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German Pages 352 Year 2017
Timo Ackermann Über das Kindeswohl entscheiden
Pädagogik
Timo Ackermann (Dr. phil.) ist Gastprofessor an der Alice Salomon Hochschule.
Timo Ackermann
Über das Kindeswohl entscheiden Eine ethnographische Studie zur Fallarbeit im Jugendamt
Dissertationsschrift zur Erlangung des Doktorgrades (dr. phil.), Fachbereich 1, Erziehungs- und Sozialwissenschaften, Promotionsprogramm »Soziale Dienste im Wandel« des Landes Niedersachsen, Universität Hildesheim, eingereicht von Timo Ackermann unter dem Titel »Entscheidungsprozesse im Jugendamt bei Fällen von Kindeswohlgefährdung. Eine ethnographische Studie«, Disputation am 02.06.2016. Erstgutachter: Prof. Dr. Stephan Wolff, Zweitgutachter: Prof. Dr. Wolfgang Schröer
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Inhalt
Vorbemerkung | 7
TEIL I: AUSGANGSPUNKTE, STAND DER UND U NTERSUCHUNGSDESIGN
FORSCHUNG
1.
Einleitung | 11
2.
Stand der Forschung: Fallarbeit und Entscheidungsprozesse bei Kindeswohlgefährdung | 19
Zur Arbeitssituation im Allgemeinen Sozialen Dienst | 23 Akteure, Prozesse und Rationalitäten | 27 Partizipation zwischen Anspruch und Wirklichkeit | 47 Problematische Fallverläufe: Fehler und mediale Skandalisierung | 55 2.5 Fallarbeit als Handeln unter Unsicherheitsbedingungen | 58 2.6 Zusammenfassung: Entscheidungsprozesse als Forschungslücke | 62 2.1 2.2 2.3 2.4
3.
Untersuchungsdesign: Ethnographie als Forschungsansatz | 67
3.1 3.2 3.3 3.4
Forschungsprozess | 72 Datenerhebung | 81 Analyse | 94 Reflexion der Methodenwahl | 104
TEIL II: EMPIRISCHE FORSCHUNGSERGEBNISSE 4.
Entscheidungen über Fremdunterbringungen als Gegenstand der Fallarbeit im Jugendamt | 113
5.
Die Organisation von Fallzuständigkeit: Dein, mein, aber nicht unser Fall? | 117
5.1 5.2 5.3 5.4
»Einen Fall haben« | 118 Zuständig werden | 139 Situationen der Rechtfertigung | 154 Zusammenfassung: Fallzuständigkeit als Verpflichtung auf darstellbare Fallarbeit | 167
6.
Informationsarbeit: Was ist los im Fall? | 173
6.1 Informationsgelegenheiten | 175 6.2 Verdichtungen in der Dokumentationsarbeit | 205 6.3 Zusammenfassung: Die Herstellung von Informiertheit | 222 7.
Gefährdungseinschätzungen und die Fremdunterbringung als Entscheidungsoption | 227
7.1 Risikoeinschätzungsbögen | 228 7.2 Die Kategorisierung der Eltern | 237 7.3 Relationierung beruhigender und beunruhigender Beobachtungen | 249 7.4 Die Fremdunterbringung als Option der Fallbearbeitung bei Kindeswohlgefährdung | 265 7.5 Zusammenfassung: Gefährdungskonstruktionen und die Fremdunterbringung als Bürde | 281
TEIL III: ZUSAMMENFASSUNG UND AUSBLICK 8. Resümee | 287 8.1 Die Darstellbarkeit des Entscheidens | 288 8.2 Diskussion der Befunde | 300 8.3 Schlussfolgerungen für »die« Praxis | 304 Abkürzungsverzeichnis | 313 Tabellen- und Abbildungsverzeichnis | 315 Erläuterung zur Transkription der Interviews | 317 Literatur | 319 Danksagung | 349
Vorbemerkung
Sich die Frage zu stellen, wie Sozialarbeiter/innen in Jugendämtern bei Fällen von Kindeswohlgefährdung entscheiden, erscheint aus einer ganzen Reihe von Gründen notwendig, von denen ich an dieser Stelle drei zentrale nenne, weil sie mich besondere motivierten, meine Forschungsarbeit anzugehen. Erstens besteht angesichts der schieren Menge der Fälle, um die es hier geht, eine erstaunliche Forschungslücke bezogen auf das avisierte Forschungsthema. Es ist schlichtweg noch wenig darüber bekannt, wie Sozialarbeiter/innen der Jugendämter in Fällen von Kindeswohlgefährdung entscheiden. Zweitens ist die Fragestellung von gesellschaftlicher Relevanz, berührt sie doch brisante Themen wie etwa das Verhältnis von Staat und Familie, die Rechte von Eltern und Kindern und nicht zuletzt die Frage, wie der Schutz des Kindeswohl in unserer Gesellschaft organisiert und verbessert werden könnte. Bedeutsamkeit erhält die Thematik drittens angesichts der Tatsache, dass zunehmend Kinder außerhalb ihres Elternhauses und in stationären Einrichtungen untergebracht werden. Angesichts dramatischer Einzelfälle lässt sich in den letzten Jahren überdies ein vermehrtes Interesse der medialen Öffentlichkeit erkennen, welches immer wieder in Skandalisierungen umschlägt und nach einer nüchternen, empirisch gestützten Betrachtungsweise verlangt. Mein Interesse am Forschungsthema entwickelte sich überdies ausgehend von beruflichen Tätigkeiten, die ich – zudem selbst ausgebildeter Sozialarbeiter – ausübte und hier kurz andeute. Wie das Kindeswohl eingeschätzt und gesichert werden kann, beschäftigte mich bereits während meines Studiums der Sozialarbeit/Sozialpädagogik, später bei einem Anerkennungspraktikum im Allgemeinen Sozialen Dienst des Jugendamtes, dann, nach Abschluss des Studiums, während meiner beruflichen Tätigkeiten in Bereich der Erziehungshilfen, als Einzelfallhelfer, in der sozialpädagogi-
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schen Familienhilfe, der sozialen Gruppenarbeit und in einer Wohngruppe für Jugendliche. Etwas später rückte das Kindeswohl in den Fokus meiner wissenschaftlichen Arbeit. Nach meinem Wechsel aus dem sozialarbeiterischen Berufsfeld an die Alice Salomon Hochschule erforschte ich als wissenschaftlicher Mitarbeiter, gemeinsam mit meinen Kolleg/innen, wie im Jugendamt aus Fehlern gelernt werden könnte (Wolff et al. 2013a). Dabei war die Frage nach misslungener Bearbeitung von Fällen von Kindeswohlgefährdungen zentral. Wir untersuchten gemeinsam mit Sozialarbeiter/innen und Adressat/innen der Jugendämter Fälle, um »aus Fehlern zu lernen« (Wolff et al. 2013a). Hieran schlossen wir Überlegungen an, wie das Lernen aus problematischen Verläufen im Qualitätsmanagement von Jugendämtern verankert werden könnte. Mit dem Kindeswohl befasste ich mich insofern zunächst aus einer sozialarbeiterischen und dann vermehrt aus wissenschaftlicher Perspektive, nicht zuletzt im Rahmen der nun vorliegenden Studie. Einerseits beabsichtige ich, einen Beitrag zum Forschungsstand zu liefern. Andererseits hoffe ich, den einen oder anderen Reflexionsanstoß für eine Praxis geben zu können, deren Teilnehmer ich selber war – und die ich im Zuge der Feldforschung noch einmal neu entdeckte.
TEIL I: AUSGANGSPUNKTE, STAND DER FORSCHUNG UND UNTERSUCHUNGSDESIGN
1. Einleitung Fast jeden Tag hören wir in den Medien von vernachlässigten Kindern, von Kindesmisshandlungen mit Todesfolge, von Kindesaussetzungen, von Kindstötungen, usf. Ein Fall ist erschreckender als der andere. […] Man ist entsetzt und fassungslos [...]. Skandalisierungen […], führen in Politik und Öffentlichkeit jedoch nur zu einer oberflächlichen Aufmerksamkeit gegenüber dem Berufsfeld der Sozialen Arbeit. »Soziale Arbeit hat versagt«, stellt man einmal mehr fest. (SEITHE 2010: 17)
Im Kontext des Jugendamtes über das ›Kindeswohl‹ zu entscheiden, impliziert immer wieder aufs Neue bestimmen zu müssen, was überhaupt als das Wohl des Kindes gelten kann – und worin mögliche Gefährdungen des Kindeswohls zu sehen sind. Das Wohl des Kindes liegt keinesfalls objektiv als ›Tatsache‹ vor. Es verlangt vielmehr als unbestimmter Rechtsbegriff und Grenzobjekt (Scheiwe 2012) nach situations- und fallbezogenen Interpretationen. Dies gilt gleichermaßen für die Einschätzung von Gefährdungslagen. Das Entscheiden über Kindeswohlgefährdungen ist, wie im Folgenden mit Bezug auf ethnografische Daten deutlich wird, deshalb Gegenstand interaktionaler und organisationaler (Aushandlungs-) und Konstruktionsprozesse. »Meldungen« werden im Rahmen amtlicher Handlungsvollzüge und in der Form des Falls verarbeitet. Gefährdungslagen werden interaktiv bestimmt und erst dergestalt für Interventionen im Rahmen der Fallbearbeitung anschlussfähig gemacht. Die vorliegende Studie zeigt auf der Basis einer Feldforschung, wie in diesem Kontext in den alltäglichen Arbeitsabläufen der beforschten Jugendämter Fälle konstruiert,
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Gefährdungen eingeschätzt, Informationen zusammengetragen und in Entscheidungsprozessen verdichtet werden. Obwohl sich die Wissenschaft in den letzten Jahren zunehmend für die Arbeit der Jugendämter interessierte, ist bislang noch erstaunlich wenig darüber bekannt, wie in Jugendämtern Tag für Tag über Kindeswohlgefährdungen entschieden wird. Entgegen einer »oberflächlichen Aufmerksamkeit«, wie sie im vorangestellten Zitat beschrieben wird, geht es in der vorliegenden Arbeit darum, einen differenzierten Blick auf das Handlungsfeld zu werfen und einen Beitrag zum Stand der Forschung zu leisten. Wie gelingt es Jugendämtern, trotz aller Schwierigkeiten »prinzipiell Unvereinbares zu vereinen« (Schrapper u. a. 1987: 55)? Wie gelingt es den Sozialarbeiter/innen, Entscheidungen in Fällen von Kindeswohlgefährdung sowie über den Einsatz von Fremdunterbringungen1 zu treffen? Hierin besteht die Forschungslücke, zu deren wissenschaftlicher Bearbeitung die vorliegende Studie einen Beitrag leistet. Um die Relevanz dieser Fragestellung zu verdeutlichen, vertiefe ich im Weiteren die in der Vorbemerkung angedeuteten Ausgangspunkte, die zur Bedeutung der Forschungsthematik beitragen. Erstens stellt die Entscheidung für die stationäre Unterbringung eines Kindes einen massiven staatlichen Eingriff in den familialen Raum dar. Kinder werden aus dem elterlichen Haushalt ›herausgenommen‹ und in Pflegefamilien oder anderen, staatlich finanzierten Einrichtungen unterge-
1
Die stationäre Unterbringung von Kindern und Jugendlichen außerhalb des Elternhauses wird in der sozialarbeiterischen Praxis wie in der einschlägigen Forschung meist als »Fremdunterbringung« bezeichnet. Auch ich nutze den Begriff in dieser Studie. Gleichwohl ist mir bewusst, dass die Rede von »Fremdunterbringungen« problematische Implikationen hat. Mit ihr wird angedeutet, dass Kinder und Jugendliche aus ihren Familien herausgenommen und in der »Fremde«, oder vielmehr bei »Fremden« wie Objekte »untergebracht« werden. Die Redeweise unterstellt einen normativen common sense, der Kinder und Jugendliche als feste Elemente ihrer (biologischen) Herkunftsfamilien ansieht. Eine Fremdunterbringung muss in diesem Verstehens-Kontext schon fast per se als Angriff auf die Familie und daher problematisch erscheinen, was scharfe, unsachliche Argumentationen stützen kann. Ich nutze den Begriff im Folgenden dennoch, erstens wegen seiner weiten Verbreitung und zweitens, weil er zuspitzend auf Probleme im Handlungsfeld hinweist, die im Laufe der Studie noch deutlicher werden (vgl. hierzu insbesondere Kap. 7.4.).
1. E INLEITUNG
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bracht.2 Die Entscheidungen, die solchen Maßnahmen zu Grunde liegen, berühren die Lebensumstände und Biographien von Eltern und Kindern auf einschneidende Weise, verlangen daher besondere Sorgfalt, mitunter aber auch zügiges Handeln, wie deutlich werden wird. Wird die Maßnahme nicht oder zu spät angeordnet, kann dies die fortgesetzte Misshandlung oder gar den Tod eines Kindes zur Folge haben. Wird die Maßnahme zu früh verfügt, so erfolgt möglicherweise ein ungerechtfertigter Eingriff. Zweitens geht es bei Entscheidung über den Einsatz von »Fremdunterbringungen« typischerweise darum, das Wohl von Kindern und Jugendlichen zu schützen.3 Dies impliziert zunächst einmal eine hohe normative
2
Umgesetzt werden »stationäre Erziehungshilfen«, wie sie vom Gesetzgeber genannt werden, in Pflegefamilien und in betreuten Wohnformen der stationären Jugendhilfe. Beide Formen der Unterbringung erfolgen als Hilfe zur Erziehung gemäß §§ 27 ff. SGB VIII. Die Unterbringung in einer Pflegefamilie wird in Verbindung mit § 33 desselben Gesetzes gewährt. In Einrichtungen der stationären Jugendhilfe leben Kinder außerhalb ihrer Familie und werden dort von pädagogischem Personal betreut. Hierzu gehört der Bereich der »Heimerziehung« (§ 34 SGB VIII), zu dem z. B. auch Kinderdörfer, therapeutische Wohngruppen oder das »betreute Einzelwohnen« zählen. Im Jahr 2014 waren 72 204 Kinder und Jugendliche in Pflegefamilien und 69 823 in anderen Wohnformen untergebracht (Statistisches Bundesamt 2016a).
3
Vorgesehen ist die stationäre Unterbringung vom Gesetzgeber vor allem zur Abwendung von Kindeswohlgefährdung (vgl. § 8a SGB VIII sowie §§ 33 u. 34 SGV VIII). Sie kann unter Einbeziehung eines Familiengerichtes und in Verbindung mit § 1666 BGB auch gegen den Willen der Erziehungsberechtigten durchgesetzt werden. Die Entscheidung über den Einsatz der Maßnahme ist vor diesem Hintergrund eng mit der Bearbeitung von Fällen verbunden, in denen von einer (möglichen) Kindeswohlgefährdung ausgegangen wird. Die Feststellung von Kindeswohlgefährdungen und die Entscheidung über Fremdunterbringungen bedingen einander. Mit Blick auf die Analyse der empirischen Materialien, die im Rahmen der Feldforschung gewonnen wurden, wird im Rahmen der Arbeit deutlich: Zum einen gilt es im Kontext des Jugendamtes, die Option der Fremdunterbringung erkennbar zu berücksichtigen, wenn und insoweit eine Kindeswohlgefährdung beobachtet wird. Zum anderen lassen sich stationäre Unterbringungen von Kindern und Jugendlichen in der Regel nur über die Feststellung von Kindeswohlgefährdungen begründen, die sich nicht über den Einsatz
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Aufladung. Wer möchte schon für den mangelhaften Schutz des Kindeswohls verantwortlich sein? Die Entscheidung über den (Nicht-) Einsatz der Maßnahme macht zudem das Abwägen elementarer Rechte notwendig: Auf der einen Seite sichert der Gesetzgeber dem Kind das Recht auf körperliche und seelische Unversehrtheit sowie auf »Förderung seiner Entwicklung« zu (SGB VIII Abs. 1). Demgegenüber steht das »natürliche Recht der Eltern« (BGB Art. 6 Abs. 2) auf Erziehung der eigenen Kinder zu berücksichtigen. Im Sinne des Wächteramtes wachen die Mitarbeiter/innen über das Wohl des Kindes und über seine Rechte. Sie sind aber gleichsam dem Schutz der Elternrechte verpflichtet. Es lässt sich bereits erahnen, wie schwierig solche Entscheidungen zu treffen sind. Die Frage, wie die verantwortlichen Sozialarbeiter/innen der Jugendämter entsprechende Entscheidungsprobleme in Fällen von Kindeswohlgefährdungen bearbeiten, erscheint umso interessanter. Die Relevanz der Fragestellung ergibt sich drittens aus dem bundesdeutschen Trend, stationäre Hilfen zur Erziehung mit vermehrter Häufigkeit einzusetzen: Während die Zahl der Fremdunterbringungen von Kindern in den 1970er Jahren kontinuierlich abnahm (Statistisches Bundesamt 2016a; Knuth 2008: 98), hat sich der Trend seit den 1990er Jahren wieder umgekehrt (ebd.; Gadow et al. 2013: 168). 142027 Kinder und Jugendliche waren im Jahr 2014 außerhalb ihres Elternhauses untergebracht (Statistisches Bundesamt 2016a, vgl. auch Fußnote 2). Damit lebten im Jahr 2014 mehr Minderjährige in Pflegefamilien und anderen Wohnformen als in den letzten 20 Jahren zuvor (seit Einführung der Statistik mit der Zusammenführung der beiden deutschen Staaten, Statistisches Bundesamt 2016a.).4 Die Zahl der stationären Unterbringungen mit Sorgerechtsentzügen nahm ebenfalls zu (Pothmann et al. 2013). Die Fremdunterbringung ist zudem insgesamt eine der Maßnahmen, die am häufigsten durch Jugendämter verfügt wird (Statistisches Bundesamt 2014). Mit jährlichen Kosten von über fünf Milliarden Euro stellt die stationäre Unterbringung von Kindern und
anderer Interventionen, etwa durch ambulante Maßnahmen der Erziehungshilfe abwenden lassen (vgl. Kap. 7.4). 4
Ein Anstieg lässt sich zudem bei den vorläufigen Schutzmaßnahmen feststellen: Die Zahl der Inobhutnahmen stieg 2015 mit insgesamt 77 645 Maßnahmen auf den höchsten Stand seit Beginn ihrer Erhebung 1995 (Statistisches Bundesamt 2016b). In den Jahren 2005 bis 2015 verdreifachte sich die Zahl der vorläufigen Schutzmaßnahmen (ebd.).
1. E INLEITUNG
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Jugendlichen zugleich den größten Ausgabeposten im Bereich der Hilfen zur Erziehung dar (Fendrich et al. 2014: 37).5 Zur Erläuterung des Anstiegs von stationären Unterbringungen und Inobhutnahmen6 wird häufig darauf hingewiesen, dass die Bürgerinnen und Bürger, Nachbarn oder andere Personen aus dem Umfeld von Kindern, aber auch die Sozialarbeiter/innen selbst, angesichts der starken medialen Berichterstattung aufmerksamer für mögliche Kindeswohlgefährdungen geworden seien (Gadow et al. 2013: 170). Andere Autor/innen führen gesellschaftliche Veränderungen, wachsende soziale Ungleichheit, Verunsicherung, Armut und Isolation, allgemein eine hohe »Problembelastung« der Familien (Fendrich et al. 2014: 14) als Grund für die häufige Bewilligung von stationären Unterbringungen an, wenngleich eine umfassende Erklärung für den zunehmenden Einsatz der Maßnahme bislang ausblieb. Die Bedeutung der Thematik ergibt sich überdies angesichts der wachsenden Kritik an der Arbeit des Jugendamtes. Gerade dramatische Einzelfälle trugen zur öffentlichen und massenmedialen Aufmerksamkeit bei.
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Von den bundesdeutschen Jugendämtern werden insgesamt mehr ambulante als stationäre Hilfen zur Erziehung eingesetzt; dabei haben die ambulanten Hilfen in den letzten Jahren noch stärker zugenommen als die stationären. Die Kosten für ambulante Maßnahmen liegen jedoch mit nicht ganz zwei Milliarden Euro weit unter den Kosten für die Fremdunterbringungen (Fendrich et al. 2014: 38). Die vermehrte Bewilligung der Fremdunterbringung steht im Widerspruch zu dem Versuch, die Zahl solcher Maßnahmen zu verringern. Derartige Bemühungen sind nicht zuletzt in den fiskalischen Belastungen begründet, die aus solchen Maßnahmen für die Kommunen entstehen (Fendrich et al. 2014: 8).
6
»Inobhutnahme« bezeichnet die vorübergehende Unterbringung des Kindes außerhalb der Familie. Das Jugendamt hat das Recht, ist aber auch verpflichtet, Kinder in Obhut zu nehmen, wenn »nicht abwendbare Kindeswohlgefährdung vor[liegt]« (Münder 2006: 558). Inobhutnahmen können daher auf Wunsch des Kindes und zur Abwendung einer Gefährdung auch gegen den Willen der Erziehungsberechtigten erfolgen. Geht das Amt von einer anhaltenden Gefährdung aus und sind die Eltern nicht bereit, dem Verbleib des Kindes in einer Einrichtung der stationären Jugendhilfe zuzustimmen, so muss das Amt das Familiengericht anrufen. Stimmt das Familiengericht dem Antrag des Jugendamtes zu, so kann gemäß § 1666 BGB die elterliche Sorge ganz oder teilweise (z. B. nur das Aufenthaltsbestimmungsrecht) entzogen werden. Inobhutnahmen können dann in auf längere Dauer angelegte Fremdunterbringungen übergehen.
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Man denke nur an den »Fall Kevin«, an »Chantal« und »Lea-Sophie«.7 In der Berichterstattung wird nicht selten »Amtsversagen« oder sogar »tödliche Schlamperei« (Hellwig 2006) vermutet. Die Vorwürfe der Kritiker gehen dabei häufig in zwei entgegengesetzte Richtungen: Einerseits wird den Sozialarbeiter/innen8 vorgehalten, sie würden Kinder zu früh aus den Familien nehmen. Es würde aus Selbstschutz gehandelt. Fremdunterbringungen würden ohne ausreichende Grundlage, im Rahmen ungerechtfertigter Eingriffe durchgeführt. Sozialarbeiter/innen würden mit anderen Worten »eher ein Kind mehr wegnehmen als eins zu wenig« (ebd.: 1). Andererseits wird aber eingewendet, die Mitarbeiter/innen der Jugendämter würden zu wenig eingreifen und Kinder zu lange in ihren Familien belassen. Angesichts dieser Ausgangssituation, die problematische Entscheidungssituationen vermuten lässt, widmet sich die vorliegende Studie der folgenden, zentralen Forschungsfrage: Wie gelingt es den Sozialarbeiter/innen – trotz aller Schwierigkeiten – Entscheidungen über in Fällen von Kindeswohlgefährdungen – und vor allem über den Einsatz von »Fremdunterunterbringungen« zu treffen? Um dies zu untersuchen, diesem Rätsel der Praxis nachzuspüren, wurde ein ethnographisches Untersuchungsdesign gewählt. Über die Dauer von einem Jahr wurden in zwei bundesdeutschen Jugendämter Sozialarbeiter/innen in ihrem Arbeitsalltag zu wiederkehrenden Gelegenheiten begleitet, Beobachtungsprotokolle geschrieben, Interviews geführt und Dokumente gesammelt.
7
Vgl. für wissenschaftliche Untersuchungen zu diesen Fällen Brandhorst 2015;
8
In der Regel benutze ich eine geschlechtsneutrale Schreibweise. Aus Gründen
Biesel/Wolff 2013. der besseren Lesbarkeit greife ich z. T. aber auf die geschlechtsdifferenzierende Schreibweise, z. B. in der Form »Sozialarbeiterin« oder »Sozialarbeiter« zurück. Egal welche Schreibweise ich nutze, ich meine immer alle Personen, egal welchen Geschlechts – und dies auch jenseits einer binären Geschlechterordnung. Bisweilen spreche ich im Weiteren von den Sachbearbeiter/innen, Mitarbeiter/ innen oder den Beschäftigten der Jugendämter; gemeint sind damit immer diejenigen Personen, die im Jugendamt für die Bearbeitung von Fällen zuständig sind. Angesiedelt sind diese in der Regel in eigenen Organisationseinheiten des Jugendamtes, die häufig als »Allgemeiner Sozialer Dienst«, z. T. als »Sozialpädagogischer«, »Sozialräumlicher oder auch als »Regionaler Dienst« bezeichnet werden. Gemeinsam haben diese Organisationseinheiten typischerweise, dass in ihnen Sozialarbeiter/innen in der Bearbeitung von Fällen tätig sind.
1. E INLEITUNG
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Aufbau der Arbeit Ziel der Untersuchung ist es, einer aufgeregten, öffentlichen Betrachtungsweise, die allzu oft auf tönernen Füßen zu stehen scheint, eine wissenschaftlich-sachliche Untersuchung gegenüberzustellen und damit Entscheidungsprozesse im Jugendamt differenzierter als üblich zu betrachten. Hierzu folgt in Kapitel 2 die Untersuchung des Forschungsstandes. Dort werden Studien herangezogen, die sich wissenschaftlich mit der Frage befassen, wie im Jugendamt Fälle von (vermuteter) Kindeswohlgefährdung bearbeitet und Entscheidungen über den Einsatz von stationären Hilfen zur Erziehung getroffen werden. Dabei werden einige Tendenzen herausgearbeitet, die sich für das Untersuchungsfeld ableiten lassen. In Kapitel 3 wird das Forschungsdesign entwickelt. Der hier gewählte ethnographische Forschungsansatz antwortet auf die identifizierte Forschungslücke. Der Ansatz der Feldforschung dient in diesem Kontext dazu, Entscheidungsprozesse im Jugendamt »aus der Nähe« zu untersuchen. Behandelt werden in diesem Kapitel zudem der Feldzugang, die Erhebung, Aufbereitung und die Auswertung der Daten sowie weitere Implikationen des Forschungsansatzes. Den Hauptteil der Arbeit bilden die empirischen Befunde (vgl. hierzu Kap. 6., 7., 8. sowie einleitend Kap. 4). Grundlage der Analysen sind in der Feldforschung gewonnene Datenmaterialien. Dabei handelt es sich vor allem um Interviewsequenzen, Beobachtungsprotokolle und Auszüge aus Dokumenten. Insgesamt wird deutlich werden, wie Entscheidungen in Fällen von Kindeswohlgefährdung anhand organisational verankerter Praktiken der Fallarbeit hervorgebracht werden. In Kapitel 5. werden die empirischen Befunde mit der Analyse der Organisation von Fallzuständigkeit eröffnet. Hier wird gefragt, wie Fälle verteilt werden und der Fall zum Fall für eine Sozialarbeiterin wird (Kap. 5.2). Dabei wird die Konstruktion des Falls sowie die Relationierung von Sachbearbeiter/in und Fall fokussiert (Kap 5.1). Gezeigt wird überdies, wie die Übernahme von Fallzuständigkeiten, von nun an zuständige Personen auf plausible Darstellungen der Fallarbeit gegenüber wechselndem Publikum verpflichtet (Kap. 5.3) Kapitel 6 befasst sich mit der Herstellung von Informiertheit. Es wird betrachtet, wie es im Kontext des Jugendamtes gelingt, Informationen über die zu bearbeitenden Fälle in Informationsgelegenheiten zusammenzutragen und zu verdichten (Kap. 6.1. und 6.2): Wie gelangen die Sozialarbei-
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ter/innen zu relevanten Informationen über ihre Fälle? Wie werden aus der Vielzahl der verfügbaren Daten spezifische ausgewählt? In Kapitel 7 wird die Problematik der Gefährdungseinschätzung sowie die Fremdunterbringung als mögliche Lösung in solchen Szenarien untersucht. Es wird gezeigt, wie die Sozialarbeiter/innen die verdichteten Informationen in komplexe Formen der »Falleinschätzung« bringen. Dabei werden der Einsatz von Risikoeinschätzungsinstrumenten (Kap. 7.1) und die Kategorisierung von Eltern (Kap. 7.2) betrachtet. Es wird zudem deutlich werden, wie die Sozialarbeiter/innen gegensätzliche Beobachtungen relationieren, um Gefährdungen einzuschätzen (vgl. Kap. 7.3). Zudem wird untersucht, wie Fremdunterbringungen im Kontext des Jugendamtes mit Bedeutung versehen und zum Einsatz gebracht werden (Kap. 7.4). Kapitel 8 fasst die empirischen Befunde zusammen und gibt einen Ausblick auf mögliche Implikationen für die Praxis. Dazu werden die Ergebnisse der Feldforschung in Form eines theoretischen Modells rekapituliert (vgl. Kap. 8.1). Im Anschluss erfolgt eine Diskussion der Forschungsergebnisse (vgl. Kap. 8.2). Mögliche Implikationen für die Praxis bilden den Abschluss der Arbeit (vgl. Kap. 8.3).
2. Stand der Forschung Fallarbeit und Entscheidungsprozesse bei Kindeswohlgefährdung
Dass im deutschsprachigen Raum Studien rar sind, die sozialarbeiterische Entscheidungsprozesse, gar jugendamtliche Entscheidungen über den Einsatz von stationären Erziehungshilfen explizit untersuchen, deutete bereits eine erste Suche im virtuellen Katalog der Universität Karlsruhe1 an: Die Suche mit dem Stichwort »Jugendamt« ergab vielversprechende 1700 Treffer. Nutzte ich jedoch zur Eingrenzung z. B. in der Volltextsuche »Entscheidung« als Stichwort, so schränkte sich die Zahl der Treffer erheblich ein. Es fanden sich nur wenige rechtswissenschaftliche Arbeiten, z. B. eine Dissertation zu den »Möglichkeiten und Grenzen der Gesetzgebung zur Effektivierung des Kinderschutzes« (Lack 2012), jedoch keine empirische Studie.2 Nutzte ich in derselben Suchmaschine hingegen die entsprechen-
1
Die Meta-Suchmaschine greift nach Angaben der Betreiber/innen auf über 500 Millionen Medien in Bibliotheken weltweit zu (vgl. https://www.bibliothek.kit. edu/cms/kvk-hilfe.php, letzter Zugriff 22.12.2016)
2
Dasselbe Bild ergibt sich, wenn die Stich- und Schlagwörter variiert werden (z. B. »Fremdunterbringung«, »Entscheidung«, »stationäre Unterbringung«, »Unterbringung«, »stationäre Hilfen«, »Fremdplatzierung«). Wiederherum finden sich einige rechtswissenschaftliche Arbeiten oder Empfehlungen, aber keine empirischen Studien zur aktuellen Praxis des Jugendamtes, die auf der Basis empirischer Daten analysieren, wie riskante Fälle im Kinderschutz bearbeitet werden bzw. wie über solche Fälle entschieden wird. Als Ausnahmen, aber dennoch weit vom Kern der vorliegenden Studie entfernt: Möstl (2009) untersucht
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den englischen Stichwörter (»decision making«, »child protection«), so erhielt ich – im Gegensatz zur Suche mit den deutschen Stichwörtern – sofort über 25.000 Einträge, darunter zahlreiche empirische Studien. Gerade das letztere Ergebnis verweist auf einen eigenständigen Forschungsstrang, der sich im Gegensatz zur deutschen Diskussion mit Bezug auf Entscheidungsprozesse in der Kinderschutzarbeit herausgebildet hat.3 Im Vergleich dazu
die Kinderschutzpraxis in der Steiermark, fokussiert dabei vor allem aber Kooperationen zwischen jugendpsychiatrischen und anderen sozialen Diensten, sowie die standardisierte Erfassung von Merkmalen problematisch gewordener Kinder und Jugendlicher. Faltermeier untersucht die wie »Herkunftseltern« die Unterbringung ihrer Kinder in Pflegefamilien erleben und einschätzen. In einer historisch-rechtswissenschaftlichen Arbeit beschäftigt sich Korzilius (2005) mit der Unterbringungspraxis in der DDR. 3
Vgl. aus diesem Diskurs: Benbenishty und Chen (2003), Britner und Mossler (2002), Campbell (1997), Chor et al. (2013), Drury-Hudson (1999), Gillingham und Humphreys (2010), Harris und Hackett (2008), Houston (2003), Jones (1993), Kelly und Milner (1996), Loewenberg et al. (2000), McConnell et al. (2006), O'Connor und Leonard (2013), Taylor (2013), Webb (2002). Auf einige dieser Studien wird im Laufe der Arbeit noch eingegangen, die Ergebnisse, die z. B. in Großbritannien, Australien, Kanada oder den USA erzielt wurden, lassen sich aber nicht ohne Weiteres auf die deutsche Situation übertragen. Nationale Besonderheiten wie spezifische Gesetzgebungen, Organisationsformen, institutionelle Entwicklungsgeschichten und wohlfahrtsstaatliche Arrangements schränken die Übertragbarkeit ein. Bezogen auf die Unterschiedlichkeit der wohlfahrtstaatlichen Arrangements: Kindler (2007b) macht darauf aufmerksam, dass in Deutschland im Vergleich westlicher Industrienationen besonders viele Kinder untergebracht werden – und diese in der Regel auch besonders lange in den Einrichtungen verbleiben (ebd.: 12). Schütter (2007) weist auf den, im Vergleich zur deutschen Situation, noch extensiveren Gebrauch von Informationstechnologie im Kinderschutzsystem Großbritanniens hin. Knuth (2008) konstatiert zwar Gemeinsamkeiten zwischen großbritannischer und deutscher Rechtsprechung, sieht aber auch »sehr unterschiedliche Fremdplatzierungspolitiken in Europa insgesamt« (ebd.: 12). Es wäre sicher interessant, Gemeinsamkeiten und Unterschiede der nationalen, wohlfahrtstaatlichen Entwicklungen, Arrangements und Organisationsweisen genauer zu untersuchen. Ein Ansatz hierzu findet sich z. B. für den Vergleich des deutschen und des großbritannischen Systems bei Sievers (2013) oder im Vergleich der Erfahrungen von französischen und deut-
2. S TAND
DER
F ORSCHUNG
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sind empirische Studien zu Entscheidungsprozessen im deutschsprachigen Raum äußerst rar. Gleichwohl ist in den letzten Jahren eine nahezu unüberschaubar große Anzahl von Veröffentlichungen erschienen, die die Begriffe »Kindeswohlgefährdung« und »Kinderschutz« in ihrem Titel tragen. Bei einem großen Teil dieser Publikationen handelt es sich um Handbücher, Praxishandbücher oder Leitfäden, die – nach Meinung ihrer Verfasser/innen – die Sozialarbeiter/innen und andere Berufsgruppen in ihren Reflexionen unterstützen, vor allem aber auch in der Fallbearbeitung anleiten sollen. Um nur einige dieser Arbeiten zu nennen: Bundesarbeitsgemeinschaft der KinderschutzZentren 2011, Cinkl und Krause 2012, Dettenborn 2010, Galm et al. 2010, Jagusch et al. 2012, Kindler et al. 2006, Maywald 2012, Maywald 2013, Schader 2013, Schone und Tenhaken 2012, Ziegenhain und Fegert 2008). Verhandelt werden in diesen Publikationen in der Regel Fragen der Kooperation, rechtliche Rahmenbedingungen sowie mögliche Umsetzungen des Kinderschutzes in spezifischen Arbeitsgebieten, wobei oftmals idealisierte, modellhafte Abläufe der Falleinschätzung und -bearbeitung vorgeschlagen werden (Alle 2012, Maywald 2013, Jagusch et al. 2012, Ziegenhain und Fegert 2008). Häufig geht es vor allem auch darum zu klären, wie »Diagnosen« nach fachlichen Maßstäben erstellt werden können. Kaum beachtet bleibt in solchen Veröffentlichungen allerdings die empirische Frage, wie Kinderschutzarbeit überhaupt alltäglich »gemacht«, gewissermaßen praktisch vollzogen wird, wenn die Lage komplexer ist, als die Diagnosehandbücher unterstellen. Zu häufig wird zudem in Kauf genommen, dass durch die Orientierung an Konzepten die situativen Vollzüge Sozialer Arbeit, im blinden Fleck verschwinden. Es kommt daher paradoxerweise mitunter zu einer erstaunlichen Empirieferne der auf Handlungsansätze hin orientierten Handbücher.4
schen Jugendlichen im Kinderschutz bei Robin (2010). Ziel der vorliegenden Arbeit ist es jedoch zunächst, einen neuen Blick auf die Fallarbeits- und Entscheidungsprozesse in deutschen Jugendämtern zu entwickeln. Daher wird im Forschungsstand vor allem auf Studien Bezug genommen wird, die eben diesen Fokus verfolgen. 4
Dies erklärt vielleicht auch den Widerwillen von Praktiker/innen, solche Veröffentlichungen regelmäßig zu lesen – trotz aller Versuche, »evidenzbasierte« Brücken zwischen empirischer Forschung und Kinderschutzpraxis zu schlagen
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Versuche, Sozialarbeiter/innen darin anzuleiten, Fälle einzuschätzen, verfügen im Feld der Wissenschaft der Sozialen Arbeit freilich über eine lange Geschichte. Bereits Mary Richmond und Alice Salomon, Mitbegründerinnen der moderner Sozialpädagogik, haben zu Beginn des 20. Jahrhunderts Diagnose und Fallarbeit in den Fokus ihres Schaffens gerückt (Salomon 1926; Richmond 1917). Richmonds Ansatz des »social case work« greift das medizinische Modell der Diagnostik (Anamnese, Behandlung, Diagnose) auf (vgl. ebd.). Die Klient/innen werden als »Person-in-Environment« betrachtet, als Person im Kontext, was das medizinische Fallverständnis um eine ökologische Dimension erweitert (vgl. ebd.). Diese Grundlegungen sind bis heute relevant geblieben und werden z. B. in der Diskussion um »klinische Sozialarbeit« und (psycho-)soziale »Diagnostik« aufgegriffen (vgl. Pauls 2011; Gahleitner 2013). Der Fall ist einer Diagnose zuzuführen, um Probleme, Ressourcen und Lösungen identifizieren zu können (vgl. Heiner 2004, Pantuček 2012; Pauls 2011; Gahleitner 2013; Mollenhauer/Uhlendorff 1995, Uhlendorff et al. 2008). Auch die Ansätze des »Case Managements« schließen hier an: Sie nehmen eine diagnostische Perspektive ein, aus der heraus die weitere Behandlung des Falls geklärt werden soll (vgl. Löcherbach 2009; Wendt 2010; Neuffer 2007; Kleve et al. 2011). Unter dem Stichwort der »sozialpädagogischen Kasuistik« wird gleichsam, wenn auch auf andere Weise, gefragt, wie Fälle verstanden und bearbeitet werden können (vgl. Hörster 2011). Dies knüpft an psychoanalytische (vgl. Müller et al. 1986; Müller 2012), biografietheoretische bzw. hermeneutische Traditionen an (vgl. Griesehop et al. 2011; Miethe 2011). Gemeinsam ist den zitierten Ansätzen, dass sie den Fall zwar theoretisch reflektieren, vor allem aber daran interessiert sind, Möglichkeiten seiner Bearbeitung konzeptionell zu entwickeln. Im Gegensatz zu diesen Ansätzen sind für unseren Zusammenhang vor allem Veröffentlichungen interessant, die deskriptiv angelegt sind und untersuchen, wie die Dinge im Handlungsfeld genau, Tag für Tag, getan werden, wie etwa Entscheidungsprozesse über Fremdunterbringungen überhaupt vollzogen werden.5
und Ergebnisse »der Forschung« in die Praxis zu tragen (vgl. Dahmen 2011, Kindler 2007a, ferner auch Gahleitner 2013). 5
Auf den Diskurs um sozialarbeiterische/sozialpädagogische Diagnosen wird daher im Kontext dieser Arbeit nur peripher Bezug genommen. Es wird ein deskriptiv-soziologischer Ansatz präferiert, der einem handlungsanweisenden Ansatz, wie er dem Diagnose-Diskurs inhärent ist, widerspricht. Ziel der Arbeit ist
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DER
F ORSCHUNG
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Angesichts des Mangels an empirischen Untersuchungen, die sich explizit mit dem Vollzug von Entscheidungsprozessen im Jugendamt befassen, wird im Folgenden hilfsweise vor allem auf Studien Bezug genommen, die sich mit dem Themenkomplex Fallarbeit und Kindeswohlgefährdung im Jugendamt auseinandersetzen. Die Erwartung ist, dass auf diese Weise etwas über den Kontext von jugendamtlichen Entscheidungsprozessen gelernt werden kann. Die herangezogenen Studien sind um Schwerpunkte der Forschung gruppiert: 2.1. Arbeitssituation im Allgemeinen Sozialen Dienst, 2.2 Akteure, Prozesse und Rationalitäten, 2.3 Partizipation zwischen Anspruch und Wirklichkeit, 2.4. Problematische Fallverläufe, 2.5. Fallarbeit als Handeln unter Unsicherheitsbedingungen. Das Kapitel zum Forschungsstand schließt mit einer Zusammenfassung ab, in dem einige Trends festgehalten werden.
2.1 Z UR ARBEITSSITUATION IM ALLGEMEINEN S OZIALEN D IENST Die Beschäftigten in den »Allgemeinen Sozialen Diensten« haben keinen einfachen Arbeitsplatz. (POTHMANN/WILK 2012: 155)
Der Allgemeine Soziale Dienst (ASD) stellt in der Regel den Basisdienst dar, der von den Jugendämtern vorgehalten wird. Kommunal wird er z.T. unterschiedlich bezeichnet, z. B. als »Kommunaler Sozialer«, als »Sozialpädagogischer« oder auch als »Regionaler Dienst« (Pothmann/Wilk 2012: 156). Diese zentrale Organisationseinheit dient in der Regel als allgemeine Anlaufstelle, sie entscheidet über die Bewilligung von Hilfen zur Erziehung, also auch über mögliche stationäre Unterbringungen von Kindern und Jugendlichen. Nicht zuletzt gehen die Beschäftigen Kinderschutzaufgaben nach. Der ASD ist »einer der zentralen Akteure, wenn nicht der zent-
es gerade nicht, Urteile zu bilden. Geliefert werden sollen hingegen genaue Beschreibungen und Analysen. Zudem werden in der Debatte um die »Diagnosen« »Entscheidungen« kaum thematisiert. Die Entscheidung über die weitere Bearbeitung des Falls scheint sich vielmehr, gewissermaßen automatisiert, aus der Diagnose zu ergeben.
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rale Akteur für die Garantenpflicht bei Kindeswohlgefährdungen« (ebd.: 156). Die Belastungen und strukturellen Schwierigkeiten, mit denen sich die Beschäftigten dieses Dienstes konfrontiert sind, wurden in den letzten Jahren wiederholt von Wissenschaftler/innen herausgestellt (vgl. für viele Gissel-Palkovich et al. 2010; Petry 2013; Pothmann/Wilk 2012; Seckinger et al. 2008; Rudow 2010; Wolff et al. 2013a). Die Zumutungen des Arbeitsalltages sind zwar nicht neu (Wolff 1983), scheinen sich aber noch einmal verschärft zu haben (vgl. Petry 2013; Seckinger et al. 2008). Betrachtet wird hier jedoch zunächst einmal, welchen inhaltlichen Aufgaben die Beschäftigten des ASD nachgehen. Hierzu wird ein Blick auf die Verteilung der Arbeitszeit der Beschäftigten geworfen, wie er sich in zwei der aktuelleren, verfügbaren Studien abbildet. Die folgende Tabelle bildet die Kontrastierung von Gissel-Palkovich et al. (2010) ab. Die Autorin vergleicht ihre Daten mit denen von Seckinger et al. (2008).6 Tabelle 1: Prozentuale Verteilung der Arbeitszeit im ASD nach Aufgaben Aufgaben
DJI-Befragung (in%), Seckinger et al. (2008)
ASD-Studie (in%), Gissel-Palkovich et al. (2010)
Einzelfallarbeit
54
68
Organisation und Verwaltung
25
19
Vernetzung
8
5
Fachlicher Austausch
8
5
Andere Aufgaben
5
3
(Quelle: Gissel-Palkovich et al. 2010: 26, Seckinger et al. 2008)
6
Seckinger et al. 2008 haben für ihre Studie mit dem Titel »Arbeitssituation und Personalbemessung im ASD« (ebd.), bundesweit Leitungspersonen von Jugendämtern befragt (ebd.: 8).
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DER
F ORSCHUNG
| 25
Wie beide Studien zeigen, stellen vor allem die Bearbeitung von Einzelfällen sowie allgemeine Verwaltungstätigkeiten wichtige Schwerpunkte der Arbeit im ASD dar. In die Einzelfallarbeit sind dabei z. B. die Beratung von Familien und Kindern, die Veranlassung von Hilfen sowie das Hilfeplanverfahren eingeschlossen (Gissel-Palkovich et al. 2010). Die Gegenüberstellung ergibt in dieser Hinsicht keine punktgenaue Übereinstimmung, zeigt aber doch einheitliche Tendenzen.7 Für die Fallarbeit setzen die Sozialarbeiter/innen über die Hälfte der Arbeitszeit ein, während ein Viertel bis ein Fünftel der Arbeitszeit für Aufgaben im Bereich der Dokumentation und Verwaltung aufgewendet werden. Dies schließt z. B. das Führen der Fallakte, das Bearbeiten von Einschätzungsinstrumenten und anderen Formularen ein (ebd.). Verwaltungstätigkeiten werden von den Sozialarbeiter/innen schon seit längerem eher ablehnend betrachtet, als »dirty work«, zumindest als eine Tätigkeit, die man neben der ›eigentlichen‹ Arbeit auch noch machen muss (Ackermann 2012a: 129 f. mit Bezug auf Hughes 1962). Klagen über den zu hohen Verwaltungsanteil der Arbeit sind seit längerem bekannt (Wolff 1983). Seckinger et al. (2008) betonen jedoch, die Arbeitsanforderungen hätten neue Qualitäten erreicht. Sie stellen fest, dass die Mitarbeiter/innen mehr Aufgaben in kürzerer Zeit erledigen sollen, »dass sich die Arbeit im ASD in den letzten Jahren erheblich verdichtet hat und die Belastungsgrenze vieler Mitarbeiter/innen überschritten wurde« (ebd.: 12). Gissel-Palkovich et al. (2010) weisen zudem auf ein hohes Belastungsempfinden der Mitarbeiter/innen hin: »88% aller Befragten fühlen sich stark belastet durch die Fallarbeit« (ebd.: 37). Überdurchschnittlich viele Sozialarbeiter/innen (93%), die sich als sehr belastet, empfanden hatten 50 Fälle und mehr zu bearbeiten (vgl. ebd.: 37). Doch auch 86 Prozent der Sozialarbeiter/innen, die quantitativ weniger Fälle bearbeiteten, sahen sich selbst als hoch belastet an. Das rein quantitative Case-Load ist daher offensichtlich nicht alleine ausschlaggebend für Belastungserfahrung der Sozialarbeiter/innen (vgl. ebd.). Doch was macht die Belastung dann aus? Seckinger et al. (2008) zeigen, dass gerade Schwierigkeiten in der Einschätzung von Kindeswohlgefährdungen von den Sozialarbeiter/innen als
7
Die Autor/innen betonen jedoch, dass innerhalb ihres Datenkorpus die Angaben breit streuten, etwa bezogen auf die Aufwendung für »Organisation und Verwaltung« in einem Fall 5% in einem anderen Fall 70% angegeben wurden (vgl. Gissel-Palkovich et al. 2010: 26).
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besonders belastend erlebt werden (ebd. 38 f.; auch bei Wolff et al. 2013a: 191 f.). Zudem sei es zu einer Zunahme von Fällen gekommen, in denen die Einschätzungen mit besonderen Schwierigkeiten verbunden sind (Seckinger et al. 2008: 12). Zunehmend müssten etwa Fälle psychisch kranker Eltern bearbeitet werden, die durch besonders komplexe Hilfebedarfe gekennzeichnet seien (vgl. ebd.). Wolff et al. (2013a) konstatieren ebenfalls eine angespannte Arbeitssituation; sie rekonstruieren typische »Belastungen, Schwierigkeiten und Probleme« (ebd.: 190 ff.). Basierend auf der Auswertung von Interviews, Beobachtungsprotokollen, Akten- und Dokumentenanalyse nennen sie: • • • • • •
Belastungen durch ineffektive Zusammenarbeit, Schwierigkeiten bei der Einschätzung von Kindeswohlgefährdung, verregelte Verfahrensabläufe und Einschätzungsbögen, Belastungen des Hilfeprozesses, dünne Personaldecke und Fachkräftemangel, Belastungen durch gesellschaftliche und politische Rahmenbedingungen, welche die Arbeitssituation verschärfen (ebd.: 190).
Die Sozialarbeiter/innen hetzten »von einem Termin zum nächsten« (Wolff et al. 2013a: 191), sollten dabei aber gleichzeitig gründliche »Einschätzungen von Kindeswohlgefährdungen vornehmen« (ebd.: 198). Dass die Mitarbeiter/innen regelmäßig familiäre Problemlagen, Vernachlässigung und Misshandlungen von Kindern, zudem die Begrenztheit der eigenen Mittel erleben, führe zu erheblichen »emotionalen Belastungen«, bisweilen zur Resignation der Beschäftigten (ebd.: 192 ff.). In der Studie von Seckinger et al. (2008) gaben 49% der Befragten überdies an, dass es immer wieder zu organisatorischen Veränderungen gekommen sei, die als zusätzliche Belastung empfunden wurden (ebd.: 26).8 Nach Einschätzung der Befragten habe sich die »hohe Belastung« (ebd.: 12) durch die neueren Reformen verdichtet.9 89% der Befragten stimmten
8
Mit diesem Befund gleichfalls Wolff et al. (2013a: 190 ff.). Düppe (2010) formuliert an anderer Stelle exemplarisch: »Das Kölner Amt für Kinder, Jugend und Familie steht nicht nur […] unter erheblichem Spardruck, sondern befindet sich auch in einer Phase intensiver Reorganisation« (ebd.: 187).
9
Wobei eine Entlastung der Mitarbeiter/innen offenkundig zumindest auch nicht die vordringliche Intention der Reformmaßnahmen war.
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DER
F ORSCHUNG
| 27
der Aussage zu, dass z. B. die gesetzliche Neuordnung gemäß § 8a SGB VIII zu einer zusätzlichen Beanspruchung der Mitarbeiter/innen geführt habe (ebd.: 37 f.). Die Autor/innen resümieren: »Die Daten legen den Schluss nahe, dass die Reformen auf dem Rücken der Mitarbeiter/innen ausgeführt wurden anstatt diese zu entlasten« (ebd.: 12). Angesichts einer derart belastenden Arbeitssituation verwundert es nicht, dass »kaum mehr geeignete Bewerber/innen auf dem Arbeitsmarkt zu finden sind« (ebd.: 11), ein »Organisationsversagen« droht und die Beschäftigten des Jugendamtes offenbar an ihrer Belastungsgrenze arbeiten.
2.2 AKTEURE , P ROZESSE
UND
R ATIONALITÄTEN
Die Rekonstruktion von Wahrnehmungs- und Handlungsmustern war in den letzten Jahren oftmals Gegenstand von wissenschaftlichen Studien, die sich mit der Fallarbeit bei Kindeswohlgefährdung befassen. Sie beschreiben, welche Handlungs- und Wahrnehmungsmodi personale Akteure entwickeln (vgl. Kap. 2.2.1), und wie sich solche Muster in institutionellen (vgl. Kap. 2.2.2) sowie in interaktiven und arbeitsprozessbezogenen Kontexten (vgl. Kap. 2.2.3) herstellen. 2.2.1 Akteursbezogene Ansätze 2.2.1.1 Problemwahrnehmungen der Sozialarbeiter/innen Bei der Studie von Schrapper et al. (1987) handelt es sich um eine frühe, wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Frage sozialpädagogischen Entscheidens. Die Untersuchung zielt darauf, »Struktur und Inhalt sozialpädagogischer Entscheidungen« (ebd.: 59) herauszuarbeiten. Die Autor/innen entwickeln, vor dem Hintergrund »theoretischer und methodischer Reflexionen« (ebd.), Annahmen über mögliche Bedingungen bzw. »Einflussfaktoren«: Sie gehen davon aus, dass »die konkreten Hilfeentscheidungen« in Zusammenhang stehen mit: 1. 2.
strukturellen und organisatorischen Bedingungen des Jugendamtes, Handlungsabläufen und Entscheidungsstrukturen innerhalb des Jugendamtes,
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3.
sowie mit den »fachlichen und persönlichen Handlungsorientierungen und Entscheidungsmaßstäben der sozialpädagogischen Fachkräfte« (ebd.: 59).
Für die Untersuchung befragten die Forscher/innen Sozialarbeiter/innen mit Entscheidungsbefugnis für die Bewilligung von Hilfen zur Erziehung sowie Leitungspersonal der Jugendämter. In einer schriftlichen Fragebogenerhebung wurden 42 Jugendämter erfasst und als Datenbasis zu Grunde gelegt (ebd.: 59, 63). Schrapper et al. (1987) rekonstruieren »Grundmuster der Wahrnehmung«. Vier solcher Muster bzw. Typen stellt die Forschergruppe heraus. Bei den in Tabelle 2 zitierten Typen handelt es sich, so die Autor/innen, um typische »Grundmuster der Wahrnehmung« (ebd.: 88), die für die Jugendamtsmitarbeiter/innen in Entscheidungsprozessen relevant sind und daher zur Begründung von Entscheidungen eingesetzt werden.10 Typ 1 bezieht sich auf Normverletzungen des Kindes außerhalb der Familie als Interventionsszenario. Die Autor/innen stellen jedoch fest, »daß nach Meinung der Jugendamtsmitarbeiter/innen Ursachen, die eine Erziehungshilfe notwendig werden lassen, primär bei den Eltern liegen« (ebd.: 94). Die Sozialarbeiter/innen würden betonen, »[d]aß die Eltern ihre Rechte und Pflichten nicht ausreichend wahrnehmen und ihre Kinder vernachlässigen« (ebd.: 97). Hierin sei ein »Hauptmoment« in den Aussagen der Sozialarbeiter/innen zu sehen, die sich immer wieder auch in entsprechenden, juristischen Formulierungen gespiegelt hätten (ebd.). Insgesamt, so konstatieren die Schrapper et al., würden Erziehungshilfen, insbesondere fremdplatzierende, offenbar vor allem dann eingesetzt, wenn grundlegende Normen durch Eltern und Kinder verletzt würden (ebd.: 87).
10 Man könnte daher von typisierten Erklärungen für Situationen sprechen, »die eine Erziehungshilfe auslös[en]« (Schrapper et al. 1987: 87).
ungefähr 1/4 der Befragten
Verbreitung
1/4 der Befragten
»gewalttätige Handlungen der Eltern [...]; emotionale Vernachlässigung«
Typ 2: »Gewalt in der Familie«
keine genauen Angaben (»deutlich kleinere Gruppe«)
»besondere Problemlagen der Familie (Alkohol-/ Drogenabhängigkeit, [...] Alleinerziehenden-Status und die Berufstätigkeit beider Eltern)«
Typ 3: »breite Problemstreuung«
ungefähr 1/10 aller Befragten
»problematische Verhaltensweisen des Kindes vor allem mit Gesetzesverletzungen«
Typ 4: »Abweichendes Verhalten der Kinder«
DER
(Quelle: Schrapper et al. 1987: 88 f.)
»Unregelmäßigkeit des Schulbesuchs, Gesetzesübertretungen und VonZuhause-Weglaufen [...]«
Merkmale (Operationalisierungen)
Typ 1: »Normverletzungen außerhalb der Familie«
Tabelle 2: Muster der Wahrnehmung in Entscheidungssituationen
2. S TAND F ORSCHUNG
| 29
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Besonders eine Betrachtungsweise, die »psychosoziale Schwierigkeiten« individualisiere und »vorrangig als Regelverstöße« sehe, sei es der Eltern oder der Kinder, führe dann häufig »zu kostenaufwendigen Fremdunterbringungen« (ebd.: 130).11 Dass die Studie Sozialarbeiter/innen überhaupt als Entscheider/innen versteht, verleiht ihr im deutschsprachigen Raum – zumal zur Zeit ihrer Veröffentlichung – ein Alleinstellungsmerkmal. Eine solche Ausrichtung auf das Entscheiden wurde im deutschsprachigen Diskurs jedoch im späteren Verlauf kaum aufgegriffen. Schrapper wandte sich mit späteren Arbeiten ebenfalls vermehrt der Betrachtung von Fallverstehen und Diagnose zu (Schrapper 2010). Bedeutsam erscheint für unseren Zusammenhang vor allem die normative Prägung der Wahrnehmungsmuster der Sozialarbeiter/innen. Benbenishty und Chen (2003) stellen ebenfalls Wahrnehmungsmuster der Professionellen im Entscheidungsprozess heraus. Sie untersuchen die Entscheidungen einer Kinderschutzeinheit eines medizinischen Versorgungszentrums in einer statistisch-vergleichenden Studie. Die Forscher/innen betrachten insbesondere die Entscheidungen darüber, ob Fälle als Kinderschutzfälle kategorisiert und an die entsprechende Stelle weitergeleitet werden oder nicht. Sie setzen auf die statistische Untersuchung der Relation
11 Britner und Mossler (2002) befragten 90 Personen, darunter Richter, Sozialarbeiter/innen und ehrenamtliche Helfer, die mit Kinderschutzfällen befasst waren. Zur Untersuchung nutzten sie ein Fallvignettendesign, das sie den Befragten vorlegten und um entsprechende Einschätzungen baten. Die Autoren zeigen, dass die unterschiedlichen Berufsgruppen in ihrer Einschätzung und insbesondere auch in der Empfehlung, ob eine Fremdunterbringung durchzuführen ist oder nicht, unterschiedliche Referenzpunkte zu Grunde legen: Die Sozialarbeiter/innen bezogen sich auf Muster der bisherigen Misshandlungen, auf bisherige Hilfen sowie auf die Reaktionen der Familien auf Hilfsangebote. Die Personen mit juristischer Ausbildung achteten insbesondere auf die Glaubwürdigkeit der Darstellung der Misshandlung und begründeten ihre Entscheidungen insbesondere über die Wahrscheinlichkeit eines Wiederauftretens der Misshandlung. Die ehrenamtlichen Befragten fokussierten besonders die Stabilität der Familie. Die Autoren leiten hieraus den Schluss ab, dass die Entscheidungen nicht so sehr auf den Charakteristika des Falls (Alter, Art der Misshandlung), sondern vielmehr auf der Gruppenzugehörigkeit der Entscheider bzw. dem entsprechenden Referenzrahmen beruhen.
2. S TAND
DER
F ORSCHUNG
| 31
zwischen Entscheidung und Charakteristika von Kind und Familie. Dabei beziehen sie große Datenmengen (n = > 900) in ihre Untersuchung ein. Sie kommen zu dem Ergebnis, dass die soziodemographischen Daten des Kindes kaum Beziehungen zur Entscheidung aufweisen: Das Alter und auch das Geschlecht war nicht signifikant mit der Entscheidung korreliert, es wurden nur unwesentlich mehr Mädchen als Jungen an die Kinderschutzstelle übermittelt. Eine deutlichere korrelative Beziehung bestehe, so Benbenishty und Chen (2003), zwischen Figuration der Familie und der Übermittlung an die Kinderschutzstelle: Waren die Eltern nicht in Israel geboren oder ihre Herkunft unbekannt, so erhöhte dies die Wahrscheinlichkeit einer Überweisung an die Kinderschutzstelle. Geringes Einkommen der Eltern, Arbeitslosigkeit eines oder gar beider Elternteile oder psychische Erkrankungen – all dies steigere die Wahrscheinlichkeit, dass der Fall im Weiteren als Kinderschutzfall behandelt wird (ebd.: 7 ff.) Ähnliches zeigen Benbenishty und Chen auch für Familienkonstellationen, die nicht dem Normalbild der Kleinfamilie entsprachen, wenn z. B. ein Elternteil (zumeist die Mutter) alleinerziehend war oder eines der Kinder nicht bei biologischen Eltern lebte. Zudem stellen die Forscher/innen heraus, dass auch die nachfolgende Untersuchungseinheit, die vertiefende Untersuchungen vornimmt, die eingehende Kategorisierung in der Regel bestätigte. Unbeantwortet bleibt allerdings die Frage, ob dieser Zusammenhang auf dem Stress der Familien oder auf stereotypen Beobachtungsmustern der Sozialarbeiter/innen beruht. In einer weiteren Studie vergleichen (Benbenishty et al. 2003) die Risikoeinschätzungen von kanadischen und israelischen Sozialarbeiter/innen. Hierzu nutzten sie eine Fallvignette, die sie den Informanden vorlegten. Sie baten um eine Risikoeinschätzung sowie um eine Handlungsempfehlung. In ihrer Analyse zeigen die Forscher/innen, dass die kanadischen und stärker noch die israelischen Sozialarbeiter/innen in ihrer Risikoeinschätzung sowie in der Handlungsempfehlung stark durch die Kooperationsbereitschaft der Eltern beeinflusst waren. Im nationalen Vergleich waren die kanadischen Sozialarbeiter/innen eher bereit, Kinder aus ihren Familien herauszunehmen und in staatlichen Einrichtungen unterzubringen. Die israelischen Informanden präferierten hingegen eher Interventionen, die das Kind im familiären Kontext beließen, zugleich aber ein Kontrollnetz spannen, um das Wohl des Kindes sicherzustellen. Die von Schrapper et al. (1987), Benbenishty et al. (2003) und Benbenishty und Chen (2003) verwendeten Befragungsverfahren implizieren eine
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gewisse Ferne von den Abläufen bzw. dem Vollzug (Böhle 2009) des Entscheidens. In den Studien wird das Entscheidungsverhalten nachträglich adressiert über die Selbstbeobachtung der Sozialarbeiter/innen, die Auswertung von bereits vorliegenden Daten oder durch standardisierte Erhebungsinstrumente, die die Antwortmöglichkeiten immer schon vorgeben. Auch Fallvignetten-Studien, wie sie im internationalem Kontext häufig verwendet werden, führen häufig zu einer solchen Distanzierung vom Vollzug des Entscheidens: Über das Verteilen einer Fallvignette und die Bitte, sich zu den fiktiven Fällen zu äußern, wird eine idealisierte Entscheidungssituation geschaffen, die Arbeitsprozesse ausblendet und Entscheiden fern von alltäglichen Abläufen zum Gegenstand macht. 2.2.1.2 Habitusbezogene Praxismuster In den letzten Jahren haben sich Forscher/innen vermehrt bemüht, das Handeln von Sozialarbeiter/innen bei Kindeswohlgefährdungen im Vollzug und mit ethnographischen Mitteln zu erforschen. Die Forscher/innen des Projektes UsoPrax (»Brüche und Unsicherheiten in der sozialpädagogischen Praxis«) zielen beispielsweise darauf ab, die »konkrete soziale Praxis der Mitarbeiter/innen der Allgemeinen Sozialen Dienste« (Herrmann et al. 2009: 2) zu erforschen. In einem ethnographischen Design werden Handlungsweisen der Mitarbeiter/innen des Amtes untersucht, die diese nutzen, »wenn diese mit einem Verdacht auf familiale Gewalt konfrontiert werden” (ebd.). Es handelt sich also um eine Untersuchung, die sich ebenfalls für die Bearbeitung von Fällen (vermuteter) Kindeswohlgefährdung interessiert. Die Autor/innen stellen eine Gruppe von »habitualisierten Umgangsweisen mit Fällen der Kindeswohlgefährdung« (Thole et al. 2010: 6) vor. Es handelt sich hierbei um eine Typisierung von professionellen Handlungsweisen im Umgang mit Kindeswohlgefährdungen. Diese »acht Praxismuster« (ebd.: 8) werden habitusbezogen entwickelt, d. h., es wird davon ausgegangen, dass sich Professionelle solche Muster im Laufe ihrer (Berufs-) Biographie aneignen und in entsprechenden Situationen in der Praxis auf diese zugreifen. Als besonders relevant wird herausgestellt, dass »das professionelle Handeln weniger fall- und situationsspezifisch [sei] als angenommen, sondern vielmehr stark personengebunden« (ebd.: 6). Angesichts eines »überfordernden Handlungsauftrag[es]« (ebd.) werde regelhaft auf habitualisierte »Beobachtungs- und Handlungsweisen« zurückgegrif-
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DER
F ORSCHUNG
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fen.12 Die Muster werden von den Autor/innen auf einem Kontinuum angeordnet, das sich von »beobachtend-begleitenden über dialogischmodifizierende bis hin zu usurpierend-übernehmende[n] Handlungsweisen« (ebd.) erstreckt, insofern mehr oder minder stark intervenierendes Handeln einschließt. In ihrem Handeln, so formulieren Retkowski und Schäuble (2010): in einer weiteren Veröffentlichung, treten die Sozialarbeiter/innen dabei in »familiale Figurationen« (ebd.: 199) ein: Sie bilden als besondere Andere einen Teil der jeweiligen familialen Figuration und auch wenn der Kontakt bzw. die Beziehung ›schlecht läuft‹ einen relevanten Bezugspunkt für deren soziales Sinnsystem. (Ebd.: 212)
Die Beschäftigten des Amtes werden »zu relevanten Anderen, weil sie eine Beurteilungsinstanz für zentrale familiale Fragen darstellen« (Retkowski 2012a: 244). Aus Perspektive der Familien erscheinen sie als »Ermittler, urteilende Zeugen und Therapeuten in einer Person« (Retkowski und Schäuble 2010: 212). Derart involviert in soziale Beziehungen seien die Sozialarbeiter/innen »relationierend«13 tätig, sie suchten den Dialog, verteilten Verantwortung und Schuld oder instrumentalisierten die Asymmetrien zwischen den Akteuren (ebd.: 200). Sie agierten, so die Autor/innen, innerhalb der habituellen Praxismuster, »sowohl als dialogische und zurückgenommene Akteure [...] als auch als übernehmende Stellvertreter« (ebd.: 212). Im Fortgang der Arbeit wird zu beachten sein, wie es Sozialarbeiter/innen gelingt, als Akteure, eingewoben in soziale Netze, als Teil der »familialen Figuration«, Entscheidungen in Fällen von Kindeswohlgefährdung zu treffen.14
12 Zudem bemerken sie, dass die verschiedenen Formen der kollegialen Beratung nicht jene Kontroversität und Multiperspektivität der Diskussion über einen Fall erzeugen, die sie versprechen (Thole et al. 2010: 7). Dies ist für den weiteren Verlauf der vorliegenden Arbeit von Interesse, da angenommen werden kann, dass Entscheidungen insbesondere auch in Interaktionssituationen, z. B. Teamsitzungen, zur Begründung gebracht werden müssen. 13 Vergleiche hierzu auch die Arbeit von Köngeter (2009), auf den sich Retkowski und Schäuble (2010) ebenfalls beziehen. 14 Eine Beobachtungsweise, die wie die von Retkwoski, Schäuble und Thole Akteure derart in Vordergrund rückt, nimmt allerdings möglicherweise in Kauf, organisationale, interaktive und arbeitsprozessbezogene Einflüsse etwas aus dem
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2.2.1.3 Verantwortungsvolle Einzelentscheider Kotthaus (2010) zielt u. a. auf die »Gewinnung eines Überblicks über Meinungen, Einstellungen und Rahmenbedingungen von Mitarbeiter(innen) der Jugendhilfe« (ebd.: 162). Vor allem soll gezeigt werden, wie Kinder und Jugendliche an der Entscheidung über Fremdunterbringungen beteiligt werden.15 In diesem Kontext wurde eine Fragebogenuntersuchung durchgeführt. Zur Datenerhebung wurden alle Jugendämter Nordrhein-Westfalens angeschrieben (n=178). 130 Ämter antworteten, was zugleich die Datengrundlage der Untersuchung darstellt (ebd.: 163 ff.). Sozialarbeiter/innen wurden befragt, was sie als wichtig erachten, wenn sie sich für eine stationäre Hilfe zur Erziehung entscheiden.16 Hierzu wurden »zehn Statements« im Fragebogen vorgegeben, unter denen die Befragten wählen konnten. Die folgende Tabelle zeigt, welche »Entscheidungsimpulse« die Sozialarbeiter/innen als bedeutsam ansehen. Die Bedeutung der einzelnen Faktoren wurde von den Befragten auf einer Skala eingeschätzt, die sich zwischen den Polen »keine Rolle« und »wichtige Rolle« bewegte. Die Tabelle 3 zeigt, dass die Befragten im Prinzip alle vorgegebenen Entscheidungsimpulse als mehr oder minder gleich wichtig ansahen. Kotthaus weist selbst auf diese »Gleichrangigkeit« zwischen den »Entscheidungsfaktoren« (ebd.: 186) hin.
Blick zu verlieren. Dies steht in einem nicht gänzlich aufgelösten Widerspruch zur Verwendung des Begriffs Praxismuster durch die Autor/innen. Mit dem Begriff des Praxismusters deuten die Autor/innen an, dass ihr Verständnis über eine reine Zuschreibung auf Personen und Akteure hinausgeht. Der Begriff der Praxis impliziert, dass Handlungen nicht nur von Personen, sondern auch in Situationen, Interaktionen bzw. in und durch Institutionen, musterhaft hervorgebracht werden (vgl. Schmidt 2012). 15 Die Fremdunterbringung bezeichnet der Autor dabei als Zuspitzung, als »Explikation« der Hilfen zur Erziehung (ebd.: 125 ff.). 16 Befragt wurden »Mitarbeiter(innen) in Entscheidungsfunktion« (ebd.: 162), »welche im Bereich der erzieherischen Hilfen tätig sind« (ebd.).
4 (3,1%) 16 (12,4%)
0 (0,0%) 3 (2,3%)
Meinung/Wünsche des Vormunds
61 (46,92%) 46 (35,7%)
67 (51,4%)
59 (45,3%) 67 (52,5%) 70 (54,2%) 65 (50,0%) 64 (49,2%) 70% (54,2%)
50 (38,4%)
25 (19,2%) 29 (22,5%)
24 (18,4%)
59 (45,38%) 42 (32,31%) 39 (30,2%) 34 (26,2%) 30 (23,1%) 26 (20,1%)
129
130
130
129
130
130
129
130
130
130
N=
2,64
2,82
2,82
2,89
2,92
3,02
3,09
3,16
3,36
3,36
-X
F ORSCHUNG
(Quelle: Kotthaus 2010: 164, Prozentwerte aufgerundet)
40 (30,1%) 35 (27,1%)
31 (23,4%)
10 (7,7%) 21 (16,2%) 15 (11,6%) 30 (23,1%) 32 (24,62% 26 (20,2%)
12 (9,2%)
Wichtige Rolle 65 (65%)
DER
Vorgaben des JA (Hierarchie)
8 (6,5%)
2 (1,5%) 0 (0,0%) 3 (2,3%) 1 (0,8%) 4 (3,1%) 7 (5,4%
3 (2,3%)
0 (0,0%)
0 (0,0%) 0 (0,0%) 2 (1,6%) 0 (0,0%) 0 (0,0%) 0 (0,0%)
Keine Rolle 0 (0,0%)
Ärztliche/psychologische Berichte
Gutachterliche Stellungnahmen
Eigene Intuition
Meinung/Wünsche der Eltern
Eigene Diagnostik, PSD, Wirkfaktoren
Meinung/Wünsche des Kindes
Eigene (Berufs-)Erfahrung
(Fall-)Besprechungen mit Kolleg/innen
Entscheidungsimpuls
Tabelle 3: Entscheidungsimpulse nach Kotthaus
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Kotthaus errechnet aus den Antworten der Befragten Mittelwerte, um die mittlere Zustimmung zu ermitteln und stellt fest, dass »sieben der zehn Statements zwischen mittleren Werten von 2,82 und 3,16 [liegen]« (ebd.: 175).17 Er erklärt dies damit, dass die Sozialarbeiter/innen über ein ausgeprägtes »Verantwortungsbewusstsein« (ebd.) verfügten, sich verpflichtet fühlten, möglichst alle wichtigen Aspekte des Falls zu erfassen. Er gibt zu bedenken, man könne dies auch »als Lähmung der verantwortlichen Mitarbeiter(innen) interpretieren« (ebd.), die angesichts der Vielzahl der als wichtig erachteten Statements eine gewisse Orientierungslosigkeit entwickeln. Letzteres weise wiederum auf »pädagogische Isolation« und »die Uneinlösbarkeit fremder und eigener Ansprüche« (ebd.) hin. Die Tatsache, dass die Befragten im Prinzip alle genannten Statements als wichtig erachten, bringt überdies noch einen anderen Zusammenhang hervor: Der Autor hatte zehn Statements vorgegeben, die jeweils vorwegnehmen, welche Faktoren für das Entscheiden der Sozialarbeiter/innen bedeutend sein könnten (bzw. auch: sein sollten). Die Befragten bestätigten diese Annahme des Forschers, indem sie den vorgeschlagenen Statements zustimmen. Man kann daher vielleicht nicht erkennen, was im Entscheidungsprozess wirklich wichtig ist. Zu sehen ist aber, wie und mit welchen Erwartungen die Sozialarbeiter/innen als Entscheider/innen konfrontiert werden. Die Befragten demonstrieren zugleich, dass sie (zumindest in ihrem Antwortverhalten) bereit sind, den an sie gestellten Erwartungen zu entsprechen: Es wird ein Idealtypus des sozialarbeiterischen Entscheidens sichtbar. Die Erwartung ist offenbar, Sozialarbeiter/innen seien gewissermaßen rationale Einzelentscheider, die allerdings die Wünsche aller Beteiligten, »ärztliche/psychologische Berichte«, die eigene »Berufs- (Erfahrung)«, »Intuition« und noch einiges mehr im Entscheidungsprozess zu berücksichtigen haben.18
17 Alleine die Statements »(Fall-)Besprechungen unter Kolleginnen« (ebd.: 174) und die »[e]igene (Berufs)-erfahrung« (ebd.) heben sich als besonders bedeutsam ab. 18 Zum Typus des rationalen Entscheiders halten Hodgkinson und Starbuck (2008) mit Bezug auf March (1994) fest, dass derartige Ansätze davon ausgehen, dass jeder Entscheidungsträger: »1. Knows all the alternatives for action; 2. knows all the consequences of every alternative action, at least well enough to be able to state a probability distribution; 3. has a consistent preference ordering for alternative courses of action; and 4. uses decision rules that can select a single action
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2.2.2 Institutions- und organisationsbezogene Ansätze In den letzten Jahren wurden wiederholt Versuche unternommen, übergreifende Tendenzen und Rationalitäten für das »Handlungsfeld Kinderschutz« (Bode et al. 2012: 5) festzustellen. Im Folgenden geht es daher um Studien, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, Tendenzen für das Handlungsfeld aufzuzeigen, die das Individuum gewissermaßen übersteigen. Zunächst wird auf widerstreitende Kinderschutzverständnisse eingegangen, um dann einen Blick auf widerstreitende Rationalitäten im Feld zu werfen. 2.2.2.1 Tendenzen im Kinderschutz Im Projekt »Aus Fehlern lernen« (Wolff et al. 2013a) wurde das Ziel verfolgt, im Feld des »kommunalen Kinderschutzes«, prägende »Kinderschutzverständnisse« herauszuarbeiten.19 Im Kontext dieses Projektes, auf dessen Ergebnisse im Folgenden Bezug genommen wird, wurden daher Professionelle aus unterschiedlichen Berufssystemen zu ihrem Verständnis von Kinderschutz befragt. Die Ergebnisse wurden einer berufsgruppenübergreifenden Typisierung zugeführt.20 Mit dem Blick über alle Berufs-
to take« (ebd.: 6.). Man kann hierin gleichsam die Kritik erkennen, dass solche Modelle die Komplexität praktischer Arbeitszusammenhänge verfehlen. 19 Im Rahmen des Projektes wurden zudem Qualitätsentwicklungswerkstätten an 12 Modellstandorten mit insgesamt 42 beteiligten Kommunen durchgeführt (Wolff et al. 2013a). Hier wurden erste Ansätze des Lernens aus Fehlern sowie entsprechende Qualitätsstandards entwickelt. Zur Betrachtung der kommunalen Organisationsweise öffentlicher Hilfe vgl. bereits Vogel (1966). 20 Der qualitativen Analyse liegt eine Kombination aus unterschiedlichen Datensorten (Interviews, Beobachtungsprotokolle, Akten) zu Grunde, die zunächst ›für sich‹ bearbeitet und dann einer »Triangulation« zugeführt wurden (Flick 2010b, Wolff et al. 2013a: 77-85). Der Schwerpunkt der Analyse lag jedoch auf der Untersuchung der Interviews, die in der Mehrzahl mit Sozialarbeiter/innen des ASD, aber auch mit deren Kooperationspartner/innen, mit Richter/innen, Polizist/innen, Ärzt/innen und Sozialarbeiter/innen der freien und gemeinnützigen Träger geführt wurden (zum Sampling s. ebd.: 77). Neben der qualitativen Analyse wurde ebenfalls eine »Basisdatenanalyse« durchgeführt, die auf deskriptiver Statistik beruht und kommunale Tendenzen im Kinderschutz herausstellt. Die Studie erfolgte als Vollerhebung in allen 42 beteiligten Kommunen und wurde zur »Beschreibung des Untersuchungsfeldes« genutzt (vgl. Wolff et al.
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gruppen und Datensorten kondensieren die Autor/innen ihre Ergebnisse schließlich auf zwei Typen, die sich gewissermaßen gegenüberstehen: • •
Kinderschutz als Praxis der Überprüfung, Ermittlung und helfenden Intervention« (ebd.: 130 f.), Kinderschutz als Praxis ganzheitlicher und gemeinwesenorientierter Hilfeaktion (ebd.: 137 f.).
Im ersten »Praxisverständnis«, steht die reaktive Absicherung des Kindeswohls im Vordergrund. Mit der zweiten Variante wird betont, dass es im Kinderschutz um Vorgehensweisen geht, die im Gemeinwesen verankert sind und Hilfe präventiv anbieten. Die Autoren berichten, dass die erste Logik tendenziell als häufiger zu beobachten war. Hildenbrand (2011) rekonstruiert auf ähnlich gegenüberstellende Weise – aus symbolischinteraktionistischer Perspektive – Handlungslogiken, die das Feld des Kinderschutzes prägen. Der »Logik des Verdachts« stellt er die »Logik der Anerkennung« gegenüber. Der verdächtigende Modus gefährde Arbeitsbeziehungen, der anerkennende stütze sie (ebd.: 53 f.). Beide Veröffentlichungen lassen eine normative Aufladung der Typisierungen erkennen: In den Gegenüberstellungen weist jeweils der erste
2013a: 117). Die Fragebögen wurden an die öffentlichen Träger der Kinder- und Jugendhilfe (in der Regel die Jugendämter) übermittelt. Dabei wurden demographische Daten (bezogen auf die Landkreise bzw. die kreisfreien Städte) erhoben, sowie Angaben über die Form der Bearbeitung von Kindeswohlgefährdungen sowie die Gewährung von Hilfen zur Erziehung erbeten. Die Studie zeigt u. a., dass der Einsatz von Hilfen zur Erziehung, d. h. auch der Fremdunterbringung, kommunal sehr unterschiedlich gehandhabt wird. So sind in einigen Kommunen annährend 11% aller Kinder und Jugendlichen Adressat/innen von Hilfen zur Erziehung, während es in anderen Kommunen nur 2% sind (ebd.: 121). In der Veranlassung von vorläufigen Schutzmaßnahmen konnten ebenfalls regionale Unterschiede festgestellt werden. Hier ergab sich eine Korrelation zwischen Arbeitslosigkeit der Eltern und der Inobhutnahme von Kindern: Je mehr Haushalte Leistungen gemäß des SGB II erhielten, desto mehr Kinder und Jugendliche wurden in Obhut genommen (ebd.: 121). Eger (2009) weist ebenfalls daraufhin, dass bei »soziale[n] Belastungen« (ebd.: 32) in der Bevölkerung die »Wahrscheinlichkeit [steigt], dass es zu Überforderungen kommt, die eine stationäre Erziehungshilfe erforderlich machen können« (ebd.: 33).
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Typus einen eher kontrollierenden, verdächtigenden Charakter auf, während die zweite Typisierung jeweils einen ›freundlichen‹, unterstützenden Charakter hat. Die Betrachtung dieser feldtypischen »Logiken« lässt erahnen, mit welchen Spannungsfeldern im Rahmen der Feldforschung bei der Untersuchung von Entscheidungsprozessen zu rechnen ist. Die entworfenen Bilder scheinen jedoch etwas grobkörnig, so als ob sie nur zwei Pole eines Kontinuums bezeichnen würden. 2.2.2.2 Exkurs: Hilfe und Kontrolle Die sich gegenüberstehenden Logiken von Wolff et al. (2013a) und Hildenbrand (2011) erinnern nicht zuletzt an das klassische, sozialpädagogische Dilemma von Hilfe und Kontrolle. Zahlreiche Autoren haben, gerade auch für die Kinderschutzpraxis betont, dass die Arbeit im Jugendamt gleichermaßen Aspekte von Hilfe und Kontrolle beinhaltet, dass sie daher von den Praktiker/innen verlangt, diese Widersprüchlichkeit auszubalancieren (Urban 2004, Suess und Hammer 2010, ferner Schütze 1992). Von Wissenschaftler/innen wird der Aspekt der Kontrolle dabei traditionellerweise ablehnend-kritisch betrachtet (vgl. die Ausgabe 09/2008 der Zeitschrift »Widersprüche« mit dem instruktiven Titel: »Euch werden wir helfen! Kinderschutz zwischen Hilfe und Kontrolle«). Lutz (2010) kommt auf Basis seiner Interviewstudie allerdings zu dem Ergebnis, dass man mittlerweile von einer gewissen Normalisierung des »doppelten Mandats« für den Bereich der Kinder- und Jugendhilfe sprechen könne (ebd.: 270): Die Akteure im Handlungsfeld empfänden zwar ein Unbehagen, wenn sie zu Kontroll- und Zwangsmitteln griffen. Doch komme es insgesamt zu einer zunehmenden Akzeptanz der Kontrollfunktion, d. h. der Annahme, dass Sozialarbeiter/innen Kontrolle auszuüben hätten. Die Frage sei dann nur noch, welche Mittel der Kontrolle legitim erscheinen bzw. »wie viel Zwang in der Hilfe sein darf« (ebd.: 271). Die Einführung des Bundeskinderschutzgesetzes sowie des Paragraphen 8a im SGB VIII werden von einigen Kommentator/innen mit einer erstarkenden Bedeutung der Kontrollfunktion Sozialer Arbeit in Verbindung gebracht. Höynck und Haug (2012) konstatieren etwa, dass der »ohnehin schon im Tätigkeitsbereich der Jugendhilfe angelegte Rollenkonflikt zwischen Hilfe und Kontrolle […] sich durch die Einführung des § 8a SGB VIII weiter intensiviert [habe]« (ebd.: 33). Czerner (2012) betont im selben Band, dass die »Schaffung von § 8a SGB VIII im Rahmen des KICK im
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Jahr 2005 […] die untrennbare Verbindung von Hilfe und Kontrolle« in der Arbeit Jugendämter noch einmal deutlich gemacht hat (ebd.: 73).21 2.2.2.3 Ökonomische und demokratische Rationalitäten Zuletzt wurde von Wissenschaftler/innen immer wieder das Einfließen »bereichsfremder Logiken in die Soziale Arbeit« (Bode et al. 2012: 9) beobachtet. Besonders häufig wird eine zunehmende »Ökonomisierung« sozialer Dienste beklagt (Seithe 2010, 188, auch Biesel 2011: 38, Buestrich et al. 2010, Bode 2012: 185 f.). Seithe sieht dabei die Soziale Arbeit überhaupt, aber auch die Jugendämter, in Gefahr, zu »Erfüllungsgehilfen« einer gesamtgesellschaftlichen Ökonomisierung zu werden (ebd.: 93). Dies hat nach ihrer Einschätzung erhebliche Auswirkungen auf die Fallarbeit der Jugendämter. Die MitarbeiterInnen der Allgemeinen Sozialen Dienste müssen neben den Klienteninteressen vor allem auch die fiskalischen Interessen der Kommune vertreten und vorgegebene Budgets durchsetzen. (Seithe 2010: 188)
Zunehmend, so Seithe (2010), sähen die Sozialarbeiter/innen der Jugendämter sich veranlasst, »ökonomischen Strukturen« Rechnung zu tragen, um kurzfristige Einsparungen durchzusetzen, anstatt sich in der Fallarbeit an »fachlichen« Kriterien zu orientieren (ebd.: 188). Dies habe Auswirkungen auf die Entscheidungen über Fremdunterbringungen. Ambulante Hilfen würden gegenüber der stationären Unterbringung präferiert, selbst »wenn eigentlich klar ist, dass die ambulante Hilfe nicht greifen kann [...] und nicht ausreicht, um das Wohl eines Kindes [...] zu sichern« (ebd.: 189). Mit der Formulierung neuer Gesetze, der Ausbildung von »insofern erfahrenen Fachkräften« und auch Bemühungen der Organisationsentwicklung komme es überdies zu einer regelrechten Malträtierung des Jugendam-
21 Krause (2014) spricht bezüglich der Arbeit des Jugendamtes von einem Spannungsverhältnis zwischen Hilfe und Eingriff. Einerseits sei das Jugendamt für Schutz der Kinder und die Unterstützung der Eltern zuständig. Andererseits könne Eingriff notwendig werden, wenn das Kindeswohl gefährdet sei. Bedenkenswert erscheint daran die Erweiterung des Begriffspaars von Hilfe und Kontrolle auf eine dreiwertige Begriffskonstellation. Kontrolle ist in der Konzeption, wie Krause sie vornimmt, eine Art Zwischenzustand zwischen Eingriff und Hilfe.
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tes mit immer neuen Steuerungsbemühungen. So berichtet Turba (2012) von zahlreichen »Bemühungen [...], den Kinderschutz durch gesetzlich administrative Regulierungen effektiver zu gestalten« (ebd.: 79). Den »eindringenden« Logiken des Rechts, der Ökonomie bzw. auch des Managerialismus Bode (2012: 177) stellen engagierte Wissenschaftler/innen dann typischerweise wertbasierte Handlungslogiken gegenüber. Für die Kinderschutzpraxis wurde etwa immer wieder eine »demokratische Rationalität« eingefordert (vgl. u. a. Wolff 2007, Marquard 2002), deren Umsetzung jedoch, gerade angesichts des Übergreifens ökonomischer Logiken, als problematisch beschrieben wird (Biesel 2011: 38).22 Die »Spielräume für sozialpädagogisch-rationale Praxis« (Bode et al. 2012: 9) werden als zunehmend eingeschränkt angesehen. Überhaupt werden Steuerungsbemühungen, die darauf abzielen, die Arbeit der Jugendämter zu verbessern, von Wissenschaftler/innen immer wieder kritisch betrachtet23: »Beklagt wird [von der Fachwelt, TA] nicht nur die (relative) Wirkungslosigkeit einzelner Maßnahmen, sondern [...] sogar kontraproduktiver ›Aktionismus‹« (Turba 2012: 79). Eger (2009) untersucht die Wirkung von Steuerungsbemühungen für das Entscheiden in Jugendämtern in seiner umfangreichen, empirischen Studie. Er nimmt eine organisationstheoretische Perspektive ein, die Organisationen als soziale Systeme in den Blick nimmt.24 Eger will zeigen, »wie Jugendämter entscheiden« (so der Titel der Studie), dabei analytisch auf Organisationen (und eben nicht auf Individuen) zugreifen. Hierzu untersucht der Autor Ma-
22 Aus interaktionistischer Perspektive stellt auch Retkowski (2012a) heraus, dass das Handeln der Sozialarbeiter/innen durch Orientierung an »Kosteneffizienz« geprägt ist, betont aber zugleich, dass eine Vielfalt von Rationalitäten wirksam ist (ebd.: 232). 23 Im deutschsprachigen Raum hat insbesondere Luhmann darauf aufmerksam gemacht, dass Organisationen lebendigen Organismen ähneln (vgl. z. B: Luhmann 2000b). Organisationen erscheinen in dieser Perspektive als autopoietische Systeme, die Einwirkungen aus der Umwelt als »Irritationen«, d. h. nach Maßgabe ihrer eigenen Strukturen verarbeiten. Sie können daher, so der Ansatz der systemtheoretischen Organisationsforschung, nur schwer von außen, z. B. durch Organisationsberatung, zielgerichtet gesteuert werden. 24 Eger (2009) fragt u. a. nach »Erwartungen« und deren organisationaler Verankerung, forscht nach »Entscheidungsprämissen«, nach den strukturellen, organisationsbezogenen Voraussetzungen des Entscheidens.
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terialien aus dem Kontext der Ämter. In Egers Analyse erscheint die Organisation als operativ geschlossenes System, in dem Entscheidungen an Entscheidungen anknüpfen, so wie dies bei Luhmann (2000b) entfaltet wird. Die Eingrenzung der Entscheidungsalternativen ergibt sich demnach daraus, dass Entscheidungen in Organisationen immer bisherige Entscheidungen zu berücksichtigen haben. Das Entscheiden muss sich, diesem Ansatz folgend, immer an dem schon Entschiedenen ausrichten. Mit seinen systemtheoretischen Überlegungen nimmt Eger (2009) in Kauf, den praktischen Vollzug der Entscheidungsprozesse im Jugendamt aus dem Blick zu verlieren. Auch die Antwort auf die Frage, »warum sich bestimmte Elemente als Erwartungen durchsetzen« (ebd.: 127), wird nicht immer deutlich. Steuerungsbemühungen bezüglich des Entscheidungsverhaltens beurteilt Eger vor dem systemtheoretischen Hintergrund skeptisch.25 Jugendämter erscheinen vor diesem Hintergrund als »autopoietische«, abgeschlossene und gewissermaßen widerspenstige Systeme: das Arbeitsfeld scheint überhaupt schwer von außen, etwa durch die Politik, zu steuern. Andererseits werden Jugendämter als durchdrungen von ›feldfremden‹, insbesondere ökonomisch-managerialen und kontrollierenden Rationalitäten beschrieben. Insgesamt ergibt sich daher das widersprüchliche Bild eines Arbeitsfeldes, in dem verschiedene, teils widerstreitende »Logiken« miteinander koexistieren und – so können wir nur vermuten – von den Sozialarbeiter/innen in Entscheidungsprozessen auf die eine oder andere Weise zu berücksichtigen sind.
25 Mit seiner kritischen Haltung gegenüber Steuerungsversuchen stimmt Eger mit einer Vielzahl weiterer, gerade systemtheoretischer inspirierter Autor/innen überein, die betonen, dass Steuerung letztlich auch immer Selbststeuerung der Organisation meint (vgl. nur Willke 2014). Zuletzt hat z. B. Turba (2012) diese Position im Hinblick auf politische Steuerungsversuche im Feld des Kinderschutzes vertreten. Er konstatiert, »dass politische Direktiven zwar zur Reflexion anregen, aber Arbeits- und Entscheidungsabläufe nicht eindeutig determinieren können« (ebd.: 83). Bode (2012) sieht zwar im Rahmen einer »Ausbreitung der managerialistischen Rationalität im Kinderschutz« (ebd.: 194) ebenfalls vermehrte Versuche der Steuerung. Allerdings ist auch er skeptisch, ob derartige Anstrengungen in »einem unberechenbaren Organisationsfeld« (ebd.) gelingen können.
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2.2.3 Interaktions- und arbeitsprozessbezogene Ansätze In den letzten Jahren lässt sich beobachten, dass Forscher/innen zunehmend Interaktions- und Arbeitsprozesse im Jugendamt in den Fokus rücken. Im Folgenden gehe ich auf jüngere Veröffentlichungen ein, die diesen Ansatz verfolgen. Schäuble (2012) untersucht, um eine erste Studie zu nennen, anhand ethnographischen Materials die »Interaktion zwischen ASD und Familiensystem« (ebd.: 238).26 Die Untersuchung zielt darauf ab zu zeigen, wie »Kinderschutz im Kontext von Programmatiken praktisch ›gemacht‹ wird« (ebd.: 237) – jenseits »einer programmatischen Perspektive mit Blick darauf, was getan werden soll« (ebd.). Als Muster in der institutionalisierten Kinderschutzarbeit, zugleich als Ergebnis der ethnographischen Analyse, beschreibt sie, wie »SozialarbeiterInnen in Interaktionen mit Familienmitgliedern explizit und implizit Zukunftserwartungen kommunizieren« (ebd.: 237). Die kommunizierten Erwartungen könnten nicht folgenlos bleiben, werden vielmehr, so die Autorin, zu bedeutsamen Aspekten in der Fremd- und Selbsteinschätzung der Adressat/innen27 (vgl. ebd.: 242 ff.). Dabei gingen, so Schäuble, mit der Konstruktion des Adressat/innen-Bildes zugleich mögliche (und unmögliche) Interventionsformen, mit anderen Worten Optionen der Entscheidung einher (in diesem Sinne auch Hall et al. 2003). Die regelhafte Kommunikation von Zukunftserwartungen, wie sie in den Arbeitszusammenhängen des Amtes offenbar hervorgebracht wird, zeuge, so Schäuble (2012), von einer veränderten Rationalität im Handlungsfeld. Die Kinderschutzpraxis werde nämlich zunehmend auf Einschätzung, Risikomanagement und Entscheidung ausgerichtet. Die Einschätzungs- und Entscheidungslogik stellt sie dabei Kooperationsbeziehungen entgegen (vgl. ebd.: 246). Für den Zusammenhang dieser Studie scheint interessant zu verfolgen, wie Sozialarbeiter/innen (Zukunfts-)Erwartungen
26 Die Autorin nutzt dabei ethnographisches Datenmaterial aus dem bereits weiter oben vorgestellten Projekt UsoPRax. 27 Ich spreche hier und im Folgenden von den Adressat/innen des Jugendamtes, seltener auch von Klient/innen. Ob besser von Kund/innen oder Nutzer/innen zu sprechen wäre, dies ist in der Fachdiskussion umstritten, jeder Begriff hat dabei problematische Implikationen (vgl. hierzu den interessanten Beitrag von Großmaß 2011, auch Oelerich und Schaarschuch 2005b, Bitzan et al. 2006 und Graßhoff 2013).
