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German Pages 274 Year 2015
Anamaria Depner Dinge in Bewegung – zum Rollenwandel materieller Objekte
Kultur und soziale Praxis
Anamaria Depner (Dr. phil.) arbeitet am Institut für Gerontologie an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg. Ihre Forschungsschwerpunkte sind materielle Kultur, kulturelles Erbe sowie Raumtheorie. [email protected]
Anamaria Depner
Dinge in Bewegung – zum Rollenwandel materieller Objekte Eine ethnographische Studie über den Umzug ins Altenheim
Die vorliegende Arbeit wurde 2013 vom Fachbereich 8 der Goethe-Universität in Frankfurt am Main als Dissertationsschrift angenommen. Gedruckt mit freundlicher Förderung durch die DFG.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2015 transcript Verlag, Bielefeld
Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: © Anna Depner, 2010 Lektorat & Satz: Jelena und Manuel Manhard Printed in Germany Print-ISBN 978-3-8376-2765-7 PDF-ISBN 978-3-8394-2765-1 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
Inhalt
Vorwort und Dank | 7 1.
Zur Einführung | 9
1.1 Zum Ansatzpunkt der Studie | 10 1.2 Zum Aufbau dieses Buches | 12 1.3 Zur Umsetzbarkeit der Ergebnisse | 14 2.
Die Dinge des Alltags: Literaturüberblick, Forschungsstand und Theorien | 17
2.1 Alltagsdinge zwischen habituellem Symbol und persönlichem Wert: Kulturell vermittelte Bedeutungssysteme und biographische Objekte | 21 2.2 Stofflichkeit und Leiblichkeit: Perzeption, Aneignung und Eigensinn der Dinge | 35 2.3 Wohnen: Leben mit, unter und in Dingen | 49 3.
Methodik und Methodologie: Dinge in Bewegung | 65
3.1 Überlegungen zur Auswahl des Samples | 66 3.2 Zugang zum Feld: Schwierigkeiten und Annäherung | 70 3.3 Forschungsdesign und Feldrealität: Methodologie und Vorgehen bei den Gesprächen und der Auswertung | 76 3.3.1 Forschungsdesign | 76 3.3.2 Feldrealität | 81 4.
»… das alles kommt weg!« – Empirische Fallstudien | 99
4.1 Sich arrangieren | 101 4.1.1 Herr Seiler (geb. 1932) | 101 4.1.2 Frau Kaiser (geb. 1927) | 117 4.2 Sich trennen | 129 4.2.1 Herr Richter (geb. 1925) | 129 4.2.2 Frau Schwarz (geb. 1925) | 150
4.3 Sich losreißen | 157 4.3.1 Frau Berger (geb. 1927) | 157 4.3.2 Frau Lindner (geb. 1913) | 183 4.4 Jenseits der Gespräche: Die Räumung von Frau Kaisers Wohnung (März 2010) | 189 4.5 Zusammenführung und Systematisierung der Gespräche | 198 4.6 Feldreflexion: Das Leben der Anderen | 202 5.
Dinge und Relevanzen: Ein interpretierender Zugang | 213
5.1 Bedeutung und Bedeutungslosigkeit der Dinge | 217 5.2 Potenzial und Ambivalenz der Mensch-Ding-Beziehung | 230 5.3 Wohnen nach dem letzten Umzug | 241 Literatur | 253
V ORWORT
UND
D ANK Holzhacken ist deshalb so beliebt, weil man bei dieser Tätigkeit den Erfolg sofort sieht. ALBERT EINSTEIN
Die vorliegende Studie ist eine geringfügig überarbeitete Version meiner Dissertation, die im Sommer 2013 vom Fachbereich 8 der GoetheUniversität in Frankfurt am Main angenommen wurde. Im Gegensatz zum Holzhacken kennt die Erstellung einer umfangreichen wissenschaftlichen Arbeit weder einen genauen Anfangs-, noch einen klaren Endpunkt. Während man einer forschenden Tätigkeit nachgeht, kann man schwer einschätzen, wie viel schon getan ist und wie viel noch aussteht. Die größte Herausforderung aber besteht darin, das Geschaffene loszulassen. Ich bin dankbar, diese und andere Herausforderungen bei der Erstellung meines ersten wissenschaftlichen Großprojekts durch die Unterstützung und die Förderung vieler Menschen besser gemeistert zu haben. Einige davon möchte ich hier würdigen und zugleich den nicht Genannten versichern, dass sie nicht vergessen wurden. An erster Stelle sollen jene erwähnt sein, die mich über Jahre hinweg (und über die Dauer der Forschung hinaus) an ihrem (Arbeits-)Leben und ihrer (Lebens-)Erfahrung teilhaben lassen und diese Studie erst möglich gemacht haben: den Senioren und ihren Angehörigen, der Heimleitung und dem Personal der beforschten Einrichtung ein herzliches Dankeschön! Die Offenheit, Gesprächsbereitschaft und Herzlichkeit, die mir hier entgegengebracht wurde, ist alles andere als selbstverständlich. Für sachkundige und nützliche Hinweise, die äußerst hilfreich dabei waren, den Themenkomplex Wohnen im Alter besser zu verstehen bin ich auch den weiteren Informanten und Gesprächspartnern überaus dankbar. Hans Peter Hahn, meinem Doktorvater, bin ich in Dankbarkeit verbunden für die Ermutigung zu offenen und allumfassenden Zugangsweisen in der Feldforschung sowie für den inspirierenden Austausch und die engagierte Betreuung. Frank Oswald hat mit großer Aufmerksamkeit und wertvollem Rat das Projekt begleitet und das Zweitgutachten erstellt. Sehr hilfreich waren auch die Gespräche mit Karl Borromäus Murr, der im Rahmen
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eines Mentoren-Programms Teile der entstehenden Arbeit mit viel Geduld und wissenschaftlichem Einfühlungsvermögen kommentiert hat. Das Frankfurter DFG-Graduiertenkolleg »Wert und Äquivalent ‒ Über Entstehung und Umwandlung von Werten aus archäologischer und ethnologischer Sicht«, in dem ich über den Entstehungszeitraum der Arbeit assoziiertes Mitglied war, bot Raum für vielseitige Formen der Auseinandersetzung mit den im Feld und in der Literatur angetroffenen Fragen. Die Veranstaltungen wie die persönlichen Gespräche, an denen ich in diesem Rahmen teilhatte, waren eine anregende Bereicherung für meine Arbeit ‒ und über diese hinaus. Mein Dank gilt der DFG für die Übernahme der Druckkosten und für die besondere Förderung als promovierende Mutter. Unschätzbare Unterstützung bei der Bewältigung dieser Doppelrolle erhielt ich in wissenschaftlicher Hinsicht von Tom Simmert, in organisatorischen Belangen von Annabel Bokern und auf persönlicher Ebene unter anderem von Kathrin Knodel, Stefanie Becht und Daniel Thorpe, die mir weit mehr als Unterkunft bei meinen Aufenthalten in Frankfurt boten. Die angenehme und stressfreie Zusammenarbeit mit dem Verlag bei der Erstellung der Druckversion ist weitestgehend Gero Wierichs zu verdanken. Jelena und Manuel Manhard haben gewissenhaft und akribisch das Lektorat und die Layoutarbeiten übernommen und mir auch privat als enge Freunde beigestanden. Ein Dankeschön auch an meinen gesamten Freundeskreis, der mich in arbeitsintensiven Zeiten durch unterschiedliche, zuweilen dem Holzhacken gar nicht so unähnlichen Tätigkeiten, daran erinnert hat, dass Loslassen für den Erfolg wichtiger ist, als sich auf das Ziel zu fixieren. Nicht zuletzt von meiner Familie habe ich ein hohes Maß an Beistand und Hilfe erfahren: Meinen Eltern gilt mein herzlichster Dank für so viel mehr als die finanzielle Unterstützung. Arthur Depner begleitete mich durch diese Zeit auf vielfältige Weise: als wissenschaftlicher Austauschpartner und Berater, als liebevoller Ehemann und Vater sowie als verständnisvoller und treuer Freund. Unser Sohn Adrian hat es uns allen mit seinem sonnigen Gemüt leicht gemacht, die Phasen zu bewältigen, in denen der Stress und die Belastung besonders hoch waren. Gewidmet ist dieses Buch dem Andenken an meine Großeltern.
1. Zur Einführung If your house was burning, what would you take with you? It's a conflict between what's practical, valuable and sentimental. What you would take reflects your interests, background and priorities. Think of it as an interview condensed into one question. FOSTER HUNTINGTON: 2013
Der Designer und Photograph Foster Huntington fordert Menschen aus aller Welt in seinem Onlineblog dazu auf, sich zu der Frage Gedanken zu machen, welche Dinge sie mitnehmen würden, wenn das eigene Haus in Flammen stünde. Die Antwort als Dingensemble auf einem Bild wiederzugeben, ist dann auf der Website zu sehen. Begleitet werden die Aufzeichnungen von einer schriftlichen Liste der Gegenstände, durch die befragten Personen selber verfasst, sowie von Angaben zu ihrem Alter, Wohnort und Beruf. Huntingtons Frage zielt nicht nur auf das logische und kreative Denkvermögen ab, sondern dient auch dazu, emotionale Verbindungen zu bestimmten Objekten aus dem eigenen Haushaltsinventar herauszustellen. Die Photos liefern, so seine Aussage, Informationen über Interessen, Neigungen und vielleicht sogar die Wertvorstellungen der Gefragten. Was aber, wenn man wirklich auswählen müsste? Nicht nur eine Handvoll Dinge, nicht aus einem brennenden Haus, sondern die wichtigsten Dinge für die letzten Jahre des Lebens, für ein Einzimmerappartement einer Senioreneinrichtung. Welche Kriterien bestimmen dann die Auswahl? Institutionalisierte Einrichtungen sind für viele Menschen der Ort, an dem sie ihren Lebensabend verbringen. In den meisten Fällen handelt es
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sich hierbei um Pflegeheime. In eine solche Einrichtung wird man so gut wie nie durch einen selbstbestimmten Umzug aufgenommen, sondern in der Regel findet eine weitgehend fremdbestimmte Wohnortverlagerung statt, oftmals im direkten Anschluss an einen Krankenhaus- oder RehaAufenthalt und ohne dass die betroffenen Senioren in die eigenen vier Wände zurückkehren können um Dinge auszuwählen. Seltener sind vollstationäre Einrichtungen, wie die hier beforschte, in denen Senioren ohne oder mit niedriger Pflegestufe zu einem von ihnen selbst gewählten Zeitpunkt einziehen können. ›Umzug‹ kann dann in diesem Kontext als selbstbestimmte Situation, im Sinne einer eigenständig getroffenen Entscheidung mit viel Potential zu persönlicher Handlungsimplikation, verstanden werden.1 Senioren, die diesen Weg gehen, stehen vor einer fundamentalen Frage, die ihren gesamten Besitz, die ›Dinge eines ganzen Lebens‹, betrifft: ›Was nehme ich mit ins Altersheim – und was geschieht mit den anderen Dingen?‹
1.1 Z UM ANSATZPUNKT
DER
S TUDIE
Der Kontext, in dem die hier besprochene Studie zum letzten Umzug2 steht, ist die Frage nach dem Modus der Begegnung und des Austauschs zwischen Menschen und den Dingen ihres Alltags. Der Ort, an dem man den größten Teil seines materiellen Besitzes aufbewahrt und an dem man täglich mit ihm umgeht, ist der eigene Wohnraum. Dieser spiegelt – zumindest teilweise – wieder, womit man sich befasst, was einen interessiert oder einem gefällt, aber auch, wie man sich selbst sieht und wie man gesehen werden möchte. Die Dinge, so ist man geneigt zu sagen, erzählen Geschichten. Je nachdem, wonach man fragt, handeln sie von Privatheit oder Prestige, von Biographie und Erinnerung, von männlich oder weiblich, von Kon-
1
Dass dieser hohe Grad an Selbstbestimmung selbst im von mir beforschten Kontext nicht immer gegeben ist, wird im Folgenden ersichtlich.
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Ich spreche hier absichtlich vom ›letzten‹ Umzug, wenngleich es durchaus noch dazu kommen kann, dass Personen den Wohnbereich verlassen müssen und ein Zimmer im Pflegebereich bekommen. Dabei handelt es sich aber, wie schon angeführt, eher um eine pflegeorganisatorische Maßnahme und nicht um einen selbstbestimmten Umzug.
Z UR E INFÜHRUNG | 11
sum und Mode. Dinge sind jedoch mehr als ›Geschichtsträger‹, deren Bedeutung für ihren Besitzer und/oder Betrachter durch soziologische Untersuchungen oder ethnologische Befragungen in Erfahrung gebracht werden können. Wir bedienen uns der Objekte, mit denen wir uns umgeben (wollen), um unseren Alltag zu gestalten, und gleichzeitig gestalten sie unseren Alltag durch ihre Existenz. Dabei sind es zumeist nicht die herausstechenden, besonderen Dinge, die wir jeden Tag zur Hand nehmen; gleichzeitig lagern in unseren Wohnungen und Häusern viele Objekte, die wir selten beachten. Sie stehen als Vermittler zwischen Person und Raum. Sie haben eine Eigenlogik und eine materielle Präsenz. Wir führen und pflegen eine Beziehung mit ihnen. Das Ziel der vorliegenden Studie ist es, eine empirisch fundierte Analyse der Mensch-Ding-Beziehung anzubieten. Da aber die selbstverständliche Verfügbarkeit der Objektvielzahl eines Haushaltes es schwer macht, den Umgang mit den Dingen über eine Beschreibung hinaus zu untersuchen und die Frage nach der Bedingung der Möglichkeit einer solchen Beziehung in einem ›Normalzustand‹ nur unzureichend empirisch erschlossen werden könnte, muss eine Bruchstelle im Gefüge, ein Moment der Bewegung gefunden werden. Umzüge stellen solche Umbruchsituationen dar und ermöglichen eine Feldforschung, die durch Beobachtungen und Fragen sonst selbstverständliche Objektbeziehungen der Akteure fassen kann. Potenzial und Ambivalenz dieser Beziehung, so die weitere Überlegung, treten besonders deutlich zutage, wenn jene zu einem Ende kommt oder kommen muss. Für die Untersuchung habe ich daher ein Sample gewählt, das eine besonders drastische Umbruchsituation erlebt: Bei einem Umzug ins Altenheim geht es nicht nur darum, Dinge zu mobilisieren; es findet auch eine deutliche Verminderung des Inventars statt, so dass selektierende Aktionen das Leitmotiv bilden. Das Inventar des eigenen Haushaltes wird aufgebrochen und neu geordnet: Einige Objekte nimmt man mit, die Mehrzahl jedoch nicht. Als Ansatzpunkt dient die Frage, was mit der stabilisierenden Funktion von sonst einfach als existent hingenommenen Gegenständen geschieht, wenn diese in Bewegung geraten. Besonders Irritationsmomente im Zuge einer solchen Bewegung, die in der gewollten oder ungewollten Aufgabe von Dingen kulminieren, müssen in diesem Kontext Beachtung finden. Der Umgang mit den eigenen Sachen, den ich beobachten konnte, zeigt so manch unerwartete Haltungen und Umgangsformen in Bezug auf diejeni-
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gen Objekte, die wir im Allgemeinen als bedeutungsvoll ansehen und im Besonderen angesichts einer solchen Umbruchphase als identitätskonstituierend bezeichnen würden. Solche Abweichungen von erwarteten Praktiken bilden Kernpunkte für die Argumentation bezüglich Charakteristika und Funktionsweisen sowie für die Bedingung der Möglichkeit einer MenschDing-Beziehung. Wie bereits deutlich geworden sein dürfte, verwende ich die Begriffe Dinge, Objekte, Gegenstände und Sachen weitestgehend synonym. Dinge (darunter verstehe ich sowohl sogenannte ›Natur-‹ als auch ›Kulturdinge‹) ist dabei als Überkategorie alles materiell existenten Unbelebten und in Abgrenzung zu Menschen oder Tieren zu sehen, auch wenn die Grenzen nicht scharf gezogen werden können (z.B. bei Prothesen, Make-up, Nahrung). Dieser Ausdruck wird immer, aber nicht nur dann gebraucht, wenn allgemein gültige Aussagen oder theoretische Überlegungen formuliert werden. Objekte, Gegenstände oder Sachen (mitunter auch Artefakte) dienen als begriffliche Variation zu Dingen, wenn der Kontext konkrete Bezugnahmen oder Relationen, wie innerhalb eines Haushalts gegeben, ermöglicht oder erfordert (z.B.: ›bestimmte Objekte des täglichen Lebens‹, ›persönlich relevante Gegenstände‹, ›eigene Sachen‹).
1.2 Z UM AUFBAU
DIESES
B UCHES
Die Auseinandersetzung mit den Dingen des Alltags geht in dieser Studie, wie gerade skizziert, zwei Wege, die sowohl denselben Ausgangspunkt haben als auch zum gleichen Ziel führen: es gilt, für den theoretisch diskutierten Problemkomplex ›Mensch-Ding-Beziehung‹ durch eine über einen langen Zeitraum angelegte Feldforschung zum letzten Umzug alltagsnahe Illustration und praktische Fundierung zu gewährleisten. Ich habe Wert darauf gelegt, den Text so aufzubauen, dass er sowohl der dingtheoretischen Fragestellung als auch der komplexen Untersuchung, welche die Beantwortung dieser von empirischer Seite zu stützen sucht, gerecht werden kann. Ausführungen zur Theorie (Kap. 2), Methodologie (Kap. 3) und Empirie (Kap. 4) sowie eine interpretative Zusammenführung (Kap. 5) bilden die Eckpunkte dieser Studie. Das letzte Kapitel (5) hat zum Ziel, die Auswertung der Feldforschung (Kap. 3 u. 4) sowie die Ergebnisse aus den Überlegungen zur Ding-Mensch-Beziehung (Kap. 2) derart miteinander zu ver-
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binden, dass das sich aus der angelegten Zusammengehörigkeit ergebende Potenzial fruchtbringende Aussagen liefert. Den Einstieg und damit den Überblick über das sich aufspannende Problemfeld gibt das literatur- und theoriengestützte Kapitel 2 (Die Dinge des Alltags: Literaturüberblick, Forschungsstand und Theorien). Der erste Teil argumentiert nahe an der ethnologischen und allgemein kulturwissenschaftlichen Forschungstradition im Bereich materieller Kultur und diskutiert diese. Der darauf folgende Abschnitt stellt eine sich mitunter davon emanzipierende Theoriebildung unter Einbezug u.a. philosophischer Ansätze dar, welche bei der Beantwortung der weiter oben definierten Fragestellung maßgebend sein wird. Im letzten Unterkapitel kommt die universelle Ebene des täglichen praktischen Dinggebrauchs, das Wohnen, zur Sprache. Nicht nur konzeptuell, sondern auch aus soziologisch-gerontologischer Perspektive, soll ›Wohnen‹ gefasst werden. Dieses Kapitel bildet gleichsam den Übergang zum forschungspraktischen Teil der Studie. Die Kapitel 3 und 4 widmen sich der empirischen Untersuchung. Dabei finden im Kapitel 3 (Methodik und Methodologie: Dinge in Bewegung) die Darlegung der Rahmenbedingungen wie die Auswahl des Samples, der Zugang zum Feld sowie der Entwurf und die Diskussion der Methoden bei der Datenerhebung und -auswertung Platz. Diese Ausführungen bilden die Basis für die im darauffolgenden Kapitel 4 (»… das alles kommt weg!« – Empirische Fallstudien) geschilderten Beobachtungen und Gespräche mit den sechs an der Untersuchung beteiligten Senioren sowie anderen Akteuren. Neben der ausführlichen Darstellung der Feldforschung in Anlehnung an eine dichte Beschreibung wird hier eine erste Systematisierung der Gespräche sowie eine auf das vorherige Kapitel rekurrierende Reflexion der gesamten Untersuchung vorgenommen: die Methodengenerierung und -applizierung, die Rolle des Forschers und die Eigenlogik des Samples werden unter anderem hier thematisiert. Das letzte Kapitel (Dinge und Relevanzen: Ein interpretierender Zugang) liefert nicht nur die inhaltliche Auswertung der zuvor besprochenen Fallstudien, sondern verknüpft auch Beobachtungen und Aussagen aus der Feldforschung mit den in Kapitel 2 wiedergegebenen und erarbeiteten dingtheoretischen Überlegungen. Hier wird die in Kapitel 4 vorgenommene Strukturierung der Fallstudien erweitert. Haltungen und Handlungen der Senioren führen vor der Folie neuer Systematisierungs- und Deutungsmuster zu Aussagen, die Beispiele, Bestätigungen und Antworten für die ange-
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schnittenen Problemfelder bieten. Gleichzeitig, so wird ersichtlich, ermöglichen die dingtheoretischen Überlegungen, und nicht zuletzt auch die in Kapitel 3 ausgiebig beschriebene Anpassung der Methoden, ein besseres und umfassenderes Verständnis des im Feld Beobachteten. Die Dreiteilung des letzten Abschnitts korrespondiert mit den drei Gliederungspunkten des Literatur- und Theorieteils: in einem ersten Schritt geht es um die Bedeutung und Funktion der Dinge, in einem zweiten um die Grundstruktur der Mensch-Ding-Beziehung und in einem dritten um daraus resultierende Aspekte für Wohnalltag und Wohnraum. Das Schlusskapitel stellt somit folgerichtig die deutende Zusammenführung der beiden Ebenen (theoretisch angelegte Fragestellung nach der Mensch-Ding-Beziehung und Feldforschung zum letzten Umzug) dar und liefert eine empirisch begründete Antwort auf die Frage, wann wir Dingen wie begegnen und warum. Ergänzend ein formaler Hinweis: Um sowohl eine geschlechtersensible Formulierung als auch einen angenehmen Lesefluss zu gewährleisten, verwende ich stets die grammatikalische Pluralform (Senioren, Informanten etc.), wenn eine gemischtgeschlechtliche Personengruppe gemeint ist. Werden ausschließlich weibliche oder männliche Personen bezeichnet, ist dies ausdrücklich angeführt (z.B. Seniorinnen oder männliche Senioren).
1.3 Z UR U MSETZBARKEIT
DER
E RGEBNISSE
Diese Studie stellt einen Beitrag zu der aktuell erstarkten Diskussion um materielle Kultur dar. Aussagen über die prinzipielle Natur der Dinge und unsere Begegnungsmöglichkeiten ihnen gegenüber ermöglichen es, ein schärferes Bild von dem zu zeichnen, was der material turn zum Fokus hat. Der hier ausgearbeitete Blick auf den menschlichen Austausch mit Dingen befördert eine Theoriebildung, die Begriffe wie Stofflichkeit, Materialität und Wahrnehmung nicht auf diese allein beschränkt und deren Eigensinn konsequenterweise eben darin begründet. Die Analyse dingorientierter Handlungen zeigt, dass die Bedeutung, die ein bestimmtes Objekt haben kann, stets situativ ist. Dabei meint Bedeutung jede Form von Wert oder Nicht-Wert. Die Bedeutungslosigkeit eines Objekts ist also nicht ein Hinweis auf das Fehlen einer Beziehung dazu. Beziehung meint, im Gegensatz zu Wert, die allgemeine und grundsätzliche Ebene, auf der wir Dingen be-
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gegnen. Ein solcher Zugang zu den Dingen befreit sie aus der Zwangsjacke einer prädiktiven Agency und bietet unter anderem die Möglichkeit, »die Materialität des Raumes herauszustellen, ohne sie zu naturalisieren«, sondern diese in die »programmatisch-konzeptuelle Ebene der Raumdiskussion« einzubetten (Bachmann-Medick 2006: 308).3 Folgerichtig liefert die empirische Untersuchung nicht eine Liste von Gegenständen, die für das Leben im Heim besonders wichtig sind, sondern zeigt die Kriterien auf, nach denen entschieden wird, welche Dinge als bedeutend angesehen werden. Da, wie deutlich werden wird, die Befindlichkeit und die spezifische Situation der agierenden Personen Rollen bei der Bewertung der Dinge spielen, sensibilisiert meine Forschung in Hinblick auf die Bedürfnisse der Senioren im letzten Lebensabschnitt und rät, ihnen mit Einfühlungsvermögen und Verständnis zu begegnen. So können sie beim letzten Umzug unter anderem auch von ihren Angehörigen gezielt begleitet und unterstützt werden. Basierend auf der hier vorgestellten Studie und dem theoretisch erarbeiteten Horizont konnte ich ein Umzugsmanagement für die beforschte Einrichtung entwickeln. Es richtet sich an die zukünftigen Bewohner, deren Angehörige und das Heimpersonal gleichermaßen und nimmt dabei die beteiligten Personen(-gruppen) in den Blick, behandelt die Besonderheiten des letzten Umzuges, strukturiert und koordiniert den Übergang ins Heim und gibt hierfür praktische Hinweise und Checklisten. Unbedingt anzustreben ist auch die Entwicklung von Interventionen, die die Ergebnisse der im Folgenden vorgestellten Analyse verwerten. Jede Art von Umzügen und Objektsortierungsprozessen im höheren und hohen Alter könnten damit unterstützend begleitet werden.
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Siehe dazu auch: Depner 2014.
2. Die Dinge des Alltags: Literaturüberblick, Forschungsstand und Theorien Im Unterschied zum Maikäfer jedoch strampelt der gefallene Menschwerdende nicht mit sechs Beinchen, sondern mit Armen und Beinen, und an jedem der beiden Arme sitzt eine eigenartige fünfbeinige Spinne. Diese beiden Spinnen fingerten in der Umgebung des Gefallenen umher, befingerten, betasteten, griffen hin und her, begriffen irgend etwas (zum Beispiel einen Stock), wendeten den begriffenen Stock hin und her, wendeten ihn um, wendeten ihn an und verwendeten ihn als Hebel, um sich daran aus ihrer Lage zu erheben. Mit dieser phänomenologischen Beschreibung der Hände und der Handlung allerdings ist die ganze Menschheitsgeschichte, alle Wissenschaft und Technik, alle Kunst, alle Kultur, vielleicht auch alles Werten im Kern beschrieben, und alles andere sind Kommentare. VILÉM FLUSSER 1991: 2
Sucht man in der Geschichte der Erforschung materieller Kultur nach einem Teilbereich, der sich den Dingen des Alltags widmet, wird man zwei
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Spuren folgen können: Die eine umfasst die Auswertung von Nachlassinventaren und die Erstellung von Haushaltsinventaren im Zuge wissenschaftlicher Untersuchungen, die andere verweist auf die Verknüpfung der persönlichen Biographie mit den eigenen Dingen und mündet in objektbiographische Arbeiten. Während erstgenannte Vorgehensweise bereits als Methode der ›Sozialstatistik‹ im späten 19. Jahrhundert ihre früheste Ausprägung findet (Schnapper-Arndt 1912: 388ff.),1 ist die zweite eine eher neue Frageform nach der Bedeutung der Dinge. Sie kommt sowohl in Gestalt eines semiotischen Deutungsansatzes vor, als auch bei der Betrachtung des Stellenwertes der Dinge für ihre Besitzer (Hahn 2005b: 13f.). Dabei wird im Idealfall die Geschichte der Gegenstände und die ihrer Eigentümer miteinander in Verbindung gebracht und in ihrer kulturellen Einbettung betrachtet. Martin Heidegger (1950) bereits hat auf die Verknüpfung von alltäglichen Dingen – in diesem Fall genauer: alltäglichem »Zeug« – mit ihren Besitzern hingewiesen. Mit seiner Lesart von Vincent van Goghs Gemälde »Stillleben. Ein Paar Schuhe« lag er nicht richtig, da er eine Bäuerin als Besitzerin der Schuhe imaginierte. Doch die damit verbundene Reflexion in »Der Ursprung des Kunstwerks« über den gemeinsamen Weg der abgebildeten Schuhe und ihrer Trägerin zeugt von einem tiefen Interesse für Dinge des Alltags und ihre Verbindung mit den Menschen: »Durch dieses Zeug zieht das klaglose Bangen um die Sicherheit des Brotes, die wortlose Freude des Wiederüberstehens der Not, das Beben in der Ankunft der Geburt und das Zittern in der Umdrohung des Todes.« (Heidegger 1950: 23) Auch wenn er das Stichwort selbst liefert, greift Heidegger an dieser Stelle nicht die Frage danach auf, wo die Schuhe wohl nach dem Tod der Bäuerin zu finden sein werden.
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Schnapper-Arndt erwähnt in diesem Zusammenhang lobend Carroll Davidson Wright, der 1875 in einer Massenstudie über Schuhmacher in Massachusetts Erhebungen zum Vorhandensein bestimmter Dinge (Pianos, Nähmaschinen, Teppiche) in Wohnungen vornimmt. Zuvor, so Schnapper-Arndt, war in der Privatwirtschaftsstatistik »die Vorführung von Geldwertzahlen ohne Sachgüterdetails« üblich, so dass »wir trotz der vielen Ziffern darüber, wie der Einzelne nun wirklich lebt, so gut wie nichts erfahren«. Das wissenschaftliche Potenzial der systematischen Auswertung von Verlassenschaftsinventaren hebt erstmals Ivo Striedinger (1899) hervor (Konietzko 1996).
