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German Pages 356 Year 2014
Charlotte Ullrich Medikalisierte Hoffnung?
KörperKulturen
Charlotte Ullrich (Dr. rer. soc.) ist Postdoktorandin am Forschungskolleg »Familiengesundheit im Lebensverlauf« an der Hochschule Osnabrück. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Geschlechterforschung, Medizinsoziologie und Qualitative Methoden.
Charlotte Ullrich
Medikalisierte Hoffnung? Eine ethnographische Studie zur reproduktionsmedizinischen Praxis
Die vorliegende Untersuchung wurde 2011 von der Fakultät für Sozialwissenschaft der Ruhr-Universität Bochum als Dissertation angenommen.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2012 transcript Verlag, Bielefeld
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Inhalt
Danksagung | 7 1 Einleitung | 9
1.1 Reproduktionsmedizin im Kontext | 15 1.2 Argumentationsgang der Arbeit | 27 2 Die soziale Konstruktion von Krankheit und Gesundheit | 31
2.1 Krankheit und Gesundheit als soziale Phänomene | 32 2.2 Krankheit als soziale Abweichung | 36 2.3 Krankheit und Gesundheit aus Sicht der Akteure | 42 2.4 Zwischenfazit und Forschungsperspektiven | 54 3 Akteure, Techniken und Körper in der medizinischen Behandlungspraxis | 59
3.1 Medizin als Profession | 60 3.2 Die Arzt-Patienten-Beziehung | 69 3.3 Techniken in der medizinischen Praxis | 74 3.4 Körper, Leib und Medizin | 80 3.5 Zwischenfazit und Forschungsperspektiven | 89 4 Forschungsdesign | 93 5 Krankheit unerfüllter Kinderwunsch? | 107
5.1 Medizinische und gesetzliche Regulierungen der Reproduktionsmedizin | 109 5.2 Der unerfüllte Kinderwunsch und seine Behandlung aus Sicht der Paare | 114 5.2.1 Ambivalenzen des Kinderwunsches | 115 5.2.2 Hierarchisierte Elternschaft | 121 5.2.3 Reproduktive Gesundheit als Instrument | 125 5.2.4 Die Entscheidung für eine medizinische Behandlung | 132 5.3 Der unerfüllte Kinderwunsch und seine Behandlung aus ärztlicher Sicht | 138 5.3.1 Der unerfüllte Kinderwunsch als Gegenstand medizinischer Behandlung | 139 5.3.2 Der unerfüllte Kinderwunsch als Forschungsgegenstand | 150 5.3.3 Ausweitung und Grenzen der medizinischen Behandlung | 159 5.4 Zwischenfazit | 168
6 Die Struktur der Kinderwunschbehandlung | 173
6.1 Die Transformation des Kinderwunsches in ein medizinisch behandelbares Problem | 174 6.1.1 Die ärztliche Sicht auf die Paare | 175 6.1.2 Erstberatungsgespräch und Diagnoseschritte | 183 6.1.3 Diagnose zwischen Beratung und Behandlung | 189 6.2 Die Dynamik des IVF-Behandlungsverlaufs | 195 6.2.1 Die Arbeit der Ärztinnen und Ärzte | 196 6.2.2 Der Blick der Paare auf die Behandlungsschritte | 207 6.3 Reproduktive Gesundheit als Aufgabe der Paare | 214 6.4 Vom Wunsch des Paares zur Behandlung der Frau? | 231 6.5 Zwischenfazit | 243 7 Die Arbeit der Paare an der Verlaufskurve | 249
7.1 Einflussnahme auf die Behandlung | 250 7.1.1 Strategien der Wissensaneignung | 250 7.1.2 Grenzen medizinischen und ärztlichen Wissens | 263 7.1.3 Einflussnahme auf den Behandlungsverlauf | 268 7.1.4 Vertrauen in die behandelnden Ärztinnen und Ärzte | 274 7.2 Behandlungsbezogene Arbeit | 279 7.3 Alltagsarbeit der Paare | 294 7.3.1 Vereinbarkeit der Behandlung mit Alltag und Beruf | 295 7.3.2 Umgang mit der Behandlung im engeren sozialen Umfeld | 300 7.4 Biographie- und Beziehungsarbeit | 306 7.5 Zwischenfazit | 317 8 Fazit und Diskussion | 321 Literatur | 333 Tabellenverzeichnis | 349 Sachregister | 351
Danksagung
Mit einem ethnographischen Forschungsvorhaben betritt man ein, wenn nicht gänzlich unbekanntes, so doch noch zu entdeckendes Gelände: Für wichtige Hinweise und konstruktive Kritik auf dem Weg durch das Dickicht des ethnographischen Materials bin ich vielen Personen zu Dank verpflichtet. Ganz herzlich danke ich meinen Betreuerinnen Ilse Lenz und Anja Hartmann an der RuhrUniversität Bochum für die wertschätzende und vertrauensvolle Begleitung der Dissertation. Insbesondere das Kolloquium von Ilse Lenz war ein Ort, den ich nie ohne wertvolle Anregungen, neuen Mut für und Lust auf „die Diss“ verließ. Ich danke meinen Kolleginnen und Kollegen, Freundinnen und Freunden und Wegbegleiterinnen und Wegbegleitern Nicole Bartocha, Thilo Ernst, Masha Gerding, Susanne Grimm, Lisa Mense, Tanja Tästensen, Helen Schwenken, Friederike Ullrich, Martin Winterhalder, Torsten Wöllmann, Verena Witte und ganz besonders Hans Martin Krämer für ihre persönliche und professionelle Aufmerksamkeit, ihre Geduld und ihren Zuspruch sowie meinen Eltern Erika Schmidt-Ullrich und Ferdinand Ullrich für ihre fortwährende Unterstützung. Festhalten und diskutieren konnte ich erste Ergebnisse dieser Arbeit während eines Aufenthaltes an der Northeastern University in Boston, USA, der vom DAAD gefördert wurde. Ein besonderer Dank geht an Kathrin Zippel für ihre Unterstützung. An der Ruhr-Universität Bochum wurde die Arbeit im Rahmen der universitätsweiten Graduiertenförderung der Research School gefördert. Während eines Aufenthaltes am Global Center of Excellence for Reconstruction of the Intimate and Public Spheres der Universität Kyoto, Japan, konnte ich die Dissertation für die Veröffentlichung überarbeiten. Beim transcript Verlag hat Frau Birgit Klöpfer das Projekt kompetent begleitet. Diese Arbeit beruht auf zwei Feldaufenthalten in einer Klinik: Alle Ärztinnen und Ärzte haben trotz großer Arbeitsbelastungen Zeit für ein Interview gefunden und mir umfassend Einblick in ihre Arbeit gewährt. Viele Paare und Frauen erlaubten mir, ihre Beratung und Behandlung zu beobachten. Meine In-
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terviewpartnerinnen nahmen sich Zeit für meine Fragen und teilten mit mir bereitwillig und engagiert ihre Ansichten zum Weg zur und durch die IVFBehandlung. Ihnen allen danke ich herzlich für das keineswegs selbstverständliche Interesse an meiner und große Vertrauen in meine Arbeit. Kyoto, Japan, im Mai 2012
1 Einleitung
Im Oktober 2010 wurde der Nobelpreis für Medizin für die Entwicklung der Invitro-Fertilisation (IVF) an den britischen Physiologen Robert G. Edwards verliehen. Die Würdigung Edwards mit der höchsten wissenschaftlichen Auszeichnung zeigt, dass die Reproduktionsmedizin, die nach der Geburt des ersten ‚Reagenzglasbabys‘ eine höchst umstrittene Technologie war, inzwischen als etablierter Bereich der Medizin gilt. In der medizinischen Praxis war die Anwendung der IVF zum Zeitpunkt der Nobelpreisverleihung schon lange Routine: Seit Lesley und John Brown 1978 nach einer IVF-Behandlung durch Edwards ihre Tochter Louise Brown bekamen, sind weltweit ungefähr vier Millionen Menschen nach einer künstlichen Befruchtung geboren worden (vgl. Nobelpreiskommitee 2010). Seit der 1982 erfolgten Einführung in Deutschland hat sich die Anzahl der IVF-Behandlungszyklen1 bis heute vervielfacht: Waren es Mitte der 1980er Jahre noch unter 5.000 Zyklen im Jahr, sind es gegenwärtig über 75.000, die in bundesweit 124 Zentren durchgeführt werden (vgl. DIR 2010: 14). Im Jahre 2007 wurden allein in Deutschland 9.500 Babys nach einer künstlichen Befruchtung geboren; dies entspricht in etwa 1,4 Prozent der Geburten insgesamt (vgl. ebd., Statistisches Bundesamt 2010a). In den letzten dreißig Jahren ist die IVF zu einem medizinischen Standardverfahren geworden und hat zunehmend an gesellschaftlicher Relevanz gewonnen. Die Normalität dieser medizinischen Behandlungsoption zeigt sich auch, wenn in Dokusoaps wie Schnulleralarm – Hilfe, wir bekommen ein Baby (RTL 2: 2001 bis 2006) oder Deutschland wird schwanger (Sat.1: ab 2009), aber auch in Aufklärungsbüchern für Kinder, die
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Ein IVF-Behandlungszyklus umfasst die hormonelle Stimulation der Frau, operative Follikelentnahme, In-vitro-Befruchtung sowie den Embryonentransfer, bei dem ein bis drei befruchtete Eizellen in die Gebärmutter der Frau transferiert werden. In so genannten Kryozyklen werden für den Embryonentransfer kryokonservierte Embryonen aus vorherigen IVF-Behandlungen verwendet.
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IVF-Behandlung als eine Variante des Weges zum eigenen Kind dargestellt wird.2 Reproduktionsmedizinische Verfahren sind, wie Petra Gehring es für Biotechnologien allgemein formuliert, „längst im Alltag angekommen“ (Gehring 2006: 8). Als „Meilenstein“ (Nobelpreiskommitee 2010: 1) und „Beginn einer neuen Ära“ (ebd.: 3) der modernen Medizin gewürdigt, ist die IVF dabei keineswegs eine Technik, die den geschätzten zehn Prozent ungewollt kinderlosen Paaren weltweit zu einem eigenen Kind verhelfen wird: Die sogenannten „Babytake-home“-Rate lag 2010 bei lediglich 17 Prozent für IVF-Behandlungen und 11 Prozent für die Rücksetzung kryokonservierter Eizellen (vgl. DIR 2010: 18). Zugleich geht die Behandlung mit Risiken und Nebenwirkungen wie zum Beispiel hormoneller Überstimulation und einem erhöhten Mehrlings- und damit erhöhten Fehlbildungs- und Frühgeburtsrisiko einher. Seit ihren Anfängen ist die Reproduktionsmedizin Gegenstand kontroverser Debatten und verlangte nach neuen gesetzlichen und sozialpolitischen Regulierungen: Vertreterinnen und Vertreter3 verschiedenster politischer Strömungen, von Kirchen sowie Naturwissenschaften und Medizin diskutierten in Ethikräten, Parlamentsdebatten, Parteien und in den öffentlichen Medien. Eckpunkte der Debatte waren der Eingriff in den menschlichen Reproduktionsprozess, die Möglichkeit der Fragmentierung von Mutter- und Vaterschaft, die Möglichkeit der Veränderung menschlichen Erbguts und der wissenschaftlichen Verwendung von Embryonen sowie die Kommerzialisierung des Körpers und seiner Teile. Die öffentliche Debatte in Deutschland wird inzwischen zwar weniger grundsätzlich und weniger intensiv geführt als in ihren Anfängen und während der Festlegung der rechtlichen Regulierung im Embryonenschutzgesetz, jedoch werden insbesondere Ausnahmefälle wie beispielsweise die Geburten höhergradiger Mehrlinge nach In-vitro-Fertilisation oder die Entscheidung des Oberlandesgerichts Rostock im Mai 2010, das Einsetzen einer eingefrorenen befruchteten Eizelle nach dem Tod des Mannes zu erlauben, weiterhin kontrovers diskutiert. Auch die Frage der Kostenverteilung für reproduktionsmedizinische Verfahren ist weiterhin in der Debatte (vgl. Rauprich u.a. 2011).
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Bspw. Janouch und Lindman 2005, Van der Doef und Latour 1998 (vgl. Pro Familia 2009: 16, 26).
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In der Regel verwende ich die männliche und die weibliche Form, wenn beide Geschlechter gemeint sind. Nur bei in der Forschung geläufigen Wendungen wie zum Beispiel Arzt-Patienten-Beziehung und wenn Texte referiert werden, die ebenso verfahren, wird zugunsten der Lesbarkeit auf das generische Maskulinum zurückgegriffen.
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Die gesellschaftswissenschaftliche Diskussion wurde vor allem aus vier Perspektiven geführt: In juristischen und ethischen Untersuchungen wurden die Herausforderungen an bisherige rechtliche und moralische Grundsätze und Regelungen diskutiert, auch im Hinblick auf die politische Umsetzung neuer Verfahrensweisen. Des Weiteren fragen einige psychologische Arbeiten nach dem Umgang der Paare mit den Belastungen durch Reproduktionsmedizin und Kinderlosigkeit. In der Frauen- und Geschlechterforschung traf eine politische Kritik, die die Neuen Reproduktionstechnologien als weiteres Beispiel der Medikalisierung der Frau sahen, auf zeitdiagnostische und später auch diskursanalytische Arbeiten. Vor allem im angloamerikanischen Raum wurden diese Auseinandersetzungen um anthropologische Untersuchungen ergänzt, die die Auswirkungen der Reproduktionstechnologie auf die Konzeptionalisierung von Verwandtschaft diskutierten. Mit ihrer Analyse der Auswirkungen auf Frauen und die Geschlechterverhältnisse stellt die Frauen- und Geschlechterforschung für den deutschsprachigen Raum den wichtigsten Strang der sozialwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Reproduktionsmedizin dar. Die Reproduktionsmedizin gilt in der Geschlechterforschung als ein wichtiges Beispiel für einen verobjektivierenden, entfremdenden Zugriff auf den (Frauen-)Körper, also für einen manipulativen Eingriff zur Optimierung der menschlichen Natur. In den neueren medizinischen Verfahren wurde – in der Tendenz – eine Fortführung der ungleich stärkeren Medikalisierung von Frauen durch eine männerdominierte Medizin gesehen, die überspitzt formuliert unter den Schlagworten medizinische Dominanz, medizinischer Imperialismus oder „Instrumentalisierung der Frau“ (vgl. Honer 1991a: 206) zusammengefasst werden könnte. Die Stoßrichtung zeigt sich beispielhaft in den Titeln zentraler Veröffentlichungen: Frauen gegen Gen- und Reproduktionstechnologie (Bradish u.a. 1989), Die kontrollierte Fruchtbarkeit. Neue Beiträge gegen Reproduktionsmedizin (Fleischer und Winkler 1993) und Wider die Technisierung des Menschen (Streletz 1991). Der biotechnische Eingriff in den Reproduktionsprozess wird als Ablösung eines natürlichen körperlichen Vorgangs von Befruchtung und Schwangerschaftsbeginn beschrieben (vgl. bspw. Barbian 1997, Berg 2002, Berthe-Corti 2002). Gegen diese Lesart gab es auch innerhalb der Geschlechterforschung und feministischen Auseinandersetzungen schon früh Gegenstimmen – so wendet sich Silvia Kontos (1985) mit einem Beitrag Wider die Dämonisierung medizinischer Technik. Diese Positionen blieben aber in der Auseinandersetzung eher marginal. Frühe US-amerikanische Positionen, die die IVF mit der utopischen Hoffnung nach einer Befreiung der Frau von der Mutterschaft verbanden – wie prominent von Shulamith Firestone (1975) vertreten – wurden wenig aufgegriffen. In den letzten Jahren wird jedoch zu-
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nehmend die Ambivalenz der Lage der Frauen beschrieben (vgl. Rommelspacher 2002) sowie deren Rolle bei der Etablierung und Verbreitung neuer gen- und reproduktionsmedizinischer Verfahren (vgl. Kuhlmann 2002). Sind Frauen in der Gen- und Reproduktionsmedizin bisher stärker in medizinische Prozesse eingebunden, trifft die Entwicklung der Biomedizin und die Neunormierung von Gesundheit jedoch auch Männer geschlechtsspezifisch. Dies zeigt sich besonders deutlich in der Etablierung der Andrologie als eigenständiges medizinisches Teilgebiet (vgl. Wöllmann 2004). Insgesamt – so auch in der Frauen- und Geschlechterforschung – hat die Beschäftigung mit der Reproduktionsmedizin deutlich abgenommen (vgl. auch Gehring 2006: 22, Fußnote 4). Dies erklärt auch, warum die zunehmende Medikalisierung des Mannes kaum verfolgt und in den Analysen nicht berücksichtigt wurde. Auf der einen Seite wurden aus der Perspektive der Frauen- und Geschlechterforschung wichtige Beiträge zur Untersuchung der Implikationen der Reproduktionsmedizin geleistet. Sie hat vor allem in Hinblick auf die ungleiche Medikalisierung von Männer und Frauen zentrale Dimensionen für eine soziologische Analyse der Bedeutung der Reproduktionsmedizin benannt: die Ausweitung medizinischer Zuständigkeit auf Frauen, die Konzeption von Mutter- und Elternschaft; das Verhältnis der Medizin, Ärztinnen und Ärzten sowie Patientinnen und Paaren4 und die Frage von Handlungsspielräumen und Agency sowie nicht zuletzt die Rolle von Medizintechniken. Auf der anderen Seite weist diese Auseinandersetzung eine starke Limitierung auf: Die Reproduktionsmedizin wird als Reproduktionsmedizin als Ausnahme und Sonderfall thematisiert und erscheint in der so gedachten Singularität in einer Art luftleerem Raum. Die Behauptung eines Bruchs mit bisherigen medizinischen Zugriffen und gesellschaftlichen Entwicklungen geht mit einer Reihe mal explizit, mal implizit thematisierten Gegenüberstellungen einher: natürliche Zeugung vs. technisierte Reproduktion, die Interessen „der Medizin“ und gelegentlich auch der Pharmafirmen vs. die der Paare bzw. Frauen, der paternalistische Arzt vs. die Patientin, leibliche Empfindungen vs. der durch die Medizin verobjektivierte Körper. Diese vereindeutigende Beschreibung trägt, so argumentiere ich im Folgenden, der Vielschichtigkeit und Komplexität gesellschaftlichen Wandels und gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse keine Rechnung und lässt weiterführende Forschungsergebnisse und -perspektiven unberücksichtigt. Indem bisherige Zugänge sich auf die im engeren Sinne medizinischen Aspekte der Reproduktionsmedizin beschränken, übernehmen sie den von ihr kritisierten klinischen Blick: die gesellschaftli-
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Im Kontext der Beschreibung der medizinischen Behandlung verwende ich auch die Begriffe Patientinnen und Patienten für die Bezeichnung der Paare.
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chen, institutionellen und individuellen Kontexte der Etablierung und Praxis der Reproduktionsmedizin werden ausblendet. Diese Beschränkung findet auch darin eine Verstärkung, dass nur wenige empirische Untersuchungen der Behandlungspraxis vorliegen. Die Verbreitung von Biotechnologien und die damit einhergehenden gesellschaftlichen, sozialen und kulturellen Veränderungen und Implikationen insgesamt wurden bisher in den soziologischen und angrenzenden Diskussionen vor allem durch Analysen von Politiken und Diskursen untersucht (vgl. auch Diekämper 2011, Hauser-Schäublin u.a. 2001, Hofmann 1999, Petersen 2002). Medikalisierung in der reproduktionsmedizinischen Praxis Die grundlegende Annahme dieser Arbeit ist, dass sich die immer selbstverständlichere Inanspruchnahme der Reproduktionsmedizin zur Erfüllung des lebensweltlichen Wunsches nach einem eigenen Kind nicht nur auf eine Interessendurchsetzung der Medizin oder einen medizinischen Imperialismus zurückführen lässt. Vielmehr sind die Neuen Reproduktionstechnologien im Kontext einer spezifischen Verfasstheit von Medikalisierungsprozessen zu verorten. Diese Perspektive lenkt den Blick eher auf die Kontinuitäten und Zusammenhänge als auf die Brüche, die mit der Einführung der IVF einhergingen. Die Etablierung der Reproduktionsmedizin verstehe ich so sowohl als Ausdruck als auch Beispiel eines gesellschaftlichen Wandels, mit dem sie zugleich untrennbar verbunden ist. In diesem Sinne zielt die vorliegende Studie darauf, die Reproduktionsmedizin in ihrer Spezifizität, aber auch in ihrer gesellschaftlichen Normalität zu begreifen. Kinderwunschkliniken werden nicht nur als Orte medizinischer Innovation und Intervention verstanden, sondern auch als Orte, an denen kulturelle Bedeutungen und Konzeptionen von Krankheit und Gesundheit, medizinischer Zuständigkeit, Eltern- und Verwandtschaft verhandelt werden (vgl. Knecht 2005). Medizinische Deutungen können dabei aufrechterhalten und verstärkt, aber auch hinterfragt und herausgefordert werden. Wie das „Ankommen“ der Biotechnologien im Alltag aussieht und wie biowissenschaftliches Wissen in den Alltag übersetzt wird, sind in großen Teilen noch offene empirische Fragen (vgl. Liebsch und Manz 2010: 7f.). So ist auch die Frage nach der Medikalisierung des Kinderwunsches in der Praxis der Reproduktionsmedizin weitgehend explorativ. Es liegen vereinzelte Studien zu Copingstrategien von Paaren in Kinderwunschbehandlung vor (bspw. OnnenIsemann 2000, Hunneshagen 2000). Gay Becker (2000) nimmt ebenfalls die Paare als Akteure der Reproduktionsmedizin in den Blick, wenn sie Einzelfällen exemplarisch auf der Grundlage ethnologischer Forschung materialnah be-
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schreibt. Auf die Prozesse der „Herstellung von Eltern“ durch spezifische choreographische Inszenierung reproduktionsmedizinischer Verfahren weist Charis Thompson (2005, Cussins 1996) hin. Ihr Erkenntnisinteresse ist jedoch primär philosophisch und nur bedingt für die Soziologie anschlussfähig. Sarah Franklin (1997, 2002) verortet ihre Ende der 1980er Jahre in England durchgeführte qualitative Studie in der anthropologischen Diskussion zu Familien- und Verwandtschaftstheorien. In ihrer Analyse von Interviews mit Paaren finden sich jedoch zentrale Anschlusspunkte für die Untersuchung der medizinischen Behandlungspraxis: Franklin kann zeigen, dass die Erfahrungen der IVF vielfältig und widersprüchlich sind, einen Prozess konstituieren und in Lebenswelt und Biographieentwürfe eingebettet sind. Sie arbeitet heraus, dass sich vor allem die Frauen einem Entscheidungszwang ausgesetzt sehen, der so weit geht, dass „der bereits vorhandene Wunsch nach einem Kind die Entscheidung für die IVF vorweg [nimmt]“ (Franklin 2002: 366). Des Weiteren seien die Paare einer Eigenlogik und gewissen Zwangsläufigkeit ausgesetzt, nachdem sie einmal das Feld der Reproduktionsmedizin betreten hätten. Ihre Erfahrung sei davon geprägt, dass die Reproduktionsmedizin, in diesem Fall Verfahren der IVF, zu einer Lebensweise, einem „way of life“ werden. Aus soziologischer Sicht hat Anne Honer Anfang der 1990er Jahre die Praxis der Reproduktionsmedizin untersucht (vgl. Honer 1991a, b, 1994 a, b, c, Gross und Honer 1991). Honer verweist auf die Erklärungskraft professions- und wissenssoziologischer Zugänge zur Untersuchung der Legitimierung der ärztlichen Rollen und der Herstellung der ungewollten Kinderlosigkeit als behandlungsbedürftiger Krankheit (vgl. Honer 1991b: 207). Empirische Ergebnisse ihrer Forschung sind allerdings bisher nur in Auszügen veröffentlicht. Seit den Untersuchungen von Franklin und Honer sind die reproduktionsmedizinischen Verfahren weiterentwickelt worden und werden stärker in Anspruch genommen, es ist zu vermuten, dass beides einen Einfluss auf das Erleben der Behandlung hat. Für meine Arbeit habe ich ein ethnographische Forschungsdesign gewählt und mit einer reproduktionsmedizinischen und einer alternativmedizinischen Universitätsklinik sowohl einen typischen als auch einen abweichenden Fall untersucht. Ethnographische Fallstudien sind von einer Einlassungen auf das Feld und einer analytischen Offenheit gekennzeichnet – die Medikalisierung des Kinderwunsches lässt sich aus dieser Perspektive als noch zu entdeckender Zusammenhang fassen. Der zentrale Ausgangpunkt dieser Arbeit ist so die Frage, wie und inwieweit der lebensweltliche Wunsch nach einem Kind als ein medizinisch zu lösendes Problem hergestellt wird. Die Praxis der Kinderwunschbehandlung wurde in teilnehmender Beobachtung, Interviews mit Ärztinnen und Ärzte sowie Patientinnen und Sammlung von Dokumenten erfasst. Diese Methodentriangula-
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tion ermöglicht, die Medikalisierung des Kinderwunsches gleichzeitig in den Prozessen und Dynamiken des Behandlungsverlaufs als auch aus den subjektiven Perspektiven der Akteurinnen und Akteure zu untersuchen. Die Kontrastierung der schulmedizinischen und der alternativmedizinischen Behandlungspraxis ermöglicht, die in der bisherigen Diskussion betonte Rolle des Technikeinsatzes für die Medikalisierung des Kinderwunsches vergleichend zu untersuchen (vgl. Kap. 4). Wenn ich nun zunächst auf zentrale Entwicklungslinien des gesellschaftlichen Kontextes der Etablierung der Reproduktionsmedizin eingehe (Kap 1.1), beziehe ich mich sowohl auf Ergebnisse der Analyse von Diskursen und Politiken um Biowissenschaft im Allgemeinen und Reproduktionsmedizin im Besonderen als auch auf breitere gesellschaftliche Veränderungsprozesse und ihre Analyse. Im Einzelnen kontextualisiere ich die Etablierung und Praxis der Reproduktionsmedizin in vier Feldern: erstens der Veränderung der Bedeutung von Elternschaft im Kontext des Brüchigwerdens von Normal(erwerbs)biographien, zweitens Prozessen der Ausweitung der Medikalisierung, drittens der Entstehung einer verstärkten Gesundheitsorientierung sowie viertens dem damit zusammenhängenden Wandel der Bedeutung und des Umgangs mit dem Körper. Hiermit möchte ich zweierlei aufzeigen: zum einen soziologische empirische Befunde des sozialen Wandels, die in ihrer unterschiedlichen Beschreibung der Prozesse nicht unbedingt deckungsgleich sind, aber in ähnliche Richtungen weisen. Zugleich verweise ich hier bereits auf allgemeine theoretische Bezugspunkte, die jedoch in den weiteren theoretischen Auseinandersetzung (s.u. Kap. 2 und Kap. 3) differenziert und ergänzt werden. Insbesondere der für diese Arbeit zentrale Begriff der Medikalisierung wird hier bereits näher bestimmt. Vor diesem Hintergrund werde ich abschließend den Argumentationsgang meiner Arbeit darstellen (s.u. Kap. 1.2).
1.1 R EPRODUKTIONSMEDIZIN
IM
K ONTEXT
Die Situation, in der sich Paare entscheiden, Kinder zu bekommen, ist eine andere als vor 30 oder 40 Jahren. Frauen sind zunehmend berufstätig, und das Alleinverdiener-Hausfrauenmodell hat an Verbreitung verloren. Diese Enttraditionalisierung spiegelt sich in einer Pluralisierung der Lebensformen und einem Brüchigwerden von Normal(erwerbs)biographien wider, die auch die Entscheidung beeinflussen, ob, wann und wie viele Kinder Frauen und Männer bekommen und bekommen wollen. Zugleich lässt sich ein Prozess der Ausweitung des medizinischen Zuständigkeitsbereichs beobachten, und Biowissenschaften werden ein
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immer bedeutenderer Bezugsrahmen. Gleichzeitig findet aber eine Verschiebung von Krankheitsvermeidung zu Gesundheitserhalt und Prävention und damit eine Verschiebung der Verantwortung für letztgenannte Maßnahmen hin zu den Einzelnen statt. Dies betrifft auch den Umgang mit dem Körper, der immer mehr zu einem gestaltbaren Projekt wird. Alle vier Entwicklungen sind dabei vielschichtig und brüchig und nicht frei von gegenläufigen Tendenzen. Sie finden auf verschiedenen Ebenen statt, wobei diskursive Verschiebungen nicht in eins mit Veränderungen in der sozialen Praxis fallen. Elternschaft als Option Die Pluralisierung der Lebensformen und die Flexibilisierung des Lebenslaufs gehen einher mit einer Veränderung des Stellenwerts von Kinderplanung, Kinderbekommen und Kinderwunsch. Ehe und Elternschaft sind im individuellen Lebenslauf zu einer Option neben anderen geworden. Seit Mitte der 1960er Jahre finden sich vor allem Frauen in neuen Entscheidungssituationen, der auch die Verbreitung der Antibabypille zugrunde lag (vgl. Staupe und Vieth 1996). Heiraten und Kinderbekommen werden zudem auf einen späteren Zeitpunkt im Leben verschoben. So waren im Jahr 2007 Männer bei der ersten Eheschließung 32,7 Jahre und Frauen 29,8 Jahre alt. Diese Zahlen sind im Vergleich zum Jahr 1991 um jeweils ungefähr vier Jahre gestiegen, wobei es sich bereits um einen länger andauernden Trend handelt (vgl. BMFSFJ 2005: 244f).5 Zugleich wird jede dritte Ehe im Laufe der Zeit wieder geschieden (vgl. Statistisches Bundesamt u.a. 2008: 33). Die klassische Kleinfamilie ist zwar immer noch die häufigste, aber nicht mehr die dominierende Lebensform. Die Zahl alternativer Lebensformen wie nichteheliche und homosexuelle Lebensgemeinschaften mit oder ohne Kinder, Alleinerziehende, Partnerschaften mit getrennten Wohnsitzen, Scheidungsund Patchworkfamilien steigt: In Westdeutschland finden sich in gut drei Viertel (77 Prozent) der Familien verheiratete Ehepaare, 17 Prozent sind alleinerziehend und sechs Prozent Lebensgemeinschaften mit Kindern. In Ostdeutschland ist die Relevanz der traditionellen Ehepaarsfamilie mit 55 Prozent noch geringer; 18 Prozent leben in Lebensgemeinschaften, 26 Prozent sind alleinerziehend (vgl. BMFSFJ 2010: 21 für das Jahr 2008). Wie in anderen europäischen Ländern wächst auch in Deutschland die Zahl der Frauen, die kinderlos bleiben, und das Erstgeburtsalter steigt: Lag es in den 1960er Jahren im alten Bundesgebiet bei knapp 25 Jahren (vgl. BMFSFJ 2005:
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Vgl. auch Gender-Datenreport: 1991 betrug das durchschnittliche Heiratsalter lediger Männer 28,5 Jahre und das lediger Frauen 26,1 Jahre (vgl. BMFSFJ 2005: 244ff.).
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244), so liegt es heute bei über 30 Jahren (vgl. Statistisches Bundesamt 2010b). Die Geburtenrate pro Frau liegt in Deutschland seit den 1970er Jahren bei ungefähr 1,4 Kindern und ist damit deutlich niedriger als noch in den 1950er und 1960er Jahren und als in anderen europäischen Ländern (vgl. Statistisches Bundesamt 2009: 21f.). Weiterhin haben zwar die meisten Frauen Kinder, doch ist der Anteil der Frauen ohne Kinder in den letzten Jahren kontinuierlich gestiegen (vgl. Statistisches Bundesamt 2009: 9). Insbesondere der Zusammenhang von Bildungsgrad und Kinderlosigkeit wurde diskutiert: Während die häufig zitierte Aussage, 40 Prozent der Akademikerinnen blieben kinderlos, mittlerweile als verfälschende Generalisierung gilt (Statistisches Bundesamt 2006a: 4–7), hält das Statistische Bundesamt für den Westen Deutschland differenzierter fest, dass Frauen umso seltener Kinder geboren haben, je höher ihr Bildungsstand ist (vgl. Statistisches Bundesamt 2009: 27f.). So haben 26 Prozent der Frauen ab 40 Jahren (Geburtsjahrgänge 1933 bis 1968) mit höherer Bildung keine Kinder – im Gegensatz zu 16 Prozent derjenigen mit mittlerem und 11 Prozent derjenigen mit niedrigem Bildungsstand. Die ungewollte Kinderlosigkeit wird nicht systematisch statistisch erhoben und häufig auf bis zu 10 Prozent aller Ehepaare geschätzt. Für eine Zunahme des Anteils der ungewollten Kinderlosigkeit spricht vor allem das gestiegene Erstgeburtsalter. Demgegenüber wird im Datenreport 2008 unter Bezugnahme auf die Allgemeine Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften (ALLBUS) darauf verwiesen, dass sich die meisten jungen kinderlosen Männer und Frauen zunächst Kinder wünschen: 94 Prozent der Männer und Frauen zwischen 18 und 30 Jahren äußern den Wunsch nach einem Kind (vgl. Statistisches Bundesamt u.a. 2008: 47). Für diese Diskrepanz werden in der soziologischen Diskussion zwei Erklärungen angeführt: Es wird zum einen ein Einstellungswandel konstatiert, der – um exemplarisch Karl Lenz zu zitieren – dazu führt, dass „eine Gruppe in der Bevölkerung vorhanden [ist], die sich aufgrund individualistisch geprägter Orientierung gegen Kinder entscheidet“ (Lenz 2009: 15f.). Doch was hier als hedonistische, wenn nicht egoistische Verhaltensweise vor allem von Paaren mit akademischer Bildung präsentiert wird, ist – so die andere Erklärungsperspektive – zugleich auch Ausdruck der Auswirkungen der Flexibilisierung und Deregulierung von Lebens- und Arbeitsverhältnissen. Individualisierung bedeutet nicht nur Befreiung aus alten sozialen Zwängen, sondern durch sie entstehen neue Zwänge, Begrenzungen und Abhängigkeiten; die gewonnene Freiheit verändert „die Vorstellung über einen Normallebenslauf. Er wird nun als Ergebnis von vielfältigen und bewussten Entscheidungen des Individuums aufgefasst“ (Junge 2002: 9). Elisabeth Beck-Gernsheim stellt die Auswirkungen der Individualisierung auf Biographien und Lebensentwürfe heraus:
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[U]nter Individualisierungsbedingungen [entsteht] immer mehr ein Zwang zum aktiven Planen und Aushandeln des Lebenslaufes […]. Besonders sichtbar wird dies an den Umwälzungen in der Arbeitswelt, die sich heute vollziehen: Die Berufstätigen werden damit vor neue Anforderungen gestellt, die die Rahmenbedingungen für ein Leben in Familie und mit Familie tiefgreifend verändern […] Damit wird nicht nur Partnerschaft schwieriger, sondern auch Elternschaft (Beck-Gernsheim 2002: 4f.).
Die Gründung einer Familie stellt im Leben der Eltern ein zentrales Ereignis dar; sie bedeutet aber insbesondere für die Mutter einen Einschnitt in ihrer sozialen Position und Lebensorganisation. Kinderbekommen ist für Frauen fast immer mit einem zumindest vorübergehenden Ausstieg aus dem Erwerbsleben verbunden: 2006 waren nur 28 Prozent der Mütter mit Kinder unter drei Jahren berufstätig, während die Erwerbstätigkeit von Vätern weitgehend unabhängig vom Aufwachsen ihrer Kinder ist und bei 84 Prozent liegt (vgl. Statistisches Bundesamt u.a. 2008: 9). Gleichzeitig beträgt die Betreuungsquote für unter Dreijährige im Westen Deutschlands zwischen 5 und 15 Prozent, im Osten Deutschlands allerdings häufig über 50 Prozent (vgl. Statistisches Bundesamt 2010c). So finden sich Frauen mit der Geburt eines Kindes – statistisch häufig – in alten, vor allem finanziellen, Abhängigkeiten vom Partner wieder. Alleinerziehende sind besonders von Armut bedroht – und 90 Prozent der Alleinerziehenden sind Frauen (Statistisches Bundesamt u.a. 2008: 30). Beck-Gernsheim (2002: 13) beschreibt die Situation von Frauen als zwischen „Planungsangebot und Planungsfalle“ stehend. Auf der einen Seite hat sich mit der Einführung und Verbreitung der Antibabypille in den 1960er Jahren die Möglichkeit von Frauen, selbst zu entscheiden, wann, ob und wie viele Kinder sie haben wollen, radikal erweitert. Doch diese Wahlfreiheit heißt unter Individualisierungsbedingungen auch: „Zwang zum aktiven Planen und Aushandeln und Absichern der eigenen Biographie, zum Abwägen von Risiken und Ressourcen“ (ebd.). So hat es einen grundlegenden Einstellungswandel zur Frage der Elternschaft gegeben: Sie ist zumindest tendenziell und als Norm immer mehr zu einer Frage der aktiven Entscheidung, einschließlich langfristiger Überlegungen und Abwägungen, geworden, die von der finanziellen, beruflichen, wohnlichen Situation sowie der Einschätzung der Stabilität der Partnerschaft abhängt (vgl. Beck-Gernsheim 2006: 115). Wenn Elternschaft zunehmend ihre Selbstverständlichkeit verliert, im Lebenslauf zur Option geworden und – vor allem für Frauen – mit einer Reihe von Ambivalenzen verbunden ist, stellt sich auch für die Kinderwunschbehandlung die Frage, wann, unter welchen Umständen und wie Paare sich konkret hierfür entscheiden und wie sie als Verantwortliche für ihre „Bastelbiographien“ (Hitzler und Honer
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1994), für die es keine verlässlichen Rezepte mehr gibt, den Kinderwunsch und die medizinischen Möglichkeiten seiner Erfüllung bewerten und realisieren. Die Frage der Auswirkungen der reproduktionsmedizinischen Möglichkeiten und Praktiken auf die Vorstellung von Verwandtschaft wurde aus anthropologischer Perspektive zunächst vor allem im angloamerikanischen, vermehrt aber auch im deutschsprachigen Raum breit untersucht.6 Mit der Entkopplung von Zeugung und Empfängnis auf der einen und Schwangerschaft auf der anderen Seite werden kulturell grundlegende Annahmen und Konzepte über die Elternschaft, Familie und Verwandtschaft in Frage gestellt und verändert. Neben die älteren Formen „fragmentierter Elternschaft“ (Hoffmann-Riem 1988) in Stief-, Pflege- oder Adoptionsfamilien treten nun neue. Durch Verfahren wie Leihmutterschaft, Eizellspende und heterologe Insemination besteht grundsätzlich die Möglichkeit, dass ein Kind drei Mütter – eine genetische, von der die Eizelle stammt, eine austragende Mutter, die das Kind zur Welt bringt, und eine soziale Mutter – und zwei Väter – einen genetischen und einen sozialen Vater – hat. Es entstehen neue Verwandtschaftsbeziehungen, die ohne die Reproduktionsmedizin nicht möglich wären, von Marilyn Strathern (1992: 14) als „kinship assisted“ bezeichnet. Dennoch werden die alten Vorstellungen von Verwandtschaft nicht zwangsläufig aufgehoben, zum Teil sogar noch verstärkt: Genetische Elternschaft, vor allem genetische Mutterschaft, wird aufgewertet, andere Formen von Elternschaft wie Adoption werden abgewertet – es kommt zu einer „‚Genetifizierung‘ biologischer Mutterschaft“ (Kollek und Lemke 2008: 175) und nachholend auch zu einer Biologisierung von Vaterschaft (Gehring 2006: 92–106). Die Möglichkeiten und Praxen diesen multipler Elternschaften stellen eine neue Herausforderung auch an soziologische Konzeptionen von Familie dar, wurden bisher allerdings wenig untersucht (vgl. Gross und Honer 1990). In der Reproduktionsmedizin tritt der Arzt oder die Ärztin als neuer Akteur in der Familienplanung auf. So werden Ärztinnen und Ärzte und andere Biowissenschaftlerinnen und Biowissenschafler im Kontext prädiktiver Gentests als Expertinnen und Experten der Risikoberechnung in die Familienplanung miteinbezogen (vgl. Kollek und Lemke 2008: 173–178). Honer beschreibt (1991b) den Reproduktionsmediziner als unumgehbaren Dritten, der die biologische Diade zu einer sozialen Triade, einer „menage à trois“ (1991b: 388) erweitert, dessen Rol-
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Vgl. exemplarisch die Sammelbände und Monographien von Edwards u.a. 1993, Ginsburg und Rapp 1995, Franklin 1997, Franklin u.a. 2000, Stanworth 1988; für einen deutschsprachigen Überblick siehe Mense 2004. Für die deutschsprachige Diskussion vgl. Beck u.a. 2007, de Jong 2009, Hauser-Schäublin u.a. 2001, Knecht u.a. 2010.
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le und Perspektive allerdings nur unzureichend erschlossen ist (Honer 1991a: 207). Wenn die Bedeutung von biomedizinischem und wissenschaftlichem Wissen auch für Laien immer größer wird, aber gleichzeitig diese „Verwissenschaftlichung Verwissenschaftlichung untergräbt“ (Beck 1996: 55), wie wird dann diesen neuen „Begründungszwängen und Unsicherheiten“ (ebd.) in der medizinischen Behandlung des unerfüllten Kinderwunsches begegnet? Welche Strategien und Routinen des Umgangs mit Unsicherheiten und Risiken werden auf medizinischer und administrativer Seite und auf der Seite der Patientinnen und Patienten gefunden? Wird die Individualisierung der Verantwortung der Paare durch die reproduktionsmedizinische Praxis verstärkt? Ausweitung medizinischer Zuständigkeit Für die westlichen Gesellschaften ist Medikalisierung eine der wichtigsten sozialen Transformationen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Sie ist dadurch gekennzeichnet, dass immer mehr Lebensbereiche, die bisher außerhalb des medizinischen Einflussbereichs lagen, als medizinisch bzw. als medizinische Probleme begriffen werden (vgl. bspw. Conrad 1992). Gesellschaftswissenschaftliche Analysen diskutieren unter dem Begriff Medikalisierung einen Bedeutungszuwachs von Medizin und medizinischen Konzepten in den letzten fünfzig Jahren. Medikalisierung ist dabei eher ein Konzept als eine Theorie, es gibt keine einheitliche Verwendungsweise des Begriffs. Die ersten Studien zur Medikalisierung legten ihren Fokus auf negative Folgen der Medikalisierung. Auch heute noch wird mit dem Begriff Medikalisierung häufig – vor allem in der öffentlichen, aber auch in der wissenschaftlichen Diskussion – eine Kritik an einer allgemeinen Über-Medikalisierung verbunden, das heißt, an einem zu großen, zu weit reichenden Einfluss der Medizin. Bereits seit den 1970er Jahren haben jedoch medizinsoziologische Studien – vor allem im Anschluss an Eliot Freidson (1975, 1979) und Irving Kenneth Zola (1972) – ein differenziertes Bild aufgezeigt: Sie konzeptionalisierten Medikalisierung als vielschichtigen Prozess der Erweiterung des Zuständigkeitsbereichs der Medizin und als Ergebnis komplexer sozialer Kräfteverhältnisse. Medikalisierung gefasst als sozialer Definitionsprozess ist ein Gegenentwurf zur Vorstellung einer linearen medizinischen Fortschrittsgeschichte und wird als Prozess des sozialen Wandels als mit Aushandlungen, Dynamiken, Irrwegen und Ungleichzeitigkeiten verbunden gesehen. Ein solches offenes Verständnis ist auch Grundlage dieser Untersuchung, wobei als Arbeitsdefinition von Medikalisierung Peter Conrads Vorschlag gefolgt wird. demzufolge Medikalisierung ein Prozess ist, „by which nonmedical problems
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become defined and treated as medical problems, usually in the terms of illness and disorders“ (Conrad 2007: 4). Conrad unterscheidet weiter zwischen verschiedenen Ebenen und Graden der Medikalisierung, in denen verschiedenen Faktoren und Akteure unterscheidlich zusammenwirken: Auf einer konzeptuellen Ebene kann von Medizinerinnen und Medizinern ein Problem in medizinischen Modellen gefasst werden, ohne dass es zur Anwendung gebracht wird; auf einer institutionellen Ebene können Organisationen bestimmte medizinische Herangehensweisen übernehmen; auf der Ebene der Interaktion vollzieht sich Medikalisierung direkt als Teil der ArztPatienten-Interaktion: Ärztinnen und Ärzte definieren ein Problem zum Beispiel als medizinisch, indem sie eine medizinische Diagnose stellen oder ein Problem mit medizinischen Mitteln behandeln (vgl. Conrad 1992: 211). Medikalisierung muss sich nicht immer vollständig vollziehen: Tod und Geburt sind nahezu vollständig medikalisiert, während Opiumabhängigkeit oder Menopause nur als teilweise medikalisiert angesehen werden; andere Zustände wie z.B. sexuelle Abhängigkeiten sind kaum medikalisiert (vgl. ebd: 220f.). Für die 1970er und 1980er Jahre haben soziologische Studien vor allem drei Triebkräfte der Medikalisierung herausgearbeitet: erstens die Macht und Autorität der medizinischen Profession, zweitens Medikalisierung durch die Mobilisierung sozialer Bewegungen und anderer Interessensgruppen und drittens direkte organisatorische, inter- oder intraprofessionelle Aktivitäten (vgl. Conrad 2005: 3f.). Unabhängig davon, ob von professioneller Dominanz, ärztlichem Unternehmertum oder „medizinischer Kolonialisierung“ die Rede war, haben diese Studien, beispielsweise an der Medikalisierung von Hyperaktivität, aufgezeigt, dass „the medical profession and the expansion of medical jurisdiction were the prime movers for medicalization“ (ebd.). Aber auch soziale Bewegungen und andere Interessensgruppen haben sich für die Anerkennung medizinischer Definitionen eines Problems oder die Verifizierung einer medizinischen Diagnose eingesetzt. Des Weiteren können auch Auseinandersetzungen über die Definitionen, Behandlungen und Zuständigkeiten für ein medizinisches Problem unter konkurrierenden Professionen der Medikalisierung Vorschub leisten, wie zum Beispiel im Falle von Geburt und Schwangerschaft, die in Deutschland – wie in anderen westlichen Ländern auch – nach dem Zweiten Weltkrieg zunehmend in den Zuständigkeitsbereich von Ärztinnen und Ärzten und Krankenhäusern fielen, während die Kompetenzen und Aufgabenbereiche vor allem von freiberuflichen Hebammen zunehmend beschnitten wurden (vgl. Bierig u.a. 1999: 78). Zudem haben andere Triebkräfte wie Pharmaindustrie, Marketing oder Krankenkassen die Medikalisierung bestimmter Lebensbereiche begünstigt, waren aber zunächst eher sekundär (vgl. Conrad 2007: 10f.).
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Seit den 1980er Jahren lassen sich grundlegende Veränderungen in der Organisation von Medizin und die Entstehung neuer oder weiterentwickelter medizinischer Wissensgebiete beobachten: Mit dem Umschwung des Schwerpunkts der Gesundheitspolitik weg von Zugang zu medizinischer Vorsorge hin zu Kostenreduktion – Stichwort: managed care – kommt es zur Erosion medizinischer Autorität. Ärztinnen und Ärzte sind zwar weiterhin dominant, Patientinnen und Patienten haben aber nun als Konsumentinnen und Konsumenten neue Handlungsmöglichkeiten. Auch in Deutschland nehmen die Angebote, Anreize und Zwänge für private Krankenzusatzvorsorge zu, die Individuellen Gesundheitsleistungen (IGeL) – also die Möglichkeit von Ärztinnen und Ärzten, gesetzlich Krankenversicherten Leistungen gegen Selbstzahlung anzubieten – sind ein Beispiel dafür, dass die Verantwortung insbesondere für Vorsorge auf die Einzelnen verschoben wird. Neben den neuen Akteuren der managed care wird die Pharmaindustrie eine immer wichtigere Triebkraft und kann sich etwa mit Werbung, dem Betreiben von Gesundheitsportalen im Internet oder der Unterstützung von Selbsthilfegruppen – unter Umgehung von Ärztinnen und Ärzte – direkt an die Konsumentinnen und Konsumenten wenden. Neben diesen organisatorischen Veränderungen werden neue oder weiterentwickelte medizinische Wissensgebiete relevant. Durch die Entwicklung neuer Medikamente erweitert die Pharmaindustrie ihren Einfluss. Parallel ist seit den 1990er Jahren mit dem Human Genome Project die Genetik – sowohl in der medizinischen als auch der öffentlichen Diskussion – eine dominante Form medizinischen Wissens geworden (vgl. bspw. Kollek und Lemke 2008, Weber und Barth 2003). Adele Clarke, Janet Shim, Laura Mamo, Jennifer Ruth Fosket und Jennifer Fishman (2003) beschreiben die seit Mitte der 1980er Jahre wachsende ökonomische Relevanz des privatwirtschaftlichen Biomedizinsektors, die massenmediale Verbreitung biowissenschaftlicher Erklärungsmodelle und die Verschiebung des Fokus von der Kontrolle zur Transformation biomedizinischer Modelle als Biomedikalisierung. Diese Prozesse werden begleitet von einer Verschiebung und Erweiterung des medizinischen Einflussbereichs auf Gesundheit selbst und der Betonung von Risiken und Selbstbeobachtungserfordernissen. Für die Etablierung der Reproduktionsmedizin in Deutschland zeigen Rosemarie Nave-Herz, Corinna Onnen-Isemann und Ursula Oßwald (1996), dass die Gründe für deren starke Inanspruchnahme nicht nur im Anstieg der Kinderlosigkeit und medizinischen Entwicklungen, sondern in einer sich gegenseitig verstärkenden Interessenlage der unterschiedlichen beteiligten Akteure – Krankenkassen, überweisende Gynäkologinnen und Gynäkologen, Reproduktionsmedizinerinnen und Reproduktionsmediziner und Kinderwunschpaare – liegen. So entstehe eine „gewisse Eigendynamik“ (Nave-Herz u.a. 1996: 126), deren Ent-
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wicklung die Autorinnen vor dem Hintergrund des entscheidungstheoretischen Modells der Theorie des subjektiven bzw. subjektiv erwarteten Nutzens untersuchen. Imme Petersen (2002) zeigt die Wirkmächtigkeit und Definitionsmacht medizinischer Konzepte und die zentrale Rolle medizinischer Sachverständiger in deutschen Parlamentsdebatten auf: Politikerinnen und Politiker übernahmen für Entscheidungsfindungen und -begründungen Erkenntnisse von Embryologie und Humangenetik und definierten Kernverschmelzung von Ei- und Samenzelle als Zeitpunkt des Beginns der Embryogenese (vgl. Hauser-Schäublin u.a. 2001: 176–209). Die Medizin als Profession kann weiterhin als wichtige Triebkraft der Medikalisierung gesehen werden, doch ist ihr Stellenwert gerade auch im Fall der medizinischen Behandlung von unerfülltem Kinderwunsch zu differenzieren, da dieser im Gegensatz zu anderen medikalisierten Problembereichen nicht mit einer unmittelbaren oder zukünftigen gesundheitlichen bzw. körperlichen Einschränkung einhergeht. Wie sieht der Prozess aus, in dem ein widerspenstiges – die Vorstellung und Wünsche der eigenen Lebensplanung betreffendes – nichtmedizinisches Problem zu einem medizinischen definiert und als medizinisches Problem behandelt wird? Wie wird aus einem gesunden Paar ein Kinderwunschfall? Wo werden bei diesem Krankheiten und Funktionsstörungen lokalisiert, die eine medizinische Intervention – für Ärztinnen und Ärzte sowie Patientinnen und Patienten – sinnhaft erscheinen lässt? Welche Akteure spielen bei der Medikalisierung – als Ergebnis komplexer sozialer Kräfteverhältnisse – eine Rolle (Profession, Ärztinnen und Ärzte, Sozialpolitik, Krankenkassen, Patientinnen und Patienten als Nachfragende, Pharmaindustrie)? Zugleich lassen sich verschiedene Grade und Ebenen der Medikalisierung unterscheiden: Wie wird der Kinderwunsch konzeptionell, institutionell und auf der Ebene der Interaktion medikalisiert? Geschieht dies in gleichem Maße oder gibt es graduelle Unterschiede? Gesundheitsorientierung und Prävention Ein wichtiger Trend, der den Medikalisierungsprozess begleitet, ist die Bedeutungszunahme von Gesundheit und Gesundheitserhalt. Damit einher geht auch eine Verschiebung des Ansatzpunkts für sozialpolitische Interventionen: Neben die Krankheitsprävention tritt die Förderung und Optimierung des Gesundheitserhalts und damit eine Ausweitung der nun nicht mehr rein medizinischen, sondern gesundheitswissenschaftlichen Zuständigkeit auf eine Vielzahl von Lebensbereichen (s.u. Kap. 2.1). Ursachen für diese Veränderungen liegen dabei nicht nur in der Kritik der beschränkten biomedizinischen Sicht auf Krankheit, son-
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dern auch in der Suche nach politischen Maßnahmen gegen den Kostenanstieg im Gesundheitssystem. 1989 wurde Prävention erstmals in den Leistungskatalog der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) aufgenommen. Die wachsende Relevanz genetischen Wissens für medizinische und gesellschaftliche Deutungsmuster und Klassifikationsmodelle stärkt die Ausweitung des Krankheitsbegriffs. Kollek und Lemke (2008: 119f.) beschreiben diese Entwicklung als einen Wechsel vom Paradigma der Überwachungsmedizin über das Paradigma der Prävention von Gesundheitsgefahren hin zu einem Paradigma der prädiktiven Medizin. Entscheidend ist, dass die präventive Medizin „abstrakte bevölkerungsbezogene Risikokalküle mit konkreten individualisierbaren Informationen verkoppelt“ (ebd.) und hier den Ansatzpunkt für Interventionen sieht. So werden die Einzelnen verstärkt zur Vermeidung von gesundheitlichen Risiken in die Pflicht genommen, und Gesundheit und Krankheit [sind] keine Kategorien von Zufall oder Schicksal, sondern Gegenstand und Resultate des Willens. Medizinische Ratgeber, Wellness-Programme, Fitnessstudios und Diätregime präsentieren Gesundheit als Ergebnis planvollen Handelns, das Voraussicht und Vorsorge einfordert (ebd.: 123).
Diese neue Gesundheits- und Präventionsorientierung hat insofern Ähnlichkeiten mit der Medikalisierung, als Verhaltensweisen mit medizinischen Aspekten verbunden werden. Wenn aber soziale Betätigungen, Verhaltensweisen oder ein bestimmter Lebensstil als Risiko für bestimmte medizinisch definierte Zustände bzw. Krankheiten gelten, unterscheidet sich dies insofern von Medikalisierung, als sich diese zuallererst auf das Aufkommen medizinischer Definitionen von bisher nichtmedizinischen Problemen beziehen. Um der Unterschiedlichkeit gerecht zu werden, schlägt Peter Conrad vor, in diesem Fall eher von healthicization (Gesundheitisierung) statt von Medikalisierung zu sprechen (vgl. Conrad 1992: 223). Während Medikalisierung davon gekennzeichnet ist, dass das vormals moralisch Falsche nun in eine Frage medizinischer Diagnose und Behandlung gewendet wird, wird Gesundheit im Rahmen der healthicization zur moralischen Aufgabe des Einzelnen: „The former [medicalization, cu] turning the moral into the medical, the latter turning health into the moral“ (ebd.). Naturheilkunde und ganzheitliche Medizin werden häufig als Gegenpart einer „medikalisierten Medizin“ gesehen und ihre Inanspruchnahme als Möglichkeit, sich einem medikalisierten Zugriff zu entziehen. Ganzheitliche Ansätze positionieren sich so gegen schulmedizinische Modelle. Lowenberg und Davis (1994) haben jedoch aufgezeigt, dass es keinen selbstverständlichen Zusammenhang zwischen Naturheilkunde und Demedikalisierung gibt: Einige Aspekte lau-
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fen der Medikalisierung zwar entgegen und unterstützen eine Demedikalisierung, wie zum Beispiel die Reduktion des Einsatzes von Technologien und die geringere Statusdifferenz zwischen Anbietern und Klientinnen und Klienten. Gleichzeitig wird aber die pathologische Sphäre substanziell erweitert – so sind beispielsweise Diätetik und Verhaltensänderungen Gegenstände der Naturheilkunde und damit durch Medikalisierung verstärkt. Dass in Deutschland ausgebildete Ärztinnen und Ärzte im Rahmen ärztlicher Weiterbildung zertifizierte Zusatzbezeichnungen in Akupunktur und Homöopathie erwerben können und Krankenkassen im Rahmen integrierter Vorsorge teilweise Kosten für naturheilkundliche Behandlungen übernehmen, zeigt, dass die Alternativmedizin zumindest an einigen Stellen auch institutionell in nicht leicht von der Schulmedizin getrennt werden kann. Die medizinische Behandlung des unerfüllten Kinderwunsches – sowohl die reproduktionsmedizinische als auch die naturheilkundliche – kann vor diesem Hintergrund in einem Spannungsfeld von Medikalisierung und Gesundheitsorientierung verortet werden. So lässt sich zum einen fragen, inwieweit auch Demedikalisierungs- und „Gesundheitisierungs“-Prozesse bedeutsam werden, und zum anderen, ob und wie Gesundheitserhalt und Prävention in die Verantwortung der Patientinnen und Patienten gelegt werden. Der Körper und seine Teile Die Herausbildung „des modernen Körpers“ steht im engen Zusammenhang mit der Etablierung und Professionalisierung der Medizin, worauf insbesondere Michel Foucault – etwa in seinen Rekonstruktionen der Geschichte der Klinik (1999) und der Sexualität (1997) – hingewiesen hat. In Die Geburt der Klinik (1999) prägt Michel Foucault den Begriff des „klinischen Blicks“, um zu beschreiben, wie die Medizin in ihrer Produktion eines immer größer werdenden Wissensfeldes über den Körper des Patienten von seiner Person trennt. Individualisierung und Internalisierung von Krankheit machten für Foucault das entstehende Moment aus. In der Folge wurde der Begriff des klinischen Blicks auch außerhalb postmoderner und poststrukturalistischer Ansätze aufgegriffen. Zugleich wird dem Körper – so die aktuellere soziologische Beobachtung – eine wichtige Funktion bei der Bestimmung des Subjekts in der modernen Gesellschaft zugeschrieben. Unter den Bedingungen von Individualisierung, Verwissenschaftlichung und Zunahme von Ungewissheit kann der Körper nicht mehr als selbstverständlich vorgegeben gedacht werden, wie Anthony Giddens in Modernity and Self-Identity ausführt:
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The body cannot be any longer merely „accepted“, fed and adorned according to traditional ritual; it becomes a core part of the reflexive project of self-identity. A continuing concern with bodily development in relation to a risk culture is thus an intrinsic part of modern social behaviour […]. Like other aspects of the reflexivity of self-identity, bodyplanning is more often an engagement with the outside world than a defensive withdrawal from it (Giddens 1991: 178).
Ähnlich haben Ilse Lenz, Lisa Mense und ich formuliert: „Wir nehmen an, dass Geschlecht und Körperlichkeit heute deutlicher (reflexiv) hinterfragt, normiert und ausgehandelt werden. Wesentliche Faktoren sind die Mediatisierung und Verwissenschaftlichung des Alltags, sowie die Einflüsse der StudentInnen- und insbesondere der Frauenbewegungen“ (Lenz u.a. 2004: 11). Die Arbeit am eigenen Körper folgt, so auch Paula-Irene Villa, hier in Bezug auf die gouvernementalitätstheoretische Studie von Ulrich Bröckling (2007), „zunehmend der Logik eines ‚unternehmerischen Selbst‘“ bzw. einem „ökonomisch inspirierten Optimierungsgebots“ (Villa 2008b: 249). Der klinische Blick auf den Körper war für die Auseinandersetzung der Frauen- und Geschlechterforschung ein wichtiger Referenzpunkt (s.o). Für die Reproduktionsmedizin kommen Brigitta Hauser-Schäublin, Vera Kalitzkus, Imme Petersen und Iris Schröder (2001) in einer ethnologischen Untersuchung zu dem Ergebnis, dass der Körper als medizinischer Behandlungsgegenstand eine Objektivierung voraussetzt. Patientinnen und Patienten würden eher als Träger von Krankheiten gesehen und nicht als Personen mit sozialen Beziehungen, und sie erführen einen standardisierten körperlichen Kontakt. Diese Objektivierung, so ihre These, stehe in deutlichem Widerspruch zur subjektiven Befindlichkeit – der Leiblichkeit – der Patientinnen. Franklin beschreibt jedoch, dass es für die Patientinnen ein Lernprozess ist, den Körper aus klinischer Perspektive zu sehen (vgl. Franklin 1997: 150). Charis Thompson (2005, Cussins 1996) weist zudem in einer philosophischen Analyse darauf hin, dass leibliches Schmerzempfinden etwa in der Anamnese Bedeutung für die medizinische Behandlung behält. Wenn der Körper ein Objekt des „reflexiven Projekts der Selbstidentität“ (Giddens) ist, ist auch für die Kinderwunschbehandlung zu fragen, wie sich dieses Verständnis auf die Vorstellung von und dem Umgang mit dem Körper auswirkt und welche Bedeutung der „klinische Blick“ auf den Körper hat. Zu untersuchen sein wird hier, in welchem Verhältnis Selbst- und Fremdzwänge im Umgang der Paare mit dem Kinderwunsch, aber auch mit dem eigenen Körper, stehen.
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1.2 A RGUMENTATIONSGANG
DER
A RBEIT
Die bisherige Forschung bietet einige Ergebnisse und Ansatzpunkte für die Untersuchung der Frage der Medikalisierung des unerfüllten Kinderwunsches. Sie lässt jedoch einige grundlegende Fragen offen. Insgesamt ist auffällig, dass die medizinische Behandlung zu unerfülltem Kinderwunsch zwar auch aus soziologischer Sicht diskutiert, aber kaum empirisch untersucht wird. Während die Paare, insbesondere der Patientinnen, in einigen Analysen Gegenstand sind, sind die Situation der behandelnden Ärztinnen und Ärzte sowie die konkreten Interaktions- und Aushandlungsprozesse bisher nicht systematisch untersucht worden. Sowohl in theoretischer Hinsicht als auch bei der empirischen Konzeptionalisierung fällt auf, dass medizinsoziologische Ansätze so gut wie keine Berücksichtigung erfahren. So finden sich in den vorliegenden Untersuchungen zwar Aussagen zu Medikalisierung, eine begriffliche Präzisierung und eine Kontextualisierung oder einen Vergleich mit anderen Fällen der Medikalisierung bleiben jedoch aus. Die Reproduktionsmedizin wird gemeinsam mit der Transplantationsmedizin und der Genetischen Analyse als Ausnahme- oder Extrembeispiel gesehen und nicht als ein Beispiel unter vielen für die Ausweitung medizinischer Zuständigkeit. Mit der Konzentration auf den Bruch, die Diskontinuität und die gänzlich neue Reproduktionsmedizin wird die Analyse tendenziell abgekoppelt von breiteren gesellschaftlichen Entwicklungen – wie der Bedeutung des Kinderwunsches, der Individualisierung und der vermehrten Sorge um sich selbst – einerseits und den sich wandelnden Triebkräften der Medikalisierung sowie ihres Gegenstandes andererseits. Die Herstellung medizinischer Zuständigkeit in der Behandlungspraxis – vor allem der Interaktion und Bewertung der Behandlung durch Ärztinnen und Ärzte und Paare – ist bisher kaum systematisch betrachtet worden. Die Arbeit gliedert sich in drei Teile: theoretische Zugänge (Kap. 2 und Kap. 3), Forschungsdesign und Methoden (Kap. 4) sowie empirische Ergebnisse (Kap. 5, Kap. 6 und Kap. 7). Zunächst werden in der Auseinandersetzung mit vor allem medizinsoziologischen (Kap. 2), aber auch technisch- und körpersoziologischen Ansätzen (Kap. 3), der konzeptionelle Rahmen der Arbeit und die zentralen Theoriezugänge erörtert und hinsichtlich ihrer theoretischen Tragfähigkeit und empirischen Erklärungskraft diskutiert. So wird ein analytischer Zugang zu Krankheit und Gesundheit, der Medizin als Profession sowie der ArztPatienten-Beziehung entwickelt. Damit werden Bedeutungsverschiebungen in der Definition von Krankheit und Gesundheit sowohl auf theoretischer als auch auf empirischer Ebene fassbar: Krankheit und Gesundheit werden – auch in Abgrenzung zu einer medizinischen Betrachtungsweise – als soziale Phänomene
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ausgewiesen (Kap. 2.1) und in Hinblick auf soziale Abweichung und Stigmatisierung diskutiert (Kap. 2.2). Anschließend werden Ergebnisse und Konzepte von Studien zur subjektiven Vorstellung und Narrationen von Krankheit dargestellt. Diese werden dabei auch in einem breiteren Kontext verortet: Der Prozess des Krankheitsverlaufs wird auf der Seite des Personals als Krankheits- und Compliancearbeit und auf Seite der Patientinnen und Patienten als Krankheits-, Alltags- und Biographiearbeit beschrieben (Kap. 2.3). Im folgenden Kapitel (Kap. 3) werden dann theoretische Zugänge diskutiert, die die Arzt-Patienten-Beziehungen in den Vordergrund stellen. Die im vorherigen Kapitel beschriebene Verortung der Patientinnen und Patienten wird dabei im Anschluss an professionssoziologische Überlegungen um eine Positionierung der Ärztinnen und Ärzte ergänzt (Kap. 3.1). Anschließend wird auf verschiedene Modelle und Typologien der Arzt-Patienten-Beziehung eingegangen (Kap. 3.2). In einem weiteren Schritt steht die Bedeutung von Techniken für die Strukturierung der medizinischen Behandlungspraxis im Vordergrund (Kap. 3.3). Aus der Perspektive einer technology in practice wird zum einen darauf eingegangen, welche Rolle vor allem Organisationstechniken wie beispielsweise die Krankenakte für die Strukturierung von Beziehungen und Inhalten in der Krankenbehandlung spielen können, und zum anderen, welche Bedeutung sie für den Prozess der Transformation eines diffusen Sachverhaltes in ein medizinisch behandelbares Problem haben. Schließlich wird der Begriff des Körpers problematisiert und präzisiert (Kap. 3.4). In Anschluss an die neuere Körpersoziologie wird aufgezeigt, dass Körper mehr sind als Objekte und auf die Beziehung zwischen Körper-Sein und Leib-Haben verwiesen. Darüber hinaus wird mit dem Konzept der Reflexiven Körpertechniken von Nick Crossley ein Vorschlag diskutiert, die Umgangsweisen mit dem Körper soziologisch zu fassen. Der zweite Teil (Kap. 4) werden Forschungsdesign und Fallauswahl dargestellt und diskutiert. Der dritte Teil stellt die empirischen Ergebnisse der Arbeit vor. Diese Analyse ist in drei Aspekte unterteilt. Im ersten Kapitel dieses Teils (Kap. 5) wird diskutiert, inwiefern der unerfüllte Kinderwunsch als Krankheit gedeutet wird. Dies geschieht zunächst allgemein auf der Ebene der sozial- und standespolitischen Regulierungen (Kap. 5.1), dann in Bezug auf meine Untersuchung aus Sicht der Paare (Kap. 5.2) und der Ärztinnen und Ärzte (Kap. 5.3). Hierbei wird herausgearbeitet, dass der unerfüllte Kinderwunsch zwar nicht als Krankheit, aber dennoch als in medizinische Zuständigkeit fallend, definiert wird. Dabei unterscheidet sich die Legitimität seiner medizinischen Behandlung insofern grundlegend von anderen medizinischen Eingriffen und Therapien, als sie initial von der Artikulation des Kinderwunsches durch das Paar abhängig ist. In der Bestimmung des unerfüllten Kinderwunsches als Gegenstand medizini-
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scher Behandlung seitens der Ärztinnen und Ärzte werden bereits Strategien der Transformation des Kinderwunsches in ein für die Medizin behandelbares Problem deutlich. Im zweiten Teil der Analyse (Kap. 6) werden die Struktur und Dynamik des Verlaufs der medizinischen Kinderwunschbehandlung diskutiert. Der Fokus liegt hier auf der reproduktionsmedizinischen Therapie. Es wird aufgezeigt, wie vor allem in Erstberatungsgespräch und Diagnose (Kap. 6.1) der lebensweltliche Wunsch nach einem Kind mehr und mehr in ein medizinisch fass- und behandelbares Problem transformiert wird. Zu dieser Transformation tragen sowohl die Vereinfachungs- und Abgrenzungsstrategien der Ärztinnen und Ärzte (vgl. Kap. 5.3) als auch die organisatorische Struktur der Behandlungsverlaufs bei. Während der IVF-Behandlungen werden die Paare in die Behandlung integriert (Kap. 6.2): Die Therapie ist so organisiert, dass sie vor allem während der Hormonstimulation auf die aktive Mitarbeit insbesondere der Patientinnen angewiesen ist. Eine Ausweitung medizinischer Zuständigkeit lässt sich vor allem da beobachten, wo Ärztinnen und Ärzte die reproduktive Gesundheit als Aufgabe der Paare definieren (Kap. 6.3); dies betrifft vor allem Änderungen des Lebensstils. Während in der Reproduktionsmedizin diese Erwartungen an die Änderungen des Verhaltens als Hinweise und Ratschläge formuliert werden und nicht zur Therapie im engeren Sinne gehören, sind Lebensweisen konstitutiver Gegenstand der naturheilkundlichen Medizin. Aus dem Blickwinkel der Kinderlosigkeit wird so die Lebenswelt weitgehend medikalisiert. Im abschließenden Teil dieses Kapitels wird noch einmal differenzierter auf die Verschiebung und Transformation des Kinderwunsches des Paares zu einer Behandlung der Frau eingegangen (Kap. 6.4). Während im ersten Teil der Analyse Vorstellungen und Konzeptionen des Kinderwunsches als Krankheit (Kap. 5) und im zweiten Teil der Behandlungsverlauf im Krankenhaus im Vordergrund der Analyse stand (Kap. 6), wird der Fokus im dritten Teil noch einmal erweitert und die Arbeit der Paare an der Verlaufskurve im Spannungsfeld von Behandlungs-, Alltags- und Biographiearbeit diskutiert (Kap. 7). Die Paare eignen sich medizinisches Fachwissen an und nutzen dieses zur Einflussnahme auf den Behandlungsverlauf. Obwohl medizinisches und ärztliches Wissen als begrenzt angesehen wird, ist die Einstellung der Patientinnen und Patienten zu den Ärztinnen und Ärzten von einem grundsätzlichen Vertrauen in diese und deren fachliche Expertise geprägt (Kap. 7.1). Die Zeit der IVF-Behandlungszyklen ist für die Paare – insbesondere die Patientinnen – nicht nur mit körperlichen Belastungen verbunden, sondern stellt auch, vor allem in Hinblick auf die Vereinbarung von Behandlung und Berufstätigkeit, eine Herausforderung an die Organisation des Alltags dar (Kap. 7.2 und Kap.
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7.3). Die Strategien, die die Patientinnen anwenden, um mit den Belastungen umzugehen, können als reflexive Selbst- und Körpertechniken beschrieben werden, die sich sowohl an medizinischem Wissen als auch an Gesundheitsnormen orientieren, jedoch nicht unbedingt den ärztlichen Erwartungen entsprechen (Kap. 7.2). Durch die Alltags-, Biographie- und Beziehungsarbeit der Paare – vor allem in Pausen zwischen verschiedenen Behandlungszyklen – aber wird die Bedeutung der medizinischen Perspektive auf den unerfüllten Kinderwunsch und seine Behandlung relativiert (Kap. 7.3 und Kap. 7.4). In einem abschließenden Fazit (Kap. 8) werden die Ergebnisse der Untersuchung zusammengefasst und mit Rückbezug auf die Fragestellungen sowie theoretische und methodische Konzeptionalisierung kritisch diskutiert. Dabei werden Reichweite und Grenzen der Untersuchung betrachtet, der Beitrag im Lichte des Forschungsstandes dargestellt sowie mögliche Anschlussstellen und neue Forschungsfelder, die sich aus der Arbeit ergeben haben, benannt.
2 Die soziale Konstruktion von Krankheit und Gesundheit
Was als Krankheit gilt, ist historisch kontingent und unterscheidet sich je nach kulturellem und gesellschaftlichem Kontext. Auch die medizinische Zuständigkeit für Krankheit ist nicht selbstverständlich gegeben. Diese sozialkonstruktivistischen Annahmen implizieren jedoch nicht, dass Krankheit nicht konkret und sehr real erlebt wird – sie lenken vielmehr den Blick auf die Herstellungsprozesse dieser Wirklichkeiten. Für die Medikalisierung als Prozess der Herstellung medizinischer Zuständigkeiten für ein bestimmtes Problem ist die Definition als Krankheit grundlegend (s.o. Kap. 1). In der medizinsoziologischen Diskussion werden drei Perspektiven auf Krankheit unterschieden: Die subjektive Erfahrung des Sich-krank-Fühlens wird unter illness gefasst. Dieser Selbstwahrnehmung wird die Fremdwahrnehmung durch die Profession gegenübergestellt: Disease beinhaltet medizinische Diagnosen und Definitionen von Kranksein, die sich an Normwerten orientieren (vgl. Kleinman 1980: 72). Sickness bezeichnet die gesellschaftliche Einordnung in den Status des Krankseins (vgl. Hurrelmann 2006: 116) oder – wie der Medizinanthropologe Arthur Kleinman definiert – „the understanding of an disorder in its generic sense across a population in relation to macrosocial (economic, political, institutional) forces“ (Kleinman 1988: 6). Die analytische Differenzierung dieser drei Perspektiven ermöglicht es, das Zusammenwirken der unterschiedlichen in der Behandlungspraxis und in ihrem Kontext wirksamen Prozesse der Konstruktion von Krankheit und medizinischer Zuständigkeit zu untersuchen. Vor diesem Hintergrund werden in diesem Kapitel theoretische Ansätze und empirische Analysen zu Konzeptionen, Vorstellungen und dem Erleben von Krankheit und Gesundheit vorgestellt. In einem ersten Schritt werde ich darstellen, wie in der medizinsoziologischen und gesundheitswissenschaftlichen Diskussion Krankheit und Gesundheit als Gegenstände gefasst werden (Kap. 2.1) und Krankheit als Form sozialer Abweichung und Grundlage für Stigmatisierun-
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gen diskutiert wird (Kap. 2.2). Stoßrichtung dieser Ansätze ist, für die sozialwissenschaftliche Diskussion Krankheit nicht mehr nur in medizinischer Hinsicht (disease) zu fassen, sondern auch – oder auch vor allem – gesellschaftliche Zuschreibungsprozesse (sickness) zu betrachten. Anschließend werde ich auf Untersuchungen und Konzeptualisierungen subjektiver Vorstellungen von Krankheit und Gesundheit, Krankheitsnarrationen und Krankheitsverlaufskurven eingehen, in denen auch die subjektive Erfahrung von Krankheit (illness) berücksichtig wird (Kap. 2.3). In einem Zwischenfazit (Kap. 2.4) werden die Ergebnisse des Kapitels kritisch zusammengefasst und vor diesem Hintergrund differenzierte Forschungsperspektiven der Arbeit formuliert. Ob und in welcher Weise Kinderlosigkeit als Krankheit gesehen wird, beeinflusst Selbstkonzepte, Deutungs- und Handlungsmuster von Patientinnen und Patienten sowie Ärztinnen und Ärzten und deren Interaktion und Strategien (s.u. Kap. 5). Analytische Zugänge zu Medizin als Profession, zur Beziehung von Ärztinnen und Ärzten und Patientinnen und Patienten sowie zur Bedeutung von Technikeinsatz und Körperlichkeit in der medizinischen Behandlung sind Gegenstand des nachfolgenden Kapitels (Kap. 3).
2.1 K RANKHEIT UND G ESUNDHEIT SOZIALE P HÄNOMENE
ALS
In der Soziologie lassen sich grundsätzlich zwei Herangehensweisen an Gesundheit und Krankheit unterscheiden, die häufig mit einer auf Robert Straus (1957) zurückgehenden Differenzierung als Soziologie in der Medizin (sociology in medicine) und Soziologie der Medizin (sociology of medicine) bezeichnet werden. Auf der einen Seite steht eine Soziologie, die sich auf der Grundlage von medizinischen Konzepten an den Zielen der Medizin – wie Heilung, Vorbeugen von Erkrankungen und Palliation – orientiert. Es werden – meist quantitativ - gesellschaftliche Einflüsse auf die Entstehung von Gesundheit und Krankheit untersucht, ihre Ergebnisse haben einen Anwendungsbezug und sie ist institutionell eher in der Medizin verankert. Auf der anderen Seite wird in der Tradition des Sozialkonstruktivismus im Anschluss an die Wissenssoziologie eine andere Zielsetzung verfolgt: Mit einer stärkeren Orientierung an der akademischen Soziologie steht nicht so sehr Krankheit als Zustand an sich im Vordergrund, sondern ihre soziale Bedeutung. Diese beiden Perspektiven werden häufig als gegensätzliche diskutiert, in der Forschungspraxis jedoch auch ergänzend genutzt. So hat beispielsweise die gesundheitswissenschaftliche Forschung zentrale Impulse für die Sozialstrukturanalyse geliefert. Mit ihrer rekonstruktiv-sozialkonstruktivisti-
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schen Fragestellung nach der Herstellung medizinischer Zuständigkeit für den unerfüllten Kinderwunsch ist die vorliegende Arbeit primär in der Perspektive der sociology of medicine verortet. Im Vordergrund der soziologischen Diskussion stand mit Begründung der Medizinsoziologie zunächst die Auseinandersetzung mit Krankheit. Sowohl die an Talcott Parsons anschließende strukturfunktionalistische Tradition als auch die wissens- und professionssoziologische Herangehensweise im Anschluss an Eliot Freidson sowie die interaktionstheoretischen Ansätze in der Krankenhausforschung konzentrierten sich auf die Bestimmung von Krankheit. Der Ausgangspunkt war – wenn auch aus unterschiedlichen Perspektiven heraus –, Krankheit und die Krankenbehandlung als genuin soziale Phänomene in den soziologischen Blick zu nehmen und sich gegen eine rein naturwissenschaftliche Bestimmung abzugrenzen. So ist Krankheit für Parsons kein „reines Naturphänomen“ (Parsons 1958: 11), sondern „in einer wesentlichen Hinsicht als eine Form abweichenden Verhaltens“ (ebd.: 52) aufzufassen, das sozialer Kontrolle unterworfen ist. Krankheit stehe in „Wechselwirkung mit motivierten menschlichen Beziehungen“ (ebd.: 11); dieses Wechselverhältnis betreffe sowohl die Entstehung als auch die Therapie von Krankheiten. Zusammenfassend soll Krankheit nach Parsons einen Zustand der Störung des „normalen“ Funktionierens des Menschen bezeichnen, sowohl was den Zustand des Organismus als biologisches System als auch was seine individuellen und sozialen Anpassungen angeht. Der Begriff Krankheit ist demnach teils biologisch, teils sozial bestimmt. Die Verflechtung in das soziale System ist immer potentiell für den Krankheitszustand relevant, für seine Verursachung, für die Bedingung erfolgreicher Therapie und für viele andere Aspekte (ebd.: 12).
Auch Freidson behandelt Krankheit als einen sozialen Begriff, der sich wie „Verbrechen“ und „Sünde“ auf ein Abweichen von sozialen und moralischen Erwartungen bezieht, die in eine offizielle, von der Profession vertretene Ordnung eingebettet sind (Freidson 1979: 3).
Die Abgrenzung von einer biologischen Definition ist für Freidson grundlegend, und er erläutert sie im Anschluss an die Tradition der Wissenssoziologie von Peter Berger und Thomas Luckmann. Spezifische Definitionen von Krankheit stellen für Freidson
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eine Übereinkunft oder Übereinstimmung von Menschen dar […] [Die] Tatsache eines so hohen Maßes an Übereinkunft ändert nichts daran, daß sie eine soziale Konstruktion ist (ebd.: 179).
Entscheidend ist für Freidson, dass die Behandlung der Krankheit als soziale Abweichung „die amtlich zugestandene Domäne der medizinischen Profession ist“ (ebd.: 177). Diese Bestimmung von Krankheit über die professionelle Zuständigkeit der Medizin wird in der aktuelleren Diskussion vor allem in Studien zur Medikalisierung vertreten. Der Fokus wird hier von der sozialen Abweichung auf die Zuständigkeit der Profession verschoben: Peter Conrad schlägt vor, Krankheiten als Verhaltensweisen zu thematisieren „that relate to behaviors, a psychic state, or a bodily condition that now has a medical diagnosis and medical treatment“ (Conrad 2007: 3). Diese professionelle Zuständigkeit ist relativ unabhängig davon, ob es sich bei einem Problem „tatsächlich“ um ein medizinisches handelt: We can examine the medicalization of human problems and bracket the question of whether they are „real“ medical problems. What constitutes a real medical problem may be largely in the eyes of the beholder or in the realm of those who have the authority to define a problem as medical. In this sense it is the viability of the designation rather than the validity of the diagnosis that is the grist of the sociological mill (ebd.: 4).
Aufgabe der Soziologie ist es hier, die Prozesse der Herstellung und Aufrechterhaltung medizinischer Zuständigkeit zu untersuchen. Erst seit den 1980er Jahren wird Gesundheit verstärkt zum Ausgangspunkt soziologischer Überlegungen, auch in Deutschland setzt ein „Perspektivwechsel auf den Gegenstand Gesundheit“ (Gerlinger 2006: 34) ein. Dies geschieht vor allem in interdisziplinären Zusammenhängen um die Begriffe Public Health, Gesundheitsförderung und Salutogenese und im Zusammenhang mit den sich institutionalisierenden Gesundheits- und Pflegewissenschaften. Die Definition von Gesundheit der WHO als: „ein[en] Zustand vollkommenen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens und nicht allein [als] das Fehlen von Krankheit und Gebrechen“ (WHO 1946), wird vielen soziologischen Arbeiten vorangestellt (vgl. Wolf und Wendt 2006: 9). Die WHO-Definition hat wichtige Impulse gegeben und zentrale Eckpunkte markiert, ist aber nun für wissenschaftliche Analyse nicht mehr ausreichend. Laut Hurrelmann (2006: 116) ist die Akzentuierung der subjektiven Sichtweise zu einseitig und die Zielvorstellung des völligen Wohlbefindens zu unrealistisch, bleibt die Mehrdimensionalität zu ungenau und die polarisierende Gegenüberstellung der Zustände Krankheit und Gesundheit zu
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statisch. Die Gesundheitswissenschaft hat die Perspektive auf Krankheit vor allem durch die Entwicklung integrativer Modelle erweitert, die auf eine interdisziplinär verwendbare Definition von Gesundheit und Krankheit zielen. Mit der Diskussion des Salutogenesemodells des Soziologen Aaron Antonovsky (1979, 1993, 1997) wurde „ein neues Paradigma der Gesundheitsforschung eingeleitet“ (Schroeter 2006: 97). Antonovsky stellt den Begriff Salutogenese den der Pathogenese gegenüber; im Vordergrund stehen die Entstehung und der Erhalt von Gesundheit. An die Stelle der Dichotomie von Gesundheit und Krankheit tritt bei Antonovsky und in der Folge die Vorstellung eines Kontinuums mit den Polen Gesundheit und Wohlbefinden sowie Krankheit und Missbefinden (vgl. Hurrelmann 2006: 125, Abb. 28). Gesundheit und Krankheit werden im Salutogenesemodell nicht als Zustände, sondern als Prozesse verstanden. Den Ausgangspunkt des Modells bilden physische, psychische und biochemische Stressoren oder Stressfaktoren, die als Herausforderung einer körperlichen, psychischen und sozialen Bewältigungskapazität gesehen werden (vgl. Hurrelmann 2006: 125, Abb. 29). Der Perspektivwechsel von Krankheit auf Gesundheit und von der Beschreibung eines Zustandes zu einem prozesshaften Verständnis wird von einem zweiten im deutschsprachigen Raum prominent diskutierten integrativen Modell geteilt: Das von Hurrelmann und anderen entwickelte Sozialisationsmodell übernimmt die Kernpunkte des Salutogenesemodells, stellt aber sehr viel stärker den Zusammenhang von Sozialstruktur, Lebenslauf und Gesundheitszustand in den Vordergrund. Die zentrale Annahme des Sozialisationsmodells ist, dass die Persönlichkeitsentwicklung über die gesamte Lebensspanne hinweg mit der Gesundheitsentwicklung verbunden ist. Im Lebenslauf ergeben sich typische „Entwicklungsaufgaben“, insbesondere Übergangsphasen wie Pubertät, Familiengründung oder Ruhestand (vgl. ebd.: 129–131). Diese gesundheitssoziologischen Ansätze machen deutlich, dass von keiner klaren Grenzziehung zwischen den Zuständen krank und gesund ausgegangen werden kann. Vielmehr verweisen diese Ansätze auf den Prozesscharakter von Krankheit und Gesundheit und nehmen eine Kontextualisierung vor. Zugleich ist das dominierende Erkenntnisinteresse dieser Ansätze der sociology in medicine zuzuordnen. Die Stoßrichtung der soziologischen Beschäftigung mit Gesundheit ähnelt der mit Krankheit: „Forschung zum Thema Gesundheit ist nicht allein Sache der Medizin“ stellen Christof Wolf und Claus Wendt einem Sonderband der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie zur Soziologie der Gesundheit voran: Gesundheitssoziologie hat nach Wolf und Wendt die Aufgabe,
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gesellschaftliche Einflüsse auf Gesundheit und Krankheit zu analysieren und zu untersuchen, wie Gesellschaften mit Kranken umgehen und welche Maßnahmen für die Erhaltung oder Wiederherstellung von Gesundheit ergriffen werden (Wolf und Wendt 2006: 9).
In der Gesundheitssoziologie stehen bisher makrosoziologische Fragestellungen im Vordergrund, wie zum Beispiel der Gesundheitssystemforschung, der Vorsorgeforschung und der Sozialepidemiologie (vgl. Gerlinger 2006: 45f.). Theoretische Erklärungen zu Gesundheit und Gesundheitsverhalten, die die einzelnen empirischen Befunde zusammenführen, stehen in großen Teilen noch aus (vgl. Wolf und Wendt 2006: 19; Gerlinger 2006: 51). Aus der Perspektive der sociology of medicine lässt sich, auch im Anschluss an Parsons und Freidson, fragen, wie solche Grenzziehungen – die für die Herstellung medizinischer Zuständigkeit und Behandelbarkeit zentral sind – vom wem gezogen werden. Weiterführend sind hier Perspektiven, die Krankheit als soziale Tatsache untersuchen (s.u. Kap. 2.2), die die subjektive Sicht auf Krankheit und Gesundheit konzeptionalisieren (s.u. Kap. 2.3) und solche, die Akteure und Techniken in der Behandlungspraxis in den Blick nehmen (s.u. Kap. 4). Dabei haben diese sozial- und gesundheitswissenschaftlichen Ansätze selbst Anteil an der Verschiebung der Grenzen von Krankheit und Gesundheit (s.u. Kap. 2.4).
2.2 K RANKHEIT
ALS SOZIALE
A BWEICHUNG
Parsons (1958) hat in seinem Gründungstext der Medizinsoziologie Medizin als Institution sozialer Kontrolle beschrieben und die Forschung insbesondere mit der Konzeption von Krankheit als sozialer Abweichung und der Herausarbeitung der Krankenrolle, die deviantes Verhalten unter bestimmten Bedingungen legitimiert, nachhaltig geprägt. Für den Strukturfunktionalisten Parsons ist Gesundheit ein Erfordernis für die Aufrechterhaltung von Gesellschaft; die Medizin erfüllt dabei die vier funktionalen Imperative eines jeden Sozialsystems: Latent Pattern Maintenance in der Fähigkeit, durch die Ärzterolle und Krankenrolle grundlegende Strukturen und Wertemuster aufrechtzuerhalten. Goal attainment in der Fähigkeit, durch die Motivation der Ärztinnen und Ärzte zu heilen und die der Patientinnen und Patienten, gesund zu werden, Ziele zu definieren und zu verfolgen. Adaption als Fähigkeit, sich durch die funktionalen Erfordernisse der Gesundheit und die Leistungsorientierung an veränderte äußere Bedingungen anzupassen. Schließlich integration als Fähigkeit, durch die Korrektur abweichenden Verhaltens Kohäsion und Integration herzustellen (vgl. Parsons 1958: 52–55, Stollberg 2001: 7f.).
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Kranksein ist nach Parsons entsprechend nicht einfach eine „‚Lage‘, in die man gerät“ (Parsons 1958: 16), sondern ist verbunden mit dem „Vorhandensein eines Komplexes institutionalisierter Erwartungen und der entsprechenden Emotionen und Sanktionen“ (ebd.). Parsons (ebd.: 16–21) arbeitet vier besondere Aspekte institutionalisierter Erwartungen an die Rolle des Kranken heraus: a) Der oder die Kranke ist nicht verantwortlich für seine Lage und den Genesungsprozess. Gesundwerden ist nicht Willensakt des Kranken, sondern er ist auf Hilfe von anderen angewiesen. Der Kranke ist nicht befähigt, sich selbst zu helfen. b) Die Befreiung von normalen Rollenverpflichtungen, die von Art und Schwere der Krankheit abhängt. Abweichendes Verhalten in Form der Verpflichtungsbefreiung erfordert aber die Legitimation durch andere, insbesondere durch die Instanz der Ärztinnen und Ärzte. c) Kranksein ist als unerwünscht bestimmt, und der oder die Kranke hat die entsprechende Verpflichtung, gesund werden zu wollen. d) Dies schließt die Verpflichtung ein, fachkundige Hilfe, in der Regel von Ärztinnen und Ärzten, in Anspruch zu nehmen und mit diesen in der Behandlung zu kooperieren. Die Krankenrolle, wie Parsons sie definiert, setzt also die Annahme einer Patientenrolle voraus. Den Rechten und Verpflichtungen der Kranken stehen die der Ärztinnen und Ärzte gegenüber. Die Verhaltenserwartungen an die ärztliche Rolle sind universalistische Hilfsbereitschaft unabhängig von sozialen Zugehörigkeiten, affektive Neutralität gegenüber den Patientinnen und Patienten, Kollektivitätsorientierung und Altruismus und fachliche Kompetenz, die komplementär zu der Hilfsbedürftigkeit der Kranken steht. In seiner kritisch an Parsons anschließenden Klassifikation von Krankheitstypen stellt Freidson heraus, dass sich Parsons’ Beschreibungen auf soziale Beimessungen und Erwartungen beschränken (vgl. Freidson 1979: 191). Wahrnehmung und Bezeichnung der Abweichung sind nach Freidson mindestens genauso wichtig wie das tatsächliche Handeln oder Verhalten. Zu fragen ist, welche Kriterien der Abweichung zugrunde liegen – wie die „Zuteilung des Abweichungs‚Etiketts‘“ (ebd.: 181) vorgenommen wird. Freidson differenziert den Aspekt der Befreiung von normalen Verpflichtungen nach Grad und Art dieser Befreiung, die auch abhängig ist von der Schwere der Krankheit. Die Legitimität, die der Abweichung zugeschrieben wird, ist dabei bedingt. Auf der Grundlage dieser Überlegungen unterscheidet Freidson sechs exemplarische Krankheitstypen je nach Grad der Abweichung und der beigemessenen Legitimität (s.u. Abb. 2.2.1). Freidson hat der Tabelle Beispiele von Krankheiten, „die von der Mittelschicht unserer Zeit wahrscheinlich der jeweiligen Kategorie zugeteilt werden“ (Freidson 1979: 198), zugefügt. Dies geschieht nicht nur zu Illustrationszwecken, sondern Freidson grenzt seine Typologie auch von der Sicht der MedizinProfessionellen ab, deren „Ideologie (wenn nicht sogar das ganze Verhalten)
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[…] behauptet, daß für den Professional alles legitim sei und daß es keine illegitime Krankheit gebe“ (ebd.: 198f.). Tabelle 1
Arten der Abweichung, für die der Einzelne nicht verantwortlich gemacht wird, nach beigemessener Legitimität und Gewichtigkeit (gesellschaftliche Reaktion der heutigen US-amerikanischen Mittelschicht)
Beigemes-
ILLEGITIM
sene Ge-
(STIGMATISIERT)
BEDINGT LEGITIM
BEDINGUNGSLOS LEGITIM
ABWEICHUNG ABWEICHUNG
SCHWERWIEGENDE
GERINGFÜGIGE
wichtigkeit
Zelle 1: Stotterer
Zelle 2: Erkältung
Zelle 3: Pockennar-
Teilweise Ausset-
Zeitweilige Aussetzung
ben
zung einiger ge-
einiger gewöhnlicher
Keine besondere
wöhnlicher Ver-
Verpflichtungen; zeit-
Veränderung der
pflichtungen; wenige
weilige Vergrößerung
Verpflichtungen
oder keine neuen
gewöhnlicher Privile-
oder Privilegien
Privilegien; Annah-
gien; Verpflichtung,
me einiger neuer
gesund zu werden
Verpflichtungen
Zelle 4: Epilepsie
Zelle 5: Lungen-
Zelle 6: Krebs
Aussetzung einiger
entzündung
Dauernde Ausset-
gewöhnlicher Ver-
Zeitweilige Befreiung
zung vieler gewöhn-
pflichtungen; An-
von gewöhnlichen Ver-
licher Verpflichtun-
nahme neuer Ver-
pflichtungen: Zunahme
gen; deutliche Zu-
pflichtungen; wenige
gewöhnlicher Privile-
nahme von Privile-
oder keine neuen
gien. Verpflichtung,
gien
Privilegien
sich einer Behandlung zu unterziehen und mitzuhelfen
Aus: Freidson 1979: 199, Tabelle 2.
Freidson verweist selbst darauf, dass die von ihm aufgestellten analytischen Kategorien statischen Charakter haben und nicht mit der konkreten empirischen Realität verwechselt werden dürfen. Vielmehr sieht Freidson Krankheit als einen
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Prozess. Ähnlich dem organischen Verlauf von Krankheiten lässt sich auch eine Bewegung in den „Bemühungen der Menschen beobachten, in dem, was sie erfahren, einen Sinn zu entdecken“ (ebd.). Die verschiedenen Kategorien der Abweichungen werden nach Freidson in einer Art Karriere durchlaufen, „eine Folge konventionell gestalteter sozialer Ereignisse, die die Menschen durchlaufen“ (ebd.: 201). Die Parsons’sche Krankenrolle bezieht sich nach Freidson auf akute, heilbare Krankheiten mit bedingter und zeitweiliger Legitimität (Zelle 5). Demgegenüber hängt beispielsweise die Legitimität chronischer Krankheiten weniger von den Bemühungen ab, wieder gesund zu werden und auch stigmatisierte Krankheiten bedürfen einer gesonderten Betrachtung. Grundlegend für die Auseinandersetzung mit dem Stigma ist in der Medizinsoziologie die 1963 erschienene Studie von Erving Goffman Stigma: Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität (1975), auf die sich auch Freidson in seiner Beschreibung stigmatisierter Krankheiten stützt. Zentrales Thema Goffmans sind Identität und Interaktion unter den Bedingungen sozialer Abweichung und die alltägliche Präsentation diskreditierter oder diskreditierbarer Individuen. Stigma ist nach Goffman ein relationaler Begriff: Bestimmte Eigenschaften und Verhaltensweisen sind also nicht aus sich heraus Stigmata; „vielmehr entstehen diese erst in der sozialen Bezeichnung und als Folge von Zuschreibungsprozessen. Das Stigma ist nicht ‚Anlass‘, sondern ‚Produkt‘ sozialer Zuschreibung“ (Waldschmidt 2007). Entsprechend definiert Goffman Stigma in der englischen Ausgabe seines Buches als: [T]he phenomenon whereby an individual with an attribute is deeply discredited by his/her society and is rejected as a result of the attribute. Stigma is a process by which the reaction of others spoils normal identity (Goffman 1963: 3).
Stigmata sind gekennzeichnet durch einen Generalisierungseffekt: dem Stigmatisierten werden weitere negative Eigenschaften zugeschrieben, die von dem ursächlichen Merkmal eigentlich unabhängig sind. Die durch die Dominanz des Stigmas selektiven Wahrnehmungen und Einstellungen bewirken, dass die Handlungsspielräume des Stigmatisierten in der Interaktion beschnitten werden, seine Identität beschädigt wird. Die Verantwortlichkeiten und die Privilegien gestalten sich bei einer Person mit einer stigmatisierten Krankheit auf besondere Art und Weise: Das analytisch Besondere an der Zuschreibung des Stigmas ist die Tatsache, daß der Gebrandmarkte zwar nicht unbedingt für das, was ihm beigemessen wird, verantwortlich ge-
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macht wird, daß man ihm aber, fast wie denen, die für verantwortlich gehalten werden, die gewöhnlichen Privilegien des sozialen Lebens verweigert (Freidson 1979: 196).
Während also ‚normale Kranke‘ normalen Verpflichtungen ausgesetzt werden, sind mit der Stigmatisierung neue Verpflichtungen verbunden. Unterstützung können Stigmatisierte von zwei Gruppen erwarten, von denjenigen, die ihr Stigma teilen und von den so genannten Weisen (vgl. Goffman 1975: 40). Goffman unterscheidet zwei Typen des Weisen: Zum einen diejenigen, deren Weisheit durch die Arbeit in einer entsprechenden Einrichtung begründet ist – zum Beispiel medizinisches Personal. Zum anderen Personen, die wie in der Lebenswelt mit den Stigmatisierten verbunden sind; so sind etwa loyale Ehegatten „gezwungen, einen Teil der Diskreditierung der stigmatisierten Person zu teilen“ (ebd.: 42f.). Mit Goffman (1975: 12) lassen sich zwei Gruppen von Stigmatisierten unterscheiden: die Diskreditierten, denen bereits ein Stigma zugeschrieben worden ist, und die Diskreditierbaren, die potenziell stigmatisiert werden können und sich vor der Gefahr der Marginalisierung schützen wollen. Graham Scambler führt in seiner 1989 erschienenen Studie zu Epilepsie eine weitere Unterscheidung ein: die zwischen gefühlter Stigmatisierung, die auf der Angst vor kultureller NichtAkzeptanz oder Minderwertigkeit beruht, und ausgeführter Stigmatisierung, die auf tatsächlichen Fällen von Ausschlüssen oder Diskriminierung beruht (nach Williams 2005: 70). Beide Gruppen – die Diskreditierten und die Diskreditierbaren – entwickeln verschiedene Techniken des Umgangs mit ihrem Stigma, auch mit dem Ziel, die Zugehörigkeit zum Bereich des Normalen vorzugeben. Dieses Stigma-Management ist in der alltäglichen Interaktion „ein Prozess, der auftritt, wo immer es Identitätsnormen gibt“ (ebd.: 160f.). Der Grad der Visibilität des Stigmas ist entscheidend dafür, ob Stigma-Management in der Praxis überhaupt notwendig wird und determiniert dessen Charakter (vgl. ebd.: 64ff.). Mit Täuschen bezeichnet Goffman eine Form des Stigmamanagements, die auf das Verbergen des Stigmas zielt (vgl. Goffman 1975: 94ff). Demgegenüber meint Kuvrieren eine Art Spannungsminderung bei einem bereits offensichtlichen Stigma (vgl. ebd. 128ff., Waldschmidt 2007: 31). Die Mittel, die beim Kuvrieren angewandt werden, sind denen des Täuschens ähnlich und zum Teil mit ihnen identisch. Für die diskreditierbare Person stellt sich dabei zentral und fortwährend ein Problem der Abwägung, das Management von Informationen: Das entscheidende Problem ist es nicht, mit der Spannung, die während sozialer Kontakte erzeugt wird, fertig zu werden, sondern eher dies, die Information über ihren Fehler zu
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steuern. Eröffnen oder nicht eröffnen; sagen oder nicht sagen; lügen oder nicht lügen; und in jedem Fall, wem, wie, wann und wo (Goffman 1975: 56).
Eine Strategie, die diskreditierbare Personen anwenden, ist, zwischen einer größeren Gruppe, vor denen sie das Stigma geheim halten, und einer kleineren Gruppe, denen sie sich anvertrauen und auf deren Hilfe sie zählen, zu unterscheiden (vgl. ebd.: 120). Der Umgang mit dem Stigma stellt jedoch auch gegenüber vertrauten Personen eine besondere Herausforderung dar: Ein Individuum wird selbst wo es ein unsichtbares Stigma geheimhalten konnte, finden, daß intime Beziehungen zu anderen, die in unserer Gesellschaft durch gegenseitige Bekenntnisse unsichtbarer Mängel ratifiziert werden, es entweder dazu zwingen, dem Vertrauten seine Situation zu gestehen, oder sich schuldig zu fühlen, weil es dies nicht tut (ebd.: 95).
Nach Goffman können Stigmatisierte aber auch versuchen, ihre Stigmatisierungserfahrung positiv zu deuten und strategisch einzusetzen, also sie für „sekundäre Gewinne“ (ebd.: 20) zu nutzen. Als Beispiele für eine solche Umdeutung nennt Goffman, die Chance der Neubewertung sozialer Beziehungen unter ihrem nach der Stigmatisierungserfahrung hervorgetretenen wahren Gesicht. Stigmata beeinflussen aber nicht nur die Interaktion, sondern haben dauerhaften Charakter. Dies gilt auch von stigmatisierte Krankheiten: Ein ‚geheilter geisteskranker Patient‘ bleibt ebenso ein ‚ehemaliger Geisteskranker‘ wie der rehabilitierte Kriminelle ein ehemaliger Häftling (vgl. Freidson 1979: 196). Freidsons Weiterführung des Parsons’schen Rollenkonzeptes unterstreicht den Zusammenhang von beigemessener Legitimität und Gewichtigkeit einer Krankheit auf der einen und Verantwortungszuschreibungen auf der anderen Seite. Zugleich wird hier bereits deutlich, dass Krankheit als dynamisch und prozesshaft verstanden werden muss – ein Aspekt, der für die Krankheitsverlaufskurvenforschung grundlegend ist (s.u. Kap. 2.3). Beigemessene Gewichtigkeit und Legitimität beeinflussen, wie mit unterschiedlichen Krankheiten in einer Gesellschaft umgegangen wird. Sowohl die Kinderlosigkeit als auch die medizinische Behandlung ungewollter Kinderlosigkeit sind in der Situation, in der Elternschaft zunehmend ihre Selbstverständlichkeit verliert, mit einer Reihe von Ambivalenzen verbunden (s.o. Kap. 1). Beispielhaft an der Diskussion um die Kinderlosigkeit von Akademikerinnen wird deutlich, dass normative Erwartungen und Bewertungen Frauen spezifisch treffen, wenn ihnen hedonistische Motive unterstellt werden. Auch in der Diskussion um reproduktionsmedizinische Eingriffe
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werden besonders für Frauen moralische Wertemaßstäbe aufgestellt. Im Anschluss an Goffman lässt sich der Blick auf die Handlungs- und Deutungsmuster vor allem der Paare in der Kinderwunschbehandlung so erweitern, dass gefragt werden kann, wie Elemente von Stigmatisierungserfahrungen und Stigmamanagement diese prägen und sich mit der Medikalisierung des Kinderwunsches verschränken.
2.3 K RANKHEIT UND G ESUNDHEIT DER A KTEURE
AUS
S ICHT
In der soziologischen Diskussion lassen sich drei Forschungsstränge unterscheiden, die prägend für die Auseinandersetzung mit subjektiven Vorstellungen von Krankheit und Gesundheit sind: Untersuchungen über die Laienvorstellungen von Krankheit und Gesundheit im Anschluss an Claudine Herzlichs (1973) explorative sozialpsychologische Studie im Frankreich der 1960er Jahre, mikrosoziologische und anthropologische Arbeiten zu Krankheitsnarrationen im Anschluss an Arthur Kleinmans (1980, 1988) Untersuchung zu chronischer Krankheit sowie die anwendungsbezogene Forschung zu Krankheitsverlaufskurven in der Tradition der Grounded Theory von Juliet Corbin und Anselm Strauss (1988, 1992, 1998). Subjektive Vorstellungen von Krankheit und Gesundheit Herzlichs sozialpsychologische Studie zu Krankheits- und Gesundheitsvorstellungen stellte einen wichtigen Zusammenhang her zwischen den sehr spezialisierten medizinsoziologischen Studien einzelner Patientinnen und Patienten und Ansätzen, die die Beziehung zwischen den Einzelnen und der Gesellschaft theoretisierten (vgl. Williams 2004: 136). In der Folge wurden die subjektiven Vorstellungen von Krankheit nicht mehr nur in Bezug auf die Erklärung von abweichenden Verhaltensweisen und Compliance diskutiert. Zum einen sind Laienideen nach Herzlich nicht „primitive Residuen“ einer ansonsten modernen wissenschaftlichen Gesellschaft, sondern komplexe Wissensgebilde und kontextualisierte Rationalitäten, die zentral sind für das Verständnis von Kultur und Gesellschaft. Zum anderen lässt sich am Laienwissen empirisch untersuchen, wie mit Kontingenzen des Alltagslebens umgegangen wird. Herzlich fasst individuelle Vorstellungen über Krankheit und Gesundheit als Repräsentationen der jeweiligen Kultur und Gesellschaft (vgl. Herzlich 1998: 172). Diese Repräsentationen können medizinische Ideen und Konzepte beinhalten, sie sind jedoch von
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einer gewissen kulturellen Autonomie gekennzeichnet und sind weitaus vielschichtiger in ihrer Theoretisierung von Krankheit und Gesundheit: Eine komplexe und fortlaufende kollektive Interpretation, ein Diskurs der ganzen Gesellschaft ist notwendig, um uns zu sagen, welchen Sinn wir Krankheit, Gesundheit und dem Körper zuschreiben sollen, und um unser Verhältnis an ihnen auszurichten (Herzlich 1998: 172).
Für ihre explorative Studie führte Herzlich in den 1960er Jahren offene Interviews mit 80 Mittelschichtsangehörigen aus Paris und einem Dorf in der Normandie (vgl. Herzlich 1973: 10–16). Zentrales Ergebnis ist, dass Gesundheit und Krankheit zwar als unterscheidbare Zustände wahrgenommen werden, aber von den Menschen nicht immer klar voneinander abgegrenzt werden. Vielmehr lassen sie sich auf einem Kontinuum anordnen. Herzlich arbeitet jeweils drei Typen der sozialen Repräsentation von Krankheit und Gesundheit heraus. In der Vorstellung von Krankheit als Destruktion richtet sich Krankheit gegen Gesundheit und ist gekennzeichnet durch den Verlust sozialer Partizipation und Beziehungen, Exklusion, Einsamkeit und Abhängigkeit von anderen. Krankheit wird als etwas erlebt, was einem zugefügt wird, der eigene Zustand wird als passiv erlebt (vgl. ebd.: 105). Krankheit wird in dieser Vorstellung als Annihilation erfahren und geleugnet (ebd.: 172). Betroffene werden daher nach Herzlich den Bereich der Gesundheit erweitern und versuchen, den Bereich der Krankheit zu limitieren. Lettke u.a. (1999: 74f.) weisen darauf hin, dass diese Vorstellungen ihr Pendant in der Vorstellung von Gesundheit als Abwesenheit von Krankheit finden, aber auch mit der Vorstellung von Gesundheit als Instrument verbunden sind. In der Vorstellung von Krankheit als Befreiung wird Krankheit als Entdecken und Erleben neuer Möglichkeiten empfunden. Die erzwungene Inaktivität geht mit einer Befreiung von sozialen Verpflichtungen, Rollenanforderungen und Normalitätserwartungen einher. Der Kranke ist darauf eingestellt, krank zu sein, und gleichzeitigt bietet die Krankheit in dieser Vorstellung die Chance einer Neuorientierung. Dies kann nach Herzlich in der Vorstellung ihren Höhepunkt finden, durch die Krankheit eine außergewöhnliche Persönlichkeit erlangt zu haben (vgl. Herzlich 1973: 116f.). Lettke u.a. (1999: 74f.) bemerken, dass die vornehmlich positiven Bewertungen von Krankheit unwahrscheinlicher werden, je schwerer die Krankheit ist. In der Vorstellung von Krankheit als Aufgabe wird die Akzeptanz der Krankheit vorausgesetzt – Krankheit wird als Bewährungsprobe und Leiden als Herausforderung gesehen. Herzlich betont, dass die Krankheit trotz der mit ihr verbundenen Angst akzeptiert wird; dies schließt die
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Akzeptanz der Zeit, die die Krankheit und die Genesung in Anspruch nehmen werden, mit ein: Constrained to accept his illness – it thereby shows its power – the patient nevertheless has over his illness a kind of power, which originated in the very need to accept. This power has various degrees, or successively more active forms (Herzlich 1973: 120).
Die Akzeptanz der Krankheit eröffnet sowohl die Möglichkeit eines aktiven Umgangs mit ihr als auch Bereiche neuer Lebenserfahrung. Diese Auseinandersetzung ist zugleich Grundlage des Erhalts der Integration in die Gesellschaft. Diese Vorstellung tritt meist bei Krankheiten auf, die gutartig, kurz und schmerzlos sind – in der Betrachtung als Aufgabe verliert Krankheit ihren destruktiven Charakter (ebd.: 127–129). Gesundheit als Vakuum oder Gesundheit als Abwesenheit von Krankheit ist eine negative Bestimmung von Gesundheit und ähnelt somit strukturell der ärztlichen Sichtweise. Gesundheit wird erst zum Thema, wenn sie nicht mehr vorhanden oder beeinträchtigt ist – über das, was Gesundheit selbst ausmacht, gibt es nur wenige konkrete Vorstellungen. Die Beziehung zwischen Gesundheit und Krankheit ist dabei asymmetrisch: illness is the only point of reference, the only experience, the only incident. Health, which is the negative pose, only reveals itself and assumes importance in consequence of the attack of illness which destroys it (ebd.: 68).
Diese Perspektive ist durch eine geringe Körperwahrnehmung und Symptomaufmerksamkeit gekennzeichnet: „Der Leib wird erst wahrgenommen, wenn er zum Problem wird“ (Lettke u.a. 1999: 68) – anderenfalls „schweigen die Organe“ (vgl. Faltermeier 1994b: 103). Mit der Vorstellung von Gesundheit als Reservoir ist verbunden, dass Gesundheit eher als Ressource oder Kapital denn als Zustand angesehen wird. Lettke u.a. (1999: 71) bezeichnen diese Form auch als Gesundheit als Stärke. Während man in der Vorstellung von Gesundheit als Abwesenheit gesund ist, weil man nicht krank ist – hat man hier eine gute Gesundheit aufgrund der Gesundheitsreserven (vgl. Herzlich 1973: 56), Gesundheit ist ein Charakteristikum der Person. Nicht jeder ist mit demselben Kapital ausgestattet, es liegt in verschiedenen Graden vor, kann sich verändern, zunehmen oder abnehmen. In dieser Vorstellung wird das Verrechnen der Ressource Gesundheit möglich: Diese Bilanzen können
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auf einem Kontinuum eingeordnet [werden] und können Anlaß zum Ergreifen präventiver oder kurativer Maßnahmen sein, wenn eine Differenz zwischen der gesundheitlichen Idealvorstellung und dem Status quo festgestellt wird (Lettke u.a. 1999: 72).
Lettke u.a. stellen heraus, dass in diesem Typ der Vorstellung von Gesundheit eine hohe Verantwortlichkeit für die eigene Gesundheit eingeschlossen ist sowie auch die Zubilligung einer Kompetenz, den Gesundheitszustand beeinflussen zu können. Die Vorstellung von Gesundheit als Gleichgewicht beinhaltet physisches Wohlbefinden, Abwesenheit von Ermüdung, psychologisches Wohlbefinden, Ausgeglichenheit und gute Laune, die Freiheit sich zu bewegen, Wirksamkeit des Handelns und gute Beziehungen zu anderen Personen (vgl. Herzlich 1973: 60). Gesundheit ist eine von anderen unabhängige und unmittelbar persönliche Erfahrung. Jedoch bleibt Gesundheit in diesen Beschreibungen diffus und undefiniert. Gesundheit wird hier als Teil einer umfassenderen Lebensauffassung und Weltanschauung gesehen (vgl. Lettke u.a. 1999: 72). Die Verantwortlichkeit für die Gesundheit und ihren Erhalt liegt in dieser Vorstellung vor allem bei den Einzelnen. Bei Beschwerden wird relativ rasch medizinische Hilfe in Anspruch genommen, die jedoch auch kritisch hinterfragt wird (vgl. ebd. 73). Als vierter Typus wird in neueren Forschungsüberblicken dem Herzlich’schen Schema der Vorstellungstypus Gesundheit als Instrument oder Gesundheit als funktionale Fitness hinzugefügt. Gesundheit wird in dieser Vorstellung mit einer Gesundheits- und Leistungsorientierung verbunden und als „körperliche Fähigkeit zur Ausführung alltäglicher Handlungen und Rollenverpflichtungen definiert“ (Faltermeier 1994a: 112), vor allem in ihrer Funktion als Grundlage für die Existenzsicherung und Arbeitsfähigkeit. In dieser instrumentellen Perspektive ist Gesundheit Mittel zum Zweck. Die Selbstwahrnehmung der Befragten ist also weitgehend auf die Funktionalität des Körpers eingeschränkt. Man lebt z.B. mit Schmerzen, und diese werden nicht problematisiert, wenn sie einen nicht daran hindern, sein Tagwerk zu verrichten (ebd.: 71).
Diese Vorstellung findet nach Lettke u.a. (vgl. 1999: 69ff.) darin ihre Entsprechung, dass bei „funktionsschädigenden“ Einschränkungen sehr schnell ein Arzt aufgesucht wird mit der Erwartung, dass die Funktionsfähigkeit möglichst schnell – auch durch drastische kurative Maßnahmen – wiederhergestellt wird.
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In der gesundheitswissenschaftlichen Differenzierung der Bestimmung von Laienvorstellungen von Krankheit und Gesundheit im Anschluss an Herzlich steht die Erweiterung der medizinischen Begriffe und Konzepte im Vordergrund. Die Ergebnisse werden auch in Hinblick auf ihre Verwendbarkeit in Anwendungskontexten – im Sinne einer sociology in medicine – diskutiert. Dies wird beispielhaft deutlich, wenn Faltermeier die Frage als zentrale benennt, „auf welchen Wegen das Subjekt dazu beiträgt, seine eigene Gesundheit herzustellen oder zu gefährden“ (Faltermeier 1994b: 107). Demgegenüber werden in Untersuchungen von Krankheitsnarrationen eher Bedeutungszuweisungen, Strukturen und Funktionen von Krankheitserzählungen in ihrem spezifischen Kontext in den Vordergrund gestellt (im Sinne einer sociology of medicine). Für die Untersuchung der Medikalisierung des unerfüllten Kinderwunsches sind die dargestellten Typologien insofern von Bedeutung, als sie Referenzpunkte für die Identifikation von Argumentationsmustern sowohl der Ärztinnen und Ärzte als auch der Paare bilden. Diese können dahingehend untersucht werden, inwiefern sie mit einer medikalisierten Sicht des Kinderwunsches korrespondieren. Mit diesen Typologien lässt sich gleichzeitig die Vielschichtigkeit und das mögliche Nebeneinander der verschiedenen Vorstellungstypen untersuchen. Krankheitsnarrationen Das Interesse an Krankheitsnarrationen (illness narratives) wurde entscheidend durch die Arbeit des Medizinanthropologen Arthur Kleinman (1980) geprägt. Seine grundlegende Unterscheidung von disease als medizinischer Diagnose und illness als subjektiver Erfahrung lenkte die Aufmerksamkeit auf das Leiden der Patientinnen und Patienten. Deren Krankheitsnarration wurde als integraler Teil des Krankheitsverlaufs ausgemacht. Das Forschungsinteresse richtet sich darauf, wie und nicht nur was erzählt wird. Bei der Rekonstruktion von Krankheitsnarrationen geht es also nicht nur um einen Bericht über die Krankheitsgeschichte, sondern um den damit verbundenen Ausdruck und die Produktion von Bedeutungen – wie zum Beispiel durch die Verwendung von Metaphern und anderen sprachlichen Mitteln. Die Krankheitserzählung kann als Bemühung gesehen werden, to integrate or reintegrate individuals into their social worlds. There is in many such cases a „narrative reconstruction“ occurring, in which disturbance and suffering are brought under some form of meaningful control (Bury 2005: 83).