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gegenüber ihren Adressat/innen formulieren und vor allem auch, wie sie allgemein ihr Gegenüber »entwerfen« (ebd.: 242). Zweitens könnte im weiteren Verlauf von Interesse sein, ob und wie es den Beschäftigten des Amtes gelingt, einerseits kooperative Beziehungen aufrechtzuerhalten und dies andererseits mit Logiken des Entscheidens und des Einschätzens zu verbinden. Retkowski (2012b), die vor dem Hintergrund des gleichen Forschungsprojektes veröffentlicht, beschreibt den ASD entsprechend »als kollektives Interpretations- und Entscheidungssystem« (ebd.: 219). Sie macht »TeamLeitungs-Kommunikationen über Kinderschutzfälle« (ebd.) zum Gegenstand ihrer Untersuchung. Dabei berichtet sie von »polarisierte[r] Kommunikation« (ebd.: 231), in der die Leitung und das ASD-Team in der »Entscheidungsfindung« (ebd.: 230) gegensätzliche Positionen beziehen: [D]ie ASD-Mitarbeiterinnen [sic!] [favorisierten] einen kollektiven Entscheidungsprozess, bei dem sowohl verschiedene Professionen als auch verschiedene Hierarchieebenen beteiligt sind. […] Die ASD-Leitung hingegen repräsentierte das Modell eines zunächst individuell verantworteten und dann von der Leitungsebene kontrollierten Entscheidungsgangs. (Ebd.: 230)
Die unterschiedlichen Positionen von Leitungspersonal und fallzuständigen Sachbearbeiter/innen bringt die Autorin damit in Verbindung, dass die Mitarbeiter/innen auf der unteren, der ausführenden Hierarchieebene »zunehmende[r] Handlungsunsicherheit« (ebd.: 231) ausgesetzt seien. Es herrsche »Angst vor organisationaler Isolation und Delegitimierung« (ebd.). Die Sozialarbeiter/innen hätten daher den »artikulierte[n] Wunsch, sich in einer Verantwortungsgemeinschaft kollektiv abzustimmen und abzusichern« (ebd.). Dem steht das Interesse des Leitungspersonals gegenüber, Entscheidungen zu kontrollieren, die Verantwortung jedoch bei den einzelnen Sachbearbeiter/innen zu belassen. Die Betrachtungen von Retkowski und Schäuble deuten an, dass das Entscheiden über Fälle von Kindeswohlgefährdungen offenbar über das bloße Abwägen von Optionen hinausgeht. In den Blick kommen vielmehr (gegenläufige) Interessen sowie Prozesse, in denen Verantwortung für Entscheidungen interaktiv verhandelt wird. Pothmann und Wilk (2012) zeigen ebenfalls, dass das Entscheiden in Fällen von Kindeswohlgefährdung über ein (rationales) Entscheiden anhand bestimmter Kriterien hinausgeht. Für ihre Untersuchung baten sie So-
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zialarbeiter/innen, Fallvignetten in einer Gruppe zu diskutieren.28 Die Probanden wurden gebeten, nach Sichtung einer Fallbeschreibung Interventionen vorzuschlagen. Als Ergebnis ihrer Analyse halten die Autor/innen fest, »dass oftmals sowohl Fachkräfte als auch Teams bei ein und demselben Fall zu fachlich unterschiedlichen Einschätzungen [...] kommen« (ebd.: 159). Dies gelte sowohl für das Ergebnis der »Entscheidung über Hilfen und Unterstützungsleistungen« (ebd.:) als auch für den Prozess, für die »Art und Weise der Entscheidung« (ebd.). Die Einschätzungen seien häufig derart disparat gewesen, dass z. B. in den Einschätzungen der Teams nur darüber Einigkeit bestanden habe, »dass der ›Fall Christel‹ in der Zuständigkeit der Kinderund Jugendhilfe liegt« (ebd.: 160). Ganz ähnlich stellen Gold et al. (2001) fest, dass einzelne Personen oder auch Gruppen von Sozialarbeiter/innen in der Bewertung ein und desselben Falls häufig zu sehr unterschiedlichen, z.T. sogar zu gegensätzlichen Bewertungen kommen. Die Disparität der vorgeschlagenen Entscheidungen kann einerseits ein Hinweis auf die Kontingenz des professionellen Schlussfolgerns verstanden werden (Klatetzki 2005: 267 f.): Die Verbindungen zwischen beobachteten Problemen und vorgeschlagenen Lösungen scheinen immer auch anders möglich zu sein. Jedenfalls liegen keine einfachen, eindeutigen, standardi-
28 Die Forschungsmethode ist international verbreitet (vgl. u. a. Mandel et al. 1994, Williams und Soydan 2005, Osmo und Benbenishty 2004). Gruppen von Sozialarbeiter/innen (in anderen Untersuchungen auch einzelne Personen) werden konstruierte Fallbeschreibungen (Fallvignetten) vorgelegt. Die Beteiligten werden in der Regel gebeten, eine Einschätzung des Falls sowie eine Empfehlung für eine geeignete Hilfsmaßnahme abzugeben; im Anschluss werden dann die Ergebnisse der Falleinschätzungen und Handlungsempfehlungen verglichen. Pothmann und Wilk (2012) legten Gruppen von Beschäftigten des ASD vier unterschiedliche Fallvignetten vor. Zur Datenerhebung wurden die »Teamberatungen aufgezeichnet und transkribiert sowie beobachtet und protokolliert (ebd.: 158). Für die Bewertung solcher Studien sollte immer bedacht werden, dass sie auf der Basis von eigens für die Forschung geschaffenen Situationen ihre Ergebnisse erzielen. D. h. auch, dass prozess- und situationsbezogene Aspekte durch das Forschungsdesign ausgeschaltet werden. Die Sozialarbeiter/innen wissen nur das, was in der Fallvignette steht, sie können keine weitere Informationsarbeit leisten, müssen die fiktive Entscheidung auch nicht im Rahmen ihrer Zuständigkeit, ggf. vor echten Klient/innen, verantworten usf.
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siert verwendbaren Kausalpläne (Luhmann und Schorr 1982: 19) für das Verbinden von Lösungen und Problemen vor. Andererseits betonen Pothmann und Wilk (2012), dass die getroffenen Entscheidungen zwar gegensätzlich und unterschiedlich, nie aber willkürlich waren, sondern stets auf fachlichen Begründungen fußten. Für die vorliegende Studie stellt sich angesichts dessen die Frage, wie die Sozialarbeiter/innen zu begründbaren Entscheidungen kommen. Pothmann und Wilk (2012) betonen darüber hinaus, dass keinesfalls davon auszugehen ist, »dass eine Teamentscheidung die Summe oder eine Zusammenfassung der einzelnen Bewertungen der beteiligten Fachkräfte ist« (ebd.: 164) und dass das Ergebnis der Entscheidung auch davon abhängt, wie die Sozialarbeiter/innen ihre Einschätzungen interaktiv einbringen. Pothmann und Wilk machen zudem deutlich, dass der Verlauf und das Ergebnis der Teamberatung aus ihrer Sicht entscheidend durch die »Führungsstile« der moderierenden Personen und Leitungsfiguren geprägt werden. Die Autor/innen bekommen zwar nur fiktive Prozesse im Rahmen einer simulierten Entscheidungssituation in den Blick; ihre Untersuchung bringt aber doch einen Eindruck davon hervor, wie Entscheidungsprozesse im Kinderschutz durch interaktionelle Aspekte, etwa den Leitungsstil etc. entscheidend beeinflusst werden. Interessant erscheint für den Zusammenhang dieser Arbeit überdies, dass sobald der Blick der Forscher/innen sich wie in den Studien von Retkowski, Schäuble und Pothmann auf Prozesse der Interaktion bzw. auf Arbeitsabläufe richtet, vermeintlich »harte« Entscheidungskriterien (wie sie z. B. in der Studie von Kotthaus 2010 dargestellt werden) eher in den Hintergrund rücken. Es wird deutlich, dass Entscheidungen offenbar »(Berufs)Erfahrung« (Kotthaus 2010) zu berücksichtigen haben, darüber hinaus aber auch und gerade in Interaktionen, durch »Wahrnehmungs-, Definitions- und Entscheidungsprozesse« (Pothmann und Wilk 2012) hervorgebracht werden.
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2.3 P ARTIZIPATION ZWISCHEN ANSPRUCH UND W IRKLICHKEIT Viele empirische Studien zeigen, dass der fachlich und gesetzlich verankerte Partizipationsanspruch noch nicht realisiert ist. (PLUTO 2008: 196) Partizipation, Teilnahme oder Beteiligung bezieht sich auf die Art und Weise, in der Individuen oder soziale Gruppen ihren freien Willen zum Ausdruck bringen, Entscheidungen treffen oder Einfluss auf Entscheidungen nehmen können. (LIEBEL 2009: 480)
Partizipation von Eltern, Kindern und Jugendlichen im Feld der Kinderund Jugendhilfe ist seit mehr als »40 Jahren Gegenstand intensiver fachlicher Bemühungen« (Rätz-Heinisch et al. 2009: 249). Entsprechend hat die Kinder- und Jugendhilfeforschung immer wieder gefragt, ob und wie es gelingt, der »Stimme der Adressat/innen« (Bitzan et al. 2006) Gehör zu verschaffen. Die Bedeutung von Partizipation für die Wirksamkeit der Kinderund Jugendhilfe wurde verschiedentlich hervorgehoben (Rätz-Heinisch et al. 2009: 222, Albus 2010).29 Gefestigt wurde der Partizipationsgedanke zu-
29 Yoshida et al. (1978) kommen interessanterweise zu dem Ergebnis, dass auch unter den Professionellen die Partizipation an Entscheidungen nicht immer umgesetzt werden kann – zugleich die Zufriedenheit der Beteiligten aber mit der gelungenen Partizipation ansteigt. Aus organisationspsychologischer Perspektive untersuchen sie, inwieweit sich gruppengestützte, interdisziplinäre Prozesse eignen, das Entscheiden in pädagogischen Kontexten voranzubringen. Hierzu nutzten sie eine breit angelegte Fragebogenstudie, in der sie über 1500 Informanden zu Entscheidungsprozessen befragten. Dass insbesondere die Möglichkeit zur Partizipation am Entscheidungsprozess die Zufriedenheit der Gruppenbeteiligten steigert, stellen sie als zentrales Ergebnis heraus. Allerdings partizipieren die Beteiligten in sehr unterschiedlichem Maße. Ein großer Teil der Befragten sah sich in einer »passiven Rolle« (ebd.: 243, eigene Übersetzung, TA). Insbesondere die beteiligten Lehrer sahen sich weniger aktiv und waren entsprechend unzufrieden (ebd.: 242). Die Psychologen sahen sich hingegen aktiv an
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dem mit der Neufassung des Kinder- und Jugendhilfegesetztes im SGB VIII, das die Beteiligung von Kindern und Jugendlichen für alle sie selbst betreffenden Entscheidungen vorsieht (Marburger 2011: 15, SGB VIII § 8). Immer wieder werden jedoch Probleme deutlich, gerade im Feld der Kinder- und Jugendhilfe (und noch mehr in der Kinderschutzarbeit), die Partizipationsansprüche zu verwirklichen. Pluto (2007) arbeitet beispielsweise heraus, wie Sozialarbeiter/innen mit dem Muster »Partizipation hat ihre Grenzen« rechtfertigen, dass Kinder und Jugendliche nur eingeschränkt beteiligt werden. Die Untersuchung der Darlington Research Group (Department of Health 1995) brachte hervor, dass es gerade im Umgang mit Fällen von Kindeswohlgefährdung schwierig ist, überhaupt mit Eltern in Kontakt zu kommen. Häufig wird zudem davon ausgegangen, dass viele Kinder und Erziehungsberechtigte überhaupt nicht die notwendigen Voraussetzungen zur Beteiligung mitbringen, sich eher in Widerstand und Apathie zurückziehen (Schone 2012: 73). Einerseits herrscht Einverständnis darüber, dass Partizipation der Adressat/innen erstrebenswert ist und dies wird auch von Sozialarbeiter/innen für Kinderschutzmaßnahmen selbst als bedeutsam angesehen. National wie international wird aber ebenso eine Kluft zwischen den Ansprüchen an Partizipation und deren Umsetzung konstatiert (Pluto 2007, Darlington et al. 2010, Hitzler 2012, Hitzler und Messmer 2010, Bühler-Niederberger et al. 2014b, Wolff et al. 2013a, Ackermann und Robin 2014).30 Zwei Schwerpunkte der Partizipationsfor-
der Entwicklung von Entscheidungsoptionen beteiligt und waren entsprechend zufriedener mit dem Prozess. Die Autoren beurteilen die Nützlichkeit eines derartigen, interdisziplinären Prozesses schließlich skeptisch. Sie konstatieren, die hohen Erwartungen, die in gruppengestützte Entscheidungen gesetzt würden, basierten eher auf »myth« als auf »reality« (ebd.). 30 Dass die Partizipation von Kindern und Jugendlichen häufig nur partiell gelingt, hat dazu geführt, dass »in kritischer Absicht Stufen der Verwirklichung von Partizipation […] formuliert [wurden]« (Liebel 2013: 102), auf die auch in der heutigen Partizipationsdebatte immer wieder Bezug genommen wird. Dies ist einerseits das Modell von Hart, dass die Partizipation in aufsteigenden Schritten beschreibt (Liebel 2013: 103). Zudem findet häufig das Modell von Schröder Verwendung, das das Modell von Hart aufnimmt und transformiert (ebd.: 103 f.). Im Vergleich der beiden Modelle wird deutlich, dass ihnen unterschiedliche Vorstellungen von Partizipation zu Grunde liegen (ebd.: 104). Bei Hart sind bis zur höchsten Stufe der Partizipation Erwachsene beteiligt. Im Modell von
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schung werden im Folgenden – mit Blick auf die Beteiligung in Entscheidungsprozessen – vertiefend betrachtet: erstens die Untersuchung des Hilfeplanverfahrens (vgl. Kap. 2.3.1) und zweitens die Beteiligung von Kindern und Jugendlichen im Kinderschutz (vgl. Kap. 2.3.2). 2.3.1 Das Hilfeplanverfahren Im Rahmen der Kinder- und Jugendhilfe ist das Hilfeplanverfahren gemäß § 36 SGB VIII als zentraler Ort der Partizipation vorgesehen (vgl. auch Gadow et al. 2013: 257 ff.). Hier sollen die Adressat/innen die Gelegenheit haben, über weitere Maßnahmen und deren Ausgestaltung mitzuentscheiden (Rätz-Heinisch et al. 2009: 221). An der Hilfeplanung, d. h. letztlich an der Entscheidung über die Form, die Intensität und die Ziele einer Leistung, sind drei verschiedene Akteure beteiligt: die Leistungsberechtigten oder NutzerInnnen einer Leistung, die Leistungsgewährer sowie die Leistungserbringer. (Ebd.: 221)
Mit dem Hilfeplanverfahren wird der Anspruch erhoben, alle Beteiligten zusammenzubringen und so »Mitwirkung und Mitbestimmung in individuellen Entscheidungsprozessen« (ebd.) zu ermöglichen. Gelingende Partizipation im Hilfeplanverfahren gilt dabei typischerweise als »Qualitätsmerkmal«. Typischerweise wird die Beteiligung der Adressat/innen im Hilfeplanverfahren auch von den Sozialarbeiter/innen als außerordentlich wichtig angesehen (Gadow et al. 2013: 257). Partizipation wird als »elementare Voraussetzung für das Fallverstehen und das Gelingen der Hilfe« angesehen (ebd.: 222; Müller 2012: 78-99, Krause und Steinbacher 2014, Schrapper 2010, Heiner 2004, Freigang 2012, zur Verbindung von Partizipation und Wirksamkeit vgl. Albus 2010, Bauer 2002). Urban-Stahl (2012) macht allerdings auf »[d]ie Struktur der ungleichen Machtbalance zwischen Helfer/in und Klient/in in der Jugendhilfe« (ebd.: 151) aufmerksam. Sie nennt einige »Machtquellen von Fachkräften in der Hilfeplanung« (ebd.: 145). Die Professionellen hätten in der Regel größeres Fachwissen, verfügten über Definitionsmacht, den Zugriff auf Ressourcen
Schröder ist dagegen vorgesehen, dass diese höchste Stufe nur erreicht ist, wenn Kinder autonom agieren und selbst darüber entscheiden können, wann sie Erwachsene hinzuziehen (ebd.: 104).
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sowie über eine größere Rollensicherheit in einer für die Klient/innen schwierigen Situation; diese machtvollen Voraussetzungen seien, so UrbanStahl, »nicht auflösbar« (ebd.: 151). Vielmehr müsste es entsprechend für Sozialarbeiter/innen darum gehen, sich unter den gegebenen Bedingungen reflexiv zu verhalten. Die Beschäftigten sollten sich z. B. bemühen, »die Sichtweise der Betroffenen angemessen wiederzugeben« (ebd.: 152), »Informationen transparent zu handhaben und Betroffene über ihre Recht und Abläufe aufzuklären« (ebd.: 152). Hitzler und Messer haben in den letzten Jahren eine Reihe von Arbeiten veröffentlicht, in denen sie untersuchen, wie Hilfeplangespräche praktisch von den Beteiligten umgesetzt werden. Ihrem Datenkorpus – Aufzeichnungen von Hilfeplangesprächen – nähern sie sich dabei jeweils konversationsanalytisch (Messmer und Hitzler 2007, Hitzler und Messmer 2010, Hitzler 2012, Messmer 2012). Die Dissertationsschrift von (Hitzler 2012) zeigt etwa, wie Hilfeplangespräche als Arenen mit umkämpften Positionen verstanden werden können. Die Sozialarbeiter/innen unterstützen sich etwa gegenseitig »in der Durchsetzung ihrer Positionen« (ebd.: 284) gegenüber den Adressat/innen. Sie präsentieren sich hierzu ihren Adressat/innen als seien sie »ohne Dissens« (so zugleich der Titel des Buches)31. Die Autorin beschreibt entsprechend, wie Sozialarbeiter/innen vielfach tatsächlich so weit gehen, potenzielle Uneinigkeiten aufzugeben [...], ohne dies offen zu verhandeln. Den Klienten wird es schwer gemacht zu erkennen, dass die Fachkräfte grundsätzlich zwei unterschiedlichen Lagern zuzuordnen sind. Sie sehen sich einer Gruppe von Professionellen gegenüber. (Ebd.: 264 f.)
Die Auseinandersetzung wird also verdeckt geführt. Die Sozialarbeiter/innen etablieren eine binäre Struktur, in der sich Professionelle und Adressat/innen gegenüberstehen. Aus dem »sozialrechtlichen Dreiecksverhältnis« wird eine »dyadische Kommunikationsstruktur« (ebd.: 265). Die Gegenüberstellung von Adressat/innen und »Fachkräften«, so Hitzler, erleichtert es, im Hilfeplanverfahren die Durchsetzung der professionellen Positionen – zumindest weitgehend – zu gewährleisten (ebd.: 265 f.). Das Gespräch ist also weniger ein Dialog auf Augenhöhe, sondern eher durch den
31 Dies ist für die Frage der Partizipation ein ernüchternder Befund. Schließlich setzt Beteiligung – und Demokratie – die Ermöglichung von Dissens und Konflikt voraus (Rancière 2002, Mouffe 2007).
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Versuch gekennzeichnet, Entscheidungsfähigkeit zu erlangen bzw. Entscheidungsmacht auf der Seite der Professionellen zu binden. Das den Hilfeplangesprächen normativ unterstellte Ideal, wonach das Teilnahmerecht der Klienten an den sie betreffenden Entscheidungsfindungsprozessen per se schon die Teilhabe im Sinne von Partizipation gewährt, lässt sich nach vorliegenden Erkenntnissen jedenfalls nicht – oder nur eingeschränkt aufrecht erhalten. Klienten sind und bleiben zu einem nicht geringen Anteil Objekt professionellen Entscheidens. (Messmer und Hitzler 2007: 70; Hv. i. O.)
An anderer Stelle zeigen Hitzler und Messmer (2010), dass das Durchführen des Verfahrens, eine symbolische Umsetzung von Partizipation, nicht dazu führen muss, dass die Adressat/innen tatsächlich Einfluss auf Entscheidungen nehmen können. Sie kommen zu dem Schluss, dass Sozialarbeiter/innen zwischen inkludierenden und exkludierenden Strategien wechseln (ebd.: 221). Dabei, so Hitzler und Messmer, streben die Sozialarbeiter/innen danach, auch dann die Kontrolle über den Prozess nicht zu verlieren, wenn sie im Hilfeplangespräch inkludierende Strategien verfolgen (ebd.). Den Professionellen gelingt es in diesem Prozess, mit ihren Einschätzungen zu einem höheren »Entscheidungsgewicht« zu gelangen; während die Äußerungen der Klienten als einmalige Erlebnisse erscheinen, werden die Beiträge der Professionellen eher als Repräsentanzen einer »höheren Wahrheit« (ebd.: 221, eigene Übersetzung) angesehen. Die Autoren kommen zu dem Schluss, dass, obwohl der Partizipationsanspruch gesetzlich verankert ist, die Anwesenheit der Klienten zumeist nur eine legitimatorische Funktion zur Absicherung der Entscheidung hat (ebd.: 222).32
32 Messmer 2012 macht in einer Untersuchung desselben Datenkorpus deutlich, dass und wie in Hilfeplangesprächen von den Sozialarbeiter/innen »potenziell missachtende Handlungsbewertungen unterdrückt und stigmatisierende Formulierungen unterbleiben« (ebd.: 14), um das Verhalten von Jugendlichen und Eltern möglichst wenig moralisierend zu beschreiben, und derart Beschämungen (Schröder 2013) und Stigmatisierungen möglichst zu vermeiden (Messmer 2012, zur These des »Stigmatisierungsrisikos« bereits Messmer und Hitzler 2007: 66 f.). Andererseits kommt moralische Kommunikation dann zum Einsatz, wenn es darum geht, auf Seiten der Adressat/innen Verhaltensänderungen zu erreichen, »wenn die Mitarbeit der Klientel bei der Umsetzung einer Hilfe nicht den Erwartungen der Professionellen genügt.« (Ebd.: 14; Albus 2010:
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Hünersdorf (2009) fasst auf der Basis ihrer Untersuchung zusammen, dass das Hilfeplanverfahren insbesondere »dazu bei [trägt], dass es so erscheint, dass sich das Hilfesystem vorrangig durch Hilfe und nicht durch Kontrolle auszeichnet« (ebd.: 245, Hv. i. O.). Hünersdorf betont also ebenfalls die legitimierende Funktion des Verfahrens (vgl. auch Luhmann 2005). Hünersdorf (2009) gibt allerdings zu bedenken, dass das Verfahren legitimierenden Charakter hat, aber ebenso die Möglichkeit eröffnet, dass die Adressat/innen, zumindest in begrenztem Maße, Verantwortung übernehmen können. Die Chance liegt dann darin, dass das Publikum nicht zu einem passiven Publikum wird, sondern dass das Publikum (Eltern als Leistungsberechtigte und Kinder bzw. Jugendliche als Adressaten), aber auch die hilfeleistenden Organisationen […], Verantwortung übernehmen, die ihnen durch Anhörung im Kontext der Hilfeplanung gegeben wurde. (Ebd.: 245)
Die Befunde der Forschung deuten insofern an, dass das Hilfeplanverfahren zwar weit davon entfernt ist, umfassende Partizipation zu ermöglichen, und dem Verfahren eine deutliche legitimatorische Funktion zukommt, seine Bedeutung aber dennoch über eine rein »rhetorische Modernisierung« (Oechler 2009) hinausgeht. Das Hilfeplanverfahren erscheint damit auch als ein »Ort« (Hünersdorf 2009: 245), der für die Fallarbeit (mehr oder weniger wichtige) »Irritationen« (ebd.: 246) bereitstellt. Für unseren Zusammenhang bleibt zu beachten, welche Bedeutung dem Hilfeplanverfahren in Entscheidungsprozessen zukommt bzw. wie es den Sozialarbeiter/innen gelingt, das Hilfeplanverfahren in ihr Entscheiden zu integrieren. 2.3.2 Zur Beteiligung von Kindern und Jugendlichen Während die Beteiligung von Eltern lange Zeit eher im Fokus der Wissenschaft stand, haben gerade in den letzten Jahren einige Forscher/innen vermehrt die Beteiligung der Adressat/innen im Kinderschutz thematisiert.33 In neueren Veröffentlichungen wird überdies angeregt, dass Kinder und Ju-
75 ff.) zeigen ebenfalls, dass das Hilfeplanverfahren offenbar nur bedingt geeignet ist, partizipatorisches Handeln zu ermöglichen und z. T. eher als bloß legitimatorisches Verfahren gestaltet wird. 33 Mit dem Schwerpunkt der Partizipation von Eltern im Kinderschutz vgl. Hall und Slembrouck 2001, Corby et al. 1996, Slettebo 2013.
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gendliche vermehrt einbezogen werden, dass »Kinder selbst Entscheidungen treffen« (Liebel 2013: 104; Bühler-Niederberger et al. 2014b, Kindler 2012). Zur Vertiefung dieses Diskurses werfe ich einen schlaglichtartigen Blick auf zwei aktuelle Forschungsprojekte, die sich dezidiert mit dieser Frage befasst haben. Die Beteiligten des Projektes »Skippie« (»Sozialsystem, Kindeswohlgefährdung und Prozesse professioneller Intervention« Bühler-Niederberger et al. 2014a) interessieren sich für das »professionelle Wissen vom Kind im Kinderschutz«.34 Auf der Basis einer Interviewstudie stellen sie heraus, dass die im Kinderschutz engagierten Berufsgruppen über je eigene professionelle Programme verfügen, zwischen denen es, bezogen auf das Wissen über Kinder, typische Unterschiede gäbe. Sie kritisieren, dass insbesondere Sozialarbeiter/innen nur über ein sehr eingeschränktes Wissen über die in ihren Fällen betroffenen Kinder verfügen. Die sozialarbeiterische »Prozesslogik« lege eine starke Orientierung auf die »compliance« der Sorgeberechtigten, insbesondere der Mutter nahe (Bühler-Niederberger et al. 2013: 7 f.). Während laut den Autoren die übrigen Berufsgruppen (Hebammen, Ärzt/innen, Psycholog/innen und Psychiater/innen) von einer »Partialbeachtung« des Kindes ausgehen, sehen sie auf der Seite der Sozialarbeiter/innen eine Nicht-Berücksichtigung (»Exklusion«) des Kindes im Kinderschutz (ebd.: 7). Eine derart eingeschränkte Berücksichtigung kindlicher Perspektiven wurde auch in einer früheren Untersuchung von Wolff et al. (2013b) festgestellt. Die Beschreibung elterlichen Verhaltens rückt z.T. derart in den Vordergrund, dass in diesem Zusammenhang von einem »abwesenden Kind« gesprochen werden kann (Ackermann und Robin 2014). Im Unterschied zu Bühler-Niederberger et al. (2014a) wird bei Wolff et al. (2013b) nicht davon ausgegangen, dass die Sozialarbeiter/innen nichts über die Kinder wissen (bzw. diese exkludieren). Sie »wissen« z. B., dass die Kinder in der Kindertagesstätte oder der Schule auffällig sind oder auch, was die Eltern, Ärzte, Psycholog/innen oder auch Polizist/innen über die Kinder sagen. Allerdings heißt das nicht, dass dies Partizipation von Kindern verwirklichen würde, die Kinder werden »eher zum Gegenstand der Auseinandersetzung, zum ›Grenzobjekt‹ adulter Akteure« (Ackermann und Robin 2014: 67).
34 Als weitere Studien zum Thema Partizipation von Kindern und Jugendlichen im Kinderschutz vgl. Mason und Michaux 2005 und Sinclair 2004, für einen etwas breiteren Überblick vgl. auch Wolff et al. 2013b: 21 ff.
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Kindler (2012) konstatiert ebenfalls, dass gerade in der Umsetzung von Kinderschutzmaßnahmen Mängel in der Umsetzung der Partizipationsansprüche bestehen. Die Sozialarbeiter/innen sähen sich für eine Beteiligung von Kindern an allen sie betreffenden Entscheidungen weder entsprechend ausgestattet noch entsprechend ausgebildet (ebd.: 204). Entsprechend fordert Kindler, dass zumindest im Kern des Kinderschutzsystems, also in Deutschland bei den Jugendämtern und den Familiengerichten, die Kompetenz vorhanden sein muss, um nicht-suggestive Gespräche mit Kindern über Erfahrungen von Missbrauch, Misshandlung oder Vernachlässigung führen zu können. (Ebd.: 206)
Für Minderjährige ist es offenbar besonders schwer, in Entscheidungsprozessen Gehör zu finden (Hofgesang 2006). Überhaupt scheint Einigkeit darüber zu bestehen, dass Partizipation einerseits als wichtig angesehen wird, bislang jedoch nicht den Ansprüchen entsprechend verwirklicht wird: »Zwischen dem Anspruch, die betreuten Kinder und Jugendlichen zu beteiligen und der Realität klafft oft eine Lücke« (für viele Pluto 2008: 97, Pluto 2007: 196, bereits Schefold et al.).35 Erklärt wird diese Theorie-PraxisDifferenz in der Regel durch die Arbeitsbedingungen, die in »street-level bureaucracies« typischerweise vorherrschen: »resource limitations, time pressures, and conflicting goals« (Smith und Donovan 2003: 543). Dass es Probleme bei der Beteiligung an Entscheidungsprozessen gibt, muss mit der Forschung insofern nicht unbedingt noch einmal aufgezeigt werden. Interessant scheint aber, was es den Sozialarbeiter/innen der Jugendämter ermöglicht, das Einverständnis ihrer Adressat/innen zu erreichen. Wie gelingt es ihnen, Entscheidungen verständlich zu machen und zu legitimieren und welchen Umgang finden die Sozialarbeiter/innen mit den umfänglichen partizipatorischen Ansprüchen in ihrer Entscheidungspraxis?
35 Wobei dieser Aussage womöglich auch die irreführende Annahme zu Grunde liegt, man könne theoretische Ansprüche (z. B. solche der Partizipation) einfach in der Praxis überprüfen. Solche Versuche müssen notwendigerweise mit der Feststellung einer Theorie-Praxis-Differenz enden, worauf bereits Wolff 1983 eindringlich aufmerksam gemacht hat. Vielmehr könnte es dann anstatt eines Überprüfens darum gehen, die je spezifischen Produktionsweisen von Partizipation zu beobachten, mit ihren jeweiligen Besonderheiten und auch Unzulänglichkeiten (vgl. dazu bereits die Überlegungen in Wolff et al. 2013b: 21).
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Bevor die bisherigen Betrachtungen des Forschungsstandes einer abschließenden Synthese zugeführt werden, möchte ich noch ein Thema aufgreifen, das die Wissenschaft beschäftigt: Über bundesdeutsche Jugendämter wurde in den letzten Jahren vermehrt massenmedial und insbesondere dann berichtet, wenn auf Seiten des Amtes vermeintliche Fehler begangen wurden. Die Studien im folgenden Abschnitt befassen sich mit diesem Themenkomplex.
2.4 P ROBLEMATISCHE F ALLVERLÄUFE : F EHLER UND MEDIALE S KANDALISIERUNG Nicht nur die Massenmedien – sondern auch Wissenschaftler/innen – haben sich in den letzten Jahren für dramatische und problematische Fallverläufe interessiert (Fegert 2009, Fegert et al. 2010, Biesel 2009, Biesel 2011, Biesel und Wolff 2013, Büchner 2014, Brandhorst 2015, Böwer 2012: 75 ff.). In einer Analyse von Zeitungsartikeln weisen Fegert et al. (2010) den imposanten Anstieg des medialen Interesses am Kinderschutz nach. In derselben Publikation unternehmen sie den interessanten Versuch, durch die Auswertung von Zeitungsartikeln Erkenntnisse über typische Fehler der Sozialarbeiter/innen zu gewinnen. In einer Zusammenfassung listen die Autor/innen über mehrere Seiten »mögliche Fehler und Fehlerquellen« (ebd.: 118) auf. Sie bemerken z. B., dass Informationsquellen nicht ausreichend genutzt würden, die Jugendämter die Entscheidungen über die Annahme von Hilfen den Eltern überlasse, obwohl sie selbst Hilfebedarfe sehen würden, dass zudem die Wirksamkeit der Hilfen zu wenig überprüft würden und Falleinschätzungen ohne genaue Prüfung erfolgten (Fegert et al. 2010: 118 ff.). Man bekommt so einen Eindruck möglicher Fehlerquellen, vor allem aber von der Art und Weise, wie die Entscheidungspraxis des Jugendamtes durch kritische massenmediale Betrachtung begleitet wird.36
36 Dass die Autor/innen hier die Berichte aus den Massenmedien nutzen, um zu einer Analyse von Fehlerquellen im Jugendamt zu kommen, erscheint gleichermaßen naheliegend wie problematisch. Einerseits verfügt die Bundesrepublik über kein geordnetes Berichtswesen, das problematische Fälle erfassen würde, was den Rückgriff auf die massenmedialen Berichte erklären mag. Andererseits erhält man mit einer Analyse der Berichterstattung eher einen Eindruck von typischen »Vorwürfen« (ebd.: 119) bzw. Kritikpunkten, die in der Presse erhoben
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Biesel beschreibt in seiner Studie einen typischen Prozess, wie er sich im Anschluss an die massenmediale Berichterstattung über problematische Fallbearbeitungen aus Sicht des Jugendamtes und seiner Mitarbeiter/innen beobachten lässt. Er berichtet von »Überskandalisierungen«, »einseitigen, personenbezogenen Schuldzuweisungen und Anfeindungen«, »öffentlichen Hinrichtungen und Bauernopfern« sowie von »Schuldzuweisungen von außen wie von innen« (Biesel 2011: 203). Auch wenn es sich aus wissenschaftlicher Sicht um einen »gesamtorganisationalen« Fehler (ebd.) handelt, der zu problematischen Entwicklungen geführt hat, findet offenbar eine individualisierende Schuldzuweisung statt, im Zuge derer Entscheidungsfolgen Personen zugerechnet werden. Biesel spricht gar davon, dass die Mitarbeiter/innen »gewissermaßen zu öffentlich abgestempelten Volltrotteln geworden [seien; T.A.]« (Biesel 2011: 205, Hv. i. O.).37 Angesichts solcher Prozesse der Skandalisierung, wie sie Biesel eindrücklich schildert, wird deutlich, wieso Fälle gescheiterter Kindeschutzarbeit für die Jugendämter zum Schreckensszenario werden. Mitarbeiter/innen und die Organisation als Ganzes sehen sich an den Pranger gestellt und in ihrem Ansehen geschädigt, eine Situation, welche die Jugendämter zu vermeiden suchen. Zudem fürchten die Mitarbeiter/innen nicht selten, strafrechtlich verantwortlich gemacht zu werden: Immer öfter stehen Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter vor Gericht und müssen sich gegen die Vorwürfe verteidigen, sie hätten nicht zum Wohl und zum Schutz des Kindes gehandelt, hätten Missstände übersehen oder falsch bewertet und sich der unterlassenen Hilfeleistung schuldig gemacht. (SPI [Sozialpädagogisches Institut des SOS-Kinderdorf e.V.] 2001: 4)
Das obige Zitat, entnommen dem Band »Jugendamt zwischen Hilfe und Kontrolle«, deutet eine Entwicklung an, die bis heute weiter an Dramatik gewonnen hat: Das Jugendamt ist als Gegenstand rechtlicher Beobachtung entdeckt worden. Angesichts der kritischen Beobachtung in den Massen-
werden, nicht aber unbedingt einen Eindruck von den Fehlern des Jugendamtes bzw. denen seiner Mitarbeiter/innen. 37 Eine ruhige, mehrdimensionale Ereignisanalyse durchzuführen (vgl. für einen entsprechenden Vorschlag Ackermann 2012a), scheint dann schwerlich möglich. Andererseits hat sich gezeigt, dass und wie dies mit etwas zeitlichem Abstand gelingen kann (vgl. Biesel und Wolff 2013).
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medien und der Befürchtung auch rechtlichen Sanktionen ausgesetzt zu werden, berichten Wissenschaftler/innen von Tendenzen des »Selbstschutzes« (Biesel 2009), der »Absicherungsmentalität« bzw. »eigennütziger Interessenverfolgung« (Meysen 2006: Abschnitt 37.4). Böwer weist in diesem Sinne in seiner Studie darauf hin: »Gegenwärtiger Kindeswohlschutz stellt sich [...] angesichts nicht auflösbarer Risikokonstellationen als Suche nach Sicherheit bzw. nach Sicherheiten dar« (ebd.: 235). Im Zuge solche Bestrebungen ergäben sich »aus Eigenschutzgründen der Fachkräfte [...] ›präventive[…] Inobhutnahmen‹« (Böwer 2012: 277).38 Mit Blick auf Skandalisierungen und massenmediale Berichtserstattung erscheint interessant, dass in derartigen Betrachtungen die Sozialarbeiter/innen implizit als Entscheider/innen etabliert werden. Sie erscheinen als Zurechnungspunkt für Entscheidungen insbesondere dann, wenn im Nachhinein geurteilt wird, dass falsch entschieden wurde. Vor diesem Hintergrund wird zu fragen sein, wie die Sozialarbeiter/innen mit der Problematik umgehen, im Nachhinein als schlechte Entscheider/innen zu erscheinen: welche Umgangsweisen finden die Professionellen mit dem Problem des (ständig) möglichen Scheiterns – auch jenseits von Strategien des (bloßen) Selbstschutzes?
38 Diese Praxis des Selbstschutzes, so stellt Böwer mit Verweis auf Schone (1997) fest, sei im Prinzip nicht neu. Sie reflexiv zu halten, sei dabei dennoch aber von großer Wichtigkeit. Ziel könnte dann, so der Autor, das Erreichen von »Halbwegs-Sicherheiten« sein (ebd.: 278). Hier sieht Böwer vor allem die »Führungskräfte« der Ämter gefordert. An ihnen sei es, »für Vorkehrungen [zu] sorgen, die all diese Faktoren [der Unsicherheit] näherungsweise im Griff behalten, um organisational zumindest ›Halbwegs-Sicherheiten‹ zu garantieren, da die vorhandenen Risikobedingungen mehr nicht zulassen« (ebd.: 235).
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2.5 F ALLARBEIT ALS H ANDELN UNTER U NSICHERHEITSBEDINGUNGEN In a complex and uncertain world, humans and animals make decisions under the constraints of limited knowledge, resources, and time. (GIGERENZER UND SELTEN 2002) Bei Entscheidungen in Fällen von vermuteten Kindeswohlgefährdungen bleibt [...] ein hoher Anteil von Unsicherheit darüber, ob tatsächlich die richtige Entscheidung getroffen wurde. Solche unsicheren Entscheidungssituationen werden als sehr belastend erlebt. (SECKINGER ET AL. 2008: 38 F.)
Pädagogisches und sozialarbeiterisches Handeln wurde in den letzten Jahren immer wieder als Handeln unter der Bedingung struktureller Unsicherheit beschrieben (vgl. nur Helsper et al. 2003, Herrmann et al. 2009, Thole et alt. 2010, Urban-Stahl 2009, Müller 2012: 62 f.).39 Zentral ist dabei die Annahme, dass die Handelnden regelhaft mit Unsicherheits- bzw. Kontingenzproblemen40 zu kämpfen haben (Rustemeyer 2003, ferner auch Schütze
39 Die soziologische Handlungstheorie fragt klassischerweise, wie Akteure angesichts von Ungewissheit, Uneindeutigkeit und Unsicherheit (Böhle und Weihrich 2009b, Böhle und Weihrich 2009a) handeln. Wie Böhle und Weihrich zu bedenken geben, haben zwar auch Theorien in Folge »reflexiver Modernisierung« auf die zunehmende Zurechnung auf Entscheidung aufmerksam gemacht, allerdings ohne eine dezidierte Handlungs- oder Entscheidungstheorie auszuarbeiten (ebd.). Wilz weist zudem darauf hin, »dass das Entscheidungen-Treffen häufig als eine Form sozialen Handelns angesehen wird; der Spezialfall des Entscheidens wird entsprechend in der Theorie des Handelns mit bearbeitet« (Wilz 2009: 107). Dies erscheint zunächst plausibel, führt aber zu einigen Folgeproblemen, auf die an dieser Stelle nicht weiter eingegangen werden kann (vgl. ebd.). 40 Den Akteuren stellt sich das Problem, dass alles, so könnte man mit Luhmann 1984 sagen, auch anders sein kann, als sich dies im Moment darstellt, in der Vergangenheit verhielt und für die Zukunft prognostiziert werden kann.
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1996 und Kleve 1999). Gerade für die Bearbeitung von Fällen mit vermuteter Kindeswohlgefährdung wurde dies betont (Alberth et al. 2010, Biesel 2011, Böwer 2012, Wolff 2007, Ackermann 2012a). Luhmann und Schorr (1982) haben sich diesem Problemfeld mit dem Begriff des Technologiedefizits genähert: Der Pädagogik stehe, so die Autoren, keine (eindeutige) Technologie zur Verfügung, um bestimmte (pädagogische) Effekte zu erreichen: »Da es keine für soziale Systeme ausreichende Kausalgesetzlichkeit, da es mit anderen Worten keine Kausalpläne der Natur gibt, gibt es auch keine objektiv richtige Technologie, die man nur erkennen und dann anwenden müsste« (ebd.: 19) Ob eine bestimmte Intervention zur Besserung der familiären Situation führt, hängt von der »Ko-Produktion« zwischen Sozialarbeiter/innen und Adressat/innen ab (Urban-Stahl 2009, Oelerich und Schaarschuch 2005a, Müller 2012: 62 ff.). Eine Maßnahme der Intervention, z. B. eine Familienhilfe, setzt das Mitwirken der Adressat/innen voraus, sie kann nicht (oder jedenfalls nicht ohne Folgen) einfach ohne die Adressat/innen erbracht werden (Dunkel 2011).41 Von einfachen »Kausalgesetzlichkeiten« kann auch daher nicht ausgegangen werden, da eine »Vielzahl externer Einflüsse« (Urban-Stahl 2009) auf das Handlungsfeld im Jugendamt einwirkt. Eine große Zahl von Akteuren ist beteiligt, die häufig unterschiedliche, auch gegenläufige Interessen verfolgen, jedenfalls eigenständig und unter der »doppelten Kontingenz«
41 Burkhard Müller formuliert es so: »Das heißt zu dem, was da gehandelt oder hervorgebracht wird, gehören mindestens zwei: Pädagoge und Adressat, Sozialarbeiterin und Klientin etc. mit ihrem zunächst einmal unterschiedlichem Wollen« (Müller 2012: 63). Müller behandelt damit den Nukleus der helfenden Beziehung, nämlich der zwischen zwei Personen. Dies ist für den Fall des Jugendamtes noch zu erweitern. Typischerweise sind nicht nur zwei, sondern mehrere Personen beteiligt, gleichfalls mehrere Klient/innen (z. B. mehrere Kinder, Sorgeberechtigte, Großeltern), Sozialarbeiter/innen (z. B. des Amtes und der freien Träger) sowie andere Berufsgruppen (Ärzte, Lehrer, Richter). Dies erhöht die Komplexität, unterstreicht aber die Aussage von Müller eher noch in ihrer Bedeutung. Müller macht zudem auf ein weiteres, hiermit verbundenes Paradoxon pädagogischer Professionalität aufmerksam, dass sie nämlich akzeptieren muss, dass sie ihre eigenen Ziele eigentlich nicht selbst erreichen kann, »weil, was gewollt wird, nur vom Anderen selbst hervorgebracht werden kann« (Wimmer 1996: 425 f., z. n. Müller 2012: 63.)
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(Luhmann 1984) agieren. Ihre Handlungsabsichten und -gehalte bleiben letztlich wechselseitig undurchsichtig (vgl. ebd.). Ego weiß nie mit letzter Gewissheit, worauf das Handeln von Alter abzielt – und vice versa.42 Urban-Stahl (2009) charakterisiert die sozialpädagogische »Entscheidungsfindung« entsprechend anhand von drei Merkmalen, welche gleichfalls als Faktoren angesehen werden können, die strukturelle Unsicherheit begünstigen: Technologiedefizit, Ko-Produktion und Vielfalt externer Einflüsse. Es lässt sich noch hinzufügen, dass die Komplexität der Entscheidungspraxis im Jugendamt zusätzlich durch die unbestimmten Rechtsbegriffe des »Kindeswohls« und der »Kindeswohlgefährdung« geprägt ist (Schmid und Meysen 2006). Durch den Gesetzgeber ist das Jugendamt damit beauftragt, »das Wohl von Kindern und Jugendlichen« zu schützen. Doch wann das Wohl des Kindes gewahrt, oder aber eine Kindeswohlgefährdung vorliegt, muss im Handeln der Sozialarbeiter/innen immer wieder neu austariert, im Prozess des Organisierens ›mit Leben gefüllt‹, gewissermaßen mit Sinn ausgestattet werden (Weick 2011a). Der Begriff des Kindeswohls bleibt in seiner Bedeutung kaum »feststellbar«.43 Er wird zum »Grenzobjekt« in Prozessen der Aushandlung (Scheiwe 2012)44. Wertbasierte Urteile, die begründen können, was als kindeswohlgefährdend anzusehen ist, unterliegen veränderlichen gesellschaftlichen Entwicklungen (ebd.), so dass einige Autoren davon ausgehen, dass heutzutage keine Einigkeit (mehr) darüber herzustellen ist, was als »normales Aufwach-
42 Zudem können nicht intendierte Veränderungen in der Umwelt der adressierten Systeme, der Familien aber auch des Amtes, Erfolg oder Misserfolg einer Hilfe entscheidend beeinflussen. Man denke nur an neue Verwaltungsvorschriften, einen Personalwechsel in der Schule, Arbeitslosigkeit oder einen Partnerwechsel der Eltern. All dies ist letztlich von den Sozialarbeiter/innen nicht zu kontrollieren, kann aber zugleich zum relevanten Kontext ihrer Fallbearbeitung werden. 43 Mit anderen Worten sind »Kindeswohlgefährdungen und Kindesmisshandlungen […] keine feststehenden Tatsachen, sondern kontextgebundene Phänomene, die von soziokulturellen Bedingungen, konkreten Situationen und in der Bewertung zudem von unterschiedlichen fachlichen Blickwinkeln [...] abhängig sind« (Ackermann et al. 2010: 171). 44 Eger (2009) schätzt in seiner Untersuchung des »schillernden Begriffs« Kindeswohlgefährdung die rechtlichen Rahmungen als gut definiert ein (ebd.: 40); er konstatiert aber, »dass komplexe Einzelfälle dennoch schwierig zu entscheiden bleiben« (Eger 2009: 40).
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sen«, »gute Elternschaft« und »richtige Erziehung« gelten sollte (UrbanStahl 2009).45 Die Fallarbeit im Jugendamt richtet sich mit der Orientierung am Kindeswohl zudem auf eine unsichere Zukunft. Durch die Interventionen des Amtes soll die Vermeidung künftiger Schäden (nämlich am Wohl des Kindes) erreicht werden. Dauerhafte Vernachlässigung, Verletzung oder gar Tötung von Kindern gilt es zu verhindern. Damit wird die Arbeit des Amtes zugleich zur Arbeit am Risiko (Beck 2012). Das Risiko der Entscheidungsträger/innen besteht darin, dass sich trotz aktuell ergriffener Maßnahmen, trotz entsprechender Entscheidungen, in der Zukunft unerwünschte Entwicklungen und »Schäden« einstellen können – und sich die Entscheidung im Nachhinein als »falsch« herausstellt (Luhmann 2003a: 337). Besonders dramatisch ist dabei die Entscheidung, bei der retrospektiv angenommen werden kann, man hätte es besser wissen können: Eine Entscheidung, die man, wie man voraussehen kann, nachträglich bereuen wird, wenn ein Schadensfall eintritt, den vermeiden zu können man gehofft hatte. (Luhmann 2003a: 19)
Dass sich die Entscheidungen der Sozialarbeiter/innen im Nachhinein als falsch herausstellen (bzw. von der Organisationsumwelt als falsch behandelt werden), ist zugleich das Worst-Case-Szenario, vor dem sich die Sozialarbeiter/innen fürchten. Ein Kind kommt zu Schaden, d. h. der Fall, den
45 Da die Informationsbearbeitungskapazitäten begrenzt sind (Simon 1972), weil nie alles gehört, gesehen und aufgeschrieben werden kann, auch nicht alles, was die Einschätzung der Kindeswohlgefährdung betrifft, müssen solche Bestimmungsversuche naturgemäß immer die Komplexität des Falls und seiner Bearbeitung verfehlen, was das Entscheiden erschwert. Doch auch das Gehörte und Gesehene unterliegt der Unsicherheitsbedingung, da es verstanden werden muss, wobei der konkrete Fall allgemeinen Annahmen zuzuordnen ist – ein Grundproblem professionellen Handelns: »Der Professionelle kann […] seine allgemeinen Wissensbestände zur Kategorisierung und Typisierung der jeweiligen konkreten […] Fall-Lage nur in sehr genauem, konkreten Hinsehen anwenden; er kann nie sicher sein, ob er im Wege der Abstraktion und Respezifizierung bei der Anwendung von Kategorien auf konkrete Situationen das zugrundeliegende Muster der [...] Falldynamik wirklich hinreichend erfaßt hat« (Schütze 1996: 192).
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das Jugendamt hatte verhindern sollen, tritt ein. Hierin liegt zugleich das Risiko der Entscheidung. Retrospektiv kann sich immer zeigen, dass, man »falsch« gelegen bzw. »zu viel zu früh oder zu spät zu wenig« getan hat.46 Im weiteren Verlauf der Studie wird zu fragen sein, wie es den Sozialarbeiter/innen gelingt, hiermit einen Umgang zu finden, welche Praktiken sie entwickeln, um bestehende Unsicherheiten zu bewältigen und Entscheidungen über Fremdunterbringungen treffen zu können.
2.6 Z USAMMENFASSUNG : E NTSCHEIDUNGSPROZESSE ALS F ORSCHUNGSLÜCKE Obwohl in den letzten Jahrzehnten das expandierende Kinderschutzsystem national und international in wachsendem Maße erforscht worden ist [...] gibt es im Kinderschutz einen großen Mangel an verlässlichen empirischen Daten. (BIESEL UND WOLFF 2013, 24)
Insgesamt bestärkt die Untersuchung des Forschungsstandes die Einschätzung, dass bezogen auf die Bearbeitung von Fällen von Kindeswohlgefährdung ein dringlicher Forschungsbedarf besteht. Im nationalen wie internationalem Kontext besteht ein Desiderat der Forschung darin, Entscheidungsprozesse (nicht nur über deskriptive Statistiken und Fallvignetten, sondern auch) in ihrem Vollzug, unter Berücksichtigung alltäglicher Arbeitsabläufe, gewissermaßen »aus der Nähe« zu untersuchen. Im deutschsprachigen Raum wird gerade erst begonnen, Sozialarbeiter/innen als »Entscheider/innen« zu betrachten. Interessant erscheint der Unterschied zwischen der deutsch- und der englischsprachigen Debatte: Kommen sozialarbeiterische
46 Professionelles Handeln erfolgt insofern, professionstheoretisch formuliert, angesichts von Paradoxien, Antinomien und Widersprüchen professionellen Handelns (Schütze 1992, Oevermann 1996, Helsper 2004). Zu strukturellen Spannungsfeldern in der »kommunalen Hilfe-Apparatur« vgl. bereits Vogel (1966), etwa zu eben solchen zwischen »rechtlich-administrativer Rationalisierung« und den »sachlichen Erfordernissen der einheitlichen Hilfe-Vollzugs« (ebd.: 149, 147-154).
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Entscheider im deutschsprachigen Wissenschaftsdiskurs so gut wie nicht vor, ist es im englischsprachigem Kontext gängig, Sozialarbeit/Sozialpädagogik als Entscheidungspraxis zu erforschen. Da die Frage des Entscheidens über stationäre Unterbringungen im deutschsprachigen Raum bislang eher stiefkindlich behandelt (bzw. implizit (mit-)behandelt) wird, sind für den vorliegenden Forschungsstand hilfsweise Studien herangezogen worden, die zeigen, wie Fälle (vermuteter) Kindeswohlgefährdung bearbeitet werden. Dies brachte zumindest hervor, welche Kontexte für Entscheidungen über Fremdunterbringungen erwartet werden können. Der Blick in den Stand der Forschung lässt zusammenfassend einige Annahmen mit Bezug auf Entscheidungsprozesse im Untersuchungsfeld zu. Deutlich wurde, dass die Forschung im deutschsprachigen Raum wenig einheitlich, eher disparat und verstreut ist. Andererseits konnten einige wichtige Tendenzen der Forschung ausfindig gemacht werden: Die Arbeitssituation der Beschäftigten im ASD der Jugendämter wird als prekär beschrieben, eine Überlastung des Personals konstatiert. Als belastend wird von den Sozialarbeiter/innen insbesondere die Einschätzung von Kindeswohlgefährdung empfunden. Aber auch die Konfrontation mit komplexen familiären Problemlagen, mit familiärer Gewalt, Misshandlung und Vernachlässigung wird als zusätzlicher Belastungsfaktor beschrieben. Die sich abzeichnenden Belastungen führen in den untersuchten ASDs häufig zu einer weiteren Ausdünnung einer ohnehin schon dünnen Personaldecke, die Aufgabendichte der verbleibenden Beschäftigten wird daher noch gesteigert. Zahlreiche Forscher/innen haben sich in den letzten Jahren bemüht, Handlungs- und Wahrnehmungsmuster in der Bearbeitung von Kindeswohlgefährdungen herauszuarbeiten. Hierbei lassen sich die Studien danach unterscheiden, ob akteurs-, institutions- oder prozessbezogene Perspektiven eingenommen werden: Studien, die eine Akteursperspektive einnehmen, brachten hervor, dass in den Wahrnehmungsmustern der Akteure normbezogene Beobachtungen bei Kindeswohlgefährdungen eine wichtige Rolle spielen. Sozialarbeiter/innen achten besonders auf Normverletzungen von Kindern sowie auf Normabweichungen der Eltern. Die Umsetzung der Interventionen gestalten die Beschäftigten des ASD auf der Basis habituell angeeigneter Praxismuster, so dass – von Person zu Person – unterschiedliche Umsetzungsformen beobachtet werden können, die auf jeweils spezifische Weise mit den Machtasymmetrien im Arbeitsfeld umgehen. Die für das Arbeitsfeld Kinderschutz beschriebenen Spannungsfelder erinnern da-
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bei nicht zuletzt an den typischen sozialarbeiterischen Rollenkonflikt »Hilfe und Kontrolle«. Gerade aus institutionsbezogener Perspektive wird jedoch deutlich, dass den Sozialarbeiter/innen im Handlungsfeld weitere Rationalitäten begegnen, z. B. fachwissenschaftliche und zugleich ökonomische Rationalitäten, wird doch eine »Managerisierung« bzw. »Ökonomisierung« der Praxis des Jugendamtes konstatiert. Aus arbeitsprozess- und interaktionsbezogener Perspektive werden situative Aspekte des Entscheidens. Zudem wird gezeigt, dass Entscheidungen nicht (nur) anhand von rechtlichen, fachlichen oder formalen Entscheidungskriterien getroffen werden, sie vielmehr als Gegenstand interaktioneller Aushandlung zu verstehen sind. So beeinflussen offenbar Führungsstile, Konflikte zwischen Hierarchieebenen innerhalb des Amtes aber auch die interaktive Konstruktion von Klientenschaft die Entscheidungen einschneidend. Dass der Anspruch der Partizipation der Adressat/innen an allen sie betreffenden Entscheidungen, weit verbreitet ist, haben zahlreiche Studien gezeigt. Jedoch ergeben sich immer wieder Probleme in der Verwirklichung, so dass eine Kluft zwischen Anspruch und Umsetzung zu beobachten ist. Der partizipatorische Anspruch ist nicht zuletzt im SGB VIII maßgeblich verankert, in dem auch die Beteiligung im Hilfeplanverfahren vorgeschrieben ist. Studien zur Umsetzung des Verfahrens, das die Beteiligung im Entscheidungsprozess absichern soll, ergeben ein ambivalentes Bild: Einerseits wird gezeigt, dass das Hilfeplanverfahren von den Sozialarbeiter/innen dominiert wird. Dem Verfahren kommt eine starke legitimatorische Funktion zu, ohne dass tatsächlich Beteiligung gelingt. Andererseits, so brachte eine weitere Studie hervor, kann das Hilfeplanverfahren den Adressat/innen die Möglichkeit geben, aktiv einzugreifen, Verantwortung zu übernehmen und Entscheidungsprozesse gewissermaßen zu irritieren. Insgesamt wird die Umsetzung der partizipatorischen Ansprüche jedoch eher skeptisch beurteilt, insbesondere Kinder und Jugendliche, so brachten weitere Studien hervor, haben es in den jugendamtlichen Entscheidungsprozessen offenbar schwer, mit ihren Belangen Beachtung zu finden. Im letzten Abschnitt wurden Studien betrachtet, die sich mit der massenmedialen Skandalisierung der Arbeit des Jugendamtes befassen. Insbesondere problematische Einzelfälle gaben in den letzten Jahren Anlass zur kritischen Beobachtung durch die Medien. Gerade wenn Kinder im Haushalt der Erziehungsberechtigten zu Tode kamen, führte dies nicht selten zu Schuldzuweisungen gegenüber den fallführenden Sozialarbeiter/innen und Jugendämtern. Dabei erfolgt eine Zurechnung auf Entscheidungen und Ein-
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zel-Entscheider/innen. Die fallführenden Sozialarbeiter/innen wurden in der Verantwortung öffentlich, z.T. auch rechtlich zur Verantwortung gezogen. Vor allem befürchten sie auch, dass dies in Zukunft geschehen könnte – was die Frage aufwirft, wie die Sozialarbeiter/innen sowie das Jugendamt als Organisation einen Umgang mit der Problematik finden, dass ihnen (fehlerhafte) Entscheidungen nachträglich immer wieder zugerechnet werden können. Die Dringlichkeit der eingangs formulierten Forschungsfrage hat sich angesichts dieser Befunde aus dem Stand der Forschung noch verschärft. Im Folgenden wird daher gefragt, welche Bewältigungsstrategien im Kontext des Jugendamtes entwickelt werden, um Entscheidungen Tag für Tag treffen zu können: Wie gelingt es den Sozialarbeiter/innen – trotz aller Widrigkeiten – Entscheidungen in Fällen von Kindeswohlgefährdungen und besonders über Fremdunterbringungen zu treffen?
3. Untersuchungsdesign Ethnographie als Forschungsansatz
Die vorherrschenden Erhebungstechniken in der Soziologie und in der Psychologie verfahren wie ein Wagen, bei dem nicht eingekuppelt ist: der Motor läuft auf Hochtouren, aber der Wagen bewegt sich nicht vom Fleck. [...] Durch methodologisches Auskoppeln bleibt man in sicherer Distanz, wie auch immer man die Schalthebel bewegen mag. (KNORR-CETINA 2002: 44)
Der ethnographische Forschungsansatz zielt darauf ab, seinen Forschungsgegenstand »aus der Nähe« (Knorr-Cetina 2002: 43) bzw. in »Nahaufnahme« (Latour 2002: 36) zu betrachten. Im Rahmen dieser Dissertation begründet sich die Wahl der ethnographischen Forschungsstrategie in dem Vorhaben, eine Lücke der Forschung zu bearbeiten: Bislang wurde die Fallarbeit des Jugendamtes, besonders das Entscheiden über Fremdunterbringungen, nur unzureichend »aus der Nähe« erforscht. Es fehlt an Untersuchungen, die überhaupt erst einmal (analytisch-deskriptiv) aufarbeiten, wie Sozialarbeiter/innen in schwierigen Fällen vorgehen und entscheiden. Nur wenige Studien wenden sich »den konkreten Arbeitsabläufen« (Schütze 1996: 186) und den »Handlungsleistungen der Professionellen« (ebd.) zu. Ein ethnographischer Forschungsansatz verspricht demgegenüber eine ausreichend sensitive Methodologie, die es erlaubt, Entscheidungen als Bestandteile von Prozessen ihrer Herstellung zu untersuchen.1
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Mit dem Begriff der Herstellung beziehe ich mich auf einen analytischen Ansatz, der die soziale Realität (z. B. der Entscheidungen über Fremdunterbringen)
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Der Begriff »Ethnographie« bezeichnet, wie in einschlägigen Lehrbüchern nachgelesen werden kann, keinen einheitlichen Gegenstand (Hammersley und Atkinson 2007, Gobo 2008, Atkinson et al. 2001, Atkinson 2001). Klassischerweise richtet die Ethnographie, als Methode der Ethnologie, ihr Interesse auf die fremde Gesellschaft (vgl. Amman/Hirschauer 1997). Ihr geht es, z.T. bis heute, »darum, eine ›Sprachgemeinschaft‹, einen ›Stamm‹, ein ›Ethnos‹ oder sogar eine ›Gesellschaft‹ durch die sie bestimmende Lebenspraxis zu charakterisieren« (Knorr 1981: 108, vgl. Hirschauer 2001). Die Ethnographie bezeichnet insofern bis heute nicht zuletzt den Prozess des Schreibens (Graphe) über eine Gruppe von Personen (Ethnie) (vgl. Reichertz 1992: 322). In ihrer Adoption als Forschungsmethode durch die Soziologie (Gobo 2008: 9) wendet sich die Ethnographie zunehmend der »eigenen« Kultur zu (vgl. Amann und Hirschauer 1997).2 Im Gegensatz zu klassischen Ansätzen, die sich für eine Beschreibung einer fremden oder nur lokalen Kultur interessieren, galt mein Interesse von Beginn an einer enger fokussierten Fragestellung (vgl. Charmaz 2014: 22, Knoblauch 2001).3 Ich interessiere mich zwar auch für die Kultur des Jugendamtes. Mein Interesse gilt aber weniger dem »setting itself« (Charmaz 2014: 22) als vielmehr den zentralen Prozessen, vor allem den Arbeitsabläufen, den
nicht als Faktum, sondern als Gegenstand von Fabrikations-, Produktions- bzw. Herstellungsprozessen betrachtet (vgl. Garfinkel [1967] 2008, Knorr-Cetina 2002, Latour 2002, klassisch Zimmerman 1974). Zudem wird mit einer solchen Ausrichtung der Studie an verhaltenswissenschaftliche Organisationsforschung angeschlossen, für die Simon stellvertretend von »decision-fabricating process« (Simon 1997: 24), also Prozessen des Fabrizierens von Entscheidungen, spricht. 2
Mit ihrem Erkenntnisinteresse und ihrer methodischen Ausrichtung wird die Ethnographie gemeinhin im Bereich qualitativer Sozialforschung verortet (Flick 2010a, Flick et al. 2012, Lamnek 2010, Patton 2002, Silverman 2015). Ethnographie wird sogar als die qualitative Sozialforschungsstrategie überhaupt angesehen (Hammersley und Atkinson 2007). Gerade in der angloamerikanischen Forschung wird betont, dass Ethnographie und qualitative Sozialforschung nicht immer voneinander unterschieden werden können: »there are no hard and fast boundaries« (Atkinson 2001: X).
3
Vgl. hierzu die Debatte um die (Un-)Möglichkeit fokussierter Ethnographie (Knoblauch 2001, Breidenstein und Hirschauer 2002, Knoblauch).
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Praktiken4 der Fallarbeit – und hierin dem Entscheiden über Fremdunterbringungen. Abbildung 1: Fokus des Forschungsansatzes
(Quelle: Eigene Darstellung; in Anlehnung an die »Conditional Matrix« bei Strauss und Corbin 1990: 163)
Eine Ausrichtung an Handlungsproblemen und Bewältigungsversuchen ist typisch für ethnographische Arbeiten, gerade für solche, die eine bereichsbezogene, »grounded« theory anstreben. Insbesondere Ethnograph/innen, die durch den Ansatz der Ethnomethodologie (Garfinkel [1967] 2008) beeinflusst wurden, haben sich für den Vollzug von Arbeitsabläufen interes-
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Mit dem Begriff der Praktik sollen hier Gruppen von Handlungsweisen bezeichnet werden, die in einem sozialem Feld vorrätig sind, von den Teilnehmenden genutzt, zugleich immer wieder neu hervorgebracht und aktualisiert werden, dabei die soziale Ordnung des Feldes reproduzieren und neu erfinden (vgl. Schmidt 2012, Reckwitz 2003, Reckwitz 2013, aus Perspektive der Ethnographie vgl. Kalthoff 2006: 150).
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siert. »Ethnomethodologisch informierte Ethnographien« (Pollner und Emerson 2001: 118) nahmen z. B. die Arbeit von Gerichten, Laboren und Sozialbürokratien in den Blick (Knorr-Cetina 2002, Latour 2007, Scheffer et al. 2009, Scheffer 2014b, Wolff 1983, Wolff 1994)5. Hierbei verfolgen die Autor/innen – wie auch ich dies in meiner Arbeit tue – in der Regel das Interesse, etwas über die Strategien und Methoden herauszufinden, anhand derer die Teilnehmenden Arbeitsprozesse vollziehen und begründen. Sie fokussieren »participants methods, definitions of order, explanations and assessments« (Pollner und Emerson 2001: 119). In diesem Sinne richtet sich mein analytisches Interesse auf feldtypische Praktiken: Bei solchen Vorgehensweisen handelt es sich mit den Worten von (Garfinkel [1967] 2008) um »Ethno-Methoden« der Vertreter/innen des Feldes, mit denen die Teilnehmenden die Sinnhaftigkeit und Ordnung im Handlungsvollzug stetig erfinden, aktualisieren und fortschreiben (mit anderen Worten herstellen).6 [S]uch practices consist of an endless, ongoing contingent process of accomplishment; […] carried on under the auspice of, and are made to happen as events in, the same ordinary affairs that in organizing they describe. (Garfinkel [1967] 2008: 1)
Im Fokus stehen in diesem Ansatz und auch im Fortgang der vorliegenden Studie daher Arbeitsprozesse, die als Abfolge zugleich sinn- und realitätenstiftender Praktiken untersucht werden: »Work is treated as serious activity through which persons produce senses of social structure and reality« (Miller 1990: 164). Diese analytische Haltung impliziert anzunehmen,
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Ethnographische Studien mit einem solchen Interesse sind auch als »work place studies« bzw. als »studies of work« bezeichnet worden (Knoblauch und Heath 1999).
6
Eberle (2008) erklärt die Termini anschaulich wie folgt: »Garfinkel [führt] [...] den Begriff der »Ethnomethoden« und der »Ethnomethodologie« ein, und seither spricht er von Mitgliedermethoden (members methods). Die zugrunde liegende Idee ist so einfach wie plausibel: Das Alltagsleben ist sinnhaft geordnet. Diese Ordnung wird von den Mitgliedern laufend hergestellt, dargestellt und einander angezeigt und dadurch verstehbar gemacht. Folglich müssen die Akteure irgendwelche Methoden beherrschen, um dies zu bewerkstelligen« (ebd.: 155).
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dass die soziale Ordnung von den Teilnehmern nicht nur in systematischer Weise hervorgebracht wird, sondern dass diese die Geordnetheit auch darstellen und somit für sich selbst und den Beobachter beobachtbar machen. Teilnehmer machen ihr Wissen aber nicht allein durch ihre Darstellung beobachtbar, sondern ebenfalls durch die Klärungen und Erklärungen, die sie einander formulieren. (Kalthoff 2006: 154)
Für unseren Zusammenhang interessieren besonders solche Arbeitsprozesse und Vorgehensweisen der Fallarbeit, im Zuge derer Entscheidungen fabriziert werden – oder auch einfach nur passieren (Simon 1997: 24). Es geht mit anderen Worten um Ethno-Methoden, die eingebunden sind in die Realität des Amtes, diese zugleich nachvollziehen wie laufend hervorbringen (»ongoing accomplishment« Garfinkel [1967] 2008: 1). »Fakten« erscheinen in dieser Perspektive als laufender Gegenstand der Fabrikation (vgl. die »Fabrikation von Fakten« bei Knorr-Cetina 2002: 17-23). Im Rahmen der vorgelegten Studie soll herausgearbeitet werden, wie Sozialarbeiter/innen über solche Praktiken die »amtliche Realität« laufend aktualisieren und fortschreiben, kurz: herstellen (und dabei die Gegenstände der Arbeit, mit denen sie sich befassen, z. B. Fälle und Personen laufend »fabrizieren«). Einem »methodologischen Individualismus«, der von der rationalchoice inspirierten Entscheidungsforschung verfolgt wird (vgl. kritisch hierzu Wilz 2009: 111), wird ein »methodologischer Interaktionismus« (Knorr-Cetina 2002: 47) entgegengestellt. Der Fokus richtet sich nicht auf »Meinungen«, »Kognitionen« und auch nicht auf »individuelles Verhalten« (Knorr-Cetina 2002: 47f.). Es geht um Praktiken, die im Kontext des Jugendamtes personenübergreifend typisch, gewissermaßen »vorrätig« sind (Schmidt 2012). Die untersuchten Gruppen von Verhaltensweisen (oder auch: Praktiken) verstehe ich nicht als Merkmale von Subjekten, sondern als Bestandteile sozialer Arrangements: »Diese Ethno-Methoden sind keine Eigenschaften des Bewusstseins, sondern institutionalisierte Strukturen sozialen Handelns« (Wolff 1994: 22). Sie beruhen auf »implizitem Handlungswissen« (Polanyi 1985), das von den Akteuren zur Anwendung gebracht und reproduziert wird, nicht aber reflexiv zugänglich sein muss (zum Wissensbegriff Willke 1998, Abels 2007: 92).7 Ziel ethnographischer Ar-
7
»Mit der Ethnographie richtet die qualitative Soziologie ihr analytisches Augenmerk auf den Vollzug und die Darstellung von Praktiken, auf die Verknüp-
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beit ist somit nicht zuletzt eine Rekonstruktion dieser impliziten Wissensformen (Knorr-Cetina 2002: 36 f., Kalthoff 2006: 150).8 Die verstehende Rekonstruktion subjektiver Verständnisse der Beteiligten (vgl. Gold 1997: 389), des »natives point of view«, bildet dabei eine elementare Grundlage für die Rekonstruktion der Praktiken. Ziel der Analyse ist letztlich eine konzeptualisierende Darstellung feldtypischer Praktiken (vgl. Charmaz 2014).9 Dabei werden die Konzepte des Forschenden mit denen des Feldes relationiert (Becker 1958), um die interessierenden Vorgehensweisen analytisch-deskriptiv aufzuarbeiten. Mit anderen Worten geht es um eine gegenstandsbezogene Theorieentwicklung, wie sie in der Forschungsliteratur als Grounded Theory (Glaser und Strauss 1974, Glaser und Strauss 2009, Charmaz 2014) bezeichnet wird.
3.1 F ORSCHUNGSPROZESS Die ethnographische Forschungsstrategie impliziert in der Regel einen iterativen Forschungsprozess. Datenerhebung und -analyse wechseln einander ab bzw. sind sie zyklisch miteinander verbunden (Charmaz 2014: 96 ff., Hammersley und Atkinson 2007: 159, Gobo 2008: 86, Breuer 2010: 55, Strübing 2008: 13 f., 30). Im Verlauf der Forschung kombinieren Ethnograph/innen unterschiedliche Formen der Datenerhebung. Abgeschlossen ist die Datenerhebung, wenn eine theoretische Sättigung (»theoretical saturation«) erreicht ist (Charmaz 2014: 132, Strübing 2008: 33 ff.). Bei allen Unterschieden in der Konzeption der Ethnographie10 gibt es doch auch gro-
fung von Praktiken und Wissen sowie auf das in Praktiken verborgene implizite (stumme) Wissen« (Kalthoff 2006: 150). 8
Es geht zugleich um die Praktiken der »Wissensproduktion« (Knorr-Cetina 2002: 30): Der »Wissenserzeugung«, »Wissensakzeptierung« bzw. der »Wissenserhärtung« (Knorr-Cetina 2002: 31). Von besonderem Interesse sind daher z. B. die »Kenntnisse [der Teilnehmer/innen] davon, was als Problem und was als Lösung gilt, wo man suchen muß und was man ignorieren kann« (ebd.: 37).
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Charmaz formuliert das folgendermaßen: »Thus, from the beginnings of their fieldwork, grounded theory ethnographers study what is happening in the setting and make a conceptual rendering of these actions« (ebd.: 22).
10 Gemeint ist damit nicht nur der Streit der Gründerväter Strauss und Corbin, sondern auch die neuere Diskussion um die Ethnographie, im Rahmen derer
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ße Gemeinsamkeiten. Der ethnographische Forschungsprozess verlangt typischerweise (Gobo 2008, Atkinson 2001: 4, Agar 1980, Have 2004), dass der/die Forschende 1. 2. 3.
das Forschungsfeld aufsucht, längere Zeit dort verbringt, Daten sammelt und schließlich Daten analysiert, um einen ethnographischen Bericht zu verfassen.
Dies sind zugleich die Schritte des Forschungsprozesses, die im Folgenden nachgezeichnet werden: Feldzugang (Kap. 3.1.1), Rolle im Feld (Kap. 3.1.2), Datenerhebung (Kap. 3.2) und Analyse (Kap. 3.3). 3.1.1 Feldzugang Das Feld zu betreten und dort längere Zeit forschend zu verbringen ist ein, wenn nicht der zentrale Bestandteil ethnographischer Forschung (Goffman 1989, Emerson 1981, Atkinson 2001). Ethnographische Forschungsfelder sind z. B. »öffentliche Orte, soziale Milieus (Szenen), aber auch Organisationen oder Stammesgruppen« (Wolff 2012: 335). Das Feld sollte dabei allerdings nicht als objektivierter Ort missverstanden werden, der einfach aufgesucht werden kann (Hammersley und Atkinson 2007: 25). Wolff macht in diesem Sinne darauf aufmerksam, dass es sich beim ›ins-Feldgehen‹ um einen Herstellungsprozess handelt, in dem das Feld erst als solches konstituiert wird (Wolff 2012). Mit dem Feldzugang geht es darum, ein Feld zunächst als interessant zu bestimmen. Dann stellt sich die Frage, wie die Erlaubnis zum Zutritt erlangt und schließlich eine Rolle entwickelt werden kann, die das Forschen im Feld erlaubt (vgl. ebd.; auch Emerson et al. 1995: 2). Das Feld der Forschung wird zwischen Forscher und Beteiligten des Feldes ausgehandelt: Man wird nur bestimmte Aspekte eines Feldes in den Blick bekommen, Zugang zu bestimmten Situationen suchen und er-
vielfältige Ansätze unterschieden werden: Die jeweiligen Autor/innen heben dabei spezielle Aspekte des ethnographischen Arbeitens hervor, sprechen z. B. von »kritischer« (Carspecken 1996), »(symbolisch-)interaktionistischer« (Dellwing und Prus 2012, Rock 2001), lebensweltlicher (Honer 1993, Hitzler 2000, Thomas 2010), »organisatorischer« und »institutioneller« (Smith 2005), »reflexiver«, »multiperspektivischer« und »post-moderner Ethnographie« (Tyler 1986).
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halten. Die Grenzen des Feldes sind insofern nicht exakt und ein für alle Mal feststellbar. Im Kontext der vorliegenden Arbeit wurde der Allgemeine Soziale Dienst (ASD) der Jugendämter als Forschungsfeld gewählt. Der ASD hat in Jugendämtern die Aufgabe, Beratung für Kinder und Eltern anzubieten sowie Entscheidungen über die Bewilligung von Leistungen zu treffen. Ihm obliegt typischerweise die Fallzuständigkeit für die Bearbeitung schwieriger Fälle. Die Beschäftigen des ASD sollen dem staatlichen Wächteramt nachgehen, d. h. sich bemühen, Kinder vor Misshandlung, Vernachlässigung und Missbrauch zu schützen. Zudem obliegt es den Sozialarbeiter/innen, über die Gewährung von Maßnahmen zu entscheiden, etwa zu verfügen, ob ein Kind außerhalb seines Elternhauses untergebracht werden soll. Die Sozialarbeiter der Jugendämter sind es nicht zuletzt, die auch immer wieder für vermeintliche Fehler in der Bearbeitung von schwierigen Fällen öffentlich verantwortlich gemacht werden. Der ASD erschien daher als geeigneter Ort, um Prozesse der jugendamtlichen Fallarbeit bei (vermuteter) Kindeswohlgefährdung, respektive Entscheidungen über stationäre Hilfen der Erziehung, zu erforschen.11 Gerade vor dem Hintergrund der öffentlichen Kritik am Jugendamt, in der die Sozialarbeiter/innen für ihre Entscheidungen kritisiert werden, konnte ich jedoch nicht erwarten, ohne Weiteres die Erlaubnis zu erhalten, Jugendämter als Forscher zu betreten und dort Daten zu erheben. Die Frage des Feldzugangs erhält besondere Brisanz, da die Gegenwart eines Ethnographen für die Personen im Feld mit einigen Zumutungen verbunden ist: Die Teilnehmenden müssen z. B. »Zeit für Gespräche erübrigen« (Wolff 2012: 335), sich von den Forschenden bei ihren alltäglichen Unternehmungen ›auf die Finger schauen lassen‹, dabei möglicherweise »Peinlichkeiten aushalten« (ebd.) und auch mit »Infragestellungen« (ebd.) ihrer Praxen rechnen. Zudem stehen die Teilnehmer/innen vor der Problematik, dem Forscher möglichst »interessante Daten [zu] liefern« (ebd.), ihn über »situa-
11 Die Akteure der Jugendämter stehen damit im Zentrum der Forschung. Gleichwohl ging es mir natürlich insbesondere auch um die Interaktionen der Organisationseinheit mit ihren außer- und innerorganisationalen Umwelten, z. B. um die Auseinandersetzung der Sozialarbeiter/innen mit Ärzten, Eltern, Kindern, Vorgesetzen usw. Der ASD war Ort des Zutritts zum Forschungsfeld wie auch Angelpunkt bei der Erhebung von Gesprächen, Beobachtungen und Dokumenten.
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tive Relevanzen« (ebd.) aufzuklären und allgemein in ihren Handlungszusammenhang, z. B. bei Freund/innen, Klient/innen und Kolleg/innen, einzuführen. Ein gewisses Misstrauen des Feldes gegenüber den Vertreter/innen der Wissenschaft scheint insofern erwartbar: Wolff beschreibt entsprechende Abwehrstrategien oder »Immunreaktionen« (ebd.: 343), die von den Vertreter/innen des Feldes typischerweise bemüht werden können, um mit »unliebsamen bzw. ungewohnten Ansinnen« (Wolff 2012: 343) umzugehen. So können Anfragen der ethnographierenden Person z. B. »zunächst einmal an eine höhere Stelle mit Bitte um Prüfung« (ebd.) übermittelt werden, »neue Darstellungen des Forschungsvorhabens« (ebd.) verlangt bzw. die Beantwortung von Anfragen verschoben werden, »weil sich viele Anfragen in der Regel von selbst erledigen« (ebd.). In der Tat hatte ich zunächst Schwierigkeiten damit, die Erlaubnis für einen Feldaufenthalt zu erhalten. Meine Kontaktaufnahmen zu den Jugendämtern bereitete ich in der Regel mit einer E-Mail vor, auf die ich in einem anschließenden Telefonat Bezug nehmen konnte (auch wenn von Amtsseite nicht geantwortet werden sollte). Hierin deutete ich mein Forschungsinteresse an (»Wie gelingt es Sozialarbeiter/innen – trotz schwieriger Bedingungen – zu entscheiden?«). Mit der Formulierung ging es mir darum, deutlich zu machen, dass ich mich für die Kompetenzen der Handelnden interessierte.12 Zudem wollte ich ausreichend Transparenz schaffen, mir aber gleichzeitig genügend Offenheit erhalten, den Forschungsprozess explorativ gestalten zu können.13 Die Darstellung sollte plausibel genug sein, um meine Anwesenheit im Feld zu begründen, andererseits den Horizont möglicher Erhebungssituationen nicht zu sehr einschränken. Zudem betonte ich, die Arbeitsprozesse und die Mitarbeiter/innen des Amtes möglichst wenig stören zu wollen. Aus forschungspragmatischen Gründen schrieb ich zunächst Jugendämter in der Nähe meines Wohnortes an. Ich hatte vor, mich über längere Zeit dort aufzuhalten und beabsichtigte, den Aufwand für Reisen und Unterkunft möglichst gering zu halten. Insgesamt wendete ich mich an sechs Jugendämter.
12 Simon empfiehlt in diesem Sinne für die Untersuchung von Entscheidungsprozessen: »In the study of organization, the operative employee must be at the focus of attention, for the success of the structure will be judged by his perfomance within it.« (Simon 1997: 2) 13 »Sie müssen sich darauf vorbereiten, von den Leuten, die sie untersuchen, nach Ihren Gründen befragt zu werden.« (Goffman 1996b: 264)
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Trotz aller anfänglichen Kontaktschwierigkeiten konnte schließlich in zwei Jugendämtern die Erlaubnis zu forschen erreicht werden. In einem dieser Jugendämter hatte ich den Kontakt über den Jugendamtsleiter hergestellt. Nach einigen Anrufen und E-Mails vereinbarten wir einen Gesprächstermin im Jugendamt. Ich stellte mein Anliegen dar, und der Amtsleiter äußerte sich erfreut darüber, dass ein Wissenschaftler sich »für die Probleme« der Praxis interessiere. Er sicherte zu, mir den Aufenthalt in »seinem« Amt zu ermöglichen. Allerdings hatte er Bedenken, dass mein Aufenthalt das Team belasten könnte. Daher schlug er mir vor, mich in einem Team vorzustellen, das ihm am intaktesten erschien und insofern meine Anwesenheit am ehesten, so seine Überlegung, würde verkraften können. Zu einem späteren Zeitpunkt konnte ich zudem einen Feldforschungsaufenthalt in einem weiteren Jugendamt realisieren. In diesem zweiten Jugendamt wurde mir von der Person, an die ich mich gewendet hatte, vorgeschlagen, ich solle mich doch an die Vermittlung für Praktikanten wenden (das knüpfte offensichtlich an meine Selbstdarstellung als Forscher an, der sich ähnlich einem Praktikanten verhalten würde). In der Tat konnte ich in diesem zweiten Jugendamt einen Praktikantenvertrag unterzeichnen. Ich stimmte den entsprechenden Bestimmungen zu und erhielt die Erlaubnis, an Besprechungen der Sozialarbeiter/innen teilzunehmen, Gespräche zu führen und auch Akten und andere Dokumente einzusehen. Zudem hatte ich noch einige Materialien zur Verfügung, die ich ebenfalls in meine Analysen miteinbeziehen wollte und bereits in einem früheren Forschungsprojekt gemeinsam mit meinen Kolleg/innen in anderen Jugendämtern erhoben hatte. Die Gesamtheit der vorliegenden Daten bildete sich insofern aus Erhebungen in drei Jugendämtern. Betrachtet man die Versuche des Feldforschers und die entsprechenden Reaktionen des Feldes als Hinweise auf strukturelle Dimensionen des Forschungsfeldes (Wolff 2012: 339 f.), so können sich Hinweise ergeben, wie eine soziale Gruppe bzw. Organisation auf Fremde (ebd.) aus der Umwelt reagiert. In seinen Reaktionen auf mich als Forscher zeigte sich das Jugendamt einerseits als Organisation, die durchaus erreichbar sein möchte, aber andererseits Schwierigkeiten hat, diesen Kontakt verlässlich zu gewährleisten. Einerseits wird das Amt z. B. mit dem Slogan »Unterstützung, die ankommt« beworben. Häufig werden Telefonnummern und Ansprechpartner für Eltern und Kinder zugänglich gemacht, z. B. auf der Homepage des Amtes veröffentlicht. Andererseits waren die Sozialarbeiter/innen der
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Jugendämter, auch im weiteren Verlauf der Forschung, per Telefon häufig nur schwer zu erreichen. Die Apparate waren häufig nicht besetzt und Anrufbeantworteter nur in einem der drei beforschten Ämter gängige Praxis. Die Kenntnis, zu welchen Zeiten die Sozialarbeiter/innen erreichbar sind, musste ich mir erst im Laufe der Forschung aneignen. Ich befand mich in der unangenehmen Situation, Kontakt zu suchen, aber keine oder nur unregelmäßig Resonanz zu erhalten. Dies lässt sich durchaus als Hinweis auf Immunreaktionen des Feldes gegenüber unliebsamen Eindringlingen lesen, denen mit Formen des Warten-Lassens, Verzögerns bzw. des Gewährens begrenzten Zutritts begegnet wird.14 3.1.2 Rolle im Feld The researcher must be able to take up positions in the midst of the key sites and scenes of othersʼ lives in order to observe and understand them. (EMERSON ET AL. 1995: 2)
In der Methodenliteratur werden verschiedene Formen des »InvolviertSeins« (Scheffer 2002: 353, vgl. Gobo 2008: 103) in die Handlungsvollzüge des Feldes beschrieben. Gold unterscheidet den »vollständigen Teilnehmer«, den »Teilnehmer-als-Beobachter«, den »Beobachter als Teilnehmer« und den »vollständigen Beobachter« (Gold 1958). Diese Typologie der Beobachterrollen beschreibt unterschiedliche Grade des Eintauchens in die fremde Kultur. Der vollständige Teilnehmer stellt den Typus eines Handelnden dar, der entsprechend der Gepflogenheiten des Feldes, wie ein Vertreter des Feldes handelt. Bei Emerson heißt es in diesem Zusammenhang: »Some maximize their immersion in local activity […] to experience fully another way of life« (Emerson et al. 1995: 17). Venkatesh (2008) beschreibt in »Gangleader for a day«, wie er in die Rolle des Gangmitglieds
14 Die Form des Zugangs über eine in der Hierarchie hochgestellte Person, hier den Amtsleiter, hatte im Nachhinein betrachtet den Vorteil, dass der Hinweis auf die Erlaubnis der Jugendamtsleitung nützlich war, um Beobachtungen und Interviews durchführen zu dürfen. Meine Anwesenheit war dann sozusagen von höchster Stelle legitimiert. Z. T. führte dies jedoch auch dazu, dass mir andere Türen verschlossen wurden, da ich mitunter als Vertrauter der Amtsleitung als möglicher »Spion« wahrgenommen wurde.
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schlüpfte und sogar selbst für einen Tag zum Anführer der Gruppe wurde, die er erforschte. Diese Form der vollständigen Teilnahme, des »going native«, birgt die Gefahr, dem Gegenstand der Forschung möglicherweise zu nah zu kommen, mit dem Wissen der Teilnehmer/innen eine gewisse Betriebsblindheit zu übernehmen bzw. »Forschungs- und Praxisperspektive« in eins setzen zu wollen (Wolff 2005: 122, Wolff 2008: 237, 255).15 Auf der anderen Seite steht der vollständige Beobachter, der sich möglichst weit aus dem Geschehen heraushält und versucht, die Handlungsabläufe im Feld nicht zu beeinflussen, um »natürliche« Vorgänge zu dokumentieren. Doch auch diese Position erscheint in letzter Konsequenz unerreichbar: Einflüsse des Forschers sind nicht auszuschließen, Interaktionen zwischen Forschenden und Teilnehmenden nicht zu unterbinden (vgl. hierzu kritisch die Ausführungen von van Maanen 2011 zu »realist tales«).16 Die Typologie von Gold macht auf ein Kontinuum verschiedener Formen des Involviert-Seins aufmerksam, bei dem der vollständige Teilnehmer und der vollständige Beobachter nur zwei Eckpunkte vielfältiger Varianten der teilnehmenden Beobachtung bezeichnen (Thomas 2010). Für meine Feldaufenthalte erschien eine marginale Rolle nützlich, die es erlauben würde, mich als akzeptierter Teilnehmer im Feld aufzuhalten, ohne zu sehr in die lokalen Handlungsvollzüge involviert zu werden.17 Ich
15 Zudem ist als unwahrscheinlich anzusehen, dass eine forschende Person überhaupt zu einem vollkommenen Teilnehmenden werden kann: »Even within intensive resocialisation, the ethnographer never becomes a member in the same sense that those ›naturally‹ in the setting are members.« (Emerson et al. 1995: 4) 16 Wichtiger als die Minimierung von Einflüssen ist es daher, diese, bzw. den Kontext der Erhebung der Daten und darin mögliche Interaktionen zwischen Forscher/innen und Beobachteten, zu reflektieren: »Of course, […] we may need to diversify the sorts of data on which we draw, so there is no suggestion that how we collect data, or what data we collect, is of no importance. The point is that minimizing the influence of the researcher is not the only, or always even a prime, consideration. Assuming we understand how the presence of the researcher may have shaped the data, we can interpret the latter accordingly and it can provide important insights, allowing us to pursue the emerging analysis.« (Hammersley und Atkinson 2007: 102) 17 Eine aktive Rolle einzunehmen (ich bin schließlich diplomierter Sozialarbeiter) kam letztlich nicht in Frage: Die Entscheidungsgewalt der Sozialarbeiter/innen über ihre Fälle wollte und konnte ich nicht beanspruchen. Ein absolutes Nach-
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strebte daher eine explizite Rolle an, die mir den Aufenthalt im Feld ermöglichen würde. [A]n explicit research role must be constructed, [...] the ethnographer seeks to maintain the position of an acceptable marginal member, perhaps in relation to several audiences. (Hammersley und Atkinson 2007: 68)
Meine Position im Feld entwickelte ich angelehnt an die Rolle des Praktikanten. Praktikanten, so meine Überlegung, sind in den Jugendämtern bekannt, einige Jugendämter verfügen sogar über eigene Stellen zur Vermittlung von Praktikanten. Überdies war mir die Rolle des Praktikanten selbst geläufig, da ich während meines Studiums ein Praktikum in einem Jugendamt absolvierte. Zu dieser Zeit war ich häufig bei Gesprächen zugegen und hatte schon damals Notizen für spätere Aktenvermerke verfasst. Zudem befand ich mich während der Erhebung in einem Alter, dass aus meiner Sicht die Rolle des Praktikanten als (gerade noch) glaubwürdig erscheinen ließ. Meine Annahme war daher, dass es mir in einer solchen Rolle während meiner Forschung möglich sein würde, akzeptiert anwesend zu sein und gleichzeitig meinem forscherischen Interesse nachgehen zu können. Ich kommunizierte meinen Kontaktpersonen im Forschungsfeld daher, dass ich ähnlich eines Praktikanten im Feld »mitlaufen« wolle. Meine Selbsteinführung ergänzte ich im Laufe des Feldaufenthaltes z.T. um die Formulierung des »nutzlosen« oder »faulen« Praktikanten, um deutlich zu machen, dass von meiner Seite nicht viel (praktische) Unterstützung zu er-
vollziehen der Teilnehmer/innenposition durch Einnahme der Handlungsposition wäre insofern auch unrealistisch gewesen: Die Verantwortung hätte immer weiter bei den Sozialarbeiter/innen gelegen. Die Teilnahme als Handelnder erschien hierzu nicht unbedingt notwendig und möglicherweise sogar als schädlich. Hätte ich mich beispielweise in Teambesprechungen eingemischt, hätte ich dadurch möglicherweise nicht nur das Entscheiden der Sozialarbeiter/innen, sondern auch den gewöhnlichen Ablauf der beobachteten Situation über Gebühr gestört, außerdem wäre mir möglicherweise zudem als Wissenschaftler eine Autorität zugekommen, die mir meiner eigenen Einschätzung nach nicht zustand wahrzunehmen. Vor allem hätte wäre das vermehrte Eingreifen in die Situation für das ganze Forschungsvorhaben kontraproduktiv gewesen, da es den Forschungsgegenstand, das Entscheidungsverhalten der Sozialarbeiter/innen, möglicherweise verändert hätte.
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warten war. Bei Nachfragen antwortete ich, dass ich einfach im Arbeitsgeschehen dabei sein wolle, um die alltäglichen Vollzüge kennenzulernen.18 Nicht zuletzt impliziert eine solche Rolle, ein neues Arbeitsfeld kennenzulernen, einfach ›dabei zu sein‹ und naive Fragen stellen zu dürfen.19 In Ausnahmefällen machten die Sozialarbeiter/innen meine Ausbildung als Sozialarbeiter relevant. Sie baten mich z. B. um meine »fachliche« Einschätzung in der Besprechung von Fällen. Hierbei versuchte ich mich jedoch zu enthalten. Ich äußerte dann z. B., dass ich schon lange nicht mehr in der Praxis tätig und eher zum Forschen, weniger zur Diskussion von Fällen hier sei. Mir ging es darum den Verlauf der Besprechung und mögliches Entscheiden möglichst wenig beeinflussen bzw. mich vor allem mehr damit beschäftigen, diese gut zu verstehen und zu dokumentieren (Gobo 2008: 126). Insgesamt wurde die Form der »passiven« Teilnahme (Gobo 2008: 106) akzeptiert. Vor allem bei formellen Arbeitssituationen konnte ich mich so auf das Beobachten konzentrieren. Auch dass ich ständig Notizen in fertigte wurde in der Regel akzeptiert. In informellen Situationen allerdings, z. B. in der Mittagspause, wurde ich durchaus z.T. gefragt, was ich notierte. Ich ging daher dazu über, mich gerade während der Mittagspausen oder anderer informeller Situationen mit dem Schreiben zurückzuhalten und mich aktiver als sonst in Gespräche einzubringen. Ereignete sich während dieser Situationen etwas, das ich als forschungsrelevant betrachtete, so notierte ich
18 Ich führte meine Beobachtungen offen durch, d. h., dass die Anwesenden darüber informiert waren, dass ich zu Zwecken der Forschung an den entsprechenden Situationen teilnahm. Unbeantwortet bleibt dabei aber die Frage, inwiefern die Beteiligten tatsächlich Einblick in die Verwendung der Materialien erhalten konnten, inwiefern es überhaupt möglich ist, den genauen Verwendungszusammenhang meiner Forschung detailliert allen Anwesenden deutlich zu machen. Der »informed consent« stellte dabei für mich ein Ideal dar, dem ich folgte, das jedoch unerreicht bleiben musste, da zwar das Einverständnis erreicht wurde, aber Unklarheiten, was genau die Forschung ausmachen würde, nie gänzlich auszuräumen sind. Ich ging insofern davon aus, dass Forschung trotz in letzter Instanz nie zu erreichender, umfassender Informiertheit dennoch möglich sein sollte (Wolff 2012: 346). 19 Schließlich geht es gerade bei der Ethnographie darum, allzu Selbstverständliches in Frage zu stellen, da erst auf diese Weise soziale Strukturen deutlich werden (man denke nur an die Krisenexperimente von Garfinkel).
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dies dann später. Zwar war ich während meiner Feldaufenthalte in verschiedenen Situationen unterschiedlich involviert, jedoch stand insgesamt eine Haltung im Vordergrund, die als »participating in order to write« (Emerson et al. 1995: 26 ff.) gekennzeichnet werden kann.
3.2 D ATENERHEBUNG Die Ethnografie als Forschungsstrategie kombiniert [...] alle möglichen Verfahren der Datenerhebung. (HIRSCHAUER 2001: 431) Large numbers of observations are collected over an extended period of time through multiple and varied procedures, findings are recurrently re-vised and tested. (EMERSON 1981: 361)
Im ethnographischen Forschungsprozess verbinden sich typischerweise mehrere Formen der Datenerhebung (Hammersley und Atkinson 2007, Hirschauer 2001: 431, Kalthoff 2006: 152). Teilnehmende Beobachtungen bilden dabei in der Regel den zentralen Ansatzpunkt ethnographischer Studien (Becker 1958, Spradley 1980, Hammersley und Atkinson 2007). Häufig werden darüber hinaus weitere Formen der Datenerhebung, vor allem auch (ethnographische) Interviews, eingesetzt (Spradley 1979). Knorr-Cetina (2002) benennt Zusehen, Zuhören und das Sammeln von Dokumenten als zentrale Modi ethnographischen Arbeitens (ebd.: 59, auch bei Kalthoff 2006: 152). Im Rahmen der unternommenen Feldforschung wird ebenfalls auf diese Modi des ethnographischen Arbeitens zurückgegriffen: Ich beobachtete teilnehmend den Vollzug von Arbeitsprozessen, führte Interviews, sammelte und analysierte Dokumente.