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Wo sich vor dem Tod des Bauern aus dem ungarischen Dorf Átány, dessen Sarg, den er bereits ›ausprobiert‹ hatte, befand, nämlich auf dem Dachboden seines Hauses, erfährt man im Buch »Geräte der Átányer Bauern« von Edit Fél und Tamás Hofer (1972: 389 u. Abb. 84). Diesen beiden Autoren ist es hier, und auch bereits in früheren Veröffentlichungen (Fél/Hofer 1969), gelungen, einen Schnittpunkt der oben benannten Stränge der Erforschung materieller Kultur zu markieren. Fél und Hofer weisen in ihren Schriften, die noch an verschiedenen Stellen zur Sprache kommen werden, einer kontextuellen, langfristig orientierten und basal-alltäglichen Gegenstandsforschung die Richtung, die daraufhin immer breitere Akzeptanz findet und in den achtziger Jahren schließlich zu einem neuartigen Versuch der Fokussierung auf die Dinge führt. Beispiele dafür sind Tagungen, wie die 1981 in Regensburg zum Thema »Umgang mit Sachen« (Bausinger/Köstlin (Hg.) 1983) veranstaltete, in deren zugehörigen Publikationen immer wieder auf die Studie in Átány Bezug genommen wird (z.B. Jeggle 1983, Roth 1983, Assion 1983). Allerdings rücken auch in diesen Beiträgen – wie in den achtziger Jahren üblich – die Dinge selbst zugunsten eines als lesbar angenommenen Systems in den Hintergrund. Dinge sollen Auskunft geben über die sogenannten immateriellen Bedürfnisse und Haltungen ihrer Besitzer (Scharfe 1983, Beitel 1983). Martin Scharfe beispielsweise fordert die Erforschung des Milieus, das die Dinge zu den Zeichen werden lässt, die sie sind, und gesteht dabei »den Dingen nur den Charakter kultureller Prothesen« zu (Scharfe 1983: 285). Diese DingVergessenheit findet mit dem Ausklang des 20. Jahrhunderts ihr Ende. So vertritt selbst Scharfe 20 Jahre nach besagter Äußerung eine ganz andere Position: Im Rahmen der Tübinger kulturwissenschaftlichen Gespräche 2002 (König 2005) geht er sogar so weit, zu verlangen, das »Prinzip des Leiblichen« dem postmodernen Dekonstruktivismus entgegenzusetzen, um zu negieren, dass »der Mensch […] an die Stelle getreten [sei], an der er einst einen Gott postulierte« (Scharfe 2005: 116). In turns, den »›Nationalstaaten‹ der akademischen Welt« (BachmannMedick 2010), gesprochen, kann dies als die Wahl eines Weges verstanden werden, der den symbolic/iconic bzw. semantic/linguistic turn hinter sich lässt und sich einem material turn, der wiederum in enger Verbindung zum spatial turn zu sehen ist, zuwendet. Dieser Weg ist symptomatisch für die Erforschung der Dinge in den letzten Jahrzehnten und zieht sich durch die Disziplinen, die sich mit Dingen befassen: die (Europäische) Ethnologie,
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die (Kunst-)Geschichte, die (klassische) Archäologie, die Museumswissenschaft und andere mehr. Das Bewusstsein, dass Dinge mehr sein müssen als Zeichen und Text, nimmt neuen Raum ein. Der Historiker Karl Schlögel bringt es mit seiner Formulierung auf den Punkt: »Wir sind durch alle kulturellen Vermittlungen hindurch daran erinnert worden, dass nicht alles Zeichen, Symbol, Simulacrum, Text ist, sondern Stoff, Materie, Baumaterial, von dem man erschlagen werden kann« (Schlögel 2004: 262). Gleichzeitig darf mit dieser Einsicht nicht einer neuen Welle eines cartesianischen Dualismus Tor und Tür geöffnet werden, das als ein traditionelles Axiom abendländischen Denkens zu sehen ist. Hans Peter Hahn spricht diesbezüglich in Anlehnung an Ernst Cassirer von einer Folge der platonistischen Ideenlehre, die, rezipiert und erweitert nach dem christlichen Weltbild, zu einer »Dualität von Geistigem und Materiellem« in der westlichen Vorstellung vom Menschen und der Kultur führt (Hahn 2005b: 10). Zu den Folgen einer solchen dualistischen Auffassung gehört nicht zuletzt das dann schier unüberwindbar gewordene Problem, eine kohärente Erklärung von Wechselwirkungen zwischen beiden Dimensionen abzugeben. Dies ist oft nur möglich, wenn man entweder das eine oder das andere unterordnet und so, wie durch Scharfes Rede von Dingen als kulturellen Prothesen, die res extensa von der res cogitans abhängig macht – oder umgekehrt. Der Wunsch, materielle Kultur aus einer neuen Perspektive in den Blick zu nehmen, schlägt sich in den zahlreichen wissenschaftlichen Veranstaltungen der letzten Jahre nieder: Tagungen zu Themen wie »Kulturelle Aneignungen: Anpassung – Anverwandlung – Camouflage« (Tagung der Deutschen Gesellschaft für Völkerkunde in Frankfurt/Main, Oktober 2009), »Stofflichkeit in der Kultur« (26. Österreichische Volkskundetagung in Eisenstadt, November 2010), Kongress der deutschen Gesellschaft für Volkskunde im Jahre 2013 zu »Materialisierung von Kultur. Diskurse – Dinge – Praktiken« und viele andere weniger publikumsreiche Austauschplattformen widmen sich der Diskussion um die Dinge. Damit einhergehend sind die Neuerscheinungen zu diesem Thema geradezu unüberschaubar. Im Folgenden soll den Itinerarien der Erforschung Materieller Kultur nachgegangen werden. Ziel ist es, die vielen Richtungen, die das Denken über die Dinge nehmen kann, und die hierbei markanten Wendepunkte anzuzeigen, die innerhalb der letzten vier Dekaden, seit der »empirische[n] Annäherung an das Wohnzimmer« (Hahn 2010: 4) also, anzutreffen sind. In Kapitel 2.1 wird ausgewählte Literatur aus der (Europäischen) Ethnolo-
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gie und den Nachbardisziplinen betrachtet, die sich in besonderem Maß mit den Objekten des Haushalts und des Wohnalltags auseinandersetzt. Betrachtet wird der Facettenreichtum der Begriffe Funktion und Bedeutung beim Umgang mit einem vorhandenen, gewachsenen und genutzten Bestand. Der viel diskutierte Erwerb von Dingen im Sinne von Konsum und damit einhergehende Entwicklungen in der Moderne und Postmoderne werden hierbei ausgeklammert. Auch wenn sich im Rahmen dieser Studie eine Auseinandersetzung damit anzubieten scheint, so ist dem entgegenzuhalten, dass sie die Analyse der letzten Phase eines gewohnten Status quo darstellt und nicht der Frage seiner Etablierung nachgeht. Eine wesentlich relevantere Stellung nimmt der dem Erwerb entgegengesetzte Akt der Entwertung und Verstoßung der Dinge ein. Dieser soll am Ende des ersten Abschnitts Beachtung finden, in dem ein Überblick über die wichtigsten Veröffentlichungen zum Prozess des objektbezogenen Wertwandels und -verfalls sowie zum Modell der Objektbiographien, gegeben wird. Das Ende der Dinge, Abfall und Müll, kommen hier zur Sprache. Im Kapitel 2.2 finden sich, aufbauend auf dem ersten Abschnitt, grundlegende Überlegungen bezüglich der menschlichen Zugangsmöglichkeiten zu den Dingen. Dieses Kapitel stellt die theoretische Fundierung der Studie dar. Kapitel 2.3 schließlich widmet sich dem Rahmen des alltäglichen Umgangs mit Dingen, dem Wohnen. Ergänzend zu geistes- und kulturwissenschaftlichen Betrachtungen wird auch Literatur, welche die psychologisch und soziologisch geprägte Alternsforschung in diesem Kontext zur Verfügung stellt, erläutert, um der Spezifik des in dieser Studie behandelten Samples Rechnung zu tragen.
2.1 ALLTAGSDINGE ZWISCHEN HABITUELLEM S YMBOL UND PERSÖNLICHEM W ERT : K ULTURELL VERMITTELTE B EDEUTUNGS SYSTEME UND BIOGRAPHISCHE O BJEKTE Paradigmenwechsel, wie die soeben skizzierten, stellen schon seit Beginn der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit den Dingen Neuorientierungen im Zugang zu diesen dar und sind immer wieder zum Gegenstand umfangreicher forschungs- und ideengeschichtlicher Überblickswerke ge-
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worden (z.B. Hauser 1994, Hennig 2004, Hahn 2005b). Solche Wendepunkte gliedern gleichsam unseren Zugang zu den Dingen. Der Ethnologe Thomas K. Schippers charakterisiert die ethnologische Erforschung von Sachkultur während des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts zusammenfassend als Untersuchung einer vermeintlichen »Abfolge von Indikatoren einer angenommenen Evolution und Migration regional- oder nationalhistorischer Bevölkerungen« (Schippers 2004: 13). Demnach könne man die Erforschung materieller Kultur bis in die 1950er Jahre kaum als Geisteswissenschaft bezeichnen. Hier sieht er den Wendepunkt von »Sachen sammeln« zu »Dinge denken« und eine »Bewegung weg von einer ›Artefaktzentrierten‹ hin zu einer ›Mensch-zentrierten‹ Perspektive« (ebd.: 14). Für ein solches »wertende[s] oder auf den Menschen bezogene[s] Sachstudium« (Bringéus 1986: 173) setzt sich auch Mitte der achtziger Jahre der schwedische Ethnologe Nils-Arvid Bringéus ein. Zu diesem Zeitpunkt waren diejenigen Perspektiven auf materielle Kultur, die heute noch prägend sind, bereits weitestgehend aus der Taufe gehoben. Bringéus zählt vier Zugänge auf und benennt diese als die »kontextuelle«, die »instrumentelle«, die »symbolkommunikative« und die »wertende Kulturperspektive« (ebd.: 163ff.). Erstere fragt nach dem Umgang mit den Dingen und betrachtet sie vor dem Hintergrund ihrer Umgebung, ihres Umfeldes. Diejenigen, die mit ihnen hantieren und in einen Handlungszusammenhang stehen, sowie die ›Lifestory‹ der Dinge werden in den Blick genommen, so wie in der Studie der bereits erwähnten Autoren Fél und Hofer (1972), die das »Sachuniversum« (Hofer 1972: 119) in Átány und die Itinerarien einzelner Objekte beschreibt und Austausch, Umnutzung und Neukontextualisierung der Arbeitsgeräte nachzeichnet. Die »instrumentelle« und die »symbolkommunikative Perspektive« sind den Vorstellungen des linguistic oder iconic turns, im Sinne von Bedeutung als zuzurechnen. Hier werden Gegenstände entweder als Medien, die mit dem Vorzeichen der Kultur versehen sind, betrachtet: Ein Gegenstand kann demnach die Art seiner Benutzung über seine Form kommunizieren, sofern diese kulturell lesbar ist. Darüber hinaus wird ein gefertigtes Objekt als die materialisierte Erinnerung an sein tradiertes Herstellungsverfahren gesehen. Oder man bemüht sich darum, die Ikonologie der Gegenstände, ihrer Materialien und Formen zu deuten und zu zeigen, wie durch den Besitz von oder Verzicht auf und den Umgang mit bestimmten Dingen Stellung bezogen wird. Im Gegensatz dazu meint die letzte von Bringéus angeführte Perspektive, die er als »wertend« bezeich-
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net, die Untersuchung der Gegenstände im Hinblick auf deren Rolle für ihren Besitzer bzw. dessen Beziehung zu ihnen. Es ist die Frage nach der subjektiven Bedeutung für jemanden, abhängig von Wahrnehmung und Sinneseindrücken, die hier gestellt wird. Pierre Bourdieus (1979 [1982]) Modell der Interaktion von Individuum (bedeutend für) und Gesellschaft (bedeutend als) hat sich bald nach seiner Veröffentlichung als viel rezipierter Zugang zu den Dingen herausgestellt. Bourdieu zeigt, dass sich Geschmack, also der Horizont möglicher Wertschätzung, aufgrund soziokultureller Rahmenbedingungen und Zusammenhänge konstituiert und verweist damit auf die kulturelle Dimension möglicher Bedeutungszuschreibungen. Der Soziologe und Psychoanalytiker Rolf Haubl bestätigt und unterstützt die bourdieuschen Kategorien wie Lifestyle, Habitus und Distinktion. Dabei stellt er die identitätsstiftende Funktion der Dinge, deren Rolle als Träger von Erinnerungen sowie ihren emotionalen Wert in den Vordergrund (Haubl 2000). Dass bestimmte Dinge diesen Stellenwert für die in enger Verbindung mit ihnen stehenden Personen übernehmen können, untermauern auch die Psychologen Tilmann Habermas (1999) und Franz Breuer (2009b). Auch die in der hier vorliegenden Studie untersuchten Personen können freilich zum Ausgangspunkt einer aussagekräftigen Betrachtung werden, welche die Annahmen bourdieu-orientierter Zugänge bestätigen. Doch die Analyse des Umgangs mit Dingen im Moment der Trennung macht nicht nur die je eigene Beziehung der Besitzer zu ihren Dingen sichtbar. Sie geht sogar über die Weitergabe, wie Breuer sie betrachtet, hinaus und lässt Fragen aufkommen, nach der selbstbestimmten Verfügung über die Gegenstände, nach der Möglichkeit ‒ und Macht ‒ ihren ›Lebenslauf‹ und ihr ›Lebensende‹ zu gestalten. Daher werden hier ausgewählte Ansätze vorgestellt, die zusammengenommen die Grenzen von Funktion, Symbol- und Zeichencharakter der Dinge und ihren persönlichen Wert für eine oder mehrere Personen durchlässig machen. An dieser Stelle bietet sich eine Abgrenzung der Begriffe ›Symbol‹ und ›Zeichen‹ an. Eine griffige Formulierung, der ich hier folgen möchte, findet sich bei Felicitas Englisch und Christian Leszczynski (1989: 739f.): »Die klassische Auffassung meint mit Symbol ding- bzw. bildhafte Vergegenwärtigung eines Geschehens und/oder einer Idee; auf Ganzheit bezogen und […] abgegrenzt […] vom Zeichen, dessen Wesen ein bloßes Verweisen-auf ist. […] Cassirer
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generalisiert den Symbolbegriff empathisch zu einem formenvielfältigen Vermögen geistiger Weltaneignung des Menschen. Ebenso als generelle Struktur aufgefasst – wenn auch in herrschaftskritischer Perspektive – wandelt er sich zum Begriff der symbolischen Ordnung und der ihr immanenten Gewalt (Bourdieu). Sachwirklich und theoretisch der volleren, charismatischen Bedeutung beraubt oder von ihr gereinigt, geht er in den Zeichenbegriff über.«
Das Ineinander-Übergehen von Zeichen- und Symbolcharakter der Dinge kann an einem alltäglichen Gegenstand verdeutlicht werden: ein Kreuz in der Zimmerecke kann als Zeichen dafür gesehen werden, dass die Bewohner gläubig sind, und gleichzeitig kann man es als Symbol für den christlichen Glauben lesen. Es kann aber auch sowohl als Zeichen wie als Symbol für Traditionsbewusstsein oder Frömmelei interpretiert werden. Dinge, aber auch Materialien und Farben können Verweisfunktionen übernehmen und/oder zu Symbolen werden (Brückner [1982] 2000, Raff 1994). Diese Erkenntnis hat in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts einen nahezu hegemonialen Anspruch für den Zugang zu den Dingen erlangt. Hans Peter Hahn setzt sich wiederholt auseinander mit der sprachwissenschaftlich dominierten Bestimmung der Begriffe ›Symbol‹, ›Zeichen‹ und ›Kommunikation‹, ihrer Übertragung und Übertragbarkeit auf Dinge und den daraus folgenden Erwartungen an die Entschlüsselung und Lesbarkeit der Objekte (Hahn 2005a, 2005b, 2010, 2012). Er warnt vor der Annahme einer »Eindeutigkeit der Dinge« und davor, »deren Zeugenschaft zu reklamieren, sei es nun für historische Zusammenhänge oder für gegenwärtige Bedeutungen innerhalb einer Gesellschaft«, da persönliche Praktiken im Umgang mit Alltagsdingen von Fall zu Fall differieren können (Hahn 2005a: 64f.). Mit Umberto Eco plädiert er für die Befreiung aus der »linguistischen Zwangsjacke«, in der nichtsprachliche Zeichensysteme steckten (Hahn 2005b: 113-122, hier bes. 117f.). Die Übertragung der Systematik sprachlicher Zeichensysteme sei demnach eine Schwachstelle in der Erforschung der Dingwelt. Die Emanzipation der dingbezogenen Hermeneutik von linguistischer Semiotik ist in der Tat erforderlich, da letztere die materiell-haptische Komponente nicht erfassen kann. Wie im nächsten Kapitel erläutert wird (vgl. Kap. 2.2), ist der Austausch zwischen Menschen und Objekten ein prinzipiell anderer als der über die Rezeption gesprochener bzw. geschriebener Sprache. Dinge sind, auch wenn sie zuweilen als Codes fungieren,
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kein Text. Sie sind stets selbst physisch präsente, dreidimensionale und materielle Gebilde, die gleichzeitig in einer Vielfalt von Bedeutungs- und Beziehungssystemen eingebunden sein können. Diese Auffassung kommt auch in Andrea Hausers (2000) Vorschlag zu einer geschlechtsbezogenen Dingwelt zum Tragen. Sie schreibt: »Sachen [sind] auch Verhandlungsfelder für die Selbstdefinition der Geschlechter und somit Konfliktfelder, die Brüche und Auflösungserscheinungen im Geschlechterverhältnis anzeigen. Besonders im Vollzug – in der spezifischen symbolischen Aneignung der Gegenstände – wird eine geschlechtsspezifische Umgangsweise und Bedeutung der Artefakte deutlich.« (Hauser 2000: 29)
Hauser bestätigt damit Carola Lipp (Projektgruppe Göttingen 1992, Lipp 2001: 345f.), die aufzeigt, dass die relationale Untersuchung der unterschiedlichen (Ding-)Wahrnehmung von Männern und Frauen Aussagen über deren Bezug zu »kulturellen Objektivationen wie Raum und Wohnung« liefern kann. In Lipps Ansatz wird ›Bedeutung‹ relational, kontextuell und semiotisch aufgefasst und auf die, in diesem Fall geschlechtsspezifische, Erfassung der Dinge bezogen. Bedeutung kann also im Sinne von wichtig für zum Beispiel jemanden, wichtig bei zum Beispiel einer Tätigkeit und wichtig als zum Beispiel Zeichen gesehen werden. Sara Pennells (2009) Ausführungen über zwei kleine (und als unscheinbar empfundene) häusliche Gebrauchsgegenstände illustrieren diese drei Bedeutungsebenen: Die mit Frauennamen und Jahreszahl (1723) gravierten Gebäckschneider aus Italien und England werden überzeugend als bedeutend für ihre Besitzerinnen, bedeutend bei der Anwendung ihres speziellen Könnens, dem kunstfertigen Herstellen von Backwaren, und bedeutend als Verweis auf das nicht ohne Weiteres anzueignende Know-how seiner Besitzerin vorgestellt. Die Reduktion auf nur eine dieser Implikationen würde den Blick auf den Menschen verschieben. Wären Dinge beispielsweise lediglich bedeutend als, so würden wir Menschen nur noch als Leerstellen in der Gesellschaft ›lesen‹, die beliebig ersetzt werden können, sofern die jeweils erforderlichen Kriterien reproduziert sind. Herman Heidrichs erweitert das semiotische Dreieck zu einem Viereck, so dass dem Interpreten aus seiner subjektiven und gleichzeitig kulturell geprägten Perspektive auch eine Rolle am kommunikativen Verstehensprozess zukommt (Heidrich 2000: 15). Neben dieser Ermächtigung des Rezipi-
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enten formuliert Heidrich auch ein deutliches Plädoyer für die Berücksichtigung des Impacts der Dinge als physisch Anwesende: »Objekte mit ihren Bedeutungen sind nicht nur Indikatoren für etwas, sie sind die Realität des kulturellen Lebens. Dinge gestalten unsere Kultur.« (Ebd.: 13) [Herv. i.O.] Er spricht sich hier und an anderer Stelle (Heidrich 2007: 226) gegen die Interpretation der Dinge als Indikatoren, Schlüssel und dergleichen aus. Dinge als Aussage über Hersteller und Verwender, über andere oder frühere Gesellschaften und deren kulturelle Eigenheiten zu sehen, greift demnach zu kurz.2 Heidrich (2000: 13, Heidrich 2007: 226) betont, dass Dinge »unser Verhalten ›in Form‹« bringen und meint damit das Phänomen, dass der Gebrauch von Objekten uns zu einem gewissen Verhalten animiert, dass zum Beispiel der Schnitt der Kleidung oder die Form des Stuhls unsere Bewegung und unsere Sitzhaltung beeinflussen (Selle/Boehe 1986: 21ff.). Ein solches Modell, nach dem die Dinge selbst die für ihre Nutzung (ja sogar das Material die für den Herstellungsprozess) erforderlichen Informationen gleichsam enthalten und wir diese im Austausch mit der Materie wahrnehmen können, finden wir auch unter den vier eingangs erwähnten Zugangsweisen zur materiellen Kultur nach Bringéus (1986: 166ff.). Er bezeichnet diese (für mich wenig nachvollziehbar) als instrumentelle Perspektive. Verena Winiwater (2009) gelingt es, den Stellenwert eines solchen intrinsischen technologischen Wissens herauszuarbeiten. Dieses sei, genauso wie die Möglichkeit zur Veränderung des Materials, gewissermaßen Bestandteil der Dinge, könne aber nicht zur Gänze, zuweilen gar nicht, aus ihnen selbst abgeleitet werden. Dinge sind demnach ohne die damit in Verbindung stehenden Praktiken, die für die Herstellung, Aneignung oder Nutzung erforderlich sind, ›sinnlos‹. Eine, wenn auch nur bedingt abrufbare, ›dingimmanente Erinnerung‹ lässt die Gegenstände zu Kommunikationsofferten werden. Missverstandene oder absichtlich unbeachtete Botschaften führen zu einem Gebrauch, der als ›Zweckentfremdung‹3 benannt werden kann.
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Wie leicht sich aber eine solche Reduzierung der Bedeutung der Dinge einschleicht, beweisen etliche Beiträge in den beiden vor wenigen Jahren veröffentlichten Sammelwerken »Die Sprache der Dinge« (Tietmeyer et al. (Hg.) 2010) und »Die Macht der Dinge« (Hartmann et al. (Hg.) 2011).
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Der Begriff ›Zweckentfremdung‹ ist hoch problematisch, da er den Dingen einen ›eigentlichen‹ Zweck und den Menschen ein normativ richtiges Verhalten in
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Zu dieser dingimmanenten Erinnerung (1) kommen noch zwei Gedächtnisebenen hinzu: Dinge können als (2) Träger kollektiv und kulturell geprägter Erinnerung und (3) individueller und biographischer Erinnerung fungieren. Dabei stellt kollektive Erinnerung nicht die bloße Tradierung von kultureller Bedeutung dar, so dass der Sachverhalt nicht einfach auf eine massenpsychologische Kausalebene transponiert werden kann. Die Facetten des Zusammenspiels von kultureller Bedeutung und kollektiver Erinnerung auf der einen Seite und individuumsbezogener Erinnerung auf der anderen ist in Scharfes (1983) Beitrag zum Thema »Umgang mit Sachen« prägnant formuliert. Er zählt eine Reihe von Gegenständen auf, die er selbst, und sicherlich die meisten Menschen seiner Generation, mit einem bestimmten Lebensalter verbindet (z.B. »6 Jahre – ein Schulranzen, 7 – ein Helm mit Hakenkreuz«, etc.). Er schreibt: »Für mich persönlich haben all diese Sachen einen hohen Bedeutungswert, sie sind Zeichen mit Verweischarakter auf, subjektiv gesehen, wichtige Stationen meines Lebenslaufs. […] Haben wir hier über alle Zeichen zu reden, auch über die privatbiographischen? Ich denke: Ja insoweit, als sie jenseits meines ganz privaten Erfahrungs- und Erkenntnishorizontes verstanden werden können […]. Und ich denke ferner: Ja insoweit, als sie jenseits meines ganz privaten Erfahrungs- und Erkenntnishorizontes nicht von der gesamten Menschheit aller Zeiten verstanden werden können.« (Scharfe 1983: 284)
Maßgeblich für die jüngeren Debatten um kulturell kontextualisierte Erinnerung sind fächerübergreifend die Ansätze von Jan Assmann (z.B. 1992) und Aleida Assmann (z.B. [1999] 2006), welche, aufbauend auf Maurice Halbwachs ([1925] 1966, [1939] 1967), eine Differenzierung unterschiedlicher ›Gedächtnisarten‹ vornehmen. Das assmannsche Modell setzt Ge-
Umgang mit ihnen unterstellt (z.B.: Eine Tasse ist zum Trinken da, und nicht um darin Blumen zu ziehen; mit einem Hammer wird gehämmert sonst ist es kein Hammer und was nicht wie ein Hammer aussieht, aber dennoch zum Hämmern verwendet wird ist auch keiner). Trotz dieser fragwürdigen Implikationen soll der Begriff der ›Zweckentfremdung‹ (in Ermangelung eines treffenderen) in dieser Arbeit als Indikator für den ›abweichenden Umgang‹ mit Dingen gebraucht werden, deren Zweck von einer dann zu bestimmenden sozikulturellen Referenzgruppe zum betrachteten Zeitpunkt fest definiert ist.
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dächtnis in Abhängigkeit von u.a. Funktion, Konstitutionskontext und konstituierender Gruppe und wird als Ergebnis des Zusammenspiels von Überlieferung, persönlicher Erinnerung, Vergessen, Tradition und Speicherung gesehen. Während Halbwachs ([1925] 1966) den Begriff des »kollektiven Gedächtnis« prägte, um die soziale Bedingung des Gedächtnisses zu beschreiben, führen Jan und Aleida Assmann u.a. die Termini »kulturelles bzw. Speichergedächtnis« und »kommunikatives bzw. Funktionsgedächtnis« ein. Kulturelles und kommunikatives Gedächtnis unterscheiden sich bezüglich ihres Inhaltes, ihrer Form, ihrer medialen Vermittlung und der ihnen immanenten Zeitbezogenheit. Das kommunikative Gedächtnis speichert biographische Erinnerungen, die mit Zeitgenossen geteilt werden, entsteht informell und durch Interaktion im Alltag, wird über Erfahrungsberichte vermittelt und umfasst einen Zeithorizont von etwa drei bis vier Generationen. Das kulturelle Gedächtnis hingegen bezieht sich auf eine als mythisch zu denkende Geschichte. Es ist durch einen hohen Grad an Institutionalisierung (meist mit sakralen Zügen) gestiftet und wird durch tradierte Symbole und Codes vermittelt. Eine solche Erinnerungskultur bezieht sich auf einen beliebigen Zeitausschnitt in einer absoluten Vergangenheit (Assmann, J. 1992: 15-86). Mit den Arbeiten von Aleida und Jan Assmann beginnt in den neunziger Jahren eine Reorientierung der kulturwissenschaftlich kontextualisierten Gedächtnisforschung an mnemotischen Bezügen im Raum sowie an Orten und Dingen. Vor der antagonistischen Folie von »Erinnern und Vergessen« (Brednich et al. (Hg.) 1991) werden Beispiele vorgestellt, die verdeutlichen, wie im Privatbereich Objekte zu Erinnerungsträgern und Erinnerungen zu (Familien-)Geschichte werden, und wie die überlieferten Inhalte im familiären und im kulturellen Kontext verhandelt werden (z.B. Mohrmann 1991, Hugger 1991, Kuntz 1991). Ruth E. Mohrmann untersucht, wie sich »dingliche Erinnerungskulturen im privaten Bereich« manifestieren und zählt dabei, ähnlich wie weiter oben vorgeschlagen, drei Erinnerungsformen auf, die sich an Objektbezügen festmachen lassen (Mohrmann 1991: 212ff.). Paul Hugger zeigt, wie sich der Umgang mit Familienalben und Photos mit dem Wandel der Vorstellungen von Privatheit und der Wertigkeit der eigenen Biographie geändert hat (Hugger 1991). Er sieht diese Form persönlicher Erinnerungspraxis »als Abwehr vor der eigenen Vernichtung« (ebd.: 241). Im Angesicht des Vergessens steht die Selbstversicherungsmöglichkeit der Aussage ›ich bin, wer ich war‹ (bzw. ›ich bin, was
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ich noch davon weiß, wer ich war‹) gegen den drohenden Verlust dieser Identitätserfahrung. Objekte als Erinnerungsträger nehmen eine absichernde Funktion ein: eine Rolle, die zwischen Eselsbrücken zur Vergangenheit, und damit zum eigenen Ich, und der eines Gefährten bei der Gegenwartsbewältigung zu verorten ist (Miller [2008] 2010).4 Beispiele dafür gibt Andreas Kuntz (1991) anhand von Objekten im Privatbesitz, die an Krieg und Nachkriegszeit erinnern. Er zeigt, wie durch ritualisierte und kodierte Verhaltens- und Erzählweisen bezüglich dieser Objekte eine familienintern gültige Sichtweise historischer Ereignisse entsteht, die das Geschichtserlebnis subjektiv überformt, Schuld kanalisiert und Leid zu überwinden sucht. Erzählen und Schweigen sind dabei gleichermaßen von Bedeutung bei der »Konstitution einer alternativen Lebensgeschichte« (ebd.: 223), in der die Dinge anwesend sind und bleiben. Bereits zuvor veröffentlicht Kuntz Beiträge, in denen er die Erzählweisen von »family-lore« oder »individual-lore« anhand bedeutender »Erinnerungsobjekte« oder »biographische[r] Objekte« aufzeigt (Kuntz 1989, 1990). Violette Morin (1969) ist die erste, die solche biographischen Objekte von sogenannten protokollarischen Objekten unterscheidet. Es handelt sich dabei um Objekte, die in enger Verbindung mit ihrem Besitzern stehen, durch die Verwendung geformt (bzw. deformiert) werden und die zusammen mit ihren Benutzern altern. Sie schreibt: »Chacun de ces objets présente une expérience vécue, passée ou présente, de son possesseur et fait partie de sa vie.« (Ebd.: 133) Solche Objekte in einer Wohnung vorgefunden und hinterfragt, können freilich Aufschluss über Identitätsfacetten der Bewohner geben. Auch Janet Hoskins (1998) stieß (unerwartet) auf derartige Objekte, als sie im Osten Indonesiens Biographieforschung betrieb: Statt Geschichten fand sie Dinge, welche die Biographien ihrer Besitzer, oder sogar diese selbst, repräsentieren konnten. Daraufhin verschob sie ihr Augenmerk auf das Forschungsfeld der materiellen Kultur, um die biographischen Bedeutungen von Dingen zu untersuchen. Dass Dinge als biographische Objekte fungieren können und Aussagen über ihren Besitzer liefern, ist ein Aspekt, auf den sich auch Sammelkonzepte von Museen stützen lassen (z.B. Fendl 2000, König 2000, Hennig 2002, 2004). Die Geschichten von Menschen und Dingen sind untrennbar
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Diese kann auch aus psychologischen Beiträgen gefolgert werden (z.B.: Zenker 1993: bes. 88-106; Fuhrer & Josephs (Hg.) 1999).
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miteinander verbunden: Die Gebrauchsspuren an Dingen zeugen von denen, die mit ihnen hantierten, doch werden sie aus dem Gebrauch genommen und ausgestellt, wird ihnen der direkte Austausch mit Menschen entzogen (Doering/Hirschauer 1997). Die unausweichliche und vielseitige Verstrickung von Dingen und Menschen hat nicht selten literarische Texte inspiriert. Sergej Tretjakov ([1929] 1972) fordert seine Schriftstellerkollegen sogar auf, biographische Romane von den Dingen her zu konzipieren. Er schreibt: »Also nicht der Einzelmensch, der durch das System der Dinge geht, sondern das Ding, das durch das System der Menschen geht – das ist das methodologische literarische Verfahren, das uns progressiver erscheint als die Verfahren der klassischen Belletristik.« (Ebd.: 84)
Michael Niehaus, Professor für Neuere Deutsche Literatur, erkundet in seinem »Buch der wandernden Dinge« ausführlich diesen Ansatz. Er geht den Geschichten der Dinge, wie sie in Literatur, Film und Theater dargestellt werden, nach und betrachtet die Objekte, deren enge Verbindung mit der Biographie der Menschen zu einem literarischen Stilmittel wird. Auf der anderen Seite steht die Mobilität der Dinge: Wie und aus welchen Gründen biographische Objekte Wanderbewegungen unterzogen werden, um ihren Weg in eine neue Biographie zu finden, zum Beispiel nachdem ihr ehemaliger Besitzer verstorben ist, analysiert der bereits weiter oben erwähnte Psychologe Franz Breuer (2009b: bes. 159ff.). In seinem Buch »Vorgänger und Nachfolger« setzt er sich mit Akten des Transfers und deren Schemata weit über den persönlichen Bereich hinaus auseinander. »Vererben und Erben« bezeichnet er als den »Klassiker des ObjektTransfers« (ebd.: 74). Gelingt es nun, bei einem Gegenstand, der mehrmals vererbt wurde, den Verlauf dieser Übertragungsgeschichte zu rekonstruieren, so hätte man ein Beispiel für das, was in der einschlägigen Literatur zumeist als »Objektbiographie«5 bezeichnet wird. Mit Igor Kopytoffs Aufsatz »The Cultu-
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In Anbetracht der reziproken Einflussnahme und Abhängigkeit der persönlichen Geschichte von Menschen und einzelnen Objekten mag hier die Begriffswahl, zumindest im übertragenden Sinne, verständlich erscheinen. In der jüngeren Forschung sind aber Tendenzen, die als neo-animistisch bezeichnet werden
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ral Biography of Things” (1986) ist der wohl meist zitierte Text in diesem Zusammenhang benannt. Kopytoff erweitert die Geschichte von Dingen um den kulturhistorischen Aspekt und betrachtet damit genau genommen die ›Biographie‹, also die historische Entwicklung der Bedeutsamkeit, nicht von konkreten Objekten sondern von Dinggattungen. Er hebt die strukturelle Gleichheit von Menschen und Dingen hervor (ebd.: 84), verfolgt die alternierende Warenfunktion ein und desselben Gegenstandes nach und zeigt somit, dass der Waren- und Sonderstatus von Dingen (und in der kulturhistorischen Betrachtung auch von Individuen) stets neu verhandelt werden kann. Die Archäologen Chris Gosden und Yvonne Marshall (1999) nehmen Kopytoffs Ansatz auf und verweisen darauf, dass: »As people and objects gather time, movement and change, they are constantly transformed, and these transformations of person and object are tied up with each other.« (Ebd.: 170)
Und weiter: »At the heart of the notion of biography are questions about the links between people and things; about the ways meanings and values are accumulated and transformed.« (Ebd.: 172)
Gudrun König (2000) »verkehrt« anhand autobiographischer Texte die »Geschichte der Dinge« zur »Geschichte ihrer Bedeutung«. Folgerichtig schlägt sie vor, ein Forschungskonzept zu verfolgen, das den Menschen und seine auf Objekte bezogene und durch Objekte beeinflusste Erlebnis- und Gefühlswelt zum Mittelpunkt macht. Sie geht der Frage nach, »wie, warum und wann Dinge Erinnerungen tragen« (ebd.: 72) und illustriert vor dem Hintergrund des Verlustes die Logik der Erinnerung an(-hand) bedeutende(r) Dinge des Lebenslaufs. Auch Bernd Oeljeschläger (2000) befasst sich mit dem konzeptuellen Wert von »Lieblingsgegenständen« und bestätigt
müssen, auszumachen (vgl. Kap. 2.2). Daher erscheint es mir sinnvoll, den grundlegenden Unterschied zwischen Leben (gerade) im biologischen Sinne und der Existenz der Objekte nicht zu verwischen. In dieser Arbeit werden abseits des wissenschaftsgeschichtlichen Aufrisses Formulierungen wie ›Geschichte der Dinge‹ oder der Begriff ›Objektitinerarien‹ bevorzugt.