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Kleinman unterscheidet zwei Kontexte der Krankheitsnarration von Patientinnen und Patienten: Innerhalb der Klinik suchen die Patientinnen und Patienten einen Zeugen ihres Leidens (vgl. Bury 2005: 83). Hierin lässt sich auch die Motivation sehen, einen Arzt oder eine Ärztin aufsuchen, auch wenn die Patientinnen und Patienten wissen, dass die medizinischen Behandlungsmöglichkeiten beschränkt sind. Außerhalb der klinischen Situation dienen Krankheitsnarrationen zum anderen dazu, mit der veränderten Situation sowie mit biographischen Brüchen umzugehen. Im Wesentlichen helfen Krankheitserzählungen, Rückmeldungen auf die folgenden Fragen zu formulieren, die aus der Perspektive eines rein medizinischen Modells kaum zu beantworten sind: „Why me? (the question of bafflement) and What can be done? (the question of order and control)“ (Kleinman 1988: 29). Krankheitsnarrationen haben, so fasst Hydén zusammen, eine Vielzahl von Funktionen: sie konstruieren eine Krankheitserfahrung, rekonstruieren die Lebensgeschichte, machen Krankheiten verstehbar und kollektivieren die Krankheitserfahrung (vgl. Hydén 1997: 64). Krankheitsnarrationen beinhalten in der neueren Diskussion Erzählungen und Bilanzierungen von Krankheitserfahrungen im weitesten Sinne. Sie können von der Person, die krank ist, konstruiert und erzählt werden oder von ihrer Familie oder von medizinischem Personal. Krankheitsnarrationen können verschiedene Formen haben – mündliche, geschriebene, textuelle Narrationen – und finden in verschiedenen Kontexten statt (vgl. ebd.: 64). Die Krankheitsnarration wird als eine Einheit definiert, die vom umgebenden Diskurs zu unterscheiden ist und einen Anfang, eine Mitte und ein Ende hat und so zeitlich geordnet Ereignisse verbindet, die häufig mit einem Wandel verbunden sind (vgl. ebd.: 50). Das zentrale Charakteristikum und Problem der Krankheitsnarrationen ist jedoch, dass ihnen ein vorhersehbares Ende fehlt – wie die spezifische Situation sich entwickeln wird, ist weitgehend unbekannt. Byron Good beschriebt dies am Beispiel seiner Forschungserfahrung: In many cases, the actors were still engaged in the striving, in a quest for cure – in imaging alternative outcomes, evaluating the potential meanings of the past, and seeking treatments. Such tellers of the story were thus akin to readers who are in the midst of a story (Good 1994: 146).
In dieser „konjunktivischen Welt“ (ebd.: 153) sind verschiedene Enden möglich, inklusiver solcher, für die medizinische Wunder nötig wären. Das Fehlen eines temporalen Horizonts macht es für die Patientinnen und Patienten schwierig, die Krankheit zu evaluieren und Krankheitssymptome und Ereignisse zu verstehen (vgl. Hydén 1997: 61). So sind Krankheitsnarrationen von einer grundsätzlichen
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Ambiguität gekennzeichnet – „they are narratives forever in search of meaning“ (ebd.). Jede Krankheitsnarration wird von einem Individuum in einer einzigartigen Weise geformt und gibt bis zu einem gewissen Grad einzigartige Umstände wieder, dennoch hat die soziologische Forschung gezeigt, that narratives may involve one of a limited number of formal properties. These forms may, so to speak, exist prior to the construction or the telling of the story. They are „accessed“ through membership of a culture, where common understandings allow, indeed, constrain meanings to be fashioned in specific ways (Bury 2005: 83f.).
Vor dem Hintergrund einer zunehmenden Gesundheitsorientierung wird diskutiert, inwiefern Krankheit zum moralischen Ereignis wird, in dem Krankheit als Ergebnis von unverantwortlichem Handeln gesehen wird. Arthur Frank (1997) beschreibt, dass Krankheit als aktive Verantwortung verstanden wird, und die Anstrengungen, die damit verbunden sind „erfolgreich krank“ zu sein und sich der Lage gewachsen zu zeigen (vgl. ebd.: 134–142). Bury betont hingegen, dass Krankheitsnarrationen deutlich widersprüchlicher sind, auch wenn diese Formen „postmoderner Moralitäten“ von Erneuerung und Veränderung durch Krankheit Forschungsergebnisse zur Selbstidentität in Gegenwartsgesellschaften spiegeln (vgl. Bury 2001: 277). Die Hauptfunktion moralischer Narration sieht Bury entsprechend in der Etablierung sozialer Distanz und persönlicher Würde: By developing a narrative of „successful living“ in the face of illness, or by suggesting that reflexive and „meaningful“ deliberations on experience have been achieved, the individual may, of course, be self praising or implying criticism of those that fail (ebd.).
Patientinnen und Patienten konstruieren einen Rahmen für die Interpretation ihres Zustandes, dem – wie Becker und Kaufman (vgl. 1995: 167) zeigen – eine komplexe Verbindung von kulturellen und biomedizinischen Modellen zugrunde liegt: So hat beispielsweise die Arzt-Patienten-Kommunikation Einfluss auf die Akzeptanz medizinischen Wissens, und kulturelle und biomedizinische Modelle werden von Patientinnen und Patienten miteinander in Beziehung gesetzt. Es entsteht dabei keine einheitliche Krankheitserzählung. Vielmehr haben Studien seit den 1980er Jahren gezeigt, dass es eine große Spannweite an Narrationstypen gibt und diese Narrationen unterschiedliche Funktionen haben (vgl. Hydén 1997: 64). Zugleich betonen alle Ansätze die vielschichtigen Verknüpfungen zwischen gesellschaftlichem Kontext und individueller Krankheitserfahrung: So weisen zum Beispiel Becker und Kaufman darauf hin, dass Krankheitsver-
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laufskurven als konzeptuelles Werkzeug dazu dienen können, „Verknüpfungen von individuellen Reaktionen auf Krankheit und den breiteren sozialen und kulturellen Kräften der Biomedizin“ (Becker und Kaufman 1995: 166, meine Übersetzung) zu untersuchen. Ähnlich hält Bury für das Konzept der Krankheitsnarration fest: The concept of illness narratives has been important in eliciting key dimensions of the experience of illness and its various meanings. In particular, it has suggested that the form of talk may constrain as well as facilitate expression in important ways, revealing key elements in a given culture (Bury 2005: 85).
In den in Krankheitsnarrationen verwendeten sprachlichen und symbolischen Repertoires zeigt sich, dass die verschiedenen Ebenen menschlicher Existenz – die universale, kulturelle und individuelle – durch narrative Fäden verbunden sind (vgl. Bury 2001: 264). Die Untersuchungen zu Krankheitsnarrationen nehmen das Leiden der einzelnen Patientinnen und Patienten zum Ausgangpunkt. Somit kann – auch bei Untersuchungen der Medikalisierung des unerfüllten Kinderwunsches – nicht nur die Krankheitserfahrung als soziale Realität jenseits der Konzepte und Definitionen der Biomedizin untersucht und den Patientinnen und Patienten eine Stimme gegeben werden. Subjektive Krankheitserfahrung als Narration im oben dargestellten Sinne zu fassen bietet außerdem die Möglichkeit, eben dieses subjektive Erleben von Krankheit und die biomedizinische Krankheitskonzeption in ihrer Bedeutung für den Einzelnen miteinander in Beziehung zu setzen. Die soziologische Beschäftigung mit Krankheitsnarrationen zielt dabei auf zweierlei: zum einen auf die Analyse der Natur der Unterbrechungserfahrung, ihrer Bedeutung sowie der Handlungen und Strategien, die gewählt werden, um damit umzugehen, und zum anderen – ähnlich der Zielsetzung Herzlichs – auf die Herausarbeitung der Verbindung zwischen persönlichen und biomedizinischen Krankheitserzählungen. In der Analyse von Krankheitsnarrationen geht es weniger um die Aufdeckung der wahren Krankheitsgeschichte, sondern eher um die Frage: „Why was the story told that way?“ (Riessmann 1993: 2, Hervorhebung im Original). Diese Frage kann in der Analyse Ungleichzeitigkeiten, Widersprüchlichkeiten und Doppeldeutigkeiten in der Selbstdarstellung aufzeigen. Die Krankheitsverlaufskurvenforschung nimmt ebenfalls die Beteiligten zum Ausgangspunkt der Betrachtung von Krankheit: Hier stehen jedoch die den Krankheitsverlauf strukturierenden Kontexte der Behandlungspraxis auf der einen und der Lebenswelt der Patientinnen und Patienten auf der anderen Seite im Vordergrund.
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Krankheitsverlaufskurven Basierend auf ethnographischen Forschungen und auf den vorangegangenen Arbeiten der Grounded Theory haben Juliet Corbin und Anselm Strauss (u.a. 1988, 1992) das Konzept der illness trajectory oder Krankheitsverlaufskurve entwickelt. Für die praktische Arbeit von Krankenpflegerinnen und -pflegern entworfen, soll das Konzept dreierlei ermöglichen: einen Einblick in die Erfahrung chronischer Krankheit; die Integration bestehender Literatur über chronische Krankheiten in die Arbeitspraxis von Pflegerinnen und Pfleger sowie eine Grundlage bilden für die Entwicklung von Pflegemodellen, die in Praxis, Lehre und Politik angewandt werden können (vgl. Corbin und Strauss 1998: 2). Ausgangspunkte der Überlegungen von Corbin und Strauss sind das individuelle Erleben chronischer Erkrankungen im Verlauf der Krankheitsgeschichte und die Berücksichtigung physischer, psychischer, sozialer und biographischer Aspekte. Die Definition des Krankheitsverlaufs umfasst neben dem Verlauf einer Krankheit die aktive Rolle, die die Betroffenen, ihre Familie und das medizinische Personal in der Gestaltung des Krankheitsverlauf übernehmen (vgl. Corbin und Strauss 1998: 12). Zur genaueren Bestimmung grenzen Strauss u.a. den Begriff der illness trajectory von der rein medizinischen Betrachtungsweise eines course of illness ab: Course of illness is also a professional term, since to knowledgeable medical, nursing, and technical staff each kind of illness has its more or less characteristic phases, with symptoms to match. In contrast, illness trajectory is a term coined by the authors that refers not only to the physiological unfolding of a […] disease but to the total organization of work done over that course, plus the impact on those involved with that work and its organization (and then the consequences of that impact for the work itself) (Strauss u.a. 1984: 64).
White und Lubkin reformulieren – anlog zur medizinsoziologischen Diskussion – diese Gegenüberstellung mit den Begriffen disease als rein medizinischer Betrachtungsweise von Krankheit und illness zur Bezeichnung der subjektiven Wahrnehmung der Patientinnen und Patienten. Jedoch schließt illness trajectory im Sinne von Corbin und Strauss die medizinische Betrachtungsweise mit ein. Die individuellen Krankheitsverläufe gestalten sich dabei sehr unterschiedlich, auch wenn die gleiche Krankheit vorliegt. Krankheiten und ihre Verläufe werden als dynamische Prozesse gesehen, die so nicht sicher vorhergesagt werden können; sie sind – durch physiologische Veränderungen oder wechselnde Reaktionen der Beteiligten – ständigem Wandel und ständiger Reorganisation
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unterworfen (vgl. White und Lubkin 2002: 94). Allerdings haben Krankheitsverlaufskurven charakteristische Formen und Muster, die mit dem voraussichtlichen Fortgang in Zusammenhang stehen. In den unterschiedlichen Phasen besteht zwischen Krankheit, Biographie und Alltag jeweils ein spezifischer Zusammenhang. Corbin und Strauss entwickeln ein Modell des Verlaufs chronischer Erkrankungen, in dem sie verschiedene Phasen von der Vorerkrankungszeit bis zum Sterben unterscheiden (s.u. Tabelle 1). Die Phasen sind als Kontinuum gedacht, einzelne Phasen können übersprungen werden oder sich wiederholen. Strauss u.a. bezeichnen den Umgang der Patientinnen und Patienten mit dem Krankheitsverlauf als Arbeit (vgl. Strauss u.a. 1984: 134). Den Begriff der Arbeit wählen sie, weil er es erlaubt, zwischen verschiedenen Formen von Arbeit zu unterscheiden und zu fragen, welche Tätigkeiten hiermit verbunden sind und wie sich diese verschiedenen Aufgaben hinsichtlich Umfang, Typ, Schwierigkeit und Zeitaufwand je nach Phase unterscheiden. Zum anderen werden die Handlungen der Professionellen als Arbeit angesehen und die Interviewten selbst sprechen von Arbeit, wenn sie ihren Umgang mit chronischer Krankheit beschreiben (vgl. Corbin und Strauss 1988: 9). Auf Seiten der Betroffenen werden drei zentrale Arbeitsformen unterschieden: Krankheitsarbeit, Alltagsarbeit und Biographiearbeit. Die Krankheitsarbeit wird auch als Krankheitsmanagement bezeichnet: Hierbei stehen die Kontrolle von Symptomen und Nebenwirkungen, das Zurechtkommen mit der Krise, die Vermeidung von Komplikationen sowie der Umgang mit Behinderungen im Vordergrund (vgl. ebd.: 15). Diese Arbeit am Verlauf der Krankheit ist vielschichtig und umfasst „zeitbezogene Gesichtspunkte wie Ablaufplanung, Steuerung der Geschwindigkeit und Festlegung der Reihenfolge von Interventionen“ (White und Lubkin 2002: 99), und sie ist räumlich gebunden. Diese Arbeit wird von Pflegekräften, Patientinnen und Patienten sowie Familienangehörigen erledigt und erstreckt sich nicht nur auf die notwendigen Maßnahmen zur Kontrolle von Krankheiten, Symptomen oder Komplikationen, sondern auch auf die Bewältigung der Aufgaben im Haushalt und die Befriedigung der familiären Bedürfnisse (ebd.).
Die Verlaufskurve umfasst aus Sicht der Kranken und Angehörigen sowohl explizite Arbeit, wie beispielsweise Mitarbeit zu Hause oder Überwachung von Maschinen, als auch implizite Arbeit, wie beispielsweise das Bereitstellen relevanter Informationen bei der Aufnahme ins Krankenhaus (vgl. ebd.: 109ff.). Alltagsarbeit betrifft lebensweltliche tägliche Aktivitäten, deren Aufrechterhaltung in instabilen Phasen stark eingeschränkt, in akuten Phasen ausgesetzt und Erholungsphasen anzupassen ist. Auch die Biographiearbeit als Zukunftsplanung und
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-entwurf gestaltet sich in den verschiedenen Phasen des Krankheitsverlaufs unterschiedlich und ist von der Verlaufsprojektion abhängig. In stabilen und Erholungsphasen stehen der Erhalt und die Neuausrichtung des Biographieentwurfes im Vordergrund, während instabile Phasen und Krisen als biographische Unterbrechungen erlebt werden. In der Verknüpfung von der Arbeit an Krankheit, Biographie und alltäglichem Leben sind die Projektion von zukünftigen Entwicklungen, die Erfahrung von Kontingenz und die Bemühungen um die Ausbalancierung kritischer Aspekte. Je nach Perspektive entwickeln die Beteiligten unterschiedliche Projektionen der zukünftigen Entwicklung des Krankheitsverlaufs, die Ängste und Unsicherheiten in der Deutung und Einschätzung einzelner Ereignisse beinhalten können (vgl. ebd.: 99–108). Bei den meisten Krankheiten gibt es Unterschiede zwischen dem tatsächlichen Verlauf und der Vorstellung von diesem sowie zwischen der professionellen Sicht des voraussichtlichen Verlaufs und der Sicht der Patienten. Die Vorstellungen über den Krankheitsverlauf hängen von dem Wissen, der Erfahrung und den Ressourcen der Patientinnen und Patienten ab (vgl. White und Lubkin 1998: 54). Die Arbeit des medizinischen Personals an der Verlaufskurve beginnt mit der Diagnosestellung und beinhaltet Untersuchungen und andere Behandlungsmaßnahmen, die Zeit, Organisation, Vorbereitung und Begleitung erfordern. Das Krankenhauspersonal sieht den Verlauf dabei häufig unter dem Aspekt des Arbeitsaufwandes […]. Demnach werden als „gute“ Klienten jene eingestuft, die keine Probleme verursachen oder nicht klagen, bzw. solche, die zwar multiple Probleme haben, aber kooperativ sind (ebd.: 112f.).
Entsprechend sind die Problempatientinnen und -patienten diejenigen, die unkooperativ oder zu emotional sind – hierunter fallen aber auch Patientinnen und Patienten, die deshalb mehr Aufmerksamkeit erfordern, weil die Therapie nicht wie geplant anschlägt. Ein kritischer Punkt der Arbeit des Personals ist die Frage der Compliance der Patientinnen und Patienten: Behandlungen werden teils von den Patientinnen und Patienten ohne Rücksprache abgeändert, Empfehlungen nur teilweise befolgt; überdies wird zwischen den Empfehlungen verschiedener Fachleute pragmatisch abgewogen.
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Tabelle 2
Phasen der Illness Trajectory bei chronischen Krankheiten: Krankheit, Biographie und Alltag
VORERKRANKUNG
Risiken aufgrund von genetischen Faktoren und Lebensstil Ziel der Arbeit: Verhinderung des Beginns der Krankheit
VERLAUFSBEGINN
Erste Symptome und Diagnosen, Realisierung der Implikationen der Diagnose und Coping, Beginn des „biographischen Limbos“ Ziel der Arbeit: angemessene Verlaufsprojektion
STABILE PHASE
Krankheitsverlauf und Symptome unter Kontrolle, Einschränkungen von Biographie und Alltag Ziel der Arbeit: Stabilität, Erhalt von Biographie und Alltag
INSTABILE PHASE
Kontrolle von Krankheitsverlauf und Symptomen nicht mehr möglich oder Wiederauftritt der Krankheit, biographische Unterbrechung und Schwierigkeiten im Alltag, Anpassung der Therapie Ziel der Arbeit: Rückkehr zur Stabilität
AKUTE PHASE
Akute u. ernste Symptome o. Komplikationen, Krankenhausaufenthalt o. Bettruhe, Biographie und Alltag „in der Warteschleife“ Ziel der Arbeit: Kontrolle der Krankheit, Wiederaufnahme von normaler Biographie und Alltag
KRISE
Lebensbedrohliche Situation, notärztliche Behandlung, Aussetzung von Biographie und Alltag bis zum Ende der Krise Ziel der Arbeit: Lebensbedrohung beenden
ERHOLUNG
Graduelle Rückkehr zu akzeptabler Lebensform in bestimmten Grenzen: physische Heilung, Rehabilitation, psychologische Bewältigung, Neuausrichtung der Biographien, Alltagsanpassung Ziel der Arbeit: Initiierung und Aufrechterhaltung der Verlaufsprojektion
VERFALL
Fortschreitende Verschlechterung der körperlichen Verfassung und der Kontrolle der Symptome, kontinuierliche biographische Anpassung und Änderung des Alltags Ziel der Arbeit: kontinuierliche Anpassung an zunehmende Behinderung
STERBEN
Letzte Tage o. Wochen vor dem Sterben. Graduelles o. plötzliche Aussetzen körperlicher Funktionen, Abschluss und Loslösung von der Biographie, Verzicht auf tägliche Interessen und Aktivitäten Ziel der Arbeit: Abschluss, Loslassen, friedlicher Tod
Bearbeitete und übersetzte Fassung aus: Corbin 1998: 36.
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Obwohl das Krankheitsverlaufskurvenmodell mit dem Fokus auf chronische Krankheiten entwickelt wurde, sind die Überlegungen zur illness trajectory auch für eine breitere soziologische Beschäftigung mit Krankheit – und so auch für die Frage nach der Medikalisierung des unerfüllten Kinderwunsches – weiterführend. Der Ansatz erweitert den Rahmen der Betrachtung medizinischer Behandlung als sozialen Prozess grundlegend und umgeht so eine Verengung auf die medizinischen Aspekte: Auf der einen Seite wird neben der medizinischen Arbeit des Personals dessen organisatorische Arbeit betrachtet, ein Aspekt, den auch die medizinsoziologische Forschung zur technology in practice als grundlegend herausgearbeitet hat (s.u. Kap. 3.3) und der die Arzt-Patientenbeziehung grundlegend beeinflusst (s.u. Kap. 3.2). Auf der anderen Seite werden die Personen in medizinischer Behandlung nicht auf ihren Status als Patientinnen und Patienten reduziert, sondern die Arbeit an der Krankheit in Verbindung mit der Lebenswelt, die sich in spezifischer Alltags- und Biographiearbeit verbindet, dargestellt. Zur Analyse können Form und Gestaltung der Krankheitsverlaufskurven aus Sicht des Fachpersonals und der Patientinnen und Patienten dargestellt und für die Analyse perspektiviert werden. So ist es nicht nur möglich, die Unterschiede der Perspektiven festzustellen, sondern auch zu untersuchen, wie sie miteinander in Beziehung gesetzt und in den für den Behandlungsfortschritt notwendigen Einklang gebracht werden. Die Betonung des Arbeitsaspektes unterstreicht dies: Die Patientinnen werden nicht nur als aktiv an der Gestaltung ihres Krankheitsverlaufs beteiligt gesehen, sondern es lässt sich auch fragen, wie sich die Arbeit der Patientinnen und Patienten auf die der Professionellen bezieht und was von den Patientinnen und Patienten erwartet wird.
2.4 Z WISCHENFAZIT
UND
F ORSCHUNGSPERSPEKTIVEN
In diesem Kapitel wurde ein theoretisches und begriffliches Instrumentarium zusammengestellt, das Krankheit und Gesundheit nicht nur als soziale Phänomene ausweist, sondern in ihrer Vielschichtigkeit für eine mikrosoziologische Untersuchung konzeptionell fassbar macht. An die analytische Unterscheidung von illness, sickness und disease anknüpfend lassen sich für die ungewollten Kinderlosigkeit drei Dimensionen unterscheiden, in denen sie als Krankheit aufgefasst werden kann: auf gesellschaftlicher und sozialpolitischer Ebene, auf der Ebene der medizinischen Diagnostik und Behandlung sowie aus der subjektiven Sicht der Paare. Wie der unerfüllte Kinderwunsch auf gesellschaftlicher, medizinischer und subjektiver Ebene zwischen Krankheit und Gesundheit verortet wird; wie diese Verortungen ineinandergreifen und wie dies die Zuschreibung medizi-
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nischer Zuständigkeit beeinflusst, ist eine durchgehende Frage meiner Untersuchung. In Kapitel 5 werde ich diskutieren, inwiefern der unerfüllte Kinderwunsch auf gesellschaftlicher und sozialpolitischer Ebene, auf der Ebene der medizinischen Diagnostik und Behandlung sowie aus Sicht der Ärztinnen und Ärzte auf der einen und der Paare auf der anderen Seite als Krankheit gesehen wird. In den ersten beiden Teilen dieses Kapitels (Kap. 2.1 und Kap. 2.2) wurden Ansätze diskutiert, die zur Bestimmung von Krankheit und Gesundheit über eine enge medizinische Definition hinausgehen. Sie haben gemeinsam, dass sie Krankheit und Gesundheit als soziale Phänomene betrachten und ihre Vielschichtigkeit und Mehrdimensionalität betonen. Die gesundheitswissenschaftliche Diskussion versucht dabei, interdisziplinär tragfähige Konzepte von Gesundheit und Krankheit unter Einschluss der medizinischen Sichtweise zu entwickeln. Hier spiegelt sich der gesellschaftspolitische Trend zur Verlagerung der Gesundheit und Prävention auf die Einzelnen wider: Potenziell sind alle Lebensbereiche für den Gesundheitserhalt und die Krankheitsprävention wichtig. Mit dem Bezug zum Lebenslauf und spezifischen sozialen und personalen Ausgangslagen wird der soziale Kontext berücksichtigt, jedoch gleichzeitig die Lösung der Gesundheitsprobleme bei den Individuen gesucht. In der gesundheitswissenschaftlichen Diskussion werden so auch zentrale Punkte – Ausweitung der Begriffe von Krankheit und Gesundheit, unscharfe Trennung von Krankheit und Gesundheit, besondere Verantwortung des Individuums – eines Rahmens für die Deutungen und Handlungen sowohl von Ärztinnen und Ärzten als auch für Laien markiert. Während die gesundheitswissenschaftlichen und salutogenetischen Ansätze sich um eine Erweiterung der medizinischen Definition – der disease-Dimension von Krankheit – bemühen, sind Parsons und Freidson vor allem an den Mechanismen der gesellschaftlichen Einordnung in den Status des Krankseins interessiert – Krankheit als sickness. Freidson erhebt darüber hinaus auch die medizinische Diagnose (disease) zum Gegenstand. Aus dieser Perspektive wird bei beiden Klassikern Krankheit als soziale Abweichung diskutiert, und es werden Krankenrollen und Krankheitstypen herausgearbeitet. Für die Untersuchung des Kinderwunsches wurden hier die zentralen Punkte der Legitimität von Krankheit und Verantwortung für Krankheit systematisiert. Mit Parsons lässt sich untersuchen, mit welchen sozialen Anforderungen und Befreiungen die Rolle der Kinderwunschpatientinnen und -patienten institutionell verbunden wird. Mit Freidson und Goffman lässt sich die Art der Abweichung hinsichtlich ihrer Gewichtigkeit und Legitimität sowie der Reaktion anderer spezifischer in den Blick nehmen. Inwiefern sich der unerfüllte Kinderwunsch als stigmatisierte Krankheit charakterisieren lässt, kann darüber hinaus mit Goffman an den Techniken des
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Umgangs der Paare mit dem Kinderwunsch untersucht werden. Wenn Krankheit als eine Form der Abweichung – „von einem Gefüge von Normen, die Gesundheit oder Normalität repräsentieren“ (Freidson 1979: 173) – gedacht wird, ist im Anschluss zu fragen, an welchen Normen die alltägliche Praxis ausgerichtet ist und ob die Medizin die allein zuständige Definitionsinstanz ist. Auf die Frage der Legitimität der medizinischen Behandlung des Kinderwunsches wird im Rahmen der Analyse (s.u. Kap. 5 bis Kap. 7) eingegangen: Inwiefern der unerfüllte Kinderwunsch und seine Behandlung als Stigma charakterisiert werden kann, wird insbesondere in der Analyse des Umgangs der Paare mit der Kinderwunschbehandlung im Kontext ihrer Alltags- und Biographiearbeit diskutiert (s.u. Kap. 7.3 und Kap. 7.4). Empirische und konzeptionelle Zugänge zu subjektiven Vorstellungen von Krankheit und Gesundheit wurden im dritten Teil dieses Kapitels (Kap. 2.3) diskutiert. Die drei Forschungsstränge – die Forschung zu subjektiven Perspektiven auf Krankheit und Gesundheit, zu Krankheitsnarrationen und zu Krankheitsverlaufskurven – fassen Krankheit als vielschichtig und prozesshaft. Die Vorstellungen und Narrationen um Krankheit sowie die Krankheitsarbeit der Patientinnen und Patienten gehen hier nicht in einem klinischen Blick oder medizinischen Programm auf, sondern weisen eigene Logiken auf. Mit Herzlich und anderen lassen sich die Vorstellungen der Ärztinnen und Ärzte sowie der Patientinnen und Patienten über den unerfüllten Kinderwunsch und seine Behandlung betrachten und vergleichen. Hierfür können die erläuterten Kategorien sowohl von Krankheit (Krankheit als Destruktion, Krankheit als Befreiung, Krankheit als Aufgabe) als auch von Gesundheit (Gesundheit als Vakuum, Gesundheit als Reservoir, Gesundheit als Gleichgewicht, Gesundheit als Instrument) als Orientierungspunkte und Vergleichsfolie dienen. Diese subjektiven Sichtweisen von Krankheit (illness) lassen sich nun mit den institutionellen und professionellen Sichtweisen vergleichen. Diese Vergleichsfolie wird sowohl für die Analyse des Verständnisses des Kinderwunschs als auch seiner Behandlung genutzt und hierbei sowohl die Auffassung der Paare als auch die der Ärztinnen und Ärzte diskutiert. Auch wenn in der vorliegenden Arbeit die Rekonstruktion und Analyse von Narrationen im Sinne narrativer Interviews und narrativer Analyse nicht im Vordergrund stehen, weist das Konzept der Krankheitsnarration doch auf weiterführende Aspekte hin: Der Blick auf die Narration eröffnet einen erweiterten Zugang zur subjektiver Krankheitserfahrung: als soziale und kulturelle Konstruktion, als Transformation und Ausdruck einer körperlichen Leidens und vor allem als der Versuch der kranken Person, ihre Welt als sinnvolle zu verstehen (vgl. Hydén 1996: 64f.). Bei der Untersuchung von Krankheitsnarrationen ist der Er-
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zählkontext zu reflektieren: Welche Geschichten werden wie im Beratungsgespräch der Klinik erzählt und welche finden sich in der Interviewsituation? Dies gilt es im Forschungsprozess ebenso zu berücksichtigen wie die Diskrepanz zwischen Krankheitserfahrung und Kommunikation darüber. Weniger als um die Feststellung authentischer Krankheitserfahrung geht es bei der Analyse von Krankheitserzählung um deren Interpretation und so auch das Aufzeigen von Widersprüchlichkeiten und Ambiguitäten (vgl. Bury 2005: 86). Krankheitserzählungen sind immer „edierte Versionen der Realität“ und keineswegs unbefangene oder objektive Beschreibung dieser (vgl. Riessmann 1990: 1197). Die Interviewten Entscheidungen treffen selbst Entscheidungen darüber, was sie preisgeben und was nicht. Dennoch muss eine Interpretation, die die Perspektive der Interviewten ernst nehmen will, sich daran orientieren, dass die Erzählerin oder der Erzähler, wenn nicht das letzte Wort, so doch das erste Wort hat, auf das sie sich stützt (vgl. Riessmann 1993: 52). Mit den Konzeptionen der Krankheitsverlaufskurvenforschung lässt sich die Betrachtung der Kinderwunschbehandlung erweitern und präzisieren: Die Behandlung ist sehr viel mehr als ein zeitlich begrenztes Ereignis, das in Krankenhäusern oder Arztpraxen unter der maßgeblichen Aufsicht von medizinischen Professionellen stattfindet. Wie die Kinderwunschbehandlung auf Seiten der Paare neben der Behandlungsarbeit auch mit Alltags- und Biographiearbeit verbunden wird und wie diese mit einer Medikalisierung des Kinderwunsches korrespondiert, wird vor allem in Kapitel 7 diskutiert. Für die Seite der medizinischen Personals wurde im Krankheitsverlaufskurvenmodell herausgestellt, dass sich auch hier die Arbeit an der Verlaufskurve nicht allein auf medizinische Aspekte beschränkt, sondern auch auf organisatorische Arbeit – vor allem der Herstellung von Compliance – erstreckt. Auf diesen Aspekt wird zunächst im folgenden Kapitel (s.u. Kap. 3.3) unter dem Stichwort der Kokonstruktion von Technik und Sozialem differenziert eingegangen, um ihn dann der Analyse vor allem in der Betrachtung der Strukturierung des Verlaufs der Kinderwunschbehandlung aufzugreifen (s.u. Kap. 6). Mit dem Phasenmodell der Krankheitsverlaufskurvenforschung kann auch die Vorerkrankungszeit (pretrajectory) in ihrer Bedeutung für die Gestaltung des Krankheitsverlaufs in den Blick genommen werden. Dies eröffnet für den Fall des Kinderwunsches und seiner medizinischen Behandlung den Blick sowohl auf medizinische Vorerfahrung der Paare als auch auf nichtmedizinische Aspekte im Prozess der Entscheidungsfindung für eine Behandlung (s.u. Kap. 5.2). Während die Forschung zu Krankheitsverlaufskurven keine „Nacherkrankungszeit“ betrachtet, da sie sich vor allem mit tödlich verlaufenden chronischen Erkrankungen beschäftigt, kann im Falle des Kinderwunsches eine solche Phase ebenfalls unter der Frage der Beziehung von Be-
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handlungs-, Alltags- und Biographiearbeit betrachtet werden (s.u. Kap. 7.3 und Kap. 7.4). Nachdem in diesem Kapitel Zuschreibungen, Vorstellungen und Narrationen von und über Krankheit und Gesundheit im Vordergrund standen und sich nur in der Betrachtung der Krankheitsverlaufskurve die Relevanz der Praxis der Behandlung und der Interaktion von medizinischem Personal und Patientinnen und Patienten für die Frage der Medikalisierung des unerfüllten Kinderwunsches andeutete, wird dieser letzte Aspekt Schwerpunkt des folgenden Kapitels sein. So sollen Zugänge zu konkreten Vermittlungs- und Aushandlungssituationen, in der professionelles medizinisches Wissen und Laienvorstellungen aufeinandertreffen, vorgestellt werden.
3 Akteure, Techniken und Körper in der medizinischen Behandlungspraxis
Das Krankenhaus als spezifischer Ort der Krankenbehandlung ist seit den 1950er Jahren Gegenstand der Medizinsoziologie (vgl. Schubert 2006: 87–100). In den 1960er Jahren wurden Krankenhäuser in der Soziologie zunächst vor allem als formale Organisationen mit autoritären Strukturen diskutiert – Erving Goffmans (1973) Beschreibung von psychiatrischen Anstalten als „totale Institutionen“ ist hier beispielhaft zu nennen. Diese Sichtweise wurde von einer vom symbolischen Interaktionismus beeinflussten Perspektive ergänzt (vgl. Elston 2008c). Wenn in dieser Arbeit untersucht wird, ob und wie der unerfüllte Kinderwunsch in der Behandlungspraxis als medizinisches Problem hergestellt wird, wird das Krankenhaus zum einen als Organisation mit formalen Strukturen und institutionalisierten Kompetenzgefällen mit professionellen wie administrativen Autoritäten betrachtet (vgl. Freidson 1975, 1979). Zum anderen werden diese Strukturen und Regeln des Krankenhauses in täglichen Interaktionen aktualisiert und neu ausgehandelt. Anselm Strauss (1981) hat darauf verweisen, dass das Geschehen im Krankenhaus zwar stark reguliert ist, aber nicht durch präformative Regeln determiniert. Vielmehr haben auch Pflegepersonal und Patientinnen und Patienten teil an der Herstellung der „negotiated order“. Die Untersuchung formeller institutioneller Regeln reicht so nicht aus, um die soziale Ordnung im Krankenhaus zu erklären – vielmehr muss das Augenmerk auch auf den impliziten und taktischen Charakter von Regeln und die Fluidität sozialer Ordnung gerichtet werden (vgl. Elston 2008b: 188f.). Im Sprechzimmer der Kinderwunschbehandlung treffen nicht nur Ärztinnen und Ärzte sowie Patientinnen und Patienten aufeinander, sondern mit ihnen auch sehr unterschiedliche Vorstellungen von dem zu behandelnden Problem. Die Vielschichtigkeit der subjektiven Vorstellungen von Krankheit und Gesundheit und der unterschiedlichen Perspektiven auf den Krankheitsverlauf wurden bereits dargestellt (s.o. Kap. 2). Im Folgenden werden nun analytische Zugänge zur
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Behandlungspraxis als Ort der Herstellung und Konstruktion medizinischer Zuständigkeit diskutiert. Ich werde zunächst darauf eingehen, was Ärztinnen und Ärzte als Professionelle auszeichnet (Kap 3.1). Hierbei gehe ich insbesondere auf praktizierende Ärztinnen und Ärzte in Abgrenzung zu medizinischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern ein. Im zweiten Teil werde ich verschiedene Typologisierungen der Interaktion und Beziehung von Ärztinnen und Ärzten auf der einen und Patientinnen und Patienten auf der anderen Seite diskutieren (Kap. 3.2). Die Parsons’schen Rollenbeschreibungen sind weiterhin grundlegend, wurden jedoch deutlich erweitert. Im dritten Teil dieses Kapitel werde ich zeigen, wie die Rolle von Techniken für die Herstellung der Medikalisierung empirisch offen untersucht werden kann (Kap. 3.3). Hierbei wird ein breiter Technikbegriff zugrunde gelegt und der Stellenwert der Krankenakte für die Herstellung eines medizinisch handhabbaren Problems herausgestellt. Der Körper ist in der bisherigen Auseinandersetzung mit der Reproduktionsmedizin ein quasi-selbstverständlicher Referenzpunkt, es dominiert die These einer Entkörperung oder Verobjektivierung durch die Kinderwunschtherapie. Zugleich bekommt allerdings der Körper einen immer größeren Stellenwert als Projekt- und Projektionsfläche der reflexiven Selbstbestimmung (s.o. Kap. 1). Im vierten Teil dieses Kapitels werde ich den Begriff des Körpers in zweierlei Hinsicht differenzieren: Zum einen werde ich die phänomenologische Unterscheidung zwischen Körper und Leib und zum anderen Typologisierungen von Umgangsweisen mit dem Körper diskutieren (Kap. 3.4).
3.1 M EDIZIN
ALS
P ROFESSION
Neben Recht und Religion wird die Medizin zu den klassischen Professionen gezählt. Gegenstand professioneller Tätigkeit ist typischerweise […] [die] Bewältigung kritischer Schwellen und Gefährdungen menschlicher Lebensführung. Diese für den Klienten problematischen Situationen involvieren Instanzen und Kräfte […], deren Kontrolle außerhalb der Handlungsmöglichkeiten der Normalperson liegt, so daß die Vermittlung, Intervention und Hilfe eines Experten gesucht wird (Stichweh 1994: 296).
Je nach theoretischem Zugang gibt es in der gegenwärtigen soziologischen Auseinandersetzung sehr unterschiedliche Definitionen von Professionen (vgl. bspw. Kurtz 2002: 49–63). Für die aktuelle soziologische Auseinandersetzung lassen
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sich jedoch zentrale Bestimmungsmerkmale aufführen (vgl. Meuser 2005: 257f.): •
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Das professionelle Handeln ist klientenorientiert, wobei zwischen Professionellen und ihren Klientinnen und Klienten sowohl eine Vertrauensbeziehung als auch ein Kompetenzgefälle besteht. Professionelles Handeln ist fachwissenschaftlich fundiert; es orientiert sich an neuen Forschungsergebnissen. Das Handeln wird legitimiert durch den Bezug auf den aktuellen Erkenntnistand, nicht auf organisatorische Macht. Das systematische Fachwissen wird nicht schematisch, sondern einzelfallbezogen angewandt. Professionelles Handeln ist weitgehend unabhängig von Hierarchien, Autoritäten und bürokratischer Befehlsherrschaft. Professionelles Handeln orientiert sich an grundlegenden Werten der Gesellschaft. Kontrolle geschieht durch Kolleginnen und Kollegen, also in der Regel durch die Profession selbst und nicht durch staatliche Instanzen. Fremdkontrolle wird durch Eigenkontrolle – Standesorganisationen, Berufsverbände und entsprechende Ethikkodizes – ersetzt. Die Selektion neuen Personals erfolgt durch Professionsmitglieder. Standardisierte Ausbildungsgänge und strikte Zugangskontrollen sichern ein hohes Qualifikationsniveau.
Die soziologische Beschäftigung mit Professionen geht auf Émile Durkheim zurück, der beschreibt, wie Professionen in den sich schnell wandelnden Industriegesellschaften zu wichtigen integrativen Kräften werden (vgl. Elston 2008a). Für die Medizinsoziologie hat Talcott Parsons die Ideen Durkheims aufgenommen und die medizinische Profession als Institution sozialer Kontrolle und Krankheit als Abweichung und potenzielle Gefährdung der gesellschaftlichen Stabilität beschrieben. Für Parsons ist die Profession durch ihr theoretisches Wissen, ihre selbstregulierende Praxis, die Autorität über die Klienten und die Kollektivitätsorientierung gekennzeichnet. In den 1960er Jahren wurden der Parsons’sche Ansatz und seine Anwendung vermehrt reflektiert. Vor allem wurde kritisiert, dass der von Parsons als gesellschaftliche Erwartung beschriebene Altruismus von Ärztinnen und Ärzten vorausgesetzt wurde, statt den Blick darauf zu richten, wie diese in der Praxis tatsächlich handeln. In der Folge wurden vor allem die Machtverhältnisse und der historische Kontext der Entwicklung der Medizin als Profession untersucht (vgl. ebd.: 165). So entwickelt Eliot Freidson in The Profession of Medicine (1970, dt. 1979) einen anderen Zugang zu medi-
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zinischer Macht und ihrer Bedeutung für die Gesellschaft und die Gesundheitsversorgung und untersucht wie die Medizin ihre legitimierte Autonomie und berufliche Selbstkontrolle erlangt und aufrechterhält. Für die Untersuchungen der medizinischen Behandlungspraxis bietet die Diskussion der Medizin als Profession eine zentrale Perspektive, insbesondere auf das Selbstverständnis von Ärztinnen und Ärzten sowie die Rollenzuschreibungen. Die ärztliche Handlungsorientierung ist durch spezifische professionelle Charakteristika gekennzeichnet. Die Autonomie ist – entsprechend der Charakterisierung Meusers – auf verschiedenen Ebenen zentral für ärztliches Handeln. Zudem ist auch ärztliches Behandlungshandeln durch einen starken Praxisbezug, eine Einzelfallorientierung und einen Handlungsbezug gekennzeichnet. Auf dieser Grundlage gestaltet sich das Arzt-Patienten-Verhältnis. Autonomie der medizinischen Profession Allen Berufen ist eine gewisse Autonomie und Kontrolle über die Bedingungen ihrer Arbeit eigen, und es wird ein gewisser Grad an Vertrauen vorausgesetzt. Für Professionen und insbesondere die Medizin gilt dies jedoch in besonderem Maße; der Widerstand gegen formelle Kontrolle von außen und das Vorherrschen informeller interner Kontrollregelungen ist ein zentrales Charakteristikum (vgl. Parsons 1958: 46). Ärztinnen und Ärzte wehren sich gegen Einschränkungen ihrer Entscheidungsfreiheit, und die Anwendung formeller Überprüfungsverfahren wie Ehrengerichte und Disziplinarverfahren ist eher unüblich. Für Freidson ist die Autonomie, das Privileg der professionellen Selbstregelung, der Prüfstein für den Status einer Profession. Die Berechtigung dieses Privilegs wird durch drei der Medizin zugebilligte Besonderheiten gestützt: den außergewöhnlich hohen Grad an Fertigkeit und Wissen, der eine Bewertung durch Nichtprofessionelle unmöglich macht; das besonders ausgeprägte Verantwortungsbewusstsein, das Professionelle auch ohne Überwachung gewissenhaft arbeiten lässt, und das Vertrauen darauf, dass die Professionen selbst zu angemessenen regulierenden Maßnahmen greifen, falls es zu einer Ausführung der Arbeit kommt, die nicht dem Berufsethos entspricht (vgl. Freidson 1979: 117f.). Die Profession ist also die alleinige Quelle der Kompetenz für das Erkennen abweichender Berufsausübung, und sie hat auch genug Berufsethos, um abweichende Berufsausübung zu kontrollieren und um sich selbst ganz allgemein die nötigen Regeln zu geben. Ihre Autonomie findet ihre Rechtfertigung und ihre Bewährungsprobe in dieser Art der Selbstbestimmung oder Selbstregelung (ebd.: 117).
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Diese Autorität über das Fachwissen führt dazu, dass relativ losgelöst von der administrativen Hierarchie im Krankenhaus eine „Hierarchie des Fachwissens“ besteht, an deren Spitze der Arzt oder die Ärztin steht (vgl. Freidson 1979: 107). Entscheidungen der Krankenhausadministration – zum Beispiel über Arbeitsbereiche oder Arbeitszeiten – haben eher den Charakter von Ratschlägen. An vielen Stellen im Krankenhaus können Ärztinnen und Ärzte intervenieren und diese Interventionen durch ‚medizinische Notfälle‘ rechtfertigen. Zwar besitzen die meisten Fachrichtungen „ihre typischen Notfälle“ – doch das Spezifische an medizinischen Notfällen ist, dass sie auch von anderen für Notfälle gehalten werden, „die gefährlich genug sind, um eine Aufhebung der Alltagsroutine zu rechtfertigen und […] häufig und charakteristisch, ja selbst fast schon Routine sind“ (ebd.: 101). Die Autorität des Fachwissens wird auch durch die Weigerung Professioneller, das Verhalten von Kolleginnen und Kollegen zu kommentieren, verstärkt. Die kollegiale Kontrolle geschieht in der Regel nur durch Überweisungsbeziehungen: Die folgenschwerste persönliche Ausschlussstrategie und der wichtigste Kontrollmechanismus besteht darin, Überweisungen zu verhindern und – wenn sich diese nicht umgehen lassen – nur unwichtige Überweisungen vorzunehmen (vgl. ebd.: 152). Die Perspektive der nichtprofessionellen Hilfskräfte zeichnet sich dadurch aus, dass sie im Gegensatz zu den Professionellen eine Laienvorstellung von der Behandlung haben. Demgegenüber ist die Perspektive der professionellen Krankenschwester von ihrer Beziehung zu Ärztinnen und Ärzten bestimmt, als „Vertreterin des überwachenden Arztes“ (ebd.: 105) vertritt sie die professionelle Perspektive. Die fachliche Autorität bestimmt auch die Struktur der Interaktion von Professionellen und Klienten: „Die Definition des im Einzelfall jeweils vorliegenden Problems legt diese Situation nahezu vollständig in die Hand des Professionellen“ (Stichweh 1994: 297). Die Aufgabe der Ärztinnen und Ärzte bei der Konsultation ist es, wie bei anderen Berufen auch, „seine Arbeit so zu tun, wie es seinem besten Wissen nach richtig ist“ (Freidson 1979: 256). Seine Aufgabe ist es, anderen einen Dienst zu tun: Das Problem ist nur, wie dieser Dienst definiert wird und wer ihn definiert. Als eine Profession bringt die Medizin ihre Autonomie zur Geltung, indem sie definiert, was ein „angemessener“, „wirksamer“ oder „guter“ Dienst ist (ebd.).
Die Medizin definiert selbst die Maßstäbe der Bewertung ihrer Ausführung. Als Profession mit fachwissenschaftlichem Spezialwissen übernimmt sie dabei auch die Formulierung der Wünsche ihrer Klientinnen und Klienten:
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[A]ls Berufsgruppe mit Berufsethos versucht sie, Dienste zu bieten, die den von ihr definierten Wünschen angemessen sind. Um aber ihren Auftrag zu erfüllen, muß die Profession ihren Klienten manchmal Dienste bieten, die diese vielleicht gar nicht wollen. Wenn sie das tut, muß sie in gewisser Weise den Patienten manipulieren oder eine Kontrolle über sie ausüben (ebd.).
Diese durch das Experten- oder Fachwissen begründete Hierarchie begünstigt nicht nur ein paternalistisches Arzt-Patientenverhältnis, sondern auch die ärztliche Definitionsmacht über Krankheit und Nichtkrankheit: Angesichts des offiziellen Status der Profession wird das, was mit dem Laien geschieht – also ob er als „wirklich“ krank anerkannt wird oder nicht, wie die Krankheit bezeichnet wird, welche Behandlung er erhält, welche Verhalten man von ihm während seiner Krankheit verlangt und was mit ihm nach der Behandlung geschieht –, zu einer Funktion professioneller Entscheidung, nicht mehr der Entscheidung eines Laien (ebd.: 101).
In der konkreten Behandlungssituation sind die Ärztinnen und Ärzte die dominanten Akteure in der Grenzziehung zwischen krank und gesund sowie der Bestimmung dessen, was außerhalb und was innerhalb des medizinischen Zuständigkeitsbereichs liegt. Die Handlungsorientierung praktizierender Ärztinnen und Ärzte Die Eliten von Professionen sind nach Stichweh (1994) intern in eine akademisch-szientistische Elite und eine praktizierende Elite geteilt; Professionen insgesamt sind von einer internen Differenzierung von Disziplin und Profession geprägt. Im Zuge der Entstehung moderner Professionen wird Wissen vs. Handeln […] in gewisser Hinsicht zur Differenzbestimmung von Disziplinen und Professionen, die man genauer vielleicht so beschreiben kann, daß die wissenschaftlichen Disziplinen auch im Gesellschaftsbezug primär in der Weise operieren, daß sie Erleben auf Erleben übertragen, also Welt- und Gesellschaftsbilder beeinflussen, die Professionen hingegen ihre Klienten durch Handeln beeindrucken und vertrauensmäßig binden und teilweise ein Anschlusshandeln des Klienten motivieren wollen (ebd.: 293).
In der Medizin ist dieser Prozess der Ausdifferenzierung besonders weit fortgeschritten (vgl. ebd.: 287). Ziel praktizierender Ärztinnen und Ärzte ist Handeln und nicht Wissen; die Klientenorientierung ist wie bei anderen Professionen auch dominierend. Im Gegensatz zu Parsons, für den die Kollektivitätsorientie-
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rung ein definitorisches Merkmal der Medizin ist, argumentiert Freidson, dass die Klientenorientierung zu einer relativ einfachen Handlungsethik führe: Der Arzt ist vielleicht wegen seiner Ausrichtung aufs Handeln, vielleicht auch wegen der Kompliziertheit und Vielfalt des Konkreten, ein ziemlich grober Pragmatiker (Freidson 1979: 142).
Ähnlich argumentiert Stichweh, dass Professionen mit „einer vergleichsweise einfachen Ethik“ (Stichweh 1994: 299) leben. Diese einfache Ethik führt er darauf zurück, dass alle „Verpflichtungen der [modernen] Profession […] Verpflichtungen des individuellen Professionellen gegenüber dem individuellen Klienten“ sind (ebd.: 300). Der Arzt orientiert sich an seinem Erfahrungswissen, eher an sichtbaren Ergebnissen denn theoretischen Erkenntnissen und „er neigt auch dazu herumzuprobieren, wenn er mit den konventionellen Mitteln keine ‚Ergebnisse‘ erzielt“ (Freidson 1979: 142). Diese Orientierung korrespondiert auch mit der Tendenz der Ärztinnen und Ärzte, Unsicherheiten zu betonen statt wissenschaftliche Regelmäßigkeiten oder Gesetzmäßigkeiten. Die zwei handlungsleitenden Normen der medizinischen Praxis sind nach Freidson so auch Verantwortung und Erfahrung: Die Verantwortung für das Wohlergehen der Patienten ist dabei sowohl persönlich und direkt als auch folgenschwer. Für die Klinikerinnen und Kliniker ist „ein ziemlich tiefgehender Partikularismus, eine Art von ontologischem und epistemologischem Individualismus“ (ebd.: 143) charakteristisch. Auch wenn Freidson im ärztlichen Handeln eine Tendenz zum „Funktionell-Diffusen“ ausmacht, ist ein Großteil des ärztlichen Handelns rational als das es sich als Verlauf von Diagnosen und Hypothesen darstellt, die an Symptomen und anderen Anzeichen überprüft werden können (vgl. ebd.: 144). Der Handlungsbezug ist in zweifacher Hinsicht nicht nur für die Medizin, sondern für moderne Professionen insgesamt bestimmend: Funktionale Spezifikation der Handlungsbezüge und Aktivierung der Handlungsorientierung werden in der Folge wechselseitig füreinander zur Voraussetzung. Aktivierung der Handlungsorientierung muß dabei nicht heißen, daß der konsultierte Professionelle immer sogleich etwas tut, meint vielmehr nur, daß die Relation Handeln/Nichthandeln den entscheidenden Bezugspunkt der Orientierung der Professionellen in Hinsicht auf den Klienten bildet (Stichweh 1994: 304).
Während den Ärztinnen und Ärzten in manchen Fällen so eine eher technische Aufgabe zufällt, mit Wissen, Fähigkeiten und technischen Mitteln das Ziel der Heilung zu erreichen, gibt es andere Fälle, in denen „Wissen, Erfahrung und
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Hilfsmittel nicht die Gewähr geben, mit fachgerechter Arbeit zum Ziel zu kommen“ (Parsons 1958: 27). Dies kann zum Beispiel Fälle betreffen, in denen zwar die Diagnose zu einem Ergebnis führt, für das es aber keine wirksame Therapie gibt, sowie in Unsicherheitsmomenten, bei denen verschiedene Faktoren zusammenspielen und der Zeitpunkt der Wirkung unklar ist. Ärztinnen und Ärzte sind also mit Situationen konfrontiert, die von Ungewissheit und Machtlosigkeit bestimmt sind: Ihr Expertenwissen von Professionellen hat oft wissenschaftlichen Status […] und [ist] dennoch in entscheidender Hinsicht insuffizient […]: der Tendenz nach gibt es eine Überkomplexität der Situation im Verhältnis zum verfügbaren Wissen, eine Relation, die es ausschließt, das Handeln des Professionellen als problemlose Applikation vorhandenen Wissens mit erwartbarem und daher leicht evaluierbarem Ausgang zu verstehen. Ein wesentliches Moment der Problemsituation ist damit Ungewißheit hinsichtlich der Dynamik der Situation, hinsichtlich der zu wählenden Handlungsstrategie und schließlich dem mutmaßlichen Ausgang, und eben diese Struktur läßt auf der Seite des Professionellen die Relevanz subjektiver Komponenten wie Intuition, Urteilsfähigkeit, Risikofreudigkeit und Verantwortungsübernahme hervortreten, die zugleich mit dem Vertrauen des Klienten als dessen komplementärer und möglicherweise erfolgsrelevanter Investition interagieren (Stichweh 1994: 296f.).
Diese Unsicherheit des Wissens und der Handlungssituation von Professionellen führt bei Ärztinnen und Ärzten zu einer Tendenz zum aktiven Eingreifen und einer Voreingenommenheit für Krankheit. Die Medizin als beratende und behandelnde Profession hat somit „den Auftrag, aktiv einzugreifen“ (Freidson 1979: 210). Die Medizin hat dabei die Tendenz, „überall mehr Krankheit zu sehen und die Umwelt als für die Gesundheit gefährlicher zu betrachten, als der Laie dies tut“ (Freidson 1979: 213). Diese Voreingenommenheit für die Krankheit hat den Charakter einer ärztlichen Entscheidungsregel. Nach Freidson ist es somit für den medizinischen Professionellen typisch, daß er – aufgrund der Überzeugung, alles, was er tut, geschehe zum Wohle der Patienten – glaubt, es sei besser, Krankheit zu unterstellen, als dies nicht zu tun, und damit das Risiko einzugehen, sie zu übersehen oder zu verfehlen. […] Die den Arzt bei seiner Entscheidung leitende Regel besagt also, daß es sicherer ist, Krankheiten zu diagnostizieren, als Gesundheit anzunehmen (ebd.).
Entsprechend macht Freidson in der klinischen Praxis eine „starke Neigung zur Intervention“ aus (ebd.: 215). Überdiagnose und übertriebenes Verschreiben sind
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so auch als Resultat dieser Entscheidungsregel zu sehen. Solche Praktiken sind am ehesten unter den Bedingungen zu finden, in denen der Arzt wahrscheinlich davon profitieren wird, die Lage des Patienten ernst, aber die Symptome unklar sind, und in Situationen, in denen es „wenige konventionelle und beliebte Diagnosen gibt, die den vorhandenen Symptomen nicht zuwiderlaufen“ (ebd.). Parsons beschreibt die Neigung zum Handeln als eine Form von „magischen“ oder „pseudowissenschaftlichen Momenten“, die sich in unsicheren Situationen einstellen: Unter diesen Bedingungen ist der Arzt großen emotionalen Belastungen ausgesetzt, die eine rein rationale Entscheidungsfindung erschweren (vgl. Parsons 1958: 29). Parsons verweist hier auf den Anthropologen Bronislaw Malinowski, der neben anderen gezeigt hat, dass sich magische Vorstellung und Praktiken insbesondere in von großer Unsicherheit gekennzeichneten Situationen entwickeln. Dies lässt sich auch auf Krankheiten in modernen Gesellschaften übertragen: Bei Fragen der Gesundheit verbindet sich in typischer Weise Unsicherheit und intensives emotionales Engagement, so daß eine gespannte und belastende Situation entsteht, die sehr häufig der Ansatzpunkt für Magie ist. Indessen schließt die Tatsache, daß die grundlegende Tradition, auf der die moderne Medizin aufbaut, die Wissenschaft ist, offene Magie aus. Das Ergebnis sind „optimistische Tendenzen“ (ebd.: 45).
Diese optimistischen Tendenzen werden dabei häufig sowohl von den einzelnen Ärzten als auch in der allgemeinen medizinischen Tradition und Kultur in quasirituellen Formen ausgedrückt, die den Genesungswillen und die Hoffnung auf Heilung demonstrieren. Die Tendenz zum aktiven Eingreifen lässt sich nach Parsons zwar auch durch Honorierungsregelungen begründen, aber es ist dabei auch zu beachten, „daß starke andere Motive in die gleiche Richtung wirken“ (ebd.: 43). Neben den Unsicherheiten der ärztlichen Praxis motivieren die ärztliche Ausbildung und die gesellschaftlichen Erwartungen zum aktiven Eingreifen. Die Voreingenommenheit für Krankheit und die Tendenz zum aktiven Eingreifen auf ärztlicher Seiten treffen in der Behandlungssituationen auf Patientinnen und Patienten, die dieses Zusammenwirken nicht nur dadurch verstärken, dass sie selten gegen Eingriffe protestieren. Die Institutionalisierung der Erwartung, „alles, was möglich ist, zu tun, um eine vollständige, schnelle und schmerzlose Heilung des Patienten zu fördern“ (Parsons 1958: 29), trägt zur Medikalisierung bei. Hauptcharakteristikum der Situation, in der Ärztinnen und Ärzte und Patientinnen und Patienten aufeinander treffen, ist die gegenseitige Hoffnung:
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Der Patient würde wahrscheinlich keine Hilfe suchen, wenn er nicht der Meinung wäre, daß ihm ein Arzt helfen könnte, und der praktische Arzt würde sich wahrscheinlich nicht bemühen zu helfen, wenn er nicht das Gefühl hätte, etwas Wirksames tun zu können (Freidson 1979: 219).
Beide hoffen auf Besserung oder Heilung und erwarten aktives Eingreifen. Eine weitere Konsequenz der Voreingenommenheit für Krankheit ist, dass sie einen Zustand hervorbringen kann, der als „Nichtkrankheit“ bzw. „spezifisch gesund“ beschrieben werden kann, wenn eine falsche positive Diagnose gestellt wurde. Während die medizinische Diagnose einfach zurück genommen werden kann, kann die soziale Bedeutung nicht vollständig vom Arzt hervorgerufen und kontrolliert werden: Eine falsche positive Diagnose klingt also länger und – gerade bei stigmatisierten Krankheiten – unter Umständen irreversibel sozial nach (s.o. Kap. 2.2). Vor dem Hintergrund der Betrachtungsweisen der Medizin als Profession erscheint die Medikalisierung als inhärenter Bestandteil ärztlichen Handelns. Die Medizin ist darauf ausgerichtet, Krankheiten zu suchen und zu finden, was bedeutet, daß sie danach strebt, die soziale Bedeutung von „Krankheit“ zu schaffen, wo diese Bedeutungen oder Deutungen vorher fehlten (Freidson 1979: 210).
Die besondere Legitimität der Autonomie und seines Fachwissens steht in Relation zu den Patientinnen und Patienten: Die Fallbezogenheit und die Klientenorientierung erschweren einerseits externe Kontrollen, andererseits sind sie aber auch Voraussetzung für das Vertrauensverhältnis zu den Patientinnen und Patienten. Mit den diskutierten Ansätzen lässt sich nun differenzierter untersuchen, wie diese Voreingenommenheit für Krankheit und Behandlung zu einer Medikalisierung des Kinderwunsches in der Behandlungspraxis beiträgt: Insbesondere ist zu fragen, wo sich in der Therapie auf Seiten der Ärztinnen und Ärzte eine Voreingenommenheit für Krankheit und Tendenzen zum aktiven Eingreifen finden und wie diese mit den Erwartungen und Hoffnungen der Paare korrespondieren.
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3.2 D IE A RZT -P ATIENTEN -B EZIEHUNG Parsons’ viel zitierte Charakterisierung der Rolle von Ärzten und Patienten und ihrer Beziehung wird heute als Beschreibung wesentlicher Elemente einer paternalistischen Version der Arzt-Patienten-Beziehung eingeordnet, in der Ärztinnen und Ärzte den Patientinnen und Patienten den Status von Kranken gewähren und sie vorübergehend von ihren Verpflichtungen befreien. Die Kranken sind nicht befähigt, sich selbst zu helfen, und verpflichtet, gesund werden zu wollen, ärztliche Hilfe in Anspruch zu nehmen und in der Behandlung zu kooperieren. Die Krankenrolle setzt bei Parsons die Annahme einer Patientenrolle voraus (s.o. Kap. 2.1). Auch wenn das Parsons’sche Modell heute immer noch zur Analyse der Arzt-Patienten-Beziehung genutzt wird, gilt seine Erklärungskraft als zumindest eingeschränkt, da es nur dann Geltung hat, wenn die folgenden Bedingungen erfüllt sind: Es gibt nur eine einzige beste Behandlungsmöglichkeit; der Arzt kennt diese Möglichkeit und wendet sie an; Ärzte können aufgrund ihrer Erfahrung und ihres Wissen am besten zwischen Behandlungsoptionen abwägen; Ärzte sind wegen ihrer professionellen Sorge und der ethischen Verpflichtung des Berufsstandes zur Entscheidung legitimiert (vgl. Klemperer 2003: 11). Ähnlich argumentiert Freidson und führt an, dass Parsons’ Überlegungen nur für akute, heilbare Krankheiten gelten können und nur die Erwartungen an Rollen beschreiben, aber nicht deren tatsächliche Ausfüllung. Freidson selbst hat daher eine eigene Typologie der Arzt-Patienten-Beziehung entwickelt (s.u.). Grundlegend für die aktuellere Diskussion ist das viel zitierte Modell von Ezekiel und Linda Emanuel (1992) sowie in der deutschen Diskussion das von Tanja Krones und Gerd Richter (2006). Zugleich ist festzuhalten, dass nach einer Phase verstärkter Auseinandersetzung in den 1970er Jahren die Beschäftigung mit der Arzt-Patienten-Beziehung in der Soziologie abgenommen hat (vgl. Krones und Richter 2006: 94). Die Arzt-Patienten-Beziehung wird eher unter einer medizinethischen oder anwendungsorientierten Fragestellung diskutiert. Freidson unterscheidet Typen der Arzt-Patienten-Interaktion nach dem Grad, in dem die professionelle Domäne das Erleben und die Äußerungsformen von Krankheit beeinflusst. Er geht davon aus, dass Patienten in der früheren Phase ihrer jeweiligen Krankheiten mehr Spielraum haben als in späteren, da sie zunächst noch die Wahl zwischen verschiedenen Behandlungsanbietern haben, obwohl die Art der Behandlung selten zur Disposition stehe (vgl. Freidson 1979: 253). Der Patient tritt zunächst mit einer eigenen Definition dessen, was ihm fehlt, in die Konsultation ein. Diese ist jedoch nur vorläufig. Denn in Diagnose und Behandlung besteht die Aufgabe des Arztes darin, eine Diagnose zu stellen und Compliance der Patienten herzustellen. In beiden Schritten hat der Arzt die
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Aufgabe, die Informationen des Laien in medizinisch relevante Informationen zu übersetzen. Hierbei stellen sich spezifische Probleme: In der Anamnese kann der Patient von diffusen Symptomen berichten und Vorfälle oder vorherige Krankheiten vergessen; während der Behandlung ist die Compliance die größte Herausforderung (vgl. ebd.: 257). Die Interaktion während der Behandlung ist eine Verhandlung und ein latenter Konflikt, in dem die Positionen und Auffassungen von Ärzten und Patienten in ein Verhältnis zueinander gebracht werden müssen. Die Beschaffenheit der Arzt-Patienten-Interaktion hängt für Freidson dabei sowohl davon ab, was der Arzt als richtige Behandlung ansieht, als auch davon, ob der Behandlungskontext eher patientenabhängig wie etwa in niedergelassenen Praxen oder eher kollegenabhängig wie in einem Forschungskrankenhaus ist. Im ersten Fall kann die Interaktion zum Teil vom Patienten initiiert und kontrolliert werden, im zweiten Fall ist sie weitgehend vom Arzt bestimmt. In beiden Fällen werden die Ärzte versuchen, jeden Fall den Gegebenheiten ihrer Praxis anzupassen, während die Patienten Interesse an einer möglichst individuellen Behandlung haben (vgl. ebd.: 266). Freidson entwickelt vor diesem Hintergrund eine Typologie mit fünf Modellen (ebd.: 262–265). Das Aktiv-Passiv Modell beschreibt eine Interaktionsform, in der der Arzt aktiv und der Patient passiv ist. Dies ist zum Beispiel der Fall, wenn der Patient in Narkose ist oder im Koma liegt. Voraussetzung ist hier, dass der Arzt den Widerstand der Patienten überwinden kann. Das Führungs- und Kooperationsmodell wird nach Freidson häufig als prototypisch für die ArztPatienteninteraktion diskutiert. Die Initiative zur Interaktion geht zu einem größeren Teil vom Arzt aus, der Patient hat eine weitgehend passive und befolgende Rolle. Dem Patienten wird aber ein gewisses Maß an Autonomie und Entscheidungen zugestanden, und er muss die Autorität des Arztes anerkennen: In dieser Situation ist das Problematischste die Autorität des Arztes an sich; denn sie muß zugestanden werden, noch ehe die Untersuchung beginnen kann – und auch immer dann, wenn die Behandlung Fortschritte machen soll. Sie ist das Motiv für die Kooperation überhaupt (ebd.: 264).
Zweitrangig sind die Fähigkeiten des Arztes, seinen Wunsch nach Information und Kooperation zum Ausdruck zu bringen, sowie die Fähigkeit des Patienten, den Arzt gut genug zu verstehen. Das Modell der wechselseitigen Partizipation ist dort zu finden, wo Patienten sich selbst versorgen können oder müssen, wie beispielsweise bei chronischen Krankheiten. Die Initiative zur Interaktion ist dabei nahezu gleich verteilt. Voraussetzung ist ein „kollaborativer Status“ mit einer wechselseitigen Akzeptanz als gleichwertige Partner bei der Suche nach der bes-
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ten Behandlung. Im umgedrehten Führungs- und Kooperationsmodell übernimmt der Patient die Leitung und der Arzt kooperiert. Dieses Modell ist nach Freidson eher selten; begünstigende Umstände für dieses Modell sind eine unsichere wirtschaftliche Lage der Praxis oder ein außergewöhnlich hoher Status der Patientenschaft. Das letzte Modell, das Umgedrehte Aktiv-Passiv-Modell, in dem der Arzt passiv und der Patient aktiv ist, führt Freidson lediglich als theoretische Möglichkeit an. Emanuel und Emanuel legen ihrer Typisierung der Arzt-Patienten-Interaktion vier Kriterien zugrunde: Ziele der Arzt-Patienten-Interaktion, die Pflichten des Arztes, die Bedeutung der Messwerte der Patienten und die Konzeption der Patientenautonomie (vgl. Emanuel und Emanuel 1992: 2221). Aus diesen Kriterien entwickeln sie die folgenden vier Modelle: Das paternalistische Modell, in dem der Arzt Entscheidungen für das Wohl des Patienten unabhängig von seinen Werten oder Wünschen trifft. Das informative Modell, in dem der Arzt dem Patienten alle relevanten Informationen zur Verfügung stellt und dieser dann zwischen medizinischen Behandlungen auswählen kann. Das interpretative Modell, in dem der Arzt wie im informativen Modell dem Patienten relevante Informationen zur Verfügung stellt, dem Patienten dann aber als Berater hilft, seine Wünsche und Vorstellung zu erkennen. Das abwägende Modell: in diesem Modell berücksichtigt der Arzt zusätzlich die Lebenssituation und die Werte des Patienten und erarbeitet so eine Lösung, von der er den Patienten zu überzeugen versucht. Die Entscheidung für eine Behandlung trifft aber letztendlich der Patient. Neuere Beschreibungen der Arzt-Patientenbeziehung knüpfen vor allem an die interpretativen und abwägenden Typen an: Unter Schlagworten wie Shared Decision Making, Informed Consent und Mündiger Patient steht hier der Patient im Zentrum. Diese Modelle betonen den Einbezug des subjektiven Krankheitsverständnisses des Patienten ebenso wie das Erarbeiten einer gemeinsamen Entscheidungsgrundlage zwischen Arzt und Patienten (vgl. Klemperer 2003: 15ff.). Schlüsselmerkmale des Shared Decision Making sind: Es umfasst zwei Beteiligte, nämlich Arzt und Patient; Ärzte und Patienten unternehmen Schritte, um am Entscheidungsprozess teilzuhaben; das Teilen von Informationen sowie eine Behandlungsentscheidung wird unter Zustimmung beider Seiten getroffen (vgl. ebd. 18f.). Krones und Richter (2006) schlagen eine ähnliche Einteilung vor, berücksichtigen aber auch aktuellere Diskussionen und setzen den Schwerpunkt ihrer Betrachtung auf den Grad der in der Interaktion verwirklichten Patientenautonomie. Hierzu betrachten sie neben Arzt- und Patientenrolle die Richtung und die Inhalte des Informationsaustausches sowie den Aspekt der Entscheidungsfindung und Verantwortung: Das paternalistische Modell ist auch hier die zugrundeliegende Kontrastfolie, vor der weitere Typen entwickelt werden. Der In-
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formationsaustausch geschieht vom Arzt zum Patienten, und die Informationsinhalte sind „objektiv-medizinisch“. Die Entscheidungsfindung und Verantwortung liegt alleine beim Arzt. Unter partnerschaftlich-deliberativen Modellen fassen Krones und Richter zwei Varianten, das der Patientenzentrierung und das des Shared Decision Making: Der Informationsaustausch ist zwei- oder mehrseitig, die Informationsinhalte sind medizinisch und persönlich, und die Entscheidungsfindung und Verantwortung wird von Arzt und Patienten geteilt. Statt von einem Informationsmodell zu sprechen, betonen Krones und Richter den Vertragscharakter der Beziehung in diesem Modell und unterscheiden hier Informed Choice und Kundenmodell: In beiden Fällen ist der Patient als rationaler Akteur konzipiert, dem größtmögliche Autonomie zugebilligt wird. Er ist selbst für Behandlungsentscheidungen verantwortlich, die er aufgrund von selbst recherchierten oder vom Arzt eingeforderten Informationen trifft. Im Modell der Informed Choice ist der Arzt technischer Experte, der möglichst evidenzbasierte medizinische Informationen an den Patienten gibt. Im Kundenmodell gilt der Arzt als Dienstleister, während der Patient persönliche Informationen an den Arzt übermittelt und, wenn er dies einfordert, medizinische Informationen vom Arzt erhält. Die diskutierten Typisierungen und Modelle ermöglichen einen differenzierten Blick auf die Beziehungen und Interaktionsformen von Ärztinnen und Ärzten auf der einen sowie Patientinnen und Patienten auf der anderen Seite. In diesen Typisierungen werden zentrale Strukturmerkmale der Beziehung und Kommunikation herausgearbeitet. Diese werden in meiner Untersuchung als eine Vergleichsfolie für die Analyse der Selbstkonzepte, Handlungsmuster und Deutungsschemata der Ärztinnen und Ärzte sowie der Paare im Verlauf der Kinderwunschtherapie genutzt. Dabei werden die verschiedenen Modelle als Beschreibung der Strukturen eines Spektrums möglicher Arzt-Patienten-Beziehungen betrachtet, die maßgeblich von der Organisation (s.u. Kap. 3.3) und den Erwartungen und Zuschreibungen an die Ärztinnen und Ärzte als Professionelle (s.o. Kap. 3.1) geprägt sind. Gleichzeitig fassen vor allem diese beiden neueren Entwürfe zentrale Themen und Thesen einer Debatte zusammen, die auch in medizinischen Zeitschriften aufgegriffen werden und somit einen Deutungshorizont für Ärztinnen und Ärzte bereitstellen.
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ENTSCHEIDUNG
AUFGABEN DES ARZTES
PATIENTENWERTE
INFORMATIONSINHALTE
INFORMATION S-AUSTAUSCH
ARZTROLLE
PATIENTENAUTONOMIE
Tabelle 3
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Typen der Arzt-Patienten-Beziehung
PATERNALISMUS
DELIBERATIVES ODER ABWÄGENDES MODELL Patientenzentierung, Shared Decision Making
INTERPRETATIVES MODELL
VERTRAGSMODELL Informed Choice und Kundenmodell
Auf Einwilligung in ‚objektive Werte‘ beschränkt
Moralische Selbstentwicklung wichtig für medizinische Versorgung
Selbstverständnis für medizinische Versorgung wichtig
Beide Modelle Wahl von und Kontrolle über medizinische Versorgung
Hüter und Beschützer
Partner, Freund und Lehrer
Berater und Anwalt
Informed Choice Kompetenter technischer Experte
Arzt Patient
Kundenmodell Dienstleister Informed Choice Arzt Patient
Zwei/mehrseitig Arzt, Patient und weiterer Kontext
Kundenmodell Patient Arzt (Arzt Patient, auf Wunsch) Informed Choice (evidenzbasiert) medizinisch
medizinische Fakten rechtlicher Minimalstandard objektive Diagnose (disease)
Medizinisch und persönlich objektive Diagnose (disease) subjektives Erleben und Verstehen (illness)
Objektiv und geteilt von Arzt und Patient
Veränderbar durch moralische Diskussion
Rudimentär und widersprüchlich, Erläuterungen notwendig
Wohl des Patienten unabhängig von den aktuellen Präferenzen des Patienten
Verfolgen der Patientenwerte Information der Patienten Anwendung der vom Patienten ausgewählten Behandlung
Zurverfügungstellen aller relevanten Informationen Beratung und Interpretation dieser Informationen Umsetzung der vom Patienten gewählten Intervention
Verantwortung beim Arzt
Verantwortung bei Arzt und Patient
Kundenmodell Persönlich (medizinisch auf Wunsch) Beide Modelle Definiert und feststehend, dem Patienten bekannt
Beide Modelle Zurverfügungstellen aller relevanten Fakten Anwendung der vom Patienten ausgewählten Behandlung Beide Modelle Verantwortung beim Patient
Zusammengeführt nach Emanuel und Emanuel 1992, Krones und Richter 2006.
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3.3 T ECHNIKEN
IN DER MEDIZINISCHEN
P RAXIS
Eine deterministische Auffassung von Technik 1 war in der Soziologie bis in die 1980er Jahre hinein dominant und ging von einem Dualismus von Technik und Gesellschaft aus. Technische Entwicklung und technischer Wandel wird als technikimmanent und relativ autonom gesehen. Entsprechend betonen technikdeterministische medizinsoziologische Studien, dass medizinische Techniken das soziale Verhalten determiniert. Dabei geht es in diesen Studien nicht um eine Analyse der Technologien, sondern um eine Kritik an einem medikalisierttechnisierten Zugriff auf Patientinnen und Patienten sowie die Medikalisierung die Lebenswelt. Dies spiegelt sich auch in der Gegenstandwahl dieser Studien wider: Sie beschäftigen sich häufig exklusiv mit innovativen und kontroversen Technologien und nicht mit eingeführten und lang angewandten Techniken wie Blutabnahmen oder Narkose (vgl. Timmermans und Berg 2003: 99). Kritisiert wurde der technische Determinismus vor allem als empirisch wenig haltbar: Es konnte gezeigt werden, dass technologischer Wandel sowohl von technischen als auch von sozialen Faktoren beeinflusst wird und sein Verlauf höchst kontextabhängig ist (vgl. Schulz-Schaeffer 2000: 23). Die reduktionistische, beschränkte Auffassung von Technik führte zu einer wenig fundierten soziologischen Kritik der Medikalisierung: Unfortunately the, often appropriate, critical reflections lose all convincing power because a closer empirical look at the medical technologies indicates that technological determinism is fuelled by a suspicious blend of case selection and conspiracy theories. Medical technologies, for example, are seen to extend the apparently clearcut interests of some groups. How exactly these interests enter into the technology, and how their operation then linearly exerts these effects, is more often than not left out of the discussion. Ultimately, such analyses result in a big roar and much black smoke but little analytical movement (Timmermans und Berg 2003: 101).
1
Die Verwendung der Begriffe Technik und Technologien ist in der deutschsprachigen Debatte wenig eindeutig. Ich verwenden in der Regel Technik zur Bezeichnung von Artefakten, Instrumenten und Mitteln und Technologien zur Beschreibung von Verfahren in denen Techniken genutzt werden, passe diesen Sprachgebrauch aber auch üblichen Verwendungen zum Beispiel bei aus dem englischen übernommenen Begriffen an. Soziologisch lässt sich des Weiteren unterscheiden zwischen Techniken im engeren Sinne, wie sie in diesem Kapitel diskutiert werden, und Techniken im weiteren Sinne, die Handlungstechniken miteinschließen.
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Den Gegenentwurf in der soziologischen Konzeptionalisierung von Technik bildet der soziale Esssenzialismus. Das Hauptcharakteristikum dieser Perspektive ist, dass Technologie als passiv angesehen wird und einer sinnhaften kulturellen Interpretation bedarf. Auch hier steht nicht die Analyse von medizinischen Technologien selbst im Zentrum, untersucht werden vielmehr Krankheitserzählungen, Versorgung und Heilung oder die Krankenrolle. Wenn aus dieser Perspektive der Einfluss von Technik auf Interaktionen analysiert wird, wird der Technik die Rolle Katalysatoren oder Werkzeugen zugeschrieben (vgl. ebd.). Die neueren Ansätze, die Timmermans und Berg auch für die Medizinsoziologie unter dem Schlagwort technology in practice fassen, übertragen Überlegungen des interdisziplinären Ansatzes der Science and Technology Studies auf den medizinischen Bereich und betonen die reziproke Dynamik zwischen Techniken und Gesellschaft. Technik wird in diesen Ansätzen als eine spezifische Form des Sozialen konzipiert. Für eine soziologische Analyse ist dieser Ansatz vor allem fruchtbar zu machen, wenn nämlich die Aktivitäten auf aktuelle Vollzüge und gespeicherte Abläufe, auf menschliche Akteure und technische Programme, z.B. in informatisierten Arbeits- und Kommunikationswelten, oder auf individuelle, kollektive und technische Akteure, z.B. in großtechnischen Verkehrs- und Versorgungssystemen […], verteilt sind (Rammert 2002: 6).
Diese Ansätze wenden sich gegen essentialistische oder deterministische Analysen von technischen und wissenschaftlichen Innovationen und versuchen eine dualistische Konzeption von Gesellschaft und Technik bzw. Gesellschaft und Natur zu umgehen. Wissenschafts- und Technikentwicklung ist demnach weder allein durch natürliche oder technische Faktoren noch ausschließlich durch soziale Faktoren verursacht. Zu einer Gewichtung dieser Faktoren in spezifischen Entwicklungen kann erst eine rekonstruktive Analyse gelangen. Technik kann in diesem Sinne Soziales strukturieren, aber was und wie sie dies tut, bleibt eine offene empirische Frage. Gemeinsam ist der Verwendung dieser Ansätze in der Medizinsoziologie so auch, dass sie einzelne medizinische Technologien ethnographisch oder historisch in der Praxis ihrer technischen Entwicklung oder der Verwendung lokalisieren: Technologie wird „in der Praxis“ – im Entstehen und im Einsatz – untersucht. So sind Techniken für die Medizinsoziologie nicht mehr nur bezüglich der Entstehung und Durchsetzung technischer Innovation oder als Instrument der Medikalisierung von Interesse. Vielmehr können nun die reflexiven Beziehungen zwischen Technologien und der Organisation in der medizinischen Praxis in den Blick genommen sowie untersucht werden, wie Technolo-
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gien und Artefakte in der Interaktion von Ärztinnen und Ärzten, Patientinnen und Patienten sowie anderem medizinischen Personal genutzt werden und wie Technik den medizinischen Alltag prägt. Denn erst durch die Interaktion wird medizinische Technik relevant gemacht: It is in and through social interaction that technology in medicine gains its sense and significance and that tools and artefacts, be they complex monitoring equipment or paper documents, come to be used and articulated in routine practice and practical circumstances (Heath u.a. 2003: 92).
Neben Medikamenten, technischen Geräten und medizinischen Verfahren nehmen Techniken, die die Behandlungsroutine organisieren, in der sozialen Interaktion im Behandlungsverlauf einen besonderen Stellenwert ein. Die Perspektive einer Technologien in der Praxis eröffnet den Blick darauf, wie diese Sachtechniken den medizinischen Alltag strukturieren und welche Rolle sie in Medikalisierungsprozessen spielen. Das Geschehen im Krankenhaus ist von Verwaltungsroutinen geprägt: Aus Sicht der Organisation werden Verfahren benötigt, die die Patientenindividualitäten administrativ zusammenfassen und Arbeitsroutinen ermöglichen. Der Patient durchläuft „administrativ schematisierte Bahnen“ (Freidson 1979: 260), der Umgang mit Krankheit geschieht häufig aufgrund eines normativen Zeitplans, und es gibt bestimmte Vorstellungen darüber, wie lang bestimmte Schritte dauern dürfen, ganz unabhängig von den individuellen Gegebenheiten. Ähnlich beschreibt die Krankheitsverlaufskurvenforschung, dass die Arbeit des Personals an der Verlaufskurve vor allem unter dem Aspekt des Arbeitsaufwandes und der Compliance der Patientinnen und Patienten betrachtet wird (s.o. Kap. 2.3). Marc Berg hat die Bedeutung von Organisationstechniken für den medizinischen Alltag herausgearbeitet und die Verwendung von Krankenakten, Protokollen, Checklisten und Behandlungsplänen untersucht. Die Krankenakte ist für Berg die zentrale Organisationstechnik in der medizinischen Praxis. In einem mit Geoffrey Bowker zusammen verfassten Aufsatz definiert Berg den zugrunde liegenden Aktenbegriff sehr breit: as all written, typed, or electronically stored traces of any aspect of patient treatment that has official status within the hospital system and is in principle stored for a period of time (at least equal to the patient’s stay in the hospital (Berg und Bowker 1997: 515).
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Die breit definierte Krankenakte ist nicht nur zentral für das Verständnis der medizinischen Praxis, sondern spielt nach Berg eine aktive und konstitutive Rolle für die medizinische Praxis. Die Patientenakte stellt sich als selbständige Kraft dar, welche jene Beziehungszusammenhänge stiftet, die sich alleine durch sie hindurch vollziehen und ihre Funktionsweise entfalten […]. Von der „sozialen Interaktion“ allein kann nicht behauptet werden, dass sie die Bedeutung der Patientenakte konstituiert, da die Akte ein notwendiger Bestandteil dieser Interaktion ist: die „soziale Interaktion“ wird durch sie transformiert. Doch dies heißt nicht, dass die Patientenakte die Arbeitsprozesse bestimmt: die formalen Anforderungen von Patientenakten sind zum Beispiel kontinuierlich den kontingenten Erfordernissen der aktuellen Aufgabe untergeordnet (Berg 2008: 64).
Mit explizitem Bezug auf die Arbeiten von Strauss und anderen beschreiben Berg und Bowker (1997: 523), dass die Krankenakte zunächst den Krankheitsverlauf und die Organisation der Arbeit an der Verlaufskurve nachvollzieht. Krankenakte und organisatorischer Kontext stehen dabei in einem wechselseitigen Prozess: Auf der einen Seite ist die Akte in einen spezifischen Kontext eingebunden, zum anderen trägt sie aber auch zur Strukturierung dieses Kontextes einschließlich seiner Geschichte bei (vgl. ebd.: 524). Techniken, die den medizinischen Alltag organisieren, dienen dabei nach Berg drei unterschiedlichen Zielen: der Strukturierung von Inhalten, der Strukturierung variabler Arbeitsabläufe und Beziehungen zwischen den unterschiedlichen Akteuren sowie der Transformation des Problems der Patientinnen und Patienten in ein für die Ärztinnen und Ärzte lösbares Problem. Der Inhalt der Akte wird durch ihre formale Anlage sowie die genutzten Vordrucke und Formulare geordnet. In ihr sind verschiedene Formen der organisatorischen Sachtechniken und Datenpräsentationen versammelt: Grafiken und Tabellen mit Messergebnissen, ausgefüllte Formulare, aber auch offenere, in der Regel vom Arzt verfasste Protokolle der Konsultationen und Ereignisse. Die Akte ermöglicht, dass der interaktive Ad-hoc-Charakter der medizinischen Arbeit – eingeschlossen die Art und Weise, in der sie selbst diese Arbeit lenkt – aus dem Blickfeld verschwindet. Statt die komplexen und heterogenen Prozesse, die die Krankengeschichte des Patienten formen, zu „spiegeln“, produzieren die Praktiken des Lesens und Schreibens ein bereinigtes, dekontextualisiertes, „lehrbuchartiges“ Bild dessen, „was stattgefunden hat“ (Berg 2008: 80).
Diese rationale Lehrbucherzählungen finden dabei nicht nur in der Krankenhauspraxis Verwendung: Die Krankenakte liefert Daten für Forschungsprojekte, In-
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formationen für das Krankenhausmanagement, Krankenkassen und die Gesundheitspolitik. All diese Parteien beanspruchen, dass die Krankenakte die Informationen enthält, die sie benötigen (ebd.: 522). Neben den Inhalten strukturiert die Krankenakte Arbeitsprozesse und Arbeitsbeziehungen sowie die Prozesse und ausgedehnten Wege der Krankenhausorganisation und -interaktionen. Die Akte ermöglicht die Organisation komplexer Behandlungsverläufe, „indem [Akten] als kollektiver Wissensspeicher dienen und die scripts zur wechselseitigen Handlungsabstimmung beinhalten“ (Schubert 2006: 105). Die Akte enthält Arbeitsanweisungen für Krankenschwestern, Sekretariate und Labore sowie indirekt die Patientinnen und Patienten und stellt den Arzt oder die Ärztin als zentralen Akteur her: Die Hierarchie in den Arbeitsbeziehungen spiegelt sich auch darin wider, wer für welche Art von Eintragungen in der Akte zuständig ist: So sind für Krankenschwestern, hinzugezogene Labore und Spezialisten und Ärzte unterschiedliche Abschnitte und Formen der Aktenführung vorgesehen: Krankenschwestern und Labore füllen vorformatierte Abschnitte aus, während es Ärztinnen und Ärzten vorbehalten bleibt, frei zu formulieren (vgl. Baecker 2008: 45). Die formalen Prozeduren werden, wie Berg betont, „ständig ‚umgearbeitet‘, um mit den Situationsanforderungen umgehen zu können“ (Berg 2008: 77). Die formellen Anforderungen der Krankenakte werden den kontingenten tatsächlichen Anforderungen der medizinischen Praxis kontinuierlich untergeordnet (vgl. Berg 1996: 501). Das Führen der Akte determiniert nicht allein die Interaktionen. Ein solcher Blick auf die Akte ermöglicht es, die Abhängigkeit formeller und informeller Arbeitsorganisation zu thematisieren: Artefakte als Teil der Praktiken zu sehen, ermöglicht die Untersuchung der wechselseitigen Bedingungszusammenhänge zwischen Akteuren und Artefakten. Die Akten sind zugleich Ursache und Auswirkung ärztlichen Handelns (Schubert 2006: 105).
Ärztinnen und Ärzte schaffen durch Routinen „einen Bedeutungs- und Bezugsrahmen, in dem die Diagnose in eine von ihnen gewünschte und bearbeitbare Richtung gelenkt wird“ (Schubert 2006: 104). Technische Artefakte sind integraler Bestandteil dieser Routinen. Gemeinsam ist diesen Techniken, dass „each of them is a formal tool that uses a process of mechanized inference (a formula or a set of rules) to convert input into output“ (Berg 1997: 9). Die Schreibarbeit in der Akte ist dabei für Berg der ausschlagende Faktor in dem Transformationenprozess von input zu output:
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In seiner Transformation von multiplen Informationsquellen in einige zusammenfassende Sätze gewinnt der Arzt die Möglichkeit, den Patienten aus dem Strom von tagtäglichen Ereignissen „heraus-“‚ und in die temporäre und anatomische Ordnung – sagen wir, dessen was man die Lebenszeit einer Krankheit nenne könnte – „hineinzuziehen“ (Berg 2008: 69).
In diesem Prozess der Transformation eines Patientenproblems in ein medizinisch handhabbares Problem werden Inhalte nicht nur strukturiert, sondern Komplexitäten reduziert, Irrelevantes aussortiert sowie Informationen selektiert und ignoriert. Dabei folgt die medizinische Praxis von der Aufnahme des Befunds bis zur Durchführung der Therapie mehr oder minder formalisierten Skripten, in denen festgehalten ist, wie man die selektive Aufmerksamkeit auf bestimmte Aspekte des Körpers richten kann, ohne dabei Gefahr zu laufen, dem Körper und der Person des Patienten zu nahe zu kommen, geschweige denn, sich in den Unwägbarkeiten des Lebenswandels und der ambivalenten Selbstdiagnose der Patienten zu verlieren (Baecker 2008: 44).
Die „formalisierten Skripte“, oder mit Freidson „administrativ schematisierten Bahnen“, dienen also nicht nur der Organisation der Behandlungspraxis, sondern sorgen, als Instrument der Exklusion von nichtmedizinischen Sachverhalten, für die notwendige entpersonalisierte Grundlage dieser Abläufe. In der bisherigen Auseinandersetzung um die Reproduktionsmedizin ist ein technikdeterministisches Verständnis vorherrschend, das der Reproduktionsmedizin als Technik eine Dominanz zuspricht. Dieses Technikverständnis wird häufig nicht explizit gemacht und konzentriert sich auf die Rolle der strittigen Hochtechnologien im Medikalisierungsprozess. Aus der diskutierten Forschungsperspektive einer technology in practice lässt sich nun ergebnisoffener fragen, welche Techniken welche Bedeutung für die Herstellung medizinischer Zuständigkeit für den unerfüllten Kinderwunsch haben, wie die „administrativ schematisierten Bahnen“ oder „formalisierten Skripte“ der Kinderwunschtherapie aussehen, wie sie Paare als Patientinnen und Patienten in die Behandlung integrieren und wie und mit welchen technischen Mitteln der lebensweltlich-biographische Wunsch nach einem Kind in ein medizinisch behandelbares Problem transformiert wird.
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3.4 K ÖRPER , L EIB
UND
M EDIZIN
In der Soziologie werden Körper aus einer Vielzahl verschiedener Theorieperspektiven betrachtet: mit Norbert Elias als Produkt und Ausdruck des Zivilisationsprozesses, mit Michel Foucault als durch medizinische Diskurse hervorgebrachter Machteffekt, mit Pierre Bourdieu als Kapital und Distinktionsmittel, mit Erving Goffman als Ressource der interaktiven Darstellungsleistungen oder phänomenologisch in der Tradition Maurice Merleau-Pontys oder Helmuth Plessners als gelebte und gespürte Erfahrung.2 Für die soziologische Untersuchung von Krankheit und Gesundheit wurden bisher vor allem zwei dieser Perspektiven genutzt: Zum einen wurden im Anschluss an Foucault medizinisches Wissen und Diskurse über den Körper untersucht (vgl. Armstrong 1983, 1995), sowie in den letzten Jahren vermehrt auch mit dem Konzept der Gouvernementalität (vgl. Foucault 2004a, 2004b) das Verhältnis von Herrschaftstechniken und Formen der Selbstführung in den Blick genommen (bspw. Kollek und Lemke 2008, Lupton 1997). Zum anderen wird die Analyse der klassenspezifischen Prägung von Körperpraktiken von Pierre Bourdieu aufgegriffen und Gesundheit als eine Form verkörperten Kapitals im Kontext von sozialer Ungleichheit und Lebensstil diskutiert (z.B. Turner 1992, Williams 2003: 30–33). Auch wenn der Umfang an soziologischer Literatur in den letzten zwei Jahrzehnten zunehmend wächst,3 bleibt die Bestimmung des Körpers unsystematisch: „Ansätze zu einer vom Körper ausgehenden Theorie des Sozialen liegen bislang nur vereinzelt vor“ (Gugutzer 2006: 11). Empirische körpersoziologische Untersuchungen und entsprechende Konzeptionalisierungen des Körpers liegen nur vereinzelt vor. Wie Menschen mit ihrem Körper umgehen und ihn erfahren, ist weder natürlich gegeben noch zufällig, sondern vom historisch und gesellschaftlich spezifischen Kontext geprägt. Es wandelt sich das Wissen über den Körper, die Umgangsweise mit ihm und damit zusammenhängend auch die leibliche Erfahrung. Statt eine natürliche, objektive oder authentische Körperlichkeit voraussetzen, ist in soziologischer Perspektive auch zu fragen, wie Körper in und als soziale Verhältnisse gesetzt werden.
2
Auf welche Werke der jeweiligen klassischen Autoren in der Körpersoziologie Bezug genommen wird, ist ja nach Erkenntnisinteresse unterschiedlich. Einen guten Überblick gibt Gugutzer 2004. Exemplarisch seien hier genannt: Elias 1997a, b; Foucault 1997, Bourdieu 1998, Goffman 1983, Merleau-Ponty 1966 und Plessner 1975.
3
Vgl. Jäger 2004, Gugutzer 2004, Gugutzer 2002, Shilling 1993, Turner 1996, Villa 2000, Williams 2003.
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Körper mit Geschichte Die Entstehung des modernen Körpers steht in engem Zusammenhang mit der Etablierung der Medizin als Profession, wenn er auch nicht in ihr aufgeht. Wissenschaftliche Disziplinen wie Psychologie, Psychiatrie, Medizin, Pädagogik oder Demographie tragen mit Foucault in der Moderne entscheidend dazu bei, spezifisches Wissen über den Körper zur produzieren, den modernen Körper erst hervorzubringen: Das meint, dass es körperliche Phänomene wie Aids oder Krebs, das Immunsystem, kindliche Sexualität, Hirntod oder sexuelle Perversion in einem sozialen Sinne erst gibt, nachdem Medizin und Psychiatrie das Wissen von diesen Phänomenen entwickelt und es sprachlich benannt haben (Gugutzer 2004: 76).
In Die Geburt der Klinik (1999 [1963]) prägt Michel Foucault den Begriff des „klinischen Blicks“ um die neue und immer wirkmächtigere medizinische Konzeptualisierung des Körpers zu fassen, die den Körper des Patienten von seiner Person trennt. Mit Foucault wird der neue Umgang mit dem Körper als Selbstregulierung oder Anwendung von Selbsttechnik oder Selbsttechnologie beschrieben. Die Technologien des Selbst „gehören zu einer Reihe von Strategien, in denen sich das Individuum seiner eigenen Souveränität versichert“ (Ruoff 2007: 205). Selbsttechniken sind Praktiken, die es dem Einzelnen ermöglichen, aus eigener Kraft oder mit Hilfe anderer eine Reihe von Operationen an seinem Körper oder an seiner Seele, seinem Denken, seinem Verhalten und seiner Existenzweise vorzunehmen, mit dem Ziel, sich so zu verändern, dass er einen gewissen Zustand des Glücks, der Reinheit, der Weisheit, der Vollkommenheit oder der Unsterblichkeit erlangt (Foucault 1993: 26).
Somatische Techniken sind Techniken der Selbstführung – „Weisen des SichVerhaltens in einem mehr oder weniger offenen Feld von Möglichkeiten“ (Foucault 1994: 255) –, die auf den Körper zielen. Die Fremdführung als „Tätigkeit des ‚Anführens‘ anderer (vermöge mehr oder weniger strikter Zwangsmaßnahmen)“ (ebd.) eröffnet einen gewissen, bereits konfigurierten Möglichkeitsrahmen, der bestimmte Handlungen und somatische Selbsttechniken nahe legt, aber gleichzeitig die konkrete Ausgestaltung und Entscheidung den Einzelnen überlässt. Gleichzeig können und müssen sich die Einzelnen „sich selbst zu einem Feld von vorgegebenen Möglichkeiten reflexiv […] verhalten“ (Hark 1999:
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48). Diese neue Qualität des Herrschens benötigt weniger Verbote und externe Zwänge, sie setzt stattdessen auf die Selbstregierung der Menschen im Modus rationaler Auswahl zwischen Alternativen […]. Wirkmächtige Diskurse – etwa der ökonomische Optimierungsimperativ – lassen dabei einige Alternativen rationaler als andere erscheinen und so wird aus der Verfügbarkeit ein Einfallstor für die Selbstbeherrschung aus freien Stücken (Villa 2008b: 255).
Jede selbstermächtigende Körperpraxis – Villa führt als Beispiel die Forderungen und Politiken der Neuen Frauenbewegung an – ist immer auch eine Unterwerfung unter soziale Normen. Die Beherrschung des Selbst durch die bewusste Manipulation des Körpers im Dienste hegemonialer Normen ist also die eine Seite der Medaille, deren andere Seite die Selbstermächtigung durch die Verfügbarkeit des eigenen Körpers (ebd.).
Diskurse sind bei Foucault nicht auf sprachliche Aussagen zu reduzieren, sondern diskursive Praktiken, die den Körper als Gegenstand erst hervorbringen (vgl. Gugutzer 2004: 74f.). Dennoch ist der Foucault’sche Ansatz für eine soziologische Analyse der Bedeutung des Körpers in konkreten Handlungssituationen nur begrenzt geeignet, da der Körper Objekt und seine Bedeutung für soziales Handeln unbestimmt bleibt. Mit Bourdieu lässt sich argumentieren, dass Körper als eine Art „Gedächtnisstütze“ fungieren, die die praktische Aufrechterhaltung der sozialen Ordnung erst ermöglichen. Der Habitus als „strukturierte strukturierende Struktur“ des Sozialen ist bei Bourdieu nicht nur ein kognitives Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsschema, sondern hat auch eine körperliche Dimension oder einen „praktischen Sinn“. Die soziale Welt existiert „sozusagen zweimal, in den Sachen und in den Köpfen, in den Feldern und in dem Habitus, innerhalb und außerhalb der Akteure“ (Bourdieu und Wacquant 1996: 161). Dieser Ausgangspunkt verweist auf zwei zentrale Aspekte für die soziologische Beschäftigung mit dem Körper: Zum einen ist nicht nur der Habitus, sondern mit ihm auch der Körper klassenspezifisch geprägt – im Raum der sozialen Positionen und im Raum der Lebensstile jeweils spezifisch verortet. Zum anderen haben diese Körper eine kollektive und individuelle Geschichte. Die körperliche Einprägung dieser sozialen Klassifikationen bewirkt, so Bourdieu, dass diese „wie unauslöschliche Tätowierungen eingebrannten Dispositionen“ (Bourdieu 1997a: 181) – scheinbar, aber dennoch wirksam – in Naturgegebenheiten verwandelt werden. Diese durch Sozialisation erreichte Kollektivierung des biologischen Individu-
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ums bringt nach Bourdieu jedoch „nicht alle anthropologischen Eigenschaften zum Verschwinden, die mit dem biologischen Träger verbunden sind“ (ebd.: 201). So ist der Körper mit Bourdieu im Spannungsfeld von „Vergesellschaftung des Biologischen“ und „Biologisierung des Gesellschaftlichen“ zu verorten (vgl. Bourdieu 1997b). Die relative Stabilität sozialer Strukturen und Ungleichheiten erklärt Bourdieu mit einer relativen „Trägheit“ des Habitus, da in ihm nicht nur die individuelle Geschichte wirkt: Als Produkt der Geschichte produziert der Habitus individuelle und kollektive Praktiken, also Geschichte, nach den von der Geschichte erzeugten Schemata; er gewährleistet die aktive Präsenz früherer Erfahrung (Bourdieu 1993: 101).
Während Bourdieu in den Vordergrund stellt, dass sich Habitus und Körper eher langsam wandeln – und dies auch die Veränderungs- und Investitionsmöglichkeiten in und Konvertierungsmöglichkeiten von inkorporierten Kapitelformen beschränkt, wird in der aktuelleren Diskussion betont, dass der Körper immer mehr zum „reflexiven Projekt“ (Giddens 1991: 56f.) wird (s.o. Kap. 1.1): Investitionen in das Körperkapital […] sind augenscheinlich deshalb so lohnenswert, weil sich persönliche und soziale Gewinne individuell herstellen lassen sowie spür- und sichtbar verbucht werden können (Gugutzer 2004: 68).
Diese Beobachtung findet in der Beschreibung von Gesundheit als Instrument oder Kapital ihre Parallele. Leib sein und Körper haben: phänomenologische Perspektiven Ausgangspunkt der phänomenologischen Betrachtungsweise von Körper und Leib ist die philosophische Anthropologie Helmuth Plessners (1975). Mit Plessner lässt sich „die ontologische Frage, was der Körper ist, in die anthropologische Frage übersetzen, in welchem Verhältnis der Mensch zu seinem Körper steht“ (Gugutzer 2004: 146). Leibliche Empfindungen sind als Effekte von Naturalisierungsprozessen gedacht, verfügen jedoch gleichzeitig über eine eigene Logik und sind damit nicht angemessen mit der bloßen Rekonstruktion ihrer sozialen Konstruktion zu erfassen. In der Körpersoziologie wird die phänomenologische Perspektive häufig auf die Formel gebracht: Der Mensch ist sein Leib, und er hat seinen Körper. Plessner unterscheidet Körpersein und Körperhaben an ihrer jeweiligen Positionalität – der wechselseitigen Beziehung von lebenden Or-
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ganismen und ihrer Umwelt. Zentrische Positionalität bezeichnet das leibliche Selbst, das durch die Sinne unmittelbar auf die Umwelt bezogen ist, das Selbst bildet die positionale Mitte. Schmerzgefühle sind beispielhaft zu nennen. Exzentrische Positionalität fasst die Vermitteltheit des menschlichen Umwelt- und Körperbezugs. Das leibliche Selbst wird nicht unmittelbar, wie in der zentrischen Positionalität, sondern die sinnliche Wahrnehmung relativ zur Umwelt wahrgenommen. Das ‚geregelte Aufeinandereinspielen‘ bzw. der kohärente Zusammenhang von Leib und Körper bedarf in der exzentrischen Positionalität einer haltgebenden kulturellen Form, d.h. der Leib kommt erstens künstlich, d.h. durch die Kultur, zu einer spontanen Umweltbeziehung und es gibt zweitens vermittels der Kultur ein künstliches, d.h. ein vermitteltes, unmittelbareres Erleben des eigenen Leibes (Lindemann 1993: 516).
Aus dieser phänomenologischen Sicht fasst Leib die Dimension des Binnenerlebens, des subjektiven Fühlens und des Spürens, und Körper – das Objekt – die soziale Prägung und Vermitteltheit des Leibes: Der Mensch ist Leib, d.h. er geht in der Umweltbeziehung auf, er bildet ein nichtrelativierbares Hier-Jetzt. Und insofern er aus dieser Umweltbeziehung herausgesetzt ist, realisiert er, daß er einen Körper hat, der sich an einer nur relativ bestimmbaren Raum-ZeitStelle befindet (Lindemann 2001: 77).
Die menschliche Leib-Umwelt-Beziehung ist immer kulturell gebrochen, „das Spüren des eigenen Leibes ist durch den Körper strukturiert“ (Lindemann 1993: 516). Der Leib bildet eine „strukturierte Materie“, die in zweifacher Weise in Bedeutungsrelationen integriert werden kann: zum einen als ein Verweis leiblicher Phänomene auf sich selbst und zum anderen als ein Verweis leiblicher Phänomene auf den Körper (vgl. Lindemann 2001: 80). Ersteres ist wesentlich zeitlich strukturiert, beispielsweise kann ein Verhärten der Muskeln als Beginn eines Krampfes gedeutet werden. Die zweite Bedeutungsrelation untersucht Lindemann am Beispiel der Gebärmutter. Sie beschreibt, wie sich die Vorstellung von der Gebärmutter als „wandernde Nomadin im Körper“ zu einer Vorstellung von der Gebärmutter, die ‚sesshaft‘ an einer bestimmten Körperstelle ist, wandelt. Erklären kann man eine derartige Modifikation der Wahrnehmung des Leibes nach Lindemann dadurch, dass Körper und Leib in einem Bedeutungsverhältnis zueinander stehen. Die Bedeutungsrelation von Körper und Leib muss in beide Richtungen funktionieren:
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Der Körper wird zum Bedeutungsträger, der anzeigt, wie der Leib einer Person gespürt wird. Einen weiblichen Körper zu haben, bedeutet einer Person, als einen Bestandteil ihres körperlichen Leibes eine fixierte Leibesinsel „Gebärmutter“ zu spüren bzw. spüren zu können. Insofern es sich um Körper und Leib einer Person handelt, erhält der Körper im Verhältnis zum Leib eine normierende Funktion. Der Körper, den ich habe, bedeutet die Form des körperlichen Leibes, und er bedeutet dem körperlichen Leib, welche Form er haben soll. Mein Körper, verstanden als mein Wissen über seine visuelle Gestalt, vermittelt zwischen mir und meinem Leib (ebd.: 82).
Die Annahme der Verschränkung von Körper und Leib hat zwei Konsequenzen für empirische Forschung und Analyse (vgl. Lindemann 2001: 82f.): Einerseits kann nun nicht mehr davon ausgegangen werden, dass der Leib ausschließlich durch Diskurse geformt ist und nur die Macht und Formen dieser Diskurse zu untersuchen sind. Andererseits kann es gleichzeitig auch keinen unmittelbaren Zugang zum Leib geben. So kann es auch für Lindemann nicht Aufgabe der Soziologie sein, universelle Leiberfahrungen zu ermitteln; ihr Erkenntnisinteresse richtet sich vielmehr auf die Rekonstruktion der diese strukturierenden Konfigurationen. Der Körper bildet für den Leib ein Empfindungs- und Verhaltensprogramm, durch das der Leib seine konkrete Gestalt erhält. Reflexive Körpertechniken Nick Crossley definiert in seiner empirischen Untersuchung von Umgangsweisen mit dem Körper Reflexive Verkörperung in Anschluss an Marcel Mauss als techniques of the body, performed by the body and involving a form of knowledge and understanding that consists entirely in embodied competence, below the threshold of language and consciousness; but they are equally techniques for the body, techniques that modify and maintain the body in a particular way (Crossley 2005: 10).
In dieser Konzeption sind also soziale, körperliche und kognitive Elemente des Umgangs mit dem Körper berücksichtigt (vgl. Crossley 2006: 102–104). Entscheidend ist für Crossleys Definition der reflexiven Körpertechniken demgegenüber, dass ihre Anwendung mit einer Zielsetzung verbunden ist: „RBTs [reflexive body techniques, cu], […] are those body techniques whose primary purpose is to work back upon the body so as to modify, maintain or thematize it in some ways” (ebd.: 104).
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Crossley geht es in seiner Studie um Praktiken einer bewussten, zweckgerichteten Einwirkung auf den eigenen Körper: Als Beispiel führt er an, dass Joggen – mit dem Ziel, fit zu bleiben oder abzunehmen – eine Reflexive Körpertechnik ist, wohingegen einem Bus hinterherzulaufen, auch bei gleicher Pulsfrequenz und über eine ähnliche lange Strecke, nicht darunter falle. In diese Körpertechniken kann dabei auch mehr als eine Person involviert sein: wie zum Beispiel beim Haareschneiden, bei Massagen oder kosmetischer Chirurgie. Crossleys Körperbegriff geht konzeptionell über den eines Objektes hinaus: Bodies are not simply passive objects that we manipulate and project meanings on to, however. Our bodies can resist the meanings we attempt to impose upon them, as when illness reveals a vulnerability I was not previously aware of and falsifies my claim to be „fine“, or grey hairs and aches and pains call my youthful self-image into questions (Crossley 2006: 3).
Crossley kartiert in seiner empirischen Untersuchung von alltäglichen Umgangsweisen mit dem Körper verschiedene Regionen der reflexiven Verkörperung, für deren Analyse jeweils unterschiedliche Theoriezugänge fruchtbar gemacht werden können. So geht er davon aus, dass die Körperpraktiken eines durchschnittlichen sozialen Akteurs nicht hauptsächlich aus der Anwendung und Ausführung von Selbstführung im Foucault’schen Sinne bestehen, sondern allein deshalb komplexer sind, weil Selbstbeobachtung blinde Flecken hat (ebd. 75). Diese blinden Flecken können punktuell und in Einzelfällen erhellt werden – zum Beispiel durch die regelmäßige Nutzung von Körperwaagen. Doch sind die meisten sozialen Akteure nicht in dem häufig diskutierten Maße „sich selbst kontrollierende und körper-obsessive Narzissten“ (ebd.: 76, meine Übersetzung). Des Weiteren tendiert reflexive Verkörperung nach Crossley häufig dazu, eher einen episodischen als einen dauerhaften Charakter zu haben. Akteure formen ihren Körper sowohl in intendierter, als auch in nichtintendierter Art und Weise, über die sie vielleicht nicht glücklich sind, wenn sie sich ihrer bewusst werden. Die soziale Bedeutung der Anwendung von Körpertechnologien kann dabei sehr unterschiedlich sein: So können technische Innovationen wie Tätowierungen oder Schönheitsoperationen dazu genutzt werden, ein neues Kapitel in der Lebenserzählung aufzuschlagen, während andere Techniken eher den Charakter von Routinen haben und den Alltag strukturieren. In jeder Gesellschaft gibt es ein Repertoire an verbreiteten reflexiven Körpertechniken, und ein Großteil der täglichen Beschäftigung besteht aus reflexiven Körpertechniken wie Duschen, Zähneputzen oder Rasieren (vgl. ebd.: 105). Neben den Routinen gibt es periodische Projekte wie Piercings, Tätowierung oder Schönheitschirurgie.
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In seiner quantitativen Studie hat Crossley 300 Personen sowohl darüber befragt, welche reflexive Körpertechnik sie in einem bestimmten Zeitraum angewandt haben, als auch, ob und wo sie sich in den Medien über Körpertechniken informieren. In der Analyse hat er verschiedene Bereiche nach Häufigkeit und statistischen Zusammenhängen differenziert: einen Kernbereich von Techniken, die fast jeder praktiziert, einen mittleren Bereich an Körpertechniken, die eine kleinere Mehrzahl oder größere Minorität anwenden und einen marginalen Bereich. Hygiene füllt den Großteil der Kernzone aus (Crossley 2006: 123–126). Diese Techniken sind stark habitualisiert und mit Sanktionen belegt in dem Sinne, dass es negative Effekte hätte, sie nicht in einem Mindestmaß zu vollziehen. Diesen Umgang mit dem Körper im Kernbereich interpretiert Crossley als Beispiel dafür, dass die Diagnose von Giddens und anderen, dass Körpertechniken zunehmend zu einer Frage der Wahl werden, nur auf diejenigen Körpertechniken zutrifft, die Gegenstand von Kontroversen sind: Competing camps argue over them, publicity, and individual agents replay these arguments, arriving at their own solutions, within their own internal conversation. What I am now suggesting is, that the high rates of uptake definitive of what I have called core zone RBTs are achieved, in large part, because they are not subject to such public controversy. They are taken for granted (ebd.: 124f.)
Die Praktiken im Kernbereich entsprechen aber wiederum in gewisser Hinsicht den Thesen, die im Anschluss an Elias und Foucault formuliert wurden: Its RBTs are normative and consequently both policed and backed by sanctions. At the same time, however, they are so deeply engrained in the habitual life of social agents that they are seldom recognized as impositions (ebd.: 125).
Im mittleren Bereich findet sich eine größere Spannbreite und Segementierung von Körpertechniken. Der Bereich ist beispielsweise stark vergeschlechtlicht: Die Frauen in Crossley Untersuchung konsumieren nicht nur mehr mediale Ratschläge bezüglich reflexiver Verkörperung als Männer, sondern sind im Allgemeinen „more preoccupied with their bodies“ (ebd.: 126). Auch wenn sich dies ändere, müssen nach Crossley bisher Männer sich als Männer und nicht ihren Körper als Objekt der visuellen Konsumtion präsentieren (ebd.). Geschlechtliche Konnotierung der Reflexiven Körpertechniken finden sich jedoch nicht durchgängig. Einige reflexive Körpertechniken im mittleren Bereich können nach Crossley mit der Diagnose der Konsumkultur in Verbindung gebracht werden, wie zum Beispiel der Konsum von Nahrungsergänzungsmitteln oder die Ver-
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wendung von Bräunungsmitteln. Jedoch zeige der relativ niedrige Prozentsatz der Ausführung dieser Techniken, dass der Druck, sie auszuüben, relativ gering ist (vgl. ebd. 133f.). Diese Reflexiven Körpertechniken können am ehesten als Ausdruck von Wahlmöglichkeiten und aktiver Selbstkonstruktion gefasst werden. Da weniger Personen sie anwenden, können sie eher zur Distinktion genutzt werden. Gleichzeitig gibt es keine starken formalen institutionellen Mechanismen, die diese Techniken versuchen durchzusetzten. In diesem Bereich sieht Crossley die Erklärungskraft des Giddens’schen Modells der individuellen Entscheidung und der Individualisierungsthese. Diese wird auch dadurch gestützt, dass in dem Sample kein Zusammenhang zwischen bestimmten Körpertechniken und Klassenzugehörigkeit deutlich wurde (vgl. Crossley 2006: 142). Die Praktiken im marginalen Bereich sind hoch differenziert und beinhalten beispielsweise Piercings, Steroideinnahme im Kontext von Bodybuilding und die Inanspruchnahme kosmetischer Chirurgie. Dies ist einerseits die Zone von Innovationen und Experimenten – die Techniken reflektieren individualisierte Projekte und Entscheidungen. Andererseits sind diese Techniken häufig nicht als legitime Entscheidungen akzeptiert und gehen mit formalen und informellen Sanktionen einher. Dies unterscheidet sie deutlich von Reflexiven Körpertechniken, die akzeptiert, unterstützt oder durchgesetzt werden (vgl. Crossley 2005: 29–31). Mit der Diskussion körpersoziologischer Ansätze und Konzepte konnte gezeigt werden, dass der These, der Körper werde zum Objekt der reproduktionsmedizinischen Kinderwunschbehandlung, ein begrenztes Körperverständnis zugrunde liegt. Welches Körperwissen, welche Körpertechniken und welche Körpererfahrung wie in der Behandlungspraxis eine Rolle spielen und miteinander in Beziehung stehen ist eine offene Frage. Im Anschluss an die phänomenologische analytische Unterscheidung von Körper und Leib können die für die Medizinsoziologie zentralen Dimensionen von disease und sickness als mit und über den Körper verbunden gedacht werden: Leibliches Spüren hingegen ist ein grundlegender Aspekt der Selbstwahrnehmung und Erfahrung des „sich krank Fühlens“ (illness). Das Wissen über den Körper speist sich auch aus der Fremdwahrnehmung durch die Profession in medizinischen Konzepten, Diagnosen und Definitionen (disease). Für die Untersuchung der Medikalisierung des Kinderwunsches lässt sich so differenziert fragen, ob und wie Körper und Leib in die Definition und Herstellung medizinischer Zuständigkeit integriert werden. So kann man die Frage stellen, inwiefern der Körper zum Gestaltungsobjekt im Rahmen des Spannungsverhältnisses von Medikalisierung und Gesundheitsorientierung wird. Im Anschluss daran lässt sich fragen, wie und ob sich der Umgang mit dem Kör-
3 A KTEURE , T ECHNIKEN UND K ÖRPER
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per der Patientinnen und Patienten als Selbsttechnik oder reflexive Körpertechnik fassen lässt.