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3.2.1 Teilnehmende Beobachtung By participant observation we mean that method in which the observer participates in the daily life of the people under study, either openly in the role of researcher or covertly in some disguised role, observing things that happen, listening to what is said. (BECKER UND GEER 1957: 28)
Die teilnehmende Beobachtung stellt ein »Schlüssel-Charakteristikum« (Emerson 1981: 351) ethnographischer Forschung dar. Sie wird zugleich als wesentliches Mittel betrachtet, um sich dem Gegenstand der Forschung sensitiv zu nähern (vgl. Knorr-Cetina 2002, Emerson et al. 1995). Zugleich wird sie als elementar dafür angesehen, andere Datensorten, z. B. eine Interviewsequenz oder ein Dokument, im Kontext ihrer Verwendung überhaupt einordnen zu können (Hirschauer 2001: 431). Indem der Beobachter am Handlungsgeschehen teilnimmt, sich den »conditions and routines« (Emerson et al. 1995: 2) aussetzt, erwirbt er »Insider-Wissen« (Hirschauer 2001: 431) bzw. auch »implizites Wissen« (vgl. Gobo 2008, Polanyi 1985). Die Technik besteht meiner Meinung nach darin, Daten zu erheben, indem man sich selbst, seinen eigenen Körper, seine eigene Persönlichkeit und seine eigene soziale Situation den unvorhersehbaren Einflüssen aussetzt, die sich ergeben, wenn man sich unter eine Reihe von Leuten begibt, ihre Kreise betritt, in denen sie auf ihre soziale Lage, ihre Arbeitssituation, ihre ethnische Stellung oder was auch immer reagieren. (Goffman 1996b: 263)
Im Feld der Forschung durchlebt der Ethnograph einen Prozess der »ReSozialisierung« (Emerson et al. 1995: 2). Mit Hammersley und Atkinson (2007) können wir davon ausgehen, dass wir im Grunde alle beobachtend an sozialen Situationen teilnehmen: »Everyone is a participant observer, acquiring knowledge about the social world in the course of participating in it« (Hammersley und Atkinson 2007: 98). Auch der nicht-wissenschaftliche Beobachter erwirbt Wissen über die Gepflogenheit des jeweiligen Kontextes: Die teilnehmende Beobachtung als Strategie der Datenerhebung macht sich dies zunutze: »In the process of learning how to participate in the host society, the stranger gradually acquires an inside knowledge of it, which
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supplants his or her previous ›external‹ knowledge« (Emerson et al. 1995: 2). Es geht mit der teilnehmenden Beobachtung insofern auch um eine »Form der Integration von Fremden in eine Lokalität« (Amann/Hirschauer 1997: 17).20 Das über teilnehmende Beobachtungen gewonnene Wissen ergänzt idealerweise das Wissen der ethnographierenden Person. Es wird vom Ethnographen genutzt, um Beobachtungen zu verstehen, einzuordnen und auch um zu bestimmen, welche weiteren Datenerhebungen notwendig sein könnten (Hirschauer 2001: 431). Schließlich kann es für die Leserinnen und Leser zugänglich gemacht werden. Während meiner Beobachtungen versuchte ich, gerade zu Beginn meiner Forschung, möglichst alles festzuhalten, was die Vertreter/innen des Feldes gerade taten und sagten. Meine Beobachtungen bezogen sich auf die »Praktiken von Individuen« (Kalthoff 2006) richteten sich gleichsam auf die übergeordneten Arbeits-Zusammenhänge. Von Interesse waren insbesondere Probleme, die sich den Professionellen in der Bearbeitung von Fällen stellten, sowie die Vorgehensweisen, mit denen die Sozialarbeiter/innen ihnen begegneten. Ziel war es dabei, typische Vorgehensweisen zu identifizieren, regelhafte Umgangsweisen mit Entscheidungsproblemen herauszuarbeiten. Um die Verhaltensweisen in der Logik der Situation (in der sie beobachtet wurden) später rekonstruieren zu können, wurde nach Möglichkeit die »temporale[n] Struktur der Praktiken und des Sprechens« (ebd.: 115) in der Protokollierung eingehalten. Um situationsübergreifende Arbeitsabläufe zu untersuchen (Scheffer 2008), wurden einige Fälle über einen längeren Zeitraum verfolgt; ich nahm entsprechend an mehreren Situationen teil, in denen diese Fälle bearbeitet wurden und hielt mich mit Nachfragen ›auf dem Laufenden‹.
20 Goffman (1996b) fordert entsprechend, sich möglichst »nackt«, also ohne größere Hilfsmittel, in das Feld zu begeben, um den Kontakt zu dem Feld und seinen Bewohner/innen zu intensivieren und sich selbst einem Prozess des InKontakt-Tretens und der Einsozialisierung auszuliefern. Mit seinem Körper im Feld platziert, hat er alle Formen der Wahrnehmung zur Verfügung (eventuell sogar seinen »sozialen Sinn«, s. Scheffer 2002: 353). Er kann beobachten, was er riecht, hört, sieht, schmeckt und fühlt. Gemeinhin beschränkt sich die ethnographische Beobachtung allerdings auf die visuellen und auditiven Wahrnehmungen des/der Forschenden und darauf, diese in Worte zu fassen (Gobo 2008: 170 ff.).
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Bei den Beobachtungen achtete ich zudem auf das Sprechen und die Versprachlichungen der Teilnehmenden (Kalthoff 2006: 115). Die Referenz auf Sprache war wichtig, um vollzogene Handlungen überhaupt verstehen und besondere Bedeutungszuschreibungen genauer untersuchen zu können (Gobo 2008: 167 f.).21 Was die Sozialarbeiter/innen z. B. über ihre Fälle und Klienten sagten, aber auch, wie sie es sagten und welche Bedeutung sie damit ihrem Tun gaben, wurde nach Möglichkeit in Beobachtung und Protokollierung einbezogen. Bezogen auf die sprachlichen Darstellungen wurde zudem die Annahme verfolgt, dass auch das Sprechen ein Tun ist. Ich ging davon aus, dass auch das Tun typischerweise durch Sprechen begleitet, häufig erst durch das Sprechen von den Beteiligten zum sinnhaften Tun gemacht wird, also dass Sprechen auch Handeln darstellt. Agar fragt in diesem Sinne rhetorisch: »Aren’t people behaving when they talk, and don’t they talk when they behave?« (Agar 1980: 107). Mir markant erscheinende Äußerungen, die z. B. die Frage der Fallarbeit oder der Fremdunterbringung betrafen, notierte ich daher wörtlich, um diese später in meine Beobachtungsprotokolle einzuarbeiten. Hierzu verwendete ich in den Beobachtungsprotokollen doppelte Anführungszeichen, um sicher erinnerte Äußerungen zu markieren. Weniger sicher erinnerte Äußerungen kennzeichnete ich mit einfachen Anführungszeichen. Zudem notierte ich Äußerungen der Beteiligten in wiedergebendem Wortlaut, wozu ich den Berichtskonjunktiv verwendete. Neben dem sprachlichen Setting fokussierte ich in meinen Beobachtungen immer wieder das »dinghafte Setting« der beobachteten Situationen (Gobo 2008: 173-179). Ich achtete darauf, wie die Sozialarbeiter/innen Gegenstände, z. B. Risikoeinschätzungsbögen oder Checklisten, in ihr Handeln einbanden. Wann, zu welchen Gelegenheiten wurden z. B. Risikochecklisten eingesetzt? Wie bezogen sich die Anwesenden auf diese technischen Gegenstände? Zudem fertigte ich von Zeit zu Zeit einige Skizzen zu den räumlichen Strukturen, hielt z. B. die Sitzordnung der Anwesenden fest. Die in den Arbeitssituationen erstellten stichpunktartigen Notizen (»jottings«, Emerson et al. 1995: 19 ff.) vervollständigte ich möglichst noch am
21 Kalthoff (2006) merkt an: »Teilnehmer machen ihr Wissen aber nicht allein durch ihre Darstellung beobachtbar, sondern ebenfalls durch die Klärungen und Erklärungen, die sie einander formulieren« (ebd.: 154). Gobo empfiehlt in diesem Sinne: »listening to the speech that proceeds« (ebd. 2008: 167).
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selben Tag zu ausgearbeiteten Beobachtungsprotokollen. Ich bemühte mich um detaillierte Beschreibungen, zumindest von einzelnen typischen Konstellationen. Hierzu benötigte ich in der Regel mindestens genauso viel bis dreimal so viel Zeit, wie die Beobachtungen selbst angedauert hatten. Beim Schreiben der Notizen folgte ich dem Verlauf der beobachteten Situationen. Wenn ich mich auch darum bemühte, die Sequenz der Situation und ihre Details zu dokumentieren, so handelte es sich bei meinen Protokollen doch selbstverständlich nicht um Abbildungen der Situation. Das Schreiben der Protokolle stellt im Prozess der Forschung vielmehr einen ersten analytischen Schritt dar. Das Protokollieren impliziert Selektionen, d. h. Schwerpunktsetzungen, die auf (ersten) Analysen beruhen. Doch gerade diese Form der Kondensation, die Verarbeitung oder »Trans-Kription« dessen, was im Handeln nur vollzogen wird, das macht gerade die besondere Leistung der Ethnographie aus (Kalthoff 2006: 167). Writing fieldnote descriptions, then, is not so much a matter of passively copying down ›facts‹ about ›what happened‹. Rather, such writing involves active processes of interpretation and sense-making: noting and writing down some things as ›significant‹; noting but ignoring others as ›not significant‹; and even missing other possibly significant things altogether. As a result, similar (even the ›same‹) events can be described for different purposes, with different sensitivities and concerns. (Emerson et al. 1995: 8)
Für den Beginn einer teilnehmenden Beobachtung wird gemeinhin als sinnvoll angesehen, zunächst offen zu beobachten »was vor sich geht«22 und die Beobachtungen möglichst umfassend zu protokollieren (Goffman 1989, Agar 1980: 107): »you take what you can, especially in the early phase« (ebd.). Ich folgte dieser Anregung, begann gewöhnlich gleich zu Beginn meines Feldaufenthaltes mit meinen Schreibtätigkeiten, so dass ich eine Erinnerungsstütze für meine ersten Eindrücke hatte. Zudem verfolgte ich damit das Ziel, deutlich zu machen, dass ich auch in Zukunft Notizen fertigen würde. Bereits während früheren Arbeiten mit der teilnehmenden Beobachtung erlebte ich, wie schwierig es ist, gleichzeitig teilzunehmen, den Vollzug von Handlungen zu beobachten und die eigenen Beobachtun-
22 Mit den Worten von Geertz (2003): »You do two or two-and-a-half years in Java in which all you do is live with the people, write down everything, and try to figure out what the hell is going on; then you come back and write« (ebd.: 91).
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gen zu notieren: »Ein Problem für die Beobachtung vor Ort ist die hohe Frequenz und Geschwindigkeit, mit der situativ Meinungen und Positionen, Entscheidungen und Informationen auftauchen und zirkulieren (2002: 357, Hv. i. O.). Angesichts der Vielschichtigkeit sozialer Bezüge, ihrer der Komplexität und Dynamik sich vollziehender Praktiken, erscheint es sinnvoll Beobachtungen (zunehmend) zu fokussieren (Agar 1980: 119 ff.). Während meiner Beobachtungen nahm ich Fokussierungen auf mehreren Ebenen vor, um meine »Beobachtungsfähigkeit zu verbessern« (Scheffer 2002: 359). Eine grundlegende thematische Fokussierung bestand in meinem Interesse an der Bearbeitung von Fällen der Kindeswohlgefährdung – und hierin in der Fokussierung auf die Frage nach möglicherweise notwendigen Fremdunterbringungen. Meine Beobachtungen waren insofern durch diese »sensitivierenden Konzepte« (Hammersley und Atkinson 2007: 164, 174) geprägt. Ich achtete z. B. nicht so sehr auf Fälle, in denen es »nur« um eine Erziehungsberatung oder eine Einzelfallhilfe ging. Mein Interesse war eher auf die schwierigen Fällen und damit speziell auf solche gerichtet, in denen eine (vermutete) Kindeswohlgefährdung angenommen, eine Fremdunterbringung bereits angewiesen, im Moment durchgeführt oder für die Zukunft als Option diskutiert wurde. Eine weitere Fokussierung nahm ich vor, indem ich zu Beginn meiner Forschung eine Sozialarbeiterin über längere Zeit in ihrem Arbeitsalltag begleitete. So erhielt ich die Möglichkeit, mich von ihrer Perspektive aus im Feld zu orientieren und einen Einblick in die Arbeitsroutinen der Sozialarbeiter/innen zu erhalten. Zudem nahm die Sozialarbeiterin für mich die Funktion eines »Gatekeeper« (ebd.: 27 f.) ein, die mir auch den Zugang zu weiteren Situationen ermöglichte. Eine weitere Strategie bestand z. B. darin, »das gleiche Geschehen (den Behördenkontakt, die Patientenaufnahme, die Visite etc.) mehrmals auf[zu]suchen und [zu] studieren, um Wissenslücken zu schließen, (weitere) Varianten zu entdecken, fehlende Details zu ermitteln« (Scheffer 2002: 357). Die Auswahl der beobachteten Situationen folgte meinem analytischen Interesse und stellt eine Form des »theoretischen Samplings« im Prozess des Codierens dar (Strauss und Corbin 1990: 181 ff.). Für die Entwicklung einer gegenstandsbezogenen Theorie erschien es nützlich, auch Abschnitte des Fallbearbeitungsprozesses zu untersuchen, in denen interaktiv über Entscheidungen verhandelt wurde. Hierbei handelte es sich z. B. um Fallbesprechungen und Hilfeplankonferenzen, – also um Situationen, in denen die Sozialarbeiter/innen ihren Kolleg/innen oder von den Entscheidungen be-
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troffenen Kindern und Eltern deutlich machten, wieso so und nicht anders zu entscheiden sei, z. B. eine Fremdunterbringung in Frage komme oder nicht. 3.2.2 Interviews There is no reason, then, for ethnographers to shy away from the use of interviews, where these are viable. Interviewing can be an extremely important source of data: it may allow one to generate information that it would be very difficult, if not impossible, to obtain otherwise – both about events described and about perspectives and discursive strategies. (HAMMERSLEY UND ATKINSON 2007: 102)
Interviews stellten im Rahmen meiner Feldaufenthalte sowie für die spätere Analyse eine wichtige Form der Datenerhebung dar. Ziel war vor allem, die sprachliche Bedeutungskonstruktion der Teilnehmenden, aber auch bereichsspezifische sprachliche Darstellungspraxen zu erfassen.23 Hierbei setzte ich auf zwei Interviewstile. Die erste Form des Interviews ähnelte dem episodischen oder narrativen Interview, die zweite dem ethnographischen Interview, wobei letztlich auch beide Elemente ineinander übergingen. Auf die Typik der beiden Interviewformen wird im Folgenden differenzierter eingegangen. Die erste Form des Interviews, in der ich versuchte, Narrationen der Sozialarbeiter/innen zu erheben, kann man am ehestens als narratives (Schütze 1983, Holtgrewe 2009) oder episodisches Interview (Flick 2010a: 240) bezeichnen24: »Kernpunkt dieser Interviewform ist die regelmäßige
23 Ethnographische Forschung heißt nicht zuletzt, die virulenten Bedeutungsstrukturen aus Sicht der Teilnehmenden zu erfassen: »›Aus der Nähe‹ sehen heißt […] zunächst einmal herauszufinden, wie die Teilnehmer die Welt ihrer Erfahrung strukturieren, und die entsprechenden Konstrukte in der Übersetzung in die Wissenschaftssprache zu konservieren.« (Knorr-Cetina 2002: 45) 24 Möglicherweise sollte ich hier auch besser von einem Interview mit episodischnarrativen Elementen sprechen, da ich weder der Konzeption von Flick noch der von Schütze vollkommen folge.
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Aufforderung zum Erzählen von Situationen« (ebd.: 240). Mein Interesse bestand darin, etwas darüber zu lernen, wie Sozialarbeiter/innen die Welt ihres Erlebens strukturieren und hierin Bedeutungen zuschreiben (KnorrCetina 2002: 45). Zudem wollte ich etwas über das Vorgehen der Sozialarbeiter/innen in der Fallbearbeitung zu erfahren. Die Annahme war, dass Erzählungen von Prozessen zwar nicht die Prozesse darstellen, aber möglicherweise dem Prozess etwas näher kommen, als dies z. B. theoretische Überlegungen tut. Zusammenfassend ging es darum, erstens die subjektive Perspektive der Sozialarbeiter/innen auf die Entscheidungsproblematik, zweitens die Muster realisierter Fallverläufe in der Bearbeitung, drittens diskursive Strategien der Begründung und auf diese Weise viertens den Einsatz der Maßnahme Fremdunterbringung überhaupt sowie die entsprechenden Entscheidungsprozesse besser nachzuvollziehen und zu verstehen. Zur Vorbereitung der Interviews notierte ich mir in der Regel etwas mehr als zehn Fragen, die ich erzählgenerierend formulierte. Zum einen bat ich die Sozialarbeiter/innen, mir aus ihrem Arbeitsalltag zu erzählen. Ich fragte z. B. nach einem typischen Tagesablauf, nach einzelnen Fällen oder auch nach Sequenzen aus der Fallarbeit, stellte weitere Fragen, die zu Erzählungen anregen sollten.25 Den Leitfaden sah ich dabei eher als Inspiration, nicht als strenge Vorschrift, die ich hätte rigide abarbeiten müssen und verzichtete auf eine »bürokratische« Nutzung des Leitfadens (Hopf 1978). Fragen wurden, im Unterschied zur alltäglichen Gesprächssituation, möglichst sparsam eingesetzt, auf diese Weise wurden die Relevanzsetzungen der Interviewpartner/innen abgewartet. Hierzu wurden gewöhnlich auch längere Pausen zugelassen, bevor ich eine nächste Frage stellte, etwa nachdem meine Gesprächspartner/innen eine Erzähl-Episode, z. B. den Bericht zu einem Fall oder zu einer spezifischen Situation, abgeschlossen hatten. Ich nickte dann eher aufmunternd, signalisierte Zustimmung (»mhm«) oder
25 Im Laufe der Erhebung stellte sich heraus, dass sich insbesondere Fragen nach Fallverläufen (bzw. nach Verläufen der Bearbeitung), gut eigneten, um vielfältige Erzählungen anzuregen. Fragte ich z. B. nach ›aktuellen‹, ›typischen‹ oder auch nach ›extremen‹ Fällen, so folgten in den Interviews typischerweise zahlreiche Erzählungen. Nicht selten dauerten solche Gespräche zwei Stunden, einzelne Fallerzählungen konnten bis zu einer Viertelstunde andauern, ohne dass ich etwas Essentielles gesagt hätte. Dies hatte ich zudem dadurch unterstützt, dass ich zu Beginn der Interviews in der Regel gesagte hatte, mich in der nächsten Zeit auf das Zuhören beschränken zu wollen.
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schaute nachdenklich in meine Notizen. Dies führte gewöhnlich dazu, dass die Sozialarbeiter/innen mit einer weiteren Differenzierung oder Fortsetzung der Episode fortfuhren oder eine neue Episode, z. B. den Bericht über einen weiteren Fall, begannen. Auf diese Weise konnten meine Informanden eher die Gesichtspunkte vertiefen, die ihnen interessant erschienen. Nach dieser Phase des Interviews stellte ich häufig noch einige Nachfragen zu den Erzählungen meiner Informanden. Gegen Ende des Interviews ging ich zudem dazu über, noch einige Fragen zu meinen Beobachtungen zu stellen. Hierbei ging es um Verständnisfragen, z. B. zu Bearbeitungsverfahren, Abkürzungen oder auch nach bestimmten Vorgehensweisen, die ich beobachtet hatte.26 Die in der vorliegenden Arbeit verwendeten Daten stammen zudem aus Gesprächen, die eher die Form alltäglicher Unterhaltungen hatten und in dieser Weise der Konzeption des ethnographischen Interviews entsprachen, die Spreadly (1979) wie folgt umreißt: »think of ethnographic interviews as a series of friendly conversations« (ebd.: 58). Diese Form des Interviews
26 Fast immer war es ohne größere Probleme möglich, auch umfänglichere Interviewtermine zu vereinbaren. Selbst wenn ich anbot, man könne die Zeit begrenzen, fanden die Sozialarbeiter/innen zumeist doch Zeit für Interviewtermine, die länger als eine gewöhnliche Besprechung, also z. B. mehr als zwei Stunden, dauern konnten. Zu den Interviews traf ich mich mit den Sozialarbeiter/innen in ihren Büroräumen. Während meiner Erhebungen lernte ich zwei Sozialarbeiter/innen kennen, die Fälle bearbeitet hatten, in denen Kinder »unter den Augen« des Jugendamtes, so schrieb die lokale Presse, gestorben waren. Beide Sozialarbeiter/innen hatten mir Gespräche über diese Fälle angeboten. Ich hatte zunächst große Bedenken, dass die Jugendamtsleitung mit dem Interview nicht einverstanden sein könnte und suchte den Jugendamtsleiter daher noch vor dem Interview auf. Zu meiner Überraschung zeigte sich auch der Jugendamtsleiter aber eher erfreut über mein Interesse und versicherte mir, er sei einverstanden mit dem Interview, überhaupt freue er sich, dass es nach der »Hetzjagd« durch die Presse noch ein Interesse aus der Wissenschaft gebe. Nicht nur in diesen Fällen, auch in anderen Interviews erschien das Interview den Sozialarbeiter/innen, so sagten diese, als Möglichkeit, einen Schritt aus ihrer Fallarbeit herauszutreten und noch einmal, eventuell etwas anders, über ihre Arbeit nachzudenken. Nicht zuletzt gewann ich auch den Eindruck, dass ich für einige Fachkräfte eine Möglichkeit darstellte, einmal etwas anderes zu tun als die alltägliche Arbeit zu verrichten.
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bewegte sich zwischen alltäglichen, persönlichen und arbeitsbezogenen Themen. Wir sprachen z. B. zunächst über das Wetter, dann über einen schwierigen Fall, der gerade bearbeitet wurde. Im nächsten Moment konnten wir wieder zu unverfänglicheren Themen zurückkehren: »At any time during an interview it is possible to shift back to a friendly conversation« (ebd.: 59). Während solcher Gespräche machte ich mir laufend Notizen, die ich später ergänzte. Dabei bemühte ich mich, zentrale Äußerungen meiner Gesprächspartner auch im Wortlaut festzuhalten. Häufig bat ich die Sozialarbeiter/innen, wenn wir auf arbeitsbezogene Themen zu sprechen kamen, mein Aufnahmegerät, das ich bei mir trug, einschalten zu dürfen. Dies wurde mir von den Sozialarbeiter/innen ohne Ausnahme erlaubt. Nur in Einzelfällen baten mich die Sozialarbeiter/innen bestimmte Detailinformationen nicht für meine Arbeit zu verwenden. Die Wahl der Interviewpartner richtete sich nach theoretischen und pragmatischen Überlegungen. Ich wendete mich an diejenigen, »who have the knowledge desired and may be willing to divulge it” (Hammersley und Atkinson 2007: 106). Da ich mich u. a. für den Verlauf der Bearbeitung von Fällen interessierte, suchte ich z. B. Sozialarbeiter/innen auf, die Fälle bearbeiteten, deren Geschichte ich aus Fallbesprechungen bereits kannte. Ich traf Sozialarbeiter/innen mehrfach zu Interviews, um etwas über den weiteren Fortgang der Bearbeitung von Fällen zu erfahren, die ich bereits zu früheren Zeitpunkten untersucht hatte. Zudem versuchte ich Sozialarbeiter/innen zu treffen, von denen ich hoffte, etwas über bestimmte Aspekte der Fallbearbeitung erfahren zu können. Drittens achtete ich auf eine personenbezogene Varianz im Sampling, sprach z. B. mit Vorgesetzten und Untergebenen, mit älteren und jüngeren Sozialarbeiter/innen, mit Frauen und Männern. Die Audioaufzeichnungen der Interviews archivierte ich in elektronischer Form. Einen Teil der Aufnahmen transkribierte ich selbst, ein anderer Teil wurde in Form von Auftragsarbeiten durch Dritte transkribiert. Zunächst begann ich die von mir gesammelten Aufnahmen nach einem komplexen Transkriptionssystem, angelehnt an GAT (Selting et alt. 1998), zu transkribieren. Ich beabsichtigte damit, die Gesprächsverläufe, konversationsanalytisch inspiriert und sehr genau untersuchen zu können. Dieses Vorhaben gab ich jedoch im Laufe der Forschung auf, da mein Interesse sich vermehrt dem Nachvollzug von Mustern in der Darstellung von Fällen zuwandte, wofür ein einfacheres Transkriptionssystem ausreichte (zu den genutzten Transkriptionsregeln vgl. Dresing und Pehl 2013: 21-23). Insge-
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samt nutzte ich annährend zwanzig Gespräche, in der Regel eine bis zwei Stunden lang, in transkribierter Form. Die übrigen zahllosen Gespräche flossen über die Feldnotizen und meine Felderfahrung in die Forschung ein. Im Vergleich von Beobachtungsprotokollen und Interviewtranskripten wurde zudem deutlich, dass die Sozialarbeiter/innen in der (künstlichen) Situation des Interviews ähnliche Erklärungsmuster nutzten, wie sie dies in (natürlichen) Situationen, wie etwa den Fallkonferenzen, taten. Ich entdeckte, dass ich anhand der Interviews die vorgenommenen Falldarstellungen mit ihren Motiven und Erklärungsmustern genauer untersuchen konnte, als dies alleine über die Beobachtungsprotokolle möglich gewesen wäre. Durch die Aufzeichnung konnten argumentative Abläufe sowie sprachliche Feinheiten genauer betrachtet werden. Je weiter die Analyse der Materialien voranschritt, desto deutlicher wurde mir auch, dass das Erzählen von »Fallgeschichten« den Falldarstellungen ähnelte, wie sie Sozialarbeiter/innen im Alltag des Amtes vornahmen. Z. B. sprachen die Sozialarbeiter/innen auf Fallbesprechungen unter Kolleg/innen auf ähnliche Weise über eine »manische Mutter«, wie sie dies in den Interviews taten. Die Gemeinsamkeiten zwischen den sprachlichen Äußerungen im Setting der Beobachtung und im Setting des Interviews waren größer als ich vermutet hatte. Die Ähnlichkeiten begründen sich möglicherweise darin, dass beide Settings, die durch das Beobachtungsprotokoll bzw. das Interviewtranskript dokumentiert werden, durch performative Praxen gekennzeichnet sind. Bei der Fallbesprechung unter Kollegen und dem Interview mit dem Ethnographen handelt es sich um soziale Situationen mit ähnlichen Anforderungen. Die Interviewten wie die Teilnehmenden von Fallbesprechungen sehen sich gefordert, etwa die eigene Identität aufrechtzuerhalten, »sich im guten Licht [zu] präsentieren, […] als gescheit, qualifiziert, vertrauenswürdig etc. zu [erscheinen]« (Scheffer 2002: 363) und nicht zuletzt – die eigenen Entscheidungen nachvollziehbar darzulegen. Was für Beobachtungen und Interviews gilt – dass sie nämlich als Praxen mit performativem Charakter zu verstehen sind – dies gilt (allerdings auf etwas andere Weise) auch für die in der Untersuchung verwendeten Dokumente. 3.2.3 Dokumente Dokumente und andere Artefakte des Feldes bzw. der Organisation stellen für ethnographische Forschung typischerweise eine dritte, wichtige Datenquelle dar (Hammersley und Atkinson 2007: 121 ff., Scheffer 2002: 365).
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Gerade öffentliche Verwaltungen verpflichten sich auf die Schriftform: Das verwaltungsmäßige Handeln und Entscheiden erhält die Form der Aktenförmigkeit (Wolff 2004: 502). Die Sozialarbeiter/innen sind gehalten, über den Verlauf ihrer Fallbearbeitung zu berichten und ihr Handeln, über den Aufschrieb, in die Form der Verfahrensmäßigkeit zu bringen (Luhmann 2005). Die Sozialarbeiter/innen gehen in dieser Konstellation ein Bündnis wider Willen mit »ihren« Akten ein (Lau und Wolff 1981). Einerseits sind sie verpflichtet, diese zu führen, was ihnen Arbeit abverlangt und bisweilen unnötig erscheint. Andererseits können sie die Akten durch Inhalt und Sequenzierung der abgelegten Dokumente zur Aufbereitung des Wissens über den Fall sowie für anfallende Begründungsarbeit nutzen. Bei der Fallakte handelt es sich vor diesem Hintergrund um eine besondere Dokumentensorte, in der Fallarbeitsprozesse dokumentiert, aber auch fallspezifische Relevanzen hervorgebracht werden. Akten stellen daher kein Fenster dar, durch das wir in die Fallarbeitspraxis blicken könnten; sie repräsentieren nicht etwas anderes (Wolff 2004: 504 f.). Eher sind sie als situativ eingebettete Leistungen von Verfasser/innen zu behandeln. In diesem Sinne ist gleichsam davon auszugehen, dass solche »Artefakte« Aspekte der situativen Einbettung, der organisationalen bzw. amtlichen Kulturen etwa, beobachtbar gemacht werden können (Froschauer 2009). Nicht zuletzt wird in der sozialwissenschaftlichen Forschung betont, dass Dokumenten in der Organisation sozialer Handlungszusammenhänge eine aktive Rolle zukommt: »For when we focus on function it becomes apparent that documents serve [...] as active agents in episodes of interaction and schemes of social organization« (Prior 2008: 824). Angesichts der konstitutiven Bedeutung von Dokumenten für professionelles Handeln (Berg 1996) lag es nahe, während des Feldaufenthaltes Dokumente zu sammeln, um sie einer späteren Analyse zuzuführen. Mit Bezug auf die Forschungsfrage interessierten während der Forschung vor allem Dokumente, die in der Bearbeitung von Fälle von (vermuteter Kindeswohlgefährdung) Verwendung finden. Hierbei handelt es sich z. B. um Vermerke, Berichte, Protokolle oder Risikoeinschätzungsinstrumente, die durch die Sozialarbeiter/innen bearbeitet wurden. Diese Dokumente werden im Kontext des Jugendamtes gewöhnlich in Fallakten abgelegt. Während meiner Feldaufenthalte verzichtete ich darauf, komplette Fallakten zu vervielfältigen. Dies geschah vor allem aus forschungspragmatischen Gründen. Aus einem anderen Forschungszusammenhang lagen bereits zehn Fall-
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akten mit einem Gesamtumfang von über 2000 Seiten vor, die zur Analyse genutzt werden konnten. Während der Feldaufenthalte beschränkte ich mich daher auf das Kopieren von Dokumenten, bei deren situativer Verwendung ich anwesend war. Ich kopierte z. B. das Protokoll einer Fachteamsitzung, die ich beobachtete, und auch die Protokolle der Besprechung eines Falls, der mich besonders interessierte, nicht aber einfach alle Protokolle aller Fallbesprechungen.27 Nach Möglichkeit fertigte ich mir gleich vor Ort Kopien der Dokumente an, anonymisierte die Daten, indem ich Angaben zu Personen schwärzte und legte die Dokumente dann, ggf. mit Notizen versehen, in einem eigenem Ordner ab. Darüber hinaus sammelte ich Dokumente, die mir von den Teilnehmern als relevant genannt wurden, dies waren z. B. Arbeitsanweisungen, die die Sozialarbeiter/innen von ihren Vorgesetzten bekommen hatten, aber auch handschriftliche Aufzeichnungen der Sozialarbeiter/innen oder Zeitungsartikel. Aus den drei Formen der Datenerhebung, dem Sammeln der Dokumente, dem Protokollieren von Beobachtungen und den erhobenen Interviews ergibt sich die folgende Datengrundlage: Tabelle 4: Erhebungsmethode und Datenmaterial Erhebungsmethode
Datenmaterial
Teilnehmende Beobachtung
Etwa 500 Seiten Beobachtungsprotokolle
Episodische Interviews und ethnographische Interviews
25 Interviews, etwa 400 Seiten Interviewtranskripte
Sammeln von Dokumenten und Akten
Risikoeinschätzungsbögen, Vermerke, Berichte usw. 10 Fallakten, mehrere 1000 Seiten
27 Das Vervielfältigen und Anonymisieren der Fallakten bedeutet einen erheblichen Aufwand. Man muss bedenken, dass allein eine Akte in der Regel mehr als hundert und oft mehrere hundert Seiten umfasst. Es war insofern eine pragmatische Lösung, für die Analyse der Dokumentart »Fallakte« das bereits aufbereitete Material zu nutzen.
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3.3 ANALYSE In ethnography the analysis of data is not a distinct stage of the research. In many ways, it begins in the pre-fieldwork phase, in the formulation and clarification of research problems, and continues through to the process of writing reports, articles, and books. (HAMMERSLEY UND ATKINSON 2007: 158)
Der iterative Forschungsprozess der Ethnographie verbindet Datenerhebung und Analyse (Hammersley und Atkinson 2007: 159). Dabei vollzieht sich idealerweise ein schrittweiser, spiralförmiger Erkenntnisprozess, in dem die Ergebnisse der Analyse immer wieder in das Forschungsfeld getragen und überprüft werden (Emerson 1981: 361, Gobo 2008: 86). Der Ethnograph nutzt seine laufenden Erkenntnisse, aber auch sein Vorwissen, um zu entscheiden, welche weiteren Daten erhoben werden (Becker 1958: 653). Diese Strategie der Fallauswahl, wie sie auch im Rahmen dieser Arbeit Verwendung findet, wird als »theoretisches Sampling« (Strauss und Corbin 1990: 176 ff.) bezeichnet. Analyse und Datenerhebung sind im Rahmen dieser Forschungsstrategie insofern »dialektisch« (Hammersley und Atkinson 2007: 159) verbunden, als ich mich von sensitivierenden Konzepten leiten ließ (Strauss und Corbin 1990: 41 ff.).28 Es lassen sich einige analytische Strategien beschreiben, die typischerweise im Rahmen ethnographischer Forschung zum Einsatz kommen und auch im Rahmen der vorliegender Arbeit verwendet wurden, um einen Umgang mit den gesammelten Daten zu finden und diese zu analysieren. 3.3.1 Organisation und Aufbereitung des Datenmaterials Die ethnographische Datenerhebung führt typischerweise zu erheblichen Datenmengen (Goffman 1989). Es stellt sich daher die Frage, wie diese Vielzahl von Materialien organisiert, aufbereitet und einer Analyse zuge-
28 Mein Interesse richtete sich eben nicht auf die Kultur des Amtes im Allgemeinen, sondern vor allem auf Fälle von Kindeswohlgefährdung, deren Bearbeitung und auf die Entscheidung über Fremdunterbringungen (vgl. die Einführung in dieses Kapitel).
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führt werden kann. Zur Ordnung meiner Transkripte wurde das Computerprogramm MaxQDA verwendet, in das ich alle vorhandenen Dokumente einlas, so dass diese in einem zentralen Programm für weitere Analysen zugänglich waren. Die Dokumente wurden nach Datensorten (Beobachtungsprotokolle oder Transkripte von Interviews) sortiert. Die Datensorten sind durch entsprechende Chiffren gekennzeichnet und werden auch in dieser Arbeit entsprechend sortiert (I für Interview, B für Beobachtungsprotokoll und D für Dokument). Das Computerprogramm benutzte ich als Sortiermaschine und elektronisches Archiv, das sich auch nach Stichwörtern durchsuchen ließ und mir so Übersicht und einen vereinfachten Zugriff auf die erhobenen Daten ermöglichte. Zudem nutzte ich das Programm, um die Daten zu codieren, worauf ich später noch eingehe. 3.3.2 Auswahl des Materials zur Analyse Bereits während der Feldaufenthalte wählte ich aus dem entstehenden Datenkorpus auffällige und unter theoretischen Aspekten relevant erscheinende Sequenzen für die Analyse aus. Es wurden solche Situationen analysiert, von denen ich annahm, dass sie einen Erkenntnisgewinn mit Blick auf die Entwicklung einer gegenstandsbezogenen Theorie bzw. in Bezug auf Fragen liefern würden, die sich aus den bisherigen Beobachtungen und Analysen ergeben hatten. Zudem wählte ich Situationen aus, die zwar zunächst beobachtet, aber noch nicht recht verstanden wurden bzw. überraschend oder bewegend erschienen (vgl. unter dem Stichwort »key incidents« Emerson 2004: 439). Vor allem folgte die Fallauswahl aber dem leitenden Erkenntnisinteresse, etwas über die Vorgehensweisen der Sozialarbeiter/innen herauszufinden, die es ihnen ermöglichen, über Fremdunterbringungen zu entscheiden. Die Form der Auswahl von Materialen zur Analyse folgte mit anderen Worten der Strategie »theoretical samplings« (Glaser und Strauss 2005: 53 ff.). Beobachtungsorte, Interviewpartner/innen sowie die Fragen im Interview wurden bereits in der Datenerhebung entsprechend des theoretischen Interesses gewählt. Ebenso folgte die Auswahl der Daten zur genaueren Analyse dem theoretischem Interesse: Es wurden Sequenzen aus dem amtlichen Handlungsstrom isoliert und einer Analyse zugeführt,29 etwa Passa-
29 Weick geht davon aus, dass sich Entscheidungen als Unterbrechung (»interruption«) von Handlungsströmen vollziehen, insbesondere dann, wenn etwas Un-
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gen ausgewählt, in denen die Sozialarbeiter/in von einer Fremdunterbringung berichteten oder die Entscheidungsfindung über solche Maßnahmen in Beobachtungsprotokollen und Dokumenten des Jugendamtes, etwa einer Fallakte, dokumentiert wurden. In der Auswahl der Materialien wurde zudem die Strategie minimaler und maximaler Vergleiche genutzt, wie sie im Kontext der Grounded Theory beschrieben und dort als »permanent comparison method« bezeichnet wird (Breuer 2010: 82 ff.). Das Kontrastieren von Fällen, Ereignissen, Zeitpunkten, Personen, Gruppen, Situationen und Kontexten hinsichtlich theoretisch potenziell interessanter Eigenschaften ist eine zentrale Quelle von Erkenntnis, die den Stoff für gegenstandsbegründete Theorien hergeben kann bzw. aus der einschlägige Ideen herauswachsen können. (Breuer 2010: 82)
Hatte ich z. B. in einer Situation eine bestimmte Verhaltensweise ausgemacht, suchte ich nach einer ähnlichen Situation, in der sich eine Person ganz ähnlich (minimaler Kontrast) oder auch ganz anders verhielt (maximaler Kontrast). Der Vergleich diente der Schärfung, der Abgrenzung und Identifikation (typischer) sich wiederholender Praktiken. Die vorgenommenen Vergleiche bezogen sich auf die Praktiken der Sozialarbeiter/innen und auf die untersuchten Fälle, Personen und Situationen der Forschung. Ähnlich kontrastierend verfuhr ich mit den Materialsorten: Wurde in der Analyse von Beobachtungsprotokollen ein Konzept gewonnen, so wurden die Beobachtungen anhand anderer Beobachtungsprotokolle (minimaler Kontrast) sowie im Unterschied zu anderen Datensorten wie dem Interview (maximaler Kontrast) überprüft. Andererseits bemühte ich mich, über die Strategie minimaler Kontraste ähnliche Situationen zu untersuchen, z. B. in einer Folge verschiedene Sitzungen desselben Formats zu untersuchen
erwartetes geschieht, so dass nicht in gleicher Weise fortgefahren werden kann (Weick 2011b: 22). Simon spricht von einem Strom des Entscheidens und des Ablehnens von Entscheidungen (Simon 1997:19). March (ebd.) fragt, im Untertitel seiner Arbeit, wie Entscheidungen passieren, »how decisions happen« (so der Titel des Buches). Kirsch (1971) schlägt vor diesem Hintergrund vor, Entscheidungs-Episoden aus dem Strom der Ereignisse auszugliedern und derart für Analysen zugänglich zu machen (ebd.: 164 ff).
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(z. B. Hilfeplan oder Fallteamgespräche).30 Das Ziel war, am Material begründete Annahmen laufend zu prüfen, zu nuancieren bzw. zu verwerfen. 3.3.3 Kodierungen In der Analyse arbeitete ich mit einer fortschreitenden Kodierung des Datenmaterials. Die Kodierungen führte ich zunächst offen und dann fokussierter durch, so dass sich ein zunehmend schließender Prozess ergab. Ein solches Vorgehen wird durch Vertreter/innen der Grounded Theory (Strauss und Corbin 1990, Glaser und Strauss 2009, Charmaz 2014), aber auch durch andere Autor/innen beschrieben (vgl. Emerson et al. 1995: 142 ff., Hammersley und Atkinson 2007, Gobo 2008: 227). Kodieren bezeichnet einen »process of examining, comparing, conceptualizing, and categorizing data« (Strauss und Corbin 1990: 61). Unter einer Kodierung wird eine konzeptuelle, möglichst prägnante Formulierung verstanden, die die Charakteristik einer Situation oder auch einer Vorgehensweise auf den Punkt bringen soll: [T]he ethnographer begins to sift through and categorize small segments of the fieldnote record by writing words and phrases that identify and name specific analytic dimensions. (Emerson et al. 1995: 150)
Dem entsprechenden Hinweis von Wolff (2005) folgend wurden im Prozess des Kodierens in diesem Rahmen nach Möglichkeit aktive Formulierungen gewählt (vgl. ebd.: 167). Dies sollte die Herstellungsleistungen der Beteiligten sowie die Verbindung zwischen Kodierungen und den Prozes-
30 Die Strategie der minimalen und maximalen Kontraste (wie auch die des theoretischen Samplings) impliziert, dass bereits in der Auswahl des Materials eine analytische Bestimmung vorgenommen wird. Die Bestimmung einer Sequenz als theoretisch interessant bzw. als kontrastiv zu einer anderen Sequenz erfordert, Konzepte für die Situation, das Dokument oder Gespräch anzulegen. Die Gefahr besteht möglicherweise darin, den Datenkorpus mit einem solchen Vorgehen zu sehr den eigenen Unterscheidungen folgend zu zerschneiden. Zudem impliziert die Auswahl solcher Strategien, die eigenen Unterscheidungen in das Material einzuschreiben. Aus diesem Grund analysierte ich zusätzlich alle mir vorliegenden Daten, indem ich die entsprechenden Dokumente vollständig, von Beginn bis Ende, ihrer Sequenzialität folgend, las und analysierte.
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sen verdeutlichen, die sie zu bezeichnen suchen (z. B. »Kontakt zum Ethnographen aufnehmen«, »die Kinder im Hilfeplan beteiligen«, »Informationen prüfen«). Zur Kodierung wurden zudem Auszüge aus dem Material, z. B. markante Äußerungen der Sozialarbeiter/innen, sog. »Invivo-Codes«, verwendet (Strauss und Corbin 1990: 69). Zunächst begann ich damit, bei der Analyse der Daten möglichst vielfältige und zahlreiche Einfälle zu den untersuchten Textstellen zu sammeln; ein Prozess, der als offenes oder initiales Kodieren bezeichnet wird (Charmaz 2014: 47 ff.). Ich folgte dabei der Strategie, mir (generative) Fragen zu den analysierten Daten zu stellen (ebd.: 24). Ich konzentrierte mich hier auf die Handlungsmuster, die die Entscheidung über Fremdunterbringungen umgaben (Simon 1997: 19): Was tun die Sozialarbeiter/innen in der Bearbeitung schwieriger Fälle? Wer ist überhaupt beteiligt? Wie gehen die Sozialarbeiter/innen vor? Wie sprechen sie über Fremdunterbringungen und die Entscheidung für bzw. gegen eine solche Maßnahme? Welche Kontexte machen sie relevant? Wie beziehen sie sich aufeinander (und auf mich als Forscher)? Was zeigen sie sich gegenseitig an, wenn sie über ihre Fälle entscheiden?31 Mit anderen Worten versuchte ich zunächst einmal zu verstehen, was im Jugendamt vor sich geht, wenn über Fälle von Kindeswohlgefährdung und Fremdunterbringungen entschieden wird. Geertz hat in diesem Sinne formuliert, dass Ethnographen versuchten herauszufinden: »What the hell is going on?«32 Dabei ging es mir zunächst darum, weitere Wege der Untersuchung zu erschließen, »opening up avenues of inquiry« (Emerson et al. 1995: 151). In einem nächsten Schritt wurden größere Datenmengen anhand der bereits gewonnenen Kodierungen noch einmal gelesen und entsprechend codiert. Eine solche Arbeitsweise wird in der Literatur als fokussiertes Kodieren bezeichnet: »Focused Coding means using the most significant and/or frequent earlier codes to sift through larger amounts of data” (Charmaz 2014: 57). Textstellen, in denen ich ähnliche Handlungsvollzüge erkannte,
31 Im Kontext der Grounded Theory werden entsprechende generative Fragen vorgeschlagen (Strübing 2008: 30, 86). 32 Wichtig erscheint mir dabei die Feststellung, dass sich diese Frage nicht unbedingt auf den tatsächlichen Vorgang, sondern auf den sozialen Charakter einer Situation bezieht, also darauf, was eine Situation oder eine Praktik für die Teilnehmenden bedeutet (und wie diese an der Herstellung dieser Bedeutung beteiligt sind).
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ordnete ich Kodierungen zu, die ich bereits an anderen Textausschnitten aufgetragen hatte. So verdichtete sich zunehmend das Verhältnis von Text und Kodierungen. Zudem identifizierte ich zentrale Themen, bildete Kernkategorien (Strauss und Corbin 1990) und überprüfte diese am Material, um meine Annahmen zu verwerfen, zu festigen bzw. mit weiteren Varianten auszustatten. Dabei wurden insbesondere die Kodierungen fokussiert, die theoretisch relevant erschienen bzw. auch solche, die sich in der Analyse häufiger gezeigt hatten. Die Kodierungen wurden drittens miteinander relationiert; ein Vorgehen, das im Kontext der Grounded Theory als »axiales Codieren« beschrieben wird (Strauss und Corbin 1990: 166, Charmaz 2014: 60-63). Die Kodierungen wurden in Über- und Unterordnungsverhältnisse zueinander gebracht, Verbindungen zwischen den einzelnen Kodierungen wurden dergestalt hergestellt. Dabei wurden Praktiken identifiziert und gegeneinander abgegrenzt, mit denen die Sozialarbeiter/innen Fallkonstruktionen, Informationen und Gefährdungseinschätzungen bearbeiten und mit denen sie letztlich darstellbare Entscheidungen ins Werk setzen. Schließlich wurde dazu übergegangen, die untersuchten Materialien noch einmal mit Hilfe der erarbeiteten Kodeliste querzulesen. Aus diesem Prozess der Analyse entwickelten sich nicht zuletzt die zentralen Kategorien der vorgelegten Arbeit, die zugleich die Darstellung der Forschungsergebnisse in der Form von Kapiteln strukturieren und sich im abschließend entwickelten, theoretischen Modell spiegeln. Der Prozess des Kodierens, wie er durchführt wurde, ähnelt insofern dem Kodierparadigma der Grounded Theory (Strauss und Corbin 1990, Glaser und Strauss 2009, Charmaz 2014), aber auch dem Vorgehen, wie es in ethnographischen Lehrbüchern beschrieben wird, die sich weniger explizit an die Grounded Theory anlehnen (Emerson et al. 1995: 142 ff., Hammersley und Atkinson 2007).33
33 Die Gemeinsamkeit der beiden Ansätze besteht darin, dass sie einen sich verengenden Prozess implizieren, in dem zunächst offen und dann zunehmend selektiver codiert wird, um schließlich wichtige Themen herauszuschälen (Hammersley und Atkinson 2007).
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3.3.4 Strategien der Datenanalyse Durch ›künstliche Dummheit‹ und ›Langsamkeit‹ verfremdet sozialwissenschaftliche Hermeneutik [...] absichtsvoll das [...] routinisierte, auf die pragmatischen Belange des gelebten Lebens abgestellte [...] Alltags-Verstehen – zum Zwecke nämlich der Aufklärung sozialer Praktiken über sich selber. Anders ausgedrückt: Der Nutzen methodisch kontrollierten Verstehens in der Soziologie liegt darin, auf die selbstverständlichen Strukturen und Funktionen des Alltagswissens und des Alltagsverstandes aufmerksam zu machen bzw. diese offenzulegen. (HITZLER 2000: 27)
Bei Analyse des Materials bietet es sich an, einige Verfremdungsstrategien zur Anwendung zu bringen, um auch das zum Gegenstand der Analyse machen zu können, was Forschern, die in ihrer eigenen Kultur forschen, oft zu schnell selbstverständlich erscheint (vgl. Amman/Hirschauer 1997). Ethnographische Forschung, wie sie hier verstanden wird, erfordert es, gerade das Alltägliche, das »Offensichtliche zum Problematischen [zu] machen« (Knorr-Cetina 2002: 49), »radikal naiv« (ebd.) zu sein und das Normale als das Unbekannte zu betrachten (Pollner und Emerson 2001: 121). Eine Strategie der Verfremdung schien nicht zuletzt angebracht, da ich als ausgebildeter Sozialarbeiter Gefahr lief, meine Beobachtungen als selbstverständlich zu betrachten und immer alles schon zu schnell zu »verstehen«.34 Es lag offensichtlich eine »enge[ ] Kopplung zwischen Feld und Forschung« vor (Wolff 2005: 121). Für mich war es daher wichtig, mir immer wieder neue Gelegenheiten zu schaffen, um meine eigene »Irritierbarkeit durch die Eigensinnigkeit des Gegenstandes« (Wolff 2005: 122) zu erhalten. Das »Ineinssetzens« (ebd.: 122) von Forschungs- und Feldlogik, aber auch Formen falscher »Solidarität« (ebd.) mit meinen Berufkolleg/in-
34 Als Angehöriger einer Berufsgruppe über diese zu forschen, impliziert die Gefahr, dass es »zur unüberlegten Übernahme von Problemsichten, Sprachformen und Erklärungsmodellen der Praxis durch die Forschung [kommt]« (Wolff 2005: 121).
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nen zu vermeiden, dies war insofern ein zusätzlicher Grund dafür, die erhobenen Daten verlangsamt und wie unter dem »Mikroskop« (Knorr-Cetina 2002: 43) zu betrachten. Für die Analyse entwickelte ich drei grundsätzliche Herangehensweisen: Erstens begann ich Protokolle, Interviews und Dokumente auszugsweise zu analysieren und dabei Kodierungen in dem von mir verwendeten Computerprogramm einzutragen. Drittens analysierte ich die erhobenen Daten in regelmäßig zusammenkommenden Arbeitsgruppen. Die Gruppen hatten sich im Kontext des Promotionsprogramms »Soziale Dienste im Wandel« gebildet und bestanden zumeist aus drei oder vier Doktorand/innen. Wir kamen regelmäßig zusammen, um unsere Daten wechselseitig vorzustellen und gemeinsam zu analysieren. Zudem brachte ich Daten in die Sitzungen des Promotionskollegs ein, an denen die Kollegiat/innen sowie die Professor/innen des Instituts teilnahmen und bei denen wir gemeinsam Daten analysierten. Während dieser Sitzungen des Kollegs und der Analysegruppen nahm ich eine eher beobachtende Haltung ein, folgte der Diskussion, die sich zu den von mir eingebrachten Daten entwickelte, und zeichnete diese auf Tonband auf. Im Anschluss daran hörte ich das Band an und protokollierte die Lesarten der Beteiligten. Dieses Protokoll verband ich mit eigenen analytischen Ansätzen zu Memos, die ich wiederum in meiner elektronischen Datenbank speicherte. Die Ergebnisse der Analysen, die wir in Gruppen durchführten, dokumentierte ich zudem in Kodierungen, die ich mit dem Programm MaxQDA den entsprechenden Textstellen zuordnete. Schließlich las ich die kompletten Interviews und Beobachtungsprotokolle von Anfang bis zum Ende und hielt meine Einfälle dabei in Form von Kodierungen fest (vgl. Strauss und Corbin 1990: 73). Neben dem Grundsatz, verlangsamt, verfremdet und mikroskopisch zu untersuchen, verfolgte ich zudem in der Analyse weitere Strategien und Haltungen: •
»Behandele ›natürliche Fakten‹ als ›Herstellung‹« (Pollner und Emerson 2001: 125). In der Analyse ging ich davon aus, dass das, was von den Beteiligten als gegeben angenommen wird (»taken for granted«), Gegenstand alltäglicher Produktionsprozesse ist. Die Faktizität der sozialen Realität wird im Tun der Beteiligten immer wieder aufgerufen, fortgeschrieben bzw. aktualisiert (Miller 1990: 165). Dies impliziert, sich über das Alltägliche zu wundern und immer wieder zu fragen: Wie gelingt es den Beteiligten, diese Normalität (als plausible) aufrechtzu-
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erhalten? (vgl. Sacks 1984) Und: Wie gelingt es den Beteiligten zu wissen, dass die Realität so ist, wie sie »ist«? (Scheffer et al. 2009). Im Zusammenhang der vorliegenden Forschung hieß dies insbesondere, sich zu fragen, wie es den Sozialarbeiter/innen gelingt zu wissen, dass dieses ein Fall von Kindeswohlgefährdung ist (oder nicht ist), dass eine Option der Fallbearbeitung notwendig ist (oder nicht ist). Strikte Einhaltung der Sequenzialität der Situation: Das Interview, Dokument oder Beobachtungsprotokoll wird entsprechend dem Verlauf der Situation, vom Anfang bis zum Ende des gewählten Ausschnittes, Schritt für Schritt analysiert. Diese Strategie zielt darauf, Handlungsabläufe, aber auch z. B. Erzählstrategien bzw. den Aufforderungscharakter von Dokumenten entsprechend der Logik der Situation zu analysieren. Durch das Befolgen der Sequenzen der Situation kann z. B. verhindert werden, dass einzelne Aussagen aus ihrem Zusammenhang gerissen werden und dadurch eine völlig andere Bedeutung erhalten (Kleemann et al. 2013: 202).35 Suspendierung des Alltags- und Kontextwissens: Wissen der analysierenden Personen über den Kontext der untersuchten Situation soll möglichst zurückgehalten bzw. nur sehr sparsam eingesetzt werden. Dies gilt insbesondere für (theoretische) Annahmen darüber, was in einer untersuchten Situation alles relevant sein sollte oder müsste. In der Analyse des Datenmaterials geht es jedoch um eine Rekonstruktion der Logik der Situation, also darum, welche Kontexte die Teilnehmenden selbst relevant machen. Daher erscheint es auch geboten, die analysierte Situation nicht vorschnell verstehen zu wollen und die eigenen alltagsweltlichen Verstehensweisen einer Situation zu disziplinieren.36
35 Beobachtungsprotokolle und Interviewtranskripte analysierte ich zu Beginn der Analyse im Sinne eines initial coding, aber auch im späteren Verlauf der Sequenz der Situation (bzw. des Dokuments) folgend, Wort für Wort und Zeile für Zeile (vgl. die »line-by-line-analysis« bei Strauss und Corbin 1990: 72 f., »Lineby-Line coding« bei Charmaz 2014: 50-53). 36 Die entsprechende Warnung von Wolff lautet: »Der Import von nur dem Forscher zugänglichen Kontextinformationen in die Analyse […] geht nicht nur oft am Kern der Sache vorbei, sondern beschränkt darüber hinaus die Möglichkeiten der Rezipienten, die angebotenen Ergebnisse kritisch nachzuvollziehen.« (Wolff 2005: 130)
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Wort- und Kontextvariationen: Während der Analyse wurden einzelne Begriffe durch ähnlich klingende Wörter ersetzt: Welchen Unterschied macht es z. B. für die Logik der Situation, wenn eine Sozialarbeiterin ihrer Klientin nicht sagt, dass eine Fremdunterbringung erfolgen »muss«, sondern sie davon spricht, dass diese erfolgen »kann«? Welchen Unterschied macht es, wenn sie von einer »betreuten WG« anstatt von einem »Heim« spricht usw.? Solche Wortlautvariationen dienen dazu, »möglichst genau den in der Sequenz dokumentierten Sinngehalt zu erfassen« (Kleemann et al. 2013: 205). In der Kontextvariation stellen sich die Forschenden die Frage, in welchem anderen Kontext die beobachtete Äußerung bzw. Handlung noch hätte vorkommen können (ebd.: 127, 205). Man könnte sich z. B. fragen, ob die Handlung einer Sozialarbeiterin so oder so ähnlich eher oder auch z. B. in einer Schule, einem Krankenhaus oder in einem Kasernenhof hätte vollzogen werden können – und so möglicherweise etwas über die untersuchte Situation in Erfahrung bringen. Teilnehmende als kompetente Akteur/innen: Die Handlungen der Teilnehmenden werden als kunstvolle Herstellungspraktiken innerhalb sozialer Ordnungsgeflechte angesehen (Pollner und Emerson 2001: 120). Dabei gilt die analytische Maxime: »order at all points« (Sacks 1984: 21 ff.). Es wird angenommen, dass jedes Tun Teil sinnvoller Handlungsabläufe bzw. Bestandteil sozialer Geordnetheit ist (Wolff 1994: 23, Fußnote 8). Aufgabe der Forschenden ist es, diese Sinnstruktur zu rekonstruieren. Das Verstehen des subjektiven Sinns dient mehr dazu, den sozialen Sinn der untersuchten Prozesse zu erfassen (Kalthoff 2006) bzw. die Logik der Situation aus dem Blickwinkel der Beteiligten zu verstehen (Gold 1997: 389).37 Dabei nimmt die analysierende Person eine Haltung »(ethno-) methodologischer Indifferenz« (Wolff 2005:
37 Individuelle Vorgehensweisen z. B. einer Sozialarbeiterin, sind durchaus von Interesse, allerdings nicht im Sinne des methodologischen Individualismus, der die Begründetheit des Handelns in die Individuen verlegt. In diesem Zusammenhang soll eher gefragt werden, wie sich die individuellen Handlungsweisen und Entscheidungen zur sozialen Ordnung des Feldes verhalten: Handelt es sich eher um eine feldtypische Vorgehensweise oder um eine Ausnahme? Die Erschließung subjektiven Sinns dient dazu, den sozialen Charakter der Situation zu rekonstruieren.
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263) ein. Die Analytikerin urteilt nicht wertend über die beobachteten Praktiken, sondern versucht, diese in ihrer Eigen-Logik zu verstehen. In der Darstellung der Ergebnisse ziele ich darauf ab, durchaus im Sinne von Gütekriterien der qualitativen Sozialforschung eine möglichst gute intersubjektive Nachvollziehbarkeit der Analyse sicherzustellen (Przyborski und Wohlrab-Sahr 2009: 25-47, Strübing 2008: 78 ff., Steinke 1999). Zur Herstellung einer intersubjektiven Nachvollziehbarkeit wurden zu Beginn die Fragegestellung, persönliche Voraussetzungen, die Datenerhebung und -analyse sowie die Frage der Methodenwahl geschildert. Die im Bericht gebrauchten Daten sollten zudem nicht nur illustrativ verwendet, sondern genutzt werden, um die Analyse für den Leser nachvollziehbar zu machen (Wolff 2005: 130 f.). Im ethnographischen Bericht arbeite ich daher vielfach mit Auszügen aus den Daten, um die Analyse anhand der entsprechenden Ausschnitte zu verdeutlichen. Zudem folgt der Bericht der Logik, stets typische Fälle zu präsentieren, aber zudem auch solche, die in charakteristischer Weise abweichen, um die Spielarten der vorgefundenen Praktiken und die Grenzen der Reichweite der Analyse deutlich zu machen (Steinke 1999: 227 ff.). Letztlich läuft die analytische Arbeit dabei darauf hinaus, Typiken herauszuarbeiten (Przyborski und Wohlrab-Sahr 2009: 47, Kelle und Kluge 2010) und diese an den entsprechenden Ausschnitten zu demonstrieren. Hier werden typische Vorgehensweisen herausgearbeitet, die im Zuge der Bearbeitung schwieriger Fälle zur Fabrikation von Entscheidungen genutzt werden. Es kann und soll dabei keine Verallgemeinerbarkeit auf menschliches, organisatorisches oder sozialarbeiterisches Entscheiden erreicht werden. Vielmehr geht es mit dem hier gewählten ethnographischen Ansatz der Forschung darum, dem Gegenstand der Forschung nachspürend näherzukommen, das Phänomen mit Begriffen zu be-greifen, zu erfassen, und dergestalt eine feldnahe Theorie zu entwickeln.
3.4 R EFLEXION DER M ETHODENWAHL Der ethnographische Forschungsansatz impliziert einen so erheblichen Mittelaufwand, dass die Frage naheliegt, ob der Aufwand, in Abgrenzung zu anderen Methoden der Sozialforschung, überhaupt berechtigt ist. Zwei Gesichtspunkte ethnographischer Forschung machen diesen Prozesse besonders zumutungsreich: Ethnographisch zu forschen erfordert nicht nur, dass
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die forschende Person sich längere Zeit im Feld der Forschung aufhält und eine Vielzahl von Daten erhebt, sondern auch eine grundsätzlich explorative Anlage der Forschung.38 Die explorative Konfrontation mit dem Forschungsgegenstand (Hammersley und Atkinson 2007: 4) liegt schon darin, dass zu Beginn der Forschung nicht klar angegeben werden kann, worauf die spätere Fokussierung abzielt. Change in research problems can derive from several sources. It may be discovered that the original formulation was founded on mistaken assumptions. Equally, it could be concluded that, given the current state of knowledge, the problem selected is not tractable. [...] Much of the effort that goes into early data analysis is concerned with formulating and reformulating the research problem in ways that make it more fruitful and/or more amenable to investigation. (Hammersley und Atkinson 2007: 24 f.)
Die ethnographische Forschung verlangt nicht nur in Bezug auf die (Re-) Formulierung der Fragestellung Flexibilität von der forschenden Person: Auch die Form der Datenerhebung, d. h., die Entscheidung darüber, welche Daten wann zu erheben sind, folgt zudem dem Grundsatz der »Gegenstandsangemessenheit« (Flick 2010a: 26, Wolff 2005: 120). Die Datenerhebungstechniken stehen nicht von Beginn der Forschung an fest, sondern werden so zum Einsatz gebracht, dass diese dem Erkenntnisgewinn und schließlich der Beantwortung der Forschungsfrage dienen.39 Der Kontakt zum Feld impliziert weitere Zumutungen für den Forscher (Hammersley und Atkinson 2007: 89-94): So war vor allem abzusehen, dass alleine der Zeitaufwand für eine solche Studie durch die Bedingung der Anwesenheit des Forschers im Feld immens ist. Eine ethnographische Herangehensweise verlangt von der forschenden Person, die »Schreibstube« zu verlassen und längere Zeit »im Feld« zu verbringen. Doch nicht nur die Teilhabe am Alltag des zu untersuchenden Feldes nimmt Zeit in An-
38 Explorativ ist das ethnographische Arbeiten insofern, als es stets zumindest auch zum Ziel hat, die Perspektive der Teilnehmenden in den Blick zu rücken. Diese Orientierung wird in der ethnographischen Literatur unter dem Schlagwort des »native point of view« (Geertz 1974) diskutiert. 39 Während klassische Ethnographien das Ziel verfolgen, Kulturen zu beschreiben, richtet sich das Interesse jetztzeitiger ethnographischer Arbeiten häufig auf ein Teilphänomen eines sozialen Feldes (Charmaz 2014: 22, Knoblauch 2001).
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spruch, sondern auch die Dokumentation der Beobachtungen des Forschers erfordert in der Regel den Einsatz umfassender Zeitressourcen: Einige Ethnographen empfehlen, mindestens das Doppelte der im Feld verbrachten Zeit zur Niederschrift der gemachten Beobachtungen zu verwenden (Thomas 2010: 471, Emerson et al. 1995: 39). Ich selbst brauchte oft noch mehr Zeit, um meine Notizen zu vervollständigen. Schließlich erfordert das Aufarbeiten und Auswerten der erhobenen Daten weitere zeitliche Ressourcen, was oft zu erheblichen Frustrationen führt (Charmaz 2014: 24).40 Zweitens muss sich die Ethnographie mit einer beschränkten Zahl von Fällen arrangieren. Sie wird daher, wie qualitative Forschung überhaupt, immer wieder den Zweifel der Rezipienten erleben, ob die Aussagekraft der Studien nicht allzu begrenzt ist. Ein Untersuchungsdesign, das Entscheiden von Sozialarbeiter/innen z. B. mit standardisierten Fragebögen erfassen will, wäre aber für unseren Zusammenhang keine Alternative gewesen. Diese Herangehensweise hätte zwar erlaubt, z. B. eine weitaus größere Zahl von Sozialarbeiter/innen zu befragen und eine »repräsentative Stichprobe« zu wählen. Man wäre jedoch auf die Auskünfte der Befragten (sei es der Sozialarbeiter/innen oder ihrer Adressat/innen) beschränkt gewesen. So wie in der Studie von Kotthaus (2010) wäre es z. B. möglich gewesen zu fragen, welche Faktoren die Sozialarbeiter/innen selbst in ihrem Entscheiden als wichtig erachten. Bisherige Studien, die mit einem solchen Ansatz durchgeführt wurden – so zeigte auch der Blick auf den Stand der Forschung – haben allerdings den Nachteil, dass sie das Entscheiden nur im Rückblick betrachten können. Den Forschenden stehen ausschließlich präfigurierte Auskünfte der Entscheider/innen zur Verfügung, deren Charakter bereits in den Fragen angelegt ist: wenn bereits die Fragebögen gewissermaßen Formulare guten Entscheidens darstellen, werden nicht zuletzt konventionelle bzw. Idealbilder fachlich guter Entscheidungen (re-)produziert. Mit der Fragebogenerhebung werden die Äußerungen der Befragten zudem von ihrem kontextuellen Zusammenhang entkoppelt: Standardisierte Untersuchungen laufen Gefahr, die Bedeutungen von Äußerungen als selbstverständlich zu behandeln und zu unterstellen, »daß der Sinn von Äußerungen unter den Sprechern einer Sprache auf der Hand liegt, daß er nicht von der Pragmatik der konkreten Situation abhängt« (Knorr-Cetina
40 Hammersley und Atkinson (2007) stellen entsprechend fest: »Fieldwork is a very demanding activity, and the processing of data is equally time consuming« (Ebd.: 106).
3. U NTERSUCHUNGSDESIGN
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2002: 44). Dabei ist z. B. nicht selbstverständlich, was Sozialarbeiter/innen genau meinen, wenn sie angeben, dass sie in ihrem Entscheiden die Wünsche von Kindern berücksichtigen, was z. B. den Wunsch des Kindes nach Anerkennung einschließt, wie das Bauchgefühl bestimmt wird, welche Bedeutung es im Entscheidungsprozess erhält usw. Ansatz des vorliegenden Projektes war es demgegenüber, davon auszugehen, dass Bedeutung von verbalen Äußerungen in der intersubjektiven Verständigung, auch in Entscheidungssituationen, immer wieder neu hergestellt werden muss – und daher auch für einen Beobachter untersuchbar wird. Eine weitere Variante, sich dem Entscheiden über Fremdunterbringungen zu nähern, besteht in der standardisierten Auswertung von Falldaten. Mit den Mitteln deskriptiver Statistik können z. B. Variablen der Entscheidungssituation, der Entscheider, der Klient/innen und die Entscheidungsergebnisse miteinander in Beziehung gesetzt werden. Man könnte z. B. fragen, wie alt die Kinder waren, als sie in Heime eingewiesen wurden, welchem Beruf ihre Eltern nachgingen etc. Dies erscheint unbedingt notwendig, beinhaltet jedoch zugleich eine künstliche Isolierung bestimmter Merkmale der Situation und der Beteiligten: Es kann z. B. nicht gezeigt werden, was dazu führte, in einem konkreten Fall ein Kind in einem bestimmten Alter unterzubringen und ein anderes nicht. Es kann nicht gezeigt werden, in welcher Situation die Entscheidungen getroffen werden und welche Notwendigkeiten bzw. Gesichtspunkte dabei von den Akteuren berücksichtigt werden, wenn in einem Fall ein Kind mit einer bestimmten Verletzung zum Gegenstand von weiteren Entscheidungen wird und in einem anderen Fall nicht. Insofern sind Ergebnisse von Entscheidungsprozessen über einen solchen Zugriff (objektivierend) untersuchbar. Der Prozess der Entscheidung bleibt aber unbeleuchtet (in einer Art »black box«). Das Entscheidungsverhalten von Sozialarbeiter/innen wurde bisher, vor allem im englischsprachigen Raum, häufig über den Einsatz von Fallvignetten erforscht. Dies wäre auch in diesem Zusammenhang denkbar gewesen. Gewöhnlich werden Probanden in einem solchen Untersuchungsdesign Fallvignetten ausgehändigt, die Eckdaten von Fällen enthalten, die als typisch für das Untersuchungsfeld erachtet werden. Die Probanden werden gebeten, den Fall zu analysieren, ihn ggf. in einer Gruppe zu diskutieren und schließlich anzugeben, wie sie in einem solchen Fall entscheiden würden bzw. auch, welche Intervention sie vorschlagen würden. Aus den Angaben der Probanden werden in der Analyse Rückschlüsse auf das Entscheidungsverhalten in der alltäglichen Arbeit gezogen. Der Vorteil einer
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solchen Untersuchung liegt offenkundig darin, dass die Datenerhebung auf wenige Momente begrenzt werden kann (nämlich auf die Situationen, in denen die Fälle von den Probanden besprochen werden). Die Äußerungen der Probanden können ohne größeren Aufwand aufgezeichnet, transkribiert und einer Analyse zugeführt werden. Zudem erlaubt die Verwendung von Fallvignetten einen Vergleich herzustellen: Unterschiedlichen Professionellen (oder Gruppen von Professionellen) kann jeweils der gleiche Fall mit der Bitte um eine Beurteilung ausgehändigt werden. Der Nachteil liegt jedoch darin, dass mit dieser Erhebungsmethode eine Situation geschaffen wird, die außerhalb alltäglicher Arbeitsprozesse angesiedelt ist (extra für Forschungszwecke geschaffen wurden): Das Entscheiden wird auf zeitlicher, sachlicher und sozialer Ebene gewissermaßen dekontextualisiert: Die Probanden sind erstens vom Zeitdruck praktischer Arbeitsvollzüge, wie er auch für die Arbeit im ASD die Regel ist, entbunden. Zweitens haben die diskutierten Fälle typischerweise einen fiktiven Charakter. Sie werden zwar häufig aus anderen – realen – Fällen zusammengefügt und mögen durchaus feldtypische Fallmerkmale liefern. Das Arbeiten mit der Fallvignette impliziert jedoch, dass die Entscheider/innen unmöglich über eine tiefere Kenntnis des Falls verfügen können. Das Entscheiden kann in der Erhebungssituation sachlich auf bereits vorhandener Kenntnis des Falls, z. B. der zuständigen Sachbearbeiterin, aufbauen. Da gerade im Jugendamt Fälle z.T. über Jahre von einer Sachbearbeiterin bearbeitet werden, liegt in diesem Gesichtspunkt ein offensichtliches Manko. Zudem entbindet die Arbeit mit fiktiven Fällen die Sozialarbeiter/innen von der Problematik, Menschen entscheiden zu müssen, die ihnen z.T. schon seit Jahren bekannt sind. Die Sozialarbeiter/innen sind gewohnt, in Relationen zu handeln, sogar selbst Teil familialer Figurationen zu werden. Die Fallvignette liefert hingegen Abstraktionen von Personen, über die dann entschieden wird. Im Gegensatz hierzu soll es ja gerade darum gehen, (natürliche) soziale Handlungsfelder bzw. Praxisvollzüge und eben nicht so sehr (künstliche) Arrangements zu untersuchen, die für Forschungszwecke geschaffen wurden. Vor dem Hintergrund dieses Forschungsinteresses kamen letztlich auch weitere Methoden der qualitativen Sozialforschung, jedenfalls als alleinige Methode der Datenerhebung, nicht in Frage. Bei einer Studie, die ausschließlich Interviews oder auch Gruppendiskussionen nutzt, wäre z. B. der Aspekt des alltäglichen Handelns, des »Tuns«, zu kurz gekommen. Das Interesse ethnographischer Forschung ist es ja gerade, sowohl das zu betrach-
3. U NTERSUCHUNGSDESIGN
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ten, was Menschen sagen, als auch das zu untersuchen, was sie tun. Die grundsätzliche Annahme ist dabei, dass die Beobachtung des Vollzugs von Handlungen gegenüber der Auswertung von Interviews den Vorteil aufweist, dass nicht nur das Wissen der Interviewpartner/innen analysiert werden kann, das diesen reflexiv zur Verfügung steht und das diese in Interviewsituationen reproduzieren können. Die Beobachtung hat darüber hinaus das Ziel, unbewusste Handlungsroutinen und implizites Wissen, das einer Reflexion nicht zugänglich sein muss, wissenschaftlicher Analyse zuzuführen (vgl. Kap. 3.2). Letztlich hätte insofern auch die Untersuchung von Fallakten allein eine zu starke Fokussierung bedeutet. Fallakten sind zwar in Jugendämtern von großer Bedeutung. Sie dürfen aber nicht als Fenster in die Praxis des Entscheidens missverstanden werden. Vielmehr handelt es sich bei ihnen um legitimatorische Dokumente, die für bestimmte Lesende (z. B. für den Kollegen) verfasst werden und daher ebenso Auslassungen wie Fokussierungen implizieren. Man hat es also mit eigenen, dokumentarischen Realitäten zu tun. Demgegenüber weist der ethnographischer Forschungsansatz den zentralen Vorteil auf, »situierte Vollzüge« (Scheffer 2014b: 7), den praktischen Vollzug sozialer Prozesse (z. B. des Entscheidens) in »natürlicher Umgebung« untersuchen zu können – ohne sich dabei auf eine Datensorte beschränken zu müssen. Vielmehr kann darauf geachtet werden, was die Menschen sagen, was sie tun (ggf. auch wie dies im Zusammenhang mit Dokumenten steht). Die zu erhebenden Daten ergeben sich insofern nicht aus der Methode der Erhebung, sondern aus dem Interesse an einer Fragestellung und der entsprechenden Notwendigkeit, über bestimmte Daten zu verfügen. Mit anderen Worten ging es darum, eine »sensitive Methodologie« (Knorr-Cetina 2002: 44) zu nutzen. Sensitivität heißt hierbei, dass der direkte, »nachspürende« Kontakt zum Gegenstand der Forschung gesucht wird.
Teil II: EMPIRISCHE FORSCHUNGSERGEBNISSE
4. Entscheidungen über Fremdunterbringungen als Gegenstand der Fallarbeit im Jugendamt At any moment there are multitudes of alternative [...] possible actions, any one of which a given individual may undertake; by some process these numerous alternatives are narrowed down to that one which is in fact acted out. The words ›choice‹ and ›decision‹ will be used interchangeably [...] to refer to this process. (SIMON 1997: 3)
Ethnographisch zu forschen, impliziert nicht zuletzt, als Forscher/in einen Erkenntnisprozess zu durchlaufen und möglicherweise auch liebgewonnene Annahmen aufgeben zu müssen. Zu Beginn des Forschungsprozesses ging ich noch davon aus, Entscheidungsmomente und Entscheider/innen seien ohne viel Aufhebens (nahezu dinglich) zu identifizieren. Ich müsste gewissermaßen nur ins Feld gehen, um Entscheidungen zu beobachten. Im Laufe der Forschung musste ich jedoch feststellen, dass es sich deutlich komplexer verhält. Vor allem brachte die Analyse der Daten immer wieder hervor, dass Entscheidungen als Ergebnisse von Prozessen der Fallbearbeitung zu begreifen sind. Die Gegenstände und Optionen der Entscheidung werden erst im Rahmen der Fallbearbeitung erzeugt und unter Anwesenden verhandelt. Zugleich zeugten die Analysen von vielfältigen Vorgehensweisen, die es den Sozialarbeiter/innen wie auch der Organisation des Jugendamts gestatten, Entscheidungen über Fremdunterbringungen vor- und nachzubereiten, die jeweilige Bearbeitung (und die Entscheidungen) nachvollziehbar zu gestalten – rundum: einen Umgang mit den sich stellenden Entschei-
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dungsproblemen zu finden. Im Folgenden geht es daher um diese Praktiken der Fallarbeit, die sich im Laufe der Untersuchung als zentral für die Herstellung von Entscheidungen herauskristallisierten.1 Kapitel 5 zeigt wie, mit welchen Vorgehensweisen, ein Geschehen in der Umwelt des Jugendamtes zum Fall für das Jugendamt gemacht wird. Dabei wird untersucht, wie der Fall als Gegenstand des Entscheidens konstruiert wird. Zugleich wird demonstriert, wie konkrete Personen, die dann »fallführenden« Sachbearbeiter/innen des Jugendamtes, in verantwortungsvolle Entscheidungspositionen gebracht werden. Die Sozialarbeiter/innen – davon zeugen die Analysen in Kapitel 5 – sammeln, einmal zuständig geworden, Informationen über ihre Fälle, um herauszufinden, was überhaupt der Fall »ist«. Anhand vielfältiger »Informationsgelegenheiten« bleiben sie über aktuelle Entwicklungen auf dem
1
Entscheidungen über Fremdunterbringungen werden als Produkte und Gegenstände eines Handlungsstroms, eines »streams of decions and refusals to decide« (Simon 1997: 19) untersucht (vgl. die Einführung von Kap. 3, besonders Fußnote 1). Entscheidungen als Bestandteil komplexer Handlungsprozesse zu fassen, mag frustrieren, da Entscheidungen, diesem Verständnis folgend, immer nur bruchstückhaft untersucht werden können: »Die in einem Entscheidungsprozess vorkommenden Handlungen und Ereignisse können, wenigstens zum Teil, immer auf vorgängige Handlungen und Ereignisse zurückgeführt werden; [...] Je weiter man in die Vergangenheit und je weiter man in die Zukunft zu schauen versucht, desto mehr verwischen sich die Spuren spezifischer Ereignisse und Handlungen« (Kirsch 1971: 163). Kirsch schlägt angesichts dieser Problematik vor, Entscheidungs-Episoden aus dem Strom der Ereignisse auszugliedern und derart für Analysen zugänglich zu machen (vgl. ebd.: 164 ff.), was hier mit der Untersuchung einzelner Arbeitssequenzen aufgenommen wird. Demonstriert werden in den Kapiteln 5 bis 7 Vorgehensweisen, mit denen die Sozialarbeiter/innen der Jugendämter Entscheidungen herstellen, zugleich das Problem bewältigen, über Fremdunterbringungen entscheiden zu müssen. Hierauf antworten die untersuchten Praktiken der Fallarbeit und hierin das Bestreben der Sozialarbeiter/innen, die Fallbearbeitung so zu gestalten, dass auch für Dritte erkennbar ist, dass unter den situativ gegebenen Umständen alles getan wurde, was erwartet werden durfte. Zur Kennzeichnung der untersuchten Praxen, über die Sozialarbeiter/innen ihre Entscheidungen herstellen und nachvollziehbar gestalten, wird abschließend das Konzept des darstellbaren Entscheidens vorgeschlagen, das zu Beginn des Resümees vertiefend erläutert wird (vgl. Kap. 8.1).
4. E NTSCHEIDUNGEN
ÜBER
FREMDUNTERBRINGUNGEN | 115
Laufenden. Diese Prozesse der Selektion und des Verdichtens von Informationen zielen letztlich (als Voraussetzung darstellbarer Entscheidungen) auf situationsangemessene »Informiertheit«. Kapitel 7 untersucht Vorgehensweisen der Sozialarbeiter/innen, im Zuge derer sie Einschätzungen von Kindeswohlgefährdung vornehmen. Wie die Fremdunterbringung als Bearbeitungsstrategie in Fällen von Kindeswohlgefährdung beurteilt und eingesetzt wird, dies wird am Ende des Kapitels typisierend betrachtet. Noch eine Bemerkung zur Strukturierung der empirischen Ergebnisse. Mit meiner Gliederung folge ich gewissermaßen einem idealisierten Entscheidungsprozess. Ich tue so, »als ob« (Ortmann 2004) sich die Fallbearbeitung von Aufnahme der Zuständigkeit über die Informationsbearbeitung bewegen würde, um schließlich in einer Gefährdungseinschätzung und ggf. dem Einsatz der Fremdunterbringung zu münden. Ein derart lineare (und konventionelle) Konzeption des Entscheidungsprozesses stellt allerdings, dies wird auch im Laufe der weiteren Analyse immer klar werden, eine starke Vereinfachung von Entscheidungsprozessen dar. In der Praxis der Jugendämter sind die verschiedenen Aktivitäten der Sozialarbeiter/innen eher wie in einem engen Geflecht verwoben. Prozesse der Problemwahrnehmung und Einschätzung gehen ineinander über, die untersuchten Praktiken verweisen aufeinander und scheinen wie in einem Wurzelgeflecht »rhyzomatisch« miteinander verbunden (Deleuze und Guattari 1977). Die Analyse zerschneidet (und muss dies tun) die einzelnen Stränge des Praxis-Geflechtes in bearbeitbare Einheiten. Die Unterteilung in Kapitel markiert diese Ein-Schnitte. Aus Gründen der besseren Lesbarkeit greife ich auf die gewählte Strukturierung zurück (und verzichte auf eine experimentellere Darstellungsart). Gleichzeitig ist dies als Einladung an die Leser/innen zu verstehen, sich beim Lesen einerseits in das »Wurzelwerk« der Jugendamtspraxis verwickeln zu lassen, andererseits aber auch mal diesem, mal jenem Strang zu folgen, durchaus im Text hierhin und dorthin zu springen, um sich interessante Knotenpunkte genauer anzusehen.2
2
Aus den im Folgenden dargestellten Forschungsergebnissen wurden bereits erste Auszüge, z. T. auch wortgleich, veröffentlicht in Ackermann 2012b und Ackermann 2014.
5. Die Organisation von Fallzuständigkeit: Dein, mein, aber nicht unser Fall?
Über das Prinzip der »Fallzuständigkeit« werden konkrete Personen im Jugendamt zu »fallführenden« Sozialarbeiter/innen. Tag für Tag werden »Fälle« bearbeitet, die Sozialarbeiter/innen übernehmen »Fallzuständigkeiten«, »haben« Fälle und »Fallteams«, führen »Fallkonferenzen«, »Fallübergaben« und »Fallablagen« durch. Die Organisation des Jugendamtes sieht Verfahren zur Ermittlung von Zuständigkeiten vor. In Fällen werden Hilfen installiert und über Fälle wird entschieden. Das folgende Kapitel 5.1 fragt vor diesem Hintergrund erstens, was es für die Sozialarbeiter/innen bedeutet, einen Fall zu haben – also zuständig zu sein. Zweitens wird in Kapitel 5.2 untersucht, wie der Fall überhaupt zum Fall für eine Sozialarbeiterin wird. Insgesamt wird deutlich werden, wie die Sozialarbeiter/innen – einmal zuständig geworden – sich herausgefordert sehen, »ihre« Fallbearbeitung nachvollziehbar zu gestalten, wie in Kapitel 5.3 gezeigt wird. Kapitel 5.4 fasst die Erkenntnisse der Analyse des fünften Kapitels mit der These zusammen, dass Sozialarbeiter/innen über die Organisation der Zuständigkeit auf die darstellbare Bearbeitung von Fallkonstellationen verpflichtet werden.
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5.1 »E INEN F ALL
HABEN «
Ausschnitt 1 Nach einer Weile klopft Herr Jokisch an der Tür. Er fragt »Störe ich gerade?« Frau Böhnisch verneint und sagt, er könne ruhig reinkommen. Sie fragt ihn, was es denn gäbe. Er erzählt, er habe da einen Fall, da sei das so mit einer Mutter, dass sie ihr Kind »dagelassen«, also in der Klinik gelassen habe. Nun »kann die Mutter sich nicht entscheiden«. Das Kind sei vor drei Tagen zur Welt gekommen. Die Mutter wisse nicht, ob sie das Kind zur Adoption freigeben wolle. Nun mache die Klinik Druck. Er habe einen Anruf bekommen und man habe ihm gesagt, man könne das Kind nicht länger als bis zum Mittwoch behalten. Man verlange da von ihm nun »eine Entscheidung«. (B/14: Abs. 11)
Die Sozialarbeiter/innen behandeln den Fall in dieser Situation und in vielen weiteren als etwas, das unmittelbar Beachtung von ihnen erfordert.1 Die Formulierung, dass Herr Jokisch2 einen Fall »hat« sowie sein Klopfen an der Tür drückt eine Dringlichkeit aus, die die Störung in dieser Situation retrospektiv legitimiert. Der Handlungsdruck ergibt sich in der untersuchten Situation daraus, dass die Mutter das Kind im Krankenhaus zurückließ und die Mitarbeiter/innen des Krankenhauses nun vom Sozialarbeiter erwarten, dass er sich der Sache annimmt. Die Verantwortung für die weitere Bearbeitung liegt also bei Herrn Jokisch, der für den Fall zuständigen Person.3 Der Sozialarbeiter ist in die Pflicht genommen, über die Bearbeitung des Falls zu entscheiden und die gewählten Arbeitsschritte künftig zu verant-
1
Gleichwohl sie auch zwischen mehr oder weniger dringlichen Fällen unterschei-
2
Die Daten sind anonymisiert. Zur Verbesserung der Lesbarkeit werden fiktive
3
Dies ist zugleich eine zentrale Leistung der Organisation von Fallzuständigkeit:
den, vgl. Kap. 5.1.4. Namen genutzt. Sie macht eine Person als Entscheider erkennbar, ohne die Entscheidung vorher festzulegen. Das Verhältnis ist, wie wir im Weiteren sehen werden, noch komplexer. Die Sozialarbeiter/innen entscheiden nicht nur über Fälle, sondern sie sind zugleich Akteure im Fall. Die Sozialarbeiter/innen nehmen z. B. Anrufe an, fragen ihre Kolleg/innen um Rat, schreiben Notizen und ihr Handeln hat Konsequenzen für den Fall. Die zuständigen Fachkräfte werden zugleich als Entscheider und Konstrukteure in den Fall involviert.
5. D IE O RGANISATION
VON
F ALLZUSTÄNDIGKEIT
| 119
worten (trotz aller in der Zukunft möglicherweise auftretenden Probleme). Die von Herrn Jokisch in der obigen Sequenz genutzte und im Amt überhaupt häufig verwendete Redewendung, »ich habe da einen Fall« markiert diese Zuschreibung und ihre Akzeptanz durch den Sozialarbeiter. Er macht den Fall zu seinem Fall.4 Die von Herrn Jokisch erwartete Entscheidung folgt, darin typisch für die im Weiteren untersuchten Situationen, einer offenen Zweck-MittelLogik. Erreicht werden soll der Schutz des Kindeswohls (Zweck). Den Sozialarbeiter/innen stehen dazu eine Reihe möglicher Interventionen, zugleich Optionen der Entscheidung, zur Verfügung (Mittel). Diese können zur Bearbeitung des aktuellen Problems verwendet werden. Welche Intervention geeignet ist, ist aber nicht einfach ableitbar (z. B. aus einem WennDann-Programm, einem Verfahren, Gesetz oder ähnlichem Regelwerk), sondern muss von der zuständigen Person entschieden werden.5 Herr Jokisch sucht entsprechend nach einer geeigneten Lösung: Ihm steht hier die »Adoption« als Bearbeitungsstrategie zur Verfügung, aber auch andere Maßnahmen, z. B. das Kind zur Mutter zu entlassen oder es gegen den Willen der Mutter in eine Pflegefamilie zu geben. Das Problem, wählen zu müssen, überdies die Verantwortung für die in der Entscheidung implizierte Wahl, liegt (zugeschrieben über das Prinzips der Fallzuständigkeit) bei der zuständigen Sachbearbeiterin.
4
Wenngleich er seine Kollegin in die Fallbearbeitung einbezieht und den Fall in-
5
Der Schutz des Kindeswohls stellt offenbar eine nicht oder jedenfalls nur schwer
sofern auch zu einem gemeinsam Fall macht. routinisierbare Aufgabe dar. Ein Konditionalprogramm, das einfache WennDann-Beziehungen impliziert, würde in derartigen Situationen wie der hier geschilderten eine (vermeintliche) Entlastung für die Sozialarbeiter/innen bedeuten. Sie könnten darauf verweisen, dass sich die Entscheidung aus dem Verfahren ergibt. Wenn z. B. immer dann, wenn ein Kind in einer Klinik verlassen wurde, Option X zu ergreifen ist, wäre für die Sozialarbeiter/innen nicht viel zu entscheiden und sie könnten die »richtige« Option »errechnen«. Im Kontext des Amtes, wie in der Situation von Herrn Jokisch, sind solche Wenn-DannBeziehungen aber kaum umsetzbar, da sich die Fallkonstellationen komplex gestalten und genaue Einschätzungen erfordern (vgl. Kap. 7). Das organisationale Verfahren gibt das Ergebnis der Entscheidung daher nicht vor, was wiederum typisch für Organisationen ist, in denen Professionelle tätig sind (Klatetzki 2005).
120 | Ü BER DAS KINDESWOHL ENTSCHEIDEN
Herr Jokisch sucht vor diesem Hintergrund nach einem nächsten Schritt in der Bearbeitung des Falls. Er tastet sich vor, nimmt sich Zeit, bespricht sich mit seiner Kollegin, und sucht nach einer Lösung, die im Kontext des Amtes (z. B. in den Augen seiner Kollegin) Akzeptanz finden kann.6 Herr Jokisch bringt aber nicht zuletzt eine gewisse Unsicherheit zum Ausdruck: Wo soll das Kind unterkommen? In der Klinik kann es nicht bleiben. Wäre das Kind also bei seiner Mutter, die es allerdings bereits in der Klinik alleine ließ, besser aufgehoben? Oder wäre doch eine Fremdunterbringung in einem Heim bzw. in einer Pflegefamilie die vernünftigere Option?7 Es handelt sich hierbei um Fragestellungen, deren Bearbeitung und Dringlichkeit in den weiteren hier untersuchten Situationen immer wieder von Bedeutung ist.8
6
Das Handeln des Sozialarbeiters erinnert darin an die schrittweise vorgehenden Strategien, die in der Entscheidungsforschung als Inkrementalismus beschrieben werden (Lindblom 1959, Braybrooke und Lindblom 1972, Bogumil und Jann 2009: 140 ff.).
7
Der Fallverlauf wird an dieser Stelle nicht weiter verfolgt. Die Untersuchung der Sequenz soll hier zunächst nur einige typische Konstellationen verdeutlichen, einen ersten Eindruck von der Strukturierung des Verhältnisses Fall und der fallzuständigen Person verschaffen.
8
In der Betrachtung von Ausschnitt 6 und weiterer Datenmaterialien aus dem Kontext der Feldforschung drängt sich möglicherweise der Eindruck auf, man habe es mit einer chaotischen, ja möglicherweise »anarchistischen« Entscheidungssituation zu tun (Cohen et al. 1972). Akteure, Lösungen und Probleme treffen hier mehr oder minder zufällig, fast wie in einem »Papierkorb« (ebd.) zusammengewürfelt, aufeinander, wodurch Entscheidungssituationen erst entstehen. In der obigen Situation werden die Teilnehmenden mit einem Problem konfrontiert (das in einer Klinik zurückgelassene Kind). Sie haben dabei verschiedene Lösungen zur Verfügung (z. B. die »Adoption«). »Herumlungernde« Lösungen halten andererseits nach passenden Problemen »Ausschau«. Derartige Konstellationen, auf die das Papierkorb-Modell des Entscheidens sich recht gut anwenden lässt, werden wir im Laufe der Untersuchung noch häufiger beobachten. Im Folgenden wird es jedoch nicht um die Anwendung theoretischer Modelle, sondern darum gehen, die Eigensinnigkeit der jugendamtlichen Entscheidungsprozesse herauszuarbeiten.
5. D IE O RGANISATION
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5.1.1 Die Akteure im Fall-Szenario Der Fall verfügt im Kontext des Jugendamtes in der Regel über ein ganzes Ensemble zentraler Akteure. Welche Akteure typischerweise im Fall des Jugendamtes vorkommen, wird in diesem Abschnitt untersucht. Dazu wird im Folgenden noch einmal auf die zu Beginn des Kapitels zitierte Sequenz eingegangen. Außerdem werden zwei Versprachlichungen aus Interviews untersucht. Zu zeigen sein wird, wie die Sozialarbeiter/innen die Akteure mit Bedeutung versehen. In nachfolgendem Ausschnitt 2 geht es um eine Mutter, die als »Manikerin« gekennzeichnet wird. Sie hatte ihr Sorgerecht verloren und gegen den Willen des sorgeberechtigen Vaters das Kind zu einer Freundin gebracht. Die Besprechung findet zwischen der zuständigen Sozialarbeiterin (Frau Voss), dem Gruppenleiter (Herr Ulrich) und einer weiteren Sozialarbeiterin (Frau Wimmer) statt. Das Gespräch findet ad-hoc in den Räumen einer Teamleiterin des ASDs statt. Die Sozialarbeiter/innen überlegen, was zu tun ist, stellen dabei die beteiligten Akteure dar. Ausschnitt 2 Der Vater sei zur Polizei gegangen, sagt Frau Voss, die zuständige Sozialarbeiterin. Die Polizei hätte dem Vater gesagt, dass er das Kind abholen müsse. »Das ist die aktuellste Meldung«. Frau Wimmer meint: »Rein rechtlich ist das klar, eigentlich müsste jemand das Kind abholen«. [...] Frau Voss sagt, »die Polizei möchte eigentlich einen Herausgabebeschluss des Familiengerichtes und dann das Kind da rausholen«. Frau Wimmer entgegnet: »Aber das geht so nicht, da müsste jemand von uns mitgehen«. Es sei vielleicht auch möglich, sich »Amtshilfe« des vor Ort zuständigen Jugendamtes zu organisieren. Frau Voss fragt, ob das möglich sei und Herr Ullrich sagt: »Außerhalb von Hangelsberg können wir Amtshilfe in Anspruch nehmen«. Frau Voss sagt, sie wolle »um 15:00 Uhr zu Hause sein«, sie müsse sich um ihren Sohn kümmern. Daher wolle sie nicht dorthin fahren. Herr Ullrich meint, das würde ebenfalls für eine »Amtshilfe« sprechen und ergänzt: »Dann sind wir erst mal entlastet«. (B/2: Abs. 641)
In der Falldarstellung erscheinen, wie auf einer imaginären Bühne, die zentralen Personen: Zunächst der Vater, der zur Polizei geht und um Unterstützung bittet, weil er sein Kind nicht länger der »manischen Mutter«, seiner Ex-Frau, anvertrauen möchte, dann die Freundin, bei der die Mutter mit
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dem Kind zu Besuch ist, die Akteure der Polizei, die vom Familiengericht die Erlaubnis möchten, das Kind in Obhut zu nehmen, schließlich die Sozialarbeiter/innen des anderen Amtes, die Amtshilfe leisten könnten und die Sozialarbeiter/innen selbst, die den Fall bearbeiten.9 Betrachten wir noch eine weitere Falldarstellung, um etwas Material zur Analyse typischer Fallkonstellationen zu gewinnen. Herr Carsten, der interviewte Sozialarbeiter, entwickelt im folgenden Ausschnitt 3 eine Art Präzedenzfall, dabei ruft er, ähnlich zu Ausschnitt 2, die Akteure auf die Bühne des Falls, hier einen 11-jährigen »Schüler«, seine »Mutter«, den »Stiefvater« und die Schule. Ausschnitt 3 B: Können Sie mir vielleicht ein Beispiel erzählen für so einen Fall, dass ich es mir besser vorstellen kann, [...]? I: [...] Wir machen einfach mal einen Fall, den habe ich auch gerade präsent im Kopf. Ähm, eine Schule meldet sich bei uns und sagt: »Wir haben hier einen elfjährigen, eigentlich engagierten Schüler, ja, der fühlt sich auch bei uns wohl, aber der ist heute zu uns gekommen und hat gesagt, er ist also von seinem Stiefvater ganz toll verhauen worden und er traut sich nicht mehr nach Hause, weil er hat das seiner Mutter auch schon mehrfach erzählt //mhm// und die sagt: »Ach, musst dich nur anständig benehmen, der ist gar nicht so böse, das ist ein ganz Netter
9
Der Vater sei zur Polizei gegangen. Gleichzeitig besteht in der konkreten Situation aber ein großer Entscheidungsdruck: Das Kind kann nicht einfach bei der »manischen« Mutter belassen werden. Auch die Polizei übt in dieser Hinsicht Druck auf das Jugendamt aus. Der Fall erfordert, ähnlich wie weiter oben rekonstruiert, seine Bearbeitung durch die zuständige Person. Da die Sozialarbeiter/innen sich selbst außerstande sehen, diese Fallbearbeitung vorzunehmen, erscheint die Option, die Zuständigkeit für die weitere Bearbeitung (zumindest teilweise) in Form der Amtshilfe abzutreten, in dieser Situation vernünftig. Man hat es sozusagen mit situationsbezogener Vernünftigkeit zu tun. Dies würde die Sozialarbeiter/innen vom akuten Handlungsdruck »entlasten«. Hierfür und angesichts der praktischen Umstände (Zeitknappheit, familiäre Verpflichtung von Frau Voss) sind sie bereit, eine Fallübergabe hinzunehmen, die sie in einer anderen Situation vielleicht vermeiden würden. Die Zuständigkeit wird hier insofern vor dem Hintergrund persönlicher Verpflichtungen und arbeitspragmatischer Überlegungen verhandelt.