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damit Königs Ausführungen. Demnach enthält ein solcher Gegenstand »für seinen Besitzer mehr als für Außenstehende von der bloßen Betrachtung her zunächst sichtbar wäre«, nämlich »eine eigene Biographie sozusagen« (ebd.: bes. 90). Oeljeschläger versteht hier »Dingbiographie« mit Flusser als etwas, das exklusiv für den Besitzer eines Gegenstandes, seinen protokollarischen Begleiter, einen hohen persönlichen Wert haben kann, der nur ihm, und gegebenenfalls wenigen anderen, bekannt ist. Gerade bei der Masse an Objekten in einem Haushalt sind die sogenannten Dingbiographien eng mit den Biographien ihrer Besitzer verbunden und dennoch wenig erzählte Geschichten, da diejenigen, die sie kennen sollen, bereits darum wissen. Wie aber kommen Nichteingeweihte zu dem Wissen um die Geschichten der Dinge, besonders solcher, die wandern? Gerade für alltägliche, wenig beachtete Objekte könnte man umfangreiche Itinerarien nachzeichnen, wenn diese uns zugänglich wären. Denken wir beispielsweise an eine Tasse oder Tischdecke, die bei einem Umzug aussortiert und weitergegeben, auf dem Flohmarkt verkauft oder vor die Tür gelegt wird, damit sie (von Passanten oder der Müllabfuhr) mitgenommen wird. Stellen wir uns vor, sie findet ihren Weg in ein Second-Hand-Warenhaus und wird dort von einem jungen Mann beispielsweise für die erste eigene Wohnung gekauft. Später dann gibt er sie an einen Freund weiter, der sie wiederum nach seinem Studium in der Wohngemeinschaft, in der er gelebt hat, zurücklässt. Und so weiter ‒ bis die wenig beachtete Geschichte der Tischdecke zu ihrem ebenfalls wenig beachteten Ende findet. Wenig beachtet ist das Ende der meisten Dinge unserer Wohnumgebung: Säckeweise, bei einem Umzug oft containerweise, schaffen wir Müll, Abfall und (angeblich) nutzlos gewordene Sachen aus unseren Wohnräumen. Dabei sind es in der Regel wir, die Besitzer, nicht ihre eigene mögliche ›Lebensdauer‹, die den Dingen ein Ende setzen. »[D]as Ding, das durch das System der Menschen geht«, (Sergej Tretjakov ([1929] 1972: 84) ist Gegenstand des letzten Teils dieses Kapitelabschnittes. Zu jeder Geschichte gehört auch ein Ende: Selbst in Átány, das als Sinnbild für eine Welt steht, in der (so das landläufige Bild) ›Ausbessern und Aufbrauchen‹ noch nicht von dem für heutzutage diagnostizierten Diktat von ›Konsumieren und Verbrauchen‹ abgelöst worden ist, währen die Dinge nicht unendlich. Utz Jeggle (1983: 17) bezeichnet das »Unaufbrauchbare« als »Utopie einer Welt, die sich langsames Verbrauchen als
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Gesetz gegeben hat«. Diese Gesetze, so schreibt er, seien in der modernen Welt nicht mehr gültig. Er führt Krieg, Geld als gleichmachendes Äquivalent für alle Güter und die Industrialisierungsgeschichte (ebd.: 23) als Ursachen für den Wandel im Umgang mit Dingen an. Martin Scharfe (1988) fügt den Überlegungen Jeggles zustimmend eine praktische Dimension hinzu. Er verweist auf den beschränkten Platz urbaner Wohnverhältnisse, die es unmöglich machen, die »Freude« (ebd.: 16) am sorgsamen Umgang mit den Ressourcen auszuleben, weil der Stauraum für Dinge, die noch gebraucht werden könnten, aber gerade nicht im Einsatz sind, fehle.6 Solche Dinge werden in der modernen Haushaltspraktik zumeist entsorgt – oder zum Problem. Aktuelle Bestätigung dafür sind ›Aufräum-Ratgeber‹ und ›Messi-Therapien‹ im Fernsehen (von Münchhausen 2012).7 In einer Zeit, in welcher der von Jeggle angesprochene Wandel immer wieder thematisiert wird, fällt folgerichtig der wissenschaftliche Blick auch auf die Müllproduktion und die Praktiken des Wegwerfens/Recycelns (Hawkins/Muecke (Hg.) 2003, Fansa/Wolfram (Hg.) 2003, Windmüller 2004, Wagner (Hg.) 2010) sowie auf die damit verbundenen Umweltfaktoren (Girling 2005, Keller 2009, Leonard 2010).8 Der Anthropologe Michael Thompson liefert einen der ersten Beiträge zu dieser Forschungsrichtung (Thompson 1979 [1981]). In seiner mathematisch ausgerichteten Mülltheorie verweist er auf die Kontingenz der Umstände die dazu führen, dass etwas als Müll aufgefasst wird (ebd.: 117-120). Allerdings sieht Thompson den Kontext, in dem ein Objekt als Müll betrachtet wird, allein als eine die möglichen Bedeutungen der Dinge bestimmende sozio-kulturelle Matrix. Die Paradoxie dieser Sichtweise liegt darin, dass so gerade das Ding als es selbst aus seiner eigenen Geschichte ausgeschlossen wird. Sonja Windmüller (2004), eine der führenden Theoretikerinnen auf diesem Feld, stellt fest, dass Abfall nicht zwingend wertlos ist. Als Grund für das bewusste Wegwerfen von Dingen nimmt sie unterschiedliche Formen ihres Wertverlustes an, womit Abfall und Müll das Gegenteil von bedeutsamen Dingen wären (ebd.: 292-299). Diese Sichtweise
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Überlegungen über die Memorialfunktion der Rumpelkammer finden sich bei König (2005).
7
Zu Messies siehe auch: Arnold et al. 2012, Wettstein 2005.
8
Ein kommentierter Überblick über Arbeiten zu außereuropäischen Gesellschaften findet sich bei Laurence Douny (2007).
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ist auch in den oben zuvor aufgelisteten Veröffentlichungen nachweisbar und kommt in dem Beitrag von Halperin (2003) in Hawkins/Muecke (2003) zugespitzt zum Ausdruck. Dort ist nachzulesen: »Nothing that retains value qualifies as waste.« (Ebd.: 4) Doch wie einige wenige aktuelle Beiträge aufzeigen, steht die Entsorgung und das Abstoßen von Dingen nicht allein für Ignoranz, Irrtum, Zufall oder gar Wertlosigkeit. So ist es ausgewiesenes Ziel der Veröffentlichung von Caitlin DeSilvey (2006), Verworfenem, Verfallenem und NichtBeachtetem eine Bedeutung abzugewinnen. In ihren Reflexionen über ein heruntergekommenes Gehöft inklusive Inventar in Montana begibt sie sich auf die Suche nach der Möglichkeit eines Rückgewinns von Erinnerungen und fordert »to accept, that the artifact is not a discrete entity but a material form bound into continual cycles of articulation and disarticulation«. Auch Bjørnar Olsen (2010) argumentiert, ebenfalls mit Blick auf ein verfallendes Anwesen, in diese Richtung. Er kommt zu dem Schluss: »However, even when things are discarded, destroyed, and demolished, something is nearly always left – in other words, gathered. Thus, in the notion of a past that sediments and swells in our midst, there is also a component of the neglected, the unwanted.« (Ebd.: 167)
Des Weiteren beschreibt Olsen (2010: 160-172), dass Dinge etwas darstellen können, von dem sich ihr Besitzer emanzipieren will, beispielsweise indem sie sinnbildlich für einen bestimmten und bewussten Teil der (eigenen) Geschichte gesehen werden, der willentlich zurückgewiesen werden soll. Ein Weg, sich von den Dingen und von dem, woran sie erinnern, zu emanzipieren, ist deren wie auch immer geartete Aufgabe. Vor einem solchen Hintergrund verworfene Dinge sind ebenso wenig als wertlos zu bezeichnen wie sorgfältig aufbewahrte. Darüber hinaus muss bei der Zerstörung eines materiellen Dings nicht zwingend der Wunsch, damit konnotierte Erinnerung oder persönlicher Werte symbolisch auszulöschen, Pate stehen. Dies kann auch ein Akt der Exklusion dritter von einem intimen Wissen sein, das man weder teilen noch auf sonst eine Weise potentiell weitergeben möchte. Der Zugriff auf die Dinge und ihre individuumsbezogene Bedeutung wird anderen damit radikal verweigert. Das denkgeschichtliche Problem ist also nicht, dass die Wissenschaft im Allgemeinen Dinge, die offenkundig einer bestimmten Bedeutung ent-
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behren, nicht beachten würde. Die eigentliche Schwierigkeit besteht vielmehr darin, dass aufgegebene Dinge fast ausschließlich als etwas betrachtet und erforscht werden, das keine Bedeutung hat oder bedeutungslos geworden ist. Die Auseinandersetzung mit materieller Kultur wird hinsichtlich des Phänomens Müll, des Wegwerfens und Zerstörens so lange einseitig bleiben, als diese Praktiken lediglich für einen Ausdruck der Entwertung gehalten werden. Um eine solche Reduktion zu vermeiden, ist es unumgänglich, der materiellen Konstitution und der Präsenz der Dinge eine entscheidende Rolle zuzuschreiben, wie es beispielsweise DeSilvey (2007) und Olsen (2010) tun.
2.2 S TOFFLICHKEIT UND L EIBLICHKEIT : P ERZEPTION , ANEIGNUNG UND E IGENSINN DER D INGE Strebt man eine Auseinandersetzung mit den Dingen an, die über ihre Interpretation hinausgeht, eine umfassende Dingtheorie also, muss man nach der Ursache, der Bedingung der Möglichkeit, für ihre Wirkungsweisen fragen. Dabei wird man entweder mitgerissen von den Wellen dualistischen Denkens oder man muss sich gegen selbige behaupten. Dichotomien wie Geist und Materie, Kultur und Natur, Subjekt und Objekt lauern hinter jeder Formulierung und fordern eine Entscheidung: Wohin mit den Dingen? Sind sie Requisiten, Repräsentanten, Akteure? Sind sie mit geistigen Inhalten und mit kultureller Bedeutung aufgeladen und ohne diese nichts? Oder haben sie eine Sprache, ein soziales Leben? Wohnt ihnen Macht inne? In Kapitel 2.1 wurde mit vielen Beispielen aus der Literatur illustriert, dass man der Frage nach der Bedeutung oder der Funktion eines Objekts niemals mit nur einer Antwort gerecht werden kann. Die Verweisfunktion der Dinge wurde diskutiert und kritisch hinterfragt. Ein solches Unterfangen ist noch zur Blütezeit des linguistic turns in den achtziger Jahren von Vorreitern wie Igor Kopytoff (1986) und Arjun Appadurai (1986) gestartet worden. Die genannten Autoren verweisen darauf, dass Dinge Teil des Kulturellen und des Sozialen sind. Auch Daniel Miller und Bruno Latour, zwei Autoren auf die im Weiteren genauer eingegangen wird, sind als Pioniere für einen Zugang zu den Dingen jenseits ihrer semiotischen Ebene zu bezeichnen. Beide betonen die Notwendigkeit, die Materialität der Dinge in
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den Blick zu nehmen. Als Reaktion auf die Vernachlässigung dieses Aspekts in vielen wissenschaftlichen Zugängen entwickeln sie je ein Konzept von Objekt-Agency, das in der physikalischen Präsenz der Dinge seinen Ankerpunkt sucht. Die Forderung lautet, einen Zugang zur Welt zu schaffen, der die Asymmetrie zwischen Menschen und Dingen überwindet, Dinge nicht in reiner Abhängigkeit vom oder als Gegensatz zum Menschen denkt und nicht die Augen verschließt vor dem den Dingen eigenen Potenzial: »[…] generations of scolars have crafted ›the social life of things‹ out of preoccupation with the social life of man. For too long we have lived with the notion that the material is receptive to concepts that are projected on it. This projectionist fallacy, the oppositional framework of culture and objecthood in which objects merely serve as substitutes for persons, falls apart as animated things, although responsive to human need and emotion, become effective in managing connective and analogical relations.« (Küchler 2005: 209)9
In den letzten zwei Jahrzehnten haben auch andere Denktraditionen, deren Wurzeln ans Ende des 19. Jahrhunderts zurückreichen und die ebenfalls die materielle Präsenz der Welt in den Blick nehmen, wieder vermehrt ihren Weg in den wissenschaftlichen Diskurs gefunden: die Phänomenologie und, mit ihr verbunden, Überlegungen zur physikalischen und physischen Wahrnehmbarkeit der Welt in der wir uns wiederfinden. Im »Handbook of Material Culture« (Tilley et al. 2006) ist der gewinnbringenden Adaption dieser philosophischen Schule für die Erforschung materieller Kultur ein ganzes Kapitel gewidmet (Thomas 2006: 43-59). Der Autor Julian Thomas definiert Phänomenologie wie folgt: »Phenomenology is concerned with the human encounter, experience and understanding of worldly things, and with how these happenings come to be possible.[10] While empiricism and positivism take the givenness of material objects as an unquestioned first principle, phenomenologists from Edmund Husserl onwards have argued that if science is to concern itself with the acquisition of information through
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Ähnlich auch bei Pinney (2005: 258) und Keane (2005: 184).
10 Der Satz behält seine Gültigkeit, wenn man »Phenomenology« durch »Ethnology« ersetzt.
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the physical senses (in laboratory experiments or field observations) then the character of experience needs to be problematized.« (Ebd.: 43)
»Zu den Sachen Selbst!« lautet der Geburtsschrei der philosophischen Phänomenologie (Verbeek [2000] 2005: 234) und meint damit die Betrachtung der Dinge losgelöst von ihren kulturellen Implikationen. Das ist für das Erkenntnisinteresse der Ethnologie freilich verfehlt. Dennoch lässt sich der phänomenologische Ansatz für die Kulturwissenschaften fruchtbar machen (z.B.: Olsen 2010: 63-88), und sein Anliegen unterscheidet sich wenig von dem Latours oder Millers: Die Dinge sollen nicht als reine Zeichen und Symbole gesehen werden, die Relation zwischen ihnen und dem Menschen wird als symmetrisch angenommen (Verbeek [2000] 2005: 163f.). Die Folgerungen aber differieren, wie wir sehen werden. Im Sammelband »Alltagsdinge« (König (Hg.) 2005), dessen Veröffentlichung zeitlich mit der der gerade zitierten Texte zusammenfällt, finden sich ebenfalls gehäuft Plädoyers dafür, Objekte, und zwar unabhängig davon, wie unbedeutend oder selbstverständlich sie scheinen, in ihrer physischen Präsenz und Wahrnehmbarkeit zu beachten. Erfahrung und Wahrnehmung rücken in den Vordergrund. Etliche Autoren machen in diesem Sammelband (und an anderer Stelle) das Prinzip des Dinglichen zum basalen Argument einer Objekttheorie, die der Eigenlogik des Materiellen Rechnung trägt und nahe an phänomenologischen Ansätzen argumentiert (z.B.: Scharfe 2005, Korff 2005, Hahn 2005a). Scharfe, dessen Schriften bereits an verschiedener Stelle zitiert wurden, systematisiert in seinem Beitrag sein Konzept der »Mensch-Ding-Relation«. Den Ausgangspunkt formuliert er wie folgt: »Die Dinglichkeit des Leibes ist der erste, eigentliche und letzte Grund dafür, dass wir auf die Dinglichkeit der Welt um uns herum – mithin auch auf die Dinghaftigkeit der Kultur – verwiesen sind.« (Scharfe 2005: 95)
Scharfe stellt im Weiteren einen fünfstufigen Prozess von Schöpfung, Aneignung und Auseinandersetzung bezüglich der Dinge als einen offenen Kreislauf vor. Er beginnt mit der Feststellung, dass der Mensch die Dinge (er-)schafft, hier auch im Sinne kognitiver Konstruktion und Bedeutungszuweisung. Mit Bezug auf Nietzsche merkt er an, dass der Mensch als Schöpfer der Dinge diese sozusagen nur als Abbild seines Selbst (also sei-
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nen Bedürfnissen, Gesetzen und Vorstellungen folgend) denken und formen kann. Die zu diesem Zeitpunkt noch als menschnah zu bezeichnenden Dinge entwickeln in der nächsten Stufe ein Eigenleben, werden ihren Schöpfern fremd und »müssen freigelassen werden« (ebd.: 100). Dadurch tritt die »Tücke des Objekts« (ebd.) zu Tage. Darunter versteht Scharfe eine »Metamorphose« der Gegenstände (ebd.) nach deren Durchlaufen sie den Menschen als feindselige Systeme gegenübertreten. Scharfe gibt Abbildungsbeispiele aus dem 19. Jahrhundert, in denen solche Verwandlungen tatsächlich auf der Ebene des Materials versinnbildlicht sind. »Dennoch macht der Mensch die Dinge – bis auf einen Rest«, (ebd.: 102) schreibt er schließlich, und durch die darauf folgenden Ausführungen zur Signaturenlehre des Mystikers Jakob Böhmes (1575-1624) wird deutlich, dass Scharfe ein transzendentes Moment im Sinn haben muss, welches sich sowohl auf die menschgemachten als auch auf die natürlichen Dinge bezieht (ebd.: 102-112). Im letzten Teil seines Aufsatzes führt er dieses transzendente Moment und die eingangs thematisierte Korrespondenz der menschlichen Leiblichkeit mit der Dingwelt zusammen und stellt das Leibliche als Argument für die Relevanz des »Dinglichen« in den Vordergrund. Diese Idee verfolgt Scharfe (2009) später weiter: Er führt als Beleg für die gegenseitige Bedingung von Materialität und Nichtmateriellem die notwendige Menschwerdung Gottes an und unterstreicht folgerichtig die »Leibgebundenheit von Sinn« (ebd.: 19-21). Ähnlich argumentiert auch Gottfried Korff (2005) schon im Band »Alltagsdinge« (König (Hg.) 2005), nachdem er sieben fundamentale Fragen zu den Alltagsdingen und ihrer Erforschung gestellt und beantwortet hat. Korff bezeichnet die »Dinghaftigkeit« und die »Materialität durch ihre synästhetischen Eigenschaften«, als die »spezifischen Voraussetzungen für die Symbol- und Affektaufladung« (Korff 2005: 39). So schreibt er: »Die sinnliche Affektationskraft der Dinge macht sie zum Code- und Symbolträger besonders wirkungsvoller Art.« (ebd.). Gleichzeitig weist er darauf hin, dass bei der Frage nach der zeichenhaften Bedeutung der Dinge, nach ihrem Aussagepotenzial über Menschen und Kultur(en), »die Dimension der Körperhaftigkeit und Einprägsamkeit der Dinge, aber auch die der sinnlichen Valenz des Umgangs mit Dingen in den Hintergrund tritt« (ebd.: 34). Auch Hahn hat, wie bereits besprochen, wiederholt gezeigt, dass ein semiotischer Zugang es nicht erlaubt, sich den Dingen selbst zu nähern (Hahn 2005a, 2005b, 2010, 2012). Jene weisen nämlich ein Mehr an Infor-
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mation auf, welches uns über unsere Wahrnehmung und ihre Wahrnehmbarkeit zuteilwird. Objekte, das wörtlich uns Entgegengeworfene, stellen stets eine Herausforderung an unsere Erkenntnisleistung dar. Dabei eignen wir uns die Dinge durch unsere Handlungen an ihnen und mit ihnen an und erhalten gleichzeitig Informationen über die Eigenheiten der Objekte selbst. Ein ausführliches Beispiel für diesen Prozess gibt Hahn: »Aneignung« und »Eigensinn« sind zwei zentrale Begriffe, die in seinen Veröffentlichungen immer wieder auftauchen. Aneignung als Akt der Inbezugsetzung zu einem Gegenstand wird mittels dessen sinnlichen und vor allem haptischen Erfahren vollzogen. Einen Gegenstand zu besitzen, bedeutet immer auch über ihn verfügen zu können. Im Eigensinn der Dinge werden die Möglichkeiten hierzu bestimmt und begrenzt. Der Prozess der Aneignung steht aufgrund der menschlichen Wahrnehmung, aufgrund unseres Handelns mit den Dingen und aufgrund ihrer stofflichen Präsenz in engem Austausch mit deren Eigensinn (z.B. Hahn 2005a, 2005b: 49, ähnlich auch bei Korff 2005: 40f. angerissen). Wie wir sehen werden, ist dieses Zusammenspiel die Grundlage, auf der sich eine Mensch-Ding-Beziehung entfalten kann. Aufbauend auf Hahns Schaubild zur kulturellen Aneignung von Dingen (Hahn 2005b: 102), geht die folgende Graphik diesem Prozess auf der individuellen Ebene nach. Die Praktiken der Aneignung und die Arten der sogenannten Zweckentfremdung (oder auch Zweckerweiterung11) markieren Meilensteine auf dem Weg vom Erwerb und der Annahme eines Objekts zu einer Mensch-DingBeziehung. Der Übergang von Aneignung zu dem, was als Zweckentfremdung verstanden werden könnte, ist fließend und abhängig von der eingenommenen (normativen) Perspektive: Die als Pfeile dargestellten Handlungen und Zugangsweisen zu den Dingen stellen Zwischenstadien dar. Beispiel: Ein materieller Eingriff bei einem Objekt, sagen wir, ein weiteres Loch in einen Gürtel zu stanzen, kann zu dessen Aneignung (ihn zur gewünschten Hose tragbar zu machen) oder zu dessen Einsatz zu einem weniger geläufigeren (und wohl auch nicht intendierten) Zweck (wie beispielsweise als Verstärkungsmaßnahme des Verschlusses einer gut gefüllten Reisetasche) dienen.
11 Bitte hierzu Anm. 3 auf S. 26f. beachten.
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Graphik 1: Faktoren einer Mensch-Ding-Beziehung.
Der oftmals erste Schritt zu einer greifbaren Mensch-Ding-Beziehung ist im Rahmen eines Haushaltsensembles die Platzierung eines neu erworbenen Gegenstandes. Einen Platz finden, aufstellen in der Wohnung, verräumen im Schrank: Der Ort, an dem ein Objekt in einem Wohnraum anzufinden ist, kann Auskunft über dessen Funktion und Bedeutung (und hier seien alle Facetten dieser Begriffe mit angesprochen) geben und erfordert eine Auseinandersetzung mit dem Objekt und seinen dinglichen Eigenschaften (beispielsweise Größe, Gewicht oder Material). Die außerindividuelle, kulturelle Bedeutung, die Objekten zukommen kann, wurde im vorhergehenden Kapitel (2.1) diskutiert. Dabei sind auch die Einflussmodi dieser kollektiven semantischen Ebene für die persönliche Bedeutung der Objekte angesprochen worden. In die, auf das Individuum bezogene, Wertigkeit der Dinge kann ihre kulturell geprägte eingehen; sie kann aber auch im Gegensatz dazu stehen. Um uns die Verbindung der einzelnen Formen der Aneignung vor Augen zu führen, denken wir uns einen beliebigen Gegenstand, an dem eine materielle Umgestaltung vorgenommen wird: Dies geschieht etwa, um As-
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pekte der wahrgenommenen kulturellen Bedeutung zu beseitigen oder zu verstärken und führt seinerseits zu einer veränderten persönlichen Bedeutung. Materielle Umgestaltung bezeichnet sowohl die Erweiterung des Gegenstandes (z.B. durch Dekoration) als auch die Veränderung seiner Oberfläche (z.B. durch Gravur, Beschriftung oder Säuberung). Die Inkorporierung ist steter Begleiter solcher Prozesse und meint die sinnliche Auseinandersetzung mit dem Objekt, vom ersten Begutachten bis hin zum täglichen Gebrauch und dem Bewusstwerden des Rahmens seiner Möglichkeiten. Von hier aus ist der Schritt zur sogenannten Zweckentfremdung am leichtesten zu vollziehen, da die materielle Umgestaltung dabei oft eine zentrale Rolle einnimmt. Damit einhergehend kann sich eine tiefe persönliche Beziehung zu den Dingen entwickeln (Resch 2012: 97ff.). Wir halten fest: alle individuellen Zugangsweisen zu den Dingen (sowie ihr Zusammenspiel) können in einer Form von Zweckentfremdung bzw. -erweiterung münden. Handlungen, die der sogenannten Zweckentfremdung bzw. -erweiterung dienen, sind Teil einer intelligenten und kreativen Auseinandersetzung mit dem Objekt und seiner Attribute, seiner stofflichen Beschaffenheit und Ausdehnung. Die Möglichkeiten eines solchen Umgangs werden jedoch vom Eigensinn, den die Dinge eo ipso aufweisen, beschränkt. (Veranschaulicht wird dies in der obenstehenden Graphik durch das Kreuzen des von außerhalb des Bereichs, in dem der Aneignungsprozess dargestellt ist, kommenden Pfeiles, die Mitwirkung des Eigensinns der Dinge symbolisierend, mit dem Bereich, in dem die für den Aneignungsprozess konstitutive Komponente Zweckentfremdung angeführt ist.) Worin liegt nun der Eigensinn der Dinge begründet? Bei Scharfe ist gleichbedeutend zum »Eigensinn der Dinge« die Rede von »kulturelle[r] Kontrapunktik« die zu bestimmten Anforderungen bei der Handhabung der Dinge führt (Scharfe 2005: 98). Jens Soentgen (1997) prägt in diesem Zusammenhang den Begriff der »Neigung«. Für den Chemiker und Philosophen legen Stoffe, und demzufolge Dinge, spezifische Eigenschaften an dem Tag, wenn sie von einem Zustand in einen anderen wechseln. Ein solcher Übergang tritt ein, wenn zum Beispiel ein Teller zerbricht, ein Schloss rostet oder das Lametta am Weihnachtsbaum in Flammen aufgeht. Eine Neigung bezeichnet im Unterschied zu einer Eignung eine aktive Komponente der Dingeigenschaften und ist in ihrer Stofflichkeit verankert. Unser Handeln mit den Dingen wird von ihren Neigungen beeinflusst, denn diese bedingen nicht nur die Möglichkeit, dass ein Gegenstand seinen Zustand
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verändert, sondern bergen eine hohe Wahrscheinlichkeit dafür (ebd.: bes. 56-63). Ein sich fragil anfühlendes Gebilde wird anders gehalten, getragen oder abgelegt als ein starres und massives. Wie Hahn und Soentgen (2010) in ihrem Aufsatz »Acknowledging substances: Looking at the hidden side of the material world« zeigen, wird der Umgang mit und der Bezug zu Objekten von der Haptik ihres Stoffes beeinflusst, die ein konstitutiver Bestandteil unserer Wahrnehmung ist. Die Autoren verstehen die Erforschung materieller Kultur wörtlich und plädieren für die phänomenologische Betrachtung der Dinge als Stoffvorkommen. Dass dies keineswegs eine Reduktion auf das Material bedeutet, illustriert Hahn (2012) anhand von Beispielen aus Workplace Studies, die erkennen lassen, dass die Handhabung von Dingen für versierte Personen unmittelbar mit ihrer stofflichen Wahrnehmung zusammenhängt. Um es auf einer grundsätzlichen Ebene zu formulieren, kann man die bisher verfolgten Thesen in zwei Sätze zusammenfassen. Erstens: Wir erkennen Dinge, weil wir die Kategorie ›Ding‹ kennen, und zwar aus der Selbsterfahrung des eigenen Leib-Körpers. Zweitens: Wir erfahren Dinge über den Leib-Körper in Form des sinnlichen Wahrnehmens und damit diesen selbst. Die Möglichkeiten der »sinnliche[n] Affektationskraft« der Dinge (Korff 2005: 39) erschließt sich uns also über das haptisch Erfahrbare und über die menschliche Selbsterfahrung. Der Begriff des Leib-Körpers ist in der Phänomenologie von Edmund Husserl, Helmuth Plessner oder Max Scheler eine starke Argumentationsfigur (Waldenfels 2000: 252ff.) und steht für die Möglichkeit des Menschen, sich selbst sowohl direkt (Körper haben) als auch reflexiv (Leib sein) wahrzunehmen. Das ist beispielsweise auch gemeint, wenn Plessner von exzentrischer Positionalität spricht (Fischer 2000, Waldenfels 2000: 254). Auch andere Vertreter der Phänomenologie wie Maurice Merleau-Ponty (1945 [1966]: 237ff., 347ff.) oder Vilém Flusser (1993) betonen das Primat der sinnlichen Wahrnehmung für die Erfahrung der materiellen Welt. Bei Arnold Gehlen ist zu lesen: »Wir erfahren die Wirklichkeit nur, indem wir uns praktisch mit ihr auseinandersetzen oder dadurch, daß wir sie durch die Mehrheit unserer Sinne hindurchziehen: das Gesehene betasten, befühlen oder endlich indem wir sie ansprechen und so eine dritte Art menschlicher Aktivität gegen sie setzen.« (Gehlen 1936 [1961]: 33)
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Waldenfels (2000) zeigt in seinem Buch »Das leibliche Selbst«, dass Eigen- und Fremdbezug, das Ich und der Andere, immer gleichzeitig und reziprok zu denken sind, dass also nicht zuerst das Sich-Selbst-Wahrnehmen und dann das Fremdwahrnehmen am eigenen Selbst erfolgt (ebd.: 283ff.). Das »Fremde« ist hierbei, das wird in seinen Beispielen deutlich, nicht zwingend ein menschliches Gegenüber sondern kann auch ein Gegenstand sein. Demnach beziehen sich also Menschen und Dinge gegenseitig aufeinander und in dieser Reziprozität besteht sowohl eine ding- als auch eine selbstkonstituierende Wahrnehmung. Aus diesem Grund ist in der vorliegenden Studie stets von einer Mensch-Ding-Beziehung die Rede, und nicht von einem Verhältnis, also nicht vom einseitigen Verhalten eines Subjekts zu oder in Bezug auf ein Objekt. Nun ist Wahrnehmung aber nicht absolut, das liegt in der Natur der Sache. So mag das, was Waldenfels wenige Seiten später schreibt, zunächst als simple Konsequenz seiner Ausführungen erscheinen, die Folgerungen daraus aber sind wesentlich: »Wahrnehmung [hier als sinnliche Wahrnehmung gemeint] bewirkt ein offenes System, das immer mehr Möglichkeiten enthält als jene, die jeweils verwirklicht werden. […] Schon in der Wahrnehmung gilt: Die Dinge gehören mir nicht. Und auch für die praktische Verfügung gilt: wir bekommen einen Gegenstand nie so in unsere Gewalt, daß nicht Nebenwirkungen, Störungen auftreten können, die sich den eigenen Entwürfen entziehen. Es sind also immer mehr Möglichkeiten im Spiel, als jene, die sich verwirklichen, sowohl ergänzende als auch störende.« (Ebd.: 294)
Wahrgenommene Dinge sind demnach emergente Systeme: Die Summe der bekannten Eigenschaften ist nicht ausreichend, um ein solches System zu beschreiben. Führen wir uns vor Augen, dass sich sinnliche Wahrnehmung stets auf stofflich Vorhandenes bezieht, so wird deutlich: Waldenfels erläutert in diesen Sätzen die Grundlagen dessen, was hier mit Hahn als Eigensinn angesprochen wurde, was von Soentgen mit Neigung bezeichnet wird und was, weitergedacht, mit Hans-Jörg Rheinberger ([1997] 2001) als »epistemisches Ding« bezeichnet werden kann. »Epistemische Dinge verkörpern, paradox gesagt, das, was man noch nicht weiß. Sie haben den prekären Status, in ihrer experimentellen Präsenz abwesend zu sein« (ebd.: 25). Rheinberger geht es also um das unvorhersehbare Moment, welches Dinge zum Zeitpunkt eines Experiments bergen.