3.5 Z WISCHENFAZIT
UND
F ORSCHUNGSPERSPEKTIVEN
Die Situation der Behandlung des unerfüllten Kinderwunsches ist sowohl von organisatorischen und bürokratischen Strukturen gekennzeichnet als auch ein Ergebnis von beständigen Aushandlungsprozessen der verschiedenen Akteurinnen und Akteure. So ist die Herstellung der medizinischen Zuständigkeit für den Kinderwunsch zum einen von den unterschiedlichen Positionen und Perspektiven vor allem der Ärztinnen und Ärzte und der Paare gekennzeichnet sowie von ihrer Beziehung untereinander. Zum anderen wird die Behandlung von Techniken und Artefakten – insbesondere der Krankenakte – strukturiert. Körper lassen sich dabei als mehr als Objekte unter medizinischem Zugriff verstehen. Die unterschiedlichen Perspektiven auf den Verlauf von Krankheit und Gesundheit von Ärztinnen und Ärzten auf der einen und Patientinnen und Patienten auf der anderen Seite wurden bereits in vorherigen Kapitel (s.o. Kap. 2) herausgearbeitet. Dies wurde im ersten Teil dieses Kapitels (s.o. Kap. 3.1) im Hinblick auf das Aufeinandertreffen der Akteure im Krankenhaus in zweierlei Hinsicht differenziert: Zum einen wurde die Situation des Arztes als Professioneller beschrieben, zum anderen verschiedene Ansätze zur Konzeptionalisierung der Arzt-PatientenBeziehung diskutiert. Vor diesem Hintergrund lässt sich so nun nach den notwendigerweise konfligierenden Perspektiven fragen und betrachten, in welchen Modi und Settings sie ausgehandelt werden. Die strukturelle Voreingenommenheit für Krankheit sowie der Handlungsbezug mit seiner Tendenz zum aktiven Eingreifen legen nahe, dass der unerfüllte Kinderwunsch trotz seines ambivalenten Status in der Behandlungspraxis von den Ärztinnen und Ärzten wie eine Krankheit behandelt wird. Dieser Aspekt wird insbesondere in Zusammenhang mit der Vorstellung der Ärztinnen und Ärzte vom Kinderwunsch als Behandlungs- und Forschungsgegenstand (s.u. Kap. 5.3) und mit den Aushandlungsund Interaktionsprozessen im Behandlungsverlauf (s.u. Kap. 6.1 und Kap. 6.2) diskutiert. Wie die Lebenswelt der Paare zum Gegenstand medizinischer Problemdefinitionen wird, wird im Vergleich zwischen reproduktionsmedizinischer und naturheilkundlicher Praxis dargestellt (s.u. insb. Kap. 6.3). Die ärztliche Praxis ist von Unsicherheitsmomenten geprägt. Im Falle des unerfüllten Kinderwunsches lassen sich als große Momente von Unsicherheit und Unwissen die geringe Schwangerschafts- und „Baby-take-home“-Rate sowie, für die Reproduktionsmedizin, Fälle idiopathischer Sterilität angeben und,
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für naturheilkundliche Verfahren, dass sie häufig nur durch Erfahrungswissen gestützt sind. Kritisch für ihre Positionierung gegenüber den Paaren ist, wie die Ärztinnen und Ärzte mit diesen Unsicherheitsmomenten umgehen. Damit einher geht die Frage, ob und wie sie medizinische Unsicherheiten an die „mündigen“ Paare kommunizieren und ob dies das Kompetenzgefälle verringert. Diese Fragen sind für die gesamte Analyse grundlegend und werden jeweils spezifisch als Abwägungsprozesse und Handlungsstrategien der Paare (s.u. Kap. 5.2, Kap 6.2.2 und Kap. 7) und der Ärztinnen und Ärzte (s.u. Kap. 5.3 und Kap. 6) aufgegriffen. Es wurde gezeigt, dass das Verhältnis von Ärztinnen und Ärzten und Patientinnen und Patienten von unterschiedlicher Spannung geprägt ist. So setzt die Beziehung ein Vertrauensverhältnis bei gleichzeitigem Kompetenzgefälle voraus. Die neuere Literatur hat verschiedene Typen der Arzt-Patienten-Beziehung herausgearbeitet: Neben das paternalistische Modell treten abwägende, interpretative und informative Modelle (s.o. Kap. 3.2). Welches Modell oder welcher Interaktionsstil vorherrscht, hängt dabei nicht nur vom Selbstverständnis und den Vorlieben der Ärztinnen und Ärzte, sondern auch von der konkreten Situation und spezifischen Problemlage sowie den Patientinnen und Patienten ab. Im Verlauf der reproduktionsmedizinischen Kinderwunschbehandlung gibt es mit dem allgemeinen Beratungsgespräch, der hormonellen Behandlung und der operativen Follikelentnahme durchaus unterschiedliche Ausgangslagen zur Gestaltung der Interaktion mit den Ärztinnen und Ärzten (s.u. Kap. 6.2). Die Herausbildung und Anrufung eines neuen Typus des „mündigen Patienten“ sowie die tendenziell an einer Wettbewerbslogik orientierte Gesundheitspolitik stellen die Akteurinnen und Akteure in der medizinischen Behandlungspraxis vor neue Herausforderungen. So ist der Status der Ärztinnen und Ärzte als Professionelle durch die universitär zertifizierte und gesellschaftlich allgemein anerkannte Expertise sowie medizinische Autonomie und Selbstkontrolle gekennzeichnet, was die Voraussetzung dafür bildet, dass ihnen ein besonderes Vertrauen entgegengebracht werden kann. Auf der anderen Seite werden die Ärztinnen und Ärzte mit – zumindest dem Anspruch nach – mündigen, mitarbeitenden und mitentscheidenden Patientinnen und Patienten konfrontiert. Für die Analyse der medizinischen Kinderwunschbehandlung lässt sich so nach den Informationsstrategien der Patientinnen und Patienten fragen, und ob und wie sie diese gegenüber den Ärztinnen und Ärzten einsetzen (s.u. Kap. 7.1). Die Praxis im Krankenhaus wird von verschiedenen Techniken strukturiert. Aus einer Perspektive der technology in practice wurde herausgestellt, dass die Wirkmächtigkeit von Medizintechniken nicht von sich aus gegeben ist, sondern sich in der sozialen Praxis realisiert (s.o. Kap. 3.3). Statt davon auszugehen, dass
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die Reproduktionsmedizin als Technik deterministisch wirkt, wird in dieser Arbeit die Technik in ihrem Kontext zum Gegenstand gemacht. Dabei wird nicht nur der Einsatz der innovativeren Medizintechnik (wie der In-vitro-Fertilisation) untersucht, sondern vielmehr auch das Augenmerk darauf gelenkt, wie die Krankenakte als zentrale Organisationstechnik die Behandlung strukturiert – und sowohl die Handlungen des medizinischen Personals bestimmt als auch die der Paare in „administrativ schematisierte Bahnen“ (Freidson 1979: 260) lenkt. Für den Transformationsprozess von einem diffusen lebensweltlichen Problem zu einem für den Arzt oder die Ärztin handhabbaren, von „input zu output“, wie es Berg nennt, spielt die Akte eine zentrale Rolle. So lässt sich auch fragen, wie die Akte mit ihrer Ordnungsfunktion zu einer spezifischen Medikalisierung eines Sachverhaltes vor Ort beiträgt. Das Konzept der Reflexiven Körpertechnologien bietet gute Ansatzpunkte, den Körper in der medizinischen Behandlung des unerfüllten Kinderwunsches zu erfassen, da es verspricht, soziale, körperliche und kognitive Aspekte gleichermaßen berücksichtigen zu können: So lässt sich der Dualismus vom Körper als Objekt vs. Subjekt (oder phänomenologisch: Leib) umgehen und gleichzeitig die reflexive Beziehung zwischen beiden betonen (s.o. Kap 3.4). Das (kollektiv geteilte) Wissen über den Körper wird in einer (unauflösbaren) Beziehung zu individueller Körpererfahrung gedacht. Für die Kinderwunschbehandlung hieße dies, dass für die Paare in der Behandlungspraxis „objektives Körperwissen“ – sei es reproduktionsmedizinisches, naturheilkundliches oder Wissen über gesunde Lebensweisen und präventive Praxen – und „subjektives, leibliches Körperempfinden“ in einem unauflöslichen, eher reflexiven als substanziellen Wechselverhältnis stehen. Die unterschiedlichen Deutungen und Techniken des Körpers werden im Kontext der Vorstellungen von Gesundheit und Krankheit der Ärztinnen und Ärzte (s.u. Kap. 5.3) sowie der Paare (s.u. Kap. 5.2 und Kap. 7.2) untersucht. Vor diesem Hintergrund kann in einer Analyse der Medikalisierung des Körpers in der Kinderwunschbehandlung die dualistische Aufspaltung eines durch die Medizin verobjektivierten Körpers und des natürlichen, vor allem von den Patientinnen gespürten, Körpers umgangen werden. Gleichzeitig kann so die reflexive Beziehung zwischen Körper und Leib ebenso zum Thema gemacht werden wie die Bedeutung reflexiver Körpertechniken innerhalb und außerhalb der medizinischen Therapie.
4 Forschungsdesign
Die Untersuchung der Transformation des lebensweltlichen Kinderwunsches in ein medizinische Problem in der medizinischen Behandlungspraxis, erfordert ein Forschungsdesign, das sowohl die Kinderwunschbehandlung als Prozess als auch die Sicht unterschiedlicher Akteurinnen und Akteure erfassen kann. Mit einer ethnographisch konzipierten Fallstudie wurde ein Forschungsdesign gewählt, das es erlaubt, in einer „mikroskopischen Feinanalyse“ (Hirschauer und Amann 1997: 13) diesen Erfordernissen gerecht zu werden und verschiedene Analyseebenen und Materialarten miteinander in Beziehung zu setzen.1 Ethnographien sind von einer Einlassung auf das Feld, einer Offenheit gegenüber Schwerpunktverschiebungen und Überraschungen und einer Flexibilität gegenüber Gegenstand und Methoden gekennzeichnet: It is expected that the initial interests and questions that motivated the research will be refined, and perhaps even transformed over the course of the research: and that this may take a considerable amount of time (Hammersley and Atkinson 2007: 3).
Die Haltung des ethnographischen Beobachters ist dadurch gekennzeichnet, dass er „kulturelle Phänomene [als] erst noch zu entdecken[d]“ (Hirschauer und Amann 1997: 13) begreift. Ein längerer Aufenthalt im Feld ist so Grundlage von Ethnographien; mit der Triangulation verschiedener Methoden kann der Fall aus der Perspektive verschiedener Akteurinnen und Akteure, aber auch unterschiedlicher Datenarten erfasst, systematisch rekonstruiert und analysiert werden. Das Ende der „Erhebungsstrecke“ (Hirschauer und Amann 1997: 20) wird von einer Sättigung markiert: Möglichst alle möglichen Variationen im Feld sollten be-
1
Für die deutschsprachige Debatte zur Nutzung von Ethnographien in der Soziologie vgl. Breidenstein und Hirschauer 2002, Amann und Hirschauer 1997, Knoblauch 2001, 2002, 2005.
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obachtet worden sein, so dass der ethnographische Fall in seiner Breite und Tiefe erfasst wird und die Identifikation von Normalität und Ausnahmen fundiert möglich ist. Fallauswahl Fallstudien sind eine der sozialwissenschaftlichen Forschungsstrategien, die sich besonders zur Erschließung von Themenbereichen eignen, für die wenig theoretische Literatur oder wenige empirische Untersuchungen vorhanden sind, oder um auf bereits bearbeiteten Forschungsfeldern eine neue Perspektive einzunehmen (vgl. Eisenhardt 1989). Damit werden sie vor allem bei explorativen, offenen und erklärenden Fragestellungen angewandt. Als Forschungsansatz sind Fallstudien multimethodisch angelegt, da alle relevanten Aspekte und Dimensionen eines Falles in Hinblick auf die Zielsetzung der Untersuchung erfasst werden sollen. Es lassen sich vier Typen von Fällen unterscheiden: typische und repräsentative Fälle mit dem Ziel der Verallgemeinerung oder des Vergleichs, kritische Fälle als Beispiel für die Gültigkeit eines beobachteten oder theoretischen Prinzips, abweichende Fälle als Ausnahme von zu erwartenden Forschungsergebnissen und einzigartige oder extreme Fälle als eigenständig und für sich stehend (vgl. Snow und Trom 2002: 157f.). Mit einer größeren reproduktionsmedizinischen Klinik sollte ein typischer Fall ausgewählt werden, in dem ein breites Spektrum der üblichen reproduktionsmedizinischen Verfahren routinemäßig durchgeführt wird. Darüber hinaus sollte eine vergleichbare alternativmedizinische Kinderwunschklink als kontrastierender Fall untersucht werden, insbesondere um die in der bisherigen Diskussion herausgestellte Rolle der Technik in der Medikalisierung des Kinderwunsches vergleichend zu untersuchen. Für den schulmedizinischen Fall wurden zunächst alle 116 Teilnehmer des Deutschen IVF-Registers (DIR 2003) in Betracht gezogen. Die Auswahl des alternativmedizinischen Falls gestaltete sich schwieriger, da die naturheilkundliche Kinderwunschtherapie meist in niedergelassenen Praxen durchgeführt und dort weder systematisch erfasst noch als Spezialisierung ausgewiesen wird oder als Zusatzbehandlung in schulmedizinischen Klinik angeboten wird und so keinen eigenständigen Fall bildet. Es wurde dann eine Klinik ausgewählt, die sowohl eine schulmedizinische Abteilung für Reproduktionsmedizin als auch eine eigenständige alternativmedizinische Kinderwunschbehandlung anbot. Damit konnten zwei Fälle ausgewählt werden, die hinsichtlich der Größe, des Behandlungsangebots und ihrer Erfahrung den Auswahlkriterien entsprachen. Auch wenn es sich um zwei eigenständige und räumlich getrennte Kliniken handelte,
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gehörten beide Fälle doch zu einer organisatorischen Einheit und wurden deshalb als zwei Unterfälle einer Fallstudie betrachtet. Die ausgewählte Klinik gehört zu einer der größten eigenständigen universitären Abteilungen für Fertilitätsstörung und Gynäkologische Endokrinologie in Deutschland. In der schulmedizinischen Klinik werden routinemäßig alle in Deutschland üblichen Maßnahmen der künstlichen Befruchtung durchgeführt: die intrauterine Insemination (IUI), die In-vitro-Fertilisation (IVF), also die Befruchtung im Reagenzglas, mit den Sonderformen der intrazytoplasmatischen Spermieninjektion (ICSI), bei der das Spermium in der Petrischale direkt in die Eizelle injiziert wird, und – zum Zeitpunkt der Erhebung noch im Rahmen einer klinischen Studie – des neueren Verfahrens der In-vitro-Maturation (IVM), bei dem nach einer kurzen hormonellen Stimulation die noch unreifen Eizellen entnommen werden und außerhalb der Eierstöcke reifen, befruchtet und anschließend in die Gebärmutter zurückgesetzt werden. Es werden Zyklusmonitoring und Insemination angeboten. Im Untersuchungsjahr 2005 wurden insgesamt 510 Behandlungszyklen durchgeführt, dies entspricht etwa 1 Prozent der ca. 51.000 Behandlungen in Deutschland. Die Behandlungszyklen verteilten sich zu jeweils ungefähr einem Drittel auf IVF, ICSI und Kryozyklen, was im Vergleich mit dem deutschen Durchschnitt ein niedrigerer Anteil an ICSI-Behandlungen ist. Die Schwangerschaftsquote pro Embryonentransfer entspricht in IVF- und ICSIBehandlung etwa dem Durchschnitt und ist bei den Kryotransfers etwas besser. In der reproduktionsmedizinischen Klinik waren ein Oberarzt in Leitungsfunktion, eine Fachärztin und zwei Assistenzärztinnen sowie eine Sekretärin, eine Krankenschwester und eine Arzthelferin beschäftigt. Es wurden dort vor allem gesetzlich versicherte Paare behandelt. Schwerpunkte der untersuchten naturheilkundlichen Klinik in der gynäkologischen Abteilung sind Homöopathie- und Akupunkturbehandlungen; zum Selbstverständnis gehört eine ganzheitliche Behandlung, die auch Ernährungs- und Umweltberatung beinhaltet. Die Behandlung umfasst das gesamte Gebiet der Gynäkologie und Geburtshilfe. Die Kinderwunschbehandlung war im Gegensatz zur reproduktionsmedizinischen Klinik einer von mehreren Schwerpunkten. Zahlen über die Anzahl der Kinderwunschpaare liegen nicht vor. In der Klinik waren eine Oberärztin in Leitungsfunktion, fünf Ärztinnen und zwei Ökotrophologinnen sowie eine Sekretärin beschäftigt, wobei nur drei Ärztinnen Kinderwunschbehandlungen durchführten. Durchführung der Untersuchung Die spezifische Ausgangslage meiner Forschung ist gleichzeitig von einer allgemeinen Vertrautheit mit dem Gegenstand und einer spezifischen Fremdheit
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gekennzeichnet: Nicht nur kennt „die soziologische Ethnographin ihre Gesellschaft […] schon aus eigener Erfahrung“ (Knoblauch 2001: 134), auch konnte vor der Feldforschungsphase dieses Wissen spezifisch vertieft werden: durch das Erarbeiten des Forschungsstandes, der deutschen Gesetzeslage, sozialpolitischen Regulierungen, das Verfolgen der Medienberichterstattung und sporadische Eindrücke von Kinderwunschseiten und -Blogs im World Wide Web. Die Aufenthalte im Feld waren auch durch Fremdheitserfahrungen gekennzeichnet: etwa dem medizinischen Personal gegenüber als Laie und den Paaren gegenüber als Nicht-Betroffene. Meine für den Ablauf sinnvollen Tätigkeiten beschränkten sich auf Hilfsaufträge wie solche, Blutproben in die Hauptklinik zu bringen. Für die Paare, deren Beratungen und Untersuchungen ich beiwohnen konnte, blieb ich eine Randfigur. Bei den Interviews mit den Patientinnen hingegen wurde gelegentlich relevant, dass die Frauen annahmen, ich habe als berufstätige Frau Ende 20 ähnliche Erfahrungen und Probleme wie sie und deshalb ein besonders Verständnis für ihre Situation. Dies betraf Fragen der Berufstätigkeit und möglicher Familiengründung ebenso wie geschlechtsspezifische Ungleichheitserfahrungen. Die teilnehmende Beobachtung gilt als grundlegende Datenerhebungsmethode in der Ethnographie. Ganz allgemein ist die teilnehmende Beobachtung durch die persönliche Teilnahme des Forschers oder der Forscherin im Forschungsfeld, also auch durch Interaktionen mit den zu untersuchenden Personen, gekennzeichnet. Die Methode der teilnehmenden Beobachtung zielt auf einen zeitlichen, aufmerksamen und mit Aufzeichnungen unterstützten Mitvollzug einer, eigene kulturelle Ordnung konstituierenden, lokalen Praxis und ihrer distanzierten Rekonstruktion (Hirschauer und Amann 1997: 21).
Geleitet wurde die teilnehmende Beobachtung in der vorliegende Studie von der Frage, wann und wie im Aufeinandertreffen von Ärztinnen und Ärzten und Paaren, aber auch in der Organisation des Behandlungsablaufs, medizinische Zuständigkeit hergestellt wird. Zugleich diente die teilnehmende Beobachtung als Vorbereitung und als Interpretationskontext der Interviews. In der reproduktionsmedizinischen Klinik konnte ich teilnehmend beobachtend einen umfassenden Einblick in den Klinikalltag gewinnen. Über den Zeitraum von sechs Wochen habe ich täglich an Beratungsgesprächen, Untersuchungen sowie mehrfach an Inseminationen in den Laborräumlichkeiten und zwei Embryonentransfers im Operationssaal teilgenommen und informelle Gespräche mit den Ärztinnen und Ärzten geführt. Darüber hinaus habe vor allem zu Beginn das Sekretariat und das Schwesternzimmer beobachtet und mit der Sekretärin, der Krankenschwester
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und der Arzthelferin informelle Gespräche geführt. Desweiteren habe ich an wöchentlichen Besprechungen der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der gesamten Abteilung – also auch der naturheilkundlichen Klinik – teilgenommen, in denen aktuelle fachliche und organisatorische Fragen besprochen wurden. Die teilnehmende Beobachtung ergänzte ich durch das Sammeln von Dokumenten, die die Paare über den Behandlungsverlauf informierten, ihn dokumentierten und organisierten: Aufklärungsbögen, Behandlungspläne, Einwilligungserklärungen, Kostenaufstellungen, Krankenakten, Verträge und Anträge über die Kostenübernahme sowie in der Beratung eingesetztes Informationsmaterial. Tabelle 4 EG1R 40 Min. EG2R 30 Min.
Übersicht über die aufgezeichneten Erstberatungsgespräche EHEPAAR ALBRECHT MIT DR. RICHTER (A5R) Technische Angestellte, 38 und Ingenieur, 34 EHEPAAR BRANDT MIT DR. THOMAS (A7R) Studentin, 32 und Angestellter, 32
EG3N
FRAU DIEKMEIER MIT DR. MÜLLER (A1N)
28 Min.
Selbständige, 40 und keine Angaben zum Partner
EG4N 66 Min. EG5N 25 Min. EG6R 42 Min. EG7R 38 Min. EG8N 42 Min. EG9N
EHEPAAR ECKERT MIT DR. MÜLLER (A1N) Beide Anfang 30 und berufstätig, keine weiteren Angaben FRAU FISCHER MIT DR. MÜLLER (A1N) Sozialer Dienst, 29 und keine Angaben zum Partner EHEPAAR GRAF MIT DR. NEUMANN (A2R) Lehrerin, 32 und Jurist, 43 EHEPAAR HAASE MIT DR. RICHTER (A5R) Hausfrau und Mutter, 28 und Arbeiter, 34 EHEPAAR JÄGER MIT DR. MÜLLER (A1N) 33 und über 50, beide berufstätig, keine weiteren Angaben EHEPAAR KOCH MIT DR. NUSSBAUM (A3N)
30 Min.
Sachbearbeiterin, 39 und Ingenieur, keine Angaben
EG10R
EHEPAAR LEHNER MIT DR. OTTO (A4R)
30 Min.
Hausfrau und Mutter, 40 und Techniker, keine Angaben
EG11R
EHEPAAR MEIER MIT DR. NEUMANN (A2R)
48 Min.
EDV-Angestellte, 38 und keine Angaben zum Beruf, 30
EG12R
EHEPAAR OELKER MIT DR. NEUMANN (A2R)
70 Min.
Kaufman. Angestellte, 29 und Fachkraft, 30
EG13R
EHEPAAR PFEIFFER MIT DR. OTTO (A4R)
36 Min.
Ärztin, 31 und keine Angaben zum Beruf, 31
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EG14R
EHEPAAR SCHMIDT MIT DR. RICHTER (A5R)
79 Min.
Kaufm. Angestellte, 33 und Kaufmann, 32
EG15R
EHEPAAR VOGEL MIT DR. NEUMANN (A2R)
47 Min.
Handwerkerin, 30 und Handwerker, 38
EG16N
EHEPAAR WEBER MIT DR. NUSSBAUM (A3N)
Protokoll
Künstlerin und Künstler, beide Ende 30/Anfang 40
EG17N
EHEPAAR ZAUN MIT DR. NUSSBAUM (A3N)
Protokoll
Vorstandassistentin, 39 und Jurist, keine Angaben
R: Reproduktionsmedizinische Klinik; N: Naturheilkundliche Klinik
Diese Form der teilnehmenden Beobachtung wurde durch die Audio-Aufzeichnung von zehn Erstberatungsgesprächen erweitert. Für die Aufzeichnung der Erstgespräche wurden zufällig Paare im Wartezimmer angesprochen; etwa die Hälfte der angesprochenen Paare sagte zu. Die naturheilkundliche Klinik ist relativ klein und befand sich zum Erhebungszeitraum in einer finanziellen und organisatorischen Umstrukturierungsphase. Dies hatte unter anderem zur Folge, dass zwar zum Zeitpunkt der Klinikauswahl und noch während der Erhebung vor allem in der Außendarstellung die naturheilkundliche Kinderwunschbehandlung als ein Kernbehandlungsgebiet angeboten wurde, tatsächlich aber die Kinderwunschbehandlung nur noch sehr selten und in der Regel nur noch in Form von Erstberatungsgesprächen durchgeführt wurde. Insgesamt stand meine Forschung vor einer leicht artifiziellen Erhebungssituation: Einerseits sollte der Behandlungsalltag untersucht werden, andererseits wurden – die Nachfrage von Patientenseite war weiterhin vorhanden – nur aufgrund meiner Untersuchung Termine an Kinderwunschpaare vergeben. Der Zeitraum der Erhebung wurde auf drei Wochen verkürzt, da über diesen Zeitraum hinaus keine weiteren Kinderwunschtermine vergeben wurden. Es konnten sieben von acht Erstgesprächen, die in diesem Zeitraum stattfanden, aufgezeichnet werden (der achte Termin lag parallel zu einem anderen Gespräch). Eine weitere teilnehmende Beobachtung war nicht möglich, da keine weitere Kinderwunschbehandlung stattfand. An Dokumenten konnten nur Informationsbroschüren der Klinik gesammelt werden. In beiden Kliniken konnte ich Fotografien der Räumlichkeiten machen und von beiden Kliniken den Internetauftritt nach Beendigung des letzten Aufenthaltes archivieren. Während des Erhebungszeitraums wurde die Homepage an einzelnen Stellen aktualisiert – etwa bei Beschäftigtenwechsel –, blieb im Grunde aber unverändert. Subjektive Perspektiven lassen sich schwer allein aus Beobachtungen rekonstruieren. Zentral ist, dass die Subjekte selbst zur Sprache kommen. „[S]ie selbst sind zunächst Experten für ihre eigenen Bedeutungsgehalte“ (Mayring 2002:
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66). Offene Leitfadeninterviews ermöglichen auf der einen Seite eine Fokussierung auf spezifische, vorab festgelegte Themenfelder, auf der anderen Seite regen sie aber Narrationen an und sind so offen für eigene Schwerpunktsetzungen der Interviewten. Die Interviews mit den Paaren wurden als problemzentrierte Interviews konzipiert. Wie andere Formen des offenen, halbstrukturierten qualitativen Interviews zielt das problemzentrierte Interview auf die Erfassung und Darstellung subjektiver Problemsichten (vgl. Witzel 2000). Im Fokus steht eine bestimmte Problemstellung, die der Interviewer einführt und auf die er immer wieder zurückkommt (vgl. Mayring 2002: 67). Im Fokus des problemzentrierten Interviews stehen die Fragen, wie das Subjekt mit gesellschaftlichen Gegebenheiten umgeht, biographische Erfahrungen verarbeitet und Ressourcen und Handlungsspielräume nutzt (vgl. Witzel 2000: 2). Erhebungs- und Auswertungsprozess sind im problemzentrierten Interview durch ein „induktiv-deduktives Wechselverhältnis“ (ebd.: 3) gekennzeichnet. Durch die Problemzentrierung im Leitfaden lassen sich Vergleiche zwischen den Interviews ziehen und Verallgemeinerungen vornehmen. Der Leitfaden für die problemzentrierten Interviews wurde entlang der Fragestellungen unter Berücksichtigung des Forschungsstandes und der theoretischen Präzisierung konzipiert. Der zweiseitige Leitfaden umfasste vier zentrale Themenblöcke: a) Wissen über die Behandlung: Vorwissen der Paare, Wissensvermittlung, b) Verhältnisse und Rollen von medizinischem Personal und Paaren, c) Körperempfinden und -konzepte, Verständnis von Gesundheit und Krankheit und d) Auswirkungen der Behandlung auf Lebenswelt und soziale Beziehungen. Im Interview selbst wurde der Leitfaden flexibel dem Gesprächsverlauf angepasst und die Fragen als Erzählimpuls formuliert. Für die Interviews konnten in der reproduktionsmedizinischen Klinik zehn Paare ausgewählt werden (vgl. Tab. 5), die bereits mindestens eine IVF-Behandlung gemacht hatten und nicht unmittelbar vor dem Ergebnis der nächsten IVF-Behandlung standen. Somit war sowohl davon auszugehen, dass die Paare eine gewisse Kenntnis der Abläufe erworben hatten als auch davon, dass die Interviewsituation nicht unmittelbar von einem positiven oder negativen Schwangerschaftstest beeinflusst wurde. Obwohl sowohl Männer als auch Frauen angesprochen wurden, erklärten sich nur Frauen zu einem Interview bereit. Die Dauer der Kinderwunschbehandlung lag zwischen einem Dreivierteljahr und zehn Jahren und betrug durchschnittlich dreieinhalb Jahre. Da die naturheilkundliche Klinik die Kinderwunschbehandlung fast eingestellt hatte, konnte dort nur ein Interview mit einer Patientin vor ihrem zweiten Beratungstermin durchgeführt werden.
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Tabelle 5 P1R 57 Min. P2R 58 Min. P3R 75 Min.
Übersicht über die Interviews mit den Patientinnen FRAU ADAM 39, Kaufm. Angestellte
P7R 21 Min.
FRAU BAUM 35, Kaufm. Angestellte
P8R 45 Min.*
FRAU CAGLAR 28, Pflegeberuf
P9R 56 Min.
P4R
FRAU DORSCH
P10R
72 Min.
37, Handwerkerin
40 Min.
P5R 120 Min.* P6R 65 Min.
FRAU EWALD 39, selbständ. Heilberuf
P11N 31 Min.
FRAU GOCH 27, Kaufm. Angestellte FRAU HOFFMANN 39, Hausfrau und Mutter FRAU JANSEN 41, Lehrerin FRAU KAISER 37, Juristin FRAU LANG 38, Verkäuferin
FRAU FALK 39, Lehrerin
* handschriftliches Protokoll, keine Tonaufzeichnung
Die Ärztinnen und Ärzte wurden zu den gleichen Themen in ExpertInneninterviews befragt. Während im problemzentrierten Interview das Alltagswissen in erster Linie als Thema der Analyse erfasst wird, ist es in ExpertInneninterviews auch Informationsressource. ExpertInneninterviews lassen sich von anderen qualitativen Leitfadeninterviews vor allem dadurch unterscheiden, dass die Person des Experten in ihrer biografischen Motiviertheit in den Hintergrund [tritt], stattdessen interessiert der in einen Funktionskontext eingebundene Akteur (Meuser und Nagel 2003: 57).
Expertinnen und Experten haben einen Wissensvorsprung gegenüber anderen im sozialen Feld, der aus deren privilegierten Position in einem Funktionskontext resultiert (vgl. Meuser und Nagel 1994: 181). In ExpertInneninterviews wird aber nicht nur präsentes Sonderwissen erfragt, sondern es ist auch Grundlage für die Rekonstruktion ungeschriebener Gesetze und des impliziten Wissens, die sich insbesondere in narrativen Passagen des Interviews zeigen (vgl. dies. 1997: 487). Der Leitfaden für die ExpertInneninterviews in meiner Untersuchung umfasste dieselben Themenkomplexe wie der für die problemzentrierten Interviews und wurde um einen weiteren Block zur e) Einschätzung der Lage und zukünftigen Entwicklung der Profession ergänzt.
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Tabelle 6 A1N 21 Min. A2R 24 Min. A3N 35 Min. A4R 24 Min.
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Übersicht über die Interviews mit den Ärztinnen und Ärzten DR. MÜLLER 55, Ärztin DR. NEUMANN 35, Fachärztin DR. NUSSBAUM 47, Ärztin
A5R 31 Min. A6N 52 Min. A7R 39 Min.
DR. RICHTER 38, Fachärztin DR. STEIN 53, Oberärztin DR. THOMAS 39, Oberarzt
DR. OTTO 39, Fachärztin
Mit allen vier Ärztinnen und Ärzten der reproduktionsmedizinischen Klinik konnten neben den täglichen informellen Gesprächen in der teilnehmenden Beobachtung problemzentrierte offene ExpertInneninterviews durchgeführt werden (Länge durchschnittlich 26 Minuten). In der naturheilkundlichen Klinik wurde die Kinderwunschberatung im Beobachtungszeitraum von drei Ärztinnen durchgeführt. Eine davon war die Leiterin der Abteilung. Mit allen drei Ärztinnen wurden Interviews geführt (Länge durchschnittlich 36 Minuten). Analyse des Materials Die Feldnotizen der teilnehmenden Beobachtungen des Klinikalltags wurden unmittelbar oder in kurzem zeitlichen Abstand erstellt. Alle Aufnahmen wurden nach Abschluss der jeweiligen Feldaufenthalte wörtlich transkribiert. Im Gegensatz zum Vorschlag von Meuser und Nagel (ausführlich 1997), ExpertInneninterviews nur themenorientiert zu transkribieren und Teile zu paraphrasieren, wurden alle geführten Interviews mit Ärztinnen und Ärzten vollständig transkribiert. In zwei Fällen wurden die Gespräche nicht aufgezeichnet: Einmal wurde das Interview auf Wunsch der Befragten per Hand protokolliert, einmal setzte die Technik nach zehn Minuten aus, und der Rest des Interviews wurde stichwortartig handschriftlich festgehalten. Besonders im ersten Fall erwies sich das Protokollieren als sehr ertragreich: Die Interviewte gewährte mir lange Protokollpausen, nach denen sie häufig auf etwas zu sprechen kam, was sie noch zum vorherigen Punkt erläutern wollte. Die Anonymisierung aller Namen und Wohnorte erfolgte unmittelbar nach dem ersten Transkriptionsdurchgang, so dass die Transkripte durch Dritte nicht Personen zugeordnet werden können. Bei der einzigen interviewten Person mit Migrationshintergrund, die sich auch als solche versteht, wurde als Pseudonym ein Name ihres Herkunftslandes gewählt.
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Als zentrale Analysemethode wurde die qualitative Inhaltsanalyse gewählt, die zum Ziel hat, „eine bestimmte Struktur aus dem Material herauszufiltern“ (Mayring 2002: 118). In der qualitativen Sozialforschung dient die Inhaltsanalyse der Auswertung bereits erhobenen Materials, um dadurch theoretische Aussagen über die Regelmäßigkeit des sozialen Lebens, sowie die Entstehung und Vermittlung von Regeln machen zu können (Lamnek 1995: 182).
Mit der qualitativen Inhaltsanalyse ist es möglich, Argumentationszusammenhänge in den Vordergrund zu stellen sowie die gesamte Breite des erhobenen Materials mit einer Methode systematisch auszuwerten. Die Systematik der qualitativen Inhaltsanalyse besteht in ihrer Theoriegeleitetheit und einem schrittweisen und an Kategorien orientierten regelhaften Vorgehen (vgl. Mayring 2000: 471). Für das konkrete Verfahren in der Analyse folge ich den Grundgedanken von Robert Emerson, Rachel Fretz und Linda Shaw (Emerson et al. 1995), die zur Analyse von ethnographischen Feldnotizen ein zweischrittiges Kodierungsverfahren entwickelt haben, das es erlaubt, induktive und deduktive Verfahren systematisch zu verbinden. Die Stärke des Verfahrens liegt darin, dass Analysekategorien sowohl aus bisherigen Forschungsergebnissen und dem theoretischen Rahmenkonzept gewonnen werden als auch aus dem Material selbst. So wurden für die Erstellung der Interviewleitfäden zentrale Kategorien und Fragedimensionen sowohl aus vorliegenden Studien als auch aus theoretischen Diskussionen erarbeitet. Im Unterschied zum Vorgehensvorschlag von Emerson et al. nimmt jedoch in meiner Untersuchung der Rückbezug zum theoretischen Rahmen eine wichtigere Stellung ein: Theoretische Perspektivierung und empirische Analyse wurden in einem rekursiven Verfahren immer wieder aufeinander bezogen. Kodieren meint bei Emerson et al. nicht, wie in quantitativen Verfahren üblich, geschlossene Codes zu bilden, sondern die Bildung übergeordneter Kategorien. In diesem ersten Schritt, dem offenen Kodieren (open coding), werden aus dem Material kleinschrittig erste Kategorien gebildet, indem es daraufhin durchgesehen wird, was die Einzelnen tun, welche Ziele sie verfolgen und wie sie ihre Situation und Handlungen beschrieben. Dieser Analyseschritt dient vor allem dazu, erste Interpretationen zu entwickeln und die konzeptuelle Relevanz einzelner Aussagen herauszuarbeiten (Emerson et al. 1995: 147–152). Fallspezifisch wurden so zunächst zentrale Themen pro Transkript in einem ersten theoretischen Memo (initial memo) festgehalten, das die Verlaufsgeschichte der Unfruchtbarkeit und Kinderwunschbehandlung sowie drei bis fünf Hauptthemen der Interviews und Beratungsgespräche enthält. Ziel war es zum einen, Sinnstrukturen und Bedeutungszusammenhänge in den einzelnen Interviews und Ge-
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sprächen nachzuvollziehen und herauszuarbeiten, und zum anderen, gleichzeitig Kategorien für die vergleichende Analyse zu entwickeln. Durch dieses induktive offene Kodieren wurden zusätzlich zu den Fragedimensionen des Leitfadens neue Schwerpunkte gesetzt und die bestehende Themenliste modifiziert und ergänzt. Die Ergebnisse dieser Zwischenanalyse erforderten an einigen Stellen eine Erweiterung und Präzisierung des Theoriezugangs. Im zweiten Schritt, dem fokussierten Kodieren (focussed coding), wurde das Material spezifischer nach den nun festgelegten Themen durchgesehen und weitere Codes anhand des Materials ausgearbeitet. In integrierenden Memos wurde schließlich eine theoriegeleitete Verknüpfung zwischen den einzelnen Analyseeinheiten entwickelt (vgl. ebd.: 160–166). Auf dieser Grundlage konnte nun zwischen den jeweiligen Materialgruppen thematisch verglichen werden. Um zentrale Themen, Muster und Variationen herauszuarbeiten, wurde jedes Interview und jedes Beratungsgespräch zunächst als eigener Fall behandelt (case-by-case). Neben dieser thematischen horizontalen Zuordnung und Analyse quer zu den einzelnen Interviews und Gesprächen wurden auch typische und abweichende Fälle analysiert, um diese Aspekte in der Tiefe analysieren und darstellen zu können und die Spannweite des vorliegenden Materials aufzuzeigen. Die Feldnotizen und Akten wurden zusätzlich hinzugezogen, um Organisationsabläufe zu rekonstruieren und analysieren. Sowohl bei den problemzentrierten als auch bei den ExpertInneninterviews wurde dieses zweischrittige Analyseverfahren verwandt. Damit wurde bei den letzteren vom Vorschlag Meusers und Nagels abgewichen, die für die Analyse eine unmittelbar thematische Zuordnung unabhängig vom einzelnen Interviewverlauf vorschlagen. Auf Paraphrasierungen – wie es unter anderem Mayring für die qualitative Inhaltsanalyse vorschlägt – wurde im gesamten Auswertungsprozess verzichtet. Für beide Schritte – das Kodieren oder thematische Zuordnen entlang der Interviews und entlang von Themenfeldern – ist es zentral, so lange wie möglich in der Analyse auf Originalformulierungen, Erzähllogiken und Kontexte zurückgreifen zu können. Auswertungsergebnisse müssen an Interviewpassagen überprüft, verglichen und in ihren Zuordnungen und Interpretationen verändert werden können. Erst nach Abschluss der Analyse wurden die in diesem Text verwendeten Zitate für eine bessere Lesbarkeit sprachlich geglättet. Reichweite der gewählten Methoden Das analytische Potenzial ethnographischer Fallstudien liegt darin, dass ein Gegenstand sowohl in der Tiefe untersucht werden kann als auch seine Dynamiken und Prozesse beachtet werden können. Durch die Methodentriangulation lassen
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sich systematisch unterschiedliche Aspekte und Facetten in den Blick nehmen, die unterschiedlichen Daten können gegeneinander gelesen und so ein differenziertes Bild vom Gegenstand herausgearbeitet werden. Die Offenheit von Untersuchungsfragen, die durch die Methodenwahl gestützt wird, führt zu einer großen Sensibilität für die Prozesse, Dynamiken und Komplexitäten der empirischen Realität. Zugleich erlaubt eine sowohl induktive als auch deduktive Anlage der Analyse eine unmittelbare Vermittlung zwischen theoretischen Zugängen und empirischen Befunden. In diesem rekursiven Bezug von Theorie und Empirie liegt das Potenzial von ethnographischen Fallstudien, sowohl zu einem differenzierteren Verständnis des untersuchten Gegenstandes als auch zur Weiterentwicklung von Theorieansätzen beizutragen. In der reproduktionsmedizinischen Klinik war ein Aufenthalt im Feld möglich, der es erlaubte, die Routinen der medizinischen Kinderwunschbehandlung in verschiedenen Variationen und Ausgestaltungen zu sehen und die Perspektive unterschiedlicher Akteure auf die Herstellung des unerfüllten Kinderwunsches als medizinisches Problem der Behandlungspraxis zu untersuchen. Im Feld ergaben sich jedoch einige Anpassungen der Erhebungsmethoden, die Untersuchungsdesign und Erklärungskraft zwar nicht grundsätzlich beeinträchtigten, aber in der Analyse berücksichtigt werden müssen. Die Beratungsgespräche konnten wie geplant aufgezeichnet werden. Auch konnten Interviews mit allen Ärztinnen und Ärzten geführt werden, jedoch nicht mit dem weiteren Personal der Abteilung. Deren Perspektive musste primär durch informelle Gespräche erschlossen werden. Auch bei den Interviews mit den Betroffenen konnten ausreichend Paare gefunden werden, die bereits mindestens eine IVF-Behandlung hinter sich hatten. Jedoch erklärten sich nur Frauen zu einem Interview bereit. Aussagen über Selbstverständnis, Deutungs- und Handlungsmuster der Partner können so nur indirekt, vermittelt über die Einschätzungen der Frauen und der Ärztinnen und Ärzte gemacht werden. Für die Interviews mit den Patientinnen muss berücksichtigt werden, dass diese aus einer relativ homogenen Gruppen stammten: Die meisten arbeiteten in akademischen und Ausbildungsberufen, nur eine Migrantin wurde befragt. Die größte Auswirkung auf die Konzeption der Arbeit hatte die beginnende Einstellung der Kinderwunschbehandlung in der naturheilkundlichen Klinik. Aufgrund der Verlagerung der Schwerpunkte in der Klinik und der daraus folgenden Konsequenzen für meine Datenerhebung konnte nun kein umfassender Vergleich mit der reproduktionsmedizinischen Kinderwunschklinik durchgeführt werden, und die Bedeutung dieses Falls für die gesamte Arbeit musste korrigiert werden. Da alle Ärztinnen schon lange in der Klinik arbeiteten und in den vergangenen Jahren zum Teil schwerpunktmäßig Kinderwunschpaare behandelten,
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stützt sich die Analyse vor allem auf die entsprechenden Interviews und auf die Beratungsgespräche. Zu Selbstverständnis, Deutungsmustern und Handlungsstrategien der Patientinnen und Patienten können keine Aussagen gemacht werden, die über die Einschätzung der Ärztinnen und Ärzte und die Einblicke aus dem ärztlichen Beratungsgespräch hinaus gehen. Auch zur alltäglichen Organisation der naturheilkundlichen Kinderwunschbehandlung können wenige Aussagen gemacht werden. Zu den Grenzen ethnographischer Fallstudien gehört wie bei allen qualitativen Verfahren, dass die erhobenen Daten nicht repräsentativ sind. Ihre Verallgemeinerbarkeit begründet sich vielmehr in dem tiefen und umfassenden Verständnis eines kleinen Ausschnittes sozialer Wirklichkeit. Vor allem bei rein induktiven Auswertungsverfahren besteht das Problem, dass Annahmen und Kategorien, die auf das Material angewandt werden, aus ihm gewonnen werden. Die kontinuierliche Überprüfung der theoretischen Annahmen anhand der analytischen Ergebnisse bei gleichzeitigem Rückbezug der empirischen Ergebnisse auf bestehende theoretische Konzepte zielte auf die Vermeidung dieses Zirkelschlusses.
5 Krankheit unerfüllter Kinderwunsch?
Schon der Begriff „unerfüllter Kinderwunsch“ verweist darauf, dass sich die Behandlung von Unfruchtbarkeit grundlegend von der Behandlung von Krankheiten unterscheidet: Die medizinische Behandlung wird nicht aufgrund eines körperlichen Leidens aufgesucht, das die Gesundheit der Paare beeinträchtigt oder bedroht. Sie liegt vielmehr in der Artikulation eines Wunsches der Paare begründet. Zugleich sind vom unerfüllten Kinderwunsch zwei Personen betroffen, und die medizinische Behandlung von beiden ist – wenn auch in deutlich unterschiedlichem Umfang – erforderlich. Nicht zuletzt wird die reproduktionsmedizinische Behandlung von unerfülltem Kinderwunsch seit ihrer Einführung von einer gesellschaftspolitischen Debatte begleitet, in der gegenüber der gesamten Behandlung oder einzelnen Schritten grundsätzliche ethische Bedenken thematisiert werden. Die medizinsoziologische Diskussion hat gezeigt, dass der Medikalisierung eines vormals außerhalb des Zuständigkeitsbereichs der Medizin liegenden Problemfeldes die Definition als Krankheit zugrunde liegt (s.o. Kap. 1.1). In diesem Kapitel wird nun diskutiert, ob und inwiefern der unerfüllte Kinderwunsch als Krankheit gesehen wird und wie in diesem Zusammenhang die medizinische Zuständigkeit hergestellt, begründet und legitimiert wird. Hierbei wird die Bestimmung des unerfüllten Kinderwunsches in den entsprechenden gesetzlichen, sozial- und standespolitischen Regulierungen auf institutioneller Ebene (Kap. 5.1) der Perspektive der Ärztinnen und Ärzten (Kap. 5.3) und Paare (Kap. 5.2) meiner Untersuchung gegenüber gestellt. Für die gesellschaftliche Einordnung der ungewollten Kinderlosigkeit (Ebene der sickness) sind für den deutschen Kontext verschiedene sozial- und standespolitische Regulierungen relevant: das von der WHO herausgegebene Diagnoseklassifikationssystem International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems (ICD), das Sozialgesetzbuch (SGB), das Embryonenschutzgesetz (ESchG) sowie Richtlinien der Bundesärztekammer. Diese Regulierungen sind Bezugspunkte und Rahmen für
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die Deutungs- und Handlungsmuster der Ärztinnen und Ärzte und der Paare. Zugleich zeigt sich bereits auf dieser Ebene, dass die medizinische Zuständigkeit für den unerfüllten Kinderwunsch nur nachrangig über eine Krankheitsdefinition hergestellt wird. Eine Medikalisierung lässt sich insofern konstatieren, als die genannten Regulierungen das Bild einer genetischen Elternschaft stärken und die Nutzung der Reproduktionsmedizin mit Bezug auf medizinische Kriterien auf einen bestimmten Personenkreis begrenzen. Wird der Wunsch oder das Leiden der Paare am unerfüllten Kinderwunsch hier und von den Ärztinnen und Ärzten (Kap. 5.3.1) vorausgesetzt, zeigt sich in den Aussagen der Paare, dass der Kinderwunsch und seine Behandlung mit Ambivalenzen verbunden sind (Kap. 5.2). Elternschaft und Kinderwunsch ist für die meisten Paare eine Option (Kap. 5.2.1), und die Entscheidung für ein Kind und die Kinderwunschbehandlung sind in die biographische Lebensplanung eingebettet (Kap. 5.2.4). Für einige Paare stellt sich beispielsweise die Frage, ob der Wunsch nach einem Kind auch Adoptivkinder einschließen würde (Kap. 5.2.2). Nur in Ausnahmefällen wird der unerfüllte Kinderwunsch als Ursache für seelisches Leiden beschreiben. Diese Ambivalenzen werden in den „administrativschematisierten Bahnen“ (Freidson) des medizinischen Behandlungsverlaufs der Kinderwunschtherapie ausgeblendet, haben für die Paare aber weiterhin Relevanz (s.u. Kap. 7.4). Gleichzeitig stellt der Beginn einer medizinischen Kinderwunschbehandlung für die Paare aber keinen radikalen Bruch des Umgangs mit der reproduktiven Gesundheit und dem eigenen Körper dar. Der Umgang mit dem Körper – oder mit Nick Crossley: die Anwendung reflexiver Körpertechniken – ist vielmehr instrumentell (Kap. 5.2.3). Für die Ärztinnen und Ärzte stellt sich der unerfüllte Kinderwunsch als relativ selbstverständlicher und legitimer Gegenstand ihrer Behandlungs- und Forschungspraxis dar, obwohl sie die ungewollte Kinderlosigkeit nicht als Krankheit definieren. Die Spannung zwischen der Gesundheit der Paare und der zu begründenden Behandlungsbedürftigkeit wird mit einem Verweis auf ihr Leiden gelöst, das in der medizinischen Behandlung jedoch nicht zum Gegenstand wird. In der Auffassung der Ärztinnen und Ärzte und den entsprechenden gesetzlichen Regulierungen zeigt sich eine Vereindeutigung der Ambivalenzen des unerfüllten Kinderwunsches. Gleichzeitig findet eine Verschiebung vom Paarproblem zur Behandlung der Frau statt (Kap. 5.3.1). Mit diesen Strategien wird die Komplexität des unerfüllten Kinderwunsches reduziert und schon vor dem Beginn der Behandlung von einem diffusen vielschichtigen zu einem von der Medizin behandelbaren Problem transformiert. Während die Behandlungspraxis die reproduktionsmedizinische Zuständigkeit für die ungewollte Kinderlosigkeit bestätigt, wird sie durch die Forschungstätigkeit noch ausgeweitet (Kap. 5.3.2). Die Ärz-
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tinnen und Ärzte sehen ihre medizinische Arbeit durch zweierlei Grenzen beschränkt: zum einen durch die gesetzlichen Regulierungen (Kap. 5.1), zum anderen durch die körperliche Natur des Fortpflanzungsprozesses (Kap. 5.3.3). An ihrer Kritik insbesondere der Begrenzung der Kultivierungsdauer der Embryonen wird die pragmatische Handlungsethik der Ärztinnen und Ärzte deutlich, die sich primär am Leiden der Paare bzw. der Patientinnen orientiert. Der Verweis auf die Natur hat eine doppelte Funktion: zum einen wird die natürliche Fertilitätsrate pro Zyklus als Maßstab des Gelingens der Reproduktionsmedizin beschrieben und so die niedrige Erfolgsquote erklärt, zum anderen gilt die Natur als eine Art Sicherheitsnetz, die ein Übertreten moralisch fragwürdiger Grenzen verhindert.
5.1 M EDIZINISCHE UND GESETZLICHE R EGULIERUNGEN DER R EPRODUKTIONSMEDIZIN Die International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems (ICD) ist das international maßgebliche Kodierungssystem zur Klassifizierung von Krankheiten und von der Medizin behandelten Gesundheitszuständen. Die ICD1 hat einen umfassenden Anspruch und erfasst neben Krankheiten auch weitere medizinische Behandlungen, so auch „Maßnahmen aus anderen Gründen als der Wiederherstellung des Gesundheitszustandes“ (Z41) wie beispielsweise die plastische Chirurgie aus kosmetischen Gründen (Z41.1) oder die Überwachung einer normalen Schwangerschaft (Z34). Sie ist Grundlage von international vergleichenden Morbiditäts- und Mortalitätsstatistiken und von Abrechnungen mit Krankenkassen. In Deutschland sind die an der vertragsärztlichen Versorgung teilnehmenden Ärzte und ärztlich geleiteten Einrichtungen verpflichtet, Diagnosen nach ICD-10 GM zu verschlüsseln (SGB V § 295 Absatz 1 Satz 2) Die ICD bildet also sowohl einen für die ärztliche Praxis als auch ein für die Legitimierung der Behandlung gegenüber den Krankenkassen relevanten medizinischen Klassifikationsrahmen. Von der ICD wird die ungewollte Kinderlosigkeit im Zusammenhang mit physisch diagnostizierbaren Einschränkungen als Krankheit beschrieben: als Sterilität beim Mann und Abortneigung und Sterilität bei der Frau. In Kapitel 14. Krankheiten des Urogenitalsystems (N00–N99) wird dies ausdifferenziert beschreiben: Die Klassifizierung der Sterilität beim Mann erfolgt in der Oberkategorie Krankheiten der männlichen Genitalorgane (N40–N51) unter dem Kode N46, der Azoospermie und Oligozoospermie ohne nähere Angaben umfasst (ICD
1
Es wird die im Erhebungszeitraum gültige ICD-10-GM Version 2005 zitiert.
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10 GM 2005: 459). Bei der Frau hingegen wird eine stärkere Differenzierung in zwei Kodes unter der Kategorie Nichtentzündliche Krankheiten des weiblichen Genitaltraktes (N80N98) vorgenommen: zum einen Neigung zum habituellen Abort (N96), zum anderen Sterilität der Frau (N97) (ICD 10 GM 2005: 472). Hier wird weiter unterschieden zwischen Sterilität mit lokalisierbarer Ursache (N97.1 Tuben, N97.2 Uterus, N97.3 Zervix); Sterilität der Frau im Zusammenhang mit Faktoren des Partners (N97.4) sowie Sterilität sonstigen Ursprungs (N97.8) und Sterilität der Frau, nicht näher bezeichnet (N97.9). Die ICD stellt also Klassifizierungen des unerfüllten Kinderwunsches bereit, die sich auf physiologische Befunde beschränken und diese auch als Krankheit definieren. Sterilität wird hier zunächst als Befund einzelner Personen beschreiben. Während beim Mann der Befund der Sterilität auf ein quantifizierbares Spermiogramm stützt, stellt sich die Situation bei der Frau komplexer da: Sterilität wird in verschiedenen Kategorien und Unterkategorien gefasst. Zugleich wird die Sterilität als Paarphänomen in Abhängigkeit von der Frau formuliert: So existiert bei der Erfassung der männlichen Sterilität weder eine Beschreibung, die „im Zusammenhang mit Faktoren der Partnerin“ steht (analog zu N97.9), noch eine relativ offene Kategorie der „nicht näher bezeichneten Sterilität“ (analog zu N97.9). Unklare und idiopathische Sterilität des Paares kann in der ICD nur unter der Oberkategorie Sterilität der Frau (N97) gefasst werden. Auf der Ebene der medizinischen Erfassung findet hier eine Verengung von dem Problem des Paares hin zu einer Beschreibung der Unfruchtbarkeit der Frau statt. Diese Zuschreibung und Verschiebung findet sich ebenfalls in der Auffassung einiger Ärztinnen und Ärzte (s.u. Kap. 5.3.1) und in der Praxis der Behandlungsverlaufs verstärkt (s.u. Kap. 6.4). Die ICD stellt für die Diagnose und Behandlung von Unfruchtbarkeit eine differenzierte medizinische Beschreibung zur Verfügung. Allerdings spielen physische Einschränkungen und lokalisierbare medizinische Ursachen in der medizinischen Erstdiagnose „ungewollt kinderlos“ meistens eine untergeordnete Rolle. Vielmehr ist das Verstreichen von Zeit der bestimmende Faktor: Für den Beginn einer Behandlung ist zunächst ausschlaggebend, dass ein Paar eine bestimmte Zeit regelmäßigen ungeschützten Geschlechtsverkehr hatte und es in dieser Zeit zu keiner Schwangerschaft kam. Je nach Alter gilt ein Paar, das nach zirka einem Jahr regelmäßigen ungeschützten Geschlechtsverkehrs kein Kind zeugt, für Medizin und Krankenkassen legitim als behandlungsbedürftig bzw. -würdig; unabhängig davon, ob medizinisch lokalisierbare Faktoren, wie zum Beispiel auch von der ICD klassifizierte undurchlässige Eileiter oder das Fehlen von Samenzellen im Ejakulat, vorliegen oder nicht. Zentraler Bezugspunkt ist hier die Definition der WHO, die bereits 1975 Unfruchtbarkeit als „[i]nability to
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conceive within two years of exposure to pregnancy“ (WHO 2004: 3) definierte. Klinische Studien gehen häufig von einer Einjahresfrist aus und demographische Studien legen eine Fünf-Jahres-Periode zu Grunde (vgl. ebd.). Die Richtlinien der Bundesärztekammer (2006: §2) geben für Deutschland vor, dass bei der Wahl der reproduktionsmedizinischen Therapieform neben Diagnostik, Erfolgschancen und Gesundheit des Kindes als Faktoren auch das Alter der Frau und die „Dauer des Kinderwunsches […] Berücksichtigung finden“ (ebd.). Die betroffenen Paare haben also in Bezug darauf, was einen unerfüllten Kinderwunsch ausmacht, eine Art initiale Definitionshoheit. Sie sind es nicht nur, die den Kinderwunsch artikulieren und seine Dauer angeben, sondern auch diejenigen, die ihren Kinderwunsch mit der Entscheidung für eine Behandlung in einer gynäkologischen oder andrologischen Praxis oder einem Kinderwunschzentrum zu einem medizinischen Problem machen. Diese Entscheidung kann sicherlich nicht als unabhängig von der Verbreitung der Reproduktionsmedizin und medialer Berichterstattung gesehen werden, jedoch existiert das medizinisch behandlungsbedürftige Problem „unerfüllter Kinderwunsch“ auch qua medizinisch-institutioneller Definition nur dann, wenn die Paare es wie beschrieben artikulieren. Die medizinische Kategorisierung des Problems ist im Verlauf nachgelagert. Auch andere als medizinisch definierbare Zustände und Probleme können erst durch eine medizinische Konsultation sozial Bedeutung erlangen, doch gelten diese dann meist rückwirkend als Krankheit: Eine erst nach einer Obduktion festgestellte Krebserkrankung etwa bleibt medizinisch eine Krebserkrankung. Ein unerfüllter Kinderwunsch hingegen entzieht sich dieser retrospektiven Krankheitsdefinition. Die Quantifizierung „mindestens ein Jahr“ ist auch für die Paare ein Richtwert, jedoch durch medizinische Instanzen kaum überprüfbar. An die Stelle von medizinisch objektivierbaren Symptomen und damit zusammenhängenden gesellschaftlich geteilten und institutionalisierten Zustandsdefinitionen treten subjektiver Wunsch und die Definition des Paares. Der ambivalente Status der ungewollten Kinderlosigkeit wird auch darin deutlich, dass sich seine Behandlung von proto- oder idealtypischen medizinischen Eingriffen dahingehend unterschiedet, dass sie in Deutschland hinsichtlich des behandelbaren Personenkreis, der Nutzung der zur Verfügung stehenden Therapieformen und der Finanzierung durch die Krankenkassen beschränkt ist. Diese Einschränkungen sind dabei vor allem nichtmedizinisch begründet und zugleich umstritten. Der Zugang zur reproduktionsmedizinischen Behandlung ist durch eine Reihe von Regelungen begrenzt: In den Richtlinien der Bundesärztekammer (2006) richtet sich die Unfruchtbarkeitsbehandlung an „Paare mit Kinderwunsch“, gleichzeitig beschränken sie die Anwendung der IVF und ähnlicher Verfahren auf heterosexuelle Ehepaare bzw. in Ausnahmefällen auf heterosexu-
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elle Paare „in stabilen Partnerschaften“;2 die Behandlung Alleinstehender und homosexueller Paare wird ausgeschlossen. Die Leistungsvoraussetzungen und der Umfang der Kostenübernahme der Gesetzlichen Krankenversicherung sind durch das Sozialgesetzbuch (V, §27) geregelt. Neben den bei Krankheiten üblichen Bedingungen, wie der ärztlichen Feststellung einer Notwendigkeit der Behandlung sowie hinreichender Erfolgsaussicht, erstatten die Krankenkassen in Deutschland 50 Prozent der Behandlungskosten nur bei verheirateten Personen, Frauen zwischen 25 und 40 Jahren, Männern unter 50 Jahren, und nur wenn Eiund Samenzellen der Ehegatten verwendet werden. Auch wenn sich ein Partner oder eine Partnerin in der Vergangenheit hat sterilisieren lassen, besteht kein Anspruch auf Kostenübernahme durch die Krankenkassen. Die „hinreichenden Erfolgsaussichten“ sind nach drei erfolglosen Behandlungsversuchen nicht mehr gegeben. Es gibt verschiedene reproduktionsmedizinische Verfahren, die der Gesetzgeber in Deutschland verboten hat: Durch das Embryonenschutzgesetz (EschG) ist die Leihmutterschaft verboten. Mit dem Kindschaftsreformgesetz von 1998 gilt ausschließlich diejenige Frau als Mutter, die das Kind zur Welt bringt 3 (KindRG: 7). Im gleichen Zuge wird als Vater der Mann definiert, der zum Zeitpunkt der Geburt mit der Mutter verheiratet ist, die Vaterschaft anerkannt hat oder dessen Vaterschaft gerichtlich festgestellt wurde. Allerdings verbietet das EschG zwar mit der Leihmutterschaft die Aufspaltung der Mutterschaft in eine genetische und eine austragende – eine fragmentierte Vaterschaft, in der der biologische Vater nicht der soziale ist, wird hingegen lediglich dadurch eingeschränkt, dass bei heterologer Insemination kein Leistungsanspruch gegenüber den gesetzlichen Krankenkassen besteht. Die anfallenden Kosten von zirka 1.500 bis 2.000 Euro pro IVF-Zyklus stellen eine weitere Zugangsbeschränkung dar. Bis zum Inkrafttreten des Gesetzes zur Modernisierung der gesetzlichen Krankenversicherungen (GMG) am 1. Januar 2004 hatten die gesetzlichen Krankenkassen die Kosten von vier IVF-Zyklen vollständig getragen. Seit 2004 übernehmen die gesetzlichen Krankenkassen nur noch die Hälfte der Kosten für drei IVF-Behandlungen, pro Behandlungszyklus sind hierbei alle Embryonentransfers eingeschlossen. Nach der Geburt eines Kindes nach IVF besteht ein erneuter Anspruch auf die Zuzahlung zu drei Behandlungszyklen. Die Kostenübernahmeregelungen bei privaten Krankenkassen sind unterschiedlich und orientieren
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Über entsprechende Anträge nichtverheirateter Paare entscheidet eine Kommission der Bundesärztekammer. Es besteht allerdings für die Krankenkassen keine Verpflichtung zur Übernahme von Behandlungskosten (vgl. BVerfG 2007).
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Im Falle von Adoption kann von dieser Zuordnung abgewichen werden.
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sich unter anderem daran, wer als „Verursacher“ der Sterilität ausgemacht werden kann. Wenn alle drei von der gesetzlichen Krankenkasse mitfinanzierten Zyklen durchgeführt werden, entstehen dem Paar bis zu 6.000 Euro Kosten für die IVF-Behandlungen sowie zusätzliche Kosten von jeweils 500 Euro, wenn befruchtete Eizellen kryokonserviert und in einem späteren Zyklus eingesetzt werden. Die finanzielle Regelung in Deutschland stellt im internationalen Vergleich eine Ausnahme dar und wird auch außerhalb der Medizin kontrovers diskutiert – etwa in der sozialpolitischen, juristischen und bioethischen Forschung (vgl. Bockenheimer-Lucius u.a. 2008, Rauprich 2008). Mit der neuen Finanzierungsregelung sank die Zahl der Behandlungszyklen nach 2004 zunächst, der Trend der Steigerung der Nachfrage setzt sich aber mittlerweile wieder fort. Die Reduktion der Zuzahlung zur Behandlung des unerfüllten Kinderwunsches ist eingebettet in einen allgemeinen Trend, die Krankenkassenausgaben zu reduzieren und bestimmte Versorgungsleistungen nur noch gegen direkte Bezahlung durch die Patientinnen und Patienten anzubieten. Außerhalb des GMG werden medizinische Kinderwunschbehandlungen im Rahmen von Individuellen Gesundheitsleistungen (IGeL) angeboten, die gesetzlich Versicherte gegen Selbstzahlung in Anspruch nehmen können. Dazu gehören Zyklusmonitoring bei Kinderwunsch ohne Vorliegen einer Sterilität, künstliche Befruchtung außerhalb der GKVLeistungspflicht, Refertilisationseingriffe nach vorangegangener operativer Sterilisation, andrologische Diagnostik (Spermiogramm) ohne Hinweis auf Vorliegen einer Sterilität oder nach Sterilisation sowie Naturheilverfahren. Die Definition der medizinischen Klassifikationen des unerfüllten Kinderwunsches als Krankheit durch die ICD ist dadurch eingeschränkt, dass in der therapeutischen Praxis die Artikulation des Paares für die Begründung der Behandlung ausschlaggebend ist. Die gesellschaftspolitischen Regulierungen der Behandlung und ihre Begrenzung des Therapieangebots, der Gruppe der Behandlungsberechtigten und der Kostenübernahme zeigen, dass die Legitimität der medizinischen Therapie stark von außermedizinischen Kriterien bestimmt wird. Dies wird auch dadurch deutlich, dass die betreffenden Regelungen Gegenstand gesellschaftspolitischer Auseinandersetzungen waren und sind, in denen medizinische Bewertungskriterien nur eingeschränkt eine Rolle spielen: Betroffene Paare und deren Anwälte halten sie für verfassungswidrig, und auch im professionellen reproduktionsmedizinischen Diskurs herrscht keineswegs Einigkeit (s.u. Kap 5.2). In der Praxis werden die Regelungen von heterosexuellen und homosexuellen Paaren mit Kinderwunsch umgangen, indem diese eine Behandlung im Ausland durchführen lassen, Leihmutterschaft in Anspruch nehmen oder in informellen Arrangements Sperma von Spendern nutzen.
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Auf der Ebene der gesellschaftlich-institutionellen Regulierung wird der unerfüllte Kinderwunsch nur eingeschränkt als Krankheit definiert. Die institutionalisierten Erwartungen an die Ärztinnen und Ärzte und die Patientinnen und Patienten, die für Parsons aus strukturfunktionalistischer Sicht Krankheit definieren, haben im Fall des unerfüllten Kinderwunsches nur eingeschränkte Gültigkeit (s.o. Kap 2.2): Die Kinderlosigkeit lässt sich nur in bestimmten Fällen als unerwünscht definieren. Diese Definition wie auch die Entscheidung für die medizinische Behandlung liegt bei den Paaren. Hieraus lässt sich entsprechend weder die Verpflichtung, gesund werden zu wollen, noch die, fachliche Hilfe in Anspruch zu nehmen, ableiten. Aus dem unerfüllten Kinderwunsch selbst ergibt sich auch keine Aufhebung von Rollenverpflichtungen. Auch die Verhaltenserwartungen an die Ärztinnen und Ärzte – wie sie Parsons definiert – sind nur eingeschränkt gültig, da eine universalistische Hilfsbereitschaft schon durch die bestehende Regulierung stark eingeschränkt ist.
5.2 D ER U NERFÜLLTE K INDERWUNSCH UND B EHANDLUNG AUS S ICHT DER P AARE
SEINE
Während sich der Kinderwunsch der Paare in den gesetzlichen Regulierungen (Kap. 5.1) und auch für die Ärztinnen und Ärzte (Kap. 5.3) als relativ statische Referenzgröße darstellt, ist er für die Paare mit Ambivalenzen verbunden (Kap. 5.2.1). Die Entscheidung für ein Kind und die Kinderwunschbehandlung sind in sich verändernde biographische Lebensplanungen eingebettet (Kap. 5.2.4). Dass traditionelle Vorstellungen von Elternschaft unter den Bedingungen ihrer Optionalität nicht zwangsläufig aufgelöst werden und an Bedeutung verlieren, sondern zum Beispiel genetische Vorstellungen von Verwandtschaft durch die Reproduktionsmedizin gestärkt werden, hat vor allem die anthropologische Forschung gezeigt (s.o. Kap. 1). Dies wird durch die deutschen Regulierungen der Reproduktionsmedizin mit ihrer Marginalisierung zum Beispiel heterologer Verfahren bestärkt (Kap. 5.1). In den Deutungen der Paare bestätigt sich dies beispielsweise in dem tendenziellen Ausschluss von Adoption (Kap. 5.2.2). Während sich Elternschaft in den Beschreibungen der Frauen als Option darstellt, wird die reproduktive Gesundheit vorausgesetzt. Vor allem in der Nutzung von Verhütungsmitteln wird deutlich, dass reproduktive Gesundheit vor allem über die Abwesenheit von Einschränkungen und Krankheit definiert wird, eine Sichtweise, die sich mit Herzlich als Gesundheit als Vakuum bezeichnen lässt. Der Umgang mit dem eigenen Körper lässt sich hier als instrumentell charakterisieren (Kap. 5.2.3). Die Vorstellungen von reproduktiver Gesundheit wandeln sich allerdings
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mit dem Beginn der IVF-Behandlung: Gesundheit wird zu einem wichtigeren Thema und als ganzheitliches Gleichgewicht gesehen, der Gesundheitserhalt als Aufgabe (s.u. Kap. 7.2). 5.2.1 Ambivalenzen des Kinderwunsches Elternschaft ist für die interviewten Frauen nicht etwas, das sie als selbstverständlichen Teil ihres Lebensentwurfes betrachten. Ob, wann und wie viele Kinder sie bekommen, hängt für sie vor allem mit der Partnerschaft zusammen. Ausbildung und Berufstätigkeit werden nicht explizit als Gründe genannt, die Realisierung des Kinderwunsches auf einen späteren Zeitpunkt zu verschieben. Dass sie in den Überlegungen der Paare auch eine Rolle spielen, wird implizit dann deutlich, wenn sie davon sprechen, einen guten Zeitpunkt abzupassen. Ähnlich wie Frau Adam beschreiben viele Frauen ihre Lebensplanung: Ich war 28, ich habe geheiratet, Pille abgesetzt [und gedacht, cu]: Jetzt wäre das Alter, jetzt würde es passieren, jetzt kommt das Kind (P1R: 22).
Für einige Frauen steht der Kinderwunsch in engem Zusammenhang mit einer Formalisierung der Paarbeziehung: Für einige wird dieser Moment durch das Beziehen einer gemeinsamen Wohnung markiert, für andere ist die Heirat das bedeutsamere Ereignis. Einige Frauen beschreiben, dass sie relativ spät die Entscheidung für ein Kind getroffen haben. An dieser Stelle übernehmen – auch vergleichsweise junge – Frauen die medizinische Problematisierung eines hohen Erstgeburtsalters und geringere Schwangerschaftschancen. Zugleich relativieren sie diese Sicht dadurch, dass sie sie als Ausdruck einer legitimen Prioritätensetzung darstellen. Eine stabile und glückliche Partnerschaft, die sich in machen Fällen erst später im Leben realisiert hat, ist eine selbstverständliche Voraussetzung. Am deutlichsten formuliert dies Frau Falk: Erst mal sich selbst glücklich machen. Und dann kann man auch eine gute Partnerschaft führen […]. Also erst sich selbst glücklich machen und dann Kinder kriegen. Nicht, wenn man unausgegoren ist Kinder kriegen. Lieber dann so lange warten, bis [man sagen kann, cu]: Ich bin soweit. Und mit mir bin ich im Reinen (P6R: 218).
Der Wunsch nach einem eigenen Kind ist für die Paare keineswegs immer gleich ausgeprägt. Die Abhängigkeit des Kinderwunsches von anderen Lebensaspekten zeigt sich auch darin, dass sich bei vielen Paaren Phasen, in denen sie versuchen
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ein Kind zu bekommen, und Zeiten der Verhütung abwechseln. Dies wird auch in den Erstberatungsgesprächen deutlich, wenn die Paare nach der bisherigen Dauer ihres Kinderwunsches befragt werden, wie etwa die Antwort von Frau Diekmeier zeigt: Seit acht Jahren. Also, jetzt strikt, seit acht Jahren, jetzt strikt, mit Unterbrechungen (EG3N: 95).
Die Diskrepanz zwischen der betont präzisen Eingrenzung des Zeitraums und ihrer gleichzeitigen Relativierung lässt sich auch als Versuch lesen, zugleich die Inanspruchnahme medizinischer Therapie zu plausiblisieren und der lebensweltlichen Umgangsweise mit der Kinderlosigkeit gerecht zu werden. Im Interview mit Frau Adam (P1R) sind der Kinderwunsch und das Leiden an seiner Unerfülltheit zugleich zentrale Themen wie unhinterfragte Bezugspunkte. Diese Form der Thematisierung entspricht am ehesten den ärztlichen und institutionellen Zuschreibungen (vgl. Kap. 5.1, Kap. 5.3), stellt jedoch eine Ausnahme dar. Frau Adam hat bereits eine Tochter mithilfe von IVF bekommen und gerade die Behandlung für ein zweites Kind begonnen. In ihrer Beschreibung gibt es am Kinderwunsch selbst keinen Zweifel, vielmehr betont sie das Leiden, das mit der Kinderlosigkeit einherging. Die Zeit bis zur Geburt ihrer ersten Tochter beschreibt sie als „lange, bittere Jahre“ (P1R: 33). Der unerfüllte Kinderwunsch war von Neidgefühlen gegenüber Frauen mit Kindern geprägt: Wenn man wirklich jedem Kinderwagen hinterhergiert. Und denkt, warum ist die Frau schwanger und ich nicht? Warum klappt das bei denen? (P1R: 16).
Zugleich war diese Zeit für sie auch mit Schuldgefühlen und Selbstzweifeln verbunden: Vor allen Dingen dieser Leidensweg, weil man fühlt sich ja schuldig. Und es ist nicht geklärt, woran liegt es. Bis irgendwann geklärt ist, liegt es am Mann, an der Frau. Man fühlt sich dann als Frau schuldig [...]. Ich habe mich nicht vollwertig als Frau gefühlt (P1R: 43).
Schwangerschaft und das Gebären von Kindern werden als normative Erwartungen verstanden. Dementsprechend beschreibt Frau Adam auch die Eintritt der ersten Schwangerschaft als eine Art existenzielles Erlebnis: Erst mit dem Eintritt der Schwangerschaft konnte, in ihrem Worten, ihre „Seele sich richtig heilen“. Die Selbstverständlichkeit des Kinderwunsches spiegelt sich in einer Generali-
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sierung ihrer subjektiven Erfahrung, wenn Frau Adam andere Frauen in Kinderwunschbehandlung beschreibt: Aber wenn ich die Frauen [im Wartezimmer, cu] anschaue und in die Gesichter schaue, merke ich auch, wenn man diesen Kinderwunsch hat und so viele Jahre mit sich trägt, man leidet da auch (P1R: 45).
In anderen Interviews finden sich ähnliche Beschreibungen der Erfahrungen des unerfüllten Kinderwunsches. Zum zentralen Thema wie bei Frau Adam werden sie allerdings sonst nicht. Dass es eine Ausnahme bleibt, dass das Leiden am Kinderwunsch einen zentralen Stellenwert einnimmt wie, ist sicherlich auch darauf zurückzuführen, dass die meisten Paare schneller als Frau Adam eine für sie passende medizinische Anlaufstelle finden, zum Zeitpunkt des Interviews die Belastungen durch die reproduktionsmedizinische Behandlung virulenter sind und nicht zuletzt, dass der Kinderwunsch in der Behandlungspraxis zugleich eine vorausgesetzte wie auch ärztlich dethematisierte Referenzgröße ist (s.u. Kap. 5.3.1). Zugleich zeigen aber die Reflexionen des Weges bis zur medizinischen Behandlung in anderen Interviews, dass auch der Kinderwunsch selbst mit Ambivalenzen verbunden ist. Bei Frau Falk (P6R) und Frau Jansen (P9R) gehört der grundlegende Zweifel am Kinderwunsch zu den Kernthemen der Interviews. Bei beiden ist die mögliche Elternschaft mit einer großen Unsicherheit verbunden. Im Gegensatz zu Frau Adam, die die – vermuteten – gesellschaftlichen Erwartungen an Frauen, Mutter zu werden, verinnerlicht hat, sind es gerade die Erwartungen, die von außen an sie herangetragen werden, die von Frau Falk und Frau Jansen problematisiert werden. Beide Fälle lassen sich als Beispiel dafür interpretieren, wie mit der Enttraditionalisierung der Lebensläufe einerseits Befreiung aus alten Zwängen, anderseits neue Zwänge und Begrenzungen einhergehen (s.o. Kap. 1.1). Frau Falk beschäftigte sich seit ihrer frühen Jugend aufgrund von Unterleibserkrankungen und -operationen mit der Frage, ob sie Kinder bekommen könne. Diese Unsicherheit hat in ihrer Selbstbeschreibung dazu geführt, dass sie die gesellschaftlichen Erwartungen an Frauen kritisch hinterfragt hat: Als Frau sich zu fragen, ob Kinder oder nicht. Ich glaube [...] als Mädel […] wächst [man] schon damit auf, mit dieser Rolle der Frau, Mutter, Muttersein, Kindersein, also Kinderhaben. Habe ich auch so empfunden und dann beschäftigt man sich auch damit. Wenn man körperlich nicht gesund ist und Unterleibsbereich nicht gesund ist, dann trägt man das, glaube ich, mit sich. Mit dreizehn, vierzehn Jahren fängt das an, dass man sich Gedanken macht (P6R: 18).
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Frau Falk formuliert explizit die auch von der soziologischen Literatur beschriebene Entselbstverständlichung der Elternschaft und den damit einhergehenden neuen Entscheidungsspielraum. Zugleich kontextualisiert sie diese Entscheidungsfreiheit mit Kritik an der unzureichenden Vereinbarkeit von Familie und Beruf: Ich find’, das ist ’ne Frage, die Frauen sich früher sicher nicht gestellt haben, da war es selbstverständlich. Aber heute kann man sich als Frau ruhig auch die Frage stellen: Will ich das überhaupt? […] Wie passt das in meine Lebensplanung? Gibt ja Studien, dass 60 Prozent der Akademikerinnen kinderlos bleiben. Ich glaub’, das ist zu hoch gegriffen. Aber wenn es nur 40 oder 30 sind, sind es noch viele. […] Karriere kannst du dann erstmal haken, wenn Sie irgendwie in einer Abteilungsleitung stehen, mit Halbzeit nur. Ich denke schon, das ist mehr ein Thema für Frauen als für Männer (P6R: 222).
Die Entscheidungsräume für ein Kind werden also aus Sicht von Frau Falk durch strukturelle Nachteile, die mit der Mutterschaft einhergehen, begrenzt. Zugleich beschreibt und kritisiert sie aber die normativen Erwartungen an Frauen, Kinder zu bekommen. Diese Erwartungen sieht sie zum einen von ihrem persönlichen Umfeld an sie gestellt, zugleich verweist sie aber auch auf eher unbestimmte gesellschaftliche Erwartungen und Normen: Ich habe lange gebraucht, mich überhaupt durchzuringen, überhaupt Kinder zu wollen. Also, ich konnte lange nicht unterscheiden, will ich jetzt Kinder, weil meine Familie das von mir erwartet, weil meine Schwester welche hat und ich auch ihr entsprechen will, weil die Gesellschaft das so erwartet von Frauen. Weil alle fragen: „Na, wann ist es denn soweit?“ [lacht]. Oder ob ich selber welche will (P6R: 20).
Die Freiheit, sich für oder gegen ein Kind entscheiden zu können, führt hier, verstärkt durch die Reflexion gesellschaftlicher Normierungen, dazu, dass Frau Falk sich in einer komplexen Entscheidungssituation wiederfindet. An die Stelle vorgegebener Lebenswege tritt die Erwartung einer individuellen und autonomen Entscheidungsfindung. Die Analyse und Kritik der gesellschaftlichen Normen und Mechanismen verstärken gleichzeitig ihre Verunsicherung bezüglich ihres eigenen Kinderwunsches. Die IVF verortet Frau Falk als einzige der interviewten Frauen explizit und kritisch im Zusammenhang von gesellschaftlichen Normierungen, die die Freiheit, sich für oder gegen Kinder entscheiden zu können, wiederum einschränken:
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Die Gefahr, find’ ich, ist auch, wenn man IVF anbietet, dass man setzt Frauen noch unter Gebärzwang. „Ach, du kannst nicht schwanger werden, dann mach doch das auch noch“. [...] Und die wachsende Anzahl Frauen, die nicht mehr können, einfach weil sich auch hormonell so viele Menschen ändern, dass viele unfruchtbar und auch viele Männer, dass man das nicht einfach akzeptiert, dass das auch ein Leben ist, dass man nicht alles bis zum Erbrechen machen muss, um in Gottes Namen ein Kind zu haben. Was man vielleicht nicht wirklich vorher so wollte. Da seh’ ich so die Gefahr (P6R: 218).
Dieser kritischen und reflektierten Haltung steht ein eher pragmatischer Umgang mit der Entscheidung für die eigene IVF-Behandlung gegenüber: [Für eine Behandlung habe ich mich entschieden, cu] [w]eil ich dieses Jahr vierzig werde. Ich wollte, auch wenn ich nicht weiß, ob ich je sicher sein werde, ob ich wirklich Kinder will. Aber wenn ich es jetzt nicht versuche, mache ich mir vielleicht in fünf Jahren Vorwürfe, wenn es wirklich definitiv zu spät ist (P6R: 22).
Die Altersgrenze von 40 Jahren, die der Entscheidung zugrunde liegt, ist dabei nicht zufällig gewählt: In ihr kommt sowohl eine Übernahme der medizinischen Sicht auf die abnehmende Fruchtbarkeit von Frauen zum Ausdruck als auch eine Orientierung an der von den Krankenkassen gesetzten Zuzahlungsgrenze. Die Reflexion der Zwänge, die mit dem Angebot der IVF einhergehen, bedeutet hierbei nicht, dass Frau Falk sich diesen entziehen kann. Vielmehr führt das reproduktionsmedizinische Planungsangebot dazu, dass eigenverantwortlich geplant und abgewogen werden muss. Denn die Verantwortung für das Ausschlagen der reproduktionsmedizinischen Option sieht Frau Falk bei sich selbst. Für Frau Jansen (P9R) stellt sich die Frage, ob sie überhaupt Kinder haben möchte, erst während der reproduktionsmedizinischen Behandlung. Auch für Frau Jansen geht dieser Zweifel mit einer Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Erwartungen an Frauen und der Frage ihres Alters einher: Ich habe dann auch wirklich mittendrin im letzten Jahr, wo ich Zeit hatte, darüber nachzudenken, habe ich wirklich überlegt, wollte ich denn tatsächlich überhaupt Kinder in dem Moment. Oder habe ich einfach nur gedacht, wenn ich das jetzt nicht mache, dann ist es zu spät. Und das sind, glaube ich, zwei verschiedene Sachen. Das eine ist, was sagt die Außenwelt dazu … (P9R: 66).
Auch hier erscheint in einer Situation, in der Elternschaft ihre Selbstverständlichkeit verliert, die Artikulation des Kinderwunsches als eine Aufgabe, die mit einem aktiven Abwägungsprozess einhergehen sollte. Es wird erwartet, dass ihr
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eine innere Entscheidungsfindung, abgekoppelt von sozialen Kontexten und antizipierten biologischen Grenzen, zugrunde liegt. In dieser verunsicherten Lage wird für Frau Falk das Beispiel einer ihrer Schwestern ein wichtiger Bezugspunkt. Ihre Berufstätigkeit ist für Frau Jansen zentral für ihr Selbstverständnis. Sie bezeichnet sich selbst als „Workaholic“ (P9R: 28). Die Lebenssituation ihrer Schwester erlebt sie als mit ihrer vergleichbar, da auch in ihrem Leben die Berufstätigkeit eine zentrale Rolle spielt und gleichzeitig ihre Fertilität eingeschränkt war: Und gerade jetzt, wo meine Schwester auch ein Kind bekommen hat, wo man eigentlich gedacht hatte, sie kriegt nie Kinder, aus gesundheitlichen Gründen und weil sie so viel im Stress ist. Haben eigentlich alle gesagt, die haben zwei Haustiere, sie wird sowieso nie Kinder kriegen. Und sie ganz lange gesagt, sie will auch keine Kinder: Wir wollen unser Leben leben. Wir arbeiten viel, wir möchten das genießen (P9R: 102).
Dass nun eine ihrer Schwestern unter diesen Bedingungen ein Kind bekommen hat, erscheint Frau Jansen als paradox, aber gleichzeitig auch als Vorbild und Entscheidungshilfe: Und die [meine Schwester, cu] hat letztlich ein Kind bekommen. Und meine Schwester ist eine absolute Stressfrau […] Und seitdem sie das Kind hat, ist sie total anders. Sie ist ganz verändert, ruhiger geworden, sonniger. Sie sieht im Gesicht nicht mehr so k.o. und verlebt aus. Sie ist etwas jünger als ich und hat immer total viel geraucht. Sie hat sich total verändert. Und zwar, finde ich, zum absolut Positiven (P9R: 102).
Vor dem Hintergrund ihrer ambivalenten Gefühle und der Reflexion und Zurückweisung der an sie herangetragenen Erwartungen bekommt das Beispiel ihrer Schwester eine entscheidende Relevanz und trägt dazu bei, dass Frau Jansen die Kinderwunschbehandlung beginnt: Und da ich ja nun auch schon eine ganze Weile relativ unzufrieden bin, aber nicht weiß, warum, habe ich mir dann gedacht, na ja, vielleicht ist das die Lösung meiner Schwierigkeit. Und deswegen hat mich das schon verändert. Und zwar wirklich auch erst im letzten Jahr. Also ich kann nicht sagen, dass das immer so war, sondern ich habe mich mit dem Kinderwunsch und mit Kindern überhaupt nicht beschäftigt (P9R: 102).
Das Beispiel von Frau Jansen zeigt, wie das eher zufällige Ereignis der Geburt des Kindes ihrer Schwester in einer Situation, die von starker Unsicherheit und Ambivalenz geprägt ist, zu einem zentralen Orientierungspunkt wird. Es wird
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zum Gegenpol des zuvor eher positiv beschriebenen von Arbeit bestimmten Lebensentwurfs des Workaholics. Statt als Zwang erscheint hier die Reproduktionsmedizin eher als Mittel zum Zweck. Im Gegensatz zu Frau Falk, für die die reproduktionsmedizinische Behandlung selbst eine pragmatische Lösung der Ambivalenzen darstellt, beschreibt Frau Jansen ein Kind als Ausweg aus ihrer Unzufriedenheit, als „Lösung ihrer Schwierigkeit“. In den beiden Interviews zeigen sich exemplarisch zwei Momente, die auch in den anderen Lebensverläufen und Interviews aufscheinen: Zum einen wird Elternschaft zur Option und bewussten Entscheidung. Sie wird tendenziell auf einen späteren Zeitpunkt verschoben und von der partnerschaftlichen, aber auch beruflichen Situation abhängig gemacht. Zugleich sehen sich die Frauen mit traditionellen Vorstellungen von einer Partnerschaft mit Kindern konfrontiert. Die Möglichkeit, aber auch der Zwang zur bewussten Entscheidung für Kinder kann dabei eine Herausforderung darstellen, die mit großer Verunsicherung einhergeht. Hier bestätigt sich hier die soziologische Diagnose, dass Elternschaft zunehmend zur Option wird (s.o. Kap. 1). Dies wird durch die Reproduktionsmedizin dahingehend verstärkt, dass die biologische Grenze der Realisierung des Kinderwunsches verschoben wird, wodurch neue Handlungsspielräume eröffnet werden, die aber gleichzeitig mit neuen Entscheidungszwängen einhergehen. Dieser Befund widerspricht damit zugleich dem Bild des unbedingten Kinderwunsches, das das Leiden des Paares aufruft, um den Einsatz von reproduktionsmedizinischen Verfahren zu begründen, wie dies in der öffentlichen Diskussion, von Seiten der Medizin, Ärztinnen und Ärzte (s.u. Kap. 5.3), aber auch von Betroffenenverbänden getan wird. Selbst verantwortlich für das Gelingen ihrer „Bastelbiographien“ (Hitzler und Honer 1994), finden Frauen und Paare sich mit ihrem Kinderwunsch und der Abwägung seiner reproduktionsmedizinischen Behandlung in einer Situation zwischen „Planungsangebot und Planungsfalle“ (Beck-Gernsheim, z.B. 2002). Das Angebot der Reproduktionsmedizin erscheint als vereinfachte Lösung einer komplexen lebensweltlichen Problemlage, der die Patientinnen aber zugleich mit einer pragmatischen Kompetenz begegnen. 5.2.2 Hierarchisierte Elternschaft Die Entscheidung für eine medizinische Behandlung des Kinderwunsches ist zugleich eine Entscheidung gegen mögliche andere Formen des Lebens mit Kindern, etwa im Rahmen von Pflege- oder Adoptionsfamilien. Nur in drei der 17 aufgezeichneten Erstberatungsgespräche und in vier von zehn Interviews wird Adoption zum Thema. Dies ist nicht nur als Ausdruck persönliche Präferenzen der Paare zu lesen, sondern auch auf die Situation in der Klinik, die strukturell
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von dem geteilten Ziel der medizinischen Behandlung und zum anderen von einem Dethematisierung der Ambivalenzen des Kinderwunsches gekennzeichnet ist, zurückzuführen (s.u. Kap. 5.3.1). Dass die Entscheidung für eine medizinische Behandlung nicht zwangsläufig in Opposition zu anderen Formen von Elternschaft steht, zeigen die Interviews und Erstberatungsgespräche, in denen Adoption thematisiert wird. In fast allen Fällen werden medizinische Verfahren der Adoption vorgezogen. So wird beispielsweise in einem der Erstberatungsgespräche die Adoption erwähnt, um die bevorzugte Option der heterologen Insemination zum Ausdruck zu bringen. Zwei Ehepaare haben Adoptionsverfahren parallel zu der medizinischen Behandlung begonnen. Für das Ehepaar Eckhardt (EG4N) ist dies eine Alternative zur alternativmedizinischen Behandlung: Auf diesem Weg sind wir auch schon, wir haben da den Fragebogen ausfüllen müssen, um dann an solchen Seminaren teilzunehmen, um die Grundvoraussetzungen zu schaffen. Also, diese Schiene haben wir als Alternative auch eingeschlagen (EG4N: 178).
Das Ehepaar Hoffmann (P8R) war vor seiner ersten IVF-Behandlung in einer ähnlichen Situation. Jedoch hat die Möglichkeit der Adoption seit der Geburt ihrer ersten Kinder nach IVF an Bedeutung verloren: Wir hatten dann, schon bevor der erste Erfolg da war, einen Adoptionsantrag gestellt auf ein Geschwisterpaar. Als das dann klar war [die folgende Schwangerschaft, cu], haben wir den erstmal ruhen lassen und der ruht sozusagen bis heute immer noch. Aber das war sozusagen für uns die Alternative (P8R: 26).
In beiden Fällen zeigt sich eine Bevorzugung von leiblichen Kindern; die Adoption wird als Alternative gesehen, wenn die medizinische Behandlung erfolglos bleibt. Für das Ehepaar Hoffmann hat diese Strategie auch nach der Geburt ihrer ersten beiden Kinder weiterhin Bedeutung: Der Adoptionsantrag bleibt auch während der IVF-Behandlungen als eine Art Rückversicherung bestehen, obgleich ein weiteres Kind nach IVF geboren wurde und nun, drei Jahre später, erneut eine reproduktionsmedizinische Behandlung begonnen worden ist. Diese Gewichtung und Bevorzugung der leiblichen Elternschaft kommt auch bei drei weitere Frauen zum Ausdruck, die betonen, dass sich die Entscheidungen für eine Unfruchtbarkeitsbehandlung und für die Adoption einen Kindes grundsätzlich unterscheiden. Die Reproduktionsmedizin eröffnet hier erst die Möglichkeit dieser Priorisierung. Dies wird deutlich, wenn Frau Caglar auf ihr Alter als Entscheidungsfaktor verweist:
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Nein, es ging ja nur – also, wenn Kind, dann nur so. Sonst nicht. Und dann eventuell ein Adoptivkind und wenn es geht, aus unserem eigenen Land, weil mein Mann noch die andere Staatsbürgerschaft hat. Aber wenn man jung ist, dann will man doch erstmal ein leibliches Kind haben. Alles ausprobieren, was so ausschöpfbar ist (P3R: 31).
Die Reproduktionsmedizin bietet hier einerseits neue Handlungsspielräume, andererseits geht mit ihrem Angebot auch die Verpflichtung einher, diese zu nutzen. Für Frau Caglar und Frau Falk (s.u.) bedeutet Priorisierung des leiblichen Kindes, dass sie alle zur Verfügung stehenden medizinischen Therapiemöglichkeiten nutzen. Die Reproduktionsmedizin ist in diesen Fällen ein Hilfsmittel der Konstruktion einer gewissen Normalität – in Absetzung von der aus dem Rahmen der Normalität fallenden Möglichkeit der Annahme eines „fremden“ Kindes. Die Beschränkung der Adoption auf ein Kind aus dem Herkunftsland bei Frau Caglar (P3R) lässt sich als Versuch lesen, eine leibliche Verwandtschaft zu imitieren, bei dem die soziale Zugehörigkeit über den Ort hergestellt wird. Eine äußerliche Ähnlichkeit des adoptierten Kindes mit den Eltern könnte zudem eine Täuschung im Goffman’schen Sinne (s.o. Kap. 2.2) über die eigene Unfruchtbarkeit erleichtern. Gleichzeitig ist diese Entscheidung zum Zeitpunkt des Interviews aber eher eine hypothetische Erwägung und könnte vor allem von pragmatischen Überlegungen motiviert sein, wie beispielsweise den vermuteten einfacheren Verfahrenswegen. Für Frau Falk (P6R) erfordern die Entscheidungen für ein leibliches und ein Adoptivkind jeweils eigene Abwägungsprozesse und -zeiten: Gut, da bleibt dann ja nur noch Adoption. Ich habe als junges Mädchen gedacht –weil im Raum stand ja immer die Möglichkeit, dass es nicht klappt – [...] ach, wenn das nicht klappt, dann adoptierst du so ein nettes Kind aus Asien oder irgendwie. Aber als es jetzt so konkret war, dass man sich überlegt, was machen wir, wenn das jetzt nicht klappt, ist es irgendwie nicht wirklich eine Option. Es ist halt nicht ein eigenes Kind und wenn man es als eigenes Kind will, das ist auch noch eine andere Sache. Ich glaube, man braucht Abstand zwischen IVF und Adoption. […] Eben weil es eigene Kinder sein sollen. Und das andere weiß ich noch nicht (P6R: 36–38).
Hier wird deutlich, dass sich die Entscheidung für die medizinische Behandlung nicht allein auf eine Bestätigung einer medizinischen Sicht und Verstärkung einer genetischen Elternschaft reduzieren lässt. Zwar halten die früheren eher hypothetischen Überlegungen der Konkretisierung des Kinderwunsches in der Paarbeziehung nicht stand und die leibliche Elternschaft scheint näher zu liegen, nichtsdestotrotz ist hier eher als eine grundlegende Ablehnung der Adoption eine
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Reflexion dieser Option als besondere biographische und lebensweltliche Herausforderung zu erkennen. In dem Interview mit Frau Dorsch (P4R) wird dieser Aspekt noch einmal besonders deutlich: Sie erklärt das Zurückstellen einer Adoption mit den zu erwartenden neuen Herausforderungen, die dieser Prozess mit sich brächte und weist die Bedeutung einer biologischen Elternschaft explizit zurück: [Eine Adoption, cu] haben wir uns auch überlegt. Haben wir uns auch klar Gedanken gemacht und sind da auch offen für. Ist natürlich eine Hemmschwelle, nicht, weil es kein eigenes Kind ist, sondern [...] weil man denkt, so jetzt hat man diesen einen Berg erklommen, ist nicht am Gipfel angekommen, sage ich mal. Und jetzt steht man wieder unten im Tal und muss wieder unheimlich viele Dinge angehen. Und die sind sicher sehr, sehr schwierig […]. Hat man Angst, das anzugehen, weil man denkt, das wird wieder so schwierig (P4R: 42).
In dieser Beschreibung kommt sowohl die sich steigernde Dynamik der IVFBehandlung bildlich zum Ausdruck (s.u. Kap. 6.2) als auch die starke Belastung, die beide Wege für das Paar mit sich bringen. Frau und Herr Dorsch (P4R) haben sich dennoch konkretere Gedanken zur Adoption gemacht: Für sie kommt eine Auslandsadoption ebenso in Frage wie die Adoption eines älteren Kindes. Trotz dieser gründlichen Auseinandersetzung und Entscheidungsfindung bleibt die Adoption aber auch für das Ehepaar Falk eine Option, die nur im Falle des Misserfolgs der IVF-Behandlung gewählt wird. Die zitierten Eindrücke zeigen auf, dass auch für Paare in medizinischer Kinderwunschbehandlung andere Formen von Elternschaft nicht notwendigerweise ausgeschlossen werden und der Entscheidungsprozess keineswegs abgeschlossen sein muss. Hier spiegeln sich die Ambivalenzen, die mit dem Kinderwunsch einhergehen. Die in allen Fällen vorgenommene Hierarchisierung von eigenen und adoptierten Kindern bestätigt nichtsdestotrotz die Bedeutung von biologischer Elternschaft. Diese wird insofern durch die reproduktionsmedizinische Angebote verstärkt, als die Paare sich aufgefordert sehen, auch alle therapeutischen Möglichkeiten zu nutzen, um ein leibliches Kind zu bekommen. Einige Frauen erzählen im Interview, dass sie vorhaben, im Ausland Behandlungsformen zu nutzen, die in Deutschland verboten sind. Dies betrifft aber nur Verfahren, die Ei- und Samenzellen des Paares nutzen, etwa die längere Entwicklungszeit der Embryonen. Leihmutterschaft und Eizellspenden hingegen werden von keiner der Frauen thematisiert, was sich als ein weiterer Hinweis auf die Bedeutung der biologischen Verwandtschaft lesen lässt.
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5.2.3 Reproduktive Gesundheit als Instrument Die Erfüllung des Kinderwunsches ist für die Paare zunächst etwas, das sie für planbar halten. Im Umgang mit der Fertilität gibt es einen klar definierten Wendepunkt; die Bemühungen um die Verhütung einer Schwangerschaft und um die Entkoppelung von Sexualität und Reproduktion werden zu diesem Zeitpunkt nahtlos abgelöst von dem Versuch, schwanger zu werden. Die Vorstellungen von reproduktiver Gesundheit bleiben dabei eher unbestimmt und sind stark von einer Abwesenheit von Einschränkungen und Krankheit gekennzeichnet: reproduktive Gesundheit erscheint im Sinne Herzlichs als Vakuum (s.o Kap. 2.3). Der instrumentelle Umgang mit dem Körper während der Verhütungszeiten wird mit den Zeugungsbemühungen fortgesetzt. Medizinisches Wissen und Techniken werden genutzt, um auf den Körper mit dem Ziel einer Schwangerschaft einzuwirken, jedoch geht dies nicht automatisch mit einer Zuständigkeit der Medizin einher. Für die Paare gibt es zunächst kaum Anzeichen, dass ihre Reproduktionsfähigkeit eingeschränkt sein könnte – und wenn doch, deuten sie diese nicht entsprechend. Die Fruchtbarkeit haben sie lange vorausgesetzt und der Umgang mit dem Körper und der eigenen Fruchtbarkeit war davon geprägt, eine Schwangerschaft zu verhindern. Zwar rechnen die wenigsten Paare damit, dass es sofort zu einer Schwangerschaft kommt; wenn dies jedoch auch nach mehreren Monaten oder Jahren noch nicht geschehen ist, sind die meisten Paare überrascht und beschreiben diese Erfahrung häufig als Schock. Wie unhinterfragt die eigene Fruchtbarkeit ist, zeigt auch der Fall von Frau Falk (P6R): Sie, dass sie sich sehr früh mit der Frage beschäftigte, ob sie Kinder bekommen könne, und verbindet dies explizit mit ihrer Krankengeschichte: Also durch meine medizinische Vorgeschichte habe ich schon immer seit der Pubertät alle Ärzte gelöchert, ob das wohl klappen könnte oder nicht. […] Also eigentlich habe ich mir schon [gedacht], die Wahrscheinlichkeit größer, dass es nicht klappt (P6R: 16, 36).
Jedoch beschreibt auch sie, dass sie trotz dieser Erfahrungen und Zweifel im Grunde davon ausgegangen war, zu einem gewünschten Zeitpunkt schwanger werden zu können: Wobei ich so die Realität lange weggeschoben habe. Wenn ich dann mal will, habe ich mir gedacht, dann klappt das schon. Das war ein bisschen naiv, muss ich sagen. Also der Schock, dass es dann nicht einfach so mal klappt, war schon groß (P6R: 18).
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Frau Kaiser wundert sich im Interview ebenfalls über ihre lange Zuversicht, ohne medizinische Hilfe schwanger werden zu können: Ich habe bei mir recht spät überlegt, dass das wohl so einfach nicht klappt und ich irgendwie was Medizinisches in Angriff nehmen muss. Ich habe das recht locker gesehen und habe gedacht, na ja, wird schon klappen. Und plötzlich, nachdem die hier gefragt haben, wie lange haben Sie denn schon Kinderwunsch, musste ich doch sagen, oh, es sind doch schon fünf, sechs, sieben Jahre. Wo ich mir dann gedacht habe, eigentlich doch ein bisschen naiv vielleicht, so lange Zeit zu denken, wenn es nicht klappt, vielleicht klappt es im nächsten Monat. Weiß ich nicht. Nicht dass die das gemeint hätten, sondern, wo ich mir dann so gedacht habe, eigentlich haben wir recht lange darauf vertraut, dass sich irgendwie was tut, ohne, ohne auch nur annähernd auf die Idee zu kommen, was könnte man denn unterstützend tun oder so (P10R: 152).
Dieses Beispiel zeigt besonders deutlich, dass die medizinische Zuständigkeit für den – hier auch längere Zeit unerfüllt bleibenden – Kinderwunsch keineswegs selbstverständlich gegeben ist. Zwischen der Einstellung der Verhütung und dem Beginn einer medizinischen Behandlung bleibt eine Zeit der Erwartung und Hoffnung erhalten. In der retrospektiven Deutung dieser Zeit reinterpretiert Frau Kaiser ihre Zuversicht einerseits – nun mit reproduktionsmedizinisch geschultem Blick – ähnlich wie Frau Falk als Naivität, andererseits wird in ihren Formulierung auch deutlich, dass die medizinische Zuständigkeit oder der Zeitpunkt, in dem sie sinnvoll wirksam wird, etwas bleibt, das verhandelbar ist. Die Verhütung ist für die meisten Frauen eine fast habituelle reflexive Körpertechnik, wenn sie über Jahre täglich die Antibabypille nehmen. Aber auch andere Verhütungsmethoden erfordern regelmäßig die aktive Verhinderung einer Schwangerschaft – sei es durch die Nutzung von Kondomen, das Einsetzen und Kontrollieren von Spiralen oder die kalendarische Erfassung von unfruchtbaren Tagen. Dass die Verhütung einer Schwangerschaft für Frauen ein besonders bedeutsames Thema ist, zeigt die sorgfältige Abpassung eines günstigen Zeitpunkt der Realisierung der Elternschaft sowie die Ambivalenzen, mit denen der Kinderwunsch verbunden ist (s.o. Kap. 5.2.1). Vor diesem Hintergrund erscheint es weniger paradox, dass bei Frau Falk (P6R) die anderslautenden medizinischen Indikationen und ihre eigenen Zweifel an ihrer Fruchtbarkeit von der Annahme überlagert wurden, zum gewünschten Zeitpunkt Kinder bekommen zu können. Zugleich reguliert die Einnahme der Antibabypille den Menstruationszyklus so, dass er einem Normzyklus von 28 Tagen entspricht und es meist zu einer Periodenblutung kommt. Eventuelle Zyklusunregelmäßigkeiten, die auf eine eingeschränkte Fruchtbarkeit hinweisen könnten, können so nicht erfahren werden.
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Die Ärztinnen und Ärzte berichten häufig vom Erstaunen ihrer Patientinnen darüber, dass ihr Zyklus ohne Antibabypille weniger berechenbar ist. Für einige Frauen ist der Pillenzyklus der Referenzpunkt einer Normalität, von der ihr derzeitiger Zyklus abweicht. Für die meisten Paare beginnt mit dem Beenden der Verhütung eine aktive und bewusste Einflussnahme auf die Schwangerschaftschancen: In Erstberatungsgespräch geben die meisten Paare auf Nachfrage der Ärztinnen und Ärzte an, gezielt zu den vermuteten fruchtbarsten Tagen Geschlechtsverkehr gehabt zu haben. Die einfachste und bekannteste Methode ist die fruchtbaren Tage rechnerisch abzuschätzen. Als genauere Möglichkeiten nutzen einige Frauen Zykluskalender, in denen sie neben den Blutungstagen die morgendliche Temperatur und manchmal auch die Beschaffenheit des Zervixschleims eintragen. Manche Paare nutzen auch zur Verhütung entwickelte kleine Computer, die mithilfe von Hormonmessung im Urin fruchtbare und unfruchtbare Tage ermittelt. Diese Computer und Teststäbchen sind in Drogerien und Apotheken rezeptfrei erhältlich. Drei Patientinnen geben im Erstberatungsgespräch an, sowohl ihren Zyklus systematisch mittels der Temperaturmethode beobachtet zu haben als auch Hilfsmittel hierfür benutzt zu haben. Dabei wird die Nutzung der verschiedenen Verfahren – Temperaturmessung, Ovulationstest, Computer – oft als Steigerung beschrieben. Dies zeigt beispielhaft die Schilderung der Bemühungen um eine genauere Eingrenzung der fruchtbaren Tage einer Patientin im Erstberatungsgespräch: Ich hab’ alles schon gemacht. Temperaturmethode, Ovulationstest, Persona. Hab’ ich alles schon durch (EG7N: 143).
Diese Steigerung der Mittel findet ihre Fortsetzung in der Wahl reproduktionsmedizinischer Maßnahmen (s.u. Kap. 6.2). Der technisch vermittelte Zugang zum Wissen über den eigenen Körper geht dabei nicht notwendigerweise mit einem Bedeutungsverlust des leiblichen Empfindens einher. So beschreibt etwa Frau Kaiser zum einen, dass sie mehrere Verfahren – erfolglos und für sie abschließend – angewandt hat, aber gleichzeitig auch ein Gefühl dafür entwickelt hat, wann sie fruchtbar ist: Damit [Temperaturkurve] sind wir durch. Ich hab’ das eine Weile gemacht. Ich hab’ auch diesen Persona-Computer. […] Mit dem Eisprung. Ich spüre das auch so ein bisschen […]. Ich hab’ das so im Feeling. Unterleibsspannungen (EG6R: 43- 47).
Zwischen leiblichem Spüren und medizinische und technisch gestützten Wissen über körperliche Vorgänge besteht hier eine reflexive Wechselbeziehung.
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Während die Paare angeben, über die Zeit der Länge des Kinderwunsch in den fruchtbaren Tagen der Frau gezielt Geschlechtsverkehr zu haben, wird die Bestimmung dieser Tage über eine grobe rechnerische Abschätzung hinaus nur über einen begrenzten Zeitraum verfolgt und nach wenigen Zyklen wieder eingestellt. Allein die Nutzung dieser Techniken geht nicht mit einer Dominanz eines klinischen Blicks auf sich selbst einher. In der Beschreibung der Praxis dieser Nutzung zeigt sich vielmehr, dass dieser zeitlich begrenzt und pragmatisch ist, wie die Äußerungen von Frau Eckhardt im naturheilkundlichen Erstberatungsgespräch zeigen: Ich habe mir so einen kleinen Computer gekauft, wo ich dann morgens mit gemessen habe und habe das auch parallel mit der Hand geführt. Ich habe es wieder eingestellt, weil dieses morgendliche Immer-daran-Denken ist auch belastend (EG4N: 50).
Auf die Regulierung des Zyklus zielt die Einnahme von Mönchspfefferkraut, das häufig in Internetforen, aber auch von Ärztinnen und Ärzten, als erste Maßnahme bei Unfruchtbarkeit empfohlen wird. Damit sind unterschiedliche Hoffnungen verbunden: Der Zyklus soll dahingehend reguliert werden, dass er gleichmäßiger wird und Unregelmäßigkeiten wie Zwischenblutungen nicht mehr auftreten. Mit dieser Ausrichtung an einem Normzyklus sollen der Zyklus und damit auch die fruchtbaren Tage vorsagbarer werden. In zwei Erstberatungsgesprächen geben die Männer an, gezielt Vitamine zur Verbesserung ihrer Fruchtbarkeit zu sich zu nehmen: Herr Graf hat sich entschieden, „Kapseln für die Prostata zur Begleitung“ (EG6R: 154) zu nehmen. Herr Haase hat auf den Ratschlag seiner Frau und ihres Frauenarztes ein Vitamin-B-Präparat sowie zeitweise Vitamin C, E und Zink eingenommen (EG7R: 327–342). Frau Adam erzählt als einzige davon, gezielt eine sportliche Betätigung zur Fruchtbarkeitssteigerung zu verfolgen. Zu diesem Zweck hat sie einen Kurs in Luna-Yoga belegt: Das ist eine spezielle Yoga-Form für Frauen. Das hat mit Fruchtbarkeit zu tun. Das ist eben auch für Frauen mit Kinderwunsch. Also man hat Erfahrungen damit gemacht, dass man eben bis zu einem gewissen Grad die Fruchtbarkeit steigern kann, durch bestimmte Beckenbodenübungen (P1R: 26).
In Erwartung einer Schwangerschaft gehört für einige Patientinnen darüber hinaus die Einnahme von Folsäure zur Selbstverständlichkeit. Diese bewussten Versuche, auf die Fruchtbarkeit einzuwirken, sind Beispiele für die Anwendung reflexiver Körpertechniken im Crossley’schen Sinne (s.o. Kap. 3.4), in denen der Körper zum gestaltbaren Projekt wird. Parallelen hierzu finden sich im Umgang
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mit den Belastungen durch die IVF-Behandlung (s.u. Kap. 7.2). Gleichzeitig sind dies Beispiele für eine Gesundheitsorientierung, in die reproduktive Gesundheit zu einem Problem wird, das in der Verantwortung der Laien liegt (s.o. Kap. 1.2). Dieser Verantwortung zu entsprechen sehen die Patientinnen und Patienten zwar einerseits als eine Art Selbstverständlichkeit, auf der anderen Seite zeigen sich aber zugleich in der Selektivität und zeitlichen Begrenztheit der Anwendung reflexiver Körpertechniken ihre pragmatische Kompetenz und die alltagsweltliche Relativierung der Gesundheitsnormierungserwartungen. Der Weg in die Kinderwunschklinik Die überwiegende Mehrzahl der Frauen gibt an, regelmäßig zu Vorsorgeuntersuchungen zu gehen. Die meisten haben schon einmal hormonell verhütet – eine Verhütungsart, die im Gegensatz etwa zur Verhütung mit Kondomen regelmäßige Arztbesuche voraussetzt. Einige Frauen waren bereits einmal schwanger, haben bereits leibliche Kinder oder Fehlgeburten oder Abtreibungen erlebt. Eine weitere Frau hat sich sterilisieren lassen und möchte nun mit ihrem neuen Partner weiter Kinder bekommen. Die regelmäßige Inanspruchnahme von Gynäkologinnen und Gynäkologen und medizinischer Verhütungsmittel ist für die meisten Frauen selbstverständlicher Teil der Gestaltung und Bestimmung über ihre Sexualität und Reproduktion. Die Zuständigkeit der Medizin für Fragen der Fruchtbarkeit ist für die meisten Paare, vor allem Frauen, schon gegeben, während sie verhüten. Wenn sie versuchen, schwanger zu werden, sind medizinisches Wissen und technische Hilfsmittel bedeutsam. Ärztinnen und Ärzte werden jedoch erst konsultiert, wenn der Kinderwunsch über eine längere Zeit unerfüllt geblieben ist. Ein Großteil der Frauen wandte sich mit diesem Problem zunächst an eine niedergelassene Praxis. In den meisten Fällen geschah dies nach einem bis zwei Jahren. Es gibt jedoch auch einige Ausnahmen, in denen mehrere Jahre abgewartet wurde. Dieser Zeitraum beruht auf den Zeitangaben des Paares und hängt sicherlich auch mit der Jahresfrist zusammen, die für die Bezuschussung der IVF durch die Krankenkassen Voraussetzung ist. Gleichzeitig wird die Angabe dieses Zeitraums auch in den Erstberatungsgesprächen häufig mit einer Kontextualisierung im Lebenslauf verbunden, etwa mit dem Kennenlernen des Paares oder der Hochzeit und es gibt insgesamt wenig Hinweise darauf, dass die Paare hier strategisch motivierte fälschliche Angaben machen. Die Medizin – oder genauer: meistens die niedergelassene gynäkologische Praxis – ist für die Frauen in der Regel eine selbstverständliche Anlaufstelle für das Problem des unerfüllten Kinderwunsches. Von dort werden sie entweder direkt an reproduktionsmedizini-
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sche Kliniken oder Praxen weiterüberwiesen oder es werden erste Abklärungen, zum Teil auch Behandlungen wie Inseminationen, durchgeführt. Der in den Erstberatungsgesprächen geschilderte Weg der Mehrzahl der interviewten Frauen und auch der meisten der Paare in die spezialisierte Kinderwunschklinik führt über eine direkte Überweisung von einer niedergelassenen gynäkologischen Praxis. Hierbei ist der Übergang der Diagnose- und Therapieformen fließend: In den niedergelassenen Praxen haben die Paare den unerfüllten Kinderwunsch teils schon klären und behandeln lassen. So wurden im Rahmen der Diagnose Temperaturmessen empfohlen und Eileiter auf ihre Durchlässigkeit überprüft, davon mindestens einmal mit Hilfe einer Bauchspiegelung. Bei einigen Männern wurden in urologischen, andrologischen oder hausärztlichen Praxen Spermiogramme und zum Teil auch Abtastuntersuchungen durchgeführt. In einigen Fällen wurden darüber hinaus in den gynäkologischen Praxen Hormonbehandlungen zur Regulierung des Zyklus und in zwei Fällen Inseminationen vorgenommen. Während die Männer für die diagnostischen Untersuchungen eine Spezialpraxis aufsuchen, ist es bei den Frauen in der Regel der Gynäkologe oder die Gynäkologin, bei dem oder der sie schon zuvor Patientin waren. Dies zeigt, dass die Ausweitung der Kinderwunschbehandlung zu einem Teil des Leistungsangebots nicht nur kleinerer, auf Reproduktionsmedizin spezialisierter Praxen geworden ist, sondern auch bei den niedergelassen Gynäkologinnen und Gynäkologen erste Diagnoseverfahren und Therapien zum normalen Leistungsspektrum gehören. Die Kinderwunschbehandlung kann in diesem Sinne bereits in der niedergelassenen Praxis beginnen. Für die Patientinnen kann sich die Inanspruchnahme entsprechender Diagnosen und Therapien so auch als Fortsetzung einer gynäkologischen Zuständigkeit darstellen, wenn sie in der niedergelassenen gynäkologischen Praxis verbleibt. Mit der Überweisung in die spezialisierte Klinik wird auf administrativer Ebene eine Fortsetzung der bisherigen Behandlung hergestellt. Dieser Weg stellt jedoch keinen Automatismus dar: Die Artikulation des unerfüllten Kinderwunsches als medizinisches Problem bleibt Grundlage und Voraussetzung für den Eintritt in die medizinische Behandlung. Gleichzeitig zeigen die Beispiele von drei Frauen, dass der Weg in die Kinderwunschklinik über nichtmedizinische Umwege führen kann. Frau Lang (P11N) beschreibt, das Paar habe zunächst Ratgeber gelesen und sich aufgrund dieser Informationen dann direkt an die Klinik gewandt. Frau Kaiser (P10R) hat zwar ihren Kinderwunsch bei einem niedergelassenen Frauenarzt geäußert und auch mit Inseminationsbehandlungen angefangen. Dass es weiter gehende Möglichkeiten und spezialisierte Anlaufstellen gibt, hat sie jedoch beiläufig durch eine Fernsehsendung erfahren:
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Da gab es so Sendungen über Kinderwunsch. [...] Ich habe das ganz zufällig gesehen, weil ich gucke mir sonst so ein Zeug nicht an. Und da war dann die Rede hier von [der untersuchten Klinik, cu], dass es hier überhaupt eine Kinderwunschsprechstunde gibt. Weil ich wusste das gar nicht, ich habe auch gar nicht jetzt so irgendwie gedacht, ich muss mich da medizinisch so besonders informieren. Dann habe ich gedacht, na ja vielleicht wäre es doch mal der richtige Weg, wenn man sich da mal meldet (P10R: 22).
Dies ist ein Beispiel dafür, dass für die Wahrnehmung des unerfüllten Kinderwunsches als mögliches medizinisches Problem sowohl die Repräsentation in den Medien als auch die Informationsarbeit der Paare eine Rolle spielen kann (s.u. Kap. 7.1). Der Fall von Frau Adam (P1R) ist wiederum ein Beispiel dafür, dass ihre Suche nach einer medizinischen Antwort auf ihre ungewollte Kinderlosigkeit zunächst von den Ärztinnen und Ärzten enttäuscht wurde: Jahr für Jahr ging rum. Und ich bin dann von Frauenarzt zu Frauenarzt. Und jeder hatte eine andere Theorie: Ich muss Stress abbauen, und ich weiß nicht was... Ich habe immer gesagt, ich merke, es stimmt irgendwas nicht. Und so hormonell war die Blutung eben nicht so regelmäßig kam. [...] Und dann fingen die Ärzte halt an so rumzuexperimentieren. Aber die haben ja auch nicht dieses fundierte Wissen, auf diesem Spezialgebiet […] Dann doch bisschen gespielt und helfen konnte mir dann irgendwie eigentlich keiner. Das hat sich über Jahre hingezogen (P1R: 22).