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und so weiter und er will das nicht und; ja, dann wird es schon seinen Grund haben, wenn der dich haut« und so weiter. Und jetzt hat dem Kleinen das irgendwann nicht mehr gefallen und ihm ist der Kragen geplatzt, er hat richtig Angst und der sagt: »Ich gehe nicht mehr nach Hause.« (I/13: Abs. 30-33)
Im Vergleich der Ausschnitte 1-3 lassen sich Parallelen und einige typische Aspekte in der Strukturierung des Falls im Kontext des Jugendamtes beobachten. Die folgende Tabelle vergleicht in einem ersten Schritt die genannten Akteure. Tabelle 5: Akteure im Fall
Akteure
Fall 1, Ausschnitt 1
Fall 2, Ausschnitt 2
Fall 3, Ausschnitt 3
Mutter, Kind, Klinik, der zuständige Sachbearbeiter
Vater, Mutter, Kind, Polizei, Familiengericht, weiteres Jugendamt
Mutter, Kind, Stiefvater, der Sachbearbeiter
In Ausschnitt 1 werden die Mutter, das neugeborene Kind und der Anrufer aus der Klinik als Akteure genannt. Zudem tritt der Sozialarbeiter selbst in den Fall ein, denn von ihm wird, wie in der eingangs geschilderten Situation zu sehen ist, eine Entscheidung erwartet. In Ausschnitt 2 geht es ebenfalls um einen Fall mit Mutter und Kind, hinzukommen noch der Stiefvater, die Schule und der Sozialarbeiter selbst. Typisch ist an diesen AkteursKonstellationen, dass einerseits familiale Akteure markiert werden. Zu den diesen treten häufig Professionelle aus weiteren Institutionen, die sich typischerweise mit Meldungen und anderen Anliegen an das Jugendamt wenden (z. B. Fall 1/Ausschnitt 1: die Klinik, Ausschnitt 2: die Lehrerin). Typisch ist zudem die Zugehörigkeit der Akteure im Fall zu unterschiedlichen Statusgruppen, die die folgende Darstellung abbildet.
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Abbildung 2: Akteursgruppen im Fall
(Quelle: Eigene Darstellung)
Instruktiv ist überdies, dass und wie die Akteure mit Verhaltensweisen ausgestattet werden, die ihrerseits Rückschlüsse auf die Eigenschaften bzw. Qualitäten der Akteure zulassen. In Fall 1 wird das Verhalten der Mutter derart beschrieben, dass diese ihr Kind nach der Geburt in der Klinik zurückließ und sich danach unschlüssig zeigte, ob sie das Kind zur Adoption freigeben möchte. Die Klinik fordert daraufhin das Eingreifen des Amtes. Ähnlich verhält es sich in Fall 2, in dem die Schule als Melder auftritt. Hier ist es der Junge, der aktiv wird, dem »der Kragen platzt«, und der sich äußert, nicht mehr nach Hause zu wollen. Die Mutter scheint dies jedoch nicht ernst zu nehmen, sie äußert, der Stiefvater sei »nicht so böse«. Tabelle 6: Eigenschaften und Verhaltensweisen der Akteure im Fall Fall 3, Ausschnitt 3 Verhalten der Akteure:
- Mutter hat ein Kind in der Klinik geboren, es dort gelassen und kann sich nicht entscheiden, ob sie es zur Adoption freigibt
Fall 3, Ausschnitt 3
Fall 3, Ausschnitt 3
Die Mutter hat das Kind entführt und - war zuvor zu einer Behandlung in der Psychiatrie
- Lehrerin (Schule) fordert einen Eingriff vom Jugendamt - dem Jungen »platzt der Kragen, er möchte nicht nach Hause«
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»die Klinik« verlangt eine Entscheidung vom Jugendamt
Charakterisierungen der Akteure:
- Mutter erscheint als »unmütterlich«, zudem als unentschlossen - Kind ist alleingelassen in der Klinik - Klinik erscheint fordernd
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- Mutter koaliert mit dem Stiefvater und wiegelt ab - Stiefvater ist möglicherweise gewalttätig - Mutter wird als »manisch« und unzuverlässig beschrieben - Vater erscheint als sorgend, - Polizei als fordernd
- Mutter ist möglicherweise uneinsichtig und offenbar nicht fähig/willens, ihren Sohn zu schützen - Kind ist möglicherweise (schon länger) Opfer von Gewalt, nun aktiv geworden
Die beschriebenen Verhaltensweisen lassen Rückschlüsse auf die Qualitäten der Akteure zu.10 In beiden Fällen lässt das Verhalten der Mütter sie gewissermaßen als »unmütterlich« erscheinen. In Fall 1 lässt die Mutter ihr Kind zurück und erwägt sogar, es an andere Eltern abzugeben. In Fall 2 ist die Mutter offenbar nicht willens oder in der Lage, ihr Kind zu schützen. Sie hinterlässt den Eindruck, dass sie die Beziehung zum neuen Partner höher priorisiert als den Schutz ihres Sohnes vor möglichen Gewalttaten. Von einer »mütterlichen« Mutter wäre im Sinne des Common Sense hingegen zu erwarten, dass sie ihr Kind nach der Geburt zu sich nehmen bzw. es vor möglichen Gewalthandlungen schützen würde (Harvey Sacks 1995).11
10 Dies ist hier allerdings etwas vereinfacht und linear gedacht: Selbstverständlich funktioniert die Konstruktion von Verhalten und Eigenschaften der Akteure wechselseitig. Das Glas Wein am Abend hat beispielsweise bei einem Professor für Humanmedizin eine andere Bedeutung als bei einem trockenen Alkoholiker – dies hat auch seine Bedeutung für die weitere Konstruktion der Qualitäten einer Person. 11 Die Sozialarbeiter/innen berichten von Verhaltensweisen der Mutter, die mit ihrer Rolle als Mutter bzw. entsprechenden normativen Erwartungen brechen, –
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Interessant erscheint darüber hinaus, dass nicht nur die familialen Akteure von Bedeutung sind. Es ist typisch für die Fallkonstruktion im Jugendamt, dass gerade auch kooperierende Institutionen (hier: Schule und Klinik, die auf Gefährdungen hinweisen bzw. eine Intervention fordern) einen wichtigen Beitrag zur Konstruktion der zu bearbeitenden Problematik leisten. Die Sozialarbeiter/innen treten in Beziehung (Köngeter 2009): Sie agieren in familialen Konfigurationen und scheinen (beinahe) Teil der Familie zu werden (Retkowski und Schäuble 2010). Die Professionellen selbst kommen in den Falldarstellungen nicht immer explizit vor, sie müssen jedoch mit- bzw. »hinzugedacht« (Müller 2012: 33) werden, um den »sozialpädagogischen Fall« (Müller 2012: 33, Hv. i. O.) vollständig zu betrachten. Die Sozialarbeiter/innen werden als Zuständige selbst Teil des Fall-Szenarios, das sie zu bearbeiten haben. 5.1.2 Exkurs: Der Fall als Abstraktion und der Status der Akteure Betrachtet man die untersuchten Fälle, kann man zudem erkennen, dass durch die Sozialarbeiter/innen mit der Konstruktion des Falles eine nützliche Abstraktion vorgenommen wird: Die Sozialarbeiter/innen beachten, urteilen und entscheiden nur mehr indirekt über die »ganze« Person (was auch schlichtweg unmöglich wäre). Sie ziehen lediglich jene Aspekte der entsprechenden Personen für ihre Darstellungen und Einschätzungen heran, die für das Jugendamt in der Bearbeitung des Falls von Bedeutung sind. Die Namen des Kindes, der Mutter oder des Akteurs in der Klinik bleiben z. B. ungenannt. Die Konstruktion der Identität der Klienten (Hall et al. 2003) erfolgt unter Nutzung von abstrakten Rollenprofilen. Dies ist in der beschriebenen Situation offenbar auch nicht notwendig, um die Problemkonstellation aufzuzeigen und zu verdeutlichen, dass diese Konstellation
etwa wenn sie ihr Kind nach der Geburt zurücklässt. Juhila (2003) sowie Juhila und Abrams (2011) beschreiben unter dem Stichwort »›bad‹ mother«, wie Sozialarbeiter/innen Konstruktionen von schlechter Mutterschaft vornehmen und diese Konstruktion als Grundlage von Interventionen relevant machen. Die Konstruktion schlechter Mutterschaft, zugeschrieben auf eine Person als »bad mother«, kann im Kinderschutzhandeln, wie in der obigen Situation, offenbar Anlass geben, die Notwendigkeit einer Intervention zumindest etwas genauer zu prüfen.
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ein Fall für das Jugendamt ist bzw. die Bearbeitung durch den zuständigen Sozialarbeiter erfordert. Angesichts der Akteurs-Profile in den bisher analysierten Fällen, wird zudem deutlich, dass diese mit unterschiedlicher Handlungsmacht ausgestattet werden bzw. der Akteursstatus für einige der Beteiligten in Frage steht. In Fall 1/Ausschnitt 6 wird dem Sozialarbeiter z. B. große Handlungsmächtigkeit zugebilligt: Er soll entscheiden, wo das Kind weiterhin leben wird. Die Mutter hat das Kind alleine gelassen, aber nicht entschieden, ob sie das Kind behalten möchte. Zugleich ist aber auch unklar, ob sie sich überhaupt dafür entscheiden könnte, das Kind nun noch zu sich zu nehmen oder ob dies durch eine Intervention des Jugendamtes verhindert werden könnte. Ihr scheint im kontextuellen Gefüge nur wenig Handlungsmacht zugestanden zu werden. Das Kind wird ebenfalls als Bestandteil des Szenarios genannt. Aber das Kind gestaltet nicht selbst.12 Es handelt nicht, sondern befindet sich, ähnlich einem Objekt, lediglich an einem bestimmten Ort (der Klinik), der aber für dieses Objekt auf Dauer »nicht passt«. Das Kind wird zu einem Objekt des Austauschs bzw. der Auseinandersetzung zwischen Erwachsenen. Im Fall 3/Ausschnitt 3 wird das Kind als (eingeschränkter) Akteur präsentiert: Der Junge hat sich an die Lehrerin gewendet und geäußert, dass er nicht mehr nach Hause möchte. Damit versucht der Junge, sein Lebensumfeld zu beeinflussen. Seine Aussage hat dazu geführt, dass sich das Jugendamt nun mit der Problematik befasst. Die Entscheidung, was nun weiter geschehen soll, liegt allerdings in der Hand des Jugendamtes bzw. des zuständigen Sachbearbeiters und wird zwischen Sozialarbeiter/innen, der Schule und den Eltern ausgehandelt. Die Kinder werden zum »Grenzobjekt«, das die Kommunikation zwischen den Erwachsenen anschiebt und strukturiert (zur Verwendung des Begriffs des Grenzobjekts im Feld des Kinderschutzes Klatetzki 2012, Scheiwe 2012).13
12 Dazu ist das Kind möglicherweise auch noch zu jung und nicht in der Lage – ob es das ist oder nicht, ist zumindest umstritten. 13 Die Kinder werden als Gegenstände der adulten Auseinandersetzung erkennbar (Ackermann und Robin 2014). In Fall 1 wird das Kind von der Mutter alleingelassen, die Klinik möchte es nicht länger »verwahren«, verlangt eine Veränderung und der Sozialarbeiter muss nun über seinen weiteren Aufenthaltsort entscheiden. In Fall 3 erscheint das Kind zunächst aktiv, da es sich an die Lehrerin
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Das Fallszenario ist insofern häufig durch eine Vielzahl von Akteuren gekennzeichnet, deren Akteursstatus sich deutlich unterscheidet und unter denen Handlungsmacht ungleich verteilt ist. Es kann aber andererseits auch nicht gesagt werden, wie man vielleicht vermuten würde, dass alle Handlungsmächtigkeit auf Seiten der Sozialarbeiter/innen zu lokalisieren wäre. Es sind ja gerade die Klient/innen (die Mutter, der Stiefvater, der Junge), die durch ihr Handeln zur Problemkonstruktion beitragen und die Anlässe für die Bearbeitung mit-produzieren (z. B. durch das Alleinlassen des Kindes oder den Hinweis an die Lehrerin). 5.1.3 Zeitliche Dimensionierung des Falls Vergleicht man die bisher analysierten Fälle, so kann man sehen, dass die dargestellten Fälle, ähnlich unserer allgemeinen Wahrnehmung, jeweils eine eigene Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft aufweisen. Wie diese zeitliche Dimensionen ineinanderlaufen, davon zeugt die Situation, in der sich Herr Jokisch fragt, was mit dem Kind in der Klinik zu tun ist (vgl. Ausschnitt 1): Die Problematik ergibt sich aus der von ihm dargestellten Fallgeschichte, der zufolge die Mutter das Kind nach der Geburt allein zurückließ. Herr Jokisch fragt sich nun, gegenwärtig und in die Zukunft gewandt, was ein angemessener Aufenthaltsort, also ein geeigneter Ort des Aufwachsens für das Kind, sein könnte. Gegenwärtig muss er mit der Forderung der Klinik zurechtkommen, die nach einer schnellen Lösung verlangt. Eine Entscheidung zu treffen, verlangt von Herrn Jokisch, künftige Entwicklungen mit in seine Überlegungen einzubeziehen. Wo das Kind gut aufgehoben sein wird, lässt sich nur in Verbindung mit der Frage beantworten, wie sich z. B. die Eltern künftig verhalten werden. Wird sich die Mutter zu ihrem Kind bekennen und es aufnehmen? Eine ähnliche Konstellation ergibt sich in Ausschnitt 2. Die zu bearbeitende Problematik resultiert dort aus der Fallgeschichte, der zufolge das Kind aussagte, der Vater habe es misshandelt. Zudem hatte seine Mutter offenbar nicht für seinen Schutz gesorgt, jedenfalls für den neuen Partner Partei ergriffen (»Du musst dich nur anständig benehmen, der ist gar nicht so böse.« (I13, vgl. Ausschnitt 3). Es stellt sich nun die Frage, ob das Kind weiter bei seiner Mutter wird leben können. Für die Sozialarbeiter/innen
wendet. Zugleich wird es passiv, wenn es als Opfer mangelnden Schutzes bzw. der Gewalt des Stiefvaters konzeptioniert wird.
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gilt es abzuschätzen, wie glaubwürdig die Aussagen des Kindes sind und ob sich eine Misshandlung wiederholen könnte oder ob die Eltern und der Stiefvater bereit sind, das Wohl des Kindes künftig sicherzustellen. Zur Vertiefung der Thematik wird nachfolgend ein weiterer Interviewausschnitt untersucht, in dem ebenfalls die zeitliche Dimensionierung erkennbar wird. Ausschnitt 4 Zum Beispiel bei Suchterkrankung ist es wahrscheinlich, dass also die Eltern trocken bleiben, ja? […] Man sollte [...] gut planen, ja und einfach auch intensiv überlegen, wie erfolgversprechend ist die Maßnahme auf längere Zeit. (I/13: Abs. 77)
Das Problem des Entscheidens besteht darin, von einem gegenwärtigen Zeitpunkt aus zukünftige Entwicklungen abschätzen zu müssen. Wie wird sich die Situation für das Kind entwickeln? Wie werden sich Eltern und Kinder künftig verhalten? Bleiben die Eltern z. B. trocken? Welche Maßnahmen werden sich als geeignet herausstellen? Die Wahl zwischen den Optionen impliziert eine Prognostizierung von Prozessen, die noch in der Zukunft liegen. Es handelt sich um Prognoseentscheidungen. Zur Herstellung der Prognose, zur Abschätzung der zukünftigen Entwicklung, haben die Sozialarbeiter/innen typischerweise die Vergangenheit und die Gegenwart des Falls zur Verfügung (in Ausschnitt 4 z. B. die bis jetzt bestehende Alkoholabhängigkeit der Eltern). Wie verhielten sich die Beteiligten bislang? Was tun sie derzeit und zukünftig? So ungefähr lauten die Fragen, anhand derer die Sozialarbeiter/innen ihre Bestimmungsversuche entwickeln. Ausgehend von Vergangenheit und Gegenwart werden vor diesem Hintergrund Einschätzungen unternommen, die sich auf zukünftige Szenarien richten. Bisherige Entwicklungen (bzw. Tatbestände) werden gewissermaßen in die Zukunft verlängert. Die Zukunft des Falls bildet den Horizont, der in der Ferne aufscheint (und sich vom gegenwärtigen Standpunkt aus konstituiert). Die Entscheider/innen gehen prognostizierend vor und (notgedrungener) davon aus, dass das, was in der Vergangenheit geschah, sich in der Zukunft so oder so ähnlich fortsetzen wird (Tversky und Kahneman 1974: 1125). Vergangene und derzeitige Entwicklungen werden von den Entscheider/innen in die Zukunft verlängert.
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Vergangenheit des Falls (Fallgeschichte) Gegenwart des Falls (aktuelle Konstellation) Zukunft des Falls (als Horizont möglicher Entwicklungen und Entscheidungen)
Komplizierter wird es noch dadurch, dass die Zeit nicht nur linear verläuft, sondern Vergangenheit, Gegenwart und mögliche Zukunft des Falls sich wechselseitig konstituieren. Die Gegenwart des Falls, mit ihren drängenden Problemen, mag auf den ersten Blick im Vordergrund stehen (z. B. in den Ausschnitten 1-2): Wo kann das Kind jetzt unterkommen? Was soll jetzt getan werden? Aber die aktuelle Problematik entwickelt sich erst auf dem Hintergrund der historischen Dimension. Die Fallgeschichte wird von den Sozialarbeiter/innen neu erzählt, um im Rückgriff auf die Vergangenheit Entscheidungen zu treffen, die sich zugleich in eine Zukunft richten, die zum Zeitpunkt der Bearbeitung unbekannt ist, daher nur auf der Basis von Prognosen adressierbar ist (welche auf Gegenwart und Vergangenheit des Falls beruhen). Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft des Falls laufen greifen unweigerlich ineinander, alle drei Dimensionen verlangen daher im Entscheiden der Sozialarbeiter/innen Beachtung. Alleine einen Fall dergestalt, mit seinen Akteuren, deren Verhaltensweisen und den entsprechenden zeitlichen Dimensionierungen im Blick zu halten, erscheint anspruchsvoll. Die Sozialarbeiter/innen bearbeiten jedoch nicht nur einen, sondern in der Regel eine ganze Reihe von Fällen, für die in Hinblick auf die Entscheidungsfrage das Gleiche gilt. 5.1.4 Fall-Sets – ein Blick in den Aktenschrank Der Aktenschrank wird im Folgenden als zentraler »Artefakt« (Froschauer 2009) aus dem Kontext jugendamtlicher Fallbearbeitung untersucht. In der Regel verfügt jede Sozialarbeiterin über »ihren« Aktenschrank, in dem sie »ihre« Fälle ablegen kann. Während meiner Feldaufenthalte nutzten die Sozialarbeiter/innen ihre Aktenschränke, um die bearbeiteten Fälle an- bzw. abzulegen, »Fallakten« zur Hand zu nehmen, etwas nachzutragen, eine Telefonnummer zu suchen oder griffen die Akte, um sich auf Besprechungen vorzubereiten oder einfach nur Schreiben oder andere Dokumente abzuhef-
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ten.14 Der Aktenschrank gehört zum Inventar jedes Büros in den untersuchten Jugendämtern. Zur Veranschaulichung der räumlichen Situation die Skizze eines Arbeitszimmers. Abbildung 3: Skizze eines Büroraumes
In der Skizze sind zunächst zwei Sitzgruppen zu erkennen, wie sie von den Sozialarbeiter/innen üblicherweise gestellt werden. Sie repräsentieren zugleich zwei unterschiedliche Arbeitsformen: Links neben der Eingangstür steht der runde Besprechungstisch, an dem Gespräche mit Kolleg/innen und Adressat/innen stattfinden. Auf der anderen Seite des Raumes befinden sich zwei Schreibtische (Nr. 3), die der Schreibarbeit und anderen Verwaltungstätigkeiten dienen. Hier stapeln sich mitunter die Akten, die gerade bearbeitet werden. Der Aktenschrank steht zentral und ermöglicht unmittelbaren Zugriff auf die abgelegten Fälle. Der Aktenschrank macht den Zugriff auf die Fallakten einerseits praktisch möglich, zugleich verkörpert er ihn symbolisch gegenüber einer Publikums-Öffentlichkeit: Besucher/innen (andere Sozialarbeiter/innen, Erziehungsberechtigte und auch Kinder) können erkennen, dass die Sozialarbeiter/innen die abgelegten Akten, alle gespeicherten Daten, also auch »ihren«
14 Dabei werden die Aktenschränke zumeist so lange offen gelassen, wie man sich im Büro bewegt und bei Dienstende oder auch bei längerem Verlassen des Büros wieder verschlossen.
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Fall, jederzeit »ziehen« können.15 Dass der Schrank verschließbar ist, markiert zudem, dass hier empfindliche Daten verwahrt werden, die eines gewissen Schutzes bedürfen. Dabei ist es die Sozialarbeiterin, die über den Schlüssel verfügt. Ihr obliegt es, abzuschließen oder den Aktenschrank während der Arbeitszeit geöffnet zu lassen, wie es gewöhnlich getan wird. Zur Veranschaulichung das Foto eines Aktenschrankes, wie er in den untersuchten Jugendämtern typischerweise Verwendung fand. Ausschnitt 5
(D 26, eigene Aufnahme des Autors)
Das Foto zeigt zunächst einmal Fallakten, die in zwei Reihen hängen: Sie sind, was auf dem Bild nicht zu sehen ist, alphabetisch geordnet. Die Akten sind schnell zur Hand. Sollte etwas nachgesehen oder vermerkt werden müssen, sind die Fälle ohne größeren Aufwand auffindbar und können, mit
15 Diese Konstellation des jederzeit möglichen Zugriffs auf persönliche Daten, im Prinzip eine Möglichkeit der aktengestützten Beobachtung einer Person oder einer Gruppe von Personen, erinnert an die von Foucault (Foucault 1977) beschriebenen Formen der (panoptischen) Überwachung: Die Sozialarbeiter/innen haben die Möglichkeit, jederzeit kontrollierend auf Daten zuzugreifen, ohne dass die kontrollierten Personen wüssten, welche Daten genau abgelegt wurden bzw. wann und mit welcher Intention die Prüfung ihrer Person (anhand der abgelegten Daten) erfolgt.
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Blick auf den Namen der Erziehungsberechtigten, sofort »gezogen« werden, wie die Sozialarbeiter/innen sagen.16 Durch die Aufreihung wird zudem ein visueller Vergleich der Akten möglich. Die Akten können in Bezug auf ihren Umfang unterschieden werden: Man kann ahnen, dass es sich bei den besonders umfangreichen Akten um »Knallerfälle« handelt. Das sind Fälle, in denen – in der Sprache der Bearbeiter/innen – »einiges drinne« ist (vgl. z. I/6: 73-74). Die Intensität und der Umfang der geleisteten Arbeit spiegeln sich in der »Dicke« der Akte, die aus dokumentierten Arbeitsvorgängen besteht.17 Jede Akte steht für dokumentierte Arbeitsvorgänge. Eine Vielzahl vorhandener Akten lässt daher (scheinbar) auf hohen zeitlichen Einsatz (und entsprechende Belastungen) schließen. Der Aktenschrank bzw. der Grad seiner Füllung deutet deshalb an, wie es um die Beschäftigung, Auslastung bzw. auch Arbeitsbelastung der Sozialarbeiterin bestellt ist. Ein halb leerer
16 Zur alphabetischen Ordnung werden von den Sozialarbeiter/innen zumeist die Familiennamen der Personensorgeberechtigten genutzt (also nicht z. B. die Namen der Kinder). Jedem »Fall« wird eine Akte zugeordnet. Reicht der Platz nicht aus, kann jedoch auch eine weitere Akte eröffnet werden. Es sind zudem Binnendifferenzierungen der Akten durch die Art der Unterakten zu erkennen, denn die im Kontext des Amtes verwendeten Akten bestehen typischerweise, wie auch auf dem Foto zu sehen ist, aus mehreren Heftungen, die in einen Aktendeckel gebunden sind. Häufig werden in den Jugendämtern z. B. fortlaufende »Beratungsakten« angelegt (I/1: 187-191). Diesen werden zudem »Leistungsakten« zugeordnet, in die alle Unterlagen abgeheftet werden, die die Bewilligung einer Hilfe zur Erziehung betreffen (vgl. ebd.). Gesprochen wird dann von »Fremdunterbringungs-« oder »Familienhilfeakten«. Dies führt auch dazu, dass unter einem Aktendeckel mehrere Leistungsakten zu finden sind. Da sich die Hilfen zur Erziehung jeweils auf ein Kind beziehen, kann es vorkommen, dass unter einem Aktendeckel mehrere Leistungsakten für verschiedene Kinder abgelegt sind (vgl. z. B. I/1: 227). 17 Andererseits sollte die Gleichung, der zufolge die Bearbeitungsintensität eines Falls proportional zur Dicke der Akte steht, auch nicht überbewertet werden. Eine Sozialarbeiterin sagte mir etwa, einige Kollegen könnten einfach nur »gut pinseln«. Der Umfang der Akte ist insofern nicht nur von Intensität, Dauer und Umfang der Bearbeitung, sondern auch von der Kunstfertigkeit und der Bereitschaft der Sozialarbeiter/innen abhängig, mehr oder weniger umfangreiche Vermerke anzufertigen.
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Aktenschrank könnte leicht den Eindruck erwecken, der Sozialarbeiter würde im Vergleich mit seinen Kolleg/innen mit gut gefüllten Schränken nur halb so viel arbeiten.18 In der Tat begegnete mir in meiner Forschung kaum ein Aktenschrank, der nicht fast bis zum Rand (oder darüber hinaus) mit Akten gefüllt war. Beachtet man, dass der Aktenschrank in der Regel offensteht und daher der Betrachtung durch Besucher/innen (Kollegen oder Klienten) zugänglich ist, lässt sich erkennen, dass die Gestaltung des Aktenschrankes (seine angemessene Füllung) professionelles »facework« bzw. entsprechende (jugendamtliche) »Imagepflege« darstellt.19 Da alle Akten, die sich im Aktenschrank befinden, in der Zuständigkeit der jeweiligen Sozialarbeiter/in liegen, bildet der Aktenschrank nicht zuletzt den Zuständigkeitsbereich der Sozialarbeiterin sozusagen dinglich ab. Der Blick auf den Aktenschrank zeigt, dass sich die Sozialarbeiter/innen mit einer Vielzahl von »Schicksalen«, gebunden unter zwei Aktendeckel, beschäftigen müssen.20 Hinter jeder Akte verbirgt sich ein eigener Fall. Auffällig ist aber nicht nur die Fülle des Schrankes, sondern auch die bloße Anzahl der verwahrten Akten. Der Aktenschrank zeigt, auf wie viele Fälle die Sozialarbeiterin »ein Auge haben« muss, zugleich das Set von Fällen, das die Sozialarbeiterin im Rahmen ihrer Zuständigkeit bearbeitet. Bei einer solchen Vielzahl zu bearbeitender Fälle ist es verständlich, dass nicht jeder Fall gleichermaßen »im Auge« behalten werden kann. Dies gilt vor allem, wenn wir uns vor Augen führen, dass es bei den hier untersuchten Fällen in der Regel um komplexe Konstellationen geht, mit den jeweiligen Akteuren, Fallgeschichten, gegenwärtigen Problemen und zukünf-
18 Die Sozialarbeiter/innen sind daher gut beraten, Fälle nicht zu früh abzulegen bzw. die Ablage nicht nur an den aktuellen Konstellationen im Einzelfall, sondern auch an der Gesamtheit der Fälle auszurichten, die sie in Bearbeitung haben. Bzw. müssen sie damit rechnen, weitere Zuständigkeiten übernehmen zu müssen, sollten sie ihren Schrank durch Aktenablage oder die Abgabe von Zuständigkeiten zu sehr leeren. 19 Vgl. zu den Begriffen »facework« und »impression management« weiterführend Goffman 1955, Goffman 1996a: 10-53). 20 In der Tat war es in den untersuchten Jugendämtern gängige Praxis, dass von Zeit zu Zeit die aktiven Fälle der Sozialarbeiter/innen gezählt wurden, wobei alle Akten im Aktenschrank als aktive Fälle behandelt wurden. Die Sozialarbeiter/innen mit wenigen Fällen wurden dann entsprechend bei der Neuverteilung von Zuständigkeiten berücksichtigt.
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tigen Entwicklungen. Gewöhnlich nehmen die Sozialarbeiter/innen daher Differenzierungen zwischen Fällen vor, die sich ebenfalls mit Blick auf den Aktenschrank zeigen: In einige Fall wurde offenbar mehr Arbeit investiert als in andere – jedenfalls sind die Akten einiger Fälle deutlich dicker als die ihrer Nachbarn.21 Da eine Vielzahl von Fällen zu bearbeiten ist, wird der Fall erst vor dem Hintergrund anderer Fälle zum Fall (bzw. auch zum Nicht-mehr-Fall). Nicht alle Fälle können oder müssen gleichartig bearbeitet werden. Einerseits wird zwar eine Vergleichbarkeit und auch Gleichartigkeit der Fälle hergestellt (z. B. etwa über ein gleichartiges Äußeres, den Aktendeckel). Andererseits erfordert schon die Vielzahl der verwalteten Fälle eine Priorisierung, die sich z. B. in der Unterscheidung von aktiven und nicht mehr aktiven Fällen sowie in unterschiedlich intensiver Bearbeitung ausdrückt: die Sozialarbeiter/innen bearbeiten nicht nur einzelne Fälle, sondern Sets von Fällen (vgl. Emerson 1983: 430). Zumindest drei Charakteristika des untersuchten Praxiszusammenhangs brachte die Betrachtung des Aktenschrankes hervor: Die Sozialarbeiter/innen bearbeiten erstens eine Gesamtheit von Fällen, die in ihrem Zuständigkeitsbereich liegen und in der der jeweilige Fall (auch im Unterschied zu anderen Fällen) zum Fall wird. Die Möglichkeit des ständigen Zugriffs, den
21 Es wird hierin deutlich, dass die Sozialarbeiter/innen offenbar auf ähnliche Weise wie Emerson (1983) dies beschreibt, »sets« (ebd.: 436 f.) von Fällen bearbeiten und darin Unterscheidungen von mehr oder weniger aktiven und passiven Fällen vornehmen. Im Bild ganz links unten ist noch der oberste Rand eines Stapel von Akten zu sehen, die für Fälle stehen, die von der von der Sozialarbeiterin als »überhaupt nicht mehr aktiv« behandelt wurden. Es handelte sich dabei um Fälle, in denen es über längere Zeit, zumeist mehrere Jahre, zu keinen weiteren Vorkommnissen kam. Die dokumentierten Arbeitsvorgänge wurden den Aktendeckeln entnommen und zur Einlagerung ins Archiv vorbereitet. Mit der Verwendung der immer gleichen Aktendeckel wird jeder Fall symbolisch und materiell gleich behandelt, nämlich gewissermaßen zwischen dieselben Aktendeckel »gepresst«. Darin gleichen sich alle Fälle. Nur die vorgesehenen »Aktenreiter« oder eventuelle handschriftliche Beschriftungen lassen eine Unterscheidung zu. Sollten neue Fälle entstehen, liegen neue Aktendeckel bereit, der neue Fall kann zu einem Fall unter bereits bestehenden Fällen werden (vgl. links unten im Bild, Ausschnitt 5). Man hat es mit »Fällen« zu tun, die alle (als Fall) zum Gegenstand formaler Verfahren werden (und darin gleich sind).
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der Aktenschrank praktisch ermöglicht und symbolisch abbildet, verweist zweitens auf eine panoptische Situation der Kontrolle. Die Sozialarbeiter/innen müssen ihre Fälle im Blick behalten. Der Zugriff auf empfindliche Daten ist den Sozialarbeiter/innen daher ständig möglich, ohne dass die Objekte (bzw. die Subjekte, d. h. die Adressat/innen) der Beobachtung wüssten, wann und in welcher Hinsicht sie genau beobachtet werden (und wie die Akten in dieser Hinsicht genutzt werden). Der Fall stellt also nicht nur einen Gegenstand professionellen »face works« innerhalb des Amtes dar, sondern auch eine zu bearbeitende (oder zu kontrollierende) Konstellation. 5.1.5 Institutionelle Lösungen in der Bearbeitung von Fällen Bisher wurde gezeigt, wie die Sachbearbeiter/innen mit Problemen konfrontiert werden, die sie – einmal zuständig geworden – zu bearbeiten haben. Im Folgenden werden die bisher untersuchten Fälle noch einmal genauer betrachtet, um exemplarisch einige Bearbeitungsstrategien herauszuarbeiten, die in Jugendämtern typischerweise bereitgehalten und zur Bearbeitung von Fällen eingesetzt werden. Hierzu wird zunächst resümiert, woran in den untersuchten Situationen von den Teilnehmenden die Annahme (möglicher) Kindeswohlgefährdung festgemacht wird. Zudem wird rekonstruiert, welche Problembearbeitungsstrategien angesichts dessen genutzt werden. Zu den Anlässen (möglicher) Kindeswohlgefährdungen in den untersuchten Situationen: In Fall 1 wurde das Kind von der Mutter im Krankenhaus zurückgelassen und es muss geklärt werden, wer sich künftig um das Neugeborene kümmern kann und soll. Das Kindeswohl, so muss angenommen werden, ist offenbar im Krankenhaus (auf Dauer) ohne Bezugsperson gefährdet, kann aber auch im mütterlichen Haushalt nicht unbedingt als gesichert angenommen werden. In Fall 2 befindet sich das kleines Kind in der Hand seiner »manischen« Mutter, die es gegen den Willen des sorgeberechtigten Vaters mit zu einer Freundin nahm, ihr eigenes Kind gewissermaßen entführte. In Fall 3 ergibt sich der Hinweis auf eine Kindeswohlgefährdung aus den Aussagen des Jungen, der auf eine Gefährdung durch den Stiefvater aufmerksam machte.
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Tabelle 7: Probleme und Lösungen in schwierigen Fällen Fall 1, Ausschnitt 1
Fall 2, Ausschnitt 2
Fall 3, Ausschnitt 3
Probleme
- Kind kann nicht in der Klinik bleiben
- Mögliche Gefährdung des Kindes durch den Stiefvater
Lösung/ Bearbeitungsstrategie
- Adoption, Unterbringung (auf kurze oder lange Dauer) in einer Pflegefamilie oder einer anderen stationären Einrichtung der Kinderund Jugendhilfe
- Kind steht unter Aufsicht einer »manischen« Mutter, wurde von dieser »entführt« - Abholen durch den Vater - kurzfristige Inobhutnahme durch die Polizei
- Einsatz ambulanter Hilfen zur Erziehung kurzfristige Inobhutnahme zwecks weiterer Klärung - langfristige Unterbringung in einer Pflegefamilie oder einer sonstigen Einrichtung der Kinder- und Jugendhilfe
Zu den Problembearbeitungsstrategien, die den Problemen gegenübergestellt werden:22 In Fall 1 wird eine kurzfristige und eine langfristige Fremdunterbringung (in Form der Adoption) erwogen. In Fall 2 soll das Kind durch die Polizei in Obhut genommen werden. In Fall 3 wird zwischen dem Einsatz ambulanter Hilfen einerseits und einer kurz- oder langfristigen
22 An der zentralen Problematik lässt sich die Zirkularität der Fallkonstruktion erkennen: Einerseits braucht es die Einschätzung der Akteure sowie ihre Verhaltensweisen, um überhaupt zwischen den Optionen abwägen zu können. Ob die Kinder (auch auf längere Dauer) im gemeinsamen Haushalt mit der Mutter leben können, ist nicht ohne die Beschreibung der Qualitäten der Mutter zu beantworten, genauso wenig ohne das Wissen um das fordernde bzw. informierende Verhalten von Klinik und Schule. Die Problematik ergibt sich insofern nicht nur aus der Darstellung, sondern die Darstellung bezieht sich auch auf die Problematik bzw. stellt diese in Rechnung. Darüber hinaus lässt sich auch eine Zirkularität zwischen Problemen und Lösungen erkennen: Es werden Probleme identifiziert, die prinzipiell durch im Amt vorrätig gehaltene Problemlösungsstrategien bearbeitet werden können.
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Fremdunterbringung andererseits abgewogen. Die Gegenüberstellung von Problemen und Bearbeitungsstrategien in den untersuchten Situationen lässt sich in Tabelle 7 graphisch veranschaulichen. Die in den untersuchten Fällen verhandelten Schritte spiegeln eine Bandbreite von Maßnahmen, die vom Gesetzgeber vorgesehen sind (vgl. SGB §§ 27 ff.), den Sozialarbeiter/innen in der Bearbeitung ihrer Fälle zur Verfügung stehen und dabei unterschiedliche Eingriffstiefen in den familialen Raum implizieren: Ambulante Hilfen, wie Erziehungsberatungen, Soziale Gruppenarbeit, Erziehungsbeistandschaften, die sozialpädagogischen Familienhilfe oder auch die Tagesgruppe (vgl. §§ 28- 32), greifen am wenigsten stark in die familiären Strukturen ein.23 Die Minderjährigen verbleiben in der Familie. Ambulant eingesetzte Sozialarbeiter/innen unterstützen dann z. B. bei der Bewältigung von Erziehungskonflikten sowie bei der Alltagsbewältigung, halten aber auch das Jugendamt über mögliche Eskalationen auf dem Laufenden. Ziel dieser Form der Hilfen zur Erziehung ist die Bewältigung der identifizierten Problemstellung im familialen Raum bei einem Verbleib der Kinder im elterlichen Haushalt. Inobhutnahmen sind vom Gesetzgeber als kurzfristige Schutzmaßnahmen vorgesehen (vgl. SGB VIII § 42). Sie sollen erfolgen, wenn dem Jugendamt Hinweise auf eine mögliche Kindeswohlgefährdung zugehen und die Gefährdungsmomente nicht anders als durch die vorläufige Herausnahme des Kindes abgewendet werden können. Minderjährige können zudem die Inobhutnahme durch das Jugendamt verlangen, wenn sie die häusliche Situation als nicht mehr hinnehmbar erleben. Es liegt dann an den Sozialarbeiter/innen zu entscheiden, ob eine solche Maßnahme angemessen ist. In der Zeit der Inobhutnahme soll die Situation geklärt werden, so dass dann eine Entscheidung darüber möglich wird, ob ein Kind zukünftig außerhalb der Familie untergebracht werden sollte, oder ob es, z. B. unter begleitendem Einsatz eines Familienhelfers, wieder zu Hause leben kann. Der tiefste Eingriff in den familiären Raum wird durch die auf längere Dauer angelegte Fremdunterbringung vorgenommen, diese wird entweder als »Vollzeitpflege« oder als Heimunterbringung durchgeführt (vgl. §§ 33 und 34 SGB VIII). Im Zuge dieser werden Kinder und Jugendliche außerhalb des Elternhauses untergebracht. Das Sorgerecht kann nichtsdestotrotz
23 Wobei auch hier eine unterschiedliche Eingriffstiefe zu konstatieren ist: Die Tagesgruppe greift mit ihrem zeitlich umfassenden Angebot tiefer in den Familienalltag ein.
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bei den Eltern verbleiben, ihnen aber auch ganz oder teilweise entzogen werden. Die unterschiedlichen Typen und Eingriffstiefen in die jeweiligen Familien bildet die folgende Graphik ab. Abbildung 4: Institutionelle Problembearbeitungsstrategien in der Bearbeitung von Fällen von (vermuteter) Kindeswohlgefährdung
(Quelle: Eigene Darstellung)
Dies sind im Groben die Maßnahmen, die im Kontext des Jugendamtes als Hilfen zur Erziehung Verfügung stehen und die von den Sozialarbeiter/innen der Ämter verfügt werden können, um die Fälle (vermuteter) Kindeswohlgefährdung zu bearbeiten. Im weiteren Verlauf der Untersuchung werden wir noch genauer betrachten, wie diese Maßnahmen von den Sozialarbeiter/innen zum Einsatz gebracht und entsprechende Entscheidungen begründet werden.
5.2 Z USTÄNDIG WERDEN Bevor die Sozialarbeiter/innen der Jugendämter beginnen, Fälle zu bearbeiten, prüfen die Sozialarbeiter/innen gewöhnlich zunächst, ob das Jugendamt überhaupt zuständig wird und wer diesen Fall dann zu bearbeiten hätte. Die Mitarbeiter/innen untersuchen Vorkommnisse daraufhin, ob sie ein Eingreifen des Jugendamtes indizieren. Zudem prüfen sie, wer für eine Zuständigkeit in Frage kommen könnte.
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Ausschnitt 6 Aus dem Stapel Post auf ihrem Schreibtisch zieht Frau Franke ein Papier: »Eine Räumungsklage, wieso krieg ich das?« »Die kenn ich gar nicht, da muss ich erst mal rumlaufen, ich kenn die nicht, weil ich habe die nicht, und die Zuständigkeit nach Straßen habe ich auch nicht.« [...]. Daraufhin geht Frau Franke zu ihrer Gruppenleiterin, berichtet ihr von der Meldung und meint, sie wisse nun nicht mehr, was sie machen solle. Die Gruppenleiterin sieht in einem Aktenordner nach, dort hat sie noch »das alte Straßenverzeichnis«. Dort würde sie manchmal noch »reinsehen«. Sie sagt dann, der Fall würde im Gebiet von Frau Meyer (Name einer Mitarbeiterin) liegen. Der Beobachter und Frau Franke verlassen das Büro und klopfen gegenüber an der Tür der Kollegin, Frau Franke öffnet die Tür, hier findet aber gerade eine Besprechung statt. Später übergibt Frau Franke dann der Kollegin das Fax. (B/2: Abs. 429-432)
Der obige Ausschnitt aus einem Beobachtungsprotokoll zeigt, wie eine Sozialarbeiterin Frau Franke mit einem Vorkommnis aus der Umwelt des Amtes, hier einer Räumungsklage, konfrontiert wird. Die Kategorie »Räumungsklage« hat dabei Implikationen, die den Fall zu einem Fall für das Jugendamt machen (die von den Sozialarbeiter/innen nicht unbedingt ausgesprochen, jedoch mitgedacht werden): Zu einem Fall für das Jugendamt könnte der Fall werden, da es wegen die Räumungsklage zur Obdachlosigkeit der Familie kommen könnte. Ohne regelmäßigen Wohnsitz drohen mangelhafte Versorgung für die Kinder und daraus resultierend eine mögliche Kindeswohlgefährdung.24 Dass die Erziehungsberechtigen eine Obdachlosigkeit nicht verhindern, wirft zudem die Frage auf, inwiefern diese zur Alltagsbewältigung in der Lage sind – das Jugendamt bzw. die zuständige Sozialarbeiterin sind also zum Eingreifen aufgefordert. Die Sozialarbeiterin fragt sich, ob ihr die Familie bereits bekannt ist (und daher möglicherweise bereits eine Zuständigkeit ihrerseits besteht). Dies ist aber nicht so (»die hab ich nicht«). Frau Franke prüft deshalb, ob sie dennoch zuständig wird. Es könnte eventuell eine »Zuständigkeit nach
24 Aus dem fortlaufenden Strom der Umweltaktivitäten werden, wie hier zu sehen ist, Probleme identifiziert, an die mit Handlungen angeschlossen werden kann (Weick et al. 2005: 415).
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Straßen« bestehen.25 Aber auch dies trifft nicht zu. Sie kann ihre Zuständigkeit ausschließen: Das Fax müsste eigentlich von einer Kollegin bearbeitet werden. Da das Schreiben nun aber in ihrer Post liegt, kann Frau Franke es nicht ignorieren oder gar einfach in den Papierkorb werfen. Sie wird einstweilen zuständig, zumindest bis die weitere Zuständigkeit geklärt ist. Mit Hilfe des Straßenverzeichnisses identifizieren die Sozialarbeiter/innen schließlich die zuständige Person. Frau Franke macht die zuständige Kollegin ausfindig und übergibt die Zuständigkeit, untermalt durch den symbolischen Akt des Aushändigens des Faxes. Nach Klärung der Zuständigkeitsverhältnisse kann sich die Sozialarbeiterin den übrigen Fällen zuwenden, die sie zu bearbeiteten hat (vgl. hierzu auch Abschnitt 0). Um die Räumungsklage und die weitere Bearbeitung des Falls muss sich nun Frau Frankes Kollegin bemühen. Die Sachbearbeiterin wird – und hierin besteht neben der Verteilung der Arbeit offenbar die Funktion des Zuständigkeitsprinzips – für die Bearbeitung des Falls verantwortlich gemacht.26 5.2.1 Neufall oder laufender Fall? Für die Sozialarbeiter/innen bestehen grundsätzlich zwei Möglichkeiten, zuständig zu werden: Entweder sie eröffnen einen »Neufall«. Dies tun sie, wenn bei ihnen Hinweise auf eine Problemkonstellation eingehen, die die Bearbeitung durch das Amt indiziert. Oder sie übernehmen einen »laufen-
25 Bedingung für die Erklärung der Zuständigkeit durch das Jugendamt ist immer, dass die sorgeberechtigen Personen im Einzugsbereich des entsprechenden Amtes ihren regelmäßigen Wohnsitz haben. Dies ist in § 86 des maßgeblichen Sozialgesetzbuches (SGB VIII) geregelt: »Für die Gewährung von Leistungen nach diesem Buch ist der örtliche Träger zuständig, in dessen Bereich die Eltern ihren gewöhnlichen Aufenthalt haben«. In vielen Ämtern wird der Zuständigkeitsbereich nach Straßenzügen aufgeteilt und einzelnen Sachbearbeiter/innen zugeordnet. 26 Die Regelung der Zuständigkeit wirkt entlastend. Die Sozialarbeiter/innen müssen sich eben nicht um alle Fälle kümmern. Das bürokratische Prinzip der Organisation von Zuständigkeit (Mayntz 1997) erlaubt zudem (idealerweise) eine eindeutige Zuordnung von Fall und zuständiger Sachbearbeiterin: Ist bereits eine Person zuständig, dann ist es unmöglich, dass sich eine weitere Person für zuständig erklärt. Die weitere Bearbeitung kann an die bereits zuständige Person überführt werden, so wie dies Frau Franke tut.
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den Fall« aus der Bearbeitung einer Kollegin. Ob es sich um einen »Neufall« oder einen »laufenden Fall«, hat Folgen für die weitere Bearbeitung. Am folgenden Ausschnitt aus einem »Kinderschutzbogen«, welchen die Sozialarbeiter/innen zur Bearbeitung von eingehenden Telefonanrufen verwenden, lassen sich einige dieser Implikationen verdeutlichen. Der untersuchte Ausschnitt steht gleich zu Beginn des Formulars. Ausschnitt 7
(Dokument Nr. 22)
Der Ausschnitt aus dem Dokument gibt einen Eindruck von den institutionellen Erwartungen, mit denen sich die Sozialarbeiter/innen konfrontiert sehen, wenn sie eine Meldung aufnehmen. Der Ausschnitt steht zu Beginn eines größeren Bogens zur Dokumentation der Anrufe. Zunächst werden die Beschäftigten des ASDs durch das Instrument aufgefordert, ihren Namen einzutragen – womit gleich zu Beginn noch einmal darauf aufmerksam gemacht wird, dass die bearbeitende Person auch im Nachhinein adressierbar bleibt (und daher verantwortlich vorgegangen werden sollte). Wird »laufender Fall« angekreuzt, besteht bereits eine Zuständigkeit, dann folgt die Anweisung »PERSONENNR. eintragen«. Es gilt dann, die entsprechende Person zu finden (so ähnlich wie Frau Franke dies gelang). Kreuzt die bearbeitende Person jedoch NEUFALL an, so folgt daraufhin die Aufforderung, eine Reihe weiterer Interventionen durchzuführen: der »Melder« soll eingehender befragt werden, hierzu ist der Bogen mit den »Melder-Checkfragen« zu nutzen. Zudem soll eine Einschätzung seitens der Sozialarbeiter/innen erfolgen, ob ein »sofortiger Hausbesuch« notwendig ist. Bekommt eine Sozialarbeiterin einen neuen Fall in ihre Zuständigkeit, dann ist der Handlungsdruck häufig groß, wovon auch das Dokument zeugt: Allein die Schreibweise »NEUFALL« scheint Dringlichkeit auszudrücken. Aber auch die Option »sofortiger Hausbesuch« weist daraufhin, dass ein schnelles Eingreifen zumindest bedacht werden sollte. Die Sozialarbeiterin/innen sehen sich zudem typischerweise mit der Erwartung konfrontiert, die Fallkonstellation weiter zu explorieren. Im obigen Ausschnitt
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ist die gemachte Meldung selbst zu bewerten (über die Person des Melders und den entsprechenden Fragebogen), weitere Informationen sollen z. B. über einen Hausbesuch eingeworben werden (vgl. Kap. 6.1.4 zum Hausbesuch als Informationsgelegenheit). Bei der Übernahme laufender Fälle ist der Handlungsdruck im Gegensatz dazu etwas niedriger. Die Sozialarbeiter/innen wissen schon ungefähr, worum es im Fall geht. Überdies wurden möglicherweise bereits Hilfen zur Erziehung in der Familie »installiert«, was bedeutet, dass andere Professionelle in der Familie aktiv sind und die Lage gewissermaßen absichern (dies auch in informativer Hinsicht, vgl. Kap. 6.1.5). In der Bearbeitung des »laufenden Falls« sind die Sozialarbeiter/innen typischerweise (im Unterschied zum Neufall, wo zunächst Komplexität aufzubauen ist) mit in der bisherigen Fallarbeit hervorgebrachten Komplexität konfrontiert. Die Sozialarbeiter/innen haben es bei der Übernahme von laufenden Fällen nicht selten mit Fällen zu tun, die bereits »jahrelang« durch andere Kolleg/innen bearbeitet wurden. Zur Übernahme eines laufenden Falls kann es z. B. kommen, wenn eine Familie durch einen Umzug den Zuständigkeitsbereich der Sozialarbeiterin verlässt. Hierzu der Bericht einer Sozialarbeiterin, in dem sie schildert, wie sie die Zuständigkeit für einen laufenden Fall übernahm. Ausschnitt 8 OK (lacht) gut, naja, den Fall selber, ähm, hab den erst Anfang des Jahres übernommen. Ahm, ich guck noch mal rein, wann das war. (Rascheln, umblättern). Teilweise, ein bisschen (unverständlich), das ist ja hier wirklich langer Vorlauf, wirklich jahrelang, genau, am 23., oder Moment, das ist ja schon von mir (blättern in der Akte). (Lacht) Am 23. 2. scheinbar (lacht), habe ich das übernommen, hatten wir so eine kleine Übergabe, mit einem, Genogramm, so und grundsätzlich, was so die Problematik ist. (I/15: Abs. 7)
Die Äußerung der Sozialarbeiterin spiegelt zunächst einmal die strukturelle Schwierigkeit, die Komplexität des Falls in der Bearbeitung durch das Amt zu erfassen – und dies in die Form eines Berichts zu bringen. Die Unsicherheit im Umgang mit der Fallkomplexität spiegelt sich hier in den sprachlichen Äußerungen: Es fällt der Sozialarbeiterin schwer, über den »Fall« Auskunft zu geben bzw. nutzt sie Relativierungen (»teilweise, ein bisschen«), die ihre eigenen Auskünfte abschwächen. Der »hier wirklich lange
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Vorlauf«, die Geschichte der »wirklich jahrelang[en]« Bearbeitung, ist von der Sozialarbeiterin offenbar nur schwer wiederzugeben. Die Doppelung der Verstärkung »wirklich« betont dies: eine solch umfangreiche Geschichte ist daher auch in der »kleine[n]« Übergabe, in der sie die Fallgeschichte von ihrer Kollegin erzählt bekam, kaum zu erfassen. In der Übergabe erfolgte deswegen eine Reduktion des Berichtes auf wenige Eckpunkte. Es wird nur berichtet, was »grundsätzlich«, »die Problematik ist«.27 Während es in der Übernahme eines Neufalls also eher darum geht, überhaupt zu erfassen, was der Fall ist, geht es bei der Übernahme eines laufenden Falls, eventuell sogar mit langjährigem Vorlauf, eher darum, die Fallgeschichte kennenzulernen und darauf aufbauend eine eigene Einschätzung zu entwickeln.28
27 Deutlich wird dabei zudem der Anspruch, die Berichte in der weiteren Bearbeitung zu berücksichtigen, also die Fallgeschichte zumindest »grundsätzlich« zu erfassen, um den Bericht später berücksichtigen und weitere Entscheidungen darauf aufbauen zu können. Man kann insofern erkennen, wie im Kontext der Organisation des Jugendamtes Entscheidungen auf Entscheidungen fußen (klassisch dazu: Luhmann 2000a), bzw. Arbeitsabläufe schrittweise aufeinander aufbauen und in sequentielle Ordnung gebracht werden (zu einer ähnlichen Beobachtung kommt Scheffer in der Analyse richterlicher (ebd.: 2010) und politischer Entscheidungsprozesse (ebd. 2014b). Die Schilderung der Sozialarbeiterin lässt zudem ein gewisses Bedauern erkennen, der Geschichte nicht umfänglicher gerecht zu werden. 28 Der Handlungsdruck ist bei der Übernahme laufender Fälle häufig niedriger, da man schon ungefähr »weiß«, was der Fall ist, möglicherweise auch bereits Hilfen zur Erziehung bewilligt wurden, also andere Professionelle in der Familie tätig sein können. Die Form des Zuständig-Werdens ist insofern auch von Bedeutung für die weitere Bearbeitung des Falls. Derartige Implikationen ergeben sich auch daraus, wer dem Jugendamt Informationen über einen Fall zuträgt, ob es sich um Selbst- oder Fremdmeldungen handelt. Dies schließt andererseits nicht eskalierende Entwicklungen aus, die auch in einem langjährigen Fall sofortiges Handeln notwendig erscheinen lassen.
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5.2.2 Fremd- oder Selbstmelder Das Jugendamt ist gesetzlich sowohl mit einem Beratungsauftrag als auch mit dem sog. Wächteramt ausgestattet. Vor dem Hintergrund des doppelten Auftrags werden im Jugendamt von den Sozialarbeiter/innen zwei Personengruppen unterschieden: Einerseits Selbstmelder (Eltern, Kinder oder Jugendliche), die sich an die Sozialarbeiter/innen wenden und um Unterstützung bitten.29 Auf der anderen Seite sprechen die Sozialarbeiter/innen von »Fremdmeldern«, wenn Personen aus dem sozialen Umfeld von Kindern und Jugendlichen (z. B. Freunde, Nachbarinnen oder Verwandte) oder aber Angehörige anderer Institutionen (z. B. Erzieher/innen, Lehrer/innen, Ärzt/innen, Mitarbeiter/innen von Familien- und Jugendgerichten, Sozialarbeiter/innen anderer Einrichtungen) auf mögliche Kindeswohlgefährdungen aufmerksam machen. Das Amt ist daher Anlaufpunkt für zahlreiche »Meldungen« und »Mitteilungen«.30
29 Auch wenn diese Möglichkeit prinzipiell besteht, konnte ich eine solche Konstellation nie beobachten. Wenn die Kontaktaufnahme das Interesse eines Kindes oder einer Jugendlichen zum Gegenstand hatte, so wurde dies zumindest durch eine professionell tätige Person vermittelt (z. B. Einzelfall- oder Familienhelfer/innen). 30 Sowohl mit der Rede von der »Meldung« als auch mit der von der »Mitteilung«, wird dabei die Übermittlung einer Nachricht bzw. eines Signals, ein ReizReaktionsschema impliziert. In der Tat verlangt die Meldung eine im Kontext des Amtes angemessene Reaktion, eine entsprechend darstellbare Bearbeitung. Allerdings wird im Laufe der Untersuchung immer wieder deutlich, dass es nicht nur um die Übermittlung von Hinweisen, sondern vor allem auch um deren Prüfung und Verdichtung auf Seiten des Amtes geht.
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Ausschnitt 9
(Dokument Nr. 22)
Bei Ausschnitt 9 handelt es sich um den Auszug aus einem Fax, das von einer Polizeieinheit an das Jugendamt gesendet wurde. Zunächst einmal erfährt die Sozialarbeiterin in der Situation nur, dass es zu einem Polizeieinsatz aufgrund häuslicher Gewalt kam. Wäre keine minderjährige Person im Haushalt gewesen, so hätte man es mit einem »einfachen« Fall von häuslicher Gewalt zu tun, über den die Polizei das Jugendamt nicht hätte informieren müssen. Die Anwesenheit eines Kindes jedoch macht den Fall erst zum Fall für das Jugendamt.31 Die Nennung des (zudem kleinen) Kindes verweist auf den Verdacht einer möglichen Kindeswohlgefährdung. Die häusliche Gewalt kann dabei als Hinweis auf Partnerschaftskonflikte und zudem auf eine möglicherweise eingeschränkte Impulskontrolle gelesen werden (immerhin führte der Streit zum Polizeieinsatz). Die mögliche Kindeswohlgefährdung macht den Fall zum Fall für das Jugendamt.
31 Die Fallaufnahme stabilisiert die Beobachtungen der Umwelt: In einem Prozess des »labeling and categorizing« (Weick et al. 2005: 411) werden bereits erste Ansätze für die weitere Bearbeitung entwickelt, z. B. zwischen Selbst- und Fremdmelder unterschieden, und die Dringlichkeiten für weiteres Handeln eingeschätzt. Der Fall erhält seine erste Charakteristik mitsamt daraus folgenden Implikationen für den späteren Prozess: »Problems must be bracketed from an amorphous stream of experience and be labeled as relevant before ongoing action can be focused on them« (ebd.: 415).
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Das Dokument zeigt zudem an, dass die Vorkommnisse auf Seiten der Polizei bereits zu einem amtlichen Vorgang – und entsprechend dokumentiert – wurden. Eine »Vorgangsnummer« liegt seitens der Polizei vor. Auch die Übermittlung ist, so können wir annehmen, aktenkundig geworden. Die Sozialarbeiter/in weiß nun offiziell Bescheid. Die Möglichkeit einer Kindeswohlgefährdung muss die Sozialarbeiterin im Blick haben, könnte es doch auch in Zukunft zu einer Wiederholdung der partnerschaftlichen Konflikten (eventuell gar unter Einsatz von Gewalt) kommen, die das Kindeswohl bedrohen. Die Übermittlung des Berichtes nimmt die zuständige Bearbeiterin daher in die Pflicht, eine zügige und entsprechend darstellbare Fallbearbeitung zu organisieren.32 Die Eltern erscheinen vor diesem Hintergrund nicht so sehr als (eventuell sogar bereitwillige) Kooperationspartner, sondern eher als Personen deren Verhalten es im Auge zu behalten gilt und die möglicherweise selbst zu Gefährdern des Kindeswohls werden. Mit dem obigen Ausschnitt wurde eine Meldung untersucht, die von Dritten (hier der Polizeibehörde) an das Jugendamt übermittelt wurde. Der folgende Ausschnitt zeigt den gegensätzlichen Fall, in dem die Eltern selbst aktiv wurden, indem sie den Wunsch nach Unterstützung äußerten und dieser an das Jugendamt übermittelt wurde. Ausschnitt 10 Familie mit drei Kindern, hier in Unterhausen, haben sich selber gemeldet! Ne, das war anders, der Partner der Frau/ die Kinder waren nicht von ihm, der Partner der Frau der hatte einen Einzelfallhelfer übers Sozialamt und dieser Einzelfallhel-
32 Das Jugendamt wird im Nachhinein jedenfalls nicht glaubwürdig machen können, von einer möglichen Gefährdung des kleinen Kindes nichts gewusst zu haben. Mit dem Fax wird also Interventionsbedarf für das Amt markiert. Es hat möglicherweise den Anschein, dass es sich um eine Informations-ReaktionsStruktur handelt, in der Dritte (Lehrer/innen, Ärzte/innen, Psycholog/innen, Erzieher/innen oder auch Eltern, Kinder, Familienangehörige und Nachbarn) als Informationsgeber dem Jugendamt berichten. Das Jugendamt erscheint als reaktive Einheit, die den entsprechenden Meldungen nachzugehen und zu prüfen hat, ob in der Tat eine Kindeswohlgefährdung festgestellt werden kann. Allerdings, so bringt Kapitel 6.1 hervor, werden die Sozialarbeiter/innen selbst über Formen der Informationsarbeit zu aktiven Gestalter/innen der Organisationsumwelt und der zu bearbeitenden Fälle.
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fer hatte sich hier gemeldet im Namen der Familie, so: Hilfe wir brauchen Hilfe. So, uns geht es nicht gut. Das war also ein formloses Hilfeersuchen. Und dann war dann die Fallverteilung an einem Dienstag und am Mittwoch bin ich hin/ hingelaufen. Und da hat ein Blick gereicht, dass ich dachte: ach du meine Scheiße. (I/6: Abs. 32)
Wenn Eltern sich in der Suche nach Unterstützung hilfesuchend an das Jugendamt wenden, wird dies in der Regel positiv bewertet. In Ausschnitt 10 ist es der Hilferuf der Eltern, ihre Initiative (»Hilfe, wir brauchen Hilfe«), die von der Sozialarbeiterin besonders positiv bewertet wird. Die Tatsache, dass ihr »formloses Hilfeersuchen« vom Einzelfallhelfer übermittelt wurde, scheint hier nebensächlich. Es entsteht das Bild, man habe es mit »willigen« Klienten zu tun (I/3: Abs. 158), die die Zusammenarbeit suchen. Eine erhöhte Bereitschaft zu Akzeptanz möglicher Interventionen, etwa in Form (weiterer) Hilfen zur Erziehung, wird daher von den Sozialarbeiter/innen häufig vorausgesetzt. Dies kann z. B. im Fall eines Selbstmelders einen kooperativen Hilfeeinstieg und eine eher geringe Interventionstiefe indizieren (vgl. S. 245).33 Wie es zur Aufnahme der Zuständigkeit kommt, ist daher
33 Unabhängig ob Fremd- oder Selbstmelder handelt, machen die Sozialarbeiter/innen deutlich, dass sie eine zeitnahe Bearbeitung anstreben. Dies ergibt sich insbesondere aus möglichen Kindeswohlgefährdungen. Aber auch in Fällen, in denen eine Unsicherheit bezüglich der Fallkonstellation besteht, bemühen sich die Sozialarbeiter/innen, rasch zu handeln: Das untersuchte Dokument in Ausschnitt 7 schlägt »sofortige[n]« Hausbesuch vor, sollte der Fall noch als Neufall vorliegen. Die Sozialarbeiterin in Ausschnitt 10 beschreibt, wie sie den Fall »Dienstag« übernahm und gleich am »Mittwoch« der Familie einen Besuch abstattete. Sie markiert mit anderen Worten, nicht unnötig mit der Fallbearbeitung gezögert zu haben. Dies spiegelt den Anspruch, der uns im Weiteren noch häufiger begegnen wird, dass wenn eine Zuständigkeit festgestellt wird, durch die Sachbearbeiter/innen, eine möglichst unverzügliche Fallbearbeitung – unter Berücksichtigung der vorhandenen situativen Möglichkeiten – zu gewährleisten ist. Wie viel Zeit zwischen Meldung und ersten Interventionen als angemessen erscheint, hängt jedoch auch von dem zu bearbeitenden Problem ab. Wird eine Kindeswohlgefährdung, insbesondere bei kleinen Kindern vermutet, dann erscheint ein besonders schnelles Eingreifen notwendig. Anders kann sich dies in einem Fall verhalten, der bereits länger bearbeitet ist, die Kinder bereits älter
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durchaus von Bedeutung für die weitere Bearbeitung des Falls und zukünftige Entscheidungen. Beobachtungen werden stabilisiert, Selbst- und Fremdmelder unterschieden, Dringlichkeiten für weiteres Handeln eingeschätzt. Die Sozialarbeiter entwickeln Ansätze für die weitere Fallarbeit und der Fall erhält seine erste Charakteristik mitsamt daraus folgenden Implikationen für den späteren Prozess. 5.3.3 Das Teamprinzip in der Organisation der Zuständigkeit Die Zuständigkeit eines Jugendamtes richtete sich danach, ob die Eltern von Kindern und Jugendlichen im Zuständigkeitsbereich des Amtes »ihren gewöhnlichen Aufenthalt haben« (SGB VIII 86, Abs. 1). In den letzten Jahren wurde zunehmend das »Teamprinzip« zur Verteilung der Fallzuständigkeiten eingeführt.34 Mit diesem neuen Verfahren wird die Zuständigkeit bei jedem neu aufgenommenen Fall auf Grundlage einer Teamentscheidung zugeteilt. Vorgesehen ist, dass die »Fallverteilung« Arbeitsbelastung, fachliche Passungen und persönliche Vorlieben berücksichtigen sowie auf diese Weise zu einer größeren Arbeitszufriedenheit führt.35 Im Folgenden wird
sind. Zudem ist die Einschätzung eines angemessenen Zeitraums aber auch von den amtlichen Arbeitsbedingungen abhängig (z. B. andere zurzeit bearbeitete Fälle, verfügbare Zeit-Ressourcen für die Bearbeitung usw.). 34 Die Verteilung der Zuständigkeit entsprechend des Wohnorts der Erziehungsberechtigen wird häufig innerhalb des Jugendamtes mit dem sog. Straßenprinzip weitergeführt. Die Sozialarbeiter/innen sind dann für bestimmte Straßenzüge oder Teilgebiete des Einzugsgebietes des Jugendamtes zuständig. Eine im Auftrag des Landes NRW durchgeführte Studie kam demgegenüber zu dem Ergebnis, dass mittlerweile »etwa ein Fünftel der Jugendämter im Team über die Fallverteilung« (Ministerium für Generationen 2010) entscheidet. 35 Für die Bearbeitung des »Falleingangs« werden gewöhnlich Spezialdienste geschaffen. Dies hat die Form eines »Frontline-Offices«: Hier werden Meldungen zunächst aufgenommen und dokumentiert. Ist eine sofortige Bearbeitung notwendig, wird diese direkt von dem Spezialdienst übernommen. Kann die Bearbeitung noch etwas warten (z. B. bis zur nächsten Teamsitzung, d. h. in der Regel bis zu einer Woche), werden Hinweise und Kontaktaufnahmen entsprechend dokumentiert und zentral gelagert (z. B. in einer »Kiste«). In der folgenden Sit-
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etwas genauer untersucht, wie das Verfahren umgesetzt wird und welche Probleme sich dabei auch in der Zuteilung der Fallzuständigkeit ergeben. Hierzu zunächst die Äußerungen einer Sozialarbeiterin, die sich auf das »Straßenprinzip« beziehen und zugleich eine Abgrenzung gegenüber dem neuen »Teamprinzip« ausdrücken. Ausschnitt 11 Wir hatten ein System, wo jeder für bestimmte Straßen zuständig war. Ich fand das immer ganz wichtig, dass die Bürgerinnen und Bürger wussten, wer für sie zuständig ist. (B/1: Abs. 140)
Die Informantin legt dar, das frühere (gerade abgeschaffte) Straßenprinzip sei für Eltern, Minderjährige oder andere Professionelle einfacher nachvollziehbar gewesen ist – dies vor allem im Vergleich mit der Zuteilung der Zuständigkeit per Team-Entscheidung. Für Außenstehende sei besser kalkulierbar gewesen, wer zuständig ist (bzw. es sein würde, wenn man vorhat, sich an das Jugendamt zu wenden). Das Straßenprinzip habe daher Transparenz gegenüber potenziellen Klient/innen, »Bürgerinnen und Bürgern«, bedeutet.36 Was die Sozialarbeiterin hier nicht erwähnt, aber wiederholt beobachtet wurde: Das Teamprinzip stellt auch für die Sozialarbeiter/innen eine gehörige Zumutung dar, weil es die Verteilung von Arbeit (und Arbeitsbelastung) in die Teams verlegt. Dies bietet Konfliktpotential, vor allem wenn alle Sozialarbeiter/innen sich bereits mehr als ausgelastet fühlen, es keine objektiven Kriterien für die Arbeitsbelastung gibt und die Beteiligten dennoch gezwungen sind, eine Person aus ihrem Kreis zu bestimmen, die nun noch einen oder zwei Fälle mehr zu bearbeiten hat. Die Organisation belastet mit diesem Verfahren die Sozialarbeiter/innen mit neuer Komplexität, anstatt ihnen das Leben durch Komplexitätsreduktion zu erleichtern (Seibel 2016: 147).
zung des ASDs bzw. des regionalen Dienstes werden die neu aufgenommenen Fälle dann im Team verteilt. 36 Diese Argumentation entspricht in etwa einem »sozialräumlichen Prinzip«, wie es in der sozialpädagogischen Fachdebatte beschrieben wurde, und in dem durch die Ansprechbarkeit zentraler Personen die Nähe zu den Adressat/innen hergestellt werden soll (Rätz-Heinisch et al. 2010).
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Angesichts des ungeliebten Teamprinzips entwickeln die Sozialarbeiter/innen eigensinnige Strategien im Umgang mit dem formalen Verfahren. Wie sie auftretende Probleme bearbeiten, die sich in der Verteilung der Zuständigkeiten ergeben, hiervon gibt der folgende Ausschnitt aus einem Beobachtungsprotokoll einen Eindruck. Er behandelt eine Teambesprechung, auf dem die Beteiligten die Verteilung der »Neufälle« nach dem Verfahren des Teamprinzips organisieren. Ausschnitt 12 Frau Kaiser beginnt mit der Vorstellung des zweiten Falls, hier nennt sie zunächst die Straße und dann den Namen des Kindes: »das Kind heißt…«. »Die Mutter ist Vietnamesin, das JA will ein Gutachten«. Eine der Sozialarbeiter/innen, Frau Barke, erkennt den Fall wieder: »Ach, das ist das mit der Wohnung! Dann nehmʼ ich das, [...] da ich das schon aufgenommen habe, dann habe ich mich ja schon selber gut vorbereitet.« Die Gruppenleiterin: »Ok, das warʼs schon.« Zwei Sozialarbeiterinnen aus dem Team: »Das ist aber schön.« Frau Güter: »Fein«. (B/2: Abs. 687-689)
Eine der Sozialarbeiter/innen, Frau Kaiser, liefert eine knappe Falldarstellung, die die Entscheidung vorbereitet, wer die Zuständigkeit künftig zu übernehmen hat. Indem sie benennt, um wen es geht (den Namen des Kindes) und was in der Bearbeitung zu beachten ist, die Nationalität der Mutter und das »Gutachten«, gibt sie einen Eindruck davon, was die künftig zuständige Sachbearbeiterin zu beachten hätte. Mit der Nennung des »Gutachtens« macht Frau Kaiser in deutlich, womit in der Fallarbeit zu rechnen ist (welche Bearbeitungsformen in etwa notwendig werden könnten, um ein »Gutachten« zu erreichen). Die knappe, kategoriengebundene Skizze reicht aus, um eine Entscheidung über die Zuständigkeit herzustellen: Eine der Sozialarbeiter/innen, Frau Barke, erklärt sich bereit, den Fall zu übernehmen.37
37 Frau Kaiser nutzt hierzu feldtypische Kategorien, die offenbar keiner weiteren Erläuterung bedürfen und die es den Anwesenden erlauben, sich rasch ein erstes Bild vom Fall zu machen. Die Typisierung der Mutter als »Vietnamesin« kreiert eine Identität, die es den Anwesenden erlaubt, sich eine Vorstellung von der Mutter zu machen und mögliche Implikationen für die Fallbearbeitung mitzudenken. Die Typisierungen von nicht-deutschen Personen mit Blick auf ihre Im-
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Mit der Übernahme des Falls erlöst Frau Barke ihr Team aus der Situation, entscheiden zu müssen, wer die Zuständigkeit nun übernehmen muss. Nachdem sie ihre Bereitschaft bekundet hat, stellt sich daher Erleichterung ein und die Kolleg/innen signalisieren Dankbarkeit (»Ok, das warʼs schon«, »Das ist aber schön«, »Fein«). Frau Barke löst darüber hinaus mit ihrem Handeln ein zweites Problem, das sich aus Sicht der Sozialarbeiter/innen mit der Einführung des Teamprinzips stellt: Der Fall wird von einer Sozialarbeiterin aufgenommen und dann aber von einer anderen fortgeführt. Es kommt also zu einem Wechsel in der Bearbeitung, Eltern und Kinder kommen mit unterschiedlichen Stellen und Personen in Kontakt. Es kommt zu einem »Durchreichen« des Falls. Bevor die Zuständigkeit (und das eigentliche Problem) geklärt ist, bekommen die Adressat/innen »immer wieder [...] jemand anderes vor die Nase gesetzt« (I/15: Abs. 7, I/16: Abs. 50). Frau Barke hierzu dafür, dass, zumindest in diesem Fall, die Kontinuität der Bearbeitung gewahrt bleibt. Dass sie den Fall übernimmt, begründet sie damit, dass ihr der Fall bereits bekannt ist (»das mit der Wohnung«). Sie sagt, sie wolle fortführen, was sie »selber gut vorbereitet hat«.38 Ist es im obigen Ausschnitt die Sozialarbeiterin, die den Fall nimmt, da sie bereits Kontakt zur Familie hatte, so zeigt der folgende Ausschnitt eine weitere Vorgehensweise, über die die Sozialarbeiter/innen die Zuständigkeit organisieren. Die Situation ereignete sich auf derselben Teamsitzung, zeitlich vor Ausschnitt 12, der weiter oben zitiert wurde. Ausschnitt 13 Nach und nach sammeln sich alle Sozialarbeiter/innen des Teams um den Tisch im Besprechungsraum, es sind Frau Güter, Frau Neid, Frau Thierse und Frau Franke. Der Beobachter sitzt etwas abgewandt am Kopfende des Tisches. Frau
plikationen zu untersuchen, erscheint durchaus interessant, kann an dieser Stelle aber angesichts des Rahmens der Arbeit nicht geleistet werden. 38 Die Professionellen bemühen sich, an die bisherige Fallgeschichte anzuknüpfen (vgl. vertiefend 0). Zudem möchten sie häufig gerne Fallarbeit »aus einer Hand« anbieten und dergestalt kontinuierliche Fallarbeit bieten (vgl. I/1: Abs. 111, 113; I/15: Abs. 7). Zugleich eröffnet sich Frau Barke die Möglichkeit, an die Informationen anzuknüpfen, die sie bereits gesammelt hat, sowie auf Informationen zurückzugreifen, die sie vielleicht nicht dokumentiert, aber noch in Erinnerung hat (vgl. Kap. 6).
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Gruppenleiterin, Frau Kaiser, eröffnet die Sitzung: »Zwei Fälle haben wir heute: Leonie, sieben Jahre, Hamburger« (das ist eine Straße), es gehe um Umgangsberatung. Frau Neid bietet an, den Fall zu nehmen: »Wenn Du willst, kannst Du mir geben, weil es ist Hamburger.« Frau Kaiser gibt Frau Neid darauf die Akte über den Tisch, Frau Neid legt sie vor sich auf dem Tisch ab. Ihren Arm legt sie über die Akte. (B/2: Abs. 685-686)
Frau Kaiser bietet in ihrer Falldarstellung den Anwesenden drei Orientierungsmarken: Name und Alter des Kindes, den organisatorisch-professionellen Auftrag (»Umgangsberatung«) sowie den Wohnort der Sorgeberechtigten. Indem die Gruppenleiterin die Straße nennt, referiert sie auf das im Straßenprinzip fixierte Entscheidungskriterium (das mit dem Teamprinzip eigentlich seine Relevanz für die Bestimmung der Zuständigkeit verlieren sollte). Frau Neid greift dies auf und übernimmt den Fall (»weil es ist Hamburgerʼ«). Frau Neid ist formell nicht mehr für die Hamburger zuständig. Sie macht sich verantwortlich für diesen Einzugsbereich, den sie möglicherweise auch schon zuvor, damals noch im Straßenprinzip, betreute. Frau Güter reicht die Akte herüber und Frau Neid legt den Arm auf sie, womit sie gestisch demonstriert, dass sie diesen Fall von nun an »hat«, sich für ihn zuständig fühlen wird. Die Sequenz wird mit der faktischen wie symbolischen Übergabe der Akte abgeschlossen. An der genaueren Untersuchung der Umsetzung des Verfahrens kann man erkennen, wie schon die Frage, wer überhaupt zu entscheiden hat, zum Gegenstand von Entscheidungsprozessen wird. Zudem wird deutlich, wie die Organisation dazu beiträgt, Entscheidungsprozesse zu steuern, wie sich die Mitarbeiter/innen gegenüber Verfahren verhalten, die als Prämissen für das organisationale Entscheiden dienen sollen. Das neue Verfahren des Teamprinzips wird zwar verfolgt, der Fall wird vor- und zur Wahl gestellt. Gleichzeitig folgen die Sozialarbeiter/innen innerhalb des neuen Verfahrens aber der Logik des Konditionalprogramms. Dies zeigte sich auch schon in Ausschnitt 6. Hier wurde das »alte Straßenverzeichnis« genutzt, um die Zuständigkeit festzustellen, auch wenn es auf Ebene der formalen Regelungen keine Gültigkeit mehr besaß.39 Der Umgang mit dem formalen Verfahren besteht einerseits in dessen Akzeptanz und andererseits in der (eigensinni-
39 Die Sozialarbeiter/innen tun mit anderen Worten so, »als ob« (Ortmann 2004) das Straßenprinzip im untersuchten Jugendamt noch gültig sei.
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gen) Ausformulierung der Vorgaben für die jeweilige Arbeitssituation. Die Fallzuständigkeit ist nicht nur Gegenstand formaler Verfahren, sondern vielmehr Gegenstand und Ergebnis interaktiver Aushandlung im Umgang mit organisationalen Verfahren und daher auch eine Form des Sich-Zuständig-Machens.40
5.3 S ITUATIONEN
DER
R ECHTFERTIGUNG
Sensemaking involves the ongoing retrospective development of plausible images that rationalize what people are doing. (WEICK ET AL. 2005: 409)
Einmal für einen Fall zuständig geworden, sehen sich die fallzuständigen Sozialarbeiter/innen immer wieder herausgefordert, ihre Fallbearbeitung und Entscheidungen zu rechtfertigen. Die Sozialarbeiter/innen erzählen ihren Kolleg/innen zwischen Tür und Angel von ihren Fällen, stellen ihre Fallarbeit auch auf Teamsitzungen, Hilfeplangesprächen, »Fachberatungen« mit Kolleg/innen, Vorgesetzten und Kooperationspartner/innen dar.41
40 Das organisationale Verhalten gleicht also eher einem Umgang mit den Anforderungen der Organisation als einer Umsetzung der Organisationsprogramme und -ziele: »the individual accepts these organisational influences – he accomodates his behavior to the demands the organization makes upon him« (Simon 1997: 13). Siehe in diesem Sinne auch Mayntz (1997: 119) und klassisch Blau (1969), die darauf aufmerksam machen, dass insbesondere professionelle Akteure eigenständige Arrangements mit und in den organisationalen Verfahren entwickeln. 41 Typischerweise haben die Darstellungen dabei die Form von Statusberichten, welche die Anwesenden über vergangene, zukünftige und vor allem gegenwärtige Dimension des Falls ins Bild setzen. Während meiner Feldaufenthalte machten die Sozialarbeiter/innen in Falldarstellungen immer wieder – auch Dritten wie mir – verständlich, was den Fall aus ihrer Sicht ausmacht. Sie wurden aber auch von Dritten zu den von ihnen zu verantwortenden Entscheidungen retro- und prospektiv befragt. Die Sozialarbeiter/innen erklären und diskutieren Fallgeschichten (retrospektiv), untersuchen gemeinsam die Gegenwart des Falls
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Im Folgenden werden exemplarische Situationen untersucht, in denen die zuständigen Sozialarbeiter/innen zu plausiblen Darstellungen ihrer Fallbearbeitung herausgefordert werden. Besonders interessiert dabei hier, wie es den zuständigen Sozialarbeiter/innen gelingt, ihre Fallbearbeitung darstellbar zu halten. 5.3.1 Fallteams und andere Teambesprechungen Besprechungen unter Kolleg/innen stellen im Kontext des Jugendamtes typische Situationen dar, im Zuge derer die Sozialarbeiter/innen »ihre« Fälle nachvollziehbar zu präsentieren haben. Besprechungen können und werden mitunter ad-ho, zwischen »Tür und Angel« abgehalten, wie wir zu Beginn des Kapitels gesehen hatten. In den beforschten Jugendämtern werden zudem formalere Formen der Fallbesprechung genutzt. Eine verbreitete Form hierfür sind die »Fallteams«, anhand derer eine regelmäßige »kollegiale Beratung« organisiert wird. Den fallzuständigen Sozialarbeiter/innen obliegt es, auf diesen Sitzungen, besonders anlässlich wichtiger Entscheidungen, ihre Fälle und mögliche Bearbeitungsformen darzulegen. Das Fallteam tagt in der Regel alle zwei Wochen. Beteiligte sind typischerweise die Sozialarbeiter/innen der Jugendämter, Sozialarbeiter/innen der freien Träger und weitere Professionelle, die Hilfen zur Erziehung (im Sinne SGB VIII § 27 ff.) im Auftrag des Amtes leisten. Inhaltlich ist vorgesehen, Neuigkeiten »aus dem Sozialraum« auszutauschen, vor allem sollen aber Fälle beraten werden. In der Regel stehen für die Sitzung drei Zeitstunden zur Verfügung. Drei bis vier Fälle werden typischerweise besprochen, so dass pro Fall etwa 45 bis 60 Minuten zur Verfügung stehen. Die Sitzung des Fallteam ist typischerweise in verschiedene Phasen aufgeteilt, die durch ein organisationales Verfahren vorgesehen werden. U. a. ist eine Phase für »Nachfragen« vorgesehen, die im folgenden Ausschnitt anhand eines Beobachtungsprotokolls dokumentiert wird. Es wird untersucht, wie die Sozialarbeiter/innen zur plausiblen Darstellung ihrer Fälle auf derartigen Sitzungen kommen. Die fallzuständige Sachbearbeiterin ist Frau Daitz.
und stellen (prospektiv) Überlegungen an, welche Bearbeitungsstrategien sinnvoll sein könnten.
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Ausschnitt 14 Daraufhin fragt eine Sozialarbeiterin des Jugendamtes, Frau Ingniovski, wie die »überhaupt in die Klinik kommt?« Das sei ja eigentlich keine Klinik für Essstörungen und eine Abteilung für Jugendliche gäbe es dort auch nicht. Frau Daitz sagt, das sei eben auf Empfehlung des Trägers geschehen, mit dem die Familie vorher zusammengearbeitet habe. Frau Arnold, Sozialarbeiterin eines freien Trägers, fragt, ob es noch Fragen gebe, »sonst« könne man zu Ideen übergehen. Herr Groß, Sozialarbeiter des Jugendamtes, steht auf und holt das Flipchart zu seinem Platz. (B/5: Abs. 4)
Die fallführenden Sozialarbeiter/innen werden in Fallteamsitzungen regelmäßig herausgefordert, ihre Fallbearbeitung zu plausibilisieren. Nachfragen zu stellen, ist elementarer Bestandteil der Fallteamsitzungen. Wie auch in der obigen Situation richten sich die Fragen in der Regel an die fallzuständigen Sozialarbeiter/innen. Hier ist es eine Kollegin von Frau Daitz, die das Verhältnis von Fall und Vorgehensweise in der Fallbearbeitung hinterfragt: Die von der Sozialarbeiterin gewählte Vorgehensweise (Klinik ohne Abteilung für Essgestörte und nicht für Jugendliche) scheint nicht zum beschriebenen Problem zu passen (Jugendliche mit »Essstörung«). Frau Daitz tut sich entsprechend schwer, ihre Fallarbeit plausibel darzustellen. Sie verschiebt, notgedrungen, die Begründungslast auf den freien Träger, indem sie auf dessen »Empfehlung« verweist. Damit markiert sie zudem, dass sie nicht blind im Fall agiert, sondern von der Einschätzung des Trägers weiß.42 Frau Daitz Hinweis findet Akzeptanz, wird jedenfalls nicht hinterfragt. Die Sozialarbeiterin hat die Darstellung ihrer Fallarbeit, zumindest vorerst und vor dieser begrenzten Öffentlichkeit, »über die Bühne gebracht«. Frau Arnold leitet zur nächsten Phase der Fallbesprechung über. Die Moderatorin folgt damit dem Verfahren, schützt gleichermaßen Frau Daitz vor einer weiteren Frage-Antwort-Sequenz. Diese Form des kollegialen Impression Managements (vgl. Goffman 1983), die gemeinsam, kollegial durchgeführt wird, ist typisch für das Teamgespräch: Es wird ein Raum bereitgestellt, in dem z. B. eine oder zwei Nachfragen zugelassen werden, Kritik darüber hinaus aber begrenzt ist (und die Mitarbeiter/innen des Am-
42 Unklar bleibt, was sie sonst noch über den Fall sagen könnte und ob sie überhaupt in der Lage wäre, die Begründung anderweitig aufzubauen.
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tes vor zu vielen unangenehmen Fragen geschützt werden). Nach dem Eingriff der Moderatorin läuft Frau Daitz nicht länger Gefahr, noch einmal eine Begründung finden zu müssen (und diese möglicherweise nicht liefern zu können). Ihr Ansehen wird daher in der Anwesenheit der Kollegen der freien Träger und des Beobachters geschützt. Frau Daitz tritt im Fallteam als Professionelle, als Sozialarbeiterin auf, zugleich ist sie Sozialarbeiterin des Jugendamtes, eine Repräsentantin der Organisation. Ihr professionelles Ansehen zu schützen bedeutet daher zugleich das Ansehen des Jugendamtes selbst (und das der anwesenden Kolleg/innen von Frau Daitz) zu schützen.43 Das Verfahren mit seiner Fragerunde, den Frage-Antwort-Sequenzen, könnte Frau Daitz überdies in der Zukunft eine verbesserte Darstellbarkeit in ihrer Fallarbeit erlauben. Die Konfrontation mit Nachfragen erlaubt es, Fragen zukünftig zu antizipieren. Die zuständigen Sozialarbeiter/innen finden einen Raum vor, in dem sie ihre Fähigkeit zur Falldarstellung erproben können. Sie hören Fragen, die, bezogen auf die Fallarbeit, typischerweise von fachkundigen Personen gestellt werden könnten. Zudem kann in dieser Situation das konsistente Herstellen eines Fall-Szenarios erprobt werden. Frau Daitz kann »Ideen« für darstellbare Bearbeitungsstrategien sammeln, die auf das entsprechende Fall-Szenario abgestimmt und bereits in einem fachkundigen Gremium erprobt sind. Auch das Protokoll der FallteamSitzung wird der zuständigen Sachbearbeiterin nach der Besprechung als Ressource zur Rechtfertigung der Fallarbeit zur Verfügung stehen: Sie kann darauf zurückgreifen und die im Kreise der Kolleg/innen erarbeiteten Einschätzungen und entsprechend plausibilisierten Lösungen für ihre weitere Fallarbeit verwenden bzw. das Protokoll als Legitimation ihrer weiteren Schritte nutzen. Die Fallbesprechung unter Kolleg/innen impliziert die möglichst plausible Darstellung des Falls und seiner Bearbeitung. In der Regel präsentiert die zuständige Sachbearbeiterin »ihren« Fall. Dabei bemüht sie sich, die bereits vollzogene, gegenwärtige oder künftige Fallarbeit (vor dem Hintergrund des Falls) verständlich zu machen. Sie erklärt z. B., warum die eine und nicht eine ganz andere Vorgehensweise gewählt wurde. Dabei sind die fallzuständigen Sozialarbeiter/innen interaktiven Prüfungen durch ihre Kol-
43 Die Sitzung des Fallteams wird zur »Prüfungssituation« (Biesel 2011: 262) für die zuständige Sozialarbeiterin, in der zugleich ein Raum begrenzter Kritik hergestellt wird, wie es auch Biesel ähnlich zeigt (ebd.: 259 ff.).