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Aneignung und ihre dominanteste Ausprägung, die Zweckentfremdung bzw. -erweiterung, haben immer einen Experimentcharakter, so dass in der handelnden Auseinandersetzung des Menschen mit den Dingen der Eigensinn der Dinge als überraschendes Erkenntnismoment freigesetzt wird. Alltagsdinge sind in den Momenten, in denen sie sich unserer Herrschaft aufgrund ihrer Neigungen entziehen, epistemische Dinge. Den Erkenntnisgewinn ermöglicht ihre materielle Präsenz. Wie weit reichen aber die Konsequenzen der nicht vollständigen Verfügung über die Dinge? Bekommen sie dadurch Macht, Handlungsmacht und/oder werden sie zu Agenten und Handlungsträgern im sozialen Netzwerk, so wie es der französische Soziologe Bruno Latour und der englische Anthropologe Daniel Miller vorschlagen? Diese beiden Autoren sollen, wie eingangs angekündigt, im Folgenden exemplarisch als Vertreter eines besonders radikalen Konzeptes von Objekt-Agency behandelt werden. Latour legt durch seine viel rezipierte Actor-Network Theory (ANT) nahe, Dinge als Teil des Sozialen zu begreifen. Er möchte dafür sensibilisieren, dass die Rolle der Dinge mit in den Blick zu nehmen ist, wenn menschliche Interaktionen betrachtet werden.12 Darauf aufbauend findet er zu den »Hybriden« (Latour [1991] 2008: bes. 20), das sind in der Handlung gleichsam miteinander verschmelzende Menschen und Dinge, die so zu sozialen Aktanten werden, und fordert, aufgrund dieses Zusammenspiels die Kategorien Subjekt und Objekt durchlässig zu machen (ebd.: bes. 72). Dass Dinge signifikanten Anteil an sozialen Interaktionen haben, ist eine zu unterstützende Behauptung. Latour gelingt mit der ANT eine Beschreibung von Abläufen, deren Wert im Untergraben der Hegemonie rein zwischenmenschlicher Systeme liegt. Doch seinen Vorsatz, den zu überwindenden Dualismus zwischen Natur und Kultur aufzulösen, erreicht er nur schein-
12 Hier sei – mit Blick auf das im vorherigen Abschnitt Besprochene – betont, dass Latour Mitte der achtziger Jahre, also in einer Zeit, in der die Semiotik Hochkonjunktur hatte, mit der Entwicklung dieser Theorie begann, die letztlich seine Forderung nach einer neuen Form der Soziologie stützen sollte. Die ANT ist in Deutschland allerdings erst ca. zehn Jahre später in die Diskussion gekommen, als Latour schon dabei war, seine Thesen zurückzunehmen und umzuformulieren (Latour 1999). Sie ist also in der Rezeption einem Anachronismus unterlegen, da sie sich gegen eine Sichtweise wendet, die inzwischen durch andere turns ihre Korrekturen erfahren hat.
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bar: So spricht er sowohl von »Quasi-Objekten« als auch von »QuasiSubjekten« (Latour [1991] 2008: 70ff.). Damit vermeidet er zwar ein Abrutschen an den subjektivistischen oder objektivistischen Rand, die Kategorien werden aber eigenschaftslos und die resultierende Formel löst sich in Gleichgültigkeit auf. Mike Laufenberg wirft Latour vor, er würde das Subjekt beiseite schaffen (Laufenberg 2011: 55). Aus der in diesem Kontext eingenommenen Perspektive sind es die Objekte, die ihre Charakteristika verlieren: Intentionalität ist eine rein anthropologische Möglichkeit; Latours (und wie wir sehen werden auch Millers) Agency-Konzept unterstellt – zu Ende gedacht – den Dingen intentionales Handeln und damit ein ›Quasi-Bewusstsein‹.13 Was daraus folgt, ist weniger, dass den Dingen zu viel Bedeutung beigemessen würde, als dass ihr Alleinstellungsmerkmal und ihre Wirkungsweise verkannt werden. Wie der Philosoph Bernhard Waldenfels (2012) zeigt, muss »die Mitwirkung der Dinge« zu erkennen nicht zwingend darin münden, dem Unbelebten ein ›Quasi-Leben‹ zuzusprechen. Latours Forderungen basieren auf den beobachtbaren Ergebnissen und Folgen dieser Mitwirkung, somit hat er aber bloß die nicht-materielle Verbindung einzelner, miteinander assoziierbarer Entitäten im Blick (Ingold 2008: 210). Die Ausführungen von Latour sind sinnvoll, um für das Zusammenspiel von Menschen und Dingen zu sensibilisieren. Es muss aber davor gewarnt werden, Dinge nur als Teile eines Aktanten oder Hybrides zu verstehen. Darüber hinaus gilt es nämlich auch zu fragen, was Dinge abseits von ihrer Einbindung in soziale Netzwerke, die es ja nur aufgrund unserer Wahrnehmung und Handlung gibt, sind, sonst bleibt die stoffliche Dimension letztlich auf der Strecke. Daher gestaltet es sich als sinnvoll, nach der phänomenologischen Basis der Dingwahrnehmung zu suchen. Waldenfels spricht in diesem Zusammenhang von »Pathos« auf der Seite der Dinge und von »Response« auf der Seite der Menschen und schließt so auf den »Aufforderungscharakter«14 der Dinge. Mit dem Argument der Anlage des Menschen als Leib-Körper, das Waldenfels sodann einbringt, kann das Unterfangen, den wohl bekannten und lange tradierten Dualismus aufzulösen, auf grundlegender Ebene ange-
13 Es gibt auch Autoren, die einen wesentlich schwächeren oder anders gelagerten Agency-Begriff haben (z.B. Gell 1998, Hoskins 2006, Verbeek 2005). 14 Ähnliche Überlegungen finden sich bei Fischer (2010) in Bezug auf Bauwerke.
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setzt werden, nämlich bei der stofflichen Beschaffenheit von Dingen wie Menschen gleichermaßen. »[The] acceptance of our own materiality as well as that of the world« (Miller 2010: 78) können laut Miller wissenschaftliche Investigationen davon abhalten, die Dinge (religiös) zu überhöhen und zu Projektionsflächen für Bedeutungszuschreibungen zu machen, die mit der alltäglichen Rolle der Dinge nichts mehr zu tun haben. Er plädiert dafür, dass die Materialität der Dinge im Sinne von Stofflichkeit zum Ansatzpunkt einer Dingtheorie wird (ebd.: 68ff.), deren Anliegen lautet: »simply making stuff ordinary as part and parcel of our existence in the world« (ebd.: 78). Bei seinen Ausführungen schleicht sich aber ein Gedankensprung ein, der dazu führt, dass die materielle Präsenz der Dinge wieder aus dem Blick verloren wird. Beispielhaft dafür ist seine Erklärung für die vielen Geschichten, Erzählungen und Berichte über Spukhäuser (Miller 2001: 107-121, Miller 2010: 91ff.). Er legt in diesem Zusammenhang zunächst überzeugend dar, dass Interieurs als »the result of the very materiality of things« gesehen werden müssen und dass »as such they may not be an expression of our agency and they may have been unintended.« (Miller 2001: 112). In einem nächsten Schritt geht er dann aber so weit zu sagen, »that agency lies in these things rather than in the relatively transient persons who occupy or own them« (ebd.: 119). Seine Folgerung, dass »the concept of the fetish, where we are coming to recognize that the attribution of power or agency to things may be a profound appreciation of a state of affairs and not simply some kind of cognitive or category mistake« (ebd.) zulässig sei, lässt den spezifisch objektbezogenen Eigensinn der Dinge wieder zurück und impliziert, ähnlich Latours Argumentation, eine Analogie zum Menschen. In einem deutlich später verfassten Text beschäftigt sich Miller mit demselben Phänomen, begründet ganz ähnlich wie schon neun Jahre zuvor und kommt zu dem Schluss: »This is all part of our need to come to terms with the agency of stuff itself.« (Miller 2010: 96) Auch hier haben sich der zuvor ausgemachte Gedankensprung und die soeben angesprochene Analogie eingeschlichen: Die Verunsicherung darüber, dass wir mit Dingen in einen Informationsaustausch treten und dass das uns Entgegengeworfene scheinbar etwas mit uns macht (Pathos), führt bei Miller dazu, dass den Dingen eine anscheinend echte Intention zugesprochen wird. Sie fungieren zudem, ähnlich wie in Konrad Paul Liessmanns (2010) »Universum der Dinge«, grundsätzlich als schlichtweg gegebene und gleichsam statische
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Systeme. »Alles ist da«, schreibt Liessmann (2010: passim), und Miller ([2008] 2010) zeigt, wie das Vorhandene uns Trost spendet. Was aber, wenn die Dinge in Bewegung geraten? Für das Unterfangen, die Symmetrie zwischen Menschen und Dingen wissenschaftlich zu untermauern, ist es sinnvoll, den Hinweisen der Phänomenologen zu folgen und den Parallelen zwischen den Dingen und dem Leib-Körper nachzugehen. Symmetrie kann dort fundiert werden, wo Symmetrie besteht: Die Gleichzeitigkeit und Reziprozität in der Wahrnehmung (Waldenfels 2000: 283ff.), die nicht erst und schon gar nicht nur die Dinge konstituiert, sondern über die Dinge selbstkonstituierend für den Menschen wirken, ist die Basis einer adäquaten Dingtheorie. Eine überzeugende Argumentation bezüglich der Schlüsse, die aus der schieren Materialität der Stofflichkeit der Dinge folgen, darzulegen, kann nicht in einer fast schon animistischen Neuorientierung gefunden werden. Mein Gegenvorschlag an dieser Stelle ist es, von nichtintentionalem Handeln zu sprechen, um die Mitwirkung der Dinge zu erfassen, ohne die aktive Agentenschaft von Objekten zu proklamieren. Das Kompositum der zwei widersprüchlichen Begriffe hat den Sinn, die Irritation, die Dinge in uns hervorrufen, wenn wir das Gefühl haben, sie würden etwas mit uns ›machen‹, ihre Affektationskraft, mit zu erfassen. Wenn es zutreffend ist, dass Fetische »a sophisticated acknowledgement of the nature of objectification« (Miller 2001: 116) darstellen, dann ist die konsequente Aufgabe, zu erfragen, was genau anerkannt wird – so wie es beispielsweise Jürgen Hasse (2005) für die Geographie, Ute Guzzoni (2008) für die Philosophie oder Donata Elschenbroich (2010) für die Pädagogik vormachen. Die Dinge sind eine Herausforderung für die sich mit ihnen befassenden Menschen. Oder in den Worten Hans Blumenbergs (2002), der als zentrale Aussage seiner Überlegungen zu den Sachen formuliert: »Nun ist es mit ›Sachen‹ und ›Sätzen‹ eine Sache für sich: Die Sachen selbst sind es, die nicht zulassen, bei ihnen zu bleiben. Dies ist eine philosophische Feststellung und sie ist die elementare Feststellung über das Verhältnis von Sachen und Sätzen. Denn die Sätze über Sachen zu ›Sachen selbst‹ zu machen, ist nur eine Form, von den Sachen zurückzukommen, weil sie nicht dulden, dass man bei ihnen bleibt.« (Ebd.: 342) [Herv. i.O.]
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Freilich wendet Blumenberg sich in der hier zitierten Schrift gegen die Phänomenologie und besonders gegen Husserl. Er wird letztlich radikaler und schreibt an anderer Stelle, dass »die Sache selbst [eine sichentziehende] war und bleibt« (ebd.: 347). Aber auch wenn er damit Recht haben mag, so muss ein Zugang zu den Dingen gefunden werden, der, wenn nicht die Dinge an sich, dann die Gründe für unsere Beziehung zu ihnen greifbar macht. Überzeugend gelingt dies beispielsweise dem Technologiephilosophen Peter-Paul Verbeek ([2000] 2005) in seinem Buch »What Things Do«. Er spricht, ähnlich wie hier, von einer »Human-Artifact Relation« und definiert diese wie folgt: »Readiness-to-hand and presence-at-hand […] can be conceived as two modes of human-artifact relations, but rather as the termini of a continuum on which this relation unfolds.« (Ebd.: 194)
Verbeek bezeichnet seine Herangehensweise als postphänomenologisch, da er semiotische Deutungen, Latours ANT und phänomenologische Zugangsweisen zusammendenkt. Verbeeks Überlegungen zu diesem Schulterschluss gehen von der etymologischen Bedeutung von Ästhetik aus: »the study of the senses. […] The sensorial dimension forms a tangent plane between human beings and world in a way that brings this material aesthetics in direct connection with mediation.« (Ebd.: 235)
Aus kulturwissenschaftlicher Perspektive ist ein solcher Ansatz sehr nützlich, denn um ethnologischen Erkenntnisinteressen nachzugehen, wird immer ein kombinierter Zugang nötig sein (Hoskins 2006, Olsen 2005), der perspektivenreich und polyvalent Menschen und Dinge zusammenbringt und sich vor Analogien hütet. Die Gleichung »Dinge sind X« sollte, wenn X mit genau einem Wert (z.B.: Text, Zeichen, Statussymbole) substituiert wird, zuerst Misstrauen, dann die Suche nach Y und den anderen Variablen und zeitgleich die Einsicht, dass wir diese niemals alle finden können, hervorbringen. Die Aufgabe, vor der wir heute stehen, in einer Zeit, in der die Veröffentlichungen und Tagungen zu materieller Kultur schier unüberschaubar scheinen, ist das uns Entgegengeworfene als etwas Eigenständiges, das gleichsam in einem reziproken Verhältnis zum Menschen steht, anzuneh-
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men und nicht reduktionistischen Interpretationsmodellen zu folgen, die vorgeben, die Dinge erschöpfend durchschaubar und verfügbar zu machen. Wir werden durch die Wahrnehmung ihrer Präsenz herausgefordert und eben die Auseinandersetzung mit den Gegenstände kann das Beziehungsgefüge, in dem wir zu ihnen stehen, erklären. Dinge haben weder eine uns verständliche Sprache noch Macht, auch sind sie keine intentional handelnden Entitäten. Es gilt nicht, die Grenzen vom Objekt zum Subjekt im Sozialen zu verwischen, sondern diese als flexibel anzunehmen. Verbeeks Ansatz vermag dies zu leisten: »[P]ostphenomenology does not draw a line between two poles, but rather lets the poles emerge from the line that constitutes them. […] Relations between subjects and objects […] can only be understood with the help of the two poles ›subject‹ and ›object‹, but in each moment that the relations actually exist the two poles are already intertwined.« (Verbeek [2000] 2005: 163f.)
Dinge sind bei uns – manche schon sehr lange, andere kürzer als uns lieb ist und einige länger als wir es gerne hätten.
2.3 W OHNEN : L EBEN
MIT , UNTER UND IN
D INGEN
Weder die Betrachtung einzelner Dinge des Wohnbereichs, ihrer Kulturgeschichte oder ihrer symbolischen Verweisfunktion noch die Untersuchung der Funktion von Wohnräumen oder des Wohnens als Antwort auf Bedürfnisse wie Schutz vor Witterung oder ein sicherer Schlafplatz können ein vollständiges Bild vom ›Wohnen‹ zeichnen. Wohnen ist mehr. Um das zu zeigen, wird häufig als Einstieg für eine Auseinandersetzung mit ›Wohnen‹ ein Zitat aus Martin Heideggers »Bauen, Denken, Wohnen« herangezogen (Heidegger [1951] 2000): »Mensch sein heißt: als Sterblicher auf der Erde sein, heißt: wohnen« (ebd.: 149). Heidegger setzt seine Überlegungen zu »Haus«, »Wohnung« und »Privatheit« in einen allgemeinen Kontext, der auf eine erweiterte Wohntheorie abzielt. Wohnen ist für ihn »immer schon ein Aufenthalt bei den Dingen« (ebd.: 153). Diesen »Aufenthalt bei den Dingen« kann der Mensch aufgrund seines Menschseins nie »preisgeben«. Nach Heidegger versammeln Dinge das Geviert (Himmel und Erde, die Göttlichen und die Sterblichen) und markieren Orte. Weiter heißt es:
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»Der Bezug des Menschen zu Orten und durch Orte zu Räumen beruht im Wohnen. Das Verhältnis von Mensch und Raum ist nichts anderes, als das wesentliche gedachte Wohnen.« (Ebd.: 160)
Ohne sich Heideggers metaphysischen und ontologischen Spekulationen in allen Einzelheiten anschließen zu müssen, kann die hier von ihm aufgezeigte fundamentale Verknüpfung von Mensch, Raum, Ort und Ding als grundlegende Einsicht in das Phänomen des Wohnens verstanden werden. Mit »Mensch und Raum« setzt sich der Philosoph Otto Friedrich Bollnow, der für die Weiterentwicklung der Hermeneutik nach Wilhelm Dilthey bekannt wurde, in seinem gleichnamigen Buch auseinander. Bollnow ([1963] 1976) beschäftigte sich, ähnlich wie Heidegger, mit Lebensphilosophie, Phänomenologie und Existenzphilosophie. Diesem folgend, bezieht er die Räumlichkeit des Menschen im Ganzen auf das Wohnen. Er untersucht das Haus selbst und seine Funktion, ebenso dem Haus immanente Dinge wie Fenster und Türen oder im Haus anzutreffende Objekte, zum Beispiel das Bett. Auch mit diesen Dingen verbundene Handlungen (»liegen«) oder Wahrnehmungsphänomene (»die entrückende Wirkung des Fensters«) werden besprochen. Sein Anliegen ist es allerdings nicht, eine Definition für ›Wohnen‹ zu finden. Vielmehr sind seine Ausführungen stets im Hinblick auf die Frage, was ›Raum‹ ist, gerichtet und beschreiben unterschiedliche Aspekte von ›Raum‹ bzw. unterschiedlich wahrnehmbare Räume (Bollnow [1963] 1976: 125ff.). Seine phänomenologische Herangehensweise lässt die Wahrnehmung der Dinge und die Handlungen mit ihnen als konstitutiv für das erkennen, was wir als Wohnen bezeichnen wollen. Die hier vertretene These, dass Dinge, Raum und Wohnen nicht unabhängig voneinander gedacht werden können, lässt sich somit mit Bollnows Überlegungen untermauern. Mein Vorschlag ist es, Wohnen mit Heidegger als Positionierung zur Umwelt zu begreifen und vom Umgang mit den Dingen her zu denken. Im Folgenden soll ein individuumsbezogener Ansatz vorgestellt werden, der Wohnen über den durch »Spacing und Syntheseleistung« (Löw 2001: passim) individuell konstituierten Raum zu erfassen sucht. »Im alltäglichen Handeln der Konstitution von Raum existiert eine Gleichzeitigkeit der Syntheseleistung und des Spacings, da Handeln immer prozeßhaft ist. Tatsächlich ist das Bauen, Einrichten oder Platzieren, also das Spacing, ohne Syntheseleis-
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tung, das heißt ohne die gleichzeitige Verknüpfung der umgebenden sozialen Güter und Menschen zu Räumen, nicht möglich.« (Ebd.: 159)
Die Volkskundlerin Ruth E. Mohrmann beschreibt, wie in den siebziger Jahren die Idee, dass ›Wohnen‹ als eine Handlung gesehen werden muss, um sich zu greifen begann (Mohrmann 2001: 144ff.). Die reziproke Abhängigkeit zwischen dem Inventar, das auch einen kommunikativen Charakter aufweist, und der Handlung ›Wohnen‹ findet in der Folge zunehmend Beachtung und ein neues Bewusstsein setzt ein, das von den mannigfaltigen und perspektivenreichen Betrachtungen einzelner Wohndinge, deren Kulturgeschichte, Verweisfunktion oder Tradierung hin zum Verständnis von ›Wohnen‹ als Umgang mit diesen Alltagsdingen führt. Fél und Hofer (1969, 1972) können als die ersten Wissenschaftler gesehen werden, die bei ihren Beobachtungen Hausinventar und Handlung an den Dingen zusammenbringen und »das Wohnen und Wirtschaften als sozialen und kulturellen Prozess analysieren« (Mohrmann 2001: 146).15 Aus dieser Zeit gibt es aber auch Beispiele für Studien über das Wohnen, die ›Handlung‹ nicht wie zuvor ausklammern, sondern derart überbewerten, dass die Dinge selbst dabei in den Hintergrund treten. Das 1972 veröffentlichte Buch der Kulturwissenschaftlerin Margot Tränkle, »Wohnkulturen und Wohnweisen«, ist ein solches und zeigt die Gefahren auf, die ein handlungsorientierter Ansatz birgt. Die Untersuchung befasst sich zwar mit Wohnpraktiken bezüglich der Einrichtung, nimmt dabei allerdings vorwiegend die Interaktion und Kommunikation in der Familie und den Stellenwert sozialer Kontrolle in den Blick. Tränkles Ziel ist die Darstellung der durch das Wohnen befriedigten Bedürfnisse und deren normative Bewertung. So bleibt ihre Studie eine kultur- und konsumkritische Analyse des Lebens innerhalb der Wohnung (ebd.: 7). In den achtziger Jahren taucht in der Wissenschaft vermehrt der Hinweis auf ›Räume‹ auf. Sie werden als »soziokulturell erschaffen« charakterisiert und ihre Begrenzung ist nicht oder nicht allein materieller Natur. Es
15 Den Weg zur Interpretation des Wohnens als ein vielschichtiges Handlungsgefüge und zur Reflexion einer kognitiven Raumbildung weisen in dieser Anfangsphase auch Beiträge wie »Der Umgang des Menschen mit seiner Wohnumwelt« von Klaus Roth (1983) und »Möbel als kultureller Wert« von Helge Gernd (1983).
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handelt sich dabei um sogenannte Handlungsräume, die gleichzeitig durch Handlungen erschaffen werden und selbst Handlungen hervorrufen. Diese Handlungsräume sind natürlich auch innerhalb einer Wohnung zu finden. Der Sozialhistoriker Hans-Jürgen Teuteberg nähert sich der Definition des ›Wohnens‹ von einem solchen Raumverständnis an, wenn er fordert: »Eine Wohngeschichte muss nicht nur die Arten der Raumaneignung (im Sinne von Nutzung), der äußeren Raumgestaltung und der inneren Raumausstattung, sondern auch die psychosoziale bzw. psychokulturelle Raumbezogenheit des Individuums einschließen.« (Teuteberg 1985: 21)
Als grundlegende Fragestellung sieht er die Untersuchung der reziproken Beeinflussung von Wohnraum und Bewohner. In seiner kulturhistorischen Betrachtung analysiert er das facettenreiche Zusammenspiel von »Wohnung als gebaute Umwelt« mit der Unterscheidung äußerer und innerer Strukturen, der »Wohnungseinrichtung« und den »sozialen Wohnfunktionen«, also der sozialen Interaktionsradien der Bewohner innerhalb und außerhalb der Wohnung (ebd.: 3). Dies ist ein wertvoller Ansatz, demzufolge ›Wohnen‹ ein Eingebundensein sowohl in ein den Wohnräumen inneres als auch in ein über die Wohnräume hinausgehendes, äußeres Lebensumfeld bedeutet. Hier finden sich Parallelen zu der heideggerschen Formel: »Mensch sein heißt: als Sterblicher auf der Erde sein, heißt: wohnen« (Heidegger [1951] 2000: 149). Da aber die Möglichkeit zur Raumbeziehung menschlich bedingt und nicht der Wohnung eingeschrieben ist, kann die »Raumbezogenheit des Individuums« nicht als eindeutiger Indikator für ›Wohnen‹ gesehen werden. Vielmehr muss Wohnen als Ergebnis einer raumkonstituierenden Handlung gesehen werden. Ebenfalls charakteristisch für die Forschung der achtziger Jahre ist Bourdieus Habitustheorie, auf die an dieser Stelle erneut eingegangen werden muss (Bourdieu 1979 [1982]). Bourdieu bringt darin die Dinge im Wohnbereich und ihren Verwendungsaspekt als Ausdrucks- und Interpretationsmittel der Besitzer zusammen und weist die Selbstreproduktion milieuspezifischer Handlungsweisen und Haltungen nach. Er stellt heraus, dass über die Einrichtung einer Wohnung auf den schichtspezifischen Geschmack, den Lebensstil und auf andere Aspekte geschlossen werden kann. Bourdieus Beitrag zur besseren Lesbarkeit der Gesellschaft ist in unzähligen praktischen Studien früchtetragend angewandt worden, darunter auch
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in solchen zum zeitgenössischen Wohnen im städtischen Milieu (z.B. Bellwald 1996, Katschnig-Fasch 1998). Auch Gert Selle und Jutta Boehe (1986) folgen in ihrer Studie zum »Leben mit den schönen Dingen« dem bourdieuschen Ansatz. Doch die Autoren gehen noch darüber hinaus, indem sie in ihrer Untersuchung lediglich drei Haushalte fokussieren und somit im empirischen Teil der persönlichen Relevanz der Dinge für ihre Besitzer einen besonderen Stellenwert einräumen. 16 Je ein Ehepaar wurde in einem mit Bildmaterial gestützten Leitfadeninterview zuerst gemeinsam über die Dinge in ihrer Wohnung befragt, dann sprachen die beiden Partner getrennt von ihrer »Kindheits- und Jugendumwelt« (Selle/Boehe 1986: 53). Hierbei sind die Ergebnisse zur »Aneignung des Selbst am Gegenstand« (ebd.: 247ff.) herauszustellen: Selle und Boehe zeigen das unweigerliche Zusammenspiel der persönlichbiographischen und der kulturellen Prägung von Individuen beim Ordnen, Deuten und Gebrauchen ihrer Dinge auf. Aneignung führt demnach »zurück auf einen doppelten Erfahrungsbegriff [Herv. i.O.], weil unmittelbare Einzelerfahrung und teilbare soziale Erfahrung des Gegenstandes im selben Akt zusammenfallen.« Die »Gesamtsinnlichkeit des Körpers« wird als konstitutive Erfahrungsgrundlage für die Aneignung von Dingen genannt (ebd.: 249), was vice versa zur einer über Objekte vermittelten Selbsterfahrung führt (vgl. Kapitel 2.2). Dieser Doppelaspekt der (Selbst-)Erfahrung spielt, wie im vorherigen Kapitel geschildert, für die hier besprochene Konzeption einer Mensch-Ding-Beziehung eine entscheidende Rolle. Die eigene Körper- und Ich-Erfahrung ist Teil der Erkenntnismöglichkeit von Dingen: Hieraus kann gefolgert werden, dass im Wohnraum in hohem Maße angeeignete Objekte zu finden sind. Aneignung meint das Gefühl, über diese verfügen zu können, was durch den nominellen Besitz der Dinge, aber auch durch den Umgang mit ihnen, und hier besonders der (potenziellen) ›Zweckentfremdung‹, gewahr wird. Die in der Wohnung anzutreffenden Gegenstände ragen zum Teil bezüglich ihrer Funktion und Bedeutung heraus, zum Teil bleiben sie ganz unbeachtet. Real und Realität wird die besondere Beziehung zu einer materiellen Entität über ihre sinnli-
16 Die Kulturpsychologen Csikszentmihalyi und Rochberg-Halton ([1981] 1989) erzielen mit ihrer Untersuchung zum »Sinn der Dinge« ganz ähnliche Ergebnisse, worauf in der deutschen Ausgabe dezidiert verwiesen wird, zumal die Übersetzung nach Selles und Boehes Buch erschienen ist.
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che Wahrnehmbarkeit und körperbezogene haptische Erfahrung. Der Wohnraum ist demnach ein Raum, der zwischen in hohem Maße angeeigneten Dingen aufgespannt ist. Und er ist allein dadurch ein besonderer Raum, dass das Spacing, die Positionierung der Dinge, und seien es nur wenige, vom Bewohner selbst vorgenommen wurde, und die Syntheseleistung sich auf Dinge, die eine ganz eigene Bedeutung haben, bezieht. Jürgen Hasse dazu: »Macht geht in einem aktiven Sinne nicht von den Dingen aus, sondern vom Individuum, das zu einem Ding in einer phatischen Beziehung steht, über deren gefühlsmäßige Brücke es in die Situation einer Stimmung gelangt. Die Wohnung ist der erste [Herv. i.O.] Ort für die Versammlung biographisch bedeutender Dinge. […] Ihre Platzierung an signifikanten Orten im Raum in der Wohnung ist eine Bedingung für das Gelingen atmosphärischer Gefühlsamalgame. Nur dann bilden sie Erlebnisachsen und an gefühlsmächtigen Knoten Brutstätten der Verschmelzung von Symbol und Gefühl.« (Hasse 2009: 229)
Symbol und Gefühl, also Bedeutung als und Bedeutung für, sind einander ergänzende Kategorien, denen im Wohnraum aufgrund der stark angeeigneten Dinge eine gesteigerte Relevanz zukommt. Theoretische Überlegungen zur Konstitution und materiellen Verankerung von Wohnräumen, über den Umgang mit und der Positionierung der eigenen Dinge sowie über deren spezifisches Beziehungspotenzial (Depner 2014) können dazu beitragen, beobachtete Praktiken mit den anfangs vorgestellten phänomenologischen Wohntheorien zusammenzubringen. Wie ein empirisch fundierter Ansatz dazu aussehen könnte, haben unlängst drei amerikanische Anthropologen mit dem italienischen Photographen Enzo Ragazzini in einer breit angelegten und eindrucksvoll bebilderten Veröffentlichung zum zeitgenössischen Leben zuhause (Arnold et al. 2012: 135161) vorgeführt: Im Kapitel »My Space, Your Space, Our Space: The Personalization of Home« wird der Frage nachgegangen, wie durch identitätsschützende Objekte materielle Marker im Wohnraum gesetzt werden. Dies kann als Praxis der Aneignung und Auszeichnung des Wohnraums durch Objekte interpretiert werden. Für ein solches Verständnis spricht auch die Studie von Pauline Garvey (2001) aus dem Sammelband »Material Culture behind Closed Doors« (Miller 2001). Garvey, die ebenfalls die Wohnung eher als einen (Ver-)Handlungsprozess denn als Ort betrachtet,
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beschreibt Praktiken der Veränderung des Interieurs als Akt bewusster und reflexiver Auseinandersetzung mit sich selbst. Hahn (2010) verweist in seinem Aufsatz »Die Ethnographie des Wohnzimmers – über die problematische Kontextualisierung von Dingen« auch auf das Potenzial, den Umgang mit den Dingen in situ zu beobachten, also das Wohnen mit, unter und in Dingen zu erforschen. Einige Studien, die diesen Anspruch umsetzten, finden sich im gerade erwähnten Sammelband von Miller: Alison J. Clarke (2001) kann zeigen, dass die normative Vorstellung des idealen Zuhauses weniger mit der Erwartungshaltung realer Personen aus dem näheren Umfeld in Verbindung zu bringen ist, als mit einem (selbst-)imaginierten Soll-Zustand, der mit zumeist abwesenden Personen oder nicht eingetretenen Situationen zusammenhängt. Diese genannten Beispiele belegen gleichzeitig, dass nach dem Jahr 2000 der bourdieusche Ansatz zunehmend in die Kritik gerät, weil erkannt wird, dass die dadurch aufgezeigten Muster zwar einen, aber eben nicht den einzigen verlässlichen Zugang zur Gesellschaft darstellen – besonders bezüglich der Auswahl der Wohnungseinrichtung und -dekoration. Sehr differenziert zeigt dies eine Studie der Gesellschaftswissenschaftlerin Christiane Resch (2012), die es sich zur Aufgabe gemacht hat, Bourdieus Thesen zu prüfen. Resch und ihr Team junger Wissenschaftler finden viele Hinweise auf die Nichtbeachtung der Codes, die »den feinen Unterschied« ausmachen, und stoßen dabei immer wieder auch auf genderspezifische Einrichtungspraktiken. »Der ›Geschmack‹ der Männer muss demnach als Teil weiblicher Hausarbeit verstanden werden.« (Ebd.: 73) Als Praktik, »die sich kulturindustriellen Vorgaben weitgehend entzieh[t] oder sich ihnen wiedersetz[t]«, stellt Resch die Aneignung (alter) Dinge vor (ebd.: 75). Der Umgang mit den Dingen der eigenen Wohnumgebung zeigt sich in dieser Studie als »Interaktion des Rezipienten mit dem Gegenstand« (ebd.: 132). Weitergedacht bedeutet das: Die Konstitution des Wohnraums wird mithilfe der von einer Person dafür erwählten Gegenstände und darauf bezogener Handlungen vollzogen (Spacing). Dem Prozess der Raumkonstitution kann als einer subjektiven Leistung in Abhängigkeit der individuellen Wahrnehmung dieser Dinge als Ensemble begegnet werden (Syntheseleistung). Das Raumbild nach Löw wird auf ›gebauten Raum‹ übertragen. Dabei ist der scheinbar als ›Behälter‹ daherkommende, gebaute Raum keineswegs ein absoluter Raum: Die Positionierung der materiellen Grenzen (Wände, Fenster und Türen) konstituiert einen Raum, der sich in diesem
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besonderen Fall als abgeschlossenes Zimmer manifestiert.17 In diesem so entstandenen Raum-Ding-Zimmer kann wiederum durch Spacing und Synthese, durch Dinge und Handlungen, ein Wohnraum konstituiert werden. Der Wohnraum ist aber nicht zwingend deckungsgleich mit einem solchen Zimmer-Raum; auch muss sich ›Wohnen‹ nicht nur in einem dazu gedachten Zimmer-Raum abspielen. Wohnräume werden zu Orten von Heterotopien nach Foucault ([1966] 2005). ›Wohnen‹ ist dann in erster Linie eine raumkonstituierende Handlung. Zu dieser Handlung gehören neben dem Platzieren von Dingen (Schrank, Shampoo, Schuhe) auch tradierte und/oder normative Vorstellungen und symbolische Güter; des Weiteren Tätigkeiten wie zum Beispiel Schlafen, Kochen, Streiten und das Erleben von Emotionen. ›Wohnen‹ hat persönlichen und sozialen, privaten und öffentlichen Charakter (vgl. dazu auch Dant 1999: 60f.). Nichts davon muss bzw. kann aber zwingend nur in der Wohnung stattfinden. Wohnen manifestiert sich im Einrichten, nicht in der Einrichtung. Deswegen ist ›Wohnen‹ von emotionalen und kognitiven Faktoren abhängig, nicht von einem Ort oder einem Gegenstand, der gleichsam das ›Wohnen‹ beinhaltet. Dort, wo die Objekte platziert werden, zu denen eine bestimmte Beziehung existiert und ein entsprechender Umgang mit diesen Dingen stattfindet, wird gewohnt. Wohnraum ist somit als Ergebnis der Handlung ›Wohnen‹ in Bezug auf das Wohninventar zu sehen.18 Trotz der hier angeführten Beiträge und Überlegungen, die das Wohnen als Handlung und Prozess der Verhandlung mit Bezug auf die Dinge anerkennen, hat Hasses (2005) Titelwahl »Unbedachtes Wohnen« immer noch seine Berechtigung. Hasse macht die vermeintliche Selbstverständlichkeit des Wohnens dafür verantwortlich. Er stellt dem eine Studie über marginalisierte Wohnformen unserer Gesellschaft entgegen, darunter auch über das »Wohnen im Alter« (ebd.: 126-147). Er gibt an dieser Stelle einen komprimierten Überblick über die unterschiedlichen Wohnformen im Alter (ebd.: 139ff.). Die Fallstudien sind in dem im Folgenden vorgestellten Alten-
17 Als Beispiel soll hier die kleinste Einheit dienen. 18 Eine solche Wohntheorie orientiert sich nicht nur an dem durch den spatial turn vermehrt angewendeten Raumbegriff, erweitert mit den oben vorgetragenen Überlegungen zur Mensch-Ding-Beziehung. Sie ist auch die Folge jener Phänomene, die dieses Raumbild provozieren und fordern: Globalisierung, Mobilität und der dadurch erweiterte individuelle Aktionsradius.