Aufgrund mangelnder fachwissenschaftlicher Expertise, so die Deutung von Frau Adam, wurde das Problem ihrer Kinderlosigkeit von den Gynäkologinnen nicht ausreichend als medizinisch behandelbares erkannt. Erst über eine persönliche Empfehlung in ihrer Luna-Yoga-Gruppe ist sie dann zu der untersuchten Klinik gekommen. Dies kann als Beispiel dafür gesehen werden, wie auch auf mikrosoziologischer Ebene medizinische Zuständigkeit über Laien- oder Betroffenengruppen hergestellt werden kann. Mit Luna-Yoga soll verschiedenen gynäkologischen Problemen begegnet werden, neben der Fruchtbarkeit etwa auch Menstruations- oder Wechseljahresbeschwerden. Während für Frau Lang und Frau Adam der Weg zur reproduktionsmedizinischen Klinik über gezielten eigenständigen Wissenserwerb führt, ist es in Frau Kaisers Schilderung eher ein Zufall. Vor dem Hintergrund der Medikalisierung von immer mehr Lebensbereichen und der Verbreitung eines biomedizinischen Deutungs- und Handlungsrahmens erscheint allein das Wissen um die reproduktionsmedizinischen Möglichkeiten ausreichend, um sie in den beschriebenen Fällen plausibel und sinnvoll erscheinen zu lassen.
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5.2.4 Die Entscheidung für eine medizinische Behandlung Betrachtet man die Vorerfahrungen der Paare in den niedergelassenen gynäkologischen Praxen und die direkte Überweisung in die Klinik für Reproduktionsmedizin, stellt sich der Weg dorthin als relativ direkt und mit wenigen Brüchen dar. Zugleich kann er mit Verunsicherungen einhergehen. Befragt man die Patientinnen dazu, wie sie ihre Entscheidung zur Vorstellung in der Klinik gefällt haben, zeigt sich jedoch, dass hierfür keineswegs allein medizinische Befunde oder ärztliche Empfehlungen ausschlaggebend waren. Diese Entscheidung ist eingebunden in einen lebensweltlichen Kontext: Schicksalhafte Ereignisse spielen hier ebenso eine Rolle wie das Abwägen von möglichen Kosten und ethischen Fragen. Zugleich wird jedoch deutlich, dass, wenn die Paare sich erst einmal im Erstberatungsgespräch vorgestellt haben, diese Bedenken kaum mehr eine solche Relevanz erlangen, dass die Paare sich gegen eine Behandlung entscheiden. Für die meisten Paare ist die Erfüllung des Kinderwunsches ein längerer Prozess des Probierens, Hoffens und Abwartens und der Abwägungen in der Paarbeziehung. Neben der Hoffnung auf eine Schwangerschaft und den Ambivalenzen des Kinderwunsches sind auch Skepsis, Vorbehalte und Ängste gegenüber der Reproduktionsmedizin Gründe, warum Paare nur zögerlich die medizinische Behandlung ihrer ungewollten Kinderlosigkeit in Betracht ziehen. In ihren Äußerungen wird deutlich, dass die Patientinnen die für sie kritischen Punkte einer reproduktionsmedizinischen Behandlung vorab benennen können und auch für sich selbst belastende Aspekte reflektiert haben. Gesundheitliche Bedenken erwähnt nur Frau Ewald (P5R: 34): Die möglichen Nebenwirkungen durch die Hormontherapie und die Risiken der Punktion waren die Gründe, warum ihr Mann zunächst grundsätzlich gegen eine Behandlung war. Verbreiteter ist eine Skepsis gegenüber der allgemeinen Belastung. Aufgrund der Erfahrung mit Kinderwunschbehandlungen im Bekanntenkreis hatte Ehepaar Jansen beispielsweise eine IVF-Behandlung für sich selbst ausgeschlossen, die intensive und extensive Belastung erschien ihnen zu groß: [W]ir haben immer gesagt, um Himmels willen, bloß nicht so viele Jahre damit rummachen […] Also, wir wollen uns das nicht antun, weil wir auch gesehen haben, wie die gelitten haben und wie das gesamte Leben beeinflusst wird, dass man nur noch darauf hinaus lebt. Und das wollten wir auf gar keinen Fall (P9R: 20–22).
Für Frau Lang, nun in naturheilkundlicher Behandlung, war der Beginn der schulmedizinischen Behandlung spezifischer mit viel Skepsis gegenüber Automatismen verbunden:
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Für mich war es schon eine schwere Entscheidung, […] ich hatte schon Schiss, […], was auf mich zukommt. Weil ich halt weiß, die Befürchtung hatte, dass es wie so ein Sog wird. Probierst du das eine, funktioniert nicht, dann gehst du an das nächste und ja, davor war meine Angst eigentlich (P11N: 28).
Mit der Artikulation der Befürchtungen schon vor dem Beginn der Therapie ist Frau Lang eine Ausnahme, die meisten Paare sehen den ersten Schritt in die Klinik eher als Erweiterungen ihrer Informationsmöglichkeiten denn als Behandlungsbeginn. In diesen Befürchtungen bestätigt sich die These einer medizinischen Dominanz, derer Steigerungslogik sich die Patientinnen und Paare schwer entziehen können. Gleichzeitig wird aber deutlich, dass es ein Bewusstsein und eine Reflexion über diese Prozesse geben kann – dem Beginn der Behandlung also eine bewusste Auseinandersetzung und Entscheidungsfindung vorhergeht. Insofern ist Frau Lang hier nicht nur als Objekt medizinischer Verfahren zu sehen, sondern als abwägendes Subjekt. Nichtsdestotrotz erscheinen ihr im Behandlungsverlauf die Handlungsmöglichkeiten stark von einem medizinischen Rahmen bestimmt. Die Paare beschreiben ihre Ausgangslage häufig als mit Verunsicherungen verbunden. Der Schritt in eine spezialisierte Kinderwunschklinik geht mit einer Ablösung des monatlichen Hoffens auf ein Kind und die eventuelle leichte Unterstützung der Fruchtbarkeit durch eine Anerkennung eines gesundheitlichen Problems und medizinischer Hilfsbedürftigkeit einher. Einige Paare haben schon vor Beginn der medizinischen Diagnose und Behandlung die Befürchtung, dass das Finden einer Ursache im Diagnoseprozess mit Schuldzuweisungen verbunden sein könnte, die unabsehbare Folgen für ihre Beziehung haben könnten. Für das Ehepaar Ewald war dies beispielsweise ein zentraler Punkt bei der Überlegung, ob sie eine Kinderwunschbehandlung beginnen sollten: Sie hatten Angst, dass „ja rauskommen [könnte], an wem es liegt“ (P5R: 35), und lange überlegt, welche Auswirkungen es haben könnte, wenn es „offiziell einen Schuldigen gibt“ (P5R: 37). Zugleich sieht Frau Ewald die Reproduktionsmedizin als eine Art Grenzverletzung der Intimsphäre des Paares, wenn sie ihre Vorbehalte beschreibt: „Andere Leute so ins Intimleben zu lassen“ (P5R: 34). Einige Paare erwähnen ethische Bedenken gegenüber reproduktionsmedizinischen Verfahren, was allerdings nur Frau Hoffman (P8R) explizit zum Thema macht. Ihr Mann hatte aufgrund seiner Religionszugehörigkeit grundsätzliche Bedenken gegenüber der IVF. Wie genau das Paar dieses Problem gelöst hat, bleibt im Interview unklar. Für einen pragmatischen Umgang spricht, dass sie aufgrund der moralischen Erwägungen die Verwendung von heterologem Sperma, nicht aber die IVF selbst, ausgeschlossen haben. Weitere Beispiele für den
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Ausschluss medizinischer Therapieformen aufgrund von ethischen Bedenken gibt es in den untersuchten Interviews und Erstberatungsgesprächen wenige. Das entspricht auch dem Eindruck der Ärztinnen und Ärzte, die sich selten mit ethischen Fragestellungen von Seiten der Paare konfrontiert sehen. Einige Paare befürchten, dass mit Hilfe der IVF entstandene Kinder behindert sein könnten. Diese Skepsis schildert beispielsweise Frau Adam: Und natürlich damals auch der Gedanke, sind die Kinder dann irgendwie anders oder sind sie vielleicht behindert? Oder mehr behindert oder – und da habe ich auch immer nachgefragt, wie sieht es da jetzt aus und habe auch gute Antworten bekommen (P1R: 110).
Insbesondere gegenüber der Kryokonservierung haben einige Paare Bedenken. Diese deuten sie häufig nur zögerlich an, wie beispielsweise Frau Meier im Erstberatungsgespräch: Also, nicht so, dass da irgendwas sein könnte? (EG11R: 248).
Die Vagheit des Zweifel an der Sicherheit der Behandlungsmethoden spiegelt ebenso wie die insgesamt seltene Artikulation ethischer Bedenken zum einen die Anerkennung der professionellen Expertise, zum anderen entspricht sie der Voreingenommenheit für eine Behandlung, die die Beratungssituation strukturell kennzeichnet. Jedoch gibt es auch Paare, die sich intensiver mit den möglichen Risiken von Behinderungen auseinandersetzen. Herr Falk versucht eine Art eigenständige Gegenexpertise zu der der behandelnden Ärztinnen und Ärzte zu erstellen, indem er selbst Fachstudien liest. Während für Frau Adam die Antwort der Ärztinnen und Ärzte zumindest insoweit zufriedenstellend ist, als sie sich auf dieser Grundlage mit ihrem Mann für eine Behandlung entscheiden kann, steht das Ehepaar Falk nun vor einer Vielzahl von Informationen, die in ihren Augen eher darauf hinweisen, dass es keine wissenschaftlich sichere Aussage über mögliche Behinderungen geben kann. Ihr Umgang mit diesen Informationen ist von einem hohen Pragmatismus geprägt: Frau Falk selbst sagt, sie nehme die Rechercheergebnisse ihres Mannes bewusst nur sehr selektiv und je nach Gemütsverfassung zur Kenntnis. Zum Zeitpunkt des Interviews und mitten im neuen IVF-Zyklus habe auch ihr Mann die Suche nach weiterem medizinischen Wissen eingestellt: [J]etzt kamen nämlich die Studien an, zu gucken, ist das wirklich so toll und was kommen da eigentlich für Kinder bei heraus. [...] Da kommen ganz viele neue Untersuchungen über die Missbildungen, Folgeschäden von In-vitro-Kindern. Also es hat jetzt auch mein Mann
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gesagt, dass er jetzt im Moment aufgehört hat, diese Studien zu lesen, weil da ganz viel herauskommt, dass das eben nicht gut ist, so ein Ding außerhalb vom Körper in der Petrischale heranzuzüchten [lacht], zu schütteln und dann wieder... Dass man auch gar nicht abschätzen kann, was das alles für Folgen hat (P6R: 94).
In beiden Fällen werden diese Bedenken nicht vollständig ausgeräumt. Für das Ehepaar Falk ist es ein bewusstes Ausblenden von Wissen, während Frau Adams Bedenken im Laufe der Behandlung noch einmal virulent werden, als sie sich im Zusammenhang mit starken Schmerzen nach der Punktion sehr grundsätzlich fragt, ob die Behandlung richtig gewesen sein kann: Mir ging es pudelwohl. Alles wunderbar. Ich bin nach Hause, auf die Autobahn und ich habe wahnsinnige Schmerzen gehabt. Es war wirklich – mir ist nicht gut gegangen. Habe ich wirklich gedacht: Was habe ich bloß getan? Was habe ich bloß getan? (P1R: 146).
Unsicherheiten und Bedenken bestehen auch während des Behandlungsverlaufs weiter: Nachdem die Entscheidung für eine Therapie gefällt wurde, treten sie jedoch in den Hintergrund. Insbesondere während des IVF-Behandlungsverlaufs sind die Frauen stärker mit der Arbeit an der Behandlung beschäftigt (s.u. Kap. 6.1, Kap. 6.2 und Kap. 7.3). Jedoch lösen sich diese Ambivalenzen nicht auf, sondern werden konserviert und vor allem in Behandlungspausen im Rahmen der Biographiearbeit der Patientinnen aufgegriffen (s.u. Kap. 7.3). Anlässe für den Beginn der medizinischen Behandlung Ausschlaggebend für den Beginn der Behandlung ist für die Frauen dann zum einen der mit den Jahren der Kinderlosigkeit wachsende Druck und das sich manifestierende Gefühl, dass es auf natürlichem Wege nicht geht, sowie das Gefühl, alle Möglichkeiten ausschöpfen zu müssen, aber auch lebensweltliche Ereignisse, die unabhängig vom Kinderwunsch sind. Für einige Patientinnen hängt die Entscheidung, den Kinderwunsch nun mit professioneller medizinischer Hilfe zu verfolgen, explizit weniger von einer Überweisung vom allgemeinen Frauenarzt oder nur dem Wissen um die medizinischen Möglichkeiten ab, sondern wurde vielmehr von zentralen biographischen Ereignissen beeinflusst. So beschreibt beispielsweise Frau Jansen eine Viruserkrankung ihres Mannes als ausschlaggebendes Ereignis für die Entscheidung zur reproduktionsmedizinischen Behandlung (P9R). Für das Ehepaar Adam war ein nichtmedizinisches Ereignis ausschlaggebend dafür, sich direkt an eine reproduktionsmedizinische Klinik zu wenden, nachdem die Behandlungen bei niedergelassenen Ärztinnen und Ärzten nicht weiterführend waren (s.o.):
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Gut, das war damals was ganz Privates: Wir hatten einen Wohnungsbrand. Also, wir hatten so ein ganz übles Jahr. Ich hatte mich noch so mit Händen und Füßen gerettet […] Und es war wirklich an so einem Punkt, wo ich merkte, die [bisher konsultierten, cu] Ärzte konnten mir einfach nicht helfen (P1R: 35).
Für das Ehepaar Falk hing die Entscheidung, sich in Kinderwunschbehandlung zu begeben, mit einer „nochmaligen Entscheidung füreinander“ (P6R: 192) nach einer Beziehungskrise zusammen: Im Prinzip lief das für mich Hand in Hand. Dieses nochmalige sich füreinander entscheiden. Also das war auch ein ganz bewusster Punkt. Zu sagen, wir stehen hier an einem Scheideweg, wir können beide noch mal einen ganz anderen Weg gehen oder doch miteinander. Das war ein so ein wichtiger, auch schwer erarbeiteter Schritt, da ist das [die Entscheidung für die IVF-Behandlung, cu] dann direkt in Folge (P6R: 194).
Umgekehrt stellt auch die Behandlung diese Frage an die Paare, da die reproduktionsmedizinische Behandlung von unerfülltem Kinderwunsch rechtlich eine Ehe voraussetzt, die Entscheidung für Kinder und für eine Ehe also nicht unabhängig voneinander getroffen werden können. Für das Paar Kaiser war dies noch einmal ein Moment zur Reflexion: Ja klar, weil wir haben ja deswegen geheiratet. Klar haben wir dann überlegt: Jetzt wird es ernst (P10R: 142).
Dies sind Beispiele dafür, dass die Entscheidung für eine reproduktionsmedizinische Behandlung sich nicht auf die Übernahme eines klinischen Blicks oder ärztliche Überweisungspraxen reduzieren lässt. Vielmehr ist dieser Schritt immer eingebunden in eine spezifische Lebenssituation, in der eine medizinische Deutung sinnvoll oder naheliegend erscheinen kann. Diese Verflechtung von medizinischen, alltäglichen und biographischen Dynamiken wird erneut bei der Analyse der Arbeit der Patientinnen an der IVF-Behandlungsverlaufskurve deutlich (s.u. Kap. 7). Ein weiterer Aspekt im Abwägungsprozess der Entscheidung zur reproduktionsmedizinischen Behandlung sind die mit ihr verbundenen Kosten. Die meisten Paare wissen, schon bevor sie das erste Mal in der Klinik vorstellig werden, dass sie einen Teil der Kosten übernehmen müssen. Wie diese strukturiert sind, wird im Erstgespräch genauso wie die allgemeinen Angebote und Möglichkeiten der Behandlung erläutert und nachgefragt. Im Vorhinein lassen sich die Kosten einer IVF-Behandlung für die Paare durch Nachfragen in der niedergelassenen gynä-
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kologischen Praxis, von der sie überwiesen wurden, bei Beratungsstellen oder durch eine Internetrecherche in den einschlägigen Kinderwunschforen abschätzen. Die Frage nach den Kosten der Behandlung gehört nach meinen Beobachtungen und der Einschätzung der Ärztinnen und Ärzte neben der nach den Ursachen der Kinderlosigkeiten und den Erfolgschancen der Behandlung zu den meistgestellten. Eine unmittelbare Relevanz für die Entscheidung des Paares haben sie jedoch nicht. Nur wenige Paare – nach Schätzung des leitenden Arztes ungefähr zehn Prozent (A7R) – entscheidet sich nach dem Erstberatungsgespräch gegen die Behandlung und hier seien vor allem die altersbedingt geringeren Erfolgsaussichten relevant, die den Kosten gegenüber stünden. Die zu tragenden Kosten spielen vor allem bei der Überlegung, wie häufig die Paare eine IVF-Behandlung machen wollen, eine Rolle. Für sie ist diese Entscheidung „auch eine Kostenfrage“ (EG3N: 129). In einem anderen Gespräch wird die Überlegung, eine neue Behandlungsmethode auszuprobieren, auch unter finanziellen Aspekten abgewogen. Diese Frage wird besonders relevant, wenn die Paare die Kosten alleine tragen oder der letzte der drei von der Krankenkasse mitfinanzierten Versuche ansteht. So verweist beispielsweise das Ehepaar Vogel im Erstberatungsgespräch auf seine finanziellen Grenzen: Das ist ja auch das letzte Mal, wo wir das bezahlt kriegen. Also, ewig können wir das auch nicht machen. Vom Geld her geht es schon gar nicht mehr (EG15R: 323).
Im Fall des Ehepaares Jäger ist der Mann über 50 Jahre alt, deshalb müssen sie die Gesamtkosten tragen. Nachdem die bisherigen Behandlungen in einer reproduktionsmedizinischen Klinik nicht erfolgreich waren, berichtet Frau Jäger im naturheilkundlichen Beratungsgespräch sehr verärgert darüber, dass sie dann nach dem Misserfolg noch mal mit dem Arzt gesprochen und diesem gesagt habe: „Prima, jetzt sind wir pleite, was machen wir jetzt?“ (EG8N: 139). Gerade bei drei Versuchen ergäben sich sehr hohe Gesamtkosten: Und dann hat der gesagt, wir sind noch nicht am Ende der Fahnenstange, also die Wahrscheinlichkeit, dass es nicht klappt, liegt bei dreißig Prozent. Und ich sag’, ach so, das heißt, ich könnte jetzt noch zwei Durchgänge mit meinem Mann probieren hier, das hieße 14.000 Euro und dann hätte ich 90 Prozent abgedeckt (EG8N: 145).
Frau Falk berichtet in dem Interview von ihren Überlegungen, als deutlich wurde, dass die Krankenkassen aufgrund ihres Alters die Kostenübernahme ablehnt, obwohl sie erst 39 Jahre alt war:
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Dann haben wir gesagt, das ist so viel Geld […] Wir sind dann in die nächste Instanz gegangen, wir sind auch noch in die übernächste Instanz gegangen, es wurde generell abgelehnt. So, dann haben wir, es ging ja um das Geld, so eine Preisvorstellung auch von dem Arzt gehabt. Der Betrag von 10.000. Und wir haben dann gesagt, okay, also, das ist es uns wert, aber nicht dreißig Mal, sondern vielleicht einmal oder zweimal (P9R: 26).
In diesen Interviewausschnitten wird deutlich, dass die Zuzahlungsregelungen dazu führen, dass einige Paare versuchen, relativ genau die Kosten gegen die Erfolgschancen abzuwägen. Jedoch gab es in meiner Erhebung nur einen Fall, in dem davon berichtet wurde, dass nicht alle zur Verfügung stehenden medizinischen Mittel ausgenutzt wurden, um die Gesamtkosten für die Behandlung zu senken: Frau Caglar (P3R) ließ bei ihrer ersten IVF-Behandlung in einer anderen Klinik die Follikelentnahme ohne Narkose durchführen. Für eine andere Patientin beschränkt ihre finanzielle Lage die von ihr gewünschte Behandlungsmöglichkeit: Frau Falk ist gesetzlich versichert, lässt sich aber bei anderen Unterleibserkrankungen privat vom Chefarzt behandeln: Das ist dann einfach auch das, was ich brauche. Beziehung, man kennt die Geschichte, man kann da anknüpfen […]. Und ich kann es mir hier privat nicht leisten. Ist schon teuer genug, wenn man die Hälfte selbst zahlt (P6R: 64).
Auch aufgrund der finanziellen Eigenleistungen, die die Paare übernehmen müssen, lässt sich die Arzt-Patienten-Beziehung in der Phase der Klinikauswahl als Kundenmodell beschreiben. Diese Rahmung ist in der naturheilkundlichen Behandlung ähnlich, da die Patientinnen und Patienten die Kosten dort in der Regel alleine tragen. Das Finanzierungsmodell schränkt die Handlungsmöglichkeiten einiger Paare ein, läuft aber nicht grundsätzlich einer Medikalisierung des Kinderwunsches zuwider. Zugleich bietet die Finanzierung aber ein außermedizinisches Kriterium für eine Orientierung in der Frage, wie häufig die Behandlung durchgeführt werden soll (s.u. Kap. 7.2) und führt so zu einer alltagspraktischen Relativierung der Bedeutung der Medikalisierung des Kinderwunsches.
5.3 D ER UNERFÜLLTE K INDERWUNSCH UND B EHANDLUNG AUS ÄRZTLICHER S ICHT
SEINE
In den Vorstellungen der Ärztinnen und Ärzten zeigt sich, dass der unerfüllte Kinderwunsch, der von den Paaren in einer vielschichtigen lebensweltlichen Komplexität erlebt wird, in ein medizinisch handhabbares Problem transformiert
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wird. Ähnlich den Prozessen, die in einer Perspektive der technology in practice am Einsatz von administrativ-organisatorischen Techniken beschrieben worden ist (s.o. Kap. 3.3), finden sich in den ärztlichen Vorstellungen und Handlungsmustern vielfältige Strategien der Vereinfachung. Diese Komplexitätsreduktion ist der tatsächlichen Behandlung vorgelagert. So ist die medizinische Zuständigkeit für seine Behandlung nach der Artikulation der Paare selbstverständlich und muss nicht hergestellt werden. Die Ärztinnen und Ärzte definieren den unerfüllten Kinderwunsch nicht als Krankheit (Kap. 5.3.1); in ihren Deutungen heben sie selten auf mögliche physiologische Ursachen ab, wie sie beispielsweise. im ICD aufgeführt werden (s.o. Kap. 5.1). Als Forschungsgegenstand ist der ärztliche Umgang mit dem unerfüllten Kinderwunsch von einem Wissensbezug gekennzeichnet, der zum einen mit einer Ausweitung der medizinischen Zuständigkeit und zum anderen mit einer Abgrenzung und Abwertung konkurrierender Wissensbestände einhergeht: auf der Seite der Naturheilkunde von denen der Heilpraktikerinnen und Heilpraktiker, auf der Seite der Reproduktionsmedizin von denen der niedergelassenen Zentren. In einer Situation, in der sie mit diesen um Patientinnen und Patienten konkurrieren, beinhaltet diese Abgrenzung sowohl eine Herausstellung des eigenen fachlichen und professionellen Expertenwissens als auch der eigenen Autonomie vor allem gegenüber ökonomischen Zwängen (Kap. 5.3.2). Aspekte einer pragmatischen Handlungsethik der Ärztinnen und Ärzte zeigen sich auch in ihrem Umgang mit den Grenzen der medizinischen Zuständigkeit sowohl in der Kritik an den gesetzlichen Regulierung als auch in ihrem Naturverständnis (Kap. 5.3.3). 5.3.1 Der unerfüllte Kinderwunsch als Gegenstand medizinischer Behandlung Auch wenn im Behandlungsverlauf verschiedene Ursachen der Unfruchtbarkeit der Paare als Krankheit bezeichnet werden (z.B. Azoospermie) können, hat dies für die allgemeine Kategorisierung des Kinderwunsches durch die Ärztinnen und Ärzte kaum Relevanz. Die Gesundheit der Paare ist vielmehr das, was sie aus ärztlicher Sicht von anderen Klinikpatientinnen und -patienten unterscheidet. Entsprechend werden die Paare von den Ärztinnen und Ärzten, hier am Beispiel von Dr. Otto illustriert, charakterisiert: Im Prinzip sind es ja […] gesunde Patientinnen, die ein Problem haben, das aber sie eigentlich gesundheitlich nicht beeinträchtigt (A4R: 51).
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Auch die Naturheilkundlerinnen orientieren sich an der schulmedizinischen Definition einer Gesundheit als Abwesenheit von Krankheit. So findet beispielsweise Dr. Müller, dass man die Kinderwunschpaare nicht mit normalen Patientinnen und Patienten vergleich kann, [w]eil sie gesund sind. Also bis auf die Kinder. Sie haben kein chronisches Leiden (A1N: 56).
Auch in Fällen, in denen eine diagnostizierbare Erkrankung mit dem unerfüllten Kinderwunsch einher geht, führt dies nicht zu einer Relativierung der Beschreibung der Patientinnen als gesund, wie beispielhaft die Charakterisierung von Dr. Nussbaum deutlich macht: Also es ist auch häufig so, dass die Frauen doch relativ gesund sind. Gut, ein Teil hat diese Periodenschmerzen mit der Endometriose, aber der Kinderwunsch steht einfach im Mittelpunkt (A3N: 60).
Die medizinische Zuständigkeit und Behandlung kann und wird entsprechend auch von den Ärztinnen und Ärzten nicht durch eine Krankheit begründet. Vielmehr wird der Kinderwunsch durch ein subjektives Leiden bestimmt, welches im Gegensatz zu körperlichen Leiden steht, wie in der Beschreibung von Dr. Richter deutlich wird: Sie [die Patientinnen und Patienten] sind normalerweise gesund […] Während der Behandlung sind sie auch anders […], weil sie nicht mit einem Leiden zu einem kommen, sondern so mit einem großen Leiden, mit einem Kinderwunsch, aber sie haben halt keine körperlichen Beschwerden in der Regel (A5R: 49–53).
Die psychischen Belastungen der Paare bleiben aber eine unbestimmte Referenz in der Begründung medizinischer Eingriffe. Sowohl in den Erstberatungsgesprächen als auch in den Interviews ist die Beschaffenheit des unerfüllten Kinderwunsches für die Ärztinnen und Ärzte kein zentrales Thema. So beginnen die Ärztinnen und Ärzte die Erstberatungsgespräche meist mit der Feststellung oder der in einer Feststellung endenden Frage: „Und Sie wünschen sich ein Kind?“. Häufig übernehmen sie auch die Formulierung des Problems und stellen fest: „Sie wünschen sich also ein Kind“ oder: „Sie haben Kinderwunsch“ – was diesen Kinderwunsch ausmacht, wie er begründet wird oder ob er mit irgendeiner Art von Leiden verbunden ist, wird schon mit diesem Gesprächseinstieg tendenziell dethematisiert. Dass das Leiden nicht zu einem zentralen Thema wird und
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nicht als Behandlungsgrund angeführt werden muss, liegt sicherlich vor allem darin begründet, dass die Paare und Ärztinnen und Ärzte sich in der Beratungssituation gerade deshalb treffen, weil der unerfüllte Kinderwunsch medizinisch behandelt werden soll. Im Behandlungsalltag wird dieses gemeinsame Anliegen dadurch unterstützt, dass in den Gesprächen über die Gesetzlichen Krankenkassen als dritter Akteur gesprochen wird, der nun von der Legitimität des Anliegens überzeugt werden muss. Eine weitere Erklärung der Nichtthematisierung des Leidens an der Kinderlosigkeit wird in den Äußerungen des Leiters der reproduktionsmedizinischen Klinik Dr. Thomas deutlich: Dieser stellt wie Dr. Richter im obigen Zitat das psychische Leiden an der Infertilität dem Leiden an Krankheiten gegenüber. Für ihn trifft diese Gegenüberstellung, ohne dies explizit zu machen, vor allem auf die Situation der Frauen zu: Also, [eine] normale Klinikpatientin ist ja eine Patientin, die eine Erkrankung hat, das heißt, die auch einen gewissen Therapiezwang hat oder die auch Schmerzen hat, also mit einem physischen Leidensdruck einherkommt. […] Eine Kinderwunschpatientin ist ja eine [Patientin], die aus psychologischen Gründen heraus diesem Kinderwunsch nachgehen will (A7R: 50).
Mit der Unterscheidung von Krankheit auf der einen und psychischem Leiden auf der anderen Seite geht eine Abgrenzung der Zuständigkeit für die professionelle Behandlung einher. Über die Abwertung psychologischer Aspekte begründet Dr. Thomas den Anspruch auf den hegemonialen Zugang der Reproduktionsmedizin. Zum einen sieht er die Entwicklung der Reproduktionsmedizin als eine Art Fortschrittsgeschichte, die sich von einer Psychologisierung der unerfüllten Kinderwunsches emanzipiert hat. Hierin liegt für ihn auch ihre Wissenschaftlichkeit begründet: Inzwischen wird ja eine sehr akademische schulmedizinisch fortschrittliche Reproduktionsmedizin angeboten, die auch entsprechend ganz anders ist als früher. Früher wurde es viel auf die Psychologie geschoben. Da ging es um psychologische Betreuung der Patientinnen. Da gab es wilde Geschichten. Heute ist das eine ganz gradlinige medizinische Betreuung. […] [Früher] hat man auch auf die Patienten mehr psychologisch eingewirkt und auch beruhigt, dass es irgendwann klappen wird und wie sie miteinander Verkehr haben und ich weiß nicht, was alles, und jetzt ist es mehr so: Es liegt das Problem vor, und wir machen das und das. (A7R: 90–92).
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Diese Auffassung findet sich zum anderen auch in der Beschreibung seines persönlichen Behandlungsstils: [I]ch mache das, was ich gut kann. Das ist halt, zügig, klar strukturiert und kompetent die Patienten zu beraten und zu behandeln, und zwar streng schulmedizinisch [...], ohne die psychologischen Dinge oder so zu sehr zu beachten (A7R: 68).
Die Berücksichtigung psychologischer Aspekte stellt Dr. Thomas als konträr zu einer wissenschaftlich fundierten Medizin dar. Um dies zu verdeutlichen, führt er beispielhaft Kolleginnen und Kollegen an, die eine andere Behandlungsstrategie verfolgen: Streng schulmedizinisch heißt evidenzbasiert, das heißt, es wird das gemacht, was medizinisch sinnvoll ist. Und nicht aus psychologischen Gründen noch hier noch ein bisschen, da gibt es Möglichkeiten, hier noch ein bisschen Hormone, und da noch ein bisschen Hormone... Was überhaupt keinen Sinn macht. Es gibt auch Kollegen, die das machen. Was dann [...] in der Sprechstunde immer zum Chaos führt, weil, wenn einer mit dem anfängt, die Patientin sich darauf fixiert und [man ihr, cu] sagt, das ist Quatsch, das ist etwas schwierig (A7R: 70).
Dr. Thomas definiert hier die Grenzen der reproduktionsmedizinischen Praxis und wertet deren Überschreiten aus einer durch die Organisationshierarchie begründeten Position ab. Alle Ärztinnen und Ärzte der untersuchten Klinik sehen sich als professionell nicht zuständig für das Leiden, das mit der ungewollten Kinderlosigkeit einhergeht und verweisen Paare gelegentlich auch an eine psychologische Beratungsstelle (s.u. Kap. 7.4). Die Grenzen zwischen einer schulmedizinischen Behandlung und einer Berücksichtigung der psychologischen Befindlichkeit werden jedoch unterschiedlich deutlich gezogen. Zudem ist die von Dr. Thomas angeführte Beobachtung der Mittelverschreibung ohne medizinische Indikation ein Beispiel für eine von der Medizinsoziologie beschriebene Tendenz zum aktiven Eingreifen der Ärztinnen und Ärzte, die auf ähnliche Erwartungen der Patientinnen und Patienten trifft (s.o. Kap. 3). Dr. Thomas’ Urteil, dies sei unnötiges Eingehen auf die Befindlichkeiten der Patientinnen und medizinisch „Quatsch“, drückt seine Sprechposition als Klinikleiter aus: Denn er ist es, der in diesem Fall trennscharf entscheiden kann, ob und wie viele Hormone sinnvoll gegeben werden können, obwohl der Behandlungsalltag häufig von Grauzonen bestimmt ist. Zugleich ist die Charakterisierung der schulmedizinischen Reproduktionsmedizin als Ablauf von verobjektivierten Routinen durch Dr. Thomas selbst ein Beispiel dafür, mit welchen Strategien in
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der medizinischen Arbeit ein diffuses Problem zu einem medizinisch behandelbaren transformiert wird. In den Aussagen von Dr. Thomas und den darin enthaltenen Handlungsanweisungen für die Behandlungspraxis der untergeordneten Kolleginnen wird deutlich, dass hier eine definitorische Vereinfachung des Problems vorgelagert ist: Die Dimension des Wünschens und Leidens wird mit der Bestimmung der Professionsgrenzen von der Behandlungspraxis abgekoppelt. In dieser Gegenüberstellung von Dr. Thomas erscheint der unerfüllte Kinderwunsch zudem in seiner physischen Dimension klarer definiert und seine Behandlung als gradliniger, als er es auch aus reproduktionsmedizinischer Sicht eigentlich ist. Kinderwunschbehandlung als Paartherapie? Obwohl die Kinderwunschbehandlung von den Ärztinnen und Ärzten als Paarbehandlung definiert wird und der gemeinsame Wunsch nach einem Kind eine wichtige, wenn auch unüberprüfbare, Voraussetzung ist und beide Partnerinnen und Partner zumindest für das erste Beratungsgespräch angehalten werden, ihr Engagement durch Erscheinen zu zeigen, gehen insgesamt nur drei der interviewten Ärztinnen davon aus, dass der Kinderwunsch gleichermaßen von beiden ausgeht. Die anderen vier Ärztinnen und Ärzte äußern hingegen, der Kinderwunsch gehe in der Mehrzahl der Fälle entweder stärker von den Frauen oder von den Frauen alleine aus. Dr. Nussbaum aus der Naturheilkunde führt zur Illustration ihrer Einschätzung den Fall eines Paares an, das aktuell in ihrer Behandlung ist: Ja, von der Frau […]. Eindeutig. […] Auf jeden Fall. Ja, das sagen natürlich auch viele. Also heute hatte ich gerade jemanden da, die meinte, ihr Partner wollte eigentlich lange gar keine Kinder und erstmal musste sie ihn überzeugen. [...]. Also, die Männer sagen auch oft, ja, sie würden sich freuen, wenn es klappt, aber wenn nicht, dann, na ja, gut, dann nicht. Und sie wünschen es sich auch, [...] der Frau zuliebe, weil die merken, dass die Frau leidet. Aber sie leiden selber nicht so (A3N: 159–166).
Diese Zuschreibungen lassen sich auch auf die professionelle Ausbildung und Praxis der interviewten Ärztinnen und Ärzte zurückführen, die ja in einer gynäkologischen Klinik arbeiten und deren Alltag vor allem durch die Interaktion mit Frauen bestimmt ist. Hier verstärken sich die medizinische und organisatorische Frauenzentriertheit der Behandlung (s.u. Kap. 6.4) und die dadurch bedingte stärkere Auseinandersetzung mit den Patientinnen wechselseitig. Zwei Ärztinnen verbinden ihre Einschätzung, Frauen hätten einen stärkeren Kinderwunsch, mit der Vermutung, Frauen wünschten sich nicht nur ein Kind,
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sondern auch das Erleben einer Schwangerschaft. So führt die naturheilkundliche Ärztin Dr. Stein zum Beispiel aus: Die Frauen fühlen sich immer eher verantwortlich, oder ihnen liegt der Kinderwunsch auch mehr am Herzen, weil ihnen auch eine Schwangerschaft näher am Herzen liegt. […] Es ist doch eben eine Erfahrung, die einem als Frau dann irgendwie auch als Schwangerschaftserfahrung mehr fehlt als dem Mann vielleicht. Dem fehlt vielleicht eher das Vatersein, aber die Schwangerschaft selbst ist halt für ihn keine körperliche Erfahrung, die dann irgendwo [fehlte] (A6N: 94).
Diese homogenisierende Charakterisierung der Patientinnen findet sich auch bei der Reproduktionsmedizinerin Dr. Richter: Ich würde mal sagen, [zu] 70 Prozent [geht der Kinderwunsch] von der Frau [aus]. Weil die das Erlebnis der Schwangerschaft, glaube ich, auch gerne haben möchten (A5R: 135).
Demgegenüber spielt für die interviewten Frauen – auch die, die bereits schwanger waren – das Schwangerschaftserleben in den Interviews keine Rolle. Diese Diskrepanz kann auch darauf zurückgeführt werden, dass die befragten Ärztinnen selbst Kinder haben und ihnen retrospektiv die eigene Schwangerschaft als bedeutsames Erlebnis erscheinen mag. Das Erleben der Schwangerschaft kann hier auch als Alternative zu einer biomedizinischen Begründung für eine leibliche Schwangerschaft gelesen werden: Die Verbindung zum leiblichen Kind wird nicht über die genetische oder Blutsverwandtschaft sondern über die haptische Erfahrung der Schwangerschaft hergestellt. Der Wunsch und das Leiden der Paare sind für die Begründung der medizinischen Behandlung konstitutiv und werden zugleich als Thema der Paare aus der Arzt-Patienteninteraktion ausgeklammert. Dennoch unterscheiden die Ärztinnen und Ärzte unterschiedliche Qualitäten des Kinderwunsches. Hierbei zeigt sich eine Orientierung an dem Bild eines individualisierten Subjekts, das losgelöst von traditionellen Zwängen und Vorgaben eigenverantwortliche Entscheidungen trifft: Einige Ärztinnen und Ärzte unterscheiden zwischen einer subjektiven Dringlichkeit des Kinderwunsches des Paares und einem externen Druck. Eine intrinsische Motivation wird vorausgesetzt, wenn sich Paare für eine Behandlung, aber auch schon für Zeugungsversuche entscheiden. Die Erwartungen anderer werden aber als problematisch angesehen. Dr. Thomas stellt aufgrund seiner Erfahrung insbesondere Paare mit türkischem Migrationshintergrund als Gruppe heraus:
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Dann kann man unterscheiden: Paare oder Patienten, die als Frau den dringenden Kinderwunsch haben und die die kommen, weil ihr Mann, oder das Umfeld, die Verwandtschaft, jetzt bei Türkinnen, den Kinderwunsch haben. Also, sich stark unter Druck gesetzt fühlen durch die Umgebung. Das ist hier noch so Subkollektiv (A7R: 52).
Dass Dr. Thomas den Kinderwunsch den Frauen zuschreibt, zeigt sich in dieser Aussage erneut. Die eventuellen Wünsche des Mannes definiert er als denen der Frau gegenübergestellt, er rechnet ihn zu ihrem Umfeld. Gleichzeitig konstruiert er einen Normalfall des Kinderwunsches. In der wertenden Wortwahl wird deutlich, dass eine Abweichung hiervon auch mit einer geringeren Legitimität der Behandlung des Kinderwunsches einhergeht. An späterer Stelle im Interview führt Dr. Thomas noch einmal aus, dass ein nicht primär von den Frauen ausgehender Kinderwunsch als Abweichung gesehen werden kann: Die Männer sagen, ja, muss nicht sein, aber der Hauptantrieb liegt eigentlich bei den Frauen, es sei denn, sie kommen aus dem mediterranen Bereich. Da ist es die Verwandtschaft und die Männer, [von denen] die unter extremen Druck gesetzt werden. Da kommen die Frauen auch mit Anfang 20. Ganz jungen Alters, hat man bei den Deutschsprachigen und Deutschen halt nicht so sehr (A7R: 127–130).
Der Kontrastfall der „Subkollektive“ dient in dieser Interviewpassage dazu, die Behandlung der aus dieser Sicht „normalen Paare“ als freie Willensäußerung darzustellen. Dies ist ein Beispiel dafür, dass die von Parsons beschriebene Orientierung am Universalismus eher als zugeschriebene Verhaltenserwartung denn als Beschreibung der tatsächlichen Auffassungen von Ärztinnen und Ärzten zu begreifen ist. Zugleich erscheint hier die reproduktionsmedizinische Behandlung erst dann problematisch, wenn die Paare nicht einem normativen Bild entsprechen. Das Problem wird nicht in der medizinischen Behandlung oder ihrer mangelnden kulturellen Sensibilität verortet, sondern in einer sozialen Abweichung, die außerhalb des medizinischen Zuständigkeitsbereichs liegt. Demgegenüber ist für die Patientinnen und Patienten der unerfüllte Kinderwunsch und seine medizinische Behandlung ein Problem, das sich ihnen als Paar stellt (s.o. Kap. 5.2) und mit Beziehungsarbeit verbunden ist (s.u. Kap. 7.4). Der Preis der Kinderwunschbehandlung Ein weiteres Merkmal, in dem sich die Behandlung des unerfüllten Kinderwunsches von anderen medizinischen Behandlungen unterscheidet, ist, dass die Paare selbst für einen Teil der Behandlungskosten aufkommen müssen. Die ökonomische Logik widerspricht dabei dem medizinischen Ethos; einen problema-
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tischen Niederschlag findet dieser Widerspruch aus Sicht der Ärztinnen und Ärzte aber nur in der Profitorientierung anderer Kliniken und in der Erwartungshaltung der Paare. Der Einfluss finanzieller Aspekte auf die eigene Behandlungspraxis wird als gering oder nicht vorhanden beschrieben. Die Ärztinnen und Ärzte der reproduktionsmedizinischen Klinik grenzen sich stark von einer profitorientierten Ausrichtung der Kinderwunschbehandlung ab, wie sie ihrer Meinung nach in vielen niedergelassenen Zentren zu finden ist. Während sich vor allem niedergelassene Kliniken an der Nachfrage der Patientinnen und Patienten orientieren müssten, sei dies in der untersuchten Klinik vor allem deshalb nicht der Fall, weil diese als Universitätsklinik nicht im selben Maße unter wirtschaftlichem Erfolgsdruck stehe. Die starke Profitorientierung führe vor allem zu einem Zeitdruck, die in der niedergelassenen Zentren zum einen zu Lasten der Berücksichtigung der Paare gehe und zum anderen dazu, dass zu schnell zu höhergradigen und somit auch lukrativeren Therapieformen übergegangen werde. Die anderen Klinken dienen in diesen Vergleichen als Kontrastfolie und der positiven Hervorhebung der eigenen Position, die durch eine stärkere Erfüllung des medizinischen Ethos, das eine Heilbehandlung jenseits von Gewinninteressen vorsieht, gekennzeichnet ist. Diese Gegenüberstellung wird im Interview mit Dr. Neumann exemplarisch deutlich: Was zeichnet uns aus? Dass wir eben nicht nur daran denken, dass wir möglichst viele IVFs machen, sondern wirklich einfach die Patientinnen als Ganzes in den Vordergrund stellen und überlegen, welche Schritte wir durchführen können, bevor wir sie ins IVFProgramm einschleusen. Vor allem die sehr gute Diagnostik […] Ich glaube, wir haben hier viel mehr Zeit als in Privatkliniken, um mit den Patienten zu reden. Wir springen halt deswegen weniger schnell zum nächstmöglichen, sondern reizen Therapiemaßnahmen vielleicht eher ein bisschen länger aus als die Privatkliniken. Also konservative Therapiemaßnahmen (A2R: 124–126).
Dr. Neumann relativiert in diesem Ausschnitt ihren eigenen Vergleich zwar; es wird aber dennoch das Selbstverständnis der untersuchten Klinik deutlich, demzufolge sich das ärztliche Handeln primär an den Patientinnen bzw. medizinischen Kriterien orientiert. In dem Interview mit Dr. Richter zeigt sich in einer ähnlichen Argumentation, dass mit dieser Selbsteinschätzung auch einer möglichen Kritik an der Reproduktionsmedizin begegnet wird: Ich glaube, dass wir uns im Vergleich zu anderen Zentren mehr Zeit nehmen. Dass wir vielleicht einen nicht ganz so hohen Patientendurchsatz haben [...] Und dann gibt es natür-
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lich die Zentren, die überhaupt ganz nur IVF und gar nicht den Kinderwunsch, wo es dann wirklich abgeht wie am Fließband (A5R: 139).
Die Forschungsorientierung der eigenen Klinik wird indirekt als interessensfrei dargestellt, wenn den niedergelassenen Ärztinnen und Ärzten von Dr. Richter ein finanziell motiviertes Interesse am Forschungsstand unterstellt wird: Ich glaube, dass die meisten Privatpraxen extrem gut informiert sind. Weil das ein Bereich ist, wo man auch so viel Geld machen kann, dass man da versucht, auf dem neuesten Stand zu bleiben, weil man da schnell hinten dran ist (A5R: 143).
Eine ähnliche Kritik äußert die Naturheilkundlerin Dr. Stein (A6N) gegenüber dem Angebot naturheilkundlicher Begleittherapien in anderen Zentren. Diese würden vor allem als „Werbeargument“ eingesetzt, wohingegen es in der eigenen Klinik immer auch um die Reflexion der Methoden gehe: Bei uns wollen wir das natürlich auch, unsere Patienten halten und zufriedenstellen, das ist keine Frage. [...] Es ist eben stärker der Fokus da, dass man auch mal alles, was man anbietet und was man tut, hinterfragt. [...] Bringt es das, was die Patienten sich erwarten, bringt es das wirklich und wie kann man das nachweisen (A6N: 104).
In den Interviewausschnitten zeigt sich, dass über die zum Teil sehr starke Abgrenzung von anderen Kliniken die eigene Arbeit legitimiert wird. Hier wird deutlich, dass an die argumentative Leerstelle der fehlenden Krankheitsdefinition die Anrufung einer besonderen Redlichkeit und Vertrauenswürdigkeit der ärztlichen Profession tritt (s.o. Kap. 3.1). In den Erstberatungsgesprächen zeigt sich, dass die Ärztinnen und Ärzte davon ausgehen, dass finanzielle Erwägungen durchaus eine Rolle bei der Entscheidungsfindung der Paare spielen: Sie erläutern die Kosten einzelner Behandlungsarten und verweisen auf Möglichkeiten, die Kosten zu reduzieren – wie zum Beispiel mit dem Bezug reimportierter Medikamente oder der Nutzung von Internetapotheken. Nicht zuletzt wird die Teilnahme an Studien den Paaren gegenüber als Möglichkeit dargestellt, eine kostenfreie Behandlung zu erhalten. Dies lässt sich als Ausdruck oder Moment der Arzt-Patienten-Interaktion im Kundenmodell lesen, das vor allem zu Beginn der Therapie dominiert (s.u. Kap. 6.1). Gleichzeitig erklären sich die Ärztinnen und Ärzte aber für die Details der Finanzierungsfragen nicht zuständig und verweisen bei Nachfragen an die Sekretärin oder die Krankenhausverwaltung. Dies zeigt, dass das Kundenmodel kein fester, verbindlicher Rahmen ist. Vielmehr dient diese Zurückweisung der Zu-
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ständigkeit zwei Zwecken: Die Trennung von ökonomischen und medizinischen Fragen – wie sie auch im Vergleich zu anderen Kliniken deutlich wird – wird wiederhergestellt und unterstrichen; zugleich wird die Komplexität der Entscheidung für die Kinderwunschbehandlung, die sich den Paaren auch als finanzielle Frage stellt, reduziert. Mit der Einführung der 50-Prozent-Kostenübernahme haben sich aber aus Sicht der Ärztinnen und Ärzte Einstellung und Verhalten der Paare geändert. Hier machen sie sowohl negative als auch positive Veränderungen aus. Einige Ärztinnen und Ärzte schreiben den Paaren eine im Vergleich zu anderen Klinikpatientinnen und -patienten größere Anspruchshaltung zu. Zwei Reproduktionsmedizinerinnen thematisieren beispielweise, eine fordernde Einstellung der Paare sei insbesondere seit der Einführung der 50-Prozent-Zuzahlung zu beobachten. Beide kritisieren, die medizinische Behandlung bekomme durch den Anspruch der Paare, für die Bezahlung auch einen Gegenwert in Form eines Kindes zu erhalten, einen Warencharakter. Dr. Otto illustriert dies an der Situation nach einer erfolglosen Behandlung, in der der Misserfolg als Nichterfüllung einer vereinbarten Gegenleistung erscheint: „Ja, warum klappt das jetzt bei mir nicht?“, „Wieso kriegen dann andere Kinder und ich krieg’ keine?“ oder so. „Warum können Sie mir kein Kind machen?“ Und ich hab auch so das Gefühl: „Wir zahlen was dafür, da wollen [wir] auch was dafür haben. Wenn das nicht klappt, dann ist es Ihre Schuld“ (A4R: 61).
Dr. Richter beschreibt eine insgesamt kommerzialisierte Einstellung der Paare gegenüber dem Therapieangebot: Seitdem [die Paare] auch die Behandlung bezahlen, [haben sie] eine ganz andere Vorstellung, wenn sie hierher kommen, das ist eher so ein Einkaufsladen mittlerweile: „Ich komme, ich bezahle, und ich erwarte […] eine adäquate Behandlung“ (A5R: 49).
Auf Nachfrage erläutert Dr. Richter näher, dass bei erfolgreicher Behandlung die Paare früher ihre Dankbarkeit deutlicher zeigten: [Das] macht sich witzigerweise daran fest, dass es selbstverständlich genommen wird, wenn man schwanger wird. Man hat ja dafür bezahlt. Es macht sich zum Beispiel daran fest: Früher sind ja die Geschenkkörbe dann hier eingetroffen; das ist jetzt überhaupt nicht schlimm, dass die jetzt ausbleiben. Aber es ist einfach eine interessante Sache, dass die Frauen jetzt,... die haben ja schon dafür bezahlt (A5R: 51).
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Diese Beobachtung von Dr. Richter ist ein Beispiel für die ärztliche Zurückweisung einer Reduktion ihrer Arbeit auf eine bezahlbare Dienstleistung. Das Anlegen ökonomischer Kriterien zur Beurteilung medizinischen Handelns widerspricht der gesellschaftlich geteilten Zubilligung des besonderen Status von Professionen, in dem die Professionellen ihre wesentlichen Tätigkeiten nach eigenen Maßstäben bestimmen (s.o. Kap. 3.1.). Die besondere Qualität medizinischen Handelns liegt eben auch darin begründet, dass es sich nicht auf eine monetäre Abstraktion reduzieren lässt. So wird auch ein entsprechendes Verhalten von den Paaren erwartet: eine Dankbarkeit für die Geburt eines Kindes, die sich auch im Verhalten gegenüber den Ärztinnen und Ärzten zum Ausdruck kommt. Eine Kritik, die an der Reproduktionsmedizin formuliert wurde, wird aufgegriffen, aber nun an andere Adressen gerichtet: Das Verhalten der Paare wird problematisiert und ihnen die Verantwortung für Kommerzialisierungstendenzen zugeschrieben. Die Ökonomisierung der Medizin stellt sich als moralisches Fehlverhalten der Paare dar. In dieser individualistischen Sicht werden innermedizinische und professionelle Strukturen ebenso ausgeblendet wie die eigene Position und das eigene Verhalten. Die Ärztinnen und Ärzte selbst erscheinen vielmehr als warnende Stimme. Ein paralleles Argumentationsmuster findet sich in der Hervorhebung positiver Auswirkungen der neuen Zuzahlungsreglungen durch die Gesetzesänderung von 2004: Diese führt aus ärztlicher Sicht nicht nur zu einer höheren Compliance der Paare, sondern damit auch dazu, dass diese sich insgesamt verantwortungsvoller verhalten. Zwei der reproduktionsmedizinischen Ärztinnen teilen die Einschätzung, dass nun mehr Paare die IVF-Behandlung aufgrund der bereits getätigten Zahlungen zu Ende führen. Eine weitere positive Auswirkung auf das Verhalten der Paare durch die Zuzahlung sieht Dr. Richter darin, dass dies der Tendenz entgegenwirkt, „zu früh“ zu höhergradigen reproduktionsmedizinischen Maßnahmen schreiten zu wollen: Das ist ein bisschen besser geworden, seitdem ICSI und IVF nicht mehr bezahlt wird. Und auch die Insemination. Da sind die Paare nicht mehr ganz so schnell dabei. Aber wir hatten hier Paare, die kommen hier rein, haben seit einem halben Jahr Kinderwunsch und möchten jetzt eine IVF. Klopfen auf den Tisch, und wenn es nicht klappt, dann gehen wir woanders hin (A5R: 149).
Letztlich äußern die Ärztinnen und Ärzte an keiner Stelle – weder im Gespräch mit den Paaren noch im Interview noch während der teilnehmenden Beobachtung– ihre Meinung über die Gerechtigkeit oder Legitimität der verschiedenen Finanzierungsmodelle. Nur in einem Erstgespräch relativiert Dr. Neumann die
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Kritik eines Paars an der Zuzahlung mit einem Verweis auf die Regelungen in anderen Ländern: Wobei Deutschland das letzte Land ist, wo die Krankenkasse überhaupt noch irgendetwas zahlt für diese Luxusmedizin. Also, es ist alles so ein bisschen relativ. Auf der anderen Seite haben natürlich die anderen Länder auch die Möglichkeit zu selektieren. Das heißt, dass die schon mal eine größere und höhere Schwangerschaftsrate haben. Und damit ist der Druck auch wieder ein bisschen kleiner (EG11R: 228).
In dieser Zurückweisung der Kritik zeigt sich eine hierarchische Positionierung gegenüber dem Paar, in der sich professionelle und moralische Argumentationen vermischen. Dass die Auskünfte zu den Zuzahlungsregelungen in anderen Ländern nicht ganz zutreffend sind, ist hier weniger auf eine bewusste Falschaussage zurückzuführen, um das Paar zu überzeugen, sondern zeigt eher die Selbstverständlichkeit, mit der von der Richtigkeit der ärztlichen Einschätzung ausgegangen wird. In der abwägenden Beurteilung der gesundheitspolitischen Regulierung in Deutschland kommt darüber hinaus die Ambivalenz zwischen politischer Neutralität und der professionellen Orientierung am Wohl der Patientin zum Ausdruck. 5.3.2 Der unerfüllte Kinderwunsch als Forschungsgegenstand Als Teil eines Universitätskrankenhauses sind beide Kliniken wissenschafts- und forschungsorientiert: Es werden fortlaufende Studien durchgeführt, in der reproduktionsmedizinischen Klinik zu den Prozessen der Kinderwunschbehandlung. In der naturheilkundlichen Klinik hingegen haben sich die Forschungsschwerpunkte in den letzten Jahren dahingehend gewandelt, dass derzeit keine Studien mehr zur ungewollten Kinderlosigkeit durchgeführt werden können. Für dieses Thema seien, so die Leiterin der Klinik, zur Zeit keine externen Forschungsgelder einzuwerben. Die Studien haben für beide Kliniken eine unterschiedliche Zielsetzung und Bedeutung: Die grundlegenden reproduktionsmedizinischen Verfahren sind etabliert und werden von der Fachwelt anerkannt, der unerfüllte Kinderwunsch ist in diesem Sinne als legitimer Gegenstand erfolgreich medikalisiert. Studien dienen hier der Verbesserung der Verfahren vor allem in Hinblick auf die Steigerung der Erfolgsquote. In der naturheilkundlichen Klinik wird die Hoffnung hingegen darauf gesetzt, mit Hilfe von Studien zuerst einmal die Wirksamkeit der naturheilkundlichen Verfahren so nachzuweisen, dass sie auch innerhalb der schulmedizinischen Fachwelt Anerkennung findet und zur Etablierung der Naturheilkunde beitragen. Bei ungleicher Ausgangslage und Intention
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in beiden Kliniken geht die Durchführung von Studien aber stets mit einer Aufrechterhaltung oder Ausweitung der medizinischen Zuständigkeit einher. Auch wenn die naturheilkundliche Klinik formal zur selben Abteilung der Universitätsklinik gehört wie die reproduktionsmedizinische Klinik, ist ihr Selbstverständnis von einem ambivalenten Verhältnis zur Schulmedizin geprägt: Auf der einen Seite ist die Klinik – auch für ihre Finanzierung – auf die Anerkennung durch die Schulmedizin angewiesen, auf der anderen Seite sehen sich die Ärztinnen einem gänzlich anderen Heilungsansatz verpflichtet. Zwischen dem Wissensbezug und der Kollegenorientierung in der Forschung und dem Handlungsbezug und der Patientenorientierung der medizinischen Praxis besteht eine Spannung, die für die Ärztinnen der naturheilkundlichen Klinik eine grundsätzliche Schwierigkeit darstellt: Für eine Etablierung der Naturheilkunde in der Medizin ist eine Orientierung an schulmedizinischen Verfahren der Evidenzherstellung erforderlich, die sich vor allem auf statistische Verfahren stützt. Demgegenüber orientiert sich die medizinische Praxis in naturheilkundlichen Verfahren am Einzelfall. Den Umgang mit dieser Spannung in den Bemühungen um eine Etablierung naturheilkundlicher Verfahren zeichnen so auch verschiedene, gegenläufige Strategien aus: Neben Studien nach schulmedizinischen Standards ist in der Abgrenzung von Heilpraktikerinnen und Heilpraktikern eine weitere Anrufung von Ausbildungsstandards, die durch die Profession zertifiziert sind, zu finden. Gleichzeitig unterstreichen die Ärztinnen aber die Relevanz ihres Erfahrungswissens. Forschung in der reproduktionsmedizinischen Klinik In der reproduktionsmedizinischen Klinik wurden im Untersuchungszeitraum zwei Studien durchgeführt: eine zur Wirkung und Bedeutung des Seminalplasmas und eine weitere zur Erprobung eines neuen IVF-Verfahrens, der In-vitroMaturation (IVM). Während mit der ersten Studie die Hoffnung verbunden wurde, die Schwangerschaftsraten zu erhöhen, wenn die Gebärmutterschleimhaut vor der Einnistung mit einem Extrakt aus männlicher Samenflüssigkeit behandelt wird, richtet sich die zweite Studie an Frauen mit polyzystischen Ovarien (PCOSyndrom). Um einen regelmäßigen Eisprung zu bekommen, werden Patientinnen mit Hormonen behandelt – hierbei besteht jedoch insbesondere bei jüngeren Frauen das Risiko einer Überstimulation. Dieses Risiko ist bei einer IVM deutlich geringer, da die Eizellen unreif und nach im Vergleich sehr viel kürzerer hormoneller Stimulation entnommen werden und anschließend extrakorporal weiterreifen. Die Zielsetzung der Seminalplasmastudie ist insofern als Medikalisierung zu verstehen, als bei einer höheren Schwangerschaftsquote auch mit einer höheren Akzeptanz und Verbreitung der Reproduktionsmedizin zu rechnen
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ist. Mit der IVM-Studie wird ebenfalls das Ziel einer höheren Schwangerschaftsrate und zugleich einer Ausweitung der Gruppe der behandelbaren Patientinnen mit verbunden. Ein grundlegend neuer Bereich ist die Erweiterung der Angebote der Reproduktionsmedizin in der Onkologie. Fruchtbarkeitserhaltende Maßnahmen bei Chemo- und Strahlentherapie umfassen dabei bei Frauen den Einsatz von Medikamenten, die Kryokonservierung von befruchteten und unbefruchteten Eizellen und Eierstockgewebe sowie die operative Verlagerung der Eierstöcke. Bei Männern können Spermien kryokonserviert werden. Dr. Thomas, der an der Gründung dieses Forschungsbereiches maßgeblich beteiligt war, führt dessen Etablierung vor allem auf die gestiegenen Heilungs- und Überlebenschancen bei onkologischen Erkrankungen zurück: Das ist etwas ganz neues, aber nur für relativ wenige Patienten relevant, Onkologie. Durch die moderne Onkologie werden die Überlebenswahrscheinlichkeiten der Patienten erhöht. Und das ist etwas, was früher nie von Relevanz war, dass diese Frauen auch schwanger werden wollen. Da gibt es halt einen ganz, ganz neuen Bereich, rein universitär. Das ist ein ganz neuer reproduktionsmedizinischer Bereich, der wird sich ganz neu entwickeln, entfalten, sehr experimentell (A7R: 146).
Ausschlaggebend für diese Entwicklung erscheinen neben den medizinischen Erfolgen in der Beschreibung von Dr. Thomas die Wünsche und Nachfrage der Patientinnen. Hier zeigt sich erneut die Tendenz der geschlechtsspezifischen Zuschreibung des Kinderwunsches. Zugleich aber werden in seinen Äußerungen professionspolitische Motivationen deutlich. So dient ihm dieses Beispiel als Illustration seiner Aufgaben als Leiter der Abteilung, zu denen neben der medizinischen Arbeit und der Facharztausbildung auch explizit die Ausweitung des Anwendungsbereichs der Reproduktionsmedizin gehört: Aber ich habe auch eine weitere Rolle, die über die reine Kinderwunschtherapie hinaus gehend, das ich hier eine ganz neue Technik einführe zum Beispiel und auch einen Schwerpunkt geschaffen haben. Das ganz neue Tumorzentrum, Thema Fertilitätserhalt bei Tumorpatienten, was ich hier aus dem Boden letztendlich gestampft habe. Also auch neue Bereiche zu erschließen (A7R: 60).
Bis zu welchem Grad die Fertilität von Tumorpatientinnen und -patienten medikalisiert werden wird, wird unter anderem davon abhängen, wie dieses Therapieangebot in die medizinische Routine integriert wird und ob und wie die Patientinnen und Patienten entsprechende Angebote nachfragen oder einfordern (s.o.
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Kap. 1.2). Dieses Beispiel zeigt – nicht zuletzt in der Wortwahl – deutlich, wie sich das wissenschaftliche Interesse an der Wissensvermehrung mit einer Ausweitung des medizinischen Zuständigkeitsbereichs verbindet. Zur Aufgabe der Universitätskliniken gehört auch, die aktuellen Forschungsergebnisse öffentlich zu machen und Informationsveranstaltungen für niedergelassene Ärztinnen und Ärzte und betroffene Patientinnen und Patienten durchzuführen. Beide Kliniken beteiligen sich mit Informationsveranstaltungen und Beratungsangeboten am Tag der Endometriose, der einmal jährlich federführend bundeslandweit von einer Selbsthilfegruppe organisiert wird. Mit Endometriose werden gutartige Verwachsungen und Wucherungen der Gebärmutterschleimhaut (des Endometriums) bezeichnet, die schmerzhaft sein und zu eingeschränkter Fruchtbarkeit führen können. Ziel der Selbsthilfegruppe ist die allgemeine Aufklärung über die Erkrankung Endometriose und vor allem die Reduktion der mit ihr verbundenen Schmerzen. In der untersuchten reproduktionsmedizinischen Klinik wird eine eigene Endometriosesprechstunde angeboten, an der auch einige Mitarbeiterinnen der Kinderwunschabteilung beteiligt sind. Die Aktivitäten in Zusammenarbeit mit der Selbsthilfegruppe und die Sprechstunde tragen zu einer Medikalisierung des Menstruationszyklus und der weiblichen Fruchtbarkeit bei. Aus der Perspektive dieser Aufklärungsbemühungen soll das, was von Frauen bisher in Einzelfällen relativ unbestimmt als Menstruationsschmerzen wahrgenommen wurde, nun zu einem spezifischeren medizinischen Problem werden, das mit Fachvokabular beschrieben und medizinisch behandelt werden kann. Die Fruchtbarkeit von Frauen wird als durch einen weiteren Aspekt möglicherweise eingeschränkt dargestellt, der allerdings nicht von ihnen selbst, sondern nur mithilfe der Medizin aufgedeckt werden kann. Zugleich steht mit der Definition der Endometriose eine weitere Beschreibung einer physiologisch lokalisierbaren Ursache der ungewollten Kinderlosigkeit bereit, die als Krankheit bezeichnet werden kann. Zum Arbeitsalltag der Ärztinnen und Ärzte gehört die Durchführung von Studien, in denen sehr häufig neue reproduktionsmedizinische Verfahren erprobt werden, deren Nutzen und Risiken noch nicht genau absehbar sind. Während die Risiken dieser Verfahren in den Erstberatungsgesprächen – während der Werbung um Teilnehmende – keine besondere Erwähnung findet, sehen die Ärztinnen und Ärzte die Spannung zwischen wissenschaftlichem Fortschritt und unsicherem ethischen Grund, da die Risiken der Verfahren nicht absehbar sind. Das beschreibt der Leiter der IVM-Studie:
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Ethisches Dilemma ist natürlich auch, weil wir jetzt neue Therapien machen, die In-vitroMaturation, weil wir da natürlich nur bedingt Daten haben bezüglich der Behinderung der Kinder. Das sind natürlich auch Dinge, die ethisch grenzwertig sind (A7R: 140).
Eine andere Kollegin steht den wissenschaftlichen Weiterentwicklungen im Allgemeinen skeptischer gegenüber: Also immer, wenn was neu eingeführt wird, ist natürlich immer so die Frage, ob man jetzt einen Schritt zu weit geht. [...] Zum Beispiel IVM, In-vitro-Maturation – das ist in meinen Augen völlig unausgegoren, […] Ich war am Anfang auch komplett gegen ICSI ... (A5R: 147).
Ihre Kritik war gegenüber der ICSI so stark, dass sie sie für unvereinbar mit ihren Überzeugungen hielt: Ich habe am Anfang auch keine ICSI-Behandlung durchgeführt hier. Aber hat sich dann natürlich auch aufgeweicht (A5R: 147).
Dr. Richter gibt selbst einen Hinweis darauf, warum sie das „Aufweichen“ ihrer ethischen Position für unumgänglich hält, wenn sie mit Blick auf die IVMStudien anführt: [A]ber irgendwann muss damit anfangen, sonst wird es auch nie weiter führen (A5R: 147).
Ähnlich ließ sich Dr. Neumann von der Kryokonservierung überzeugen, wie sie in einem Erstberatungsgespräch erläutert: Also ich war auch immer sehr skeptisch mit dem Einfrieren. Und ich sage Ihnen, da kommen ganz süße Babies heraus [lacht] (A2R in EG11R: 238).
Das Hauptkriterium der Beurteilung ist hier also der medizinisch-wissenschaftliche Fortschritt, der als legitimer und notwendiger Orientierungspunkt ärztlichen Handels dargestellt wird. Als ergänzende Erklärung für ihre zunehmende Akzeptanz neuer Technologien führen die zitierten Ärztinnen auch die medizinischen Erfolge an, die sich mit der zunehmenden Nutzung zeigten. Hier zeigt sich eine Handlungsethik, die sich vor allem an der Praxis orientiert.
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Forschung in der naturheilkundlichen Klinik Wie bei vielen anderen naturheilkundlichen Behandlungsfeldern hat die Alternativmedizin auch in der Therapie des unerfüllten Kinderwunsches nicht den Status einer selbstverständlich zuständigen medizinischen Profession. Mit den ärztlichen Weiterbildungen im Bereich der Naturheilkunde ist allerdings eine professionelle Anerkennung verbunden. Dem naturheilkundlichen Selbstverständnis nach gehört der unerfüllte Kinderwunsch in den Zuständigkeitsbereich eines ganzheitlichen Therapieansatzes, seine Legitimierung ist für die Ärztinnen ein zentrales Anliegen. Eine besondere Bedeutung sprechen sie hier Studien zu, die schulmedizinische Standards wie randomisierte doppelblinde Verfahren umsetzen. Zugleich wird schon der institutionellen Verortung in einer Universitätsklinik für die Ärztinnen eine strategische Bedeutung beigemessen. Insbesondere der Leiterin der naturheilkundlichen Klinik Dr. Stein ist die Forschungsorientierung wichtig. In Abgrenzung zu anderen Kliniken stellt sie heraus, dass wir das hier nicht nur anbieten, sondern doch versuchen, versuchen es irgendwie auch zu untersuchen und zu dokumentieren (A6N: 100).
Studien werden von Dr. Stein mit der Hoffnung verbunden, dass eine mindestens der Schulmedizin vergleichbare Wirksamkeit nachgewiesen werden kann: Aber es gibt eben Schwangerschaften. Immer wieder. Gerade mit den Methoden, denen man das nicht gerade zutraut. Mit der Homöopathie; bloß es fehlen völlig Vergleichsstudien […] Ob es [der naturheilkundliche Ansatz, cu] wichtiger wird, das hängt einfach davon ab, ob Mittel für Forschung zur Verfügung stehen, die dann vielleicht tatsächlich nachweisen, dass das eine oder das andere für sich genommen mithalten könnte mit anderen Methoden (A6N: 42, 122).
Argumente für eine naturheilkundliche im Gegensatz zu einer reproduktionsmedizinischen Kinderwunschtherapie sind in den Augen der Ärztinnen vor allem, dass erstere mit weniger bis gar keinen Nebenwirkungen einhergeht und aufgrund der ganzheitlichen Behandlung auch das allgemeine Wohlbefinden steigt. Als nichtmedizinisches Argument werden von den naturheilkundlichen Ärztinnen wiederholt auch die vergleichsweise geringeren Kosten angeführt. Für die Durchsetzung alternativmedizinischer Verfahren schreiben sie diesem Aspekt eine wichtige Rolle zu, wie beispielsweise in folgender Aussage deutlich wird: Wenn ich da [...] eine vergleichende Studie hätte, die pharmazeutische Prolaktin-Hemmer und pflanzliche Prolaktin-Hemmer vergleicht und die würde nur eine Gleichwertigkeit
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zeigen, oder dann noch ein günstigeres Kosten-Nutzen-Verhältnis, dann wäre schon mal vieles getan. Und da gibt es Dinge, die da doch so erfolgversprechend sind (A6N: 122).
Während also als Hauptmotivation für reproduktionsmedizinischen Studien die Verbesserung der Therapie angeführt wird und sich ihre Bewertung auch vor allem nach medizinischen Kriterien richtet, führen die Ärztinnen der Naturheilkunde auch ökonomische Argumente an. Stärker als die Reproduktionsmedizin ist die Naturheilkunde insgesamt von der Nachfrage abhängig, da die Patientinnen und Patienten die Kosten meistens vollständig tragen müssen. Vor diesem Hintergrund steht der Absatzmarkt in den Aussagen der Ärztinnen in enger Verbindung mit der Forschung. Dies zeigt bespielhaft die verhalten optimistische Einschätzung der zukünftigen Entwicklung der naturheilkundlichen Kinderwunschbehandlung von Dr. Stein: dass selbst bei der Eigenzahlung bleibt ja vieles immer noch mal billiger als IVF und ICSI. Und von daher denke ich, ist es durchaus ein Markt auch und ein Forschungsgebiet, was nicht verschwinden wird (A6N: 120).
Die Übernahme ökonomischer Kriterien für die Beurteilung medizinischer Verfahren bleibt hier unreflektiert und zeigt den hohen Grad an Pragmatismus, der auch die Ausweitung des naturheilkundlichen Zuständigkeitsbereichs begleitet. Die institutionelle Anbindung der Klinik für Naturheilkunde an eine Universitätsklinik wird als professionspolitisch wichtig für die Anerkennung der Naturheilkunde gesehen. Dies gilt insbesondere für die Außenwirkung auf Patientinnen und Patienten, wie beispielsweise Dr. Müller begründet. Die Behandlung in der Uniklinik statt in einer Privatpraxis trage dazu bei, [d]ass die Leute das Gefühl haben, wenn das hier an der Uniklinik gemacht wird, gelehrt wird, dann muss ja auch was dran sein. [...] „Aha, da stehen ja auch die Schulmediziner irgendwo dahinter, sonst würden die das ja nicht erlauben“ (A1N: 114).
Nicht nur die Durchführung von Studien, sondern auch der Erfolg und die richtige Fortführung der Arbeit der Klinik werden deshalb als strategisch zentral für die Positionierung der Naturheilkunde gesehen. Dies ist besonders für die beiden Ärztinnen ein Thema, die neben ihrer Tätigkeit in der eigenen Praxis in Teilzeit in der untersuchten Klinik arbeiten. Für Dr. Müller ist es zugleich die Hauptmotivation, diese Arbeit fortzuführen:
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Ich glaube halt, dass dafür so eine Uniklinik unwahrscheinlich wichtig ist. Wenn das hier einschläft, dann kannst du es vergessen. Das ist halt schon so, wenn so die Leute hören, an der Universitätsfrauenklinik gibt es eine, die darüber mal eine Studie gemacht hat, dass da Erfolg ist, das bringt was. Es ist was anderes, wenn man auf einmal hört, da ist ein Arzt und der behandelt homöopathisch, das sind ganz andere Visitenkarten hier (A1N: 134).
Wesentliches strategisches Element der Etablierung der Naturheilkunde bleibt die Orientierung an der Schulmedizin, was sich bspw. in der Übernahme ihrer Kriterien bei den geplanten Studien zeigt. Hier werden nicht etwa naturheilkundliche Maßstäbe zur Beurteilung angelegt, wie etwa das subjektive Wohlbefinden oder der allgemeine Gesundheitszustand der Patientinnen oder Patienten, sondern ein isoliert betrachteter medizinisch messbarer Erfolg wie etwa der der oben erwähnten pflanzlichen Prolaktin-Hemmer. In dem Spannungsfeld von schulmedizinischen Anforderungen an die Behandlung und dem Anspruch, ganzheitlich und individuell zu behandeln, betonen die Ärztinnen der naturheilkundlichen Klinik – in den Interviews, aber auch den Erstberatungsgesprächen – ihre fundierte medizinische Ausbildung und professionelle Kompetenz, was besonders in der Abgrenzung von Heilpraktikerinnen und Heilpraktikern deutlich wird. Die Ausweitung medizinischer Zuständigkeit geschieht hier in Verbindung mit der Auseinandersetzung um Professionsinteressen. So äußern die Ärztinnen in den naturheilkundlichen Erstberatungsgesprächen, dass generell vor allem gegenüber Heilpraktikerinnen und Heilpraktikern, die Akupunktur und Homöopathie anböten, Vorsicht geboten sei. Dies wird in einem Erstgespräch noch einmal deutlicher, in dem Dr. Müller sich stark von Heilpraktikern distanziert. Das Ehepaar Eckhardt hat eine Person im Bekanntenkreis, die Heilpraktiker werden möchte, um eine Einschätzung zu einer anderen homöopathischen Behandlung gebeten. Dr. Müller regiert hierauf etwas entrüstet und spricht Heilpraktikerinnen und Heilpraktikern aufgrund ihrer unzureichenden und nichtuniversitären Ausbildung eine fachliche Autorität ab: Wissen Sie, es ist halt mit den Heilpraktikern, das ist jetzt meine persönliche Meinung, aber ich finde das nicht gerechtfertigt. Also, dass ich mir Homöopathie auf mein Arztschild schreiben darf, muss ich studiert haben und approbierte Ärztin sein. Ich muss so und so viele Jahre klinische Tätigkeit nachweisen, ich muss eine HomöopathieAusbildung nachweisen, die über mehrere Jahre geht, und ich muss noch eine knallharte Prüfung ablegen. Dann darf ich mich erst Homöopathin nennen. Und der Heilpraktiker doktert da ein bisschen rum, das muss man wirklich sagen, und der schreibt sich auf das Schild, und dann kann er das machen (A1N in EG4N: 120).
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Wenn es darum geht, dass die Paare sich vor Ort einen Arzt oder eine Ärztin für die weitere naturheilkundliche Behandlung suchen sollen, verweisen die naturheilkundlichen Ärztinnen immer auf die wissenschaftlichen Fachverbände wie die Deutsche oder Europäische Gesellschaft für Akupunktur oder die Hahnemann-Gesellschaft. Zwar sei in gewissem Rahmen auch in Ordnung, etwa bei „einer Grippe oder kleinen Verletzungen an der Hand, oder mal ein blauer Fleck oder so etwas […] einen Bienenstich“ (EG4N: 137), selbst homöopathisch zu behandeln, aber die Kinderwunschbehandlung als „etwas Ernsteres, was Wichtigeres“ (EG4N: 137) erfordere eine professionelle Behandlung. Neben dem durch universitäre Bildungsabschlüsse und Zertifizierungen legitimierten Wissen betonen die Ärztinnen immer wieder, dass vor allem die Behandlungserfahrung mit unerfülltem Kinderwunsch einen guten Arzt oder eine gute Ärztin in der Naturheilkunde ausmacht. Dr. Nussbaum beschreibt im Interview die Besonderheiten der Klinik entsprechend: Also dass wir hier zwei sehr gut ausgebildete Homöopathinnen haben. Die auch schon viel Erfahrung haben. […] Ich denke schon, das ist schon ein Gewinn, also dass wir da keine Anfänger sind. Und auch eine fundierte Ausbildung haben (A3N: 19).
Auch wenn die naturheilkundlich praktizierenden Ärztinnen sich einem größeren Legitimationsdruck ausgesetzt sehen, sind sie grundsätzlich zuversichtlich, dass sich die alternativmedizinischen Heilungsansätze als konkurrenzfähig erweisen können. Zugleich hat die naturheilkundliche Therapie aus ihrer Sicht den Vorteil, dass sie im Gegensatz zur reproduktionsmedizinischen nur wenige bzw. keine ethischen Fragen aufwirft. Dies spiegelt sich auch in der Charakterisierung der Patientinnen und Patienten der naturheilkundlichen Klinik wider. Ein Beispiel hierfür ist die Hervorhebung der besonderen Reflektiertheit der Paare von Dr. Stein: Hier sind die Fragen anders als drüben. Die Fragen, sagen wir mal, nach dem perfekten Kind, und auf jeden Fall muss das Kind dann gesund sein oder so etwas – die werden hier weniger gestellt. Also hier sind viel mehr Paare, die sich auch damit auseinandersetzen: „Wenn es denn nicht klappt, dann haben wir das versucht, was in unserer Vorstellung gerechtfertigt ist“. Und dann ist auch ein Leben ohne Kinder denkbar. Das ist hier also sehr viel häufiger anzutreffen als drüben [in der reproduktionsmedizinischen Klinik, cu] […] Also wir können hier vielleicht eher auch über Adoption, über Alternativen oder so etwas sprechen. Da wird, glaube ich, mehr hingehört. Und das wird mehr angenommen. Weil sie eben sagen, […] – weil der Weg [der IVF] für uns auch bislang nicht erfolgreich war – wir
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wollen nicht alles tun für das eigene Kind […]. Ist so das breite Denken, Leben ohne Kind wird auch akzeptiert, oder eben andere Möglichkeiten (A6N: 38–40).
Die Patientinnen und Patienten werden hier – zumindest gegenüber denen in reproduktionsmedizinischer Behandlung – als reflektiert dargestellt. Ihre Normen entsprechen denjenigen der behandelnden Ärztinnen. Nichtsdestotrotz stellt es sich den Ärztinnen als Aufgabe dar, über alternative Möglichkeiten zum leiblichen Kind aufzuklären; also eine Expertinnenrolle auch für lebensweltliche Entscheidungen zu übernehmen. In dem so erlebten Auftreten der Patientinnen und Patienten bestätigt sich die Auffassung der Ärztinnen von einer ethisch wenig problematischen Therapie. Der Eingriff in den Reproduktionsprozess wird als weitgehend unproblematisch erlebt. Dies ist insofern als Vereinfachung zu sehen, als die naturheilkundliche Behandlung zwar mit weniger Risiken und Nebenwirkungen einhergeht und deutlich weniger intensiv in den Reproduktionsprozess eingegriffen wird; nichtsdestotrotz ist sie nicht frei von ethischen Abwägungen, wie etwa Fragen der Vertretbarkeit von wissenschaftlich wenig fundierten Heilungsansätzen oder der Festlegung, bis zu welchem Alter Paare behandelt werden. 5.3.3 Ausweitung und Grenzen der medizinischen Behandlung In der untersuchten Klinik werden die Therapiemöglichkeiten, die der Gesetzgeber und die Bundesärztekammer vorgeben (s.o. Kap. 5.1), auf der einen Seite nicht in allen Punkten ausgeschöpft, auf der anderen Seite aber in anderen Punkten von den Ärztinnen und Ärzten als zu begrenzt kritisiert. Sowohl bei der heterologen Insemination als auch beim Embryonentransfer hat die Klinik engere Grenzen gezogen und somit die Behandlungsoptionen für die Paare von vornherein beschränkt. Diese Begrenzung der medizinischen Möglichkeiten lässt sich zum einen als weiteres Beispiel für die Vereinfachung des Behandlungsgegenstands lesen, die mit normativen Vorstellungen über Elternschaft einhergeht. Die von den Ärztinnen und Ärzten geforderte Ausdehnung von Kultivierungs- und Selektionsmöglichkeiten vor der Implementation sind ein Beispiel für die Ausweitung medizinischer Zuständigkeit. Neben den Grenzen, die die äußeren Bedingungen der Behandlung des unerfüllten Kinderwunsches bestimmen, thematisieren die Ärztinnen und Ärzte zum anderen der medizinischen Behandlung innewohnende Grenzen. Sie sehen sich häufig mit der Situation konfrontiert, dass die medizinische Behandlung fehlschlägt. Der Umgang der Ärztinnen und Ärzte mit dieser Unsicherheit ist davon gekennzeichnet, dass sie sie den Paaren gegenüber offen legen und zugleich deren Ursache in der körperlichen Natur verorten.
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Begrenzung der Behandlungsmöglichkeiten Durch den Ausschluss der Verwendung heterologen Spermas trägt die untersuchte Klinik dazu bei, das Konzept genetischer Elternschaft zu stärken und gleichzeitig den unerfüllten Kinderwunsch „über die Frau“ zu behandeln: in den Fällen, in denen mit der Verwendung einer Samenspende die durch die Spermienqualität des Mannes begründete IVF-Behandlung umgangen werden könnte (s.u. Kap. 6.4). In den Beratungsgesprächen kommt der Ausschluss dieser Behandlungsmöglichkeit nur auf Nachfrage der Paare zur Sprache. Die Ärztinnen und Ärzte reagieren üblicherweise, indem sie auf ein entsprechendes Angebot anderer Kliniken verweisen. Eine Ausnahme ist hier Dr. Neumann, die in zwei Erstberatungsgesprächen die heterologe Insemination negativ bewertet. Im Gespräch mit dem Ehepaar Graf nimmt sie eine sehr deutliche Beurteilung vor: Entweder ist die Alternative, dass Sie sich damit abfinden und sagen, okay, ich kriege keine Kinder. Oder Adoption. Oder das Extremste aus meiner Sicht: die heterologe Insemination. Das heißt, dass man Ihnen Spermien einführt von einem Spender […] Ehrlich, ich bin da auch eher für die Adoption (EG6R: 267–269).
In einem weiteren Erstberatungsgespräch verweist Dr. Neumann verhaltener auf mögliche Bedenken des Mannes: Ja, das [heterologe Insemination, cu] geht auch. Das machen wir jetzt hier nicht. Aber die Praxis gegenüber macht das zum Beispiel. Das ist sicher alles möglich. Da muss er [ihr Mann, cu] natürlich mit einverstanden sein (EG15R: 320).
In beiden Fällen äußert Dr. Neumann ihre Meinung zu den Verwendung heterologen Spermas ungefragt. Auch wenn diese normative Stellungnahme nicht medizinisch begründet wird, findet sie doch in einer hierarchischen Interaktionssituation statt, in denen den Ärztinnen und Ärzte eine besondere Autorität zugesprochen wird und hat insofern ein besonders Gewicht. Die Wahlmöglichkeit der Paare wird beschränkt, die nicht auf medizinische Expertise, also den gesellschaftlich auf besondere Weise anerkannten Kompetenzbereich der Profession, gestützt ist: Diese ist zwar nicht unumgänglich, können die Paare doch die Klinik wechseln. Es besteht allerdings in der Regel eine starke Verbindlichkeit gegenüber der einmal gewählten Klinik, was sich auch darin zeigt, dass sich nur wenige Paare nach dem Erstberatungsgespräch gegen die Behandlung in der Klinik entscheiden. Mit der Beschränkung der Anzahl der transferierten Embryonen auf zwei (statt der möglichen drei) folgen die Ärztinnen und Ärzte den Empfehlungen der
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Bundesärztekammer (s.o. Kap. 5.1). Wie diese begründen sie die Beschränkung sowohl mit medizinischen Risiken für Mütter und Kinder als auch mit zu erwartenden negativen sozialen Auswirkungen nach der Geburt von Mehrlingen. In der Interaktion mit den Paaren verschränken sich diese jedoch auch mit lebensweltlichen Begründungen. Im Gegensatz zum Ausschluss der Verwendung heterologen Spermas erfordert diese Beschränkung der Behandlungsmethoden Überzeugungsarbeit und Konfliktbereitschaft gegenüber den Paaren, wie Dr. Neumann beispielhaft beschreibt: Also es gibt immer mal Konflikte, aber auch selten, wie viele Embryonen eingesetzt werden. Ob jetzt drei oder zwei. Die meisten lassen sich da aber überzeugen, dass zwei einfach gesünder ist für sie und vernünftiger ist (A2R: 108).
Schon in diesem Interviewzitat wird deutlich, dass für diese Entscheidung auch außermedizinische Gründe relevant sind. In den Erstberatungsgesprächen wird die Überzeugungsarbeit, wenn notwendig, offensiv verfolgt. Dies wird besonders in zwei Erstberatungsgesprächen von Dr. Neumann deutlich. Gegenüber dem Ehepaar Oelker macht sie ihr Ziel transparent, um ihm weitere Überzeugungskraft zu verleihen: [W]ir raten Ihnen komplett davon [vom Einsetzen dreier Embryonen] ab. Und wir werden Sie so lange bequatschen, bis Sie von der Idee abkommen [lacht] (EG12R: 642).
Insbesondere die Ärztinnen machen in dieser Überzeugungsarbeit die sozialen negativen Auswirkungen stark. Statt von den Chancen auf eine Schwangerschaft argumentieren sie vom – auch in der Reproduktionsmedizin statistisch eher seltenen – möglichen Ergebnis einer Drillingsgeburt her. Im bereits zitierten Erstberatungsgespräch vertritt Dr. Neumann diese Position drastisch, nachdem das Paar noch einmal nach den Möglichkeiten des Transfers von drei Embryonen fragt: Wenn Sie einmal schwanger werden, werden Sie schwanger. Wenn Sie Drillinge haben, erschießen Sie sich (EG12R: 648).
In einem anderen Erstberatungsgespräch stellt Dr. Neumann zur Stärkung ihrer Argumentation und Sprechposition selbst ihre inhaltliche medizinische Kompetenz in den Hintergrund und hebt auf ihre eigene Laienkompetenz als Mutter und die ihrer Kolleginnen ab:
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Wir sind da ganz, ganz strikt. Wir [meine Kolleginnen und ich] haben alle Kinder. Wir wollen alle keine Drillinge (EG11R: 210).
Mit welchem Nachdruck die gesamte Klinik diese Position vertritt, wird auch darin deutlich, dass Kopien eines Vortrags zu Mehrlingsproblemen aus Sicht der Eltern von Vertreterinnen eines Drillingsselbsthilfenetzwerkes bereit gehalten und an Paare verteilt werden. Auch hier wird die lebensweltliche Erfahrung von Laien zur Stärkung der medizinischen Argumente gegen das Einsetzen von drei Embryonen gesetzt. Heterologe Insemination und die Reduktion der Anzahl der einzusetzenden Eizellen sind die einzigen Punkte, an denen die Ärztinnen und Ärzte regelmäßig und durch die Klinikpolitik gestützt normativ Stellung beziehen. Auf der einen Seite stellt dies eine Abweichung von einer einfachen, an der Behandlungspraxis orientierten Handlungsethik dar. Der Bezugshorizont ist ausgedehnt auf die Erfahrung des Lebens mit eigenen Kindern oder dem Leben mit Mehrlingen von Dritten. Diese Ausdehnung dient dabei der Unterstützung der medizinischen Position. Auf der anderen Seite sind dies gleichzeitig Fälle drastischer Ausweitung ärztlicher Zuständigkeit in die Lebenswelt der Paare hinein. Auch die nichtmedizinischen ärztlichen Argumente erhalten aufgrund des Kompetenzgefälles in der Interaktionssituation Gewicht. Ausweitung der Behandlungsmöglichkeiten In zwei Punkten kritisieren die Ärztinnen und Ärzte die politischen Regulierungen der Behandlungsmöglichkeiten und relativieren – auch gegenüber den Paaren – deren Verbindlichkeit. Zum einen halten sie es für unzeitgemäß, dass unverheiratete Paare eine Genehmigung der Landesärztekammer benötigen (s.o. Kap. 5.1). In den Erstberatungsgesprächen stellen sie diese Regelung als unnötige Formalie für die Paare dar. Mit der Aufhebung dieser Formalie geht freilich eine im Professionsinteresse liegende Ausweitung der möglichen Patientengruppe einher. Zum anderen kritisieren die Ärztinnen und Ärzte die Beschränkung der Kultivierungsdauer der Embryonen. In Deutschland muss im Vorkernstadium entschieden werden, welche der befruchteten Eizellen zur Weiterentwicklung und Einsetzung ausgewählt werden und welche kryokonserviert werden. Ihre Kritik begründen die Ärztinnen und Ärzte mit der damit verbundenen und aus ihrer Sicht unnötigen Belastung der Frau. Dies kommt in der Hoffnung von Dr. Neumann zum Ausdruck, dass es in diesem Punkt zu einer Lockerung des Embryonenschutzgesetzes kommt:
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Hoffentlich wird sich das Embryonenschutzgesetz ändern, und wir werden endlich selektionieren dürfen. In Deutschland, dass wir keine Selektion betreiben dürfen – was im Grunde die Zykluszahl hoch schraubt. Das heißt, wir machen mehr Zyklen, ob jetzt IVFZyklen oder Kryo-Zyklen, weil wir insgesamt natürlich eine niedrigere Schwangerschaftsrate haben. Vor allen Dingen machen wir mehr Kryo-Zyklen. Ich denke, das würde den Patientinnen einfach den Stress der Kryo-Zyklen zumindest weiter nehmen, wenn wir von vorneherein die besten der sechs Embryonen, die zwei besten heraussuchen könnten und damit eine bessere Schwangerschaftsrate erzielen könnten. Also, sozusagen diese Vorarbeit im Labor machen würden, anstatt das jeweils an der Frau auszuprobieren (A2R: 138).
Hier zeigt sich eine Handlungsethik, der eine Patientenzentrierung zugrunde liegt: In dieser Bewertung wird die Belastung der Patientinnen alleiniges Kriterium; die vielfältigen anderen Aspekte, die die kontroverse Debatte bestimmt haben, sind sekundär. Dieselben Argumente führt Dr. Neumann auch in Erstberatungsgesprächen an, um die im Vergleich zu anderen Ländern niedrigere Schwangerschaftsrate pro Zyklus in Deutschland zu erklären. Ihre Kollegin Dr. Richter hingegen verbindet mit der Ausweitung von Polkörper- und Präimplantationsdiagnostik eher die Befürchtung, diese verstärkten eine aus ihrer Sicht problematische Nachfrage der Paare: Ich bin ziemlich sicher, dass die kommen wird. Und dass dann auch eine gewisse Gefahr ist, dass die Leute sich dann eben tatsächlich ein Designer-Baby ein bisschen machen. Zumindest was Gesundheit und Krankheit angeht, wird die Krankheit immer mehr ausgegrenzt werden, weil das nicht standardmäßig ist, das nicht ganz Normale. IVF ist schon so arg normal geworden (A5R: 161).
In dieser Äußerung findet sich zum einen erneut die Zuschreibung der Verantwortung für den in diesen Teilen als problematisch empfundenen Erfolg der Reproduktionsmedizin zu den Paaren. Die Bestimmung der Punkte, an denen die Reproduktionsmedizin problematisch wird, ist in dieser Formulierung unsicher und graduell: Die Kritik an einem negativ besetzten Designer-Baby wird ebenso durch einen Nachsatz eingeschränkt wie die Normalität der IVF. Grenzen medizinischer Zuständigkeit Die befragten Ärztinnen und Ärzte gehen grundsätzlich eher offensiv mit den Grenzen ihres Wissens und den Grenzen der Medizin um. Dies betrifft vor allem die Möglichkeit, die Ursache für die Unfruchtbarkeit nicht zu finden (idiopathische Sterilität) und die geringe Erfolgsquote von IVF-Behandlungen. Die Situa-
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tionsbeschreibung von Dr. Richter im Interview deckt sich hier mit der Beobachtung der Erstberatungsgespräche: [Die Paare haben, cu] besonders Nachfragen, wenn es nicht geklappt hat. Dann wollen sie eigentlich ziemlich explizit wissen, warum es jetzt nicht geklappt hat. Und da stehen wir natürlich oft da und sagen: „Wir wissen genauso viel wie Sie. Wir haben Eizellen gehabt, wir haben Embryonen gehabt, und es hat nicht geklappt.“ Da wäre der Bedarf sehr hoch. Da gibt es auch einige theoretische Erklärungen, aber wir können es nie definitiv sagen. Außer bei eindeutigen Fällen. Zu alt oder ganz schreckliche Embryonenqualität oder so was (A5R: 73).
Die ärztliche Umgangsweise gegenüber den Paaren ist hier davon gekennzeichnet, dass die medizinischen Erklärungsmöglichkeiten als unzureichend und die Unzufriedenheit der Paare als legitim anerkannt wird. Medizinische Gründe werden jedoch nur in Ausnahmefällen gesucht; vielmehr relativieren die Ärztinnen und Ärzte die medizinische Expertise. Sie spiegeln die Erfahrung der Paare und verstärken sie so durch ihre autorisierte Sprechposition. Die Kommunikation dieser Unsicherheiten ist dabei eine Art Rückversicherung: Im wahrscheinlichen Fall des Misserfolgs ist die Verantwortung zumindest nicht allein bei den Ärztinnen und Ärzten zu suchen. Diese Strategie zeigt sich auch in den Fällen, in denen die Ärztinnen und Ärzte Misserfolge medizinischer Interventionen ausführlicher begründen. Sie verweisen hier nämlich allein auf Faktoren, die außerhalb des ärztlichen Einflussbereichs liegen: auf das Labor, auf die Natur und den Körper, aber auch auf Schicksal oder göttliche Fügung. So weist beispielsweise Dr. Neumann im Interview darauf hin, dass vor allem die extrakorporalen Schritte von IVF und ICSI schwer zu erklären und zu beeinflussen sind: Ich meine, wo sie [die Paare, cu] nachfragen und wo wir zum Teil wenig auch erklären können, beziehungsweise wenig richtig befriedigende Antworten geben können, ist gerade bei allen Dingen, was im Labor passiert. Warum es zum Beispiel nicht zu einer Befruchtung kam. Warum beim Auftauen die Vorzellenkerne […] sich nicht weiter entwickelt haben. Also solche Sachen, die dann gerade beim IVF und ICSI außerhalb des Körpers passieren. Das ist schwierig da zu erklären, beziehungsweise, da gibt es keine richtig unbedingt klaren Antworten (A2R: 92).
Obwohl die ganze medizinische Behandlung darauf abzielt, in körperliche Abläufe mit medizinisch-technischen Mitteln zu intervenieren und diese zu optimieren, sie also mess- und berechenbar gemacht werden, wird dem Körper bzw. der körperlichen Natur nichtsdestotrotz eine Eigenlogik zugesprochen, die sich der
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Medizin entzieht. Die Natur des Menschen oder die körperliche Natur der Abläufe des Fortpflanzungsprozesses sind zum einen Maßstab des Gelingens, zum anderen setzen sie den medizinischen Interventionsmöglichkeiten Grenzen. Die körperlichen Abläufe des Fortpflanzungsprozesses gelten gleichzeitig als der Teil der Behandlung, der von der Medizin überhaupt gut zu beeinflussen ist, als auch als medizinischen Imitationsversuchen überlegen. Die Grenzen der medizinischen Erklärbarkeit werden auch daran deutlich, dass die Schwangerschaftschancen eines gesunden Paares in verschiedenerlei Hinsicht zum Maßstab für die medizinische Behandlung werden. Sie werden beispielsweise in den Erstberatungsgesprächen angeführt, wenn die Erfolgsquote der IVF-Behandlungen beschrieben wird. Dies ist auch eine bewusste Strategie gegenüber den Erwartungen der Paare, wie Dr. Otto im Interview erläutert: Ich glaub’ schon, dass sie ein bisschen zu hochgesteckte Erwartungen an die Behandlung haben. Wenn sie fragen – gerade beim Erstgespräch kommt das dann schon öfters: „Wie sind die Chancen“ und ich sage: „Na ja, wir haben im Moment so 20 bis 25 Prozent Schwangerschaftsrate bei IVF/ICSI“, da schlucken die schon erstmal heftig. Das relativier’ ich dann wieder dadurch, dass ich dann sage, jedes andere Paar hat halt auch nur 20 Prozent Schwangerschaftschancen […]. Dann verstehen sie es wieder ein bisschen besser. Aber da sind sie im ersten Moment doch ganz schön geknickt (A4R: 107).
Zwei weitere Beispiele aus Erstberatungsgesprächen illustrieren diese ärztliche Strategie. Dr. Richter verstärkt im Gespräch mit dem Ehepaar Albrecht das Argument der Vergleichbarkeit mit der natürlichen Schwangerschaftsquote, indem sie diese zusätzlich relativiert: Dr. Richter
Also, man kommt da [bei Insemination] in etwa auf die natürlichen Schwangerschaftschancen. Wenn es tatsächlich die Einschränkung des Postkoital-Tests ist, dann kommen Sie auf eine 15- bis 20prozentige Chance.
Frau Albrecht Dr. Richter
Ist auch nicht so hoch. Ja, aber zum Verhüten wäre es eine Katastrophe. Bei der Wahrscheinlichkeit, schwanger zu werden, dann so zu verhüten, dann würden Sie sagen „hier“ – [tippt sich an die Stirn] (EG1R: 146–148).
In dem Ausschnitt ist eine Inseminationsbehandlung Gegenstand. Die natürliche Schwangerschaftsquote ist die Vergleichsfolie aller reproduktionsmedizinischen Verfahren. Der Wechsel der Perspektive auf die Quote aus Sicht der Verhütung,
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der inhaltlich eher wenig Überzeugungskraft trägt, knüpft an die lebensweltliche Erfahrung des Paares an und ist als Versuch zu deuten, eine geteilte Beurteilungsgrundlage zu schaffen. Auch im Erstberatungsgespräch mit dem Ehepaar Schmidt wird deutlich, dass die Sinnhaftigkeit einer reproduktionsmedizinischen Behandlung mit dem Verweis auf die natürliche Schwangerschaftswahrscheinlichkeit hergestellt werden soll. Und dann [bei einer IVF-Behandlung, cu] wird jede fünfte Frau schwanger, wenn man mal das Stadium erreicht hat, dass man die [Embryonen, cu] da oben eingesetzt hat. Das entspricht in etwa der natürlichen Schwangerschaftschance. Klingt furchtbar wenig, aber wie gesagt, das entspricht auch dem Natürlichen (A5R in EG14R: 334).
Während die finanziellen Investitionen als Möglichkeit gesehen werden, die Nachfrage der Paare zu bremsen (s.o. Kap. 5.3.1), wird die geringe Erfolgswahrscheinlichkeit erst nach mehreren erfolglosen Zyklen ein Argument, das die Ärztinnen und Ärzte anführen. In den ersten Beratungsgesprächen steht es in der Regel außer Frage, dass die Behandlung sinnvoll ist. Die Imitation der natürlichen Prozesse stößt konkret auch während der Kultivierung der befruchteten Eizellen an ihre Grenzen: In zwei Erstberatungsgesprächen erläutert Dr. Neumann, dass eine längere Kultivierung – etwa bis zum Blastozystenstadium – zum einen in der Klinik zwar deshalb nicht gemacht werde, weil dies nur bei der in Deutschland verbotenen Möglichkeit der Selektion von befruchteten Eizellen medizinisch Sinn mache. Zum anderen aber vermutet sie, eine längere Verweildauer außerhalb des Körpers könne kontraproduktiv sein: Außerdem, wer weiß: Die sterben vielleicht in der Kultur viel leichter als in Ihrer Gebärmutter. Da gehören sie ja hin. Also die Wahrscheinlichkeit, dass unsere Kultur so gut ist wie Ihre Gebärmutter, ist sehr gering. [...]. Deswegen macht es keinen Sinn, wenn wir jetzt kultivieren (EG12R: 633).
In einem anderen Erstberatungsgespräch verweist Dr. Neumann noch einmal deutlich auf die zeitliche Begrenztheit der Kultivierung: Erstens dürfen wir sie nicht weiter kultivieren, aus gesetzlichen Gründen. Und zweitens kann man die auch nicht ewig weiter kultivieren, weil irgendwann müssen sie wieder in die Gebärmutter rein, sonst entwickeln die sich nicht (EG11R: 234).
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Dass die Möglichkeiten der Reproduktionsmedizin durch eine in diesem Sinne widerspenstige Natur des Körpers begrenzt sind, deuten zwei der Ärztinnen freilich auch positiv. Die Ärztinnen und Ärzte sehen sich bei der Einführung neuer Verfahren, wie der ICSI oder der IVM, vor ethische Probleme gestellt, wie zum Beispiel die Frage möglicher Behinderung der Kinder. Hierzu entwickeln sie eine pragmatische und durch die Profession geprägte, vor allem dem wissenschaftlichen Fortschritt verpflichtete, Haltung (s.o. Kap. 5.3.2). In diesem Kontext wird auch auf die Grenzen der medizinisch-technischen Eingriffe in den Reproduktionsprozess verwiesen. Die Ärztinnen und Ärzte sehen ihre Tätigkeit durch eine Art natürliches Sicherheitsnetz moralisch geschützt. Die wird bespielhaft deutlich, wenn zwei Ärztinnen die Natur bzw. den Körper als letzte Begrenzung der durch die Reproduktionsmedizin ermöglichten neuen Machbarkeiten anführen. So versichert Dr. Richter: Es gibt immer noch sehr, sehr viele Grenzen, die trotzdem noch überwunden werden müssen. Also es ist nicht so, dass man alles aufhebt, und plötzlich wird befruchtet, was vorher nicht befruchtet worden wäre. Es gibt schon noch Barrieren des Körpers (A5R: 149).
Steht für diese Ärztin die allgemeine Frage im Vordergrund, wie weit technische Eingriffe in die natürlichen Reproduktionsabläufe eingreifen dürfen, verlässt sich eine Kollegin ganz praktisch auf eine selektionistische Funktion der Natur: Bei manchen IQs, da wundert man sich. Ich glaube, die Natur hat immer noch so viele Sicherheitsmaßnahmen eingebaut, dass bei wirklich drastischen Fällen, die dann auch nicht schwanger werden. Sag’ ich jetzt mal – so ein bisschen gemein gesagt. Also, da sind noch genügend Sicherheitsraster drin, denke ich, die wir nicht überspringen können (A2R: 132).
Die Natur wird hier zur stellvertretenden ethischen Entscheidungsinstanz. Während hier ein übergeordneter „Sinn“ in der Natur nur angedeutet ist, drücken zwei der naturheilkundlichen Ärztinnen sich diesbezüglich expliziter aus: Das ist ja auch eine Studie, die hier läuft. […] Die haben die Einnistung von 30 auf 40 Prozent verbessern können bei den Paaren. Und zwar haben die bei der Einnistung noch das Spermium, das Ejakulat des Mannes mit eingegeben, das Seminalplasma […] und haben das um 10 Prozent verbessert. [...] Also in diesem Seminalplasma, da sind Substanzen drin, das wurde auch nachgewiesen, die auch die Gebärmutterschleimhaut aufbauen oder anregen sich aufzubauen und so weiter. Das ist doch, der Körper denkt sich ja was dabei, ja, wie das zu funktionieren ha (A1N in EG8N: 96).
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Dr. Nussbaum verweist im Interview zunächst darauf, dass die Kinderlosigkeit trotz Behandlung einfach Schicksal ist, und bezieht sich später auf Gott: Dass ich auch sage, das ist Schicksal. […] Die Patienten wollen natürlich wissen, die fragen natürlich, warum, warum passiert das jetzt so. Darauf gibt es ja keine Antwort. Das weiß nur Gott im Endeffekt, warum sie jetzt nicht gerade schwanger werden (A3N: 77, 134).
Eine naturheilkundliche Kollegin setzt in einem Erstberatungsgespräch die Natur an die Stelle des Schicksals, wenn sie mit einer Patientin die Möglichkeit erörtert, im Rahmen einer Studie die Wahrscheinlichkeit der Erfüllung des Kinderwunsches zu erhöhen: Wenn wir die [Studie] machen [...] das ist ja immerhin eine zehn Prozent höhere Chance. Man kann es sich ja vorstellen. Wenn die Natur, so leicht lässt sie sich doch nicht austricksen. Es hat ja seinen Sinn alles (A1N in EG8N: 154).
Diese Beispiele zeigen, dass der Verweis auf die natürlichen Grenzen der Medikalisierung von den Ärztinnen und Ärzten auch dazu genutzt werden, den unerfüllten Kinderwunsch zu einem medizinisch behandelbaren Problem zu machen. Im Vergleich mit den natürlichen Schwangerschaftsraten kann die reproduktionsmedizinische Behandlung legitimiert werden. Mit dem Verweis auf das mögliche Scheitern und den Auftrag an das Paar, sich mit diesem auseinanderzusetzen, wird dieser Aspekt gleichzeitig für die medizinische Behandlung dethematisiert (s.u. Kap. 6). Dies zeigt zugleich, dass der Körper als Referenzpunkt auch in den Deutungen der Ärztinnen und Ärzten mehr ist als ein medizinisches Objekt.
5.4 Z WISCHENFAZIT In diesem Kapitel wurde gezeigt, dass eine Definition als Krankheit keine Voraussetzung für die medizinische Zuständigkeit für den unerfüllten Kinderwunsch ist. Elemente einer Beschreibung als Krankheit lassen sich am ehesten in der Klassifizierung der ICD finden; in der Behandlungspraxis ist die Artikulation des Kinderwunsches durch das Paar die entscheidende Grundlage der medizinischen Behandlung. Was die ungewollte Kinderlosigkeit genau ausmacht, bleibt eine argumentative Leerstelle, die nur zum Teil mit dem Wunsch und dem Leiden gefüllt wird. Die ungewollte Kinderlosigkeit ist in beiden Kliniken ein rela-
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tiv unhinterfragter, legitimer Gegenstand der Therapie. Die Reproduktionsmedizin ist als zuständige Profession etabliert (s.o. Kap 5.1), und in der Naturheilkunde fällt sie unter den ganzheitlichen Anspruch. Auch wenn insbesondere die reproduktionsmedizinische Kinderwunschtherapie gesellschaftspolitisch umstritten und die naturheilkundliche Behandlung nur eingeschränkt durch die Profession legitimiert ist, ergibt sich für die Ärztinnen und Ärzte in Bezug auf ihre praktische Tätigkeit weder in den Interviews noch in den Erstberatungsgesprächen ein besonderer Begründungsbedarf für dieses Zuständigkeit. Im Gegensatz hierzu ist die Betonung des Leidens sowohl durch betroffene Paare als auch durch Professionsvertreterinnen und -vertreter in politischen sowie populären Diskursen als Interventionen in einem eher kontroversen Umfeld zu sehen, in denen Deutungshoheit und Definitionsmacht umstritten sind. Die Perspektive der Ärztinnen und Ärzte auf die ungewollte Kinderlosigkeit als Gegenstand der Behandlungspraxis ist von einer Vereinfachung in ein medizinisch handhabbares Problem gekennzeichnet. Dies geht häufig mit einer recht einfachen Handlungsethik einher, die sich an der unmittelbaren Behandlungspraxis orientiert. Eine Ausweitung der medizinischen Zuständigkeit findet in beiden Kliniken im Bereich der Forschungs- und Aufklärungsarbeit statt. Die Kinderwunschtherapie unterscheidet sich in der Charakterisierung der Ärztinnen und Ärzte auch insofern von anderen medizinischen Behandlungen, als sie eine Paartherapie ist. Problematisiert wird dieser Aspekt allerdings nur, indem Männern und Frauen von einigen Ärztinnen und Ärzten eine unterschiedliche Intensität des Kinderwunsches zugeschrieben wird. Eine weitergehende Reflexion der veränderten Voraussetzungen der Arzt-Patienten-Beziehung findet nicht statt. Nicht nur in den Zuschreibungen des Kinderwunsches, sondern auch im Behandlungsverlauf findet eine Verschiebung vom unerfüllten Kinderwunsch des Paares zur Therapie der Frau statt (s.u. Kap. 6.4). Die Anwesenheit der Männer wird nur im Erstberatungsgespräch erwartet, während die Behandlung der Frau den Kern medizinischer Arbeit – Diagnosezyklus, Hormontherapie und Follikelpunktion – ausmacht (s.u. Kap. 7.1). Aus der Perspektive der ärztlichen Behandlungspraxis stellt sich die Therapie also eher als Einzel- denn als Paartherapie dar. Auch die Transformation des Kinderwunsches des Paares in die Behandlung der Frau kann so als eine Art Komplexitätsreduktion gesehen werden, die sich auch außerhalb des Arzt-Patienten-Interaktionskontextes in den Vorstellungen der Ärztinnen und Ärzte wiederfindet. In der Reproduktionsmedizin sollen durch Forschungsaktivitäten vor allem neue Anwendungsbereiche erschlossen werden, und in der Naturheilkunde wird mit der Durchführung von Studien die Hoffnung verbunden, sich als gleichwertig neben der Schulmedizin zu etablieren. Mit der Herausstellung der Forschungstätigkeit verbinden die Ärztinnen und Ärzte in der
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hier untersuchten Klinik zugleich eine hierarchisierende Abgrenzung von niedergelassenen Zentren und Heilpraktikerinnen und Heilpraktikern. Die Haltung der Ärztinnen und Ärzte ist bezüglich der Behandlungspraxis von einem Pragmatismus gekennzeichnet, der sich auch aus ihrem Handlungsund Klientenbezug ergibt (s.u. Kap. 5.3.1). Mit der Betonung der Unsicherheit und des unzureichenden Wissens enttäuschen die Ärztinnen und Ärzte die Erwartung, die an Expertenwissen gestellt wird. Ihr Expertenwissen erweist sich als insuffizient. Hier bestätigt sich die von der Medizinsoziologie beschriebene Tendenz, Unsicherheiten zu betonen (s.o. Kap. 3.1). In den ausgewählten Äußerungen der Ärztinnen und Ärzte zeigt sich bereits, dass die Unsicherheit des Wissens und der Handlungssituation zu optimistischen Tendenzen führt – etwa indem die geringe Erfolgsquote durch die natürlichen Schwangerschaftsraten relativiert wird. Der unerfüllte Kinderwunsch selbst wird von den Paaren nicht als körperliche Einschränkung erlebt, die ihre Gesundheit akut oder in Zukunft beeinträchtigt. Auch die medizinische Zuständigkeit für die Realisierung dieses Wunsches ist zunächst eher nachgeordnet: Kinderwunsch und Elternschaft sowie ihre mögliche reproduktionsmedizinische Erfüllung sind mit Ambivalenzen verbunden und werden zu einer Frage aktiver Entscheidungen. Zwischen neuen Handlungsfreiheiten und neuen Handlungszwängen wird die medizinische Kinderwunschbehandlung eine Option, die abgewogen werden muss. Für diesen Abwägungsprozess spielt die biomedizinische Perspektive eher eine untergeordnete Rolle. Der Weg der Paare in die Kinderwunschklinik lässt sich ebenso nicht als Befolgen eines medizinischen Überweisungssystems beschreiben. Die Paare müssen sich aktiv um eine Überweisung in eine spezialisierte Klinik bemühen, der Anlass hierfür ist selten medizinisch. Eine medizinische Zuständigkeit findet sich in der Lebenswelt der Paare jedoch in ihrer Verhütungspraxis, in welcher die Vorstellungen von reproduktiver Gesundheit als Vakuum erscheinen und das Körperverständnis instrumentell ist. Insbesondere die Frauen sind darin geübt, ihren Körper auch aus einer medizinischen Perspektive zu betrachten. Das Gesundheitsverständnis der Paare und ihr Umgang mit ihren Körpern unterscheiden sich eher graduell als substanziell von dem der Medizin: Bei der Anwendung reflexiver Körpertechniken als zweckgerichtetes Einwirken auf den eigenen Körper treten weitere Akteurinnen und Akteure und andere Mittel hinzu. Die medizinische Kinderwunschtherapie ist in der Kategorisierung Crossleys als marginale Körpertechnik zu bezeichnen. Die von den Paaren der Untersuchung angewandten Verhütungsmethoden gehören in den Kernbereich und entsprechend denen in der Gesamtbevölkerung, in der 55 Prozent mit der Antibabypille und 36 Prozent mit Kondomen verhüten (vgl. BZgA
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2007: 14). Dazwischen liegen reflexive Körpertechniken, mit denen die Chance auf die Empfängnis gesteigert werden soll. Während unter einem Prozent Temperaturmessungen und „Babycomputer“ als Verhütungsmethoden verwenden (vgl. ebd.), liegen keine Zahlen dazu vor, wie viele Paare diese Methoden zur Schwangerschaftsplanung verwenden. Entsprechende rezeptfreie Angebote in Drogerien und frei verfügbare Kinderwunschrechner und Fruchtbarkeitsplaner im Internet sind ein Anzeichen dafür, dass die Verwendung dieser Methoden nicht nur bei den Paaren der Untersuchung eine größere Verbreitung findet. Obwohl alle diese Techniken einem gemeinsamen Anliegen des Paares dienen, richten sie sich vornehmlich oder ausschließlich auf den Körper der Frau. Hier bestätigt sich Crossleys (vgl. 2006: 124f.) Einschränkung der These, dass Körpertechniken zunehmend eine Frage der bewussten Wahl werden: Die Einnahme der Pille als Technik der Kernzone ist selbstverständlich und eher habitualisiert als hinterfragt. Die Techniken der Fruchtbarkeitsermittlung sind schon eher Ergebnisse eines bewussten Entscheidungsprozesses. Aber erst für die Entscheidung zur reproduktionsmedizinischen Behandlung als marginaler und kontrovers diskutierter Körpertechnik trifft zu, dass ihr eine bewusste Wahl zugrunde liegt. Die Einübung in und Ausübung von medizinischen Körpertechniken in Verhütungspraxen und ersten Versuchen, schwanger zu werden, geben einen Hinweis darauf, warum die reproduktionsmedizinische Zuständigkeit für die Erfüllung des Kinderwunsches naheliegend erscheint. Eine Übernahme biomedizinischer Betrachtungsweisen kommt ebenfalls in der Hierarchisierung verschiedener Formen von Elternschaft zum Ausdruck. Aber auch die Bevorzugung der Hoffnung auf ein leibliches Kind durch die Reproduktionsmedizin gegenüber einer Adoption hängt stark von außermedizinischen Aspekten und Erwägungen der Paare ab. Das Verhältnis von Ärztinnen und Ärzten und Paaren ist anfänglich davon geprägt, dass die Behandlung eine Artikulation des Kinderwunsches durch die Paare voraussetzt. In diesem Stadium lässt sich die Beziehung als Kundenmodell beschreiben (s.u. Kap. 6.2). Die Medikalisierung des unerfüllten Kinderwunsches ist dabei vorgelagert: Wenn Ärztinnen und Ärzte und Paare im Erstberatungsgespräch aufeinandertreffen, sind beide voreingenommen für die Behandlungsnotwendigkeit, die eine „Tendenz zum aktiven Eingreifen“ (Freidson) verstärkt (s.o. Kap. 3.1). Gleichzeitig wurde gezeigt, dass die Sicht der Paare auf die eigene reproduktive Gesundheit nicht in einem medikalisierten Blick aufgeht. Vielmehr ist sie eingebettet in einen lebensbiographischen Kontext. Diese Übernahme des klinischen Blicks bei einer gleichzeitigen Verschränkung und auch Relativierung durch andere Lebensaspekte wird sich noch deutlicher in der Arbeit der Paare am Behandlungsverlauf zeigen (s.u. Kap. 7).
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Nachdem in diesem Kapitel das Hauptaugenmerk auf das Verständnis des unerfüllten Kinderwunsches gelegt wurde, werden im folgenden Kapitel die Strukturen und Dynamiken des Behandlungsverlaufs diskutiert.