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leg/innen ausgesetzt. Die Beteiligten achten jedoch offenkundig darauf, das Ansehen ihrer Kolleginnen nicht zu beschädigen und den Umfang kritischer Nachfragen daher (in der Halböffentlichkeit des Fallteams) zu begrenzen. 5.3.2 Nachfragen des Vorgesetzten Die fallzuständigen Sozialarbeiter/innen der Jugendämter verfügen über professionelle Autonomie: Sie entscheiden und verantworten ihr Handeln selbst. Doch sie unterliegen auch der Kontrolle durch ihre Vorgesetzten. Insbesondere, wenn es in einem Fall zu einer problematischen Entwicklung kommt, kann es daher durchaus zu kritischen Anfragen innerhalb der amtsinternen Hierarchie kommen. Eine solche Situation schildert mir eine Informantin in einem Interview. Die Sozialarbeiterin hatte ein Kind in einem Heim untergebracht, ohne allerdings die Eltern direkt über die Maßnahme zu informieren. Ausschnitt 15 Bin zu Hause. Gegen viertel acht, gegen halb acht, habe ich ein Telefonat. Rief mich Herr Gerwig [der Vorgesetzte] an und sagte: »Haben Sie heute ein Kind in Obhut genommen?« »Ja.« »Ähm, und wo ist es? Und wieso haben Sie die Mutter nicht informiert?« [...] [N]iemand wusste, wo das Kind war und das/ also Herr Gerwig [hat] an dem Abend dann zu mir gesagt: »Ähm, tja ich stand hier kurz davor, ähm die Suchkamera über die Polizei (.) laufen zu lassen, ne!« Also insofern entwickelte sich da ein Riesen-Ballon für mich und ich dachte: »Oh Gott, äh hätte ich da irgendwelche Kosten bezahlen müssen, so?« Nächsten Tag komme ich her und ähm fühle mich also extrem schlecht. [...]. Und ich habe gedacht, ich muss hier einen Rechtsanwalt nehmen, um da aus der ganzen Sache raus zu kommen. (I/9: Abs. 14)
Der Bericht zeugt davon, dass die Beschäftigen des ASDs damit rechnen müssen, dass ihre Fallarbeit zu problematischen Entwicklungen führt, die ihr Handeln im Nachhinein als fehlerhaft erscheinen lassen. In der geschilderten Situation wird Frau Munnig von den weitreichenden Folgen ihres Handelns überrascht (hier dem beinahe erfolgten Auslösen der polizeilichen Suchaktion). Die Sozialarbeiterin beschreibt, wie sie von ihrem Vorgesetztem angerufen wird: Herr Gerwig fordert eine Erklärung dafür, dass sie die
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»Mutter nicht informiert« hat. Das Kind habe der Mutter als vermisst gegolten, beinahe habe er das Kind polizeilich suchen lassen. Für Frau Meiners entwickelt der Fall nun Konsequenzen, die und deren Ausmaß sie nicht erwartet hatte (»entwickelte sich ein Riesen-Ballon für mich«). Ausschnitt 16 Aber //(unv.) // eine Menge eine Menge Angst lief/lief da bei mir ab, (weiß ich noch?) hier eine Versetzung zu kriegen oder all so/ oder eine Abmahnung auch und sowas alles, also das (.) das [...] weiß ich nicht. Und/und ich habe ja mit ihm da so/ ich äh äh also/ konnte (nur seitlich?) mit ihm sprechen. Ich sagte »Brauche ich jetzt einen Rechtsanwalt?« Das ließ er offen, ne. (keucht) also! (I/9: Abs. 67)
Die Sozialarbeiterin macht deutlich, dass sie »Angst« hatte, abgemahnt oder in eine andere Abteilung versetzt zu werden. Sie kann sich nicht sicher sein, ob ihr Darstellungsvermögen ausreichen wird, um ihre Vorgehensweise (Inobhutnahme ohne die direkte Information der Eltern) nachträglich plausibel zu machen. Ihr Vorgesetzter lässt sogar die Frage offen, ob Frau Meiners rechtliche Konsequenzen zu befürchten hat. Daher überlegt sie, einen »Rechtsanwalt« hinzuziehen, was eben auch bedeutet, die Ebene der Argumentation zu wechseln (von sozialpädagogisch zu rechtlich) bzw. den Plausibilisierungsrahmen zu erweitern. Dies könnte, so mag Frau Meiners Überlegung lauten, möglichen »Kosten« ihrer Fallarbeit, die nicht mehr darstellbar ist, vorbeugen. Die Sozialarbeiterinnen sind zwar im Rahmen der professionellen Autonomie frei, Entscheidungen zu treffen. In ihr Handeln müssen sie dabei jedoch die Möglichkeit einrechnen, für die Konsequenzen (zumindest durch die Vorgesetzten) zur Verantwortung gezogen zu werden, wenn die Fallbearbeitung (retrospektiv) problematisch erscheint. 5.3.3 Kritik aus der Organisationsumwelt Nicht nur gegenüber Kolleg/innen und Vorgesetzten sehen sich die zuständigen Sachbearbeiter/innen gefordert, die Plausibilität der Fallarbeit darzulegen. Die Nachvollziehbarkeit der Fallarbeit gilt es gleichsam gegenüber Dritten aus der Umwelt der Organisation aufrechtzuerhalten. Zur Veranschaulichung wird zunächst der Bericht einer Sozialarbeiterin herangezogen, der die Thematik behandelt. Hierin geht es um einen etwa 10-jährigen
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Jungen, der in einem »Heim« untergebracht wurde. Die Fallbearbeitung des Jugendamtes war einem Lehrer »aufgestoßen«. Ausschnitt 17 Der Junge war dann in Südtal angemeldet, weil, der war ja dort im Heim so, [...]. Und dieser Lehrer (lacht), der da war, das war der Sohn von einem Jugendamtsdirektor in Trontburg. Und der hat natürlich zu Hause erzählt, was hier für unmögliche Geschichten oder was weiß ich, im Jugendamt passieren und dass der Junge nicht tragbar ist, und der muss hier irgendwie, da muss Hilfekonferenz und so. Das haben wir ja auch alles gemacht dann. Hatten wir ja einfach drin so. Aber letztendlich, äh den habe ich dann wirklich ein halbes Jahr in Jugendhilfekonferenzen eingebunden, diesen Lehrer (lacht). Naja, das ist so eine Wucht. Wenn das über den Jugendamtsdirektor kommt. Hier von Jugendamtsdirektor zu Jugendamtsdirektor. »Was ist da los?« So, dann, »ja gut, da habe ich ja kein Problem.« Sage ich, »so, bitte, ku/ können sich die Akte angucken und ich erzähle Ihnen, wie Sie wollen.« Und dann hat er gemerkt, wie eigentlich so ein Jugendhilfeprozess laufen muss, ne? (I/5: Abs. 187)
In diesem Fall wird die Kritik durch einen Lehrer formuliert: Im Jugendamt gingen »unmögliche Geschichten« vor sich. Der Junge sei in der »Integrationsschule« »nicht tragbar« (ebd.). Der Lehrer macht die Kritik an der Fallarbeit des Jugendamtes deutlich. Besonderes Gewicht erhält seine Einschätzung hier, da er der Sohn des Direktors eines benachbarten Jugendamtes ist. Die Nachfragen (»Was ist da los?«) fordern die Sachbearbeiterin zur Darstellung des Falls heraus. Der zuständigen Sozialarbeiterin gelingt es, ihre Fallarbeit gegen die Kritik zu verteidigen.44 Mit Hilfe der Akte kann sie den Fall darstellen, ihn »erzählen«, sich sicher sein, eine schlüssige FallGeschichte entwickeln zu können. Zudem bezieht die Sozialarbeiterin in ihrer Schilderung den Lehrer mit ein, was den Anschein einer »Umarmungstaktik« hat: Nach der Teilnahme an Besprechungen mit den Sozialarbeiter/innen akzeptiert der Lehrer jedenfalls die durch das Jugendamt vorgenommene Fallarbeit. Dabei kann sie auch auf regelhafte Abläufe verweisen: »hat er gemerkt, wie eigentlich so ein Jugendhilfeprozess laufen muss«. Die von der Sachbearbeiterin gewählten institutionellen Lösungen (»Integrati-
44 Mit Goffman (1996a) ließe sich auch von einer »Korrekturleistung« sprechen (ebd.: 24 f.).
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onsschule«, »Heim«) erscheinen nun nicht mehr als kontingente (eventuell sogar willkürliche oder »unmögliche«) Entscheidungen. Vielmehr stellen die gewählten Maßnahmen sich als Bestandteil eines Prozesses dar, der in seiner ganz typischen Weise so und nicht anders erfolgen »muss«. Nicht immer gelingt aber eine solche Verteidigung gegen die Kritik aus der Organisationsumwelt. Besonders wenn Kinder zu Tode kommen und das Amt in den Familien engagiert war, werden Erklärungen von den Jugendämtern und seinen Mitarbeiter/innen gefordert. 5.3.4 Der Worst Case: Den Tod eines Kindes verantworten!? Dass »unter den Augen des Jugendamtes« ein Kind zu Tode kommt, wie es häufig in der Presse heißt, ist zu einem Bedrohungsszenario für die Jugendämter geworden. Die Sozialarbeiter/innen haben »Bauchschmerzen« mit ihren Fällen, sie tragen eine schwere »Last« und niemand möchte »in der Zeitung stehen«, d. h. öffentlich für den Tod eines Kindes verantwortlich gemacht werden. Die Frage der Zurechnung von Entscheidungen soll im Folgenden anhand eines Falls von Kindestötung, der sich während einer meiner Feldaufenthalte in einem Jugendamt ereignete, vertiefend untersucht werden. Die Familie war vom Jugendamt betreut worden, stand gewissermaßen unter Beobachtung. Eines der Kinder in der Familie wurde, soweit dies rekonstruiert werden konnte, von seinen Eltern, oder zumindest von einem Elternteil, unter Einwirkung von körperlicher Gewalt getötet. Die zuständige Sozialarbeiterin hatte sich vor diesem Ereignis mehrfach gegen eine stationäre Unterbringung entschieden. Die Situation, in der die zuständige Sozialarbeiterin, Frau Baumann, Mitarbeiterin eines Jugendamtes in einer bundesdeutschen Kleinstadt, von dem Todesfall erfuhr, schildert sie wie folgt: Ausschnitt 18 Gab es hier einen Anruf vom LKA, [...] war ganz klar, dass die Maggie gewaltsam zu Tode kam. Also nach ein paar Tagen war das dann auch hier in der Presse und so weiter. Kam sofort Staatsanwaltschaft, hat sich die Akte gekrallt. [...] So, ne, also das war ja auch automatisch der spektakulärste Fall der letzten Jahre //mhm// den wir hier so zu verzeichnen hatten. Hat auch hohe Wellen geschlagen. und ebend zum Thema Dokumentation, war eine dicke Akte, hat sich die Staats-
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anwaltschaft (,) gleich geschnappt. Wir haben vorher noch eine Kopie gemacht und dann sind die die Akte von vorne bis hinten durchgegangen, ob da irgendein Hinweise (,) war (,) ähm wo man mir irgendwas ankreiden kann. Da gingen die wirklich Wort für Wort durch. Wann war sie da, was wurde gemacht und wie gesagt, ich […] hatte noch Zeit, ich hatte wenig Fälle, 20 oder so. Und hatte recht viel Zeit und Energie sich um die Familie zu kümmern. Ich war ja selber noch oft da, //mhm// was eigentlich gar nicht unsere Aufgabe ist. Und dann äh, hatte ich praktischerweise noch im Ausgangsbuch (,) konnte ich zusammensuchen, wann ich da war und das nachträglich auch noch mal dokumentieren, wann die/wann ich die Familie gesehen habe. (I/6: Abs. 47-53)
Frau Baumann beschreibt hier eine Situation, die die Sozialarbeiter/innen der Jugendämter unbedingt vermeiden möchten. Ein Kind wird in einer Familie, die durch das Jugendamt betreut wurde, getötet. Die Presse erfährt davon, der Fall schlägt »hohe Wellen«. Die Staatsanwaltschaft prüft, ob »sich irgendein Hinweis« auf ein Fehlverhalten des Sozialarbeiters ergibt. Damit ist auch klar: Es wird geprüft, ob die fallzuständige Person angemessen gehandelt hat. Die Akten werden von der Staatsanwaltschaft eingezogen. Die Fallarbeit der Sozialarbeiter/innen wird genau (»Wort für Wort«) überprüft: Wann war die Sozialarbeiterin in der Familie? Und »was wurde gemacht«? Für die Sozialarbeiterin stellt es sich hier als entlastend heraus, dass sie ihre umfangreiche Anwesenheit in der Familie über das Dokumentationssystem nachweisen kann: sie kann zumindest das umfangreiches Bemühen um die Familie darlegen. Dabei geht es sowohl für die Staatsanwaltschaft als auch für die Sozialarbeiterin selbst um die Frage, ob angemessen gehandelt wurde bzw. ob die Sozialarbeiterin durch ihre Entscheidungen gegen die Fremdunterbringung eine (Mit-)Schuld am Tod des Kindes trifft. Hierzu ein längerer Ausschnitt aus demselben Interview, in dem die Sozialarbeiterin diese Frage thematisiert. Ausschnitt 19 Und da wurde das Jugendamt [...], in dem Fall ja ich, vollkommen entlastet. Weil ist ja letztendlich logisch: Also die wurde da nachts irgendwann am Wochenende verprügelt. Wo soll denn da das Jugendamt sein? Geht ja nicht! Und das ist eben auch eine Sache, die ist auch irgendwo typisch deutsch, ne? Es muss für alles immer einen Schuldigen geben. Ob nun ein Ast von irgendeinem Baum abfällt
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und jemanden erschlägt – es muss jemand Schuld haben daran und wenn es der Beauftragte war vom Baumschnitt, hier vom Umweltamt oder so. Das ist (3) wo z. B. auch die Presse nicht draufgekommen ist: wenn ein Kind gewaltsam zu Tode kommt, [...] dann hat der derjenige Schuld, der es war, ne? Und das ist eine Diskussion, die es nur in Deutschland gibt. Wenn die dem Jugendamt bekannt war, dann heißt es immer: Wo war das Jugendamt? Wenn die Leute gewusst hätten, was da alles drin war in der Familie, wie viele Leute, also Kinder- und Jugendgesundheitsdienst, […], die Einzelfall/ äh, die Familienhelfer, dann der Einzelhelfer von dem Typen, der ja auch sehr häufig da war, Hebammen, also insgesamt waren es zwölf, die einen regelmäßigen Blick auf diese Familie hatten und keiner von denen hat zu keinem Zeitpunkt eine Kindeswohlgefährdung festgestellt. So, und das wurde dann zum Schluss ja auch gesagt, bloß des interessiert zum Beispiel die [Zeitung] nicht. Das ist ja langweilig. Die wollen ja eigentlich hören: wie immer, dass das Jugendamt versagt hat oder geschlampt hat. (I/6: Abs. 55)
Frau Baumann betont, dass sie durch die Untersuchungskommission »vollkommen« entlastet wurde. Die Entlastung ist dabei zumindest auf rechtlicher Ebene zu sehen, aber ihr geht es um mehr, auch darum, ihre professionelle und ethische Verantwortung zu klären. Es handelt sich zugleich um einen Versuch, das eigene Vorgehen retrospektiv zu erklären und sich von einer möglichen Schuld zu befreien. Das Jugendamt, so argumentiert sie, könne nicht immer überall sein. Die Entlastung durch die eingesetzte Kommission ist daher »logisch«. Es sei typisch deutsch, dass immer ein Schuldiger gesucht werde. Sie bringt zudem an, dass in der Familie eine große Zahl von Professionellen aktiv war (»Einzelfallhelfer«, »Familienhelfer«, »Hebammen«, »Jugendgesundheitsdienst«). Sie macht damit klar, dass sie schon viel für diese Familie getan hat: Sie hat dafür gesorgt, dass die Familie Unterstützung bekommt, dass sie aber auch unter permanenter professioneller Beobachtung steht. Und sie war selbst oft vor Ort. Zudem wurde durch keine der in der Familie tätigen Personen »zu keinem Zeitpunkt eine Kindeswohlgefährdung festgestellt«. Frau Baumann macht damit klar, dass sie sich um ausreichende Informationen bemühte, dass sie aber – trotz ihrer Bemühungen – keine Informationen vorliegen hatte, die ein schärferes Eingreifen indiziert hätten. Überdies wird ihre Einschätzung des Falls dadurch gestützt, dass auch keine der übrigen Beteiligten eine Kindeswohlgefährdung gesehen hatte. Es wird insofern deutlich, wie wichtig es ist, zeigen zu können, alles in der jeweiligen Situation Mögliche getan zu haben, dass die
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Fallbearbeitung in Ordnung und die Entscheidung gegen die Fremdunterbringung vertretbar war. Deutlich wird, dass aus der Sicht von Sozialarbeiter/innen häufig etwas Unmögliches von ihnen erwartet wird, nämlich mit letzter Sicherheit die Gefährdung eines Kindes ausschließen zu können. Hieran setzt auch der Vergleich zwischen Umwelt- und Jugendamt an, der die Absurdität der Schuldzurechnung verdeutlichen soll und von Frau Baumann zuspitzend verwendet wird: Wenn in Deutschland ein »Ast von irgendeinem Baum« abfalle und »jemanden erschlägt«, müsse einfach ein Schuldiger gefunden werden. Für den Sachbearbeiter des Jugendamtes gilt die Problematik auf ähnliche Weise. Eine Kindeswohlgefährdung auszuschließen scheint ähnlich schwierig wie mit (absoluter) Sicherheit zu garantieren, dass niemand z. B. durch herabfallende Äste erschlagen wird. Selbst wenn die Sachbearbeiterin verantwortungsvoll vorgeht und entsprechende Vorkehrungen trifft, kann sie die Gefährdung des Kindeswohls in letzter Konsequenz nicht ausschließen.45 Das Jugendamt mit seinen Mitarbeiter/innen soll, so die Botschaft von Frau Baumann, Verantwortung für Dinge übernehmen, die es nicht verantworten kann. Es können, angesichts begrenzter Informationsverarbeitungs-
45 Der Vergleich zwischen dem Jugend- und dem Umweltamt hinkt, nicht zuletzt da es im Fall des herabstürzenden Astes um einen Unfall und im Falle der Kindstötung um (absichtsvolle) Gewalthandlungen geht. Dennoch kann Frau Baumann über den Vergleich Besonderheiten des Handlungsfeldes verdeutlichen: Die Sozialarbeiter/innen sehen sich herausgefordert zu handeln und können für ihre Entscheidungen zur Verantwortung gezogen werden. Dies wird brisant, weil es außerhalb der Möglichkeit der Sozialarbeiter/innen liegt, eine Kindeswohlgefährdung mit letzter Sicherheit auszuschließen bzw. zu verhindern. So wie der Sachbearbeiter des Umweltamtes es mit einer schwer überschaubaren Datenmenge (einer Vielzahl von Bäumen und Ästen) zu tun hat, so kämpfen auch die Sozialarbeiter/innen der Jugendämter mit einer gewissen Unübersichtlichkeit, haben sie es doch mit einer Vielzahl von Fällen, Familien, Personen und Berichten über diese zu tun. In beiden Ämtern kann daher angesichts begrenzter Informationsverarbeitungskapazitäten immer auch ein Moment der Gefährdung umfassend übersehen werden bzw. erscheint es unmöglich, alle möglichen Gefährdungen umfassen zu erfassen. Auch das Verhalten der Eltern ist für die Sozialarbeiter/innen letztlich nicht vorherzusagen: Wird es (wieder) zu einer Eskalation oder zu gewalttägigem Verhalten kommen?
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kapazitäten, schlichtweg nicht alle denkbaren Gefährdungsmomente erfasst werden. Die Szenarien sind schwer zu überblicken und auch Prognosen können nicht mit endgültiger Verlässlichkeit getroffen werden. Selbst wenn die Sozialarbeiter/innen des Jugendamtes verantwortungsvoll tätig sind, können sie letztendlich nicht verhindern, dass ein Kind, z. B. durch die Gewalt seiner Eltern, zu Tode kommt. Entsprechend argumentiert Frau Baumann, dass nicht das Jugendamt oder der Sozialarbeiter hierfür zur Verantwortung gezogen werden soll, sondern eben die Person, die »es war.« Dass ein Kind zu Tode kommt und die Schuldfrage gestellt wird, ist ein seltener Fall. Gleichzeitig ist eine solche Konstellation etwas, das immer zu drohen scheint, als Worst-Case-Szenario ständig präsent ist. In vielen Gesprächen deuteten die Sozialarbeiter/innen ihre Befürchtungen an, selbst in einen solchen Fall verwickelt zu werden, so auch in einem Gespräch, das der folgende Ausschnitt aus einem Beobachtungsprotokoll dokumentiert. Ausschnitt 20 Einerseits, so sagte mir eine Sozialarbeiter, sollen die Eltern mehr Verantwortung bekommen, aber wenn [...] die die Verantwortung nicht übernehmen können, dann ist doch das Jugendamt Schuld. Und Frau Justus, die Sozialarbeiterin, hat dann gesagt [...], dass das klar ist, dass die Leute [die Beschäftigten des Jugendamtes] dann auch Angst haben und dass das eben dazu führt, dass man versucht, sich abzusichern, damit man im Zweifel sagen kann: »Ich bin das nicht gewesen.« (B/17: Abs. 2)
Angesichts problematischer Fälle, sowie angesichts der Tatsache, dass sich Kindeswohlgefährdungen letztlich nie vollkommen ausschließen lassen, besteht das praktische Problem der Sozialarbeiter/innen darin, Entscheidungen dennoch – im Angesicht möglichen »Scheiterns« – zu treffen. Die Sozialarbeiter/innen sollen einerseits, so hier die Informantin, möglichst wenig in den familiären Haushalt eingreifen und den Eltern viel Verantwortung überlassen. Andererseits sollten sie aber auch das Wohl des Kindes schützen, würden sie verantwortlich gemacht, wenn doch etwas passiere. Daher entwickeln sie Strategien, um im Zweifelsfall »vollkommen entlastet« werden zu können, wie es die Befragte in Ausschnitt 19 ausdrückte. Die Absicherung ist aber mehr als nur eine rechtliche, vielmehr eine Frage des professionellen (und persönlichen Gewissens). Ausschnitt 20
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zeigt, wie sehr der Versuch der Absicherung eine Rechtfertigung vor sich selbst beinhaltet. Die in der Interview-Situation präsentierte Narration erzeugt Nachvollziehbarkeit (und den Eindruck, alles Menschenmögliche getan zu haben) für den Forscher, aber auch für die fallzuständige Sozialarbeiterin selbst. Die Fallbearbeitung wird zu einer professionellen »Gewissensfrage«. Natürlich geht es auch um die Wahrung des »professionellen Gesichts«, um die Aufrechterhaltung professioneller Identität: Keinesfalls möchten die Sozialarbeiter/innen, sei es in der Zeitung oder vor den Kollegen, »zu Recht rund gemacht werden«.46 Gerade der Bericht von Frau Baumann deutet an, wie es die Organisation von Fallzuständigkeit ermöglicht, problematische Entwicklungen im Fallverlauf mit den Entscheidungen einer Person, der Sachbearbeiterin, in Verbindung zu bringen. Es erfolgt eine Zurechnung auf das Jugendamt, aber vor allem auf das Entscheiden einer Person, die im Anschluss befragt und deren Handeln kritisch untersucht werden kann. Im Endeffekt läuft die Feststellung der Zuständigkeit daher auf die Zuschreibung persönlicher Verantwortlichkeit hinaus. Hierin zeigt sich zugleich die »Unerbitterlichkeit« (Scott 1986: 413) der Organisation: Es ist letztlich von geringer Bedeutung, ob der Fall zuvor in einem Fallteam beraten oder mit Vorgesetzten diskutiert wurde. Einmal zuständig geworden, hat die entsprechende Person die Fallarbeit und die Entscheidungen über Maßnahmen zu verantworten. Dies impliziert Entscheidungen, die sich in eine unsichere Zukunft richten, was zugleich bedeutet, sich retrospektiv erklären können zu müssen, verantwortlich gemacht zu werden, wenn in der Fallarbeit etwas »schief« gelaufen ist.47 Dies ist der Hintergrund, vor dem die Sozialarbeiter/innen die darstellbare Bearbeitung ihres Falls anstreben.
46 Deutlich wird die Notwendigkeit, die eigene Geschichte immer wieder vor sich selbst und vor Dritten zu plausibilisieren (in etwas anderem Kontext aber dennoch passend Butler 2007). 47 Die Organisation der Fallzuständigkeit ermöglicht die Identifikation von Personen, eines Entscheiders, die Organisation organisiert eine Person »to be held accountable for his decisions« (Simon 1997: 11).
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5.4 Z USAMMENFASSUNG : F ALLZUSTÄNDIGKEIT ALS V ERPFLICHTUNG AUF DARSTELLBARE F ALLARBEIT Die Organisation der Fallzuständigkeit verpflichtet konkrete Personen, nämlich die nunmehr fallzuständigen Sozialarbeiter/innen, auf die verantwortungsvolle Bearbeitung »ihrer« Fälle. Einmal zuständig geworden obliegt es ihnen, die entsprechenden, problematischen Konstellationen zu bearbeiten. Entscheidungen werden zudem (auch nachträglich) konkreten Personen zurechenbar. Prozesse der Fallarbeit und des Entscheidens werden vor diesem Hintergrund von den zuständigen Personen und vor wechselndem Publikum nachvollziehbar gemacht.48 Die Organisation der Fallzuständigkeit ist daher eine der zentralen Voraussetzungen für die Herstellung von plausiblen Entscheidungen im Kontext des Jugendamtes. Um zu klären, wer einen Fall zu übernehmen hat, hält die Organisation des Jugendamtes Verfahren bereit, die die Zuständigkeiten eindeutig regeln sollen. Die Verteilung der Fälle wird z. B. über das Straßen- oder das Teamprinzip organisiert. Die Fallzuständigkeit ergibt sich aber, so brachte die Analyse von Beobachtungsprotokollen hervor, einerseits aus den organisationalen Verfahren, andererseits aus den interaktiven Abstimmungen der Sozialarbeiter/innen, welche die formale Regelung der Zuständigkeit übersteigen. Fall-Zuständigkeit ist daher zu verstehen als Gegenstand von formalen Verfahren wie auch als Ergebnis informaler Aushandlungsprozesse, dem Sich-Zuständig-Machen der Sozialarbeiter/innen. Bevor der Fall zum Fall wird, müssen aber zunächst Vorkommnisse in der Umwelt des Amtes registriert und in die Form eines Falls gebracht werden. Bereits im Prozess der Fallaufnahme werden die Fälle anhand feldtypischer Kategorien geordnet und konvergierende Anschlusshandlungen ausgewählt. Prozesse in der Umwelt des Amtes erhalten so eine erste, kontingente Konzeptualisierung auf Seiten des Jugendamtes. Überhaupt zum Fall für das Jugendamt wird ein Vorkommnis, wenn eine Veranlassung zum Eingreifen von den Sozialarbeiter/innen festgestellt wird. Typische
48 Die Fallzuständigen demonstrieren, wie die Untersuchung von zahlreichen Situationen zeigte, gegenüber Dritten, aber auch amtsintern, immer wieder die Angemessenheit ihrer Fallarbeit. Fallzuständigkeit ist damit eine der zentralen organisationalen Voraussetzungen für die Herstellung von nachvollziehbaren Entscheidungen im Kontext des Jugendamtes.
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Anlässe sind hierzu in den untersuchten Fällen etwa Meldungen und Berichte über mögliche Kindeswohlgefährdungen.49 Im Zuge der Fallbearbeitung wird der Fall typischerweise mit einer Vielzahl von Charakteristika konstruiert (vgl. Kap. 5.1). Dabei erfolgt nicht zuletzt die Ausstattung des Falls mit einer Reihe typischer Akteure. Dies sind in an erster Stelle die Eltern und an zweiter Stelle Kinder und Jugendliche. Letztere kommen in Hilfeprozessen häufig eher als Grenzobjekte der adulten Kommunikation, denn als aktiv Handelnde vor. Überdies ist häufig eine Vielzahl professioneller Akteure beteiligt. Die Sozialarbeiter/innen werden schließlich selbst zu Akteuren im Fall-Ensemble.50 Sie gehen Beziehungen ein, betreten das Szenario als zentrale Personen und beeinflussen es mit ihren Interventionen.51 Dabei entsteht eine bemerkenswerte, selbstreferentielle Situation: Die Sozialarbeiterinnen verantworten die Bearbeitung von problematischen Konstellationen, die sie selbst, zumindest ansatzweise, gestalten. Den sozialarbeiterischen Akteuren kommt hierbei ein hohes Maß an Verantwortung zu, müssen sie doch entscheiden, wo die Kinder leben bzw. klären, ob eine Kindeswohlgefährdung vorliegen könnte. Mit Blick auf die zeitliche Dimensionierung des Falls lässt sich feststellen, dass der Fall über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verfügt (und in dieser Hinsicht der alltagsweltlichen Erfahrung von Zeit ähnelt). Die Vergangenheit wird durch die Fallgeschichte repräsentiert, die bis in die Gegenwart hineinreicht. Die Entscheidungen der Sozialarbeiter/innen richten sich auf die Zukunft des Falls aus (und müssen sich in dieser bewähren). Sie beruhen dabei zugleich auf der Einschätzung der Fallgeschichte und der aktuellen Situation (der Gegenwart). Bisherige Prozesse werden dabei von den Beschäftigten der Jugendämter prognostisch, mit Blick auf mögliche Muster, in die Zukunft verlängert. Gegenwart, Vergangenheit und
49 Die »Allzuständigkeit« (Bommes und Scherr 2012) der sozialpädagogischen Profession wird mit Hilfe der organisationalen Verfahren in etwas engere Bahnen gelenkt. 50 Offensichtlich sind die Beteiligten Akteure mit unterschiedlichen Handlungsoptionen ausgestattet, wird den Sozialarbeiter/innen doch die Position zugebilligt, auch gegen den Willen der Eltern entscheiden zu können, um dann mit Unterstützung des Familiengerichts eine Fremdunterbringung zu verfügen. 51 Die Erzählung der Fallgeschichte markiert dabei Relationen (und deren Entstehung) zwischen Sozialarbeiter/innen und den weiteren Beteiligten des FallEnsembles, die der Situation entsprechend bedacht und dargestellt werden.
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Zukunft des Falls laufen im Entscheidungsprozess insofern ineinander und verlangen gleichermaßen Berücksichtigung beim Entscheiden über den Fall. Gewöhnlich umfasst der Fall zudem eine Reihe von wiederkehrenden Problemstellungen, die – so die feldtypische Erwartung – von den Sozialarbeiter/innen zu bearbeiten sind. Zur Bearbeitung des Falls steht den Beschäftigten der Jugendämter eine Reihe institutioneller Lösungen zur Verfügung. Diese sind im Rahmen des § 27 SGB VIII als Hilfen zur Erziehung gefasst, werden durch die Beschäftigten des Amtes bewilligt und eingesetzt. Die verfügbaren Lösungen implizieren unterschiedliche Eingriffstiefen. Ambulante Maßnahmen werden in der Familie gewährt. Die stationäre Unterbringung basiert in der Regel auf der räumlichen (und häufig auch sozialen) Trennung von Eltern und Kindern. Langfristige Unterbringung ist dabei von kurzfristigen Inobhutnahmen, die die Möglichkeit einer schnellen Rückkehr in den elterlichen Haushalt offen lassen, zu unterscheiden. Die Anstrengungen der zuständigen Sozialarbeiter/innen, die Darstellbarkeit ihrer Fallbearbeitung aufrechtzuerhalten, wurde in der Untersuchung von zahlreichen Situationen deutlich, in denen die Sozialarbeiter/innen Fälle darstellten und Bearbeitungsstrategien erläuterten. Die Sozialarbeiter/innen bemühen sich, gegenüber den Teilnehmenden zu zeigen, wie sie den Fall realistisch einschätzen und angemessene Bearbeitungsstrategien entwickeln.52 Die Fallarbeit wird gegenüber ihrem heterogenen Publikum in eine Form der »Darstellbarkeit« gebracht. Betrachten wir noch einmal die in diesem Kapitel untersuchten Situationen, vor allem auch den Abschnitt zu den Situationen der Rechtfertigung (vgl. Kap. 5.3), so lässt sich zusammenfassend festhalten, dass die fallzuständigen Sozialarbeiter/innen zur Darstellung ihrer Fallarbeit gegenüber wechselndem (mehr oder minder kritischem) Publikum herausgefordert werden: In den untersuchten Situationen konnte beobachtet werden, wie die Sozialarbeiter/innen ihre Fallarbeit vor Vorgesetzten, vor ihren Kolleg/innen, vor Dritten aus der Organisationsumwelt, aber auch vor mir als wissenschaftlichem Beobachter rechtfertigen. Im Worst-Case-Szenario vertei-
52 Die Falldarstellung gegenüber Kolleg/innen verlangt die Berücksichtigung fachlicher und organisationaler, aber auch alltäglicher Rationalitäten. Gegenüber der Staatsanwaltschaft und Medien scheint es besonders bedeutsam, nachweisen zu können, nicht »geschlampt«, also eine verfahrensgemäße Fallarbeit verwirklicht zu haben.
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digte die Sozialarbeiterin ihre Fallarbeit zudem gegenüber der Staatsanwaltschaft und deutete die Wogen der Aufregung an, die der Fall in den Massenmedien auslöste. Nicht zuletzt wird die Plausibilität der jugendamtlichen Entscheidungsprozesse zum Gegenstand selbstreflexiver Abwägungen – die Sozialarbeiter/innen befragen sich in selbstreflexiven Prozessen, ob und inwieweit ihre Entscheidungen als angemessen angesehen werden können. Andere »Zuschauer/innen« sind zudem gleichsam Eltern und Kinder, vor denen die Entscheidung dargestellt und gegenüber denen sie durchgesetzt werden müssen. Diese Situation der Darstellung vor vielfältigem Publikum fasst das nachstehende Schaubild zusammen.
Abbildung 5: Das Publikum des Jugendamtes
(Quelle: Eigene Darstellung)
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Um die zahlreichen Situationen der Rechtfertigung zu bewältigen, durch die sich die untersuchten Prozesse auszeichnen, benötigen die Sozialarbeiter/innen nicht nur ein ausgesprochenes ›Darstellungstalent‹, sondern auch brauchbare Informationen, die ihnen verlässliche Falleinschätzungen ermöglichen.
6. Informationsarbeit: Was ist los im Fall? Organization is important [...], because, by structuring communications, it determines the environments of information. (SIMON 1997: 18)
In einem Fall noch etwas »klären« zu müssen, das ist im Kontext des Jugendamtes eine alltägliche Problemstellung. Die zuständigen Sozialarbeiter/innen fragen sich, was in »ihren« Fällen »los« ist? (I/5: Abs. 135) oder auch: »Was ist tatsächlich mit dem Jungen los?« (I/3: Abs. 66). Gleichzeitig ist es für die Sozialarbeiter/innen oft schwer, überhaupt, »einen Einblick« (B/2: 378) in die Familien zu bekommen. Sie verfügen überdies nicht immer über ein »richtiges Bild« von der Arbeit der Kooperationspartner/innen (z. B. der Familienhelfer/innen oder anderer Sozialarbeiter/innen, vgl. z. B. I/1: Abs. 53, auch B/2: Abs. 7). Früher sei es so gewesen, sagten mir einige Sozialarbeiter/innen während der Feldaufenthalte, dass man noch »wusste, was los war« (B/2: Abs. 360).1 Heutzutage bekomme man hingegen oft kaum mehr ein »reales Bild« (B/2: Abs. 374). Überhaupt beklagen die Sozialarbeiter/innen des Jugendamtes häufig, dass »zu wenig Informationen« (B/11: 9) zur Verfügung stehen, um entscheiden zu können. Die Beschäftigten der Jugendämter versuchen daher einerseits, Informationen2 über ihre Fälle einzuwerben und herauszubekommen, was die »aktuel-
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Es lässt sich an dieser Stelle nur vermuten, dass eine Praxis zugehender »Fürsorglichkeit«, wie Wolff (1983) sie beschreibt, möglicherweise eine andere, direktere Form der Informationsgewinnung erlaubte.
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Ich unterscheide Daten, Informationen und Wissen hier in Anlehnung an Willke (2001: 7ff.). Von Daten ist im Folgenden die Rede, wenn es um Muster von
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le […] Situation im Fall [ist]« (B/18: Abs. 26). Andererseits haben die Sozialarbeiter/innen es mit einem Überfluss an Informationen zu tun (vgl. B/2: Abs. 105).3 Diese Probleme der Informationsarbeit behandelt das nachfolgende Kapitel. Im Folgenden wird gefragt, wie es den Sozialarbeiter/innen gelingt, (trotz aller Schwierigkeiten im Umgang mit Informationen), eine hinreichende und verlässliche informative Basis in Entscheidungsprozessen herzustellen?4 Aus der Perspektive der Handelnden ließe sich das Problem wie folgt formulieren: Wie erfährt man überhaupt, was in einer Familie los ist? Wie lässt sich herausfinden, was die Eltern und die Kindern tun, wie sie leben und wo zentrale Knackpunkte sind, die in zukünftigen Entscheidungen zu berücksichtigen sind? In einer etwas abstrakteren Formulierung: Wie
Zeichen geht (etwa um Zahlen, Bilder, Texte/Schrift, sprachliche Äußerungen, Dokumente), die beobachtet werden – aber zunächst noch ohne weitere Bedeutung sind (z. B. die Erzählung einer Mutter über die Beziehung zu ihrer Tochter). Information entsteht erst in der Interpretation der Daten, die den Daten Relevanz verleiht. Die Information ist ein Unterschied, der in der gegebenen Situation und im Hinblick auf das vorliegende Wissen »einen Unterschied macht« (Bateson 1972: 453). 3
Derartige »Klagen« (Wolff 1983), einerseits über zu viele, andererseits über zu wenige Informationen zu verfügen, weisen auf strukturelle Probleme hin, die den Entscheidungsprozess betreffen. Simon (1997) hat auf die Problematik begrenzter Kapazitäten der Informationsbearbeitung im Zusammenhang mit Entscheidungsprozessen hingewiesen (ebd.: 45 ff.). Wie Informationen gewonnen und in Entscheidungsprozessen verarbeitet werden, ist zudem ein wiederkehrendes Thema verhaltens- und organisationtheoretischer Entscheidungsforschung (Cohen et al. 1972, March 1994, Simon 1997, Luhmann 28.10.-3.11.96, Sutcliffe et al. 2008, auch Hodgkinson und Starbuck 2008, Dreu et al. 2007 und Laux 2012).
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Wenn hier von »hinreichend« oder »akzeptabel« die Rede ist, dann wird dabei Referenz auf Bestimmungsversuche genommen, so wie sie in den untersuchten Situationen von den Beteiligten vorgenommen wurden. Es wird daher untersucht, wie im Vollzugshandeln Informationen als hinreichend hergestellt werden bzw. wann z. B. Entscheidungen getroffen werden müssen, obwohl die Informationslage eigentlich als noch nicht hinreichend bewertet wird.
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werden Informationen über Fälle im Kontext des Amtes gewonnen und verarbeitet?5 Die Sozialarbeiter/innen der Jugendämter nutzen als Antwort auf diese Problematik diverse Praktiken, mittels derer sie Informationen sammeln, bearbeiten und verdichten. Aus diesem verästelten Bündel von Aktivitäten werden im Folgenden einige der Wichtigsten, mitsamt ihrer situativen Umsetzung, näher erforscht. Zunächst wird demonstriert, wie anhand einer Reihe von Vorgehensweisen im Kontext des Amtes Informationen gewonnen werden (vgl. Kap. 6.1.). Ergänzend wird betrachtet, wie die Beteiligten schrittweise Verdichtungen von Informationen vornehmen (vgl. Kap. 6.2) und darüber »Informiertheit« herstellen (vgl. Kap. 6.3).
6.1 I NFORMATIONSGELEGENHEITEN Die fallzuständigen Sozialarbeiter/innen der Jugendämter gehen einer Vielzahl von Tätigkeiten nach, um Informationen über ihre Fälle zu sammeln.6 Sie sprechen mit Eltern und Kindern, mit Kolleg/innen und anderen Professionellen; sie geben »Clearings« in Auftrag, erhalten Anrufe, lesen Berichte, schlagen etwas in Akten nach usw. Fälle werden auf zahlreichen Besprechungen, aber auch zwischen Tür und Angel diskutiert. Bei all diesen Tätigkeiten bringen die Sozialarbeiter/innen etwas über ihren Fall in Erfah-
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Die weiterführende Problemstellung ist dabei, wie der Fall im Kontext des Jugendamtes als Gegenstand von Entscheidungen konstruiert wird. Wie, mit welchen Praktiken machen sich die Teilnehmenden ein »Bild« vom Fall? Wie klären sie, was der Fall »ist«?
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Mit Luhmann (1984) und kommunikationstheoretisch betrachtet sind Informationen integraler Bestandteil jeder Kommunikation – und daher des Vollzugs der Fallarbeit. Als Grundelemente der Kommunikation unterscheidet Luhmann (1984): Mitteilung, Information und Verstehen. Eine Information muss mitgeteilt und gehört (als solche erkannt) werden, um Kommunikation zu ermöglichen. Die Fallarbeit der Sozialarbeiter/innen umfasst eine Vielzahl kommunikativer Situationen, z. B. den Austausch mit Kolleg/innen, mit Klient/innen, aber möglicherweise auch mit nicht-menschlichen Akteuren (wie Akten und Risikoeinschätzungsbögen). Jede Situation, in der ein Fall Gegenstand der Kommunikation ist, kann Informationen hervorbringen und die Konstruktion des Einzelfalls verändern.
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rung. Dennoch wird häufig die Notwendigkeit gesehen, die Informationslage im Fall zu verbessern, bevor weitere Entscheidungen getroffen werden.7 Im Folgenden gehe ich genauer auf Vorgehensweisen ein, die im Rahmen der Fallbearbeitung von den Sozialarbeiter/innen genutzt werden, um etwas zu klären, sich ein »Bild vom Fall« zu machen, kurzum: um Informationen einzuwerben und zu verarbeiten. Des Weiteren werden Praktiken fokussiert, die von den Sozialarbeiter/innen aktiv (und strategisch) zum Einsatz gebracht werden, um je nach praktischen Umständen eine angemessene Informiertheit zu erreichen (bzw. um im Nachhinein entsprechende Bemühungen nachweisen zu können). Die Sozialarbeiter/innen gewinnen Informationen über Gespräche mit ihren Adressat/innen, mit Hilfe von Hausbesuchen, über den Einsatz ambulanter Helfer/innen in den Familien, über kollegiale Beratungen und nicht zuletzt über die Einschätzungen von Expert/innen.
7
Es handelt sich bei diesen Aktivitäten um Formen der Fallarbeit, die sowohl eine sozialpädagogische als auch eine informationstheoretische Bedeutung haben Dabei balancieren sie Ambivalenzen professioneller Sozialarbeit (Schütze 1992, Schütze 1996), werden Teil familialer Konfigurationen (Retkowski und Schäuble 2010), beraten und stellen dabei »Klientenschaft« her (Hall et al. 2003), produzieren vielfältige Formen von Fürsorglichkeit (Wolff 1983) oder auch der (relationalen) Professionalität (Köngeter 2009). Im Folgenden werden jedoch die informationsverarbeitenden Aspekte sozialarbeiterischen Handelns hervorgehoben. Dies geschieht vor dem Hintergrund des hier verfolgten Interesses an Entscheidungsprozessen. Untersucht wird, wie Sozialarbeiter/innen Gelegenheiten produzieren, in denen sie Informationen bearbeiten und wie dabei gleichzeitig Fallkonstruktionen vorangebracht werden, die zur Grundlage von Entscheidungen gemacht werden können.
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6.1.1 Gespräche mit Eltern (und Kindern) Gespräche mit Eltern bzw. mit Kindern und Jugendlichen zu führen, ist ein integraler Bestandteil der Fallarbeit der Sozialarbeiter/innen.8 In den folgenden Analysen wird untersucht, wie Informationen in Elterngesprächen erzeugt und später für die Begründung von Entscheidungen genutzt werden. Deutlich wird dabei, dass und wie zur Feststellung der Angemessenheit möglicher Interventionen Gespräche notwendig werden, in denen die Sozialarbeiter/innen im Zusammenspiel mit den Klient/innen Informationen über den Fall (und damit den Fall selbst) erzeugen. Dies lässt sich auch an dem folgenden Ausschnitt beobachten. Die Szene ist dem Beobachtungsprotokoll einer Fallteamsitzung entnommen. Frau Anders, eine Sozialarbeiterin, schildert ein Gespräch, das sie mit einem Vater geführt hat: Ausschnitt 21 Frau Anders berichtet, der Vater habe gesagt, sein Sohn müsse besonders behandelt werden. Frau Anders steht auf und kniet sich hin. Sie sagt, der Vater habe gemeint, er würde in folgender Art mit seinem Sohn sprechen: Sie stützt sich auf einem Knie ab, hebt die Arme, die Hände zusammengefaltet über ihren Kopf,
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Der Beratungsauftrag des Jugendamtes wird gleichsam zu Beginn des maßgeblichen SGB VIII in § 1 Abs. 3 festgehalten. Hier heißt es, das Jugendamt solle »Eltern und andere Erziehungsberechtigte bei der Erziehung beraten und unterstützen.« In der sozialpädagogischen Fachdiskussion wird gleichwohl ein vermehrtes Einbeziehen der Adressat/innen gefordert. In Studien zur Partizipation wurde jedoch auf die Problematik der Umsetzung dieser Ansprüche hingewiesen bzw. lässt sich eine Kluft zwischen Anspruch und Realität erkennen (vgl. Pluto 2007, Wolff et al. 2013a). Besonders die mangelnde Partizipation von Kindern und Jugendlichen wurde vielfach kritisiert (vgl. Kap. 2.3.2). Während meiner Forschungsaufenthalte konnte ich kaum Gespräche mit Kindern beobachten. Wenn Kinder an Gesprächen beteiligt waren, so handelte es sich meist um Hilfeplangespräche, bei denen eine Beteiligung gerade kleiner Kinder schwierig zu sein scheint. Bei Kindern und Jugendlichen, die bereits etwas mehr in der Lage sind, sich an Tischgesprächen zu beteiligen, stellt sich häufig die Problematik, die Äußerungen der Kinder in Einklang mit den bereits getroffenen Festlegungen zu bringen, die z. B. auf einer Teamsitzung oder im Gespräch mit dem Chef vorgenommen wurden.
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und schaut zu ihren Händen auf. Der Vater habe gesagt, der Sohn müsse zu ihm [also zu seinem Vater] hinabschauen können, [sonst sei mit dem Sohn nicht zu reden]. Als Frau Anders das tut, schüttelt Herr Enger, ein anderer Sozialarbeiter, neben mir den Kopf. Er sagt so etwas wie: »Das gibt es doch gar nicht.« Frau Anders sagt, das habe in der Tat so stattgefunden. Im direkten Anschluss sagt einer der Sozialarbeiter, in der Familie liege offensichtlich eine »pathologische Mischung« vor, der Sohn habe den Vater entmachtet, da müsse man »dazwischenhauen«. Auch die Unterbringung des Kindes wurde von dem Mitarbeiter einer Familien- und Erziehungsberatungsstelle empfohlen. (B/6: Abs. 12)
Die Sozialarbeiterin in Ausschnitt 21, Frau Anders, nimmt hier Bezug auf ein Gespräch, das sie mit dem Vater zweier Söhne geführt hat. Sie aktualisiert einen Aspekt aus dem Verlauf des Gesprächs, indem sie eine Szene des Gesprächs theatral nachstellt bzw. re-inszeniert. In Reaktion auf die ReInszenierung durch Frau Anders zeigen sich die Anwesenden entrüstet: »gibt es doch gar nicht!« Zugleich zeigen die Anwesenden durch ihre überraschte Reaktion aber auch den Informationswert, die Relevanz des Berichts, für den weiteren Verlauf der Sitzung an. Die Betrachtung der Sequenz zeigt, wie die informative Lage im Fall verhandelt und Relevanzen in der Betrachtung des Falls gesetzt werden. Gleichfalls zeigt sich, wie die Behandlung des Gesprächs als Informationsgrundlage (überhaupt der Umgang mit Informationen) Selektionen erzwingt: Indem Frau Anders das Gespräch als Informationsbasis nutzt, nimmt sie Relevanzsetzungen vor. Sie spricht zunächst von diesem Gespräch, nicht von einem anderen. Es sind diese Aussagen und diese Interaktionsdynamiken, die sie auf Grundlage ihres Wissens über den Fall (und über Fälle im Allgemeinen) als relevant markiert. Dies passiert wohl auch aufgrund der Außergewöhnlichkeit der Situation. Die Verlässlichkeit der Information wird zudem von der Sozialarbeiterin untermauert: Sie bestätigt ihren erstaunten Kolleg/innen, dass dies so stattgefunden habe und unterstreicht den »Realitätsgehalt« der Information: Sie hat das Gespräch geführt. Sie war persönlich anwesend, hat selbst beobachtet, Vater und Sohn in der Interaktion erlebt und sie kann aus erster Hand, aus Erfahrung berichten.9 Zudem: welcher Vater würde ein-
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Das direkte Gespräch wird insofern als verlässliche Informationsquelle behandelt, die verlässliche Beschreibungen aus unmittelbarer Beobachtung ermöglicht.
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fach so eine solche Demütigung erfinden? Die eingebrachten Beobachtungen erhalten insofern eine größere Glaubwürdigkeit, ermöglichen aber auch die Lebendigkeit der Darstellung, die Frau Anders hier entwickelt. Die Beteiligten erarbeiten ein Bild des Falls, das weiteres Entscheiden im Blick hält und vorbereitet. Information über einen Einzelfall werden zunächst relevant gemacht und dann, über Diskussion und Nachfragen, verfestigt. Es entsteht eine, nur in dieser Situation verfügbare, situative Informationsbasis des Entscheidens. Die situativ produzierten Informationen werden zudem über Protokolle für einen späteren Zugriff (und für Dritte) verfügbar gemacht werden, in dem es z. B. im »Fallteamprotokoll« schriftlich fixiert wird.10 Einerseits wird deutlich, wie ein Kenntnisstand vom Fall situativ – und damit auch der Fall immer wieder neu (in und für die Situation) hervorgebracht wird. Andererseits zeigt die Situation: die Sozialarbeiter/innen arbeiten situations-übergreifend: Dass der Vater sich derart verhalten hat, können die Anwesenden, unterstützt durch die Dokumentation von Daten über den Fall (in Form der Protokolls), in Zukunft wissen, und dies wird daher möglicherweise auch bei weiteren Entscheidungen zu berücksichtigen sein.11 Deutlich wird zudem, dass das, was zwischen Sozialarbeiter/innen und Adressat/innen besprochen wird, von den Sozialarbeiter/innen zu späteren Zeitpunkten, in anderen Situationen, verwendet und nicht zuletzt auch zur Grundlage von Entscheidungen gemacht werden kann. Gespräche mit Eltern können von den Sozialarbeiter/innen, auch davon zeugt die obige Situation, genutzt werden, um Informationen über den Fall zu sammeln und in spätere Formen der Fallarbeit einzuspeisen. Welche Informationen sich ergeben, ist allerdings durch die Sozialarbeiter/innen nur bedingt vorhersehbar. Die Information ergibt sich erst im Verlauf der Interaktion und deren Interpretation. Im obigen Ausschnitt besteht sie z. B. in der Überraschung über das Hinknien und die Aussagen des Vaters. Denkbar wäre aber ebenso, dass das Gespräch von Frau Anders kaum neue In-
10 Eine Protokollierung der Gesprächsinhalte ist zumindest vorgeschrieben. Doch die schriftliche Fixierung erfordert weitere Selektionsprozesse, mit denen neue Schwerpunkte gesetzt werden, die sich von den situativen Schwerpunkten unterscheiden. Zudem bekommt das Protokoll die Form von Daten, die erst wieder durch Beobachtungsprozesse Informationswert erhalten. 11 Man könnte hier auch von trans-sequentiellen Prozessen sprechen (Scheffer 2014a).
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formationen ergeben hätte. Es hätte z. B. nur Altbekanntes und bereits Validiertes besprochen werden können.12 Gespräche mit Eltern haben jedoch Überraschungspotenzial: Sie stellen daher (mehr oder weniger ergiebige) Gelegenheiten dar, Informationen zu gewinnen und zu überprüfen. Wenn das Gespräch zur Informationsgewinnung genutzt wird und alles, was gesagt wird, von den Sozialarbeiter/innen in späteren Situationen zur Begründungen von Entscheidungen genutzt werden kann: Wie verträgt sich dies mit dem Anspruch die Adressat/innen (vertrauensvoll) zu beraten? Dieser Frage soll im nachfolgenden Abschnitt nachgegangen werden. 6.1.2 Exkurs: Beraterische und informationsverarbeitende Logiken im Elterngespräch Die folgenden Sequenzen zeigen, wie beraterische und informationsverarbeitende Logiken sich in Gesprächen mit Eltern abwechseln und wie beide Logiken typischerweise miteinander verwoben werden.13 Es handelt sich im Weiteren um eine längere Folge von Auszügen aus einem Beobachtungsprotokoll, das ein Beratungsgespräch dokumentiert. Frau Werner empfing ihre langjährige Klientin, Frau Meier, zum Gespräch. Frau Meier suchte Unterstützung in der Auseinandersetzung mit ihrem gewalttätigen Ehemann. Ausschnitt 22 Es ist Frau Meier, eine Klientin von Frau Werner, über die wir schon gestern sprachen. Sie ist dreißig Jahre alt und ihre vier Kinder wurden bereits durch Frau Werner untergebracht. Als sie hereinkommt, schaut sie auf den Boden, ihre rechte Hand ist bis zum Ellbogen im Gips. Sie berichtet, dass ihr Lebenspartner sie geschlagen habe. Sie habe eine dicke Beule, eine Gehirnerschütterung und eben den Gips. Sie zucke nun immer schon zusammen, wenn sich jemand schnell bewege. Frau Werner fragt, ob Frau Meier so etwas aus ihrer Lebensgeschichte bereits kenne. Diese bejaht das, auch früher in ihrer Jugend sei sie geschlagen worden. »Aha, da wiederholt sich etwas«, sagt Frau Werner. (B/2: Abs. 450)
12 Die Information wäre dann gewesen: Es gibt nichts Neues! 13 Das Problem ließe sich vermutlich auch als Ambivalenz von Hilfe und Kontrolle formulieren (vgl. Kap. 2.2.2). Damit wäre dann aber eine andere Problemebene, nicht die der Entscheidung, angesprochen.
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Die Szene beginnt mit der Herstellung einer klassischen Beratungssituation durch die Aufteilung der Rollen in eine »ratsuchende« und eine »ratgebende« Person14: Die Sozialarbeiterin, Frau Werner, begibt sich in die Rolle der zuhörenden, fragestellenden und beratenden Person. Frau Meier, die Klientin, klagt ihr Leid. Sie berichtet von der körperlichen Gewalt, die ihr Partner ihr gegenüber ausgeübt hat. Sie ist verletzt und macht auch psychisch einen niedergeschlagenen Eindruck. Frau Werner reagiert auf die Schilderungen mit einer Nachfrage, die an Formen psycho-sozialer Beratung erinnert. Sie versucht offenbar, die Klientin anzuregen, die Wiederholung eines generationalen oder biographischen Musters zu reflektieren. Frau Meier bestätigt nun in der Tat, dass sie als Jugendliche selbst geschlagen worden sei. Dies wird von der Sozialarbeiterin mit dem Kommentar versehen, dass sich »da [etwas] wiederholt«. Neben diese beraterischen Aktivitäten tritt die Frage nach der informativen Verwendbarkeit des Gesprächs für die weitere Fallbearbeitung: Ausschnitt 23 »So, jetzt habe ich noch eine Frage«, sagt Frau Werner. Sie fragt, inwieweit sie die Informationen, die ihr Frau Meier gab, im Gespräch mit dem Kindesvater verwenden dürfe: »Jetzt weiß ich ja, dass der Herr Meier sie verprügelt hat. »Ja, das hat er schon gemacht, als ich schwanger war!« erwidert Frau Meier. Frau Werner: »Die gemeinsame Sorge haben sie aber noch. [...] Wenn er da ist, würde ich ihn neutral fragen, ob etwas Besonderes, Erwähnenswertes passiert ist. Ich weiß jetzt nicht, was ich sagen darf«. (B/2: Abs. 456)
Frau Werner macht der Mutter hier deutlich, dass sie nun, durch den Verlauf des Gesprächs, Kenntnis von einem Sachverhalt erlangt hat, den sie nicht länger ignorieren kann. Die Aussagen der Mutter finden, einmal gemacht, Eingang in das einzelfallbezogene Wissen der Sozialarbeiterin: Frau Werner »weiß [...] jetzt«, dass Frau Meier von ihrem Mann verprügelt wurde. Dies erscheint für die weitere Fallbearbeitung relevant: Sie möchte dieses Wissen weiter verwenden und bittet Frau Meier daher um Erlaubnis, dies tun zu dürfen. Die im eher vertrauensvollen Rahmen des Beratungsge-
14 Vgl. zur »Form und Funktionen der Beratung« Fuchs und Mahler (2000).
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sprächs gemachten Aussagen sollen in der Zukunft gegenüber dem Kindesvater (und außerhalb der jetzigen Situation) verwendet werden.15 Frau Meier geht auf die Frage der Sozialarbeiterin zunächst nicht ein, sondern ergänzt ihren Bericht um die Information, dass Herr Meier sie bereits während der Schwangerschaft geschlagen habe. Diese dramatische Information wird nun von der Sozialarbeiterin implizit aufgenommen: Frau Werner thematisiert, dass Frau Meier immer noch die elterliche Sorge mit dem Vater teile, was sich als problematisch darstellt. Denn die gemeinsame Sorge bedeutet ja, dass ein Kontakt der Elternteile in Zukunft unvermeidlich bleibt (z. B. zur Übergabe der Kinder etc.). Die Mutter bringt mit ihren Schilderungen Frau Werner in die Situation, diese Information nicht (weiter) übergehen zu können. Zugleich gibt sie auch im Verlauf des Gespräches (vgl. B/2: 458-479) keine klare Äußerung dazu ab, ob die Sozialarbeiterin ihre Aussagen weiter verwenden darf oder nicht. Diese führt auf die Problematik zurück: Ausschnitt 24 Frau Werner sagt, »Ich möchte nicht, dass sie in eine neue Gefahr laufen!« Und da Frau Meier dies hier so darstelle, müsse sie die Informationen auch verwenden. Da komme sie »gar nicht umhin«. (B/2: Abs. 458)
Die Sozialarbeiterin macht nun deutlich, dass sie beabsichtigt, die erhaltene Information auch ohne Erlaubnis der Mutter in weiteren Prozessen der Fallarbeit (z. B. im Gespräch mit dem Vater) zu verwenden. Sie macht geltend, die Mutter durch Verwendung der Auskünfte schützen zu wollen. Die Sozialarbeiterin zeigt sich dabei in ihrer offiziellen Rolle: als Angestellte des Jugendamtes, die sich gewissen Festlegungen nicht entziehen kann. Sie sieht sich gezwungen, ihre Kenntnis von den Gewalttaten zu berücksichtigen. Sie komme »gar nicht umhin« dies zu tun, – selbst wenn Frau Meier dies nicht wünscht.16 Entscheidend ist hier, dass die Weitergabe von Infor-
15 Die Sozialarbeiterin geht ähnlich zu Frau Anders in Ausschnitt 21 trans-sequentiell (Scheffer 2008, 2014a) vor: sie bereitet eine Überbrückung der Grenze zwischen dieser Situation und einer möglichen nächsten vor. 16 Dies untermauert Frau Werner mit der Erklärung einer ethisch-persönlichen Verpflichtung: Sie wolle Frau Meier davor schützen, »in eine neue Gefahr [zu]
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mationen an die Sozialarbeiter/innen dazu führen kann, dass diese Verpflichtungen geltend gemacht werden, einmal »Gehörtes« entsprechend zu bearbeiten, selbst wenn dies gegen den Willen der Adressat/innen geschieht.17 Betrachten wir die letzten beiden Fälle in einer Zusammenschau, so wird deutlich, wie Gespräche mit Eltern von den Sozialarbeiter/innen genutzt werden, um Informationen zielgerichtet zu gewinnen, zugleich aber auch Informationen ungesteuert anfallen, die für die weitere Fallarbeit von Bedeutung sind. Kennzeichnend ist dabei die doppelte Fokussierung des Beratungsgesprächs: Einerseits werden beraterische Situationen hergestellt, so wie es auch der gesetzliche Auftrag vorsieht (was zu Mischformen der Beratung wie in Ausschnitt 23 führen kann). Andererseits besteht eine wichtige Funktion des Elterngesprächs für die Sozialarbeiter/innen des Amtes aber auch darin, (mehr oder weniger beiläufig) Informationen zu gewinnen und diese für spätere Zeitpunkte verfügbar zu machen. Die Praktik des Einführens von Informationen (aus Gesprächen) in weitere amtliche Vorgänge impliziert dabei, dass die Sozialarbeiter/innen ihren Adressat/innen nur einen eingeschränkten Vertrauensschutz gewähren können. Die Fachkräfte stehen vor der Problematik, das Vertrauen ihrer Klienten erwerben zu müssen, um Gespräche über empfindliche Problematiken überhaupt in Gang zu bringen (z. B. über häusliche Gewalt oder Kindesmisshandlung). Nur so können Informationen entstehen, die das Bild des Falls konkretisieren, und die für die Rechtfertigung von Entscheidungen benötigt werden.18 Solche intimen Gespräche setzen aber eine gewisse Auskunftswilligkeit seitens der Klient/innen und daher auch einen Vertrauensschutz seitens der Sozialarbeiter/innen voraus. Die Sozialarbeiter/innen
laufen«. Dabei drückt sich neben ihrer amtlichen Verpflichtung eine persönliche Verbundenheit aus, die ebenfalls zum Verwenden des Wissens verpflichtet. 17 Man könnte allerdings auch sagen, dass die Mutter in diesem Fall die Entscheidung über die weitere Verwendung ihres Wissens der Sozialarbeiterin überließ. Sie widerspricht nicht direkt und verstärkt zudem durch die weitere Aufzählung von Gewalttaten den Eindruck, dass die Handlungen von Herrn Meier nicht weiter ignoriert werden dürften, was den Druck auf die Sozialarbeiterin erhöht (unter Verwendung der erhaltenen Informationen) tätig zu werden. 18 Wobei die Nicht-Auskunftswilligkeit der Klient/innen selbst zur Information werden kann, nämlich z. B. ein Hinweis auf mangelnde Kooperationsbereitschaft (vgl. Kap. 7.2.4).
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wissen aber darum, dass sie diesen nur eingeschränkt gewähren können.19 Dies kann, z. B. auch im Fall von Frau Anders, bedeuten, dass Informationen zur Begründung von Interventionen weitergegeben werden müssen, die möglicherweise zur Begründung von Interventionen genutzt werden, die sich durchaus gegen den Willen der Eltern richten können (vgl. »da müsste man dazwischen hauen«, »das ist eine pathologische Mischung«, Ausschnitt 21). Die Klienten/innen verlieren dabei die Kontrolle über die von ihnen gemachten Mitteilungen. Das Beobachtete kann in der Fallarbeit von den Sozialarbeiter/innen auf die eine oder andere Weise – und eben auch gegen die Klient/innen selbst – verwendet werden. Die Adressat/innen sind zwar die Urheber von Aussagekomplexen, können aber nicht über die Rezeption ihrer Aussagen bestimmen20. Die Adressat/innen müssen insofern damit rechnen, dass alles, was von ihnen gesagt und getan wird, als Information behandelt und (auf die eine oder andere Weise) zum Gegenstand von Entscheidungen gemacht werden kann. 6.1.3 Fallakten Was in Gesprächen mit Eltern gesagt und getan wurde, landet gewöhnlich, über einen Vermerk, ein Protokoll oder ein ähnliches Dokument, früher oder später in der Fallakte. Die Fallakte ist insofern Ablage-Ort für Daten
19 Hierin offenbart sich eine Problematik der im Kontext des Jugendamtes angebotenen Beratung. Gewöhnlich beruht Beratung ja gerade darauf, dass die Ratsuchenden vertrauen können, dass sich aus der Beratung keine Sanktionen ergeben – sogar wenn sie der beratenden Person von einer Straftat berichten würden. Diese Sanktions- und Straffreiheit kann den Klient/innen des Jugendamtes jedoch offenbar nicht zugesichert werden. Man kann daher nur annehmen, dass die Klient/innen dies in ihre Handlungen und Unterlassungen einrechnen, z. B. nur mit beschränkter Offenheit berichten. Dies dürfte gerade bei Fällen von Kindesmisshandlung, die einen Straftatbestand darstellt, die Beratung (der möglichen Gewalttäter) erheblich erschweren. 20 Dies erinnert an die Figur des Autors, der die Kontrolle über sein Werk verliert, welchem dann andere Aussagen zugeschrieben werden können, auch solche, die der Autor möglicherweise nicht intendierte (Foucault 2003: 20-22). Im Unterschied zur Konstellation zwischen Autorin und Leserin verfügen die Sozialarbeiter/innen jedoch über Machtressourcen, die das Leben der Adressat/innen betreffen.
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und Informationen. Auch persönliche Daten wie Telefonnummern oder Anschriften (die gemeinhin auf einem »Personenblatt« vermerkt sind) werden hier abgelegt und können dann wieder nachgesehen werden (vgl. B/3: Abs. 1). Die Akte dient als Informationsgenerator, über den die Sozialarbeiter/innen ihr Wissen über den Fall auffrischen und Informationen für möglicherweise anstehende Entscheidungen gewinnen. Im Alltag des Amtes werden Akten gewöhnlich etwa vor Besprechungen »gezogen«, und dann kurz oder auch etwas länger studiert (B/2: Abs. 380, B/2: Abs. 813), zum Termin bereitgehalten bzw. mitgenommen (vgl. B/2: Abs. 674, 686). Anschließend und nach wichtigen Vorkommnissen werden Ergänzungen vorgenommen (B/2: Abs. 423, 885). Während der ethnographischen Arbeit fragte ich die Sozialarbeiter/innen in Interviews häufig nach dem weiteren Verlauf »ihrer« Fälle. Die Sozialarbeiter/innen nahmen daraufhin gewöhnlich die entsprechenden Akten zur Hand, sie blätterten, lasen und erzählten, um den Fall und seine Bearbeitung selbst wieder nachzuvollziehen – und nachvollziehbar zu machen (vgl. B/2: Abs. 380-383, I/7: Abs. 67). So auch in der folgenden Szene, die bereits weiter oben in anderer Hinsicht untersucht wurde: Ausschnitt 25 Frau Behrens nimmt eine Akte aus der Halterung im Aktenschrank. […] Frau Gabler, ihre Kollegin, habe das Personalblatt aufgenommen, eine allgemeine Beratung gemacht und gesagt, dass das Jugendamt nicht zuständig ist, sondern sie, also die Adressat/innen, müssten zum Jobcenter. Sie hätte aber eigentlich zunächst die Zuständigkeit klären müssen. (B/2: Abs. 702-705)
Erkennen lässt sich an dieser Sequenz, wie Frau Behrens die Akte nutzt, um ihr Wissen über den Fall aufzufrischen. Die Akte dient als Ressource, sie bietet zunächst nur Daten, Zeichen, Wörter, Sätze, Abbildungen, die dann aber über die Interpretationen als Informationen relevant gemacht werden und dergestalt in das Wissen der Sozialarbeiter/innen (und ggf. später auch ihrer Teamkolleg/innen) Eingang finden kann. Mit Hilfe der gesammelten Dokumente kann Frau Behrens z. B. zeigen, wie es zum Zuständigkeitswechsel kam. Zudem können Informationen für den möglichen weiteren Verlauf der Bearbeitung gewonnen werden. Die Bemerkung »hat eine allgemeine Beratung gemacht« zeigt nicht nur, dass hier bereits etwas getan
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wurde, sondern auch, dass an dieser Intervention im Weiteren anzusetzen wäre. Die Akte liefert zudem Informationen für die retrospektive Betrachtung bisheriger Entscheidungen. Frau Behrens markiert etwa, dass sich ihre Kolleginnen nicht nach der Vorschrift verhalten haben: Ihre Kolleg/innen waren tätig geworden, obwohl keine Zuständigkeit bestand. Dies scheint aber nicht weiter dramatisch. Anders zu bewerten wäre dies, auch anhand der Akte, wenn es z. B. zu einer dramatischen Entwicklung im Fall – schlimmstenfalls zum Tod eines Kindes – gekommen wäre. Die Frage, warum die Bearbeitung (vgl. Ausschnitt 25) ohne Zuständigkeitsprüfung vorgenommen wurde, müsste dann aus einem anderen Blickwinkel (nämlich dem der gescheiterten Fallbearbeitung) gesehen werden. Die bisherigen Betrachtungen deuteten bereits den doppeltem Charakter der Dokumentationsarbeit im Kontext des Jugendamtes an: Sie kann einerseits nützlich sein, Informationen über den Fall und seine bisherige Bearbeitung zu gewinnen, diese bereitzuhalten, und mithin Informiertheit, bezogen auf den Fall, immer wieder (neu) zu schaffen, gleichermaßen Schritte der Fallarbeit zu begründen. Andererseits kann das, was in der Akte vermerkt ist, zu späteren Zeitpunkten als Information genutzt werden, um die vorgenommene Bearbeitung des Falls kritisch zu hinterfragen (vgl. zum Umgang mit Informationen in der Dokumentationsarbeit ausführlich entsprechenden Abschnitt in dieser Arbeit, Kap. 6.2). 6.1.4 Hausbesuche Die Sozialarbeiter/innen wissen zu schätzen, was ihnen die Akten »schwarz auf weiß« liefern, betonen jedoch häufig auch, sich »vor Ort« umsehen zu wollen. Hausbesuche gehören seit den Anfängen der Sozialarbeit zu den traditionsreichen Vorgehensweisen professioneller Sozialarbeit.21 Im Kontext des Jugendamtes sind Hausbesuche zur Gewinnung von Informationen insbesondere bei Fällen mit vermuteter Kindeswohlgefährdung vorgesehen.
21 Zur Geschichte des Hausbesuches als sozialarbeiterische Handlungsform vgl. Galuske und Müller (2011). Die Bedeutung des Hausbesuches im Kontext des Amtes wird durch die Änderungen des §8a Absatz 1 Satz 2 SGB VIII noch einmal gestärkt: Die Mitarbeiter/innen des Amtes werden hier aufgefordert, sich über den Hausbesuch »einen unmittelbaren Eindruck von dem Kind und von seiner persönlichen Umgebung zu verschaffen« (ebd.).
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Hierzu ein Auszug aus dem Bericht einer Sozialarbeiterin, die von der Durchführung eines Hausbesuches berichtet.22 Ausschnitt 26 Familie mit drei Kindern, […] der Partner der Frau/ die Kinder waren nicht von ihm, der Partner der Frau der hatte einen Einzelfallhelfer übers Sozialamt und dieser Einzelfallhelfer hatte sich hier gemeldet im Namen der Familie, so: Hilfe wir brauchen Hilfe. […] Und dann war dann die Fallverteilung an einem Dienstag und am Mittwoch bin ich hin/ hingelaufen. Und da hat ein Blick gereicht, dass ich dachte: ach du meine Scheiße. (I/6: Abs. 32)
Der Hausbesuch liefert Informationen, die für die weitere Fallarbeit relevant werden. Am Dienstag übernimmt Frau Baumann den Fall, sie erhält eine alarmierende Information über den Einzelfallhelfer und ist am Mittwoch unverzüglich »hingelaufen«.23 Ohne ihr aktives Vorgehen wäre ihr die bedenkliche Konstellation möglicherweise entgangen. Die Sozialarbeiterin ist aktiv geworden. Ihr Handeln drückt Gestaltungswillen und verantwortungsvolles Interesse am Fall aus. Im betreffenden Haushalt erhält sie einen Eindruck von der katastrophalen Situation – und davon, dass es so wie bisher nicht weitergehen kann (nicht mit der Wohnung und nicht mit dem Fall). Die Eindrücklichkeit entsteht erst durch den Besuch, bei dem letztlich ein Blick genügt. Man kann sehen, wie Frau Baumann den Fall als Konstellation behandelt, mit der etwas getan, über die aber auch etwas gewusst werden muss. Der Hausbesuch ist die Lösung für beide Probleme: Einen Hausbesuch durchzuführen bedeutet, etwas mit dem Fall zu tun, vor allem aber auch etwas über den Fall herauszufinden. Der Hausbesuch stellt eine Möglichkeit dar, zwei Dinge auf einmal zu erledigen: auf Handlungsdruck zu reagieren und zugleich etwas über den Fall zu erfahren. Im Folgenden wird noch etwas genauer betrachtet, wie der Hausbesuch von den Sozialarbeiter/innen zur Herstellung von Informiertheit genutzt wird.
22 Teile des Ausschnittes wurden bereits in Kap. 5.2.2, allerdings in anderer Hinsicht, untersucht. 23 Die Bemerkung, dass die Familie in der Nähe des Amtes lebt, lässt vermuten, dass sie den Besuch bei einer größeren Entfernung möglicherweise erst später unternommen hätte. Dies ändert jedoch nichts daran, dass der Hausbesuch hier grundsätzlich als geeignetes Mittel zur Informationsgewinnung behandelt wird.
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Ausschnitt 27 Also letztlich, wie sich das anfühlt, also das ist auch ein großer Unterschied, finde ich für mich persönlich, so, auch für das Diagnostische, mal vor Ort zu gehen, einen Hausbesuch, und zu gucken, wie ist das, ja, die im Kontakt zu erleben. (I/1: Abs. 23)
Der Hausbesuch gibt den Sozialarbeiter/innen die Möglichkeit, »vor Ort zu gehen« und sich einen empirisch gesättigten Eindruck zu verschaffen. Die Sozialarbeiter/innen können nach der Durchführung eines solchen Besuchs, wie im obigen Ausschnitt, davon berichten, was sie dort und mit eigenen Augen gesehen haben (z. B. den katastrophalen Zustand der Wohnung in Ausschnitt 20).24 Dies erlaubt es, von einer verlässlicheren Entscheidungsgrundlage auszugehen bzw. die Einschätzung, »das Diagnostische«, zu stärken und so eine angemessene Informiertheit zu erreichen. Dies hat zwei Aspekte. Der Hausbesuch ermöglicht, zu sehen, wie die Situation in der Familie »ist« (vgl. auch Ausschnitt 26, in dem der Sozialarbeiterin ein Blick »reicht«). Der Eindruck bekommt etwas Faktisches – und hierzu genügt mitunter, wie im obigen Ausschnitt, schon ein einziger Blick. Dies bezieht sich einerseits auf das Wohnumfeld. Andererseits besteht die Möglichkeit, die Familie – unter der besonderen Bedingung des Hausbesuchs – »im Kontakt zu erleben«. Die Interaktionen der Erziehungsberechtigten untereinander sowie Bezugnahme auf ihre Kinder werden ebenso erlebbar, wie der Kontakt der Adressat/innen mit den Mitarbeiter/innen. Wie reagieren die Eltern auf die Situation des Besuches und die Beobachtung durch Mitarbeiter/innen des Amtes? Die Eckdaten, die die Sozialarbeiterin z. B. durch Dritte erhält, werden durch eigene, »persönliche« Eindrücke ergänzt, was »das Diagnostische« stärkt. Besondere Bedeutung hat dabei der sozialarbeiterische Blick: Dem mit eigenen Augen vor Ort Gesehenen wird eine besondere Verlässlichkeit zugeschrieben.25
24 In dieser Form des empirischen Berichts nutzen die Sozialarbeiter/innen einen ähnlichen Plausibilisierungsmechanismus wie ein Ethnograph, der für sich in Anspruch nimmt, einen solchen, durch eigene Erfahrung und Beobachtung gesättigten Bericht liefern zu können. 25 Und das, was gesehen wurde, das kann gewusst werden und darüber kann entschieden werden, für den Fall der Gerichtsbarkeit, vgl. Lepsius (2006).
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Eine Eigenheit des Hausbesuchs soll hier noch betrachtet werden, nämlich die Unterscheidung von angekündigten und unangekündigten Hausbesuchen: In der Regel werden die Hausbesuche durch die Sozialarbeiter/innen mit Termin und Uhrzeit angekündigt. Dies gewährt den besuchten Familien die Möglichkeit, sich auf diese Besuche einzustellen und einen zumindest partiellen Schutz ihrer Privatsphäre aufrechtzuerhalten. Die Sozialarbeiter/innen der Ämter wissen jedoch darum, dass die Klient/innen ihrerseits Vorkehrungen treffen (können), um den Eindruck, den »Blick« der Sozialarbeiter/innen auf ihre Familie und Wohnverhältnisse günstig zu beeinflussen. Zudem kommt es vor, dass Familien sich den Besuchen verweigern, den Sozialarbeiter/innen keinen »Einblick« gewähren und z. B. einfach nicht öffnen, wenn die Sozialarbeiter/innen vor der Tür stehen. Die Sozialarbeiter/innen greifen daher zu dem Mittel unangekündigter Hausbesuche, um solche Gegenstrategien möglichst auszuschließen. Hierzu folgt die Schilderung einer Sozialarbeiterin, nachdem der Beobachter nach dem Aufenthalt eines Jugendlichen gefragt hatte. Ausschnitt 28 Der wird bei der Mutter sein. Ich habe einen Hausbesuch gemacht, einen unangemeldeten, hatte vorher geschrieben, eingeladen und so weiter, und manchmal ist es so, wo ich denke, zweimal klingeln. Das haben die manchmal als Zeichen, Bekannte oder Freunde. Und da bin ich schon oftmals reingekommen einfach, so auf die Art. Ich bin auch reingekommen, (.) ne? Auf den Namen und dann hat mir jemand geöffnet. Und oben ist keine Tür aufgegangen, aber es war so ein ganz leises Rascheln. Ganz leise so. Da dachte ich, ja. Oder man spürt auch, wenn einer hinter der Tür steht oder meint zu spüren. Aber ich denke, ich war mir sehr sicher. Ja, er hat nicht aufgemacht. Also da sind dann auch so die, die, die Endpunkte, was ein Jugendamt machen kann und was sie nicht mehr machen können. (I/5: Abs. 192-195)
Ähnlich wie in den bereits analysierten Ausschnitten wird der Hausbesuch hier als Option zur weiteren Aufklärung des Falls konzeptioniert: Er soll dazu dienen, den Aufenthaltsort eines Jugendlichen, Murat, festzustellen. Die Sozialarbeiterin vermutet den Jungen im Haushalt seiner Mutter. Der Hausbesuch wird »unangemeldet« durchgeführt, wodurch mögliche Vorbereitungen der Mutter unterbunden werden sollen bzw. wie hier das »Reinkommen« sichergestellt wird. Zudem schildert die Sozialarbeiterin, wie sie
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sich versucht, durch das Mittel des doppelten Klingel-Signals, einen zusätzlichen Überraschungseffekt zu erreichen versucht. Sie bemüht sich, überhaupt Zugang zu finden, um dann Informationen über die häusliche Situation gewinnen zu können. Der nicht angemeldete Hausbesuch verspricht zudem zuverlässiger zur Informiertheit der Sozialarbeiter/innen beizutragen: Wäre der Hausbesuch angekündigt gewesen, so hätten sich Murat und seine Mutter vorbereiten, z. B. eventuelle Hinweise auf den Aufenthalt des Jungen in der Wohnung entfernen und Murat selbst für die Zeit des Besuchs an einem anderen Ort unterbringen können. Das Nicht-Anmelden soll die Beeinflussung der Beobachtungssituation seitens der Klienten (mithin den Beobachtereffekt) ausschalten. In der analysierten Szene gelingt dies jedoch nur bedingt. Die Sozialarbeiterin gelangt zwar bis vor die Wohnungstür, jedoch bekommt sie hier keinen Zutritt zur Wohnung, was das Anliegen der Klärung des Aufenthaltsortes von Murat scheitern lässt. In der zusammenfassenden Betrachtung wird deutlich, dass Hausbesuche zwar verlässliche Informationen liefern können, die z. B. aktenförmiges Wissen ergänzen und durch eine empirische Sättigung bzw. durch die Form des »Vor-Ort-Gehens« überzeugen können. Andererseits ist der Hausbesuch mit Blick auf die Bereitstellung von Informationen gewissen Beschränkungen unterlegen, etwa durch die Problematik des Zugangs, aber auch durch die Möglichkeit einer Vorwegnahme der Besuchssituation (und dadurch möglicherweise »verfälschten« Informationen). Zudem handelt es sich – betrachtet man die An- und Abfahrtzeiten – um eine sehr zeitaufwendige Option der Fallbearbeitung, die daher nur in besonderen Situationen gerechtfertigt erscheint.26 Eine weniger aufwendige Möglichkeit besteht beispielsweise Gesprächen unter Kolleg/innen, die im nachfolgend exemplarisch untersucht werden.
26 Der Hausbesuch ist daher eine Informationsgelegenheit unter vielen, dessen Besonderheit darin liegt, einen Eindruck mit eigenen Augen vor Ort zu gewinnen bzw. im Nachhinein angeben zu können, die Familie erlebt und sich einen eigenen Eindruck gemacht zu haben. Die Fallarbeit kann dann auf den Informationen aufsetzen, die beim Hausbesuch gewonnen werden und eine gewisse empirische Sättigung behaupten, insofern die Sozialarbeiterin gesehen hat, was los ist (vgl. hierzu Lepsius 2006, die für den Fall des Gerichtsverfahrens auf die Bedeutung des Sehens, als vermeintlich zuverlässigsten der fünf Sinne, aufmerksam macht).
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6.1.5 Familienhilfe und andere ambulante Maßnahmen Die Sozialarbeiter/innen des Jugendamtes entwickeln Strategien in der Bearbeitung von Fällen mit (vermuteter) Kindeswohlgefährdung, über aktuelle Entwicklungen informiert zu werden, auch ohne immer selbst direkte Beobachtungen in den Familien vorzunehmen. Über Familien, in die sie selbst nur einen beschränkten Einblick haben, berichten gewöhnlich andere Sozialarbeiter/innen, die im Auftrag des Amtes in den Familien arbeiten. Familienhelfer/innen verfassen halbjährlich schriftliche Berichte. Aber auch aktuelle Mitteilungen, z. B. telefonische Nachrichten, sind gewöhnlich von zentraler Bedeutung für die Arbeit in den untersuchten Fachdiensten. Die folgende Schilderung von Herrn Griesig veranschaulicht, wie Sozialarbeiter/innen ambulante Hilfen, vor allem die sozialpädagogische Familienhilfe, nutzen, um über aktuelle Entwicklungen auf dem Laufenden zu bleiben und ihre Fallbearbeitung »informiert« zu halten. Ausschnitt 29 Frau Salle und ich, ja, wurden um zehn Uhr von einem Familienhelfer angerufen, der gesagt hat: »Ich gehe hier aus dieser Familie raus, ich sage Ihnen, ich werde auch nie wieder in diese Wohnung zurückkehren, das ist grauenvoll, das ist überhaupt nicht auszuhalten, die Wohnung, in der Wohnung sind also Tausende von Fliegen, im Wohnzimmer, ähm in der Küche befinden sich zwei Kampfhunde, der Kleine isst Hundefutter – ne, der Große isst Hundefutter, äh, wird nachts nicht trockengelegt, die Wohnung ist total vermistet, die Mutter ist, ja, irgendwie nicht orientiert und so weiter und so fort.« (I/13: Abs. 193)
Die von dem ambulanten Helfer weitergebenen Informationen veranlassen die Intervention des Amtes. Aus dem Bericht ergibt sich ein Fall-Szenario, in dem die Kinder (die zu diesem Zeitpunkt noch in der Familie leben) als gefährdet erscheinen. Dass »der Große« Hundefutter isst, weist auf mangelhafte Ernährung, möglicherweise auf entmenschlichende Behandlung hin. Die Wohnung mit den »Tausenden Fliegen« verdeutlicht in der Erzählung gleichfalls die Unfähigkeit der Eltern, die Wohnung in einem hygienisch vertretbaren Zustand zu halten. Ein weiterer Hinweis auf mangelnde hygienische Versorgung und Alltagsbewältigung findet sich darin, dass die Mutter das Kind in der Nacht nicht ausreichend mit Windeln versorgt (»nicht trockengelegt«). Die Wohnung dient als Metapher für die allgemei-
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ne Verfassung der Mutter. Die Wohnung ist »mistig« und chaotisch, die Mutter desorientiert. Hinzu kommen noch die Kampfhunde, die ebenfalls eine mögliche Bedrohung, gerade für die kleinen Kinder, darstellen. Dass der Familienhelfer die Bearbeitung des Falls aufkündigt, verschärft den Eindruck einer möglichen Gefährdung.27 Herr Griesig stellt dar, dass er durch den Familienhelfer von einem immensen Bedrohungsszenario erfuhr. Selbst, wenn noch kein diesbezüglicher Akteneintrag bzw. kein ausdrückliches Ersuchen der Familienhilfe vorliegt, dass das Jugendamt einschreiten muss, bildet der Anruf den Ausgangspunkt für eine notwendige weitere Fallbearbeitung. Alles, was Herr Griesig tut, kann nunmehr vor dem Hintergrund der ihm zurechenbaren neu eingeworbenen Informationen gesehen und beurteilt werden. Die häusliche Situation stellt sich als dramatisch dar. Zudem haben bereits vom Amt angewiesene Maßnahmen nicht zur Lösung der Problematik führen können. Das Scheitern des Familienhelfers verschärft den Eindruck, dass möglicherweise eine problematische Konstellation vorliegt (und den Eindruck der Notwendigkeit einer unmittelbaren Reaktion). Das Misslingen der Hilfemaßnahme wird so selbst wieder zur Information, die für die weitere Fallbearbeitung relevant ist.28 Von all dem weiß der Zuständige nun »offi-
27 Diese Kombination aus mangelnder Alltagsbewältigung, schlechter hygienischer Versorgung und der Bedrohung durch die Kampfhunde erinnert zudem an mediale Katastrophenszenarien, in denen Kinder schließlich verhungerten oder anderweitig zu Tode kamen – und in denen das Jugendamt für den Tod der Kinder verantwortlich gemacht wurde. 28 Die gefährliche Situation besteht trotz Familienhilfe weiter. Dies könnte dem Familienhelfer zugeschrieben werden, dem es möglicherweise nicht gelang, mit der Familie einen Kontakt aufzubauen. Den Sozialarbeiter/innen stellt sich aber mindestens mit ebenso großer Dringlichkeit die Frage, was die gescheiterte Hilfe über die Mutter und die familiäre Konstellation aussagt: Hat die Mutter die Kooperation verweigert? Oder ist sie trotz Familienhilfe nicht dazu in der Lage gewesen, ihre Wohnung in Ordnung zu halten und ihre Kinder zu schützen? Dies bleibt hier unklar. Doch deutlich wird, dass die durch den Helfer einseitig abgebrochene Hilfe nicht nur ein Problem darstellt, weil nun geklärt werden muss, wer die Familie weiter betreuen könnte, sondern der Umstand wird zur Aussage über die Mutter und den Fall: Es liegt nun ein Fall vor, indem eine Mutter eine Hilfe abgebrochen hat. Es geht in dieser Konstellation daher nicht nur um die beschriebenen Problematiken des Haushalts, der Ernährung oder der
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ziell« und wird dies in der zukünftigen Fallbearbeitung zu berücksichtigen haben. Das oben dargestellte Szenario, inklusive dem Scheitern der Familienhilfe, könnte ohne weiteres, so sagt es Herr Griesig im Verlauf des Interviews zumindest, zur vorläufigen Inobhutnahme der Kinder durch das Jugendamt führen (»Das wäre eine Situation, wo ich sage, 80 Prozent der Kollegen hätten sofort die Kinder dort rausgenommen.« I/13: 193 ff.). Interessanterweise entwickelt er aber eine Alternative zur Fremdunterbringung. Er schildert, dass er mit der Mutter einen »Tageskontrakt« vereinbarte. Die Mutter verpflichtete sich dazu, die Wohnung bis zum Abend in einen besseren Zustand zu bringen. Herr Griesig kündigt an, dies am Abend per Hausbesuch zu kontrollieren. Die Mutter setzt die Vereinbarung mit Hilfe der Nachbarn (»das ganze Haus zusammengetrommelt«) erfolgreich um. Den weiteren Verlauf beschreibt Herr Griesig im untenstehenden Abschnitt wie folgt: Ausschnitt 30 Also es war richtig schön. Und wir haben abends auch gleich einen kontrollierenden Familienhelfer mitgebracht, der also darauf achten sollte, dass die Situation nicht wieder eskaliert. Ja? Das war so eine Geschichte, wo man/ wo es, denke ich, sehr unterschiedliche Sichten darauf gegeben hat. In Bezug auf: Wir lassen die Kinder da. (I/13: Abs.193)
Das »Contracting«, wie es auch in therapeutischer Arbeit Verwendung findet, wird hier unter etwas anderen Vorzeichen verwendet. Typischerweise eignet sich das Setzen von Auflagen und deren Prüfung zum Erzeugen von Information (vgl. I/1: 45-49): Hält sich die entsprechende Person an den Kontrakt oder bricht sie ihn? Mit der Einhaltung der Selbstverpflichtung zeigt die Mutter sich (zumindest in dieser Situation) als bereitwillige Kooperationspartnerin: Sie geht eine Vereinbarung ein und setzt sie um. Zugleich ist die Auflage auf eine konkrete Verbesserung der familiären Situation gerichtet. Dies kann dann im Überprüfen der Auflage, z. B. zusammen mit dem neu hinzugekommenen Familienhelfer, amtlich nach dem VierAugen-Prinzip festgestellt werden.
Hygiene, sondern vor allem um einen Fall, in dem bereits eine Familienhilfe gescheitert ist oder sich als nicht ausreichende Maßnahme erwies.
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Die Fallgeschichte nimmt eine Wendung zum Positiven, es wird verständlich, warum trotz aller beunruhigenden Faktoren doch keine Unterbringung notwendig ist. Dass es ihr gelingt, die »mistige« Wohnung mit den »Tausenden« Fliegen in einen verbesserten Zustand zu versetzen, ermöglicht die Unterstellung, dass die Mutter doch zur Alltagsbewältigung in der Lage ist – zumindest, wenn sie durch die Sozialarbeiter/innen des Jugendamtes dazu angehalten und »engmaschig« kontrolliert wird. Die Tatsache, dass die Nachbarn unterstützten, verweist zudem auf die Fähigkeit der Mutter, sich im Notfall, der hier durch die Verwahrlosung der Wohnung zusammen mit dem Ultimatum des Jugendamtes eingetreten war, Hilfe aus dem sozialen Nahraum zu organisieren. Dies alles sind Informationen, die eine Geschichte mit positivem Ausgang andeuten und daher die Entscheidung (»wir lassen die Kinder da«) für einen potenziellen Dritten vertretbar erscheinen lassen können. Insbesondere der »kontrollierende Familienhelfer«, den der Sozialarbeiter mitbringt, nimmt hier eine zentrale Position ein. Der Helfer wird zum verlängerten Arm des Amtes bzw. wird mit ihm ein Beobachtungspunkt in der Familie »installiert«, von dem aus eine Beobachtung der Familie möglich ist. Der Familienhelfer wird darauf »achten«, dass es nicht zu einer weiteren problematischen Entwicklung kommt und die Mitarbeiter/innen des Amtes können davon ausgehen, von solch einer Entwicklung früher oder später Kenntnis zu erlangen. Immerhin ist die Mutter bereit, wieder eine Familienhilfe anzunehmen, zeigt sich insofern kooperationsbereit. Vor allem sichert die neu eingerichtete Familienhilfe jedoch regelmäßige Informationen über die Entwicklungen in der Familie. Dadurch kann der Sozialarbeiter auch sein Bemühen nachweisen, zu einer validen Einschätzung der Situation zu kommen. Dies scheint eine gewisse Sicherheit in der Beobachtung des Falls zu versprechen, die geeignet ist die Entscheidung, »wir lassen die Kinder drin« zu begründen. Dass der Familienhelfer darauf »achten« soll, dass sich keine (neue) Eskalation ergibt, lässt sich zudem in zweierlei Hinsicht verstehen: Einerseits soll er über potenziell eskalierende Entwicklungen, sei es in der Mutter-Kind Beziehung oder in der Gestaltung des Haushaltes, berichten. Andererseits hat die Anwesenheit des Familienhelfers (und die Zusammenarbeit mit dem Jugendamt) aber auch disziplinierende Funktion: Der Familienhelfer kann direkt darauf hinwirken, dass die familiäre Situation sich in akzeptabler Weise gestaltet: z. B. in der Form, dass das Kind kein Katzenfutter mehr isst oder das Neugeborene nachts gewickelt wird. Allein der
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prüfende Blick des Familienhelfers als »verlängerter Blick« des Jugendamtes wirkt schon disziplinierend. Diese Konstellation des stellvertretenden Sehens in die Familie (über die Familienhelfer als Aussichtspunkt) erinnert an das Panoptikum, wie Foucault (1977) es beschreibt. Die Beobachteten (die Familien) müssen damit rechnen, jederzeit und in jeder Hinsicht beobachtet zu werden (vgl. auch Kap. 5.1.4).29 Die Klient/innen können nicht wissen, welche Informationen über sie gesammelt, in welcher Hinsicht diese selektiert und ausgewertet werden. Dass aber Informationen über sie gesammelt und diese ggf. an das Amt weitergegeben werden, darum wissen die Familien. Ein solches Arrangement ist natürlich darauf ausgerichtet, dass die Eltern angesichts der fürsorglichen Beobachtung bzw. »Belagerung« beginnen, zu Formen der Selbstdisziplinierung überzugehen. Bezogen auf das Beispiel wird die Mutter sich in Zukunft möglicherweise anders verhalten, da sie um die Anwesenheit des Familienhelfers und seines prüfenden Blicks weiß. Lässt sie Selbstdisziplin vermissen, muss sie mit entsprechenden Informationen des Familienhelfers an das Jugendamt, im Extremfall sogar mit der Sanktion rechnen, dass die Kinder aus der Familie genommen werden. 6.1.6 Kollegiale Beratungen Einerseits fordern Gespräche unter Kolleg/innen die fallzuständigen Sozialarbeiter/innen heraus, ihre Fallbearbeitung nachvollziehbar darzulegen, andererseits sind sie Gelegenheiten, Informationen über Fälle einzuwerben und zu verdichten. Einen Fall derart zu präsentieren, setzt Informationen voraus und stellt sie gleichermaßen neu zusammen sowie letztlich auch für die weitere Bearbeitung zur Verfügung. Auf die informationsverarbeitenden Aspekte der kollegialen Beratung beziehen sich die folgenden Ausführungen. Der nächste Ausschnitt ist einem Beobachtungsprotokoll entnommen, dass eine Fallteamsitzung dokumentiert. Nachdem die fallführende Sozial-
29 Allerdings kommt das Panoptikum hier nicht zur Vollendung. Für viele Sozialarbeiter/innen ist gerade auch problematisch, dass Familienhelfer in der Regel nur angemeldete Hausbesuche durchführen. Es bestehen insofern Situationen, die nicht systematisch beobachtet werden können. Über die unbeobachteten Situationen liegen in der Regel keine Daten vor. Dies führt zur Unsicherheit im Wissen über das »wirkliche« Verhalten der Eltern.
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arbeiterin, Frau Javer, den Fall vorgestellt hat, beginnt die Sammlung der »Ideen« zur weiteren Fallbearbeitung. Eine Sozialarbeiterin meldet sich zu Wort: Ausschnitt 31 Eventuell könne man mit der Mutter auch über eine »stationäre Unterbringung« bzw. über eine Unterbringung in einer Psychiatrie sprechen. [...] Frau Frinks [Sozialarbeiterin des Jugendamtes] sagt, es wäre möglich, das Kind auch »kurzfristig« unterzubringen, »so dass sie nicht nach Gabelsberg« muss. [...] Frau Bartels [ebenfalls Sozialarbeiterin des Jugendamtes] sagt, sie habe eine Idee, man könne Mutter und Kind auch »bei Salzbruch« [einem Träger der Kinder und Jugendhilfe] unterbringen. Dort sei eine Kriseneinrichtung. Da würde erstmal geschaut werden, wie man weitermachen könne. Frau Ecks und Herr Berthold [beide Sozialarbeiter/innen] sagen: »das ist gut«. Frau Ecks sagt, das müsse nur »schnell gehen, wegen der Schule«. Herr Berthold meint, man solle auch mit der Mutter besprechen, dass man das »Schulversäumnis« »als Gefährdungssituation« sehe. Frau Baumann sagt, man könne sich auch noch »die Einschätzung« des KJPD [Kinder- und Jugendpsychiatrische Dienst] zuschicken lassen. Jemand fragt nach, ob die diese so einfach herausgeben würden und Frau Bartels antwortet, in Kinderschutzfällen würden die einfach zugeschickt werden. Frau Javer fragt, was denn mit der »Idee« sei, der Mutter »eine eigene Wohnung« zu besorgen. Sie schränkt dann aber gleich selbst ein und sagt: »das schafft sie nicht oder?« Frau Ecks sagt, »nein«, das schaffe die Mutter nicht. Frau Javer fragt dann, ob sie den Hausbesuch »zu zweit« durchführen solle. Denn bei Gefährdungsfällen solle man sich doch immer das »dritte und vierte Auge« mit dazu nehmen. Frau Ecks sagt ja, das würde sie machen. Frau Javer sagt, dann müsse jetzt auch der Kinderschutzbogen ausgefüllt werden. (B/8: Abs. 17)
In der Fallbesprechung tragen die Sozialarbeiter/innen Strategien zur Problembearbeitung zusammen, die angesichts des Falls denkbar erscheinen. Es handelt sich offenbar um eine Art Brainstorming, das mögliche Interventionsformen versammelt und hervorbringt. Eine stationäre Unterbringung ist z. B. denkbar, ebenso ein Haubesuch oder eine Konfrontation der Mutter mit dem Schulversäumnis des Kindes. Dass auch in den Selbstbeschreibungen der Organisation von einem Austausch von »Ideen« gesprochen wird, macht zudem deutlich, dass die Vorschläge keinen verpflichtenden Charakter haben. Konkretisierend werden darüber hinaus die Namen von Einrich-
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tungen genannt, die ggf. mit einer Umsetzung der Intervention beauftragt werden können.30 Die zuständige Person kann, insbesondere an der Reaktionen der Anwesenden (des Publikums der Fall-Vorstellung), Hinweise darüber gewinnen, welche Möglichkeiten der Fallarbeit denkbar und welche eher auszuschließen sind. Es wird gewissermaßen geprüft, welche Formen der Fallbearbeitung in der Aushandlung der Anwesenden als angemessen erscheinen. Deutlich wird daran, wie sich die Bewertung von Informationen und mögliche Optionen der Fallarbeit in der Fallteamsitzung verfestigen. Die Bewertungen der Informationen und der Anschluss möglicher Entscheidungsoptionen werden in der Situation und über die Anwendung des Verfahrens der Teambesprechung abgesichert. In dem Austausch über mögliche Problembearbeitungsstrategien werden von den Anwesenden zugleich die Produktion des Falls und mithin die Konstruktion möglicher Entscheidungsoptionen vorangebracht. Dies geschieht auf doppelte Weise: Es werden wichtige Unterschiede erzeugt, bestimmte Informationen als relevant hervorgehoben. Die Konstruktion des Falls erhält Kontur durch die Markierung (besonders) relevanter Informationen sowie durch eine Liste (in Zukunft) möglicher Maßnahmen. Dass das Kind nicht zur Schule geht, wird z. B. als kindeswohlgefährdend markiert (andere Umstände werden außen vorgelassen). Die Komplexität des Falls wird in ein Format gebracht, dass in eine Fallvorstellung passt. Die Hinweise der Kolleg/innen sind zudem nicht nur knapp (und insofern gut verarbeitbar), sondern sie enthalten zudem Hinweise auf die Falleinschätzungen der Kollegin. An den Reaktionen und Ausführungen der Kolleg/innen wird erkennbar, was diese für besonders wichtig halten. Wie durch ein Nadelöhr passen nur bestimmte Informationen. Überdies werden der Fallkonstruktion mögliche Formen der Bearbeitung hinzugefügt. Der Fall und die zuständige Bearbeiterin gewinnen durch die Besprechung legitime Bearbeitungsformen, die in Zukunft zum Einsatz gebracht werden können und der Fallkonstruktion als relevante Information hinzugefügt werden. Man kann nun darauf hinweisen, dass es sich bei der Einschätzung nicht nur um eine »subjektive« Einzelmeinung, sondern um
30 Es handelt sich offenbar um »lokale Lösungen« (Cohen et al. 1972) für die beobachteten Probleme. Sie zu kennen erfordert Wissen über die lokale Hilfelandschaft, welches hier unter den Anwesenden distribuiert und insbesondere der zuständigen Sozialarbeiterin zur Verfügung gestellt wird.