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wohnheim ähnlichen Altenwohnzentrum und einem Seniorendomizil (Seniorenresidenz: hoher Service- und Preisstandard) gemacht worden. Hasse kommt zu dem Schluss, dass »[i]m Alter […] die Bedeutung des Wohnens für das Gefühl der Lebenszufriedenheit stark [zunimmt]« (ebd.: 137). Die der vorliegenden thematisch wohl am nächsten stehende Studie ist die unlängst von Charlotte Löffler veröffentlichte Zulassungsarbeit zu »Materielle[r] Kultur und institutionelle[m] Wohnen im Pflegeheim« (Löffler: 2014). Hier werden die wenigen, in der Regel von Angehörigen mitgegebenen, nicht von den Senioren mitgebrachten, Dinge in den Blick genommen und zum Ansatzpunkt beispielsweise für Fragen nach deren emotionalen Bedeutung im Raumaneignungsprozess gemacht. Die zitierten Aussagen der Senioren, wenngleich diese in einem ›klassischen Pflegeheim‹ leben, weisen viele Parallelen zu den hier behandelten Fallstudien auf. Leider gelingt Löffler nur selten die Emanzipation von den bedeutungsschwangeren objektbezogenen Paradigmen der achtziger und neunziger Jahre, so dass sich das Buch über weite Strecken wie eine Diskussion dieser anhand des empirischen Materials liest. Ähnliches gilt auch bezüglich der Vorstellungen von Privatheit und Territorialität. Dennoch wird auch hier der Blick auf den Rollenwandel der Dinge, das Sortieren, Wegwerfen, Weitergeben gerichtet und auf die immer brisanter werdende Frage nach dem Wohnen im Alter aus der Perspektive der Mensch-Ding- und Mensch-UmweltBeziehung. Solche Fragen werden auch von Seiten der ökologischen Gerontologie behandelt, auch wenn die Erforschung des Wohnens aus gerontologischer Sicht in erster Linie geprägt ist durch Themen wie Mobilität, Aktivität/Aktivierung und Gesundheit. Während mit Blick auf institutionelles Wohnen die Qualität der Pflege und die strukturelle Beschaffenheit der Wohnräume immer wieder Beachtung finden, ist die Untersuchung der subjektiven Erfahrung des Wohnens im Alter nach wie vor ein Desiderat. Angesichts der immer weiter anwachsenden Zahl alter und sehr alter Menschen gilt es jedoch gegenwärtig als eine der zentralen Herausforderungen, sowohl mit Blick auf die Sozialpolitik als auch hinsichtlich des Wohnungsbaus, eine möglichst breite und facettenreiche Aufklärung über das Wohnen im Alter zu gewährleisten. Zur Differenzierung des Themas Wohnen mit Blick auf die Mensch-Umwelt-Beziehung (also auch der Unterscheidung wohnbezogenen Verhaltens einerseits und Erlebens andererseits) haben aus gerontologischer Sicht konzeptuelle Arbeiten der neunziger Jahre beigetra-
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gen, die in Anlehnung an den amerikanischen Psychologen und Gerontologen M. Powell Lawton und andere (z.B. Lawton 1998, Saup 1993, Wahl 1992) für die Bedeutung des räumlich-sozialen Wohnumfeldes sensibilisieren. Seit dem Jahr 2002 läuft das Projekt »Enabling Autonomy, Participation, and Well-Being in Old Age: The Home environment as a Determinant for Healthy Ageing« – oder auch kurz: »ENABLE-AGE Project«, das sich die empirische Prüfung dieser konzeptuellen Trennung zur Aufgabe gemacht hat. Knapp 2.000 Senioren aus fünf europäischen Ländern (Deutschland, Schweden, Litauen, Großbritannien und Ungarn) nehmen an der Studie teil, die sich sowohl qualitativer als auch quantitativer Methoden bedient (Iwarsson et al. 2007). Zu den Ergebnissen dieser Untersuchung zählt unter anderem auch, dass die prägnante Rolle der Selbsterfahrung im Kontext wohnraumbezogener Handlungen alter Menschen herausgearbeitet werden konnte (ebd., Oswald et al. 2007a). Demnach agieren Menschen, die ihre Situation und ihre Handlungsmöglichkeiten weniger von externen Faktoren wie etwa Glück, Schicksal oder mächtigen Dritten beeinflusst sehen, sondern sich selbst als souveräne Subjekte wahrnehmen, in alltäglichen Situationen unabhängiger als jene, die sich als fremdbestimmt wahrnehmen. Die strukturellen Eigenschaften des Wohnraums, wie etwa dessen Zugänglichkeit bzw. Barrierefreiheit, ist zwar ein entscheidender Faktor für die Unabhängigkeit und Gesundheit älterer Menschen (Oswald et al. 2007b). Allerdings ist die objektive Seite des Wohnens nicht von der subjektiven zu trennen. So kommen Oswald und seine Mitautoren zu dem Ergebnis, dass »participants with a low magnitude of accessibility problems, but not those with low numbers of barriers, who perceive their homes as meaningful on a behavioral level and partially as useful to perform activities and who consider external influences as irrelevant to their current housing situation (low external control), are or perceive themselves to be more independent in daily activities, feel better in terms of environmental mastery, and suffer less from depressive symptoms.« (Ebd.: 103)
Wohnwirklichkeit, so kann man hieraus schließen, konstituiert sich über das Zusammenspiel und die Wechselwirkungen objektiver und subjektiver Faktoren. Die materielle Dimension, die pragmatische Dimension und die Bedeutungsdimension des Wohnens sind auf eine Weise miteinander ver-
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woben, die sich immer neu in einem Prozess der Auseinandersetzung und der Aushandlung ergibt. Damit ist sie gleichsam der Kerngedanke einer in der Stofflichkeit fundierten und über den Leib-Körper vermittelten MenschDing-Beziehung, die sich ja gerade durch diese Aspekte auszeichnet. Um die zuvor erwähnten Herausforderungen unserer Zeit sinnvoll meistern zu können, sind insbesondere die Erschließung der Dimension des »perceived housing« und dessen Zusammenhang mit dem »objective housing« notwendig: Oswald und seine Mitautoren (2006) schildern die Mehrdimensionalität des »perceived housing« und isolieren vier Bereiche, die diese in der synchronen Betrachtung erfassen: »Regarding our hypothesis that a four domain model is adequate for the understanding of perceived housing, exploratory and confirmatory factor analyses supported the existence of our theoretically proposed domains of perceived housing. Exploratory factor analysis revealed that the domain’s housing satisfaction, usability in the home, meaning of home, and external housing-related control beliefs are empirically distinct aspects of perceived housing, accordingly to the hypothesis.« (Ebd.: 197)
In späteren Aufsätzen stellen Oswald (2010) und die anderen an den oben genannten Studien beteiligten Gerontologen (Wahl et al. 2012) den Austauschprozess zwischen Person und Umwelt im Alter als Beziehungsgefüge des wohnbezogenen Erlebens (belonging) und Verhaltens (agency) dar. Sie erläutern, dass umweltbezogene Identität, zum Beispiel als Zugehörigkeitsempfinden zur Wohnung oder zum Wohnviertel, und Autonomieempfinden als Rahmen selbstbestimmter Handlungsmöglichkeit, den Zustand des Wohlbefindens mitbestimmen. Damit ist gezeigt, dass die subjektiv erlebte Umwelt ebenso bedeutend für ein zufriedenes Altwerden ist wie infrastrukturelle Faktoren. Die Autoren geben mit ihren Befunden die Bestrebungen, Wohnen-bleiben in der bekannten Umgebung für alte Menschen zu ermöglichen zusätzliches Gewicht. Im Alter nicht umziehen zu müssen wird als wichtiger Bestandteil eines wünschenswerten, selbstbestimmten und biographisch kontinuierlichen Alternsprozesses dargestellt. An der vertrauten Wohnumgebung festhalten zu können ist aber kein Garant für zufriedenes und gesundes Altern. Dort weiter zu wohnen kann auch isolierend wirken. Im Alter, wenn sich das gesellschaftliche Leben mit dem Austritt aus dem Berufsleben und gegebenenfalls wegen gesundheitlicher Schwierigkeiten zu beschränken beginnt, tritt
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»an die Stelle [einer] Außenorientierung gesellschaftlichen Lebens eine Innenorientierung privater Sinngebungen. Mit dieser Selbstreferentialisierung der Identitätsbildung wird der Raum der Wohnung sukzessive zu einem atmosphärischen und darin medialen Raum biographischer Retrospektiven.« (Hasse 2005: 137)
Fallstudien und quantitative Untersuchungen belegen, dass dies vor allem für das Wohnen-bleiben in der eigenen Wohnung gilt, was als die präferierte Wohnform im Alter zu bezeichnen ist (ebd.: 138f., Kleiber 2003: 9f.). Gerade dann tritt nämlich eine zunehmende Konzentration auf die Wohnung aufgrund infrastruktureller Schwierigkeiten auf. Wohnen und Leben im Heim auf der anderen Seite, wird in der Regel als nicht erwünschter letzter Ausweg gesehen, der nur dann in Frage kommt, wenn ein selbstständiges Leben in anderen, privaten oder alternativen Wohnformen nicht mehr möglich ist (Oswald/Rowles 2006). Dafür spricht auch, dass ein freiwilliger Wechsel in ein Heim die absolute Ausnahme darstellt und die gesundheitlichen Mehrfachbelastungen von Heimbewohnern in aller Regel sehr hoch sind (Schneekloth/Wahl 2009). Institutionalisiertes Wohnen bietet aber auch neue Möglichkeiten der Mobilität und Kommunikation, und sollte mehr als Lebensort denn als Endstation verstanden werden (Kruse/Wahl 1994). Des Weiteren sind Personen, die nicht sämtliche Arbeiten des täglichen Lebens selbst verrichten müssen, auch nicht ständig damit konfrontiert, was ihnen aufgrund ihres Alters nicht mehr so gut gelingen mag wie zuvor. Das Wohlbefinden und die Lebenszufriedenheit können also nach dem Auszug aus der eigenen Wohnung durchaus steigen. Der Geograph und Gerontologe Stephen M. Golant beschreibt den Umzug älterer Menschen in eine andere Wohnumgebung als eine Strategie zum Wiedererlangen von Normalität, die gleichzeitig als Bereich, in dem die jeweiligen Personen sich geborgen und selbstbestimmt fühlen können (»Comfort Zone« und »Mastery Zone«) gesehen werden muss (Golant 2011: bes. 194). Daneben existieren aber auch andere Strategien der Anpassung der Handlung und Haltung, um bei veränderten Bedingungen (z.B. physische und psychische Einschränkungen) in der gewohnten Wohnumgebung wieder Kontrolle und Komfort zu erlangen. Ein Umzug, der immer eine einschneidende Veränderung bedeutet, ist demnach nicht das erste Mittel der Wahl, wenn es darum geht, sich mit veränderten Lebenssituationen zu arrangieren.
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Das in eingespielten Situationen erfasste Leben, wie es zumeist in den Blickpunkt wissenschaftlicher Untersuchungen gerät, also in einer länger schon angeeigneten Wohnung oder nach Abschluss des Umzugsprozesses, bildet (bereits wiederhergestellte) Normalität ab. Der Akt des Umziehens im Allgemeinen, also nicht im Sinn von Migration, ist in der kulturwissenschaftlichen Forschung weitestgehend unbeachtet geblieben (Simon 2004). Auch wurden die Spuren der dabei in Bewegung gebrachten Dinge, so wie beispielsweise durch Jean-Sébastien Marcoux (2001) wenig verfolgt, obwohl zu bewegten Dingen zum Beispiel im touristischen Kontext über ihre Funktion als Souvenir hinaus bereits gearbeitet wurde (z.B. Moser/Seidl (Hg.) 2009). Das wissenschaftliche Desinteresse verwundert in diesem Fall schon sehr, denn im Zuge dieses »Alltagsphänomen[s] schlechthin« (ebd.: 20) erhalten die Dinge eine emergente Präsenz und fordern uns heraus: Bei einem Umzug ist man dazu gezwungen, sich mit jedem einzelnen Objekt, das man besitzt, auseinanderzusetzen. Dies ist allen Umzügen, ob in die erste oder in die letzte Wohnung, gemein. Freilich kann man den Inhalt einer Schublade unbesehen mitsamt dem Möbel, in das die Schublade eingebaut ist, in die neue Wohnung stellen. Doch in der Regel räumt man jede Ecke aus und jedes Möbelstück neu ein. Die Dinge werden in die Hand genommen, eingepackt, wieder ausgepackt und neu platziert. Und nicht selten steht man vor der Entscheidung, ob ein bestimmtes Objekt noch gebraucht wird, noch behalten werden soll, noch wichtig ist. Man wird bei einem Umzug an vieles erinnert, entdeckt so manches neu und nutzt die Gelegenheit, um auszusortieren. Die Gerontologen Graham D. Rowles und John F. Watkins (2003: 89) haben ein »Life Course Model of Environmental Experience« entwickelt, das Umzüge, ähnlich wie Golant, als Strategien der Anpassung an gewandelte Lebensumstände abbildet. Dabei stellen sie den Umzug in ein Altenheim, im Vergleich zu einem beruflichen Umzug oder zu einem Umzug in eine kleinere Wohnung nach dem Erreichen des Rentenalters, als besonders tiefgreifende Veränderung dar. Nach einem Umzug wird der neue Wohnraum angeeignet, indem die persönlichen Dinge entsprechend der neuen Bedürfnisse arrangiert werden. Die Autoren bezeichnen das als »making spaces into places« und weisen darauf hin, dass dieser Prozess (weiter oben von mir als »Einrichten« im Sinne einer wohnraumkonstituierenden Handlung an Dingen beschrieben) sich mit zunehmenden Alter weitestgehend unterbewusst abspielt (ebd.: 88ff.).
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Während Einrichten also ein raum- oder ortkonstituierender Akt ist, geht ein Umzug immer mit Enträumlichung einher. Der durch Dinge und Handlungen konstituierte Wohnraum wird aufgebrochen, beim Einpacken werden Dingensembles nach Wohnverhalten widerstrebenden Praktiken neu gebildet, abgeschirmt und versiegelt (etwa in Umzugskartons). Die Dinge werden aus ihrem alltäglichen Gebrauch gehoben und der Wohnung wird ihre Bewohnung entzogen. Wegen seines instabilen Charakters wird in Momenten des Umbruchs vieles grundlegend anders bewertet, weil nicht nur der Kontext sich ändert, sondern das Gefüge selbst aufbricht. An einem konkreten Beispiel, das wieder zurück zu den Dingen führt, veranschaulicht: Ein Möbelstück, das in der früheren Wohnung im Wohnzimmer stand und als Vitrine fungierte, kann durch den Umzug in einen neuen Kontext gesetzt werden, indem es im Schlafzimmer als Aufbewahrungsmöbel für Heimtextilien oder in der Küche für Geschirr genutzt wird. Im Moment des Umzugs aber ist es ein kontextloses Objekt, durch seine Abmessungen und sein Gewicht definiert, vielleicht auch in seine einzelnen Bestandteile zerlegt. Es ist instabil, fragil, mobil, gegebenenfalls in seinen räumlichen Ausdehnungen verändert, was auch seine optischen Wiedererkennungsmerkmale außer Kraft setzt; es ist aus dem Gebrauch genommen und in hohen Maße vulnerabel. Einer auseinandermontierten Vitrine droht, wenn beispielsweise Bestandteile aufgrund der Bewegung der Dinge verloren oder zu Bruch gehen, die Sinnlosigkeit. Umzüge als Momente des Wandels wirken nicht nur auf Dinge und Dingensembles destabilisierend, sondern auch auf die umziehenden Personen. Es entsteht der Bedarf nach einer teleologischen Bezogenheit, um diesen Umbruch zu begründen. Zum Beispiel: ,Ich nehme die Unannehmlichkeiten eines Wohnortwechsels auf mich, um danach eine schönere Wohnung, ein einfacheres Leben, mehr Platz, weniger zu putzen zu haben‹. Gleichzeitig ist ein Umzug zumeist nicht nur selbst eine Veränderung, sondern auch mit einer vorhergehenden Veränderung im Leben verbunden. Je älter die Umziehenden, desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass dieser Einschnitt mit einem persönlichen Schicksalsschlag oder einem irreversiblen Wandel des Gewohnten, beispielsweise mit dem Tod des Partners oder mit anhaltenden gesundheitlichen Beschwerden, zusammenfällt. Die unter solchen Bedingungen durchlaufene Suche nach der Kausalität für die neue Situation führt vor Augen, dass die letzte Phase des eigenen Lebens erreicht ist. Die Perspektive auf die eigenen Dinge verändert sich mit dieser Fest-
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stellung. Wie die im Weiteren dargelegte Untersuchung zeigt, kann damit ein Rollenwandel der eigenen Dinge einhergehen, aus dem ungeahnte Formen des Bezugs zu den Dingen und des Umgangs mit ihnen resultiert.
3. Methodik und Methodologie: Dinge in Bewegung Wann und wie kommen die Dinge als Dinge? Sie kommen nicht durch die Machenschaft des Menschen. Sie kommen aber auch nicht ohne die Wachsamkeit der Sterblichen. MARTIN HEIDEGGER 1959: 180
Objekte, das uns Entgegengeworfene, umgeben uns nirgendwo so dicht wie in unseren Wohnräumen. Und gerade dort sind die Dinge oft einfach da, sind unbedachter, selbstverständlicher Teil unserer Umwelt, die wir durch sie gestalten. Wir sind mit diesen durchschnittlich 10.000 (Hartmann/Haubl 2000: 11) Dingen verbunden und wenn wir uns bewegen, geraten auch sie in Bewegung. Statistisch gesehen geschieht dies alle acht Jahre, denn 12,1% der Haushalte ziehen jährlich um (Focus Online 2009). Bei einem Umzug werden die Dinge neu geordnet und der Platz für jeden Gegenstand neu verhandelt: Einige stellt man in der nächsten Wohnung an eine ganz ähnliche Stelle wie zuvor, manchmal bleibt nur der Ort gleich und das Objekt wird erneuert. So stehen dann vielleicht nach wie vor rechts neben dem Herd die Messer, aber in einem neuen Messerblock. Bei anderen Dingen ändert sich womöglich der Kontext: ein Regal kommt aus dem Kinderzimmer in den Keller oder wird vielleicht verschenkt und findet in einem anderen Haushalt Platz. Einige Dinge aber werden schlichtweg zu Müll. Die Trennung von diesen Dingen fällt selten schwer und so hat ein Umzug in der Regel auch etwas Befreiendes, etwas Erleichterndes. Selbst weitestgehend intakte Dinge wegzuwerfen, hat in der modernen Gesellschaft nichts
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Anstößiges mehr. Rolf Haubl verweist in diesem Zusammenhang auf das »Wegwerfprinzip« und spricht in Bezug auf Dinge von der »Angst sich zu binden« (Haubl 2000: 19). Ein Umzug ist immer auch ein Neubeginn. Wie aber gestaltet sich dieser, wenn es sich dabei um den »letzten Neubeginn« (Rohnstock 2010) handelt? Welche Strategien werden entwickelt, wenn man aus den Dingen eines ganzen Lebens aussortieren muss? Wie entscheidet man, was man mit in sein Altenheimzimmer nehmen möchte?
3.1 Ü BERLEGUNGEN
ZUR
AUSWAHL DES S AMPLES
Die Interaktion zwischen Menschen und Dingen steht im Fokus der Erforschung Materieller Kultur. Um beschreiben zu können, wie, warum und unter welchen Umständen Dinge welche Rollen zuteilwerden und wie sich unser Umgang mit ihnen konkret gestaltet, ist genaues Hinsehen erforderlich. Das bedeutet, dass nicht nur das positive Potenzial der Dinge, sondern auch deren Kehrseite zu betrachten und nach den ambivalenten Momenten der Mensch-Ding-Beziehung zu suchen ist. Beim Wegfallen einer der beiden Bezugsfaktoren der Mensch-Ding-Beziehung, der Verunmöglichung einer (bereits bestehenden) Beziehung also, ist ein solches ambivalentes Moment zu finden. Die Untersuchung dieser Bruchstelle im Gefüge als empirische Fundierung für die vorliegende Studie zu wählen, lag auf der Hand. Der Umzug alter Menschen in institutionalisierte Einrichtungen stellt eine besonders drastische Umbruchsituation dar, so die Ausgangsthese: Hier findet eine starke Verminderung des Inventars statt; eine ungewollte Trennung von etlichen Dingen ist somit notwendig. Außerdem kann davon ausgegangen werden, dass die sich in einem Haushalt befindlichen Objekte im Lauf eines ganzen Lebens zusammengekommen sind. Vielen von ihnen muss demzufolge auch eine mnemonisch besonders relevante Bedeutung zukommen (vgl. Kapitel 2.1). Zudem spielte die Überlegung eine Rolle, dass ein Altersheim als institutionalisiertes Instrument der Erfassung und Isolation des Alterns nach Michel Foucaults eine Heterotopie am Rande der Gesellschaft darstellt (Foucault 2005: 12f.). So könnte in einem quasiabgeschlossenen Raum mit eigenen Regeln beobachtet werden, welche
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Funktion Dinge bei der Erschaffung von Gegenräumen einnehmen (Ruoff 2009: 169f., 173f.). Um empirisches Material für die Analyse der Mensch-Ding-Beziehung zu gewinnen bedarf es also eines Sample, dass aus Personen besteht, die sowohl über genügend Dinge und eine ausreichend ausgeprägte Beziehung dazu verfügen als auch in einer Situation sind, in der es notwendig wird, einen neuen Wohnraum einzurichten. Basierend auf diesen Überlegungen ist bereits zu einem früheren Zeitpunkt, nämlich im Rahmen meiner Abschlussarbeit, die Idee entstanden, eine Feldstudie mit Bewohnern von Altenheimen durchzuführen. Geplant war je ein Treffen mit etwa 20 Personen deren Umzug möglichst erst kürzlich vollzogen worden war. Methodisch fiel die Wahl auf Leitfadeninterviews mit einem relativ detaillierten Fragebogen. Dieser wurde in Anlehnung an den von Csikszentmihalyi und Rochberg-Halton in ihrem Buch »Der Sinn der Dinge« (1989: 264ff.) verwendeten erstellt.1 Meine Fragen zielten weitestgehend auf die Bedeutung und den Erinnerungswert der Dinge, welche die Befragten mitgenommen hatten, ab. Für die Dokumentation stand ein Aufnahmegerät zur Verfügung. Im Prinzip folgte das Forschungsdesign den Kriterien und dem Aufbau eines »focused interview«, wie es im gleichnamigen Buch von Robert Merton, Merjiorie Fiske und Patricia Kendall (1989) besprochen wird. Ziel war es, anhand der Antworten die Übertragbarkeit gängiger Hypothesen zur Aneignung und Konstruktion des Raumes auf den Wohnbereich zu prüfen und dessen Konstitution sichtbar zu machen. Die Interviews mit den Bewohnern gestalteten sich allerdings aus unterschiedlichen Gründen als nicht durchführbar. Prinzipiell können drei Hauptursachen benannt werden, warum die Studie zum damaligen Zeitpunkt nicht weiter verfolgt wurde: Erstens war die Wahl der Einrichtung aus mehreren Gründen ein Problem. Zweitens, und damit zusammenhängend, stellte sich heraus, dass die emotionale Belastung für die Befragten sehr hoch war. Drittens war das methodische Vorgehen für das Sample nicht passend, was die Belastung zusätzlich steigen ließ.
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Daneben wurden für die Erstellung der Bögen und die Durchführung der Interviews im Besonderen folgende Bücher und Aufsätze konsultiert: Sökefeld 2008, Friedrichs 1980, Konrad 2001.
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Zu erstens: Altenheime sind zumeist Pflegeheime (Kleiber 2003: 1-11).2 Aufgrund der geistigen und körperlichen Verfassung kamen nicht viele Personen für Gespräche in Frage. Die Bewohner ziehen in der Regel nicht aktiv bzw. selbstbestimmt in die Häuser, sondern werden nach einem medizinischen Problem dorthin gebracht – oft ohne zuvor die Möglichkeit zu haben, die eigene Wohnung nochmals zu betreten. Die Entscheidung über die mitgenommenen Dinge und deren Platzierung im Wohnheimzimmer wird nur bedingt durch die Personen selbst gefällt. Ein solcher Heimeinzug ist nicht mehr als Umzug zu verstehen, sondern gleichsam als ›Verbrachtwerden‹. Fragen dazu treffen nicht selten einen (zu) wunden Punkt. Zu zweitens: Da die Situation wenig Gestaltungsspielraum für die Senioren geboten hatte, war die Emotionalität der Erinnerung an den Heimeinzug für die Informanten während der Interviews nicht zu bewältigen. Die Bewegung ihrer Dinge, über deren Verbleib sie ohnehin nicht entscheiden konnten, wurde bestimmt von dem Gefühl, losgerissen worden zu sein. Der Mangel an Orientierung im neuen Umfeld konnte (noch nicht) durch die vertrauten Dinge aufgefangen werden. Einige potenzielle Interviewpartner verweigerten die Interviews von vornherein mit der Begründung, die Fragen seien zu privat. Andere empfanden sie als dumm oder trivial, ihre Antworten darauf als selbstverständlich. Die Fragen waren also nicht nur belastend, sondern auch irritierend. Aus dem Unverständnis für den Hintergrund der Fragen entwickelte sich die Angst, ausgehorcht oder bestohlen zu werden oder ›etwas Falsches‹ zu sagen. Die Erklärungen und die Versuche, genau über das Forschungsvorhaben zu informieren, konnten das Misstrauen kaum mindern. Die Interviewpartner schienen nicht viel Verständnis für Sinn und Zweck einer wissenschaftlichen Untersuchung zu haben, die offensichtlich nicht primär darauf abzielt, ihre Lebenslage zu verbessern. Ein Ereignis war besonders prägend und letztlich ausschlaggebend für den Abbruch der Studie: Die Ehefrau eines Informanten (bei der Demenz im Anfangsstadium diagnostiziert worden war), fragte mich, ob ich »von der SS geschickt« worden sei, um etwas über ihren Mann in Erfahrung zu bringen. Derartige Erinnerungen und Ängste zu wecken, zudem bei kranken oder al-
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Aus den statistischen Daten zur »Lebenssituation der Älteren« ist ersichtlich, dass in der Mehrzahl der Heime die Bewohner mindestens die Pflegestufe 2 zugesprochen bekommen haben.
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ten Menschen, stellt eine eindeutige Überschreitung der Forscherethik dar (Spradley 1979: 34ff.). Zu drittens: Die Bereitschaft, ein aufgezeichnetes und strukturiertes Interview zu führen, war bei den ohnehin wenigen für die Erhebung in Frage kommenden Senioren nicht immer vorhanden. So kam es zwar zu gut einem Dutzend Gesprächen, aber lediglich zu vier aufgenommenen Interviews. Bei der Auswertung stellte sich heraus, dass die Fragen und die gegebenen Antworten häufig nicht miteinander zu vereinbaren waren. Das ist nicht nur auf die Fragen selbst zurückzuführen, sondern auch auf die künstliche Gesprächssituation, welche die Senioren in besonderem Maß verunsicherte. Einige der Informanten wollten beispielsweise von vornherein nicht das Aufnahmegerät auf dem Tisch zwischen sich und mir platziert wissen. Aus dem Verlauf der Gespräche musste geschlossen werden, dass das entworfene Interviewverfahren (ausführlicher Leitfaden, Aufnahmegerät) ungeeignet war. Sensibilisiert durch diese Erfahrung, sind für die hier vorliegende Studie die Kriterien für die Auswahl des Samples neu definiert worden: Nach Möglichkeit sollte der Umzug noch nicht stattgefunden haben oder zumindest noch nicht beendet sein und selbstbestimmt aus der eigenen Wohnung heraus erfolgen. Auch der geistige und körperliche Zustand der Informanten wurde zu einem Kriterium. Grundvoraussetzung war es, ein Heim zu finden, welches auch Senioren aufnimmt, die einen niedrigen Pflegebedarf haben (vgl. Kap. 3.2). Das ermöglichte es ‒ im Idealfall ‒ einer Person zu begegnen, die eigenständig die Entscheidung zum Umzug traf, das Packen und das Ausziehen weitestgehend selbst besorgte und das Auswählen und Einrichten als Akt der Verhandlung mit sich selbst und ihren Dingen vollzog. Ein solcher Informant wurde dann, den Idealfall weiter beschreibend, im gesamten Umbruchszeitraum »Auszug-Umzug-Einzug« (Simon 2004: 22) begleitet. Entsprechend wurde auch die methodische Herangehensweise gestaltet: Neben der emotionalen Belastung für die Senioren galt es zu bedenken, dass ›Wohnen‹ und die damit zusammenhängenden Dinge so alltäglich und selbstverständlich sind, dass die persönliche Bindung, wie tief sie auch sein mag, nicht mit einem für wissenschaftliche Untersuchungen unmittelbar verwendbaren Reflexionsgrad verbalisiert werden kann bzw. überhaupt wahrgenommen wird. Die Methodik der Datenerhebung musste der Tatsache Rechnung tragen, dass die bedeutendsten Dinge des Wohnalltags, von
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ihren Besitzern bzw. Benutzern immer auch, vielleicht vor allem, pragmatisch, funktional und als gegeben gesehen werden. Bei den Leitfadeninterviews zu meiner Magisterarbeit war es im Hinblick auf die Auswertung hinderlich, dass die Gespräche häufig als Anlass genommen wurden, um über die eigene Biographie (z.B. der Vertreibung aus Schlesien) zu erzählen. Das Forschungsdesign für die nun zugrunde liegende Untersuchung bot hierzu von Anfang an den Raum, indem es in der Gesprächssituation offener angelegt war und der Beobachtung mehr Gewicht verlieh. Ziel war es, einen verstehend-interpretierenden Zugang zu einem Prozess zu finden, in dem die Mensch-Ding-Beziehung zu allen Seiten hin gebeugt, strapaziert und auf die Probe gestellt wird (vgl. Kap. 3.3).