6 Die Struktur der Kinderwunschbehandlung
Die reproduktionsmedizinische Behandlung ist relativ standardisiert und folgt weltweit einem ähnlichen Ablauf. Länderspezifische Regelungen setzen den Rahmen für die konkrete Umsetzung. In Deutschland bilden das Embryonenschutzgesetz (ESchG) und das Sozialgesetzbuch (SGB), die Richtlinien der Bundesärztekammer sowie die Qualitäts- und Überprüfungsstandards des Deutschen IVF Registers (DIR) den allgemeinen Orientierungsrahmen für die ärztliche Praxis (s.o. Kap. 5.1). Wie die reproduktionsmedizinische Behandlung jeweils konkret organisiert wird, ist je nach Klinik unterschiedlich: Es werden verschiedene medizinische Verfahren angeboten, manche Kliniken beginnen gleich mit höhergradiger Behandlung, für einzelne Therapien werden unterschiedliche medizinische Protokolle genutzt, und nicht zuletzt unterscheidet sich die administrative Organisation. Die untersuchte reproduktionsmedizinische Klinik zeichnet sich dadurch aus, dass sie vergleichsweise viele Verfahren – von der Zyklusbeobachtung bis zur ICSI – anbietet, gleichzeitig aber zwei Therapien ausschließt: heterologe Insemination und Blastozystentransfers. Die untersuchte Klinik hat selbst Regelungen und Organisationsvorgaben mit Formblättern und Ablaufplänen für die Behandlung entwickelt, an denen sich die Behandlung orientiert und die an die Paare herausgegeben werden. Die Ärztinnen und Ärzte folgen einer weitgehend einheitlichen Vorgehensweise. Im Untersuchungszeitraum wurde darüber hinaus diskutiert, ein Manual für die Therapieabläufe in der Klinik mit dem Ziel einer weitergehenden Standardisierung zu erstellen. Zusätzlich zu den normalen Routinebehandlungen werden an der Klinik fortlaufend unterschiedliche Studien zur Erprobung neuer Verfahren und Medikamente durchgeführt, die häufig von Pharmaunternehmen gefördert werden und Abweichungen von den routinierten Abläufen etwa in Form von kürzeren Stimulationszyklen oder häufigeren Kontrolluntersuchungen mit sich bringen. Im Folgenden werden nun die Strukturen der einzelnen Sequenzen des Behandlungsverlaufs so, wie sie in der untersuchten Klinik durchgeführt werden,
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herausgearbeitet. Hierbei wird nicht nur der Kern der Therapie, der IVFBehandlungszyklus, betrachtet (Kap. 6.2), sondern auch die vorgelagerten Schritte, insbesondere das Erstberatungsgespräch und der Diagnosezyklus (Kap. 6.1). Ich werde aufzeigen, welchen Akteurinnen und Akteuren – je nach Behandlungsschritt und -ort – welche Handlungsmöglichkeiten und Verantwortungen zufallen und wie die Arzt-Patienten-Beziehung je nach Behandlungsphase strukturiert ist. Im dritten Teil dieses Kapitels werde ich darauf eingehen, welche Erwartungen über die unmittelbaren Compliance-Anforderungen der Kinderwunschtherapie hinaus von den Ärztinnen und Ärzten an die Paare gestellt werden und wie der Erhalt und die Verbesserung der reproduktiven Gesundheit als Aufgabe formuliert wird (Kap. 6.3). Während des Behandlungsverlaufs findet eine Verschiebung vom Kinderwunsch des Paares zur Behandlung der Frau statt, die sich schon in den ärztlichen Vorstellungen und Handhabungen des Kinderwunsches als Behandlungs- und Forschungsgegenstand gezeigt hat (s.o. Kap. 5.3). Im vierten Teil dieses Kapitels werde ich noch einmal differenziert auf diese Verschiebung eingehen (Kap. 6.4). In diesem Prozess spiegelt sich zum einen die historisch länger etablierte Medikalisierung des Frauenkörpers, zum anderen fällt dieser Prozess in der medizinischen Praxis mit der Herstellung eines medizinisch handhabbaren Problems zusammen. Im Folgenden wird vor allem auf den Verlauf der Kinderwunschbehandlung in der reproduktionsmedizinischen Klinik eingegangen. Dies hat zwei Gründe: Einerseits wurden in der alternativmedizinischen Klinik zum Zeitpunkt der Untersuchung keine vollständige Kinderwunschbehandlungen mehr durchgeführt, sondern nur erste Beratungsgespräche. Zum anderen gibt es in der Alternativmedizin aber auch keine vergleichbaren standardisierten Regulierungen, die sich spezifisch auf die Kinderwunschbehandlung richten. Die Abläufe hängen vielmehr von dem gewählten Therapieansatz ab. So wird in der Homöopathie etwa davon ausgegangen, dass zunächst ein oder mehrere Symptome gefunden werden müssen, die dann durch Regulierungsanstöße behandelt werden. Für die Diskussion der Anforderungen an die Paare im dritten Teil dieses Kapitels werden jedoch Interviews und Erstberatungsgespräche aus der naturheilkundlichen Klinik für den Vergleich herangezogen werden.
6.1 D IE T RANSFORMATION
DES K INDERWUNSCHES IN EIN MEDIZINISCH BEHANDELBARES P ROBLEM
Bevor ich im Folgenden auf die organisatorische Struktur von Erstberatungsgespräch und Diagnosezyklus eingehe (Kap. 6.1.2) werde ich zunächst darstellen,
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welches Bild die Ärztinnen und Ärzte von den Paaren haben, welche Zuschreibungen sie vornehmen und wie sie sich ihnen gegenüber positionieren (Kap. 6.1.1). Diese Einstellungen sind Grundlage der Arzt-Patientenbeziehung und werden in den verschiedenen Stationen des Behandlungsverlaufs relevant. 6.1.1 Die ärztliche Sicht auf die Paare Auch wenn nur von jeweils einem Reproduktionsmediziner und einer Naturheilkundlerin das Schlagwort vom „mündigen Patienten“ in den Interviews verwendet wird (A3N, A7R), herrscht die allgemeine Vorstellung vor, dass die Patientinnen und Patienten gut informiert sein, ein Mitgestaltungs- und Mitbestimmungsrecht haben und Eigenverantwortung übernehmen sollen. Dies ist für die Ärztinnen und Ärzte in der reproduktionsmedizinischen Klinik ungleich wichtiger als für die in der naturheilkundlichen Klinik: Neben einer medizinischfachlich richtigen Behandlung sehen sie es als ihre Aufgabe an, dass die Paare sich wohl fühlen, sie gut über die Behandlungsabläufe informiert sind und dass insbesondere im Erstberatungsgespräch Raum für Nachfragen geschaffen wird. Für die Paare seien dabei drei Aspekte besonders wichtig: Informationen über die Ursache der Kinderlosigkeit, die Erfolgschancen der möglichen Behandlung und Behandlungsalternativen und -abläufe. In der naturheilkundlichen Klinik sehen die Ärztinnen keinen besonderen Aufklärungsbedarf, was auch darauf zurückzuführen ist, dass im Untersuchungszeitraum nur Erstberatungsgespräche durchgeführt wurden und keine weiteren Behandlungen. Aus Sicht der Ärztinnen und Ärzte kommen die Paare mit einem großen Informationsbedarf in die Klinik: Auch wenn sie zuvor schon in einer niedergelassenen gynäkologischen Praxis waren oder sich in verschiedenen Medien informiert haben, ist das Erstberatungsgespräch der Ort der professionellen und spezifischen Aufklärung. Auf diese Bedürfnisse gehen die Ärztinnen und Ärzte ihrer Meinung nach trotz allgemeiner Zeitknappheit gut ein. In dem Interview mit Dr. Thomas wird deutlich, dass die Aufklärung im Erstberatungsgespräch jedoch trotz des relativ großzügigen Zeitrahmens notwendigerweise ihre Grenzen hat: Die Patienten wollen genau wissen, was gemacht wird. Und die werden ja auch entsprechend aufgeklärt. Wobei […] wir haben nicht so viel Zeit. Und dann [erfolgt die Aufklärung, cu] eben auch [durch sie, cu] selbst [mit, cu] Informationen und Broschüren, die wir mitgeben (A7R: 82).
Die Eigenverantwortung der Paare wird noch einmal deutlich, wenn Dr. Thomas die Rolle des Internets beschreibt:
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Man ist gut informiert über das Internet. Dass sie wissen, was sie wollen oftmals. […] Das heißt, der Patient ist viel mündiger, das heißt, er weiß viel mehr, was er will. Was es auch einfacher macht. Das heißt, man erklärt dem Patienten irgendetwas, und ich denke, sie verstehen nur die Hälfte oder nur einen Teil, und sie bilden sich dann über das Internet dann weiter. Das macht es einfacher (A7R: 96).
Dieser Ausschnitt zeigt zum einen beispielhaft, dass anerkannt wird, dass fachliche Informationen nicht mehr alleine von den behandelnden Ärztinnen und Ärzte bereit gestellt werden; die Informationsmöglichkeiten für Patientinnen und Patienten haben sich diversifiziert. Zum anderen liegt die medizinische Aufklärung aber so nicht mehr nur in ärztlicher Verantwortung, es wird von den Paaren erwartet, dass sie selbst gegebenenfalls Leerstellen in der Aufklärungsarbeit der behandelnden Ärztinnen und Ärzte schließen. Mit der erwarteten Aneignung medizinischer Beschreibungen und Behandlungsmöglichkeiten werden Paare darin bestärkt, das Problem des unerfüllten Kinderwunsches – zumindest im Behandlungskontext – vor allem als ein medizinisches wahrzunehmen. Diese Übernahme des medizinischen Blicks gleicht nicht nur die ärztliche Zeitknappheit aus, sondern wird auch als Grundlage von Compliance beschreiben. Ein Verständnis der Vorgänge, Zufriedenheit und Compliance der Paare hängen hierbei aus ärztlicher Sicht stark zusammen, wie im Interview mit Dr. Neumann deutlich wird: Wenn wir soweit sind, dass wir ihnen [den Paaren, cu] das klar erklären können, fällt das denen eigentlich leicht [sich für eine Behandlung zu entscheiden, cu]. […] Wo sie am unbefriedigtsten herausgehen, hat man das Gefühl, wenn die nicht wissen und verstehen, warum das gemacht wird. Warum es nötig ist. Ich glaube, wenn sie verstanden haben, warum es nötig ist, dann sind sie relativ glücklich (A2R: 60–88).
Eine Strategie, die Therapie gegenüber den Paaren zu plausibilisieren, ist die Vermittlung von Behandlungszustand und Behandlungsfortschritt mithilfe medizinischer Geräte. Ein Beispiel ist der gemeinsame Blick durch das Mikroskop nach dem Postkoitaltest, in dem die Paare sich selbst von der Beweglichkeit der Spermien in der vaginalen Schleimhaut überzeugen können. Wichtiger für die IVF-Behandlung ist aber die gemeinschaftliche Betrachtung des Ultraschallmonitors. Dies wird in der Schilderung von Dr. Thomas besonders deutlich: Das können die gut nachvollziehen, wird ja auf dem Ultraschallmonitor auch gezeigt […] Man sagt: „Okay, Sie reagieren gut, das ist schön, und Sie haben viele Follikel“. Das
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heißt, sie werden da mit integriert in diese Behandlung, um letztendlich dann auch zu vermitteln, dass es erfolgreich sein kann (A7R: 120).
Eine solche Integration der Paare führt auf der einen Seite zu einer weniger hierarchischen Arzt-Patienten-Beziehung; den Patientinnen und Patienten wird eine Kompetenz zugesprochen, die sonst den medizinischen Expertinnen und Experten vorbehalten ist. Auf der anderen Seite geht dies aber mit einer ärztlichen Einforderung des klinischen Blicks – durch das Mikroskop oder auf den Ultraschallmonitor – einher, und die kompetente Beurteilung dessen, was gesehen wird oder werden soll, bleibt den Ärztinnen und Ärzten vorbehalten. So betonten die Ärztinnen und Ärzte auch, dass die Perspektive der Paare in ihrer Situation als Patientinnen und Patienten beschränkt ist durch die Qualität und Seriosität ihrer Informationsquellen, durch ihre emotionale Einbindung sowie – wenn auch eher in Ausnahmefällen – ihre intellektuellen und sprachlichen Fähigkeiten. Während die Informationsquellen vielfältig sein können, ist deren legitime Deutung den behandelnden Ärztinnen und Ärzten vorbehalten. Die Relativierung von Informationen, die die Paare in die Behandlung mitbringen, bezieht sich vor allem auf zwei Wissensquellen: zum einen auf die niedergelassenen, weniger spezialisierten Kolleginnen und Kollegen und zum anderen auf das Internet. Die Ärztinnen und Ärzte sehen hier ihre Rolle nicht so sehr darin, die Paare über das richtige Wissen zu belehren, sondern eher darin, die Paare dabei zu unterstützen, ihre Vorstellungen zu korrigieren und einzuordnen, wie im Interview mit Dr. Thomas deutlich wird: Wobei sie auch Unterstützung brauchen, denn sie können aus dem Internet nicht alle Informationen holen. Teilweise ist das Internet auch hochproblematisch, bei Erkrankungen wie Endometriose. Patienten kommen ja verstört an, denken „Wir haben ja etwas Schreckliches“, und man muss sie dann wieder beruhigen (A7R: 96).
Die Ärztinnen und Ärzte nehmen hier ihre professionelle Verantwortung wahr und geben den Patientinnen und Patienten fachliche Orientierung. Diese Einstellung ist dabei nicht von einem Paternalismus zu trennen, wie auch in der folgenden Beschreibung des Erstberatungsgesprächs von Dr. Thomas deutlich wird: Das fällt auf, dass da viele Patienten erstmal gerade gerückt werden müssen (A7R: 30).
Die Ärztinnen und Ärzte stellen durch diese Korrektur des Verhaltens der Patientinnen und Patienten zugleich ihre fachliche Autorität und Autonomie dar.
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Die Qualität der Informationen wie auch die Möglichkeiten der Paare, diese richtig einzuordnen, sind aus Sicht der Ärztinnen und Ärzte nicht nur hinsichtlich der fachlichen Aspekte problematisch, sondern haben auch eine moralische Dimension. Ein grundsätzliches Problem sehen die Ärztinnen und Ärzte darin, dass die meisten Informationsseiten im Internet von der Pharmaindustrie betrieben werden. Die beschleunige, so Dr. Richter, den Weg zur IVF: Also meistens [informieren sich die Paare] über so Patientenforen. Da gibt es so Adressen wie kinderwunsch.de. Dann kommen sie da auf eine Pharmaseite, die sind dann natürlich sehr gerichtet. Die sind da gepolt auf IVF. Manche gehen über diese Patientenseiten, wobei die auch relativ schnell natürlich in diese Richtung gehen und sagen: „Ihr müsst das probieren oder Ihr könnt es probieren“. Weil da die ganzen gefrusteten Leute landen, deswegen kriegen die auch abstrusesten Ideen dann eben eingepflanzt (A5R: 31).
In dieser Abgrenzung bestätigt sich zum einen die Notwendigkeit, dass die Ärztinnen und Ärzte die letzte Instanz für die Beurteilung von Informationen sein sollten. Ähnlich wie in der Formulierung von Dr. Thomas, die Patientinnen und Patienten „gerade rücken zu müssen“, werden sie hier als relativ passiv, den Fehlinformationen weitgehend schutzlos ausgesetzt beschrieben. Zum anderen werden Aspekte der öffentlichen Kritik an der Reproduktionsmedizin als Probleme dargestellt, die nur außerhalb der eigenen Klinik existieren: Hier betrifft dies den Einfluss der Pharmafirmen und deren Gewinnstreben sowie die so motivierte, zu frühzeitige Anwendung höhergradiger Verfahren (s.o. Kap. 5.3.3). Obwohl die Paare sich häufig gut informiert haben, haben sie aus ärztlicher Sicht zu hohe Erwartungen an die Behandlung: unrealistische Vorstellungen über den Behandlungserfolg gehen mit einer Unterschätzung der Risiken und Nebenwirkungen einher. Hier sehen es die Ärztinnen und Ärzte als ihre Aufgabe an, diesen Vorstellungen entgegen zu wirken. Dieselben Vorstellungen werden von den Ärztinnen und Ärzten überdies als Anzeichen dafür gewertet, dass die Paare die medizinischen Aspekte der Behandlung nicht beurteilen können, wie im Interview mit Dr. Richter besonders deutlich wird: Die einen schwierigen Patienten sind die, die gar nichts verstehen. Die es einfach mental nicht auf die Reihe kriegen, die Behandlung zu erfassen. Und die aber alles mit sich machen lassen. Also, denen ist es völlig wurscht. Hauptsache wir tun was, und sie müssen nicht viel dabei denken. Und das ist natürlich eine Riesenfehlerquelle und eine Riesengefahr für die Frauen auch, weil es ja nicht ohne Nebenwirkungen ist (A5R: 59).
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Das Drängen auf eine schnellere Steigerung der Behandlungsmethoden und entsprechende Konflikte mit den Paaren werden von Dr. Richter ähnlich beschrieben: Es kommt dann so eine Aggression, dass die Patienten sagen: „Jetzt sind wir schon fünf Monate dabei, es ist noch immer nichts passiert.“ Und sie merken gar nicht, dass die ganze Zeit schon was gearbeitet wird und dass es jetzt nicht unbedingt an der Therapie, sondern auch an ihrem Körper hängt. Dann wird alles nur auf die Behandlung und die Ärzte geschoben. Dann versuchen wir wieder zu erklären, dass das halt auch an den körperlichen Gegebenheiten liegt, dass es nicht oder noch nicht geklappt hat. Das ist ein Hauptkonflikt, einfach diese überzogenen Erwartungen (A5R: 89).
Die Erwartungshaltung erscheint hier allein als Problem der nachfragenden Paare. Diese individualisierende Sicht blendet dabei gesellschaftspolitische Effekte medizinischer Interessen und medizinischer Vermittlung der Reproduktionsmedizin aus. Für die reproduktionsmedizinischen Ärztinnen und Ärzte stellt es ein Problem dar, wenn die Paare die grundlegenden Abläufe der Behandlung nicht den ärztlichen Ansprüchen entsprechend verstehen oder verstehen können. Dr. Neumann weist darauf hin, dass es nicht nur sprachliche Probleme sind, die Patientinnen und Patienten daran hindern, die Verfahren zu verstehen: Das Sprachliche ist immer wieder ein Problem. Wobei es ist häufig nicht nur die Sprache, es gibt auch deutsche Patientinnen, die das überhaupt nicht verstehen. Die gut deutsch sprechen, die das Konzept irgendwie nicht verstehen (A2R: 64).
Ein Arzt (A7R) spricht überdies explizit an, dass die Perspektive der Paare auch dadurch begrenzt ist, dass sie als Patientinnen und Patienten von dem unerfüllten Kinderwunsch und seiner Behandlung betroffen sind. Diese Betroffenheit gehe insbesondere während des IVF-Zyklus mit einer starken emotionalen Involviertheit einher, die einer rationalen Auseinandersetzung mit den fachlichen Inhalten entgegenstehe: Keine Eizelle ist befruchtet – dann fallen die Patienten fast in Depressionen und extreme Frustration, das ist für die wie eine Todesnachricht, mehr oder weniger. Dann ist die Erklärung zwar von uns da, aber die Patienten schalten komplett ab und müssen erstmal ihre Trauer da abarbeiten. Das heißt, da ist die Erklärung da, aber sie wird eigentlich gar nicht richtig verstanden, und die Patienten brauchen später noch ein zweites Gespräch, damit sie das überhaupt richtig verstehen (A7R: 86).
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Die mangelnde Konzentration der Paare auf die medizinischen Aspekte der Behandlung – sei es aus Sorglosigkeit, intellektueller Beschränkung oder Betroffenheit – hat für die Ärztinnen und Ärzte auch eine allgemeinere ethische und gesellschaftspolitische Dimension. Es gehört wesentlich zu ihrem Selbstverständnis, sich in ihren Behandlungsangeboten nicht maßgeblich von der Nachfrage der Paare beeinflussen zu lassen, wie in den Aussagen von Dr. Richter deutlich wird: Wenn man merkt, dass die Paare nicht mehr darüber nachdenken. Das einfach mit sich machen lassen und alles machen würden, wenn man dann gefragt wird „Können wir nicht Leihmutterschaft?“. Also das völlig unreflektiert dann hier verlangt wird, dass alles getan wird. Und ethische Fragen auch dann, wenn die Patienten viel zu früh den Schritt wünschen. […] Dass das einfach noch ein Schritt mehr ist. Tatsächlich in eine „Was machbar ist, wird gemacht“ Richtung geht. Ich meine, die Patienten kommen mittlerweile „Also dieses mit einem behinderten Kind“, zum Beispiel, „Das hätte doch jetzt nicht sein müssen. Man hat doch heute Möglichkeiten, das vorab auszuschließen“. Das wird sich verstärken, wenn zum Beispiel dann Polkörperchenforschung gemacht wird oder wenn man eben viel Präimplantationsdiagnostik macht, dann wird dieses Denken sich noch mehr verbreiten (A5R: 147–149, 159).
Die Kontrastfolie zu einer schwierigen Patientin ist eine Art ideale Patientin, die sowohl die Behandlung versteht, als auch die fachliche Autorität der Ärztinnen und Ärzte anerkennt und die Dr. Neumann wie folgt charakterisiert: Es gibt einfachere Patientinnen, die das Ganze einfach lockerer rangehen und einfach befolgen, was wir sagen. Das macht es natürlich viel einfacher […]. Es gibt schwierigere Patienten, die einfach alles hinterfragen. Da gibt es aber auch wenige, meiner Meinung nach, ganz, ganz wenige, die da wirklich drauf rumhacken, warum wir jetzt das machen, warum jetzt das und warum nicht das und so (A2R: 66).
Aus Sicht der Ärztinnen und Ärzte gehört es zu den Aufgaben der Paare, sich zu informieren, die ärztlichen Erklärungen zu verstehen und ihre Anweisungen zu befolgen. Diese Anforderungen werden vor allem für den Schritt der hormonellen Stimulation wichtig (s.u. Kap. 6.2.1). Dass die Ärztinnen und Ärzte Probleme mit dem Verstehen der Behandlung thematisieren, hängt auch damit zusammen, dass es als notwendig für eine erfolgreiche Erzeugung von Compliance erachtet wird. Echte Verständnisschwierigkeiten werden hier eher als Sonderfall gesehen, aber ein aktives Fördern des Verständnisses insbesondere durch von Informationen im Erstberatungsgespräch gehört zum ärztlichen Selbstverständnis.
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Ärztinnen und Ärzte treten hier nicht nur als medizinische Expertinnen auf, sondern auch als Informationsmanager und moralische Instanz. Die Patientinnen und Patienten der naturheilkundlichen Klinik Ebenso wie ihre reproduktionsmedizinischen Kolleginnen und Kollegen beschreiben die naturheilkundlichen Ärztinnen die Patientinnen und Patienten als aktive Teilnehmer in der Behandlung, wie beispielhaft die Aussage von Dr. Nussbaum zeigt: Ein mündiger Patient soll natürlich schon nachfragen und Sachen auch in Frage stellen, was man eben vorschlägt an Therapien. Also, er soll schon auch mitdenken (A3N: 100).
Allerdings hat dieser Anspruch wenig Einfluss auf die Aufklärung über naturheilkundliche Verfahren. Während in der Schulmedizin den Paaren ein Grundverständnis auch fachlicher Inhalte zugesprochen wird und die Ärztinnen ein solches von ihnen als Grundlage für ihre Entscheidungsfindung und Integration in die Behandlung sogar einfordern, wird es in der Naturheilkunde eher ausgeklammert. Aus Sicht der Ärztinnen haben die Paare kein besonders großes Informationsbedürfnis. Eher als um ein Verständnis der angewandten Behandlung geht es in der Naturheilkunde darum, die Paare von deren Wirksamkeit zu überzeugen. Diese Behandlungsphilosophie stellt die Leiterin der Klinik Dr. Stein entsprechend dar: Also schon, dass sie mitentscheiden. Gerade bei diesem Gebiet. Ich kann mich ja gar nicht so aus dem Fenster lehnen und sagen: „Jetzt machen wir das, weil das sicher wirkt“, sondern sie müssen die Methoden zumindest interessant und es lohnend finden, das mal auszuprobieren. Wenn sie sich gar nichts vorstellen können, […], dass es wirken kann, dann sollte man sicher nicht verordnen „Jetzt machen Sie mal dieses oder das“ (A6N: 66).
Dr. Stein verweist hier auf den – aus schulmedizinischer Sicht – unzureichenden Wirksamkeitsnachweis naturheilkundlicher Verfahren. An dessen Stelle tritt jedoch nicht ein Versuch der Überzeugung der Patientinnen mit fachlichen Argumenten, sondern eine Art Glaubensfrage. Dabei gehen die Ärztinnen davon aus, dass die Paare, die sich bei ihnen vorstellen, der Wirksamkeit naturheilkundlicher Verfahren gegenüber in der Regel aufgeschlossen sind und – auch aufgrund geringer Nebenwirkungen – keine grundlegende Überzeugungsarbeit geleistet werden muss. In der naturheilkundlichen Klinik stellt sich für die Ärztinnen das Problem, dass die Patientinnen und Patienten verschiedene Verfahren additiv anwenden.
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Im Gegensatz zur Reproduktionsmedizin gehen die Ärztinnen der Naturheilkunde nicht davon aus, dass die Paare die möglichen Wechselwirkungen und Nebenwirkungen überblicken. Diesem Problem begegnen die Ärztinnen und Ärzte in den Erstberatungsgesprächen mit Verweisen darauf, dass die Wechselwirkungen unerforscht sind. Inhaltliche Erklärungen werden nicht angeführt, so dass den Patientinnen im Gespräch keine Möglichkeit zum Verstehen der Problematik gegeben wird. Ein weiteres Problem sind für die Ärztinnen der Naturheilkunde überzogene Erwartungen der Patientinnen und Patienten, denen mit einem realistischeren Bild über die Behandlungsmöglichkeiten begegnet werden müsse. Dr. Müller beschreibt, dass vor allem Paare, bei denen die reproduktionsmedizinische Behandlung gescheitert ist, unrealistische Erwartungen haben: [Die Paare] denken schon, das ist jetzt die letzte Rettung. Wenn sie schon die fünfte oder sechste IVF/ICSI hinter sich haben, dann ist das hier ein Strohhalm, an den sie sich klammern. Denken also, das muss jetzt helfen. Die haben da auch immense Hoffnung, die manchmal übersteigert ist. Ich denke, wenn es jemand fünf, sechs Jahre versucht, und hat schon zig Reproduktionsverfahren hinter sich, ist es auch sehr schwer, auf diesem Weg schwanger zu werden. […] Aber sie denken schon, sie kommen hierher und kriegen eine homöopathische Behandlung oder eine Akupunkturbehandlung und werden schwanger (A1N: 28–32).
Die Argumentation in diesem Interviewausschnitt ähnelt derjenigen der schulmedizinischen Ärzte und Ärztinnen, die vom „Geraderücken“ oder von „übertriebenen Hoffnungen“ sprechen (s.o). Auch hier werden die Gründe für das Gelingen oder Misslingen der Behandlung nicht in der medizinischen Behandlung, sondern in der individuellen körperlichen Gegebenheiten der Paare gesucht; das Scheitern der Reproduktionsmedizin wird als Beleg angeführt. Gleichzeitig werden aber die Paare in der naturheilkundlichen Klinik insbesondere von der Leiterin als – vor allem im Gegensatz zu denen in reproduktionsmedizinischer Behandlung – überdurchschnittlich gebildet und reflektiert beschreiben (s.o. Kap. 5.3.2). Zwar begreifen die Ärztinnen es als ihre Aufgabe, über alternative Möglichkeiten zur medizinischen Erfüllung des Kinderwunsches aufzuklären, also eine Expertinnenrolle auch für lebensweltliche Entscheidungen zu übernehmen, dennoch gehen sie von einer weitgehenden Übereinstimmung ihrer Normen mit denen der Patientinnen und Patienten aus. Sie sprechen ihnen in der Tendenz stärker als in der reproduktionsmedizinischen Klinik so eine ethische Kompetenz zu, gleichzeitig werden so ethische Fragen an die naturheilkundlichen Behandlung dethematisiert.
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6.1.2 Erstberatungsgespräch und Diagnoseschritte Das Erstberatungsgespräch hat im Behandlungsverlauf eine zentrale Bedeutung für die Transformation des vielschichtigen Problems der Paare zu einem medizinisch behandelbaren Problem. Steht am Anfang des Gesprächs eine eher unverbindliche erste Beratung, in der Informationen zusammengetragen und Möglichkeiten aufgezeigt werden, sollen am Ende grundlegende Weichen für die weitere Therapie gestellt sein. Das Erstberatungsgespräch ist so gleichzeitig eine Informationsveranstaltung, die einer ersten Orientierung in der spezialisierten medizinischen Kinderwunschbehandlung dient, auf deren Grundlage dann eine Entscheidung für oder gegen die Behandlung gefällt werden soll, und der Beginn der Behandlung: Die Anamnese, die Sichtung bisheriger Befunde und die gynäkologische Ultraschalluntersuchung sind Basis für den weiteren Behandlungsverlauf. So ist strukturell die Fortführung der Behandlung vorweggenommen. Zugleich ist das Erstberatungsgespräch der Ort, an dem außermedizinische Aspekte des unerfüllten Kinderwunsches mit dem Ziel thematisiert werden, diese als Gegenstand der Auseinandersetzung für den weiteren Behandlungsverlauf auszuschließen und in die Verantwortung und die Lebenswelt der Paare zu verlagern. In der Anamnese und den weiteren diagnostischen Schritten nach dem Erstberatungsgespräch differenziert sich der unerfüllte Kinderwunsch in eine Vielzahl möglicher medizinischer Probleme, mit jedem Test und jeder Untersuchung tun sich immer neue potenzielle Problembereiche auf. Gleichzeitig erscheinen so weitere und weitergehende medizinische Diagnoseverfahren und dann auch die Therapie als adäquate und plausible Antworten und Lösungen dieser nun medikalisierten Teilprobleme. Dieser Prozess ist dadurch gekennzeichnet, dass er kein klar zu definierendes, in medizinische Kriterien fassbares Ende hat. Die Diagnose ist zumindest potenziell vor dem Behandlungsbeginn nicht abgeschlossen, sondern erfährt während der einzelnen Behandlungsschritte Korrekturen, wird ergänzt und durch die Ergebnisse überlagert (s.u. Kap. 6.2). Die schrittweise Steigerung der Behandlungsmethoden vom optimierten Verkehr bis zur ICSI, in der sich Therapie und Diagnose überlagern, trägt zur steten Vorläufigkeit der Diagnose bei. Die Diagnose überschneidet sich mit dem Beginn der eigentlichen Unfruchtbarkeitsbehandlung: So folgen beispielsweise Bauch- oder Gebärmutterspiegelungen häufig erst auf eine Reihe von Inseminationen oder IVF-Behandlungen, oder das negative Ergebnisse von Inseminationsbehandlungen wird als Indikator für die IVF genommen. Das Erstberatungsgespräch endet zwar in den meisten Fällen damit, dass weitere Therapieentscheidungen erst nach dem Vorliegen von Diagnoseergebnissen gefällt werden können; einen wirklichen Zeitpunkt, zu dem
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die Diagnose abgeschlossen ist, gibt es hingegen nicht. So hat das Erstberatungsgespräch zwar einerseits einen v.a. interpretativ-informativen Charakter, auf der anderen Seite gibt es aber im organisatorischen Ablauf der Behandlung keinen Zeitpunkt, der explizit – und somit für die Paare erwartbar – für die Behandlungsentscheidung vorgesehen ist. Dies führt zu einem gewissen Automatismus in der Abfolge der Behandlungsschritte. Gleichzeitig haben die Paare jedoch immer wieder die Möglichkeit, in Sprechstundenterminen einen informativen oder interpretativen Rahmen einzufordern und zu entwickeln. Hierzu wird ihnen zum einen von den Ärztinnen und Ärzten Gelegenheit gegeben, zum anderen entwickeln sie auch explizit Strategien, um ihren Interessen Gehör zu verschaffen (s.u. Kap. 7.1). Im Erstberatungsgespräch entspricht die Arzt-Patienten-Beziehung am ehesten einem informativen bis interpretativen Typus. Zum einen kommen die Paare mit dem Ziel der Information und Aufklärung zum Erstberatungsgespräch und die Ärztinnen und Ärzte sehen es als ihr explizites Ziel, zunächst über mögliche Behandlungswege zu informieren. Auf dieser Grundlage sollen die Paare dann eine informierte Entscheidung für oder gegen eine Behandlung fällen. Der Informationsaustausch im Erstberatungsgespräch ist ein zweiseitiger: Zum einen klären die Ärztinnen und Ärzte über die medizinischen Behandlungsmöglichkeiten auf, zum anderen „informieren“ die Paare während der Anamnese über ihren Gesundheitszustand. Den Paaren wird die Möglichkeit gegeben, eine Vielzahl von Aspekten des unerfüllten Kinderwunsches anzusprechen: Dies betrifft medizinische Bereiche wie beispielsweise die bisherigen Diagnosen, aber auch organisatorische Fragen (s.u. Kap. 7.2). Im Erstberatungsgespräch wird dies strukturell durch den relativ großzügigen Zeitrahmen ermöglicht: Die Erstberatungsgespräche sind nicht nur der erste persönliche Kontakt des Paares mit der Kinderwunschklinik, sondern auch der ausführlichste. Die reproduktionsmedizinische Klinik reserviert für diese Gespräche in der Regel drei Stunden am Nachmittag, in der meist drei Beratungen stattfinden. Bei den von mir aufgezeichneten Erstberatungsgesprächen spiegelt sich dieser Anspruch unterschiedlich wider: In der reproduktionsmedizinischen Klinik dauerten die zehn aufgezeichneten Gespräche durchschnittlich 45 Minuten, die beiden kürzesten 30, die beiden längsten 70 und 80 Minuten. Auf der Ebene der organisatorischen Prozesse ist das Erstberatungsgespräch formal am stärksten strukturiert: Für die Anamnese gibt ein Erfassungsbogen vor, was in welcher Reihenfolge abgefragt werden soll. Diese Vorgabe ist für den Aufbau des Beratungsgesprächs leitend, die Ärztinnen und Ärzte weichen nur geringfügig von den Inhalten und der Abfolge ab. Gleichwohl gestalten die Ärztinnen und Ärzte das Gespräch eher als Dialog, den Patientinnen und Patienten wird die Möglichkeit zur Mitgestaltung gegeben. Dies bezieht
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sich allerdings häufig auf die Inhalte zu einem spezifischen, von den Ärztinnen und Ärzte vorgegebenen Punkt und weniger auf die allgemeine Gestaltung des Gesprächs. In der Regel geben die Ärztinnen und Ärzte an verschiedenen Stellen des Gesprächs Raum und Möglichkeiten für Nachfragen, sind freundlich und zeigen Empathie. Sie hören den Paaren zu, gehen auf ihre Fragen und Bedenken ein und sind darum bemüht, verstanden zu werden. Beide Kliniken haben den Anspruch, sich für die Erstgespräche ausreichend viel Zeit zu lassen – dies zeigt sich auch in der naturheilkundlichen Klinik in der Länge der Erstberatungsgespräche von durchschnittlich gut einer halben Stunde. Allerdings finden hier insgesamt weniger Erstberatungsgespräche und Kinderwunschbehandlungen statt, der gesamte organisatorische Ablauf ist weniger von Routinen geprägt. Ambivalenzen als Teil des Erstberatungsgesprächs Gegenstand des Erstberatungsgesprächs ist neben medizinischen Aspekten auch die Bedeutung des Kinderwunsches für die Paare, nicht zuletzt in Anbetracht der finanziellen, organisatorischen und körperlichen Belastung, die mit der Therapie einhergeht. Diese Aspekte werden von den Ärztinnen und Ärzten als offene Fragen formuliert, die das Paar vor Beginn der eigentlichen Behandlung entschieden haben sollte. Ihre Thematisierung ist erklärter Anspruch der Ärztinnen und Ärzte und zeigt – wenn auch nicht in allen Erstberatungsgesprächen eingelöst – das Bemühen um einen informed consent. Zugleich wird die Bearbeitung und Beantwortung dieser Fragen in den privaten Bereich verlagert. Im weiteren Behandlungsverlauf können und sollen sie keine Rolle mehr spielen. So thematisiert Dr. Thomas beispielsweise explizit die Ambivalenzen, die mit dem Kinderwunsch und seiner reproduktionsmedizinischen Behandlung einhergehen: [Die Paare] sollen Folgendes machen, und das ist eigentlich auch der Gegenstand der Beratung […]: Sie sollen halt für sich als Paar unbedingt überlegen, wie groß der Stellenwert einer Familie, eines Nachwuchses in ihrer Lebensplanung, in ihrer partnerschaftlichen Beziehung ist. Das heißt, wie viel sind sie bereit zu investieren, wie viel sind sie auch bereit zu riskieren, an Geld, Zeit und Kraft der partnerschaftlichen Konflikte. Das ist im Prinzip immer am Ende eines Beratungsgesprächs, was ich den Patienten mit auf den Weg gebe, bevor sie sich dann für IVF oder was auch immer entscheiden. Nämlich, dann läuft nur noch Schema, da fragt auch keiner mehr, die müssen sich im Klaren sein, dass sie das auch wirklich wollen (A7R: 144).
Die lebensweltlichen Abwägungen der Paare sind also dem Anspruch von Dr. Thomas nach nicht nur legitim, sondern auch notwendiger Bestandteil der Erst-
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beratung. Deren Ziel ist zum einen aber nicht die Klärung der angesprochenen Fragen, sondern ihre Verlagerung in den Aufgabenbereich der Paare. Wie bereits ausgeführt, werden die nichtmedizinischen Aspekte des Behandlungsverlauf als Thema der Arzt-Patienten-Beziehung explizit ausgeschlossen, so zum Beispiel das Leiden am Kinderwunsch (s.o. Kap. 5.2.1). Es ist eine Ausnahme, wenn die Ärztinnen und Ärzte hier Stellung beziehen (s.o. Kap. 5.3.1). Zum anderen wird hier eine normative Anforderung an die Paare formuliert: dass und welche Aspekte sie ihrem Entscheidungsprozess zugrunde legen sollen. Dieser informelle Erwartungsanspruch erfüllt eine doppelte Funktion: Einerseits können die Ärztinnen und Ärzte so aus ihrer Sicht voraussetzen, dass die medizinische Behandlung erst nach sorgsamer Abwägung erfolgt, was zur moralischen Absicherung beiträgt. Das legitimiert andererseits den Charakter des weiteren Behandlungsverlaufs, in dem Zweifel und Ambivalenzen dethematisiert werden. Diese Argumentationsbewegung wird auch deutlich, wenn Dr. Richter beschreibt, was ihr in ihren Sprechstunden wichtig ist: Dass die Leute einigermaßen wissen, was sie da tun und mit welchen Chancen sie es tun, und dass sie wissen, dass sie nicht unbedingt schwanger werden, dass sie dann aber trotzdem noch eine Perspektive für sich sehen. Nicht völlig darauf versteifen. Ich meine, manchmal sage ich es ganz am Anfang beim Erstgespräch schon und dann lange aber nicht, weil während einer Behandlung finde ich das dann destruktiv (A5R: 65).
Hier findet sich dasselbe Muster wie im Interview mit Dr. Thomas: Die Ambivalenzen der Kinderwunschbehandlung werden aufgegriffen, in diesem Fall am Beispiel der geringen Erfolgswahrscheinlichkeit, und an die Paare der Anspruch formuliert, sich mit dem Fall des möglichen Scheiterns auseinander zu setzen. Diese Relativierung der Bedeutung der medizinischen Behandlungsoption wird aber gleichzeitig auf den Moment des Erstberatungsgesprächs begrenzt: eine weitere Thematisierung im Behandlungsverlauf läuft deren Zielsetzung zuwider. Das Erstberatungsgespräch als Behandlungsbeginn Ziel des Erstgespräches ist der Beginn einer ausführlichen Diagnose oder Therapie. Die Gespräche beginnen mit einer ausführlichen Anamnese, die ungefähr die Hälfte der Zeit in Anspruch nimmt und in der die bisherigen medizinischen Befunde zusammengetragen werden. Häufig leiten die Ärztinnen und Ärzte die Anamnese mit der Ankündigung ein, dass sie nun viele Fragen stellen werden. Mit dieser Ankündigung stellen sie zum einen Transparenz über das Vorgehen her, zum anderen markieren sie auch einen Schnitt in der Kommunikationsstruktur und leiten einen weniger dialogischen Abschnitt ein. Mit der Anamnese wird
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im Erstberatungsgespräch dabei ein Neuanfang im Behandlungsverlauf unter reproduktionsmedizinischer Expertise markiert. Dr. Richter etwas beschreibt die reproduktionsmedizinische Klinik als letzte zuständige Instanz für den unerfüllten Kinderwunsch: Wie kommen sie zu ihrer Entscheidung? Normalerweise hat sie schon langjährig Kinderwunsch. Hat wahrscheinlich auch schon beim Frauenarzt einiges erlebt und einiges hinter sich. Und möchte jetzt eben definitiv wissen, ob es klappen kann oder nicht (A5R: 17).
Diese Hierarchisierung der Zuständigkeit und Abwertung der niedergelassenen Gynäkologinnen und Gynäkologen (s.o. Kap. 5.3.1) geht einher mit einem Neuanfang der Behandlung, unabhängig von den Vorbehandlungen der Paare: Die Diagnosen von Kolleginnen und Kollegen werden korrigiert und Kontrolluntersuchungen angeordnet. Nach einem Wechsel von einer anderen Klinik wurde dies beispielsweise Frau Baum deutlich vermittelt: Die [Ärztin, cu] hat dann noch mal angefangen, alles irgendwo zu erklären. Da haben wir auch erzählt, was wir ungefähr gemacht haben etc. […] ja, die hat dann gesagt, „Okay, jetzt fangen wir noch mal von null an“ (P2R: 72).
Mit diesem von den Ärztinnen und Ärzten definierten Neuanfang geht dann die Wiederholung von Diagnoseverfahren einher, die einerseits zu einer Spezifizierung der Problematik beitragen können, anderseits aber auch, etwa wenn sie der bisherigen Diagnose widersprechen, zu neuen Unsicherheiten führen können. Schon im Erstberatungsgespräch deutet sich ein großes Spektrum an möglichen Problemfeldern an, das in der Diagnose überprüft werden soll: Unregelmäßigkeit des Zyklus, Blockierung der Eileiter, unzureichende Spermiogramme und die Unverträglichkeit von Samenzellen und Gebärmutterschleimhaut. Mit der weiteren Diagnose wird die Hoffnung auf mögliche Lösungswege verbunden. Die strukturelle Vorwegnahme der Fortführung der medizinischen Behandlung zeigt sich besonders deutlich am Ende des Erstberatungsgesprächs. Das Erstberatungsgespräch endet mit einer Vereinbarung über das weitere Vorgehen, das aus verschiedenen Diagnoseverfahren besteht. Grundsätzlich ist die Beratung ergebnisoffen: Manche Paare erwähnen im Erstberatungsgespräch selbst, dass sie sich auch noch in anderen Kliniken vorstellen werden. Im Beobachtungszeitraum wurde jedoch in keinem Beratungsgespräch ersichtlich, dass die Paare erwogen hätten, die Behandlung nicht zu beginnen. So endeten alle Erstberatungsgespräche mit der Vereinbarung, weitere diagnostische Verfahren anzuwenden. In den Fällen, in denen die Paare nicht bereits in anderen Kliniken in
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Therapie gewesen waren, wurde unmittelbar nach dem Beratungsgespräch Blut abgenommen. Aktuelle Befunde zu Hepatitis B, C und HIV sowie Blutgruppe und bei den Frauen auf Rötelschutz sind Voraussetzung für die weitere Behandlung. Die Vereinbarung der Durchführung weiterer Schritte wird von den Ärztinnen und Ärzten als ein Verzeichnis der „Hausaufgaben“ bezeichnet. Welche der aufgelisteten Dinge den Paaren zu erledigen aufgetragen werden, ist unterschiedlich, wie beispielsweise in den Erläuterung von Dr. Thomas im Erstberatungsgespräch mit dem Ehepaar Brandt deutlich wird: Wir veranlassen das Spermiogramm. Machen aber jetzt schon ein paar Hausaufgaben, die man sowieso machen muss, wenn man genau nach Kinderwunsch schaut. […]. Die Zettel gebe ich Ihrer Frau mit. Da zeige ich, wo die Häkchen sind, „Das muss erledigt werden“Kreuzchen. Da sind die mit Fragezeichen, der Morgen-Danach-Test, wir brauchen erstmal das Spermiogramm. Das steht da, das können wir uns auch schenken (A7R in EG2R: 135–145).
Diese Listen sind dabei zum einen schriftlich fixierte ärztliche Anweisung, die nicht zur Debatte stehen. Eine flexible Handhabung oder Abweichung kann nur seitens der Ärztinnen und Ärzten erfolgen, in ihr zeigt sich gleichzeitig die ärztliche Autonomie und Autorität. Zum anderen wird mit den Listen aus dem diffusen und auch medizinisch zu diesem Zeitpunkt häufig weitgehend ungeklärten Problem der ungewollten Kinderlosigkeit ein für die Medizin schrittweise diagnostizierbares Problem. Von einem Interesse der Paare an der Fortführung der Behandlung wird dabei ausgegangen. Dass sich – so die Einschätzung der Ärztinnen und Ärzte – höchstens zehn Prozent der Paare gegen eine Behandlung entscheiden, ist hierbei nicht so sehr darauf zurückzuführen, dass die Ärztinnen und Ärzte dem zunächst neutral gedachten Informationsanspruch des Erstberatungsgesprächs gerecht werden. Vielmehr ist dies auf die Vorselektion der Paare zurückzuführen – die grundsätzliche Entscheidung, eine Behandlung zu beginnen, wird vor der Erstvorstellung getroffen, zum Teil markiert das Ausmachen eines Termins in der Klinik den Endpunkt dieses Entscheidungsprozesses. Diese Voreingenommenheit für die Behandlung oder der Wunsch nach medizinischem Eingriff der Paare trifft (auch) im Erstberatungsgespräch auf die professionelle Tendenz zum aktiven Eingreifen der Ärztinnen und Ärzte. Die Entscheidung für eine Behandlung liegt also strukturell näher als die dagegen. Auch in der naturheilkundlichen Klinik wird dem Erstberatungsgespräch von den dort tätigen Ärztinnen grundsätzlich eine entscheidende Bedeutung für den
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Behandlungsverlauf zugesprochen, im Untersuchungszeitraum wurde diese jedoch dadurch stark relativiert, dass keine Behandlungen und nur noch sehr vereinzelt Erstberatungsgespräche durchgeführt wurden. Diese mündeten dann in einer Empfehlung für die Suche eines geeigneten Ortes für die Weiterbehandlung. So sind zwar ähnliche Momente wie in der reproduktionsmedizinischen Klinik zu erkennen: Insbesondere gibt es auch einen fließenden Übergang von Beratung und Behandlungsbeginn, den Patientinnen wird häufig ein homöopathisches Mittel verschrieben. Jedoch fehlt dem gesamten Ablauf ein routinierte Ort im Behandlungsgeschehen: Für die Termine muss zwischen anderen mit höhere Priorität Zeit geschaffen werden. 6.1.3 Diagnose zwischen Beratung und Behandlung Die reproduktionsmedizinische Diagnostik im engeren Sinne erfolgt in einem sogenannten Diagnosezyklus. In diesem werden bereits mehr Koordinationsanforderungen an die Frauen gestellt, vor allem da über einen kurzen Zeitraum mehrere medizinisch festgelegte Termine wahrgenommen werden müssen (s.u. Kap. 7.3.1). Zugleich folgt er relativ stark administrativ schematisierten Bahnen und stellt sich als in sich abgeschlossene Phase dar, die zum einen geringe Handlungsspielräume für die Patientinnen bietet und zum anderen relativ linear abläuft. Dem Diagnosezyklus liegt der natürliche Menstruationszyklus der Frau zugrunde: Hierfür werden in der Regel drei Mal während eines Zyklus Blutabnahmen für die Feststellung der Hormonwerte abgenommen und Ultraschalluntersuchungen durchgeführt: Zwischen dem zweiten und fünften Zyklustag werden Blutproben abgenommen und Schilddrüsen-, Prolaktin- und männliche Hormonwerte ermittelt. Zum Zeitpunkt des Eisprungs wird die Untersuchung noch einmal wiederholt und häufig mit einer Ultraschalluntersuchung insbesondere in Hinblick auf die Eizellentwicklung verbunden. Eine weitere Blutabnahme geschieht um den 24. Zyklustag zur Bestimmung des Progesteronwertes (Gelbkörper). Da die Hormonwerte nur in eingeschränkten Zeitfenstern abgenommen werden können, richtet sich die Blutabgabe und Terminvergabe nach dem Zyklus der Frau. Diese wird gebeten, am ersten Zyklustag in der Klinik anzurufen und dann entsprechend Termine auszumachen. Abhängig vom Zyklustag kann dieser Teil der Diagnostik schon unmittelbar nach dem Erstgespräch beginnen. Insbesondere, wenn die vorherigen beiden Untersuchungen keine Auffälligkeiten ergeben haben, wird als nächstes ein Postkoitaltest durchgeführt, bei dem die Verträglichkeit von Spermien und Gebärmutterschleimhaut getestet werden soll. Im Rahmen der allgemeinen Diagnostik wird dieser zum Zeitpunkt des Eisprungs durchgeführt: Das Paar wird gebeten, am Abend vor dem Test
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miteinander Verkehr zu haben. Am folgenden Morgen wird in der Klinik eine Schleimprobe entnommen und unter einem Mikroskop auf bewegliche Spermien untersucht. Sind keine oder nur sehr wenige Spermien vorhanden, wird von einer Unverträglichkeit ausgegangen, die mithilfe einer Insemination umgangen werden kann. Mit der Entscheidung für eine reproduktionsmedizinische Behandlung werden die Ärztinnen und Ärzte zu den aktiveren Akteurinnen und Akteuren. Der weitere Verlauf von Diagnose und Behandlung ist vor allem von ärztlichen Setzungen, Interpretationen und Entscheidungen geprägt, die jedoch je nach Behandlungsschritt unterschiedlich ins Gewicht fallen. So wird die Ergebnissoffenheit des Erstberatungsgesprächs im Diagnosezyklus noch etwas fortgesetzt. Ein Teil der Diagnoseschritte läuft relativ schematisiert ab: Wann wie oft welche Hormone abgenommen und Ultraschalluntersuchungen gemacht werden, wird von den Ärztinnen und Ärzten im Erstberatungsgespräch taggenau bestimmt, und die Patientinnen werden darauf festgelegt, wann sie in die Klinik kommen müssen. Häufig werden diese Termine zum Ende des Erstberatungsgespräches vereinbart. Einen typischen Eindruck vermittelt das Erstberatungsgespräch des Ehepaares Perner: Dr. Neumann
Am 11. Zyklustag Geschlechtsverkehr und am 12. kommen Sie her. Dann haben Sie […] Dienstag Geschlechtsverkehr und Mittwoch nächste Woche kommen. Wenn es geht. Mittwoch, der 9. […] – dann kommen Sie – Sie können kommen zur Blutentnahme, und ist das superaufwändig für Sie?
Frau Perner
Nein, das geht schon.
Dr. Neumann
Gut. Dann kommen Sie wieder am 18. und 21. […] Dann haben wir einmal einen Zyklus durch. Und im nächsten Zyklus, wenn Sie Ihre Blutung wieder kriegen, dann kommen Sie zwischen dem zweiten und dem fünften Zyklustag. Das steht hier alles drauf nochmal. Hier ist der 20. und 24. Zyklustag, und da kommt der zweite und fünfte Zyklustag, wenn Sie Ihre Blutung haben, aber der erste Zyklustag. Dann kommen Sie auch wieder zur Blutentnahme. Dann rufen Sie halt an, wenn Sie Ihre Blutung haben. (EG1R: 299–305)
Das taggenaue Einhalten der Termine der Blutabnahme ist hierbei wichtiger, als diese in der untersuchten Klinik vornehmen zu lassen: Wenn dies nicht möglich ist, können die Patientinnen ihr Blut auch bei einer Ärztin oder einem Arzt in ihrer Nähe abnehmen lassen und dann per Post an die Klinik schicken. Ähnlich
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genau wird der Tag für den Postkoitaltest und damit verbunden dem davor zu vollziehenden Geschlechtsverkehr von den Ärztinnen und Ärzten festgelegt. Gleichzeitig gibt es aber auch Diagnoseverfahren, die den Paaren mehr Handlungsfreiheit und Gestaltungsraum zuweisen: So liegen häufig gar keine, zu alte oder zu wenig aussagekräftige Spermiogramme im Erstberatungsgespräch vor, und die Durchführung von ersten oder Kontrollspermiogrammen ist unabdingbare Voraussetzung für die weitere Behandlung. Wann diese veranlasst werden, wird jedoch erheblich schwächer reglementiert. Im Erstberatungsgespräch mit dem Ehepaar Graf wird diese Flexibilität der Terminvorgabe deutlich: Dr. Neumann
Aber im Vordergrund steht, bevor wir jetzt irgendwie alles andere besprechen, Kontroll-Spermiogramm, nach fünf Tagen Karenzzeit. Das heißt: Fünf Tage vorher keinen Geschlechtsverkehr haben. Und hier halt einen Termin ausmachen und herkommen. […]
Frau Graf
Und wann macht das jetzt Sinn? Sollte das gleich irgendwie oder
Dr. Neumann
Wann Sie möchten. Nur keinen Stress.
wann wir wollen, … Herr Graf
Nein. Weil noch die Hochzeit ansteht. [alle reden gleichzeitig]
Dr. Neumann
Wann Sie möchten. Da ist überhaupt kein Zeitdruck. (EG6R: 221–225)
So kann das Erstberatungsgespräch sowohl mit genauen Terminvorgaben als auch mit zeitlich relativ offenen Vereinbarungen enden. Bei allen Verfahren, die sich vor allem am Zyklus der Frau orientieren, gibt es kaum zeitlichen Spielräume. In der flexibleren Terminierung der Untersuchungen, bei denen der Mann notwendigerweise involviert ist – dem Spermiogramm und dem Postkoitaltest –, zeigt sich die Neigung der Ärztinnen und Ärzte, das Sexualleben der Paare möglichst wenig zu Thema zu machen. Bevor die Ärztinnen und Ärzte zu höhergradiger Reproduktionsmedizin, also Verfahren der In-vitro-Fertilisation, raten, wird zur weiteren Abklärung häufig eine Bauchspiegelung durchgeführt. Diese gilt im Vergleich zum Ultraschall als zuverlässigere und umfassendere Methode zur Eileiterdurchlässigkeitsüberprüfung, weshalb sie vorgezogen wird, obwohl sie mit einer Operation verbunden ist. Neben der Eileiterdurchlässigkeit sollen mögliche angeborene oder mit der Zeit – zum Beispiel aufgrund von Operationen im Bauchraum wie der Entfernung des Blindarms oder Leistenbrüchen – entstandene Verwachsungen in Gebärmutter und Eileitern entdeckt und ggf. schon während der Laparoskopie entfernt werden. In seltenen Fällen können die Eileiter bei geringen Verklebungen während der Laparoskopie auch freigespült werden. Desweiteren lässt sich in der
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Laparoskopie Endometriose, das sind gutartige Wucherungen der Gebärmutterschleimhaut außerhalb der Gebärmutter, feststellen. Die Endometrioseherde lassen sich ebenfalls häufig während der Laparoskopie entfernen. Mit der Diagnostik, die sich in der Regel über vier oder mehr Wochen zieht, wird zum einen der tatsächliche Behandlungsbeginn noch etwas aufgeschoben. Zugleich erschwert es der fließende Übergang zwischen Information, Diagnose und Behandlung, einen Zeitpunkt zu identifizieren, an dem die Entscheidung für oder gegen eine IVF-Behandlung gefällt wird. Schrittweise Steigerung der medizinischen Behandlung Aus ärztlicher Sicht lassen sich drei Fälle unterscheiden: zum einen die Paare, bei denen IVF/ICSI aufgrund eines entsprechenden Spermiogramms oder verschlossener Eileiter deutlich angezeigt ist. Zum anderen Paare, bei denen mehrere Faktoren zusammen spielen: wie zum Beispiel ein leicht eingeschränktes Spermiogramm und stark unregelmäßige Menstruationszyklen. Zudem gibt es Paare, bei denen die Ursache ihrer Unfruchtbarkeit unklar ist und vor allem die Erfolglosigkeit bisheriger Behandlungsmaßnahmen wie optimiertem Verkehr oder Insemination die IVF oder ICSI-Behandlung indiziert. Die meisten Paare fallen in die mittlere Kategorie, wobei die Zuordnungen nicht immer eindeutig und dauerhaft sind. Der Rate der idiopathischen Sterilität liegt in der untersuchten Klinik bei ungefähr 20 bis 25 Prozent. In der Beschreibung von Dr. Otto wird deutlich, dass das Vorgehen bei idiopathischer Sterilität eher einem Vorgehen von Versuch und Irrtum ähnelt, bei dem die Antwort auf das Fehlen einer Diagnose eine Steigerung der reproduktionsmedizinischen Mittel ist: Man macht dann [im Falle der idiopathischen Sterilität] die Behandlung schon so schrittweise. Wenn man denkt, na ja, es ist ja alles in Ordnung, dann versuchen wir erstmal optimierten Verkehr, und wenn das nicht funktioniert, dann vielleicht mit Hormonunterstützung, und dann macht man die Insemination, und dann macht man vielleicht doch irgendwann die Reagenzglasbefruchtung (A4R: 89).
Ähnlich wie bei der Definition des unerfüllten Kinderwunsches begründet in diesem Fall also nicht ein medizinischer Befund die Therapie, sondern das Vergehen von Zeit. Dieses Vorgehen führt zu der paradoxen Situation, dass sowohl ein positiver als auch ein negativer Befund in der Diagnose zu weiteren Eingriffen führt. Wenn beispielsweise hormonelle Unregelmäßigkeiten festgestellt werden, ist dies eine Indikation für die hormonelle Regulierung des Zyklus. Aber auch wenn der Zyklus ohne Befund ist und nach einiger Zeit keine weiteren Einschränkungen gefunden werden können, ist eine Hormontherapie ange-
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zeigt. So wird versucht, die Unfruchtbarkeit auch dann mit medizinischen Mitteln zu lösen, wenn man sie nicht mit medizinischen Kriterien fassen und beschreiben kann. Aber auch in den Fällen, in denen eine eingeschränkte Fruchtbarkeit diagnostiziert wurde, wird das Verfahren der Mittelsteigerung angewandt. In meiner Untersuchung wurden in der Mehrzahl der Fälle zunächst Inseminationen oder andere einfachere reproduktionsmedizinische Behandlungen wie Zyklusbeobachtung oder optimierter Verkehr durchgeführt. Die Diagnosen können sich derweil wandeln, ein Spermiogramm schlechter oder besser werden, Zyklen sich stabilisieren oder die Blockierung der Eileiter sich als ein Spasmus herausstellen. Die Steigerung der Therapieformen ist in der untersuchten reproduktionsmedizinischen Klinik innerhalb der dort angeboten Behandlungsmöglichkeiten der Beobachtung und hormonellen Unterstützung des Menstruationszyklus und Insemination sowie Verfahren der In-vitro-Fertilisation möglich. Beim Zyklusmonitoring wird der Menstruationszyklus mithilfe von Ultraschall und Hormonwertkontrolle beobachtet, dies wird zum Teil von den Patientinnen durch Temperaturmessung und Schleimbeobachtung ergänzt. Ziel ist es, den optimalen Zeitpunkt für den Geschlechtsverkehr abzupassen. Hormonell unterstützt wird der Zyklus insbesondere, um Eireifung, Eisprung und den Aufbau der Gebärmutterschleimhaut für eine mögliche Einnistung zu optimieren. Bei der Insemination wird durch Masturbation gewonnenes Sperma mithilfe einer Kanüle direkt in den Gebärmutterhals gegeben, was ambulant geschieht. Mit Hilfe dieses Verfahrens soll zum Beispiel eine Unverträglichkeit von Gebärmutterschleimhaut und Sperma umgangen werden. IVF-Verfahren – die in dieser Arbeit im Vordergrund stehen – sind weitaus aufwändiger, mit mehr Risiken verbunden und bedürfen häufigerer medizinischer Kontrollen: Es werden mehrere Eizellen durch Hormongabe zur Reifung gebracht und kurz vor dem Eisprung operativ entnommen. Diese Punktion erfolgt in der Regel in ambulanter Operation unter Vollnarkose. Die Eizellen werden dann außerhalb des Körpers „in vitro“ mit dem im Labor aufbereiteten Sperma zusammen gebracht. Wenn Eizellen so befruchtet worden sind, werden bis zu drei – in der untersuchten Klinik maximal zwei – Embryonen nach kurzer Kultivierungsdauer mit Hilfe einer Kanüle in die Gebärmutter eingesetzt. Sollten mehr Eizellen befruchtet worden sein, werden diese in der Regel kryokonserviert und stehen dann für spätere Zyklen – die wiederum hormonell unterstützt werden können – zur Verfügung. Bei der ICSI kommt hinzu, dass die Befruchtung nicht in der Petrischale dem Zusammentreffen von Spermien und Eizellen überlassen wird, sondern die einzelnen Spermien direkt in die Eizelle injiziert werden. Beim zum Zeitpunkt dieser Studie noch experimentellen Verfahren der In-vitro-Maturation (IVM) werden die Eizellen
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zu einem früheren Zeitpunkt entnommen und reifen außerhalb des Körpers. Nach dem Embryotransfer werden beim IVF-Zyklus weiter Hormone für den Aufbau der Gebärmutterschleimhaut gegeben – die Einsetzung von kryokonservierten Embryonen kann auch im Spontanzyklus erfolgen. Vierzehn Tage später wird ein Schwangerschaftstest durchgeführt. Im Fall einer Schwangerschaft wird die Patientin nach einigen Wochen in eine niedergelassene gynäkologische Praxis überwiesen.1 Die klassischen Verfahren der Unfruchtbarkeitsbehandlung gelten aus medizinischer Sicht als relativ kleine Eingriffe: Die Beobachtung des Zyklus zur Bestimmung der fruchtbarsten Tage und des Eisprungs beschreibt Dr. Thomas als „unterste Stufe […] das ist sicher das Harmloseste“ (A7R: 40). Auch die Insemination gilt insbesondere im Spontanzyklus als einfach, wie Dr. Richter dem Ehepaar Arnold im Erstgespräch versichert: Man könnte das theoretisch Monat für Monat machen. Weil das ja kein wirklicher Eingriff in Ihren Zyklus ist. Sie haben die ganz normalen Hormone. Man würde es in Abhängigkeit natürlich von Ihnen machen, wie Sie Lust und Laune haben. Sie können dazwischen Pause machen, so lange Sie wollen (EG1R: 140).
Die IVF ist hingegen mit stärkeren Eingriffen in den Körper und mit Risiken verbunden und fordert spezifisches ärztliches Wissen und Können. Mit Insemination und Zyklusmonitoring finden viele Paare einen niedrigschwelligen Einstieg in die Reproduktionsmedizin. Ihre Zeugungsversuche haben sie häufig schon vor der Vorstellung in einer Klinik mit den vermuteten fruchtbaren Tagen abgestimmt (s.o. Kap. 5.2.3). Die schrittweise Steigerung der Verfahren begünstigt in Kombination mit der fortlaufenden Diagnosestellung, dass sich den Paaren der Schritt zur IVF-Therapie eher als selbstverständliche Fortsetzung darstellt denn als grundlegend neue Entscheidung.
1
Die Behandlung in der Reproduktionsklinik ist mit der Überweisung in die reguläre Schwangerschaftsvorsorge beendet. Allerdings wird die IVF-Behandlung im Mutterpass in der aktuellen Form von 1997 unter Punkt 16. Schwangerschaft nach Sterilitätsbehandlung vermerkt. Eine Schwangerschaft nach einer reproduktionsmedizinischen Behandlung gilt immer als Risikoschwangerschaft. Andere im Mutterpass abgefragte Risikofaktoren sind z.B. Alter der Schwangeren (unter 18 oder über 35) oder familiäre, soziale oder psychische Belastungen.
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IVF-B EHANDLUNGSVERLAUFS
Der eigentliche Behandlungszyklus bei IVF-Verfahren lässt sich in verschiedene Abschnitte unterteilen: die hormonelle Stimulation, die operative Follikelentnahme und Befruchtung außerhalb des Körpers, den Embryonentransfer sowie den abschließenden Schwangerschaftstest. Während die Diagnoseschritte von einer Steigerung der Wahl der technischen Verfahren und Eingriffe gekennzeichnet sind, aber – etwa im Fall einer Verbesserung des Spermiogramms – Schritte zurück möglich sind, folgt der IVF-Zyklus einem in sich geschlossenen Ablauf. Seine Dynamik ist gekennzeichnet von einem schrittweisen, sich zum Endpunkt hin steigernden Vorgehen. Bis zum vorläufigen Abschluss des Behandlungszyklus durch einen Schwangerschaftstest ist die Spannung zwischen der Hoffnung auf ein Kind und dem Wissen um die zumindest statistisch geringe Wahrscheinlichkeit eines Erfolgs nicht nur kontinuierlich gegeben, sondern wird an den unterschiedlichen Stationen immer wieder relevant. Die einzelnen Phasen im Behandlungsverlauf werden dabei in der Behandlungspraxis zunächst getrennt voneinander betrachtet und bewertet: Für die Stimulation ist die Anzahl der gewachsenen Follikel das Erfolgskriterium; bei der Eizellentnahme sollen möglichst viele dieser Follikel punktiert werden und schließlich sollen während der eigentlichen IVF möglichst viele Eizellen befruchtet werden und reifen. An jedem dieser Schritte lässt sich der Erfolg der Behandlung überprüfen, der aber nur unzureichend Auskunft über die Erfolgswahrscheinlichkeit des gesamten IVF-Zyklus gibt. Die administrativen Bahnen im IVF-Behandlungsverlauf sind stark schematisiert, der Handlungsspielraum für die Paare bzw. die Patientinnen ist relativ gering. Stärker als im Diagnosezyklus treffen im IVF-Zyklus die Ärztinnen und Ärzte die Therapieentscheidungen relativ unabhängig von den konkreten Wünschen und Werten der Paare, die Interaktion findet in einem eher paternalistischen Rahmen statt. Für Dr. Thomas etwa entspricht das Befolgen der Therapiepläne seiner Zielvorstellung einer Therapiekultur, die sich zielführend nach medizinischen Vorgaben richtet; Ambivalenzen und Zweifel wie im Erstberatungsgespräch oder auch noch in der Diagnose müssen nicht mehr berücksichtigt werden: Und wenn die Vorbereitung hinter einen gebracht ist, ist es relativ einfach; die kriegen einfach einen Fahrplan. Sie können damit eigentlich ganz gut leben. Das heißt, wenn man dann gestartet hat, können die relativ gut [damit, cu] leben, weil wir eigentlich nur noch ergebnisorientiert oder eigentlich nur diesen Fahrplan abarbeiten (A7R: 100).
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Ärztinnen und Ärzte definieren insbesondere, was das Wohlergehen der Patientinnen während der Hormonstimulation ausmacht und bestimmen dies unabhängig von den aktuellen Präferenzen der Paare und Patientinnen. Wann eine Überstimulation droht und wann die Behandlung wegen zu geringem Stimulationsergebnis abgebrochen wird, ist alleinige Entscheidung der Ärztinnen und Ärzte. Gleichzeitig werden an die Patientinnen im Gegensatz zum Diagnosezyklus gesteigerte Anforderungen gestellt: Sie müssen im Zeitraum von etwa 25 Tagen mehrfach in die Klinik, die Termine stehen erst kurzfristig fest, sind aber gleichzeitig relativ präzise einzuhalten. Andererseits nehmen die Patientinnen die Hormonmedikamente zu Hause, also außerhalb des unmittelbaren Zuständigkeitsbereichs der Medizin und außerhalb der unmittelbaren ärztlichen Kontrolle, ein. Mit der Übertragung dieser Aufgabe sind sie als aktive Akteurinnen in die Behandlung eingebunden, ihnen wird damit Verantwortung für das Gelingen übertragen.Während einer Kinderwunschbehandlung werden sehr unterschiedliche Anforderungen an die ärztliche Arbeit gestellt: Während im Erstberatungsgespräch Entscheidung und Compliance der Paare im Vordergrund stehen, sehen die Ärztinnen und Ärzte ihre Kernaufgaben nun in einer umfassenden Diagnostik, verantwortungsvoller und vorsichtiger Stimulation sowie der Durchführung einer guten operativen Punktion der Eizellen. Dies sind zugleich die Schritte der Behandlung, die seitens der Ärztinnen und Ärzte beeinflussbar sind, und die, mit denen die meisten medizinischen Risiken verbunden sind. 6.2.1 Die Arbeit der Ärztinnen und Ärzte Die Arbeit der Ärztinnen und Ärzte an der Herstellung von Compliance richtet sich in der untersuchten reproduktionsmedizinischen Klinik vor allem auf den Umgang mit der gewählten Therapie und nicht so sehr auf die unerwünschte Kinderlosigkeit selbst. Der Glaube an die Wirksamkeit und den Erfolg der Behandlung, den die Complianceforschung als wichtigen Faktor für die Therapietreue von Patientinnen und Patienten herausgearbeitet hat, ist in der IVFBehandlung in der Form gegeben, dass sich die Paare dafür entscheiden, diese Therapie für sich als sinnvoll zu erachten. Diese Entscheidung ist entweder der Erstvorstellung, zumindest aber dem Beginn der IVF-Behandlung vorgelagert, sie beruht auf einer Art shared decision-making. Die Ärztinnen und Ärzte müssen hier auch deswegen keine grundlegende Überzeugungsarbeit mehr leisten, weil die Paare mit dem Verbleib in der Klinik ihre – wenn auch nicht zwangsläufig vollständige – Anerkennung der ärztlichen Expertise zeigen, die auch Grundlage von therapietreuem Verhalten ist. Die anschließenden Therapieentscheidungen innerhalb des IVF-Zyklus werden primär von den Ärztinnen und
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Ärzten und unabhängig von den aktuellen Präferenzen der Paare getroffen und finden so in einem eher paternalistischen Rahmen statt. Stimulation Die Stimulation ist der Teil der Behandlung, der die stärkste medizinische Überwachung erfordert: Die Kontrolle der Hormonwerte wird von einer Überwachung der Eizellentwicklung per Ultraschall begleitet. Die ärztliche Aufgabe ist es hier, die richtige Balance zwischen Behandlungserfolg und gesundheitlicher Beeinträchtigung zu finden: Auf der einen Seite soll eine möglichst hohe Eizellanzahl erreicht werden, auf der anderen Seite das Wohlergehen der Patientinnen nicht durch Überstimulation riskiert werden. Auf Grundlage der vorliegenden Ausgangswerte und der üblichen Protokolle für die Stimulation wird mit einer bestimmten, vergleichsweise niedrigen Dosis angefangen, deren konkrete Wirkung dann erst bei der ersten Kontrolluntersuchung festgestellt werden kann. In einem festgesetzten Rahmen wird so in einem Anpassungsverfahren die bestmögliche Dosis ermittelt. Zu Beginn des IVF-Zyklus wird der Patientin ein Stimulationsbogen ausgehändigt, der detaillierte Terminfestlegungen und Handlungsanweisungen für die vier Abschnitte des Behandlungsverlaufs enthält. Während der Suppression am Beginn und der Lutealsubstitution zur Unterstützung der Gelbkörperphase bis zum Schwangerschaftstest erhält die Patientin zusammenfassende Anweisungen für die tägliche Einnahme der Hormonpräparate. Für die Lutealsubstitution werden dabei auch Tageszeiten festgelegt. Die Stimulationsphase ist am stärksten reguliert: Sowohl die Sprechstundentermine als auch die Anzahl der Ampullen oder Einheiten, die morgens und abends verabreicht werden müssen sind detailliert aufgeführt. Hier wird der Zeitpunkt dreifach beschreiben: als Zyklustag, Datum und Wochentag. Auch für die Follikelpunktion gibt es ein Merkblatt, das Terminvorgaben und Handlungsanweisungen für den Tag der Eizellpunktionen, aber auch die Tage davor und danach enthält. Von den Patientinnen wird erwartet, dass sie diesem relativ restriktiven Programm folgen. Die Ärztinnen und Ärzte verstärken in dieser Phase die Bemühungen, Compliance herzustellen: Die Behandlung des Kinderwunsches ist hier auf die Befolgung der medizinischen Therapiepläne gerichtet, was dadurch verstärkt wird, dass die Paare in diese Arbeit involviert werden und einen Großteil der Medikamente zu Hause einnehmen. Sie werden so in das medizinische Programm integriert. In der Hormontherapie ist es dabei entscheidend, dass die ärztlichen Anweisungen sehr genau eingehalten werden. In den Aussagen von zwei Ärztinnen wird deutlich, dass es wenig Interpretationsspielraum für die Patientinnen gibt. Dr. Otto unterstreicht das Kompetenzgefälle zwischen Ärztinnen und Ärzten
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sowie Paaren an dieser Stelle sprachlich damit, dass sie den Aspekt der Folgeleistung absichtlich langsam und betont akzentuiert: Dass sie das eben so machen, wie wir es ihnen sagen. Aber das ist, denk’ ich schon, ein ganz wichtiger Beitrag. Dass sie sich da wirklich strikt an diesen vorgegebenen Zeitplan halten (A4R: 101).
Derselbe Punkt wird von Dr. Neumann hervorgehoben: Die kriegen genaue Anordnungen, und dann müssen sie die genau befolgen. Und wenn die das nicht machen, dann geht es halt zum Teil um Minuten, gerade bei den Eisprung auslösen, und dann ist das natürlich ein Problem (A2R: 114).
Im Vordergrund der ärztlichen Arbeit steht, die Paare von der Ernsthaftigkeit möglicher Nebenwirkungen der Behandlung so zu überzeugen, dass sie die Therapieanweisungen befolgen. Neben den operativen Eingriffen – etwa Laparoskopie und Follikelentnahme – ist die Stimulation aus ärztlicher Sicht der kritischste und am ehesten mit Risiken und Nebenwirkungen verbundene Teil der Behandlung. Die Herstellung von Compliance der Paare, insbesondere der Patientinnen, die ja mit den Hormonen behandelt werden, ist zum einen zentral für den medizinischen Erfolg der Behandlung und steht auf der anderen Seite vor besonderen strukturellen Problemen, da die Injektion der Hormone in der Mehrzahl der Fälle bei den Paaren zu Hause und somit außerhalb des unmittelbaren ärztlichen Einflussbereichs erfolgt. Während die Arzt-Patienten-Beziehung vor allem bei der Aufklärung und Therapieentscheidung im Erstberatungsgespräch als partizipativ erscheint und den Paaren Gestaltungsmöglichkeiten bis hin zum Ausstieg aus der Therapie gegeben werden, erteilen die Ärztinnen und Ärzte für die Hormoneinnahme eher paternalistische Handlungsanweisungen. Den Risiken und Nebenwirkungen der Hormonbehandlung begegnen die Ärztinnen und Ärzte in ihrer medizinischen Arbeit mit einer aus ihrer Sicht besonders gründlichen Diagnostik und vorsichtiger Hormongabe mit regelmäßigen Kontrollen. Fehlerhafte Ausführung oder allgemeine Gefahren werden in dieser ärztlichen Arbeit nicht weiter thematisiert, sondern nur dem Verhalten der Patientinnen zugeschrieben. Dies wird deutlich in der Beschreibung von Dr. Richter: Fehlerquellen sind meistens tatsächlich, dass die Medikamente falsch appliziert werden (A5R: 113).
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Die Patientinnen werden hier als potenzielle Verursacherinnen von Fehlern gesehen, die den Behandlungsverlauf nicht nur stören, sondern auch zu einem frühzeitigen Ende bringen können, wie beispielsweise eine Ärztin ausführt: [W]enn [die Patientinnen] einen Fehler machen, dann kann es relativ schnell zu einem Abbruch kommen, aus medizinischer Sicht, weil die Eier springen und wir darauf nicht vorbereitet waren (A2R: 114).
Ähnliches beschreibt ihre Kollegin für den Fall der Applikation eisprungauslösender Hormone: [D]iese auslösende Spritze müssen sie zwei Tage vorher abends sich geben. Wenn sie das nicht machen, ist die ganze Behandlung umsonst (A4R: 67).
So findet zum einen eine Verantwortungsverschiebung für das Gelingen des Therapieplans hin zu den Paaren, insbesondere den Patientinnen, statt. Zum anderen stellt es sich in der konkreten Behandlungspraxis so dar, als ob Risiken oder Nebenwirkungen weniger in der Hormontherapie selbst als vielmehr in deren falscher Anwendung durch die Paare begründet liegen. Vor diesem Hintergrund ist die Herstellung von Compliance bei der Einnahme von Hormonen ein zentrales Ziel ärztlicher Arbeit. Die Bemühungen zur Herstellung dieser Compliance bestehen darin, die Paare entsprechend gut zu informieren und ihnen klare Einnahmeanweisungen zu geben, die diese dann auch befolgen. Die Patientinnen müssen, wie Dr. Richter es beispielsweise formuliert, „zuverlässig das tun, was von ihnen verlangt wird, das ist zum Beispiel ganz wichtig“ (A5R: 11). Die Ärztinnen und Ärzte verfolgen unterschiedliche Strategien, um eine möglichst große Compliance der Paare und Patientinnen zu erreichen. Der Erfolg der Vermittlung von Information steht aus Sicht der Ärztinnen und Ärzte im unmittelbaren Zusammenhang mit der Therapietreue, wie Dr. Otto deutlich macht: Dass die Patienten gut informiert sind. Also ich möchte, dass die wissen, warum wir was machen und wie es dann weitergeht. Das ist mir wichtig, damit sie es verstehen. Weil ich denke, dann können sie die Behandlung selber schon auch insoweit mitbeeinflussen, dass sie die Behandlung richtig machen. Sie müssen ja viel selbständig machen (A4R: 63).
Auch in der Aussage von Dr. Thomas wird diese Verbindung von Verstehen und Compliance deutlich:
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Der Beitrag ist, dass, dass sie den Intellekt haben, das, was wir machen, zu verstehen, und auch entsprechend richtig durchzuführen, was alles andere als anspruchslos ist. Das ist auch nicht einfach. Sich selbst zu spritzen, das exakt terminiert zu machen, alle Regeln so einzuhalten. Das ist nicht einfach. Das ist der Hauptbeitrag der Patienten (A7R: 110).
Diese Compliancearbeit ist aus Sicht der Ärztinnen und Ärzte in der Regel erfolgreich; die Patientinnen befolgen den Plan der Hormontherapie. Eine fehlerhafte Einnahme wird von den Ärztinnen und Ärzten eher als Ausnahme beschreiben. Punktion Die Punktion ist der invasivste Schritt in der Behandlung und wird meistens unter einer kurzen Vollnarkose vorgenommen. Im Operationssaal werden vaginal mit einer Nadel die Eizellen abgesaugt. Die Punktionsnadel ist an einem Ultraschallkopf befestigt, über den Ultraschallbildschirm sieht der Arzt oder die Ärztin die Eizellen und navigiert seine oder ihre Bewegungen. Je nach Erreichbarkeit der Eizellen dauert der Eingriff zwischen fünf und fünfzehn Minuten. Die Punktion wird an einem kleinen Operationstisch im großen allgemeinen Operationssaal der Klinik vorgenommen. Die Punktion wird in der Regel ambulant durchgeführt, die Patientinnen bleiben nur einige Stunden zur Beobachtung in der Klinik und werden anschließend nach Hause entlassen. Aus Sicht der Ärztinnen und Ärzte ist die Punktion der anspruchsvollste Teil der Behandlung, ihr Erfolg setzt erfahrene Operateurinnen und Operateure voraus. Nur bestimmte Ärztinnen und Ärzte übernehmen diese Operationen, in komplizierten Fällen ausschließlich der Chefarzt. Die Punktion setzt dabei neben dem theoretischen medizinischen Wissen handwerkliche Erfahrung und Geschick voraus. Der Oberarzt berichtete während meines Forschungsaufenthalts davon, dass neue Punktionsnadeln eingetroffen seien: Die Verwendung dieser Nadeln müsse vor dem Einsatz im OP erst geübt werden. Dies geschehe zunächst mit Orangen; anschließend würden die handwerklichen Fähigkeiten an Schweineovarien geschult. Obwohl die Punktion der invasivste Teil der IVF-Behandlung ist, birgt sie aus ärztlicher Sicht im Vergleich zu anderen Operationen wenige Risiken. Die handwerkliche Erfahrung ist vor allem erforderlich, um möglichst viele der herangewachsenen Eizellen punktieren zu können und so eine höhere Erfolgsquote zu erreichen. Mit ihr sind aus ärztlicher Sicht bloß die üblichen Risiken und Nebenwirkungen einer kurzen Vollnarkose verbunden – zum Beispiel Übelkeit, Erbrechen, Kreislaufprobleme, Kopfschmerzen, in seltenen Fällen sogar Atemstillstand sowie Verletzungen von Blutgefäßen, Darmschlingen oder den Harn-
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leitern. Die ärztliche Aufgabe ist hier, handwerklich möglichst geschickt vorzugehen. Der ärztliche Vergleichshorizont ist dabei – gestützt durch die fachärztliche Ausbildung – vor allem durch die Einbindung in die gynäkologische Praxis, die die Ärztinnen und Ärzte durch Nacht- und Wochenenddiensten in der allgemeinen Gynäkologie (mit Geburten, Kaiserschnitten und anderen Operationen) haben, geprägt. Dies zeigt sich schon in der allgemeinen Beurteilung der Vollnarkose, deren Risiko als gering eingeschätzt wird. Während der operativen Follikelentnahme und auch den operativen Diagnoseverfahren lässt sich die Beziehung zwischen Ärztinnen und Ärzten und Patientinnen im Sinne des Freidson’schen Aktiv-Passiv-Modells beschreiben: Der Arzt oder die Ärztin handeln und treffen Entscheidungen, während die Patientin in Vollnarkose ist. Diesem Muster geht zwar eine durchaus informierte Einwilligung der Patientinnen voraus, aber die Patientinnen wissen nicht, wie mit ihnen während der Narkose umgegangen wird. So bestärkt die Operation die Hierarchie der Arzt-Patienten-Beziehung. Die Patientinnen geben sich in die Hände der Ärztinnen und Ärzte und zeigen Vertrauen in deren Können, indem sie die Ängste vor Risiken und Komplikationen überwinden. Die Patientinnen sind, schon bevor sie in den Operationssaal geschoben werden, in Narkose. Die Arbeitsabläufe und Entscheidungen sind von ihnen als Personen unabhängig. Die Patientin liegt auf einem gynäkologischen Operationsstuhl, der für die Ärztinnen und Ärzte auf eine gute Arbeitshöhe gebracht wird. Während bei den Ultraschalluntersuchungen der Ultraschallkopf behutsam in die Vagina eingeführt wurde und auf Wunsch der Patientinnen auch kleinere Ultraschallköpfe verwendet werden können, war dies während der beobachteten Operationen nicht der Fall. Der Blick und die Aufmerksamkeit des operierenden Arztes richten sich primär auf den Ultraschallbildschirm, dieser zeigt ihm an, in welche Richtung er den Ultraschallkopf bewegen muss. Nicht die Eigenheiten des behandelten Körpers leiten primär die Bewegungen, sondern das übertragende und vom Körper distanzierte Ultraschallbild. Die Patientin ist in diesem Moment tatsächlich vor 2 allem Objekt medizinischer Eingriffe.
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Zwei der interviewten Patientinnen haben in zurückliegenden Behandlungen Follikelentnahmen ohne Vollnarkose durchführen lassen. In den Interviews konzentrierte sich die Schilderung dieses Erlebnisses aber auf ihren eigenen Umgang mit den Schmerzen. Diese Schilderungen lassen sich auch aufgrund methodischer Erwägungen nicht mit meiner teilnehmenden Beobachtung der Punktionen vergleichen.
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Fertilisation im Labor Nach der Punktion ist der Hauptteil der ärztlichen Arbeit getan, die nun folgende Befruchtung geschieht im Labor – außerhalb des engeren ärztlichen Einflussbereichs. Bei einer einfachen In-vitro-Befruchtung werden Spermien und Eizellen zusammen in eine Petrischale gegeben. Bei der ICSI hingegen werden ausgewählte Spermien einzeln in die Eizellen injiziert. Diese Arbeitsteilung zwischen der ärztlichen Behandlung und der Arbeit im Labor ist personell, örtlich und zeitlich markiert: Die im Operationssaal von den Ärztinnen und Ärzten punktierten Eizellen werden ins Labor gebracht und dort von den Laborantinnen mit aufbereitetem Sperma zusammengeführt. Das Labor ist eine eigene organisatorische Abteilung und räumlich von den anderen Behandlungs- und Warteräumen getrennt. Die Ärztinnen und Ärzte sowie die Paare sind bei der eigentlichen IVF außen vor und können keinen Einfluss auf die Geschehnisse nehmen. Mit dieser Trennung der Zuständigkeitsbereiche wird die eigentliche IVF zu einer Leerstelle in der Arzt-Patienten-Interaktion. Mit den Laborantinnen haben die Paare nur beiläufigen Kontakt, wenn diese die Embryonen in den Transferraum bringen. Ihre Ansprechpersonen bleiben die Ärztinnen und Ärzte, für die wiederum die Geschehnisse im Labor außerhalb ihres Zuständigkeitsbereichs liegen. An den Aussagen von Dr. Neumann wird deutlich, dass das Labor zu einem ähnlich unkontrollierbaren Ort wie die Natur wird (s.o. Kap. 5.3): Wo sie [die Paare, cu] nachfragen und wo wir zum Teil wenig auch erklären können, beziehungsweise wenig richtig befriedigende Antworten geben können, ist gerade bei allen Dingen, was im Labor passiert. Warum es zum Beispiel nicht zu einer Befruchtung kam; warum beim Auftauen die Vorkerne […] sich nicht weiter entwickelt haben. Also solche Sachen, die dann gerade beim IVF und ICSI außerhalb des Körpers passieren. Das ist schwierig, da zu erklären beziehungsweise, da gibt es keine richtig unbedingt klaren Antworten. Ja, und da fragen sie nach, und da gibt es auch keine eindeutigen Erklärungen (A2R: 92).
Die für die Paare kritischen Fragen der IVF-Behandlung werden hier als notwendigerweise nicht von ärztlicher Seite beantwortbar dargestellt und somit auch ein Teil der Verantwortung für das Gelingen der Behandlung in einen unerklärbaren Bereich verschoben. Am Tag nach der Punktion wird den Paaren die Anzahl der befruchteten Eizellen telefonisch mitgeteilt. Es besteht keine medizinische Notwendigkeit, dass die Paare hierfür in die Klinik kommen. Diese Distanzierung auf der Ebene der administrativen Abläufe wird in der untersuchten Klinik dadurch verstärkt, dass diese Telefonate zu den Aufgaben der Sekretärin der Klinik gehören. Diese De-
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legation einer ärztlichen Aufgabe wurde während meiner Beobachtung als Organisationserfordernis und zeitliche Entlastung der Ärztinnen und Ärzte dargestellt. Von einigen Paaren hingegen wurde dies als Verstoß gegen die besondere Vertraulichkeit der Arzt-Patientenbeziehung empfunden. Die Delegation der telefonischen Mitteilung der Ärztinnen und Ärzte lässt sich als Beispiel einer Distanzierung der Ärztinnen und Ärzte interpretieren, da dies ein Moment ist, in dem sich der Kinderwunsch einerseits als medizinisch hinterfragbar und andererseits als mit starken Emotionen behaftet darstellt. Die Ärztinnen und Ärzte verstärken ihre professionelle Nichtzuständigkeit für die Prozesse im Labor und entziehen sich einer Situationen, in der sie unter Umständen von den Paaren nach Erklärungen für ein nichterwartetes Ergebnis gefragt würden. Zugleich umgehen die Ärztinnen und Ärzte eine Situation, in der sie sich mit den Emotionen der Paare auseinandersetzen müssten. Dass auch die Medizinerinnen und Mediziner diesen Schritt als belastend für die Paare sehen, wird in der bereits oben zitierten Beschreibung von Dr. Thomas deutlich: Man hat keine Eizelle, keine Eizelle ist befruchtet, dann fallen die Patienten fast in Depressionen und extreme Frustration, das ist für die wie eine Todesnachricht, mehr oder weniger. […] Das kann schon dramatisch sein (A7R: 86).
Die Relevanz der Bemühungen seitens der Ärztinnen und Ärzte, emotionale Aspekte der Kinderwunschbehandlung abzutrennen und den Kinderwunsch in ein für die für die Medizin behandelbares Problems zu übersetzen, zeigt sich hier einmal mehr. Embryonentransfer Nach erfolgter Befruchtung und Kultivierung werden bis zu zwei Embryonen von den Ärztinnen und Ärzten während des Embryonentransfers in die Gebärmutter der Patientinnen eingesetzt. Der Embryonentransfer gilt aus ärztlicher Sicht als wenig anspruchsvoll und als eine sehr einfache Prozedur: Ein oder zwei befruchtete Eizellen werden von der Laborantin in einer Kanüle vorbereitet. Das Einsetzen in die Gebärmutter übernimmt ein Arzt oder eine Ärztin. Während die Paare die Anzahl der eingesetzten Embryonen vorab beeinflussen können (ein oder zwei), sind sie während des – sehr kurzen – Einsetzens auf eine weitgehend passive Rolle verwiesen. Die Patientinnen liegen auf einem gynäkologischen Stuhl, und mittels eines dünnen Schlauches werden die Embryonen im Vorkernstadium vaginal in die Gebärmutter gesetzt. Die Partner sitzen, wenn sie anwesend sind, auf einem Stuhl neben der Patientin. Der Embryonentransfer findet in einem separaten Raum statt, einem kleinen Behandlungszimmer, das direkt an
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das reproduktionsmedizinische Labor angeschlossen ist, in dem die IVF, die Entwicklung der Vorkerne und die Kryokonservierung stattfinden. Dieser Bereich liegt auf einer anderen Etage und ist so räumlich getrennt von den Beratungs- und Untersuchungszimmern. Ärztinnen und Ärzte sowie die Paare sind nur zum Embryonentransfer in diesen Räumlichkeiten. Die passive Position der Patientinnen verleiht dem Transfer einen technisch-geschäftigen Charakter. Dieser wird dadurch verstärkt, dass der Transfer relativ zügig und routiniert zwischen Ärztinnen und Ärzten und Laborantinnen abläuft. Ansätze eines interpretativen Rahmens sind dennoch erkennbar. So stellen die Ärztinnen und Ärzte, kurz bevor die Laborantin den Embryo hereinbringt, eine CD mit klassischer Musik an. In dem Behandlungszimmer steht hierfür eine kleine Stereoanlage bereit. Die Intention der Ärztinnen und Ärzte ist hierbei, auf vermutete Wünsche der Paare einzugehen. Dr. Richter beschreibt explizit, sie wisse nicht, welche Bedeutung welche Behandlungsschritte für die Paare habe: Sicherlich ist das [die Punktion, cu] das, was am Aufregendsten ist. Also von der Angst her, dass man körperlich versehrt wird, ist sicherlich schon das Schlimmste. Das würde mich aber auch interessieren, wir wollten das mal […] untersuchen, was aus Patientensicht eben das Bedeutende ist. Weil dem, finde ich, könnten wir ein bisschen mehr Raum geben. Weil wir machen beim Embryotransfer ein bisschen Musik. Wir versuchen die Atmosphäre schön zu gestalten, weil wir glauben, dass dieser medizinisch piepsleichte Schritt für die Patienten ein so großes Gewicht hat. Und dass wir nicht so „Na ja, komm’, stecken wir die Dinger so rein“ (A5R: 85).
Als besondere Aufmerksamkeit und kurze Unterbrechung der medizinischen Arbeit an der Verlaufskurve wird die Untermalung mit Musik von den Patientinnen geschätzt. Zugleich bleibt sie aber eine interpretative Geste: Sie ist Teil einer Klinikpolitik und wird für alle Paare gleich durchgeführt. Sie entspringt nicht einer Auseinandersetzung mit den Wünschen und Werten des jeweiligen Paares, sondern einer verallgemeinernden Vermutung über die geteilten und diffusen Wünsche von Kinderwunschpaaren und richtet sich auf die Patientinnen und Patienten als Gruppe. So ist den Paaren wenig Raum gegeben, um das Abstellen der Musik zu bitten. Zum einen werden sie auf die Wahlmöglichkeit nicht hingewiesen oder nach ihren Wünschen befragt, zum anderen ist es fester Bestandteil der ärztlichen Behandlungsroutine. Zugleich wird mit der Musik die Besonderheit des Moments unterstrichen und eine Gleichsetzung mit dem natürlichen Zeugungsakt verstärkt, von dem stereotype romantisierte Vorstellungen zitiert werden, was sich darüber hinaus in der – von ärztlicher Seite auch erwarteten – Anwesenheit der Männer beim Embryonentransfer zeigt. Mit dieser Hervorhe-
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bung werden nicht nur vermutete Gefühle und Bedeutungszuschreibungen der Paare aufgegriffen, sondern auch ein medizinischer Höhepunkt inszeniert: Ein technisch „piepsleichter“ Schritt wird symbolisch aufgeladen und seine Bedeutung gegenüber anderen Abschnitten des Behandlungsverlaufs herausgehoben. Gleichzeitig ist die zentrale handelnde Figur der Arzt oder die Ärztin mit der Pipette. Schwangerschaftstest Mit dem Embryonentransfer findet die medizinische Behandlung ihren ersten Abschluss. Bis zum Schwangerschaftstest vierzehn Tage später besteht in der Regel kein weiterer medizinischer Handlungsbedarf: Die Weiterentwicklung und Einnistung innerhalb des Körpers wird zwar noch mit Hormongabe unterstützt, diese aber nicht ärztlich kontrolliert. Für die Ärztinnen und Ärzte ist der Hauptteil ihrer Arbeit getan, die hormonelle Lutealsubstitution erfolgt auf Seiten der Patientinnen durch Medikamenteneinnahme zu Hause, Kontrolluntersuchungen sind nicht vorgesehen. Waren die Patientinnen zuvor in ein enges Netz medizinischer Anforderungen und Aktivitäten eingebunden, folgt nun bis zum Schwangerschaftstest eine Phase relativer Inaktivität. Während bis zum Transfer medizinische Antworten auf und Lösungswege für eventuelle Probleme und somit auch Unsicherheiten gefunden werden, lässt sich die Behandlung im Zeitraum zwischen Transfer und Schwangerschaftstest kaum beeinflussen. Gleichzeitig entfällt für die Patientinnen und Paare weitgehend die Möglichkeit, von den Ärztinnen und Ärzten Einschätzungen zu erhalten. Der Behandlungsverlauf schreitet also weiterhin in Richtung eines vorläufigen Ergebnisses fort und ist gleichzeitig von einer Abwesenheit des medizinischen Interaktionskontextes gekennzeichnet. In der Zeit zwischen dem Embryonentransfer und dem Schwangerschaftstest treffen sich Ärztinnen und Ärzte sowie Paare nur in Ausnahmefällen. Die ärztliche Arbeit an der Behandlungsverlaufskurve ruht bis zum Schwangerschaftstest. Wie auch bei der IVF, die im Labor durchgeführt wird, ist diese Wartezeit durch einen Ort markiert: Sie findet zu Hause statt, also auch örtlich außerhalb des medizinischen Zuständigkeitsbereiches. Die Ärztinnen und Ärzte sehen sich für diese Phase der Behandlung – die nur in etwa einem Viertel der Fälle zu einer Schwangerschaft führen wird – nicht zuständig. In ihren Schilderungen steht vielmehr das Befinden der Paare im Vordergrund, wie im Interview mit Dr. Richter beispielhaft deutlich wird: Durch das Agieren habe ich manchmal das Gefühl, [die Belastungen] stecken sie besser weg als hinterher in den zwei Wochen Wartezeit, wo [sie] sehr wenig Symptome haben
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meistens. […] Sie können was tun. Sie tun was und haben dann die Hoffnung, dass es zu was führt. Die Übelkeit bringt ja vielleicht was auch (A5R: 127, 129).
Auch Dr. Otto setzt den Fokus auf die notwendige Passivität der Paare in dieser Zeit: Für die kommt dann, denk’ ich, die ganz schwierige Zeit, die 14 Tage danach bis zum Schwangerschaftstest, wo sie ja nichts machen eigentlich. Ich denke, die fallen da richtig in ein Loch. Vorher machen die da jeden Tag irgendwas und da müssen sie warten (A4R: 89).
Die Psychologisierung dieses Problems auf Seiten der Ärztinnen und Ärzte unterstreicht die Grenzen ihres Zuständigkeitsbereichs. Ähnlich wie für das Leiden am unerfüllten Kinderwunsch (s.o. Kap. 5.3) wird die emotionale Belastung der Paare ausgeklammert. Dies wird auch deutlich, wenn Dr. Thomas den Fokus auf die Schwierigkeiten des Copings der Patientinnen in dieser Phase legt: Gut, wenn sie in der Narkose die Eizelle entnommen bekommen, das ist dann noch mal ein bisschen eine Hürde. Und dann kommt diese schwierige, sehr schwierige psychologische Phase von zwölf Tagen. Alles ist erfolgt, die Therapie ist erfolgt, dann fallen die in ein Loch. Wie im Prinzip nach einer Prüfung, man hat es geschafft und man wartet auf das Prüfungsergebnis, nämlich auf den Schwangerschaftstest. Der mit einer nicht unerheblichen Wahrscheinlichkeit negativ ist. Also die Prüfung durchgefallen. Und das ist für die Patientinnen eine schwierige Phase. Obwohl nichts passiert. Das heißt, Aktionismus hilft, nichts tun ist für sie fast unerträglich (A7R: 100).
Erneut zeigt sich hier bei Dr. Thomas eine starke geschlechtsspezifische Zuschreibung. Hier wird zum einen eine Psychologisierung dieser Behandlungsphase deutlich und das Ende der medizinischen Behandlung markiert, während die Patientinnen zu Hause noch ärztlich verordnete Medikamente einnehmen. Zum anderen wird die gesamte Behandlung in dem Prüfungsvergleich als etwas dargestellt, an dem sich nicht etwa der Erfolg der Medizin bemisst, sondern der der Patientin. In diesem Vergleich verschränken sich verdichtet eine Zuschreibung der Eigenverantwortung der Patientinnen und eine Erfolgslogik, die das Gelingen als von den Anstrengungen der einzelnen abhängig darstellt. Den Abschluss des IVF-Behandlungszyklus bildet ein Schwangerschaftsfrühtest. Hierfür kommen die Patientinnen noch einmal in die Praxis, um sich Blut abnehmen zu lassen. Anschließend warten sie das Testergebnis ab, das
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ihnen meist am selben Nachmittag per Telefon mitgeteilt wird. Auch dieses Telefonat ist an die Sekretärin delegiert, was einige Patientinnen stark kritisieren. 6.2.2 Der Blick der Paare auf die Behandlungsschritte Die Unterteilung des IVF-Behandlungszyklus in einzelne Schritte führt bei den Paaren zur Verschiebung des Fokus vom Kinderwunsch zu medizinischen Einzelerfolgen. Die Paare übernehmen hier einen medizinischen Blick, der auch von der Wahrnehmung neuer Unsicherheitsmomente gekennzeichnet ist. Die einzelnen Behandlungsschritte – Stimulation, Punktion, Embryonentransfer, Schwangerschaftstest – werden auch für die Paare zu wichtigen Prüfsteinen, bei deren Beurteilung medizinische Kriterien angelegt werden. Dies wird beispielhaft an der Schilderung bisheriger Behandlungsversuche in einer anderen Klinik im Erstberatungsgespräch von Frau Pfeiffer deutlich. Der unerfüllte Kinderwunsch wird in ihrer Beschreibung nicht als lebensweltliches Problem dargestellt, sondern auf ein in verschiedene Aspekte differenzierbares medizinisches Problem reduziert: Also mein erstes Problem ist, dass diese Follikel eben nicht die entsprechende Größe kriegen, und das zweite Problem, dass sich meine Schleimhaut nicht gut aufbaut (EG13R: 36).
Bei der Übernahme medizinischer Kriterien gehen die Patientinnen jedoch selektiv vor, und längst nicht alle medizinischen Informationen sind wichtig für ihre Deutung des Behandlungsverlaufs. Für viele Patientinnen gibt während der Stimulationsphase die Ultraschallkontrolluntersuchung wichtige Hinweise für Fortschritt und Erfolg der Behandlung. Nur in Ausnahmefällen interessieren sich die Patientinnen für die genauen Blutwerte oder die zu spritzenden Einheiten. In den Beschreibungen der Stimulation sind in den Interviews die Dicke der Gebärmutterschleimhaut und die Anzahl der Follikel die wichtigsten medizinischen Bezugsgrößen, wie beispielhaft die Aussage von Frau Adam zeigt: Dieses Mal hat einfach alles also relativ gut geklappt. Wenn man doch merkt, die Gebärmutterschleimhaut ist doch gut aufgebaut. Es wurde immer wieder geschaut, wie viele Follikel bilden sich. Bei mir waren es acht, neun, die sich gebildet haben. […] Ich weiß schon so, wenn die [Gebärmutterschleimhaut, cu] sechzehn Millimeter ist, das ist schon mal ganz gut (P1R: 118–128).
In ihrer Beschreibung des bisherigen aktuellen IVF-Behandlungsverlaufs wird deutlich, dass sie eine schrittweise Beurteilung übernimmt, zugleich zeigt sich
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eine Relativierung der bisherigen Ergebnisse und ihrer Aussagekraft für den weiteren Behandlungsverlauf. Über die regelmäßigen medizinischen Kontrollen und ihre visuelle Vermittlung durch den Ultraschall wird der medizinische Fortschritt der Hormonstimulation also nicht nur dokumentiert, sondern auch konkret begreifbar. Der Vergleich mit Norm- und Zielwerten ist für die Patientinnen dabei eine Möglichkeit, die Ergebnisse dieser Untersuchungen selbständig zu interpretieren, ohne auf den Arzt oder die Ärztin angewiesen zu sein. Mit der Anzahl der Follikel und der Dicke der Gebärmutterschleimhaut werden so medizinische Kriterien der Beurteilung des Behandlungsverlaufs übernommen. Gleichzeitig zeigt sich im obigen Beispiel von Frau Adam auch eine typische retrospektive Relativierung eines guten Ergebnisses als Zwischenerfolg. Insbesondere bei Patientinnen, die schon mehrere IVF-Zyklen hatten, weitet sich diese Übernahme eines medizinischen Blicks auch auf die Beurteilung der Entwicklung von Eizellen aus. Wie in der Beschreibung von Frau Dorsch deutlich wird, verschränken sich hier die ärztlichen Informationen mit der Expertise der Patientinnen: Sie messen ja, wie groß die Eizellen sind [lacht]. Ja, ob die größer sind, ich meine, wenn man ein bisschen Erfahrung hat, weiß man schon, welche Größe ja ungefähr da vorhanden ist (P4R: 121).
Mit dieser Erfahrung ist den Patientinnen die Möglichkeit an die Hand gegeben, die Messwerte selbständig zu vergleichen und den Therapieerfolg für sich abzuschätzen. So beschreibt Frau Dorsch weiter: Ja, klar interessiert das einen, weil man ja wissen will, ob die Reifung der Eizellen zeitgemäß ist oder ob es sich überhaupt entwickelt. Und ob, wie viele Eizellen, ob es genügend sind. Und, und, und … Weil ich glaube, es gibt ja auch Frauen, die nur eine, zwei Eizellen sich entwickeln. In so einer Behandlung. Also und insofern finde ich schon wichtig, das zu wissen und zu sehen (P4R: 129).
Das Kriterium für die Beurteilung der Eizellanzahl ist hier zum einen auf den gerade aktuellen IVF-Behandlungszyklus und die Frage, ob dieser weitergeführt werden kann, bezogen. Zum anderen werden für die Beurteilung nicht statistische Normwerte angeführt, sondern der Vergleich mit anderen einzelnen Patientinnen. Wie für Frau Adam ist für Frau Dorsch die Angabe der Eizellgröße ein Bezugspunkt; eine stärkere Rolle als bei Frau Adam bekommt jedoch die Ultraschalltechnik. Frau Dorsch beschreibt sich selbst als die Person, die die Eizellentwicklung so beobachten kann.
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Mit der Überprüfung der Hormonwerte und Ultraschallergebnisse erscheint die Hormonstimulation so auch für die Patientinnen als ein bis zu einem gewissen Grad kontrollierbarer Prozess. Ein Fortschritt wird dokumentiert oder die Medikamentation angepasst. Der Körper ist hierbei ein Objekt, das vermessen wird und vermessen werden kann. Dass dies von den Patientinnen nicht als Entfremdung empfunden werden muss, zeigt beispielhaft ein Ausschnitt aus dem Interview mit Frau Jansen: Für sie ist der Ultraschall eine Möglichkeit, eine Verbindung zwischen sich selbst und der medizinischen Therapien herzustellen: Das war auch beim ersten Versuch eigentlich ganz schön, dass man das auch beobachten konnte, wie das dann zu Stande kommt. Es ist ja eh unheimlich abstrakt. Da wird einem was entnommen, das wird dann in eine Schüssel geschmissen und einmal durchgeschüttelt, und dann soll da was draus entstehen. Das ist so eine abstrakte Vorstellung. Finde ich. Und dann tut es einem gut, wenn man sieht; „Ah, da kann ich was sehen. Das gehört zu mir“. Das ist noch ein Stückchen Persönliches, was man dann hat. Das ist aber auch das einzige, was man hat, weil alles andere kriegt man ja nicht mit. Man kann dann nur hoffen, dass da wirklich was drin ist, wenn man es dann eingepflanzt bekommt. Sehen tut man es nicht. Und das ist sehr abstrakt eigentlich. Und das Bewusstsein, dass da jetzt was ist, finde ich unheimlich schwierig (P9R: 56).
Der Blick auf sich selbst über den Ultraschallmonitor bekommt hier eine zentrale Vermittlungsfunktion zwischen den medizinisch-technischen Abläufen, die außerhalb des Körpers stattfinden, und Frau Jansen als Person. Das Sehen bezeugt die Realität der Behandlungsschritte, bevor an seine Stelle das Vertrauen in Labor und Medizintechnik treten muss. Dabei wird in der Schilderung von Frau Jansen deutlich, dass es ihr nicht nur um die Informationen oder die Kontrolle der Medizin geht, sondern explizit um die Integration ihrer Person in den medizinischen Behandlungsverlauf. Diese Gegenüberstellung von „abstrakten“ Abschnitten des Behandlungsverlaufs und denen, zu denen sie eine Verbindung herstellen kann, findet sich noch einmal deutlich in ihren weiteren Ausführungen: Wenn ich mir vorstelle, ich bin schwanger und weiß es nicht, dann ist es wunderbar. So ist es ja bei den meisten. Aber wenn man bewusst weiß, jetzt ist da was, jetzt muss da was passieren [unverständlich]. Das ist ganz komisch. Also das ist eine sehr abstrakte Geschichte. Wie ein Baukasten. Einen Turm, den man baut. Man baut und weiß eigentlich nicht, was dabei herauskommt. […] Deshalb tut alles, was man direkt mitbekommt, was man persönlich auch sehen kann oder spüren kann, einfach erleichtert es schon (P9R: 56).
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Hier wird deutlich, dass sie nicht nur den Aspekt der Laborbefruchtung als befremdlich erlebt, sondern auch das Wissen über Zeitpunkt und Abläufe der Befruchtung, die – so ihre Zuschreibung – normalerweise im Verborgenen stattfinden. Die Gegenüberstellung findet hier jedoch vor allem zwischen den von ihr erlebbaren und den nicht unmittelbar erfassbaren Aspekten der Behandlung statt. Medizinische Techniken an sich sind dabei nicht auf der Seite der „abstrakten“ Verläufe und des ungewissen Ausgangs der Behandlung verortet, sondern stützen im Falle des Ultraschalls einen persönlichen Zugang und ergänzen das leibliche Spüren. Die Ultraschalltermine werden von einigen Frauen mit Spannung, aber auch mit Ängsten erwartet, da sie den Stand des Behandlungsfortschrittes anzeigen, Hinweise auf den vermutlichen Verlauf und dessen Erfolg geben und in Kombination mit den Blutwerten zu der Entscheidung über Fortsetzung, Anpassung oder Abbruch der Behandlung führen. Bei Frau Caglar überwiegt eine positive Einschätzung, da die Wirkung der Behandlung durch den Ultraschall sichtbar und auch fassbarer wird. Sie beschreibt die Ultraschalluntersuchung explizit als wünschenswerte Erfolgskontrolle: Deswegen will ich auch so bald mal wieder. [lacht]. […] Ich meine, du siehst dann ja deinen Erfolg, ob du das, was du spritzt, anschlägt oder nicht. Ich meine, wenn du dann nichts siehst, wenn du da nur deine Eierstöcke siehst, und du siehst keine Follikel, und du spritzt dir schon zehn Tage die vielen Hormone und dann tut sich nichts, dann weißt du, nützt nichts (P3R: 181–183).
In diesem Beispiel zeigt sich eine doppeldeutige Identifikation mit der medizinischen Behandlung. Frau Caglar stellt sich selbst als Verursacherin der Ergebnisse der Stimulation dar. Hier schwingt zum einen eine Übernahme und Ersetzung der ärztlichen Rolle mit und zum anderen die Deutung der körperlichen Auswirkungen der Behandlung als Leistung. Im Gegensatz zu den Ultraschallbildern, die unmittelbar in der Interaktion mit den Ärztinnen und Ärzten zur Verfügung stehen und zum Thema gemacht werden, liegen die Blutwerte erst nach der Laboruntersuchung später am Tag vor und bekommen nur eine vermittelte Relevanz, indem auf ihrer Grundlage den Patientinnen telefonisch mitgeteilt wird, mit welchen Einheiten sie weiter stimulieren sollen. In der Mehrzahl der Fälle beschränkt sich die Bedeutung der Ergebnisse für die Patientinnen darauf, ob und wie die Behandlung fortgeführt werden kann. Selbst für Frau Caglar, die sich stark auf einen medizinische Deutungs- und Erklärungsrahmen bezieht, haben die Ergebnisse sehr stark kontext-
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bezogene Bedeutsamkeit. Die absoluten Zahlen geben die weitere Richtung vor, in welchen Einheiten gemessen wird, ist dabei zweitrangig: Vor allem sagt der Blutwert, zum Beispiel der E2-Wert, ja aus, wieviel, ob überhaupt Zellen anreifen. Und man geht immer so von 150, ich weiß nicht, ob es Milligramm ist oder was auch immer, von einem Wert von 150 pro reife Eizelle. Das heißt, ich bin immer so auf 480 zirka gekommen (P3R: 191).
Die Kontextualisierung der Messeinheiten ist für Frau Caglar nicht notwendig, der immanente Vergleich reicht aus, damit die Messergebnisse für sie Bedeutung erlangen. An diesem Zitat zeigt sich erneut, dass sich für Frau Caglar die Aneignung und Übernahme eines medizinischen Blicks als Strategie darstellt, sich selbst als zentrale Akteurin zu setzten. Je mehr sich die Stimulation ihrem Endpunkt nähert, desto stärker ist sie auf Seiten der Patientinnen mit Unsicherheiten und Ängsten verbunden. Die möglichen Nebenwirkungen einer Überstimulation sind dabei nachrangig, vielmehr befürchten die Patientinnen hier, dass der IVF-Zyklus vorzeitig beendet werden muss. Das angeeignete medizinische Wissen wird zur Grundlage dieser Verunsicherung und wird zugleich am leiblichen Spüren überprüft. Frau Jansen beschreibt eine aus ihrer Sicht dramatische Wendung zum Ende einer Stimulationsphase: Also, was mich beim letzten Mal sehr geschockt hat, war eben diese Situation, dass mir morgens gesagt wurde, [unverständlich] die Hormone sind zu hoch. Da müssen wir schnell was machen. Das war etwas, was ich überhaupt nicht erwartet hatte. Da wusste ich auch, ehrlich gesagt, gar nicht richtig, was passiert denn da jetzt. Da hatte ich wirklich Bammel. Da habe ich gedacht, „Oh die ganze Behandlung ist im Sand, wenn alle Eizellen schon weg sind“. Und das kann man auch nicht so richtig sehen. Also man nimmt dann irgendwie an, dass alles gut gegangen ist, aber dadurch, dass dann so viel je dann Flüssigkeit abgeht, und das war, ich habe mich gefühlt wie sonst beim Eisprung. Da hatte ich wirklich Bammel. Das war überraschend und das fand ich auch beängstigend (P9R: 96).
Eine Vielzahl von Gefühlen und Interpretationsversuchen trifft hier aufeinander. So wird deutlich, dass die bisherigen Kontrolltermine Frau Jansen ein Gefühl von Sicherheit gegeben hatten, das in der beschriebenen Situation empfindlich gestört wurde. Dies geht mit einer Infragestellung der medizinischen Mittel und der medizinischen Diagnosemöglichkeiten einher: Während der Kontrollultraschall aus medizinischer Sicht seine Funktion erfüllt hat und auf eine unplanmäßige Entwicklung reagiert werden kann, empfindet Frau Jansen die Situation als
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bedrohlich und die Behandlung gefährdend. Gleichzeitig beschreibt sie auch den Ultraschall als Diagnosemethode als unzuverlässig und stellt der visualisierten Beobachtung eine haptische Empfindung gegenüber, die für sie eindeutiger zu deuten ist als das diffuse Ultraschallbild. Darüber hinaus zeigt dieser Interviewausschnitt, wie bedeutsam der Erfolg eines Behandlungszyklus an diesem Punkt geworden ist. Wenn es zu einem frühzeitigen Eisprung gekommen wäre, wäre dieser Zyklus abgebrochen worden. Bei Frau Caglars Äußerungen findet sich ein expliziter Zusammenhang zwischen der Angst vor einer Überstimulation und den bisher getragenen Kosten. Für Frau Caglar bedeutet die Möglichkeit eines frühzeitigen Eisprungs eine auch ohne konkrete Indikation präsente Bedrohung des Behandlungserfolgs, die sie vor allem vor den Ultraschalluntersuchungen empfindet: Werde ich nach zehn Tagen spritzen, schon 3000 Einheiten, gleich knapp 3000 DM, am Montag zum Beispiel meine Behandlung, abbrechen, weil ich […] vielleicht einen vorzeitigen Eisprung hatte. Was sehr unwahrscheinlich ist, aber man malt sich ja die Horrorszenarien aus (P3R: 199).
Die Erwägung zusätzlicher Kosten scheint aber die aufgeladene Bedeutung des möglichen Scheiterns nicht allein zu erklären. Die Verunsicherung von Frau Caglar ist grundsätzlicher; an einer späteren Stelle geht sie noch mal auf diese Ängste ein: Nein, heute morgen habe ich das noch gedacht. Ich so: „Oh Scheiße!“. Und wenn ich einen Eisprung hatte, jetzt will ich nicht mehr […] (P3R: 245).
Diese beiden Beispiele zeigen, wie grundsätzlich Unsicherheit den IVF-Behandlungsverlauf prägt: Bei Frau Jansen löste die Diagnose der Überstimulation vor dem Hintergrund des ursprünglichen Vertrauens in die Medizin und der bisherigen medizinischen Fortschritte eine starke Erschütterung des Glaubens in die Behandlung aus. Frau Caglars Einstellung gegenüber der medizinischen Behandlung hingegen ist von einem grundsätzlichen Misstrauen geprägt. Mit dem zunehmenden Fortschritt der Behandlung steigert sich auch ihre Anspannung und Verunsicherung, da mit jeder Kontrolle die Möglichkeit des Scheiterns verbunden ist. Beides beeinflusst den Fortgang des Behandlungszyklus nicht; eine Beendigung einer IVF-Behandlung durch die Patientinnen und Paare findet so gut wie nie statt. Bei der Punktion bestehen bei den Patientinnen Sorgen um die Narkose und die körperliche Unversehrtheit. Vor allem aber befürchten sie ein Ergebnis, das
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den gesamten Behandlungserfolg in Frage stellen könnte. Bei den Patientinnen überwiegen vor der Punktion die Befürchtungen, dass der Eisprung schon stattgefunden haben könnte, und Ängste um die körperliche Unversehrtheit. Diese Ängste betreffen sowohl den operativen Eingriff als auch die Narkose. Die Anzahl der Eizellen wird dann in Kombination mit der Befruchtungsrate relevant. Die Anzahl der punktierten Follikel und die Befruchtungsrate sind für sie dabei eine wichtige Bezugsgröße, auch hier übernehmen sie die medizinische Sicht auf die Behandlung. Hier lässt sich ebenfalls beispielhaft zeigen, dass diese für die Patientinnen keinen absoluten Wert hat, sondern auch relativiert werden kann. Frau Jansen beschreibt ihr Interesse am Erfolg der Punktion: Ich habe sofort gefragt: „Wie viele waren denn da?“ Und dann haben sie mir gesagt, das war ganz okay so. Die Frau, die noch bei mir im Zimmer lag, die hatte auch so um die gleiche Zahl. Da war ich dann echt beruhigt. Aber da hatte ich große Angst (P9R: 62).