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das Ergebnis einer kollektiven Erkenntnisbildung des Teams handelt. Der Beitrag zur Informationsarbeit besteht insbesondere darin, dass die Fallbesprechung den zuständigen Sozialarbeiter/innen Gelegenheit bietet, zu erfahren, was mögliche Dritte an dem zu bearbeitenden Fall für ausgesprochen relevant erachten, und welche Optionen der Entscheidung ihnen zufolge ergriffen werden könnten, sollten oder müssten. 6.1.7 Exkurs: Überschießende Informationen oder mit einem »Blumenstrauß an Möglichkeiten« konfrontiert sein In den oben analysierten Situationen wurde deutlich, dass und wie Informationen in kollegialen Gesprächen produziert werden können. Dies ist jedoch aus Sicht der Sozialarbeiter/innen nicht immer förderlich für die Entscheidungsfindung. Gerade eine breite Palette denkbarer Optionen und Maßnahmen kann die Zuständigen durchaus in einem Zustand der Ratlosigkeit zurücklassen. Das zeigen z. B. die folgenden Äußerungen einer Sozialarbeiterin, die in einem Beobachtungsprotokoll festgehalten wurden. Sie äußerte bezogen auf die »Fallteamsitzungen«: Ausschnitt 32 Das wird dann zu viel, wenn da »zu viele Leute am Tisch sind«, »der Tisch ist dann voll«. Das beschränke auch »die eigenen Ideen«. Da sitzen dann die ganzen Leute und die sagen dann ja, wie man das machen könne und dann gehe man mit so einem »großen Blumenstrauß« los, jetzt mach mal, »sieh mal zu!« »Da ist eine große Beschränkung drin und da geht die Motivation weg finde ich.« (B/2: Abs. 754)
Die Klage der Sozialarbeiterin deutet ein strukturelles Problem in der Praxis der kollegialen Beratung an. Die während der Besprechungen erzeugte Optionen-Vielfalt und -komplexität (»Blumenstrauß«), verlangt danach, nach der Besprechung in eine bearbeitbare Form gebracht zu werden. Jedenfalls sehen sich die Sozialarbeiter/innen mit der Erwartung konfrontiert, die Ergebnisse der Besprechung in konkrete Maßnahmen der Fallarbeit umzusetzen (vgl. »los, jetzt mach mal, sieh mal zu!«). Dies alleine stellt schon eine enorme Herausforderung dar: Welche Maßnahme aus dem angebotenen Blumenstrauß soll nun gewählt werden? Welche Einschätzung
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ist weiter zu verfolgen? Die »Beschränkung« besteht nun darin, dass den eigenen Ideen angesichts der Ideenvielfalt eine Entwertung droht. Die von der Sozialarbeiterin selbst präferierte Option der Bearbeitung ist nun nur noch eine unter vielen. Eine Maßnahme zu wählen, fordert nun die Auseinandersetzung mit den Ideen der »ganzen Leute«, sowie den Abgleich mit möglicherweise vorhandenen »eigenen Ideen«. Wenn das Eigene allerdings in den Hintergrund zu rücken droht, wenn nur noch das getan wird, was die »ganze[n] Leute« vorschlagen, dann wird auch die mangelnde »Motivation« verständlich, die von der Informantin thematisiert wird. Nicht immer können zudem die Sozialarbeiter/innen selbst entscheiden, ob sie einen Fall auf einer Fallteam-Besprechung einbringen oder es lieber sein lassen. In einem der erforschten Ämter war z. B. das Besprechen aller Fälle vorgeschrieben, in denen zum ersten Mal eine Fremdunterbringung »installiert« werden sollte oder eine Hilfe für eine Person bewilligt werden sollte, die das 18. Lebensjahr bereits beendet hatte. Die »Eingabe ins Fallteam« (I/7: 52) erhält dann den Charakter einer bloß formalen, zu bewältigenden Hürde. Es werden Fälle vorgestellt, die »eigentlich [...] schon klar [sind]!« (B/9: Abs. 11), aber dennoch durch das Nadelöhr »Fallteam« gefädelt werden müssen. Die Fallteamsitzung bietet also einerseits die Gelegenheit, in der Besprechung neue Informationen zu erzeugen und die Einschätzungen der Kolleg/innen in Erfahrung zu bringen. Andererseits bietet die kollegiale Beratung die Möglichkeit, die Einschätzung des Falls bloßer Subjektivität zu entheben, sie über die gemeinsame Einschätzung zu legitimieren. 6.1.8 Einschätzungen von Expert/innen Die Falldarstellung wird neben den Informationen aus Akten, Berichten und eigener Beobachtung häufig durch Aussagen von Expertinnen ergänzt. Einerseits beklagen die Sozialarbeiter/innen, dass z. B. die »Götter in Weiß« (B/2: Abs. 39) ihre eigenen, sozialpädagogischen Einschätzungen überformen. Andererseits liefern die Aussagen von Experten aber (scheinbar verlässliche) Informationen, die geeignet sind, die eigene Falldarstellung abzusichern. Dieses ambivalente Verhältnis zwischen Ab- und Anlehnung wird im folgenden Protokoll einer Fallteamsitzung deutlich. Es geht um einen Fall, in dem das Kind möglicherweise von der Mutter getrennt und in einer betreuten Wohnform untergebracht werden soll. Frau Dirksen, die fallzuständige Sozialarbeiterin, wird von ihren Kollegen nach ihrer Fall-
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einschätzung gefragt. Alle Beteiligten sind entweder Sozialarbeiter/innen des Jugendamtes oder der kooperierenden freien Träger. Ausschnitt 33 Frau Arnen fragt Frau Juncker die fallzuständige Sozialarbeiterin, wie reif sie die Tochter einschätze. Frau Junker sagt, das Mädchen sage selber, dass sie einen guten (oder festen?) Rahmen brauche. Sie suche eigentlich eine Familie und stelle sich »eigentlich eine betreute WG vor«. Frau Ecks fragt, ob es denn keine Verwandten gäbe. Frau Dircksen sagt, dass es hier niemanden gäbe. Herr Breuer fragt, wie lange es schon Gewalt in der Familie gäbe und welche Gründe bekannt seien dafür, dass das Verhältnis von Mutter und Tochter gestört sei. Frau Dirksen antwortet, die Ärzte würden sagen, die Mutter »sei wegen ihrer Depression überfordert«, die Ärzte würden das »nicht unterstützen«, dass die Tochter zur Mutter geht. »Das hat ja bereits nicht funktioniert«. Frau Ecks sagt direkt anschließend und etwas zornig: »Aber was hat denn da nicht funktioniert!?« Ihr sei das alles noch sehr »nebulös«. (B/5: Abs. 4)
Die Sozialarbeiterin Frau Juncker bringt hier die Einschätzung der Ärzte in die Situation der Fallbesprechung ein, um die von ihr vorgesehenen Entscheidungsoptionen plausibel zu machen (die Tochter soll nicht zur Mutter ziehen). Der Mutter wird Überforderung attestiert. Die Sozialarbeiterin zeigt an, dass sie in ihrer Falleinschätzung nicht alleine dasteht: Die Ärzte sind ebenfalls der Meinung, dass ein Zusammenleben von Mutter und Tochter bis auf weiteres unmöglich ist. Diese Einschätzung wird dabei durch die Nutzung der psychiatrischen Diagnose »Depression« gestützt. Es wird gewissermaßen eine Perspektiven-Triangulation mit der eigenen Einschätzung vorgenommen. Mehrere Beobachter schauen von verschiedenen Winkeln auf den Fall. Die Perspektive der Experten (hier: »Ärzte«) wird durch Experten-Vokabular (hier: »Depression«) gestützt, welches auf einen weiteren wissenschaftlich-diagnostischen Begründungszusammenhang verweist. Frau Dirksen nutzt die Aussage der Ärzte, um die Fallkonstruktion plausibel zu machen – und letztlich dazu, den Fall dergestalt zu konstruieren, dass die Option, das Mädchen in einer betreuten WG unterzubringen, als vernünftige Möglichkeit der Fallbearbeitung erscheint. In der Fallarbeit nutzen die Sozialarbeiter/innen immer wieder diese Strategie, Expert/innen gewissermaßen wie Alliierte ins Feld zu führen, um auf diese Weise ihre Falleinschätzung mit (vermeintlich) wissenschaftli-
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chen Informationen zu untermauern. Hierzu ein weiterer Ausschnitt aus einem Beobachtungsprotokoll, das den Verlauf eines Gesprächs zwischen dem Ethnographen und einer Sozialarbeiterin dokumentiert. Ausschnitt 34 Es sei für sie schwer »ein Kind aus dem Bauch raus (weg) zu holen«. Das sei etwas, mit dem sie noch länger zu tun gehabt habe. Aber in diesem Fall habe sie entschieden, dass so machen zu müssen. Ausschlaggebend sei auch ein Gespräch mit Herrn Schubert von einer Kinderschutzberatungsstelle gewesen, der anhand der biographischen Geschichte der Frau »aufgeschlüsselt« habe, dass es sehr wahrscheinlich sei, dass die Frau auch ihre weiteren Kinder misshandeln werde. Sie habe sich immer gegen eine Aufarbeitung ihrer eigenen Lebensgeschichte gewehrt. Ebenso habe sie eine Behandlung ihrer Drogen- und Alkoholsucht abgelehnt. Dies seien immer noch Gründe gewesen, an denen sich Frau Franke habe festhalten können, wenn sie Frau Hebbel erklären musste, dass sie ihr Kind direkt nach der Geburt in Obhut nehmen würde und sie dieses nicht »mit nach Hause nehmen« könne. (B/2: Abs. 178)
Die Einschätzung von Experten erhält Relevanz nicht zuletzt in der Begründung folgenschwerer Entscheidungen. Hier schildert die Sozialarbeiterin eine Fallkonstellation, die nach einer besonderen Begründung zu verlangen scheint: Es geht darum, ein Kind direkt nach der Geburt, quasi »aus dem Bauch raus« in einer betreuten Wohnform unterzubringen. Als Experte wird hier Herr Schubert, ein lokal bekannter Experte eines Beratungsdienstes, ins Spiel gebracht. Dieser stellt die Prognose auf, dass das Kind in Zukunft im Haushalt der Mutter in seinem Wohl gefährdet sei. Dies rechtfertigt den »schwer[en] Schritt« der Inobhutnahme. Die Sozialarbeiterin kann sich an dieser Einschätzung »festhalten«. Der Experte wird zum Unterstützer der Entscheidung; er wird, ähnlich wie in der obigen Situation, als Alliierter der Sozialarbeiterin ins Spiel gebracht. Im Folgenden wird noch eine Besonderheit der Experten-Auskunft betrachtet: In der Darstellung der Standpunkte von Experten wird häufig geltend gemacht, dass der Experte seine Einschätzung durch die Anwendung einer professionellen Methode gewann. Im obigen Ausschnitt ist es die »Aufschlüsselung« der Lebensgeschichte, die zur Begründung der Prognose genutzt wird. In der folgenden Szene wird eine Erkenntnis als bedeutend behandelt, die ein Arzt in der Anwendung eines (vermeintlich) ärztlichen
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Verfahrens gewann. Es geht um einen Fall, in dem die Gefährdung eines Kindes einzuschätzen ist. Bei dem Jungen wurden zuvor blaue Flecken beobachtet, die als Anzeichen für körperliche Misshandlungen betrachtet werden. Ausschnitt 35 Der Sozialarbeiter äußerte sich wie folgt: Er habe auch mit dem Hausarzt gesprochen, der habe einen Löffeltest gemacht. [...] Es sei so gewesen, dass der Hausarzt vorgemacht habe, dass es auch bei geringem Druck zu blauen Flecken kommen könne. Das sei bei dem Jungen so und auch bei der Mutter sei dies nach Auskunft der Eltern so, möglicherweise auch bei dem Vater, das erinnere ich nicht mehr so genau. (B/4: Abs. 24)
Während im Ausschnitt 34 eine Experteneinschätzung zur Begründung einer Intervention genutzt wurde, zeigt Ausschnitt 35, dass Aussagen von Expert/innen Interventionen ebenso verhindern (oder zumindest aufschieben) können: Die Aussage des Arztes, dass es bei dem Jungen schnell zu blauen Flecken komme, entkräftet den Verdacht einer Misshandlung. Die Tatsache des blauen Flecks erhält einen anderen informativen Charakter: Sie müssen nicht auf schwere Gewalteinwirkung schließen lassen. In der Darstellung durch den Sozialarbeiter erscheint die Aussage des Arztes als begründet über die Anwendung eines »professionell-wissenschaftlichen Verfahrens«. Ob es sich bei diesem Test in der Tat um ein anerkanntes Verfahren handelt, bleibt hierbei unbeachtet. Allein, dass es von einem Vertreter der medizinischen Profession angewendet wird, lässt den Test und die Aussage als glaubwürdig erscheinen. Die Auskunft des Experten, untermalt durch die Anwendung des professionellen, quasi-experimentellen Verfahrens, erzeugt eine Information von besonderem Gewicht. 6.1.9 Verteilte Informationsarbeit Bei der Betrachtung der Informationsgelegenheiten wird deutlich, dass die Informationsarbeit nicht von einer Person alleine übernommen wird sondern vielmehr auf zahlreiche »Schultern« und Gelegenheiten verteilt ist. Die Jugendamtsmitarbeiter/-innen sammeln Informationen in den verschiedensten, typischen Situationen und bringen sie zu späteren Zeitpunkten wieder in die Fallbearbeitung ein. Was im Jugendamt als Fall bearbeitet
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wird, worüber verhandelt und entschieden wird, ergibt sich daher aus der aktiv gestalteten Kommunikation der Sozialarbeiter/innen mit internen und externen Organisationsumwelten, zugleich aus der Erkenntnis-Arbeit der kooperierenden Akteure. Die informativen Entscheidungsgrundlagen sind durch den Austausch von Informationen in zahlreichen Situationen mit variierenden Akteuren gekennzeichnet. Man hat es mit einer Form geteilter, »verteilter« oder auch kollektiver Informationsarbeit zu tun, wie die folgende Graphik in Abbildung 6 verdeutlicht.31 Abbildung 6: Ressourcen in der Informationsarbeit
(Quelle: Eigene Darstellung)
Eine derartige Form der Informationsarbeit kann erstens für sich in Anspruch nehmen, verschiedenste Perspektiven betrachtet und alle Beteiligten
31 An anderer Stelle wird mit Bezug auf solche Konstellationen von »distributed knowledge« (Cicourel 1990), »intellektueller Teamarbeit« (Galegher et al. 1990) und »distributed sensemaking« gesprochen (Weick et al. 2005: 417). Dennoch kann nicht von einem kollektiven Willen ausgegangen werden: Die Akteure wirken zwar zusammen, sind aber nicht unbedingt auf ein Ziel ausgerichtet. Scheffer zeigt eine ähnliche Form der Erkenntnisproduktion mit Blick auf Gerichtsprozesse: »What is put on stage does not derive – at least not primarily – from laboratory work ›in court‹ but from distributed laboratories outside it: the police, the law firm, the hallways and interview rooms, and so on« (Scheffer et al. 2009: 195).
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gehört zu haben. Sie ermöglicht zweitens einen Vergleich der unterschiedlichen Perspektiven, man kann daran die Glaubwürdigkeit von Aussagen prüfen, die sich z. B. in Doppelungen zeigen. Drittens erlaubt sie es, sich über die Sammlung unterschiedlicher Perspektiven auf einen Gegenstand eine Distanzierung vom Fall selbst und einen überblickenden, (vermeintlich) objektiveren Standpunkt zu verschaffen. Nicht zuletzt profitieren die Sozialarbeiter/innen von der Zeit, die die übrigen Akteure bereits in die Informationsarbeit investiert haben, sie müssen selbst weniger Aufwand investieren. Die Verteilung der Informationsarbeit erlaubt daher eine pragmatische Absicherung von Informiertheit. Unter Ausnutzung der untersuchten Informationsgelegenheiten, gewissermaßen »generators of information« (Mac Kay 1969: 132 ff.), werden, wie gesehen, vielfältige und komplexe Brücken zum Fall geschlagen. Die Kombinatorik der unterschiedlichen Quellen erlaubt in der Regel nur ihre verdichtete Rezeption und Darstellungen der für den Fall in Frage kommenden Informationen. Das Fallgeschehen wird dann auf verknappte Weise, mit weniger Detailreichtum und in gröberer Körnung zur Darstellung gebracht. Dies ist nützlich: die Sozialarbeiter/innen können mehr sehen und über den Fall erfahren, wenn sie ihn aus der Ferne und aus unterschiedlichen Perspektiven betrachten. Durch die Kombination vielfältiger Informationen entfernen sich die Sozialarbeiter/innen von ihrem Entscheidungsgegenstand, kommen seiner »Realität« dabei aber interessanterweise gleichzeitig näher.32
32 Das informationsverarbeitende Vorgehen der Sozialarbeiter/innen gleicht der Arbeit von wissenschaftlichen Feldforschern, wie sie Latour (2002) beschreibt. »Sie [die Wissenschaftler/innen] konstruieren künstliche Repräsentationen, die sich immer weiter von der Welt entfernen zu scheinen und die sie dennoch näher bringen (Latour 2002: 43).
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6.2 V ERDICHTUNGEN IN DER D OKUMENTATIONSARBEIT Denn Organisation, so viel weiß man aus der klassischen Organisationstheorie [...], ist nur möglich, wenn man ihr freistellt, hochselektiv mit Wissen umzugehen, Daten nicht zur Kenntnis zu nehmen und aus Informationen keine Schlüsse zu ziehen. Denn nur dann kann die Organisation entscheiden, auf welches Wissen sie zurückgreift, welche Daten sie verarbeitet und aus welchen Informationen sie ihre Schlüsse zieht. Diese Entscheidung macht die Organisation erst zu einer Organisation. (BEACKER 1999: 69)
Angesichts großer Mengen verfügbarer Daten und begrenzter Kapazitäten der Informationsbearbeitung (klassisch March 1994: 23, Simon 1997: 226 f.) nehmen die Sozialarbeiter/innen der Jugendämter notwendige Selektionen und Verdichtungen vor. Sie können nicht alles aufnehmen und verarbeiten, was über eine Familie oder ein Kind in Erfahrung zu bringen wäre, legen daher Relevanzen fest. Im Folgenden werden solche Prozesse vor allem anhand von Dokumenten untersucht, die im Kontext der untersuchten Ämter verwendet wurden. Die Sozialarbeiter/innen der Ämter beklagen häufig einen »hohen Verwaltungs-« bzw. »Dokumentationsaufwand«. Sie sehen die Dokumentationsarbeit zwar einerseits als notwendig an, allein schon, um sich abzusichern. Doch andererseits ärgern sie sich darüber, von der »richtigen Arbeit« abgehalten zu werden (vgl. bereits Lau und Wolff 1981). In der Tat haben sie eine Vielzahl von Statistiken zu führen, Aktenvermerke zu verfassen und Protokollen anzufertigen, Risikoeinschätzungsbögen auszufüllen und anderes mehr. Die Dokumentationsarbeit hat Folgen für die zu treffende Entscheidungen. Die dokumentierten Informationen verlangen ab Niederschrift nach Berücksichtigung und sie können von den Sozialarbeiter/innen in der Bearbeitung ihrer Fälle nicht einfach übergangen werden. Vielmehr ergeben sich Zugzwänge, in die eine oder die andere Richtung zu entscheiden. Im Folgenden wird betrachtet, wie Informationen im Genogramm fixiert, Selektionen anhand eines Dokumentes vorgenommen, Absicherungsarbeit betrieben und schließlich Bezugnahmen verkettet werden.
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6.2.1 Fixierungen am Genogramm und darüber hinaus In einem ersten Schritt werden die Relevanzsetzungen der Sozialarbeiter/innen anhand eines Genogramms untersucht. In einem zweiten Schritt wird anhand eines Ausschnitts aus einem weiteren Dokument betrachtet, wie Informationen, die zuvor im Genogramm fixiert wurden, zu einem späteren Zeitpunkt wieder verwendet werden. Beim Genogramm handelt es sich um eine visuelle Darstellungsform, die der Methodik der systemischen Familientherapie entlehnt ist (vgl. Schlippe und Schweitzer 2007: 228 ff.). Im Kontext systemischer Betrachtung soll das Genogramm insbesondere intergenerationale Muster kenntlich machen. Im Kontext des Amtes wird das Genogramm alltäglich verwendet, kaum eine Fallakte kommt ohne es aus. Auch in Teambesprechungen wird das Genogramm typischerweise an ein Flipchart gezeichnet und als Bezugspunkt in der Fallbesprechung verwendet. Das untenstehende Genogramm nutzte die Sozialarbeiterin als Mitschrift in einem Gespräch mit einer Kollegin, die ihr den Fall übergab. Ausschnitt 36
(Dokument Nr. 21)
Üblicherweise zeigt das Genogramm, wie auch das von der Sozialarbeiterin, Frau Martins, erstellte Dokument in Ausschnitt 36, drei Generationen
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einer Familie.33 In der Mitte stehen die Eltern, darüber die Großeltern und darunter die Kinder. Für männliche Personen werden eckige, für weibliche runde Symbole genutzt.34 Partnerschaftliche Beziehungen und Abstammungsverhältnisse werden mit durchgezogenen Linien verbunden. Die drei Ebenen sind mit Strichen verbunden. Es handelt sich um die Darstellung von Beziehungen (gestrichelte, horizontale Linien), sowie um die Illustration von Abstammungsverhältnissen (vertikale, durchgezogene Linien).35 Jede Person wird zudem mit einer Zahl versehen, gewöhnlich das aktuelle Alter oder das Geburtsjahr.36 Darunter wird im obigen Ausschnitt das Alter der Kinder benannt, das älteste ist sieben Jahre, das jüngste zwei Monate alt. Wichtig erscheint, wer von wem abstammt, nicht z. B., wer mit wem befreundet ist und was sonst noch im Umfeld der Familie geschieht. Zudem zeugt die Analyse davon, wie sehr das Modell des Genogramms auf der Vorstellung einer bürgerliche Normalfamilie, »bestehend aus Vater, Mutter und Kindern und Großeltern, basiert.37
33 Es handelt sich hier wie auch bei allen weiteren Dokumenten, die handschriftliche Eintragungen beinhalten um möglichst detailgetreue Abschriften der Originale, die zum Zwecke der Anonymisierung erstellt wurden. 34 Worin schon einige (hetero-) normative Zuschreibungen (vgl. Warner 1993) deutlich werden, z. B. dass Männer eher durch eckige, Frauen durch runde Formen zu präsentieren seien, aber überhaupt auch die Aufteilung auf zwei Geschlechter und deren Hervorhebung. 35 Die Großeltern werden hier z. B. mit einem Rechteck und einem Kreis, die durch eine gestrichelte Linie verbunden sind, dargestellt. Die durchgestrichene Linie steht dafür, dass sich die Großeltern scheiden ließen. Es folgen die Eltern (auf mittlerer Ebene), ebenfalls ein Rechteck und ein Kreis, die durch eine längere gestrichelte Linie verbunden sind. Die einfach gestrichelte Linie steht für eine uneheliche Partnerschaft. Die Kinder befinden sich auf der unteren Ebene, sie werden durch ein Rechteck und drei Kreise abgebildet. 36 Dies erfolgt in Ausschnitt 36 uneinheitlich: Im Fall des Vaters erfolgt die Nennung des Alters (»42«) und im Falle der Mutter die Nennung des Geburtsjahrs (vgl. »81«). 37 Es ist gut vorstellbar, dass es graphische Probleme der Darstellung gibt, wenn vom Normal-Familienmodell mit Vater-Mutter-Kindern abgewichen wird und eine Person etwa Kinder mit mehreren Partner/innen hat. Gilt dies dann für beide Seiten, lassen sich die Familienverhältnisse kaum noch darstellen, geschweige denn, dass dann noch alle Großeltern Platz hätten. Das Genogramm ruft auf
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Relevanzsetzungen erfolgen nicht zuletzt über ergänzenden Beschriftungen, anhand derer die Sozialarbeiter/innen die Akteure mit Qualitäten und Kategorien ausstatten. Den Vater hat Frau Martins hier als »Informatiker« gekennzeichnet, der möglicherweise »PC-süchtig« ist. Es wird auf eine »Alk[kohol]-Problematik« hingewiesen und darauf, dass er, so die Beschriftung des Genogramms, über »keine Struktur« verfüge. Die Partner werden gewissermaßen in Analogie zueinander entworfen: Auf Seiten der Mutter vermerkt Frau Martins ebenfalls »PC-süchtig«. Darüber hinaus wird sie allerdings, im Unterschied zum als Informatiker tätigen Vater, als »geist[ig] behindert« gekennzeichnet. Der Großvater mütterlicherseits, erhält zwei zentrale Eigenschaften: Alkoholabhängigkeit (»Alk«) und Gewalttätigkeit (»Gewalt«).38 Die Beschriftungen, so wie von Frau Martin vorgenommen, legt zudem die Beobachtung eines intergenerationalen Musters nahe: Der Großvater wird als alkoholsüchtig und gewalttätig markiert, was vermuten lässt, dass seine Tochter, die Mutter der Kinder möglicherweise Opfer familialer Gewalt wurde. Dass der jetzige Partner der Mutter möglicherweise ebenfalls von der »Alkoholproblematik« betroffen ist, wird eine feld(-kundige) Beobachterin auf ein generationsübergreifendes Muster schließen annehmen lassen, dass sich die Klientin möglicherweise einen Partner gesucht hat, der, wie ihr eigener Vater, Gewalt in der Familie ausübt. Angesichts des Hinweises auf »PC-Sucht« und »mangelnde Struktur« muss man eine CoAbhängigkeit der Eltern in Erwägung ziehen, auf jeden Fall ist aber eine problematische Alltagsbewältigung zu erwägen, die zu einer Kindeswohl-
diese Weise die Idealvorstellung einer bürgerlichen Kernfamilie auf – Patchwork-Familien sind schwer darstellbar und werden zugleich, mit entsprechenden Zeichnungen, als Abweichungen vom »Normalmodell« der bürgerlichen Familie erkennbar gemacht. Es wäre daher durchaus einen Gedanken wert, auf etwas weniger normative Modelle, z. B. auf Netzwerkkarten zurückzugreifen, so dass die mittlerweile häufig komplexeren Familienverhältnisse besser abgebildet werden können. 38 Hierbei handelt es sich um ein typisches Kategorienpaar. Alkoholabhängigkeit wird von Sozialarbeiter/innen in der Regel mit der erhöhten Wahrscheinlichkeit häuslicher Gewalt in Verbindung gebracht (vgl. Kap. 7.2.3).
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gefährdung führen könnte.39 Die (möglicherweise intergenerationale) Gewaltproblematik könnte ebenfalls eine Kindeswohlgefährdung indizieren. Die Markierung von bereits in der Familie durchgeführten Interventionen stellt für die Sozialarbeiter/innen gleichermaßen einen informativen Zugewinn dar. Im untersuchten Genogramm wurden diese mit zahlreichen Abkürzungen kenntlich gemacht: Es wurde etwa eine Einzelfallhilfe (»EFH«) über den Sozialpsychiatrischen Dienst (»SPD«) mit vier Fachleistungsstunden (»FLS«) pro Woche gewährt und eine »gesetzliche Betreuung« eingesetzt, die sich um »Finanzen, behördliche Angelegenheiten« kümmert. Eines der Kinder besucht eine Kindertagesstätte (»KiTa«) und hat dabei einen Integrationsstatus (»I-Status«). Ein weiteres Kind ist bereits nach Maßgabe des SGB VIII stationär untergebracht, wobei alle zwei Wochen Besuchskontakte (»BK«) stattfinden. Die Nennung dieser bereits durchgeführten Maßnahmen zeigt, dass es sich hier um eine Familie handelt, in der bereits viel Unterstützungsbedarf festgestellt – und auch schon einiges »versucht« wurde. Die Unterbringung des Kindes weist z. B. darauf hin, dass von der vormals zuständigen Kollegin offensichtlich eine eindeutige Kindeswohlgefährdung gesehen wurde. Auch für die Frage nach den nächsten Schritten hat die Nennung bereits bestehender Maßnahmen eine zentrale Bedeutung: An diese Maßnahmen wird die Sozialarbeiterin in Zukunft anknüpfen können, aber auch müssen. Sie wird z. B. Kontakt mit den Professionellen aufnehmen müssen, die bereits jetzt in der Familie tätig sind. Man kann sehen, wie die Sozialarbeiter/innen aus der Komplexität des Falls Informationen gewinnen, die Implikationen für die zukünftige Fallbe-
39 Die Anmerkung »sterilisiert« mag zunächst verwirren. Ihre Bedeutung ergibt sich aus dem familiären Kontext sowie seiner Bearbeitung durch das Jugendamt: In die Familie wurde gerade ein kleines Kind geboren, es ist zur Zeit des Gesprächs zwei Monate alt. Zudem leben drei weitere kleine Kinder in der Familie. Die Eltern sind offenbar hoch belastet und kaum in der Lage, einen normalen Alltag herzustellen, sind möglicherweise Alkohol und PC-süchtig. Ein weiteres Kleinkind in der Familie, zusätzlich zu dem gerade geborenen, würde die Eltern, die offenbar schon an der Grenze ihrer Leistungsfähigkeit stehen, mit nicht von der Hand zu weisender Wahrscheinlichkeit überfordern. Die Relevanz des Hinweises liegt darin, dass eine weitere Geburt ausgeschlossen werden kann, insofern, in dieser Hinsicht jedenfalls, keine weitere Belastung der familiären Situation zu erwarten ist.
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arbeitung beinhalten und diese als Grundlage für künftige Entscheidungen verfügbar machen. Interessant scheint darüber hinaus – im Unterschied zu mündlichen Darstellungen – dass Eigenschaften bzw. Kategorisierungen der Akteure in den Vordergrund und konkrete Verhaltensweisen in den Hintergrund treten. In der verbalen Herstellung des Falls hat man es immer, wie in vielen Ausschnitten bereits zu sehen war, mit erzählenden Darstellungen zu tun. Anhand des Genogramms stehen »bloße« Kategorien im Vordergrund, die jedoch von großer informativer Kraft sind. Deutlich wurde zudem, mit welchen komplexen Implikationen die in den Dokumenten genutzten Kategorien angelegt werden. In Ausschnitt 37 wird ein Schriftstück zitiert, dass etwa neun Monate nach Anfertigung des Genogramms für denselben Fall erstellt wurde. Hierin kann die Weiterverwendung zentraler Kategorien als Entscheidungsvorlage beobachtet werden. Es handelt sich um einen Auszug aus einer Vorlage für eine kollegiale Beratung. Ausschnitt 37
(Dokument Nr. 7)
Die Informationen aus dem oben zitiertem Genogramm, das Frau Martins schrieb, als sie den Fall übernahm, werden nun in dieser neueren schriftlichen Eingabe von ihr aufgegriffen, weiterverwendet und verdichtet.40 Als Risikofaktor wird die »Alkoholproblematik« angeführt. Ebenso wird die »geistige Behinderung« der Mutter aufgegriffen, die bereits im Genogramm angelegt wurde. Beide Formulierungen finden sich wortgleich in dem Monate zuvor gefertigten Genogramm. Die Bemerkung, die Mutter habe »Probleme in der Tagestrukturierung«, ist beinahe identisch mit dem Hinweis aus dem Genogramm, die Mutter habe »keine Struktur«. Dass beide Eltern »World of Warcraft« (WOW) spielen, legt zumindest nah, dass beide Eltern »PC-süchtig« sein könnten, wie es im Genogramm noch hieß. Frau
40 Eine dritte Person könnte zudem schon in mindestens zwei Dokumenten Hinweise auf eine sich verdichtende Problematik erkennen. Bereits in zwei Vermerken, dem Genogramm und der Eingabe für das Fallteam, finden sich z. B. Hinweise auf die Alkohol- problematik in der Familie.
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Martins greift die Kategorien auf, die ihr ihre Kollegin in der Übergabe zur Verfügung stellte und die in dieser Situation im Genogramm fixiert wurden. Die Kategorisierungen »driften« gewissermaßen durch die Dokumentationsarbeit und die Schriftstücke. Einmal schriftlich vermerkt sind sie offenbar von gewisser Dauerhaftigkeit für spätere Bezugnahmen und, wie hier, als Vorlagen für Teamentscheidungen immer wieder verfügbar.41 Die untersuchten Notationen berücksichtigen, wie oben in der Untersuchung des Genogramms angedeutet wurde, mögliche Konsequenzen für die weitere Bearbeitung des Falls. Sozialarbeiter/innen wissen dabei die Kraft der Dokumente durchaus zu nutzen, um dem Fall »eine Richtung zu geben«. Dies zeigt sich auch in der folgenden Sequenz, in der ein Fall einer Jugendlichen verhandelt wurde, die nicht mehr bei ihren Eltern leben wollte. Dabei war bislang unklar geblieben, ob die Jugendliche möglicherweise schwanger sein könnte. Es handelt sich um eine Besprechung unter Kolleg/innen, die in einem Beobachtungsprotokoll dokumentiert wurde. In der Situation der Fallteamsitzung erfolgte die schriftliche Verdichtung von Informationen während meiner Feldaufenthalte gewöhnlich in zwei Schritten: Eine Person schrieb am Flipchart, und es wurde ein Protokoll erstellt, um die Sitzung zu dokumentieren. Gewöhnlich finden in diesem Protokoll auch die bereits auf dem Flipchart vermerkten Stichpunkte ihren Platz. In der obigen Szene ist es Frau Ramirez, die die Rolle der Schriftführerin an dem Flipchart übernimmt, die Vorschläge ihrer Kolleg/innen notiert und damit gleichermaßen als Ansatzpunkte für die spätere Bearbeitung des Falls festhält. Ausschnitt 38 Frau Ramirez [Sozialarbeiterin des Jugendamtes] sagt: »o.k.« und steht auf, geht zum Flipchart-Ständer. Sie zieht ein Papier ab und zückt den Stift, bereit zu schreiben. [...] Nun beginnt die Ideensammlung. Zuerst wird gesagt, man solle feststellen, ob eine Schwangerschaft vorliege. Frau Keller [ebenfalls Sozialarbeiterin] sagt, sie würde eine »Mutter-Kind-Wohnen-Einrichtung vorschlagen«. Sie sage das nur, damit es dann einmal da stehe. Dann sagt sie auch, es sei zu klären, ob es notwendig sei, »das Mädchen vor einer Zwangsverheiratung zu schützen«.
41 Dies, auch wenn sie zwischenzeitlich zu reinem Datenmüll werden, von dem die Akte voll ist. Es braucht die interpretative Wiederaufnahme, wie sie im obigen Ausschnitt zu sehen ist.
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Herr Gramlich, der dritte Sozialarbeiter spricht davon, dass es zu einer »Konfrontation« kommen müsse. Frau Ramirez schreibt dies alles an dem Flipchart mit. (B/9: 56)
Eine der Sozialarbeiter/innen, Frau Keller, nennt das Mutter-Kind-Wohnen als Option für die weitere Bearbeitung des Falls. Es handelt sich hierbei um eine Einrichtungsform, in der junge Mütter gemeinsam mit ihren Kindern untergebracht werden. Durch die Bemerkung und die Niederschrift wird dabei in dieser Situation gewissermaßen ein Datum für die weitere Fallbearbeitung geschaffen, an dem sich die fallzuständige Sozialarbeiterin in Zukunft orientieren kann (aber auch wird müssen). Das deutet schon die begleitende Bemerkung von Frau Ramirez an: Sie sage das nur, »damit es dann einmal da stehe«. Ob das Mutter-Kind-Wohnen tatsächlich zum Einsatz kommen wird, ist an dieser Stelle noch völlig offen (und auch unwichtig). Ein Einsatz dieser Maßnahme wäre nur möglich, wenn tatsächlich eine Schwangerschaft der Jugendlichen vorläge. Wichtiger erscheint jedoch, dass diese Option der Fallarbeit zunächst einmal als denkbare, sinnvolle und über die Besprechung legitimierte Option festgehalten wird. Sollte sich die Vermutung bewahrheiten, dass die Jugendliche ein Kind erwartet, so wird das Protokoll zeigen, dass man das Mutter-Kind-Wohnen bereits als mögliche Form der Bearbeitung bedacht hat. Die Sozialarbeiterin verfügt dann bereits über eine Option der Entscheidung, die durch die Besprechung und das entsprechende Protokoll begründet wird und in der möglicherweise eintretenden Fallkonstellation von ihr »gezogen« werden kann.42
42 Das Zusammenspiel zwischen Sitzung und Protokoll ergibt den Passagepunkt, an dem Feststellungen »am Gegenstand befestigt werden« (Scheffer 2014a: 97) und der Fall kollektiv befördert wird (vgl. ebd.). Die Sitzung wird als »Arbeitssession« erkennbar, in deren Zuge »Teilnehmer ein Objekt mit Blick auf nachfolgende Sessions und Verwertungen bearbeiten« (ebd.: 97). Informationen über den Fall werden in den Besprechungen verarbeitet und mehr oder minder zielgerichtet mit Blick auf weitere Optionen der Fallarbeit notiert.
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6.2.2 Die Lenkung des Blicks über das Dokument Insbesondere bei Mitteilungen, die eine mögliche Kindeswohlgefährdung indizieren, wurden in den untersuchten Jugendämtern sogenannte »Check«Bögen verwendet, die dazu dienen, die mündlichen Mitteilungen aufzunehmen. Am folgenden Ausschnitt kann man sehen, wie auf typische Weise anhand eines solchen Dokuments Verdichtungen vorgenommen werden. Bei dem untersuchten Dokument handelt es sich um einen Bogen, der sieben DIN A4-Seiten umfasst (was eine Menge Arbeit in der Durchführung bedeutet). Der Bogen wird gewöhnlich während und nach den erfolgten Mitteilungen ausgefüllt. Etwa in der Mitte des Bogens findet sich unter der Überschrift »Sicherheitseinschätzung«. Hieraus entnehme ich den folgenden Ausschnitt. Ausschnitt 39
(Dokument Nr. 23)
Die Bearbeitung des Checkbogens erzwingt Selektionen in der Beobachtung des Falls: es erfolgt eine Lenkung des Blicks der Sachbearbeiterin über das Instrument.43 In dem dargestellten Ausschnitt finden sich einige der Relevanzen, faktisch Selektionskriterien in der Bearbeitung von Daten, die der Risikoeinschätzungsbogen in die Fallarbeit »einbringt«. Der Bogen
43 Das obige Instrument stellt eine Adaption des »Stuttgarter Kinderschutzbogens« dar, wie sie in den erforschen Ämtern häufig verwendet wurde, zum Hintergrund des Instrumentes sowie zum Kontext seiner Entstehung (vgl. Reich 2005). Auch im weiteren Verlauf der Studie verwende ich Auszüge aus in den Jugendämtern gebräuchlichen Dokumenten, die sich an diesem Instrument anlehnen.
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»verlangt« von der ausfüllenden Person Antworten auf seine Fragen. Es wird nach bestimmten Aspekten und nicht z. B. nach dem Eindruck, nach einem Telefonat oder ähnlichem gefragt. Die Meldung wird mit Hilfe des Bogens dokumentiert. Derartige Kriterien für die Beobachtung des Falls (z. B. »überzeugend starke Furcht«) fordern von den Sozialarbeiter/innen eine erstaunliche Übersetzungsarbeit. Die Meldung, z. B. der Inhalt eines Telefongespräches, aber auch die sonstige Kenntnis des Falls, müssen im Nachhinein für den Bogen passend gemacht werden. Mit dem Setzen des Kreuzes bei »liegt vor« oder bei »liegt nicht vor« wird der Fall zudem auf eine binäre Kodierung gebracht, die Sozialarbeiter/innen sollen sich in der Informationsbearbeitung (angesichts der Fallkomplexität) auf eine eindeutige Position festlegen. Die verwendeten Instrumente im Jugendamt haben in der Regel durchaus einen derart »fordernden Charakter« wie der oben betrachtete Checkbogen. Die Sozialarbeiterinnen verfügen aber im Umgang mit dem Dokument über Variationsmöglichkeiten: Sie nehmen Eintragungen und Auslassungen vor, bearbeiten unter Maßgabe eigener und situativer Relevanzen. Dabei arbeiten sie in Auseinandersetzung mit den durch den Bogen gesetzten Anforderungen. Es ist kaum denkbar, dass die Sozialarbeiterin z. B. alle Felder des Risikoeinschätzungsbogens unausgefüllt gelassen hätte. Dies wäre einer Verweigerung gegenüber den Ansprüchen des Dokumentes und damit gegenüber den Arbeitsanforderungen der Organisation gleichgekommen. Möglich ist aber durchaus, einige Aspekte auszulassen und andere genauer auszuführen, was Selektionen impliziert. In der oberen Zeile des Ausschnitts nimmt die Sozialarbeiterin z. B. keine handschriftliche Eintragung vor, sondern belässt es bei dem Kreuz in der zweiten Spalte von links. In der Zeile darunter trägt sie einfach nur »Gvv« ein, was hier für Großvater väterlicherseits steht. Mit dem Eintrag nennt die Sozialarbeiterin zwar die Person, lässt aber die näheren Umstände ungenannt: Was die Furcht ausmacht, worin sie sich begründet, bleibt unbekannt, ist für potenzielle Leser/innen nicht zu erkennen. In der dritten Zeile trägt die Sozialarbeiterin ein: »Kdv [Kindesvater, TA] handelt hitzig«. Diese Formulierung antwortet auf die Frage des Instrumentes nach einem Verhalten, das außer Kontrolle zu geraten droht. Die Sozialarbeiter/innen entwickeln, wie man sehen kann, einen geschickten Umgang mit
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den Anforderungen des Bogens, der seine Anforderungen aufnimmt, ohne ihm allerdings sklavisch zu folgen.44 Angesichts begrenzter Kapazitäten der Informationsbearbeitung, aber auch angesichts der grundsätzlichen Unmöglichkeit, alles zu beobachten und zu dokumentieren, erscheinen solche Relevanzsetzungen unabdingbar (klassisch March 1994: 23, Simon 1997: 226). Nicht alles kann als gleichermaßen wichtig und gleichermaßen bedeutend für die Dokumentation angesehen werden. Festhalten können wir jedoch, dass die Be- und Verarbeitung von Meldungen nicht als Prozess der Abbildung von Daten, sondern als selektive Verarbeitung von Informationen erscheint. Sehen kann man dabei, dass der Risikoeinschätzungsbogen eigene Relevanzen setzt. Die Erfassung des Falls bleibt jedoch letztlich in der Hand der Sozialarbeiter/innen, die die Eintragungen vornehmen. Der Bogen tritt gewissermaßen als weiterer Aspekt der Informationsbearbeitung zum Entscheidungsprozess hinzu, ohne den Sozialarbeiter/innen die interpretative Arbeit abnehmen zu können. Es bleibt an den Sachbearbeiter/innen, die interpretative Arbeit vorzunehmen, in der sie Fall und Risikoeinschätzungsinstrument miteinander in Verbindung bringen.45 Die im Amt eingehenden Meldungen werden, in der Nutzung solcher Dokumente, von der mündlichen in die schriftliche Form überführt. Dabei stehen die Sozialarbeiter/innen vor der Herausforderungen relevante Informationen zu erkennen und dies entsprechend erkennbar zu dokumentieren: Was muss Beachtung finden, was darf auf keinen Fall übersehen werden?
44 Das organisationale Verhalten gleicht also eher einem Umgang mit den Anforderungen der Organisation als einer direkten Umsetzung der Organisationsziele: »the individual accepts these organisational influences – he accomodates his behavior to the demands the organization makes upon him« (Simon 1997: 13). 45 Streiten kann man nur über die Form der Relevanzsetzung: Also worauf wird in der Beobachtung des Falls Wert gelegt? Was wird beachtet, was nicht, und worin begründet sich dies? Eine solche Untersuchung ließe sich z. B. anhand von Risikoeinschätzungsbögen diskurstheoretisch durchführen, kann aber an dieser Stelle nicht geleistet werden.
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6.2.3 Retrospektives Absichern Die Sozialarbeiter/innen der Jugendämter sehen sich einerseits – gerade im Sinne partizipatorischem Bestrebens – angehalten, Eltern Verantwortung zu überlassen. Andererseits befürchten sie aber, dass sie selbst zur Verantwortung gezogen werden, wenn doch etwas passiert (vgl. B/17: Abs. 2). Die Sozialarbeiter/innen hätten daher »Angst«. Dies führe wiederum dazu, »dass man versucht sich abzusichern, damit man im Zweifel sagen kann: Ich bin das nicht gewesen!« (B/17: Abs. 2). Die Verfertigung von Informationen in der Dokumentationsarbeit ist bei diesen Absicherungsbemühungen von zentraler Bedeutung, nicht zuletzt da es bei problematischen Fallverläufen zu Aktenprüfungen kommen kann. Diese können von Vorgesetzten, aber bisweilen auch von der Staatsanwaltschaft durchgeführt werden (vgl. I/6: Abs. 47, Kap. 5.3). Im folgenden Ausschnitt kann man erkennen, wie Informationen entsprechend der situativen Bedingungen abgelegt und somit die eigene Fallarbeit plausibilisiert werden kann. In dem Interview hatte ich die zuständige Sozialarbeiterin, Frau Faber, zuvor gefragt, wie »das war«, als sie den Bericht über einen Hausbesuch »fertig« geschrieben und einen Kinderschutzbogen ausgefüllt hatte. Ausschnitt 40 Dieses hier? Ja, er [der Risikoeinschätzungsbogen] hat mich irgendwie entlastet in dem Moment. Ich habe es aufgeschrieben, die eine Seite so, und habe gedacht: So, eigentlich, das mit dem Schema hast du eigentlich alles berücksichtigt. So. Kannst du eigentlich nichts falsch machen. (lacht) So. Es geht dann noch über (den Chef?) in der letzten/ ach, die Frau Köhler hat ihn (unv.) unterschrieben. Das ist die Gruppenleiterin. Da ist so ein gewisser Zwang auch dabei, das abzuarbeiten und dieses zu verschriftlichen, heißt ja auch: Ja, da steht es schwarz auf weiß, und immer auch wieder abzurechnen, ne? Also, andererseits auch zu sagen: Eh, ich habe jetzt hier drei Kinder/ oder drei Kinderchecks, ich muss jetzt hier einfach mal/ Ich kann nichts anderes annehmen, ne? (I/3: Abs. 216)
Die Dokumentation wird von den Sozialarbeiter/innen häufig als Schutz empfunden, der wie die Interviewpartnerin es hier ausdrückt »entlastet«. Das Verfolgen des Schemas, die Nutzung der Kategorien aus dem CheckBogen (»Kindercheck«) erlauben es der Sozialarbeiterin davon auszugehen,
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dass sie »eigentlich alles berücksichtigt« hat.46 Die gewonnene Sicherheit besteht daher darin, (»eigentlich«) »nichts falsch machen« und nichts übersehen zu können (bzw. wenn etwas übersehen worden wäre, wäre dies dann den Kategorien des Instrumentes und nicht der Sozialarbeiterin zuzuschreiben).47 Überdies hat das Niederschreiben an sich bereits eine unsicherheitsbewältigende Funktion, indem im Schreiben Realitäten beschrieben (und geschaffen), Selektionen getroffen und Plausibilitäten hergestellt werden. Hierbei ist es von zentraler Bedeutung, dass Niederschrift und gewählte Form der Fallbearbeitung zueinander passen, wie auch die folgende Interviewsequenz verdeutlicht. Der Ausschnitt ist dem Gespräch mit einer Sozialarbeiterin entnommen, das anhand einer Fallakte geführt wurde. Ausschnitt 41 I: Ich habe das aufgeschrieben, nachdem ich da [beim Hausbesuch] war. B: Nachdem Sie da waren. //Mhm// (.) I: Also, praktisch, in Erinnerung, nachdem der hier angerufen hat. B: Partnerschaftsstreit / I: Das ist auch so eine Sache. Man müsste ja quasi sich entscheiden: So, jetzt muss eine Meldung gemacht werden, das erst mal ausfüllen und dann losgehen, ne? Das habe ich aber alles im Nachhinein gemacht, weil wir hatten, ja, (unv.) Das ist so ein Riesending von Verwaltung. (unv.) B: Ja, ja, das ist/ I: Und das hemmt einen ja in der aktiven Arbeit sozusagen, ne? Und dann müsste man es unterschreiben lassen, also, vom Kollegen noch mal mit dem das durchsprechen, und dann ist ja/es ist im Nachhinein (unv.) der Chef sozusagen noch mit diesen Papieren, der kriegt das dann auch. (I/3: 170-176)
46 Interessanterweise relativiert sie das »eigentlich« zugleich: Der Anspruch alles zu berücksichtigen bleibt uneingelöst. Eine gewisse Unsicherheit, etwas zu übersehen, bleibt bestehen. Die Entlastung besteht insofern darin, eine größere, nicht aber eine absolute Sicherheit zu gewinnen. 47 Der Zwang zur Schriftführung schränkt die Handlungsspielräume der Sozialarbeiter/innen ein: Frau Faber kommt nicht umhin, den Bericht anzufertigen. Das Dokument und seine Bearbeitung führen aber auch dazu, dass schließlich etwas »schwarz auf weiß« zur Verfügung steht. Dies wiederum gibt Handlungssicherheit.
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Frau Faber, eine Sozialarbeiterin, erzählt hier, wie sie sich für einen sofortigen Hausbesuch entschied, ohne das Ergebnis des in der Dokumentation zu berücksichtigenden Bogens abzuwarten. Das Dokument hätte eigentlich direkt nach dem Telefonat ausgefüllt werden müssen. Die Sozialarbeiterin macht hier einen zu großen Verwaltungsaufwand und Handlungsdruck als Begründung dafür geltend, dass sie sich zuerst für einen sofortigen Hausbesuch entschied, und erst dann, im Anschluss, das Dokument ausfüllte. Die Sozialarbeiter/innen argumentieren, wie hier Frau Faber, es sei eben entweder möglich, zeitnah (»aktiv«) zu handeln oder erst den Bogen auszufüllen und dann zeitverzögert »loszugehen«. Das Ausfüllen derartiger Dokumentationsinstrumente erfolgt daher nicht selten, wie in der obigen Situation, retrospektiv. Die Sozialarbeiterin stehen dann, wie hier Frau Faber, vor der Herausforderung, die Niederschrift nicht in Widerspruch mit ihrem bereits vollzogenen Handelns (hier: dem sofortigen Hausbesuch) zu bringen. Würde das Instrument nun (womöglich gar rechnerisch) ergeben, dass ein Besuch der Familie innerhalb einer Woche ausgereicht hätte oder sogar ganz und gar unnötig gewesen wäre, würden der sofortige Hausbesuch und die entsprechende Entscheidung ungerechtfertigt erscheinen. Richtig ausgefüllt, ergibt das Dokument jedoch, auch nachträglich bearbeitet, die entsprechende Ressource zur Legitimation des Hausbesuchs. Frau Faber kann auf den Checkbogen Referenz nehmen und mit dem Dokument zeigen, dass die von ihr ergriffene Maßnahme notwendig war. Der Bogen lässt sich dergestalt nutzen, um das eigene Vorgehen zu begründen: Man hat das getan, was sich aus der Schreibarbeit und dem Dokument als folgerichtig ergab. Die Sozialarbeiter/innen wissen die Dokumentationssysteme auf diese Weise zu nutzen, um stimmige Verhältnisse zwischen Fall und Bearbeitung zu schaffen, Entscheidungsprozesse derart auch gegen mögliche Kritik abzusichern. Dokumentationssysteme werden, dergestalt kunstvoll genutzt, zur Ressource der Plausibilisierung von Fallarbeit und Entscheidung. 6.2.4 Verkettungen von Bezugnahmen Angesichts der Vielfalt der eingeworbenen Daten und der großen Zahl der Akteure erfordert die Informationsarbeit im Alltag des Amtes häufig das Zusammenfügen und Verbinden verschiedener eigener und/oder fremder Beobachtungen. Die Sozialarbeiter/innen beziehen sich in den Falldarstellungen z. B. auf Akteneinträge anderer Sozialarbeiter/innen, auf Berichte
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von Familienhelfer/innen, auf die dokumentierten Anrufe eines Lehrers, die Aussagen eines Kindes oder Elternteils usf. Die Informationsarbeit im Kontext des Amtes verlangt daher ein komplexes Zusammenwirken von Schriftstücken und verbal-sprachlichen Darstellungen. Dies wird hier, zum Abschluss des Kapitels, noch einmal diskutiert. Hierzu eine Sequenz aus einer Fallteam-Sitzung: Ausschnitt 42 Außerdem wolle sie, sagt Frau Uhlmann [Sozialarbeiterin des Jugendamtes], »Auflagen durch das Gericht«. Sie könne ja mal sagen, was das Jugendamt [Ort X] für Auflagen vorgeschlagen und auch an das Familiengericht gegeben habe. Sie senkt den Blick und liest die Auflagen aus der Akte vor. Es geht dabei um einen regelmäßigen Schulbesuch, die Entschuldigung von Fehltagen sowie um die »Zusammenarbeit der Kindeseltern insbesondere der alleinsorgeberechtigen Mutter mit der Schule.« (B/7: 1)
Frau Uhlmann nimmt hier Bezug auf »›Auflagen des Gerichts‹«. Diese wurden zuvor, was in der obigen Szene nicht zu erkennen ist, durch eine andere Sozialarbeiterin dokumentiert. Durch das Verlesen der Passage macht sie diese »Auflagen« zum relevanten Inhalt der aktuellen Situation.48 Für die Bestimmung, was gerade jetzt der Fall »ist«, referiert sie auf ein Protokoll, das selbst (seinerseits) eine Niederschrift – zugleich eine Transformation oder Übersetzung – darstellt, die wiederum auf weitere Referenznahmen zurückgreift (vgl. Belliger und Krieger 2006: 39, Latour 2002: 381, Callon 2006). Sie greift auf bereits unternommene Arbeit und investierte Zeit, zugleich auf vorgängige amtliche Handlungen zurück. Sie muss nicht mehr selber Stunden an Arbeitszeit investieren, sondern kann auf die Arbeit der vorherigen Sachbearbeiterin und deren informatives Kondensat in Form der dokumentierten Auflagen zurückgreifen. Argumentativ kann (und muss) der aktuelle Vorschlag von Frau Uhlmann gleichsam auf denen ihrer Kollegin aufsetzen. Mit der Fallvorstellung nimmt die Sozialarbeiterin
48 Frau Uhlmann kann anhand des Schriftstücks gewissermaßen Raum und Zeit überbrücken. Das, was zu einer anderen Zeit und an einem anderen Ort geschrieben wurde, macht sie im Hier und Jetzt geltend.
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Bezug auf die Bezugnahmen Dritter.49 Abbildung 7 verdeutlich diesen Rückgriff in der Gegenwart auf bereits etablierte Dokumente und Vorgänge. Abbildung 7: Verkettung von Bezugnahmen
(Quelle: Eigene Darstellung)
49 Die Sozialarbeiter/innen führen den Prozess der Fallarbeit fort, indem sie an vergangene, aber nun wieder relevante Ereignisse der Fallarbeit anknüpfen, gewissermaßen »trans-sequentiell« arbeiten (vgl. Scheffer 2008). Die in Ausschnitt zitierte Sequenz zeigt darüber hinaus noch einmal, wie die Sozialarbeiter/innen der Jugendämter angesichts der Zeitknappheit in der Situation der Fallpräsentation (notwendige) Reduktionen vornehmen. Frau Uhlmann wählt aus der Vielfalt der Akte aus. Sie kondensiert die ohnehin schon kondensierte Akte bzw. bereichert diese zugleich, indem sie sie der aktuellen Situation anpasst und den Auflagen einen »aktuellen Sinn« gibt, mit ihnen einen neuen Blick auf den Fall ermöglicht.
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Die Kunst der Sozialarbeiter/innen besteht darin, sich über Ketten von Repräsentationen (vgl. Latour 2002: 43) aus der Welt der Familie zu entfernen und gleichzeitig ein aktuelles und ausreichend scharfes Bild von ihr zu gewinnen, um so zu einer bearbeitbaren Fallkonstellation zu gelangen. Betrachtet man noch einmal die kurze Schilderung weiter oben, so wird deutlich, dass die Protokollierung der Auflagen durch das vorher mit der Familie befasste Amt ihrerseits Referenznahmen auf Referenznahmen weiterer Beobachter/innen voraussetzen. Herangezogen werden z. B. »Fehltage«, die in der Regel von Akteuren aus dem Kontext der Schule beobachtet werden. Die Rede von »der Entschuldigung von Fehltagen« zielt auf das Verhalten der Kinder und dessen Bewertung durch diagnostizierende Instanzen sowie auf das Verhalten der Eltern (nämlich zu entschuldigen bzw. dies in der Vergangenheit nicht ausreichend getan zu haben). Beachtet man, dass ein eingehender Fall, wie der Fall von Frau Uhlmann, oft zunächst von einem Beratungsdienst aufgenommen und dokumentiert wird, ergibt sich – wie Abbildung 8 zeigt – eine Verkettung von Referenznahmen, die sich noch erweitern ließe und ausschnittsweise abgebildet wird. Abbildung 8: Erweiterte Kette von Referenznahmen
(Quelle: Eigene Darstellung)
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Auffällig ist an dieser Verkettung, dass die Einschätzung des Falls von Referenznahmen Dritter abhängt, die ihrerseits über weitere Bezugnahmen verstetigt wurden. Problematisch erscheint dabei, dass die Sozialarbeiterinnen oft »sozusagen [nur] mittelbar Informationen [haben] (I/5: Abs. 135). Anderseits ermöglicht paradoxerweise gerade dieses sukzessive ReKonstruktieren des Falls, das die Perspektiven unterschiedlicher Akteure einbezieht, die Produktion von verdichteten Informationen, letztlich von Informiertheit als Grundlage des Entscheidens.
6.3 Z USAMMENFASSUNG : D IE H ERSTELLUNG VON I NFORMIERTHEIT Im Jugendamt über Fälle – zumal von Kindeswohlgefährdung – zu entscheiden, dies erfordert von den Sozialarbeiter/innen angeben zu können, über ein ausreichendes Maß an Informationen zu verfügen, über ausreichend »Informiertheit« zu verfügen. Zu Beginn dieses Kapitels wurde daher die Frage gestellt, wie es den Sozialarbeiter/innen der Jugendämter gelingt, zu relevanten Informationen zu kommen und zu klären, »was im Fall überhaupt los ist«. Die Analyse von zahlreichen Interviews und Beobachtungssequenzen brachte hervor, dass die Sozialarbeiter/innen im Kontext des Amtes Praktiken der Fallarbeit nutzten, um gezielt oder nebenbei Informationen über ihre Fälle zu sammeln. In Gesprächen mit Eltern, der Teamberatung, in der Dokumentationsarbeit und bei vielen anderen Gelegenheiten finden die Sozialarbeiter/innen heraus, was der Fall ist – und schaffen damit, in der Konstruktion des Falls, die Basis für begründbare Entscheidungen. Kapitel 6.1 zeigt, wie die Sozialarbeiter/innen ein umfassendes Netz an »Informationsgelegenheiten« aufspannen, um Informationen einzuwerben. Die untersuchten Formen des Einwerbens weisen unterschiedliche Qualitäten auf: Hausbesuche und Gespräche mit Eltern und Kindern bieten eine hohe empirische Sättigung, die Möglichkeit, selbst zu sehen »was los ist«. Allerdings ist ihr Nutzen mit hohen Kosten an Zeit und Aufwand verbunden. Einfacher zu nutzten sind Fallakten, die immer verfügbar sind und abgelegte Daten »schwarz auf weiß« bereithalten, was ihnen eine gewisse Faktizität verleiht. Ambulante Helfer versorgen die Sozialarbeiter/innen laufend mit Informationen, so dass von einer dynamischen Informiertheit ausgegangen werden kann. Ein Nachteil besteht aber darin, keinen direkten
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Einblick in die Familien zu haben und nicht immer genau zu wissen, was die ambulanten Helfer eigentlich genau in den Familien tun. Besprechungen unter Kolleg/innen eignen sich wiederum, die eigenen Vorgehensweisen anhand der Einschätzungen Dritter zu überprüfen, dergestalt neue Informationen zu erhalten und die Fallarbeit einer besseren Darstellbarkeit zuzuführen. Als nachteilig wird allerdings z.T. angesehen, dass in solchen Sitzungen häufig sehr viele Anregungen aufgeworfen werden, die nicht immer adäquat verarbeitet werden können. Während sich die Einschätzungen von anderen Professionellen eignen, diagnostisch abgesicherte Informationen zu erwerben, wird in Gesprächen mit Kolleg/innen bzw. in Teambesprechungen eruiert, welche Informationen andere Professionelle für relevant erachten. Die Gesamtschau auf die unterschiedlichen Vorgehensweisen bringt zudem hervor, dass und wie die Informationsarbeit des Jugendamtes auf plurale Akteure distribuiert wird, von verteilter Informationsarbeit auszugehen ist. Die Sozialarbeiter/innen profitieren von der Informationsarbeit Dritter, können sie doch deren bereits etablierten Informationen zur Fallkonstruktion nutzen. Gerade diese Form verteilter Informationsarbeit macht letztlich den Charakter der amtlichen Informationsbearbeitung aus, entfernt die Sozialarbeiter/innen einerseits von ihren Entscheidungsgegenständen, den Fällen, bringt sie ihnen aber paradoxerweise auch wieder näher.50 Die Untersuchung von im Amt gebräuchlichen Dokumenten in Kap. 6.2 brachte überdies hervor, wie Informationen in der Schreibarbeit der Sozialarbeiter/innen laufend verdichtet (und gleichsam neu erzeugt) werden. In der Dokumentationsarbeit werden aus einer großen Menge Daten, die z. B. in Gesprächen erzeugt werden, Informationen verdichtet und für den späteren Zugriff verfügbar gemacht. Die Sozialarbeiter/innen unternehmen Selektionen und markieren Relevanzen, die im späteren Prozess erneut aufgegriffen werden. An Instrumenten der Dokumentation, wie z. B. im Genogramm, werden typischerweise zentrale Kategorien angelagert. Einmal auf-
50 Die verschiedenen Quellen erlauben unterschiedliche Formen der Informiertheit. Hausbesuche und direkte Interaktionen mit den Adressat/innen erlauben es hingegen, sich einen persönlichen Eindruck, bzw. auch einen Eindruck »vor Ort« zu verschaffen. Die dynamische Versorgung mit Informationen wird über den Einsatz von Familienhelfer/innen sichergestellt, die aus den Familien, etwa bei möglichen Eskalationen, berichten können. Eigene Relevanzsetzungen können dabei vor dem Hintergrund der Einschätzung Anderer eruiert werden.
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genommene Informationen (z. B. über den übermäßigen Alkoholkonsum eines Familienvaters) können über längere Zeit verfolgt und bei sich wiederholenden Beobachtungen zu einer Gestalt (z. B. Alkoholabhängigkeit) verdichtet werden. Daten werden durch die Niederschrift, über die Grenzen von Situationen hinweg, sowohl in zeitlicher als auch in örtlicher Hinsicht, verfügbar gemacht. Eine vertiefende Analyse machte zudem deutlich, dass und wie sich Informationen über komplexe Referenzverkettungen verdichten, in denen sich Bedeutungsstrukturen fortschreitend überlagern. Die Verschriftlichung macht die Informationen zudem über die Ebene der Interaktion hinaus zugänglich. Mit der Fixierung im Dokument kann die Information Arbeitssituationen überbrücken: Informationen können unabhängig von der Person, die sie dokumentiert, und zu einem späteren Zeitpunkt genutzt werden. An bereits getroffene Entscheidungen kann und muss wieder angeknüpft werden. Die schriftliche Dokumentation »garantiert Kontinuität in Zeit und Raum« (Latour 2002: 60). Die Sozialarbeiter/innen gehen in der Informationsarbeit »trans-sequentiell« (Scheffer 2008), Situationen verbindend vor. In der Dokumentationspraxis werden auf diese Weise Daten geschaffen, die dann wieder in den Entscheidungen berücksichtigt werden müssen und die Sachbearbeiter/innen unter Zugzwang bringen können. Die Konservierung (und damit die Verbreitung) von Informationen ist für die Fachkräfte daher ein risikoreiches Geschäft: Einerseits können die Sozialarbeiter/innen über die Verschriftlichung dokumentieren, dass sie sich bemüht haben, etwas über den Fall in Erfahrung zu bringen, ausreichend Informiertheit hergestellt und folgerichtig entschieden haben. In der Dokumentation zeigen sie, dass sie relevante Aspekte des Falls beachtet haben und diese in der Fallbearbeitung auch berücksichtigten. Diese Form berichtsfähiger Fallarbeit wird besonders relevant, wenn es zu »dramatischen« Entwicklungen im Fall kommt, eventuell gar eine Aktenprüfung durch die Staatsanwaltschaft durchgeführt wird, hier kann die sorgfältig dokumentierte Information zur Absicherung gegenüber Anschuldigungen verwendet werden (vgl. Kap. 6.2.3). Zugleich kann die Niederschrift zu Folgeproblemen in der Fallarbeit führen: Dokumentierte Informationen verlangen nach Berücksichtigung. Sind sie aktenkundig geworden, aber nicht ausreichend berücksichtigt, kann dies schnell zum Vorwurf führen, bestimmte Umstände oder Ereignisse im Umfeld der Familie seien nicht in ausreichendem Maß als zu bearbeitende Hinweise behandelt worden. Ein solches Übersehen erscheint dann leicht
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als Verletzung notwendiger, professioneller Sorgfalt. Mit der Niederschrift von Informationen ergeben sich insofern Zwänge, in die eine oder in die andere Richtung zu entscheiden. Bei gelungener Dokumentationsarbeit wird die Sozialarbeiterin jedoch zeigen können, dass sie über eine ausreichend differenzierte Informationslage verfügte, um die Gefährdungssituation des Kindes einschätzen und entsprechend entscheiden zu können. In der Analyse von Produktion und Verarbeitung fallbezogener Informationen zeigen sich nicht zuletzt die Konstruktivität und Kontingenz der Fallkonstruktion: Immer wären auch noch ganz andere Schriftstücke, Formulierungen, Referenznahmen und mithin Selektionen möglich gewesen. Die Informationsarbeit im Jugendamt erfordert, notwendige Komplexitätsreduktionen – zugleich aber auch Fall-Komplexität in Bezug auf amtliche Arbeitsprozesse zu erzeugen. Die komplexe Aufgabe der Sozialarbeiter/innen besteht darin, mit dieser Kontingenz ihrer eigenen Informationsarbeit umzugehen, d. h., nicht zu sehr durchscheinen zu lassen, dass andere Selektionen, andere Fallkonstruktionen möglich wären. Sie können sich nicht lange damit aufhalten, was alles noch hätte gewesen sein können. Die getroffenen Selektionen dürfen und können in Organisationssystemen, offenbar auch im Kontext der jugendamtlichen Fallarbeit, nicht immer wieder in Frage gestellt werden (vgl. Luhmann 1997: 838 f.). Die Sozialarbeiter/innen werben einerseits vielfältige Informationen ein. Andererseits geht es auch darum, das Beste aus den vorliegenden Materialien zu machen, um sich »dem Fall« zu nähern (vgl. Böhringer et al. 2012). Die Kunst der Sozialarbeiter/innen besteht damit nicht nur in der Organisation vielfältiger Informationsmöglichkeiten, sondern auch darin, »einfach« mit dem Material (weiter) zu arbeiten, das ihnen in der aktuellen Situation der Fallarbeit zur Verfügung steht – und dies sind typischerweise die vorliegenden und eingeworbenen Beobachtungen, Bewertungen und Aufschriebe dritter Personen und Einrichtungen. Diese Konstruktivität der Informationsarbeit als Beliebigkeit oder als opportunistische Situationsdefinition misszuverstehen, würde der Arbeit der Sozialarbeiter/innen nicht gerecht. Zwar ist die Auswahl der Beobachtungen selektiv, andererseits ermöglicht aber gerade erst die gekonnte Arbeit an und mit den verschiedenen Information überhaupt erst den Zugriff auf die Umwelt des Jugendamtes. Erst durch die informative Bearbeitung des Falls im Jugendamt wird dieser zugänglich für professionelle Entscheidungsprozesse. Die von den Sozialarbeiter/innen verwendeten Repräsentationen sind Repräsentationen
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des Amtes und der an der Herstellung beteiligten Akteure, sie bilden nicht »die« Realität des Falls ab, sondern produzieren eine »amtliche Realität«. Dass die untersuchten Praktiken »Fabrikationsprozesse« (Knorr-Cetina 2002) implizieren, die notwendigerweise selektiv ablaufen, ist daher nicht negativ zu bewerten. Gerade über die Verdichtungen der Informationen gelingt es der Sozialarbeiterin, »dem Fall« näher zu kommen und ihn grundsätzlich entscheidbar zu halten. Die Beteiligten sind gezwungen, aus einer Vielzahl möglicherweise relevanter Aussagen bestimmte zu selektionieren, laufen dabei Gefahr, etwas zu übersehen bzw. Informationen auszusortieren, die später relevant erscheinen können. In den Worten von March (1994: 23) ist Aufmerksamkeit unter diesen Bedingungen eine knappe Ressource. Dabei stehen die Sozialarbeiter/innen vor dem Problem – um ausreichende Informiertheit nachweisen zu können – aus der Vielzahl der Informationen relevante auszuwählen und dahinterliegende Muster erkennbar zu machen: Was ist als Information zu behandeln? Was kann hingegen als bloßer »Lärm der Umwelt«, als »Rauschen« behandelt und aus der Betrachtung ausgeschlossen werden?
7. Gefährdungseinschätzungen und die Fremdunterbringung als Entscheidungsoption Worin besteht die konkrete Gefährdung? (I/3: ABS. 128) Was ist notwendig, um das Kindeswohl zu sichern? (I/1: ABS. 52)
Liegt eine Gefährdung des Kindeswohls vor oder nicht? Und wie ist vorzugehen? Diese und ähnliche Fragen stellen sich den Sozialarbeiter/innen der Jugendämter in der Bearbeitung von Fällen mit (vermuteter) Kindeswohlgefährdung. Das Jugendamt ist vom Gesetzgeber damit beauftragt, Kinder vor Gefährdungen ihres Wohls zu schützen. Liegen ernstzunehmende Hinweise auf eine solche Gefährdung des körperlichen, geistigen und seelischen Wohls vor, so hat die zuständige Sachbearbeiterin Maßnahmen zu ergreifen, um Abhilfe zu schaffen und für den Schutz des Kindes zu sorgen. Doch wie gelangen die Sozialarbeiter/innen zu ihrer Einschätzung, ob eine Gefährdung vorliegt oder nicht? Und wie wird die Fremdunterbringung im Zusammenhang mit diesen Fällen als Option der Entscheidung behandelt und mit Bedeutung versehen? Mit diesen Fragen befasst sich das folgende Kapitel. Kapitel 7.1 betrachtet Instrumente und deren Verwendung im Kontext des Amtes, die zur Einschätzung der Gefährdung dienen sollen. In Kapitel 7.2. wird untersucht, wie Sozialarbeiter/innen Gefährdungen mit Hilfe der Kategorisierung der Eltern bestimmen. In der Analyse wird überdies ein grundlegendes Muster der Einschätzung von Gefährdung deutlich, welches hier als Gegenüberstellung von beruhigenden und beunruhigenden Be-
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obachtungen gefasst wird (vgl. Kap. 6.3). Zum Schluss des Kapitels wird analysiert, wie der Einsatz stationärer Erziehungshilfen als Option der Fallarbeit von den Sozialarbeiter/innen eingeschätzt und zum Einsatz gebracht wird (vgl. 6.4).
7.1 R ISIKOEINSCHÄTZUNGSBÖGEN In den letzten Jahren wurden in den bundesdeutschen Jugendämtern vermehrt Versuche unternommen, die Gefährdungseinschätzung der Sozialarbeiter/innen über den Einsatz von Risikoeinschätzungsinstrumenten zu verbessern. Von Fachleuten im Kinderschutz wird betont, standardisierte Verfahren könnten die Einschätzung von Kindeswohlgefährdung absichern und voranbringen (vgl. Bay Area Social Services Consortium (BASSC) 2005, Kindler 2005, Kindler 2007a). Im Folgenden werden derartige Riskoeinschätzungsinstrumente, die auch in den untersuchten Jugendämtern zum Einsatz kamen, genauer in den Blick genommen. Das leitende Interesse ist dabei, besser nachvollziehen zu können, welche Bedeutung derartigen Instrumenten in Konstruktionen der Kindeswohlgefährdung zukommt. Ausschnitt 43
(Dokument Nr. 3, S. 6)
Hervorgehoben durch den großen Kasten werden die Sozialarbeiter/innen mit dem Dokument zunächst einmal grundsätzlich aufgefordert, sich zur Frage der »Kindeswohlgefährdung« zu verhalten. Typisch ist, dass den Sozialarbeiter/innen zugemutet und zugetraut wird zu entscheiden, ob eine Gefährdung vorliegt, oder nicht vorliegt. Sie sollen ein Kreuz setzen, sich (gleichsam die Einschätzung) festlegen und angeben, ob eine Gefährdung des Kindeswohls vorliegt oder nicht. Das Kreuz zu setzen, zeigt an, dass eine Auseinandersetzung mit der Fallproblematik erfolgte und die Sachbe-
7. G EFÄHRDUNGSEINSCHÄTZUNGEN UND
DIE
F REMDUNTERBRINGUNG
| 229
arbeiterin die Gefährdung einzuschätzen weiß. Hier hat die bearbeitende Person »liegt vor« gewählt.1 Formale Verfahren und Instrumente versuchen die Einschätzung des Falls und möglicher Gefährdungen) typischerweise in einfachere Betrachtungen, nicht selten wie in Ausschnitt 43, in binäre Logiken und (scheinbar eindeutige) Verhältnisse des Entweder-Oder zu überführen.2 Im untersuchten Dokument wird allerdings die Möglichkeit des Ausweichens gewährt: Das dritte Feld (»ist nicht auszuschließen«) bietet zwar keine qualitativ andere Möglichkeit der Einschätzung. Es erlaubt aber einen Ausweg aus der Situation, sich zwischen den beiden Optionen entscheiden zu müssen. Die Beantwortung der Frage (Kindeswohlgefährdung: »ja oder nein?«) wird mit der Option, »ist nicht auszuschließen«, in der Schwebe gehalten. Auf interessante Weise spiegelt das Dokument in seiner Konstruktion die Problematik der Fallarbeitspraxis im Jugendamt: Einerseits wird der Anspruch verfolgt, eine klare Bestimmung der Gefährdungslagen zu erreichen. Andererseits ist diese häufig nicht zu erreichen, weshalb der Bearbeiterin hier die Option gelassen wird, die Unmöglichkeit der Einschätzung kenntlich zu machen. Egal wo die Sozialarbeiterin ihr Kreuz setzt: Dem Einschätzungsinstrument gelingt es, die Komplexität der Fallsituationen auf drei Optionen zu reduzieren. Hierin besteht eine erstaunliche Leistung des Dokuments, zumal die jeweiligen Einschätzungen weitere Schritte der Bearbeitung implizieren, etwa bei unklarer Einschätzung noch weitere Klärungen zu unternehmen wären, bei vorliegender Gefährdung schnell zu entscheiden wäre wie weiter zu handeln ist usf. Im kleingedruckten »Hinweis«, ebenfalls Ausschnitt 43, lässt sich zudem eine wichtige Unterscheidung erkennen, die im Jugendamt für die Differenzierung von Kindeswohlgefährdungen gebräuchlich ist. Der erläutern-
1
Dokumente werden hier in Anlehnung an Wolff (2004) als kommunikative Artefakte der Organisation Jugendamt untersucht. Die Instrumente zur Gefährdungseinschätzung entwickeln dabei, wie die Analyse hervorbringt und was ihre Spezifik ausmacht, einen starken Aufforderungscharakter gegenüber ihren Rezipienten, den Sozialarbeiter/innen der Jugendämter. Zugleich bieten sie die Möglichkeit, angemessene Fallbearbeitung zu demonstrieren; sie richten sich also an mögliche Dritte als weitere Rezipientengruppe, die versucht sein könnten, die Nachvollziehbarkeit der jugendamtlichen Entscheidungsprozesse zu überprüfen.
2
Die Kindeswohlgefährdung »liegt vor« oder sie »liegt nicht vor«. Hierin liegt die binäre Logik.
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de Text macht geltend, dass die Feststellung einer Kindeswohlgefährdung entweder durch eine »akute Situation« oder durch einen »chronischen Gefährdungsprozess«, begründet sein kann. Der nachfolgende Ausschnitt, der einem weiteren Instrument zur Gefährdungseinschätzung entnommen ist, vollzieht die Unterscheidung von akuter und chronischer Weise ebenfalls und bringt diese mit der Einschätzung von Kindeswohlgefährdungen in Verbindung. Ausschnitt 44
(Dokument Nr. 25)
Die Sozialarbeiter/innen werden mit dem Dokument aufgefordert, ähnlich wie in Ausschnitt 43, ihre »Gefährdungseinschätzung« darzulegen. Dabei wird ebenfalls mit einer zweiwertigen Logik operiert: Die Sozialarbeiter/innen sollen angeben, ob ein »geringes« oder ein »hohes Gefährdungsrisiko« vorliegt. In diesem Begriffspaar lässt sich eine Analogie zu Ausschnitt 43 feststellen, in dem von akuter und chronischer Kindeswohlgefährdung die Rede war: Wird hier ein »Gefährdungsrisiko« verhandelt, welches sich aus der »belastenden Lebenssituation des Kindes« ergibt, so ging es in Analogie hierzu in Ausschnitt 43 um einen »chronischen Gefährdungsprozess«. Die Kindeswohlgefährdung ergibt sich in solchen Fällen als Summe von Beobachtungen, die sich angesichts länger anhaltender gefährdender Bedingungen in der Lebenssituation des Kindes akkumulieren. Demgegenüber steht das »hohe« Gefährdungsrisiko, welches sich aus feldtypischer Sicht ergibt, wenn eine Schädigung des Kindeswohls unmittelbar zu befürchten ist (und worauf Antworten auf »S. 1« hinweisen könnten).3
3
Der Begriff des »Gefährdungsrisikos« erscheint interessant, da er die Begriffe Gefährdung und Risiko gewissermaßen vermengt. In der Tat werden beide Begriffe im Feld nur schwer unterscheidbar voneinander gebraucht. Es erscheint daher konsequent, sie in einen Begriff zusammenzufügen. Möglicherweise könnte es jedoch hilfreich sein, die Begriffe von Gefahr und Risiko, so wie es hier auf einer theoretischen Ebene getan wird, voneinander zu unterscheiden.
7. G EFÄHRDUNGSEINSCHÄTZUNGEN UND
DIE
F REMDUNTERBRINGUNG
| 231
Die Bewertung der Gefährdung steht damit in einem interessanten Gegensatz zur Bewertung im Feld der Medizin, in dem eine akute Erkrankung mitunter als weniger bedrohlich angesehen werden als chronische Erkrankung, weil letztere häufig schwerer zu behandeln sind. Im Kontext der untersuchten Jugendämter erscheint eine Gefährdung, die sich aus einer längeren Dauer ergibt, demgegenüber zunächst einmal weniger dringlich als eine akute Gefährdung, die sich aus aktuell bedrohlichen Situationen ergeben. Für die Sachbearbeiterin gilt es offenbar vor allem, die unmittelbar drohenden Gefährdungen des Kindeswohls abzuwenden. Unabhängig davon, ob eine akute oder eine chronische Kindeswohlgefährdung vorliegt, letztlich folgt in der Regel auf die Gefährdungseinschätzung die Frage, wie weiter verfahren werden kann. Hierzu noch ein weiterer Ausschnitt aus dem Risikoeinschätzungsbogen der bereits in Ausschnitt 44 betrachtet wurde. Das Instrument folgt der Logik eines idealisierten Entscheidungsprozesses: Nachdem die Sozialarbeiter/innen sich zur Frage der Gefährdung verhalten haben, sollen sie nun den »Handlungsbedarf« näher bestimmen. Ausschnitt 45
(Dokument Nr. 25)
Fälle von (vermuteter) Kindeswohlgefährdung sind im Kontext des Jugendamtes typischerweise, wie auch der obige Ausschnitt zeigt, mit hohem Handlungsdruck verbunden. Die Frage ist nur, wann genau (wieder) gehandelt werden muss. Die Frage des »Handlungsbedarfs« wird dabei zu-
Mit Niklas Luhmann bezieht sich die Gefahr dann auf die Wahrscheinlichkeit des Eintritts eines Schadens und das Risiko auf die Zurechnung auf Entscheidung, Entscheidungsprozess bzw. die entscheidende Person (vgl. Luhmann 2003, Luhmann 1993). Stark vereinfacht: Eine Situation (oder ein Fall) in der Umwelt des Jugendamtes ist gefährlich. Das Risiko trägt die Entscheider/in.
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nächst von der Frage der konkreten Maßnahme getrennt: Es ist (erst einmal) einfach »nur« zu bestimmen, wann etwas getan werden soll. Was getan werden soll, ist zunächst nebensächlich. Es geht offenbar um die zeitliche Dimension des Handlungsbedarfs bzw. darum, dass überhaupt etwas geschieht und dies möglichst zeitnah. Die im obigen Schema verwendeten Kategorien zeigen die Notwendigkeit einer schnellen Bearbeitung an: Es soll »sofort«, »zügig« oder »umgehend« gehandelt werden. Andererseits können nicht alle Fälle, auch nicht alle Fälle von Kindeswohlgefährdung, gleichzeitig (bzw. mit der gleichen Dringlichkeit) bearbeitet werden. Das macht Priorisierungen in der Reihenfolge der Bearbeitung notwendig, wozu, wie in Ausschnitt 45, Grade der Dringlichkeit unterschieden werden. Wenn die ersten drei Kästchen angekreuzt werden, dann wird unter großem Zeitdruck gehandelt werden müssen. Nur das vierte Kästchen erlaubt es, den Fall erst einmal »liegen« zu lassen. Das Instrument vollzieht insofern eine Unterscheidung in mehr oder weniger aktive und passive Fälle (vgl. Kap . 130, Emerson 1983: 426). Aktive Fälle, solche mit akuter Gefährdung, fordern die sofortige Bearbeitung. Passive Fälle, mit chronischer Gefährdung, können etwas »später« bearbeitet werden. 7.1.1 Die Errechnung der Gefährdung: »Pseudo-Mathematik«?! Neben den nominalen Skalen (»liegt vor«/»liegt nicht vor«) geben die im Kontext des Jugendamtes genutzten Dokumente häufig numerische Skalen vor. Die Einträge der Sozialarbeiter/innen werden dann in einem zweiten Schritt nicht selten über das Dokument rechnerischen Operationen zugeführt, die dazu dienen sollen, die Gefährdung im Fall einzuschätzen.4 Der
4
Die Analyse der bisherigen Ausschnitte im Rahmen dieses Kapitels demonstrierten, dass und wie Risikoeinschätzungsbögen die Sozialarbeiter/innen herausfordern, sich zur Frage der Risikoeinschätzung zu positionieren. Die Einschätzung der Wahrscheinlichkeit der Gefährdung wird mit Hilfe der im Kontext dieser Arbeit untersuchten Instrumente häufig mit Hilfe numerischer Skalen unternommen, die eine gewisse Objektivierbarkeit versprechen. Hierzu sind die entsprechenden Dokumente gewöhnlich tabellarisch aufgebaut. Kästchen fordern wie im obigen Dokument auf, Selektionen zu treffen, z. B. zu bestimmen, wann eine Intervention erfolgen soll. Es gibt Leerfelder, die Sozialarbeiter/innen zu handschriftlichen Eintragungen auffordern. Kategorien setzen thematische
7. G EFÄHRDUNGSEINSCHÄTZUNGEN UND
DIE
F REMDUNTERBRINGUNG
| 233
folgende Ausschnitt ist einem Dokument entnommen, das einen solchen mathematischen Bestimmungsversuch enthält; hier wird dazu nach der Bewertung der Sozialarbeiter/innen bezogen auf die »Interaktionen« der Eltern gefragt: Ausschnitt 46
(Dokument Nr. 23)
Die in den untersuchten Jugendämtern verwendeten Bögen fordern die Sozialarbeiter/innen auf, ihre Beobachtungen entsprechend der Logik des Instruments zu strukturieren. Häufig sind die Instrumente dazu, wie im oben abgebildeten Bogen, tabellarisch aufgebaut.5 Durch das Instrument werden
Schwerpunkte. Zudem besteht gemeinhin die Möglichkeit, Beobachtungen numerisch zu bewerten. 5
Bei dem obigen Instrument handelt es sich um eine Adaption des sogenannten »Stuttgarter Kinderschutzbogens« wie sie in den erforschten Ämtern häufig
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bestimmte Kategorien der Beobachtung vorgegeben (z. B. »Interaktionen zwischen Kind und Mutter«). Die Sozialarbeiter/innen sollen dann handschriftliche Eintragungen zu diesem Themenbereich vornehmen. Dazu wird noch einmal kleinteiliger gefragt (unterteilt z. B. in »Grenzen setzen« und »Verbale Anregungen«). Letztlich erfolgt die Aufforderung, die eigenen Eintragungen zu bewerten, zunächst nominal (»negativ«/»positiv«), dann numerisch (»-2« bis »+ 2«). Es sei an dieser Stelle der Blick darauf gelenkt, wie die Sozialarbeiterin mit diesen Zumutungen des Instrumentes umgeht. Dazu wird das Verhältnis, die Kommunikation zwischen den Kategorien des Instruments und den Eintragungen der Sozialarbeiterin etwas genauer betrachtet: Der Bogen fragt hier unter der Überschrift »Interaktionen« z. B. nach den »Interaktionen zwischen Kind und Mutter, bzw. primärer Bezugsperson«. In der ersten Zeile wird dies konkretisiert mit der Frage nach »Aufmerksamkeit« und der »Zuwendung für das Kind«. Die Sozialarbeiterin antwortet: »nur von kurzer Dauer – 2 min« aber »vorhanden«. Sie greift einerseits die Vorgabe des Bogens auf. Zudem nimmt sie eigene Bewertungen vor, indem sie die Eltern als wenig fürsorglich beschreibt oder die »verbalen Anregungen« der Eltern als »geringfügig« und »unzureichend« einordnet. Lesen wir den Bogen von links nach rechts, so wird zudem eine Zuspitzung deutlich, im Zuge derer für die Gefährdungseinschätzung eine zunehmende Komplexitätsreduktion vorgenommen wird. Das Instrument beginnt mit einer Kategorie (»Interaktion«), gewissermaßen als Überschrift, bewegt sich dann über die darunter stehenden Konkretion bis hin zu den Eintragungen der Sozialarbeiter/innen. Die Zuspitzung mündet am Ende jeder Zeile, in der Bewertung der Einträge auf einer Skala von -2 bis +2. Dabei steht +2 für »gut« und die -2 für »sehr schlecht«, ein »sehr gut« sieht das Instrument nicht vor. Eine weitere Zusammenfassung erfolgt über das letzte, mit einem dickeren Rahmen hervorgehobene, Feld »Sammel-Einschätzung«, welches sich rechts unten im Ausschnitt befindet. Dieses legt nahe, dass hier allen Beobachtungen, die zunächst von -2 bis + 2 skaliert wurden, noch einmal miteinander verrechnet werden sollen. Suggeriert wird, dass aus den numerischen Einträgen ein numerisches Mittel gebildet werden kann, das dann die »Sammel-Einschätzung« ist. Der Fall erfährt im Sinne der Gefähr-
verwendet wurden, zum Hintergrund des Instrumentes sowie zum Kontext seiner Entstehung (vgl. 2005).
7. G EFÄHRDUNGSEINSCHÄTZUNGEN UND
DIE
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dungseinschätzung mit Hilfe des Instrumentes eine vielfache Transformation, die in der trichterförmigen Zuspitzung auf eine numerische Ziffer mündet. Die auf den ersten Blick mathematische Logik des Instrumentes setzt dabei interessanterweise, »weiche« Interpretationen der Sozialarbeiter/innen voraus. Die Kategorien mit Eintragungen zu füllen, bleibt den Sozialarbeiter/innen (und ihren Auslegungen) überlassen. Die Beschäftigten des ASDs leisten »Übersetzungsarbeit«, wenn sie ihre Beobachtung in die Form des Bogens bringen. Ist z. B. die mangelnde Zuwendung in eine -1, -2 oder eine +1 zu »übersetzen«? Auch der Errechnung von »Sammel-Einschätzungen«, liegt offenbar eher eine interpretative Operation zu Grunde. Dies zeigt sich auch in dem Eintrag, wie ihn die Sozialarbeiterin hier vornahm. Als Sammeleinschätzung wurde hier »-2« eingetragen. Das rechnerische Mittel beträgt allerdings -1,4. Abgerundet hätte der Eintrag in einer mathematischen Logik daher »-1« lauten müssen. Darauf kommt es aber offenbar gar nicht so sehr an (was zudem durch die Benennung Sammeleinschätzung im Dokument markiert wird): der Eintrag (»-2«) bildet weniger eine rechnerische Operation sondern eher die Interpretation der Sozialarbeiterin ab (laut Skala: »sehr schlecht«). Gleichwohl suggeriert der Bogen, mit seiner Hilfe könnten die Sozialarbeiter/innen, im Zuge mathematischer Operationen, ihre Beobachtungen in ein objektives, numerisches Muster übertragen und dergestalt überprüfbarer machen, eventuell auch objektivieren. Die Arbeit mit dem Risikoeinschätzungsbogen bleibt aber, wie gezeigt, auf interpretative Prozesse angewiesen. Die Sozialarbeiter/innen betrachten die instrumentengestützte Objektivierungsversuche daher skeptisch und bewerten sie z. B. als »pseudomathematisch« (I/13: 49, 51). Eher schon könnte man den Einsatz der Instrumente als Form organisationaler Reduktion und Hervorbringung von Komplexität verstehen, als Versuche die Entscheider/innen zu unterstützen. Die Arbeit der Sozialarbeiter/innen erscheint dann als Übersetzungsarbeit (vgl. Callon 2006, Latour 2002), im Zuge derer Komplexität verarbeitet, Logiken der Organisation aber nicht eins zu eins übertragen, sondern vielmehr Akzente für weitere Prozesse gesetzt werden, z. B. Entscheidungsvoraussetzungen geprägt werden, indem mehr oder weniger gute und schlechte Sammeleinschätzung eingetragen werden. Die Pseudomathematik der Instrumente ist aus einem weiteren Grund nicht zu verurteilen. Weil Entscheidungen überflüssig würden, wenn sie,
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etwa durch Risikoeinschätzungsbögen, errechenbar wären, bewahrt gerade der Einsatz »pseudomathematischer« Instrumente Entscheidungsräume. 7.1.2 Exkurs: Etwas im Gefühl haben Bei allem Bemühen um objektive, verlässliche Informationen und rechnerische Sammeleinschätzungen ist auch das »Bauchgefühl« – gewissermaßen als Kontrapunkt zum Risikoeinschätzungsbogen – im Kontext des Amtes geeignet, weitere Entscheidungen in der Fallarbeit zu begründen. In der nachfolgenden Szene wird ein Fall auf einer »Fallteamsitzung« besprochen. Es geht um eine Familie, in der nicht klar ist, wo die Kinder künftig unterkommen können. Ausschnitt 47 Herr Ebken fragt, ob es in der Tat Pläne des Kindesvaters gibt, »die Kinder zu sich zu nehmen«. Frau Anders antwortet, man wisse das noch nicht genau. Sie vermute eher, dass der Vater das »Thema der Kinder« ausnutze, »um mit der Kindesmutter in Kontakt zu bleiben«. Die Kindesmutter fühle sich kontrolliert. Der Kindesvater sei oft auch zuhause bei der Mutter, esse dort und schlafe dort auch manchmal. Sie habe das Gefühl, dass der Vater mit seiner Frau »noch nicht fertig« sei. Sie denke, dass er da noch »eine Rechnung offen habe«. (B/6: Abs. 13)
Während der Teambesprechung fragt einer der anwesenden Sozialarbeiter, Herr Ebken, ob der Kindesvater ernsthaft gewillt sei, »die Kinder zu sich zu nehmen«. Dies kann Frau Anders, die fallzuständige Sozialarbeiterin nicht genau beantworten (und wer könnte schon sagen, ob es der Vater wirklich ernst meint?). Die Sozialarbeiterin vermutet aber offensichtlich ein ihr bekanntes Muster, nämlich, dass ein Elternteil (hier der Vater) mit dem anderen noch »nicht fertig« ist, der noch nicht abgeklungene Partnerschaftskonflikt auf dem Rücken der Kinder ausgetragen werden soll. Grundlage der Entscheidung wird aber das »Gefühl«, dass der Kindesvater es nicht ernst meint. In der folgenden Erzählung (Ausschnitt 48) vertraut die Sozialarbeiterin ebenfalls darauf, dass ihr etwas »komisch« vorkommt. Sie bringt dies in Zusammenhang mit der Gefährdungseinschätzung. In dem Interview hatten wir über einen Risikoeinschätzungsbogen, und darüber, wie die Sozialarbeiterin ihn ausgefüllt hatte, gesprochen. In dem entsprechenden Fall ging
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es um einen Jungen, der geäußert hatte, er sei vor vier Jahren durch seinen Vater misshandelt worden. Ausschnitt 48 Einerseits diese Sache [, die Aussage] von dem Jungen, das ist schon irgendwie so zu beobachten. Wenn der da so was sagt, was hinterher sich herausstellt, dass es nicht ist, ist schon ein bisschen komisch für mich. Und dass er vier Jahre angibt, finde ich auch komisch. Irgendwie bin ich da so unsicher: was ist die Wahrheit? Aber dass das genannt wird, ist für mich so: Da ist auf jeden Fall auch mit hin zu gucken. (I/3: Abs. 150)
Ist es in der ersten Sequenz der Trennungs- und Scheidungskonflikt, so weckt in der zweiten Sequenz die Aussage des Jungen das Misstrauen der Sozialarbeiterin – zudem macht sie misstrauisch, dass der Jugend die Aussage zurücknimmt (»wenn er da so was sagt, was hinterher sich herausstellt, dass es nicht ist«). Die Professionellen reagieren empfindsam auf Situationen, die ihnen »komisch« vorkommen, sie vertrauen dabei offensichtlich durchaus auf ihr Gefühl und richten ihren Blick auf mögliche Gefährdungen, die sich erst auf den zweiten Blick erkennen lassen. Die Sozialarbeiter/innen entwickeln offenbar Kompetenzen darin, Situationen als typische zu identifizieren und entsprechend zu handeln.6 Das »komische« Gefühl, die Präsenz »weicher« Daten in der Gefährdungseinschätzung bleibt offenkundig – trotz aller Versuche der Objektivierung – relevant für Entscheidungsprozesse in der Bearbeitung von Fällen von (vermuteter) Kindeswohlgefährdungen.
7.2 D IE K ATEGORISIERUNG DER E LTERN In der Analyse von Beobachtungsprotokollen, Interviews und Dokumenten zeigte sich immer wieder, dass der Bewertung des elterlichen Verhaltens in der Gefährdungseinschätzung eine herausragende Bedeutung zukommt. Die Falldarstellungen im Kontext von Kindeswohlgefährdung implizieren typi-
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Solche und ähnliche Vorgehensweisen werden in der Entscheidungstheorie als Strategien des Muster-Erkennens sowie des Handeln mit Faustregeln beschrieben (»rules of thumb«, vgl. Gigerenzer 2007, Gigerenzer und Gaissmaier 2011).
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scherweise Aussagen über die Eltern bzw. die Sorgeberechtigten. Diese werden hinsichtlich ihrer Eigenschaften und Verhaltensweisen beschrieben. Bestimmungen werden insbesondere in Bezug auf die Frage vorgenommen, inwiefern sie in der Lage sind, als kompetente Eltern zu agieren, bzw., ob ihnen in dieser Hinsicht Vertrauen geschenkt werden kann. Im Folgenden wird auf einige Aspekte der Kategorisierungsarbeit eingegangen, die für die Gefährdungseinschätzung von besonderer Bedeutung sind. Dabei wird herausgearbeitet, wie die Kategorisierung der Eltern für die Gefährdungseinschätzung nutzbar gemacht wird. 7.2.1 »Überforderte« Eltern Zur Einschätzung möglicher Gefährdungen wird von den Sozialarbeiter/innen abgewogen, ob und inwieweit Eltern zuzutrauen ist, ihre Kinder angemessen zu versorgen und zu erziehen. Die Frage ist häufig etwa, ob den Eltern eine »Strukturierung des Alltags [gelingt], so dass die Kinder bedürfnisgerecht versorgt und erzogen werden können« (Dok. Akte RE1: 111). Doch woran wird eine mangelnde Kompetenz der Eltern zur Alltagsbewältigung festgemacht? Welche Auswirkung hat eine entsprechende Feststellung für die Gefährdungseinschätzung? Im Folgenden werden zwei Ausschnitte zitiert, die im Anschluss daran analysiert werden. In beiden Ausschnitten wird dabei eine Mutter auf etwas unterschiedliche Weise als »überfordert« entworfen. Die Kategorisierung der Mutter wird jeweils mit einer Kindeswohlgefährdung verbunden was wiederum (mögliche) Herausnahme des Kindes plausibilisiert.7 Ausschnitt 49 Ja, nicht wirklich. Also (die Wohnung) musste ja irgendwie auf Vordermann gebracht werden, also die Mutter konnte das nicht. Die hat ja sozusagen diese Auflage schon von den Familienhelfern, also die haben sie ja schon aufgefordert, auch den Tag vorher und sie hätte ja richtig rotieren können, aber sie hat es halt
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In den untersuchten Materialien stehen häufig Kategorisierungen von Müttern im Vordergrund. Die Väter werden eher als »abwesend« (I/6: 32, I/13: 33, B/18: 14) oder auch als Gefährder (vgl. B2: 251, I/5: 47, B/13: 9) angesehen. Eine gendertheoretische Untersuchung der Kategorisierung der Adressat/innen könnte in einer weiteren Studie erfolgen.
