, Russisch und Hindi machen etwa 45 % der Weltbevölkerung aus. Chinesisch Englisch Spanisch ' Russisch Hindi Deutsch Japanisch Arabisch Bengalisch Portugiesisch Französisch Italienisch

45 % (

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