Hier wird einerseits die Fixierung auf medizinische Messwerte und Kriterien und die Integration in die Fortschrittsdynamik des IVF-Verlaufs deutlich, andererseits kommt mit dem Behandlungsergebnis der Zimmernachbarin einer relativ zufälligen Vergleichsgröße entscheidende Bedeutung zu. Frau Ewald relativiert in dem mit ihr geführten Interview die ärztliche Bewertung der Punktion: Nach der Punktion wird ihr mitgeteilt, dass die Anzahl der punktierten Eizellen nicht den Erwartungen entsprach, dies sei „nicht die Ausbeute, die wir uns so vorstellen“ (P5R: 19). Die hier zum Ausdruck kommende ärztliche Fokussierung auf die geringe Zahl statt auf eine positive Bewertung versucht sie für sich nicht zu übernehmen, da dies aus ihrer Sicht mit unnötigem „Stress“ (ebd.) verbunden wäre. So erklärt sie: Die sind halt Reproduktionsmediziner, die wollen 20. Zehn sind eh leer, und sechs lassen sich befruchten (P5R: 39).
Andersherum kann es aber auch gerade die Bewertung der Ärztinnen und Ärzte sein, mit der für Patientinnen eine Beruhigung einhergeht. So war beispielsweise Frau Adam zunächst enttäuscht über die Befruchtungsrate in einem IVF-Zyklus, nachdem bis zur Punktion die Therapie positiv fortgeschritten war: Dann bekommt man auch einen Anruf nach der Punktion, wie viele wurden überhaupt befruchtet. Und im Endeffekt wurden, jetzt überlege ich gerade, acht wurden mir neun, also richtig gut dieses Mal, und fünf wurden befruchtet. War ich erstmal total geknickt. Ich habe gesagt, das sind zu wenig. Ich habe gehofft noch … Und darauf sagte die Frau Doktor
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Neumann: „Ja, da ist wirklich ein Punkt, wo wir Sie aufklären müssen“. Weil man sagt eigentlich, wenn die Hälfte der Entnahmen befruchtet ist, ist das schon sehr, sehr gut. Und somit lag ich mit fünf gar nicht so schlecht (P1R: 122).
Diese beiden Beispiele zeigen an der unterschiedlichen Bedeutung der ärztlichen Bewertung die permanente Spannung zwischen Hoffnung und Verunsicherung, die mit dem Behandlungsverlauf einhergeht. Diese Spannung wird erzeugt durch den fortschreitenden und schrittweisen Aufbau der Behandlung und dem wahrscheinlich erfolglosen Ausgang.
6.3 R EPRODUKTIVE G ESUNDHEIT DER P AARE
ALS
A UFGABE
Die organisatorische Struktur des IVF-Behandlungszyklus setzt die Mitarbeit der Patientinnen und Patienten voraus: ihnen werden spezifische Aufgaben wie zum Beispiel das Spritzen von Hormonen zu Hause und auch eine Mitverantwortung für das Gelingen der Behandlung übertragen. Die Anforderungen an die Paare gehen jedoch von medizinischer Seite über die engeren, medizinisch oder organisatorisch begründeten, Behandlungserfordernisse hinaus. Vor allem in Erstberatungsgesprächen zeigen die Ärztinnen und Ärzte ein breites Spektrum an Verhaltensweisen und Lebensstilgestaltungen auf, die es mit dem Ziel der Optimierung und des Erhalts der Fertilität auf den Prüfstand zu stellen gilt. So sollen die Paare sich den Umgang mit sich selbst und ihrem Körper unter einem medizinischen Blickwinkel bewusst machen und gegebenenfalls verändern. Meist sind diese Hinweise als Ratschläge gehalten. Auch wenn diese im weiteren Behandlungsverlauf in der Regel nicht weiter verfolgt oder kontrolliert werden, wird dem ärztlichen Verweis auf die nicht im engeren Sinne medizinischen Optimierungsmöglichkeiten vor allem dadurch Bedeutung verliehen, dass damit eine Erhöhung der Chancen auf die Erfüllung des Kinderwunsches verbunden wird. Die Möglichkeiten, die Fertilität zu erhalten bzw. zu verbessern, erscheinen so als von den Paaren beeinflussbar. Mit dieser Ausweitung der Möglichkeiten der Fertilitätsverbesserung verbindet sich auch eine Ausweitung möglicher Gefahren und Risiken für die Fertilität. Deren Bestimmung bleibt jedoch – da vor allem in Lebenswelt und Lebensstil verortet – häufig diffus und unsicher. In der reproduktionsmedizinischen Klinik richten sich die Anforderungen an Veränderungen von Lebensgewohnheiten eher punktuell auf die relativ klar begrenzten Bereiche von Rauchen und Normalgewichtigkeit. Darüber hinaus wird den Frauen als Präventionsmaßnahme für den Fall des Eintritts der Schwanger-
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schaft zur Einnahme von Folsäure geraten. In der naturheilkundlichen Klinik sind Lebenswelt und Lebensstil der Paare zentrale Gegenstände der Therapie. In der ganzheitlichen Behandlung fallen potenziell alle Aspekte der Lebensgestaltung und -geschichte der Paare in den (alternativ-)medizinischen Zuständigkeitsbereich, die Therapie richtet sich zugleich auf diese allgemeinen Aspekte und den spezifischen Kinderwunsch. In beiden Kliniken wird in den jeweiligen Bereichen die Aufrechterhaltung reproduktiver Gesundheit als Aufgabe der Paare verstanden. In der naturheilkundlichen Behandlung verschränkt sich dies mit der Vorstellung von Gesundheit als Gleichgewicht. Das Wohlergehen und Wohlempfinden der Paare ist hierbei wichtiger Referenzpunkt, der jedoch nicht für sich steht, sondern in seiner Bedeutung erst als Grundvoraussetzung für die reproduktive Gesundheit relevant wird. Einerseits kommt es hier – im naturheilkundlichen Verständnis sehr viel mehr als im schulmedizinischen – zu einer starken Ausweitung des medizinischen Zuständigkeitsbereichs. Andererseits werden zwar Lebensgewohnheiten als medizinische Probleme definiert; deren Lösung liegt aber der individuellen Verantwortung der Paare. Es werden sowohl die Patientinnen als auch die Patienten adressiert, in einigen Bereichen ist diese Adressierung geschlechtsspezifisch. Gesundheitsnormen in der reproduktionsmedizinischen Klinik In der reproduktionsmedizinischen Klinik werden den Paaren vor allem Maßnahmen angeraten, die im Allgemeinen mit einer „gesunden Lebensführung“ verbunden werden: Der Verzicht auf Nikotin, mäßiger Konsum anderer Genussmittel und Normalgewichtigkeit werden in einen direkten Zusammenhang mit der Fertilität gebracht. Als Teil der Anamnese werden Männer und Frauen nach ihrem Gewicht und ihrer Größe gefragt sowie danach, ob sie rauchen. Rauchen wird in der Folge dann vor allem bei den Männern problematisiert, Übergewicht bei den Frauen. Bei den Männern ist das Rauchen der entscheidende Punkt, an dem sie für die Verbesserung der Fertilität bzw. der Chancen der Behandlung verantwortlich gemacht werden. Die Klinik macht es zur Bedingung, dass die Männer mehrere Monate Nichtraucher sind, bevor sie eine IVF durchführen und schränkt so die Handlungsmöglichkeiten der Paare ein, denen im Fall einer Nicht-Compliance nur der Klinikwechsel bliebe. In den Erstberatungsgesprächen versuchen die Ärztinnen und Ärzte – ähnlich wie bei der Anzahl der transferierten Embryonen (s.o. Kap. 5.3.3) – die Männer davon zu überzeugen, das Rauchen einzustellen. Hierbei greifen sie auf verschiedene Strategien zurück, wie beispielhaft in dem Erstberatungsgespräch mit dem Ehepaar Vogel, in dem Dr. Neumann mögliche Einwände des Mannes vorwegnimmt:
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Eine Schachtel am Tag über mehrere Jahre ist einfach Gift. Jetzt sagen Sie: „Es gibt aber auch ganz viele Raucher, die Kinder haben“. […] Haben Sie völlig Recht. Aber die Raucher haben, was weiß ich, als Kind keinen Hodenhochstand gehabt oder irgendetwas, was Sie als Kind hatten, was keiner mitgekriegt hat, so Sie da einfach ein Fertilitätsproblem von sich aus sowieso schon haben. Dann das Rauchen oben drauf, und schon sind wir da, wo wir jetzt sind […] Ich meine nicht, dass Sie jetzt nicht schwanger werden, wenn Sie jetzt rauchen. […] Und da gibt es Studien zu, wo es wirklich bewiesen ist, dass das um 30 Prozent schlechter ist bei Rauchern als bei Nichtrauchern. Und 30 Prozent bei 20 Prozent Schwangerschaftsrate von Anfang an, […] und schon ist es einfach schlechter, als wenn man 20 volle hätte (A2R in EG15R: 72–76).
Die negativen Auswirkungen des Rauchens stellt Dr. Neumann als medizinisch zweifelsfrei identifizierbar und berechenbar dar. Im Gegensatz hierzu bleiben andere mögliche Ursachen der ungewollten Kinderlosigkeit unbestimmt. Die Verpflichtungen, in dem von den Patienten beeinflussbaren Bereich des Rauchens aktiv zu werden, wird verstärkt durch das Konstatieren einer Mitverantwortung für die unerfüllte Kinderlosigkeit, die hier unabhängig von weiteren Diagnoseergebnissen vorgenommen wird. Zugleich werden die medizinischen Möglichkeiten als konstante Größe und als unabhängig von ärztlichen oder medizinischen Einflussfaktoren und Fähigkeiten präsentiert. Ähnlich argumentiert Dr. Neumann in dem Erstberatungsgespräch mit dem Ehepaar Graf: Rauchen Einstellen ist immer sinnvoll. […] Das hat oft einen unglaublichen Effekt auf die Spermien. Da sitzen Sie hier und sagen: „Ich rauche doch schon seit zehn Jahren und vor fünf Jahren hab’ ich schon Kinder gekriegt und jetzt kriegen wir keine mehr“, – weil das halt natürlich additiv wirkt – „und die anderen, die rauchen, haben auch alle Kinder“. Aber das nützt nichts. Wenn da irgendwo schon der Wurm drin ist, dann macht das Rauchen das noch mal schlechter. Da gibt es auch zigtausend Studien dazu. Das ist einfach bewiesen. Da gibt es auch keine Diskussion darüber (A2R in EG6R: 280).
In diesem Abschnitt wird die Argumentationsweise noch einmal zugespitzt deutlich: Als Ursachen der unerfüllten Kinderlosigkeit werden auf Seiten des Mannes zum einen vage bleibende Gründe, die häufig mit Ereignissen in der Kindheit und Jugend in Zusammenhang gebracht werden, dargestellt (s.u. Kap. 6.4). Die Einschränkung, auf die hier rekurriert wird, wird durch die Tatsache der ungewollten Kinderlosigkeit begründet. Demgegenüber wird das Einstellen des Rauchens zu einer starken Handlungsanweisung. Wie im zuvor zitierten Beratungsgespräch wird eine einfache Berechenbarkeit der unterschiedlichen Faktoren behauptet und den angeführten Beispielen anekdotischer Evidenz aus der
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Lebenswelt des Mannes in den vorweggenommen Einwänden fachliches Wissen gegenüber gestellt. Einerseits ist das Herbeiziehen von Fachstudienergebnissen im ersten Beispiel ein Dialog- und Verständigungsangebot, andererseits wird dieses Angebot – besonders deutlich im zweiten Beispiel – durch eine absolute Bewertung der Ärztin wieder zurückgezogen. Es gibt wenig Verhandlungsspielraum und Einflussmöglichkeiten der Paare in diesem Punkt, da die Klinik keine IVF-Behandlung bei Rauchern durchführt. Das Rauchen von Frauen wird in der reproduktionsmedizinischen Klinik kaum zum Problem gemacht. Die meisten Frauen rauchen entweder nicht oder haben mit Beginn des Kinderwunsches aufgehört – wenn Frauen im Erstberatungsgespräch angeben, Raucherinnen zu sein, begnügen sich die Ärztinnen und Ärzte mit dem Hinweis, dass sie das Rauchen einstellen sollen. Dies lässt sich darauf zurückführen, dass die negativen Folgen von Rauchen in der Schwangerschaft zu gesellschaftlich weit verbreitetem und akzeptiertem Wissen gehören und die Compliance von Frauen in diesem Punkt erwartet wird. In dem bereits angeführten Erstberatungsgespräch wird jedoch Frau Vogel zur Ansprechpartnerin von Dr. Neumann, wenn diese sich in Bezug auf den Nikotinkonsum des Mannes an sie wendet: Wollen Sie ihm nicht mal den Kopf waschen? [lacht] Wir machen keine ICSI, solange Sie rauchen (EG15R: 64).
Dies ist ein Beispiel dafür, dass der Partnerin eine Mitverantwortung für die Compliance ihres Mannes übertragen, die – wie hier betont wird – Voraussetzung für die Behandlung ist. Während das Gewicht beider Partner und Partnerinnen in den Erstberatungsgesprächen erfragt wird, gilt vor allem die Normalgewichtigkeit der Frauen in beiden Kliniken als wichtige Bedingung für die Verbesserung der Erfolgschancen. Ähnlich wie beim Rauchen wird hier in der reproduktionsmedizinischen Klinik die Abweichung von der medizinisch erwünschten Norm thematisiert. Von den Ärztinnen und Ärzten wird herausgestellt, dass Übergewicht die Behandlungsrisiken erhöht und in einem zweiten Schritt auch die Risiken der Schwangerschaft. Bei einer deutlichen Überschreitung des Body-Mass-Index’ raten sie deshalb zunächst zu einer Gewichtsreduktion. Diese ist allerdings kein so hartes Kriterium wie der Nikotinverzicht. Im Erstberatungsgespräch des Ehepaares Schmidt werden das Gewicht von Frau Schmidt und seine Reduktion ausführlich behandelt:
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Dr. Richter
Sie müssen jetzt nicht ganz schnell und radikal zehn Kilo abnehmen. Das würden Sie nämlich ganz schnell schaffen. Da bin ich überzeugt von. Aber uns ist es lieber, Sie würden tatsächlich, was weiß ich, die Abendmahlzeit durch eine Obstmahlzeit ersetzen. Sonst völlig normal essen. Und Sport machen. Ohne Sport wird nichts von Dauer wegbleiben.
Herr Schmidt Dr. Richter
Wie viel Stunden pro Woche oder wie sollte – Also wenn es irgendwie geht, machen Sie dreimal die Woche eine Stunde. Dass Sie sich vielleicht sagen, Sie gehen einmal ins Fitnesscenter und zweimal die Woche gehen Sie zusammen Walken oder Laufen. […] eine Stunde, so dass Sie ins Schwitzen kommen. […] Keinen Aufzug mehr nehmen, keine Rolltreppe mehr nehmen, immer nur die Treppe und schauen Sie wirklich, dass Sie, zumindest am Wochenende […]. Vielleicht fangen Sie mit einer Gymnastik noch morgens an. Dass Sie wirklich – und wenn es zehn Minuten sind.
Frau Schmidt
Okay.
Dr. Richter
Ganz, ganz, ganz, ganz wichtig.
Frau Schmidt
Probieren wir.
Herr Schmidt
Nein, nicht probieren wir. Machen wir. (EG14R: 508–527)
Dr. Richter knüpft hier an verbreitete Vorstellung über die Art und Weise von Gewichtsreduktionen an, wenn sie Anforderungen an die Qualität dieser Bemühungen formuliert, und unterstellt die Gewichtsreduktion als langfristiges Ziel: Eine pragmatische kurzfristige Abnahme für die Reproduktionsmedizin entspricht nicht der Gesundheitsnorm. Für die Gestaltung dieses Prozesses macht sie weit in die Lebenswelt reichende Vorschläge, die jedoch nicht mit einer spezifischen professionellen Expertise begründet werden. Diese Vorschläge zu befolgen, erscheint hier als abhängig von dem entsprechenden Willen der Patientin und liegt somit in ihrer Verantwortung. Während im zuvor angeführten Beispiel des Rauchers Herr Vogel dessen Frau als Komplizin der Ärztin angesprochen wird, ist es hier Herr Schmidt selbst, der die Kontrolle der Gesundheitsoptimierung seiner Frau übernehmen will. Die reproduktionsmedizinischen Ärztinnen und Ärzte empfehlen sehr allgemein eine ausgewogene, vitaminreiche Ernährung, wenn diese zum Thema im Erstberatungsgespräch wird. Der Einnahme von Nahrungsergänzungsmitteln und der Selbstbehandlung durch rezeptfreie Medikamente stehen sie eher skeptisch gegenüber. Hierzu gibt es zwei Ausnahmen: Den Frauen wird zu einer Einnahme von Folsäure geraten und den Männern, wenn sie danach fragen, zur Ein-
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nahme von Zink und Vitamin C und E. Die Ärztinnen und Ärzte empfehlen von selbst allerdings keine Vitamineinnahme, auch nicht zur Steigerung der Spermienqualität. Hier lässt sich eine verhaltene Tendenz zum aktiven Eingreifen erkennen, die mehr von der Einforderungen der Patientinnen und Patienten abhängt als von der erhofften medizinischen Wirkung. In einem Beratungsgespräch formuliert Dr. Richter auf die Frage nach Möglichkeiten zur Verbesserung der Spermienqualität entsprechend vorsichtig: Da gibt es so ein Medikament, das einen guten Einfluss auf die Beweglichkeit haben soll. […] Das ist aber letztendlich ein bisschen out. Man hat festgestellt, wenn man nichts macht, schwankt es dann genauso in beide Richtungen, wie wenn man das Medikament nimmt. Das einzige, was wahrscheinlich einen positiven Effekt hat, und zumindest keinen nachteiligen, ist Vitamin C, E und Zink. Allerdings nicht in zu hoher Dosierung (A5R in EG14R: 235).
Durch Folsäure wird weder die Fruchtbarkeit gesteigert noch werden die Chancen der Unfruchtbarkeitsbehandlung verbessert, vielmehr soll hier für den Fall einer Schwangerschaft vorgesorgt werden. Dr. Richter (A5R) führt in dem Erstberatungsgespräch mit dem Ehepaar Albert aus: [M]an sollte spätestens vier Wochen, lieber noch länger, vor Schwangerschaftsbeginn [Folsäure] einnehmen. Das kann bei einem Kind einen offenen Rücken und eventuell auch verschiedene Herzerkrankungen verhindern. Und da es nicht schadet und für die Nerven ganz gut ist, sollten Sie das einnehmen (A5R in EG1R: 70–72).
In beiden Fällen ist die Wirkung der Medikamente medizinisch umstritten, wie auch in den zitierten Einschränkungen der Ärztinnen deutlich wird. Während bei den Männern die Einnahme der Nahrungsergänzungsmittel eher ein verhaltenes Zugeständnis an deren Wünsche, etwas bewirken zu können, ist, wird im Falle der Folsäure einer möglichen Schwangerschaft vorweggegriffen: Erst wenn diese eintritt, ist eine medizinisch sinnvolle Wirkung gegeben. Diese Empfehlung schließt an einen Zustand medikalisierter Vorschwangerschaft an, der auch von der Erwartung eines Verzichts auf Alkohol und Nikotin markiert wird. Gesundheitsnormen in der naturheilkundlichen Klinik Eine ausgeglichene und gesunde Lebensweise ist aus der Perspektive der ganzheitlichen Naturheilkunde die Voraussetzung für Gesundheit im Allgemeinen und reproduktive Gesundheit im Besonderen. Die Anwendung alternativmedizi-
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nischer Verfahren wird dabei als Ergänzung und Unterstützung gesehen. Diese Sichtweise kommt in der Beschreibung der Möglichkeiten naturheilkundlicher Kinderwunschtherapie von Dr. Nussbaum zum Ausdruck: So ein bisschen Umweltanamnese mache ich dann. Dann geht es natürlich auch um Ernährung. Bewegung. […] Dann ist natürlich Stress auch ganz wichtig. Ob jemand überhaupt Zeit hat dafür […] Oder zum Beispiel, was ich auch empfehle, ist, so Yoga zu machen. Es gibt Luna-Yoga, was Bezug zum Unterleib hat. Als Krönung empfehle ich, als Homöopathin, da natürlich die Homöopathie (A3N: 15).
Unfruchtbarkeit wird von den Ärztinnen in der naturheilkundlichen Klinik dabei als eine Art unerwünschter Folge des modernen Lebens gesehen. Diese Sichtweise ist bei den Ärztinnen unterschiedlich ausgeprägt, liegt aber vielen Behandlungsansätzen zugrunde. In den Ausführungen von Dr. Nussbaum sind aus dieser Sicht zentrale Ursachen von ungewollter Kinderlosigkeit bereits angesprochen: Umweltbelastungen, fehlerhafte Ernährung, Bewegungsmangel und Stress. Die ganzheitliche Perspektive geht mit einer integrativen Auffassung von Krankheit und Gesundheit einher. Während zwar gesamtgesellschaftliche Einflussfaktoren auf Krankheit und Gesundheit explizit ausgemacht werden, richtet sich die alternativmedizinische Therapie jedoch ans Individuum. Die Empfehlungen der Ärztinnen und Ärzte zielen auf Veränderungen, Einschränkungen und Neuausrichtungen der individuellen Alltags- und Lebensgestaltungen der Paare. Der breitere gesellschaftliche Kontext wird selten als Ziel der Interventionen begriffen. Dies wird an der Charakterisierung der naturheilkundlichen Therapie durch Dr. Stein zugespitzt deutlich: Also wir fokussieren im Grunde einen ganzheitlichen Ansatz, dass wir sagen, erstmal eine Anamnese, um stabilitätsschädigende Faktoren zu eruieren und die dann möglichst durch Beratung zu eliminieren. Dazu gehört dann Rauchen, dazu gehört ja übertriebener Stress durch zu viel berufliche oder Freizeitaktivitäten (A6N: 22).
Die Aufgabe der Paare ist es in dieser Auffassung, ihre reproduktive Gesundheit aktiv zu beeinflussen: [D]ass sie ja die natürliche Fertilität […] auf alle Fälle nicht zusätzlich einschränken durch eigenes Zutun. Also dass man da erstmal sagt, das ist eine kostbare Körperfunktion letztlich auch [lacht]. Oder eine kostbare Möglichkeit, und die sollte man nicht schädigen, weil man eben mit dem, was man dann von ärztlicher Seite tun kann, nicht so viel erreicht, wenn eben praktisch dagegen gearbeitet wird (A6N: 110).
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Die Verschiebung des Fokus auf das eigenverantwortliche Individuum, dessen Aufgabe es ist, die externen gesundheitsschädigenden Faktoren auszugleichen, ist eine zentrale Figur in den Argumentationsmustern der Ärztinnen. Diese findet sich bereits in der reproduktionsmedizinischen Klinik im Falle des Nikotinkonsums. Die medizinischen Möglichkeiten werden hier von Dr. Stein ebenfalls als begrenzt angesehen – und die Paare als mögliche Verantwortliche dafür dargestellt, deren Ausschöpfung zu verhindern. Die Umstellung der Lebensgewohnheiten wird dabei von den naturheilkundlichen Ärztinnen sehr viel stärker als von ihren reproduktionsmedizinischen Kolleginnen und Kollegen als etwas gesehen, das für die Paare mit Überwindung, Verzicht und Arbeit verbunden ist: [Die Paare, cu] denken natürlich, sie können hierherkommen und wir sagen, wir machen jetzt eine Serie von so und so vielen Akupunkturbehandlungen oder nehmen dieses oder jenes homöopathische Mittel und dann werden sie schwanger. Und brauchen auf sonst nichts zu achten. Aber wenn wir sagen, „Ihr ganzer Lebensstil hat damit zu tun, ob sie nun relativ fruchtbar sind oder eben relativ unfruchtbar“. Dann schlucken sie natürlich erstmal so ein bisschen. Denn das bedeutet eben unter Umständen, sich auch mehr mit der Ernährung auseinanderzusetzen, liebgewonnene Gewohnheiten vielleicht ein bisschen einzuschränken. Nein sagen zu können auch, wenn man eben einfach auch jemand ist, der zu viel macht. Das sind also Dinge, die in jedem Fall schwer fallen. Gewicht in den normalen gesunden Bereich zu sorgen, das ist sowohl für diejenigen, die Übergewicht haben, als auch für diejenigen, die Untergewicht haben und damit dem herrschenden Schönheitsideal entsprechen, nicht so leicht zu verstehen und auch nicht so leicht umzusetzen (A6N: 24).
Am Beispiel des Untergewichts bringt Dr. Stein die Rolle gesellschaftlicher Normen im Gesundheitsverhalten kritisch in ihre Ausführungen ein. Doch der Umgang mit diesen ist – wie in den anderen Lebensbereichen auch – die erforderliche Umstellung des Lebensstils der Patientinnen und Patienten. Sich nach den in der naturheilkundlichen Behandlung formulierten Gesundheitsvorstellungen zu richten, stellt sie als eine Herausforderung für die Paare da. Der behandelnden Ärztin fällt hierbei eine aufklärende Rolle zu, die Motivation zur Veränderung müssen die Patientinnen und Patienten jedoch selbst aufbringen. Der naturheilkundlichen Therapie widerspricht ein pragmatischer Ansatz; stattdessen betont sie Verzicht und Anstrengung, ein asketisches Leben als Prüfung. Dies wird beispielhaft im Beratungsgespräch des Ehepaar Eckhardt deutlich, in dem Dr. Müller sehr ausführlich ihre Bedenken gegenüber der Einnahme von Vitaminen oder Mineralien zur Nahrungsergänzung ausführt. Die Länge und der assoziative Stil dieser Ausführungen sind typisch für Dr. Müller:
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Das heißt, dass das die Fruchtbarkeit verbessern soll. Das ist Folsäure, aber es gibt wieder andere Stimmen, die sagen, wenn man […] das über längere Zeit eingenommen wird, kann es eben auch nachträglich wirken und zwar […] hat man hat jetzt so Studien gemacht und zwar gerade über diese Vitaminpräparate, über Zink, Vitamin C – also Vitamin C in normalem Obst, […] wird das von dem Körper aufgenommen, […] in der Zelle werden die freien Radikalen verdrängt, ausgebremst – und dann hat man jetzt festgestellt, wenn man das in täglichen Dosen nimmt, dann macht das gerade den gegenteiligen Sinn, das schleust die freien Radikalen in die Zelle hinein. […]. Ja, früher haben sie erklärt, jeder soll Vitamine nehmen mit Zink. Und dann hieß es wieder, durch Zinkmangel bekommt man Karzinome, Krebs. Alle Leute haben Zink gefuttert, weil man festgestellt hat, dass bei Krebskranken der Zinkspiegel sehr niedrig ist, dann haben alle prophylaktisch Zink genommen und auch … Karzinom-Patienten. Dann hat man mal nachgeschaut und einen Tumor untersucht, der war angereichert mit Zink. Das heißt, die Leute haben Zink genommen und eine kleine Tumorzelle fing damit an, sich zu ernähren und konnte dadurch wachsen. Also diese ganzen Vitamine, das ist Quatsch. Wenn Sie sich gut ernähren, Obst, Gemüse, frische Dinge, einen Apfel, Ananas sind sehr gut, da sind Enzyme drin, die sind sehr, sehr wichtig für den Körper […]. Und dann tun sie sich schon ganz viel Gutes. Besser als wenn Sie diese ganzen künstlichen Vitamine nehmen. […] Es gibt eine gute Studie, das hat mit Kinderwunsch auch nichts zu tun, Frauen, die haben eine Gruppe, die wurde untersucht, die hochdosiert Vitamine genommen hat, die andere Gruppe hat gar nichts genommen. Und die Lebenserwartung von der Gruppe, die keine Vitamine genommen hat, lag da oben mit den Lebenserwartungen, und die Hochdosierten lagen unten (EG4N: 141).
Zur Gewichtsreduktion empfiehlt Dr. Müller Frau Eckhardt mehr Bewegung: Und Bewegung. Fahrradfahren okay. Aber das ist ja auch Stress, auf dem Fahrrad sitzen. Sie haben im Kopf, dass Sie schnell zur Arbeit müssen. Da sind Sie ja auch nicht entspannt. Dass Sie einfach abends Spaziergänge machen mit Ihrem Mann, entspannte […]. Aber ich denke schon, Gewichtsabnahme ist schon wichtig, weil es ist schon ein bisschen, hoch, ihr Gewicht […]. Vielleicht klappt es dann schon (EG4N: 125).
Wie in der reproduktionsmedizinischen Klinik wird zur Gewichtsreduktion mehr Bewegung empfohlen. Während aber dort aber das Ziel der Gewichtsreduktion und dessen Nachhaltigkeit im Vordergrund steht, sind diese Ausführung ein Beispiel dafür, wie anspruchsvoll die Lebensumstellung in der Naturheilkunde ist: Die pragmatische, alltagsnahe Möglichkeit, den Arbeitsweg mit dem Fahrrad zurückzulegen, wird stark relativiert und mit dem Ziel der Entspannung eine zusätzliche Anforderung an die Bewegungsqualität gestellt. Das genaue Zusam-
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menwirkung dieser Faktoren bleibt diffus, dennoch stellt sich der hoffnungsvolle Ausblick am Ende des Absatzes so dar, als setzte er die Erfüllung aller Aspekte voraus. Auch wenn in der untersuchten Klinik die jeweiligen Paare nach dem Erstberatungsgespräch nicht weiter vor Ort behandelt werden, wenden – wie die Interviewausschnitte zeigen – die Ärztinnen verschiedene Strategien an, um sie von Lebensstilveränderungen zu überzeugen und Compliance herzustellen: Das Andeuten von Risiken und gesundheitlichen Beeinträchtigungen sowie das Anführen anekdotischer Evidenz und von Ergebnissen von Vergleichsstudien. Dr. Nussbaum beschreibt in dem Interview darüber hinaus, dass sie nicht nur Handlungsempfehlungen, sondern auch Verbote ausspricht: Ich verbiete denen Kaffee. Und das müssen die Männer hören, weil die ja oft die Kaffeetrinker sind (A3N: 59).
Die Wirksamkeit dieser Verbote bleibt offen. Die paternalistische Einstellung – zumindest bezüglich dieses Punktes – von Dr. Nussbaum wird deutlich, auch wenn sie in der Interaktion mit den Paaren weniger stark zu Tage tritt. Im Gespräch mit dem Ehepaar Koch zeigt sich dies beispielhaft: Kaffee, sagt man zum Beispiel, ist Zellgift. Also ist es auch mal ganz gut, den Kaffee bei beiden Partnern ruhig mal wegzulassen drei Monate (EG9N: 136).
Während die negative Wirkung von Kaffeekonsum drastisch beschrieben wird, wird den Paaren diesbezüglich eher eine Empfehlung gegeben als ein Verbot ausgesprochen. An diesen Zitaten wird ein typisches Muster der ärztlichen Argumentationsweise exemplarisch deutlich: Die Risiken des bisherigen Lebensstils werden sprachlich drastisch skizziert, gleichzeitig aber mit einer Einschränkung verbunden. So entsteht das Bild eines vielfältigen möglichen Risikopotenzial in einer Vielzahl von Lebensbereichen, die gleichzeitig aber für die Paare wenig fassbar werden und dadurch die Unsicherheit verstärken. Die Ratschläge und Hinweise zur Lebensgestaltung richten sich dem Anspruch nach gleichermaßen an Patientinnen und Patienten. Die Spermienqualität gilt es spezifisch zu beeinflussen durch Bewegung und eine Ernährung mit Lebensmitteln aus kontrolliert biologischem Anbau. Im Erstberatungsgespräch von Ehepaar Eckhardt führt Dr. Müller diesen Aspekt aus: Frische Luft. Durch die Bewegung, also wenn man Sport macht und so weiter. Sauerstoffversorgung […] wird gebessert. Man bekommt warme Füße, auch die Hoden werden
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besser durchblutet, und es kann schon sein, dass die Spermiumgenese eben doch ein bisschen angeregt wird. […] Da hat man auch mal eine Studie zu gemacht, dass durch eine ökologische Ernährung, dass durch die Bewegung und so weiter, wurde die Spermienmobilität um 70 Prozent gebessert. Also der ganze Befund. Ich habe schon selbst Patienten behandelt […] mit diesen OAT-Syndrom, mit dieser Oligo-Azoospermie, und habe auch mit Bewegung, eine Ernährung und so weiter, bei einigen war es so, dass die, dass der Befund auf einmal im unteren Normbereich war. Also er war nicht so, dass man sagen muss, es hat sich richtig normalisiert, aber es hat sich gebessert. (A1N in EG4N: 192– 194).
Hier zeigt sich deutlich, dass der Veränderung des Lebensstils – hier der Bewegung und der Ernährung – eine starke positive Wirkung auf die Fruchtbarkeit zugesprochen wird. Gestützt wird dies in diesem Fall vor allem durch die Behandlungserfahrung der Ärztin, aber auch durch einen Verweis auf eine Studie: beides Aspekte einer professionellen Expertise. Zugleich wird die Wirkungsweise jedoch wieder eingeschränkt und bleibt eine Hoffnung. Dies wird durch die relativierenden Einschübe der Ärztin deutlich. So wird einerseits eine Therapie legitimiert, die Patientinnen und Patienten in die Verantwortung nimmt, und zum anderen auf die Grenzen der medizinischen Möglichkeiten verweisen. Die naturheilkundlichen Ärztinnen haben den Anspruch, das Sexualleben der Paare nicht wie in der Reproduktionsmedizin in Hinblick auf besonders fruchtbare Zeitfenster zu thematisieren, sondern seine Qualität in den Vordergrund zu stellen. Gleichzeitig wird diese Qualität als Voraussetzung mit einer höheren Erfolgswahrscheinlichkeit verbunden. In den Ausführungen von Dr. Stein wird deutlich, wie sich hier der Aspekt der Befreiung der Paare von einer medizinischen Reglementierung mit dieser instrumentellen Perspektive auf die Qualität des Sexuallebens verschränkt: Manche führen auch Temperaturkurven weiter. Aber oft eben gerade nicht. Also ich berate eben eher so, häufiger Verkehr sorgt dafür, dass sie dann eben das Konzeptionsoptimum ja nicht unbedingt treffen müssen, weil dann immer im Reservoir Spermien da sind. Das entlastet und das führt ja gerade dazu, dass dann nicht so viel überwacht wird. Und dass eben diese Freiheit auch wieder gewonnen wird. Miteinander zu schlafen, wenn man Lust darauf hat und nicht, weil eben am Telefon gesagt wurde, der Eisprung ist heute Nacht oder morgen früh. Das ist dann eine andere, eine andere Lebensqualität (A6N: 60).
Mit dieser Einstellung geht eine Ausdehnung des medizinischen Zuständigkeitsbereichs einher: Sind in der Schulmedizin bei der weniger invasiven Therapieform „optimierter Verkehr“ Quantität und Zeitpunkt des Sexualverkehrs Gegen-
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stand, wird hier seine Qualität zum medizinischen Problem. Die sexuelle Erfüllung wird zur medizinisch verordneten Aufgabe der Paare, wie auch noch mal beispielhaft in der Beschreibung der Inhalte der Beratung von Dr. Stein deutlich wird: Nochmal genau ausführliche Ausführungen über Konzeptionsoptimum, über Sinn und Unsinn von zu stark geregeltem Verkehr. Was dann in der Regel ja zu einer niedrigeren Häufigkeit führt und das ist dann ja auch eben kontraproduktiv. Wir ermutigen dann auch dazu, sind so ganz banale Dinge, aber eben den Spaß am Sex nicht zu verlieren unter der Vorstellung, ich muss genau den richtigen Zeitpunkt erwischen (A6N: 22).
Was hier als Lockerung der medizinischen Vorgaben gemeint ist, intensiviert diese gleichzeitig und konfrontiert die Paare mit der zusätzlichen normativen Erwartung an ein erfülltes Sexualleben. Stress als Thema in Reproduktionsmedizin und Naturheilkunde In beiden Kliniken werden besondere Belastungen in der Anamnese abgefragt. Stress fungiert hier als breiter Containerbegriff, in den vor allem berufliche, aber darüber hinaus auch eine Vielzahl anderer Belastungen fallen können. Insbesondere in der Naturheilkunde wird unter Stress ein Symptom der Auswirkungen moderner Lebensweisen verstanden, die insgesamt kritisch und letztendlich als mitverantwortlich für eine Steigerung unerwünschter Kinderlosigkeit gesehen werden. Medizinischen Aufschluss versprechen sich die Reproduktionsmedizinerinnen und -mediziner, wenn überhaupt, nur für die schlechte oder schwankende Spermienqualität. Ein Beispiel für die Vermittlung dieses Zusammenhangs ist das Erstberatungsgespräch des Ehepaares Schmidt: Es gibt tatsächlich leider nicht viel beim Mann. […] Aber was man versuchen kann, das ist zum einen, Stress meiden. Das ist natürlich leichter gesagt als getan, denn es sind tatsächlich die Spermiogrammwerte bei manchen Männern extrem stark stressabhängig. Sport kann positiv, kann aber auch negativ sein. Hochleistungssport ist zum Beispiel nicht so glücklich. Weil es auch da wieder Stress gibt (A5R in EG14R: 233).
Die Stressreduktion erscheint hier zum einen als Ersatz für die fehlenden reproduktionsmedizinischen Behandlungsmöglichkeiten beim Mann. Es ist für den Mann eine Möglichkeit, als Patient aktiv beizutragen, wenn auch die Chancen auf eine Verbesserung des Spermiogramms stark einzelfallabhängig sind. Zugleich erscheint Stress als schwer berechenbar und seine Reduktion als Frage
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eines sorgsamen Austarierens, die außerhalb des reproduktionsmedizinischen Zuständigkeitsbereichs liegt. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die Ärztinnen und Ärzte Stress nicht als möglicherweise ausschlaggebenden Faktor für Spermiogrammwerte anführen. Das Beratungsgespräch mit dem Ehepaar Haase ist ein Beispiel hierfür. Herr Haase hat in der Anamnese berufliche Belastungen angegeben, am Ende des Gesprächs greift Dr. Richter dies auf: Das mit dem Stress ist ein super wichtiger Faktor. Ich befürchte nämlich, mittlerweile ist es weniger ein Hormonproblem. Es ist, kann ein Hormonproblem sein. Aber viel auch durch so einen Stress mit ausgelöst (A5R in EG7R: 305).
Diese Interpretation beruht auf den Angaben von Herrn Haase, seit dem Versuch, ein zweites Kind zu bekommen, einer belastenderen beruflichen Tätigkeit nachzugehen. Während in anderen Fällen schlechte Spermiogrammwerte nach der natürlichen Zeugung eines Kindes auf das nun höhere Alter oder einen früheren Glücksfall zurückgeführt werden, zeigt dieses Beispiel, dass Stress als eine Erklärung dienen kann, die zum einen keine weitere inhaltliche Spezifizierung erfordert und zum anderen einen unwägbaren Faktor für das Gelingen der reproduktionsmedizinischen Behandlung in die Verantwortung der Männer legt. Dennoch ist in der reproduktionsmedizinischen Klinik die ärztliche Einstellung gegenüber Stress vor allem dadurch gekennzeichnet, dass berufliche und alltagsweltliche Belastungen zwar als aus medizinischer Sicht der Fertilität eher abträglich, aber gleichzeitig als Teil eines normalen Lebensentwurfes gelten. Sie zeigen so beispielsweise als Berufstätige, die in einem ähnlichen Alter wie die Paare sind, Verständnis für deren Situation. Dies wird in einem Erstberatungsgespräch deutlich, wo Dr. Neumann die Belastungssituation ihrer Patientin mit ihrer eigenen vergleicht: Frau Graf
Vom Alltag her, ich kriege so Phasen, wo ich das [nicht zu rauchen]
Dr. Neumann
Da machen Sie sich nicht verrückt.
Frau Graf
Also das sage ich ganz ehrlich. Das sind manchmal so Anfälle. So
Dr. Neumann
Das ist aber so typisch Frau mit 34 [lacht].
vom Alltag her schwierig finde.
plötzlich. (EG6R: 286-291)
Dr. Neumann ist selbst Mitte 30 und bringt ihre Gleichaltrigkeit in verschiedenen Beratungsgesprächen ein. Die Betonung dieser Gemeinsamkeit überschreitet die üblichen Grenzen des Arzt-Patienten-Interaktionsrahmens und steht dem hie-
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rarchischen Unterschied von Professionellem und Laien gegenüber. In der zitierten Situation führt dies zu einer leichten Relativierung der Gebots des Nikotinverzichts. In der Naturheilkunde bewahren die Ärztinnen in der Beurteilung der Belastung die professionell-hierarchische Distanz zu den Paaren: Deren fertilitätsbeeinträchtigende Belastungen werden eher als unzureichende Fähigkeit der Paare gesehen, eine gesunde Balance zwischen den verschiedenen Anforderungen ihres Lebens zu halten. Stress als Ausdruck einer falschen Lebensweise erscheint als vermeidbar. So macht Dr. Stein „übertriebenen Stress durch zu viel berufliche oder Freizeitaktivitäten“ (A6N: 22) als Grund für Unfruchtbarkeit aus, und Dr. Nussbaum beschreibt, dass die Paare in verschiedene Richtungen von einem balancierten Leben abweichen: Dann ist natürlich Stress auch ganz wichtig. […] Oft sind es wirklich Frauen, die sehr, sehr viel arbeiten und auch das schon als Konflikt empfinden und schon vorher überlegen, ob sie es überhaupt wollen mit dem Kind. Dann gibt es wieder das andere Extrem: Frauen, die aufgehört haben zu arbeiten und jetzt warten, dass sie schwanger werden. Natürlich auch wieder ein Stresspunkt. Und dann geht es natürlich auch um den Partner, wie der lebt, oft sind die Männer wahnsinnig im Stress (A3N: 15).
Während sich für die Männer der Beruf als Quelle von Stress darstellt, ist für die Frauen auch der bewusste Rückzug aus der Berufstätigkeit mit Belastungen verbunden. Wie diese Zwickmühle zu lösen ist, beschreibt Dr. Nussbaum im Interview nicht. Dass sie in einem informellen Gespräch nach einer Beratung die Einschätzung vertritt, dass das Paar bei seiner beruflichen Belastungen gar keine Zeit für ein Kind habe und deshalb auch nicht mit einem Behandlungserfolg zu rechnen sei, lässt dies als Ausdruck einer kulturpessimistischen Sichtweise erscheinen (s.u.): Die Lage der Paare und insbesondere der Frauen scheint in gewisser Weise ausweglos zu sein. Für Dr. Nussmann ist diese Perspektive grundlegend. Insbesondere die Beratungsgespräche von Dr. Müller (A1N) sind von ihren Bemühungen gekennzeichnet, Belastungsfaktoren und -momente in der Lebensweise ihre Patientinnen aufzuspüren. Zugrunde liegt ihrer Beurteilung eine zivilisationskritische Einschätzung der modernen Lebensweise. In einem Beratungsgespräch kontrastiert sie diese mit einer romantisierten und exotisierenden Betrachtungsweise des „einfachen“ Lebens in Ägypten: Das war ja früher so: Wenn der man auf die Jagd ging oder gekämpft hat, dann treten andere Funktionen, wie Sexualität, Fruchtbarkeit und so was – ist erwiesen – schon in den
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Hintergrund. Und wenn ich schaue, ich war mal in Ägypten, da haben wir eine Rundreise […] gemacht, und mein ägyptischen Reisebegleiter, der hat gesagt: „Schauen Sie sich unsere Frauen an, mit so Bäuchen“. Alle sind fruchtbar, alle kriegen vier, fünf, sechs Kinder. Ja, warum? Die sitzen den ganzen Tag in der Sonne, die Frauen sind meistens zu Hause, sie sind immer gut gelaunt, es ist nicht so viel Stress. Wir haben hier sehr viel Stress, wir haben alle Existenzängste, wir haben alle viel zu viel Angst, dass wir wirtschaftlich nicht vorankommen. Und wenn man sich mal andere Staaten anguckt, denen geht es viel schlechter. Die haben längst nicht diese Probleme wie wir. […] Und wir Frauen, wir sollen alles sein, wir sollen Frau sein, wir sollen Kinder kriegen, wir sollen aber arbeiten wie die Männer (A1N in EG8N: 174).
In diesen Äußerungen entwirft Dr. Müller ein polarisierendes und stark schematisierendes Bild: Auf der einen Seite steht ein Leben, das einem vermeintlich ursprünglicheren und mit der Natur verbundenen entspricht, auf der anderen Seite ist das emanzipierte, entfremdende, moderne Leben. Zentraler Aspekt dieser Unterscheidung ist die Emanzipation der Frau, die sie – insbesondere festgemacht an der Integration in den Arbeitsmarkt – als Ursache der gestiegenen Unfruchtbarkeit darstellt. Zur Bekräftigung des Zusammenhangs zwischen Belastung und Infertilität werden in der naturheilkundlichen Beratung darüber hinaus Fälle anekdotischer Evidenz angeführt, in denen Frauen in den Momenten schwanger wurden, in denen der Druck und der Stress der unerfüllten Kinderlosigkeit wegfiel: Hierbei wird meist sowohl auf den Urlaub als Auszeit vom hektischen Alltagsleben verwiesen als auch durch den Abschluss des Wunsches nach einem leiblichen Kind durch Adoption. Dies erläutert Dr. Müller im Erstberatungsgespräch: Und bei vielen Paaren klappt es erst, wenn sie das erste adoptiert haben. Gibt es auch sehr häufig. Es gibt viele Leute, Frauen, die sagen, jetzt adoptieren wir ein Kind, und das Kind ist gerade eine Jahr da oder ein paar Monate, und dann ist sie schwanger. Weil das alles [der ganze Stress, cu] wegfällt (A1N in EG8N: 178).
Was von Dr. Neumann im Erstberatungsgespräch als Beispiel für ihre Thesen zu Stress anführt, geht nicht nur mit einer Zuschreibung der Verantwortlichkeit für die ungewollte Kinderlosigkeit vor allem an die Frauen einher, sondern verstärkt die Anforderungen an diese. Die Erwartungen an ihr Verhalten bringen die Frauen in eine ausweglose Situation: Einerseits verlangt auch und vor allem die naturheilkundliche Kinderwunschbehandlung eine Konzentration auf Therapie und Compliance, andererseits wird erwartet, dass die Frauen sich von eben diesen Belastungen frei machen.
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Für Dr. Müller ist die zunehmende Umweltverschmutzung ein weiterer Aspekt ihrer zivilisationskritischen Grundhaltung. In einem Erstberatungsgespräch mit dem Ehepaar Eckhardt stellt sie die Rolle dieser Giftstoffe als gravierend dar: Ich denke, durch die ganze Umweltverschmutzung und Vergiftung und so weiter, das kommt halt auch dazu ja. Diskutiert werden eben die so genannten Weichmacher, […], die ja überall in den ganzen Plastikverpackungen und so weiter drin sind. […]. Kleinen Babys gibt man schon Schnuller, gibt man Plastikflaschen zu Trinken und die nehmen die Weichmacher schon im Säuglingsalter auf. Und was die jetzt für Schäden machen an der Spermiogenese und und und … das ist noch gar nicht erwiesen. ’Ne Kollegin sagt zu mir neulich „Jetzt kommt es“, hat die gesagt. Das ist jetzt erst die Spitze des Eisbergs. Es gibt immer mehr Paare, die keine Kinder kriegen können. Da kommt eine Frau mit 28, 29 Jahren – haben wir hier auch viele. Das war vor 10, 15 Jahren nicht der Fall. Ich denke, die ganze Umweltbelastung und Umweltverschmutzung, das wirkt sich schon nicht sofort aus. Das sind Prozesse, die gehen über viele Jahrzehnte. Und das ist vielleicht auch schon ein bisschen mitbedingt, man weiß es nicht (A1N in EG4N: 198).
Die Fruchtbarkeit der Paare sowie die gesamte Gesundheit erscheinen in diesem Zitat von kaum kontrollier- oder auch nur absehbaren Risiken bedroht. In dieser Einschätzung finden sich Elemente der Vorstellung von Gesundheit als Reservoir, dieses Reservoir scheint endlich und externe Faktoren greifen auf substanzielle Teile der Ressourcen zu. In diesem Textausschnitt wird beispielhaft deutlich, dass zwar die Umweltanamnese einer der Ansatzpunkte der naturheilkundlichen Therapie ist, die Umweltfaktoren aber andererseits als überwältigend dargestellt werden. Belassen es die Ärztinnen und Ärzte in der Reproduktionsmedizin bei eher allgemein gehaltenen Verweisen, wie genau die Paare weniger Stress haben sollen, ist das Ziel der naturheilkundlichen Behandlung, insbesondere der Homöopathie, eine ganzheitliche Ausgeglichenheit, welche als Voraussetzung für die Erfüllung des Kinderwunsches gesehen wird. Die Homöopathie und auch andere Naturheilverfahren sind in dieser Sicht die medizinische und professionell betreute Fortsetzung einer ganzen Reihe von Entspannungstechniken. Die Empfehlungen der Ärztinnen reichen von kleinen Pausen im Alltag, etwa durch Spaziergänge über Urlaube, über das Erlernen von Entspannungsverfahren, wie beispielsweise Yoga oder Autogenes Training, bis zur Psychotherapie. Neben der Reduktion von Stress durch verschiedene Maßnahmen und Körpertechniken und einer möglichst großen seelischen und körperlichen Ausgeglichenheit thematisieren die Ärztinnen und Ärzte beider Kliniken die motivationa-
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le Einstellungen der Paare gegenüber dem unerfüllten Kinderwunsch und seiner medizinischen Behandlung. Dass ein unmittelbarer Wirkungszusammenhang zwischen der negativen Einstellung der Paare auf die Schwangerschaftschancen konstatiert wird, wie es Dr. Müller (A1N) in einem Erstberatungsgespräch tut, ist hierbei die Ausnahme: Wenn man nur unter Stress lebt und denkt und traurig ist, dass keine Schwangerschaft eintritt, dann kann die auch nicht eintreten. Ich denke, wenn man sich so damit belastet, das ist per se schon mal schlecht (A1N in EG4N: 175).
Dennoch ist der mögliche Einfluss einer positiven Denkweise auch für andere Ärztinnen und Ärzte ein Thema. So zieht beispielsweise auch die Reproduktionsmedizinerin Dr. Neumann einen möglichen Zusammenhang in Erwägung, selbst wenn sie diese Erklärung dann wieder verwirft: Den meisten fällt es leicht [sich für eine IVF zu entscheiden, cu]. Es gibt ein paar, denen es nicht leicht fällt, die dann aber auch häufig auch mit den konservativen Therapien eher schwanger werden […] Es gibt sicher optimistische Patientinnen, die das Ganze entspannter sehen. Es gibt sicher die Gruppe der einfach von vorneherein eher pessimistischen Patientinnen […], wobei weder das eine noch das andere eine Schwangerschaft ausschließt. Im Endeffekt habe ich nicht den Eindruck, dass das wirklich auf das Endergebnis irgend[eine Auswirkung, cu] hat (A2R: 58–64).
Hier wird deutlich, dass das ärztliche Interesse an einer positiven Einstellung der Patientinnen durch eine dann höhere Therapietreue motiviert ist. So wird zwar in diesem Fall ein Zusammenhang mit der Schwangerschaftswahrscheinlichkeit zurückgewiesen, doch wird in diese Richtung argumentierenden Vermutungen von Paaren nicht widersprochen. Die Anforderungen an die Veränderung von Lebensgewohnheiten richten sich in Beratungsgesprächen und auch in den meisten Interviews direkt an die Patientinnen und Patienten. Eine Ausnahme ist hier Dr. Stein, die bereits länger überlegt, dass auch in Deutschland eine Kampagne zur Aufklärung der Öffentlichkeit über reproduktive Gesundheit vonnöten ist. Primäres Ziel dieser Kampagne wäre die Entwicklung eines Problembewusstseins gegenüber Infertilität: Es gab in Amerika, da war wirklich mal eine Kampagne von der Gesellschaft für Reproduktionsmedizin in allen Supermärkten, wo überall stand, protect your fertility, und was man eben alles tun und lassen sollte, um eben seine Fertilität zu schützen. […] Das sind alles so Dinge, die, hm, da einfach öffentlich doch mal publik gemacht werden, und die
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müssen eben auch dann, wenn man selbst noch nicht daran denkt, ins Bewusstsein gerückt werden (A6N: 110). […] Fertilität kann eben auch gestört und behindert werden und zwar nicht nur durch äußere Faktoren, sondern eben auch durch das eigene Verhalten. Und es gilt sie zu bewahren. Wie alle anderen Körperfunktionen letztlich auch (A6N: 116).
Ein guter Ansatzpunkt sei die Aufklärung von Jugendlichen in Schulen – ähnlich wie dies beim Rauchen passiere –, vor allem aber von Mädchen: Junge Mädchen wissen, irgendwie es gibt sehr viel Aufklärung für Schulklassen oder so etwas bezüglich Bronchialkarzinom. Also bezüglich der Fertilität, die vielleicht, wenn man das geschickt macht, in dem Alter mit ja doch Kindchenschema oder so etwas, wenn ich eine Schulklasse habe und zeige denen Kinder oder junge Tiere oder so etwas, reagieren zumindest die Mädchen sofort darauf und wenn man das irgendwie geschickt verknüpfen würde, hm, dass das mit dem Rauchen halt dann schwieriger ist, bleibt das wahrscheinlich auch gut hängen (A6N: 112, 114).
Dr. Stein schlägt hier eine emotionalisierte Vermittlung vor, die den Schulkindern, in diesem Fall sicherlich nicht zufällig Mädchen, wenig Raum für eigenständige Auseinandersetzung ließe. Die Umsetzung dieser Idee ging mit einer Differenzierung und Ausweitung des reproduktionsmedizinischen Zuständigkeitsbereichs einher: Während bisher medizinische Verhütungsmittel auch in den Schulen als Instrument der Biographiegestaltung zum Gegenstand werden, würde so die reproduktive Gesundheit in vielen Facetten zum medizinisch definierten Problem. Reproduktionsmedizinische Erkenntnisse sollen als Maßstäbe für Lebensweisen und Lebensplanung ab der Pubertät herangezogen werden – zu einem Zeitpunkt, wo Sexualität kein Thema und eher mit Verhütung verbunden ist und Familienplanung kaum eine Rolle spielt. Das Thema ist nicht mehr auf konkrete medizinische Eingriffe bei vorliegender Infertilität beschränkt, sondern Fertilitätserhalt wird zu einer omnipräsenten Aufgabe für einen sehr großen Lebensabschnitt, ganz unabhängig vom lebensweltlichem Kinderwunsch und von medizinischen Problemen.
6.4 V OM W UNSCH DER F RAU ?
DES
P AARES
ZUR
B EHANDLUNG
Insbesondere die Frauen- und Geschlechterforschung hat aufgezeigt, dass die Reproduktionsmedizin den Kinderwunsch fast ausschließlich über eine medizinische Behandlung von Frauen vornimmt. Die untersuchte reproduktionsmedizi-
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nische Klinik stellt hierzu keine Ausnahme dar. Im spezifischen Interaktionskontext und in der Struktur der medizinischen Praxis zeigt sich, dass diese Verschiebung vom Problem des Paares zur Behandlung der Frau sich nicht hinreichend durch eine strukturell männerdominierte Medizin, ein paternalistisches Verhältnisses von Ärzten und Patientinnen und einen Technikdeterminismus erklären lassen. Vielmehr lässt sich aus einer ethnographischen Perspektive auf die Praxis zeigen, dass sich der Ausschluss von Männern als ein Aspekt der Transformation eines diffusen zu einem medizinisch handhabbaren Problem betrachten lässt. Die Verschiebung hin zu einer Behandlung der Frau als eine Art Komplexitätsreduktion in der medizinischen Behandlung zu begreifen ermöglicht es, die Referenz auf das Paar und die gleichzeitige Zuschreibung des Kinderwunsches auf die Frauen nicht nur als rhetorische Legitimationsstrategien der Ärztinnen und Ärzte aufzufassen. Die Verschiebung vom Paar zur Frau ist nicht nur Resultat der medizinischen Arbeit, sondern mit der administrativ-schematischen Organisation der Behandlung verschränkt. Überdies bedeutet die Fokussierung auf die Frau den Ausschluss der Männer, der auch mit Einschränkungen ihrer Handlungsmöglichkeiten einhergeht. In der Diagnosephase genügen zur Überprüfung der Spermienqualität meist ein oder zwei Spermiogramme, während bei der Frau eine längere Beobachtung verschiedener Faktoren notwendig ist: Im Laufe eines Zyklus werden mehrmals Blutproben für Hormonbestimmungen entnommen sowie Ultraschalluntersuchungen durchgeführt, mit denen die Gebärmutterschleimhaut und Follikelproduktion beobachtet wird (s.o. Kap. 6.2). Im IVF-Behandlungszyklus verstärkt sich dieses Ungleichgewicht, die Männer werden nur für die Spermaabgabe benötigt, während die Frauen Hormonstimulationen und eine Operation durchlaufen (s.o Kap. 6.3). Diese ungleiche Verteilung ist dabei relativ unabhängig davon, bei wem die Ursache für die Kinderlosigkeit gesehen wird, und sie zeigt sich insbesondere, wenn eine ICSI-Behandlung aufgrund männlicher Infertilität angezeigt ist: Während die Männer hierfür nur eine Spermaprobe angeben müssen, durchlaufen die Frauen die gesamte Unfruchtbarkeitsprozedur inklusive Hormongaben und Operationen, auch wenn sie ganz gesund und fertil sind. Patientinnen und Patienten sind also schon strukturell – und aus medizinischen Gründen – unterschiedlich in die Behandlung involviert. Die Interaktion mit einer Person ist einfacher; mögliche offene Fragen und Probleme einer zweiten können zumindest nicht unmittelbar von ihr artikuliert werden. Die Paardynamik, Paarprobleme, Sexualität – und damit ein vor allem psychologischer Faktor – werden so als Thema ebenso leichter umgangen wie der Umgang mit unterschiedlichen Meinungen zum Behandlungsprozess. Dass
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der Frauenkörper eine längere Geschichte der geschlechtsspezifischen Medikalisierung hat als der Männerkörper, führt auch dazu, dass diese für Frauen selbstverständlicher ist als für Männer: Sie gehen regelmäßig zu gynäkologischen Untersuchungen und nehmen häufig Verhütungsmittel. Vor diesem Hintergrund ist von Frauen auch eine höhere Compliance zu erwarten. Erstberatungsgespräch: Medikalisierung der Vergangenheit Eine genauere Betrachtung der Erstberatungsgespräche zeigt, dass vor allem in der Anamnese und der Diagnostik die Fertilität von Männern auf spezifische Weise zum Gegenstand der medizinischen Kinderwunschbehandlung wird. Die Anamnese des Paares ist neben der Behandlungsentscheidung der wichtigste Bestandteil des Erstberatungsgesprächs und nimmt bei den von mir untersuchten Gesprächen ungefähr die Hälfte der Zeit ein. Hier bestätigt sich wiederum, dass sich vom organisatorischen Aufbau der Anamnese der unerfüllte Kinderwunsch hin zu einem Problem und einer Behandlung der Frauen verschiebt. Jedoch wird auch die Fertilität des Mannes als medizinisches Problem thematisiert und werden – bei auffälligem Spermiogramm oder anderen Hinweisen – Vorfälle in der Vergangenheit einer medizinischen Revision unterzogen. Das Erstberatungsgespräch folgt grob einem in den Akten angelegten Ablauf: Zunächst wird im Erstberatungsgespräch die Frau zu ihrer Krankengeschichte befragt, anschließend der Mann. Auf die Anamnese der Frau wird dabei bis zu 50 Prozent mehr Zeit aufgewandt als auf die des Mannes. Die Anamnese des Paares wird anhand des „Anamnesebogens für die Kinderwunschsprechstunde“ durchgeführt, der in vier Abschnitte unterteilt ist: Unter „I. Patientin“ folgt zunächst A. die allgemeine Anamnese – mit Eigen- und Familienanamnese – und anschließend B. die gynäkologische Anamnese. Dann wird unter „II. Partner“ ebenfalls eine allgemeine Anamnese und eine geschlechtsspezifische andrologische Anamnese durchgeführt. In dem Formbogen ist für den allgemeinen Teil jeweils eine Seite vorgesehen – bei der geschlechtsspezifischen Anamnese besteht der gynäkologische Teil aus gut zwei Seiten, der andrologische nur aus einer Seite. In den aufgezeichneten Erstberatungsgesprächen wird die Anamnese in fast allen Fällen mit der gynäkologischen Anamnese begonnen. Neben einer Eigen- und Familienanamnese und Angaben zu Menstruationszyklus, vorausgegangenen Schwangerschaften und Operationen enthält diese Fragen, die den gemeinsamen Kinderwunsch betreffen, wie die Länge des Kinderwunsches, der Kontrazeption sowie die bisherige Sterilitätstherapie. Auf der Ebene der Aktenaber auch der Gesprächsführung werden diese Themen also unter der Patientin subsummiert. Die erste Seite des Anamnesebogens des Mannes – hier als „Part-
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ner“ bezeichnet – entspricht in den Punkten Allgemeine Anamnese und Familienanamnese der der Patientin. Die zweite Seite enthält die andrologische Anamnese mit den Unterpunkten andrologische Erkrankungen, Spermiogramme, Schwangerschaften in anderen Partnerschaften und Operationen und ist auch vom Umfang her ein Pendant zur gynäkologischen Anamnese. Die Reihenfolge und unterschiedliche Dauer bestätigen ebenso wie die Subsummierung der Länge des Kinderwunsches und Sexualitätsgewohnheiten unter die Anamnese der Frau und die in der unterschiedlichen Bezeichnung „Patientin“ und „Partner“ ausgedrückte Abhängigkeit, dass die Kinderwunschbehandlung Frauen und Männer asymmetrisch adressiert. Die Ausführlichkeit der Anamnese und die Schwerpunktsetzungen hängen jedoch stark vom Einzelfall ab und machen die Krankengeschichte und Infertilität des Mannes zum Thema. In der Anamnese wird der bisherige Lebensverlauf allgemein, aber auch spezifisch in Hinblick auf die Fruchtbarkeit unter der Perspektive von Krankheit und Gesundheit in den Blick genommen. Neben eher offensichtlichen Anzeichen von Abweichungen von bekannten Normen, am prominentesten der des regelmäßigen Zyklus oder wiederholten Fehlgeburten, versuchen die Ärztinnen und Ärzte auch Ereignisse in Gegenwart und Vergangenheit aufzuspüren, die von den Patientinnen und Patienten nicht mit ihrer Fruchtbarkeit in Verbindung gebracht wurden. Zudem verweisen die Ärztinnen und Ärzte auf die Möglichkeit, dass in der Vergangenheit Erkrankungen vorlagen, die nicht bemerkt wurden. Bei Frauen wird hier gelegentlich eine unbemerkte Entzündung der Eierstöcke vermutet; diese Vermutung ist aber dann nur ein Argument für eine weitere Abklärung der Durchlässigkeit der Eierstöcke, und der Rekonstruktion dieser Vorerkrankung wird keine besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Eine medizinische Rekonstruktion vergangener Unterleibserkrankungen ist eher eine Ausnahme, etwa wenn wie bei Frau Falk (P6R) außergewöhnliche Operationen vorgenommen wurden. Bei Männern hingegen kann der Hinweis auf eine andrologische Erkrankung des Genitalbereichs in Kindheit oder Jugend zu einer ausführlichen Rekonstruktion der eigenen Geschichte unter medizinischen Vorzeichen führen. Die Ärztinnen und Ärzte fragen dann nicht nur nach Erkrankungen am Hoden, sondern auch nach Fällen von Lageanomalien des Hodens, Mumps oder Verdrehung des Hodens, die meist im Säuglingsalter, Kindheit bzw. Jugend auftreten. Die Erläuterung von Herrn Graf im Erstberatungsgespräch mit Dr. Neumann sind ein Beispiel dafür, dass der unerfüllte Kinderwunsch auch bei Männern zu einem Blick in die eigene Lebensgeschichte führt, der die Ereignisse nun in einen medizinischen Zusammenhang stellt. Herr Graf erzählt, wie er mit Hilfe einer Beratungsstelle, die er mit seiner Frau wegen ihrer unerwünschten Kinder-
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losigkeit aufsuchte, einen Vorfall in seiner Kindheit nun als medizinisches Problem begreift: Dr. Neumann
Dann irgendwelche Erkrankungen als Kind am Genital? Ist ein Ho-
Herr Graf
Ja. Und zwar Folgendes. Mein linker Hoden – und das weiß ich jetzt,
den nicht richtig oder Hodensack verrutscht zum Beispiel? weil ich mich dafür interessiert hab’, als Kind oder Jugendlicher hat mir das eigentlich nie jemand gesagt – der linke Hoden ist unterentwickelt. […] Aber da hat man mir gesagt, das macht nichts. Sie haben ja noch den anderen. Und jetzt ist Folgendes passiert. Das haben wir mühselig rekonstruiert, auch bei der ProFamilia. Das war Anfang der 1970er Jahre. Da muss ich so, wie nennt man das, eine Hodenverdrehung oder irgendsowas. Nach Sport war das. Da muss ich eine Verdrehung gehabt haben. […] Ja, super schmerzhaft. Das wurde von dem Hausarzt entschieden auch nicht ernst genommen. Das war im Hochsommer. Hm, ich sollte mich ins Bett legen und das ging auch tatsächlich nach ein bis zwei Wochen wieder weg. Dann. […] Doch. Ich wurde operiert. Im Dezember. Das war da aber ein halbes Jahr später. Und da war es schon zu spät. (EG6R: 171–178)
Die Rekonstruktion dieser Erlebnisse ist für Herrn Graf besonders schwierig, weil er von den damals behandelnden Ärzten keine zufriedenstellende Erklärung bekommen hatte. In diesem Fall wird die weniger umfassende Medikalisierung des Männerkörpers als eine Beschränkung der eigenen Handlungsmöglichkeiten erfahren. Zugleich ist der Fall von Herrn Graf ein Beispiel dafür, dass Patientinnen und Patienten aktiv nach medizinischen Erklärungen und Deutungen suchen. Häufig werden die Männer in den Erstberatungsgesprächen explizit auf ihre Nebenrolle verwiesen. Dies deutet darauf hin, dass sie stärker und an mehr Stellen ausgeschlossen werden, als sie es erwarten. Ein für den medizinischen Verlauf marginales, aber für den sozialen Ausschluss typisches Beispiel ist eine Nachfrage von Herrn Schmidt im Erstberatungsgespräch: Herr Schmidt
Und meine Blutgruppe [brauchen Sie auch, cu], oder?
Dr. Richter
Nein, bei Ihnen brauchen wir sie nicht. Nur bei Ihrer Frau.
Herr Schmidt
Ja gut. Weil ich sie jetzt wüsste.
[…] Dr. Richter
Ah, ich schreib sie auf. (EG14R: 264–268)
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Dem Anliegen von Herrn Schmidt wird hier entsprochen, jedoch zeigt dieser Ausschnitt, dass die Fokussierung auf die Frau so selbstverständlich ist, dass es keiner Begründung bedarf, warum seine Blutgruppe irrelevant ist. Auch Dr. Otto bestätigt bei der Beschreibung ihres Umgang mit den Patienten zum einen, dass diese in Teilen eine stärkere Integration in die Behandlung erwarten, und zum anderen die Selbstverständlichkeit des Ausschlusses: Die Männer sind dann doch ein bisschen außen vor. Und die fragen dann immer: „Ja, und was ist mit mir?“ Und ich sag’ dann immer: „Na ja, Sie [betont, cu] brauchen wir nur ein Mal.“ Und ja, so ist es eben halt (A3R: 129).
Die Nachfrage der Männer stellt Dr. Otto hier als auf Nichtwissen beruhend dar, der Ausschluss wird über professionelle Erfordernisse hergestellt und nicht weiter begründet. Die Männer werden organisatorisch und medizinisch auf eine Funktion der Spermalieferanten reduziert, die wiederum in Andeutungen mit sexueller Konnotation dethematisiert wird, wie im Folgenden gezeigt werden soll. Ausschluss des Mannes in der IVF-Behandlung Im Verlauf einer IVF-Behandlung stehen der sehr häufigen Notwendigkeit der Anwesenheit der Frauen sowohl während der Diagnose als auch während der Behandlung vergleichsweise wenige Termine der Männer in der Klinik gegenüber (s.o. Kap. 6.1). Die starke Asymmetrie der Integration von Männern und Frauen in die Behandlung bestätigt sich hier vor allem auf der Ebene der Organisation. Die Verschiebung von einem Wunsch des Paares zu einem Problem der Frau lässt sich vor allem daran festmachen, dass das Erstberatungsgespräch sich an das Paar wendet, bei den Folgeterminen aber in den meisten Fällen die Frauen alleine kommen. Während des IVF-Zyklus ist die Anwesenheit der Männer aus medizinischen Gründen lediglich für die Spermaabgabe am Tag der Punktion erforderlich. Im Beobachtungszeitraum waren zu den regulären Untersuchungen fast immer die Frauen alleine da – nur bei den Embryonentransfers waren die Partner häufiger mit anwesend. Der organisatorische Ausschluss erstreckt sich in der untersuchten Klinik dabei auch auf den Schritt der Spermaabgabe, bei dem ihre Anwesenheit vorgesehen ist. Für die Masturbation gibt es in der Klinik einen eigenen Raum; jedoch sind die Ärztinnen und Ärzte bemüht, diesen Schritt aus der Klinik auszulagern und die Männer zu Hause machen zu lassen. Dies wird vermutlich auch den Wünschen der Männer entgegenkommen, wird aber in den Erstberatungsgesprächen als Erleichterung der Abläufe präsentiert, wie der
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Ausschnitt zum aus dem folgenden Erstberatungsgespräch des Ehepaars Albrecht mit Dr. Richter beispielhaft zeigt: Herr Albrecht Dr. Richter
Das heißt, ich müsste dann mitkommen? Entweder mitkommen oder wir geben Ihnen ein Becherle mit. Entweder Sie kommen dann mit oder zu Hause. Das ist gar kein Problem. Das Sperma darf auch eine Stunde alt sein. Das müssen wir eh noch verflüssigen. Das steht auch erst bei uns ein bisschen. Das wird dann aufbereitet. Sie müssten theoretisch nicht mal dabei sein, sie müssten an dem Tag an sich nicht da sein.
Frau Albrecht
Das wird dann auch sofort am gleichen Tag gespritzt? Das geht so flott.
Dr. Richter
Ja. Wir machen einmal eine Kontrolle. Wir würden dann aber sagen, morgen oder übermorgen ist es soweit. Und an dem Tag kommen Sie mit Becherle oder Mann. Dann wird es aufbereitet, für eine halbe bis dreiviertel Stunde. (EG1R: 180–183)
Was hier3 als Vereinfachung der Organisation der Behandlung für die Paare erscheint, verstärkt die tendenzielle Ausgrenzung der Männer aus dem Therapiekontext und die Verantwortung der Frau, die nun auch für das Sperma zuständig wird. In der Antwort der Ärztin wird die Nachfrage des Patienten auf ein organisatorisches Problem reduziert. Eventuellen Bedenken bezüglich der medizinischen Aspekte setzt sie Beschwichtigungen aus Sicht der Profession entgegen. Die meisten Frauen äußerten nicht das Bedürfnis, dass ihr Mann über das Erstberatungsgespräch hinaus anwesend sein sollte. Dies wird vor allem auf organisatorische Gründe zurückzuführen sein, da schon die Vereinbarkeit mit der Berufstätigkeit der Frauen eine Belastung darstellt (s.o. Kap. 7.3). Auf der anderen Seite bedeutet die Frauenzentriertheit der Behandlung einen Ausschluss der Männer: Zwei Frauen beschreiben in den Interviews, dass dieser Ausschluss sich auch in anderer Weise zeigt. So gehört zu den Hauptkritikpunkten von Frau Hoffmann an der Klinik, Männer würden zu wenig miteinbezogen. Als Beispiel nennt sie hier, dass die Kabine, in der die Männer masturbieren, lediglich mit einem Vorhang zu schließen sei; sie habe „noch nicht mal eine Tür“ (P8R: 70, Protokoll). Frau Ewald bemängelt, dass während der Behandlung häufig zu ihrem Mann gesagt wurde, dass er bei bestimmten Schritten nicht dabei sein müsse
3
Die beschriebene Behandlungsart in diesem Beispiel ist eine Insemination. Mit Sperma für eine IVF-Behandlung wird jedoch genauso verfahren.
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(P5R: 61), während es für sie als Paar aber sehr wichtig gewesen sei, möglichst viele Schritte gemeinsam zu erleben. So habe sich ihr Mann auch zum Embryonentransfer frei genommen, der für beide „ein Erlebnis“ gewesen sei (P5R: 61). Gerade weil der Mann von der „körperlichen Prozessen“ wenig mitbekomme, sei es aus ihrer Sicht umso wichtiger, dass er so viel wie möglich anwesend sei und so auch seine eigenen Fragen und Bedenken hervorbringen könne (P5R: 61). Sowohl in den Erstberatungsgesprächen als auch in den Interviews wird von der Spermagewinnung wenig berichtet: Sie wird in der Erläuterung der frauenzentrierten Behandlung ausgespart. Entscheidend ist, dass ausreichend gute Spermien für die IVF bereit stehen, nicht, wie sie gewonnen wurden. Dies ist auch auf eine teilweise Tabuisierung zurückzuführen: Weder in den Interviews und Erstberatungsgesprächen noch auf der Homepage der Klinik kommen die Worte „Masturbation“ oder „Selbstbefriedigung“ vor. Im oben zitierten Erstberatungsgespräch wird mit der Option „Becherle oder Mann“ (EG1R: 183) von der Ärztin die direkte Ansprache des Themas Masturbation umgangen. Dieser Andeutungscharakter wird dadurch verstärkt, dass „das Becherle“ den Zustand nach und „der Mann“ sich auf den Zustand vor der Masturbation beziehen. Während alle anderen Schritte des Behandlungsverlaufes weitgehend eher indirekt mit Sexualität assoziiert werden können, ist für die erfolgreiche Spermiengewinnung sexuelle Erregung der Männer erforderlich. Eine Ausnahme von dieser generellen Dethematisierung der Sexualität ist das Erstberatungsgespräch des Ehepaares Haase. Hier wird an den Reaktionen der Ärztin deutlich, dass dies außerhalb der medizinischen Routinen liegt. In den mitgebrachten Unterlagen aus einer anderen Klinik befindet sich die Analyse eines Spermiogramms, das auf eine stark eingeschränkte Spermienqualität hindeutet, dessen Aussagekraft aber sowohl von der Ärztin als auch von den Haases bezweifelt wird. Deshalb ist ein Kontrollspermiogramm nötig. Ohne Berücksichtigung der Regel, dass einem Spermiogramm eine Zeit der sexuellen Abstinenz vorangehen sollte, schlägt Dr. Neumann vor, das Spermiogramm im Anschluss an die Beratung zu machen: Dr. Neumann
Spermiogramm könnten wir sogar heute noch machen, wenn Sie
Herr Haase
Keine Frage. Keine Frage. Kein Problem. [Alle lachen]
möchten. (EG7R: 294–296)
Auch hier wird die dafür erforderlicher Masturbation nicht als solche benannt; Trotzdem ist dies ein Beispiel für einen relativ offenen Umgang. Dies ist aller-
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dings eine Ausnahme und im Kontext des Charakters des gesamten Erstberatungsgesprächs zu verstehen. Das Ehepaar hat eine offene und zum Teil offensive Art, der Ärztin verschiedene Dinge mitzuteilen und wähnt diese auf ihrer Seite, wenn es um die Einnahme von Anabolika des Mannes geht oder darum, dass die Vorstellung in einer anderen Klinik damit endete, dass sie aufgrund aufbrausenden Verhaltens hinausgebeten wurden. Etwas früher im Gespräch berichtete das Paar bereits davon, wie es sich die Spermien des Mannes unter einem eigens dafür angeschafften Mikroskop beobachtet hatte (EG7R: 232). Wenn es um sexuelle Themen geht, bekommt die Thematisierung einen leicht jovialen Unterton, etwa, wenn auf das eigene Sexualverhalten angespielt wird, wie beispielsweise in der Beschreibung bisheriger Zeugungsversuche des Ehepaares. Während andere Paare die Frage nach dem Sexualverkehr im fruchtbaren Fenster der Frau mit einfacher Bejahung beantworten, stellt Herr Haase – dann bestätigt von Frau Haase – diese medizinische Information in einen eindeutig sexuellen Kontext: Dr. Neumann:
Okay. Das heißt Sie haben auch regelmäßig um den Zeitpunkt des
Frau Haase
Ja.
Herr Haase
Wie Sport [lacht]
Eisprungs herum Verkehr gehabt? Oft genug?
Frau Haase
Wie Sport [lacht]
Dr. Neumann
Ihr Sport [lacht]. Ja, mein Gott … (EG7R: 144–148)
Die Ärztin ist an einigen Stellen irritiert, lässt sich aber insgesamt auf die Situation und die Atmosphäre ein. Dass sie dabei aus der eigentlichen professionellen Rolle fällt, zeigt sich auch darin, dass sie ein paar Mal im Gespräch ins Duzen übergeht. Die starke Trennung zwischen distanzierendem Siezen und persönlicherem Duzen wurde in keinem der anderen Gespräche aufgehoben. Vertrauensverhältnis von Ärztinnen und Ärzten und Patienten Weder die Ärztinnen und Ärzte noch die Patientinnen und Patienten thematisieren in den Interviews, dass in der Kinderwunschbehandlung, insbesondere im Erstberatungsgespräch, das besondere Vertrauensverhältnis zwischen einem behandelnden Arzt oder einer behandelnden Ärztin und der einzelnen Patientin oder dem einzelnen Patient nicht bestanden hätte. Mit dem jeweiligen Partner oder der jeweiligen Partnerin als einer dritten Person ist diese Vertraulichkeit eigentlich nicht mehr gegeben. Während bei Folgeuntersuchungen die Patientin
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häufig ohne Partner zu den Terminen kommt und prinzipiell Gelegenheit hat, alleine mit dem Arzt oder der Ärztin zu reden, ist dies beim Erstgespräch, in dem der grundlegende Befund beider Partner erhoben wird und auch Fragen zu sehr privaten und sensiblen Themen wie Sexualität und vergangenen Schwangerschaften und Aborten – auch mit anderen Partnerinnen oder Partnern – gestellt werden, nicht der Fall. Zum einen stärkt diese Ausweitung des besonders geschützten Verhältnisses zwischen Arzt und Patient die Auffassung des unerfüllten Kinderwunsches als Problem des Paares. Auf der anderen Seite wird aber beiden gerade in der Situation, in der sie als Patientinnen und Patienten am meisten Einfluss nehmen können, nämlich im Erstberatungsgespräch, die Möglichkeit zu einem vertraulichen Zweiergespräch genommen. Auch bei ihrem genuin medizinischen Beitrag haben die Männer keine Gelegenheit, alleine mit einem Arzt oder einer Ärztin zu sprechen: Wenn die Masturbation zum Zweck der Gewinnung von Sperma in der Klinik stattfindet, geschieht dies in separaten Räumlichkeiten und ist mit keinem Gespräch verbunden. Die Besprechung der Spermiogramme erfolgt in einem Gespräch mit dem Paar oder alleine mit der Frau. Auf einer strukturell-administrativen Ebene wird den Männern also seltener Gelegenheit gegeben, sich in die Behandlung einzubringen oder über Probleme zu informieren; sie werden sehr viel weniger als Frauen in die Behandlung integriert. Wenn die Spermiogramme ergeben haben, dass keine Spermien im Ejakulat vorhanden sind, im Hoden aber die Bildung von Spermien stattfindet, gibt es die Möglichkeit, Spermien operativ in einer testikulären Spermienextraktion (TESE) zu isolieren und für eine ICSI zu benutzen, wobei durch eine Biopsie Hodengewebe entnommen wird. Die Hodenbiopsie ist das einzige reproduktionsmedizinische Verfahren, das für Männer mit Risiken und Nebenwirkungen verbunden ist, während dies bei den Frauen bei der Einnahme von Hormonen sowie der operativen Follikelentnahme der Fall ist. Es wird davon ausgegangen, dass bei ungefähr fünf Prozent der Paare mit unerfülltem Kinderwunsch beim Mann eine Azoospermie vorliegt. In über der Hälfte der Fälle ist die Spermatozoengewinnung erfolgreich; die Fertilisierungs- und Schwangerschaftsraten sind denen der normalen ICSI ähnlich. Während der teilnehmenden Beobachtung in der Klinik gab es keinen Fall, in dem eine solche Operation durchgeführt wurde. In zwei Erstberatungsgesprächen war sie jedoch Thema, jeweils aufgrund eines bereits vorliegenden Spermiogramms, mit dem eine Azoospermiediagnose verbunden wurde. Während in dem einem Erstberatungsgespräch die bisherige Diagnose so unsicher scheint, dass zunächst ein weiteres Spermiogramm abgewartet und eine TESE nicht angesprochen wird, ist sie in dem Erstberatungsgespräch des Paares Grafs explizit Thema:
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Dr. Neumann
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Also im Grunde muss man das einfach mal machen. Wenn denn bewegliche Spermien da wären. Sag’ ich jetzt mal. Das würde uns völlig reichen. Dann müsste man überhaupt – man muss überhaupt, wenn man Ihre Spermien benutzen möchte, in Richtung künstliche Befruchtung gehen. Da gibt es keine Alternative auf dem normalen Wege, sag’ ich jetzt mal. Weil sich das jetzt so, auch wenn Spermien da sind, nicht ausreicht. Wenn in dem normalen Ejakulat gar keine Spermien, bewegliche Spermien zu finden sind, auch bei zweimaliger Abgabe nicht, dann muss man sich überlegen, den weiteren Schritt zu gehen. Da muss man eine Hodenbiopsie entnehmen. Haben Sie sicher auch schon gehört, wahrscheinlich.
Frau Graf
Ja.
Dr. Neumann
Das ist jetzt einfach noch mal zur Info. Einen Schritt weiter gedacht. Ich würde jetzt erstmal das Kontroll-Spermiogramm machen, und dann sehen wir weiter. Aber das sind so die Möglichkeiten, die man hat.
Frau Graf
Sie meinen die Funktion.
Dr. Neumann
Mangelnde Funktion, ja [alle sprechen durcheinander] Da können Sie auch selber sagen, das wollen Sie nicht.
Frau Graf
Das kommt für uns nicht in Frage. Ich denke, mit dieser Vorgeschichte und auch – ja, Angst vor Schmerzen. Das respektiere ich auch, ja! Ich finde dieser erste Schritt und guckt, was ist noch da –
Dr. Neumann
Das wird auch auf jeden Fall erstmal vorgezogen.
Herr Graf
Wir haben darüber gesprochen. Aufgrund dessen stehe ich momentan noch sehr, sehr skeptisch gegenüber, weil ich da praktisch ein bisschen traumatisiert bin. Ich scheu davor zurück [unverständlich]. Ich bin da momentan sehr skeptisch.
Dr. Neumann
Das ist kein großer Eingriff, aber das ist natürlich kein angenehmer Eingriff. Das sind alles so Sachen, die muss man dann besprechen, wenn sie soweit sind. Insgesamt kommen Sie, denke ich, als Paar um eine künstliche Befruchtung so nicht herum. Also wenn wir Spermien finden, wird es darauf hinauslaufen. (EG6R: 211–219)
An dieser Stelle des Erstberatungsgesprächs leitet die Ärztin zunächst zu einem anderen Thema über. Auf das Thema Hodenbiopsie kommt das Gespräch aber später zurück, als Frau Graf das Zimmer verlässt, um auf Toilette zu gehen:
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Dr. Neumann
Okay. Haben Sie sonst noch Fragen?
Herr Graf
Jetzt direkt so nicht. Also das einzige, wo wir uns vorher drüber unterhalten haben, ist diese Punktierung. Wo wir, wo ich jetzt für mich momentan erstmal rausziehe.
Dr. Neumann
Ist auch vernünftig.
Herr Graf
Und, hm, das ist natürlich ein bisschen problematisch, wenn das die letzte Chance wäre. Das ist so – sehr schwierig für uns.
Dr. Neumann
Das können Sie dann immer noch entscheiden. Da können Sie noch festlegen. Die Punktierung. Da würden Sie noch mal zu uns vorne zum Urologen gehen. Und die würden das noch mal untersuchen. Und dann würden sie wahrscheinlich auch sagen, dass sie das nur rechts machen in Ihrem Fall. Also das sind alles so Sachen, die sehen wir dann, wenn wir soweit sind.
Herr Graf
Aber momentan, selbst, würde ich das erstmal ausschließen.
Dr. Neumann
Dann machen Sie das auch. Dann schließen Sie das aus. Sie müssen
Herr Graf
Das ist klar.
Dr. Neumann
Die Punktion, Biopsie-Entnahme, und dann die künstliche Befruch-
dann einfach nur mit den Konsequenzen dann leben.
tung. Das sind ja alles keine Garantien dafür, dass sie dann auch schwanger wird. Biopsie, zu fünfzig Prozent bisschen mehr was, das kann genauso in der Sackgasse enden, sag’ ich jetzt mal. […] [Klopfen an der Tür. Frau Graf kommt wieder herein.] (EG6R: 331–339)
Diese Interviewpassage ist ein Beispiel dafür, dass es auch für die Männer einen Unterschied machen kann, ob die Interaktion allein mit der Ärztin oder dem Arzt oder in Anwesenheit der Frau stattfindet. Der Interaktionsrahmen zu der Entscheidung für oder gegen eine Hodenbiopsie entspricht hier einem Vertragsmodell, in dem die Entscheidungsfindung und -verantwortung beim Paar liegt. Die Ärztin stellt zusätzliche Informationen zu Verfügung. Sie bestätigt die Entscheidung des Mannes explizit, auf der anderen Seite verweist sie aber auch auf die Konsequenzen und darauf, dass im Moment noch keine endgültigen Entscheidungen getroffen werden müssen. Dies führt zu einer Reformulierung und Relativierung auf Seiten des Mannes, indem er die Entscheidung auf den gegenwärtigen Moment bezieht. Was hier aber vor allem deutlich wird, ist die ungleiche Bereitschaft von Frauen und Männern, sich in der reproduktionsmedizinischen Behandlung operativen Verfahren zu unterziehen. Während auch andere Paare spezielle reproduktionsmedizinische Verfahren für sich an einem bestimmten Punkt des Behandlungsverlaufs ausschließen – wie eine heterologe Inseminati-
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on, Kryokonservierung oder ICSI – ist dies der einzige Fall, in dem in dem dies die Konsequenz hätte, dass es zu keiner Unfruchtbarkeitsbehandlung des Paares kommen könnte, da sie eine heterologe Insemination tendenziell ausgeschlossen haben. Auf der einen Seite zeigt sich im Gesprächsausschnitt, dass das Ehepaar Graf partnerschaftlich für sich eine Hodenbiopsie ausgeschlossen hat und diese Entscheidung gemeinsam trägt. Zugleich hat während des Untersuchungszeitraums keines der Paare oder keine der Frauen eine Punktion oder Bauchspiegelung ausgeschlossen. Dies mag auch damit zusammenhängen, dass zumindest die Punktion ein notwendiger und – im Gegensatz zur diagnostischen Bauchspiegelung und Hodenbiopsie – bekannter Teil einer IVF-Behandlung ist und in die Entscheidung mit einfließt, in einer Kinderwunschklinik vorstellig zu werden. Zugleich ist dies eine weitere Bestätigung des Eindrucks der Ärztinnen und Ärzte, die bei den Frauen eine höhere Bereitschaft sehen, sich reproduktionsmedizinisch behandeln zu lassen.
6.5 Z WISCHENFAZIT In diesem Kapitel wurde die Kinderwunschbehandlung in ihrem Verlauf und unter dem Blickwinkel ihrer administrativen Struktur diskutiert. Hierbei wurde insbesondere darauf eingegangen, wie diese die Arzt-Patienten-Beziehungen strukturieren und dazu beitragen, den unerfüllten Kinderwunsch in ein für die Medizin behandelbares Problem zu transformieren. Ärztinnen, Ärzte und Paare verfolgen mit der Überwindung der Kinderlosigkeit durch ein leibliches Kind des Paares ein gemeinsames übergeordnetes Ziel. Das Erreichen dieses Ziels hat für die Beteiligten jedoch unterschiedliche Bedeutung: Für die Paare ist es die Einlösung eines als so gut wie selbstverständlich angenommenen Lebensentwurfes (s.o. Kap. 5.2), für die Ärztinnen und Ärzte Teil ihrer professionellen Performanz (s.o. Kap. 6.2). Die Unterteilung der Behandlungszyklus in aufeinander aufbauende Schritte führt dazu, dass das Gelingen der Behandlung sowohl von den Ärztinnen und Ärzten als auch von den Paaren nicht mehr allein an der Geburt eines gesunden Kindes gemessen wird. Die schrittweise Abfolge aufeinander aufbauender, aber nicht diskret voneinander zu trennender Aspekte der Behandlung entfaltet eine spezifische Dynamik. Hierbei sind zwei sich überlappende und eng miteinander verzahnte Verläufe zu unterscheiden: Zum einen stellt die Diagnose einen Prozess dar, in dessen Verlauf schrittweise Erkenntnisse gesammelt werden, die aufeinander aufbauen und mit der Hoffnung auf immer differenziertere Problembeschreibungen verbunden werden. Die Diagnose erfährt während der einzelnen Behandlungs-
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schritte und durch die IVF-Zyklen Korrekturen und wird beständig durch neue Ergebnisse umgeschrieben. Die Spannung zwischen der Hoffnung auf Klarheit und Erfolge und neuen Unsicherheiten wird während des Behandlungsverlaufs immer wieder virulent. Zum anderen ist die IVF-Behandlung als linearer Verlauf – mit bestimmten Höhen und Tiefen – strukturiert, in dem die einzelnen Behandlungsschritte jeweils für sich bewertet werden und konstitutiv aufeinander aufbauen. Beides führt dazu, dass die medizinische Perspektive zu einem wichtigen Bezugspunkt der Paare wird. Durch die diagnostischen Verfahren differenziert sich der unerfüllte Kinderwunsch in eine Vielzahl möglicher medizinischer Probleme, und mit jedem Test und jeder Untersuchung tun sich immer neue potenzielle Problembereiche auf. Gleichzeitig erscheinen so weitere und weitergehende medizinische Diagnoseverfahren und dann auch die Therapie als adäquate und plausible Antworten und Lösungen der nun medikalisierten Teilprobleme. Dieser Prozess ist dadurch gekennzeichnet, dass er kein klar zu definierendes, in medizinische Kriterien fassbares Ende hat. Der medizinische Ablauf und die administrative Organisation des Behandlungsverlaufs strukturieren die Beziehungen und die Interaktion von Ärztinnen und Ärzten und Paaren, die sich je nach Station und Ort der Behandlung unterscheiden, auf eine spezifische Art und Weise. Die Ärztinnen und Ärzte und die Patientinnen sind die zentralen Figuren im Behandlungsverlauf. Sonstiges medizinisches Personal und die Sekretärin spielen eine untergeordnete Rolle. Die im Behandlungsverlauf aufeinander folgenden unterschiedlichen Therapieschritte sind durch die strukturell unterschiedliche Qualität der Arzt-Patienten-Beziehung gekennzeichnet; sie lassen sich also nicht pauschal und als Ganzes einem bestimmten Typ der Arzt-Patienten-Beziehung zuordnen. Vielmehr korrespondieren bestimmte Schritte mit dominierenden Typen, die sich auf einer Skala vom Kundenmodell bis hin zu einer Aktiv-Passiv-Beziehung abbilden lassen. Diese Unterschiede lassen sich nicht angemessen in dem relativ starren Rollenkonzept nach Parsons und entsprechenden Weiterführungen beschreiben. Auch der Vorschlag, die Struktur der Arzt-Patienten-Beziehung in Modellen zu fassen, wie es Freidson und neuere medizinsoziologische und gesundheitswissenschaftliche Ansätze vorschlagen, wird der Heterogenität der unterschiedlichen Behandlungskontexte nicht gerecht. Stattdessen lässt sich die vorgeschlagene Kategorisierung dieser Ansätze nutzen, um unterschiedliche Rahmen spezifischer Interaktions- und Handlungsmuster im Behandlungsverlauf zu unterscheiden. Schon in der Bestimmung des unerfüllten Kinderwunsches als Behandlungsund Forschungsgegenstand zeigt sich, dass Zuschreibungen an die Paare und ihre Charakterisierung für das Selbstverständnis der Ärztinnen und Ärzte relevant sind: Der Behandlungsanlass sowie der Bedarf an weiterer Forschung und Aus-
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weitung der medizinischen Zuständigkeit werden im Leiden von Patientinnen und Patienten verortet; kritisch gesehene Aspekte wie eine zu starke Nachfrage nach reproduktionsmedizinischer Behandlung oder die Kommerzialisierungstendenzen in der Medizin werden als Problem außerhalb der ärztlichen Zuständigkeit beschrieben. Ein Resultat dieser Zuschreibungen ist eine paternalistische Positionierung gegenüber den Paaren (s.o. Kap. 5.3). Jedoch sehen die Ärztinnen und Ärzte beider Kliniken das Paar zugleich als aktiven Partner in der Behandlung. Die Aufklärung der Paare ist die Voraussetzung für deren Mitarbeit und Compliance. Die Ärztinnen und Ärzte betonen aber auch, dass die Perspektive der Paare aufgrund ihrer spezifischen Lage immer beschränkt bleibt und stellen so ihre eigene, medizinische Expertise heraus. Die ärztliche Vorstellung des Arzt-Patienten-Verhältnisses ähnelt dem Modell wechselseitiger Partizipation von Freidson, das sich in der Praxis jedoch eher als Führungs-Kooperationsmodell realisiert. Tabelle 7
Arzt-Patient-Beziehung nach Behandlungsphasen
VOR DER BEHANDLUNG
(zum Teil bis nach Abschluss des Erstberatungsgesprächs) ERSTBERATUNGSGESPRÄCH
DIAGNOSEZYKLUS
HORMONSTIMULATION
OPERATIVE FOLLIKELENTNAHME IVF IM LABOR EMBRYONENTRANSFER
SCHWANGERSCHAFTSTEST
Kundenmodell • Paare wählen Klinik aus • Klinik als Dienstleister • Entscheidungsfindung und Verantwortung beim Paar informativ bis interpretativ; Informed choice: Führungs-Kooperationsmodell • interpretativ bis abwägend: bei Beratung über Wichtigkeit des Kinderwunsches, Behandlung ja/nein • informativ: bei Entscheidung über Therapie informativ, interpretativ bis paternalistisch • ärztliche Vorgaben und Kontrollen • Gestaltungsmöglichkeiten für die Paare paternalistisch • Ärztinnen und Ärzte treffen Entscheidungen relativ unabhängig von den Wünschen und Werten der Paare • Wohl des Paares als relativ unabhängig von dessen aktuellen Präferenzen definiert aktiv-passiv • Ärztin/Arzt aktiv, Patientin passiv und den Aktivitäten der Ärztin/des Arztes unterworfen [ausgelagert, nicht von Ärztinnen/Ärzten und Paaren zu beeinflussen] aktiv-passiv bis informativ • Operation: Ärztin/Arzt aktiv, Patientin passiv • Embryonenanzahl: Paare und Ärztinnen und Ärzte entscheiden gemeinsam [Zeit bis zum Schwangerschaftstest größtenteils ohne ArztPatienten-Interaktion, Mitteilung des Testergebnisses durch nichtmedizinisches Personal]
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Mit der Entscheidung für eine Klinik werden die Handlungsmöglichkeiten der Paare abhängiger von den Ärztinnen und Ärzten. Bei der Auswahl der Klinik liegen Entscheidungsfindung und Verantwortung primär bei den Paaren. Die Kliniken und die Ärztinnen und Ärzte werden als unterschiedliche Dienstleister wahrgenommen, zwischen denen es auszuwählen gilt. In dieser Phase werden die Paare zum Teil durch niedergelassene Medizinerinnen und Mediziner beraten; charakteristisch ist aber die relativ autonome Entscheidung der Paare, so dass diese Phase am ehesten mit dem Kundenmodell beschrieben werden kann (s.o. Kap. 5.3.1). Mit der Möglichkeit, die Klinik auch nach Diagnose- und Behandlungsbeginn zu wechseln, bleibt das Kundenmodell im Hintergrund erhalten, wird jedoch in Erstberatungsgespräch, Diagnosestellung und IVF-Zyklus von anderen Formen der Arzt-Patienten-Interaktion überlagert. Vor allem im Erstberatungsgespräch hat die Arzt-Patienten-Beziehung starke informative Elemente. Die Ärztinnen und Ärzte legen Wert darauf, dass die Paare gut über die Behandlung informiert sind. Ihnen ist es dabei nicht nur ein Anliegen, dass die Paare über die einzelnen Verfahren informiert werden, sondern auch, dass sie diese nachvollziehen und verstehen können. Nach eigener Ansicht kommen die Ärztinnen und Ärzte damit einem Wunsch der Paare nach. Zugleich zielt die ärztliche Bemühung um Aufklärung und Information aber immer auf ein kooperatives Verhalten der Paare: Explizit gehen die Ärztinnen und Ärzte davon aus, dass die Compliance der Paare dann gegeben ist, wenn ihnen die medizinischen Maßnahmen plausibel und notwendig erscheinen und sie zufrieden mit der Behandlung sind. In der medizinischen Kinderwunschbehandlung ist die Compliance als Befolgung der ärztlichen Ratschläge besonders wichtig. Sowohl in der reproduktionsmedizinischen als auch in der naturheilkundlichen Klinik ist es für die medizinische Therapie erforderlich, dass die Paare den ärztlichen Anweisungen auch außerhalb des ärztlichen Kontrollbereichs Folge leisten: In der reproduktionsmedizinischen Therapie betrifft dies vor allem die eigenständige Hormoneinnahme zu Hause, in der naturheilkundlichen die regelmäßige Einnahme von homöopathischen Medikamenten, mehr aber noch die Umstellung der Lebensweise. Im Erstberatungsgespräch finden sich jedoch auch Sequenzen, in denen die Arzt-Patienten-Beziehung einem teils paternalistischen Führungs- und Kooperationsmodell entspricht und von den Patientinnen und Patienten vor allem erwartet wird, dass sie den ärztlichen Anweisungen Folge leisten. In der Diskussion des Patientenbildes der Ärztinnen und Ärzte (s.o. Kap. 6.1) wurde besonders deutlich, dass diese ihre Autonomie und Autorität gegenüber den Paaren aufrecht erhalten. Die Punktion, und zu einem gewissen Grad der Embryonentransfer, sind schließlich Schritte, in denen die Ärztinnen und Ärzte aktiv und die Patientinnen weitgehend passiv sind. Beim
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Embryonentransfer können letztere zuvor Einfluss auf die Anzahl der transferierten Embryonen nehmen. Während der Punktion sind sie in der Regel in Vollnarkose. Beides bestätigt die grundsätzlich hierarchische Arzt-Patienten-Beziehung. Zwei für die IVF zentrale Abschnitte des Behandlungsverlaufs finden vollständig außerhalb der Arzt-Patienten-Interaktion statt: die Befruchtung im Labor und die Hormontherapie zu Hause. In beiden Behandlungsabschnitten verschiebt sich die Verantwortung für die Behandlung: zum einen auf die Laborantinnen, zum anderen auf die eingesetzte Technik und, zentraler, auf die körperliche Natur. Gleichzeitig zeigt sich, dass die In-vitro-Technik selbst in der Praxis wenig Bedeutung für das Erleben der Behandlung hat: In die Therapie und ihre Logik integriert werden die Patientinnen vor allem durch die Aktentechniken wie Fahrpläne, Terminkalender oder Hormonprotokolle. Medizintechnisch relevant für diesen Prozess sind Ultraschalluntersuchungen und die eigenständige Hormoneinnahme. Mit dem Eintritt in die Kinderwunschbehandlung wird die Transformation des lebensweltlichen Wunsches nach einem Kind in ein medizinisch behandelbares Problem fortgeführt. Diese Transformation setzt dabei, nicht erst mit dem Beginn der Behandlung ein (s.o. Kap. 5.2). Die Ärztinnen und Ärzte können dabei an das instrumentelle Gesundheits- und Körperverständnis der Paare, an die geteilte Auffassung über die Zuständigkeit der Medizin und die Erwartung der Paare an die Behandlung anschließen. Es konnte gezeigt werden, dass sich die Transformation des unerfüllten Kinderwunsches vor allem im Erstberatungsgespräch vollzieht: Hier wird von den Ärztinnen und Ärzten vorgegeben, welche Themen legitime Gegenstände sind. Besonders deutlich wird die Transformation darin, dass am Ende des Erstberatungsgesprächs häufig bereits eine Behandlungsentscheidung steht. Auch die Verschiebung von dem unerfüllten Kinderwunsch des Paares hin zur Behandlung der Frau kann als eine solche Transformation und Vereinfachung interpretiert werden. An diesem Punkt kann die These der stärkeren Medikalisierung der Frau der bisherigen Auseinandersetzung der Frauen- und Geschlechterforschung bestätigt werden, sie muss jedoch zugleich dahingehend differenziert werden, dass vor allem die Vergangenheit der Männer stärker unter medizinischer Perspektive betrachtet wird und mit der geringeren Integration in die Behandlung nicht nur weniger Handlungszwänge, sondern auch beschränktere Handlungsmöglichkeiten einhergehen (s.o. Kap. 6.4). Für den naturheilkundlichen Fall konnte keine systematische Analyse des Behandlungsverlaufs durchgeführt werden, da sich zum Zeitpunkt der Untersuchung die Kinderwunschbehandlung auf die Erstberatungsgespräche beschränk-
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te. Im Vergleich mit der Reproduktionsmedizin deutet sich allerdings an, dass Männer und Frauen ähnlich intensiv in die Beratung integriert werden und vom Anspruch her gleichermaßen und mit ähnlichen Verfahren therapiert werden sollen. Zugleich konnte gezeigt werden, dass auch der naturheilkundliche Ansatz mit einer ausgedehnten Medikalisierung einhergeht: Prinzipiell können und sollen alle Aspekte der Lebenswelt Gegenstände des alternativmedizinischen Zuständigkeitsbereichs werden (s.o. Kap. 6.3.). Die Lösung der durch gesellschaftliche Entwicklung und Zwänge mitbeeinflussten fertilitätsschädigenden Lebenssituation wird auf individueller Ebene gesucht und angestrebt. Dahingegen sind in der reproduktionsmedizinischen Behandlung die empfohlenen Maßnahmen häufig vorgelagert; es kommt zu einer zeitlichen Ausdehnung der reproduktionsmedizinischen Zuständigkeit auf die Zeit vor der Behandlung.
7 Die Arbeit der Paare an der Verlaufskurve
Die Medikalisierung des unerfüllten Kinderwunsches wurde im vorangegangenen Kapitel aus der Klinik heraus betrachtet, mit Orientierung an einer medizinischen Perspektive auf den Krankheitsverlauf. Es wurden vor allem die Abläufe der Krankenbehandlung und der Blickwinkel der Ärztinnen und Ärzte diskutiert. Hierbei konnte gezeigt werden, dass die Paare, vor allem die Frauen auf spezifische Weise in die Behandlung integriert und für deren Gelingen verantwortlich gemacht werden, ihnen aber vor allem im IVF-Behandlungszyklus selbst wenig Entscheidungsräume überlassen werden. Gleichzeitig wurde deutlich, dass diese Prozesse komplex und vielschichtig sind und auf Seiten der Paare nicht in einer abhängigen Patientenrolle oder der Übernahme eines klinischen Blicks aufgehen. In diesem Kapitel wird nun – in Anlehnung an die Krankheitsverlaufskurvenforschung (s.o. Kap. 2.3) – die Arbeit der Paare an der Verlaufskurve in den breiteren Kontext von Behandlungsarbeit, Alltagsarbeit und Biographiearbeit gestellt. Statt mit „krankheitsbezogener Arbeit“ den Begriff der Verlaufskurvenforschung zu verwenden, bezeichne ich die Arbeit der Paare, die sich auf die Therapie und ihre medizinischen Aus- und Nebenwirkungen bezieht, als Behandlungsarbeit. Denn nicht die Ursache ungewollter Kinderlosigkeit liegt dieser Arbeit zu Grunde, sondern seine Behandlung. Mit dieser Perspektive lässt sich zum einen ein dominierender Einfluss der Behandlung auf die Lebenswelt der Paare in bestimmten Phasen der Behandlung herausarbeiten, zum anderen aber auch die Relativierung der Medikalisierung des unerfüllten Kinderwunsches. Gleichzeitig wird die Orientierung an Gesundheitsnormen im Umgang mit sich selbst und dem eigenen Körper aufgezeigt. Zunächst werde ich auf die Bedeutung der Aneignung wissenschaftlichen Wissens und die Einflussnahme auf den Behandlungsverlauf eingehen (Kap. 7.1). Insbesondere den Patientinnen wird von den Ärztinnen und Ärzten im IVFBehandlungsverlauf Verantwortung – vor allem während der Stimulationsphase – übertragen. Von ihnen wird erwartet, dass sie eine gewisse Expertise erwerben,
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um diese Aufgaben ausführen zu können (s.o. Kap. 6.2.1). Für die Paare ist die Aneignung medizinischen Wissens jedoch auch dadurch motiviert, ein Gegengewicht zu der Expertise der behandelnden Ärztinnen und Ärzte zu bilden. Dieses Wissen nutzen sie zur eigenständigen und in Einzelfällen auch konfliktträchtigen Deutung des Behandlungsverlaufs, auf dessen Grundlage sie Strategien entwickeln, um auf die Behandlungsverlaufskurve Einfluss zu nehmen. Die IVFBehandlung erleben die Patientinnen eher als psychisch denn als physisch belastend. Um diesen Belastungen zu begegnen, wählen sie verschiedene Strategien, die zum Teil den ärztlichen Empfehlungen zur Fruchtbarkeitssteigerung entsprechen und sich als reflexive Selbst- und Körpertechniken beschreiben lassen. Hierbei lässt sich eine Orientierung an medizinischem Wissen sowie Gesundheitsnormen feststellen (Kap. 7.2). In der Arbeit an der Verlaufskurve von Seiten der Patientinnen und Patienten lassen sich verschiedene Phasen unterscheiden: Während des IVF-Zyklus dominieren Organisations- und Behandlungsarbeit; vor allem für die Patientinnen stellen die Anforderungen, vor allem die terminlichen, eine Belastung dar (Kap. 7.3). Im Fortschreiten der Behandlung und vor allem in den Pausen zwischen Behandlungszyklen werden Biographie- und Beziehungsarbeit wichtiger. Die Behandlung wird von vielen Paaren am Arbeitsplatz, aber auch im Freundes- und Bekanntenkreis, geheim gehalten, die hierfür verwendeten Strategien lassen sich zum Teil als Stigmamanagement im Goffman’schen Sinne charakterisieren (Kap. 7.4).
7.1 E INFLUSSNAHME
AUF DIE
B EHANDLUNG
Die Paare nutzen unterschiedliche Quellen und Strategien, um ihr Wissen über die Reproduktionsmedizin zu erweitern und eine Art Gegenexpertise zu der der Ärztinnen und Ärzte zu entwickeln (Kap. 7.1.1). Das medizinische und ärztliche Wissen wird als begrenzt erlebt (Kap. 7.1.2). Auf der Grundlage dieses Erlebens und der eigenen Wissensaneignung nehmen die Paare Einfluss auf den medizinischen Behandlungsverlauf (Kap. 7.1.3). Zu einer grundsätzlichen Infragestellung ärztlicher Expertise und Autonomie kommt es jedoch nicht, vielmehr ist das Verhältnis zu den Ärztinnen und Ärzten von einem grundlegenden Vertrauen geprägt (Kap 7.1.4). 7.1.1 Strategien der Wissensaneignung Um sich über verschiedene Therapieformen zu informieren, nutzten die Paare unterschiedliche Möglichkeiten und Strategien. Die Mehrzahl der interviewten
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Frauen gibt an, sich über Bücher, Zeitschriften und das Fernsehen über reproduktionsmedizinisches Wissen angeeignet zu haben. Die meisten konsultierten hierbei populärwissenschaftlich aufbereitetes Wissen etwa in Fernsehdokumentationen, Zeitschriften oder Ratgeberliteratur. Das Internet wird als Informationsquelle und Ort des Austausches genutzt. In persönlichen Kontakten sind Ärztinnen und Ärzte, andere Betroffene sowie Familienmitglieder wichtig. Auswahl von Klinik und Therapie Die Informationsquellen und deren Nutzung haben je nach Behandlungsphase unterschiedliche Bedeutung. Bei der Auswahl der Klinik lässt sich die Beziehung von Ärztinnen und Ärzten und Patientinnen und Patienten als Kundenmodell charakterisieren (s.o. Kap. 5.2.4). Die Ärztinnen und Ärzte erscheinen vor dem ersten Beratungsgespräch vor allem als Dienstleister. Die Paare haben eine große Autonomie und treffen die Behandlungsentscheidung auf der Grundlage von selbst recherchierten Informationen. Die meisten Frauen und Paare informieren sich gezielt vor ihrer Entscheidung über die Behandlung.1 Persönliche Empfehlungen von bereits bekannten Ärztinnen und Ärzten und betroffenen Paaren sind hierbei von besonderer Bedeutung. Hierin zeigt sich eine Relativierung des ärztlichen Überweisungssystems. Zum einen wird für die Befolgung der ärztlichen Empfehlung das Vertrauen in die Ärztinnen und Ärzte von den Patientinnen als ausschlaggebend beschrieben. Die soziale Beziehung ist hier also mindestens genau so wichtig wie die zugeschriebene medizinische Expertise. Zum anderen werden die ärztlichen Empfehlungen in einigen Fällen durch die Meinungen von betroffenen Paaren – sei es im persönlichen Kontakt oder anonymer in Internetforen – ergänzt und relativiert. In dem Interview mit Frau Kaiser (P10R) zeigt sich, dass die mediale Vermittlung von medizinischen Therapiemöglichkeiten eine entscheidende Rolle für deren Nutzung spielen kann. Obwohl Frau Kaiser schon erste Untersuchungen bezüglich der ungewollten Kinderlosigkeit beim Frauenarzt hatte durchführen lassen, beschreibt sie eine Fernsehdokumentation über Paare in reproduktionsmedizinischer Kinderwunschbehandlung, die sie zufällig angeschaut hat, als ausschlaggebend für die Entscheidung, sich in der Klinik vorzustellen:
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Der Weg in die naturheilkundliche Klinik ist für die meisten Paare weniger klar vorstrukturiert – sie finden meist über persönliche Empfehlungen oder über gezielte Internetrecherche zu der Klinik. Nach meiner Beobachtung und auch der der Ärztinnen informieren sich die Paare aber nur darüber, dass verschiedene naturheilkundliche Verfahren angeboten werden. Wie diese genau wirken und wie eine Behandlung aussieht, steht im Hintergrund.
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Da hat er gemeint, aber die Wahrscheinlichkeit ist trotzdem noch genau so groß eigentlich oder halb so groß, aber kam trotzdem nie [unverständlich]. Mehr nicht. Und diese Fernsehsendung hat mich eher auf die Idee gebracht, da gibt es noch Stellen, wo man sich informieren kann (P10R: 32).
Die Fernsehsendung stellt für Frau Kaiser eine Möglichkeit dar, sich Wissen über medizinische Therapiemöglichkeiten anzueignen. Sie beschreibt an anderen Stellen in dem Interview, dass ihr der Mut fehlte, ihren Frauenarzt nach weiteren Behandlungsmöglichkeiten zu fragen. In den zitierten Interviewpassagen wird in der Umschreibung der Kinderlosigkeit ebenfalls eine Unsicherheit und Distanzierung deutlich. So fungierte die Fernsehsendung in diesem Fall einerseits als Brücke zu einer spezialisierten reproduktionsmedizinischen Klinik, indem sie die Kinderlosigkeit als legitimes Problem medizinischer Zuständigkeit darstellt und für den Moment eine virtuelle Gemeinschaft herstellt, und zum anderen als neutraler Ort, an dem Wissen außerhalb der Interaktion mit einem Arzt oder einer Ärztin angeeignet werden kann. In diesem Fall wird die Medikalisierung des unerfüllten Kinderwunsches zufällig dadurch verstärkt, dass in der Sendung die Therapie in der untersuchten Klinik dokumentiert wird, so dass Frau Kaiser nicht nur eine medizinische, sondern auch eine örtlich naheliegende Lösung präsentiert wird. Zugleich erweitert die Fernsehdokumentation aber auch die Handlungsmöglichkeiten und Autonomie der Patientin genau dadurch, dass sie außerhalb eines medizinischen Kontextes reproduktionsmedizinisches Wissen und Zuständigkeit vermittelt. Sowohl hinsichtlich der relativen Uninformiertheit, der Scham gegenüber dem behandelnden Gynäkologen als auch hinsichtlich der zentralen Bedeutung, die einem einzigen Medienereignis zugeschrieben wird, ist der Fall von Frau Kaiser eine Ausnahme. Nichtsdestotrotz kann er als Beispiel dafür gesehen werden, dass nicht über die medizinische Profession allein und auf direktem Wege medizinische Zuständigkeit hergestellt wird. Beispiele für die Bedeutung von Fernsehdokumentationen finden sich auch in anderen Interviews, in denen allerdings die im Fernsehen dargestellten Paare den interviewten Frauen vor allem zum Vergleich mit dem eigenen Fall dienen. Für wenige Paare ist das Erstberatungsgespräch explizit Teil dieser Auswahlphase: Sie stellen sich in verschiedenen Kliniken vor, um sich dann für eine zu entscheiden. Bei den meisten Paaren ist jedoch im Erstberatungsgespräch eine Verwischung der Grenzen von Information und Behandlungsbeginn zu beobachten (s.o. Kap. 6.1). So werden während der Erstvorstellung, spätestens aber mit der Entscheidung für die Klinik in der Regel die Ärztinnen und Ärzte der Klinik die wichtigsten Vermittler von medizinischen Informationen. Deren Erläuterungen – insbesondere im Erstberatungsgespräch oder bei Therapiewechseln – sind
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für die Paare zentral. Diese Zuständigkeit ist so selbstverständlich, dass sie in den Interviews selten explizit thematisiert wird. Die Paare ziehen für ihre Deutungen und Entscheidungen nicht nur die mündlichen Informationen im Beratungsgespräch, sondern auch das Informationsmaterial der Klinik hinzu. Die Ausgabe von Informationsmaterialien entlastet so einerseits die Ärztinnen und Ärzte von einer umfassenden Informationspflicht, auf der anderen Seite wird dies aber von den Patientinnen als hilfreiches Angebot wahrgenommen, sich unabhängig von der unmittelbaren Interaktion in der Klinik zu informieren. Frau Caglar (P3R) beschreibt die Auseinandersetzung mit dem Informationsmaterial als wichtigen Schritt im Prozess von einer Laiin zu einer gut informierten Patientin: Damals war ich noch ein großer Laie. Ich mein’, dann waren wir halt in [der alten Klinik, cu], und mit der Zeit hast du dich durch Infomaterialien durchgelesen … (P3R: 37).