7. G EFÄHRDUNGSEINSCHÄTZUNGEN UND
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einfach nicht geschafft. Und von daher war es halt wichtig, einfach die Kinder dann da raus zu holen. Also aus diesem Zustand und die Mutter war halt einfach überfordert. Die hat das nicht gebacken gekriegt. Also dann sehe ich nicht wirklich eine Alternative [zur stationären Unterbringung]. (I/2: Abs. 40)
Ausschnitt 50 Die ambulante Hilfe ist zwar erforderlich, [...], aber insbesondere für Mona nicht ausreichend, um langfristig eine angemessene Förderung zu sichern. Aus fachlicher Sicht sollte von daher eine betreute Wohnform für Mona in Betracht gezogen werden. Die Mutter hatte auch das erste Mal auch vorher schon mal bei der Familienhilfe gesagt, sie ist überfordert. [...] ich habe das dann hier auch aufgegriffen. Und, genau, wie gesagt, Anfang September und habe auch, wie war denn das [...], weil einfach auch absehbar ist oder war, doch, da hatte ich dann auch genügend Eindrücke, dass ich gemerkt habe, die Eltern schaffen das einfach nicht, das umzusetzen. (I/1: Abs. 181)
Die Sozialarbeiterin liest zu Beginn von Ausschnitt 50 aus der Akte vor, die sie während des Interviews zur Hand nahm. Dass die ambulanten Maßnahmen nicht ausreichen und daher eventuell doch zur stationären Unterbringung gegriffen werden muss, begründet die Sozialarbeiterin mit der Überforderung der Mutter. Diese zeigt sich darin, dass die Adressatin ihre Wohnung nicht in einen Zustand versetzen kann, der aus Sicht des Amtes akzeptabel erscheint. Häufig ist eine solche Beobachtung Ausgangspunkt für die Annahme, dass die Eltern nicht nur mit der Haushalts-, sondern auch mit der Lebensführung überfordert sind. Dies lässt dann wieder darauf schließen, dass von einer Gefährdung des Kindeswohls ausgegangen werden muss.8 Die Beobachtung von »Überforderungssituationen«, sei es in Sachen Versorgung oder Erziehung, muss aber nicht unbedingt zu einer Intervention führen. Häufig räumen die Sozialarbeiter/innen den Adressat/innen Bewährungsmöglichkeiten ein: Die Eltern müssen dann ihre Alltagsbewältigungskompetenz, aber auch ihre Veränderungsbereitschaft, innerhalb einer
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Hierbei handelt es sich um einen typisches Muster in der Verfertigung von Gefährdungseinschätzung, das in weiteren Studien noch genauer untersucht und problematisiert werden könnte.
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bestimmten Zeit und unter amtlicher Beobachtung unter Beweis zu stellen. In Ausschnitt 49 kann man sehen, dass das Ausschlagen solcher Bewährungsmöglichkeiten die Kategorisierung festigen und Sanktionen provozieren kann. Die Mutter »hätte ja richtig rotieren« können. Auf diese Weise hätte sie die Sozialarbeiter/innen des Amtes möglicherweise noch überzeugen können, dass sie doch in der Lage ist, ihre Wohnung (und auch ihre Lebensführung) in Ordnung zu bringen. So erscheint die Adressat/in den Sozialarbeiter/innen aber erst recht als »überfordert[e]« Mutter, was die Fremdunterbringung als mögliche Entscheidungsoption ins Spiel bringt. 7.2.2 Mangelnde »Erziehungskompetenzen« Die materielle Versorgung und Förderung der Kinder zu gewährleisten, ist jedoch nicht die alleinige Kompetenz, auf die hin die Sozialarbeiter/innen die Eltern beobachten. Die Sozialarbeiter/innen der Jugendämter prüfen regelhaft im Zuge von Gefährdungseinschätzungen auch die Erziehungskompetenzen der Eltern. Hierzu im Folgenden ein Auszug aus der Besprechung zweier Sozialarbeiterinnen, die sich über zu einen bearbeiteten Fall austauschen. Die ambulant tätige Sozialarbeiterin (I1) stellt der im Amt zuständigen Sachbearbeiterin (I2) die Ergebnisse ihrer bisherigen Beobachtungen vor. Ausschnitt 51 I1: [D]ie haben ja nur naja, eine notdürftige Versorgung, haben die ja fast nur, und unter dem Druck vielleicht noch der Familie, da ein bisschen engagiert. I2: Also was sie ihrem Kind mitgeben wollen fürs Leben, ne? Wie man so schön sagt (lacht kurz). I1: Was sie ihrem Kind auch wünschen. (13) Also ich hab dann auch zwischenzeitlich habe ich auch gedacht, sind die überhaupt erziehungstüchtig? Oder erziehungsfähig? (I/18: Abs. 244-246)
Die Einschätzung der elterlichen Kompetenz umfasst Bereitstellung der Versorgung ebenso wie erzieherische Kompetenzen. In obiger Sequenz lässt sich beobachten, wie eine mögliche Überforderung in diesen Bereichen geprüft wird. Es ist zwar eine »notdürftige Versorgung« sichergestellt, die aber offenbar nur unter dem Druck der übrigen Familie zustande kommt. Die Eltern sollen aber darüber hinaus erzieherisch tätig werden. Sie
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sollen, ihren Kindern etwas »mitgeben«, ihren Kindern »Förderung« zukommen lassen und sie »fürs Leben« vorbereiten. Die mangelnde Erziehungskompetenz (vgl. »die ist unreif in der Erziehung« (I/5: Abs. 161), wird als gefährdend, jedoch gleichsam als veränderlich angesehen. Die Eltern bekommen häufig, analog zum Aufräumen der Wohnung, die Möglichkeit, sich vor den Augen der Sozialarbeiter/innen zu bewähren. Sie werden selbst zu »Schülern«, die von den professionellen Pädagogen noch etwas zu lernen haben. Eltern sollen dann etwa beigebracht bekommen, für ihre Kinder »da zu sein« bzw. allgemein den eigenen »Erziehungsstil« zu überdenken. Sie können und sollen dann, unter Aufsicht des Amtes, ihre eigene Erziehungsfähigkeit verbessern. Die mangelnde Erziehungsfähigkeit der Eltern wird nicht als unveränderlich, sondern zunächst als entwickelbar angesehen, was den Einsatz ambulanter Hilfeformen seitens des Amtes nahelegt, der die Entwicklung der Eltern begleitet: Die Eltern erhalten Gelegenheit, in ihrer »Erziehungsfähigkeit zu wachsen«. In fachlicher Begleitung (z. B. durch eine Familienhelferin) können sie gemeinsam, gewissermaßen »an« ihrem Kind lernen, Reife erwerben und noch nicht vorhandene Kompetenzen entwickeln.9 Eine Überforderung der Eltern festzustellen, schließt aus Perspektive der Sozialarbeiter/innen nichtsdestotrotz ein, von einer vermehrten Gefährdung des Kindeswohls ausgehen zu müssen. Die Verankerung von Maßnahmen in der Familie erscheint dann als logische Schlussfolgerung. Die mangelnde Erziehungstüchtigkeit muss aber nicht, oder jedenfalls nicht direkt, zur Fremdunterbringung führen. 7.2.3 Sucht- und psychisch kranke Eltern Noch bedrohlicher als eine mangelnde Erziehungsfähigkeit der Eltern erscheint hingegen häufig eine psychische Erkrankung oder (Suchtmittel-) Abhängigkeit der Eltern. Beide Kategorisierungsformen haben dabei recht ähnliche Implikationen, die im Folgenden genauer betrachtet werden. Die Kategorien »psychotisch«, »psychisch krank«, »Trinker/in« oder »Alkoho-
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Das Einräumen von Bewährungschancen, ähnlich auch wie das Drohen mit der Fremdunterbringung, könnten insofern als Strategin des Nicht-Entscheidens verstanden werden (in Anlehnung an Bachrach und Baratz 1970), verhindern sie es doch – zumindest bis auf weiteres – die Entscheidung für die Fremdunterbringung treffen zu müssen.
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liker/in« werden verwendet, um die Eltern im Fall entsprechend zu markieren. Hierzu folgt der Ausschnitt aus einem Beobachtungsprotokoll, in dem eine Sozialarbeiterin den Fall einer »psychisch kranken Mutter« beschreibt. Ausschnitt 52 Die Mutter sei »im April in die Klinik«. Dort sei sie auch diagnostiziert worden, sie habe »manische Phasen«. Der Vater habe daraufhin die elterliche Sorge beantragt und auch zugesprochen bekommen. [...] Es habe eine »Eskalation« gegeben. [...]. Nach der »Eskalation« habe die Kindesmutter dann den Jaromir [das Kind] mitgenommen. (B/2: Abs. 640)
Werden Eltern als psychisch krank kategorisiert, so folgt hieraus in der Regel, dass die Sozialarbeiter/innen annehmen, die Eltern seien nur eingeschränkt zum Schutz des Kindeswohls in der Lage – oder könnten sogar selbst aktiv das Kindeswohl gefährden. In der obigen Darstellung wird die Mutter mit »manischen Phasen« in Verbindung gebracht. Der Aufenthalt in einer psychiatrischen Klinik wird dabei – auf typische Weise – als Beleg für die psychische Erkrankung behandelt (vgl. z. B. auch B/2: Abs. 732).10 Untermauert wird dies dadurch, dass die Mutter zudem »diagnostiziert« wurde. Die »manischen Phasen« spezifizieren die Erkrankung. Doch was folgt aus all dem für die Gefährdungseinschätzung in diesem Fall? Mit dem Hinweis auf manische Phasen wird verdeutlicht, womit im Fall psychisch kranker Eltern aus Sicht der Sozialarbeiter/innen typischerweise gerechnet werden muss: Es kann zu »Eskalationen« kommen. Die Eltern neigen möglicherweise zu überraschenden Handlungen, die das Kindeswohl gefährden können: Die Mutter hatte »den Jugenden mitgenommen«, was gegen das Aufenthaltsbestimmungsrecht geschah, welches der Vater innehatte, so dass das Mitnehmen des Kindes rechtlich gesehen einer Entführung gleichkam. Beunruhigend ist für die Sozialarbeiter/innen, dass sie nicht mit Sicherheit angeben können, ob das Kind in den Händen seiner Mutter überhaupt geschützt oder es möglicherweise doch auch Opfer unberechenbarer, eskalierender Handlungen werden könnte.
10 Mit dem Hinweis auf den Klinikaufenthalt wird dabei ein Normalitätsbereich markiert, den die betreffende Person verlassen hat (Foucault 1977). Die Behandlung belegt die Erkrankung.
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Die Feststellung eines Alkohol- oder Suchtmittelmissbrauchs hat dabei ähnliche Folgen für die Gefährdungseinschätzung wie die Feststellung einer psychischen Erkrankung. Zur Veranschaulichung hier die Schilderung einer Sozialarbeiterin: Ausschnitt 53 Und die Sorge der Helfer war also zum einen die Wohnung, das die Katastrophe war, die haben sie aufgefordert, das in Ordnung zu bringen, sehr konkret. Und zum anderen die Sorge, dass es eskalieren könnte. Ja, zum einen auf dem Hintergrund, dass Herr Hammann halt eine Suchtproblematik hatte, also die Gefahr Alkohol und dass es möglicherweise zwischen den Eltern eskaliert da am Wochenende, wenn er entlassen wird. (I/1: Abs. 214)
Die Beobachtung einer »Alkohol-« bzw. »Suchtproblematik« impliziert in der Praxis des Amtes, von einer erhöhten Wahrscheinlichkeit gefährlicher Handlungen ausgehen zu müssen. Dies ähnelt in der Wortwahl den anhand von Ausschnitt 52 aufgezeigten Implikationen für die Gefährdungseinschätzung: Wie im Fall der psychischen Erkrankung wird gleichsam im Fall des übermäßigen, möglicherweise krankhaften Alkoholkonsums mit eskalierenden Konflikten gerechnet. Dies schließt die Annahme einer erhöhten Wahrscheinlichkeit von Gewalthandlungen ein. Derart entworfen wird der alkoholkranke Vater deswegen zur »Gefahr« für seine Kinder. Dramatische Entwicklungen in den Familien, ein Wiederauftreten verstärkten Alkoholkonsums der suchtkranken Person etwa, können von den Sozialarbeiter/innen nie mit letzter Sicherheit antizipiert werden. Man muss daher damit rechnen, dass es zu Situationen kommt, die das Kindeswohl gefährden, ohne aber letzten Endes sagen zu können, ob und wann der Fall tatsächlich eintritt. Die Sucht, aber auch die psychische Erkrankung, so die Implikationen der untersuchten Kategorisierungen, kann jederzeit (wieder) einsetzen und zur Gefährdung des Kindeswohls durch unkontrollierte oder gewaltvolle Handlungen der Eltern führen. Die Sozialarbeiter/innen haben es mit einer latenten Bedrohung des Kindeswohls zu tun, die jederzeit aufbrechen kann. Schwierig zu bearbeiten ist dies auch, da Vorkommnisse sich außerhalb der Dienstzeit des Amtes, z. B. am Wochenende ereignen können. Ein Eingreifen des Jugendamtes ist dann, wenn überhaupt, nur sehr eingeschränkt möglich, (entsprechende Reaktion können zumeist erst wieder am Montag
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erfolgen). Die Sozialarbeiter/innen kalkulieren angesichts dessen mit einer erhöhten Wahrscheinlichkeit der Kindeswohlgefährdung. 7.2.4 »Uneinsichtige«, »unkooperative« und »widerständige« Eltern Die Sozialarbeiter/innen sehen sich häufig mit Eltern konfrontiert, die aus Sicht der Professionellen »unkooperativ«, »uneinsichtig« oder »widerständig« sind. Doch was genau ist damit gemeint und wie wird eine solche Einschätzung für die Gefährdungseinschätzung relevant gemacht? Im folgenden Ausschnitt kann man sehen, wie der Widerstand der Eltern, bzw. auch eine mangelnde Bereitschaft mitzuwirken, an den Maßnahmen des Amtes auf typische Weise zum Gegenstand der Einschätzung gemacht wird. Hierzu eine Sequenz aus dem Interview mit einer Sozialarbeiterin: Ausschnitt 54 Also der Vater hat einfach auch Schwierigkeiten, in der Einrichtung anzukommen. Das sehe ich halt, ja. Und das ist so eher auch [auf] einer subtileren Ebene, ja, dass er dann halt auch eher diesen Widerstand, also, wie gesagt, der geht halt in den Widerstand und nicht melden, verweigern, zurückziehen, so, diese Richtung. Und kann dann halt nicht mehr den Blick auf die Kinder haben. Das ist für die dann halt wichtig, dann auch den Kontakt zu haben. Und also diesen Konflikt wird es halt auch immer weiterhin geben, dass die Eltern halt mehr sich sehen und nicht wirklich auch gucken können, was sind die Bedürfnisse der Kinder. Und die eigenen Belange auch zurückzustellen, aber das, ja, deswegen sind die ja auch in einer Einrichtung. (I/2: Abs. 30)
Die Konstatierung von fehlender Kooperationsbereitschaft oder »Widerstand« wird, typischerweise, wie in Ausschnitt 54, als Hinweis auf eine erhöhte Gefährdung des Kindeswohls verstanden. Im obigen Ausschnitt wird der Widerstand der Eltern als Unfähigkeit interpretiert, zu Gunsten der Kinder eigene Bedürfnisse zurückzustellen (»und kann halt nicht mehr den Blick auf die Kinder haben«). Der Vater erscheint als unfähig, für die Bedürfnisse seiner Kinder zu sorgen, was letztlich auf die Unfähigkeit zur Wahrnehmung elterlicher Aufgaben sowie auf eine mögliche Kindeswohlgefährdung hinausläuft. Die mangelnde Kooperationsbereitschaft ist dabei durchaus geeignet, entscheidend zur Rechtfertigung des Einsatzes stationä-
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rer Erziehungshilfen beizutragen. Das zeigt auch der Ausschnitt aus einem Beobachtungsprotokoll, das die Aussagen einer Sozialarbeiterin dokumentiert. Ausschnitt 55 Es gehe darum, Problemakzeptanz und Problemkongruenz zu prüfen. Sie sagt sinngemäß, dass wenn die Eltern kongruent sind oder auch das Problem erkennen könnten, dass dann keine Gefährdung vorliege. »Sonst ist es eine Gefährdung!« (B/4: Abs. 27)
Die Einwilligung in die amtliche Problemkonstruktion (»Problemakzeptanz«) wird zur zentralen Bezugsgröße der Gefährdungseinschätzung. Die mangelnde Kooperationsbereitschaft fungiert als Rechtfertigung bereits unternommener Maßnahmen, aber auch als Begründung für die Aufrechterhaltung der Fremdunterbringung (»deswegen sind die ja auch in einer Einrichtung«). Die Kategorisierung richtet sich legitimierend sowohl (retrospektiv) auf die Vergangenheit als auch legitimierend (prospektiv) in die Zukunft. Die Sozialarbeiterin bringt es auf die (zuspitzende) Formel: Entweder die Eltern demonstrieren ausreichend Problem-Akzeptanz und Problem-Kongruenz oder die Sozialarbeiter/innen gehen von »Gefährdung« aus. 7.2.5 Eltern zwischen nicht »können« und nicht »wollen« Eltern, die »Probleme mit der Kooperation« machen, werden von den Sozialarbeiter/innen häufig im Sinne von Subtypen differenziert: Einerseits Eltern, die nicht ausreichend Kompetenzen zur Verfügung haben (vgl. z. B. die Thematisierung in Ausschnitt 51); andererseits Eltern – und das erscheint mitunter noch beunruhigender – die offenbar nicht recht gewillt sind, zu kooperieren. Der folgende Ausschnitt differenziert die Kooperationsproblematik in diesem Sine aus Sicht des Amtes. Ausschnitt 56 Ja, also ich sehe jetzt zum Beispiel, ich habe hier ein Problem mit der Kooperation der Eltern, ich sehe eine latente Gefährdung der Kinder, also hier in dem Fall gibt es eine Gefährdung, ja, die Kooperation ist bei der Mutter, klar, da gibt es eine Kooperation, sie hält die Termine ein, sie möchte das, aber es mangelt an der
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Umsetzung. Sie schafft es halt nicht und bei Herrn Körnig ist es halt eher so, dass also mit der Einsicht, das kann ich immer noch nicht richtig sagen, ob er das, ich zweifele an der Problemsicht bei ihm. Und aber auch da, er setzt es halt auch wenig um und entzieht sich auch den Kontakten mit den Helfern, ja. Also da hat man halt einfach ein Kooperationsproblem. (I/1: Abs. 51)
Bei der Mutter aus Ausschnitt 56 mangelt es aus Sicht der Sozialarbeiter/innen »an der Umsetzung«. Doch immerhin kooperiert sie: Man kann darauf bauen, dass sie Hilfemaßnahmen zustimmt und ggf. auch umsetzt. Die Beobachtung wird daher mit Blick auf mögliche Kindeswohlgefährdungen als weniger beunruhigend angesehen: »Sie schafft es halt nicht« – aber immerhin bemüht sie sich, den Erwartungen des Amtes zu folgen. Anders der Vater, der sich den Kontakten mit den »Helfern« verweigert: Er zeigt mangelnde »Einsicht«.11 Der Vater verweigert die Zustimmung in die amtliche Problemkonstruktion. Verhalten sich die Adressat/innen dergestalt, so wiegt dies aus Perspektive der Beschäftigten des ASDs häufig schwerer als die mangelnde Umsetzung. Besteht ein »guter Wille«, werden Termine eingehalten etc., kann Nachsicht walten gelassen werden. Lässt das Verhalten jedoch auf Widerstand schließen, dann wird dies oftmals als Gefährdungsmoment interpretiert. Der Adressat ist dann kein Adressat, mit dem, sondern gegen den etwas getan werden muss.12
11 Dabei wird die Deutungshoheit des Amtes deutlich: Es sind die »RichterSozialarbeiter« (Foucault 1977: 392), die das Problem konstruieren und im Anschluss beurteilen, ob die Eltern eine ausreichende »Problemsicht« haben oder nicht. 12 Der Vater erscheint als widerständiger Klient: »Clients assessed as resentful of the social workers interventions, uninterested in dealing with their problems, were portrayed by the social workers as inappropriate clients because the social workers couldn’t do nothing ›for‹ them. Rather they portrayed their responses to such clients as coercive (or doing ›to‹) actions and sought to morally distance themselves from their response by portraying them as dirty work« (Miller 1990: 170). Anders zu bewerten wäre der Fall, wenn die mangelhafte Kooperation in einem Nicht-Können begründet wäre. Die zitierte Passage behandelt ein Verhalten, welches sich offenbar gegen das Jugendamt richtet (obwohl dem Vater aus Sicht der Sozialarbeiter/in ein anderes Verhalten prinzipiell möglich wäre).
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Der Vater nimmt die Intervention des Amtes eben nicht, wie dies sich die Sozialarbeiter/innen wünschen würden, »dankbar« an (vgl. I/18: 263). Mit seinem »Widerstand« stellt er zudem die Deutungshoheit der Sozialarbeiter/in in Frage und gefährdet damit das (machtvolle) Arrangement zwischen Amt und Adressat/innen.13 Auch in vielen weiteren Fällen zeigt sich, dass gerade die »dankbare Annahme« der Hilfe als positive Eigenschaft der Adressat/innen und beruhigender Aspekt in der Gesamtgestalt des Falls behandelt wird: »Frau X ist sehr dankbar für jede Hilfe [...]«, heißt es etwa in dem Vermerk einer anderen Sozialarbeiterin. Diese Haltung der Adressat/innen zeigt an, dass die entsprechenden Personen das (vermeintlich) hilfreiche Potential der amtlichen Maßnahmen anerkennen und eventuell sogar bereit sind, jegliche Hilfen nicht nur zu akzeptieren, sondern auch für die eigene Entwicklung zu nutzen.14 Probleme, die vom Amt identifiziert, von den Eltern nicht gesehen werden, erscheinen daher im Gegensatz dazu besonders bedrohlich.
13 In diesem Fall wird das gefährdete Machtverhältnis jedoch zugleich durch die Charakterisierung der Eltern wieder »repariert«: Die Eltern erscheinen als unfähig; sie werden als mögliche Gefahr für ihre eigenen Kinder konzeptioniert, die die Bedürfnisse der Minderjährigen missachten könnten. Diese Konstruktion des Vaters würde im Zweifelsfall auch den Eingriff gegen den Willen des Erziehungsberechtigten legitimieren. Das Machtverhältnis ist insofern wiederhergestellt, als dass das Amt angesichts der möglichen Gefährdung der Kinder durch den Vater legitimerweise auch gegen den Widerstand des Vaters entscheiden und handeln kann. Die beunruhigende Beobachtung, dass man es hier mit einem widerständigen Adressaten zu tun hat, bleibt aber dennoch. Die Eltern könnten die Interventionen des Amtes weiter in Frage stellen und auch in Zukunft versucht sein, diese zu unterlaufen. 14 Besonders bedrohlich erscheinen widerständige Eltern, da es schwer ist mit ihnen zu arbeiten und sie möglicherweise Gegenstrategien entwickeln, zumindest die Möglichkeit von Täuschung und Desinformation einkalkuliert werden muss.
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7.2.6 Gegenüberstellungen in der Kategorisierung der Eltern In der Einschätzung von Eltern nutzen die Sozialarbeiter/innen häufig die Form der Gegenüberstellung von mehr oder weniger vertrauenswürdigen Elternteilen. Das zeigt sich auch in dem nachstehenden Ausschnitt aus einem Beobachtungsprotokoll, welches den Fallbericht einer Sozialarbeiterin dokumentiert. Kurz zuvor war in diesem Fall eine Fremdunterbringung veranlasst worden. Ausschnitt 57 Bei der Kindesmutter sei das so, dass dort auch schon weitere Kinder in Obhut genommen worden seien: »Da sind auch schon drei weitere untergebracht.« ([Anmerkung des Ethnographen im Protokoll:] Ich bin an der Stelle sehr überrascht, da davon bislang noch gar nicht die Rede war. Auch die Kinder der Mutter kamen bislang gar nicht vor.) Ich frage überrascht nach, ob weitere Kinder dieser Frau untergebracht seien. Frau Vase bestätigt dies. Die Mutter habe noch mehrere Kinder mit verschiedenen Männern, aber keines lebe bei ihr. Im Moment sei sie außerdem noch »wohnungslos«. Der Vater sei hingegen sehr kooperativ: »der hat Familienhilfe, der macht mit.« Der Kindesvater habe »nichts gemacht«, »der kommt her«, »die Kleene geht zum Psychologen«, »der würde sich melden«, »der kooperiert«, »der nimmt Hilfe an«. (B/2: Abs. 832).
Der negativen Charakterisierung der Mutter stellt die Sozialarbeiterin die positive Konstruktion des Vaters gegenüber. Schritt für Schritt wird zunächst die Person der Mutter entworfen. Sie kann ihre Kinder nicht schützen, musste deswegen bereits drei Kinder der Obhut des Amtes überlassen. Sie kann ihren Kindern (vermeintlich) keine stabile Familie bieten, hat Kinder von wechselnden Partnern. Zu guter Letzt ist sie auch noch wohnungslos. Als verantwortungsvoll handelnde Mutter, die ihre Kinder schützt und versorgt, kommt sie in der Konstruktion des Falls daher nicht in Frage, sie erscheint vielmehr als ›schlechte‹ Mutter.15 Der Vater wird demgegenüber als verlässlicher Kooperationspartner präsentiert, der ins Amt »kommt«, »sich meldet«, sich aktiv auf die Sozial-
15 Sie erscheint als Mutter, die für eine schlechte Mütterlichkeit (die Abwesenheit des »mothering«) steht (vgl. Krane und Davies 2000).
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arbeiter/innen zubewegt. Eine Kontrolle und Begleitung durch die Familienhilfe lässt er zu. Dass er »kooperiert« und »Hilfe« annimmt, zeigt, dass die Sozialarbeiter/innen auch in Zukunft auf seine Bereitschaft zur Einwilligung in mögliche Interventionen zählen können. In der Gegenüberstellung erscheinen Vater und Mutter polarisiert: Über die Person der Mutter ist nur Negatives zu erfahren. Dem Vater hingegen wird Vertrauen entgegengebracht. Ihm ist scheinbar nichts vorzuwerfen (er hat nichts gemacht). Er stellt nahezu den Idealtypus des zuverlässigen Kooperationspartners dar: Sogar in einer Notsituation »würde [der] sich melden«. Eine Gefährdungssituation könnte dann im Zusammenwirken zwischen Amt und Vater abgestellt werden. Diese Aufteilung von negativen und positiven Zuschreibungen ermöglicht es, mit zumindest einem Elternteil als vertrauenswürdigen Klienten zusammenzuarbeiten. Hätte man es mit zwei widerständigen, erziehungsunfähigen Eltern oder, in diesem Fall, nur mit einer »wohnungslos[en] Mutter« zu tun, wäre die Fremdunterbringung der gemeinsamen Tochter (der »Kleenen«) kaum zu vermeiden gewesen. Durch die Gegenüberstellung, in der der Vater als »brauchbarer« Klient erscheint, kann diese Maßnahme aber (zunächst) vermieden werden. Es bleibt ein Elternteil als Anschlusspunkt für weitere Kooperationen verfügbar (während der andere ausscheidet). Es erscheint nachvollziehbar, dass die Entscheidung gegen die Fremdunterbringung ausfällt und das Kind bei seinem Vater bleiben kann.
7.3 R ELATIONIERUNG BERUHIGENDER UND BEUNRUHIGENDER B EOBACHTUNGEN In der Analyse von Interviews, Beobachtungsprotokollen und Dokumenten zeigte sich im Laufe der Forschung ein häufig wiederkehrendes Muster, welches sich durch die abwägende Gegenüberstellung von Beobachtungen auszeichnet. Im Folgenden wird dieses Muster etwas näher in seiner Bedeutung für die Herstellung von Gefährdungseinschätzungen untersucht. Es geht darum, wie die Sozialarbeiter/innen Beobachtungen miteinander relationieren und dies dazu nutzen, die Gefährdungslage im Fall zu kalkulieren und darzustellen. Als Material dient nachfolgend eine längere Passage aus dem Bericht eines Sozialarbeiters, die in mehreren Schritten analysiert wird.
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Zu Beginn wird eine exemplarische Schilderung eines Sozialarbeiters untersucht. In der Situation, in der die folgenden Aufzeichnungen gemacht wurden, kam Herr Haak, der Sozialarbeiter, gerade von einem Hausbesuch. Er sagte, er wolle sich erst einmal die Hände waschen. Dort, bei seinem Hausbesuch, sei es »schmierig, schlierig, dreckig gewesen«. Es habe »schrecklich« nach Kot und Urin von Katzen und Hunden gestunken. Zudem berichtete er, dass er bereits am Anfang der Woche einen Hausbesuch bei der gleichen Familie durchgeführt hatte. Ausschnitt 58 Also, als ich aus dem Haushalt am Montag kam, da war das so, dass ich schon sehr bedrückt war, [...] dann habe ich gedacht, noch mal extra kritisch, oder sehr kritisch noch mal angeguckt: Was war da alles? //mhm// Hätte ich das Kind rausnehmen müssen oder so? (I/3: Abs. 66)
In der Schilderung wird zunächst die Zumutung deutlich, die das Entscheiden für die Sozialarbeiter/innen immer auch bedeutet. Die Organisation verlangt von ihren Mitgliedern, Entscheidungen zu treffen (Scott 1986, Simon 1997). Aber es ist nie ganz klar, ob »richtig« entschieden wurde oder doch anders hätte gehandelt werden müssen. Herr Haak ist angesichts dessen »bedrückt«. Der Sozialarbeiter deutet die Unsicherheit in der Entscheidungssituation an: War es in Ordnung, dass er das Kind in der Familie beließ? Oder lagen nicht möglicherweise doch Gründe für eine Unterbringung vor? Hätte möglicherweise sogar eine (ethische, rechtliche, fachliche) Verpflichtung bestanden, das Kind aus der Familie herauszunehmen? Die Selbstreflexion des Sozialarbeiters enthält einige typische Aspekte dessen, was die Gefährdungseinschätzung des Jugendamtes ausmacht: Ausschnitt 59 Äh, weil das so/in der Richtung kam da so zu mir rüber von dem Kollegen, also hier kann man es gar nicht aushalten, ne? So, er konnte es nicht aushalten und dachte ich ja [...], also was ist tatsächlich mit dem Jungen los, also der wird also, [...], versorgt. Der ist/der ist von Ernährung her müsste man gucken, dass der noch gesünder ernährt wird, aber ansonsten hungert der nicht. Die Großen spielen mit ihm, die Eltern sind auch immer/ wenn man da ist, gucken die auch nach dem Jungen, so dass er/ ja:
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er wird versorgt und wird auch betreut und der hat auch einen normalen Zugang so, wird nicht irgendwie in ein Zimmer eingesperrt oder so was. Er kriegt, denke ich, öfter mal Streit der Eltern mit, hat dann aber wieder die Zusicherung, die Großen sind ja da. Also, ich lass ihn drin. Ich nehme ihn auf keinen Fall raus. [...] [I]ch habe gedacht: die können das gar nicht verstehen, die wissen gar nicht, warum ich den hier rausnehme. Warum soll ich ihn eigentlich rausnehmen? Bloß weil er nicht in die Kita kommt? Dafür können die Eltern nichts, ne? (I/3: Abs. 66) Herr Haak kommt zu dem Schluss, dass er eine Fremdunterbringung den Eltern nicht hätte plausibel machen können, auch vor sich selbst und dem Forscher wäre der Eingriff anhand seiner Beobachtungen offenbar kaum zu begründen. Der fehlende KiTa-Platz allein etwa rechtfertigt diesen Schritt nicht. Seine Position, nämlich das Kind in der Familie zu belassen, veranschaulicht und begründet Herr Haak in der direkt folgenden Passage mit einer Aufzählung von Beobachtungen. Verschiedenste Aspekte einer Fallkonstellation werden knapp aufgezählt und abwägend miteinander in Verbindung gesetzt: Ausschnitt 60 Und dass er nicht entsprechend gefördert wird, so die haben ihre Grenzen und da muss Kita rein, und dann ist es eigentlich/ dann ist es so. Ich kann das Kind nicht ins Gymnasium führen, bloß weil ichʼs rausnehme oder so. Da brauchtʼs auch eine Verbindung/ der hat eine Beziehung zu den Eltern, der hat eine Bindung, der ist in dem Milieu. Kinderbett ist in Ordnung so, ist da. Kleidung ist da, so angemessen //mhm//, sonst ist auch nicht verdreckt der Junge also so. (I/3: Abs. 66)
Bei der Einschätzung der Gefährdung kommt es allerdings nicht auf die einzelnen Beobachtungen oder die bloße Anzahl der beobachteten Aspekte an. Die Sozialarbeiter/innen stellen die einzelnen Beobachtungen im Sinne einer Aufzählung nicht bloß nebeneinander, sondern sie bringen sie miteinander in Verbindung. Sie relationieren beruhigende und beunruhigende Beobachtungen. Beunruhigend sind die Beobachtungen, die vermuten lassen, dass eine Kindeswohlgefährdung vorliegt (z. B., weil das Kind »nicht entsprechend gefördert wird« oder der Haushalt »dreckig« ist). Die Beobachtung weckt die Sorge um das Kindeswohl. Beruhigend hingegen ist eine Beobachtung, insoweit sie annehmen lässt, dass eine Kindeswohlge-
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fährdung unwahrscheinlich ist (z. B., weil der Junge »versorgt« ist). Zentral ist jedoch die abwägende Relationierung der Beobachtungen. Herrn Haak gelingt es, in der Abwägung zu zeigen, dass der dreckige Haushalt allein (so bedenklich er erscheinen mag), nicht dazu führen muss, dass eine Unterbringung notwendig wird. Hierfür hätte es z. B. eine Mehrzahl von beunruhigenden Beobachtungen gebraucht.16 Mit dem Hinweis, dass der Junge nicht »völlig verdreckt« war, zeigt Herr Haak zudem, über die Negation, was seine Entscheidung zum Kippen hätte bringen können: Nämlich, wenn z. B. nicht nur die Wohnung in schlechtem Zustand, sondern auch der Junge verdreckt gewesen wäre (eventuell sogar noch »zunehmend«), so wie der Sozialarbeiter es in anderen Fällen offenbar schon erlebt hat. Auch die Formulierung, dass der Junge nicht eingesperrt war, markiert, dass hier ein »Kipppunkt« vorliegt, der Herrn Haak hätte veranlasst haben können, eine andere Entscheidung zu treffen. 7.3.1 Gesichtspunkte der Gefährdungseinschätzung Zur Veranschaulichung der komplexen, relationierenden Abwägungen, wie die Sozialarbeiter/innen der Jugendämter sie vornehmen, habe ich den Aussagen von Herrn Haak einige Passagen entnommen. Die Aussagen wurden zudem, entsprechend ihrer Verwendung in den Schilderungen des Sozialarbeiters, als mehr oder weniger beunruhigende oder beruhigende Beobachtungen typisiert, d. h., in Beobachtungen unterschieden, die eine Kindeswohlgefährdung als eher wahrscheinlich oder als eher unwahrscheinlich erscheinen lassen. In einem zweiten Schritt werden implizite Gesichtspunkte herausgearbeitet, die Sozialarbeiter/innen mit ihren Darstellungen markieren und sich ebenso in den Schilderungen von Herrn Haak abzeichnen. (Vgl. Tabelle 8.)
16 Der Ausschnitt zeigt überdies, wie es Sozialarbeiter/innen gelingen kann, komplexe familiäre Konstellationen überhaupt einzuschätzen und in kurzer Zeit zu einer brauchbaren Grundlage von Entscheidungen zu formen. Sie bringen die Fallkomplexität in die Form der Aufzählung von Beobachtungen und reduzieren dabei die Komplexität derart, dass sie für die Plausibilisierung von Entscheidungen bearbeitbar bleibt (wobei betont sei, dass es sich hier nur um einen Ausschnitt der Erzählung handelt).
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Die Sozialarbeiter/innen folgen einer abwägenden Argumentationsstruktur, um sich einer Bestimmung möglicher Kindeswohlgefährdungen anzunähern. Mit Blick auf die Tabelle wird zunächst noch einmal die enorme Komplexität deutlich, die in diesem und ähnlichen Fällen verhandelt wird. Einerseits hat man es dabei mit sehr knappen Ausführungen zu tun. Andererseits berücksichtigt die Darstellung in der Erzählung zentrale Gesichtspunkte möglicher Kindeswohlgefährdung bzw. deren Sicherstellung. Der Sozialarbeiter zeigt, dass er aus der Perspektive des Amtes wichtige Gesichtspunkte einer Risikoeinschätzung beachtet: Bindung, z. B. Fürsorge, Betreuung, die familiäre Konstellation, Zugang zur Umwelt, die institutionelle Einbindung, Möglichkeit der Bildung und die Sicherung der körperlichen Unversehrtheit. Es handeln sich hierbei zugleich um Gesichtspunkte, die zentrale Dimensionen des Kindeswohls abbilden und regelhaft im Kontext des Amtes als wichtig angesehen werden. Tabelle 8: Gegenüberstellung beruhigender und beunruhigender Beobachtungen in der Einschätzung von Kindeswohlgefährdungen Beruhigende Beobachtungen
Beunruhigende Beobachtungen
Gesichtspunkte der Beobachtung
„ist auch nicht verdreckt der Junge“, „Kleidung ist da, so angemessen“, „Kinderbett ist da“, „ansonsten hungert der nicht“
„müsste man gucken, dass der noch gesünder ernährt wird“, Wohnung war „schmierig, schlierig, dreckig“
Körperliche Unversehrtheit, (z. B. hygienische Versorgung und Ernährung)
„der hat eine Bindung“
„Zuwendung“ nur von kurzer Dauer (~ 2 min.)
Eltern-KindBindung
„immer wenn man da ist, gucken die auch nach dem Jungen“
„Kind muss selber aus Flasche trinken – nicht alterstypisch“
Betreuung und Fürsorge
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Tabelle 8 – Fortsetzung: Gegenüberstellung beruhigender und beunruhigender Beobachtungen in der Einschätzung von Kindeswohlgefährdungen Beruhigende Beobachtungen
Beunruhigende Beobachtungen
Gesichtspunkte der Beobachtung
„hat dann aber wieder die Zusicherung, die Großen sind ja da“
„er kriegt denke ich öfter mal Streit der Eltern mit“
Familiäre Konstellation, Geschwisterbeziehungen
„normaler Zugang“, „nicht eingesperrt“
„da muss Kita rein“
Zugang zur sozialen Umwelt, institutionelle Einbindung
„ich kann das Kind nicht ins Gymnasium führen, bloß weil ich es rausnehme“, „der ist in dem Milieu“
„dass er nicht entsprechend gefördert wird“
Bildung und Förderung
Die genauere Betrachtung des Berichtes von Herrn Haak bringt zudem hervor, wie beruhigende und beunruhigende Beobachtungen abwägend gegenüber gestellt werden: Dass der Junge »nicht verdreckt« ist, »eine Bindung«, einen »normalen Zugang« etc. hat wird gegenübergestellt, dass z. B. die »Wohnung schmierig, schlierig, dreckig ist«. Diese gegenüberstellende Argumentation wird zudem innerhalb der einzelnen Gesichtspunkte vollzogen: Die Frage der Eltern-Kind-Beziehung wird einerseits mit der beruhigenden Feststellung umrissen: »der hat eine Bindung«. Auf der anderen Seite steht die Annahme, »dass die Zuwendung nur von kurzer Dauer ist«. Bezogen auf die Frage von Bildung und Förderung wird festgestellt, dass der Junge »nicht entsprechend gefördert wird«. Dem steht die Feststellung gegenüber, dass das Kind in seinem »Milieu« verankert ist und auch mit einer Fremdunterbringung (»bloß weil ich es rausnehme«) nicht ins Gymnasium geführt werden kann. Stünden die beunruhigenden Beobachtungen alleine, müssten die Sozialarbeiter/innen in solchen und ähnlichen Fällen wohl von einer Kindeswohlgefährdung ausgehen. Es kommt jedoch, wie die Analyse des Berichtes von Herrn Haak andeutet, in der Regel für die Gefährdungseinschätzung und die Begründung von Interventionen auf die Relationierung von (beruhigenden und beunruhigenden) Beobachtungen an.
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7.3.2 Relativierungen der Gefährdungseinschätzung Nicht immer muss die Häufung beunruhigender Beobachtungen zur Intervention bzw. zur Feststellung einer dringlichen Gefährdungssituation führen. In der Analyse des Materials zeigten sich immer wieder Argumentationsstrategien der Sozialarbeiter/innen, die sich besonders eignen, die Einschätzung der Gefährdung zu relativieren. Diese können eine Entscheidung für eine Intervention verhindern oder zumindest verzögern. Ich gehe auf vier derartige Argumentationsmuster ein, von denen das analysierte Material wiederkehrend zeugte. Die Personalisierung von Beobachtungen, die Thematisierung der Beziehungen der Akteure zueinander, die Darstellung der Aussicht auf Veränderung im Fall sowie die Thematisierung von Bindung. 7.3.2.1 Personalisierungen von Beobachtungen Betrachten wir noch einmal die in Abschnitt 7.3, Ausschnitt 58f. zitierte Schilderung von Herrn Haak, so können wir dort bereits ein personalisierende Bezweiflung der gemachten Beobachtungen erkennen: Der Sozialarbeiter hatte berichtet, dass sein Kollege es in dem besprochenen Haushalt kaum habe aushalten können. Dies wirkt sich dramatisierend auf die Einschätzung der Gefährdungslage aus. Andererseits betont Herr Haak aber, dass der Kollege (»er«), diese Empfindung hatte. Er zeigt damit an, dass eine andere Person auch ganz anders hätte empfinden können, betont die Kontingenz der Beobachtung bzw. ihre Fundierung in der Person des Beobachters. Die berichteten Beobachtungen erhalten so einen subjektiven Charakter. Die Dramatik wird an die Person des Kollegen gebunden (und eben nicht bzw. nicht nur an den Fall). Die Gefährdungslage erscheint weniger dringlich (»der Junge bleibt da«). In Ausschnitt 61 wird die Einschätzung der Gefährdungslage ebenfalls mit Verweis auf die beobachtende, aussagende Person relativiert. Es geht hier um den bereits in Kap. 7.2.3 untersuchten Fall, in dem eine Kindesmutter von den Sozialarbeiter/innen als »Manikerin« beschrieben wurde. Die Betreffende lebte zu diesem Zeitpunkt getrennt von ihrem ehemaligen Partner, der zugleich der Kindesvater ist. Die Kindesmutter hatte gegenüber den Sozialarbeiter/innen schwere Vorwürfe erhoben, u. a. angedeutet, dass der Vater seine Tochter missbrauche. Der folgende Ausschnitt aus einem Beobachtungsprotokoll dokumentiert die Schilderung der zuständigen Sozial-
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arbeiterin, in der sie dem Ethnographen ihre Vorgehensweise angesichts dieser Anschuldigungen darstellte. Ausschnitt 61 Sie [die Sozialarbeiterin] habe der Mutter dann gesagt, dass sie das Kind in eine Pflegefamilie geben müsse, wenn sie [die Mutter] bei diesen Aussagen bleibe. Denn das, was die Mutter gesagt habe, sei durchaus Anlass gewesen, dass sie eine »Kindeswohlgefährdung« hätte prüfen müssen. Sie habe gesagt: »Dann müssen wir Julia unterbringen!« Daraufhin habe die Mutter gesagt: »Ne, die Julia soll beim Vater bleiben«. Die Mutter sei dann eingeknickt. Wäre die Mutter bei ihrer Aussage geblieben, so sagte mir Frau Voss später, hätte sie eine kurzfristige Inobhutnahme in Erwägung ziehen müssen, um die Situation des Kindes beim Vater besser abschätzen zu können. (B/2: Abs. 827)
Im untersuchten Fall können die Vorwürfe eigentlich nicht unbeantwortet bleiben. Hierzu könnte eine Fremdunterbringung z. B. in einer Pflegefamilie, zumindest vorübergehend, nötig sein.17 Frau Voss müsste prüfen, ob eine »Kindeswohlgefährdung vorliegt«. Frau Voss schildert eine kniffelige Situation: Einerseits hat sie es mit schweren Vorwürfen zu tun, die zur Fremdunterbringung führen, wenn sie sich bewahrheiten. Andererseits hat sie es aber mit einer manischen Mutter zu tun. Das unkritische Für-VollNehmen der Aussagen hätte schwerwiegende Konsequenzen und würde möglicherweise zu einem ungerechtfertigten Eingriff führen. Die Sozialarbeiterin macht der aber Mutter klar, dass sie unter Zugzwang gerät. Sie bringt die Mutter zum »Einknicken«, diese beharrt nicht länger auf den Anschuldigungen (ohne sie allerdings gänzlich zurückzunehmen). Das Relativieren der Aussage erlaubt es Frau Voss jedenfalls, die Beobachtung retrospektiv der Person der Mutter zuzuschreiben, so dass das Verfahren der Gefährdungseinschätzung nicht ausgelöst wird. Die Aussagen erscheinen als die einer psychisch kranken Person. Die beunruhigende Wirkung der Aussage wird durch das Zurückrudern der Mutter zusätzlich
17 Dies ergibt sich aus den gesetzlichen Grundlagen, wie sie z. B. im § 8a des SGB VIII formuliert werden. Demnach muss die Sozialarbeiterin tätig werden, wenn ihr »gewichtige Anhaltspunkte« vorliegen: Die Kindeswohlgefährdung ist dann »möglichst innerhalb von zwei Stunden« »abzuschätzen«. Ggf. ist für den staatlichen Schutz des Kindes zu sorgen.
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entkräftet. Die Anschuldigungen erscheinen nun sogar als mögliche Falschaussage, die getätigt wurde, um den Ex-Partner beim Jugendamt in Diskredit zu bringen. Angesichts des Einknickens der Mutter und vor dem Hintergrund der Typisierung der Mutter (hier: »Manikerin« bzw. »manische Mutter«) erscheinen die Aussagen als falsche Beschuldigungen, was die Mutter nun zusätzlich in schlechtem Licht dastehen lässt und die Kategorisierung als psychisch krank weiter festigt. Um nachvollziehen zu können, wieso sich die Sozialarbeiterin hier dazu entscheidet, die Mutter zum Zurücknehmen ihrer Aussagen zu bewegen, scheint ein Rückgriff auf die Methode der Kategorisierungsanalyse18 nützlich: Das Verhalten der Mutter, wie Frau Voss es beschreibt, entspricht nicht den kategoriengebundenen Aktivitäten einer Mutter, sondern eher dem einer psychisch kranken Person, einer »Manikerin«: Sie kommt gerade aus der psychiatrischen Klinik, erhebt schwerwiegende, möglicherweise übertriebene Vorwürfe und hat ihr eigenes Kind entführt. Aufgrund der vorgenommenen Kategorisierungsarbeit kann also unterstellt werden, dass die Mutter aus »verrückten« Motiven heraus handelt (und weniger als sorgende Mutter). In vielen weiteren Fällen zeigte sich, dass die Aussagen von als sucht-krank angesehenen Personen (»Alkoholiker«, »Drogen- oder Spielsüchtige«) ebenfalls häufig als weniger glaubhaft angesehen wurden. Die Relativierung der Gefährdungseinschätzung wird durch das Aufzeigen der devianten Persönlichkeitsstruktur (und möglicher Verrücktheit der Mutter) legitimiert. Dabei wird auch deutlich, wie schwierig die Entscheidungssituation für die Sozialarbeiter/innen ist. Frau Voss trägt hier letztlich das Risiko, dass sie das Kind nicht sofort »in eine Pflegefamilie« gegeben hat. Den Vorwurf der Mutter wird sie weiter im Blick haben, er konnte jedoch so weit relativiert werden, dass zumindest vorerst von einer Fremdunterbringung abgesehen wurde.
18 Kategorien implizieren in der Regel Erwartungen bezogen auf typische Verhaltensweisen, die mittels der Kategorie den markierten Personen zugeschrieben werden. Zum Ansatz der Kategorisierungs-Analyse vgl. Sacks z. B. 1989 und Lepper 2000.
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7.3.2.2 Beziehungen der Akteure In der Gefährdungseinschätzung und in der Bewertung der Verlässlichkeit getätigter Aussagen nehmen die Sozialarbeiter/innen überdies in Rechnung, in welcher Beziehung die aussagende Person (z. B: eine Nachbarin) zu den Personen steht, über die Aussagen getroffen werden. Hierzu der Auszug aus einem Beobachtungsprotokoll, in dem die Aussagen von zwei Sozialarbeiter/innen protokolliert wurden: Die Sozialarbeiter/innen berichteten über ihre Arbeit im Krisendienst und von Anschuldigungen, die von ihnen als Akte des Anschwärzens relativiert werden. Ausschnitt 62 Die Sozialarbeiter/innen erzählen mir, dass sie einem neuen Verfahren folgend insbesondere bei kleinen Kindern nun immer Hausbesuche durchführen müssen. […] Und wenn dort ein Kreuz sei, sei der Hausbesuch verpflichtend, noch am selben Tag. Dies selbst wenn sie die Familie kennen würden und wüssten, dass es sich z. B. nur um einen Fall von Eifersucht handele. Die Mütter würden sich oftmals gegenseitig »anschwärzen«. Oft sei es so, dass es nach dem Wochenende Meldungen gäbe, weil dann am Wochenende der Typ von der einen mit der anderen rumgeknutscht hätte und das sei dann so eine Form der Rache. (B3/26)
Die Relativierung der Beobachtung, die hier vorgenommen wird, beruht auf der Annahme, dass die »Meldung« durch eine konfliktreiche Beziehung motiviert ist. Die Meldungen erscheinen als Akt von »Eifersucht« bzw. als »anschwärzen«. Es wird angenommen, dass es den Anruferinnen darum geht, sich gegenseitig anzuklagen, sich gegenseitig das Jugendamt »auf den Hals zu hetzen«. Das Jugendamt wird zum Austragungsort für die Eifersuchtsgefühle der jungen Mütter. Das zu Grunde liegende Muster ist dabei offenbar, die Ursache für die Aussage nicht in einer tatsächlichen Gefährdung zu sehen, sondern davon auszugehen, dass die Aussagen durch Konflikte motiviert sind, die die meldende Person mit der gemeldeten Person hat – was die Wirkung der Aussage für die Gefährdungseinschätzung immens zurücknimmt.19
19 Doch selbst derart entwertet, muss hier eine Überprüfung der Aussage erfolgen. Die Information hat über das Verfahren des Bereitschaftsdienstes formalen Eingang in die Organisation gefunden und muss daher berücksichtigt werden. Einmal aufgenommene Informationen führen zu Zugzwängen des Entscheidens:
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Eine solche Relativierung der Aussagen wird von den Sozialarbeiter/innen häufig auch in Fällen von Trennung und Scheidung unternommen. Gerade wenn sich beide Elternteile in einem »Scheidungskrieg« (B/4: Abs. 2) befinden, beschuldigen sich die Eltern häufig, die jeweils andere Person würde das Wohl des Kindes bzw. der Kinder gefährden; hier ist es für die Sozialarbeiter/innen schwer einzuschätzen, wem zu glauben ist.20 Würden die Sozialarbeiter/innen in solchen und ähnlichen Fällen den jeweiligen Vorwürfen Glauben schenken, ergäbe sich eine (möglicherweise unnötig) dramatische Falleinschätzung: Vater und Mutter stünden als mögliche Gefährder ihrer Kinder dar (wodurch wiederum die Möglichkeit einer Fremdunterbringung ins Spiel käme). Andererseits können solche Vorwürfe auch nicht gänzlich ignoriert werden, wenngleich klar ist, dass sie Teil eines Partnerschaftskonfliktes sein könnten. Die Fachkräfte stehen daher vor dem Problem, die gegenseitigen Vorwürfe der Eltern genau zu prüfen, diese allerdings auch nicht überzubewerten. Bisher wurden vor allem argumentative Bewegungen untersucht, welche die Validität von Aussagen bezweifeln und so die Gefährdungseinschätzung beeinflussen. Im Nachfolgenden geht es vermehrt um Beobachtungen, die geeignet sind, selbst stark beunruhigende Szenarien zu »entschärfen«. 7.3.2.3 Hoffnung auf Veränderung Werden in einem Fall beunruhigende Beobachtungen festgestellt, so muss dies nicht unmittelbar zur Einschätzung einer Gefährdung, gar zur Herausnahme des Kindes führen. Gerade im Fall mangelnder elterlicher Kompetenzen räumen die Sozialarbeiter/innen den Eltern häufig Bewährungschancen ein (vgl. Kap. 7.2.2). Sie versuchen häufig, solange noch Aussicht auf
Der Bereitschaftsdienst nimmt die Meldungen entgegen und diese müssen anschließend entsprechend der formalen Verfahren bearbeitet werden. Wenn z. B. ein kleines Kind in der Familie lebt, ist in der Regel ein Hausbesuch durchzuführen. Die Maßnahme muss sogar »am selben Tag« erfolgen, selbst wenn die Sozialarbeiter/innen davon ausgehen, dass die jungen Mütter sich bloß gegenseitig beim Jugendamt »anschwärzen«. 20 Die Sozialarbeiterin kann sich die Positionen der Beteiligten anhören, aber nur schwer beurteilen, welche die richtige ist. Es ist gewissermaßen nicht immer nachzuvollziehen, welche Wirklichkeitsversion die »wirklichere« ist.
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Veränderung besteht, zunächst eine Änderung des elterlichen Verhaltens zu erreichen. Ausschnitt 63 I: Da war also immer wieder (.) Kindeswohl, die Mutter schafft es nicht und so. Jetzt kriegt sie das dritte Kind und ähm ich habe/ wir haben jetzt noch mal von der Seite her herein gegeben MyVideo-Programm. Das ist ähm (.) ein/ kennen Sie das? B: Nein. I: Ähm, das ist, ist ein ähm (..) ein Videoprogramm, wo die Interaktion zwischen den Eltern oder halt Mutter und Kindern mhm gefilmt werden, dann ausgewertet werden, äh was aber in die Richtung läuft, was, was kann ich alles (klatscht) gut. Also eine positive Stärkung der Mutter oder der Erziehenden hervorruft. So das ist jetzt äh Mitte August beendet und/ aber trägt erste Früchte. //mhm// [...] Und dann habe ich jetzt gerade gelesen, die Mutter will aus der Familienhilfe raus und das ist auch sehr erklärlich. (I/8: Abs. 13)
Besteht in einem Fall Hoffnung auf Veränderung und Entwicklung des elterlichen Verhaltens, ermöglicht dies eine weniger intensiv eingreifende Fallbearbeitung. Das Ziel besteht dann in einer »Stärkung« der Mutter (seltener des Vaters). Die Erziehungsberechtigen sollen einen aus Sicht des Amtes angemessenen Umgang mit ihren Kindern erlernen. Hierzu wird im obigen Ausschnitt das Programm »MyVideo« eingesetzt. Die Eltern sollen sich mit Hilfe des Mediums Film selbst beobachten können, neue Erkenntnisse entwickeln, sich für die Bedürfnisse der Kinder öffnen (die zumeist durch die Mitarbeiter/innen des Amtes oder auch durch ambulant arbeitende Sozialarbeiter/innen markiert werden). Die Logik dieser Vorgehensweise formuliert eine Sozialarbeiterin in der Wiedergabe eines Gespräches mit einem Vater, wie folgt: »Und ich sag, Sie müssen in Zukunft noch viel mehr können müssen. Sie werden das lernen.« Die Formulierung legt zugleich nahe, dass es zu einer solchen Entwicklung, zum »noch viel mehr können müssen« keine Alternative gibt bzw., dass die Sozialarbeiterin sanktionierend reagieren könnte, wenn ein entsprechender Lernprozess auf Seiten des Elternteils ausbleibt. So lange aber die Hoffnung auf Besserung besteht, sind auch geringere Eingriffstiefen plausibel darstellbar: Die Tatsache, dass die Mutter aus »der Familienhilfe raus« möchte, ist »sehr erklärlich«.
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7.3.2.4 Liebevolle Eltern-Kind Bindungen Liegen beunruhigende Beobachtungen vor, z. B. der Hinweis auf nichtkooperative Eltern, so kann der Verweis auf eine intakte »Bindung«, eine »liebevolle« Mutter gar, die Gefährdungseinschätzung entscheidend beeinflussen, die beunruhigenden Beobachtungen gewissermaßen aufwiegen. Hierzu ein Ausschnitt aus einem Beobachtungsprotokoll. Die Charakterisierung der Mutter als »liebevoll« wird als Kontrapunkt zu weiteren, sehr beunruhigenden Beobachtungen gesetzt. Ausschnitt 64 Frau Dünner blättert etwas und sagt, die Polizei habe angegeben, der Kindesvater habe die Mutter »verprügelt«, er habe heißes Wasser über die Mutter gießen wollen. Er habe sie »mehrmals heftig geschlagen«. Dabei habe er einen »Kleiderbügel und ein Staubsaugerrohr« benutzt. Die Polizei habe dann um die Aufnahme der Kinder gebeten. Später hatte sich die Polizei allerdings noch einmal gemeldet und dann gesagt, der »KND [Kindernotdienst] sei nicht mehr nötig«. Die Kinder seien dann bei einer Nachbarin untergekommen. Danach habe es gestern einen Hausbesuch durch zwei Kollegen des Jugendamtes gegeben. [...] Die Kollegen hätten dann »die Kinder nicht rausgenommen«, die Kinder seien »nicht gefährdet« gewesen. Die Mutter sei im Gegenteil »liebevoll mit den Kindern« umgegangen. Die Eltern seien elf Jahre verheiratet. Die Mutter habe gesagt, dass es nie so schlimm gewesen sei, nur vor ein paar Jahren sei schon mal etwas Ähnliches passiert. Sie sei jedenfalls auch »sehr dankbar über die Wegweisung des Vaters« gewesen. (B/11: Abs. 15)
Die Sozialarbeiter/innen haben es mit heftigen Misshandlungsvorwürfen zu tun, die durch die Polizei dokumentiert wurden. Der Vater habe die Mutter u. a. »verprügelt« und mit heißem Wasser übergießen wollen. Solche und ähnliche Aussagen müssen die Sozialarbeiter/innen annehmen lassen, dass auch das Kind in dieser Situation, in Anwesenheit des (möglichen) Gewalttäters gefährdet sein könnte. Frau Dünner, die Sozialarbeiterin setzt diesem bedrohlichen Szenario gegenüber, dass die Mutter »liebevoll mit den Kindern« umgeht. Damit markiert sie zunächst, dass ein deutlicher Unterschied zwischen der Mutter und dem gewalttätigen Vater besteht (und die Eltern daher nicht ›über einen Kamm zu scheren sind‹). Allerdings scheint die Mutter das Verhalten des Mannes zumindest über lange Zeit geduldet zu haben, was berechtigte Zweifel aufkommen lassen könnte, ob die Mutter
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überhaupt bereit und in der Lage ist, für den Schutz ihrer Kinder zu sorgen. Abmildernd wirkt hier die Bemerkung, dass derartige Gewalt bislang nicht vorkam, dass die Kinder bei einer Nachbarin unterkommen konnten und die Mutter signalisiert, dass sie bereit ist, die Intervention seitens des Amtes zu akzeptieren (»sehr dankbar über die Wegweisung«). Vor allem aber zeugt der Ausschnitt davon, dass die Thematisierung der liebevollen Bindung offenbar dazu geeignet ist, andere Beobachtungen aus dem Feld zu schlagen und Fremdunterbringungen abzuwenden bzw. zu begründen, dass »die Kinder nicht rausgenommen« werden. Eine ähnliche Konstruktion deutete sich bereits in der Untersuchung der Schilderungen von Herrn Haak zu Beginn des Kapitels an (vgl. Kap.7.3, Ausschnitt 59 bis Ausschnitt 60). Entscheidend war hier, dass die Feststellung einer intakten Eltern-Kind-Bindung großen Einfluss auf die Falleinschätzung hat. Die Beobachtung, dass der Junge an seine Eltern gebunden ist, kann dort die übrigen Beobachtungen gewissermaßen neutralisieren, zumindest in ihrer Dramatik abmildern. Dass der Junge »eine Beziehung zu den Eltern, eine Bindung [hat]«, erschwert es offenbar gravierend zu begründen, warum eine Unterbringung gegen die bestehende »Bindung« erfolgen sollte. Indem Herr Haak hier von »Bindung« spricht und nicht z. B. von »gern haben«, »sich gut verstehen« oder Ähnlichem, deutet er zudem einen wissenschaftlichen Referenzrahmen an (die »Bindungstheorie«, vgl. Hopf 2005). Die Beobachtung einer »intakten Beziehung« wiegt dabei schwerer als die übrigen beunruhigenden Beobachtungen (z. B. die mangelnde Kompetenz der Eltern, das Kind in seiner Entwicklung zu fördern). Die Entscheidung, das Kind in der Familie zu belassen, wird auf diese Weise untermauert. Die Referenz auf »Bindung«, wie sie die Untersuchung der oben stehenden Materialien hervorbrachte, erschwert offenkundig, sich für eine Fremdunterbringung zu entscheiden. Liebevolle Elternschaft als Kontrapunkt zu beunruhigenden Beobachtungen zu setzen, stellt in den vorherigen, wie in vielen weiteren Fällen, eine argumentative Figur dar, die dazu in der Lage ist, Fremdunterbringungen als eher unwahrscheinliche Option der Entscheidung erscheinen zu lassen, sie möglicherweise sogar zu verhindern – selbst wenn äußerst beunruhigende Beobachtungen vorliegen (wer wollte schon einer »liebevollen Mutter« ihr Kind wegnehmen?).
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7.3.3 Exkurs: Neutralisierungstechniken: Die Herstellung von Akzeptabilität bei abweichenden Konstellationen Die zuletzt vertieften Argumentationsmuster erinnern an rechtfertigende Vorgehensweisen, wie sie in anderem Zusammenhang von der Soziologie abweichenden Verhaltens herausgearbeitet wurden. Die beobachteten Argumentationen ließen sich mit Bezug auf Lynch (1983) als »Akkommodationspraktiken« bzw. mit Sykes und Matza (1957) als »Neutralisierungstechniken« verstehen. Bei beiden Ansätzen handelt es sich um Theoretisierungen von alltäglichen Versuchen, deviantes Verhalten unter Anwesenden aushaltbar zu machen: Neutralisierungstechniken, wie sie von Sykes und Matza (1957) beschrieben werden, können zur Akzeptanzgewinnung bei Straftaten eingesetzt werden. Bei den »accomodation practices« handelt es sich um Versuche, den Umgang mit als problematisch angesehenen Personen, die als »persistent sources of trouble« (Lynch 1983: 152) erscheinen, etwa den Kontakt zu »verrückten« Freunden oder Verwandten, annehmbar zu gestalten (vgl. ebd.). Beide Ansätze beschreiben Strategien, die es ermöglichen, Verhalten, das von einer vermeintlichen Normalität abweicht, zu »neutralisieren«. Sykes und Matza (1957) arbeiten Erklärungen heraus für abweichendes Verhalten von straffällig gewordenen Menschen. Sie zeigen typische Rechtfertigungsmuster: »We call these justifications of deviant behavior techniques of neutralization [...]. It is by learning these techniques that the juvenile becomes delinquent, rather than by learning moral imperatives, values or attitudes standing in direct contradiction to those of the dominant society.« (Sykes und Matza 1957: 667) Die Autoren nennen (1) the denial of responsibility, (2). the denial of injury, (3) the denial of the victim, (4) the condemnation of the condemner and (5) the appeal to higher loyalties (vgl. ebd.: 667 ff.). Sie argumentieren, dass diese Muster der Rechtfertigung bzw. Techniken der Neutralisierung geeignet sind, Straftaten in Einklang mit allgemeinem Wertgefüge zu bringen, ohne dass hierzu, wie zuvor angenommen, Rückgriffe auf parallele Wertgefüge (z. B. eines »kriminellen Milieus«) notwendig wären. Mit der obigen Analyse wird deutlich, dass Sozialarbeiter/innen ähnliche Techniken der Neutralisierung zur »Einfriedung« der Verhaltensweisen Dritter einsetzen, wie sie von Straftätern zur Rechtfertigung ihres eigenen Verhaltens erlernt und genutzt werden (Sykes und Matza 1957: 667). Bei diesen Formen der Akkommodation bzw. Neutralisierung handelt es sich
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um Vorgehensweisen, die Sozialarbeiter/innen, wie sich in der Analyse weiterer Materialien zeigte, häufig bei Fallbesprechungen nutzen. Während im ersteren Fall dem eigenen devianten Verhalten die Brisanz genommen wird, geschieht dies hier in Bezug auf das Verhalten Dritter bzw. in Bezug auf den devianten Charakter der Konstellation. Im obigen Beispiel unternimmt Herr Haak eine solche Neutralisierung, indem er der »schmierig, schlierigen Wohnung« die »Bindung« der Eltern zu den Kindern sowie die Entpersonalisierung des KiTa-Problems als Platz-Problem gegenüberstellt. Dass er z. B. das KiTa-Problem als strukturelles beschreibt, ähnelt der von Syykes und Matza (ebd.) zuerst genannten Typik: »denial of responsibility«. Während im ersten Fall die eigene Verantwortung abgelehnt wird, entlässt Herr Haak hier in seiner Erzählung die Eltern aus der Verantwortung. Insgesamt gesehen kann Herr Haak, in der durch die Relationierung dieser Aussagen, die Fall-Gestalt einer gerade noch akzeptablen Konstellation herstellen. Er kann plausibel machen, dass eine Unterbringung (noch) nicht unbedingt notwendig erscheint. Ähnlich wie in der Rechtfertigung von Straftaten durch den Straftäter geht es in der Neutralisierung der Sozialarbeiter/innen insofern darum, eine Konstellation als akzeptabel zu beschreiben, die einer allgemeinen Erwartung entgegensteht. Zur Wirkungsweise der Neutralisierungstechniken sei noch gesagt, dass die Beobachtung selbst bestehen bleibt. Es scheint vielmehr wichtig, zu einem späteren Zeitpunkt zeigen zu können, dass die Beobachtung im Prozess der Abwägung berücksichtigt wurde, dass sie allerdings im Moment der Einschätzung unter den gegebenen Umständen durch andere Beobachtungen neutralisiert wird und insofern ihre Bedeutung für die Gefährdungseinschätzung verliert. Andererseits können die zwischenzeitlich neutralisierten Beobachtungen auch von den Sozialarbeiter/innen selbst zu einem anderen Zeitpunkt immer wieder zum Ausgangspunkt neuer Entscheidungen gemacht werden. Die Aussagen behalten ihre Bedeutung und können unter veränderten praktischen Umständen, wenn z. B. neue Entwicklungen bekannt werden, durchaus wieder »re-aktiviert« werden. Relativiert wird lediglich ihre momentane Bedeutung für die Gefährdungseinschätzung in der jeweiligen Entscheidungssituation. Der Handlungsdruck zu intervenieren sinkt. Der Einsatz der Neutralisierungstechnik könnte insofern ein Hilfsmittel sein, mit dem Sozialarbeiter/innen verhindern, dass beunruhigende Beobachtungen überschätzt werden und Entscheidungen für die Fremdunterbringungen vorgenommen werden, obwohl
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diese nach Einschätzung der Gesamtsituation nicht unbedingt notwendig gewesen wären.
7.4 D IE F REMDUNTERBRINGUNG ALS O PTION DER F ALLBEARBEITUNG BEI K INDESWOHLGEFÄHRDUNG Was ist zu tun, was ist zu lassen? (I/3: ABS. 178)
Ist eine Kindeswohlgefährdung festgestellt worden oder kann diese nicht ausgeschlossen werden, so stellt sich den Professionellen die Frage, wie die Gefährdungslage (vernünftigerweise) bearbeitet werden sollte. Hierbei haben die Sozialarbeiter/innen verschiedene Optionen zur Verfügung, gewissermaßen eine Palette möglicher Interventionen. Die stationäre Unterbringung von Kindern und Jugendlichen gehört zu diesen möglichen Eingriffsformen. Sie wird vom Gesetzgeber als letztes Mittel vorgesehen, um das Wohl des Kindes zu schützen. Wie wird die Fremdunterbringung aber von den Sozialarbeiter/innen beurteilt und eingesetzt? Das folgende Kapitel geht dieser Frage nach. Gezeigt wird, dass und aus welchen Gründen die Fremdunterbringung häufig als ungeliebte Option der Fallarbeit gilt (vgl. Kap. 7.4.1). Die stationäre Unterbringung von Kindern und Jugendlichen wird von den Sozialarbeiter/innen gleichsam als sichere Lösung behandelt (vgl. Kap.7.4.2). Der Einsatz der Maßnahme mit Einwilligung der Eltern wird gegenüber der Durchführung gegen den Willen der Eltern vorgezogen (vgl. Kap. 7.4.3). Als Drohmittel wird die Fremdunterbringung eingesetzt, um Verhaltensänderungen der Eltern zu erreichen (vgl. Kap. 7.4.4). Während die stationäre Unterbringung von Kindern und Jugendlichen in zahlreichen Fällen von den Sozialarbeiter/innen als Sachzwang verstanden wird (vgl. Kap. 7.4.5), betrachten sie den Einsatz der Maßnahme in anderen Fällen als Gegenstand von Abwägungsprozessen und Entscheidungen in Fällen von vermuteten Kindeswohlgefährdungen (vgl. Kap. 7.4.6).
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7.4.1 Die Fremdunterbringung als ungeliebte Lösung Ausschnitt 65 Das also, Kinder unterzubringen, ist einer der größten Eingriffe in die verfassungsgegebenen Rechte der Eltern. Das macht man tatsächlich nicht so zwischen Tür und Angel, weil natürlich, wenn die Kinder dann in ihrem eigenen Dreck liegen und die werden da geprügelt und so. Klar dann kommen die sofort raus! Aber wenn einfach in Anführungsstrichen nur eine Überforderungssituation besteht, dann macht das auch keinen Sinn! Und die Kinder, die waren ja auch richtig jung. Zwei und vier. Also das waren Zwillinge und ein Vierjähriger. Die haben ja, die waren ja den Eltern, der Mutter und dem Partner da sehr, sehr zugewandt, so. (I/6: Abs. 38)
Die stationäre Unterbringung von Kindern und Jugendlichen impliziert, Eltern und Kinder voneinander zu trennen, sie gilt den Sozialarbeiter/innen auch daher als tiefer »Eingriff«. Die Maßnahme wird deshalb von den Sozialarbeiter/innen in vielen Fällen nur sehr ungerne, oder jedenfalls mit gewissen Bedenken durchgeführt. Dies wird auch in der obigen InterviewSequenz deutlich. Die Maßnahme kann nicht »einfach so« vorgenommen werden, man kann darüber nicht zwischen »Tür und Angel« entscheiden, sondern muss gründlich abwägen. Frau Junker fragt sich hier, ob sie in diesem Fall eingreifen »darf« oder dies möglicherweise muss. Auf der einen Seite steht die »Sorge« um das Kind, auf der anderen Seite der Schutz der bestehenden Beziehungen. Besonders schwierig erscheint diese Abwägung, wenn liebevolle, intensive Eltern-Kind-Bindungen beobachtbar werden (vgl. »die waren der Mutter und dem Partner da sehr, sehr zugewandt«, siehe auch den Abschnitt zu den Relativierungen der Gefährdungslagen 0). Gerade wenn die Gefährdung nicht recht klar scheint, ist ein Eingreifen schwer zu begründen. Ist die Gefährdung der Kinder hingegen eindeutig feststellbar, kann schnelles Eingreifen notwendig werden. Sind z. B. die hygienischen Verhältnisse desolat und ist die Anwendung körperlicher Gewalt feststellbar (vgl. liegen die Kinder »in ihrem eigenen Dreck«, »werden die da geprügelt«), dann muss die Fremdunterbringung zeitnah, ohne längeres Räsonie-
7. G EFÄHRDUNGSEINSCHÄTZUNGEN UND
DIE
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ren erfolgen (»dann kommen die sofort raus«).21 In derartigen und ähnlichen Fällen liegt die Notwendigkeit der Fremdunterbringung dann gewissermaßen auf der Hand. Derart klaren Konstellationen stehen Fälle wie der folgende gegenüber, in denen die Fremdunterbringung als unvermeidliche, aber bedauerliche Pflicht erscheint. Dies schildert ein Sozialarbeiter des Jugendamtes wie folgt: Ausschnitt 66 Es gibt immer wieder Konstellationen, so Ausstoßungen von Kindern, die ich immer sehr bedauere, wo es aber kein Instrument gibt, dieses zu vermeiden. (schnieft) Also eine typische, häufige Konstellation ist [...]. Eine Frau hat einen Sohn aus erster Beziehung, (holt tief Luft) lebt mit dem eine Zeit lang allein, dann lernt sie einen Mann kennen und geht mit dem eine Beziehung ein, die wollen also ihr Leben organisieren. (schnalzt mit der Zunge) Dann wird häufig das Kind aus der ersten Beziehung als störend empfunden. Wenn der jetzt auch noch Schwierigkeiten macht, ja? Und er wird häufig Schwierigkeiten machen gegen den neuen Partner. Wer teilt schon gerne seine Mutter jetzt mit einer in Anführungszeichen fremden Person. Ja? Dann ist es häufig so, dass solche Kinder auch ausgestoßen werden. Ja? Ähm, das ist eine Konstellation, die wir verhältnismäßig häufig haben. Ja? Wo man sagt: »Okay, geht nicht mehr; [...] (holt tief Luft) also geben wir ihn an die Jugendhilfe ab und, ja, gründen eine neue schöne Familie.« Ja? Finde ich eine sehr bedauerliche Entwicklung, aber [...] kommt immer wieder vor und meines Erachtens häuft sich das in letzter Zeit auch. Also auch dieses, sich problematischer Kinder zu entledigen ist eine Konstellation, mit der wir immer wieder zu tun haben. (I/13: Abs. 17)
Die Sozialarbeiter/innen befinden sich in einem Dilemma: Einerseits wollen sie die »Ausstoßung« von Kindern durch ihre Eltern verhindern und
21 Frau Jung nimmt damit eine Unterscheidung vor, die in den beforschten Ämtern typischerweise im Gebrauch ist. Einerseits ergeben sich Konstellationen, die ein Handeln »sofort« notwendig machen. Es sind Notsituationen, in denen die offensichtliche Gefährdung eines Kindes durch entschlossenes und zügiges Eingreifen unterbunden werden muss. Auf der anderen Seite stehen Konstellationen, z. B. »Überforderungssituationen«, in denen in Frage steht, ob eine Fremdunterbringung auf lange Sicht »Sinn« macht, bzw. ob nicht doch ambulante Hilfeoptionen ausreichen könnten, um für den Schutz des Kindes zu sorgen.
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nicht zulassen, dass Eltern sich ihrer Kinder mit Hilfe des Jugendamtes »entledigen«. Die Sozialarbeiter/innen laufen Gefahr, sich von den Eltern zur Neuordnung ihrer Familienverhältnisse instrumentalisieren zu lassen und die stationäre Unterbringung von Kindern und Jugendlichen erscheint angesichts dessen nicht selten als »dirty work« (Emerson und Pollner 1976), als unangenehme Aufgabe, an der man sich gewissermaßen die Hände schmutzig machen kann. Zugleich können sie die Kinder häufig nur schwer in den entsprechenden Familien belassen. Die geschilderte Situation ist durchaus ernst zu nehmen, da auch die Kinder und Jugendlichen die Ablehnung im elterlichen Haushalt spüren und Auffälligkeiten (z. B. in der Schule) entwickeln. Das Dilemma besteht daher darin, sich einerseits nicht für die egoistischen Motive der Eltern einspannen zu lassen (»weil z. B. das Kind aus der ersten Beziehung als störend empfunden wird«), andererseits Kinder und Jugendliche zu schützen. Die Sozialarbeiter/innen sehen sich in der Pflicht, die Fremdunterbringung durchzuführen, auch wenn ihnen eine andere Lösungsoption lieber wäre: dass solche Maßnahmen erforderlich sind, womöglich gar zunehmend, das bewertet die Sozialarbeiterin entsprechend als »bedauerlich«.22 7.4.2 Die Fremdunterbringung als sichere Variante Einerseits gilt die Fremdunterbringung den Professionellen als Bürde und letztes Mittel zur Sicherung des Kindeswohls. Andererseits verspricht diese Option eine sichere, auch kurzfristige Bearbeitung von Kindeswohlgefährdungen. Dies wird auch in folgender Interviewsequenz deutlich, in der eine Sozialarbeiterin die Arbeit im Jugendamt beschreibt. Ausschnitt 67 Also bei einigen Kollegen weiß ich, dass die unsicher sind. Ich zum Teil auch, naja weil: »Oh, Gott, wenn jetzt wieder irgendwas passiert! Lieber vorher was ganz Krasses machen, also das [Kind] rausnehmen. [...] Das raubt sehr viel Ener-
22 Es wird deutlich, dass auch das Jugendamt organisiert ist über »hierarchies of perspectives and responses, ranging from most preferred to last resort perspectives and responses« (Miller: 172). Die Fremdunterbringung stellt in diesem Zusammenhang die »last resort response« dar.
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gie, ne? Man wird hier wahnsinnig unter Druck gesetzt und: »Schwere Kindeswohlgefährdung, und wenn Sie jetzt nix machen, und so weiter, sind Sie Schuld am Tod des Kindes und so ein Mist!« (I/6: Abs. 69)
Wird eine stationäre Unterbringung durchgeführt, so schafft dies (vermeintliche) Sicherheit auf mindestens zwei Ebenen: Wenn man das Kind aus der Familie »rausnimmt«, erscheint das Kindeswohl erstens (zumindest vorerst) sichergestellt. Das Kind ist mit relativ großer Wahrscheinlichkeit »in guten Händen«. Für das Kindeswohl sorgen von nun an Pflegeltern oder andere Professionelle, die dafür bezahlt werden, die Kinder zu versorgen, sie zu fördern und und ihr Wohl zu schützen. Bei allen anderen Maßnahmen, etwa einer Familienhilfe im Zuge derer die Kinder in ihren Herkunftsfamilien bleiben, besteht weiterhin, wie die Sozialarbeiter/innen wissen, »immer noch die Möglichkeit weiterer Kindeswohlgefährdung« (B/2: 601). Andererseits wissen die Sozialarbeiter/innen natürlich auch, dass Kinder und Jugendliche in Heimen nicht immer sicher sind, sondern möglicherweise auch dort Gewalt und Gefährdungen ausgesetzt sind. Außerdem ist es nicht ausgemacht, dass die Fremdunterbringung für die Entwicklung des Kindes die richtige Lösung darstellt. Möglicherweise fühlt sich das Kind in der Einrichtung nicht wohl und kann die Intervention nicht für die eigene Entwicklung nutzen. Die Fremdunterbringung führt zum Verlust wichtiger Bezugspersonen, zu einem Bruch in der biographischen Entwicklung. Dennoch scheint das Kind, nach Durchführung der stationären Unterbringung, zumindest vorerst in (größerer) Sicherheit vor Gefährdungen des Kindeswohls (bzw. gilt es genau dies abzuwägen, wo die Gefährdung größer ist). Angesichts der Möglichkeit, dass ein Kind in einer Familie zu Tode kommt, verspricht die Fremdunterbringung zweitens den Sozialarbeiter/innen selbst in der Situation der Entscheidung Sicherheit: Sie bietet einen Ausweg aus der »Unsicherheit« und dem »Druck«, unter dem die Beschäftigten des ASDs agieren. War die Gefährdungssituation vorher unklar, so wird die Diffusität mit der Entscheidung für die Fremdunterbringung wie mit einem Schlag aufgelöst. Das Pendel schlägt aus der Unklarheit in eine Richtung aus: Es wird eine Entscheidung getroffen, gleichsam sichtbar gemacht, dass etwas getan wurde. Die Entscheidung für den Einsatz der Fremdunterbringung greift auf diese Weise nicht zuletzt möglichen Anschuldigungen vor, sichert die Position der Sozialarbeiter/in gegen Vorwürfe ab, zu wenig (oder auch »nix«) getan zu haben.
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7.4.3 Die Fremdunterbringung als Maßnahme mit oder ohne Zustimmung der Eltern Die Fremdunterbringung »gegen den Willen der Eltern« wird im Kontext des Jugendamtes von der Fremdunterbringung mit Einwilligung der Eltern unterschieden. Die Sozialarbeiter/innen präferieren dabei in der Regel die Unterbringung mit Einwilligung der Eltern gegenüber der stationären Unterbringung gegen den Willen der Eltern. Prinzipiell wird die Fremdunterbringung als Hilfe zur Erziehung gewährt (vgl. SGB VIII §§ 27 ff.). Die Maßnahme kann und muss daher von den Erziehungsberechtigen beantragt werden. Sind die Eltern mit der Unterbringung des Kindes nicht einverstanden, die Sozialarbeiter/innen halten die Maßnahme aber dennoch für notwendig, müssen die Professionellen das Familiengericht verständigen und einen Sorgerechtsentzug beantragen. Die Sozialarbeiter/innen bemühen sich aber in der Regel, die Fremdunterbringung mit Einwilligung der Erziehungsberechtigten durchzuführen. Herr Gaschler bringt diese Position zum Ausdruck, wenn er in Ausschnitt 68 argumentiert, dass Unterbringungen ohne Einwilligung der Eltern kaum erfolgreich sein könnten. Ausschnitt 68 Schwierig ist es wirklich, ähm, Fremdunterbringung gegen den Willen der Eltern, (.) und ich denke, es ist auch eine wichtige Bedingung für eine erfolgreiche Fremdunterbringung. Ich sage mal, eine Fremdunterbringung gegen den Willen der Eltern, bei engagierten Eltern, ist selten erfolgversprechend. Weil diese eigentlich im Regel/ im Regelfall dazu führt, dass die Eltern massiv gegen die Fremdunterbringung arbeiten – teilweise auf gerichtlicher Ebene und so weiter – und das nicht dazu führt, dass das Kind also seine Situation annehmen kann. [...] Das sind also so Konstellationen, mit denen wir uns hier also wirklich sehr intensiv beschäftigen. Ja, und ähm die also zu wirklich sehr gruseligen Entwicklungen führen. (I/13: Abs. 49)
Ausschnitt 68 demonstriert drei Problemfelder, mit denen aus Sicht der Sozialarbeiter/innen gerechnet werden muss, wenn die stationäre Unterbringung gegen den Willen der Eltern durchgeführt wird: Die Eltern können sich erstens auf gerichtlicher Ebene gegen die Entscheidung zur Wehr setzen. Die Entscheidung bleibt dann zunächst, für die Zeit des Gerichtspro-
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zesses, in der Schwebe. Dies kann zu Verzögerungen bei der Unterbringung des Kindes führen und z. B. vorerst verhindern, dass ein »endgültiger« Ort für ein Kind gefunden werden kann. Das Kind verbleibt in einer Art »Warteposition«, bis die gerichtliche Entscheidung getroffen wird. Nicht zuletzt besteht die Gefahr, dass das Gericht gegen den Antrag entscheidet, und das Kind dann gegen den Willen der zuständigen Sozialbzw. Sachbearbeiterin in die Familie zurückkehrt. Dies lässt die Professionelle zudem in der unbequemen Situation zurück, dass sich die Eltern ihr gegenüber im Recht fühlen können. Auch aufgrund des Bemühens, einen solchen Verlauf zu verhindern, bedeutet ein Gerichtsverfahren einen erheblichen Mehraufwand für die zuständige Sachbearbeiterin: Sie muss in einem solchen Fall das Gericht von der Richtigkeit der Fremdunterbringung überzeugen und hierzu meist einen längeren schriftlichen Bericht anfertigen. Drittens besteht die Gefahr bei einer Fremdunterbringung gegen den Willen der Eltern darin, dass diese den Vollzug der Maßnahme durch störendes Verhalten sabotieren. Häufig kommt es vor, dass die Kooperation mit den Einrichtungen, in denen ihre Kinder untergebracht sind, verweigern. Oder sie versuchen auf ihre Kinder einzuwirken und auf diese Weise gegen die Fremdunterbringung zu arbeiten.23 Sie leisten Widerstand gegen die Entscheidung der Sozialarbeiter/innen (vgl. auch Ausschnitt 69), was den Erfolg der Maßnahme und letztlich das Wohl der betreffenden Kinder gefährdet. Ein erster »Erfolg« der Fremdunterbringung würde daher aus Sicht von Herrn G. darin bestehen, dass das Kind bzw. die Jugendliche ihre/seine Situation in der Einrichtung »annimmt«. Sollte dieser Schritt des »Ankommens« nicht gelingen, dann kann es aus Sicht des Sozialarbeiters zu »gruseligen Entwicklungen« kommen: Die Fremdunterbringung könnte nicht zur
23 Dies kann in der Tat zu problematischen Entwicklungen führen. Beispielsweise begleitete ich eine Sozialarbeiterin bei einem Einrichtungsbesuch. Ein Mädchen, das kürzlich in der Einrichtung untergebracht worden war, empfing regelmäßig Textnachrichten von ihrem Vater. Der Vater schrieb ihr, seine Tochter, also das Mädchen, gehöre nicht ins »Heim«. Die Betreuer berichteten, dass das Mädchen verständlicherweise ambivalent war, ob sie sich auf die betreute Wohnform als neues Zuhause einlassen oder doch auf eine Rückkehr zu ihrer Familie hoffen sollte.
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erfolgreichen Bearbeitung der »Konstellation« beitragen, sondern schlimmstenfalls zu ihrer Verschlechterung führen. Offenbar ist es daher lohnend, sich »intensiv« mit der Entscheidung zu beschäftigen bzw. das Einverständnis der Eltern zur Fremdunterbringung zu erreichen, um das Scheitern der Maßnahme zu vermeiden. In der Tat zeigt ein Blick in die Statistik, dass die Mehrzahl der Fremdunterbringungen, etwa 80%, mit Einwilligung der Eltern durchgeführt werden, wenngleich auch Sorgerechtsentzüge zunehmen (Pothmann et al. 2013). Der Normalfall besteht also darin, dass die Eltern der Fremdunterbringung zustimmen und sie als Leistung der Jugendhilfe beantragen. 7.4.4 Die Fremdunterbringung als Drohung Die Fremdunterbringung wird im Kontext des Amtes nicht zur Absicherung des Kindeswohls umgesetzt, sondern, so ergab die Untersuchung zahlreicher Materialien, die in der Feldforschung gewonnen wurden, häufig gegenüber den Eltern als Drohmittel genutzt. Hierzu folgt der Ausschnitt aus einem Interview. Ausschnitt 69 Da kann es tatsächlich vorkommen, dass der Streit so eskaliert, ja dass man eben sagt: so, passen se uff, wenn sie sich jetzt hier nicht wirklich ratz=fatz=mal zusammenreißen, langsam, (seh ich eine?) Kindeswohlgefährdung und dann muss man überleben/überlegen ob das Kind (,) überhaupt bei irgendjemand von ihnen beiden gut aufgehoben ist, ja? Und so was kommt schon, wenn auch selten vor. Und dann hat man hier natürlich lange Gesichter, das ist ähm, manchmal ein gutes Mittel, um Leute, die total festgefahren sind in ihren Vorstellungen, so wachzurütteln, wenn man manchmal dann so was vor Gericht so vorträgt (und so): »Also im Moment würde ich sagen, dass dieses Kind hier weder bei der Mutter noch bei dem Vater richtig aufgehoben ist. Boah!« Aber selber aus so einem Kontext heraus habe ich noch kein Kind untergebracht. (I/6: Abs. 19)
Die stationäre Unterbringung des Kindes erscheint in der Darstellung der Sozialarbeiterin als legitimes Drohmittel, das anlassbezogen Verwendung findet: Sollten die Eltern ihre Konflikte in Zukunft nicht anders regeln, könnte das Kind außerhalb des Elternhauses, auch gegen den Willen der El-
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tern, so die Drohung, untergebracht werden.24 Die Eltern sollen sich »zusammenreißen«. Der Zweck der Androhung besteht mit anderen Worten darin, die Eltern zu einer Verhaltensänderung zu bewegen.25 Der Einsatz der Drohung unterliegt dabei Beschränkungen. Dies ist schon der Fall, weil die Sozialarbeiter/innen durch ihre Verwendung interaktive Risiken eingehen. Die Eltern könnten etwa die weitere Zusammenarbeit verweigern und zu widerständigen Klienten (vgl. 0) werden. Die Drohung erscheint als »Mittel«, das nur in dringenden Fällen zum Einsatz kommt, wenn die Eltern sich »festgefahren« haben, und es darum geht, sie »wachzurütteln«. Der hier beschriebenen Praktik des Drohens ist zudem zu Eigen, dass die Sozialarbeiter/innen präferieren, es bei der Drohung zu belassen.26 Dies zeigt sich auch in der folgenden Notiz. Frau Franze, die fallführende Sozialarbeiterin, hatte vor dem Familiengericht gedroht, der Mutter das Sorgerecht zu entziehen und das Kind in einem Heim unterzubringen. Die folgende Feldnotiz dokumentiert die Nachbesprechung der Situation zwischen der Sozialarbeiterin und dem Beobachter. Ausschnitt 70 Nach der Anhörung sagte mir Frau Franze, man müsse in solchen Fällen manchmal »das Schwert schwingen« und das könne sie jetzt mit der Hilfe des Gerichtes. Sie könne da nichts machen, sie könne zwar das Kind »wegnehmen«. Aber das nutze nichts, da das Kind bei der Mutter sein wolle und schon in einem Alter sei, in dem dann die Kontakte »hinter dem Rücken« des Jugendamtes vollzogen werden könnten. (B/13: Abs. 2)
24 Die Sozialarbeiterin erscheint hierbei als im Kontext des Amtes handelnde Person (»Sachwalterin«), die unter bestimmten Umständen die Herausnahme eines Kindes prüfen »muss«. Das Nachdenken über die Fremdunterbringung wird insofern als äußerliche Verpflichtung und weniger als Entscheidung beschrieben. 25 Die Sozialarbeiterin hat zwar nach eigenem Bekunden aus einer solchen FallKonstellation heraus noch nie ein Kind untergebracht. Dies ändert aber nichts daran, dass die Drohung in solchen und ähnlichen Situationen angebracht erscheint. 26 Worin mit Luhmann (2003b) ein typisches Merkmal von Drohmacht zu sehen ist: Die drohende Partei bevorzugt in der Regel die Drohmittel nicht einzusetzen.
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Die Metapher des Schwertes, die die Sozialarbeiterin nutzt, macht die Verwendung der Drohung noch etwas deutlicher: Die Sozialarbeiterin zeigt ihre Interventionsmittel, die ihr aufgrund ihrer institutionellen Position zur Verfügung stehen, und droht mit ihrem Einsatz. Sie schwingt das Schwert und könnte gewissermaßen jederzeit zuschlagen. Sie könnte das Kind zwar »wegnehmen«, hält dies aber (jedenfalls derzeit) nicht für sinnvoll. Ziel ist vielmehr (zunächst noch) die Verhaltensänderung der Eltern.27 Obwohl das Schwert hier aktiv geschwungen wird, erinnert das Szenario doch auch an den Mythos vom Schwert des Damokles: Der Tyrann ließ, so die Erzählung, bei einem Gelage über seinem Günstling Damokles ein Schwert befestigen. Dieses wurde nur durch ein Rosshaar gehalten. Drohend schwebte das Schwert über seinem Haupt. Unklar ist daher, ob und wann das Haar reißen und das Schwert auf ihn herabfallen würde, so dass ihm die Endlichkeit seines Daseins, aber auch die ständige Bedrohung seines Lebens bildlich vor Augen geführt wurde. Im Kontext des Jugendamtes ist es häufig die Fremdunterbringung, die ähnlich dem Schwert des Damokles, nur an einem Rosshaar gehalten, drohend über den Köpfen der Beteiligten schwebt. Nicht zuletzt machen die Sozialarbeiter/innen mit der Erwähnung der Möglichkeit, eine Fremdunterbringung durchzuführen, zugleich auf die institutionalisierte Drohung des Staates aufmerksam, einzuschreiten, wenn das Kindeswohl gefährdet ist. Das »Schwingen des Schwertes« ist also zugleich eine Erinnerung an die Möglichkeit, dass das Jugendamt die Fremdunterbringung – auch gegen den Willen der Eltern – verfügen kann. Die
27 Die Mächtigkeit der Position, die von der Sozialarbeiterin eingenommen wird, besteht darin, nicht nur über das Drohmittel zu verfügen, sondern auch bestimmen zu können, wann es zum Einsatz kommt. Die Sozialarbeiterin kann bestimmen, welche Form des Familienlebens als noch akzeptabel anzusehen ist und inwieweit das Leid des Kindes als gerade noch erträglich anzusehen ist. Die Unterbringung durchzuführen wäre hier allerdings eher als ein Scheitern der machtvollen Kommunikation zu sehen. Die Wirksamkeit der Kommunikationsform, die Frau Franze beschreibt, ergibt sich gerade daraus, dass sie zwar über die Fremdunterbringung als Drohmittel verfügt, sie diese aber nicht durchführen möchte, und trotzdem, allein durch die Drohung die Eltern zu einem veränderten Verhalten bewegen kann. Gewissermaßen am ›mächtigsten‹ ist die Kommunikation, wenn die Drohung genügt, um den gewünschten Effekt, das veränderte Verhalten der Eltern und damit den Schutz des Kindeswohls, zu erreichen.
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Drohung soll eine Situation verhindern, in der die Entscheidung für die Fremdunterbringung getroffen werden müsste. Die Drohung dient dabei zugleich dazu, eine Entscheidungssituation zu schaffen, in der von Fremdunterbringung abgesehen und das Drohmittel nicht zum Einsatz gebracht werden muss.28 Zugleich wird das komplexe Verantwortungsverhältnis deutlich, in dem sich die Sozialarbeiter/innen befinden. Sollte die Sozialarbeiterin zu lange nur mit der Fremdunterbringung drohen und darauf hoffen, dass die Eltern sich verändern, könnte ihr dies im Nachhinein als falsche Entscheidung bzw. als Nachlässigkeit zur Last gelegt werden. Sie müsste dann rechtfertigen können, warum sie sich nicht früher bemüht hat, ein anderes Mittel zu finden, um das Kindeswohl zu sichern. 7.4.5 Die Fremdunterbringung als Sachzwang Wird den Eltern mit der Fremdunterbringung gedroht, so besteht noch ein gewisser Handlungsspielraum bei allen Beteiligten. Im Folgenden zitiere ich den Auszug aus einem Interview, in dem die Fremdunterbringung in recht gegensätzlicher Weise beschrieben wird. Ich hatte gefragt, wie es in diesem Fall zur Entscheidung gekommen sei. Die Sozialarbeiterin antwortete wie folgt: Ausschnitt 71 Das war klar. Es war nur die Frage, wie? Also und wohin, ne? Also in dem Fall: weil es einfach eine Langzeitsache war, die ja, also es war einfach zu sehen. Wenn ich die jetzt rausnehme, dann können die da nicht bleiben, nicht kurzfristig und gehen wieder zurück. Sondern die bleiben. Die bleiben absolut. (I/5: Abs. 121)
28 Die Drohung stellt gewissermaßen eine Nicht-Entscheidungsstrategie dar. Simon (1997) spricht von der Ablehnung zu entscheiden (»refusal to decide«). In der politikwissenschaftlichen Entscheidungsforschung wurde beschrieben, wie Akteure etwa in der Kommunalpolitik versuchen, Entscheidungen hinauszuzögern und zu verhindern (Bachrach und Baratz 1970).