3.2 Z UGANG ZUM F ELD : S CHWIERIGKEITEN UND ANNÄHERUNG Im Fokus dieser Untersuchung stehen der Umgang mit Materieller Kultur und die Mensch-Ding-Beziehung. Sozialpolitische Entwicklungen zu diskutieren und zu bewerten, ist kein dezidiertes Ziel dieses Forschungsunterfangens. Bewegt man sich aber in einem Rahmen, in dem für unsere Gesellschaft im Allgemeinen relevante Vorgänge beobachtet werden können, stößt man (sich) zwangsläufig an Strukturierungsmechanismen sozialer Ordnung. Es dauerte eine Weile, bis mir klar wurde, dass mir dies gleich zu Beginn der Forschung widerfahren war. Anfangs war ich schlichtweg vor das Rätsel gestellt, warum der Zugang zum Feld, die Kontaktaufnahme zu den unterschiedlichen in diesem Zusammenhang relevanten Institutionen, sich bemerkenswert schwierig gestaltete. Besonders vor dem Hintergrund der viel diskutierten demographischen Entwicklung unserer Zeit konnte ich nicht nachvollziehen, warum meine Anschreiben bei den Heimen auf wenig Resonanz stießen ‒ selbst bei städtischen Einrichtungen. Im Folgenden möchte ich über die (Versuche zur) Aufnahme der Feldforschung berichten und dabei die wenigen in Expertengesprächen erhaltenen Hinweise wiedergeben, die zur Lösung dieses Rätsels beitragen können. Durch die erwähnte Erfahrung aus einem ähnlich gelagerten empirischen Feld hatte ich die Möglichkeit, das Forschungskonzept gut vorzubereiten und viele spezifische Schwierigkeiten zu antizipieren (explizit zu For-
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schungsdesign und Methoden vgl. Kapitel 3.3). Der Zugang zum Feld sollte wie bereits zuvor bewährt erfolgen: In einem ersten Schritt wurden die Heimleitungen der einschlägigen Einrichtungen, die ich bis dato im Allgemeinen als kooperativ und interessiert kennen gelernt hatte, kontaktiert. Diese wiederum sollten die Kontakte zu den zukünftigen Bewohnern vermitteln. So konnte sowohl für die Senioren und deren Angehörige als auch für das Heimpersonal eine kontrollierte Vertrauensbasis gewährleistet werden. Diese herzustellen war mir nicht zuletzt aufgrund der geschilderten Verunsicherungen und Ängste bei der abgebrochenen Studie wichtig. Daher suchte ich auch nicht nach Interviewpartnern, die ein Appartement im Bereich »Betreutes Wohnen« beziehen: hier ist die Verbindung zu Vertretern der Institutionen eher lose. Um darüber hinaus Transparenz zu gewährleisten und um etwas ›an die Hand‹ geben zu können, entwarf ich eine Broschüre, die das Forschungsvorhaben vorstellt und anbot, aus der mit der Forschung einhergehenden Photo-Dokumentation ein Erinnerungs-Album zu erstellen, das die frühere Wohnung im bewohnten Zustand zeige. Ende 2009 machte ich via Internetrecherchen mehrere Heime in sechs deutschen Großstädten aus, die laut ihrer jeweiligen Website auch Senioren ohne hohen Pflegebedarf aufnahmen. In einem solchen Fall stehen die Interessenten auf einer Warteliste. Zumeist lässt man sich bei mehreren Einrichtungen, die man als ansprechend empfindet, eintragen. Wird ein Platz frei, können die Senioren zusagen oder den Umzug auf später verschieben. Der Ablauf des Umzuges ist mit dem eines gewöhnlichen Wohnungswechsels vergleichbar. Er wird bewusst vollzogen, zu einem Zeitpunkt, zu dem – zumindest theoretisch – auch die Möglichkeit in der eigenen Wohnung zu bleiben besteht, und der noch geringe Pflegeaufwand (weiter) über mobile Pflegedienste und/oder Angehörige erbracht werden kann. Vom Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) wird das als »eingeschränkte Alltagskompetenz« (sog. Pflegestufe 0) bezeichnet (Polymed 24 GmbH: 2012). Ein Haus, das angibt, über einen Wohn- oder auch Wohnpflegebereich zu verfügen (im Gegensatz zu reinen Pflegeheimen), ist prinzipiell auch für die Nutzung durch solche Personen ausgelegt. Die Kosten für den Heimplatz müssen vollständig durch die Betroffenen selbst getragen werden; der Staat bezuschusst vollstationäre Pflege erst ab Pflegestufe 1. Ich schrieb das Führungspersonal der in Frage kommenden Heime an, stellte mich vor und erläuterte mein Vorhaben sowie die ihnen zugedachte Rolle. Im Anhang der E-Mail befanden sich die Skizze meines Forschungs-
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designs und die Broschüre, welche die ›Wohnalben‹ und mein Forschungsvorhaben vorstellte. Ich bat um ein Gespräch vor Ort oder um ein Telefonat sowie darum, die Broschüre den nächsten für Einzüge in Frage kommenden Senioren auszuhändigen. Wie deutlich geworden sein dürfte, war ich auf vieles gefasst und vorbereitet – nicht aber darauf, von Seiten der Heimleitung abgewiesen zu werden. Die ersten zehn Mails, die ich noch Ende 2009 verschickte, brachten eine einzige prinzipielle Zusage mit der Bitte um weitere Absprache im nächsten Jahr. Alle anderen Anfragen blieben unbeantwortet. Ich rief bei den jeweiligen Heimen an und konnte in den meisten Fällen die Heimleitung sprechen bzw. wurde zu einem späteren Zeitpunkt zurückgerufen. Die Gespräche verliefen stets ähnlich: man bekundete Begeisterung für mein Projekt, erklärte aber sofort, weder jetzt noch prinzipiell passende Kandidaten vermitteln zu können. Oft war auch die Rede von Zeit- und Personalmangel, dem bevorstehenden Jahreswechsel und dem damit verbundenen Aufwand. Einmal fiel der Satz »Ich hole mir doch keine Doktorandin ins Haus!«, womit das Telefonat dann auch beendet wurde. Anfang 2010 unternahm ich eine zweite Kontaktrunde: Alle Heimleitungen, die im Vorjahr auf die turbulente Zeit vor Weihnachten verwiesen hatten, wurden erneut angerufen. Zudem gingen weitere Mails an noch nicht kontaktierte Einrichtungen und an andere relevante Institutionen. Ich konnte schließlich einige Gesprächstermine in wenigen weiteren Heimen vereinbaren. Dort traf ich auf Interesse und Bereitschaft, mit mir zu sprechen, wenn auch meist nur kurz: Zumeist sagt man mir, dass tatsächlich alle Senioren, die einziehen, körperlich und geistig nicht in Frage kämen. Die Bewohner seien psychisch verändert und könnten keine verlässlichen Aussagen liefern. Andernorts hieß es, alle Plätze seien schon länger belegt und in absehbarer Zeit würde niemand einziehen. Immerhin konnte ich meine Broschüre auslegen und das Versprechen einholen, dass man sich gegebenenfalls bei mir melden würde. Die Heimleitungen äußerten sich positiv zu der Untersuchung und versicherten, mit den nächsten Einziehenden darüber zu sprechen. Allerdings wurde durch keine dieser Einrichtungen auch nur ein potenzieller Fall vermittelt. Selbst diejenigen Heimleiter, zu denen ich noch aus der Zeit der Abschlussarbeit guten Kontakt hatte und die für weitere Forschungsprojekte ihre Unterstützung zugesichert hatten, reagierten nicht- auch nicht auf Nachfrage.
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Währenddessen konkretisierte sich die Zusammenarbeit mit der Einrichtung, deren Leiterin bereits von Anfang an Interesse an meiner Forschung signalisiert hatte. Es stellte sich schnell heraus, dass die Rahmenbedingungen mit den Kriterien für das durch mich definierte Sample sehr gut korrelierten. Zudem hatte die Heimleiterin aufgrund ihres Abschlusses in Soziologie in besonderem Maß Zugang zu Ansatz und Ziel meiner Untersuchung. Sie erkundigte sich im Vorfeld genau nach meinen Methoden und las die Zusammenfassung zu meinem Vorhaben. Die Idee der Wohnalben sagte ihr ebenfalls zu. Wir telefonierten einige Male vor dem ersten Treffen und sie erläuterte mir die Struktur des von ihr geführten Heims: Es bietet hauptsächlich Appartements unterschiedlicher Größe als Wohneinheiten an. Die hier lebenden Senioren sind nicht, wie beim betreuten Wohnen, weitestgehend auf sich allein gestellt, haben aber dennoch ein hohes Maß an individueller Selbstständigkeit. Sie kümmern sich beispielsweise selber um ihre Wäsche, wenn sie das wünschen; wenn nicht, können sie den Wäscheservice in Anspruch nehmen. Die Zimmer werden gereinigt und die Mahlzeiten im gemeinsamen Speisesaal eingenommen oder auf das Zimmer gebracht. Diese sind nahezu komplett mit den eigenen Möbeln eingerichtet; in Ausnahmefällen wird seitens der Heimleitung sogar erlaubt, das eigene Bett aufzustellen. Betreuung bei der Verrichtung alltäglicher Tätigkeiten ist dem Bedarf entsprechend gesichert und es werden gemeinsame Aktivitäten angeboten. Ein nächster Aspekt neben der Überschneidung der Zielgruppe der Einrichtung mit meinem Sample war die Quote der jährlichen Einzüge. Mit ca. zehn Neuzugängen im Jahr konnte dieses Heim genügend potenzielle Informanten für die Studie bieten, was mir Unabhängigkeit von anderen Heimen, die nach wie vor auf Rückmeldung warten ließen, verschaffte. Zudem machte es die Einzelfälle besser vergleichbar, weil von ähnlichen sozialen und finanziellen Hintergründen ausgegangen werden konnte und die Senioren immerhin in baugleiche Appartements zogen. Letztlich ergab es sich, dass in einem Zeitraum von etwa eineinhalb Jahren Gespräche mit sechs von den tatsächlich zehn neu einziehenden Bewohnern dieses Heims geführt wurden (vgl. Kap. 3.3). Wie bereits angedeutet, suchte ich auch Kontakt zu anderen in diesem Kontext relevanten Institutionen, wobei ich mich nun auf das Stadtgebiet des Standorts der beforschten Einrichtung beschränkte. Darunter waren Beratungs- und Vermittlungsstellen (BuV-Stellen) für ambulante und stationä-
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re Hilfen und weitere kirchliche Einrichtungen sowie die Redaktion der lokalen Seniorenzeitschrift und das s.g. »Rathaus für Senioren«. Die BuVStellen haben die Aufgabe, Senioren hinsichtlich pflegerischer und hauswirtschaftlicher Dienstleistungen und Wohnformen im Alter zu beraten, bei Anträgen diesbezüglich zu unterstützen und Hilfen zu vermitteln. Heimplätze werden über diese Stellen nicht vergeben. Die Mitarbeitenden der Beratungs- und Vermittlungsstellen reagierten schnell auf meine Anfrage. Sie bildeten ein Team, das sich mit mir zu einem Gespräch traf. Dabei erhielt ich Einblicke in die Strukturen und Intentionen der Alterswohnpolitik und so die Möglichkeit, hinter die Kulissen der Altershilfe und Altersfürsorge zu schauen. Die von mir erhofften Experteninterviews zur Umzugspraxis der Senioren konnten mit diesem Sample nicht geführt werden, da BuV-Mitarbeitende nicht darin involviert sind. Bezüglich der anderen Stellen, über die ich versucht habe, Zugang zu umziehenden Senioren zu finden oder meine Untersuchung publik zu machen, ist wenig zu berichten. Das »Rathaus für Senioren« hat, trotz hartnäckiger Kontaktierungsversuche von meiner Seite, nicht reagiert, die Seniorenzeitschrift hat mit den Worten »[…] leider können wir nicht über Ihr Projekt in unserer Zeitschrift berichten. Vielen Dank für die Anfragen und Ihnen alles Gute.« abgesagt und sich auf meine Frage nach dem Grund der Absage nicht mehr gemeldet. Wie ich feststellen musste, scheint keine Reaktion zu zeigen die probateste Möglichkeit, eine offensichtlich nicht erwünschte Thematik, die ich durch meine Forschung berühre, zu meiden. Ironischer Weise ist erst durch das Ausbleiben der Reaktionen die Problematik für mich zu Tage getreten und der Versuch, die Schwierigkeiten beim Zugang zum Feld zu erklären, hat schließlich eine prekäre Situation sichtbar gemacht: Im Zuge meiner Versuche, Interviewpartner für Expertengespräche zu finden, traf ich auf eine in diesem Kontext einschlägige Person, die harsche Kritik an der Wohnpolitik für Senioren übte. Der Informant, der bereits über valide Kenntnisse bezüglich Seniorenwohnpolitik und Heimplatzvergabepraxis verfügte, lieferte zugleich eine Erklärung dafür, dass kaum ein Heim auf meine Anfrage reagiert hatte. Laut seiner Einschätzung sei das von mir angefragte Sample entweder tatsächlich nicht in den Heimen anzutreffen, weil diese Personen in häuslicher Pflege versorgt würden, bis sie eine hohe Pflegestufe zugesprochen bekämen. Oder die Leitungen der Heime seien nicht interessiert gewesen, öffentlich zu machen, dass sie Menschen mit niedriger
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Pflegestufe aufnehmen. Dies sei nämlich in der heutigen Alterswohnpolitik nicht erwünscht. Die Bestrebungen und Bemühungen, ein Altwerden in den eigenen vier Wänden zu ermöglichen, die stets als soziale Errungenschaft präsentiert würden, seien nicht nur positiv zu bewerten. Aus Sicht des Informanten habe der Staat dabei vornehmlich finanzielle Interessen. Die faktischen Erläuterungen, mit denen er seine Haltung begründete, sind im Folgenden dargelegt. Die angegebenen Zahlen wurden von mir nachgeprüft und haben sich als richtig erwiesen. Die damit zusammenhängenden Überlegungen sind nachvollziehbar und geben eine mögliche Erklärung für die geringe Beteiligung an der vorliegenden Untersuchung. Beim Ausbau einer Wohnung, die gewährleistet, dass sie auch mit »eingeschränkter Alltagskompetenz« genutzt werden kann, sind die Kosten auf staatlicher Seite vergleichsweise gering: Im günstigsten Fall reicht die Beratung bei der Wahl einer bereits bestehenden geeigneten Wohnung nach dem Austritt aus dem Berufsleben. Selbst wenn mobile Pflegedienste eingesetzt werden müssen, um die Grundpflege zu gewährleisten, wird noch ein relativ niedriger Betrag ausbezahlt: für eine Person, der Pflegestufe 1 zugesprochen wurde, die also »erheblich pflegebedürftig« ist, wird aktuell durch die Pflegekasse bei einer Pflege Zuhause langfristig ein Betrag zwischen 235,- und 450,- Euro monatlich gewährt. Damit sollen die Kosten für den gegebenenfalls engagierten mobilen Pflegedienst, der sich etwa 90 Minuten täglich zu einem Hausbesuch einfindet, zumindest teilweise gedeckt werden. Darüber hinaus anfallende Betreuung muss durch Angehörige und Freunde abgedeckt werden. Einen Heimplatz zu bezuschussen ist hingegen deutlich teurer. Erhält eine Person mit Pflegestufe 1 einen Platz in einer Einrichtung mit vollstationärer Pflege, hat sie Anspruch auf 1.023,- Euro monatlich. Den Rest der Kosten, das wären beispielsweise in dem von mir untersuchten Heim 1.422,59 Euro in Monaten, die 31 Tage haben, werden durch die Person selber getragen. Reichen die Rente und das Ersparte dafür nicht aus, kommt der Staat für die Differenz auf. Bietet man also allen die sich dafür entscheiden die Möglichkeit, in einem Heim zu wohnen, ist der finanzielle Aufwand für den Steuerzahler immens – die Rechnung macht die Problematik deutlich. Laut des zitierten Informanten bestehe für die Heimleitung ein starker (auch finanzieller) Druck (»man hat die Pistole auf der Brust«), keine Plätze an Senioren, die »nur« Pflegestufe 0 oder 1 zugesprochen bekommen, zu
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vergeben. Der Staat würde alles daran setzen, dass die geforderten Leistungen von den Einrichtungen möglichst ökonomisch erbracht werden. Beherbergen Heime mehr Bewohner mit hoher Pflegestufe, erhalten sie auch mehr Geld und können entsprechend mehr Personal finanzieren. Der Betreuungsaufwand der Bewohner ist dann zwar höher, dennoch sind die Heime so flexibler, beispielsweise bei Ausfällen durch Krankheit oder Urlaub. Die Situation wurde als »katastrophal« bezeichnet. Die angestrebte Entwicklung hin zum ›Wohnen bleiben‹ und die Versuche, alternative Wohnformen im Alter zu etablieren, wurden hinsichtlich der dahinter stehenden Beweggründe scharf beanstandet. Bezüglich des mageren Feedbacks zu meinen Anfragen sprach der Informant von »einem wunden Punkt«, den offen zu legen keiner bereit wäre. Bei einem Gespräch mit der Leiterin des später beforschten Heims berichtete ich von dem gerade geschilderten Gespräch. Ihre Aussagen dazu sind durchaus als Bestätigung für die Einschätzung des zitierten Informanten zu werten (vgl. Kap. 3.3).
3.3 F ORSCHUNGSDESIGN UND F ELDREALITÄT : M ETHODOLOGIE UND V ORGEHEN BEI DEN G ESPRÄCHEN UND DER AUSWERTUNG 3.3.1 Forschungsdesign Das Basiskonzept des Forschungsdesigns ist unter Berücksichtigung der in den Abschnitten 3.1 und 3.2 dargelegten Charakteristika des Feldes und mit dem Anspruch, möglichst flexibel zu sein, entstanden. Hohe Anpassungsfähigkeit ist nötig, wenn, wie in diesem Fall, mit sich verändernden Methoden auf die unterschiedlichen Situationen in der sich über einen langen Untersuchungszeitraum erstreckende Forschungsphase reagiert werden muss. Ausgehend von der Annahme, dass ein Umzug grundsätzlich in drei Phasen gegliedert werden kann (Simon 2004: 22), wurde ein Ablaufplan erstellt, der ein Gespräch/Treffen mit den Senioren in jedem dieser drei Stadien vorsieht. Die Methode der Datenerhebung orientiert sich an der jeweiligen Etappe. Die nachstehende Tabelle soll einen systematischen Überblick über das Forschungsdesign geben.
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Tabelle 1: Forschungsdesign. Schritte/Aufgaben
Abschnitt
Methoden/ Dokumentationsform
Kontaktaufnahme über die Heimleitung Telefonat/Vorgespräch über Ablauf, Wohnalbum, Terminabsprache
Vorbereitung Protokoll
Phase 1) vor dem Auszug: Interview in der noch eingerichteten Wohnung, Photos für das Album Phase 2) Umzug: Umzugsbegleitung
Interviewformen: narrativ, themenzentriert, interaktiv (Rundgang) Datenerhebung
Phase 3) nach dem Einzug: Interview im fertig eingerichteten Wohnheimzimmer, Übergabe des Albums (nach Möglichkeit gemeinsam ansehen)
Interviewformen: narrativ, themenzentriert, interaktiv (Album)
Rahmen geben/Kontext darlegen Einbettung Wichtige Aussagen/Beobachtungen sofort aufschreiben Chronologischen Ablauf des Gesprächs /der Beobachtung wiedergeben Wiederholtes Durchlesen, Zusammenfassen, Codieren, Aufsuchen der Parallelen, Bedeutungsebene aufzeigen
teilnehmende Beobachtung
Experteninterviews/ teilnehmende Beobachtung Notizen vor Ort, Photos, Protokolle
Bearbeitung/ Transkription/ Forschungstagebuch Auswertung hermeneutische Interpretation
Da, wie die Soziologin Ivonne Küsters beschreibt, ein narratives Interview eine gewisse Gefahr birgt, starke Gefühlsausbrüche hervorzurufen (Küsters 2006: 68), wurde, nicht zuletzt als Reaktion auf die zuvor geschilderten Erfahrungen, nach einem anderen, angemessenen Verfahren gesucht. Judith Schlehe (2008) bespricht mehrere Formen unstrukturierter Interviews und nennt dabei neben den narrativen Interviews nach Schütze, bei denen der Forscher möglichst gar nicht in Aktion treten soll, die themenzentrierten Interviews (Schlehe 2008: 125f.). Im Grunde gleichen sie dem problemzentrierten Interviewverfahren (PCI) nach Andreas Witzel (Witzel 1982, Witzel/Reiter 2012). Schlehe bevorzugt die Bezeichnung themenzentriertes Interview, da es »darum geht, auf einen thematischen Fokus (der nicht unbe-
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dingt ein Problem darstellen muss) zu verweisen« (Schlehe 2008: 126). Diese Ausführung halte ich für überzeugend und übernehme Schlehes Vorschlag: Im Folgenden spreche ich von PCI, wenn es um die Klärung der methodischen Charakteristika nach Andreas Witzel (Witzel 1982, Witzel/Reiter 2012) geht, vom themenzentrierten Interview, wenn ich meine eigene Methodik bezeichne. Sowohl das themenzentrierte Interview als auch das PCI ist als dynamischer Prozess zu verstehen, der durch den Forscher auf einen thematischen Fokus hin geführt wird. Hauptmerkmale sind der rege und aktive Austausch zwischen Interviewendem und Interviewtem sowie die Transparenz der Forschungsfragen. Ein Leitfaden dient als »Orientierungsrahmen bzw. Gedächtnisstütze für den Interviewer [und] der Unterstützung und Ausdifferenzierung von Erzählsequenzen« (Witzel 1982: 90). Diese Interviewform ermöglicht, im Gegensatz zu einem narrativen Interview, auch ein zu starkes Abschweifen von Forschungsanliegen zu verhindern (Mey 2000: 11). In dem hier vorgestellten Zusammenhang ist ein solches Instrument sehr wichtig, zumal sich das Interesse nicht auf die gesamte Lebensgeschichte der interviewten Senioren richtet, dieser aber auch Raum gegeben werden soll. In seinen Ausführungen zum Leitfaden des PCI beschreibt Witzel eine für den Forscher problematische Situation, die zu einer Fehlerquelle werden kann: »Das bedeutet, dass der Forscher/Interviewer auf der einen Seite den vom Befragten selbst entwickelten Erzählstrang und dessen immanente Nachfragemöglichkeiten verfolgen muß und andererseits gleichzeitig Entscheidungen darüber zu treffen hat, an welcher Stelle des Interviewablauf er zur Ausdifferenzierung der Thematik sein problemorientiertes Interesse in Form von exmanenten Fragen einbringen soll.« (Witzel 1982: 90)
Um diese Problematik abzuschwächen, wurden für die beiden Gespräche vor und nach dem eigentlichen Umzug je fünf Orientierungsfragen zusammengestellt, die es gegebenenfalls erlauben, zum Thema zurückzuführen. Sie sollen die Interviews auf den Untersuchungsgegenstand fokussieren und über die Strukturierung leichter vergleichbar machen.
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Orientierungsfragen für das themenzentrierte Interview in der noch eingerichteten Wohnung: • Wo sind die Sachen, die Sie mitnehmen wollen? • Wer hilft Ihnen beim Sortieren? • Was soll mit den anderen Dingen geschehen? • Was wird Ihnen fehlen? • Beim Rundgang: Wo/wann/warum haben Sie _____ gekauft? Orientierungsfragen für das themenzentrierte Interview im fertig eingerichteten Wohnheimzimmer: • Was haben Sie doch (nicht) mitgenommen? • Haben Sie etwas neu entdeckt? • Was sehen Sie sich oft an? • Was fehlt Ihnen? • Beim Ansehen des Albums: Was ist mit _____ geschehen? Günter Mey gelangt aufgrund eines Vergleichs der Interviewformen von Witzel und Schütze zu dem Schluss, dass das Gespräch nicht einem starren Frage-Antwort-Schema folgen darf (Mey 2000): Witzel fordert, dass der Leitfaden beim PCI in den Hintergrund zu treten hat und der sich entwickelnde Gesprächsfaden verfolgt werden muss. Aber nicht nur er betont die Notwendigkeit, einen ehrlichen Austausch und ein Gespräch auf Augenhöhe zu führen, das dem Interviewten die Sicherheit gibt, durch seine Bereitschaft, sich zu öffnen, nicht in einer einseitigen, ihn benachteiligenden Situation gefangen zu sein. In dem bereits 1979 durch James Spradley veröffentlichten und inzwischen zum Standardwerk gewordenen Buch »The Ethnographic Interview« findet sich auch ein längerer Abschnitt zu den ethischen Prinzipien einer Feldforschung. Die sechs Forderungen sind an die 1971 von der American Anthropological Association herausgegebenen »Principles of Professional Responsibility« angelehnt. Spradley fordert unter anderem dazu auf, zuerst an den Informanten zu denken und dessen Privatsphäre zu schützen, sowie die Ziele der Untersuchung zu (er-)klären und bei Bedarf erneut zu definieren (Spradley 1979: 34ff.). In dem genannten Buch ist auch eine ausführliche Darlegung des Aufbaus eines ethnographischen Interviews nachzulesen (ebd.: 55ff.). Die Vielzahl der darin eingebetteten Fragetypen wird Schritt für Schritt erläutert und deren Nützlichkeit für die jeweils sinnvollen Anwendungsbereiche demonstriert. Diese Darlegun-
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gen berücksichtigend, habe ich den oben vorgestellten Orientierungsfragen Spradleys Grundsatz »Don’t ask for meanings, ask for use« (ebd.: 81) zugrunde gelegt. So wird beispielsweise in der jeweils fünften Frage das Konzept der »Guided Grand Tour Questions« bzw. »Talk-Related Grand Tour Questions« (ebd.: 87f.) aufgegriffen. Die Erhebung mit der Zielgruppe der umziehenden Senioren sollte dann durch Experteninterviews angereichert und gegebenenfalls damit kontrastiert werden. Hierfür schien die Vorgehensweise, wie sie Michael Meuser und Ulrike Nagel für das offene Experteninterview vorschlagen (Meuser/Nagel 1991), adäquat. Doch im Lauf der hier vorgestellten Forschung kam es, wie bereits im vorherigen Kapitel beschrieben, zu weitaus weniger Experteninterviews als erwartet. Teils, weil sich mir die ›Experten‹, wie zum Beispiel die jeweilige Heimleitung, entzogen und teils, weil sich herausstellte, dass die von mir als potenzielle Informanten ausgemachten Personen über ein anderes Expertenwissen verfügten als ich es angenommen hatte (die Mitarbeiter karitativer Einrichtungen). Daher waren es gänzlich andere Fragen, die ich vor Ort stellte und gänzlich andere Einblicke, die ich dadurch erhielt. Der Diskussionsbedarf um eine dem Sample angepasste Methodenoptimierung gewann erst mit der Zeit an Bedeutung (vgl. dieses Kap., Schritt 2,b). Zunächst ging ich bei der Erhebung mit den Senioren nach der soeben beschriebenen Triangulation vor: klassische teilnehmende Beobachtung, »Guided Tours« und ‒ die zentrale Methode ‒ das Zusammenspiel von narrativem und themenzentriertem Interview mit knappem Leitfaden. Für die teilnehmende Beobachtung folgte ich den Empfehlungen, die in der Vielzahl der Einführungswerke der (europäischen) Ethnologie zu finden sind (z.B.: Kohl 2000, Schmidt-Lauber 2007, Hauser-Schäublin 2008). Im Laufe der Forschung entstand, wie wir sehen werden, durchaus der Bedarf, sowohl Interviewverfahren als auch die teilnehmende Beobachtung in ihrer ›klassischen Form‹ zur Diskussion zu stellen, wie im Folgenden berichtet werden soll. Ganz zu schweigen davon, dass ich bald beginnen sollte, von Gesprächen und Senioren, und nicht mehr von Interviews und Informanten zu sprechen. Letztlich haben die im Feld angetroffenen Personen und die Eigenlogik des Umfeldes starken Einfluss darauf, inwieweit das BasisKonzept verfolgt werden kann und wo es angepasst werden muss. Ein flexibles Forschungsdesign muss als Reaktion auf das zu erschließende Feld immer wieder neu verhandelt werden können.
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3.3.2 Feldrealität Wie der Abstimmungsprozess der Methode auf das Sample ins Rollen kam und vorangetrieben wurde, ist der Hintergrund, vor dem die im nächsten Kapitel nachzulesenden Einzelberichte über den Umzug ins Heim zu sehen sind. Diese Genese der hier vorgestellten Feldforschung spielt für den Verlauf der Gespräche eine große Rolle und wird daher auch im Zuge derer Beschreibung immer wieder thematisiert werden. Gleichzeitig ist sie aber auch für meine Perspektive auf das Feld und vor allem für die Aussagekraft der über 800 Photos, zwei Notizblöcke und über 120 getippte Seiten umfassenden Felddokumentation von Bedeutung. Im Folgenden werde ich daher das beschreiben, was ich als ›Feldrealität‹ bezeichnen möchte, und damit aufzeigen, wie und wo im Forschungsdesign auf die äußeren Bedingungen reagiert wurde. Dazu werde ich in einem ersten Schritt die Einrichtung vorstellen, die innerhalb von ca. 18 Monaten das neue Zuhause der zehn Senioren werden sollte, mit denen ich Kontakt aufnahm. Sie alle waren, zumindest grundsätzlich oder anfänglich, bereit, Teil der Forschung zu werden. Auch dazu im Folgenden mehr. In einem zweiten Schritt sollen anschließend der tatsächliche Verlauf der Forschung (a) sowie der Abstimmungsprozess der Methoden bei der Datenerhebung (b) und beim Auswertungsverfahren (c) dargelegt werden. Schritt 1: Die Einrichtung und die Umziehenden Das Heim, in das alle von mir begleiteten Senioren 3 gezogen sind, liegt zentrumsnah in einer deutschen Großstadt. Bei unserem ersten Treffen führte mich die Heimleiterin durch das Haus und ich erhielt die Möglichkeit, mir ein Bild von der Einrichtung zu machen sowie die Pflegedienstleiterin und die Leiterin des hauswirtschaftlichen Bereiches zu sprechen. Im Zuge dieser ersten Begehung fragte ich die Heimleiterin auch nach ihrer Einschätzung bezüglich der vielen impliziten Absagen der anderen Heime. Laut ihrer Aussage stellt die Einrichtung, der sie vorsteht, tatsächlich eine inzwischen seltene Ausnahme dar: Im Besonderen durch ihre Ausrichtung auf »rüstige Senioren«, aber auch durch die Pflegestation, die es ermöglicht, bei einer Verschlechterung des Zustands im selben Haus wohnen zu
3
Die im Folgenden verwendeten Namen sind Pseudonyme um die Anonymität der befragten Personen zu gewährleisten.