Im weiteren Verlauf zieht Frau Caglar andere Informationsquellen, insbesondere Internetportale hinaus. Dennoch ist auffällig, dass die Grundlage für ihren Weg zur Expertin Informationsmaterialien der Klinik sind, die nicht grundsätzlich hinterfragt werden. Außerhalb der Klinik werden diese Informationsmaterialien zur Grundlage der eigenständigen Aneignung reproduktionsmedizinischen Wissens der Paare und verstärken so, da von den Ärztinnen und Ärzten selbst erstellt oder ausgewählt, deren Auffassung über die Therapie. Konsultation anderer medizinischer Expertinnen und Experten Manche Patientinnen konsultieren während der Behandlung Ärztinnen und Ärzte außerhalb der Klinik: Bei den Paaren Ewald (P5R: 37) und Hoffman (P8R) waren dies befreundete Ärzte, deren Einschätzungen als wichtig für die Therapieentscheidung empfunden wurden. Frau Baum beschreibt ihren Gynäkologen als zentrale Figur in ihrer Entscheidungsfindung bei verschiedenen Behandlungsschritten: Wenn ich gesagt habe, okay, meine Entscheidung oder so, ich habe mich ja schon entschieden oder wir haben uns entschieden, aber letztendlich habe ich auch den Frauenarzt miteinbezogen (P2R: 56).
In diesem Ausschnitt wird eine Spannung zwischen der Autonomie der Paare und einer Orientierung an der heteronomen ärztlichen Empfehlung deutlich. Dabei bleibt Frau Baum die zentrale Akteurin, die den ärztlichen Rat bewusst einholt und dieses Vorgehen als positiv bewertet. Ein weiteres Beispiel hierfür ist
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ihre Beschreibung des Entscheidungsprozesses bezüglich der Anzahl der zu transferierenden Embryonen in den folgenden Kryozyklen: Dann haben wir halt überlegt, was machen wir – setze ich jetzt eine ein oder mach’ halt zwei. […] Und dann haben […] miteinander gesprochen, mein Mann und ich. Und haben gesagt, was machen wir. […] Und dann habe ich mit meinem Frauenarzt gesprochen, und dann haben wir das halt so verkündet (P2R: 150).
Im ersten Teil dieser Aussage wird die Selbstkonzeption als zentrale, selbsttätige Akteurin besonders deutlich: Frau Baum beschreibt sich selbst als diejenige, die nicht nur gemeinsam mit ihrem Mann die Entscheidungen trifft, sondern darüber hinaus die zentralen Handlungen im Auftauprozess durchführt. Gleichzeitig wird dem niedergelassenen Gynäkologen die Rolle eines Resonanzbodens für die eigene Entscheidung zugeschrieben: Die Entscheidungsfindung findet in der Paarbeziehung statt, die dann wiederum durch den Gynäkologen gestützt wird. Dies ist einerseits ein Beispiel dafür, dass der Medizin eine zentrale Rolle in den Abwägungsprozessen zugesprochen wird, andererseits wird dies auch genutzt, um mehr Autonomie gegenüber den behandelnden reproduktionsmedizinischen Ärztinnen und Ärzten zu behaupten. Für diese Strategie der Relativierung einer ärztlichen Meinung durch eine andere lässt sich in den Interviews und Erstberatungsgesprächen eine Vielzahl weiterer Beispiele finden: insbesondere dann, wenn ein Klinikwechsel begründet wird, aber auch, wenn bisherige Diagnosen für die Paare unzureichend erklärt wurden. Frau Goch (P7R) geht am Ausführlichsten auf den Wechsel von der bisherigen Kinderwunschpraxis ein. Dies ist zugleich ein Beispiel dafür, dass der Verbleib in einer Klinik als normative Erwartung empfunden werden kann und eine Abweichung hiervon besonderer Legitimierung bedarf. Diese erfolgt im Fall von Frau Goch über eine professionelle Gegenexpertise: Die Unzufriedenheit mit ihrer vorherigen Klinik begann damit, dass die behandelnde Ärztin ihr nicht erklären konnte, warum die Stimulationsbehandlung nicht erfolgreich war. Die fehlende Erklärungskompetenz scheint hier mindestens so bedeutend wie der Behandlungsmisserfolg selbst: Diese Ärztin war sehr nett, aber auch wenn ich sie so was gefragt habe, […] wovon es kommt, warum es kommt, […] hat sie auch immer mit den Schultern gezuckt (P7R: 52).
Verstärkt wurde ihre Unzufriedenheit dann durch einen nichtmedizinischen Faktor: Obwohl die Ärztin zugesagt hatte, selbst die Punktion durchzuführen, hat diese dann eine neue Kollegin übernommen, deren reproduktionsmedizinische
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Kompetenz Frau Goch stark anzweifelte. Weder die nicht zufriedenstellende fachliche Erklärung und Kompetenz noch der Vertrauensbruch sind hinreichende Anlässe für die Beendung der Therapie. Erst die Bestätigung durch den Laborbiologen veranlasst Frau Goch zu dem Wechsel: Ich habe ihm [dem Biologen] meine Befürchtungen gesagt, und der hat mir dann sogar Recht gegeben mit der neuen Ärztin. […] Und dann wusste ich auch, ich gehe. Und er hat auch selbst gesagt, er vertritt das auch nicht mehr mit ihr. Er hat dann wohl auch mit der Ärztin gesprochen, und entweder sie holt sich jemanden, wo sich halt auskennt oder sie macht das halt alleine. […] Aber das wollte sie nicht. Und ich weiß auch, dass der Biologe sich dann auch woanders beworben hat. Weil der auch keine Lust hatte, irgendwelche Dinge zu machen, die dann am Schluss eh nicht klappen können (P7R: 242).
An an diesem Beispiel wird deutlich, dass zwar theoretisch in der Kinderwunschbehandlung die Option des Abbruchs der Behandlung oder ein Klinikwechsel immer gegeben ist, in der Praxis die Patientinnen sich aber gegenüber den jeweils behandelnden Ärztinnen und Ärzten stark zur Therapietreue vor Ort verpflichtet fühlen. Die Integration der Patientinnen und Patienten in den Therapieverlauf geschieht so einerseits auf der Ebene der Organisation mit der Übertragung von Aufgaben und in vorgegebenen administrativ-schematisierten Bahnen (s.o. Kap. 6.1) und andererseits auf der Ebene der sozialen Beziehung, in der – mit Parsons gesprochen – Rollenerwartungen an die Patientinnen und Patienten aktualisiert und neue soziale Verbindlichkeiten gegenüber den behandelnden Ärztinnen und Ärzten hergestellt werden. Beides schränkt die Handlungsmöglichkeiten der Paare insofern ein, als es die Möglichkeit des Opt-Outs erschwert. Nutzung medizinischer Fachliteratur Einige Patientinnen geben für sich oder ihre Partner in den Interviews an, fachwissenschaftliche Literatur genutzt zu haben, um sich so selbständig über ihre Diagnosen und Therapien zu informieren. Diese Fälle sind insofern Ausnahmen, als fachliche Vorbildung vorhanden war: Frau Jansen (P9R) ist Krankenschwester, Frau Hoffmann (P8R) arbeitete während ihres gesellschaftswissenschaftlichen Studiums in einer Kinderwunschklinik und Herr Falk (P6R) ist Naturwissenschaftler. Zugleich finden sich in der Nutzung und Interpretation dieser Quellen aber auch für andere Patientinnen und Patienten typische Umgangsweisen. In allen drei Fällen wird auf Bücherwissen zurückgegriffen, dass sowohl als Ergänzung zu den mündlich vermittelten Informationen der behandelnden Ärztinnen und Ärzte als auch zur Abgrenzung von diesen genutzt wird. Gleichzeitig wird dieses angeeignete Wissen in den Interviews relativiert. Das Ehepaar Jansen
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(P9R) verfolgte nach der ersten Diagnose einer Azoospermie eine vielfältige Informationsstrategie, die mit einer geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung einherging: Mein Mann hat sich da jetzt mal informiert über seinen Befund […], weil er einfach wissen wollte, was genau das ist. Ich hatte zwar ein Buch, konnte ich ihm kurz erklären, wie die Funktion ist. Speziell über diesen Befund konnte ich ihm halt nicht viel sagen. Da hat er irgendwie in einer medizinischen Datenbank einfach mal ein bisschen gelesen. Ansonsten haben wir uns halt bei den entsprechenden Ärzten noch informiert. Also, wir haben uns in diesem genetischen Labor informiert. Die haben uns sehr, sehr viel erklärt. Und auch ganz klipp und klar gesagt, was wir zu erwarten haben, wenn in der Familie das vorgekommen ist und in der Familie das. Das fand ich sehr beruhigend. Aber sonst haben wir keine zusätzliche Literatur gekauft. Oder in Gesprächen mit Leuten, die das auch schon hinter sich hatten, haben wir natürlich auch einiges erfahren. Aber wir haben jetzt nicht wie die Bücherwürmer da die Bibliotheken gekramt, das eigentlich nicht (P9R: 108).
Die Azoospermie erscheint hier vor allem für Herrn Jansen als ein Befund, bei dem die Erklärungen der behandelnden Klinik nicht ausreichend sind. Seine Frau kann ihm hier aufgrund ihrer Ausbildung zur Krankenschwester mit Basisinformationen weiterhelfen. Zielgerichtet informiert er sich selbst weiter. Anliegen des Paares wiederum sind mögliche genetische Risiken für ein Kind, die aus dem Befund resultieren. Die Teilnahme an einer genetischen Beratung gehört in der untersuchten Klinik zu den Voraussetzungen für eine IVF-Therapie. Das Ehepaar Jansen hat diese Beratung als einziges vorab aus eigener Initiative aufgesucht. Dies kann als Beispiel für eine vorweggenommene Selbstmedikalisierung gelesen werden: der genetische Blick auf sich selbst und mögliche Kinder wurde eingefordert. Gleichzeitig wird aber in der Schilderung von Frau Jansen deutlich, dass am Ende dieser Beratung zwar auf der einen Seite nur die Angabe von Risiken in Wahrscheinlichkeiten steht, auf der anderen Seite dies von dem Ehepaar Jansen keineswegs als Verunsicherung, sondern als Hilfe für ihre Entscheidungsfindung gesehen wird. Den im Vergleich überdurchschnittlichen und relativ zielgerichteten Bemühungen um weiterführende Informationen steht – wie vor allem in den abschließenden Sätzen des Interviewausschnittes deutlich wird – ihre Relativierung gegenüber, die darauf schließen lässt, dass Frau Jansen ihre Informationsstrategie als angemessen und rational darzustellen bestrebt ist. Hier zeigt sich auch eine Anerkennung des Expertenwissens der Ärztinnen und Ärzte, während der eigene Zugang zur Fachliteratur bewusst auf den Nachvollzug von Sachinformationen beschränkt bleibt.
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Frau Hoffmann (P8R) hingegen beschreibt ihre Nutzung einer Universitätsbibliothek als naheliegende Informationsstrategie, die die Aussagen von behandelnden und befreundeten Ärztinnen und Ärzten und Informationen aus dem Internet ergänzt. Keine dieser Strategien ist im Interview mit einer besonderen Legitimation verbunden. Die auch disziplinenübergreifende Literaturrecherche ist eine auf ihrem Selbstverständnis als Akademikerin gestützte nicht nur legitime, sondern auch fast habituelle wissenschaftliche Vorgehensweise. Im Interview mit Frau Falk (P6R) zeigt sich ein ähnlich ambivalenter Umgang mit der Informationsgewinnung, die Frau Falk als Vorbereitung für die Arztbesuche nutzt: Meiner Meinung nach ist das Internet das Beste. […] Bevor man zum Arzt geht: Das Prozedere im Kopf haben, wissen, welches von den Sachen, die es gibt, möchte ich nutzen, möchte ich IVF, würde ich soweit gehen und ICSI machen oder würde ich sogar ins Ausland gehen […]. Und wenn man das vorher für sich entschieden hat, dann kann man auch zum Arzt gehen. Dann kann der einem nichts mehr vormachen (P6R: 208).
Das gesamte Interview ist von einer starken Skepsis gegenüber der Medizin und der Ärzteschaft gekennzeichnet. Das eigenständige Einholen von Informationen wird vor diesem Hintergrund wichtig, um die Abhängigkeit von den behandelnden Ärztinnen und Ärzten zu verringern, die Autonomie zu wahren und die eigenen Handlungsmöglichkeiten auch über die in Deutschland vorgesehenen Grenzen der reproduktionsmedizinischen Therapie hinaus zu erweitern. Diese Strategie wird als notwendig und erfolgreich beschrieben. Die Ärztinnen und Ärzte werden hierbei als Personen, die kontrolliert werden müssen und können, dem Internet als unendlicher und auch für andere Lebensbereiche zentralen Informationsquelle gegenübergestellt. Das Vertrauen in das Internet und die so geschulte eigene Kompetenz führt dazu, dass Frau Falk eine Alternativtheorie über die Abschnitte des Behandlungsverlaufs entwirft: Ich habe dann [im ersten IVF-Zyklus, cu] extrem so einen Polypragmatismus gekriegt. Ich habe alles eingeworfen, was ich gedacht habe, was ich irgendwo mal gehört habe, was gut tut. Teures Zeug auch gekauft. Bei der Internetapotheke […]. Ortomol, ich weiß nicht, ob Sie diese Serie kennen, die gibt es für alles und nichts. Also Pülverchen, die man mixt und sich reinkippt [lacht], und ein Schweinegeld für bezahlen muss – für das Immunsystem. Ich habe mir dann so eine Immuntheorie aus dem Internet zusammengebastelt. Weil ja das Abstoßen oder Annehmen vom Embryo auch mit dem Immunsystem zu tun hat (P6R: 170).
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Auch wenn Frau Falk selbst diesen Versuch der Einflussnahme auf den Erfolg der Behandlung distanziert beschreibt und in den folgenden Behandlungszyklen weniger intensiv verfolgt, zeigt dieses Beispiel doch, dass Informationen außerhalb des Behandlungskontextes unmittelbar handlungsleitend für die Patientinnen werden können. Die Medikalisierung des Kinderwunsches durch die Therapie wird hier verstärkt und ausgeweitet durch die Patientin selbst. In diesem Fall korrespondiert dies mit einer Übernahme von Selbstverantwortung für das Behandlungsgelingen und mit selbstoptimierenden reflexiven Körpertechniken. Während der Ehemann von Frau Falk als kompetenter Leser fachwissenschaftlicher Studien beschrieben wird, werden diese Informationen von Frau Falk stark selektiv zur Kenntnis genommen und in ihrer praktischen Bedeutung relativiert: Das überwiegende an Recherche hat mein Mann gemacht. Der ist […] eben von der naturwissenschaftlichen Warte. Und der geht dann Sachen auch rational an. Okay, wir haben uns für das Projekt entschieden, dann geht er da auch dran und guckt sich alles Mögliche an. Ich bin so ein Chaot. Lang wusste ich überhaupt nicht, und dann in einer Nacht- und Nebelaktion habe ich gesagt, ja doch, wir machen das. Aber dann will ich auch nichts mehr wissen. Dann so ab und an, er sagt mir dann, was er wieder Neues herausgekriegt hat […] Ja. Wenn ich gerade stabil genug bin, konsumiere ich das. Und wenn nicht, dann, dann stecke ich den Kopf in den Sand [lacht] (P6R: 32–34).
An den Informationsstrategien des Paares Falk wird beispielhaft deutlich, dass auf der einen Seite mit der Entscheidung für die Behandlung ein sehr weitgehender eigenständiger Wissenserwerb einhergeht, der sich in diesem Fall auch auf medizinisches Fachwissen erstreckt. Auf der anderen Seite steht aber eine Art Recht auf Nichtwissen, das Frau Falk hier pragmatisch begründet. Dies zeigt, dass auch innerhalb eines Paares der Umgang mit Information und Wissen vielfältig ist und reflektiert wird. Eine ähnlich bewusste selektive Informationsaufnahme findet sich bei manchen Frauen im Umgang mit Internetforen. Zugleich deutet sich hier an, dass die starke Autonomiebehauptung von Frau Falk – „dann kann der [der Arzt, cu] einem nichts mehr vormachen“ (P6R: 208) – als Teil einer Strategie der Selbstbehauptung gelesen werden kann und nicht unbedingt mit einer von der Expertise der behandelnden Ärztinnen und Ärzte gänzlich unabhängigen Entscheidungsfindung korrespondieren muss. Nutzung von Internetportalen Fast alle der interviewten Patientinnen nutzen das Internet, um sich über reproduktionsmedizinische Verfahren zu informieren oder auszutauschen. Dies ent-
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spricht der Einschätzung der Ärztinnen und Ärzte, die das Internet als einen der wichtigeren Informations- und Austauschorte vor allem für Frauen beschreiben. Die Internetnutzung ist geschlechtsspezifisch: Während einige Männer das Internet eher zielgerichtet als Instrument nutzen, um medizinische Informationen zu ermitteln, nutzen die Frauen das Internet breiter und ihre Nutzung schließt auch Internetforen, die dem Austausch von Betroffenen dienen, ein. Die geschlechtsspezifische Zuschreibung des Kinderwunsches spiegelt sich so in der Mediennutzung: Auf der einen Seite stehen eher objektive Fachinformationen, auf der anderen Seite findet sich persönliches Erfahrungswissen, das in soziale Beziehungen eingebettet ist. Jedoch sind die Intensität und die Bedeutung der Nutzung auch für die Patientinnen sehr unterschiedlich – die intensive Nutzung von Foren ist mit einem Fall eine Ausnahme – und wandeln sich im Laufe des Behandlungsverlaufs. Im Gegensatz zu anderen Medien ist die Grenze zwischen Fachinformationen, Werbung von Pharmafirmen und Austausch unter Betroffenen fließend. Die Patientinnen informieren sich auf den Seiten von Kliniken, bei denen die Inhalte von medizinischen Institutionen verfasst werden, aber auch der Werbung dienen sollen. Wichtiger aber sind Informationsportale wie zum Beispiel wunschkinder.net oder klein-putz.net, die verschiedene Angebote unter ihrem Dach vereinen: medizinische, rechtliche und finanzielle Informationen, Foren zum Austausch unter Betroffenen, aber auch die Möglichkeit, direkt Fragen an Reproduktionsmedizinerinnen und Reproduktionsmediziner zu stellen. In den Interviews wird nicht problematisiert, dass die meisten der entsprechenden Internetforen von Pharmafirmen betrieben werden. Das ist ihnen häufig auf den ersten Blick auch nicht anzusehen. Zugleich kann das Ausbleiben von Kritik darauf zurückgeführt werden, dass das Interesse der Betroffenen und der Pharmafirmen hier teilweise ähnlich gelagert ist: Beide suchen eine medizinische Antwort auf das Problem der ungewollten Kinderlosigkeit. Betroffenenforen sind dabei ein Beispiel für ein Medium der Medikalisierung, an der Ärztinnen und Ärzte nur sekundär beteiligt sind. Sowohl die Erfahrungen von Laien als auch die Expertisen von Professionellen auf diesen Seiten werden von den Paaren als ergänzende und konkurrierende Wissensbestände zu denen der behandelnden Ärztinnen und Ärzte genutzt. In einigen Interviews erscheint das Internet als eine für Laien angemessenere und legitimere Quelle als Fachbücher. Dies ist auch oder gerade dann der Fall, wenn es um Fragen geht, die nach den Beratungsgesprächen offen geblieben sind. In dem Interview mit Frau Baum wird diese Abgrenzung deutlich:
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Ich denke schon, dass man da relativ gut durchkommt. Also auf jeden Fall Fachlektüre, Buch kaufen oder so was mache ich nicht, aber im Internet ist schon einiges geboten. […] Da [ist] viel beschrieben und gut. Also auch verständlich für Laien (P2R: 262).
Diese mit der Unterscheidung der Medien einhergehende Hierarchisierung der Wissensformen und Relativierung der eigenen Bemühungen, lässt sich zum einen auf die einfachere und in einigen Fällen selbstverständlichere Zugänglichkeit des Internets zurückführen. Andererseits lässt die Stärke der Abgrenzung darauf schließen, dass Informationsstrategien außerhalb des Behandlungskontextes einer besonderen Begründung bedürfen, in der das spezifisch professionelle Fachwissen spezifisch anerkannt wird bzw. der eigene Grenzübertritt hin zu einer auch fachwissenschaftlichen Expertise relativiert wird. Von den meisten Frauen wird das Internet nur punktuell genutzt. Dies reicht vom Nachschlagen von Telefonnummern in Frage kommender Kliniken über Klinikempfehlungen in Foren bis hin zum Nachlesen spezifischer medizinischer Informationen zum eigenen Befund. Einige Frauen beschreiben, fast nur zu Beginn der Behandlung das Internet genutzt zu haben. Frau Jansen (P8R) ist hier ein Beispielfall, der dies sehr deutlich zeigt: Bei ihr war die Internetnutzung auf die nun lange zurückliegende Anfangszeit beschränkt und spielt nun keine Rolle mehr. Typischer ist ein Umgang, bei dem das Internet zu Beginn der Behandlung benutzt wird und dann wieder an einzelnen Punkten im IVF-Behandlungsverlauf. Dass Patientinnen – wie von den Ärztinnen und Ärzten unterstellt – in der Mehrzahl Foren vor allem in krisenhaften Situationen nutzen, lässt sich durch meine Beobachtungen und Interviews nicht bestätigen. Lediglich in Frau Baums Beschreibung ihrer Nutzung von Internetforen findet sich dieser Zusammenhang: Es gibt Zeitpunkte, da hat es mich wirklich interessiert und da war ich tagtäglich im Internet und habe dann auch Chatrooms besucht. Da ging es mir vielleicht auch ein bisschen schlechter. […] Also, da bin ich diejenige, die sich dann informiert, weil es mich irgendwo auch mehr betrifft. Weil ich da auch Informationen für mich wissen möchte, warum das so ist und warum das so ist (P2R: 252).
An diesen Ausführungen von Frau Baum zeigt sich erneut die Relevanz der Informationsquellen außerhalb der Arzt-Patienten-Beziehung. Frau Baum argumentiert hier aus einer Betroffenheitsperspektive heraus und begründet so zum einen die Arbeitsteilung in der Beziehung und zum anderen ihr weitergehendes, den unmittelbaren Therapiekontext überschreitendes Interesse. Gleichzeitig reflektiert sie, dass ihre Nutzung von Internetportalen situationsabhängig ist.
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Ein Beispiel für einen bewusst selektiven Umgang mit Internetforen zeigt sich beispielhaft in den Schilderungen von Frau Goch (P7R). Sie begründet ihren Rückzug aus den Foren wie folgt: Also am Anfang [habe ich die Foren genutzt, cu]. Als mir das alles so unklar war. Aber jetzt gar nicht mehr, weil das macht mich nur verrückt [lacht]. […] Weil der Druck ist, glaub’ ich, irgendwie höher, wenn man irgendwie dauernd mailt und was war das jetzt bei dir und was war bei dir? Das ist mir zu viel Stress. Also, jetzt mache ich das gar nicht mehr. Ich habe das am Anfang auch hauptsächlich gemacht, um mich zu informieren, wie der ganze Ablauf ist und so (P7R: 218–220).
Frau Goch nimmt in ihrer retrospektiven Deutung am Ende dieses Abschnitts eine Trennung zwischen Sachinformationen der Foren und den erlebten persönlichen Erfahrungen vor. Dies kann als Strategie interpretiert werden, in der angespannten Phase der Kinderwunschbehandlung nicht nur zusätzliche soziale Verpflichtungen zu umgehen, sondern sich selbst sowohl von der durch die Betroffenengemeinschaft im Forum erzeugten Fokussierung auf die Kinderwunschbehandlung zu distanzieren als auch von der dort geformten Schicksalsoder Betroffenengemeinschaft ungewollt Kinderloser. Auch wenn dies nicht mit der Schilderung ihrer aktiveren Teilnahme zu Beginn der Behandlung übereinstimmt, lässt sich diese Strategie der Distanzierung von einer Fokussierung auf die Behandlung als eine Relativierung der medizinischen Aspekte im Behandlungsverlauf interpretieren. Frau Caglar (P3R) ist die einzige der interviewten Frauen, die täglich in Internetforen aktiv ist. Während für alle anderen Patientinnen, selbst wenn sie Foren nutzen, die Informationen zur Behandlung im Vordergrund stehen und sie sich nicht oder nicht mehr aktiv durch eigene Beiträge beteiligen, findet Frau Caglar dort sowohl eine zusätzliche ärztliche Beratung als auch eine Betroffenen- und Leidensgemeinschaft. So hat sie eine über ein Forum angebotene Onlineberatung durch einen Reproduktionsmediziner genutzt, als sie mit der Behandlung ihrer Gynäkologin unzufrieden war. Diese zweite Meinung war für sie handlungsleitend. Frau Caglar hat, nachdem ihre Zweifel durch den Onlinearzt bestätigt wurden, den Behandlungsort gewechselt. Darüber hinaus ermöglichen die Foren Frau Caglar, sich per Linklisten und persönliche Erfahrungsberichte über Behandlungsmöglichkeiten im Ausland zu informieren. Gleichzeitig stellt Frau Caglar aber die betroffenen Frauen selbst als fachliche Expertinnen dar. Sie beschreibt im Laufe des Interviews verschiedene Situationen, in denen ihr diese Frauen im Gegensatz zu den behandelnden Ärztinnen und Ärzten entscheidende Erklärungen geben konnten. Ähnlich wie bei ihrer eigenen erworbenen Expertise
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(s.o.) zieht sie hier einen Vergleich mit dem Professionswissen, schränkt dieses jedoch sogleich wieder ein: Dann gibt es so Frauen, die spezialisieren sich auf Schilddrüse und was weiß ich, die sind da wirklich fit da drin. Und die geben dann Auskunft und so. […] Aber ich glaube, da braucht man keine Ärzte, die Frauen sind schon wie Ärzte dort [lacht] (P3R: 305).
Die zeitnahe Kommunikation über einzelne Behandlungsschritte, die andere Frauen als belastend beschreiben (s.o.), macht für Frau Caglar den Inhalt dieser Gemeinschaft aus: Da [in den Internetforen, cu] findet man sich halt so Freunde, Freundinnen praktisch. Leidensgenossinnen. Und dann tauscht man sich halt so aus darüber. Mensch, heute habe ich Ultraschall, dann drücken dir alle die Daumen und so. Nehmen und Geben (P3R: 205).
Die Gemeinschaft im Forum tritt bei Frau Caglar an die Stelle des Austausches mit ihrem Ehemann und weiteren sozialen Umfeld, das sie als begrenzt beschreibt. Internetforen von Betroffenen, also Weisen im sinne Goffmans, lassen sich aber generell als Räume beschreiben, in denen bezüglich der unerwünschten Kinderlosigkeit und ihrer medizinischen Behandlung mit wenig Stigmatisierung oder einem offensiven Umgang mit dem Stigma zu rechnen ist. Die Nutzung des Forums ist für Frau Caglar führt zu einer Art Empowerment wird von ihr genutzt, um die medizinische Arbeit der behandelnden Ärztinnen und Ärzte gezielt zu überprüfen und zu hinterfragen. Frau Caglar ist diejenige Patientin, die sich am stärksten über das während des Behandlungsprozesses erworbene reproduktionsmedizinische Wissen definiert. Fachtermini und der Verweis auf Studien sind im Interview wichtige Ankerpunkte. Im Gesprächsverlauf relativiert sie ihr neues Wissen zugleich aber immer stark. In diesem Spannungsverhältnis von Ermächtigung durch Wissensaneignung und gleichzeitiger Relativierung der eigenen Sprechposition wird der Zustand einer grundlegenden Verunsicherung deutlich. Diese Ambivalenzen zeigen sich exemplarisch an dem folgenden Interviewausschnitt: Der Dermatologe meinte, es kann nur eine ICSI stattfinden. Aufgrund, es gibt ja so Staffeln, je nach Prozentsatz von der World Health Organization, wie das Spermiogramm wo hereinpasst. Dementsprechend macht man IVF. Also IUI ist es, glaube ich, und dann IVF und dann ICSI. Und dann gibt es noch diese TESE, ICSI, das ist dann noch eine Stufe, das allerschlimmste, was einem Mann dann passieren kann. Also, dadurch habe ich mich informiert und jetzt, was die Medien einem anbieten, nach dem Jahre 2000, das große Inter-
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net für jeden verfügbar. Es ist halt so, dass mein Gynäkologe meinte, Sie können jetzt schon fast eine Doktorarbeit drüber schreiben [lacht] (P3R: 43).
Die Aneignung wissenschaftlichen Wissens kann bei Frau Caglar als Strategie der Unsicherheitsbewältigung gesehen werden, die sich durch die ganze Behandlung zieht. Während andere Paare sich punktuell und pragmatisch informieren und insbesondere während der IVF-Zyklen ein Vertrauen in die Ärztinnen und Ärzte vorherrscht (s.u. Kap. 7.1.4), ist der Fall von Frau Caglar ein Beispiel für die Dominanz eines Zwanges zum „aktiven Planen“ (Beck-Gernsheim 2002: 13): Das Abwägen von Möglichkeiten und Risiken wird zu einer ständigen Aufgabe für Frau Caglar und bleibt doch von einer Abhängigkeit von der Medizin und einer Fragilität gekennzeichnet. Dass diese Autonomie und Selbstbehauptung und ihre gleichzeitige Relativierung auch im restlichen Interview stark präsent sind, ist ein weiterer Hinweis dafür, wie grundlegend sie für das Selbstbild von Frau Caglar sind. Die Überhöhung des Laienwissens – wie sie im Vergleich der betroffenen Forumsfrauen mit den dort tätigen Ärzten und ihres Wissens mit dem für eine medizinische Doktorarbeit nötigen (s.o) zum Ausdruck kommt – ist hier auch als Strategie des Umgangs mit der eigenen Unsicherheit zu lesen, in der sich die gefühlte Abhängigkeit von den Ärztinnen und Ärzten zeigt. Die Gegenexpertise bleibt abhängig von medizinischer Autorität und fragil. 7.1.2 Grenzen medizinischen und ärztlichen Wissens Obwohl wissenschaftliches Wissen für die Patientinnen – sei es durch die behandelnden Ärztinnen und Ärzte vermittelt oder auf anderen Quellen beruhend – ein zentraler Bezugspunkt ist, sind viele von ihnen gleichzeitig der Auffassung, dass das ärztliche, aber auch das reproduktionsmedizinische Wissen klare Grenzen aufweist. Die Entscheidung für eine reproduktionsmedizinische Behandlung geht also nicht mit einem unreflektierten Glauben an ihre technischen Möglichkeiten einher. Das Hinterfragen ärztlicher Kompetenz beruht für einige Patientinnen auf negativen Erfahrungen in reproduktions- oder anderen medizinischen Behandlungen. Die interviewten Patientinnen haben alle im Laufe der Unfruchtbarkeitsbehandlung Erfahrung damit gemacht, dass es an jeweils spezifischen Punkten – spätestens in der Befruchtungs- und Einnistungsphase des IVF-Zyklus – keine präzisen medizinischen Erklärungen für das Scheitern der Behandlung gibt. Darüber hinaus ist aber aus Sicht einiger Patientinnen die ärztliche Kompetenz durch Standessolidarität und den Einfluss der Pharmaindustrie beschränkt. Schließlich thematisieren einige Patientinnen – ganz ähnlich der Argumentationsweise der Ärztinnen und Ärzte (s.o. Kap. 5.3.3) – Naturgegebenheiten und
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Schicksal als Grenzen medizinischer Erkenntnisse und Einflussmöglichkeiten im Reproduktionsprozess. Die skeptische Einstellung gegenüber Ärztinnen und Ärzten wird von drei Frauen in den Interviews auf die Erfahrung mit ärztlichen Kunstfehlern zurückgeführt. In einem Fall betrafen diese ein Familienmitglied, in den anderen beiden die Frauen selbst und stehen für diese im Zusammenhang mit der Notwendigkeit einer IVF-Behandlung. In einem Erstberatungsgespräch wird darüber hinaus die Fehlbehandlung einer Hodentorsion als Ursache der unerfüllten Kinderlosigkeit ausgemacht (s.o. Kap. 6.4). Viele der Paare begründen einen Klinikwechsel mit einer Kritik an der fachlichen Kompetenz der bisher behandelnden Ärztinnen und Ärzte. Diese Skepsis führt nicht zu einer Beendigung der medizinischen Behandlung. Vielmehr verfolgen die Paare und Patientinnen zwei Handlungsstrategien, die die ärztliche Autorität punktuell relativieren: Auf der einen Seite wechseln die Paare mit einem Klinikwechsel zu dem Rahmen des Konsumentenmodels und schöpfen so ihre maximalen Handlungsmöglichkeiten – das opt out – aus. Ein Beispiel hierfür ist der Klinikwechsel des Ehepaares Baum: Und die [Ärztin in der alten Klinik, cu] hat dann […] die Punktion gemacht. […] Dann haben wir im Nachhinein – was für uns nämlich schlecht war, darum sind wir auch [hierhin, cu] gekommen – dann bei meinem Mann festgestellt, dass er schlechtes Sperma hatte. Und die haben trotzdem IVF gemacht. Und das ist Blödsinn. Das macht man nicht (P2R: 36).
In der Begründung des Klinikwechsels wird der Misserfolg der Behandlung retrospektiv auf eine fachliche Inkompetenz zurückgeführt. Das Ehepaar Baum ist schon direkt nach der erfolglosen Behandlung der Ansicht, dass man in diesem Fall ungeplant eine ICSI hätte durchführen sollen. Zu der deutlichen Infragestellung des medizinischen Vorgehens kommt es jedoch erst, als die Ärztinnen und Ärzte der untersuchten Klinik die Vermutungen des Paares bestätigen. Die ärztliche Autorität bleibt also in der Kritik der vorherigen Klinik ein wichtiger Bezugspunkt. Auf der anderen Seite wird die ärztliche Autorität von den Paaren dahingehend relativiert, dass sie als kontrollbedürftig aufgefasst wird: Es werden andere Ärztinnen und Ärzte und betroffene Laien konsultiert und andere Kontrollstrategien wie beispielsweise eine generelle Vorsicht und Achtsamkeit oder eine dezidierte Vorbereitung der Termine in der Klinik entwickelt. Einige Patientinnen bringen erlebtes ärztliches Fehlverhalten mit ärztlicher Standessolidarität und der Zusammenarbeit der Kliniken mit Pharmafirmen in Verbindung. Frau Adam (P1R) und Frau Dorsch (P4R) führen die Notwendigkeit einer IVF-Behandlung zur Erfüllung ihres Kinderwunsches auf medizini-
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sche Fehler zurück. Frau Adam erfuhr zufällig in einem anderen Kontext, dass in medizinischen Studien der Zusammenhang von Blinddarmoperationen in der Kindheit und unerfülltem Kinderwunsch bei Frauen festgestellt wurde. Diesen Zusammenhang sieht sie auch in ihrem Fall gegeben. Sie ist sich unsicher, warum die Ärztinnen und Ärzte ihr dies bisher nicht bestätigen wollten, hält aber auch Unredlichkeit für ein Motiv: Es konnte mir bis heute auch kein Arzt sagen, also entweder sagen sie es nicht, weil sie es nicht sagen wollen, oder sie wissen es nicht, keine Ahnung – aber kein Arzt, kein Frauenarzt war so ehrlich und hat gesagt: „So, Sie hatten eine Blinddarmoperation als kleines Kind, [undeutlich] Verwachsungen, Sie haben Hormonprobleme, Sie reagieren ganz anders, das ist nicht natürlich“ (P1R: 37).
Für Frau Adam stellt sich ihre Lage retrospektiv als eindeutiger dar, als die Ärztinnen und Ärzte bereit sind zu bestätigen; obwohl sie selbst verschiedene Faktoren für die ungewollte Kinderlosigkeit anführt. Zwei Patientinnen thematisieren ihren Eindruck, die Auswahl der verschriebenen Medikamente hänge nicht nur von medizinischen Kriterien ab, sondern werde auch von der Zusammenarbeit mit der Pharmaindustrie beeinflusst. Durch Nachfrage fand Frau Ewald (P5R) heraus, dass in der Klinik in der Regel ein teureres von zwei zur Auswahl stehenden Medikamenten verschrieben wird und das billigere nur an Selbstzahler. Hierauf gründet ihr Gefühl, die Klinik arbeite mit der Herstellerfirma zusammen. Die Ehrlichkeit, Vertrauenswürdigkeit und Integrität der Ärztinnen und Ärzte wird als in solchen Fällen eingeschränkt empfunden. Gleichzeitig aber werden diese Verhaltensweisen als nicht unüblich in der ärztlichen Profession gesehen. Dies wird beispielhaft in der Schilderung von Frau Dorsch deutlich: In Narkose haben die das [die Anomalie aufgrund der Operationen, cu] sozusagen dann festgestellt. Und natürlich legt sich auch kein Arzt fest […] zu sagen, sie gehen davon aus, dass das falsch transferiert worden ist. Aber weiß keiner. Also, aber wenn man mal ehrlich ist, geht man eigentlich schon davon aus (P4R: 34).
Hier wird ein Verhaltensmuster beschrieben, das sich auch in den Beratungsgesprächen bei den Ärztinnen und Ärzten beobachten lässt, wenn diese Kolleginnen und Kollegen kritisieren: Dies geschieht zum Teil in deutlicher Abgrenzung, aber stets informell. Das bestätigt die von den Patientinnen antizipierte ärztliche Solidarität und erschwert eine grundsätzliche Kritik. Was Freidson als stärkste Form der intraprofessionellen Kontrolle beschreibt, nämlich die Exklu-
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sion aus den ärztlichen Überweisungsnetzwerken, nehmen die Paare hier als Handlungsweise vorweg: Der Klinikwechsel ist die stärkste Form der Kritik. Auch wenn die Kunstfehler als gravierend empfunden werden, werden keine rechtlichen Schritte gewählt oder versucht, dieses Fehlverhalten anderen Patientinnen und Patienten bekannt zu machen. Professionsinteressen mindern aus der Sicht von zwei Patientinnen die Aussagekraft von reproduktionsmedizinischen Statistiken. Diese würden im Interesse einer Kundengewinnung beeinflusst. Frau Dorsch führt dies auf ein alle Kliniken verbindendes Interesse zurück, die IVF-Behandlung erfolgreicher darzustellen, als sie ist: Das ist zum Beispiel ein Punkt, wo man keine richtigen Informationen bekommt. Wo jeder alles schönert, wie viele Frauen nach wie vielen Behandlungen wann ein Kind bekommen haben oder nicht. Aber ich denke, das ist ja so ein vages Thema, dass keiner irgendwo weiß (P4R: 179).
Das Fehlen von Erklärungen der bisherigen Erfolglosigkeit wird hier sowohl auf ein unredliches Eigeninteresse der Kliniken als auch auf die generelle Schwierigkeit zurückgeführt, medizinisch eindeutige Aussagen über den Reproduktionsprozess zu formulieren. Mit diesem Misstrauen gegenüber der allgemeinen Aussagekraft der Statistiken verbindet sich für beide Frauen eine Zurückweisung der Bedeutung für ihren jeweiligen Fall. Frau Falk weist die Bedeutung der verobjektivierten statistischen Betrachtungsweise ihrer Behandlungserfolge deutlich zurück. Hier führt sie auch die Meinung ihres Mannes an: Wenn man den Statistiken glaubt, sind es 25 Prozent. Wobei mein Mann sagt, Statistik ist scheiße. Bei einer Frau, die kann schwanger werden, da wird es auf jeden Fall klappen. Und die andere kann es halt nicht, da kann man es hundertmal versuchen. Und da wird es nie klappen. Und vorher weiß man das nicht (P6R: 108).
Die Angaben zur statistischen Erfolgswahrscheinlichkeit und Normwerte sind für die Paare zwei der wenigen Orientierungspunkte für die Deutung des Behandlungsverlaufs und die Antizipation seines Ausgangs. Dass auch wissenschaftliche Erkenntnisse auf der Ebene der Bedeutung für die einzelnen Paare und Patientinnen stark relativiert werden und zu Unsicherheiten führen können, zeigen die zitierten Beispiele. Gleichzeitig dokumentiert dies auch die Möglichkeit eines pragmatischen Umgangs: Die Interpretation der Normwerte und Statistiken kann den jeweiligen Argumentationen der Patientinnen angepasst werden. Ihre Bedeutung ist nicht allein von der Medizin oder dem klinischen Blick vor-
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gegeben, sondern realisiert sich erst in der konkreten sozialen Situation oder der spezifischen Behandlungsnarration. Die Interpretation ist dabei auch vom Zeitpunkt im Verlauf der Behandlung abhängig und kann etwa nach einem positiven oder negativen Behandlungsergebnis unterschiedlich ausfallen. Für andere Patientinnen ist es die Behandlung selbst, insbesondere die Hormontherapie, die mit möglichen auch für die Medizin unabsehbaren Folgen verbunden ist. Frau Goch drückt hier explizit ihre Ängste aus, die andere Patientinnen in Erstberatungsgesprächen und Interviews eher andeuten: So richtig wissen tut man das ja auch nicht. Also, ob das jetzt sofort an den Hormonen selbst ist diese längerfristigen Auswirkungen, da mache ich mir auch Gedanken drüber, weil ich habe mehr Angst mit dieser Endometriose, wie das langfristig ist. Weil es können sich auch irgendwelche Tumore bilden. Da habe ich schon Angst [lacht] (P7R: 196).
Am Deutlichsten formuliert Frau Falk die grundsätzliche Begrenztheit des wissenschaftlichen Zugangs zu körperlichen Prozessen: Ich bin der Meinung, dass Empfängnis und Geburt […] eins der größten Geheimnisse [sind], und da doktort die Medizin gerade relativ viel dran herum. Also, die Quote [Erfolgsquote der IVF, cu] ist auch ein Indikator dafür. Trotz allem, was man macht: Das Milieu verbessert, hier und da, kriegt man keine bessere Quote hin. Und das ist irgendetwas, wo die Natur über dem Menschen steht. Finde ich (P6R: 128).
Konkret sieht sie dies durch das Beispiel des assisted hatching, eines Verfahrens, bei dem die Umhüllung der Eizelle eingeritzt oder ausgedünnt wird, bestätigt: Bei älteren Frauen ist wohl die Eihülle selbst fester […], und das hilft dann vielleicht, wenn man Glück hat. Ich meine, wissen tut das keiner genau. Die stochern, glaube ich, auch ziemlich im Trüben. Sonst wäre die Rate nicht so schlecht (P6R: 106).
Hier zeigen sich noch einmal die Grenzen der oben zitierten Autonomiebehauptung von Frau Falk, die sich vor allem durch ihre Internetnutzung gegen eine Beeinflussung der Ärztinnen und Ärzte gewappnet sieht. Gleichzeitig erscheint hier sowohl ihr eigenes als auch das ärztliche Wissen gleichermaßen begrenzt. Diese Auffassung erlaubt es ihr auch, ein mögliches Scheitern oder Glücken der Behandlung als schicksalhaftes Ereignis zu definieren und somit als weitgehend unabhängig von ihrer eigenen Verantwortung und ihrem eigenen Zutun zu interpretieren.
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In den Aussagen von Frau Caglar zeigt sich exemplarisch, dass das Ergebnis der Unfruchtbarkeitsbehandlung als ebenso von medizinischem wie schicksalhaften Einflüssen bestimmt erlebt wird. Insbesondere die Zeit und die Prozesse zwischen Embryonentransfer und Schwangerschaftstest erscheinen wenig beeinflussbar: Werde ich genug Eizellen produzieren? Wird es gut befruchtet? Wie weit sind die Stadien? Und danach, nachdem der Transfer stattgefunden hat, man kann nichts machen. Man kann eigentlich gar nichts machen. Das ist ja in Hand Gottes. Das ist das Wunder des Lebens. Entweder stirbt ab oder es bleibt (P3R: 217).
Das Gegenstück zur Interpretation des Scheiterns der Behandlung als schicksalhafte Fügung ist die Interpretation als persönlich zu verantwortendes Ereignis. Ein deutliches Beispiel hierfür findet sich in dem Interview mit Frau Jansen, die sich nach einem nicht erfolgreichen Behandlungszyklus fragt: Warum ging das nicht? Und dann fängt man an zu grübeln: War es mein Kopf? War es mein Bauch? Mein Mann? Hab’ ich zu viel Stress gehabt? Bin ich ungesund gewesen? Habe ich mich nicht gut ernährt? Habe ich vielleicht Alkohol getrunken? Man denkt wirklich alles Mögliche (P9R: 68).
In diesem Interviewausschnitt zeigt sich die Suche nach Erklärungen, die innerhalb ihres eigenen Verantwortungs-, aber damit auch innerhalb ihres eigenen Gestaltungsbereichs liegen. Medizinische oder ärztliche Gründe werden nicht gesucht. In dem Interview mit Frau Jansen ist dies eine retrospektive Betrachtung einer Situation, die sie als ausweglos empfunden hat. Sie selbst stellt diese Situation in den Kontext eines Verlaufs und geht an anderen Stellen im Interview auf aktivere Formen des Umgangs ein (s.u. bspw. die Nutzung von Akupunktur und Tai-Chi). Auch in den Behandlungsnarrationen der anderen interviewten Frauen lassen sich keine klaren Zuordnungen zu dem einen oder anderen Interpretationsmuster vornehmen – vielmehr beschreiben diese Pole, zwischen denen sich die Deutungen der Frauen bewegen. 7.1.3 Einflussnahme auf den Behandlungsverlauf Alle interviewten Patientinnen und auch die Mehrheit der Paare in den beobachteten Beratungsgesprächen haben zumindest ein gewisses reproduktionsmedizinisches Grundwissen erworben. Dies nutzen sie zur Deutung des medizinischen Behandlungsverlaufs. Die Einschätzung der meisten Patientinnen ist, dass genug
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Raum für Fragen gelassen wird. Nur in Ausnahmefällen wird die ärztliche Meinung konflikthaft hinterfragt. Dass die Patientinnen sich in der Behandlung gut aufgehoben fühlen und die Ärztinnen und Ärzte als kooperativ empfinden, schließt allerdings nicht aus, dass sie – zum Teil sehr bewusst – bestimmten Einfluss auf den Behandlungsverlauf zu nehmen. So beschreiben einige Patientinnen es als ihre Aufgabe, die Arbeit der Ärztinnen und Ärzte schon deshalb zu hinterfragen, weil diesen Fehler unterlaufen können (s.o.). Neben den sich relativ spontan aus dem Interaktionskontext ergebenden Nachfragen der Paare lassen sich noch drei weitere Strategien der Beeinflussung des Behandlungsverlaufs ausmachen: die Vorbereitung der Sprechstunden, die Einflussnahme auf die Aktenführung und Auswahl von Therapieformen – wie beispielsweise der Ausschluss von heterologer Insemination oder eine Hodenbiopsie (s.o. Kap. 6.4.). Eine Einflussnahme auf die medizinische Arbeit der Ärztinnen und Ärzte ist eher selten. Eine Ausnahme ist hier Frau Ewald (P5R), die an verschiedenen Stellen des Behandlungsverlaufes interveniert. Diese Interventionen entsprechen ihrem Selbstverständnis und der Rolle, die sie der Medizin zuweist: Sie begreift sich selbst als eine Person mit einer grundlegenden medizinischen Expertise, die auf einer naturheilkundlichen Ausbildung und langjähriger praktischer Tätigkeit beruht. Sie beschreibt, dass sie nach anfänglichen Schwierigkeiten ihre Einstellung zur Reproduktionsmedizin geändert hat und sie nun als Mittel zum Zweck betrachtet. Zu dieser instrumentellen Sicht gehört, dass Frau Ewald sehr genaue Vorstellungen von der Therapie hat und diese durchsetzt, auch wenn sie von den üblichen Verfahrensweisen abweichen. So hat sie beispielsweise abgelehnt, in einem Kryozyklus Hormone einzunehmen und darum gebeten, zusätzliche Blutwerte zu testen. Aufgrund ihres Berufs hat sie starke Bedenken gegenüber jeder Art von Narkose. Die Punktion hat sie deshalb ohne Narkose durchführen lassen. An ihrem Erstaunen, dass dieser Wunsch auf keine Widerstände stieß, zeigt sich, wie stark sie ihre medizinischen Grundauffassungen in Opposition zu den schulund reproduktionsmedizinischen sieht. Die relativ weitgehende Einflussnahme auf den medizinischen Verlauf der IVF-Behandlung kann vor diesem Hintergrund auch als eine Art Rechtfertigung vor sich selbst gedeutet werden. Die Nutzung der Reproduktionsmedizin, die einem naturheilkundlichen und ganzheitlichen Verständnis zuwiderlaufen kann, wird legitimiert, indem sie explizit als Mittel für die Erfüllung eines unabhängig bestimmten Zweckes beschrieben wird. Gleichzeitig wird die Entscheidungsautonomie in den Abweichungen vom medizinischen Normverlauf aufrechterhalten und bezeugt. In den anderen Interviews und Beratungsgesprächen beschränken sich die geschilderte Gestaltung und Einflussnahme auf die medizinischen Abläufe auf vorgegebene Handlungsspielräume wie etwa die Bestimmung der Anzahl der zu
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transferierenden Embryonen. Auch auf organisatorischer Ebene sind Interventionen der Paare in den Standardtherapieverlauf eher selten – obwohl die Paare zumindest für einen Teil der Leistungen selbst bezahlen, nehmen sie diese in der Regel als gegeben hin und verhalten sich nicht wie Kundinnen oder Kunden. Dennoch ist der Fall von Frau Ewald ein Beispiel dafür, dass die Einflussnahme der Patientinnen und Patienten auch auf die medizinische Arbeit im engeren Sinne möglich ist und der Rahmen der Arzt-Patienten-Beziehung – auch was die stark schematisierten Abläufe angeht – mehr Gestaltungsspielräume zulässt, als die meisten Patientinnen und Patienten nutzen. Die Tatsache, dass diese Gestaltungsspielräume existieren, ist zudem ein Zeichen für die Veränderung der ArztPatienten-Beziehung und das Aufweichen paternalistischer Strukturen. Auch die Einflussnahme der Paare auf die organisatorische Struktur des Behandlungsverlaufs ist eher gering: In wenigen Fällen wollen sich die Patientinnen nur von einer bestimmten Ärztin oder einem bestimmten Arzt der Klinik behandeln lassen und setzen diesen Wunsch erfolgreich im Sekretariat durch. In der Regel erfolgt die Zuteilung der Ärztinnen und Ärzte unter der Maßgabe, dass möglichst wenig Wartezeit auf beiden Seiten entsteht. Zielgerichteten Einfluss nehmen einige Patientinnen jedoch auf die Themen der Beratungsgespräche. In allen Erstberatungsgesprächen stellen die Paare spontan Nachfragen. Eigene Themen setzen sie jedoch häufig nur in den dafür vorgesehenen Fenstern, etwa wenn sie dazu aufgefordert werden, ihre Krankengeschichte zu erzählen. Einige Paare und Patientinnen nehmen jedoch bewusst und spezifisch Einfluss, indem sie sich auf die Beratungsgespräche vorbereiten: Dies ist zum einen der Fall, wenn die Paare im Erstberatungsgespräch Unterlagen bisheriger Untersuchungen und Therapien mitbringen, und zum anderen, wenn Patientinnen vor Gesprächsterminen schriftlich offene Fragen mit dem Ziel festhalten, diese zu stellen. Wenn die Paare Arztbriefe und Untersuchungsdokumente mit in die Erstvorstellung bringen, werden sie Akteure in einer Kommunikation, die traditionell ausschließlich unter Ärztinnen und Ärzten verläuft. Sie fordern die professionelle Dokumentation über ihre Behandlung ein und sehen sich als legitime Leserinnen und Leser dieser Schriftstücke. Auf dieser Grundlage partizipieren sie am professionellen Diskurs über sich selbst und lösen sich aus dem ihnen zugewiesenen passiven Status. In den Erstberatungsgesprächen machen sie die Akten zum Thema. Sie fragen nach, wenn Sachlage oder Interpretation unklar sind. Dies betrifft vor allem Spermiogramme und Punktions- und Befruchtungsprotokolle. Gleichzeitig ist dies eine Aufgabe, die den Erwerb einer gewissen Expertise voraussetzt. In zwei Fällen haben Patientinnen detaillierte Übersichten über die bisherigen Untersuchungen und Behandlungen für das Erstberatungsgespräch erstellt
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(P8R, EG13R), die in beiden Fällen Teil der Patientenakte wurden. Die Übersichten sind zwei bzw. drei Seiten lang, chronologisch aufgebaut und wurden mit einem Textverarbeitungsprogramm auf dem Computer erstellt. Die Patientinnen nehmen hier eine Einordnung der bisherigen Ereignisgeschichte ihres unerfüllten Kinderwunsches und seiner Behandlung unter medizinischer Perspektive vor. Sie ahmen dabei in verschiedenerlei Hinsicht eine Aktenförmigkeit nach. Die Übersicht von Frau Hoffmann (P8R) trägt beispielsweise die Überschrift Betr. Kinderwunsch, was auch sprachlich eine Anpassung an die Aktenform darstellt. Im Kopf der Akte finden sich die Daten des Paares und unten der Punkt Anlagen. In 16 Punkten wird anschließend für den Zeitraum von zwei Jahren dokumentiert, welche Tests und Untersuchungen wo mit welchem Ergebnis durchgeführt wurden. Die Übernahme eines klinischen Blicks auf die Problemlösung wird besonders deutlich in der abschließenden Aufzählung: Diese führt auf, welche Diagnoseverfahren noch nicht durchgeführt wurden. Die Übersicht von Frau Pfeiffer (EG13R) verzichtet auf Rahmeninformationen und trägt die Überschrift IVFBehandlung. Sie beginnt mit dem Tag der ersten Beratung und dokumentiert die in den letzten zwei Jahren durchgeführten Follikelstimulationen und Kryotransferzyklen. Unter diesen Überschriften sind die Behandlungsschritte mit Datum, Zyklustag und genauer Medikamentenangabe (Art und Menge) in jeweils ungefähr zehn Punkten nachgezeichnet, Laborberichte und Arztbriefe sind angehängt. In der Imitation der Aktenförmigkeit bekommt die Behandungsnarration der Patientinnen einen neue Dimension: In den Übersichten wird nicht das persönliche Erleben dargestellt (illness), sondern die medizinische die Perspektive (disease) eingenommen. In beiden Fällen finden sich in den Schilderungen der Frauen keinerlei Hinweise, dass die medizinische Darstellung des Behandlungsverlaufs die persönlich ersetzt. Die Intervention in die Aktenführung und die medizinische Erfassung ihrer Behandlung lässt sich zum einen als Versuch der Kontrolle der administrativen Vorgänge deuten und zum anderen als Symbol des Auftretens als mündige Patientin: Die Frauen selbst haben und zeigen die Kompetenz, die medizinische Perspektive einzunehmen. Frau Adam (P1R) und Frau Hoffmann (P8R) nehmen am deutlichsten und bewusstesten Einfluss auf die Inhalte der Beratungsgespräche: Während andere Patientinnen eher spontan und aus dem unmittelbaren Kontext heraus Nachfragen stellen – etwa nach der Dicke der Gebärmutterschleimhaut oder der Anzahl der Follikel während des Ultraschalls –, bereiten beide vorab schriftlich Punkte und Fragen vor. Dies zeigt, dass, wenn auch die Berücksichtigung der Wünsche und Fragen der Paare auch von den Ärztinnen und Ärzten als zentrale Anliegen beschrieben werden (s.o. Kap. 6.1), die Thematisierung und Beantwortung dieser von den Patientinnen und Patienten bewusst eingefordert werden muss. Die ad-
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ministrativ-schematisierten Abläufe sind auf die Compliance der Paare und die Herstellung eines medizinisch behandelbaren Problems fokussiert. Der Anspruch der Ärztinnen und Ärzte übersetzt sich nicht auf die organisatorisch-strukturelle Ebene. In der Behandlungspraxis sind dabei die Widerstände gegen eine gleichberechtigtere Struktur der Kommunikation eher auf einer organisatorischen Ebene als auf Seiten der einzelnen Ärztinnen und Ärzte zu finden. Die Patientinnen berichten übereinstimmend, dass die Ärztinnen und Ärzte auf Versuche, verschiedene Aspekte des Behandlungsverlaufs zu beeinflussen, eingingen und positiv reagierten. Dies lässt sich auch dadurch erklären, dass die Arzt-PatientenBeziehung strukturell als hierarchisch vorgegeben ist und von einem situativen Wechsel zu einem gleichberechtigteren Kommunikationsrahmen eher bestärkt als hinterfragt wird (s.o. Kap. 6.1 und Kap. 6.2). Frau Adam (P1R) beschreibt ein Notizbuch als wichtiges Instrument in der Kommunikation mit den Ärztinnen und Ärzten, um ihre Themen auf die Agenda der Beratung setzen zu können. Diese Strategie ist eng verbunden mit ihrem Selbstverständnis als aktive und eigenverantwortliche Patientin. Für sie ist die Therapie eine gemeinsame Aufgabe für Ärztinnen und Ärzte sowie Patientinnen und Patienten, womit sie sich stark von einem paternalistischen Verständnis des Arzt-Patienten-Verhältnisses abgrenzt. Ihre Aufgabe und Verantwortung sieht sie vor allem darin, die Behandlungsschritte zu verstehen und nachzuvollziehen und hierfür, wenn nötig, Nachfragen zu stellen. Die Kontrastfolie ihrer Beschreibung ist ein paternalistisches Arzt-Patienten-Verhältnis, das durch eine Abhängigkeit von den Ärztinnen und Ärzten geprägt ist. Im Laufe des Interviews stellt sie immer wieder ihre eigene Situation der einer Bekannten gegenüber, die für sie ein Negativbeispiel darstellt: Ich bin wirklich froh, dass ich hier in die Uniklinik gegangen bin. Also in [einer anderen Stadt in der Nähe, cu] gibt es auch einen Arzt, der eben auch vielen Frauen zu Kindern verhilft. Nur bei ihm ist es so, dass er absolut keine Mitarbeit möchte. Das heißt, die Frauen müssen sich ganz in seine Hände begeben und dieser Spruch „Ich kriege Sie schon schwanger“ und „Ich mache das schon“ … (P1R: 35).
Mit der Rolle der Patientin geht für Frau Adam eine Vielzahl an Verpflichtungen einher. Diese Bemühungen dienen für Frau Adam zum einen der Kontrolle der Ärztinnen und Ärzte und zum anderen der Wahrung einer Autonomie und Handlungsfähigkeit. Ihre Aktivität im Behandlungsprozess wird dabei zu einem Nachweis der Autonomie und ist nicht auf die Entscheidung für eine Behandlung beschränkt. Die aktive Mitgestaltung findet ihren Ausdruck vor allem darin, so lange und so viele Nachfragen zu stellen, bis aus ihrer Sicht alle Fragen geklärt
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sind. Diese Fragen markieren den Gegenpol zu einer heteronomen Bestimmung der Patientinnenrolle. Zugleich bedeuten die Fragen eine Annahme der Anforderungen an eine mündige Patientin, in deren Verantwortung es liegt, ihre Interessen – auch gegen strukturelle Widerstände – zu artikulieren und zum Gelingen der Behandlung beizutragen. Dies schließt auch Mitverantwortung für das Ergebnis der Behandlung mit ein. In ihrem Notizbuch notiert Frau Adam Fragen, die sie zur Behandlung hat, um sie beim nächsten Termin zu stellen. Dies schließt für Frau Adam explizit jede Art von Fragen ein, deren Beantwortung sie für ihre aktive Mitarbeit für notwendig befindet: Und von Anfang an habe ich ein Büchle halt mitgenommen und habe es auch jeder anderen Frau so empfohlen. […] Und ich habe mir ganz viele Fragen aufgeschrieben. Ich habe gesagt, auch wenn es ganz dumme Fragen sind, aber ich möchte einfach wissen, was passiert, was wird mit mir gemacht. Ich möchte nicht, irgendwie „Jetzt machen Sie mal“, ich möchte schon wissen, was läuft da (P1R: 37).
An einer anderen Stelle gibt sie ein weiteres Beispiel für ihre Art des Nachfragens und verleiht ihrer Meinung Nachdruck, dass sie das Recht hat, unabhängig von der medizinischen Relevanz jede Nachfrage zu stellen, die ihr wichtig erscheint: Und wenn mir Fragen einfallen, also ganz simple Dinge auch. Ich sage jetzt mal, „Darf ich auch so eine Kribbeltablette nehmen? Verträgt sich das mit der anderen Tablette?“ Drum frage ich einfach: „Darf ich das weiter nehmen?“ – Oder ich nehme manchmal auch homöopathische Mittel – „Darf ich die nehmen, geht das auch?“ (P1R: 61).
Dies illustriert auf der einen Seite die Verunsicherungen, die mit einer IVFBehandlung für die Patientinnen einhergehen. Im Kontext ihrer jeweils spezifischen Lebenswelt wirft die Therapie Fragen auf, die von den Ärztinnen und Ärzten nicht antizipiert werden können. Auf der anderen Seite ist dies ein Beispiel für die Ausdehnung einer medizinischen Perspektive bis weit in kleine Alltagsfragen hinein. Normale Lebensaspekte werden auf den Prüfstand gestellt, und von den Ärztinnen und Ärzten als medizinischen Autoritäten werden Antworten erwartet. Struktur und Inhalt der Beratung werden wesentlich von den Ärztinnen und Ärzten bestimmt. Die Vorbereitungen auf die Gespräche sind für Frau Adam und Frau Hoffmann eine Möglichkeit, diese Dominanz zu unterbrechen. Frau Hoffmann expliziert das Ziel, mit der schriftlichen Vorbereitung von Nachfragen ih-
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ren Gestaltungsspielraum in der Kommunikation mit den Ärztinnen und Ärzten zu erweitern: Es ist ein bisschen viel, […] ich hab auch immer noch ein Blatt dabei und ich kann mir Punkte aufschreiben, die ich noch mal zur Sprache bringen will oder abklären will, weil sonst ist es einfach so im Gesprächsverlauf dann [unverständlich] und dass man, ich denk mir schon, als mündiger Patient … (P8R: 48).
Frau Adam führt noch als weiteren Aspekt an, dass sie aufgrund ihrer emotionalen Involviertheit die Stütze der Vorbereitung braucht: Ich schreibe es mir wirklich auch einfach auf, damit ich das nicht vergesse. Weil manchmal geht das ja auch – ist man dann ja doch aufgeregt (P1R: 61).
Für beide Frauen liegt es in ihrer eigenen Verantwortung, einen Gestaltungs- und Nachfrageraum zu schaffen. Die strukturelle Dominanz der Ärztinnen und Ärzte wird als gegeben vorausgesetzt. Im Umkehrschluss heißt dies, dass es den Patientinnen selbst anzulasten wäre, wenn sie sich diese Gestaltungsspielräume nicht schüfen und etwa die spezifischen Probleme nicht thematisierten. 7.1.4 Vertrauen in die behandelnden Ärztinnen und Ärzte Die Grundvoraussetzung für den Beginn oder die Fortführung der Behandlung in der untersuchten Klinik ist für die Patientinnen und Patienten ein Vertrauensverhältnis zu den Ärztinnen und Ärzten. Dies wird in den meisten Interviews als selbstverständlich vorausgesetzt und explizit deutlich, wenn die Patientinnen beschreiben, wie sie sich schließlich für die Klinik oder zwischen verschiedenen Kliniken entschieden haben oder einen Klinikwechsel begründen. Die fachliche Kompetenz der Ärztinnen und Ärzte ist Voraussetzung für dieses Vertrauen, jedoch keine hinreichende Bedingung. Das Vertrauen in die Ärztinnen und Ärzte und die Klinik wird von den Paaren letztendlich auch von einem eher diffusen „Bauchgefühl“ oder „Sich-Wohl-Fühlen“ abhängig gemacht. Auch wenn insgesamt nur sehr wenige Patientinnen und Paare von konkreten negativen Erfahrungen während der Behandlung in den untersuchten Kliniken berichten und sich diese wenigen Erfahrungen in allen Fällen bis auf einen als vereinzelte Situationen und Ausnahmen in einer ansonsten zufriedenstellenden Behandlung gesehen werden, gibt es doch bei den meisten Paaren ein Bewusstsein für die Gefahr der verobjektivierenden Behandlung durch die Ärztinnen und Ärzte. Die Patientinnen und Patienten zeigen grundsätzlich Verständnis für organisatorische, zeitli-
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che und finanzielle Anforderungen, denen die Ärztinnen und Ärzte und die Behandlung unterliegen, jedoch erwarten sie, dass die ihnen wichtigen Aspekte diesen Rahmenbedingungen nicht zum Opfer fallen. Diese Punkte werden sowohl erwähnt, wenn es um medizinische Erfahrung in dieser oder in anderen Kliniken und Praxen geht, als auch als Kontrastfolie, wenn ihre Zufriedenheit mit der aktuellen Behandlung herausgestellt wird. Häufig ist es nur eine Verschiebung in der Akzentuierung der Behandlung, die von den Paaren nun als Verobjektivierung empfunden wird. Trotz des Erwerbs einer gewissen fachlichen Expertise, die auch der Kontrolle der medizinischen Abläufe und der Einflussnahme auf den Behandlungsverlauf dient, wird die fachliche Kompetenz der Ärztinnen und Ärzte nur bei groben Verstößen grundsätzlich in Frage gestellt. Dies ist bei Kunstfehlern der Fall, aber auch, wenn bei den Paaren der Eindruck entsteht, dass in einer Klinik ein finanzielles Interesse dominiert. Ein Beispiel hierfür ist die Abwägung zwischen zwei Kliniken, die Frau Baum schildert: Wo ich dann gedacht habe, das kann doch nicht sein. Sind die nur wirtschaftlich aus? Und das war irgendwo so, wo ich dann gesagt habe – das waren die Punkte mit, die für mich irgendwo gegen die andere Klinik gesprochen haben. Obwohl es irgendwo ein moderneres Haus war. Die Leute waren nett, schon. Das war dann halt irgendwo, wo wir gesagt haben: Was machen wir? Also es war schon eine schwierige Entscheidung (P2R: 42).
Die Entscheidung des Ehepaares für einen Wechsel der Klinik beruht auf einem diffusen einmaligen Eindruck, der allerdings den für sie zentralen Punkt der wirtschaftlichen Orientierung betrifft. An welchem Punkt die Paare es für angemessen halten, dass Vertrauen in die Ärztinnen und Ärzte zum ausschlaggebenden Aspekt zu machen, ist unterschiedlich. Dies lässt sich beispielhaft daran zeigen, nach welchen verschiedenen Kriterien die Paare die Klinik auswählen. Auf der einen Seite stehen Paare wie das Ehepaar Dorsch, die der Empfehlung von ihnen bekannten Ärztinnen und Ärzten folgen – aufgrund des Vertrauens in diese ist eine weitere Information über andere Optionen nicht erforderlich: Man hat Vertrauen [in den Gynäkologen, cu]. Und ich finde, wenn man jemandem vertraut und der empfiehlt, legt einem das nahe, da und da hinzugehen, muss ich sagen, habe ich auch nicht das Bedürfnis gehabt, mich auch noch mal anderweitig zu informieren. Bin ich auch niemand, wo ich sage, ich glaube, ich klappere jetzt erstmal alles ab und informiere mich, bevor ich irgendetwas auswähle (P4R: 50).
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Für einige Paare hingegen kann das Vertrauen in eine Klinik erst am Ende eines Vergleichsprozesses stehen. Für Frau Jansen ist dies ein Fazit, dass sie aus ihren Klinikwechseln zieht: Man sollte sich, und das haben wir gelernt, nicht einfach in irgendeine Praxis begeben, sondern sich die sehr genau angucken. Weil ich glaube, das ist ausschlaggebend oder mit ausschlaggebend für ein gutes Ergebnis, dass man sich da wohl fühlt und dass man sich da auch gut behandelt und beraten und betreut fühlt. Nicht in eine Praxis gehen, die groß ist (P9R: 114).
Wenn sie auch diesen Ratschlag für andere Paare mit einer einfachen Faustregel beendet, so sind die zentralen Kriterien der Entscheidungsfindung weniger klar zu fassen. Während es für gute Behandlung, Beratung und Betreuung Kriterien gegeben haben mag, ist eine gefühlte Qualität entscheidend. Die Herstellung eines Kausalzusammenhanges zwischen diesem guten Gefühl und dem Erfolg der Behandlung kann in zweierlei Hinsicht interpretiert werden: Zum einen dahingehend, dass auch der Prozess als zentraler Teil der Behandlung gesehen wird und ihr Gelingen nicht allein vom Ergebnis her beurteilt wird. Zum anderen findet sich hier eine Parallele zu der Annahme, dass auch die Einstellung und psychosozialen Faktoren zum Gelingen beitragen (s.o. Kap. 6.3). Die Beschreibung der Klinikwahl von Frau Falk lässt sich in erstere Richtung interpretieren: Sondern ich finde noch, persönlich, also Mund-zu-Mund-Propaganda und dann so lange in verschiedene Sprechstunden gehen bis das Gefühl ist, man sitzt bei jemandem, mit dem man auch menschlich kann. Ohne das fällt es schwer, das durchzustehen. […] Weil ich meine, wissenschaftlich sind die doch alle auf einem guten Stand. Da kommt es dann echt auf das Menschliche an. Also, dass man weiß, welches Verfahren will ich für mich, und dann ein Arzt, mit dem man menschlich auch kann. Dass er einen da gut durch betreut so halbwegs (P6R: 210).
Die soziale Beziehung zu den Ärztinnen und Ärzten sollte in den Augen von Frau Falk so sein, dass sie die Belastung der Behandlung nicht verstärkt. Eine Kontrolle der medizinischen Arbeit ist durch die Patientinnen und Patienten hingegen nicht möglich. Die Wichtigkeit von Vertrauen zeigt in gewisser Hinsicht auch die Relevanz der sozialen Einbettung von Technologie. Zugleich werden medizinisches Wissen und die fachliche Perspektive aufgrund der Betonung des Vertrauens relativiert und die Beurteilung der klinischen Arbeit wird so auf eine
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emotional-subjektive Ebene verschoben. Dieses Argumentationsmuster durchzieht die meisten Interviews. Das Interview mit Frau Baum ist ein Beispiel dafür, dass das subjektive Gefühl für die Klinikwahl durchaus ausschlaggebender sein kann als die medizinische Expertise: Man muss sich wohl fühlen. Man muss sich aufgehoben fühlen, das ist ganz wichtig. Und man hat gewisse Punkte, wo man sagt, da fühlt man sich wohl. Das möchte ich. Damals, wo die Entscheidung […] anstand, habe ich auch gesagt, okay, [die andere Klinik, cu] ist halt moderner. […] Vom Menschlichen her habe ich dann gesagt: ‚Boah, bin ich hier wesentlich aufgehobener‘ (P2R: 262).
Der wissenschaftliche Stand ist ebenso wie die fachliche Kompetenz der Ärztinnen und Ärzte ein wichtiger Aspekt für die Entscheidungsfindung der Paare. Für die letztendliche Beurteilung werden aber nicht fachliche oder wissensbasierte Kriterien angelegt, sondern emotional-intuitive. Im Interview mit Frau Goch zeigt sich dies beispielhaft: Dass man wirklich irgendwo ist, wo man sich aufgehoben fühlt. Und wo man auch das Gefühl hat, die kennen sich aus und wissen auch, was sie machen (P7R: 238).
Frau Adam beschreibt ausführlicher, woran sie ihr Vertrauen in die Behandlung festmacht: Also, da würde ich jetzt einfach im Nachhinein sagen – mein Mann war damals mit dabei, weil es uns beiden wichtig war – dass wir das Gefühl hatten, die haben hier viele Möglichkeiten. Die testen wirklich alles aus. Und am Anfang haben wir wirklich sehr lange getestet. Die ganzen Tests kann ich Ihnen gar nicht mehr sagen. Ich konnte es mir auch nicht merken. Alle möglichen. Bluttest, dieser Vorher-Nachher-Test, wo sie gucken wollten – mein Mann musste auch noch mal ein Spermiogramm abgeben. Wo ich jetzt das Gefühl habe, die klären erst mal gut ab (P1R: 96–98).
Die Intuition als ausschlaggebendes Kriterium ergänzt das Wissen der Paare. In den zitierten Ausschnitten wird deutlich, dass dies für die Frauen eine Möglichkeit ist, die ihnen eigene intuitive Expertise als legitime Entscheidungsgrundlage darzustellen. Während die Möglichkeit, eine fachwissenschaftliche Gegenexpertise zu der der Ärztinnen und Ärzte zu bilden, notwendigerweise für Laien begrenzt ist, kann die Intuition zur Wahrung von Autonomie und Legitimation von Handlungsfreiheiten genutzt werden.
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Einige Patientinnen beschreiben explizit, wie Vertrauen an die Stelle von Wissen und Kontrollmöglichkeiten tritt. Frau Baum etwa artikuliert ihr grundsätzliches Vertrauen: Ich kann mich auch relativ gut fallen lassen, weil ich ja weiß, wie das geht. Irgendwo sage ich, „Okay, ich muss es machen lassen“. Oder: „Wenn ich Erfolg haben möchte, muss ich gewisse Sachen machen“. Da bin ich dann relativ offen. Und sage, „Okay, ich begebe mich in Ärztehände“ (P2R: 186).
Diese Einstellung erscheint zunächst wie ein Gegenentwurf der Strategie des Aktiven Mitarbeitens und Kontrollierens von Frau Adam. Gemeinsam ist beiden Vorgehensweisen die bewusste Entscheidung für eine bestimmten Rolle und ein spezifische Verhältnis zu den Ärztinnen und Ärzten. Für Frau Baum stellt sich gerade die Übergabe der Verantwortung für die medizinischen Entscheidungen an die Ärztinnen und Ärzte als ein Gewinn dar. Doch auch bei Frau Adam sind Kontrolle der und Vertrauen in die Behandlung keine Gegensätze, diese vermischen sich vielmehr in ihrer Schilderung: Diesmal habe ich ja schon gewusst, wie es läuft. Aber damals bei dem ersten Versuch, also da haben wir dann schon darauf vertraut. [unverständlich], die haben das genau aufgezeigt, […], wie das funktioniert, was für Risiken gibt es dann auch, wie das gemacht wird, […] ich mach’ das, wenn ich das Gefühl habe, es ist etwas, was ich verstehe (P1R: 79).
Der Maßstab für hinreichende Erklärungen ist nicht – oder nicht nur – objektives Wissen, sondern vielmehr ist für Frau Adam das Gefühl entscheidend, etwas verstanden zu haben. Im Interview mit Frau Caglar zeigt sich, dass die Spannung zwischen angeeignetem Wissen und Vertrauen nicht nur als Autonomiegewinn gelöst werden, sondern auch mit einem verstärkten Abhängigkeitsgefühl einhergehen kann: Wenn ich komme und sage, ah, ich glaube, ich habe das gehabt (jammernder Ton). Dann sagt sie, beruhigen Sie sich, passen Sie auf, das und das passt schon. Und dann bin ich schon wieder beruhigt. Also ich, man hat zwar sein Wissen, aber man legt sich doch in die Hände der Ärzte. Und Vertrauen ist da (P3R: 115).
In vielen Interviews findet sich dieses Gefühl der Abhängigkeit durch das begrenzte eigene Wissen artikuliert, doch meistens dominiert die Deutung der intuitiven Entscheidung als Teil der eigenen Autonomie.
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Die meisten Paare der Untersuchung entsprechen insofern dem Typus von mündigen Patientinnen und Patienten, als sie sich so weit über die Behandlung informieren, dass sie für sich selbst eine hinreichende Entscheidungsgrundlage haben. Das medizinische Wissen an sich wird dabei nicht hinterfragt, gleichwohl wird es als begrenzt erlebt. Ebenso erkennen die Paare zwar eine ärztliche Autorität an, sehen sie aber auch als beschränkt an. Die Anerkennung des ärztlichen Spezialwissens bleibt Voraussetzung und Grundlage der Behandlung. Mit der Wissensaneignung geht auch die Realisierung neuer Unsicherheiten einher, die nicht ausgeräumt werden können. Ausschlaggebend für die Entscheidung für eine Behandlung ist – relativ unabhängig von anderen Kriterien – das Vertrauen in die Ärztinnen und Ärzte.
7.2 B EHANDLUNGSBEZOGENE A RBEIT Während die ungewollte Kinderlosigkeit weitgehend als körperlich beschwerdefrei erlebt wird (s.o. Kap. 5.2), ist es ihre Behandlung, die wegen der Nebenwirkungen als einer Krankheit ähnlich charakterisiert werden kann. Die Indikation einer medizinischen Behandlung des unerfüllten Kinderwunsches ist von seiner Artikulation durch die Paare abhängig (s.o. Kap. 5.2.4), während sich die medizinische Zuständigkeit vor allem über die Behandlung selbst legitimiert. Von den Paaren und Frauen werden IVF-Behandlungen zwar auch als körperlich, vor allem aber als psychisch belastend erlebt. Diesen Belastungen zu begegnen sehen sie vor allem als ihre Aufgabe und weniger als die der Medizin. Während und zwischen IVF-Behandlungszyklen wenden vor allem die Frauen reflexive Selbst- und Körpertechniken an, um diesen Belastungen zu begegnen und schaffen sich Regenerationszeiten. Belastungen der IVF-Behandlung Im Vergleich zu anderen Eingriffen und Therapien im Krankenhaus gilt die IVF als Behandlung mit relativ wenigen Risiken und Nebenwirkungen. Gesundheitliche Einschränkungen und Komplikationen gibt es vor allem während der Stimulationsphasen und der operativen Eizellpunktion, aber auch diese sind eher selten. Mit der hormonellen Stimulation ist das Risiko einer Überreaktion der Eierstöcke verbunden, was je nach Schweregrad zu einer leichten Überstimulation mit gespanntem Bauch oder zur schweren Überstimulation mit Übelkeit, Erbrechen, Durchfall, vergrößerten Eierstöcken, freiem Wasser im Bauch, Flüssigkeiten im Brustkorb, Atemnot, Blutkonzentration, Gerinnungsstörungen und einge-
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schränkter Nierenfunktion führen kann. Während bei einer leichten Form der Überstimulation die Symptome, darunter auch größere Zysten, meist mit dem Ende des Zyklus verschwinden, muss bei einem schweren Überstimulationssyndrom eine stationäre Behandlung erfolgen. Bei der Injektion der Hormone in die Bauchdecke, die die Patientinnen in der Regel selbst zu Hause durchführen, kann es zu kleinen Schwellungen an den Einstichstellen kommen. Bei operativen Eingriffen wie Bauchspiegelungen, Hodenbiopsien und Punktionen – der invasivste Teil der IVF-Behandlung – können Komplikationen wie zum Beispiel kleine Verletzungen oder Entzündungen auftreten und schmerzhaft sein. Grundsätzlich kann auch die Narkose zu Komplikationen führen, zum Beispiel Übelkeit, Erbrechen, Kreislaufprobleme, Kopfschmerzen, in seltenen Fällen sogar Atemstillstand sowie Verletzungen von Blutgefäßen, Darmschlingen oder den Harnleitern. Das Risiko von höhergradigen Mehrlingsschwangerschaften – und damit die erhöhte Wahrscheinlichkeit von Fehl- und Frühgeburten und Komplikationen für die Schwangere – haben die Ärztinnen und Ärzte der untersuchten Klinik dadurch minimiert, dass nur zwei statt der drei erlaubten Embryonen eingesetzt werden. Die interviewten Patientinnen erleben die IVF-Behandlung eher als psychisch denn als physisch belastend. Auch wenn in den Interviews an einigen Stellen körperliche Nebenwirkungen vor allem während der Hormonstimulation beschrieben werden, wird ihnen von den Frauen eine weniger große Bedeutung als den emotionalen Belastungen beigemessen. Diese Belastung wird innerhalb des IVF-Verlaufs und auch über den gesamten Behandlungszeitraum hinweg unterschiedlich stark erlebt. In Frau Caglars Beschreibung wird exemplarisch deutlich, dass mit den jeweiligen Schritten im Behandlungsverlauf und mit dessen Dynamik zwischen Hoffnung und Enttäuschung (s.o. Kap. 6.2.2) auch emotionale Herausforderungen verbunden sind: Während der gesamten Behandlung nur ein psychisches Auf und Ab. Das ist wie eine, wie sagt mein Mann, wie […] die Achterbahn (P3R: 215).
Während die einzelnen Behandlungszyklen zwar unter Anspannung erlebt werden, ist es vor allem die Zeit nach einer erfolglosen Behandlung, die von den Frauen als psychisch belastend empfunden wird. Diese Belastungen werden von vielen Frauen als Hauptgrund für ihre Erwägungen genannt, keine weiteren Behandlungszyklen durchzuführen. So empfindet Frau Caglar jeden medizinischen Misserfolg als große psychische Belastung:
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Aber im Endeffekt macht es ja einem Mann zum Beispiel, oder bei einer Frau, erhebliche psychische Schäden. Man kämpft damit. Das beeinträchtigt das Leben. Und wenn die Seele aus den Fugen gerät, weil sie nicht was bekommen kann, weil die Natur nicht mitspielt, ja, weil der eigene Körper nicht mitspielt. Dann kommen die Fragen, und warum und weshalb. Und ich würde mich nicht wundern, wenn eine Frau nach 17 gescheiterten Versuchen dann doch Suizid begeht. Würde mich nicht wundern (P3R: 271).
Auch in dem Interview mit Frau Dorsch ist erkennbar, dass sich Gefühle psychischer Belastung mit der Erfahrung eines negativen Behandlungsergebnisses vermischen: Klar, wenn man eine Enttäuschung erlebt hat, oder nach dieser ersten Fehlgeburt, […] da habe ich auch gesagt, das muss ich mir nicht mehr antun. Und wo man dann ganz klar überlegt. Man ist natürlich mit den Hormonen noch mehr durcheinander, und bis sich das regeneriert, braucht das auch ein paar Monate (P4R: 149).
An diesem Interviewausschnitt lässt sich ebenfalls ablesen, dass die Frauen nicht nur diejenigen sind, die stärkeren körperlichen Eingriffen ausgesetzt sind, sondern auch diejenigen, die stärker emotional belastet werden. Gleichzeitig finden sich in diesem Zitat schon Hinweise auf eine Relativierung dieser Empfindung: Frau Dorsch führt die nachhallenden Auswirkungen der Hormontherapie an, die die Fähigkeiten für eine Entscheidungsfindung einschränken. Die IVF-Therapie selbst ist nicht für alle Frauen gleichermaßen belastend. Von den elf interviewten Frauen verweist nur eine explizit darauf, dass sie die Behandlung als im Vergleich wenig belastend erlebte (P5R). Frau Adam hingegen (P1R) beschreibt die Auswirkungen der Hormontherapie als positiv: Bei mir war es eben so, dass diese Hormone mir total gut getan haben (P1R: 152).
Diese Einschätzung korrespondiert mit der Beschreibung ihres normalen Hormonhaushaltes als defizitär. Der Medizin kommt hier die Aufgabe zu, diesen Mangel auszugleichen. Auch wenn diese positive Bewertung der Hormonstimulation eine Ausnahme darstellt, zeigt das Beispiel die Spannweite des Erlebens der IVF-Behandlung auf, das sich je nach Patientin, Phase, aber auch in unterschiedlichen IVF-Therapien derselben Frau deutlich unterscheiden kann.
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Umgang mit Belastungen der IVF-Behandlung Im Umgang vor allem mit den psychischen Belastungen werden von den Patientinnen verschiedene Strategien angewandt: Sie nutzen medizinische Therapien – entweder in Form rezeptfreier Mittel oder naturheilkundlicher Verfahren –, praktizieren körperzentrierte Entspannungsformen, beispielsweise Yoga, oder nehmen sich Auszeiten. Alle diese Techniken zeichnen sich dadurch aus, dass die Patientinnen durch sie bewusst – reflexiv – auf den Körper einwirken. Die Patientinnen berichten in den Interviews von Nebenwirkungen während der Stimulation, die aber in der Regel leicht sind. Sie werden als störend und unangenehm empfunden, sind jedoch meist nicht mit starken Einschränkungen verbunden. Die Nebenwirkungen erscheinen vielmehr als eine Art in Kauf zu nehmendes Übel, das dem Behandlungsziel untergeordnet wird. Dies wird etwa in der Beschreibung von Frau Kaiser (P10R) deutlich, die die Nebenwirkungen relativiert: Also bisher habe ich das alles gut vertragen. Wobei ich dieses Spray, da hatte ich schon Nebenwirkungen. Ich habe tierisch Nesselsucht gekriegt. […] Aber ich bin dann auch nicht gleich zum Arzt, sondern ich meine, das ist ja jetzt nichts Schlimmes, wenn irgendwie, was weiß ich jetzt, dass einem schlecht wird, das ist ja was anderes, aber wenn sich so Pusteln bilden und das juckt, das ist ja vor allem tierisch unangenehm. Habe ich gesagt, da musst du halt durch. Und als ich dann das nächste Mal wieder hier war und das gesagt habe, hat sie gemeint, ja wir können dann auch ein anderes Medikament nehmen. Und dann haben wir gesagt, nein, es ist dann ein bisschen besser geworden und dann habe ich eher Angst davor gehabt, dass bei dem nächsten Medikament wer weiß was passiert […]. An Nebenwirkungen, weil das habe ich dann in den Griff gekriegt. Also ich habe dann irgendwelche Öle und Cremes mir geholt, mit denen ich dann klar kam (P10R: 122).
Die Nebenwirkungen werden in dieser Argumentation von der Behandlung getrennt; für die Gesamtbeurteilung sind sie nur eingeschränkt wichtig. Gleichzeitig wird auch gegenüber den behandelnden Ärztinnen und Ärzten das Bild einer weitgehend komplikationslosen Therapie aufrechterhalten. Die Selbstmedikation durch Salben unterstreicht dabei die Relativierung der Nebenwirkungen. Sie ist aber zudem ein Beispiel für die Anwendung medizinischer Mittel außerhalb des unmittelbaren Behandlungskontextes, die in diesem Fall auch durch eine Angst vor gegebenenfalls schwerwiegenderen Nebenwirkungen von Alternativmedikamenten motiviert ist. Die autonome Selbstbehandlung dient also auch dazu, die medizinische Arbeit der Ärztinnen und Ärzte zu beeinflussen.
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Ein weiteres Beispiel für einen medizinischen Umgang mit Nebenwirkungen der Behandlung ist der Fall von Frau Caglar, die von Vorsorgemaßnahmen berichtet, die sie während der Hormonstimulation ergreift: Mein Bauch zieht und drückt. Ich habe Wasser in den Beinen. Ich trage schon vier Tage Antithrombosen-Strümpfe [lacht], weil ich schon Angst habe, ich bekomme schon Thrombose. Und, der Bauch schwillt an. Und irgendwie, es ist so komisch (P3R: 227).
Hier wird deutlich, dass auch Frau Caglar sich selbst für die Risikominderung zuständig sieht. Die Angst vor dem Risiko der Thrombose gründet nicht auf medizinischen Werten, sondern auf leiblichen Empfindungen. Diese sind zum einen für Frau Caglar insofern klar zu deuten, als sie eine Gegenmaßnahme wählen kann, bleiben zum anderen aber diffus. Diese Unklarheit korrespondiert mit ihrer Relativierung der eigenen Einschätzung, indem sie gleichzeitig das Tragen der Thrombosestrümpfe als übertrieben darstellt. Eine medizinische Abklärung würde entweder ihre eigene Einschätzung als falsch aufdecken oder das nur vage Risiko genauer bestimmen. Die medizinische Abklärung zu umgehen, kann auch als Strategie gesehen werden, diese Vagheit zu erhalten. Ähnlich ließe sich auch die Anwendung von Salben durch Frau Kaiser deuten. Zugleich wird so ein Handlungsspielraum für die Patientinnen gewahrt, die selbst die bestimmenden Akteurinnen werden. Der Fall von Frau Dorsch (P4R) ist ein Beispiel für die Einstellung, dass nicht die medizinischen Nebenwirkungen im engeren Sinne Thema sind, sondern vielmehr ausschließlich die Gewichtszunahme während der Behandlung. Unter den interviewten Patientinnen und in den untersuchten Erstberatungsgesprächen ist sie die einzige, die dies aufwirft. Jedoch ist die Sorge um die Gewichtszunahme in den IVF-Behandlungsgesprächen nach Einschätzung der Ärztinnen und Ärzte insgesamt nicht unüblich. Dr. Richter (A5R) hält dies sogar für die häufigste Frage, die die Patientinnen nach Nebenwirkungen stellen. Frau Dorsch erläutert ihren Umgang mit ihrem Körpergewicht wie folgt: Klar hat das körperliche Auswirkungen. Also, ich meine, ich hab’ es schon von Frauen, die mit mir im Zimmer waren, gehört, die haben dann gesagt, ich habe 10, 15 oder wie viel Kilo zugenommen. […] Ich habe auch nach diesen Fehlgeburten letztes Jahr mit den diversen Hormonbehandlungen über ein paar Jahre auch sicherlich vier, fünf, sechs Kilo zugenommen. […] Aber die Behandlung hat schon, klar, merkt man schon. Also es ist jetzt nicht dramatisch, aber es geht auch nicht spurlos an einem vorbei (P4R: 141).
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Diese Belastung beschränkt sich in ihrer Beschreibung allerdings nicht nur auf einen IVF-Zyklus, sondern den breiteren zeitlichen Rahmen der Unfruchtbarkeitsbehandlung. Wie stark eine Frau von der Gewichtszunahme und den Nebenwirkungen allgemein betroffen ist, hängt für Frau Dorsch dabei vor allem von der eigenen Einstellung und dem eigenen Verhalten ab: Aber ich denke, es hat mit einem selbst auch zu tun. Wie man eine Sache angeht. Und ob man sich hängen lässt. Es gibt auch Frauen, die nehmen in der Schwangerschaft 30 Kilo zu, die sich jeder Lust hingeben, den Essgenüssen. Vielleicht gibt es auch manche – das ist vielleicht auch ungerecht, zu sagen – denen passiert das einfach so. Aber ich denke, es hat auch schon so ein bisschen was mit der eigenen Disziplin zu tun, ob man, wie man an die Sache herangeht (P4R: 157-159).
Zwar bietet Frau Dorsch Erklärungen – sowohl für sich selbst als auch für andere Frauen – für die Gewichtszunahme an, im Kern bleibt diese für sie aber eine Frage der Selbstdisziplin. Die anderen Patientinnen erscheinen als Kontrastfolie, vor der ihre eigene Gewichtszunahme eher gering erscheint. Die Selbstdisziplinierung gehört zu Frau Dorschs Selbstentwurf als einer Person, die aktiv ihr Leben gestaltet und die Belastungen der Reproduktionsmedizin als etwas Externes sieht, dem es zu begegnen gilt. Hier geht die Anpassung an Schönheits- und Fitnessnormen einher mit einer Steigerung des subjektiven Wohlbefindens, wie in der folgenden Äußerung deutlich wird: Ich muss sagen, ich habe es eigentlich immer relativ gut im Griff gehalten. Ich habe halt versucht, mich auch selber gut zu fühlen. Das ist nicht einfach. Aber, habe halt dann, wenn es eine Behandlung war, die nicht funktioniert hat, versucht, einfach hinterher mich wieder fit zu kriegen, weil ich das für mich selber wichtig finde (P4R: 141).
In diesem Ausschnitt zeigt sich auch, dass die Abwehr der Orientierung an kollektiven Gesundheitsnormen und -erwartungen Teil der Übernahme derselben ist. Die „Selbstführung“ beinhaltet eine Zurückweisung von der „Fremdführung“ und bedarf als solche einer besonderen Legitimation. Auch in ihrer Beschreibung des Umgangs mit ihrem Körper zeigt sich der Anspruch an Eigenverantwortung und Selbstoptimierung. Dieser zielt vor allem auf eine Regeneration: [D]a habe ich letztens gesagt, so jetzt muss ich erstmal für mich was machen. Und dann habe ich das erstmal wieder abgebaut und mich wieder fit gemacht. Ich mache regelmäßig Sport, gehe regelmäßig laufen und bin schon Marathon gelaufen. Und habe einfach versucht, mich selber wieder in Form zu kriegen, damit man sich auch wieder gut fühlt und
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damit man auch wieder Energien hat, entweder was Neues zu starten oder auch für sich selbst eigentlich wieder gut drauf zu sein (P4R: 141).
Die reproduktionsmedizinische Therapie erscheint hier als Störfaktor und ähnelt so einer Vorstellung von Krankheit als Destruktion (s.o. Kap. 2.3): Die Nebenwirkungen richten sich gegen das Selbstbild und die Körperform. Ähnlich wie bei Frau Caglar und Frau Kaiser erscheint die Behandlung als etwas, das einem zugefügt wird. Gleichzeitig wird aber durch die Ausübung der reflexiven Körpertechnologien eine Autonomie über den Körper wiederhergestellt. Die Orientierung an einer Gesundheitsnorm, bei der Fitness als Aufgabe erscheint, zeigt sich in den Ausführungen deutlich. Regenerationstechniken und Erholungszeiten Die Patientinnen begegnen den allgemeinen körperlichen, vor allem aber den psychischen Belastungen damit, sich bewusst Erholungszeiten während eines IVF-Zyklus und zwischen IVF-Zyklen zu verschaffen. Schon während eines Behandlungszyklus versuchen einige Patientinnen, sich kurze Phasen der Regeneration zu schaffen und nehmen zum Beispiel Urlaub an den Tagen, an denen sie Termine in der Klinik haben, oder nach den Embryonentransfers. So verbindet beispielsweise Frau Baum ihre Termine in der Klinik manchmal mit einem ganzen freien Tag, den sie dann in der Klinikstadt verbringt: Nachher geh’ ich noch raus und trink’ noch einen Kaffee […] Habe ich gesagt: „Okay, ich lasse es mir einfach mal gut gehen“. Vor allen Dingen, weil ich die Stadt hier so gern mag. Also, die Zeit habe ich mir genommen (P2R: 240–242).
Während andere Frauen versuchen, die Behandlung mit ihrer Erwerbstätigkeit zu vereinbaren (s.u. Kap. 7.3), lässt sich Frau Caglar als einzige krank schreiben. Auch andere Frauen erwähnen diese Möglichkeit, halten sie jedoch für nicht mit ihrem Selbstverständnis vereinbar oder befürchten (mögliche) berufliche Nachteile (s.o. Kap. 5.2.1). In den Aussagen von Frau Caglar kommt eine deutliche Prioritätensetzung zu Gunsten des Kinderwunsches zum Ausdruck: Ich bin zu Hause [lacht]. Also, ich habe mir frei genommen. Die zwei Wochen war ich jetzt krank, aufgrund dessen, weil ich letzte Woche hatte ich die Grippe, und mein Arzt, ich bin hin und habe gesagt, ich habe Hormonbehandlungen, ich möchte zu Hause bleiben. […] sehe das ein, ich habe geschwollene Beine. Ich habe, keine Ahnung, schlaflose Nächte. Und das nehme ich mir einfach heraus […]. Das ist mir ganz egal. Wenn er mich dann
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kündigt, dann sage ich, ist mir wurscht, egal. Dann hat er mich gekündigt. Es geht hier um mich, um Kinderwunsch, um mein Leben. Arbeit ist nicht alles. Also, das wäre mir dann egal (P3R: 291–293).
Die gewählte Strategie des Umgangs mit den Belastungen bedarf jedoch einer wortreichen Legitimation, die sowohl medizinische als auch biographische Begründungen enthält. Dies zeigt, dass selbst in dem Ausnahmefall von Frau Caglar die IVF-Behandlung nicht mit einer selbstverständlichen Aufhebung von Rollenverpflichtungen im Parsons’schen Sinne einher geht. Auch nach einzelnen Zyklen versuchen die Paare, bewusst Erholungszeiten zu schaffen, etwa durch Urlaube, die Konzentration auf andere lebensweltliche Projekte wie beispielsweise Umzüge oder einfach einen längeren Abstand zum Beginn der nächsten Behandlung. Frau Dorsch (P4R) setzt solche Behandlungspausen immer wieder sehr bewusst ein und spricht von „Regeneration“ zwischen den Belastungen der IVF-Behandlungen. Gesundheit erscheint in solchen Äußerungen als auffüllbares Reservoir. Einige Patientinnen begegnen den Belastungen der IVF-Behandlung mit der Anwendung von Akupunktur, Homöopathie oder Entspannungstechniken. Die Grenzen zwischen medizinisch Behandlungen, Selbstmedikamentierung, Sport und Ruhepausen sind dabei fließend. Während bei der Anwendung von rezeptfreien Medikamenten oder Hilfsmitteln nur punktueller Handlungsbedarf gesehen wird, steht hier ein umfassenderer Zweck im Fokus. Gesundheit erscheint einerseits als Gleichgewichtszustand, bleibt aber andererseits in den Beschreibungen eher diffus. Im Fall des Ehepaares Jäger (EG8N) nimmt die Strategie, mithilfe naturheilkundlicher Behandlung den Belastungen durch die IVFTherapie zu begegnen, einen systematischen Stellenwert ein: Beide ließen sich homöopathisch behandeln. Die Therapie war hierbei durch eine private Beziehung zur Ärztin gerahmt: Die Ärztin für Naturheilverfahren, bei der wir waren, – also, das ist eine Freundin von uns – hat ganz einfach geholfen, stimmungsmäßig besser drauf zu sein. […] dann einfach in mir aufgeräumt, und wir haben das einfach dann genommen und nach – beim zweiten Besuch bei ihr ging es mir deutlich besser (EG8N: 151–153).
An anderer Stelle beschreibt sie die Wirkung dieser Behandlung als „Stimmungsrettung über die Homöopathie“ (EG8N: 191) und explizit als Strategie, mit den körperlichen und psychischen Belastungen umzugehen:
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Also, […] die [Ärztin] hat damals nach der ICSI mich einfach so ein bisschen aus dem Loch gezogen, aber weil ich hing einfach durch […]. Weil ich war ja voll mit diesen ganzen Medikamenten und am Boden […]. Und ich habe mich dann einfach ein bisschen aufgebaut wieder (EG8N: 135–137).
In den Formulierungen von Frau Jäger erscheint nicht das negative Ergebnis, sondern die IVF-Therapie selbst als Ursache der Belastungen. Die Naturheilkunde wird hier als komplementäres Gegenstück zur Reproduktionsmedizin beschrieben. Während die reproduktionsmedizinischen Medikamente als Ursache der emotionalen Niedergeschlagenheit erscheinen, sind die homöopathischen Mittel für die Stimmungsaufhellung verantwortlich. In dieser Darstellung wird durch die Herstellung eines kausalen Zusammenhangs zwischen Medikamenteneinnahme und Stimmungslage das Problem der weiterhin bestehenden ungewollten Kinderlosigkeit nach einer erfolglosen IVF-Therapie zu einem alternativmedizinisch zu lösenden Problem vereinfacht. Der Körper wird hier als Grundlage des Wohlbefindens gesehen, dessen Ordnung schulmedizinisch gestört wurde und naturheilkundlich gerichtet werden kann. Noch stärker findet sich dieses Motiv der alternativmedizinischen Problemlösung im Interview von Frau Lang, die nun ebenfalls in naturheilkundlicher Behandlung ist: Was ich jetzt noch nebenher mache, für mich, […] Fußreflexzonenmassage machen zu lassen, ein bisschen unterstützend für mich, dass ich da ruhiger werde, und dass, man sagt mir auch, dass Blockaden gelöst werden. Also, in die Richtung, und ich gucke, ob ich noch mal Akupunktur […] (P11N: 90).
Bei beiden Frauen wird der Körper aus einer Art mechanistischer Sicht als defizitär beschrieben. Alternativmedizinischen Verfahren wird die Aufgabe der Reparatur zugewiesen. Der integrative Anspruch der Naturheilkunde widerspricht einer solchen Sicht nicht, sondern erweitert diese hier auf psychosoziale Problemfelder. Im Interview mit Frau Lang zeigt sich, dass diese Techniken auch mit dem Ziel einer Verhaltensänderung angewandt werden. Die angestrebte Beruhigung lässt sich sowohl dahingehend interpretieren, dass ein emotionales Gleichgewicht wiederhergestellt werden soll, als auch als eine Art Distanzierung und Ruhigstellung. In den Aussagen von Frau Jansen wird dies ebenfalls deutlich: Insofern, glaube ich, [bin ich, cu] vielleicht etwas entspannter, weil ich mir sage, ich mache jetzt meine Akupunktur-Behandlung, Tai-Chi, „Ich stimme mich positiv auf die Welt ein“, und, ja, mal gucken … (P9R: 72).
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Frau Jansen wahrt zu diesen Verfahren eine ironische und leicht skeptische Distanz, verbindet aber dennoch mit der Ausübung die Hoffnung auf ihre Wirksamkeit, die sich in den Schilderungen von Frau Jäger schon realisiert hat. Auch hier zeigt sich eine Art Selbstregulation mit Hilfe von Körper- und Selbsttechniken: Die Belastungen durch die IVF erscheinen hier als abhängig von der eigenen Einstellung, an der gearbeitet werden kann. Statt etwa die Medizin in die Verantwortung zu nehmen, Therapien mit weniger Nebenwirkungen zu entwickeln oder die belastende Dynamik der Reproduktionsmedizin zu kritisieren, wird es eine Frage der individuellen Anpassungsleistung, ob und wie die Herausforderungen der reproduktionsmedizinischen Therapie gemeistert werden. Gleichzeitig werden mit naturheilkundlichen Therapien und Entspannungsverfahren Techniken in optimierender und instrumenteller Perspektive eingeübt. Auch in den Erzählungen anderer Patientinnen bekommen naturheilkundliche Verfahren die Rolle eines Korrektivs der schulmedizinischen Reproduktionstechnologie zugewiesen. Diese Verfahren werden einerseits zur Wiederherstellung des Gleichgewichts eingesetzt, zum anderen aber auch, um zukünftigen Belastungen zu begegnen. Der Vorstellung von Gesundheit als Gleichgewicht liegt also gleichzeitig die Vorstellung eines Reservoirs an Gesundheit zu Grunde, das wieder aufgefüllt werden kann. In den Äußerungen von Frau Jäger zeigt sich dies beispielhaft, wenn sie von einem Wiederaufbau durch die Homöopathie spricht. Die Nähe zur Verhaltenstherapie wird besonders deutlich am Beispiel von Frau Baum, die auf psychologische Empfehlung hin Progressive Muskelentspannung erlernt. Sie beschreibt dieses Verfahren als große Hilfe im Umgang mit den Belastungen der IVF und als „Anker“ (P2R: 160), an dem sie während der Behandlung festhält: Ich mache da meine Übung. 27 Minuten ist die, glaube ich. Habe ich die jetzt eigentlich tagtäglich gemacht. Und wenn ich doch irgendwie so negativ oder Angst habe […]. Dann gibt es so Methoden, dass man sich irgendwie in den Arm kneift oder sich sagt: ‚He, jetzt stopp, was da in deinem Hirn vorgeht‘. Das ist so nicht richtig (P2R: 160).
Mit der täglichen Einübung nimmt dieses Verfahren einen systematischen Platz in der Lebenswelt von Frau Baum ein. Mehr noch als die eigentliche IVFBehandlung greift es in die Lebenswelt ein. Durch diese reflexive Körpertechnik scheint nicht nur eine akute Intervention möglich, sondern scheinen auch Gedanken und Stimmungslagen als über den Körper steuerbar zu sein. Im Folgenden beschreibt sie die Wirkungsweisen der Progressiven Muskelentspannung genauer:
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Und jetzt nicht an das Kind denken und sagen: „Okay, ich werde sowieso nicht schwanger“. So das Negative. Weil ich nun dabei auch bin, der Gedanke an sich oder das – tut irgendwo das ganze Thema irgendwie negativ beeinflussen. Meine ich. So, und ich habe immer nur negative Gedanken gehabt. Habe ich gesagt, „Okay, es klappt sowieso nicht“. Und warum soll es jetzt klappen. Etcetera. Und dann habe ich gesagt, den Gedanken an sich, den muss ich irgendwann stoppen und das halt durch Kneifen. Dass ich dann irgendwie auf andere Gedanken komme und positiv beeinflusst, indem ich sage irgendwas, oder „Ich werde schwanger“, oder „Ich bin schwanger“, oder „Ich möchte schwanger werden“, da ich die ganzen Therapien gemacht habe. Also andere Gedanken als den negativen Gedanken. So ungefähr müssen Sie sich das vorstellen. Es ist eigentlich relativ gut (P2R: 162).
In dieser Beschreibung wird deutlich, welchen Stellenwert das Erlernen der Körpertechnik der Progressiven Muskelentspannung für Frau Baum hat. Es ist eine pragmatisch angewandte Technik, die ihr ermöglicht, selbstbestimmt und situativ auf ihre Grundstimmung einzuwirken. So wird Frau Baum in zweifacher Hinsicht zu einer für die Medizin „einfacheren“ Patientin: Zum einen, indem die Belastungen der Therapie als Frage der individuellen Anpassung verstanden werden, zum anderen durch die Überschätzung der medizinischen Möglichkeiten. Misserfolge erscheinen in einem solchen Deutungsrahmen auf individuelle Fehlleistungen zurückführbar. In diesem Ausschnitt wird ein kausaler Zusammenhang zwischen subjektiver Einstellung und Therapieverlauf hergestellt (s.o. Kap. 6.3). Das Verfahren ist für Frau Baum noch mit Unsicherheiten verbunden, was deutlich wird, wenn sie sich an die Zauber- oder Beschwörungsformel um den Satz „Ich werde schwanger“ herantastet. Ein weiteres Beispiel für die Vermutung der Beeinflussbarkeit des Therapieerfolges findet sich im Interview mit Frau Jansen (P9R), die, wie bereits oben zitiert, einen Zusammenhang zwischen dem Wohlfühlen in der Behandlung und dem Behandlungserfolg herstellt. An anderer Stelle beschreibt Frau Jansen die Unmöglichkeit der Aufgabe, sich gezielt zu entspannen, wie folgt: Es ist halt unheimlich schwierig, weil man sich dann denkt, ich darf mich nicht unter Druck setzen lassen. Ist eigentlich völlig egal, wie viele Eizellen das sind. Aber das arbeitet halt (P9R: 42).
Auch wenn dieser explizite Bezug auf die „Macht des positiven Denkens“ eine Ausnahme in den Interviews darstellt, ist er doch in einen breiten Diskurs eingebunden, der die Geschichte der modernen Medizin begleitet und sich heute etwa in der naturheilkundlichen Medizin mit dem Motiv der Selbstheilungskräfte oder
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in der Schulmedizin in der Diskussion um Placeboeffekte wieder findet (vgl. Harrington 2008: 103–138). Durch die Anwendung der Progressiven Muskelentspannung in Kombination mit einem selbstverordneten Optimismus wird nicht nur die Verantwortung für den Therapieerfolg verschoben, sondern auch ein Ritual praktiziert, das in seiner täglichen und situativen Wiederholung Sicherheit herstellt. Arbeit an Psyche und Emotionen Insgesamt sind drei Personen unter den zehn interviewten Frauen und ihren Partnern in psychologischer Behandlung. Außer Frau Baum (P2R) nimmt noch Frau Ewald (P5R) die psychologische Beratungsstelle der Klinik, die auch auf die Begleitung von Kinderwunschbehandlungen ausgerichtet ist, in Anspruch. Bei dem Ehepaar Jansen (P9R) ist der Mann vor allem aufgrund einer vorhergegangenen schweren Krankheit in Behandlung. Für dieses Paar ist ihre Krankheitserfahrung stark mit dem Kinderwunsch und seiner Behandlung verbunden: Die Krankheit und das Kinder-Haben-Wollen ist ja was, was sehr miteinander verbunden ist, und das eben Begleiten mit einer Therapie finde ich eigentlich eine sehr gute Sache. […] Das hat er dann jetzt auch gemacht und, hm, ist auch immer noch dabei und lernt jedes Mal viel über sich und auch über uns. Auch darüber, wie er mit mir umgeht, und ich lerne etwas darüber, wie ich mit ihm umgehe, und insofern glaube ich, ist das schon eine runde Sache. Und das spielt da mit rein, aber ist der Auslöser (P9R: 78).
Die Kinderwunschbehandlung wird hier zum Anlass für die Selbstreflexion genommen und die psychologische Therapie hierfür als Instrument genutzt. Dies ist ein Beispiel dafür, dass die IVF-Therapie, auch während sie durchgeführt wird, nicht von der Biographie- und Beziehungsarbeit zu trennen ist (s.u. Kap. 7.4). Im Vordergrund steht in diesem Beispiel die Beschäftigung mit sich selbst und mit der Beziehung, nicht, wie etwa im Fall von Frau Baum, die Selbstoptimierung als Patientin. Auch das Ehepaar Ewald (P5R) hat sich für eine kinderwunschspezifische psychologische Therapie entschieden. Im Gegensatz zu Frau Baum ist hier auch der Mann integriert: Der zentrale Fokus ist ähnlich wie beim Ehepaar Jansen die Paarbeziehung. Frau Ewald beschreibt diese Therapiesitzungen als eine Hilfe zur Stärkung der Paarbeziehung und als der Abgrenzung von äußeren sozialen Anforderungen dienlich. So habe ihr Psychologe sie zum Beispiel zum Verschweigen der Behandlung ermutigt (s.u. Kap. 7.3). Diese Konzentration auf die Paarbeziehung zeigt eine Relativierung der Bedeutung des medizinischen Aspekts der Behandlung und deutet das Verständnis der Therapie
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als eine Art Übergangsritus in der Selbst- oder Neufindung als Paar an. Diese Auffassung lässt sich mit einer Vorstellung von Krankheit als Befreiung vergleichen: Die Belastungen der Behandlung werden als Entdeckung und Erleben neuer Möglichkeiten empfunden (s.o. Kap. 2.3). Dies kommt beispielhaft zum Ausdruck, wenn der Schwerpunkt in der Schilderung von Frau Ewald sich von der Betrachtung des IVF-Verlaufs hin zu dem gemeinsamen Erleben der Therapie als Paar verschiebt . Weitere Patientinnen beschreiben ebenfalls Strategien, auf ihre Psyche und ihre Emotionen so Einfluss zu nehmen, dass sie den Behandlungsbelastungen begegnen können. Für die Entwicklung dieser Strategien haben sie keine professionelle psychologische Hilfe in Anspruch genommen, kommen aber zum Teil zu ähnlichen Ergebnissen. Diese Strategien beinhalten auch eine Auseinandersetzung mit der Möglichkeit, kinderlos zu bleiben, und darauf aufbauend die Entwicklung alternativer Lebensentwürfe. Zur Vorbereitung auf eine Behandlung gehört dementsprechend, ein mögliches Scheitern vorwegzunehmen. Dies wird in den Ratschlägen, die Frau Caglar für (P3R) andere Patientinnen formuliert, besonders deutlich: Ja, einfach von vorneherein [davon, cu] ausgehen, dass das nicht unbedingt klappen kann, muss. Wappnen heißt einfach seelisch vorbereiten; das ist wie, wenn sich ein Fakir auf das Nagelbrett setzen will. Je nachdem, wie er sich seelisch vorbereitet. (P3R: 329).
Die seelische Ausgeglichenheit wird in den hier genutzten Metaphern zu einer Frage von Aufrüstung und Abhärtung. Die eventuelle Enttäuschung am Ende eines Zyklus soll dadurch abgemildert werden, dass man sich ihr in kleinen Dosen hypothetisch vorab aussetzt. Der endgültige Abschied vom Kinderwunsch wird hier nicht explizit thematisiert, erscheint aber als implizite Möglichkeit, die mit einer Verhärtung oder Desensibilisierung einhergeht. Die Vorbereitung auf das Scheitern, die bei Frau Caglar noch im Vordergrund steht, erfährt hingegen bei Frau Adam und Frau Hoffmann eine positive Wendung hin zu einer alternativen Lebensplanung, in der der Kinderwunsch relativiert wird. Frau Adams Empfehlung an andere Patientinnen fällt zunächst sehr ähnlich aus wie bei Frau Caglar, bezieht sich aber vor allem auf die Belastungen der Behandlung: Dass sie [die Patientinnen] versuchen sich sehr, so psychisch auch stabil zu machen (P1R: 166).
Hier klingt eine Vorstellung von seelischem Wohlbefinden als Gleichgewicht an. Gleichzeitig erscheint wie bei Frau Caglar die Behandlung als eine Art äußerer
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Störfaktor. Konkret beschreibt Frau Adam dann als Strategie eine zweifache Relativierung der Fokussierung auf den Kinderwunsch, zum einem im Biographieentwurf und zum anderen im Alltagsleben: Und vielleicht versuchen […] sich zu lösen, wenn es bei denen schon so weit ist, sich davon zu lösen. Dieses ‚Kind, Kind, Kind‘. Was auch, muss ich sagen, es ist auch ein schönes Leben ohne Kind. Und versuchen, sich da auch ein bisschen was aufzubauen, was zu gönnen und was Schönes (P1R: 166).
Frau Hoffmann beschreibt in ähnlicher Weise die Notwendigkeit von „Tröstmechanismen“ und „Tröstleitern“ (P8R: 63), die ihr im Fall der Erfolglosigkeit dazu dienten, „aus dem Loch“ (ibid.) herauszukommen. Auch hier steht eine präventive Auseinandersetzung mit dem möglichen Scheitern der Behandlung im Vordergrund, aber diese geht mit einer Neugewichtung einher: „Tröstleitern“ sind so für Frau Hoffmann beispielsweise berufliche Pläne und die Fortführung ihrer akademischen Laufbahn mit einer Doktorarbeit, die sie ohne weiteres Kind weiterverfolgen könnte. Hier deutet sich schon an, wie sehr die Arbeit an dem medizinischen Behandlungsverlauf bzw. der Umgang mit den Nebenwirkungen mit der Beziehungs- und Biographiearbeit der Frauen und Paare verknüpft ist (s.u. Kap. 7.4). Umgang mit den Empfehlungen der Ärztinnen und Ärzte Die Bemühungen, ein Kind zu zeugen, gehen bei den meisten Paaren mit dem Rückgriff auf spezifischen Maßnahmen zurück, die ihre Fruchtbarkeit steigern sollen. Abgesehen vom Einstellen der Verhütung gehört dazu, dass sie versuchen, gezielt zum Zeitpunkt des Eisprungs Geschlechtsverkehr zu haben, wofür unterschiedlich aufwändige Methoden genutzt werden, z.B. Zykluskalender, Temperaturmessung, Zervixschleimkontrollen und kleine Fruchtbarkeitscomputer. Einige Frauen nehmen auch pflanzliche Mittel zur Fruchtbarkeitsregulierung, wenige weitere Nahrungsergänzungsmittel (s.o. Kap. 5.2.3). Die Ärztinnen und Ärzte raten ihrerseits zu einer Vielzahl von Maßnahmen, die außerhalb des eigentlichen Kontextes medizinischer Therapien liegen: Dies umfasst eher obligatorische Anforderungen wie den weitgehenden Verzicht auf das Rauchen sowie eine Bandbreite von Ratschlägen zu Körpergewicht, Bewegungsverhalten, Ernährungsstilen und den Umgang mit Belastungen und Stress. In der naturheilkundlichen Behandlung machen diese Empfehlungen zur Änderung der Lebensgewohnheiten einen integralen Teil der Therapie aus (s.o. Kap. 6.3).
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Der Rat der Ärztinnen und Ärzte wird allerdings von den Patientinnen und Patienten nur eingeschränkt befolgt: Keines der Paare in den Erstberatungsgesprächen und auch keine der interviewten Frauen geben an, ihren Genussmittelkonsum oder ihren Missbrauch von Medikamenten vorsorglich zur Steigerung der Fruchtbarkeit eingeschränkt zu haben. Nur Herr Haase (EG7R) thematisiert einen möglichen Zusammenhang zwischen seinem Konsum von Hormonen im Rahmen seines Bodybuildings und der Verschlechterung seines Spermiogramms. Den Konsum dieser Hormone hatte er aber schon unabhängig von der Unfruchtbarkeitsbehandlung eingestellt. Ähnliches gilt für die sportliche Betätigung: Diese gehört für die meisten Patientinnen und Patienten zu einer gesunden Lebensweise, wie z.B. an schlechtem Gewissen im Erstberatungsgespräch deutlich wird. Aber speziell zum Zwecke der Fruchtbarkeitssteigerung wird kein Sport betrieben; die einzige Ausnahme ist Frau Adam, die – allerdings bevor sie in reproduktionsmedizinischer Behandlung war – einen Luna-Yoga-Kurs belegte. Ebenfalls ist es nicht üblich, dass zum Zwecke der Fruchtbarkeitssteigerung Medikamente oder Nahrungsergänzungsstoffe genommen werden. Ein Ausnahmefall ist Frau Falk, die gezielt zur Fruchtbarkeitssteigerung und Behandlungsbegleitung Vitamine und Mikronährstoffe zu sich nimmt, dies aber nach der ersten IVF-Behandlung wieder einstellt. Ein weiterer Hinweis für die Bereitschaft, Medikamente zu nehmen, ist die Einnahme von Folsäure, die allerdings nicht auf Fruchtbarkeitssteigerung zielt. Diese Bereitschaft ist freilich kaum gegeben, wenn es darum geht, die sonstigen Lebensweisen grundsätzlich umzustellen. Gesundheitswissen mag zu einem leicht schlechten Gewissen führen, der Lebensstil selbst ist aber eher persistent. Dies wird beispielhaft in der offenherzigen Feststellung von Frau Koch im Erstgespräch Dr. Nussbaum gegenüber deutlich: Und ansonsten, muss ich gestehen, bin ich ein ziemlicher Vollkostler. Ich ess’ alles (EG9N: 108).