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Nicht selten behandeln die Sozialarbeiter/innen der Jugendämter die Frage der Fremdunterbringung als eine Sache bloßer Notwendigkeit, in der jede Wahlmöglichkeit ausgeschlossen ist. Ich beobachtete immer wieder, dass in einigen Fällen, wie auch in der obigen Situation – nach Einschätzung der Sozialarbeiter/innen – schon »alles klar« und nichts mehr zu entscheiden. Die Sozialarbeiterin behandelt die Fremdunterbringung als Sachzwang, über den im engeren Sinne gar nicht mehr entschieden werden kann. Das Handlungsproblem besteht in solchen Fällen dann »nur noch« darin, wie die Maßnahme umgesetzt wird, in welcher Einrichtung etwa das Kind unterzubringen wäre etc. Ausschnitt 72 demonstriert im Folgenden, in welchen Fällen die Sozialarbeiter/innen typischerweise geltend machen, dass keine Wahl mehr besteht und einfach gehandelt werden muss. Die Sozialarbeiterin berichtet von einer Familie, die keine Hilfe annehmen möchte, in der schon seit langem eine brüchige Versorgungssituation besteht, die sich überdies zunehmend zu verschlechtern scheint. Eines der Kinder wurde etwa in einer Kinder- und Jugendpsychiatrie behandelt, die Eltern nahmen die Behandlung aber nicht an und auch die anderen Institutionen konnten keinen Einblick in die Familie erhalten. Hier setzt die Erzählung an: Ausschnitt 72 So und dann habe ich gehört […], von der Großmutter mütterlicherseits, dass die [Mutter] zusammengeschlagen worden ist, dass da eine große, […] Blutlache, Scherben ohne Ende waren. Das war vorher/ war schon mal passiert, dass der Junge irgendwie eine Verletzung hatte und dass die Schule gesagt hat, da ist was gewesen […]. Da waren so verschiedene andere Sachen, die so zusammenkamen, wo ich sagte, »also jetzt, ich muss jetzt da rein!« Daraufhin habe ich die Polizei angerufen, und Drogen irgendwie, Alkohol war sowieso, aber auch Drogengeschichten dabei. (I/5: Abs. 135)
Die Plausibilität, und hieraus resultierend die Notwendigkeit der sofortigen Intervention, ergibt sich aus der augenscheinlichen Kumulation äußert erschreckender und beunruhigender Beobachtungen: »Blutlache und Scherben ohne Ende« lassen an den Ort eines Verbrechens denken, wie er in einem Kriminalfilm, etwa bei einer Tatortbegehung, gezeigt werden könnte (und es handelt sich ja auch in der Tat um einen Ort, an dem ein Verbrechen, die Gewalthandlung an der Mutter, verübt wurde). Beide Beobachtungen demonstrieren jedenfalls die Dramatik der Situation und dass von
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eskalierenden Gewalthandlungen auszugehen ist, von denen das Kind betroffen sein könnten. Dass die Mutter der Kinder »zusammengeschlagen« wurde, Alkohol und Drogen im Spiel sind, vervollständigt die Summe beunruhigender Beobachtungen, die an dieser Stelle nicht neutralisiert werden können. All dies, auch die Wiederholung der Gewalttaten, die bereits vorliegenden Informationen über die Familie (Verschlechterungen, kein Einblick usw.), führen schließlich dazu, dass die Fremdunterbringung unausweichlich, als ad-hoc-Lösung des akuten Bedrohungsszenarios, unausweichlich erscheint (»ich muss da jetzt rein«). Die Fremdunterbringung erscheint alternativlos. Es handelt sich nicht mehr um eine mögliche Option, sondern um eine Maßnahme, die »eigentlich«, angesichts der beschriebenen Konstellation ohne Nachdenken, quasi automatisch, durchgeführt werden »muss«. Zwar wird die Maßnahme als Entscheidung der Organisation ausgewiesen, etwa durch das Ausfüllen von Dokumenten und entsprechende Schreiben. Aber die Frage, ob eine Fremdunterbringung erfolgen muss oder nicht, hat »eigentlich« nicht länger den Charakter der Entscheidung. Es handelt sich beim Ausführen der Fremdunterbringung eher um das »Abarbeiten« eines notwendigen Schritts bzw. eben darum, die Fremdunterbringung »halt« zu »machen« (B/14: Abs. Abs. 21). Wenn das Kindeswohl eindeutig gefährdet ist, »ein Verbleib nicht mehr möglich ist« (I/13: Abs. 29), muss die Fremdunterbringung aus Sicht der Sozialarbeiter/innen zwangsläufig erfolgen. Es ist keine Entscheidung mehr nötig, da die Notwendigkeit auf der Hand liegt. Demgegenüber machen die Sozialarbeiter/innen geltend, dass sich ihnen in bestimmten Situationen durchaus Spielräume bieten und sie aktiv über den Einsatz von Fremdunterbringung entscheiden. 7.4.6 Fremdunterbringung als Abwägungssache Nicht in allen Fällen ist klar, wie gehandelt werden kann und sollte, dies auch trotz gesetzlicher Regelungen und organisationaler Verfahrensregelungen (die zunächst einmal für alle Fälle gleichermaßen gelten). Die Fallzuständigen verfügen über relative Entscheidungsautonomie und der Begriff der Kindeswohlgefährdung verlangt interpretative Arbeit. Die rechtliche Basis muss zur Anwendung gebracht werden. Die (organisationalen und gesetzlichen) Entscheidungsprämissen erlauben es in einer Vielzahl von Fällen durchaus, wie die Sozialarbeiterin sagt, »so oder so« (siehe den
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folgenden Ausschnitt) zu entscheiden. Es sind daher gerade unklare Fälle, die die Entscheidungskraft der Sozialarbeiter/innen besonders herausfordern. Ausschnitt 73 Ja, also ich finde den [Fall] deswegen auch so interessant, weil da wirklich noch mal klar wird, dass das so oder so/, also es wird ja immer gesagt: Naja, wir haben alle die gleiche rechtliche Basis! Von daher können die Entscheidungen gar nicht so unterschiedlich sein. Aber ich finde das ist falsch. Für beide Entscheidungen hast du eine rechtliche Grundlage. (I/7: Abs. 63)
Offensichtlich werden im Jugendamt durchaus Fälle bearbeitet, in denen die Entscheidung in der Tat offen ist, sich die Sozialarbeiter/innen aktiv für ein ambulantes Setting oder für die Fremdunterbringung entscheiden können. Für beide Entscheidungen (»so oder so«) ließe sich eine rechtliche Grundlage finden. Im folgenden Interview wird ein solcher Fall geschildert, in dem die Sozialarbeiterin zwischen diesen beiden Entscheidungsoptionen abwägt. Ausschnitt 74 Die Kinder die waren ja auch richtig jung, zwei und vier [Jahre alt]. Also das waren Zwillinge und ein Vierjähriger. Die haben ja, die waren ja den Eltern, der Mutter und dem Partner da, sehr, sehr zugewandt. So: darf man? Ist dann so eine Abwägungssache. Aber wenn man da Leute drin hat, ne? Erstens mal eine (unv.) und später dann eine Familienhilfe mit sehr vielen Stunden: vierzehn Stunden die Woche. Ist also extrem hoch, hohe Fluktuation, habe ich da auch ein gutes Gewissen gehabt. Die sind dann sehr gut – gucken viele Leute drauf und dann braucht man sich keine Sorgen um die Kinder machen. (I/6: Abs. 38)
Die Sozialarbeiterin erklärt, wieso sie es beim Einsatz der ambulanten Helfer beließ: Sie stellt der Option der Fremdunterbringung das große Aufgebot an Professionellen gegenüber, die im Auftrag des Amtes in der Familie arbeiten (»aber wenn man da Leute drin hat, ne?«). Im stationären Setting steht das Kind unter Schutz und Beobachtung der Professionellen. Im ambulanten Setting wird dies über das »[D]rauf-sehen« der »vielen Leute« gewährleistet. Problematische Entwicklungen können erkannt und entspre-
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chende Interventionen seitens des Amtes unternommen werden (z. B. die Herausnahme des Kindes oder das Einberufen eines Elterngesprächs). Zugleich macht die disziplinierende Arbeit der Familienhelfer eine Verhaltensänderung der Eltern wahrscheinlich. Die Eltern wissen darum, dass sie beobachtet werden (vgl. Abschnitt 0). Sie werden ihr Verhalten daher vermutlich normalisieren, d. h., den Erwartungen der Professionellen anpassen, oder mit Sanktionen rechnen müssen. In einem solchen Szenario der laufenden Beobachtung, der Kontrolle, erscheint das Kind weniger gefährdet. Man muss sich auch unter diesen Bedingungen weniger »Sorgen um die Kinder machen«. Der Einsatz ambulanter Hilfen zur Erziehung kann vor diesem Hintergrund ebenso wie die Fremdunterbringung, wenn auch auf etwas andere Weise, das Wohl des Kindes, zumindest vorerst, schützen. Häufig sind beide Alternativen als Bearbeitungsstrategie für einen Fall im Rahmen des Möglichen. Hierzu wird im Folgenden die Schilderung eines anderen Sozialarbeiters zitiert. Er macht die Möglichkeit der Entscheidung an einem ungewöhnlichen Beispiel deutlich. Ausschnitt 75 Am Donnerstag um 17:30 Uhr kommt eine Kollegin hier zu mir rein und sagt: Ich war gerade beim Kinderschutzeinsatz bei Familie Müller, die haben drei Kinder und Frau Müller weiß, dass sie momentan ihr det Wasser bis hier steht und so und äh (.), die hat kein Geld mehr, hat nicht eingekauft für ihre Kinder, jetzt ist Wochen/ steht Wochenende vor der Tür, es gibt auch kein Geld, gibt keine Möglichkeit irgendwas aufzutreiben, […] , ja, Donnerstag und so. Äh, (.) eigentlich haben die Kinder am Ende nichts zu essen. Eigentlich müsste ich die jetzt da rausnehmen, //mhm// müsste die also in eine nette Heimgruppe bringen, ja, da haben sie was zu essen. Was mache ich? Ich nehme mein Portemonnaie raus (B. lacht) und sage: Hier, 20 Euro, kaufen Sie mit der/ hhh. Ja, kaufen Sie mit der Familie, ja, hhh. Eine Tüte Lebensmittel ein und wenn die Familie das Geld wieder hat und (unv.) zurück. (I/13: Abs. 212)
Der Sozialarbeiter wäre eigentlich zur Unterbringung der Kinder verpflichtet. Dennoch kann hier die Entscheidung gegen die Fremdunterbringung plausibel gemacht werden, da die Kindeswohlgefährdung anderweitig abgewendet werden kann. Einerseits liegt eine Kindeswohlgefährdung vor (die Kinder haben nichts zu essen). Herr Griesig muss daher etwas tun. In
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einer stationären Einrichtung wären die Kinder versorgt und das Kindeswohl erschiene gesichert. Andererseits zeigt Herr Griesig an, dass er bereit ist, eine Fremdunterbringung zu verhindern, auch wenn er unter formalen Gesichtspunkten die Unterbringung durchführen »müsste«. Dies ist in der Schilderung plausibel, weil er die Gefahr für die Kinder (die nicht gesicherte Versorgungslage) durch den Einsatz privater Mittel abwenden kann. Offensichtlich haben wir es mit einem Ausnahmefall zu tun: Der Sozialarbeiter wird nicht immer in die eigene Tasche greifen kann, um der Mutter Geld zu geben, damit diese Essen für ihre Kinder kaufen kann. Deutlich wird an dem Fall von Herrn Griesig (sowie im Vergleich mit den eindeutigen Fällen von Kindeswohlgefährdung insbesondere aus Kap. 7.4.5): Die Sozialarbeiter/innen betrachten die Fremdunterbringung als Bearbeitungsstrategie, die zur Abwendung von Kindeswohlgefährdungen eingesetzt werden kann – und zu deren Anwendung sie sich in Fällen von Kindeswohlgefährdung verpflichtet sehen, deren Einsatz zwar mit Bedauern erfolgt, aber auch gewisse Sicherheiten mit sich bringt. Andererseits ist es möglich, sich gegen solche Verpflichtungen zu entscheiden, insbesondere wenn die Kindeswohlgefährdung als weniger gravierend angesehen werden kann oder unklar bleibt. Dies braucht den Mut, die entsprechende Entscheidung zu verantworten. Vor allem müssen der Fall sowie die Situation der Bearbeitung eine entsprechende Entscheidung zulassen. Hierin besteht letztlich auch die Gemeinsamkeit der untersuchten Konzeptionen der Fremdunterbringung: So widersprüchlich die hier untersuchten Verständnisse und Einsatzformen der Maßnahme erscheinen mögen, weisen sie doch eine Gemeinsamkeit auf: dass nämlich der gekonnte Einsatz der Fremdunterbringung offensichtlich vor allem darin besteht, die Entscheidung für oder gegen die Maßnahme in ein angemessenes Verhältnis zur jeweiligen Bearbeitungssituation sowie vor allem zum Fall zu bringen und das bedeutet, den Einsatz der Fremdunterbringung (oder auch ihre Vermeidung) begründbar zu gestalten.
7. G EFÄHRDUNGSEINSCHÄTZUNGEN UND
DIE
F REMDUNTERBRINGUNG
7.5 Z USAMMENFASSUNG : G EFÄHRDUNGSKONSTRUKTIONEN UND F REMDUNTERBRINGUNG ALS B ÜRDE
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DIE
Account-making may be generally analyzed as thematizing process through which persons formulate issues and actions of everyday life as patterned and consequential. (MILLER 1990: 171)
Im vorherigen Kapitel wurde untersucht, wie Einschätzungen von Kindeswohlgefährdungen im Kontext des Jugendamtes hergestellt, gewissermaßen Tag für Tag »gemacht« werden (insbesondere Kap. 7.1 bis 7.3). Demonstriert wurde zudem, wie die stationäre Unterbringung von Kindern und Jugendlichen im Handlungsfeld als Bearbeitungsstrategie genutzt wird, insbesondere bei Fällen, in denen von schwerwiegenden Kindeswohlgefährdungen ausgegangen wird (Kap. 7.4). Die Ergebnisse dieser Analyse werden im Folgenden zusammengefasst. Mit dem Einsatz von Risikoeinschätzungsinstrumenten und Checklisten, werden in der Regel Hoffnungen auf eine verbesserte Einschätzung von Kindeswohlgefährdungen verbunden (vgl. Kap. 7.1). Die Untersuchung von Risikoeinschätzungsbögen und Checklisten im Rahmen dieser Studie verdeutlichte, dass derartige Instrumente nicht unabhängig von den bearbeitenden Personen, z. B. als bloßes organisationales Verfahren, zu verstehen sind. Die Instrumente fordern die Sozialarbeiter/innen ja gerade heraus, eigene Interpretationen zu unternehmen und fallbezogene Beobachtungen in die Kategorien der Bögen zu übersetzen. Eine mathematische Objektivierung subjektiver Interpretation in der Einschätzung von Kindeswohlgefährdung erhält deshalb schnell den Charakter einer »Pseudo-Mathematik«. Die Untersuchung von Interviews und Beobachtungsprotokollen zeugte überdies davon, dass derartige Instrumente häufig, anders als ursprünglich vorgesehen, nicht prospektiv sondern retrospektiv verwendet werden. Sie dienen dann eher der Legitimation von Entscheidungen, nicht deren prognostischen Unterstützung. Die Einschätzungsbögen ersetzen, so brachte der gesamte Abschnitt hervor, die Einschätzung der Sozialarbeiter/innen nicht. Risikoeinschätzungsinstrumente werden vielmehr zu einem weiteren bedeutsamen Element, das von den Sozialarbeiter/innen als »Plausibilisie-
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rungsressource« nutzbar ist, das zugleich in die Gefährdungseinschätzung integriert werden will, soll der Entscheidungsprozess darstellbar bleiben. Die Analyse von Interviews und Beobachtungsprotokollen zeugte zudem, dass und wie die Sozialarbeiter/innen für die Gefährdungseinschätzung auf Kategorisierungen der Eltern zurückgreifen, um mögliche Kindeswohlgefährdungen einzuschätzen (vgl. Kap. 7.2). Dabei werden mit den verwendeten Kategorien typische Erwartungen impliziert, die für die weitere Fallbearbeitung von Bedeutung sind. Geht es um eine »überforderte« Mutter, so rechnen die Sozialarbeiter/innen etwa mit möglichen Problemen in der Versorgung und Förderung des Kindes. Die Kategorisierung als sucht- oder psychisch Kranker impliziert, dass die Sozialarbeiter/innen mit unberechenbarem, möglicherweise auch aggressivem Verhalten kalkulieren. Haben es die Sozialarbeiter/innen mit »widerständigen« und »unkooperativen« Eltern zu tun, dann müssen die Zuständigen von möglichen Gegenstrategien der Eltern und mangelnder »Problemeinsicht« ausgehen, was in der Regel zur Annahme führt, dass von einer erhöhten Gefährdung auszugehen ist. Durch die Kategorisierungsarbeit werden die Eltern als einerseits als mögliche Gewährleister/innen, andererseits als mögliche Gefährder/innen des Kindeswohls bewertet. Die Einschätzung der Kindeswohlgefährdung wird auf diese Weise zentral an das elterliche Verhalten und genauer: mit der diesbezüglichen Kategorisierungsarbeit der Sozialarbeiter/innen verknüpft. Die Untersuchung von Versprachlichungen der Sozialarbeiter/innen zeigte zudem, wie Gefährdungseinschätzungen über Relationierungen gegensätzlicher Beobachtungen hergestellt werden (vgl. Kap. 7.3). Die Untersuchung einer längeren Fallschilderung demonstrierte, wie Sozialarbeiter/innen Beobachtungen abwägend gegenüberstellen, dabei zugleich plurale Gesichtspunkte des Falls berücksichtigen. Liegt eine Mehrzahl beunruhigender Beobachtungen vor oder auch nur eine qualitativ sehr bedrohlich wirkende, und lassen sich keine beruhigenden Beobachtungen feststellen, so wird, nach situativer Abwägung, von einer Kindeswohlgefährdung ausgegangen und eine stationäre Unterbringung zumindest ernstlich erwogen werden. Derartige Prozesse wurden hier als Relationierung von beruhigenden und beunruhigenden Beobachtungen diskutiert. Doch selbst wenn eine Häufung beunruhigender Merkmale vorliegt, muss dies nicht zum Einsatz stationärer Erziehungshilfen führen. Wie gezeigt wurde, können derartige Einschätzungen durch den argumentativen Einsatz von Beobachtungen aufgewogen, gewissermaßen neutralisiert wer-
7. G EFÄHRDUNGSEINSCHÄTZUNGEN UND
DIE
F REMDUNTERBRINGUNG
| 283
den. Diese Argumentationsmuster wurden als Neutralisierungstechniken gefasst. Wie die Sozialarbeiter/innen die Fremdunterbringung als Option zur Sicherung des Kindeswohls beurteilen, wurde vor allem anhand von Interviewsequenzen untersucht (vgl. Kap. 7.4). Die Analyse zeugte davon, dass die stationäre Unterbringungen von den Professionellen einerseits als Bürde angesehen wird, als Maßnahme, die einen tiefen Einschnitt bedeutet und in der Regel nur nach gründlicher Überlegung eingesetzt wird. Andererseits stellt die stationäre Unterbringung von Kindern und Jugendlichen eine »sichere Option« in der Bearbeitung schwieriger Fälle dar, deren Einsatz die Wahrung des Kindeswohls (bis auf weiteres) mit einiger Sicherheit garantiert. Die Unterbringung gegen den Willen der Beteiligten einzusetzen birgt allerdings das Risiko, dass die Maßnahme misslingt (da Widerstand der Beteiligten zu erwarten ist). Die Sozialarbeiter/innen bevorzugen daher die Durchführung der Maßnahme mit Zustimmung der Erziehungsberechtigten. Interessant erscheint zudem, dass die Sozialarbeiter/innen die Fremdunterbringung als Drohmittel gegenüber den Eltern nutzen. Die Androhung der Maßnahme wird dabei genutzt, um Verhaltensänderungen der Eltern zu erreichen. Je nach Fall- und Bearbeitungskonstellation wird die Entscheidung über den Einsatz stationärer Erziehungshilfen als Sachzwang oder als Abwägungssache behandelt. Im Vergleich der untersuchten Konzeptionierungen der Fremdunterbringung fällt auf, dass im Kontext des Jugendamtes unterschiedliche Auffassungen der Fremdunterbringung gleichzeitig Gültigkeit beanspruchen. Es gibt eine Vielzahl, z.T. zunächst widersprüchlich erscheinender Verwendungsweisen der Fremdunterbringung. Einerseits scheint es sich um sichere Lösung zu handeln, andererseits ist sie aber eine »ungeliebte« Variante in der Bearbeitung von Fällen. Handelt. Der im Feld verwendete Begriff der Fremdunterbringung spiegelt dabei die Problematik aus Sicht der Teilnehmenden: Es mutet problematisch an, ein Kind an einem »fremden« Ort unterzubringen, weswegen, wie die Untersuchung hervorbrachte, z. B. die Drohung mit der stationären Unterbringung von Kindern eingesetzt wird, um die Maßnahme letztlich zu verhindern. Im Mittelpunkt steht jedenfalls Bestreben der Teilnehmenden – dies zeigte sich quer zu allen untersuchten Situationen – situativ und fallbezogen darstellbare Verhältnisse zwischen den Einschätzungen von Kindeswohlgefährdungen und dem Einsatz (und dem Nichteinsatz) von Fremdunterbringungen zu schaffen.
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Die Einschätzung von Kindeswohlgefährdungen erscheint angesichts der hier unternommen Analysen, z. B: in der Untersuchung von Risikoeinschätzungsbögen, in der Analyse von Fallteamsitzungen, im Arbeitsvollzug der untersuchten Ämter vor allem als komplexer Konstruktionsprozess. Dieser ist weniger als dies vielleicht angenommen werden könnte, durch rechtliche Rahmungen und organisationale Vorschriften determiniert. Jedenfalls handelt es sich nicht um einen Prozess der bloßen Ausführung von Vorschriften. Die Einschätzungen sind vielmehr durch interaktive und interpretative Prozesse geprägt, in denen die Einschätzungen von Kindeswohlgefährdungen hervorgebracht werden. Die Verfahren zur Risikoeinschätzung kommen nicht ohne die Interpretationen der Sozialarbeiter/innen aus. Das Verfahren des Fallteams lebt von der interaktionalen Ausgestaltung durch die Anwesenden. Das Jugendamt und seine Mitarbeiter*innen verfügen offenkundig über relative Autonomie in der Konstruktion und Rechtfertigung von Entscheidungen. Deutlich wird gleichsam, wie die Einschätzung von Kindeswohlgefährdungen durch organisational verankerte Praktiken und situative Aushandlungen der Anwesenden geprägt werden. In diesen fortlaufenden Prozessen geht es den Beteiligten in der Regel um die Konstruktion von Einschätzungen, die geeignet sind, die Fallarbeit auf plausible Weise fortzuführen, mit denen in diese oder jene Richtung weitergearbeitet werden kann. Für den Zusammenhang dieser Arbeit sind die Konstruktionen der Kindeswohlgefährdung von besonderer Bedeutung, weil von ihnen abhängt, welche Optionen des Entscheidens den Sozialarbeiter/innen begründbar erscheinen, welche Maßnahmen zu rechtfertigen sind.
TEIL III: ZUSAMMENFASSUNG UND AUSBLICK
8. Resümee
Die Wissenschaft hat sich in den letzten Jahren zunehmend für die Kinderschutz-Thematik interessiert; die Frage, wie im Jugendamt über Fremdunterbringung entschieden wird, blieb aber weitgehend unbearbeitet, gewissermaßen ein Stiefkind der Forschung (vgl. Kap. 2). Die vorgelegte Studie reagiert auf die konstatierte Forschungslücke. Sie fragt: Wie gelingt es Sozialarbeiter/innen – trotz struktureller Schwierigkeiten – in Fällen von Kindeswohlgefährdung Entscheidungen zu treffen? Um diese Problemstellung »aus der Nähe« zu verfolgen, wurde ein ethnographischer Forschungsansatz entwickelt und im Rahmen der vorgelegten Untersuchung umgesetzt (vgl. Kap. 3). Kapitel 4 leitete in den Hauptteil der Arbeit, in die Ergebnisse der Feldforschung, ein. In Kapitel 5 wurde die Organisation der Fallzuständigkeit untersucht. Dabei wurden sowohl der Fall mit typischen Charakteristika, das Verhältnis zwischen Fall und fallzuständiger Sachbearbeiterin als auch der Prozess des Zuständig-Werdens betrachtet. Kapitel 6 befasste sich mit der Informationsarbeit, dem Einwerben und Verdichten von Informationen sowie mit der Herstellung von Informiertheit als Grundlage darstellbaren Entscheidens. In Kapitel 7 wurde die Konstruktion von Gefährdungseinschätzungen untersucht. Zudem wurde analysiert, wie die Fremdunterbringung als Entscheidungsoption eingeschätzt und zur Anwendung gebracht wird. Im Resümee werden nun die Befunde der vorgelegten Studie diskutiert. Dazu wird zunächst ein theoretisches Modell expliziert und zur Diskussion gestellt, welches sich mit den Handlungsvollzügen im untersuchten Forschungsfeld befasst und gleichermaßen die empirischen Forschungsergebnisse zusammenfassend relationiert (vgl. Kap. 8.1). Darauf folgend werden die Forschungsergebnisse mit Bezug auf den Stand der Forschung disku-
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tiert (vgl. Kap. 8.2). Abschließend umreiße ich mögliche Implikationen für die Praxis (vgl. Kap. 8.3).
8.1 D IE D ARSTELLBARKEIT
DES
E NTSCHEIDENS
Das ist aber das Wesen von Entscheidungsproblemen, dass sie dazu nötigen, aus Unentschiedenem ohne zweifelsfreie Begründung Entschiedenes zu machen. (ORTHMANNN 2014: 53; HV. I. O., T.A.)
Die im Rahmen der Feldforschung entwickelten Begrifflichkeiten werden nachfolgend zusammengefasst und in ihrer Relation expliziert. Das dabei zur Diskussion gestellte Modell bezieht sich – im Sinne gegenstandsbezogener Theoriebildung – auf den Bereich der untersuchten Jugendämter. Im Laufe der empirischen Untersuchung wurden Praktiken fokussiert, die bei der Bearbeitung von Kindeswohlgefährdungen eingesetzt werden und anhand derer es den Sozialarbeiter/innen gelingt, trotz aller Schwierigkeiten, Entscheidungsprobleme zu bewältigen: im Rahmen dieser Vorgehensweisen werden Entscheidungen vorbereitet, verhandelt und umgesetzt.1 Die Gesamtheit der untersuchten Handlungstypen, -schemata und -abläufe, werden hier – mit einem auf der Basis der Feldforschung entwickelten Begriff – als Praktiken des darstellbaren Entscheidens bezeichnet. Die These ist, dass über den kompetenten Gebrauch der in den Kapiteln 5 bis 7 untersuchten Praktiken begründbare, plausible oder eben darstellbare Entscheidungsprozesse und Entscheidungen erzeugt werden. Die hierzu verwendeten Gruppen von Handlungen sind im Einzelnen: die Organisation der Zuständigkeit (Kap. 5), die Herstellung von Informiertheit (Kap. 6), die Ge-
1
Praktiken sind in diesem Verständnis typische Gruppen von Handlungen, zugleich organisational verankerte Vorgehensweisen. Sie stehen gewissermaßen personenübergreifend zur Verfügung und werden von den Handelnden zur Bewältigung ihrer Handlungsprobleme genutzt. Derartige Praktiken der Fallarbeit sind Teil der sozialen Realität der Organisation des Jugendamtes. Die Teilnehmenden agieren innerhalb dieser Praktiken, erneuern und bestätigen sie und bringen damit zugleich die Realitäten innerhalb der Jugendämter zugleich immer wieder neu hervor (vgl. zum Begriff der Praktik auch Kap. 3, S. 69 ff.).
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fährdungseinschätzung sowie die Sinngebung für und gegen den Einsatz von Fremdunterbringungen (Kap. 7). Die untenstehende Abbildung 9 bringt die Begrifflichkeiten in Bezug zueinander und visualisiert das im Rahmen der Forschung entwickelte Modell. Zunächst werden die Felder »Entscheidungsproblem«, »Identifizierung des Problems« sowie »Kontexte« erläutert. Darauf folgt eine kurze Zusammenfassung der empirischen Befunde (vgl. Kapitel 5, 6 und 7). Die Abbildung wird dabei in zwei weiteren Schritten bis zum Ende des Kapitels komplettiert. Abbildung 9: Die Darstellbarkeit des Entscheidens, 1. Schritt
(Quelle: Eigene Darstellung; in Anlehnung an Strauss und Corbin 1990: 99ff.)
Was macht die Entscheidungsprobleme aus, die sich den Sozialarbeiter/innen der Jugendämter stellen? Hierzu lassen sich im Rückblick auf die Befunde der Feldforschung drei zentrale Aspekte benennen: Erstens implizieren Entscheidungen in Fällen von vermuteter Kindeswohlgefährdung sowie über den Einsatz stationärer Erziehungshilfen weitreichende und schwer absehbare Folgen. Eine nicht erfolgte Intervention kann im Extremfall die fortgesetzte Verletzung des Kindeswohls oder gar den Tod eines Kindes bedeuten. Der Einsatz der Fremdunterbringung hat hingegen die Trennung von Eltern und Kindern und damit schwerwiegende Konsequenzen für biographische Verläufe zur Folge. Die Untersuchung von Versprachlichungen zeigte, dass die Sozialarbeiter/innen den Einsatz stationärer Hilfen vor diesem Hintergrund mit vielfältigen Bedeutungen versehen ihn aber vor allem als »Bürde« betrachten (vgl. Kap. 7.4.).
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Die Wirksamkeit ambulanter und stationärer Erziehungshilfen ist zudem von äußeren Bedingungen abhängig, die, wie die Analyse zahlreicher Sequenzen aus den untersuchten Jugendämter zeigte, von den Sozialarbeiter/innen nur begrenzt vorhergesehen, geschweige denn kontrolliert werden können. Es müssen Prognosen getroffen werden, die letztlich immer unsicher bleiben: Wie wird sich das Kind entwickeln? Wie werden z. B. die Eltern sich künftig verhalten? Wird eine ambulante Maßnahme ausreichen oder sollte doch eine Fremdunterbringung durchgeführt werden? Als zweiten Aspekt des Entscheidungsproblems brachte die Analyse von Interviews, Dokumenten und Beobachtungsprotokollen hervor, dass es für die Sozialarbeiter/innen häufig nicht ohne weiteres möglich ist zu verstehen »was im Fall los ist«. Die Beschäftigten der Ämter haben Probleme, überhaupt einen Einblick in die Familien zu bekommen. Nicht selten wissen sie nur ungefähr, was die eingesetzten Familienhelfer/innen aktuell in den Familien genau tun (vgl. Kap. 6.1). Die Sozialarbeiter/innen haben es mit knappen Informationen zu tun; andererseits kämpfen sie mit begrenzten Kapazitäten der Aufmerksamkeit und der Informationsverarbeitung. Selektionen und Verdichtungen in der Informationsarbeit sind daher notwendige Schritte der Erkenntnisproduktion (vgl. Kap. 6.2). Gerade angesichts der komplexen Fallszenarien bleibt die Informationsarbeit trotz aller Bemühungen um Informiertheit immer vorläufig und unsicher, was die Rechtfertigung von Entscheidungen erschwert. Als dritte Ebene des Entscheidungsproblems (man könnte auch sagen: als dritte Zumutung), zeigte sich, dass den zuständigen Sachbearbeiter/innen Entscheidungen stets retrospektiv zugeschrieben werden (können). Die Sozialarbeiter/innen finden sich regelhaft in Situationen wieder, in denen sie ihre Form der Fallarbeit gegenüber Dritten begründen müssen (vgl. Kap. 5.3). Dabei kann das, was dem/der Sozialarbeiter/in als bloßer Vollzug täglicher Arbeit erschien, im Nachhinein als Entscheidung mit fatalen Folgen bewertet werden. Belässt z. B. eine Sozialarbeiterin ein Kind in der Familie, so muss ihr dies selbst nicht als Entscheidung gelten. Sie hat vielleicht »einfach so« gehandelt wie bisher und keine (bewusste) Wahl getroffen. Kommt es aber zu einer problematischen Entwicklung in der Familie, muss sie erklären können, wieso sie derart und nicht anders entschieden hat. Es besteht also immer die Möglichkeit, dass die Professionellen zu einem späteren Zeitpunkt feststellen, doch falsch entschieden zu haben (bzw. dies zugeschrieben bekommen, weil die späteren Entwicklungen es so erscheinen lassen). Die Beurteilung der Angemessenheit der Entscheidung, mithin die
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Darstellbarkeit eines Entscheidungsprozesses, verschiebt sich entsprechend der situativen Bedingungen, etwa angesichts veränderter Informationen und variierender Akteure. Gerade wenn ein Kind zu Schaden kommt, im Ernstfall gar stirbt, kann eine Entscheidung im Nachhinein ganz anders bewertet werden, als in dem Moment, da sie getroffen wurde (vgl. Kap. 5.3).2 Das Problem des Entscheidens in Fällen von Kindeswohlgefährdung sowie über den Einsatz stationärer Erziehungshilfen, wie es sich in der vorliegenden Untersuchung abzeichnet, besteht also zumindest darin, entscheiden zu müssen trotz (1.) weitreichender und unter Umständen gravierender Entscheidungsfolgen, (2.) angesichts unsicherer Informationen und begrenzter Kapazitäten der Verarbeitung sowie (3.) angesichts der Vorläufigkeit der Bewertungen von Entscheidungsprozessen.3
2
Man könnte gewissermaßen von einer ›Entscheidungsfalle‹ sprechen. Die Mitarbeiter/innen unterliegen in Interaktionen, unter der Bedingung knapper Zeit, permanenten »Entscheidungszwängen« (Hörster 2011: 322). Von ihnen werden treffsichere Entscheidungen erwartet – ohne dass sie Voraussetzungen und Konsequenzen möglicher Maßnahmen mit letzter Sicherheit bestimmen könnten. Die Folgen eines Eingriffs bzw. des Zuwartens sind von zukünftigen Entwicklungen abhängig und letztlich nicht durch die Mitarbeiter/innen des Amtes zu kontrollieren. Zwar bilden Experten typischerweise »rules of thumb« (Gigerenzer und Gaissmaier 2011: 454) aus, die Erwartungen darüber zulassen, wie ein Kind, ein Elternteil oder auch eine ganze Familie sich künftig entwickeln wird (Gigerenzer 2007), bzw. auch Annahmen darüber erlaubt, wie ein »Schadensfall« abgewendet werden kann. Doch ob eine Maßnahme greift, sich eine positive Veränderung einstellt bzw. ob eventuell die familiäre Situation über das Wochenende eskaliert, all das können die Sozialarbeiter/innen letztlich nicht mit Sicherheit bestimmen.
3
Hier wurden strukturelle Entscheidungsprobleme zusammengefasst: Wie schwierig die Entscheidung ist, dies hängt zudem vom jeweiligem Fall ab. Hat man es mit einem »klaren« Fall zu tun, ist z. B. die Kindeswohlgefährdung offensichtlich nur mit einer Fremdunterbringung abwendbar, dann kann die Maßnahme »einfach« durchgeführt werden – gewissermaßen, ohne dass eine Entscheidung notwendig wird. Die Fremdunterbringung wird dann, als Sachzwang behandelbar (vgl. Kap. 7.4.5). Besonders schwierig zu entscheiden sind hingegen »unklare« Fälle, in denen die Frage nach der Fremdunterbringung zur echten Abwägungssache wird (7.4.6), die im Prinzip unentscheidbar ist.
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Entscheidungssituationen, in denen der Einsatz stationärer Erziehungshilfen zur Frage steht, entwickeln sich in der Regel, wenn und insoweit von Kindeswohlgefährdungen ausgegangen werden muss, es mit anderen Worten zur Identifizierung des Problems kommt. Häufig führen Berichte dritter Personen, beispielsweise »Meldungen« dazu, dass der Verdacht auf Kindeswohlgefährdung geprüft wird. Das Entscheidungsproblem stellt sich aber auch, wenn Eltern oder Kinder selbst die stationäre Unterbringung verlangen. Nicht selten bringen überdies die fallführenden Sozialarbeiter/innen oder ihre Kolleg/innen den Verdacht einer Kindeswohlgefährdung auf (welcher, so er sich verhärtet, die stationäre Unterbringung als Entscheidungsoption aufruft). Dies kann auf Basis eigener Beobachtung erfolgen, z. B. im Anschluss an einen Hausbesuch oder während eines Gesprächs, das mit den Eltern geführt wird. Evoziert wird das Entscheidungsproblem zusammengefasst mit der Feststellung einer (möglichen) Kindeswohlgefährdung, angesichts der eigenhändigen Beobachtungen der Sozialarbeiter/innen,4 in Anbetracht von Hinweisen aus dem Organisationsumfeld sowie wenn und insoweit die Adressat/innen, Kinder, Jugendliche oder Eltern eine Fremdunterbringung verlangen. Welche Kontexte wirken auf die Entscheidungssituation ein, beeinflussen die Bearbeitung des Entscheidungsproblems und werden in Entscheidungsprozessen von den Beteiligten relevant gemacht?5 Hier zeigte sich zum Ersten, dass die Sozialarbeiter/innen mit Bezug auf rechtliche Rahmungen argumentieren, etwa wenn sie den Rechtsbegriff der »Kindeswohl-
4
Das Entscheidungsproblem wirkt gleichsam auf die Identifikation von möglichen Kindeswohlgefährdungen zurück. Die einfache Kausalität, dass das Feststellen einer Kindeswohlgefährdung zum Entscheidungsproblem führt, funktioniert nicht. So kann das Wissen darum, möglicherweise künftig entscheiden zu müssen oder Entscheidungen zugerechnet zu bekommen, dazu führen, die Beobachtung der Umwelt entsprechend einzurichten und etwa nach Markern für Kindeswohlgefährdungen Ausschau halten lassen, die nicht übersehen werden sollten. Deutlich wird daran auch, wie schwierig es ist, komplexes, nichtlineares Prozessgeschehen mit Hilfe von Schaubildern darzustellen. Die Reduktion der Komplexität der Praxis wird hier in Kauf genommen, um die wichtigsten Begriffe herauszustellen und gegeneinander abzugrenzen.
5
Zur Erläuterung: Es wird hier davon ausgegangen, dass es nicht einfach »feste« Kontexte gibt, sondern dass es darauf ankommt, welche Kontexte die Beteiligten für ihr Handeln relevant machen (vgl. Kap. 3.3.4).
8. R ESÜMEE
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gefährdung« für ihre Praxis operationalisieren (vgl. Kap. 7.1 bis 7.3).6 Die mediale Beobachtung des Jugendamtes wird, davon zeugte die Analyse von Interviewsequenzen, von den Mitarbeiter/innen ebenfalls als relevanter Handlungsrahmen thematisiert (vgl. Kap. 5.3). Keine Sozialarbeiterin möchte die Nächste sein, die »in der Zeitung steht« und öffentlich beschuldigt wird. Individuelle Entscheidungsstile nehmen, so wurde von den Sozialarbeiter/innen selbst geltend gemacht, Einfluss auf die Bearbeitung des Entscheidungsproblems.7 Organisationale Verfahren werden, etwa mit den Risiko-Einschätzungsinstrumenten (vgl. 7.1), mit der Regelung der Zuständigkeit oder in Fallteam-Sitzungen, zur Herstellung darstellbarer Entscheidungen herangezogen – ohne dass die Verfahren mit den Entscheidungsprozessen in Eins gesetzt werden können. Die Prozesse des Entscheidens vollziehen sich vielmehr in und über die Interaktionen der Akteure (für die organisatorische Kulturen, Programme und Verfahren bedeutsame Kontexte sind). Die Untersuchung der beobachteten Situationen zeugte zudem davon, dass und wie die Beteiligten die organisationalen Programme, ebenso weitere Kontexte, für die jeweiligen Arbeitssituationen nutzbar machten (vgl. z. B. den Umgang der Sozialarbeiter/innen mit den Verfahren der Zuständigkeitsermittlung in Kap. 5.2). Unter dem Begriff »Kontexte« werden hier daher Rahmungen gefasst, die den Prozess der Entscheidung zwar nicht bestimmen, aber von den Beteiligten situationsbezogen relevant gemacht werden können (wie z. B: gesetzliche Grundlagen, die Person der Entscheiderin, »Bauchgefühle«, etc.). Abbildung 10 nimmt die bisherigen Ausführungen auf, gewissermaßen als Visualisierung eines Zwischenstandes in der Ausführung des Modells.
6
Die verfügten Maßnahmen werden etwa mit Bezug auf die §§ 27 ff. SGB VIII gewährt. Mit der Nutzung von Begriffen, die ihren Ursprung in Gesetzestexten haben (z. B. Kindesvater, Kindesmutter, Sorgeberechtigte, Kindeswohlgefährdung usf.) bzw. in ihnen abgebildet werden, wird laufend Referenz zu rechtlichen Logiken deutlich gemacht.
7
Die Person wird im Rahmen dieser Studie als Kontext des Entscheidungsprozesses verstanden, gewissermaßen als ein Umstand, der für den Entscheidungsprozess auch von Bedeutung ist. Im Rahmen dieser Studie stand die Rekonstruktion feldtypischer, gewissermaßen »individuenübergreifender« Vorgehensweisen im Fokus. Dies schließt nicht aus, dass es persönliche Entscheidungsstile der Sozialarbeiter/innen gibt und es interessant wäre, diese – z. B. im Rahmen einer weiteren Studie – genauer zu analysieren.
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Abbildung 10: Die Darstellbarkeit des Entscheidens, 2. Schritt
(Quelle: Eigene Darstellung; in Anlehnung an Strauss und Corbin 1990: 99ff.)
Die Darstellbarkeit des Entscheidens wird über organisational verankerte Praktiken hergestellt, die im Rahmen der Feldforschung untersucht, gleichsam im Hauptteil dieser Arbeit in den Kapiteln 5 bis 7 beschrieben wurden. Die Praktiken des darstellbaren Entscheidens sind im Amt »vorrätig« und können von den individuellen Entscheider/innen anlassbezogen bemüht werden. Es handelt sich zugleich um Bewältigungsstrategien für die auftretenden und gerade eben spezifizierten Entscheidungsprobleme. Nachfolgend gehe ich zusammenfassend auf diese Praktiken ein. Die Organisation der Fallzuständigkeit verpflichtet die Sozialarbeiter/innen der Jugendämter auf darstellbare Bearbeitung »ihrer« Fälle (vgl. Kap. 5). Dies ermöglicht es, nach außen wie innen, die Verantwortung für Entscheidungen zuzurechnen. Es wird nachvollziehbar gestaltet, wer entscheiden muss und im Zweifelsfall entschieden hat. Einmal zuständig geworden, sind die Sozialarbeiter/innen deshalb gefordert, die Plausibilität ihrer Fallarbeit immer wieder nachzuweisen (vgl. Kap. 5.3). Auf diese Weise wird eine typische Relation zwischen Fall und Sachbearbeiter/in erzeugt,
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die garantiert, dass eine persönliche Zurechnung von Entscheidungen erfolgen kann. Mit der Übernahme der Zuständigkeit durch das Jugendamt beginnt zugleich die Konstitution des Falls als Gegenstand des Entscheidens. Die Konstruktion des Arbeitsgegenstandes, setzt die Herstellung von Fallförmigkeit voraus: Ein Vorkommnis in der Umwelt wird identifiziert und in die Form des Falls gebracht. Zuständig zu sein impliziert in diesem Kontext die Konfrontation mit einem komplexen Fall-Szenario, über das von der zuständigen Sachbearbeiterin Entscheidungen zu treffen sind (vgl. Kap. 5.4). Die Sozialarbeiter/innen beginnen gleichermaßen im Fall zu handeln. Sie machen Hausbesuche, führen Beratungsgespräche, schlagen Interventionen vor, führen sie durch etc. Zugleich werden die Sozialarbeiter/innen – mit dem Prinzip der Zuständigkeit – auf darstellbare Entscheidungen über Fälle verpflichtet.8 Plausibel und situationsangemessen zu entscheiden, setzt im Kontext des Jugendamtes überdies voraus, ausreichend informiert zu sein bzw. dieses Dritten gegenüber deutlich machen zu können (vgl. Kap. 6). Die entsprechende Herstellung von Informiertheit erreichen die Beschäftigten der ASDs über Strategien der Informationsbeschaffung und -verarbeitung, die im Rahmen der Feldforschung untersucht wurden: Erstens werden Informationsgelegenheiten genutzt, in denen gezielt oder nebenbei Informationen über Fälle eingeworben werden (vgl. Kap. 6.1). In der Analyse wurde zudem deutlich, wie die von den Sozialarbeiter/innen verwendeten Informationsgelegenheiten sich durch spezifische Charakteristika, zugleich durch unterschiedliche Qualitäten auszeichnen, die für die Herstellung von Informiertheit relevant sind. Informiertheit entsteht im Kontext des Amtes über die Versammlung von Perspektiven, die aus unterschiedlichen Gelegenheiten gewonnen werden sowie über deren fortschreitende Verdichtung in Prozessen der Dokumentationen zu mehr oder minder plausiblen Fallgestalten (vgl. Kap. 6.2).
8
Eine Schwierigkeit besteht dabei darin, dass es das Zuständigkeitsverhältnis verlangt, einerseits eine Handlungsperspektive im Fall einzunehmen, andererseits eine Entscheidungsperspektive über den Fall zu entwickeln. Es kommt gewissermaßen zu einem Wiedereintritt, einem »Re-Entry« (Luhmann 1984: 547, 640 ff.) der Entscheider/innen in die Situation der Entscheidung, die sie selbst mit hervorgebracht haben.
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Insgesamt geht es bei der Informationsarbeit in zentraler Weise darum, sich einen situationsangemessenen Eindruck vom Fall zu verschaffen bzw. darstellen zu können, dass ein hinlängliches Maß an Informiertheit erreicht wurde, um überhaupt über den (Nicht-)Einsatz von Maßnahmen wie der Fremdunterbringung entscheiden zu können (vgl. Kap. 6.3). Im Zuge der Fallarbeit werden zudem nachvollziehbare Verhältnisse zwischen Einschätzungen von Kindeswohlgefährdung einerseits sowie den gewählten Interventionsstrategien, wie der Fremdunterbringung, andererseits hergestellt (vgl. Kap. 7.4). Auch diese Vorgehensweisen reagieren auf das Problem immer wieder – trotz aller Schwierigkeiten – entscheiden zu müssen. Die Untersuchung von im Kontext der untersuchten Jugendämter verwendeter Risikoeinschätzungsinstrumente demonstrierte, dass solche Instrumente die Gefährdungseinschätzung beeinflussen, sie den Sozialarbeiter/innen die interpretative Arbeit sowie die Entscheidungsprozesse aber nicht abnehmen können (vgl. Kap. 7.1). Das Instrument verlangt von den Sozialarbeiter/innen gewissermaßen eine Übersetzung ihrer Beobachtungen in die Kategorien des Instrumentes, Versuche der Objektivierung bleiben letztlich unzulänglich. Die Untersuchung von Interviews und Beobachtungssequenzen brachte zudem hervor, dass die Sozialarbeiter/innen in der Gefährdungseinschätzung insbesondere das elterliche Verhalten in das Zentrum ihrer Aufmerksamkeit stellen. Ob die Eltern etwa »kooperativ«, »erziehungsfähig«, »sucht-krank« o. ä. sind, dies wird von den Beschäftigten der Jugendämter in Prozessen der Kategorisierung erfasst und mit der Gefährdungseinschätzung verbunden (vgl. Kap. 7.2). Die empirischen Analysen zeigten darüber hinaus, wie die Einschätzung von Kindeswohlgefährdungen über abwägende Relationierungen beruhigender und beunruhigender Beobachtungen hergestellt wird (vgl. Kap. 7.3). Dabei kommt es, wovon die weiteren Analysen zeugten, auf das Zusammenspiel der Beobachtungen an (und nicht oder nicht nur auf einzelne Beobachtungen). Eine Eigenheit der Einschätzung von Kindeswohlgefährdungen wurde abschließend anhand des Begriffs der Neutralisierungstechnik diskutiert. Es handelt sich um eine Argumentationsweise, die geeignet ist, die Konstruktion der Gefährdung zu entschärfen und daher zum Einsatz gebracht werden kann, um Entscheidungen gegen die Fremdunterbringung verständlich zu machen (vgl. Kap.7.3.3).
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Zum Ende des siebten Kapitels wurde deutlich, dass und wie die Sozialarbeiter/innen Fremdunterbringungen situationsbezogen einsetzen – und sie entsprechend als Entscheidungsoption einschätzen. Dabei wurden zunächst widersprüchlich erscheinende Verwendungsweisen der Fremdunterbringung deutlich, etwa als »ungeliebte« und »sichere Lösung«, »als Drohung«, »Sachzwang« oder »Abwägungssache«. Die Analyse zeigt, dass die Sinngebung fallbezogen sowie vor dem Hintergrund der jeweiligen Arbeitssituationen erfolgt, was die Unterschiedlichkeit der Konzeptionierung erklärt (vgl. Kap. 7.4). Die Sozialarbeiter/innen nutzen diese drei untersuchten Gruppen von Vorgehensweisen, die Organisation der Zuständigkeit (vgl. Kap. 5), die Informationsarbeit (vgl. Kap. 6), die Gefährdungseinschätzung sowie die Begründung der Intervention (vgl. 7), um angesichts der dargelegten Entscheidungsprobleme überhaupt situationsangemessene Entscheidungen treffen zu können. Darstellbare Entscheidungsprozesse und darstellbare Entscheidungen resultieren aus dem kompetenten Gebrauch dieser Handlungsweisen. Das Prinzip der Darstellbarkeit des Entscheidens wirkt zugleich auf die untersuchten Praktiken zurück. Die Darstellbarkeit der Entscheidung und des Entscheidungsprozesses werden zu Referenzpunkten im Handeln der Sozialarbeiter/innen. Die Beteiligten fragen sich ritualisiert: Wurde die Zuständigkeit ordentlich geklärt? Besteht ausreichende Informiertheit? Wurde die Gefährdungseinschätzung auf angemessene Weise erstellt und in der Fallarbeit berücksichtigt, so dass sich die Entscheidung darstellen lässt? Diese laufenden Selbst- und Fremdbefragungen sichern die Situationsangemessenheit, weil sie wiederholend Abgleiche zwischen aktuellen Beobachtungen des Falls einerseits sowie unternommen Schritten der Bearbeitung andererseits herausfordern. Die Befragungen sowie die hieraus resultierenden argumentativen Relationierungen tragen auf diese Weise zur Plausibilisierung und Vertretbarkeit der Fallarbeit bei. Die Darstellbarkeit des Entscheidens lässt sich zudem, wie die Analysen zeigten, wie folgt differenzieren: Darstellbar zu entscheiden bedeutet nicht zuletzt Nachvollziehbarkeit in der Wahl des Interventionsmittels zu schaffen, eine entsprechende Indikation im Fall nachzuweisen und dergestalt den Nicht-(Einsatz) der entsprechenden Maßnahmen plausibel zu machen (vgl. Kap. 7.4). Darstellbares Entscheiden bezieht sich vor diesem Hintergrund sowohl auf den Entscheidungsprozess, auf die Entscheidung selbst sowie auf das Handeln der entscheidenden Personen, d. h. auf die
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Entscheider/in selbst und darauf dass die entsprechende Person als situationsangemessen vorgehende Entscheider/in erkennbar wird. Darstellbar zu entscheiden, bedeutet für einen nachvollziehbaren Entscheidungsprozess Sorge zu tragen, was wiederherum impliziert, die verschiedenen Praktiken der Fallarbeit achtsam durchzuführen und die verschiedenen Arbeitsschritte der Fallbearbeitung plausibel zu halten. Der Handlungsfokus auf die Darstellbarkeit und damit die situative Angemessenheit des Entscheidens mag auf den von außen schauenden Betrachter irritierend wirken, da auf den ersten Blick nicht immer eine übergeordnete (z. B. gesetzlich oder fachliche) Geregeltheit oder Vernünftigkeit zu erkennen ist. Die Kernaussage des entwickelten Modells ist aber gerade, dass die Vernünftigkeit des Entscheidens immer wieder situativ, unter Einbezug typischer Kontexte und Praktiken, neu verhandelt wird. Mit anderen Worten werden die Sozialarbeiter/innen in vielfältige Situationen, verpflichtet durch das Prinzip der Fallzuständigkeit, dazu herausgefordert, die Plausibilität ihrer Fallbearbeitung immer wieder herzustellen. Dies fördert nicht nur die Transparenz der Bearbeitung, sondern vor allem die Situationsangemessenheit von Entscheidungen (da diese andernfalls z. B. beim Gespräch mit dem Team oder dem Vorgesetzten als nicht gerechtfertigte, nicht situationsangemessen erscheinen müssten). Die Produktion darstellbarer Entscheidungen ist deshalb keinesfalls als bloße Selbstschutzpraxis zu verstehen. So paradox dies klingen mag: der Rechtfertigungsdruck und die hieraus resultierende Praxis sichern die Qualität der Entscheidungen. Es kann eben nicht einfach irgendetwas getan werden.9 Entschieden wird das, was unter den gegebenen Bedingungen – und vorrausichtlich auch noch in Zukunft – begründbar dargestellt werden kann. Die Herstellung darstellbarer Entscheidungen wirkt daher subjektiven, willkürlichen Entscheidungen entgegen (auch wenn subjektive Empfindungen einen relevanten Kontext darstellen). Es geht schließlich darum, unter den gegebenen Umständen und in der jeweiligen Arbeitssituation, trotz teilweise schwer überschaubarer Prozesse, alles zu tun, was erwartet werden kann, um nachvollziehbare Lösungen für die beobachteten Probleme zu finden. Abbildung 11 nimmt die hier dargestellten Überlegungen auf und lässt sich als graphische Umsetzung des theoretischen Modells wie folgt vervollständigen.
9
Seibel (2016) bezeichnet den Rechtfertigungsdruck gar als »wesentliches Merkmal jeder Verwaltung« (ebd.: 48) demokratischer Staatsformen.
(Quelle: Eigene Darstellung; in Anlehnung an Strauss und Corbin 1990: 99ff.)
Abbildung 11: Die Darstellbarkeit des Entscheidens, 3. Schritt
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8.2 D ISKUSSION
DER
B EFUNDE
Die Ergebnisse der vorliegenden Studie werden im Folgenden mit Bezug auf den Stand der Forschung diskutiert. Die zunehmende mediale Aufmerksamkeit, wie sie in einschlägigen Veröffentlichungen beschrieben wird, stellt in den von untersuchten Jugendämtern ebenfalls einen relevanten Kontext dar. Die Sozialarbeiter/innen äußern die Befürchtung, medial für mutmaßliche Fehler »schuldig gesprochen« zu werden. Die Möglichkeit, im Nachhinein für den Tod eines Kindes verantwortlich gemacht zu werden, erzeugt unter den Kolleg/innen Befürchtungen und Verunsicherungen bei der Ausübung ihrer Aufgaben. Die Herstellung darstellbarer Entscheidungen und ihre Sicherstellung in der Dokumentationsarbeit stellt eine Bewältigungsstrategie angesichts dieses Bedrohungsszenarios dar, zugleich einen Ansatz zur Bearbeitung von legitimatorischen Ansprüchen hinsichtlich des sozialarbeiterischen Entscheidens. Die Ausrichtung auf die Darstellbarkeit des Entscheidens ist hierbei nicht gleichzusetzen mit Selbstschutz durch bewussten Aufbau einer interpretativen »Fassade«. Das würde eine einseitige Orientierung der Sozialarbeiter/innen auf eigene Interessen unterstellen. In der Analyse der Daten stellt sich dieser Sachverhalt komplexer dar: Darstellbares Entscheiden ist von dem Bemühen getragen, zu dokumentieren, dass alles in der jeweiligen Situation Mögliche getan wurde, um dem Organisationszweck gerecht zu werden. Aber: um die Berichtsfähigkeit der Fallarbeit aufrechtzuerhalten, muss auch eine Gewährleistung des Kindeswohlschutzes erreicht werden, so dass darstellbares Entscheiden idealerweise beides impliziert: den Schutz des Kindeswohls und den Schutz der bearbeitenden Person (und letztlich auch der jeweiligen Organisation).10 Während die im Forschungsstand rezipierten Studien häufig akteursbezogene Muster der Wahrnehmung in der Fallbearbeitung betont haben (vgl. Kap. 2), wurden im Kontext der vorgelegten Untersuchung feldtypische Handlungsmuster rekonstruiert, welche die Ebene persönlicher Handlungs-
10 Zugleich garantiert die Herstellung von Nachvollziehbarkeit nicht automatisch den Schutz des Kindeswohls. Dies könnte noch einmal genauer untersucht werden. Man könnte fragen, wie sich das Verhältnis der »Zielgrößen« im Entscheidungsprozess verhält. Besteht zwischen Schutz der Darstellbarkeit der Fallarbeit und Schutz des Kindeswohls tatsächlich ein Verhältnis wechselseitiger Ergänzung? Vermutlich ließen sich neben der »Komplementarität« auch die »Neutralität« oder »Konkurrenz« beobachten (Laux 2012: 67).
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strategien überschreiten, also als kollektive anzusehen sind. Es handelt sich um Gruppen von konventionellen Praktiken, auf die die Professionellen zurückgreifen, und die unabhängig von den einzelnen Personen verfügbar sind. Darauf verweisen die Erkenntnisse aus dem Zusammenhang der vorgelegten Untersuchung: Zuständigkeiten werden festgelegt und Positionen geschaffen, aus denen heraus der Fall bearbeitet und entschieden wird. Informationen werden eingeworben und verdichtet, wobei Entscheidungsgegenstände und zugleich Entscheidungsoptionen festgelegt werden. Kindeswohlgefährdungen werden in gegenüberstellenden Relationierungen abgewogen, Gefährdungen über die Kategorisierung der Eltern eingeschätzt, Entscheidungen über Interventionen werden anhand des Falls begründet. Alle diese Vorgehensweisen, diese Gruppen von Aktivitäten, sind nicht an einzelne Personen gebunden, sondern entsprechen überindividuell verfügbaren, feldtypischen Praktiken (mit ihren jeweiligen situativen Umsetzungen), über die Entscheidungen verhandelt und hergestellt werden.11 Die Zweifel an der Umsetzung der partizipatorischen Ansprüche, die in der einschlägigen Forschung geäußert werden (vgl. Kap. 2.3), können auf Grundlage der vorliegenden Untersuchungsergebnisse folgendermaßen differenziert werden. Die Wünsche von Kindern fanden in den untersuchten Entscheidungsprozessen, wenn überhaupt, nur mittelbar Gehör. Einbezogen wurden in stärkerem Maße die Aussagen der Eltern. Es kann daher durchaus von Beteiligung gesprochen werden, die jedoch ihre Grenze erstens darin findet, dass für die Entscheidungen insbesondere die elternbezogenen Kategorisierungen von Bedeutung sind, die durch die Professionellen »aufgetragen« werden. Zweitens zeigte die Analyse von Beobachtungsprotokollen, wie Kategorisierungen und Entscheidungen typischerweise im engeren Kreise der Kolleg/innen (d. h. zumeist ohne Adressat/innen) ausgehandelt werden (vgl. Kap. 7.2). Drittens sind Entscheidungen häufig schon gefallen, wenn sie, wie z. B. im Hilfeplangespräch, offiziell noch mit den Adressat/innen verhandelt werden. Dennoch nehmen Eltern, Kinder und Jugendliche durchaus Einfluss, irritieren den Entscheidungsprozess, indem sie die Beschäftigen der ASDs mit (bestimmten) Informationen versorgen, sich kooperativ zeigen, die Mitarbeit ausweiten oder einschränken und daher, wenn auch indirekt an der Gestaltung des Prozesses partizipieren.
11 Dies schließt selbstverständlich nicht aus, dass sich in den feldtypischen Praktiken persönliche Entscheidungsstile herausbilden, die genauer erforscht werden könnten.
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Zur Frage, inwiefern das sozialarbeiterische Feld von bereichsfremden Logiken bestimmt wird, lässt sich vor dem Hintergrund der vorliegenden Ergebnisse feststellen: Eine Dominanz ökonomischer Rationalitäten, wie sie in einigen Veröffentlichungen beschrieben wird, konnte nicht beobachtet werden. Dies trifft zumindest insofern zu, als die Kosten der Fremdunterbringung in den Überlegungen der Sozialarbeiter/innen, jedenfalls auf der unseren Beobachtungen zugänglichen Ebene, kaum eine Rolle spielten. Andererseits wurde etwa die Zeitknappheit in der Bearbeitung von Fällen durchaus von den Professionellen thematisiert, was auf eine implizite Ökonomisierung im Sinne einer Verknappung von Zeit verweisen könnte. Zutreffender erscheint eher die Diagnose einer Rationalitätenvielfalt, aus der heraus die Beteiligten situationsbezogen variierende Rationalitäten zur Begründung von Entscheidungen bemühen. In den untersuchten Entscheidungsprozessen berücksichtigen die Sozialarbeiter/innen zwar vielfältige Aspekte des Falls, so wie dies auch idealtypisch in einer Vielzahl von Handbüchern, die im Stand der Forschung referiert wurden, verlangt wird (vgl. die Einleitung zu Kap. 2). Die Professionellen beziehen sich in ihren Einschätzungen auf die unterschiedlichsten Bezugspunkte, auf Stellungnahmen von Gutachter/innen, Einschätzungen von Eltern, das eigene »Bauchgefühl«, erworbenes Fachwissen, professionelle Moden, den »Stil des Hauses« und vieles mehr. Sie tun dies aber situationsbezogen und unter Bedingungen, die mit Modellen des rationalem Entscheidens, in denen Ziele eindeutig geklärt und Ziel-Mittel-Relationen hergestellt werden können, kaum in Einklang zu bringen sind. Zudem ist die Einschätzung des Falls, sind die Entscheidungen für und gegen Fremdunterbringungen viel stärker durch interaktive Dynamiken, durch arbeitsprozessbezogene Umstände und durch die situative Verfügbarkeit von Informationen und Einschätzungen bedingt, als dies in amtlichen bzw. professionellen Programmatiken oder auch in Untersuchungen zum Ausdruck kommt, welche die sozialarbeiterischen Entscheidungen über standardisierte Fragebogenerhebungen und Fallvignetten-Studien untersuchen (vgl. Kap. 2.2). In der Betrachtung der Organisation der Fallzuständigkeit wurde eine Unzufriedenheit der Sozialarbeiter/innen mit administrativen Reformen deutlich (vgl. Kap. 5.3.3), die sich ebenfalls im Stand der Forschung andeutete. Beklagt wird die Zunahme der Verwaltungsarbeit sowie ein entsprechender Verbrauch von Zeitressourcen (bereits Lau und Wolff 1981), der mit Formularen zur Hilfeplanung und (neuen) Verfahren der Risikoein-
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schätzung verbunden ist. Hierin kann einerseits ein typischer Widerstand von Mitarbeiter/innen gegen Veränderungen der Organisation überhaupt gesehen werden (Bea und Göbel 2006: 516 f., Kets de Vries und Balazs 2004: 175). Andererseits, und hierin liegt ein Unterschied zum Tenor der Forschungsliteratur, wissen die Sozialarbeiter/innen die, im Zuge aktueller Reformen eingeführten Instrumente und Verfahren durchaus in ihrem Sinn zur Begründung und Einhegung der Fallarbeit zu nutzen. Das gilt nicht zuletzt für Risikoeinschätzungsinstrumente, die sie zum Teil geschickt nutzen, um ihre Entscheidungen zu plausibilisieren. Risikoeinschätzungsinstrumente, die in der Fachliteratur als Option zur Verbesserung der Entscheidungsprozesse diskutiert werden, kamen in den untersuchten Ämtern häufig zur Anwendung (vgl. Kap. 7.1). Eingeführt werden sie zur Vereinheitlichung und Standardisierung der Entscheidungsfindung angesichts unterschiedlicher Entscheider. Sie richten sich als organisationales Verfahren gewissermaßen, ähnlich den Verfahren im Gericht (Luhmann 2005) gegen individuelle Werte, Normen, Emotionen, situatives Handeln. Nicht zuletzt nehmen Risikoeinschätzungsinstrumente für sich in Anspruch, den Schutz des Kindeswohls als vordringlichen Organisationszweck des Jugendamtes, zu verbessern. Die Mathematisierung der Gefährdungseinschätzung über entsprechende Checklisten und -bögen, wie sie hier untersucht wurde, erlaubt eine erstaunliche Komplexitätsreduktion, die das Entscheiden – zumindest programmatisch – erleichtern und rationalisieren soll. Umfangreiche Beobachtungen werden hierbei aufgelistet und »zusammengerechnet«. Die Reduktion auf eine numerische Ziffer suggeriert Objektivität, d. h. den Ausschluss von subjektiver Interpretation. Letztlich erweist sich eine solche Form der Mathematisierung jedoch als Fiktion. Das Entscheiden der Sozialarbeiter/innen kann durch diese Instrumente keinesfalls substituiert werden. Die Umrechnung von Beobachtungen auf numerische Skalen und deren arithmetische Weiterverarbeitung fordern die interpretative Arbeit der Sozialarbeiter/innen heraus, sich mit den Anforderungen des Dokumentes (und »seinen« Kategorien) auseinanderzusetzen, seine Vorgaben auf den betreffenden Fall anzuwenden. Die Objektivierung ist zweifelhaft, weil die Übersetzung des Falls (Callon 2006) in den Bogen notwendigerweise der interpretativen Arbeit der Sozialarbeiter/innen überlassen bleibt. Die Ergebnisse der vorliegenden Untersuchung, das Modell des darstellbaren Entscheidens, zeigen Formen des organisationalen Aufbaus und der Reduktion von Komplexität sowie die Bewältigungsstrategien der Sozi-
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alarbeiter/innen angesichts der sich stellenden Entscheidungsprobleme. Auch mit Blick auf den bisherigen Forschungsstand erscheint es lohnend, weiter an einem besseren Verständnis jugendamtlicher und (sozialpädagogischer) Entscheidungsprozesse zu arbeiten und dabei vor allem auf Begrifflichkeiten zu setzen, die der Komplexität des Handlungsfeldes gerecht werden. Die vorliegende Untersuchung liefert hierzu einen ersten Beitrag. Gerade die Fallarbeit bei Kindeswohlgefährdung ist ohne Reflexion auf Entscheidungen kaum zu verstehen. Auf Dauer wird auch die sozialpädagogische Forschung überhaupt ohne einen differenzierten Begriff von Entscheidung nur schwerlich auskommen. Entscheiden als Praktik mit Darstellungscharakter zu untersuchen, bietet die Chance, Entscheidungen im Vollzug, im Kontext situierter Herstellungsprozesse zu verstehen. Notwendigerweise sind auch im Rahmen dieser Untersuchung einige Fragen offen geblieben, die im Zuge weiterer Forschung aufgegriffen werden könnten. Drei Themenfelder, die sich bereits andeuteten, seien hier noch einmal abschließend genannt: Erstens könnte die Frage weiter bearbeitet werden, wie Risikoeinschätzungsinstrumente, aber auch Computer und andere Artefakte aus dem Kontext des Jugendamtes in Entscheidungsprozesse und Mensch-Ding-Netzwerke eingewoben werden. Dabei könnte eine Perspektive eingenommen werden, die die Produktion von Entscheidungen noch stärker als situationsübergreifendes Vorgehen versteht, deshalb einzelne Entscheidungs-Fälle über längere Dauer verfolgt. Zweitens wäre es interessant, die Beiträge von Kindern und Eltern zu Entscheidungsprozessen besser zu verstehen, das hieße die Perspektive der Adressat/innen vermehrt zu fokussieren, ihre Bewältigungsversuche angesichts von Entscheidungsproblemen herauszuarbeiten. Nicht zuletzt stellt sich vor dem Hintergrund der vorgelegten Untersuchung die Frage nach »gutem Entscheiden«, deren Bearbeitung die Aufgabe einer in der Forschung weiterzuentwickelnden Entscheidungsethik wäre.
8.3 S CHLUSSFOLGERUNGEN FÜR » DIE « P RAXIS Ziel der vorliegenden Studie war es, auf der Basis einer wissenschaftlichen Untersuchung, besser zu verstehen, wie es Sozialarbeiter/innen gelingt, – trotz aller strukturellen Schwierigkeiten – in Fällen von Kindeswohlgefährdung und über den Einsatz stationärer Erziehungshilfen zu entscheiden. Gezeigt werden konnten Praktiken, anhand derer Probleme beim Entschei-
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den über das Kindeswohl im Kontext der untersuchten Jugendämter bearbeitet werden. Im Folgenden skizziere ich Anschlüsse, die sich vor dem Hintergrund der Feldforschung sowie angesichts des vorgeschlagenen Modells des darstellbaren Entscheidens, für die Gestaltung der jugendamtlichen Entscheidungspraxis ergeben (wenngleich dies nicht im Sinne einer Praxisinstruktion missverstanden werden soll). Dabei orientiere ich mich an Gruppen von Personen, für die die vorgelegte Studie möglicherweise interessant sein könnte. Ich beschränke mich auf (1.) Sozialarbeiter/innen, (2.) Adressat/innen der Jugendämter, (3.) Personen, die im Bereich der Sozialarbeit/Sozialpädagogik lehren sowie (4.) Leitungskräfte im Jugendamt und Organisationsentwickler/innen. (1.) Die Sozialarbeiter/innen der Jugendämter werden, wie wir gesehen haben, bereits über die Herstellung der Zuständigkeiten in den Fall verwickelt. Sie »haben Fälle« und von ihnen wird erwartet, darstellbare Entscheidungen über »ihre« Fälle zu treffen (vgl. Kap. 5). Ihnen werden Entscheidungen persönlich zurechenbar gemacht. Zugleich werden die Beschäftigten der Jugendämter zu Handelnden im Fall. Sie führen Gespräche, machen Hausbesuche, schlagen Interventionen vor, gestalten die informative Basis des Falls usf. (vgl. Kap 6). Sie produzieren die Fallkonstruktion über in den Organisationen verankerte Praktiken, mithin die Entscheidungsgegenstände selbst. Die Beschäftigten des Jugendamtes sind daher Entscheider/innen über Fälle, handeln aber gleichermaßen auch im Fall den sie aktiv mit-herstellen.12 Würden die Sozialarbeiter/innen der Jugendämter ihre Verstrickung in den Fall im Entscheidungsprozess vermehrt berücksichtigen, so würde dies bedeuten, den Fall (weiter) zu »entgegenständlichen«: Der Fall würde zunehmend als Ergebnis (kunstvoller) Konstruktion sichtbar, was nützlich wäre, weil bezogen auf den Fall Konstruktionsspielräume, Gestaltungsmöglichkeiten (und d. h. andere Entscheidungsoptionen) erkennbar würden. In eine Frage gefasst, die zum gedanklichen Experimentieren anregen soll: Wie würde sich der Fall verändern, wenn ich mich anders verhielte? Wie würde eine außenstehende Person den Fall – und mich im Fall als Entscheider/in – betrachten?
12 Der Fall muss als Produkt von Interaktion verstanden werden, an denen sich Adressat/innen, Kooperationspartner/innen sowie die Sozialarbeiter/innen beteiligen (Müller 2012, Köngeter 2009); vor dem Hintergrund der empirischen Ergebnisse stellt sich der Fall zudem vor allem auch als Ergebnis und Gegenstand organisationaler Entscheidungsprozesse dar.
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Die Untersuchung von Versprachlichungen und von Situationen aus den Arbeitsprozessen der untersuchten Jugendämter brachte hervor, wie Einschätzungen möglicher Kindeswohlgefährdungen anhand typisierender Betrachtung elterlichen Verhaltens vorgenommen werden (vgl. Kap. 7.2). Die Reduktion des elterlichen Verhaltens auf wenige Kategorien (»gewalttätig«, »unkooperativ«, »psychisch krank«) reduziert die Komplexität und bietet Orientierung in der Einschätzung von Gefährdungen. Zugleich birgt eine solche Typisierung die Gefahr, Fallkomplexität »abzuschneiden«, die für die Entscheidungen wichtig sein könnte. Zudem verfügen die verwendeten Kategorien über erstaunliche Widerstandskraft. Einmal aufgetragen, können sie die Einschätzung des Falls über lange Dauer und unterschiedliche Kontexte hinweg bestimmen. Es scheint daher sinnvoll, für die Arbeit mit solchen Kategorien selbstauferlegte Formen des Vergessens zu organisieren (Weick 2011a, Willke 2004). Die Aktualität der verteilten Kategorien könnte regelmäßig geprüft werden, um sich zuspitzenden Reduktionsprozessen entgegenzuwirken. Hieraus ergeben sich weitere Fragen, für deren Bearbeitung, wie auch bei den obigen Fragen, externe Supervision sicher hilfreich, wenn nicht unerlässlich wäre: Wie würde sich der Fall verändern, wenn wir diese Kategorie für einen Moment vergessen würden? Wo sind wir vereinfachten Kategorien aufgesessen? Mit anderen Worten: Was wird sichtbar, wenn wir den Fall jenseits der (gerade) gebrauchten Kategorien denken? Bestärkt werden können die Sozialarbeiter/innen der Jugendämter zudem darin, der Informationsarbeit neue Aufmerksamkeit beizumessen. Die Untersuchung von »Informationsgelegenheiten« zeugte davon, wie die Sozialarbeiter/innen Informationen einerseits im direkten Kontakt mit Klienten/innen gewinnen, diese und andererseits vor allem Informationen Dritter verarbeiten (vgl. Kap. 6.1). Dabei wurde auch ein problematisches Verhältnis zwischen dem Vertrauensschutz für die Adressat/innen und der Notwendigkeit deutlich, Informationen einzuwerben. Die Verwendung von Informationen aus zweiter (oder dritter) Hand impliziert aber darüber hinaus, von der Arbeitszeit profitieren zu können, die bereits von Dritten in die Gewinnung der Information investiert wurde. Diese Vorgehensweise wird daher von den Sozialarbeiter/innen genutzt, um angesichts knapper Zeit und im Umgang mit der Vielzahl der zu bearbeitenden Fälle einen Überblick zu behalten. Mehr direkter Kontakt mit den Adressat/innen, wie ihn viele Sozialarbeiter/innen fordern, würde in der Tat vermehrt Informationen aus eigener Beobachtung erbringen. Dies würde den Sozialarbeiter/innen eine er-
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fahrungsnähere Beurteilung ihrer Fälle ermöglichen. Entsprechende Fragen könnten lauten: Wo sind wir auf die Einschätzungen Dritter angewiesen? Wo sind diese uns nützlich? Wo müssen wir aber auch mehr aus erster Hand beobachten, um den Fall besser zu verstehen, eine eigene Position zu entwickeln und gut entscheiden zu können?13 (2.) Für die Adressat/innen der Jugendämter hat die Praxis des darstellbaren Entscheidens ambivalente Implikationen. Kinder und Eltern haben ein Recht auf Unterstützung und können diese in der Regel auch erwarten: Allerdings muss bedacht werden, dass die Aufgabendefinition der Jugendämter, wie sie sich im Spiegel der untersuchten Daten abzeichnet, direkte Unterstützungsarbeit durch die Beschäftigen der Jugendämter nur in geringem Maße zulässt. Die fallzuständigen Sachbearbeiter/innen sind eher damit beschäftigt, auf dem Laufenden zu bleiben und ggf. über aus ihrer Sicht notwendige Maßnahmen zu entscheiden. Haben die Sozialarbeiter/innen der Jugendämter einmal ambulant tätige Professionelle zur Unterstützung in den fraglichen Familien eingesetzt, dann ziehen sie sich selbst häufig zurück. Die Sozialarbeiter/innen der Jugendämter übernehmen die Position begleitender Entscheider/innen. Direkte, intensive Unterstützung und Beratung haben die Adressat/innen der Ämter deshalb eher von den ambulant tätigen Auftragnehmer/innen der Ämter zu erwarten. Die freien Träger und ihre Mitarbeiter/innen liefern allerdings ebenfalls regelmäßig Informationen an die Jugendämter. Hierzu sind sie gerade in Fällen von Kindeswohlgefährdung verpflichtet. Die in den Ämtern und in den Familien gewonnenen Informationen werden dabei zur Grundlage von Entscheidungsprozessen, die sich unter Umständen auch gegen den Willen der Adressat/innen richten. Der Ratschlag an die Adressat/innen lautet daher: »Vertrauen Sie darauf, dass Ihnen Hilfe zuteilwird, aber wissen Sie gleichwohl darum, dass die dabei gewonnen Einsichten zum Gegenstand von Entscheidungen gemacht werden, die nicht immer in Ihrem Sinne sein müssen.«
13 Vermehrt auf eigene Beobachtung zurückzugreifen würde bedeuten, der Bearbeitung einzelner Fälle mehr Zeit widmen zu müssen. Zu bedenken wäre ebenfalls, dass gerade die fallbezogenen Berichte, die Kondensierungen der Kooperationspartner/innen, sozusagen die Blicke der anderen, den Sachbearbeiter/innen einen Überblick (Latour 2002: 43) erlauben, der letztlich Arbeits- und Entscheidungsfähigkeit garantiert. Man sollte daher bezüglich der eigenen und der fremden Beobachtung nicht zu einem »entweder oder«, sondern zu einem »sowohl als auch« tendieren.
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(3.) Für die Ausbildung von Sozialarbeiter/innen lässt sich mit Blick auf die Untersuchungsergebnisse anregen, der Prozesshaftigkeit und Dynamik sozialpädagogischen Entscheidens in der methodischen Ausbildung vermehrt Relevanz beizumessen. Bislang wird in der Methodenausbildung an Hochschulen häufig mit Fallvignetten gearbeitet. Den Studierenden werden vorgefertigte Fallbeschreibungen vorgelegt und Entscheidungssituationen simuliert. In der Regel sollen die Studierenden dann begründen, welche Maßnahmen angesichts der Fallvignette zu ergreifen wäre, wofür sich – mit anderen Worten – entschieden werden müsste. Der Fall liegt dabei quasi gegenständlich, leblos vor. Es wird so getan, als sei immer schon klar, was »der Fall ist«, so dass deshalb nur noch die Lösung gefunden werden muss (die bereits im Fall bzw. der Vignette angelegt ist). Die vorgelegte Studie zeigt demgegenüber, dass Entscheidungen zu treffen viel komplexer ist, z. B. Verantwortlichkeiten geklärt werden müssen, Informationen eingeholt und verarbeitet werden, Entscheidungen aufgeschoben werden usf. Die untersuchten Entscheidungsprozesse weisen eine Vielschichtigkeit und Dynamik auf, die in der Arbeit mit Fallvignetten im »blinden Fleck« verschwinden. In der methodischen Ausbildung sollte angesichts dessen mehr mit dynamischeren Modellen gearbeitet werden. In Analogie zur vorgelegten Studie müsste der Ansatz darin bestehen, Prozesse des Entscheidens »im Tun« besser zu verstehen und daraus zu lernen: Denkbar wären Formen der lernenden Fallbegleitung, im Zuge derer Fälle unter lehrsupervisorischer Begleitung bearbeitet werden. Auch Planspiele, die Fallbearbeitungs- und Entscheidungsprozesse über längere Dauer simulieren, eröffnen Möglichkeiten, mehr über Entscheidungsfolgen und das Entscheiden in dynamischen Situationen zu lernen. Dies entspräche einem Ansatz praxisbezogenen learning by doing, einer »reflection in action« (Schön 1983). Ein solcher Ansatz setzt eine Praxis voraus und fördert sie zugleich, die »offen dafür ist, sich selbst zu belehren, im Gehen zu lernen« (Müller 2012: 196). Ein entsprechender Appell würde lauten: Lasst uns mehr fallbegleitend (im »Gehen«) lernen! (4.) Wird von Führungskräften und Organisationsentwicklern in Jugendämtern – in Anbetracht der weitreichenden Folgen für die beteiligten Kinder, Eltern und Familien, aber auch angesichts der finanziellen Belastungen für die kommunalen Haushalte – eine Verringerung der stationären Unterbringungen angestrebt, so könnte es zielführend sein, für die Sozialarbeiter/innen zusätzliche Handlungsalternativen in der Bearbeitung von
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Kindeswohlgefährdungen zu schaffen. Wie gezeigt, gilt die Fremdunterbringung nicht immer und unbedingt, aber doch auch als sichere Option, um Kindeswohlgefährdungen abzuwenden. Die Herausforderung bestünde vor diesem Hintergrund darin, andere Entscheidungsoptionen zu entwickeln und im Jugendamt bereitzuhalten, Maßnahmen, die ebenfalls eine »sichere« Bearbeitung des Falls erlaubten. Dabei ginge es darum, Angebote zu fördern, die einen weitgehenden Schutz von Kindern gewährleisten, ohne dass diese aus ihren Familien genommen werden. Denkbar wäre es etwa, Angebote zur verlässlichen, teilstationären und kurzfristigen Betreuung von Kindern auszubauen. Einrichtungen könnten einerseits mit umfassenden Betreuungszeiten aufwarten, etwa durch Tagesgruppen, die an sieben Tagen in der Woche geöffnet sind, und in denen Kinder ganztätig von Pädagog/innen betreut werden. Zudem wären Notfallinterventionsteams denkbar, die aufsuchend und kurzfristig in und mit den Familien arbeiten. Auf diesem Weg würden Entscheidungsalternativen zur Sicherung des Kindeswohls geschaffen und der Einsatz der Fremdunterbringung möglicherweise in einigen Fällen nicht länger notwendig erscheinen. Für Steuerungsversuche, die die Entscheidungspraxis des Jugendamtes verändern sollen, ergibt sich zudem, dass solche Bemühungen unbedingt einen doppelten Fokus verfolgen müssten, nämlich zumindest formale und informale Entscheidungsvoraussetzungen zu bearbeiten hätten. Entscheidungsprozesse vollziehen sich in und durch situative Aushandlungen der beteiligten Akteure, die wiederherum im Rahmen organisational verankerter Praktiken umgesetzt werden. Die Untersuchung der Arbeitssequenzen zeigte, dass Dienstanweisungen und Verfahren der Organisation in solchen Prozessen häufig eher »nur« relevante Kontexte darstellen, die je nach Situation mehr oder weniger streng berücksichtigt werden. Entscheidungen werden im Umgang mit Regelungen hervorgebracht (nicht aber durch Regelungen alleine). Zudem zeichnet sich die untersuchte Praxis durch Eigensinnigkeit und Unberechenbarkeit aus, was umfassende Regelungen ad absurdum führt. Schon jetzt sind die Sozialarbeiter/innen außerordentlich gefordert, die gesetzlichen und organisationalen Regelungen für die Situationen der Praxis zu adaptieren. In der Steuerung und Planung von Entscheidungsprozessen einfach auf andere oder auf mehr Regeln und Verfahren zu setzen, scheint daher kontraproduktiv. Sollen Entscheidungsprozesse in Jugendämtern verändert werden, wären daher umfassend alltägliche Arbeitsabläufe und organisational verankerte Praktiken zu berücksichtigen. Eine
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entsprechende, gedankenexperimentelle Frage würde lauten: Wie können wir Entscheidungsprozesse verbessern, ohne neue Regelungen einzusetzen? Notwendig wäre vor diesem Hintergrund nicht zuletzt, sich vermehrt der organisationalen Weiterentwicklung von Jugendämtern zuzuwenden und damit verbesserte Voraussetzungen für gute Entscheidungsprozesse zu schaffen. Übergeordnetes Ziel müsste es sein, Jugendämter zunehmend als lernende und zuverlässige Organisationen zu etablieren, die ihre Entscheidungspraktiken und -prozesse laufend selbst überprüfen. Es käme also darauf an – trotz aller Notwendigkeiten sichere Abläufe zu schaffen und Routinen auszubilden, um Entscheidungen überhaupt Tag für Tag treffen zu können – Zweifel zu säen und produktiver Skepsis einen Platz einzuräumen. Über eine ganze Reihe von Interventionen könnte nachgedacht werden. Um nur fünf Ansatzpunkte zu nennen: (1.) Einrichtung von Orten, an denen aktuelle Fälle unter externer Supervision diskutiert werden, sodass eigene Verstrickungen in den Fall, sowie überhaupt die ungeheure Fallkomplexität analysiert werden kann. Die Sozialarbeiter/innen des Jugendamtes würden dergestalt die Möglichkeit gewinnen, stärker während und von ihren praktischen Tätigkeiten, sozusagen »im Gehen«, voneinander und für weitere Entscheidungsprozesse lernen zu können (2.) Regelmäßige Durchführung retrospektiver Entscheidungsprozess-Analysen bei erfolgreichen aber auch bei kritischen Fällen; wobei das Ziel darin bestünde, Entscheidungsprozesse besser zu verstehen und notwendige Veränderungen für die Organisationsstruktur sowie für das Handeln der Sachbearbeiter/innen abzuleiten. (3.) Ombudsstellen, in denen Konflikte zwischen Sozialarbeiter/innen und Adressat/innen bearbeitet werden, die sich vor dem Hintergrund von Entscheidungsprozessen ergeben und auf diese Weise bearbeitet, wenn nicht geklärt werden könnten. (4.) Vermehrter Einbezug von Adressat/innen in der Gestaltung von Entscheidungsprozessen, etwa durch neue Formen der Gesprächsführung mit Kindern und Jugendlichen, aber z. B. auch über die Einrichtung von Beiräten und regelmäßigen Adressatenbefragungen bzw. ähnlichen Formen der Beteiligung an der organisationalen Gestaltung von Entscheidungsprozessen. (5.) Etablierung von regelmäßigen Maßnahmen der Organisationsentwicklung, etwa in Form von Qualitätszirkeln oder ähnlichen regelhaften Arbeitsformen, in denen die Beschäftigten der Jugendämter die konzeptionelle Ausrichtung ihrer Organisation, bestenfalls unter Beteiligung von Kooperationspartner/innen, reflektieren und entsprechende Maßnahmen zur Verbesserung der organisationalen Entscheidungsprozesse
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entwickeln. Erprobt werden könnten derartige Maßnahmen in einzurichtenden Modelljugendämtern, die eng mit Forschungseinrichtungen zu verzahnen wären und von deren Erfahrung weitere Jugendämter lernen könnten. Insgesamt ginge es überhaupt darum, Maßnahmen der organisationalen Selbstbefragung sowie Formen der Organisationsentwicklung voranzubringen, die turnusmäßige Reflexionsräume abseits des Tagesgeschäfts schaffen. Eine ritualisierte Reflexion der Entscheidungsposition der Sozialarbeiter/innen, könnte in der organisationalen sowie der interaktiven Bearbeitung von Kindeswohlgefährdungen neue Handlungsperspektiven eröffnen. Gleiches gilt, wenn Fälle von Kindeswohlgefährdungen vermehrt als Ergebnisse komplexer Konstruktionsprozesse betrachtet würden. Im Rückblick auf die Kapitel zum darstellbaren Entscheiden, die Diskussion der Befunde sowie die Implikationen für die Praxis ergibt sich ein doppelter Fokus. Erstens scheinen Veränderungen auf der organisationalen Ebene der Jugendämter notwendig. Der Organisation käme die Funktion zu, durch geeignete Formen der Bearbeitung von Komplexität, durch die Entwicklung geeigneter Verfahren, Kulturen und Praktiken, die Entscheider/innen gleichsam zu fordern und zu entlasten. Entscheidungen müssten überdies, auch aus organisationaler Perspektive, vermehrt als Prozesse verstanden werden, in denen zwar keine Perfektion zu erreichen, aus deren Konsequenzen aber durchaus zu lernen wäre. Zudem gälte es ausreichende Zeit- und Handlungsreserven vorzuhalten, die abgerufen werden können, wenn es zu unerwarteten Ereignisse kommt. Ein zentraler Ansatzpunkt bestünde daher darin, organisationale Voraussetzungen für situationsangemessenes, verantwortungsvolles Entscheiden zu schaffen, die der Komplexität des Handlungsfeldes gerecht werden, um auf diese Weise zum Schutz des Kindeswohls beizutragen. Gelingendes Entscheiden setzt im Kontext des Jugendamtes zweitens voraus, dass die Entscheider/innen ihre Entscheidungspositionen verantwortungsvoll ausfüllen (vgl. Seibel 2016: 78 ff.). Hierzu braucht es gut ausgebildete, erfahrene, mit ausreichend Ressourcen ausgestattete und mutige Sozialarbeiter/innen, die bereit sind, sich den untersuchten Entscheidungssituationen zu stellen. Nach perfekten Lösungen zu suchen, würde bei der Bearbeitung von Kindeswohlgefährdungen aber über kurz oder lang zur Entscheidungsunfähigkeit führen (vgl. ebd.: 151). Zu komplex sind die betrachteten Fallszenarien und zu schwer kalkulierbar die möglichen Konsequenzen. Mehr Informationen können immer erhoben und Abwägungsprozesse endlos verlängert werden. Gleichwohl muss laufend entschieden wer-
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den, weil Veränderungen in der Organisationsumwelt Interventionen notwendig machen, Entscheidungen erwartet werden und stets noch andere Fälle zu bearbeiten sind. Es kommt deshalb für die Sozialarbeiter/innen nicht darauf an, perfekte Entscheidungen zu treffen, sondern solche, die situationsangemessen sind, insofern sie die Aktualität des Falls, retrospektiv die amtliche Entscheidungsgeschichte sowie prospektiv denkbare Zukünfte berücksichtigten und daher mit guten Gründen vertreten werden können.
Abkürzungsverzeichnis
Abs. Absatz ASD Allgemeiner Sozialer Dienst BGB Bürgerliches Gesetzbuch BK Besuchskontakte B/1…n Beobachtungsprotokoll 1 bis n D/1…n Dokument 1 bis n EFH Einzelfallhilfe FLS Fachleistungsstunden FU Fremdunterbringung JA Jugendamt KV Kindesvater KM Kindesmutter PSD psychosoziale Diagnostik SGB VIII Achtes Sozialgesetzbuch SPD Sozialpädagogischer Dienst/Sozialpsychologischer Dienst
Tabellen- und Abbildungsverzeichnis
Tabellen Tabelle 1: Prozentuale Verteilung der Arbeitszeit im ASD nach Aufgaben | 24 Tabelle 2: Muster der Wahrnehmung in Entscheidungssituationen | 29 Tabelle 3: Entscheidungsimpulse nach Kotthaus | 35 Tabelle 4: Erhebungsmethode und Datenmaterial | 93 Tabelle 5: Akteure im Fall | 123 Tabelle 6: Eigenschaften und Verhaltensweisen der Akteure im Fall | 124 Tabelle 7: Probleme und Lösungen in schwierigen Fällen | 137 Tabelle 8: Gegenüberstellung beruhigender und beunruhigender Beobachtungen in der Einschätzung von Kindeswohlgefährdungen | 253 Abbildungen Abbildung 1: Fokus des Forschungsansatzes | 69 Abbildung 2: Akteursgruppen im Fall | 124 Abbildung 3: Skizze eines Büroraumes | 131 Abbildung 4: Institutionelle Problembearbeitungsstrategien in der Bearbeitung von Fällen von (vermuteter) Kindeswohlgefährdung | 139 Abbildung 5: Das Publikum des Jugendamtes | 170 Abbildung 6: Ressourcen in der Informationsarbeit | 203 Abbildung 7: Verkettung von Bezugnahmen | 220 Abbildung 8: Erweiterte Kette von Referenznahmen | 221 Abbildung 9: Die Darstellbarkeit des Entscheidens, 1. Schritt | 289 Abbildung 10: Die Darstellbarkeit des Entscheidens, 2. Schritt | 294 Abbildung 11: Die Darstellbarkeit des Entscheidens, 3. Schritt | 299
Erläuterung zur Transkription der Interviews
Notation B: I: I/1…In (,) (.) (2…n) […] [der Vorgesetzte] //mhm// / (auch gerne?) (unvs.) Ratz=fatz=mal (lacht), (hustet) (Telefonklingeln)
Bedeutung Beobachter/Interviewführende Person/der Autor Interviewte Person Interviewte Person 1. Bis n, bei mehreren Gesprächspartnern Minimale Sprechpause Kurze Pause, etwa eine Sekunde Längere Pausen in Sekunden Auslassung in der zitierten Passage Erklärende Einschübe des Autors Gleichzeitige Äußerung des Interviewers Satz- oder Wortabbruch Unsichere Transkription Unverständlich Schnelle Anschlüsse zwischen den Wörtern Nonverbale Äußerungen Hintergrundgeräusche
Transkriptionssystem in Anlehnung an Dresing/Pehl 2013
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Danksagung
Mein erster Dank gilt meinen Doktorvätern Prof. Wolfgang Schröer und Prof. Stephan Wolff für ihre Unterstützung im gesamten Forschungsprozess, von der Entwicklung der Forschungsfrage bis zur Abgabe des Manuskriptes. Prof. Stephan Wolff danke ich für die geduldige wie hilfreiche Kommentierung meiner Manuskripte, für vielfältige Anregungen sowie für all das, was ich über Feldforschung von ihm lernen durfte. Prof. Wolfgang Schröer danke ich für seine klugen Ideen, Einwände, Aufmunterungen und kritische Fragen. In Dank verbunden bin ich meinen Kolleg/innen aus dem Umfeld des Promotionsprogramms »Soziale Dienste im Wandel«, das an der Universität Hildesheim am Institut für Sozial- und Organisationspädagogik angesiedelt war: Christiane Bär, Fabian Brückner, Dr. Andreas Wagner, Dr. Claudia Muche, Dr. Christian Schröder, Dr. Julia Schröder, Dr. Miriam Sitter, Alice Altissimo und Tabea Noack. Ich danke zudem den beteiligten Professor/innen, insbesondere Prof. Maike Baader, Prof. Peter Cloos, Prof. Inga Truschkat sowie Prof. Kerstin Scheiwe. Ferner danke ich den Beteiligten des »Arbeitskreises politische Ethnographie«, besonders Prof. Thomas Scheffer für anregende Diskussionen und Hinweise. Mein Dank gilt ebenso Prof. Uwe Flick und Prof. Reinhart Wolff für die Erfahrungen, die ich im Bundesmodellprojekt »Aus Fehlern lernen« machen und die ich für meine Dissertation nutzen konnte. Darüber hinaus danke ich meiner Familie, meinen Freund/innen und allen weiteren Personen, die mich bei der Erstellung der Arbeit unterstützten, insbesondere Hildegard, Edwin, Sascha, Hiltrud und Richard Ackermann, Sarah Marie Bruhns, Valeria Cespedes, Ulrike Salva Chaviche, Mira Laskowski, Jochen Mistele, Prof. Matthias Müller, Gerd Schmidt sowie Angelika Wulff.
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Nicht zuletzt danke ich den Sozialarbeiter/innen der Jugendämter, die mir den Feldzugang ermöglichten, mich mit in ihre Praxis nahmen, mir von ihren Fällen und Entscheidungsproblemen berichteten. Ich danke gleichfalls den Adressat/innen, jungen Menschen und Erziehungsberechtigten, die mir gestatteten, bei Hausbesuchen, Besprechungen sowie in anderen schwierigen Situationen »dabei zu sein« und zu beobachteten.
Pädagogik Anselm Böhmer Bildung als Integrationstechnologie? Neue Konzepte für die Bildungsarbeit mit Geflüchteten September 2016, 120 S., kart., 14,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-3450-1 E-Book: 12,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3450-5 EPUB: 12,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-3450-1
Jan Erhorn, Jürgen Schwier, Petra Hampel Bewegung und Gesundheit in der Kita Analysen und Konzepte für die Praxis August 2016, 248 S., kart., 19,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-3485-3 E-Book: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3485-7
Juliette Wedl, Annette Bartsch (Hg.) Teaching Gender? Zum reflektierten Umgang mit Geschlecht im Schulunterricht und in der Lehramtsausbildung 2015, 564 S., kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-2822-7 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-2822-1
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Pädagogik Tobias Leonhard, Christine Schlickum (Hg.) Wie Lehrer_innen und Schüler_innen im Unterricht miteinander umgehen Wiederentdeckungen jenseits von Bildungsstandards und Kompetenzorientierung 2014, 208 S., kart., 29,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-2909-5 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-2909-9
Peter Bubmann, Eckart Liebau (Hg.) Die Ästhetik Europas Ideen und Illusionen Juli 2016, 206 S., kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 29,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-3315-3 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3315-7
Inga Eremjan Transkulturelle Kunstvermittlung Zum Bildungsgehalt ästhetisch-künstlerischer Praxen Juni 2016, 448 S., kart., 29,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-3519-5 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3519-9
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