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bleiben. Seitens des Staates bestünde tatsächlich grundsätzlich wenig Interesse, ein solches Modell der Altenpflege bzw. des Wohnens im Alter zu propagieren, und es bedürfe stetiger Anstrengungen (»darum kämpfe ich auch«), das Haus weiterhin betreiben zu können. Andere Häuser in der Stadt hätten, das wisse sie sicher, auch gelegentlich Bewohner, denen Pflegestufe 1 oder, seltener, 0 zugesprochen wurde. Dass ich keine weitere Resonanz erhalten hatte, führte sie auf den geringen Anteil dieser Bewohner andernorts zurück. Eine solche Einrichtung wie ihre sei in der ganzen Region einmalig. Das Haus bietet, auf sechs von sieben Geschossen, Appartements unterschiedlicher Größen als Wohneinheiten an. In der Regel sind es etwa 25m² große Wohneinheiten mit einem Flur, einem Bad, einem Zimmer und einem großzügigen Balkon. Die Zimmer werden nahezu leer vermietet, lediglich das Bett, das erhöht werden kann, um das Hinlegen und Aufstehen zu erleichtern, wird vom Heim gestellt; ein dreitüriger Schrank ist fest eingebaut. Insgesamt ist im Haus Platz für 83 Senioren, denen Pflegestufe 0 oder 1 zugesprochen wurde. Dies deckt genau den Personenkreis ab, den zu kontaktieren ich angestrebt hatte. Auch Personen mit »erheblichem Pflegebedarf« (Pflegestufe 1) können oft weitestgehend selbstständig wohnen, gerade weil sie in einer Einrichtung keinen eigenen Haushalt mehr besorgen müssen. Das erste Obergeschoss ist als Pflegestation (Pflegestufe 2 und 3) ausgebaut. In Zweibettzimmern leben hier hauptsächlich Senioren, die zuvor im Wohnbereich ein Appartement hatten und inzwischen einen höheren Pflegeaufwand benötigen – viele aufgrund einer Demenzerkrankung. Das Prozedere sieht vor, dass zukünftige Bewohner (ggf. mit ihren Angehörigen) zu einem Gespräch mit der gesamten Heimleitung in die Einrichtung kommen, um Formalia und weitere Details zu besprechen, wenn ein Appartement im Wohnbereich frei wird. Im Zuge dieser Gespräche wurde ab Anfang des Jahres 2010 stets mein Projekt erwähnt und die Broschüre zu den Wohnalben ausgehändigt. Darüber hinaus sicherte die Heimleiterin mir zu, sich aktiv für das Zustandekommen von Interviews einzusetzen. Sie ging dazu den Weg über die Angehörigen, wenn diese greifbar waren. Wenn nicht, sprach sie die Senioren direkt an und war beim meinem ersten Treffen mit diesen zugegen, um mich vorzustellen. Gleich nach unseren organisatorischen Absprachen machte sie mich mit der »ersten Kandidatin«, wie sie es ausdrückte, bekannt (vgl. Kap. 4.3.1, Frau Berger).
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In der Folge konnte ich sechs der zehn Personen, die von Dezember 2009 bis März 2011 ein Zimmer zugesprochen bekommen haben, beim Umzugsprozess begleiten. Dabei ist es weder immer gelungen, alle drei Phasen zu erfassen, noch das Konzept des Wohnalbums für die Forschung und Datenerhebung nutzbar zu machen. Zu erstgenanntem Aspekt finden sich weiter unten zwei Tabellen, die den tatsächlichen Ablauf der empirischen Arbeit wiedergeben. Bezüglich des Angebots, ein Wohnalbum zu erstellen, muss festgehalten werden, dass dieses bei den Senioren nicht auf Resonanz gestoßen sind. Keiner der Senioren zeigte Interesse daran, ein solches Erinnerungsstück des vorherigen Lebensmittelpunkts erstellt zu bekommen. In einem einzigen Fall bestand seitens der Kinder Interesse an der Photodokumentation, was aber nicht dem Wunsch ihres Vaters entsprach (vgl. Kap. 4.1.2). Die Antworten auf die für mich spannende Frage nach dem Hintergrund des Desinteresses waren, zumeist begleitet von einem Achselzucken: »Was soll ich denn damit?«, »Wozu denn? Ich kenn die Sachen ja!«, »Nein, das brauche ich nicht!« und »Das will ich nicht!«. Ein gewisses Unverständnis dem Angebot gegenüber schwang stets mit. Durch das Telefonat mit der Tochter einer Informantin (Frau Heinrich, Tochter von Frau Lindner), die sich selbst bereits im dritten Lebensabschnitt befindet, bot sich mir ein Erklärungsansatz sowohl für die Ablehnung der Alben als auch bezüglich der Schwierigkeiten, alle Umzugsphasen zu begleiten. Frau Heinrich schien sich im Vorfeld genau über meine Absichten bei der Heimleiterin informiert zu haben. Sie zeigte sich sehr interessiert an meiner Untersuchung, machte aber deutlich, dass sie und ihre Mutter nur partiell dafür zur Verfügung stünden: Sie wolle weder, dass ich beim letzten Aufenthalt ihrer Mutter in der früheren Wohnung anwesend bin, noch bei deren Räumung, denn mein Anliegen würde den für beide Damen ohnehin emotional schwierigen und schmerzhaften Prozess nur noch unangenehmer gestalten. Warum-Fragen, die immer dazu führten, dass man sich für etwas rechtfertigen müsse, seien da unerwünscht. Auch hatte sie die Broschüre zum Wohnalbum gelesen, denn sie bezeichnete die Idee als »lieb gemeinten und schönen Gedanken«, erläuterte aber, dass ihrer Meinung nach »so etwas« vielleicht aus der Sicht »junger Menschen« sinnvoll erscheint. Diese können sich aber nicht vorstellen, »wie wenig alte Leute damit [dem Album] anfangen können«. Im Gegenteil, sie sei überzeugt, dass ein solches Photoalbum im Fall ihrer Mutter nichts Gutes bewirken würde. Für diese sei es wesentlich, die Möglichkeit zu erhalten, in
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Ruhe die Trennung von ihren Dingen und der Wohnung, deren Verlust, zu verschmerzen. Ein derartiges Erinnerungsmedium würde sie zu sehr aufwühlen. Gern könne ich aber Frau Lindner wieder im Heim aufsuchen, das Gespräch mit mir scheine ihr gut getan zu haben. Wie bereits erwähnt, ist für die empirische Forschung die Zusammenarbeit mit vier Bewohnern, die im besagten Zeitraum ihre eigene Wohnung aufgegeben haben, nicht zustande gekommen. In Fall von Frau Braumüller war deren gesundheitliche Situation der Grund. Ihr Betreuer (Frau Braumüller hatte keine Angehörigen) und die Seniorin waren zur Zusammenarbeit bereit, ich telefonierte mehrfach mit beiden. Letztlich entschied aber ihr Betreuer, dass es eine zu große Belastung für die Dame sei, die Forschung mitzumachen. Bei dem Telefonat mit Frau Braumüller konnte ich mir ein grobes Bild von ihrem Zustand machen: sie wirkte offen und freundlich, gefasst bezüglich des Umzugs und ich hatte den Eindruck, sie versteht mein Anliegen. Gleichzeitig bemerkte ich aber auch, dass sie starke Gedächtnisprobleme hatte, und es war abzusehen, dass ich mich bei jedem Gespräch aus Neue hätte vorstellen müssen. Auch bat sie mich am Telefon um die aktive Hilfe bei der Suche nach einem bestimmten Gegenstand, was ich als eindeutiges Zeichen der Desorientierung wertete. In einem zweiten Fall, bei Frau Merz, war mein eigener Zustand ausschlaggebend dafür, dass ich die Forschung nicht durchführen konnte. Als sie die Platzzusage für das Heim erhielt, war ich hochschwanger. Ihr Einzugstermin und der Geburtstermin lagen zu nah beieinander und es war mir daher nicht möglich, den Umzug zu dokumentieren. Bereits einige Monate zuvor stand der Umzug von Herrn Wengert an. Er und seine Tochter hatten sich gegenüber der Heimleiterin einverstanden erklärt, seinen Umzug durch mich begleiten zu lassen. Ich konnte seine Tochter telefonisch längere Zeit nicht erreichen und entschied mich daraufhin, Herrn Wengert selbst anzurufen, da die Zeit knapp wurde. Dieser wies mich aber vehement ab. Er beendet das sehr kurze Gespräch mit den Worten: »Nein, ich brauch jetzt niemanden, der hier noch rumläuft. Danke, kein Bedarf! Auf Wiederhören.« Die Tochter von Herrn Wengert zeigte sich sehr verwundert über das Verhalten ihres Vaters, als ich ihr einige Wochen später davon erzählte. Dieses bestätigt aber zum einem mein Vorgehen, den ersten Kontakt über eine Vertrauensperson vermitteln und begleiten zu lassen. Zum anderen spiegelt sich auch Frau Heinrichs weiter oben wiedergegebene Einschätzung in dieser doch sehr harschen Abweisung wider.
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Besonders bemerkenswert war der Grund, warum ich das Ehepaar Graf nicht in die Untersuchung aufnehmen konnte. Die beiden Senioren fanden sich im März 2011 zu dem Vorbereitungsgespräch mit der Heimleiterin ein, der Vertrag war bereits unterschrieben. Ich durfte bei diesem Termin anwesend sein und machte mir etliche Notizen: es wurde darüber gesprochen, wo ein besonderes Möbelstück, an welchem dem Paar viel gelegen war, im Heim untergebracht werden könne, und darüber, wie die beiden ihren Essgewohnheiten in der neuen Umgebung weiter nachgehen könnten. Sie erzählten über ihren Garten, den Frau Graf stets gern gepflegt habe, und davon, dass der Kühlschrank nun kaputt gegangen sei, was sie scherzhaft als Zeichen für den bevorstehenden Umzug ansahen. Frau Graf sagte, im Heim zu wohnen sei nichts Neues für sie beide, letztlich sei es wie damals im Studentenwohnheim. Sie lächelte, fügte hinzu: »Nur, dass das Leben damals gerade begann« und griff nach der Hand ihres Mannes. Ich vereinbarte mit den beiden nach einem langen Gespräch, sie am nächsten Tag anzurufen, um einen Termin auszumachen, an dem ich sie in ihrem Haus aufsuchen könne. Doch am nächsten Tag erreichte ich niemanden, so auch in den darauf folgenden. Es war keine Woche vergangen, als die Heimleiterin mich anrief, um mir zu sagen, dass die beiden entschieden hatten, den Platz wieder aufzugeben. Sie fragte, ob ich wisse, warum sie es sich anders überlegt hatten, sie könne sich keinen Reim darauf machen. Doch da ich keinen weiteren Kontakt mehr zu dem Ehepaar gehabt hatte und es mir auch danach nicht gelang, sie zu erreichen, konnte ich die Motive nicht in Erfahrung bringen. Das Ehepaar bezahlte einen Monat für das Zimmer, wie es im Vertrag festgelegt war, und äußerte sich nicht zu seinen Beweggründen. Schritt 2, a): der Verlauf der Forschung Die Feldforschung wurde im Januar 2010 aufgenommen. Überraschungen und unerwartete Wendungen waren auch bei den Bewohnern, die Teil der Untersuchung wurden und im folgenden Kapitel ausführliche Beachtung finden (vgl. Kap. 4), zu vermerken. Es sollte sich schnell herausstellen, dass die drei Phasen eines Umzugs sehr dehnbar sind und die Wohnsituation der Senioren nicht immer ganz eindeutig ist. Die Senioren, die im Begriff waren, ihr Domizil in das Altenheim zu verlegen, hatten alle unterschiedliche Strategien, diesen Prozess zu organisieren. Manche lebten zum Zeitpunkt des ersten Gesprächs noch in ihren Wohnungen, andere bereits (proviso-
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risch) im Heim, obwohl ihre Eigentumswohnung bzw. ihr Haus noch in ihrem Besitz war. Je nach persönlicher Situation dauerte es vom Erhalt des Heimzimmers (zum Teil über die Zwischenlösung Gästeappartement) bis zum endgültigen Abschluss des Umzugs wenige Wochen bis mehrere Monate. Mit Herrn Richter beispielsweise konnte ich auch nach der fast eineinhalb Jahre dauernden Datenerhebung nicht das Abschlussgespräch führen. In einem anderen Fall, nämlich bei Frau Schwarz, ist eine für die hier vorgestellte Einrichtung unübliche Einzugssituation aufgetreten. Die Dame wurde im Zuge eines akuten gesundheitlichen Problems ins Krankenhaus eingewiesen und kam dann auf die Pflegestation des Heims. Dort erholte sie sich so gut, dass es möglich war, ihr ein Zimmer im Wohnbereich zu überlassen. Ihre Wohnung wurde in der Zwischenzeit durch ihre Angehörigen aufgelöst (vgl. Kap. 4.2.2). Die folgenden Tabellen geben eine Übersicht über den Ablauf der Gespräche. Das vorgestellte Forschungsdesign bewies sich im Großen und Ganzen als sinnvolles Gerüst. Allerdings sollte es zunehmend auf die Probe gestellt werden, so dass sein Orientierung gebender Charakter sich immer deutlicher zeigte. So bewegten sich die Interviews immer mehr hin zu einer unstrukturierten Datenerhebung, für deren Aufzeichnung die Photokamera eine stets größer werdende Rolle zu spielen begann. Man kann also, wenn man so will, von einer ›Aufweichung der Methoden‹ im Verlauf der empirischen Forschung sprechen. Dies darf aber keineswegs als negative Entwicklung gesehen werden, sondern ist vielmehr eine Reaktion auf die Spezifika einer Forschung, die nach dem Selbstverständlichen fragt, um daraus auf das Bedeutende zu schließen. Dem oben vorgestellten Forschungsdesign folgend war geplant, von einem narrativen Interview bei Bedarf zu einem themenzentrierten Interview überzugehen und letztlich auch einen (fiktiven) Rundgang (hier als interaktives Interview bezeichnet) durch die Wohnung zu machen, um einzelne Objekte genauer betrachten zu können. In der Praxis zeigte sich, dass narrative Interviews nicht nur in besonderem Maß für biographisches Erzählen geeignet sind (Küsters 2006: 30f.), sondern dieses auch fördern. Zuweilen war es schwer, die Balance zu finden zwischen langen Berichten über das eigene Leben, die aber meine Fragen nach den Dingen wenig berührten, und gar keiner Konversation. Um auf die eigenen Dinge zurückzukommen, wurde das interaktive Interview, die Methode der »Guided Tour«, wichtiger als zunächst angenommen.
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Tabelle 2: Chronologie der empirischen Forschung.4 Sonstiges Experten Fr. Lindner Fr. Schw. Fr. Berger H. Richter Fr. Kaiser H. Seiler
Datum Okt. 2009 - Feb. 2010 Jan. 2010
X Zugang zum Feld X X X
Feb. 2010
X X
März 2010
X X X X X X X X X X X X X
April 2010 Juni 2010
X X X X X X
Sept. 2010
X X
Okt. 2010 März 2011 April 2011
4
Beschreibung
X X X X X X
Heimleitung und Hauswirtschaftsleitung Erstes Gespräch Zweites Gespräch Erstes Gespräch Besuch der halb geräumten Wohnung von Herrn Seiler mit dessen Sohn Heimleiterin Zweites Gespräch Erstes Gespräch Kontaktaufnahme: Telefonat mit Tochter Kontaktaufnahme: Tel. mit Schwiegertochter Teilnehmende Beobachtung im Heim, u.a. »Würde im Alter«-Abend Drittes Treffen Erstes Gespräch Erstes Gespräch Erstes Gespräch Telefonat mit Tochter von Frau Lindner Wohnungsauflösung Mitarbeiter der Entrümpelungsfirma Zweites Gespräch, am Umzugstag Mehrere Gespräche, Umzugsbegleitung Zweites Gespräch, nach dem Umzug Zweites Gespräch, nach dem Umzug Zweites Gespräch Teilnehmende Beobachtung im Heim Fünftes Gespräch, nach dem Umzug Drittes Gespräch, nach dem Umzug Drittes Gespräch Umzugsbegleitung Fünftes Gespräch Teilnehmende Beobachtung im Heim Teilnehmende Beobachtung im Heim Abschluss der Feldforschung
Die Gespräche mit den vier Senioren, die nicht an der empirischen Studie teilgenommen haben, sind nicht vermerkt.
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Tabelle 3: Auflistung der Umzugsdauer und der begleiteten Phasen. Wohnsituation zum Zeitpunkt des ersten Gesprächs in alter Wohnung
Herr Seiler
Frau Kaiser
Bereits im Bereits im Heim, aber noch nicht Wohnheimzimmer, im späteren Zimmer, Wohnung Eigentumswohnung/Haus wird/ist schon aufgelöst noch vorhanden Herr Richter
Frau Berger
Frau Schwarz (Pflegebereich)
Frau Lindner (Gästeappartement)
Ungefähre Umzugsdauer (von Platzzusage bis Wohnung leer) 1 Monat
1 Monat min. 2 Jahre über ½ Jahr
1 Monat
1 Monat
Begleitete Phasen: I. Gespräch vor dem Umzug / Besichtigung der früheren Wohnung Ja / Ja
Ja / Ja
Zeitpunkt nicht eindeutig / Ja
Ja / Nein
Ja / Nein
Umzug
Nein
Einzugstag
Ja
Ja
Ja
Ja (während und nach Umzug)
Ja (während und nach Umzug)
Zeitpunkt nicht eindeutig / Ja
II. Aktive Beobachtung in der Umzugsphase Nein
Räumung
Umzug
III. Gespräch direkt nach dem Umzug Ja
Ja
Zeitpunkt nicht eindeutig
IV. Leben im Heim Ja (nach Umzug)
Ja (nach Ja (während Ja (während Umzug) Umzug) und nach Umzug)
Die einzelnen Treffen gestalteten sich sehr unterschiedlich bezüglich ihrer Dauer und ihrer Dynamik. Ob ich eine oder vier Stunden zugegen war, ob die Senioren und ich dabei am Tisch saßen und miteinander sprachen, wir durch die Wohnung gingen oder ich bei gerade anstehenden Handlungen zusehen, manchmal gar mitmachen durfte, war abhängig vom Zeitpunkt in Bezug auf den Umzug, von der einzelnen Person und ihres momentanen Zustandes sowie davon, ob wir unter vier Augen waren oder nicht. Die Tatsachen, dass die Wohnalben nicht integriert werden konnten und die Umzüge nicht standardisiert abliefen, hatten vergleichsweise geringe
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methodische Schwierigkeiten zur Folge. Diese Umstände konnten durch das flexible Konzept problemlos berücksichtigt werden und animierten zudem, nach den Gründen für die falschen Annahmen zu suchen. Wesentlich mehr Kreativität erforderte es, wenn die Senioren schlichtweg nicht über den Umzug sprechen wollten – aus Frust, aus Desinteresse, aus Selbstschutz. Oder wenn sie angaben, sie wollten nichts mitnehmen und es sei ihnen gleich, was »die Kinder« mit ihren Dingen tun würden. Die größte Herausforderung war es aber, wenn die Gespräche ausschließlich durch mich vorangetrieben werden mussten, weil scheinbar nichts die Senioren dazu bewegen konnte, über ihre Dinge und deren Bedeutung, ihren Erwerb, ihren Verlust und die damit verbundenen Erinnerungen zu berichten. Zumeist kam es bei den Treffen in der früheren Wohnung zu solchen Situationen, aber gelegentlich auch beim Abschlussgespräch. Grundsätzlich war es Ziel meines Fragens, dass meine Gesprächspartner selbst eine Auswahl der Dinge trafen, deren Geschichte sie erzählten, die Beziehung zu ihnen thematisierten oder über Handlungsweisen und Emotionen, die mit ihnen in Verbindung standen, sprachen. Ich erachtete es (und erachte es weiterhin) für problematisch, als Forscher gezielt Dinge herauszugreifen, die man selbst als relevant ansieht, und deren Bedeutung abzufragen. Daher verwendete ich diesen Zugang nur als letzten Ausweg und versuchte, auch hier die Senioren zu möglichst eigenständigem und allgemeinen Erzählen einzuladen. Ich setzte dazu in einem ersten Schritt bei einem scheinbar unverfänglichen, unwichtigen Objekt an, indem ich aufstand, es interessiert besah oder, wenn erlaubt, in die Hand nahm. Danach versuchte ich, das Gespräch in eine Richtung zu lenken, in der die Thematisierung der persönlichen Beziehung zu diesem und zu anderen Objekten unumgänglich wurde. Die Strategie stieß war zumeist auf Resonanz begleitet; doch zuweilen musste ich einsehen, dass ich danach zwar viel über die Person mir gegenüber, aber nur wenig über ihre Dinge, erfahren hatte. Wesentlich mehr Erfolg erzielte ich nicht mit einer ›Taktik‹, sondern durch einen veränderten äußeren Umstand: Anfang des Jahres 2010 wurde ich schwanger. Mit zunehmendem Fortschreiten meiner Forschung wurde dies immer deutlicher sichtbar und begann, bei den Treffen mit den Senioren eine Rolle zu spielen. Sie wollten Anteil haben an meinem privaten Leben, stellten Fragen zu meinen Zukunftsplänen und sorgten sich um das Wohlergehen meines ungeborenen Sohnes. Eine lehrbuchgetreue Inter-
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viewsituation war allein deswegen schon nicht mehr möglich. Dennoch erfuhr ich nun mehr als zuvor über interessante Aspekte bezüglich des Umzugs, der damit verbundenen Entscheidungszwänge hinsichtlich der Dinge sowie über die Trennung von diesen. Die Schwangerschaft lenkte also weniger vom Thema ab als von der Form der Konversation, denn diese hatte sich zunehmend zu einem themenzentrierten Gespräch, also in Richtung einer »friendly conversation« (Spradley 1971: 55ff.), gewandelt. Außerdem war die Thematisierung der Schwangerschaft seitens der Senioren geradezu ein ›Messinstrument‹ für ihre Bereitschaft, das Gespräch weiter zu führen: Wurde etwa die Einrichtung des Kinderzimmers unvermittelt zum Thema, war das ein Hinweis für mich, dass mein Gesprächspartner vorerst nicht mehr auf meine Forschungsfragen eingehen würde. Zusammengefasst kann man festhalten, dass mit dem Sichtbarwerden der Schwangerschaft sich die Haltung der Senioren mir gegenüber änderte: sie wurden lockerer, was gleichzeitig auch zu einer offeneren Form des Umgangs miteinander führte. Eine reflexive Auseinandersetzung mit den Gründen für die signifikanten Verhaltensveränderungen ist in Kapitel 4.6 nachzulesen. Im Weiteren sollen deren Folgen für die Datenerhebung und Auswertung angesprochen werden. Schritt 2, b): Methoden bei der Datenerhebung Die enger gewordene Beziehung zu den Senioren änderte nicht nur Einfluss auf unsere Konversationsform, sondern sie generierte auch die Möglichkeit, in den intimsten Momenten des Umzugs mit dabei zu sein: Beim Aussortieren, Einpacken und Wegwerfen. Diese neue Situation erforderte eine Anpassung der Methoden. Die klassische teilnehmende Beobachtung war nun nicht mehr ausreichend, weil ich über Stunden hinweg zusammen mit den Senioren ihre Wohnung ausräumte, gleichzeitig mit ihnen sprach und in den Prozess eingebunden wurde. Dabei das Notizbuch zu zücken, war genauso wenig möglich wie einem Leitfaden zu folgen. Ich befand mich in einer vollkommen unkontrollierten Situation, die mich aber eben dadurch der Beantwortung meiner Fragen nach der Ding-Mensch-Beziehung näher kommen ließ als mein ursprüngliches Forschungsdesign. Ich entschied zugunsten einer zwangsbefreiten Methodik, die nur noch der Logik der Situation folgte. Clifford Geertz folgend beschrieb ich alles Erlebte so dicht wie möglich (Geertz 1983); vorerst in ausführlichen und rein chronologisch strukturierten Forschungsberichten. Präzision findet auch bei der Verwen-
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dung sogenannter weicher Methoden ihren Platz in der Forschung, wenn ›genau Hinsehen‹ zum Leitspruch der empirischen Datenerhebung und ihrer Auswertung gemacht wird. Bald bestätigte sich, dass die Konversation mit den Senioren besser verlief, wenn es zu einem natürlichen, einem zufälligen Einstieg kam und wenn wir dabei vielleicht eine Tasse Kaffee tranken. Vor diesem Hintergrund machte ich die Erfahrung, dass es zudem förderlich war, wenn nicht ein Haufen bedrucktes Papier auf dem Tisch ausgebreitet lag, in dem ich immer wieder blätterte, oder der Augenkontakt ständig unterbrochen wurde, weil ich etwas notieren musste. Die meisten Senioren nahmen die Möglichkeit gerne wahr, etwas über mein Forschungsvorhaben zu erfahren und Fragen dazu zu stellen. Aber erst als sie die offensichtliche Möglichkeit hatten, auch private Dinge über mich zu erfahren, wohl wissend dass eine werdende Mutter kaum Fragen zu ihrem Kind abwehren würde, schien eine symmetrische Gesprächssituation etabliert. Weitere Bestätigung für diesen Weg fand ich in den Veröffentlichungen des für seine außergewöhnlichen Feldforschungen bekannten Soziologen und Kulturanthropologen Roland Girtler ‒ außergewöhnlich sowohl in Bezug auf die Thematik als auch auf die Methoden. Dieser wendet sich dezidiert gegen Leitfäden jeder Art (Girtler 2001: 157) und lehnt die Form des Interviews für ein »echtes Forschungsgespräch« ohne »Zugzwang« grundsätzlich ab, mit der Begründung, es stehe in der Tradition der 1860 in den USA etablierten Journalistensprache. »[Es] zielt demnach bloß darauf ab, zu schnellen, mehr oder wenig klaren und oft kurzen (!) Antworten zu gelangen.« (Ebd.: 148, Hervorhebungen im Original) Die Alternative, die er bietet, nennt er »ero-eptisches Gespräch«, ein »eher feinfühliges und nicht so leicht durchführbares Unternehmen [wie das narrative Interview], denn es gehört viel Gefühl und Geduld zu diesem.« (Ebd.: 149) »Ero-eptisch«, so erläutert Girtler, setzt sich aus den griechischen Wörtern »Erotema« (Frage) und »Epos« (Erzählung) zusammen (ebd.: 150). Konstitutiv für diese Art der Gesprächsführung im Feld sind die gegenseitige Bereitschaft zur Offenheit, die Gleichverteilung der Rollen von Fragendem und Erzählendem und die Hegemonie der situativen Eigenlogik. Das ero-eptische Gespräch ist ein Baustein der freien Feldforschung, die freie teilnehmende Beobachtung der zweite. Diese beiden Instrumente sind kaum voneinander trennbar (ebd.: 153). Für eine solche Herangehensweise plädiert nicht nur Girtler, sondern auch der Ethnologe Gerd Spittler.
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Er verlangt eine Radikalisierung der teilnehmenden Beobachtung hin zu einer dichten Teilnahme (Spittler 1998, 2001: 12). Darunter versteht er eine »lebensnahe und wenig systematisierte Forschung« (Spittler 2001: 7). Die Teilnahme ist dabei der entscheidende Aspekt und orientiert sich an der von Geertz geforderten interpretativen Dichte. »Dichte bedeutet aber auch soziale Nähe und gemeinsames Erleben«, so Spittler weiter (ebd.: 12). Wie Girtler spricht auch Spittler von »natürlichen Gesprächen« (im Gegensatz zu Interviews) und betont, dass diese und das Beobachten sich ergänzen. Er plädiert für deren Kombination, um das Handeln, das »sinnhafte Verhandeln«, dessen Interpretation das Ziel der ethnologischen Forschung ist, erfahren und deuten zu können (ebd.: 18). Ob nun im Fall Spittlers »Hirtenarbeit« (1998) oder, wie in dieser Studie beim Umzug ins Altenheim, das Erleben der ausgeführten Handlungen und der geführten Gespräche ist für diese Art des Zugangs grundlegend. Vice versa ist eine eben solche Zugangsweise die vielleicht einzige Möglichkeit, das Erleben einer aktuellen Situation ethnologisch erfassen zu können. (Mit-)Erleben steht auch im Zentrum des Konzepts der »Lebensweltlichen Ethnographie«, das die Soziologin Anne Honer in ihrer Dissertation »Lebensweltliche Ethnographie. Ein explorativ-interpretativer Forschungsansatz am Beispiel von Heimwerker-Wissen« maßgeblich mitentwickelt hat (Honer: 1993). In einem wenige Jahre zuvor geschriebenen Aufsatz legt sie die »Methodologie und Methodik« dieses interpretativen Ansatzes dar (Honer: 1989). Honer spricht in diesem Zusammenhang mit Verweis auf Girtlers methodische Überlegungen von beobachtender Teilnahme« (ebd.: 300). Sie erarbeitet eine doppelte praktische Forderung gegenüber der Verbindung von Ethnographie und Phänomenologie, die zum einen in der Erfassung und Interpretation der Wirklichkeit besteht und zum anderen darin, dass, Geertz folgend, die »›Innensicht‹ des normalen Teilnehmers an einem gesellschaftlich-kulturellen Geschehen wenigstens näherungsweise verstanden und nachvollzogen werden soll« (ebd.: 299). Im Folgenden präzisiert sie ihr Konzept: »Als grundsätzliche Bedingung dafür, daß wir von einer lebensweltlichen Ethnographie sprechen können, erscheint mir der Erwerb einer praktischen Mitgliedschaft am Geschehen, das erforscht werden soll, der Gewinn einer existenziellen Innensicht. Unverzichtbar aber erscheint mir die Reflexion der Subjektivität des Forschers.« (Ebd.: 300f.)