Den Empfehlungen der Ärztinnen und Ärzte wird hier nur bedingt Folge geleistet, was darauf hinweist, dass die Ausweitung der medizinischen Zuständigkeit begrenzt ist. Das Gesundheitsverhalten wird auch durch das sich im Behandlungsverlauf erweiterte Gesundheitswissen nicht notwendigerweise geändert. Vor allem in den naturheilkundlichen Erstberatungsgesprächen finden sich Beispiele dafür, dass Patientinnen explizit keine Verbindung zwischen Stress und Unfruchtbarkeit sehen. In der reproduktionsmedizinischen Klinik ist Frau Adams retrospektive Betrachtung möglicher Ursachen der ungewollten Kinderlosigkeit ein Beispiel hierfür. Entsprechende an sie herangetragene Vermutungen
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empfindet sie als unnötige zusätzliche Belastung, auf die sie im Interview an zwei Stellen zu sprechen kommt: Weil man – wirklich diese Vorstellung hat, du musst dich mehr entspannen und ich weiß nicht was. Aber wenn ich früher gewusst hätte, es geht körperlich einfach nicht, dann hätte ich, denke ich, früher dazu gegriffen. […] Weil, das wird auch suggeriert. Du musst das abbauen, du musst ruhiger werden. Und man denkt, oh Gott, lebe ich gesund? – Hm, blöd, wie auch immer. Bin ich zu verkrampft, oder? (P1R: 43, 184).
Auch wenn Frau Adam einen Zusammenhang zwischen Lebensstil und Unfruchtbarkeit zurückweist, zeigt sich an dem Zitat doch beispielhaft, dass die Vorstellung plausibel genug erscheint, um sie zu verunsichern. In zwei der Erstberatungsgespräche mit der naturheilkundlichen Ärztin Dr. Müller relativieren die Patientinnen deren negative Beurteilung des berufsbedingten Stresses, den sie als Preis der Emanzipation und des Fortschritts darstellt (s.o. Kap. 6.3). Im Umgang mit diesen Belastungen entwickeln die Patientinnen Strategien, die sich als reflexive Selbst- und Körpertechniken beschreiben lassen. Die Anwendung jener Techniken zielt primär auf den Ausgleich der Belastungen durch die Behandlungszyklen, die ihren allgemeinen Gesundheitszustand beeinträchtigt haben. Die Vorstellungen von Gesundheit lassen sich hier zum einen mit Gesundheit als Gleichgewicht beschreiben. Zum anderen wird aber auch ein Verständnis von einer Gesundheit als Instrument deutlich, wenn diese Techniken mit der Hoffnung verbunden werden, sowohl für einen Folgebehandlungszyklus besser gewappnet zu sein als auch die Behandlungschancen zu erhöhen. Die Anwendung der Techniken deutet auf eine Orientierung an einer Gesundheitsmoral hin, die die Verantwortung für die eigene Gesundheit mit der Forderung nach ihrer bewussten und aktiven Erhaltung durch die einzelnen verbindet. Hierbei verschwimmen die Grenzen zwischen einer selbstbestimmt gewählten Aktivität und einem funktionalen Gesundheitserhalt.
7.3 A LLTAGSARBEIT
DER
P AARE
Die IVF-Behandlung geht auf Seiten der Paare nicht nur mit Behandlungsarbeit einher, sondern stellt auch Herausforderungen an die Lebenswelt der Paare. Die Gestaltung der Lebenswelt lässt sich mit der Verlaufskurvenforschung als Alltagsarbeit beschreiben, die allerdings nicht trennscharf von der Biographiearbeit zu unterscheiden ist (s.u. Kap. 7.4). Während des IVF-Therapieverlaufs steht ne-
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ben der Behandlungsarbeit die Alltagsarbeit in Form einer Aufrechterhaltung eines weitgehend normalen Berufs- und Alltagslebens im Vordergrund (Kap. 7.3.1). Hierbei wird für die Paare auch virulent, wie offen sie mit der Tatsache umgehen, dass sie in Kinderwunschbehandlung sind und ob und welche Techniken des Täuschens und Kuvrierens sie anwenden. Diese Frage stellt sich für sie auch im Umgang mit ihren Familien und ihrem engeren sozialen Umfeld von Freundinnen und Freunden und Bekannten (Kap. 7.3.2). In den Phasen zwischen den IVF-Behandlungen oder den Pretrajectoy-Phasen vor dem nächsten Behandlungszyklus reflektieren die Patientinnen die Bedeutung des Kinderwunsches und seiner Behandlung für ihren Biographieentwurf (s.u. Kap. 7.4). Ein „Leben in der Warteschleife“ (Corbin) findet eher innerhalb des IVF-Zyklus statt, der von einer spezifischen Dynamik von Hoffnung und Enttäuschung gekennzeichnet ist (s.o. Kap. 6.2.2). Dies setzt sich in den Behandlungspausen insofern fort, als die Entscheidung über ein Ende der Behandlungsversuche einer ständigen Reevaluation unterworfen ist. Zugleich findet bei einigen Patientinnen aber schon zu diesem Zeitpunkt eine Neubewertung und Relativierung des Kinderwunsches für die eigene Biographie statt. 7.3.1 Vereinbarkeit der Behandlung mit Alltag und Beruf Die IVF-Behandlung stellt in nicht geringem Umfang zeitliche Anforderungen an die Paare, vor allem an die Patientinnen: Während für das Erstberatungsgespräch nur einmal vom Paar gemeinsam Zeit aufgebracht werden sollte, sind der Diagnosezyklus und der Behandlungszyklus mit vielen Terminen, die zum Teil sehr kurzfristig vereinbart werden, verbunden (s.o. Kap. 6.2.2). Die Erstberatungsgesprächen finden am frühen Nachmittag stattfinden und dauern ungefähr eine Stunde dauern. In einem Diagnosezyklus müssen die Frauen allein für Hormonanalyse und Ultraschallkontrollen bis zu fünf Mal in die Klinik kommen. Die Blutabnahme selbst nimmt nicht viel Zeit in Anspruch und kann auch in einer dem Wohnort der Paare näher gelegenen Praxis erfolgen; die Probe wird dann per Post an die Klinik geschickt. Trotzdem müssen die Frauen auch hierfür Termine machen sowie Zeit und Wege einplanen. Für Postkoitaltest, Laparoskopien und Spermiogramme werden ebenfalls Termine vereinbart. Eine höhere zeitliche Belastung geht mit dem IVF-Behandlungszyklus einher: Während der drei bis vier Wochen vom Beginn der Downregulierung bis zum Embryonentransfer kommen die Patientinnen zum Teil mehrmals pro Woche zur Kontrolle der Hormonwerte und Follikelentwicklung in die Klinik. Wie viele Termine erforderlich sind, ist im Vorhinein von den Ärztinnen und Ärzten schwer abzusehen, da die Reaktion auf die Hormongaben sehr unterschiedlich sein kann. Die
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operative Follikelentnahme wird ambulant vorgenommen, für diese ist inklusive Gespräch mit der Narkoseärztin oder dem Narkosearzt ein halber bis ganzer Tag einzuplanen. In der Regel sind am gleichen Tag die Männer in der Klinik, um ihr Sperma abzugeben. Bei kürzeren Anfahrtswegen können die Frauen das Sperma aber auch mitbringen. Für den Embryonentransfer zwei Tage später ist ebenso wie für den Schwangerschaftstest zwei Wochen später nur ein kürzerer Termin in der Klinik notwendig. In der untersuchten reproduktionsmedizinischen Klinik waren die meisten Männer und Frauen, die sich im Erhebungszeitraum beraten und behandeln ließen Vollzeit berufstätig. 18 der 20 Männer derjenigen Paare, mit denen Interviews und Erstberatungsgespräche aufgezeichnet wurden, sind berufstätig. 16 der 20 Frauen arbeiten, davon eine seit der Geburt ihrer Tochter in Teilzeit, eine studiert, drei sind zur Zeit Hausfrauen und Mütter von einem oder mehreren Kindern. Die Frage der Vereinbarkeit der Behandlung mit der Berufstätigkeit stellt sich insbesondere für die Frauen – sowohl in den Erstberatungsgesprächen in der Antizipation der Belastungen als auch im IVF-Behandlungsverlauf. Dies gilt – wenn auch auf unterschiedliche Weise – sowohl für Selbständige und Angestellte als auch für Frauen mit Kindern, die in Teilzeit oder gar nicht erwerbstätig sind. Letztere lösen Terminüberschneidungen auch damit, ihre Kinder mit zu den Terminen in die Klinik zu nehmen. Dies wird in den entsprechenden Interviews nicht problematisiert. Jedoch ist davon auszugehen, dass ein Termin mit Kindern ein höheres Maß an Aufwand und Einschränkungen bedeutet. Die Aussagen von Frau Adam sind ein typisches Beispiel dafür, was für einen Koordinierungsarbeit die Vereinbarkeit von Behandlung und Berufsleben erfordert und dass dieser zum Teil als stärker belastend als die medizinische Therapie erlebt wird: Das hieß, um halb sechs los von zu Hause. Ich muss um halb fünf aufstehen. Und dann bin ich um halb sieben hier angekommen, und da waren drei Frauen schon vor mir. Und das zu wissen, die kommen vor mir dran. Um acht geht die Ärztin rüber zur Behandlung. Das heißt ich muss warten bis um neun. Was sage ich meinem Arbeitgeber? Das hat mich wahnsinnig gestresst. Das hat mich teilweise mehr gestresst als die Behandlung selbst (P1R: 160).
Vor allem wenig beeinflussbare Anfahrtswege und Wartezeiten werden von den Frauen als problematische Faktoren genannt. Hierbei spielt in allen Fällen die Vereinbarkeit mit der Berufstätigkeit eine wichtig Rolle, wie schon in dem Zitat von Frau Adam deutlich wird: Staus auf der Autobahn oder lange Wartezeiten an sich mögen unangenehm sein. Ein besonderer Druck ergibt sich jedoch daraus,
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nicht rechtzeitig zur Arbeit erscheinen zu können, wenn der Termin in der Frühsprechstunde nach hinten geschoben wird. Im IVF-Zyklus ist ein Verschieben oder Auslassen der Termine in der Regel aus medizinischen Gründen nicht möglich. Am Beispiel von Frau Goch zeigt sich, dass manchmal auch ein Abweichen von den üblichen Arbeitszeiten als Problem gesehen wird: Sie kann aufgrund von Gleitzeit ihre Arbeitszeiten flexibler gestalten, sieht sich aber trotzdem unter einem Erwartungs- und Rechtfertigungsdruck: Warum komme ich jetzt wieder später? Normalerweise bin ich immer früh da. Und wenn ich jetzt diese Behandlung mache, dann komme ich meistens sehr spät (P7R: 210).
Diese Beispiele illustrieren, dass die Organisation der Behandlung einen stärkeren Einfluss auf Alltag und Lebenswelt haben kann als die angewandten medizintechnischen Verfahren. Gleichzeitig sind diese Aspekte der Behandlungsorganisation aber auch solche Punkte, die die Patientinnen nicht nur meinen beurteilen zu können, sondern an denen einige auch versuchen, den Behandlungsverlauf zu beeinflussen. In Frau Dorschs Beschreibung der Sprechstundenorganisation (noch unter alter Leitung) wird besonders deutlich, dass diese im Gegensatz zur medizinischen Expertise von den Patientinnen deutlich kritisiert wird: Vier Stunden Wartezeit. Das heißt, man geht zum Bluttest dorthin oder für eine Blutkontrolle, […] zum Beispiel am zweiten Zyklustag und am zehnten und am 15., am 30. […] Wartezeiten von vier Stunden. […] Mit völlig chaotischen Unistrukturen, würde ich mal sagen. Also für jemanden, der selbständig ist und anders strukturiert arbeitet … (P4R: 26).
Frau Dorsch führt hier ihre eigenen Erwartungen und Maßstäbe als legitim an. Die Wartezeiten werden auch von den Ärztinnen und Ärzten als ein Problem anerkannt, das die Patientinnen zu recht kritisieren. Diese Kritik hat beispielsweise zu der Einrichtung von Frühsprechstunden geführt. Die Ausweitung der Sprechzeiten ist so ein Beispiel für die Einflussmöglichkeiten der Patientinnen und Patienten auf den Behandlungsverlauf bezüglich eines nichtmedizinischen Aspekts. Die Durchsetzung der Interessen der Patientinnen erinnert hier an die Typisierung der Arzt-Patienten-Beziehung als Kundenmodell, lässt sich aber in den verbreiteten Modellen der Arzt-Patienten-Beziehung nicht gut abbilden, da diese nur die medizinische Arbeit thematisieren. Die angebotenen Frühsprechstunden reichen allerdings in der untersuchten Klinik nicht aus, um den Bedarf zu decken und können auch nicht garantieren, dass die Frauen pünktlich ihre weiteren Termine wahrnehmen können.
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Während für die meisten Frauen die Alltagsarbeit an der Verlaufskurve darin besteht, Behandlung und Beruf zu vereinbaren, verweist Frau Hoffmann (P8R) noch darauf, dass es im Alltag auch unabhängig von der Berufstätigkeit Situationen gibt, in denen es besonderen logistischen Herausforderungen zu begegnen gilt: Diese Beeinträchtigung ihres Alltags empfindet sie als „massiv“, da man immer daran denken muss, Spritzen kühl zu lagern und sie zu einer bestimmten Zeit zu verwenden. Als Beispiele für Situationen, in denen sie dies als besonders einschränkend empfand, führt sie Urlaube sowie ein Sommerfest an, zu dem sie die Spritzen in einer Kühltasche mitnahm, um sie sich auf der Toilette zu injizieren. Die Abstimmung der Behandlungstermine mit den Erfordernissen der beruflichen Tätigkeit wird für die meisten Frauen zusätzlich dadurch erschwert, dass sie die Kinderwunschbehandlung am Arbeitsplatz geheim halten. Hierfür verfolgen sie unterschiedliche Strategien. Während das Erstberatungsgespräch und die Follikelentnahme von den meisten Paaren als Sondertermine gesehen werden, für die sie sich einen oder einen halben Tag frei nehmen, sind die Termine während der Diagnose und Stimulation mit mehr Koordinierungsarbeit für die Frauen verbunden. Einige Frauen stimmen ihre Urlaubsplanung auf die Behandlung ab. Sie nehmen einen oder mehrere Tage Urlaub; Lehrerinnen legen die Behandlung in die Schulferien. Der Fall von Frau Kaiser ist ein Beispiel dafür, dass die Unsicherheit in der Planbarkeit der Behandlung kombiniert mit dem Wunsch nach Geheimhaltung dazu führt, dass sie gleich eine ganze Woche frei genommen hat: Jetzt für diese Woche habe ich mir frei genommen, […] man wusste ja noch nicht, ist es am Mittwoch oder Donnerstag. Oder am Dienstag. […] Weil das ja auch was ist, wo ich nicht erzähle, dass ich so was mache. Es hätte sich ja jeder gewundert, warum lässt sie sich jetzt eintragen, dass sie keine Termine will, und dann ist sie doch da, und plötzlich ist sie wieder weg [lacht] (P10R: 124).
Mit der Verlegung der Behandlung in eine Zeit, die der Regeneration dienen soll, verkehrt sich die Idee der Befreiung von den normalen Rollenverpflichtungen, die mit dem Status des Krankseins einhergeht, wie sie etwa auch in der Praxis der Krankschreibung zum Ausdruck kommt. Die Patientinnen erscheinen vielmehr als dafür verantwortlich, dass die Behandlung sie nicht in der Ausübung ihrer normalen Verpflichtungen einschränkt. Ein Gegenbeispiel und eine weitere Technik des Täuschen ist, sich krank schreiben zu lassen. Frau Caglar (P3R) lässt sich beispielsweise von ihrem Hausarzt die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung so ausstellen; das deren Begrün-
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dung nicht auf die Unfruchtbarkeitsbehandlung schließen lässt. Im Erstberatungsgespräch des Ehepaars Stein (EG14R) kommt ein weiterer Aspekt dazu: Die Furcht vor einer möglichen Benachteiligung in der weiteren Karriere, wenn der Arbeitgeber davon ausgeht, dass bald mit einer Schwangerschaft zu rechnen ist. Frau Dorsch (P4R), die selbständig ein Geschäft betreibt und sehr eng mit einer Geschäftspartnerin und Mitarbeiterinnen zusammenarbeitet, ist eine Ausnahme, wenn sie diesen von der Behandlung erzählt (s.u. Kap. 7.3.2). Bei einer weiteren Patientin weiß eine Arbeitskollegin, die ebenfalls Fertilitätsprobleme hat und somit im Goffman’schen Sinne zu einer Weisen geworden ist, von der Behandlung. Alle anderen Patientinnen versuchen, die Informationen am Arbeitsplatz so zu kontrollieren, dass sie die Behandlung geheim halten können. Frau Jansen beschreibt diese Strategie explizit als Form des Täuschens: Wir haben schon beim ersten Mal gesagt: „Nein, das ist eine Sache, die wir beide zusammen machen“. […] [W]eder meine Arbeitsstelle, noch seine Arbeitsstelle weiß davon was. Wir haben das immer ein bisschen kaschiert, dass man das nicht so mitbekommt (P9R: 78–80).
Die Täuschung auch der Arbeitgeber geht für die Patientinnen nicht nur mit Aufwand einher, sondern viele belastet diese auch. Dies wird beispielhaft im Interview mit Frau Goch deutlich: Da ich Gleitzeit habe, geht das eigentlich. Nur immer diese Lügen halt [lacht]. […] Das nervt mich schon. Und auch, wenn es dann bei der Punktion ist, wenn man dann zwei Tage daheim bleiben muss, das erste Mal habe ich, glaube ich, mir frei genommen. Beim zweiten Mal ging das dann nicht so kurzfristig. Dann musste ich auch irgendetwas lügen. Das mag ich dann nicht (P7R: 210).
Auch Frau Falk beschreibt, in ähnlicher Weise, dass vor allem die wenig planbaren Termine der Behandlung dazu führen, dass sie ihre Kolleginnen und Kollegen täuscht: Das Hauptproblem ist, dass das so eine geheime Sache ist. Die wenigstens Frauen rennen rum und erzählen, sei es im Betrieb, in einer Abteilung oder bei mir im Kollegium, „He Leute, IVF steht an!“ [lacht]. Das macht man einfach nicht. Vor allem, wenn man eine komische Chefin hat [lacht]. Da fängt man an zu lügen. Fehlzeiten hat man, und die muss man irgendwie entweder anmelden oder nicht anmelden. Und am Morgen so tun, als hätte man morgens die Grippe an der Backe. Da fühlt man sich scheiße (P6R: 180).
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In diesen drei Beispielen werden die Gründe für die Täuschung am Arbeitsplatz nicht expliziert, vielmehr wird die Antizipation einer Stigmatisierung als nicht begründungsbedürftig vorausgesetzt. Das Täuschen erscheint in bestimmten Situationen als notwendige Handlungsweise. In der konkreten Handlungssituation bleibt aber für fast alle Patientinnen ein offensiverer Umgang eine hypothetische Option. Dies mindert jedoch nicht den eigenen Anspruch, Fehlzeiten am Arbeitsplatz zu vermeiden und, wenn sie dennoch eintreten, gegenüber den Kolleginnen und Kollegen plausibel zu begründen. 7.3.2 Umgang mit der Behandlung im engeren sozialen Umfeld Nicht nur die Beziehungen zu Arbeitskolleginnen und -kollegen werden für die Frauen im Rahmen der Arbeit an der Verlaufskurve zum Thema, sondern auch und auf spezifische Weise die Beziehungen zu Freundinnen und Freunden, Bekannten und weiteren Familienmitgliedern. Diese Beziehungen werden unter zwei zentralen Aspekten betrachtet: zum einen die Entscheidung, welche der näher stehenden Personen über die Behandlung informiert werden und vor wem sie geheim gehalten wird und zum anderen die Überlegung, mit wem man sich näher austauschen kann und möchte. Diese Fragen beantworten die Paare für sich unterschiedlich, für alle aber sind es wichtige Entscheidungen. Grundsätzlich lassen sich zwei Gruppen unterscheiden: auf der einen Seite die Paare, die die Behandlung für sich behalten, auf der anderen diejenigen, die einzelne Familienmitglieder oder Freundinnen und Freunde mit einbeziehen. Keines der untersuchten Paare geht mit dem Thema offensiv im erweiterten Bekannten- und Freundeskreis um. Nur wenige Frauen suchen den direkten Austausch mit Betroffenen, einige nutzen hierfür Internetportale und keine hat sich an eine Selbsthilfegruppe gewandt. Meine Beobachtungen decken sich hier in etwa mit der Einschätzung der Ärztinnen und Ärzte: Familienmitglieder würden sehr selten hinzugezogen, wenn dann Geschwister und insbesondere Schwestern, wenige Frauen besprechen sich mit Freundinnen und Freunde oder diskutieren in Internetforen. Dr. Neumann (A2R) schätzt, dass etwa 10 Prozent der Paare sich mit niemanden austauschen. Viele Frauen unterscheiden stark zwischen der Gruppe von Betroffenen, die auch in Kinderwunschbehandlung sind, und der Gruppe der Außenstehenden. Wenn sie beispielsweise von anderen Betroffenen in der weiteren Familien oder im Freundes- und Bekanntenkreis erfahren, suchen viele von ihnen Austausch und gehen offensiver mit ihrer eigenen Behandlungserfahrung um. Diese Begegnungen sind allerdings häufig eher von Zufällen abhängig, als dass sie gesucht werden – der eigene eher verheimlichende Umgang mit dem unerfüllten Kin-
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derwunsch und insbesondere seiner Behandlung verhindert, dass sich Betroffene finden. Leichter und offener ist der Umgang beim manchen Paaren mit betroffenen Geschwistern. Frau Adam expliziert besonders deutlich, dass Nichtbetroffene häufig wenig Verständnis für die Belastungen der Kinderwunschbehandlung aufbringen: Mit Familie eigentlich weniger. Die verstehen es nicht. Und ich denke, jemand, […], der nicht in der Situation drin ist, dem fällt es schwer, das zu verstehen. […] Den Kinderwunsch schon, aber dann kommen solche Sprüche wie, „Das ja gleich machen lassen“, „Ach, stell’ dich doch nicht so an“. Hab’ ich dann einfach so einen Prozess im Kopf und nicht jeder sagt, „Ich lass’ sofort In-Vitro machen, das macht mir gar nichts aus“. […]. Ich denke, das braucht Zeit. Bei meinen Freundinnen war das auch ein jahrelanger Prozess. Ja, und jemand, der in diesem Kinderwunsch nicht drin ist, der kann das auch nicht verstehen, wenn eine Frau wirklich leidet, die Beziehung drunter leidet. Wenn man wirklich jedem Kinderwagen hinterher giert und denkt „Warum, warum, ist die Frau schwanger und ich nicht. Warum klappt es bei denen?“ (P1R: 164).
Frau Adam ist insofern eine Ausnahme, als sie Freundinnen hat, die ebenfalls in Kinderwunschbehandlung sind. Die erlebten und befürchteten Reaktionen von Nichtbetroffenen erscheinen hier weniger als Stigmatisierungen, sondern als wenig respektvoller Umgang mit ihren Entscheidungen und den Belastungen der Therapie. Sie sieht sich mit einer Trivialisierung des Problems konfrontiert sowie mit der Erwartung, reproduktionsmedizinische Verfahren anzuwenden. Dies ist einerseits ein Beispiel für eine gewisse Selbstverständlichkeit der reproduktionsmedizinischen Zuständigkeit für den unerfüllten Kinderwunsch, andererseits zeigt sich, wie dessen Medikalisierung sich durch die Verhaltenserwartung von Laien im unmittelbaren sozialen Umfeld der Paare verstärken kann. Gleichzeitig zeigt sich, wie stark in der Wahrnehmung von Frau Adam die Welt in zwei Gruppen von Paaren zerfällt: die mit erfülltem und die mit unerfülltem Kinderwunsch. Sie thematisiert ihren eigenen Neid sowohl in Formen einer Reflexion als auch als Anerkennung der eigenen Befindlichkeit während des Behandlungsverlaufs. Die schwangere Frau und das Baby im Kinderwagen werden hier zu Projektionsflächen, auf denen das für sich erhoffte, zukünftige Glück bereits sichtbar wird. Frau Adam bezeichnet die ungewollte Kinderlosigkeit und ihre Behandlung als einzige der interviewten Frauen explizit als tabuisiert und stellt ihre eigene Erfahrung in einen breiteren gesellschaftlichen Zusammenhang:
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Und es [die IVF-Behandlung] ist ja irgendwie Tabuthema. Ist es einfach. Keine Frau sagt: „Bei uns klappt es nicht“. Man fühlt sich schuldig dabei (P1R: 184).
Diese Tabuisierung stellt sie einerseits als Tatsache dar; auf der anderen Seite sieht sie aber Möglichkeiten, das Tabu teilweise aufzuheben. Sie selbst hat über ihre Luna-Yoga-Gruppe andere betroffene Frauen getroffen, die eher unbeabsichtigt zu einer Art Selbsthilfegruppe von Freundinnen geworden sind. Sie beschreibt, dass sie den Kreis der Eingeweihten nach und nach erweitert hat: Am Anfang war ich total zu. Ich konnte überhaupt nicht darüber reden. Dann mit meinem Mann. Hab’ aber das mit mir rumgetragen. Und irgendwann habe ich so ein Türchen aufgetan und auf einmal, „Oh, die ist auch in Behandlung“. Da habe ich auch Gespräche geführt. Ich habe gesprochen über die Ängste, die Sorgen. Mit Freundinnen, kann ich sagen (P1R: 164).
Frau Adam beschreibt diesen offensiven Umgang mit dem Tabu des unerfüllten Kinderwunsches und seiner Behandlung als persönliche Befreiung, die sich auch als eine Art Destigmatisierung in der eigenen Einschätzung und dem unmittelbaren persönlichen Umfeld charakterisieren lässt. Eine weitere Möglichkeit, die Kinderwunschbehandlung zu destigmatisieren, sieht Frau Adam in der medialen Aufklärung, die sie konkret am Beispiel einer Fernsehsendung beschreibt: [Für diese Sendung] haben sich eben auch Paare bereiterklärt, dass sie auch darüber erzählen wollen. Die haben das auch begleitet vom Anfang bis zum Schluss. Und die haben über ihre Ängste und Sorgen gesprochen. […] Einfach, um es auch mal publik zu machen. […] Und es gibt da Frauen, die eben diesen Kinderwunsch, Paare auch diesen Kinderwunsch haben (P1R: 186).
An diesem Beispiel wird die komplexe Wirkung solcher Aufklärungsbemühungen deutlich: Auf der einen Seite war sie für Frau Adam ein wichtiger Moment nicht nur der Destigmatisierung, sondern auch der Vergemeinschaftung und des Empowerments, den sie wie folgt beschreibt: Ich denke, es ist wie bei Krankheiten. Dass man weiß, aber ich bin da nicht alleine. Und die Frauen, denen tut das ja auch ein Stück weit gut, wenn man sieht, ich leide nicht nur alleine, nicht nur mir geht es ja so (P1R: 188).
Auf der anderen Seite trägt diese mediale Sichtbarmachung zur Ausweitung der medizinischen Zuständigkeit bei. Das mediale Problembewusstsein wird erhöht,
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was wiederum zu einer größeren Aufmerksamkeit gegenüber Abweichung und zu Stigmatisierung führen kann. Dass Frau Adam ein Ausnahmefall in der Thematisierung des Tabus ungewollte Kinderlosigkeit bleibt, lässt sich auch darauf zurückführen, dass dies eine Möglichkeit ist, einen legitimen Artikulierungsort für das von ihr vergleichsweise stark empfundene Leiden einzufordern. Bei den anderen interviewten Frauen und Paaren steht das Leiden nicht im Fokus ihrer Narrationen. Zugleich spiegelt sich die Tabuisierung des unerfüllten Kinderwunsches auch darin, dass Frau Adam darauf verzichtet, seine öffentliche Anerkennung einzufordern. Auch Frau Baum nimmt eine polarisierende Gegenüberstellung von Personen mit erfülltem und unerfülltem Kinderwunsch vor. Diese wird für sie insofern auf besondere Weise virulent, als dass sie sich hier auf Personen aus dem Bekannten- und Freundeskreis, die schon Kinder haben, bezieht: Ich denke, jemandem zu sagen: „He, ich werde nicht schwanger, weil halt der Endometriose“. Wer versteht das? Ein Normaler, also, die jetzt Kinder hat oder so, ist das schlecht nachzuvollziehen. Bei denen hat es halt gut geklappt, und gut. Und dann irgendwo denen beizubringen und zu sagen, da gibt es bei mir Endometriose, das, das, das … und ich werde einfach nicht schwanger. Obwohl ich es möchte. Das ist, glaube ich, schwer verständlich für die Leute, die schon Eltern sind (P2R: 202).
Dies ist ein Beispiel dafür, wie stark der Lebensentwurf mit Kindern trotz der Differenzierung der Lebensformen als Norm empfunden werden kann. Vor dieser Kontrastfolie erscheint der eigene Fall als Abweichung. Eltern werden in dieser Beschreibung zu einer homogenen Gruppe, es wird vorausgesetzt, dass es bei diesen Eltern ohne weitere Anstrengungen zu einer gewünschten Schwangerschaft kam. Die Betonung der Schwierigkeiten der Kommunikation ist in diesem Interviewausschnitt aber weniger vorwurfsvoll formuliert, eher als eine Reflexion unterschiedlicher Lebenskontexte und Problemlagen. Wenn ein Paar beschließt, mit niemand anderem über die Behandlung zu reden, hat dies unterschiedliche Gründe: Die Exklusion anderer kann den besonderen Charakter der Behandlung als „gemeinsames Projekt“ unterstreichen (s.u.); die Entscheidung wird aber auch aufgrund negativer Erfahrungen in vorherigen Kinderwunschbehandlungszyklen getroffen. Frau Jansen ist ein Beispiel dafür, dass das Paar mit dem Fortschreiten der Behandlung engere Grenzen gezogen hat. Sie hebt hier die Rolle ihrer Schwester hervor: Meine Schwester war beim letzten Mal auch ein Störfaktor, weil sie mir nämlich permanent versucht hat zu erklären, dass ich das doch eigentlich sowieso vergessen kann. Weil
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sie natürlich auch schlechte Beispiele in ihrer Umgebung hatte […] Leute, die, was weiß ich, 15 [Embryonentransfers, cu] haben und die sich dann doch ein Haus gekauft haben. Wie gesagt, ich habe mindestens zwei Beispiele positiver Art. Aber ich habe mich dann auch irgendwie unheimlich geärgert (P9R: 80-82).
Dieses Beispiel zeigt, dass die Frauen nicht nur wie im Fall von Frau Adam mit der Erwartung konfrontiert werden, schnell die Reproduktionsmedizin in Anspruch zu nehmen, sondern auch die Sinnhaftigkeit dieser Inanspruchnahme in Zweifel gezogen wird. Hier wird beispielhaft deutlich, dass keineswegs von einer umfassenden Medikalisierung des unerfüllten Kinderwunsches ausgegangen werden kann; seine medizinische Behandlung stellt sich vielmehr auch in den Reaktionen des sozialen Umfelds der Paare als eine – häufig besonders plausibel erscheinende – Option dar. Frau Adam und Frau Jansen entwickeln unterschiedliche Strategien im Umgang mit der Geheimhaltung der Kinderwunschbehandlung, gemeinsam ist beiden, dass sie sich selbst als autonome Akteurinnen beschreiben und sich letztendlich an ihren eigenen Bedürfnissen und denen ihrer Partner orientieren. Während die ungewollte Kinderlosigkeit weitgehend unsichtbar und leicht geheim zu halten ist, erfordert die Behandlung ein geplanteres Verheimlichen von den mit ihr verbundenen Nebeneffekten wie etwa Fehlzeiten am Arbeitsplatz. Zugleich ist aus Sicht der Patientinnen der unerfüllte Kinderwunsch sehr viel weniger mit einem Stigma verbunden als die medizinische Behandlung desselben. Einige Frauen erwähnen in den Interviews, dass sie über den Kinderwunsch mit einem breiteren Kreis an Personen sprechen als über ihre Infertilität und die reproduktionsmedizinische Behandlung. Beispielhaft wird dies im Interview mit Frau Falk deutlich: [V]on den Freundinnen haben die meisten aus irgendwelchen Gründen auch noch keine Kinder, und da kann man schon über das Thema super reden. Also, soll man oder nicht, und wenn, warum, und was gibt es, wenn es nicht klappt. Aber ganz konkret habe ich das nur mit meinem Partner besprochen. […] Aber ich habe niemanden, also es ist geheim, dass ich das über IVF versuche. Das möchte ich auch …, vielleicht hinterher irgendwann, aber das ist schon Stress genug, ohne dass ich auch noch die Blicke ertragen muss und die Fragen (P6R: 24).
Während Zweifel und Ambivalenzen gegenüber dem eigenen Kinderwunsch hier als ein Teil der sozialen Normalität erscheinen und in diesen hypothetischen Überlegungen auch Alternativen zur natürlichen Zeugung thematisiert werden können, trennt Frau Falk dies stark von ihrer eigenen Behandlung und somit
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auch von ihrer eigenen Festlegung und Artikulation des Kinderwunsches. Die IVF-Therapie erscheint in diesem Fall nicht so sehr als soziale Abweichung per se, sondern eher mit einer Phase besonderer Belastungen und einer tendenziellen Zuschreibung eines Opferstatus verbunden. Der Fall von Frau Kaiser (P10R) ist ein Beispiel dafür, dass die Strategien der Geheimhaltung der Kinderwunschbehandlung einen weitgehenden Einfluss haben können: Für sie war es wichtig, auch zu verheimlichen, dass sie und ihr Partner geheiratet haben, weil dies eine notwendige Voraussetzung für die IVFBehandlung ist. Das Ehepaar Kaiser ist außerdem ein Beispiel dafür, dass die Grenzziehung zwischen Eingeweihten und Nichteingeweihten mit Konflikten verbunden ist: Und ich denke, mein Freund, mein Mann [lacht], hat es seiner Schwester erzählt, da hatten wir mal einen größeren Streit darüber. Weil er die Klappe nicht halten konnte. Überhaupt, dass ich hier in Behandlung bin. Jetzt nicht, dass wir das jetzt machen. […] Er würde eher gerne mal mit jemandem darüber reden, ich nicht (P10R: 138).
Von anderen Frauen werden Familienmitglieder wiederum als Unterstützung erlebt. Auch bei dem Umgang mit Internetforen steht für die meisten Frauen der Informationsgewinn im Vordergrund, auch wenn sie sich dort mit anderen Paaren, v.a. Patientinnen, austauschen. Frau Dorsch findet den Austausch in den Foren „zu problembeladen“ (P4R: 56). Nur Frau Caglar beschreibt verschiedene Kinderwunschforen als einen Ort, an dem sie unterstützende Freundinnen gefunden hat (s.o.). In Frau Dorschs Beschreibung schließlich wird deutlich, wie der Umgang mit der Notwendigkeit des Täuschens auch für „sekundäre Gewinne“ (Goffman) genutzt werden kann: Meine Geschäftspartnerin und meine Mitarbeiterin. Wir arbeiten schon seit acht Jahren zusammen. Mit meiner Geschäftspartnerin, wir kennen uns schon seit 20 Jahren. Insofern […] geht das auch gar nicht anders, […] finde ich. Wenn man eng zusammen arbeitet und tagtäglich zusammen ist, da hat man Tage, da geht es einem schlecht. Und dann kann man das ja auch nicht überspielen. Das soll man auch nicht. Das ist auch, finde ich, auch wichtig zu wissen, man hat so ein intaktes Umfeld, das einfach auch da ist. Und das war jetzt, zumindest bei uns, ein ganz kleiner enger Freundeskreis. Also zwei, drei Leute (P4R: 40).
Die Behandlung wird hier als Prüfstein für die sozialen Beziehungen am Arbeitsplatz und im engeren Freundeskreis gesehen. Das Bestehen der Belastungsprobe wird als Gewinn und Bestätigung der Güte der Beziehungen gedeutet.
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Die meisten Paare halten die Kinderwunschbehandlung nicht nur am Arbeitsplatz, sondern auch in ihrem sozialen Umfeld geheim. Auch wenn nur eine Patientin die unerwünschte Kinderlosigkeit explizit als „Tabuthema“ (P1R: 184) bezeichnet, unterscheiden die anderen dennoch zwischen einer kleinen Gruppe von Vertrauten, denen sie von der Kinderwunschbehandlung erzählen, und einer sehr viel größeren Gruppe, vor der sie diese bewusst geheim halten. Im Umgang der Paare mit dem unerfüllten Kinderwunsch, vor allem aber seiner Behandlung, lassen sich durchaus Momente finden, die sich als eine Art Stigmamanagement im Goffman’schen Sinne beschreiben lassen. Dabei sind die Kinderwunschpaare eher als Diskreditierbare denn als Diskreditierte zu charakterisieren, und der Grad der Visibilität ist gering und nur indirekt gegeben. Kinderlosigkeit bei Ehepaaren in einem bestimmten Alter kann auch auf einer bewussten Entscheidung gegen Kinder beruhen (s.o. Kap. 1.1). Die Situation der Diskreditierbaren lässt sich mit Goffman als eine charakterisieren, in der es zur Aufgabe der Paare wird, die Informationen über die Kinderlosigkeit und ihre Behandlung zu managen (s.o. Kap. 2.2). Die Angst vor einer Stigmatisierung bleibt in den Interviews diffus und wird vor allem indirekt durch die Informationskontrolle sichtbar. Durchgeführte Stigmatisierung in Form von tatsächlichen Ausschlüssen oder Diskriminierungserfahrungen sind für die Frauen kein Thema, sondern die Kinderwunschbehandlung geht eher mit einer gefühlten Stigmatisierung einher.
7.4 B IOGRAPHIE -
UND
B EZIEHUNGSARBEIT
Die Artikulation des Kinderwunsches und die Entscheidung für seine reproduktionsmedizinische Behandlung der Paare finden im Rahmen einer Auseinandersetzung über ihre Beziehungs- und ihre Zukunftsvorstellungen statt. Diese Prozesse können durchaus von Ambivalenzen begleitet sein (s.o. Kap. 5.2). Schon vor Beginn der Unfruchtbarkeitstherapie stellte sich für einige Patientinnen die Frage, welche Auswirkungen diese auf die Paarbeziehung haben könnte, so dass sie beispielsweise die Frage möglicher Schuldzuweisungen thematisierten. Der Entscheidungsprozess des Ehepaars Falk wiederum zeigt, dass der Schritt zur Kinderwunschbehandlung auch als Endpunkt einer Auseinandersetzung mit der Paarbeziehung gesehen werden kann, der Verlauf der Therapie selbst demgegenüber als wenig relevant für die Paarbeziehung (s.o. Kap. 5.2.4). Für die meisten Paare steht vor dem Beginn einer IVF-Therapie eine bewusste gemeinsame Entscheidung für ein Kind. Während eines IVF-Behandlungsverlaufs selbst tritt die Beziehungsarbeit meistens in den Hintergrund. Der Umgang mit den unmittelbaren Belastungen der Behandlung wird als gemeinsame Aufgabe des Paares
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beschrieben. Retrospektiv werden über den längeren Zeitraum der Unfruchtbarkeitsbehandlungen die Belastungen als eine Art Prüfstein für die Beziehung gesehen. In diesen Deutungen lassen sich Parallelen zu den Auffassungen von Krankheit als Befreiung und Krankheit als Aufgabe, wie sie etwa Herzlich beschreibt, sehen (s.o. Kap. 2.3), wobei hier an die Stelle der Krankheit die Behandlung des Kinderwunsches tritt. Überdies wird die Behandlung nicht nur in Hinblick auf den Umgang mit den medizinischen Aspekten als Aufgabe gesehen, der sich vor allem die Frauen stellen, sondern auch als Aufgabe für die Beziehungs- und Biographiearbeit. Insofern sie als Entdecken neuer Lebensqualitäten und -perspektiven erlebt wird, erscheint die Behandlung gleichzeitig als Möglichkeit der Befreiung. Vor allem zwischen IVF-Therapien wird die Frage der Unfruchtbarkeit und ihrer Behandlung immer wieder auch mit Verständigungen über die Zukunft der Paarbeziehung verbunden. Die Arbeit an der Beziehung ist insofern nicht von Biographiearbeit zu trennen. Belastung der IVF-Behandlung als Thema der Paarbeziehung Auch wenn die Frauen die medizinische Hauptlast der Behandlung tragen (s.o. Kap. 6.4), wird nicht nur der unerfüllte Kinderwunsch, sondern auch seine Behandlung als Angelegenheit des Paares gesehen, die auch auf Seiten des Mannes mit Belastungen einhergeht. Die ungleiche Integration in die reproduktionsmedizinische Behandlung wird dadurch zum Thema, dass die stärkere Belastung der Frauen vom Partner mitgetragen werden muss. Die interviewten Frauen sehen zum einen die Behandlung selbst als belastend für die Männer an, zum anderen aber auch, dass die Männer mit den – ungleich stärkeren – Belastungen der Frauen umgehen müssen. Die Behandlung hat in den Augen der Patientinnen wegen der medizinischen Nebenwirkungen, vor allem aber auch aufgrund der emotionalen Belastungen, Auswirkungen auf die Paarbeziehung. Dies wird beispielhaft im Interview mit Frau Dorsch deutlich. Ihrem Partner weist sie auf der einen Seite eine unterstützende Aufgabe zu: [D]urch die Hormone, durch diese Riesenhormonschübe, [hat man, cu] Stimmungsschwankungen. Wo man einfach besser oder schlechter drauf ist – [ein] falsches Wort, wo man in Tränen ausbricht. Das ist ganz normal. Muss sich der Partner auch dran gewöhnen [lacht]. Ist für den Partner auch nicht einfach […]. Jemand, der von 30 Tagen zehn deprimiert ist, in Hormonschwankungen schwelgt und man den aufrecht halten muss, da gehört dann [für den Partner, cu] schon auch Energie dazu (P4R: 145-163).
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Auf der anderen Seite meint Frau Dorsch aber, dass ihr Mann nicht nur aufgrund seiner Unterstützungsarbeit, sondern durch die Behandlung selbst emotional betroffen sei: Das kann natürlich ein Mann, weil er einfach emotional nicht so gestrickt ist wie eine Frau [lacht] an vielen Stellen nicht verstehen. Also, mein Mann zumindest geht ganz anders damit um, wie ich damit umgehe. Männer sind dann generell verschiedener, in sich gekehrter und versuchen, das mit sich alleine auszumachen. Aber ich denke, ich weiß es auch, die sind an der Stelle genauso belastet wird außer körperlich, wie die Frau an der Stelle. Und das macht natürlich schon viel auch in der Beziehung aus (P4R: 163).
In dieser Beschreibung finden sich einerseits geschlechterstereotypisierende Zuschreibungen, die die Unterschiede im Umgang mit ihren eigenen emotionalen Belastungen und denen ihres Manns erklären sollen. Andererseits wird mit der Relativierung der körperlichen Belastungen hervorgehoben, dass die Belastung letztlich gleich groß ist. In diesen beiden Interviewpassagen zeigt sich, dass parallel zu den Strategien der Frauen, mit den Belastungen umzugehen, diese gleichzeitig als Problem des Paares konstruiert werden. Der Beginn einer Inseminations- oder IVF-Therapie kann aber auch als Entlastung für die Paarbeziehung gesehen werden. So erläutert Frau Baum im Interview an verschiedenen Stellen den positiven Effekt, den die Therapieform für sie hatte, da sie den Druck nimmt, den sie unter der hormonellen Unterstützung des Zyklus mit „optimiertem Verkehr“ empfunden hat: Zu sagen, „Okay, ich möchte“, oder der Arzt sagte dann, „So Sie müssen jetzt so und so oft mit Ihrem Mann schlafen“. Das war dann irgendwann Stress gewesen. Das war dann irgendwie verkrampft, so jetzt müssen wir, weil sonst klappt es ja nicht. […] Da haben wir gesagt, „Nein, das möchten wir nicht mehr“ (P2R: 20).
Die IVF erscheint hier als ein Instrument, das im Gegensatz zum medizinisch kaum invasivem Zyklusmonitoring als weniger fremdbestimmt erlebt wird. Nicht die eingesetzte Technologie oder die Reichweite des Eingriffs in den Körper sind hier ausschlaggebend, sondern die Einschränkung der autonomen Gestaltung der Sexualität des Paares. In den anderen Interviews ist die Auswirkung auf die Sexualität der Paare kein Thema, was von der Beobachtung der Ärztin Dr. Otto gespiegelt wird: Was mich manchmal wundert, wie wenig sie fragen, wie das mit Verkehr und Behandlung gleichzeitig ist. Ich glaube, in dem Moment, wo die hier anfangen, trennen viele ganz
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stark – die Reproduktion und die Sexualität. Da wundert es mich manchmal, dass sie nicht mehr fragen, ob sie dürfen (A4R: 49).
Die Leiterin der Naturheilkunde Dr. Stein beschreibt zugleich ihren Eindruck, dass eine Minderheit der Paare ihre Sexualität nun intensiver erleben: Aber ich glaube schon, auch auf die Sexualität hat das Auswirkungen. Es gibt, also bei IVF, kaum mehr welche, die das dann mit Spaß noch sehen. Obwohl 5 Prozent würde ich sagen, die haben dann eine intensivere Sexualität dadurch auch. Die dann ganz bewusst dann noch mal miteinander schlafen (A5R: 133).
Während die Verwunderung über die weitgehende Ausklammerung des Sexuallebens der Paare in der Arzt-Patienten-Interaktion im IVF-Behandlungsverlaufs von Dr. Otto vor allem daher rührt, dass sie das mögliche Risiko von höhergradigen Mehrlingsschwangerschaften vor Augen hat, deutet in den Interviews wenig auf eine Dethematisierung der Sexualität in den Paarbeziehungen hin. Vielmehr wird auch der spezifische Kontext der Unfruchtbarkeitsbehandlung, der für eine Trennung von Sexualität und Reproduktion steht, eine Rolle spielen. In der Naturheilkunde hingegen gehört gemäß dem ganzheitlichen Ansatz das Sexualleben zu den legitimen Themen. In dem zitierten Ausschnitt bezieht Dr. Stein in allerdings explizit auf Paare in IVF-Behandlung – und gleichzeitig auf ihre zurückliegende Tätigkeit in der Reproduktionsmedizin und die naturheilkundliche Behandlung von Paaren, die in IVF-Behandlung waren oder sind. Kinderwunschbehandlung als Belastungsprobe In den Interviews wird geschildert, dass die Partner eine wichtige Unterstützungsfunktion während der Behandlung übernehmen. Einige Patientinnen beschreiben die Kinderwunschbehandlung als eine Art Belastungsprobe, auf deren einer Seite das mögliche Scheitern der Beziehung, auf deren anderer Seite aber auch ihre Stärkung stehen kann. Die Belastungen und die Auseinandersetzungen im Zusammenhang einer reproduktionsmedizinischen Kinderwunschbehandlung können die Paarbeziehung grundsätzlich in Frage stellen. Einige Frauen führen Beispiele von Paaren an, die sich getrennt haben. Für die Mehrzahl der interviewten Patientinnen, die diese Zeit als krisenhaft für die Beziehung beschreiben, stehen jedoch die positiven Aspekte der gemeinsamen Bewältigung dieser Krise im Vordergrund, die sie als Paar näher zusammengebracht und die Beziehung intensiviert habe. Dies wird auf die gemeinsam getragene Belastung der Behandlung zurückgeführt: Zum einen seien stabile Beziehungen erforderlich,
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um gemeinsam die Behandlung zu tragen, zum anderen wird aber gerade die Belastung durch die Behandlung dafür verantwortlich gemacht, dass die Beziehungen nun fester und intensiver seien. Hier wie schon bei den Beziehungen zu anderen Personen lassen sich Momente der Goffman’schen sekundären Gewinne von Stigmatisierungen und des Herzlich’schen Typs von Krankheit als Befreiung finden. Ganz explizit formuliert Frau Falk (P6R) die Entscheidung für eine Kinderwunschbehandlung als „gemeinsames Projekt“ des Paares, das Ergebnis einer „richtigen Beziehungskrise“ und einer nochmaligen Entscheidung für eine gemeinsame Zukunft. Als Grundvoraussetzung führen die meisten Frauen eine stabile Paarbeziehung an, so wie beispielsweise Frau Baum formuliert: Da muss irgendwie alles stimmen. Nicht irgendwie, da muss alles stimmen. Da muss die Beziehung stimmen oder die Ehe stimmen. Da muss das Miteinander stimmen. Da muss man miteinander drüber reden können. Über die Gefühle, das ist ganz wichtig. Wenn natürlich irgendwo eine Person, über dies nicht sprechen kann, dann ist es schlecht. Weil gerade die Materie Kinderwunsch, das hat alles viel mit Gefühlen zu tun. Zu sagen, „He, mir geht es irgendwie schlecht“, oder „Warum klappt es nicht?“, zum Beispiel, wenn es irgendwo negativ ist jetzt oder – dann ist halt schwierig (P2R: 258).
So kann einerseits die Entscheidung für die Behandlung als Bestätigung der Paarbeziehung gesehen werden, andererseits wird jene aber selbst zu einem Prüfstein. Letzteres beschreibt beispielsweise Frau Adam in Abgrenzung zu anderen Paaren: Ich würde sagen, das hat uns noch mal mehr zusammen geschweißt. […] Es müssen schon beide Kinderwunsch haben. Ich bin schon mal mit einer Frau ins Gespräch gekommen, da ist ihre Ehe fast dran zergangen. Weil der Mann nicht so dahinter stand. […] Also, ich würde sagen, bei Beziehungen, die nicht so stabil sind. […] Einmal der Kinderwunsch kann eine große Belastung werden. Und auch, dass man sich dann sagt, man macht eine Behandlung, oder man hat sich dagegen entschieden. Es kann in beide Richtungen belasten. Es kann einen aber auch mehr zusammen schweißen (P1R: 158).
Auch andere Frauen beschreiben, dass sich ihre Beziehungen positiv veränderten, weil dies ein „gemeinsames Erlebnis“ (P5R) gewesen sei. Frau Baum beschreibt die Behandlung als eine Gelegenheit der bewussten Auseinandersetzung mit ihrem Partner:
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Also, ich finde, das ist richtig schön. Also intensiv, wenn man dann sagt, „He, was machen wir?“. Ja, man spricht auch über viele Sachen jetzt, gerade jetzt, wo es nicht klappen sollte. Was hat man für Chancen, wieweit gehen wir [eigentlich] (P2R: 228).
In anderen Interviews beschreiben die Frauen allerdings, dass sie die Behandlung nicht als alleinige Ursache einer positiven Entwicklung ihrer Beziehung ausmachen können. Dies verweist darauf, dass die Bedeutung der Kinderwunschbehandlung sich immer erst im Lebenskontext der Paare realisiert. Während in den meisten Fällen das potenzielle Scheitern der Beziehung durch die Belastungen der Behandlung als Negativfolie für die Darstellung der positiven Aspekte der eigenen Beziehung und ihrer Entwicklung dient, wird in dem Interview mit Frau Caglar eher eine Ambivalenz deutlich: Ich glaube, Beziehung ist so wie Salz und Pfeffer. Mal ist Pfeffer, mal ist Salz. Mal ist Sonnenschein, mal Regen. [lacht] Also, ich muss sagen, es hat uns nicht zusammengeschweißt und auch nicht auseinandergelebt, sondern – also, es ist so ein bisschen gekränktes, gekränktes Zusammenleben. [lacht] Ansonsten nichts. Ist noch alles gleich geblieben (P3R: 321).
In dem Interview beschreibt Frau Caglar vorher, dass sie ihren Mann mit Hilfe ihrer Schwiegermutter zu der Behandlung überreden musste und sie sich insgesamt eine stärkere Anteilnahme ihres Mannes am Therapiegeschehen wünscht. Dies deutet sie nicht wie andere Frauen als Freiraum, eine Entscheidung treffen zu können, die dann von ihrem Mann mitgetragen wird – vielmehr sieht sie sich einer Indifferenz von Seiten ihres Mannes gegenüber. Relativierung des Kinderwunsches Der IVF-Behandlungszyklus und die schrittweise Steigerung der Unfruchtbarkeitsbehandlung entwickeln eine Dynamik, die die Patientinnen so in die Behandlung integriert, dass sie einen medizinischen Blick auf die ungewollte Kinderlosigkeit entwickeln und sich an medizinischen Erfolgskriterien orientieren (s.o. Kap. 6.2). Jedoch wird durch die Behandlung für die Paare auch die Möglichkeit eines Lebens ohne Kinder virulent. Die Reflexion der Paarbeziehung geht einher mit verschiedenen Veränderungen der Lebensentwürfe. Frau Gochs Aussage ist ein Beispiel dafür, dass der Verlauf der IVF-Behandlungen mit einem Prozess der Realisierung der Option des kinderlosen Lebens einhergeht. Im ihrem Fall führt dies zu einer Neubewertung der Paarbeziehung:
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Ich glaub’, bei so einem Paar, das weiß, dass man nur sich selbst haben wird, dann ist die Bindung irgendwie anders. Also, das kann ich mir nur so vorstellen. Ich weiß es nicht (P7R: 228).
Die Andersartigkeit der Bindung ist bei Frau Goch eine positive Veränderung. Der Reproduktionsmedizin kommt in dieser Auffassung die Rolle zu, den Kinderwunsch auf eine Art zu beenden, die endgültig ist. Der Gegenpol wäre hier eine sich mehr oder weniger beiläufig ergebende ungewollte Kinderlosigkeit. Die medizinisch autorisierte Endgültigkeit ist es, die zu der neuen Qualität der Paarbeziehung führt. Diese neue Bindungsqualität wäre zugleich auch etwas, was sich Paare von der Erfüllung des Kinderwunsches erhoffen. Dies ist somit nicht nur ein Beispiel für den Entwurf einer Alternative, sondern auch dafür, wie aus der Kinderwunschbehandlung sekundäre Gewinne gezogen werden können. Die Reflexion des Scheiterns eines vorangegangenen Zyklus führte bei Frau Jansen dazu, dass sie auch die Beziehung mit ihrem Mann grundsätzlich überdenkt: Und ich fühle mich insofern dieses Mal etwas anders, als dass ich sage, „Okay, ich habe mich damit noch mal beschäftigt“. Auch damit, dass dann wirklich jemand da ist, ein Mensch da ist, der zwischen mir und meinem Mann steht, ich habe das natürlich auch analysiert. Als Frau tut man ja auch seinen Mann wie sein Kind behandeln. Mein Mann ist auch jemand, der gerne sagt, „Ach Mensch, kannst du das nicht mal machen für mich. Sag’ mir doch, wie ich mir meine Zeit einteilen soll, du kannst das doch viel besser“. Man wird dann auch so mütterlich irgendwie. […] Und dann habe ich irgendwie gedacht, „Nein, also das muss ich mir einfach abgewöhnen. Bemuttern meines Mannes“. Der soll selber sehen, wie er zurecht kommt. Das ist dann einfach so, dass man sich einfach einen Ersatz sucht. Und wir haben keine Haustiere. Und wir werden auch in Zukunft keine haben. […] Und dann gibt es eben diese Sache oder ein Haus kaufen, ’nen Baum pflanzen und irgendwie in Urlaub fahren. Und darauf freue ich mich eigentlich auch (P9R: 72).
Hier zeigt sich, wie sich mit der Auseinandersetzung mit dem bisherigen Scheitern der Behandlung und einem möglichen kinderlosen Leben auch ein alternativer Lebensentwurf entwickelt. Die IVF-Behandlung bietet nun – unabhängig von ihrem Ausgang – die Möglichkeit nicht nur der Reflexion, sondern auch der Verbesserung der Paarbeziehung sowie gleichzeitig neue Möglichkeiten der Zukunftsgestaltung. Während bei Frau Goch, die neue Beziehungsqualität eher abstrakt beschrieben wird, hat Frau Jansen konkrete Ansatzpunkte und Vorstellungen für ihre Leben nach der Kinderwunschbehandlung.
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Die meisten Frauen kommen in den Interviews, ohne dass explizit danach gefragt wurde, auf die weitere mögliche Gestaltung ihres Lebens nach der IVFBehandlung zu sprechen. Diese Reflexion wird von ihnen als selbstverständlicher Teil dieser Lebensphase gesehen. Viele Patientinnen beschreiben, dass sie sich im Laufe der die Behandlungszyklen begleitenden Auseinandersetzung mit den weiteren Lebensperspektiven ein Leben ohne Kind besser vorstellen konnten. Frau Gochs beschreibt diese Entwicklung besonders deutlich: Aber umso länger das dauert, umso mehr denkt man darüber nach. Eigentlich ist man auch alleine glücklich und selbst, wenn es nie klappt, wäre ich jetzt kein Mensch, wo irgendwie dann am Boden wäre. Klar, traurig bin dann schon darüber, aber ich weiß, ich könnte auch so gut leben. Und am Anfang konnte ich mir das überhaupt nicht vorstellen (P7R: 172).
Während also die medizinische und Behandlungsarbeit im Verlauf der Kinderwunschtherapie auf das Ziel von Schwangerschaft und Geburt gerichtet ist, lässt sich die Biographie- und Behandlungsarbeit einiger Paare als eine Art rite de passage charakterisieren. Der Ritus der IVF-Behandlung als Zwischenzustand führt zu einem Übergang von einem Lebensstadium mit Kinderwunsch und einem, wenn auch noch so hypothetischen, Lebensentwurf mit Kindern hin zu einem Stadium, in dem der Kinderwunsch abgeschlossen ist und neue Ziele verfolgt werden. Der Entwurf der eigenen Zukunft ohne Kinder – für viele am Beginn der Behandlung unvorstellbar – ist dabei zwar eine Strategie, mit den Behandlungsmisserfolgen umzugehen, wird aber für die Frauen mehr und mehr zu einem alternativen Lebensentwurf. So lag für Frau Adam eine Möglichkeit, sich von dem Misserfolg der, aber auch der Belastung durch die Kinderwunschbehandlung zu befreien, darin sich selbst etwas Gutes zu tun und den Fokus ihres Lebens etwas zu verschieben: Klar, natürlich, wenn man es versucht und es hat nicht geklappt, da fällt man natürlich in ein Loch. Und da bin ich natürlich auch schon ganz im Loch gesessen. Also, ich habe auch daran gearbeitet und gesagt, jetzt muss ich wieder gucken, es gibt auch anderes Lebensglück außer Kind. Und habe es auch dementsprechend da, also ganz viel unternommen, ganz viel gemacht habe ich auch (P1R: 156).
Auch Frau Hoffmann beschreibt für wiederholte Behandlungszyklen, dass ein alternativer Zukunftsentwurf wichtig für sie wurde, um mit den Belastungen der Behandlung umzugehen. Sie nennt Strategien zur Entwicklung, wie man nach einem Misserfolg „aus dem Loch [herauskommt]“ (P8R: 63). Obwohl sie und ihr
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Mann zu den wenigen Paaren gehören, die parallel einen Adoptionsantrag gestellt haben, waren diese Alternativen für sie wichtig. Sie nennt vor allem Perspektiven beruflicher Art, bspw. eine wissenschaftliche Weiterqualifikation mit einer Promotion, die sie als „was Schönes, anderes“ (P8R: 63) bezeichnet. Für einige Frauen fällt die Kinderwunschbehandlung auch damit zusammen, die Lebensphase, in der für sie der Beginn einer Mutterschaft in Frage kommt, abzuschließen. Im Wesentlichen geht es dabei um die Frage , wie alt sie sein möchten, wenn sie ihr erstes Kind bekommen. In der Thematisierung des Alters verbindet sich die Übernahme medizinischer Kriterien für die eigene Lebensplanung mit dem Versuch, für sich persönlich diese Lebensphase – zwischen Planungsfreiheit und Planungszwang – abzuschließen. Die Behandlung selbst wird so zur Möglichkeit, eine Antwort auf die eigenen Ambivalenzen zu finden. Frau Jansen etwa will auch aufgrund ihres Alters nur noch einen Versuch unternehmen: Weil, dann bin ich einfach wirklich zu alt, und ich mein’, ich werde jetzt 42, ich fühle mich nicht wie 42, aber ich bin es ja. Habe ich mir dann gesagt, auf dem Papier ist es ja so. Und dann ist auch einfach, dann ist auch gut […] Und […] warum ich das jetzt noch mal mache, vielleicht möchte ich einfach die Bestätigung haben, dass es wirklich, dass es halt nicht geht (P9R: 79).
In diesem Interview wird einerseits deutlich, dass erst nach einer durchgeführten reproduktionsmedizinischen Behandlung der Kinderwunsch abschließbar ist. Erst eine bestimmte Anzahl von Versuchen verschafft hier Gewissheit. Es scheint eine Art normativer Verpflichtung der Inanspruchnahme durch. Anderseits beschreibt sich Frau Jansen als diejenige, die eine autonome Entscheidung über das Ende der Behandlungsversuche trifft. Ihre Äußerung lässt sich aber angesichts der Schwierigkeit im Behandlungsverlauf, das endgültige Ende der Behandlungsversuche zu bestimmen, auch dahingehend interpretieren, dass sie sich selbst versichern muss, dass sie die Behandlungsversuche dann einstellt. Ähnlich begründet Frau Falk, dass sie die IVF-Behandlung durchführt, obwohl sie gegenüber ihrem Kinderwunsch noch ambivalent ist: Weil ich dieses Jahr 40 werde. Ich wollte, auch wenn, ich weiß nicht, ob ich je sicher sein will, ob ich wirklich Kinder will. Aber wenn ich es jetzt nicht versuche, mache ich mir vielleicht in fünf Jahren Vorwürfe, wenn es wirklich definitiv zu spät ist (P6R: 22).
Auch das Beispiel von Frau Falk zeigt, wie stark das Angebot der Reproduktionsmedizin als Verpflichtung wahrgenommen wird. Wie bei Frau Jansen ist dies
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die Erfüllung einer Schuldigkeit sich selbst gegenüber. Im Alter von Ende 30 bis Anfang 40 wird die Zeit zu einem relativ kleinen Fenster der Gelegenheit der Erfüllung des unerfüllten Kinderwunsches, in dem die gefühlte Verpflichtung groß ist und alle zur Verfügung stehenden Mittel genutzt werden. In beiden Fällen ist die Reproduktionsmedizin eine, wenn nicht die, Möglichkeit, ein legitimes Ende für den eigenen Kinderwunsch zu finden. Für Frau Stein stellt ebenfalls das Alter eine Grenze für die Versuche, Mutter zu werden, dar, wie sie im Erstberatungsgespräch erläutert: Weil für mich stellt sich ganz einfach die Frage. "Wie lang möchte ich das? Wie alt möchte ich sein, bis mein Kind – also mit 40, also was weiß ich, so wie Heidi Klum2 und wie sie alle noch heißen, will ich eigentlich keine mehr (EG14R: 341).
Hierin kommt wie schon im Interview mit Frau Jansen zum Ausdruck, dass die von der Reproduktionsmedizin zum Teil verschobene Grenzen nun durch individuelle ersetzt werden können und müssen. Der verspürte Zwang, reproduktionsmedizinische Maßnahmen nutzen zu müssen, wird in dem Ratschlag von Frau Goch an andere Paare besonders deutlich: Auf jeden Fall [würde ich zu einer Behandlung raten], weil ich denke, wenn in zehn Jahren oder so, wenn ich das bereue und dann denke, ich hätte es probieren sollen, da würde ich mir, glaube ich, mehr Vorwürfe machen. Wie wenn ich das Ganze probiere (P7R: 236).
Dies ist ein besonders deutliches Beispiel dafür, das Planungsangebot der Reproduktionsmedizin nicht nur gleichzeitig eine Planungs- oder Entscheidungsverpflichtung darstellt, sondern auch mit einer neuen moralischen Verpflichtung der Ausnutzungen aller möglichen Mittel einher gehen kann. In der Zeit während oder nach einzelnen Behandlungszyklen setzen sich die meisten Paare mit der Frage auseinander, wie sie in Zukunft leben wollen, wie wichtig (leibliche) Kinder für ihren Lebensentwurf sind und welche alternativen Wege sie sich vorstellen können. Drei der Frauen hatten zum Zeitpunkt des Interviews bereits Kinder. IVF-Behandlungen nach der Geburt des ersten Kindes werden als weniger großer Einschnitt gesehen, wie etwa in der Formulierung von Frau Adam deutlich wird:
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Hier liegt vermutlich eine Verwechslung vor. Heidi Klum ist zum Interviewzeitpunkt 33 Jahre alt (vgl. http://www.heidiklum.com/).
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Ich gehe jetzt mit dem zweiten Versuch, mit dem Wunsch nach einem zweiten Kind, viel lockerer damit um (P1R: 178).
Das Ehepaar Hoffmann (P8R) hält sich auch nach der Geburt von insgesamt drei Kindern die Möglichkeit der Adoption weiterer Kinder noch offen. Zwar hat für diese Frauen der Wunsch nach weiteren Kindern eine andere Qualität als der Wunsch nach dem ersten Kind, dennoch wirft die Entscheidung für weitere Kinder – wie bei Paaren ohne reproduktive Einschränkungen – Fragen für die zukünftige Lebensgestaltung auf. Diese betreffen dann nicht mehr nur mögliche Veränderungen der Paarbeziehung durch die Familiengründung, sondern auch die Veränderung für bereits vorhandene Kinder. Ein anders gelagerter Fall ist das Ehepaar Lehner (EG10R), wo beide Kinder aus vorherigen Partnerschaften haben und sich nun ein gemeinsames Kind wünschen. Dass dies Ausdruck von Biographiearbeit ist, wird auch daran deutlich, dass Frau Lehner sich bereits hatte sterilisieren lassen. Die Biographiearbeit wird während der Behandlung verstärkt und bekommt eine neue Qualität. Die Kinderwunschbehandlung ist auf der einen Seite ein Moment des Stillstandes der Zukunftsplanung der Paare: Zwischen der Hoffnung auf medizinische Hilfe und dem Wissen, dass der Erfolg zumindest statistisch eher unwahrscheinlich ist, befinden sie sich in einer Art Wartestellung. Während der Behandlung selbst gibt es zwar immer wieder Indikatoren, die für die Deutung eines möglichen positiven oder negativen Ausgangs der Behandlung genutzt werden können (s.o. Kap. 6.1), doch bis zum positiven Schwangerschaftstest oder dem endgültigen Beschluss über das Ende jedweder Behandlungsversuche leben die Paare in einer „konjunktivischen Welt“ (Good 1994). Diese ist gekennzeichnet durch das Fehlen eines klar abgegrenzten temporalen Horizonts, da nicht nur der Ausgang der aktuellen Behandlung unklar ist, sondern häufig auch, ob und wie viele weitere Behandlungsversuche folgen (sollen). Einmal gefasste Überlegungen werden häufig nach einem Misserfolg noch einmal korrigiert und ein weiterer Versuch angehängt. Während eines Behandlungszyklus haben die Patientinnen keine Zeit für grundsätzliche Überlegungen, weil sie vor allem mit der Organisationsarbeit (s.o.) beschäftigt sind, so dass die Biographiearbeit stärker vor und nach der Behandlung stattfindet, in den Pausen zwischen verschiedenen Zyklen. Auf der anderen Seite wird die Kinderwunschbehandlung von einer gemeinsamen Auseinandersetzung des Paars über seine Zukunftsvorstellungen begleitet, und gerade die Spannung zwischen Hoffnung und möglicher Enttäuschung lässt viele Paare an ihrer Biographie „arbeiten“. Einige erarbeiten sich einen alternativen Endpunkt, der zunächst unabhängig vom Ergebnis der Be-
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handlung beschrieben wird. Diese Biographiearbeit geht in der Regel nicht mit einer Revision der bisherigen Lebensgeschichte und Entscheidungen einher, sondern wird eher als eine Verschiebung von Prioritäten beschrieben.
7.5 Z WISCHENFAZIT In diesem Kapitel wurde die Arbeit der Paare an der Verlaufskurve der Kinderwunschbehandlung diskutiert. Hierbei wurde nicht nur der Umgang mit den Belastungen der Behandlungen thematisiert, sondern ebenfalls die Aneignung von Fachwissen, die Alltags- und Organisationsarbeit sowie die Beziehungs- und Biographiearbeit. Mit dieser Erweiterung der Analyse auf Kontext und Lebenswelt der Paare konnte gezeigt werden, dass die medizinische Zuständigkeit für den Kinderwunsch bezüglich ihrer fachlichen Expertise bestärkt, aber gleichzeitig in ihrer Bedeutung für die Paare selbst relativiert wird. Wie in der Entscheidung für den Kinderwunsch und seine Behandlung (s.o. Kap. 5.2) zeigt sich hier, dass die medizinische Perspektive nicht notwendigerweise entscheidend und handlungsleitend ist. Die Paare eignen sich Wissen an, um autonome Entscheidungen bezüglich der Behandlungen treffen zu können und den Behandlungsverlauf zu beeinflussen. Dies geschieht aber nur punktuell. Grundlegend ist für sie vielmehr, dass sie Vertrauen zu den Ärztinnen und Ärzten haben können, ein Vertrauen, das auch eine grundsätzliche Anerkennung ihrer fachlichen Autorität beinhaltet. Die fachliche Kompetenz der Ärztinnen und Ärzte wird in der Regel nicht grundsätzlich in Frage gestellt, was jedoch nicht ausschließt, dass die Patientinnen und Patienten sie als eingeschränkt erleben. In den seltenen Fällen, in denen die Patientinnen und Patienten gravierende Zweifel an der ärztlichen Kompetenz haben, beenden sie die Behandlung in der betreffenden Klinik. Die Gegenexpertise, die sie bilden, führt gleichzeitig dazu, dass sie Aufgaben der und Verantwortung für die Behandlung und ihr Gelingen übernehmen können (s.o. Kap. 6.1.1). Während von einer umfassenden Medikalisierung des Kinderwunsches im Sinne einer Kolonialisierung der Lebenswelt nicht gesprochen werden kann, finden sich aber dennoch Hinweise für die ausgedehnte Akzeptanz und Orientierung an biowissenschaftlichem Wissen und gesundheitlichen Normierungen: In der Aneignung wissenschaftlichen Wissens ist dies sofort offensichtlich, auch wenn dieses Wissen nicht unbedingt handlungsleitend werden muss, sondern in der Praxis häufig pragmatisch verwendet wird. Die Übernahme einer Gesundheitsorientierung zeigt sich deutlich in den Maßnahmen und Techniken, die die Frauen wählen, um mit den Belastungen der Behandlung umzugehen. Diese re-
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flexiven Körper- und Selbsttechniken wie Yoga oder Stressreduktion korrespondieren hier nicht nur zufällig mit denen, die die Ärztinnen und Ärzte vorschlagen (s.o. Kap. 6.3). Während eines Behandlungszyklus zeigt sich einerseits, wie sehr die Therapie den Alltag und die Lebenswelt vor allem der Patientinnen beeinflusst. Gleichzeitig wird die Bedeutung der medizinischen Aspekte der Behandlung durch die anfallenden organisatorischen Herausforderungen vor allem der Vereinbarkeit von Behandlung und Beruf relativiert. Während sich im Kontext der medizinischen Diagnose und Behandlung eine Verschiebung vom Paarproblem zur Behandlung der Frau feststellen ließ (s.o. Kap. 6.4), findet in der Lebenswelt und vor allem außerhalb der Therapiezyklen eine Reintegration des Kinderwunsches in die Paarbeziehung statt. Die Biographiearbeit umfasst grundlegend einen Verständigungsprozess des Paares über ihre Beziehung und ist zum Teil durch eine Distanzierung von Projektionen über zukünftige Erfolge der Behandlung gekennzeichnet. Während häufig davon ausgegangen wird, dass die Reproduktionsmedizin eine Fokussierung auf den Kinderwunsch herstellt, vollzieht sich in der Beziehungs- und Biographiearbeit einiger Paare ein Perspektivwechsel hin zu einem alternativen Lebensentwurf ohne Kinder. Im Umgang vor allem mit der Kinderwunschbehandlung lassen sich Parallelen zum von Goffman beschriebenen Stigmamanagement finden, wobei es sich bei den Kinderwunschpaaren um diskreditierbare Personen handelt und die Kinderwunschbehandlung eher mit einer gefühlten als durchgeführten Stigmatisierung einhergeht. Unterstützung bekommen die Paare zum einen von Personen, die selbst von dem Problem betroffen sind, und zum anderen, und mehr noch, von Personen, die sich als Weise im Goffman’schen (1975) Sinne beschreiben lassen. Dies sind auf der einen Seite Personen, deren Weisheit in ihrer Profession begründet liegt, also zuallererst die Ärztinnen und Ärzte der Kinderwunschkliniken, aber in einigen Fällen auch andere Ärztinnen und Ärzte sowie Psychologinnen und Psychologen. In diesem Sinne verstärkt die Informationskontrolle die soziale Beziehung zwischen Ärztinnen und Ärzten und Paaren. Goffman beschreibt die andere Gruppe der Weisen als Personen, die sozial eng mit den Betroffenen verbunden und so „gezwungen [sind], einen Teil der Diskreditierung der stigmatisierten Person zu teilen“ (Goffman 1975: 42f.), und nennt beispielhaft Ehepartner. In der Kinderwunschbehandlung ist hier insofern eine besondere Situation anzutreffen, als das Problem oder Stigma per definitionem keine Einzelperson, sondern das Paar gemeinsam betrifft. Die Partnerinnen und Partner sind füreinander also beides zugleich: Mitbetroffene und sozial verbundene Weise, denen mit Goffman eine Normalisierungsaufgabe zukommt, indem „sie zeigen, wie weit Normale darin gehen können, eine stigmatisierte Person so zu be-
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handeln, als ob sie kein Stigma hätte“ (Goffman 1975: 43). Hiermit lässt sich erklären, warum die Beziehung zum jeweiligen Partner oder zur Partnerin von den Betroffenen als wichtigste im Umgang mit der ungewollten Kinderlosigkeit gesehen wird.
8 Fazit und Diskussion
Ein leicht vergilbter Papieraushang weist den Weg zum Wartezimmer der untersuchten Kinderwunschklinik. Er ist mit einer bunten Comiczeichnung eines Klapperstorchs, der im Schnabel ein Baby im Bündel trägt, versehen. Die Verbildlichung des Ziels der Kinderwunschbehandlung findet ihre Fortsetzung in den restlichen Räumen der Klinik als Sichtbarmachung des Erfolgs durch die Ausstellung von Fotografien von Babies, die nach einer Behandlung in der Klinik geboren wurden. Aber auch dem dem Sagenhaften zugeordneten Klapperstorch begegnet man wieder: Vier Störche aus Pfeifenputzern verzieren eine größere Topfpflanze des Durchgangsraums, in dem Blut abgenommen wird. Ein kleiner Plüschtierstorch hängt am Fenstergriff des Untersuchungsraums über einem Tisch mit Latexhandschuhen und Schallkopfkondomen für die Ultraschalluntersuchen, vom gynäkologischen Behandlungsstuhl aus gut sichtbar. Ein weiterer Plüschstorch sitzt neben dem Drucker im Beratungsraum nebenan. Diese Zitation des ikonographischen Klapperstorchs ist ein besonders augenfälliges Beispiel für die – wenn auch selektive und strategisch motivierte – Präsenz der Lebenswelt und des Magischen in der scheinbar rationalen Welt der Reproduktionsmedizin. Die Frage, in welchem Verhältnis die Laien- und Lebenswelt und die kinderwunschbehandelnde Medizin stehen, war der Ausgangspunkt der vorliegenden Untersuchung: Sie zielte sowohl auf eine Rekonstruktion der Herstellung medizinischer Zuständigkeit über den lebensweltlichen Wunsch nach einem Kind in der Behandlungspraxis als auch auf die Nachzeichnung der Relevanz medizinischer Konzepte und Blickweisen in der Lebenswelt der Paare. Mit einem ethnographischen Zugang zu Selbstkonzepten, Handlungsstrategien und Deutungsmustern der Akteurinnen und Akteure in der medizinischen Kinderwunschbehandlung konnte die vielschichtige Relevanz des medizinischen Deutungsrahmens und die Rolle der Reproduktionstechnik für die Herstellung medi-
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zinischer Zuständigkeit in interaktiven und institutionellen Prozessen aufgezeigt werden. Auf der Ebene der sozial- und standespolitischen Regulierungen wird die medizinische Zuständigkeit für den unterfüllten Kinderwunsch nur nachrangig über eine Krankheitsdefinition hergestellt. So haben etwa die Kriterien der Erfassung in der International Classification of Disease wenig Relevanz für die gesetzlichen Bestimmungen; für diese ist die Artikulation des Kinderwunsches durch das Paar entscheidend. Eine Medikalisierung lässt sich insofern konstatieren, als durch diese Regulierungen das Bild einer genetischen Elternschaft gestärkt und die Nutzung der Reproduktionsmedizin mit medizinischer Begründung auf einen bestimmten Personenkreis begrenzt wird. Auch die Analyse der Interviews hat gezeigt, dass weder die Patientinnen noch die Ärztinnen und Ärzte den unerfüllten Kinderwunsch als Krankheit definieren; zugleich steht die Legitimität seiner medizinischen Behandlung außer Frage. Die Spannung zwischen der Gesundheit der Paare und der zu begründenden Behandlungsbedürftigkeit wird von den Ärztinnen und Ärzten mit einem Verweis auf das Leiden an der Kinderlosigkeit gelöst, das in der medizinischen Behandlung jedoch eine unbestimmte Referenz bleibt. Auch die Paare betrachten ungewollte Kinderlosigkeit nicht als Krankheit – hier ist die Bezeichnung unerfüllter Kinderwunsch durchaus treffend. Insofern ist die Kinderwunschtherapie ein Beispiel dafür, dass die Legitimität einer medizinischen Behandlung unabhängig von einer Krankheitsdefinition hergestellt werden kann. Während in gesellschafts- und sozialpolitischen Debatten vor allem in Hinblick auf die Finanzierung ein Begründungsbedarf besteht, ist die Behandlungspraxis von einer argumentativen Leerstelle gekennzeichnet: Sowohl die ärztliche Voreingenommenheit für Krankheit beziehungsweise im Kinderwunschfall für die Behandlung und die Tendenz der Ärztinnen und Ärzte zum aktiven Eingreifen als auch die Erwartungen der Paare machen eine Begründung über den Krankheitsbegriff unnötig. Eine Ausweitung medizinischer Zuständigkeit lässt sich vor allem im Bereich der reproduktionsmedizinischen und naturheilkundlichen Forschung beobachten; auch hier wirken professions- und wissenschaftsspezifische Mechanismen, für die die Definition als Krankheit wenig zentral ist. In der Behandlungspraxis vollzieht sich die Medikalisierung des unerfüllten Kinderwunsches weniger über den ihr zugrunde liegenden biotechnischen Zugriff als über die Transformation des lebensweltlich-vielschichtigen und ambivalenten Wunsches in ein von der Medizin behandelbares Problem. In interaktiven und institutionellen Prozessen greifen professionelle, administrative und biotechnische Mechanismen in der Herstellung medizinischer Zuständigkeit ineinander. Zu dieser Transformation tragen sowohl Vereinfachungs- und Abgren-
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zungsstrategien der Ärztinnen und Ärzte als auch die administrative Struktur des Behandlungsverlaufs bei. Die ungleiche Integration von Frauen und Männern in der Reproduktionsmedizin ist so nicht nur eine Fortsetzung der langen Geschichte der Medikalisierung des Frauenkörpers, sondern sie wirkt in der Behandlungspraxis als eine weitere Form der Komplexitätsreduktion. Durch die formalisierten Skripte, die in Akten und Formblättern festgehalten werden, wird lebensweltlicher input in medizinischen output verwandelt. Mit der Unterteilung der IVF-Behandlung in aufeinander aufbauende Sequenzen und die schrittweise Steigerung der Therapieform entwickelt sich eine Dynamik, in der immer neue Probleme und Unsicherheiten entstehen, die wiederum weitere medizinische Maßnahmen nach sich ziehen. Dies führt dazu, dass die Paare einen klinischen Blick auf die Behandlung übernehmen, der jedoch auch immer wieder relativiert wird. Im Verlauf der IVF-Behandlung lassen sich verschiedene Phasen unterscheiden, in denen die Arzt-Patienten-Beziehung jeweils unterschiedlich strukturiert ist. Die Spannweite reicht hierbei von einem Aktiv-Passiv-Modell während der operativen Follikelentnahme über einen ärztlichen Paternalismus während der Hormonstimulation, informative und interpretative Modelle in den Beratungsgesprächen bis hin zum Kundenmodell bei der Auswahl der Klinik. Für beide Fälle lässt sich jedoch festhalten, dass die fachliche ärztliche Autorität und Autonomie von den organisatorischen und institutionellen Strukturen gestützt, von den Ärztinnen und Ärzten aktiv hergestellt und von den Patientinnen und Patienten nicht grundsätzlich in Frage gestellt wird. Wenn das Vertrauen der Paare in die Kompetenz der Ärztinnen und Ärzte grundlegend erschüttert ist, geht dies nicht mit einem Vertrauensverlust in die Medizin oder die ärztliche Profession einher, sondern mit einem Klinikwechsel. Gleichzeitig zeigt sich – in der Naturheilkunde stärker noch als in der Reproduktionsmedizin –, dass die Verantwortung für die Durchführung und das Gelingen der Behandlung hin zu den Paaren, und vor allem den Patientinnen, verschoben wird. Die Paare werden als mündige Patientinnen und Patienten, verstärkt auch durch eine zunehmende Gesundheits- und Präventionsorientierung, in die Behandlung integriert. Dabei können die Paare insgesamt wenig Einfluss auf den medizinischen Behandlungsverlauf nehmen. Die Strukturen sind, auch durch die den Ärztinnen und Ärzten zugeschriebene fachliche Autorität und Autonomie, relativ fest und abgesichert. Auf Grundlage des fachlichen Wissens, das die Patientinnen und Patienten sich aneignen, können sie jedoch punktuell Änderungen erwirken, sich vor allem aber umfassend über die Therapie und eventuelle Alternativen informieren. Ihre Handlungsmöglichkeiten beschränken sich somit auf Wahlmöglichkeiten zwischen verschiedenen Behandlungsoptionen und die Kontrolle der Ärztinnen und Ärzte. Trotz die-
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ser strukturellen Asymmetrie in der Beziehung zu den Ärztinnen und Ärzten können die Paare insofern als im Prinzip handlungsmächtige Akteurinnen und Akteure begriffen werden, als sie sich bewusst für die Inanspruchnahme medizinischer Expertise und Behandlung entscheiden. Eine Bestätigung medizinischer Zuständigkeit findet sich in den Behandlungssequenzen, in denen der Interaktionsrahmen von der ärztlichen Autorität dominiert wird. Eine Ausweitung medizinischer Zuständigkeit lässt sich vor allem da beobachten, wo Ärztinnen und Ärzte die reproduktive Gesundheit als Aufgabe der Paare definieren – dies geschieht verstärkt im naturheilkundlichen Fall. Die Grenzen zwischen Medikalisierung und Verantwortung für Gesundheitsorientierung und -optimierung verschwimmen hier. Die Situation der Kinderwunschpaare ist davon geprägt, dass die Entscheidung für oder gegen ein Kind unter individualisierten Bedingungen und im Kontext brüchig werdender Lebenswege getroffen wird. Die Frage der Elternschaft geht einerseits mit normativen Erwartungen einher, wird andererseits aber zunehmend als Option wahrgenommen. Der unerfüllte Kinderwunsch selbst wird von den Paaren nicht als körperliche Einschränkung erlebt, die ihre Gesundheit akut oder in Zukunft beeinträchtigt. Auch die medizinische Zuständigkeit für die Realisierung dieses Wunsches ist zunächst eher nachgeordnet: Kinderwunsch und Elternschaft sowie ihre mögliche reproduktionsmedizinische Erfüllung sind mit Ambivalenzen verbunden und werden zu einer Frage aktiver Entscheidungen. Zwischen neuen Handlungsfreiheiten und neuen Handlungszwängen wird die medizinische Kinderwunschbehandlung eine Option, die abgewogen werden muss. Für diesen Abwägungsprozess spielt die biomedizinische Perspektive eher eine untergeordnete Rolle. Der Weg der Paare in die Kinderwunschklinik lässt sich ebenso nicht als Befolgen eines medizinischen Überweisungssystems beschreiben. Die Paare müssen sich aktiv um eine Überweisung in eine spezialisierte Klinik bemühen, der Anlass hierfür ist selten medizinisch. Ebenso wie der Kinderwunsch ist auch die Entscheidung für seine medizinische Behandlung eingebettet in vielfältige und widersprüchliche Lebenswelt- und Biographieentwürfe der Paare. Diese Einbettung wird auch während der Therapie nicht von einer Dominanz der Medizin ersetzt. Vielmehr beeinflusst die Kinderwunschbehandlung Lebenswelt und Alltag vor allem der Frauen insofern, als sie nicht nur Behandlungsarbeit, sondern auch Alltags- und Organisationsarbeit leisten müssen. Biomedizinisches Wissen entzieht sich für die Paare dabei im Kern einer fachlich-inhaltlichen Relativierung. In der Alltagspraxis der Kinderwunschbehandlung wird es aber überlagert und praktisch dadurch relativiert, dass es von den Patientinnen durchaus bewusst als temporärer Deutungsrahmen aufgefasst wird.
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In der medizinischen Behandlungspraxis werden Anforderungen an die Paare, vor allem die Frauen, gestellt, die – wie in dieser Arbeit gezeigt wurde – sich als Selbst- und Körpertechniken beschreiben lassen. Dies betrifft vor allem Lebensstiländerungen und eine Anpassung an eine Gesundheits- und Präventionsorientierung. Während von den reproduktionsmedizinischen Ärztinnen und Ärzten vor allem punktuelle Veränderungen der Lebensgewohnheiten, die auf eine Verbesserung der Fruchtbarkeit zielen, erwartet werden, fallen in der Naturheilkunde Lebenswelt, Lebensstile und Biographien unter ihren medizinischen Zuständigkeitsbereich. Die naturheilkundliche Intervention zielt dabei nicht mehr allein auf die Fruchtbarkeitsverbesserung, sondern auf das allgemeine Wohlbefinden. Der Erhalt und die Verbesserung von Fruchtbarkeit und Gesundheit erscheinen so als Verantwortung der Paare. Wenn die Patientinnen den Belastungen der IVF-Behandlung begegnen, schöpfen sie aus dem selben Repertoire an reflexiven Selbst- und Körpertechniken. Dies bedeutet jedoch in der Regel nicht, dass sie hier den ärztlichen Anforderungen oder Vorschlägen folgen. Die Selbst- und Körpertechniken orientieren sich an medizinischem Wissen und mehr noch an Gesundheitsnormen; die Patientinnen sehen die Ausführungen dieser Techniken aber selbst vor allem als Gegengewicht zur Therapie und als eine Strategie, mehr Handlungsfreiheit und Selbstbestimmung auch über den eigenen Körper zu erlangen. Die naturheilkundliche Behandlung des unerfüllten Kinderwunsches geht nicht mit einer Demedikalisierung des unerfüllten Kinderwunsches einher. Die Arzt-Patienten-Kommunikation findet an einigen Punkten in einer weniger hierarchischen Kommunikationssituation statt – durch die Reduktion des Technikeinsatzes gibt es etwa keine Aktiv-Passiv-Situationen wie bei der operativen Follikelentnahme während der IVF. Eine allgemeine geringere Statusdifferenz zwischen Ärztinnen und Ärzten und Patientinnen und Patienten ließ sich in der Untersuchung allerdings nicht feststellen – dies ist vor allem auf den universitärklinischen Kontext zurückzuführen. Mit der verstärkten Übergabe der Verantwortung für ihre eigene Gesundheit und Genesung an die Patientinnen und Patienten wird diesen dabei einerseits ein größerer Handlungsspielraum gewährt – andererseits werden Selbstbeobachtung und Gesundheitserhalt zu ihrer Pflicht. Gleichzeitig zeigt sich auch eine Ausweitung der medizinischen Zuständigkeit: vor allem über die Ausweitung der pathologischen Sphäre auf Lebensstil und Lebensweg und die Erweiterung des Kreises der zu Behandelnden um die Männer. In den Bemühungen, über Studien die alternativmedizinische Kinderwunschtherapie zu etablieren, zeigt sich ebenfalls eine Ausweitung des medizinischen Zuständigkeitsbereichs.
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Insbesondere die Neuen Reproduktionstechnologien versprechen die medizinische Lösung eines sozialen Problems. Sie bieten eine vereinfachte Antwort auf eine gesellschaftliche Situation, in der Kinder zu haben eine Option und tendenziell zu einer Frage bewusster Entscheidungsfindung geworden ist, Elternschaft auf einen späteren Zeitpunkt verschoben und unter individualisierten Bedingungen realisiert wird. Diese komplexe Ausgangslange wird in der medizinischen Behandlung nur zum Teil in ein medizinisches Problem transformiert: Die medizinische Perspektive bietet für die Paare einen ergänzenden, vereinfachten Blick, der jedoch nur bis zu einem gewissen Grad und nur temporär Gültigkeit hat, denn die lebensweltlichen und gesellschaftlichen Ambivalenzen des Kinderwunsches und seiner Behandlung werden zum Teil konserviert, aber gleichzeitig auch in der Behandlungspraxis bearbeitet. Die medizinische Behandlung des unerfüllten Kinderwunsches kann so als ein Beispiel dafür gesehen werden, welche Rolle auf wissenschaftliche Expertise gestützte Problemlösungsangebote in einer reflexiven Moderne haben, in der die einzelnen eingebunden werden in ein ambivalentes Feld reflexiver Selbst- und Körpertechniken mit neuen Normierungen, Unsicherheiten und Verantwortungen – neuen Handlungsoptionen und neuen Handlungszwängen. Reichweite der Datenerhebung und des methodischen Zugangs Die ethnographische Anlage des Forschungsdesigns der vorliegenden Arbeit zielt auf die Untersuchung von Selbstkonzepten, Deutungsmustern und Handlungsstrategien der zentralen Akteurinnen und Akteure, auf deren strategische, pragmatische oder opportunistische Positionierungen und auf die Rekonstruktion der relevanten Aushandlungsprozesse und Aneignungsstrategien in der sozialen Praxis. So sind die Ergebnisse im Sinne einer quantitativen Repräsentativität nicht verallgemeinerbar. Ihre Verallgemeinerbarkeit und Vergleichbarkeit mit anderen Fällen begründet sich vielmehr in dem tiefen und umfassenden Verständnis eines kleinen Ausschnittes sozialer Wirklichkeit. In der reproduktionsmedizinischen Klinik wurden die teilnehmende Beobachtung und die Interviews mit den Patientinnen solange fortgeführt, bis sich durch neue Beobachtungen und Interviews nur noch wenige Abweichungen zu den bisherigen ergaben und eine Sättigung im Sinne der Fragestellung erreicht war. Durch die Triangulation der gewählten Methoden konnte das jeweilige Material – die Beobachtung, die ExpertInneninterviews und die problemzentrierten Interviews mit den Patientinnen – in wechselseitiger Perspektivierung untersucht werden. Dies ermöglichte ein umfassendes Fallverständnis. Die Ergebnisse dieser Untersuchungen haben insofern eine über den Fall hinausweisende Bedeu-
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tung, als bei der Analyse systematisch – durch den theoretischen und methodischen Zugang begründet – die Behandlungsnarrationen in einen breiteren gesellschaftlichen und kulturellen Zusammenhang gestellt wurden. Die Annahme vielschichtiger Verknüpfungen zwischen gesellschaftlichem Kontext und individueller Krankheits-, oder im Fall des Kinderwunsches eher Behandlungserfahrung, ist Grundlage der Auswahl von Methoden und Theorieansätzen. Es wurde ein Analyseverfahren gewählt, in dem zugleich induktiv und deduktiv vorgegangen wurde. Dieses Verfahren hat sich als äußerst produktiv erwiesen, da es ermöglichte, in wechselseitigem Bezug von Fragestellung und Theoriezugängen auf der einen und der Eigenlogik des empirischem Materials auf der anderen Seite immer differenziertere Analyseschritte vorzunehmen. Trotz der oben (s.o. Kap. 4) genannten Einschränkungen konnten die Interviews mit den Ärztinnen und Ärzten und die Erstberatungsgespräche der naturheilkundlichen Abteilung in die Analyse miteinbezogen werden. Alle Ärztinnen hatten zum Zeitpunkt des Interviews langjährige Erfahrung mit der naturheilkundlichen Kinderwunschbehandlung, und die Durchführung von Erstberatungsgesprächen gehörte lange zur Routine. Die Berücksichtigung von Patientinnen und Patienten, die schon länger in Behandlung waren – wie ursprünglich im Forschungsdesign vorgesehen –, hätte eine differenziertere Analyse der Strukturierung des naturheilkundlichen Behandlungsverlaufs ermöglicht. Es ist zu vermuten, dass sich dadurch ein komplexeres und vielschichtigeres Bild der Arzt-Patienten-Beziehung, der Bedeutung der Therapie und Medizintechniken und der Transformation des Kinderwunsches in ein medizinisch behandelbares Problem ergeben hätte. Um dies zu untersuchen und systematisch mit der reproduktionsmedizinischen Behandlung vergleichen zu können, ist weitere Forschung nötig. Im Fall der reproduktionsmedizinischen Kinderwunschklinik muss die Aussagekraft dieser Arbeit dahingehend eingeschränkt werden, dass es nicht gelungen ist, das nichtärztliche Personal für ExpertInneninterviews zu gewinnen. Mit der daraus resultierenden Beschränkung auf die Ärztinnen und Ärzte wurde die hierarchisierte Arbeitsteilung in der Medizin reproduziert. Die Arbeit und Sichtweisen des nichtärztlichen Personals wurden durch teilnehmende Beobachtung und die Beschreibung in den Interviews mit den Ärztinnen und Ärzten sowie den Patientinnen miteinbezogen. Die Durchführung von Interviews mit der Sekretärin und den beiden Krankenschwestern hätte eine systematischere Analyse ihres Beitrags zur Medikalisierung des Kinderwunsches und der Beziehungsgeflechte in der Behandlungspraxis ermöglicht. Ebenso waren Interviews mit Patientinnen und Patienten geplant, es ließen sich aber nur Interviews mit Patientinnen realisieren. Hier reproduziert sich die ungleiche Integration der Patientinnen und Patienten in die Behandlung. Die Per-
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spektive der Partner konnte über die Erstberatungsgespräche und Beobachtungen sowie indirekt über die Interviews mit den Patientinnen und Ärztinnen und Ärzten miteinbezogen werden. In Interviews mit den Partnern hätten deren Selbstkonzepte, Deutungen und Handlungsstrategien differenzierter betrachtet werden können. Bezüglich der Interviews mit den Patientinnen lässt sich festhalten, dass diese aus einer relativ homogenen Gruppen stammten: Die meisten arbeiteten in akademischen und Ausbildungsberufen, nur eine Migrantin konnte befragt werden. Die vorliegende Untersuchung hat einen explorativen Beitrag zur Erforschung der Herstellung medizinischer Zuständigkeit für den unerfüllten Kinderwunsch geleistet und hier zur Schließung einer Forschungslücke beigetragen. Zukünftige Forschungen, die den Kreis der Interviewten und der Fälle erweitern, versprechen hier weiterführende Ergebnisse. Insbesondere die Untersuchung niedergelassener Praxen lässt ergänzende und andere Befunde – etwa hinsichtlich der Verzahnung von Gynäkologie und Reproduktionsmedizin bzw. von ganzheitlicher Medizin und Spezialisierung – erwarten. In niedergelassenen gynäkologischen Praxen, zu deren Angebotsspektrum auch die höhergradige Kinderwunschtherapie gehört, wird es vermutlich direktere und stärker von der Medizin beeinflusste Wege zur IVF geben als im Fall der untersuchten Klinik, die institutionell von niedergelassenen Praxen getrennt ist. Biographische Interviews mit Patientinnen und Patienten könnten die Gewichtung des unerfüllten Kinderwunsches und seiner medizinischen Behandlung um eine retrospektive Perspektive ergänzen. Nicht zuletzt wäre ein Vergleich mit Paaren, die sich gegen eine Kinderwunschbehandlung entschieden oder diese frühzeitig abgebrochen haben, für die Frage der Reichweite der Medikalisierung des unerfüllten Kinderwunsches weiterführend. Ausblick Der Frage nach der Herstellung und Relevanz medizinischer Deutung und medizinischer Zuständigkeit in der Praxis der medizinischen Kinderwunschbehandlung wurde in dieser Untersuchung aus einer sozialkonstruktivistischen Perspektive einer sociology of medicine empirisch nachgegangen. Sie nimmt dabei in mehrfacher Hinsicht eine Erweiterung bisheriger Zugänge zur medizinischen Behandlung der ungewollten Kinderlosigkeit vor: Sie ergänzt die bisherige Auseinandersetzung durch eine empirische Untersuchung der Kinderwunschbehandlung in Deutschland aus soziologischer Perspektive. Mit ihrer ethnographischen Vorgehensweise leistet sie einen Beitrag zur Beantwortung der Frage, wie die Biomedizin im Alltag ankommt und biowissenschaftliches Wissen in der Le-
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benswelt übersetzt und dort relevant gemacht wird. So werden die Akteurinnen und Akteure und sozialen Prozesse der Herstellung medizinischer Zuständigkeit in den Blick genommen. Die Behandlungspraxis wird in zweifacher Hinsicht kontextualisiert: Zum einen wird die medizinische Behandlung des unerfüllten Kinderwunsches als Ausdruck und Beispiel eines gesellschaftlichen Wandels, mit dem sie zugleich untrennbar verbunden ist, thematisiert. Zum anderen wird sie im Kontext der Lebenswelt der Paare und des Krankenhauses als Ort professioneller Performanz verortet. Aus dieser Kontextualisierung ergeben sich auch die zentralen Dimensionen des Vergleichs von reproduktions- und alternativmedizinischer Behandlung. Grundlegend für Fragestellung, Theorieauswahl und Forschungsdesign ist die Verschiebung des analytischen Blicks weg von der Medikalisierung als statischem Ist-Zustand hin zu einer Medikalisierung als Definitionsprozess, der in seiner Prozesshaftigkeit, Relationalität und Kontextualisierung zu verstehen ist. Vor diesem Hintergrund wurden medizin-, professions-, technik- und körpersoziologische theoretische Perspektiven miteinander verbunden, um die Komplexität und Vielschichtigkeit der Herstellungsprozesse und Betrachtungsweisen medizinischer Zuständigkeit für den unerfüllten Kinderwunsch erfassen zu können. Als theoretische Rahmung der Untersuchung erwiesen sich vor allem solche Ansätze als fruchtbar, die einerseits offen für empirische Erkenntnisse waren, andererseits erlaubten, diese in einem breiteren gesellschaftlichen und kulturellen Kontext zu interpretieren. Die Perspektiven der Ärztinnen und Ärzten sowie Paare habe ich mit subjektorientierten Ansätzen zu Vorstellungen von Gesundheit und Krankheit in Beziehung gesetzt. Die Aussagen der Interviewten habe ich dabei als Krankheitsnarrationen betrachtet und so diese Vorstellungen in ihrer Prozesshaftigkeit untersucht. Verschiedene Modelle der Arzt-PatientenBeziehungen habe ich als Instrument genutzt, um die unterschiedlichen Dynamiken und Strukturen verschiedener Sequenzen im Behandlungsverlauf auszuweisen. Mit dem Konzept Krankheitsverlaufskurve habe ich schließlich den Umgang mit Krankheit als soziale Praxis kontextualisiert: Die Arbeit an der Verlaufskurve schließt dabei mehr als Maßnahmen zur Kontrolle von Krankheit ein: So spielt aus Sicht des medizinischen Personals auch der Arbeitsaufwand und die Compliance der Patientinnen und Patienten eine Rolle, während für diese die Situation von Krankheit und medizinischer Behandlung mit Alltags- und Biographiearbeit einhergeht. Im Anschluss an die aktuelle Wissenschafts- und Technikforschung – hier vor allem die soziologische Perspektive einer technology in practice – habe ich die Bedeutung von Techniken für die Strukturierung der medizinischen Behandlungspraxis untersucht. Diese Perspektive grenzt sich sowohl von einer technikdeterministischen als auch einer sozial-essentialisti-
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schen Sicht ab. Die Frage, ob und wie Techniken entfremdend oder verobjektivierend wirken, wird dabei offen gelassen – im Vordergrund steht vielmehr das reflexive Verhältnis von Technik und Sozialem. Aus dieser Perspektive habe ich auch Techniken, die den medizinischen Alltag organisieren – wie etwa die Krankenakte – dahingehend untersucht, wie sie Inhalte, Arbeitsabläufe und Beziehungen zwischen den unterschiedlichen Akteuren strukturieren und welche Rolle sie bei der Transformation des Anliegens der Patientinnen und Patienten in ein für die Ärztinnen und Ärzte und die medizinische Institution lösbares Problem spielen. Meine Betrachtung des Körpers ist im Anschluss an die aktuelle Körpersoziologie davon geprägt, ihn weder auf Natur zu reduzieren noch als mehr oder weniger beliebige Projektionsfläche sozialer Praxen zu sehen. Mit einer phänomenologischen Erweiterung ist es möglich, diese Objekthaftigkeit in Bezug zur Leiblichkeit des Körpers zu setzten. Körperbilder konnten so mit den Vorstellung von Gesundheit und Krankheit in Beziehung gesetzt werden und die Umgangsweisen mit dem Körper als reflexive Selbst- und Körpertechniken mit spezifischen leiblichen Realitäten gefasst werden. In der Nutzung dieser vielfältigen Zugänge ergibt sich ein erweitertes Instrumentarium zur Analyse sozialer Praxis in der Medizin: In der Kombination von professions- und techniksoziologischen Ansätze und Konzepten, die die subjektiven Perspektiven auf Krankheit und Gesundheit untersuchen, lässt sich das Krankenhaus als Ort der Behandlung einerseits als Organisation mit formalen Strukturen und administrativ-schematisierten Abläufen, andererseits aber auch in Hinblick auf die täglichen Interaktionen, die zwar durch diese Regeln gerahmt, aber nicht determiniert werden, untersuchen. Die Untersuchung der Akteurinnen und Akteure beschränkt sich so nicht auf die Fragen, welche Rollen sie erfüllen oder welchen Typen in der Arzt-Patienten-Interaktion sie entsprechen, sondern es interessieren ebenso ihre Strategien, pragmatischen Kompetenzen und widersprüchlichen Praxen. Es wurde gezeigt, dass starre Modelle und Typologien der Arzt-Patienten-Beziehung und subjektiver Vorstellungen von Krankheit und Gesundheit als Orientierung und grobe Kontrastfolien nutzbar gemacht werden können. Die Herstellung medizinischer Zuständigkeit über den unerfüllten Kinderwunsch ließe sich, legte man ausschließlich diese Perspektiven zugrunde, nur unzureichend und schematisierend erfassen. Die Arzt-Patienten-Typologien sind dazu geeignet, spezifische Phasen des Behandlungsverlaufs zu beschreiben und so seine Prozesshaftigkeit zu erfassen. Die Vorstellungen von Gesundheit und Krankheit erfahren eine sinnvolle Ergänzung in der Dimension von Körperbildern und Körpertechniken – es lassen sich sowohl für einzelne Phasen typische als auch parallel existierende Vorstellungen beschreiben. Es wurde aufgezeigt, dass die Transformation des lebensweltlichen Wunsches nach einem Kind in ein
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für die Medizin behandelbares Problem dem eigentlichen Behandlungsbeginn vorgelagert ist: Mit der Krankheitsverlaufskurvenforschung konnte auf Seiten der Paare die Pretrajectory-Phase in der Blick genommen werden und in Hinblick auf die Vorstellung von Krankheit und Gesundheit und dem Umgang mit dem Körper Kontinuitäten aufgezeigt werden. Gleichzeitig wurde gezeigt, dass die Transformation von input in output auf ärztlicher Seite ebenfalls bereits vor der Behandlung mit Zuschreibungen, professionellen Praktiken und professionellem Selbstverständnis beginnt. Die in dieser Arbeit zusammengeführten Ansätze bieten so ein Instrumentarium zur Untersuchung der sozialen Praxis der Medizin als Prozess, in ihrem Kontext von Profession, Lebenswelt und Krankenhaus, sowie eine Möglichkeit, über die Vor-Behandlungsphase die gesellschaftlichen Kontexte systematischer mitzuberücksichtigen. Anschlussmöglichkeiten für die Frage der Rolle von Medizin- und Organisationstechniken ergeben sich im Feld der Biotechniken und anderer medizinischer Bereiche, die durch einen intensiven Einsatz von Medizintechniken gekennzeichnet sind. Des Weiteren lässt sich Medikalisierung des Kinderwunsches mit anderen Problembereichen – auch in Hinblick auf die Frage, wie Prozesse der Medikalisierung und der Gesundheitsnormierung und -optimierung ineinander greifen – vergleichen, die ebenfalls nicht im engeren Sinne als Krankheit definiert werden. Beispiele hierfür sind die zahlreichen Individuellen Gesundheitsleistungen, die gegen Selbstzahlung angeboten werden, aber auch Präventionsmedizin, kosmetische Chirurgie ohne medizinische Indikation und medizinische Therapien, die auf eine Verbesserungen menschlicher Fähigkeiten zielen wie beispielsweise Neuro-Enhancement. Darüber hinaus gibt es Anschlussmöglichkeiten für die Untersuchung einer Vielzahl alltagsnäherer Praxen als Selbst- und Körpertechniken: In dieser Arbeit deuteten sich als spannende Forschungsfelder bereits Entspannungsverfahren wie Tai-Chi oder Yoga und Techniken, die auf Verhaltens- und Einstellungsänderungen zielen, wie beispielsweise progressive Muskelentspannung, an. Nicht zuletzt sind die Ergebnisse dieser Studie auch als Beitrag in der Debatte um die Regulierung und Nutzung der Reproduktionsmedizin zu verstehen: Sie zeigt auf, dass sowohl Beschreibungen von medizinischer Dominanz oder medizinischem Imperialismus als auch – wie in der aktuelleren Diskussion aus bioethischer Perspektive vertreten – der Paare als vom Kinderwunsch überwältigt und von der Behandlungssituation überfordert unzureichend sind. Eine theoretisch und empirisch fundierte soziologische Perspektive kann zu einer Differenzierung der Darstellung und Analyse der Biomedizin im gesellschaftlichen Kontext beitragen. Dabei lassen sich eher anwendungsorientierte Konzepte nutzen
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und zugleich mit der Distanz einer sociology of medicine als Teil des Untersuchungsgegenstandes betrachten.
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Tabellenverzeichnis
Tabelle 1: Arten der Abweichung, für die der Einzelne nicht verantwortlich gemacht wird, nach beigemessener Legitimität und Gewichtigkeit (gesellschaftliche Reaktion der heutigen US-amerikanischen Mittelschicht) | 38 Tabelle 2: Phasen der Illness Trajectory bei chronischen Krankheiten: Krankheit, Biographie und Alltag | 53 Tabelle 3: Typen der Arzt-Patienten-Beziehung | 73 Tabelle 4: Übersicht über die aufgezeichneten Erstberatungsgespräche | 97 Tabelle 5: Übersicht über die Interviews mit den Patientinnen | 100 Tabelle 6: Übersicht über die Interviews mit den Ärztinnen und Ärzten | 101 Tabelle 7: Arzt-Patient-Beziehung nach Behandlungsphasen | 245
Sachregister
Adoption 19, 112, 121–124, 158, 160, 171, 228, 314, 316 Akte 76–79, 91, 103, 247, 270f., 323 Akupunktur 25, 157f., 182, 221, 286f. Alter/Lebensalter 16f., 110f., 119, 122f., 137, 145, 159, 194, 226, 310, 314f., alternative Lebensentwürfe 16, 291, 315, 318 Alternativmedizin 14f., 24f., 29, 89–91, 94–101, 104f., 113, 122, 128, 132, 137–140, 144, 147, 150f., 154–159, 167–169, 174f., 177f., 185, 188, 215, 219–229, 246–251, 269, 282, 286–289, 292–294, 309, 322–329 Andrologie 12, 111, 113, 130, 233f. Ärztinnen und Ärzte, niedergelassene 22, 70, 94, 111, 129–132, 135f., 139, 146f., 175, 187, 191, 194, 201, 233, 246, 252–254, 261, 263, 275, 328 Arztberuf s. Profession Autonomie, medizinische 62f., 68, 70, 73, 90, 139, 177, 188, 246, 250, 323
Autonomie der Patientinnen und Patienten 70–72, 251–254, 258, 263, 267, 269, 272, 277f., 285 Beruf, Berufstätigkeit 15, 18, 29, 96, 104, 115, 118, 120f., 225– 227, 237, 285, 292, 294–298, 314, 318, 328 Compliance 28, 42, 52, 57, 69f., 76, 149, 174, 176, 180, 196– 200, 215, 217, 223, 228, 233, 245f., 272, 329 Ehe s. Paarbeziehung Embryo 10, 23, 107, 109, 112, 124, Embryonentransfer 9, 95f., 159– 164, 173, 193–195, 202–207, 215, 236, 238, 245–248, 254, 257, 268, 270, 280, 285, 295f., 304 Ernährung 95, 218–224, 268, 292 Ethik 10f., 61, 65, 69, 107, 109, 113, 132, 133f., 139, 153f., 158f., 162f., 167, 169, 180, 182, 331 Forschung (medizinische) 70, 77, 108, 147, 150–156, 169, 174, 184, 248, 322 Gesetzliche Krankenversicherung s. Krankenversicherung
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Gesetzliche Regelungen 10, 96, 107–109, 112–114, 139, 149, 159, 162f., 166, 173 Gynäkologinnen und Gynäkologen s. Ärztinnen und Ärzte, niedergelassene Heilpraktikerinnen und Heilpraktiker 139, 151, 157, 170 Homöopathie 25, 95, 155, 157f., 174, 182, 189, 220f., 229, 246, 286–288 Hormone 119, 129, 131, 142, 226, 265, 268, 293 Hormontherapie, Hormonbehandlung s. Stimulation, hormonelle Insemination 19, 95f., 112, 130, 149, 159–162, 165, 173, 183, 190, 192, 237, 242f., 269, 308 ICSI 95, 149, 154, 156, 164f., 167, 173, 182f., 192f., 202, 217, 232, 240, 243, 257, 262, 264, 287 IVM 95, 151–154, 167, 193 Internet 22, 98, 128, 137, 171, 175–178, 251, 253, 257–262, 267, 300, 305 – Internetapotheken 147, 257 Kosten der Behandlung 10, 24f., 97, 112f., 132, 136–138, 145– 148, 155f., 185, 212, 259, 322 Krankenhauspersonal – (Verwaltung) 78, 95f., 104, 202, 207, 244f., 270, 327 – (Pflege) 50–52, 59, 63, 76, 78, 95f., 104, 244, 256, 327 Krankenkasse s. Krankenversicherung Krankenversicherung 24, 95, 112, 119, 138, 141
Kryokonservierung 9f., 95, 113, 134, 152, 154, 162f., 193f., 204, 243, 254, 269, 271 Labor 78, 96, 163f., 193, 202–205, 209f., 245, 247, 255f., 271 Leiden 43, 46f., 49, 56, 107–109, 116f., 121, 140–144, 169, 186, 206, 245, 261, 303, 322 Mann, Männer 12, 109f., 112, 116, 148, 160, 167, 191, 225, 233f., 236–242, 262, 264, 268, 277, 290, 307f., 310–312, Medikamente 22, 76, 147, 173, 196–198, 205f., 218f., 246, 265, 271, 282, 286f., 293 Medien 10, 87, 96, 131, 175, 252, 259–262 Mehrlingsschwangerschaft 10, 161f., 280, 309 Natur, körperliche Natur 11, 75, 82, 109, 139, 159–168, 202, 228, 263, 267, 281, 330 Naturheilkunde s. Alternativmedizin Paarbeziehung 16–18, 40, 108, 110–112, 115, 121, 123, 129, 132f., 143–145, 162, 169, 185, 221, 232, 234, 238, 240, 254, 290f., 303–312, 316, 318f. Partnerschaft s. Paarbeziehung Postkoitaltest 165, 176, 189, 191, 295 Pretrajectory 57, 295, 331 Profession 21, 23, 27f., 31–34, 37f. 51f., 54, 57–69, 72, 81, 88–90, 100, 134f., 139, 142f., 147, 149–152, 155–158, 160, 162, 167, 169, 175, 177, 188, 203,
S ACHREGISTER
218, 224, 227, 229, 236f., 239, 243, 252, 259f., 262, 265f., 270, 318, 322f., 329–331 Punktion 132, 135, 169, 193, 196f., 200–202, 204, 207, 212f., 242f., 246f., 254, 264f., 269f., 279f., 299 Ratgeberliteratur 24, 130, 251, 254–257 Rauchen 214–217, 220, 226, 231, 292 Schwangerschaft 11, 19, 21, 89, 95, 109f., 115f., 125–128, 132, 144, 150–152, 155, 161–171, 194, 216–219, 230, 233, 240, 280, 284, 299, 309, 313 Schwangerschaftstest 195, 197, 205–207, 245, 268, 296, 316 Selbsthilfe/Selbsthilfegruppen 22, 153, 162, 302 Sexualität 81, 125, 129, 191, 224f., 227, 231–234, 238–240, 308f., Sport, Fitness 24, 45, 128, 218, 220, 222–225, 235, 284–286, 292f. Storch 321 Stress 35, 120, 131, 163, 191, 213, 220, 222, 225–230, 261, 268, 292–296, 304, 308, 318
| 353
Stigma, Stigmatisierung 28, 31, 38–42, 55f., 68, 250, 262, 300– 306, 310, 318f. Stimulation, hormonelle 9f., 90, 95, 130, 132, 151, 169, 180, 189– 200, 205, 208–211, 214, 232, 240, 245–247, 269, 279–285, 295, 307f., 323 Tai-Chi 268, 287, 331 Urologie 130, 242 Ultraschall 76f., 183, 189–191, 193, 197, 200f., 207–212, 232, 247, 262, 271, 295, 321 Vereinbarkeit von Familie und Beruf s. Beruf, Berufstätigkeit Verhütung 114, 116, 125–129, 165, 170f., 231, 233, 292 Versicherung s. Krankenversicherung Verwandtschaft 13f., 19, 114, 123f., 144f. Wissenschaft s. Forschung Yoga 128, 131, 220, 229, 282, 293, 302, 318, 331 Zwillingsschwangerschaft s. Mehrlingsschwangerschaft Zyklusmonitoring 95, 113, 194, 308
KörperKulturen Anke Abraham, Beatrice Müller (Hg.) Körperhandeln und Körpererleben Multidisziplinäre Perspektiven auf ein brisantes Feld 2010, 394 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1227-1
Franz Bockrath, Bernhard Boschert, Elk Franke (Hg.) Körperliche Erkenntnis Formen reflexiver Erfahrung 2008, 252 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN 978-3-89942-227-6
Aubrey de Grey, Michael Rae Niemals alt! So lässt sich das Altern umkehren. Fortschritte der Verjüngungsforschung 2010, 396 Seiten, kart., 21,80 €, ISBN 978-3-8376-1336-0
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Gerrit Kamphausen Unwerter Genuss Zur Dekulturation der Lebensführung von Opiumkonsumenten 2009, 294 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1271-4
Swen Körner Dicke Kinder – revisited Zur Kommunikation juveniler Körperkrisen 2008, 230 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN 978-3-89942-954-1
Swen Körner, Peter Frei (Hg.) Die Möglichkeit des Sports Kontingenz im Brennpunkt sportwissenschaftlicher Analysen August 2012, 354 Seiten, kart., 33,80 €, ISBN 978-3-8376-1657-6
Susanne B. Schmitt Ein Wissenschaftsmuseum geht unter die Haut Sensorische Ethnographie des Deutschen Hygiene-Museums Juli 2012, 272 Seiten, kart., zahlr. Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2019-1
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