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Die hier geforderte Reflexion nimmt die Rolle des Forschers in den Blick. Honers besonderes Augenmerk liegt dabei auf dessen Funktion als eigener Informant. Dieser ist ein Beobachter, der sich einen fundierten Überblick über die Situation, die er erlebt, machen möchte. Um diese dann systematisch zu analysieren, greift er auf das selbst teilnehmend Beobachtete zurück und muss seine Einwirkung auf das Geschehen mit reflektieren. Im abschließenden Kapitel des Feldforschungsteils werde ich eine solche Reflexion vornehmen (vgl. Kap. 4.6). Wie die anderen beiden vorgestellten Autoren sieht auch Honer die Verbindung von Beobachtung und Gespräch als unvermeidlich und skizziert ein Verfahren, nach dem, durch methodischen Pluralismus bei der die Teilnahme begleitenden Kommunikation, ein Höchstmaß an informativer Dichte erreicht werden kann. Sie hält zwar am Begriff Interview fest (»dreiphasiges Intensivinterview«), spricht aber von einer ersten Phase des »offenen Gesprächs«, gefolgt von einer zweiten, der »(biographischen) Narration.« In der dritten Phase wird ein »auf gemeinsame (Interaktions-) Erfahrungen bezogener Leitfaden (…) [erstellt], um die in den bisherigen Ausführungen verbliebenen, bzw. durch sie aufgekommenen Fragen zu explorieren« (ebd.: 303). Diese drei Phasen lassen sich auch in den im nächsten Kapitel wiedergegebenen Gesprächen und Beobachtungen aufzeigen. Dadurch, dass das gesamte Forschungsdesign auf die Trias ›vor‹, ›während‹ und ›nach dem Umzug‹ ausgelegt ist, kam es, wie im Folgenden nachzulesen, beim ersten Treffen eher zu offenen Kennenlerngesprächen. Kennenlernen bezieht sich hier nicht nur auf das gegenseitige Vertrautmachen sowie auf das Vertrautmachen mit meinem Anliegen, sondern auch darauf, dass ich zunächst einmal mehr über die spezifische Situation der jeweiligen Person und deren Strategien beim Umzug erfahren musste. Mit der Art, wie jemand in einem offenen Gespräch agiert vertraut zu sein, ist konstitutiv für eine sinnvolle Interpretation seines Verhaltens in der untersuchten Situation. Bei den nächsten Treffen war bei den Gesprächen die narrative Komponente bestimmend, da zum einen bereits eine gegenseitige Beziehung aufgebaut war. Zum anderen hatte das erste Treffen die Intention meiner Besuche deutlich gemacht, so dass nun die Senioren schon auf den Inhalt des Gesprächs vorbereitet waren. Der letzte Besuch in den fertig eingerichteten Wohnheimzimmern gestaltete sich als genau die Art intensivierter Detaillierung, von der Honer spricht. Lediglich gab es in meinem Fall keinen
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schriftlichen Leitfaden, sondern die vor- und wiedergefundenen Dinge und deren Anordnung, die das Gerüst des Gesprächs darstellten. Die Datenerhebung und Dokumentation erfolgte vor Ort zum einen durch Notizbucheinträge, teils von wörtlichen Zitaten, teils durch die photographische Dokumentation der Räume. Diese Photos sind unprofessionelle Aufnahmen, die nicht zur Illustration dienen sollten; ihnen kommt ein rein mnemonischer Zweck für die Auswertung zu.5 Sie sind grob in zwei Typen zu gliedern: Als Serien zeigen sie den ganzen Raum und als Detailaufnahmen ermöglichen sie den Vergleich von Dingensembles an unterschiedlichen Stellen der beiden Wohnorte. Noch am selben Tag, an dem ein Treffen stattfand, wurden jeweils stichpunktartige Gedächtnisprotokolle der Gespräche und Beobachtungen vom ganzen Ablauf der Forschungssequenz angefertigt. Aus diesen Stichpunktprotokollen und der erneuten Betrachtung der Photos entstand ein ausführlicher Text, der als Forschungstagebuch oder Forschungsbericht bezeichnet werden kann. Dieser ist rein chronologisch aufgebaut und gibt neben der untersuchten Situation auch meine eigenen Eindrücke und mein persönliches Erleben wieder. Die Photographien wurden dabei in Anlehnung an die in der Kunstgeschichte angewandte Methode der Ekphrasis dicht beschrieben. Eine besonders hohe Präzision war dabei durch das Kennen und Wiedererkennen der abgebildeten Räume und Objektkontexte gewährleistet. Die Kapitel 4.1 bis 4.4 halten sich nahe an diesem Rohtext des Forschungstagebuchs, auch wenn es sich bei der Anordnung freilich um eine Ex-post-Wiedergabe handelt. An Stellen, die zwingend für die Verständlichkeit beim Lesen erschienen, wurde von der strikten Wiedergabe der Chronologie des Erzählten abgesehen und thematisch sortiert: Gespräche verlaufen unsteter und schwerer abbildbar als In-
5
Gegen die Veröffentlichung der Photos im Rahmen der Studie sprechen meines Erachtens insbesondere zwei Punkte: 1. Schutz- und Pietätsgründe: Die Vorstellung, dass die Photos einem breiten Publikum zugänglich seien, missfiel den begleiteten Senioren. Zudem wollte ich jegliche Art von Schaulust vermeiden. 2. Die Gefahr der Reduktion des Materials auf eine illustrative oder plakative Rolle: Abbildungen vermitteln Botschaften nach ganz anderen Logiken als reine Texte. Exemplarisch ausgewählt und mit Bildunterschriften versehen, wie es im Fall der Einbindung in wissenschaftliche Texte Usus ist, wären sie in ihren Möglichkeiten stark eingeschränkt und vermitteln nur ein punktuelles, zuweilen tendenziöses, im schlimmsten Falle übergestülptes Bild.
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terviews. Zudem wurde der Text sprachlich geglättet (ausgenommen der als wörtliche Zitate ausgewiesenen Passagen) und gekürzt (biographische Details sind nur skizzenhaft wiedergegeben; wo erforderlich, erfolgte eine Anonymisierung). Bei der Auswertung lagen selbstverständlich der Text des Forschungstagebuchs und die Photos zugrunde. Im Folgenden sollen die Eckpunkte des Auswertungsprozesses aufgezeigt werden. Schritt 2, c): Auswertungsverfahren Das Auswertungsverfahren richtet sich weitestgehend nach den Methoden der Grounded Theory (Strauss), oder dem Prinzip eines, wie der Tübinger Soziologe Jörg Strübing treffender, wenn auch etwas umständlich übersetzt, »Forschungsstils zur Erarbeitung von in empirischen Daten gegründeten Theorien« (Strübing 2004: 13f.). Anselm L. Strauss hatte selber in einem Interview die drei Charakteristika der Grounded Theory Method (GTM) benannt: die Art der Kodierung (1), das theoretische Sampling (2) und die Vergleiche zwischen Phänomen und Kontext (3). »Wenn die genannten drei Essentials beachtet werden, ist es Grounded Theorie, wenn nicht, ist es etwas anderes«, wird Strauss in der überarbeiteten Veröffentlichung eines Gesprächs mit Heiner Legewie und Barbara Schervier-Legewie (Strauss 2011: 75) wiedergegeben. Zugleich spricht er aber der GTM eine hohe Flexibilität und Anpassungsfähigkeit zu (ebd.: 74). Im Bewusstsein dessen erhebt das durch mich praktizierte Verfahren im Allgemeinen nicht den Anspruch, Grounded Theory zu sein. Wesentlich scheint mir in diesem Zusammenhang auch Honers Feststellung, dass die GTM im Gegensatz zur Ethnographie nicht auf »eine umfassende Erschließung eines Untersuchungsumfeldes« abzielt, sondern auf quasi nomologische Theoriebildung (Honer 1989: 307). Honer skizziert selber eine »empirisch begründete Theoriebildung«, bei der die Auswertung der empirischen Daten über mehrere ineinandergreifende Beschreibungsverfahren erfolgt und somit stets das Dargelegte im je eigenen Kontext verankert wird (ebd.: 306). Dabei die Selektion durch den Forscher zu bedenken, wird bei ihr als ebenso wichtig herausgestellt wie »das Verhältnis von sozial konstruierter Wirklichkeit und sozialwissenschaftlich rekonstruierter Wirklichkeit zu reflektieren« (ebd.: 307). Wie der Auswertungsvorgang der zu dieser Studie erhobenen Daten konkret vonstatten ging, zeigt die nachstehende Tabelle in einer Übersicht. Orientierung für den Ablauf bot dabei Franz Breuer, Psychologe und Ver-
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treter eines qualitativ-sozialwissenschaftlichen Methodenansatzes in der Psychologie, in seinem Buch »Reflexive Grounded Theory« (Breuer 2009a: bes. 69-101). Tabelle 4: Ablaufplan der Auswertung. Auswertungsschritte
Vorgehen
Erstellen der Stichpunktprotokolle
Memos zu augenfälligen Verbindungen
Erstellen der Forschungsberichte (FB)
Memos zu ersten Analyseperspektiven und möglichen Kategorien
Erste Analyseebene am Text der FB
Prinzipielles Ordnen: Aufsuchen von Ähnlichkeiten in Bezug auf Strukturen, Rahmenbedingungen, Kodieren
Zusammenführung (vgl. Kap. 4.5, Tabelle 6)
Extraktion des Kerntextes (= empirischer Teil, vgl. Kap. 4.1-4.4)
Systematisches Ordnen: Aufsuchen von Ähnlichkeiten in Bezug auf Sicht- und Zugangsweisen, mögliche ausschlaggebende Faktoren für Ereignisse oder Haltungen Kodieren
Anordnung des empirischen Teils (vgl. Kap. 4.1-4.4) Systematisierung (vgl. Kap. 4.5, Tabelle 7)
Ergebnis in der Studie abgebildet
Erste Meta-Notizen zur Methodenreflexion und zu verstehenden Deutungen Zweite Analyseebene am Text der FB
Verschriftlichung der Ergebnisse
Ausweitung der Meta-Notizen: Überlegungen zum interpretativen Zugang und zur theoretischen Erfassung
Strukturierung des interpretierenden Teils (vgl. Kap. 5)
Reflexion der Rolle des/als Forscher(s) und anderer Faktoren
Forschungsreflexion (vgl. Kap. 4.6)
In Bezug setzen und analysieren der Ordnungsschemata und der Meta-Notizen, Überprüfung und Stützung der Aussagen anhand des Textes der FB, Rückkopplung an die (theoretische) Literatur
Interpretierender Zugang (vgl. Kap. 5) Theoretische Überlegungen (vgl. Kap. 2)
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Ähnlich wie bei der GTM wurde eine Reihe ineinandergreifender Auswertungsschritte vollzogen, um das Datenmaterial im Sinn eines hermeneutischen Zugangs aufzubereiten. Das Kodieren erfolgte dabei übergreifender als bei der Theorie generierenden GTM üblich, jedoch nach derselben Art, die von Strauss wie folgt beschrieben wird: »Das Kodieren ist theoretisch, es dient also nicht bloß der Klassifikation oder Beschreibung der Phänomene. Es werden theoretische Konzepte gebildet, die einen Erklärungswert für die untersuchten Phänomene besitzen.« (Strauss in: Mey 2011: 74). Das umfassendere Vorgehen beim Kodieren ist zum einen der Art des Textes geschuldet, welcher der Auswertung zugrunde liegt. Dieser ist weder ein fremdverfasster Text noch eine reine Interviewtranskription, so dass die relevanten Aussagen und Verhaltensmuster weniger dicht wiedergegeben werden. Zum anderen habe ich über die Gespräche hinaus weitere Zugänge zum empirischen Material verfolgt, wie beispielsweise die dichte Beschreibung oder die Photodokumentation, die ein andere Form der Analyse der abgebildeten Situation bedürfen. Ein weiteres Merkmal der GTM nach Strauß findet sich in meinem Auswertungsverfahren: Das parallele Arbeiten an Materialien unterschiedlicher Aufbereitungsstadien. In der oben stehenden Tabelle wird dies durch die Art der Rahmung angezeigt. Dabei bedeuten die unterbrochenen Linien, dass bei diesen Schritten gleichzeitiges Arbeiten stattgefunden hat; die doppelte Linie zeigt eine bilanzierende Zäsur an. Strauss äußert sich aus eigener empirischer Erfahrung wie folgt zur gleichzeitigen Erhebung und Auswertung: »Ich habe sehr früh begriffen, dass es darauf ankommt, schon nach dem ersten Interview mit der Auswertung zu beginnen, Memos zu schreiben und Hypothesen zu formulieren, die dann die Auswahl des nächsten Interviews nahe legen.« (Ebd.)
Strauss spielt hier auf das an, was er theoretisches Sampling nennt - neben der Art des Kodieren und der ineinandergreifenden Auswertungsschritte das dritte Merkmal einer der GTM folgenden Forschung. Hier ist, begründet in der Natur der Sache, vielleicht der Hauptunterschied zu meiner Studie zu finden: der durch mich verfolgte Ansatz zielt auf die Beschreibung, Analyse und das Verstehen des Verhaltens einer bestimmten Gruppe in einer gewissen Situation, bezogen auf die eigene Dingwelt. Daher kann ein Vorgehen, bei dem das Sample immer wieder neu verhandelt wird, in der
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hier vorgestellten Forschung keinen Platz finden. Was aber durchaus vergleichbar ist mit dem von Strauss nahe gelegten Vorgehen bezüglich des Samples, ist die Reaktion auf die erkannten Relevanzen, Hinweise und Spuren im Lauf der Datenerhebung. Die Veränderung der Erhebungsmethoden und die Anpassung des Forschungsdesigns treten somit an die Stelle einer überdachten Auswahl der Interviewpartner (vgl. vorhergehender Abschnitt in diesem Kapitel). Hierbei, und in der gesamten Auswertung, folgte die analytische Interpretation also den Ansprüchen einer Hermeneutik, einer verstehenden Deutung des Untersuchungsfeldes, in der, das Bild einer Spirale vor Augen (Bolten 1985), das Verständnis einzelner Zusammenhänge zu einer stets neuen Position im Verstehensvorgang führt, diesen speist und den nächsten Schritt mitbestimmt.
4. »… das alles kommt weg!« – Empirische Fallstudien Der nur ›theoretisch‹ hinsehende Blick auf Dinge entbehrt des Verstehens von Zuhandenheit. Der gebrauchend-hantierende Umgang ist aber nicht blind, er hat seine eigene Sichtart, die das Hantieren führt und ihm spezifische Sicherheit verleiht. HEIDEGGER 1993: 69
Der nun folgende empirische Teil gibt zunächst (vgl. Kap. 4.1-4.4) die als ›Kerntext‹ betitelten Aufzeichnungen aus den Forschungstagebüchern wieder. Die vorgelegte Fassung orientiert sich so nah wie möglich an der originalen Niederschrift und ist lediglich zum besseren Leseverständnis leicht aufbereitet und gekürzt worden. Die Anordnung allerdings, besonders die Zusammenbringung und Kategorisierung von Zweiergruppen, anhand der die einzelnen Fälle hier präsentiert sind, kann nur ex-post erfolgen. Sie ist parallel zur Extraktion des Haupttextes entstanden und folgt den in der untenstehenden Tabelle abgebildeten Kriterien, die aus der Betrachtung des je eigenen Kontextes der untersuchten Personen ausgemacht wurden. Die Einteilung, welcher ich hier bei der Wiedergabe der Beobachtungen und Gespräche folge, ergibt sich aus der ›Systematisierung der Gespräche‹ (Kap. 4.5, Tabelle 7). Die dreigliedrige Gruppierung von je zwei gut vergleichbaren und gleichzeitig sich quer zueinander verhaltenden, individuellen Fällen wird dort aufgrund intrinsisch gefundener Kriterien nahegelegt. Hierin ist eine Bestätigung der ersten Eindrücke des Beobachteten zu sehen. Es ist mir ein Anliegen, eine Vorstellung vom Forschungs- und Wis-
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sensfortschritt im Laufe der Untersuchung zu vermitteln, so dass bei der Lektüre der Einzelfälle das Verständnis für die Gespräche und Beobachtungen anhand eben dieser wachsen kann und nicht einflussnehmend vorstrukturiert ist. Tabelle 5: Anordnungsschema des empirischen Teils. Erster besprochener Informant zweiter besprochener Informant (1) Begleitete Zeit: länger
kürzer
(Anmerkung: bei Frau Kaiser wurde die Räumung nicht mit gewertet) (2) Geistiger u. körperlicher Zustand: gut
weniger gut
(Anmerkung: in der ersten Zweiergruppe etwa gleich) (3) Einbindung: aktiv
passiv
(4) Umzugsphase: intensiv, unmittelbar
weniger intensiv, distanziert erfahren
(5) Während des Umzugs: weniger gut
besser zurechtgekommen
Es sind also fünf unterschiedliche, teils einander bedingende Kriterien als für die Anordnung maßgebend ausgemacht worden. Innerhalb einer Gruppe wird zuerst stets diejenige Person vorgestellt, die ich während ihrer Umzugsphase länger und damit detaillierter begleiten konnte (1) (vgl. Kap. 3.3, Tabelle 3). Das hängt zum einen mit dem gesundheitlichen Zustand zusammen: je besser dieser ist, desto mehr Treffen waren möglich und desto höher war die Bereitschaft, sich auf die Zusatzbelastung, die die Untersuchung darstellte, einzulassen (2). Zum anderen hängt die Intensität der Begleitung auch davon ab, wie sehr die Personen selbst in den Umzug involviert waren, sich involvieren konnten und wollten (3), was wiederum von den persönlichen Möglichkeiten mitbestimmt wurde. Zu Letzterem gehört nicht nur der Gesundheitszustand der Senioren, sondern auch, ob Angehörige für sie greifbar waren (vgl. Kap. 4.5, Tabelle 6). Diese drei objektiv ausmachbaren Kriterien, bieten die Basis für erste deutende Überlegungen. Dabei scheint eine passive Einbindung in den Prozess mit einer distanzierteren Haltung gegenüber dem einschneidenden Ereignis verbunden zu sein (4), was wiederum ein Grund sein könnte, warum gerade diese Senioren einen grundsätzlich besseren Standpunkt hatten, um mit dem Umzug zurechtzukommen (5).
»…
DAS ALLES KOMMT WEG!«
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Freilich ist eine solche Einschätzung stets relativ und beschreibt zunächst die Kontrastierung der beiden Einzelfälle, die innerhalb einer Gruppe betrachtet werden. Die jeweiligen Personen entwickeln nämlich eine ähnliche Grundhaltung (vgl. Kap. 4.5, Tabelle 7), die aber dem zuerst Betrachteten weniger erfolgreich die Situation zu bewältigen hilft als dem zweiten. Um eine Verknüpfung aller sechs begleiteten Personen zu ermöglichen, sind die drei Gruppen wiederum so angeordnet, dass sich die verschiedenen Grundhaltungen, welche die beiden Personen einer Gruppe teilen, klimaxartig zuspitzen. Beginnend von einem ›sich arrangieren‹, über ein ›sich trennen‹ bis hin zu einem ›sich losreißen‹ in Bezug auf das frühere Lebensumfeld und den größten Teil ihres Besitz, werde ich im Folgenden die Protagonisten meiner Forschung und das Ende vieler ihrer (lebens-) langen Ding-Beziehungen vorstellen.
4.1 S ICH
ARRANGIEREN
4.1.1 Herr Seiler (geb. 1932) Herr Seiler ist mein zweiter Gesprächspartner. Bei ihm verläuft die Vermittlung wie geplant: Die Heimleiterin gibt mir die Telefonnummer einer seiner beiden Töchter und berichtet mir, Herr Seiler sei interessiert daran, dass ich das angebotene Wohnalbum für ihn gestalte. Sie versichert, dass eine Unterhaltung mit ihm spannend für mein Vorhaben wäre, da er viel auf Reisen gewesen sei. Ich solle mich aber nicht von ihm »einschüchtern« lassen: Er möge zwar ein wenig steif wirken, sei aber auch sehr charmant. Zuerst telefoniere ich mit Herrn Seilers Tochter. Laut ihrer Aussage sei die Wohnung noch so gut wie unverändert, obwohl der Umzug schon in einer Woche stattfinden werde. Auch sie erzählt von den vielen Reisen ihres Vaters und dass er zahlreiche wertvolle Souvenirs habe – so hingen überall Porzellanteller aus Fernost an den Wänden. Nicht zuletzt deswegen seien sie und ihre Geschwister an einem Photoalbum, das die Wohnung dokumentiert, sehr interessiert. In Absprache mit Herrn Seilers Tochter vereinbare ich telefonisch einen Termin mit ihm. Er wirkt freundlich, stellt ein paar Fragen zu meinem Anliegen, damit er, wie er sagt, wisse, was ihn erwarte, ist aber alles in allem kurz angebunden. Er macht einen erschöpften Eindruck.
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Erstes Gespräch, Wohnung (Februar 2010) Herr Seiler wohnt in der Innenstadt, in der Nähe des Doms in einer Dreizimmerwohnung. Wegen des Interesses am Wohnalbum bitte ich einen Bekannten, der professionell photographiert, mich zu dem Gespräch zu begleiten. Die Tür öffnet uns der Sohn von Herrn Seiler, der auffällig jung wirkt. Sein Vater befindet sich im Zimmer am Ende des Flurs, das offenbar als Wohnzimmer dient. Wir können ihn nicht sehen, hören aber, dass er seinem Sohn aufträgt, mir den Mantel abzunehmen und dafür zu sorgen, dass wir gleich am Eingang unsere Schuhe ausziehen und diese auf jeden Fall auf den dafür bereitgelegten Zeitungen abgestellt werden. Wir gehen in das Wohnzimmer, wo Herr Seiler in einem Sessel sitzt. Er gibt uns die Hand und weist jedem einen Platz zu, genauer: sagt seinem Sohn, auf welchen Platz wir uns jeweils setzen sollen, wobei er ein paar Mal seine Meinung bezüglich der Sitzordnung ändert. Der Diwan dürfe auf keinen Fall benutzt werden, denn er sei schon sehr gebrechlich. Auf dem Diwan liegen eine Decke und eine runde, rot-schwarze Lackschachtel, deren Deckel mit figürlichen Darstellungen verziert ist und die dem Anschein nach aus Südostasien stammt. Auf dieser Schachtel sind zwei Brillen, ein Kugelschreiber und eine Armbanduhr parallel angeordnet. Herr Seiler bittet im Laufe des Gesprächs immer wieder seinen Sohn, ihm eine der Brillen zu geben und die andere wieder dort hinzulegen, während er im Sessel sitzen bleibt. Dieser ist mit Schaffellen ausgelegt und hat, passend zu den restlichen Wohnzimmermöbeln im Chippendalestil, Wiener Geflecht in den Armlehnen. Wir bekommen Kaffee und Wasser zu trinken und als alle sitzen, wendet Herr Seiler sich an mich: »So, jetzt fragen Sie, was Sie wissen wollen«, sagt er in einem ziemlich bestimmten Ton, von dem ich mich eingeschüchtert fühle. Mir wird klar, dass ich im Grunde bereits seit meiner Ankunft in der Wohnung verunsichert bin: Schon kurz nach dem Eintreten war ersichtlich, dass Herr Seiler eine genaue Vorstellung davon hat, wie seine Umgebung beschaffen sein soll und wie sich die Menschen um ihn herum zu verhalten haben. Nun bestimmt er den Rahmen unseres Gesprächs und verhindert durch den fordernden Einstieg ein Kennenlernen oder Näherkommen. Es ist das erste Mal, dass ich im Feld aufgefordert werde, etwas zu fragen. Mir scheint die Situation, weil sich das Gespräch nicht von selbst ergibt, unangenehm künstlich. Ich ordne nervös meine Vorlagen, versuche, eine passende Frage aus dem vorbereiteten Leitfaden herauszusuchen und erkenne erst dabei den
»…
DAS ALLES KOMMT WEG!«
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Faktor, der das Gespräch nicht entstehen lassen will: Die Wohnung sieht ganz und gar nicht danach aus, als würde hier in knapp einer Woche ein Umzug stattfinden. Alles scheint an seinem Platz, nirgends stehen Kartons oder Koffer. Meine vorformulierten Fragen erweisen sich vor dieser Folie als nutzlos, denn eine direkte Konfrontation mit dem Umzug wäre ein zu grobes Vorpreschen. Ich suche also im Zimmer nach etwas, mit dem ich doch noch einen sanften Einstieg in ein Gespräch, das durch seine Eigenlogik vorangetrieben wird, bewerkstelligen kann, doch ist für mich kein Gegenstand erkennbar, der auf den bevorstehenden Umzug verweist. Zusätzlich irritiert mich die Anwesenheit von Herrn Seilers Sohn, mit der ich nicht gerechnet hatte.1 Mir kommt es vor, als würde mich nicht nur Herr Seiler, sondern auch sein Sohn erwartungsvoll und eindringlich ansehen, was es mir noch schwerer macht, eine spontane Einstiegsfrage zu formulieren. Als ich bemerke, dass auch der Photograph mich erwartungsvoll und etwas verständnislos anblickt, entschließe ich mich dazu, ein nahe liegendes Thema aufzugreifen und frage Herrn Seiler, wie er zu all den Wandtellern und anderen fernöstlichen Artefakten gekommen sei. Er antwortet fast ausweichend sachlich: er sei im Rahmen von Weltkongressen als Reiseführer tätig gewesen. Weil ich mir anhand dieser Aussage kein genaues Bild von seinem Beruf machen kann und mich die weiteren Umstände und beispielsweise sein Tagesablauf in diesem Zusammenhang interessieren, versuche ich, Präzisionsfragen zu stellen. Auch hoffe ich, dass er dadurch über die einzelnen Objekte zu sprechen beginnt. Er aber wiederholt bloß seine Antwort und fügt in leicht gereiztem Ton etwas hinzu, dem ich entnehmen kann, dass er mir wenig Verständnis und/oder Interesse für diese Objekte zuspricht. Ich versuche, nach einzelnen, konkreten Objekten zu fragen, doch die Antwort bleibt wieder ernüchternd sachlich, beinahe plump protokollarisch: fast unverständlich gibt er das Herkunftsland und den Fachausdruck für den Stil an. Er erzählt nicht, ob es ein Geschenk war oder ein gekauftes Souvenir, nichts von der Gelegenheit und den Umständen, unter denen es in seinen Besitz gekommen ist. Die Stimmung ist gezwungen, fast gereizt. Die Rollläden sind tief heruntergezogen, so dass wir auf die elektrische Beleuchtung angewiesen sind – ein Umstand, der für mich die Atmosphäre noch beklemmender macht.
1
Im Lauf der weiteren Untersuchung wird sich zeigen, dass bei allen Senioren, die Kinder haben, eines (zumindest) beim ersten Gespräch anwesend ist.
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Ich wäge ab, ob ich einfach ein paar Informationen bezüglich des Umzugs abfragen und es dabei belassen soll. Der momentane Verlauf der Unterhaltung ist jedenfalls nicht förderlich für die Atmosphäre. Sowohl die Fragen als auch die Antworten werden immer knapper und abgehackter, die unbehaglichen Pausen immer länger. Schließlich entscheide ich, doch danach zu fragen, ob er schon für den Umzug gepackt habe. Die Antwort überrascht diesmal nicht durch ihre Knappheit, sondern wegen des Inhalts: »Das besorgen meine Kinder.« Ich insistiere indem ich mich nach der Auswahl an Dingen, die er mitnehmen wolle, und nach dem Auswahlverfahren erkundige. Wieder fällt die Antwort einsilbig aus: »Nichts.« Seine stoische Gleichgültigkeit lässt den Eindruck entstehen, dass der bevorstehende Umzug Herrn Seiler nicht betrifft, nicht berührt. Ich bin verstört. Hatten nicht alle Erwägungen zum Sample darauf abgezielt, das Bild eines möglichst selbstbestimmten Umzuges zu erhalten? Warum diese verweigernde Haltung? Sein Sohn schaltet sich ein und sagt, etwas schockiert, zu ihm, dass er ja wohl etwas mitnehmen würde als Erinnerung: zumindest einige der Teller, auf jeden Fall doch die Photoalben, sagt er und fragt, was beispielsweise mit den Briefen sei? »Die Teller nicht – die Briefmarken«, sagt Herr Seiler; daraufhin schickt er seinen Sohn, das Photoalbum und die Briefe zu holen. An mich gerichtet sagt er: »Das interessiert Sie vielleicht, aber ich weiß nicht, ob Sie damit was anfangen können.« Herr Seiler schlägt das Photoalbum auf und beginnt von seinem Vater zu erzählen, der, in Marineuniform, auf den ersten Bildern zu sehen ist. So erfahre ich, dass er in Pillau, Ostpreußen, geboren wurde, im Jahre 1932. Herr Seiler kommt, animiert durch die Photos, ins Erzählen: Er spricht von seinem Vater, der Musiker bei der Reichsmarine gewesen sei. Musik, stellt sich heraus, ist für Herrn Seiler sehr wichtig. Er zeigt sich stolz, dass sein Vater Mitglied im Orchester ›Schleswig-Holstein‹ gewesen ist und dass auch sein Sohn schon in jungen Jahren sehr gut Klavier gespielt habe. Weiter erzählt Herr Seiler, sein Vater habe Ganzsachen, das seien Briefe mit eingeprägter Marke, sowie Briefmarken gesammelt. Er habe einige Alben mit wertvollen Exemplaren, zum Beispiel mehrere, auch ungestempelte,
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›Sachsendreier‹ 2 gehabt. Diese Marken seien ihm sehr wichtig gewesen, und nach dem Krieg habe er als erstes gefragt: »Wo sind meine Briefmarken?« Dann hört Herr Seiler auf zu sprechen, als gäbe es nichts mehr zu sagen. Mir wird klar, dass die Antwort auf die Frage des Vaters für Herrn Seiler nicht zur Geschichte zu gehören scheint und ich erkundige mich, ob die Alben den Krieg überstanden hätten. Dies wird von Herrn Seiler mit einem schwer zu interpretierenden Lächeln quittiert. Dann spricht er weiter: Sie seien aus Königsberg über Danzig und die Westerplatte geflohen. Ob ich das kenne, will er wissen. Als ich das bejahe und sage, dass ich vor wenigen Jahren in Danzig und auch auf der Westerplatte war, mir auch Königsberg mit dem Hafen Pillau bekannt ist, scheint er überrascht, aber auch etwas besser gestimmt, denn er berichtet weiter: Kurz vor der Flucht habe er sich in das Zimmer seines Vaters geschlichen, das für ihn tabu gewesen sei, ein Umstand, vor dem er viel Respekt gehabt habe. Er habe gewusst, dass sein Vater die Alben dort aufbewahrte und wie wichtig diese für ihn waren. Deshalb habe er zwei aus der Schreibtischschublade herausgenommen und sie in seinem Rucksack versteckt. Er habe eigentlich darauf geachtet, dass es niemand sah, aber seine Mutter müsse es bemerkt haben, denn »sie tauschte die Alben – wohl wissend, was uns erwartet – mit einem Kanten Brot aus«. Kinder seien so, sagt er. Er habe etwas für seinen Vater tun wollen und nicht verstanden, dass es damals ums nackte Überleben ging, fügt er hinzu. Herr Seiler nimmt daraufhin eines der großen Alben in die Hand, in denen Briefe mit Marken eingeordnet sind. Sie sind alle an Richard Seiler, seinen Sohn, adressiert und stammen unter anderem aus Süd- und Nordamerika, Japan, Australien und Südafrika. Er berichtet, er habe seinem Sohn immer Briefe geschickt, von überall, wo er war, manchmal habe er sie in großer Eile verschickt und einige würden nicht einmal tatsächlich einen Brief beinhalten, sondern bestenfalls eine kurze Notiz auf einem Blatt aus dem Block, der in seinem Hotelzimmer zu finden war. Manche seien gar nicht geöffnet worden, denn es ginge ja nicht um das Geschriebene. Das Wichtige sei der Umschlag mit den außergewöhnlichen Briefmarken und
2
Briefmarke des Königreichs Sachsen, ab 1850, eigentlich »Sachsen, Drei Pfennig rot«. Heute ist eine solche Briefmarke bis zu mehreren zehntausend Euro wert.
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Stempeln gewesen.3 Vater und Sohn blättern zusammen im Album. Ich erfahre nun, dass Herr Seiler als Reiseguide für ein großes Touristikunternehmen gearbeitet hat und Studienreisen im Rahmen von Weltkongressen leitete. Daraufhin weist er seinen Sohn an, er solle die Alben wieder an ihren Platz räumen, alles wieder dorthin stellen, wo es war. Herr Seiler fragt mich, in Richtung seines hinausgehenden Sohnes zeigend, ob es »so was in der Art« sei, das ich für meine Studie bräuchte. Ich bejahe. Er erwidert, dass das doch für junge Leute nicht interessant sei. Der mich begleitende Photograph möchte wissen, ob er denn mit dem Photographieren beginnen solle. Herr Seiler fragt, wozu, und sagt, das sei nicht nötig. Sein Sohn, der gerade zurück in das Zimmer kommt, wirft ein: »Du willst doch ein Photoalbum von deiner Wohnung, Papi.« – »Nein, das will ich nicht, was soll ich damit?« – »Aber ich will vielleicht eines, und die Helene. Als Erinnerung an die Wohnung. Immerhin hast du mich hier großgezogen.« Ich nutze die Chance, um noch einmal auf die Dinge, die er mitnehmen will, zu sprechen zu kommen. Wieder zeigt sich Herr Seiler desinteressiert und abweisend, wieder sagt er, dass er nichts mitnehmen wolle. Die Sachen würden nur verstauben und er brauche sie nicht mehr. Die Kinder sollten alles nehmen, es sei ja wertvoll. Er erzählt mir, dass er eine Inventarliste erstellt habe, in der alle Gegenstände aufgeführt seien. Er habe zu allen Stücken den Kaufort und das Kaufjahr vermerkt, den zum Zeitpunkt der Erfassung aktuellen Wert und eine kurze Beschreibung. Da ich frage, ob ich die Liste sehen könne, trägt er seinem Sohn auf, diese aus »dem Ordner« zu holen. Auf dem Boden unter den Wandtellern stehen aufgereiht einige Ordner und man kann sehen, dass sie allesamt gefüllt sind, mit diversen Dokumenten. Doch bei dem Ordner, den Herr Seiler verlangt, handelt es sich offenbar um einen ganz speziellen, denn er wird gesondert im Wohnzimmerschrank aufbewahrt. Darin sind mehrere biographische Dokumente abgeheftet, unter anderem alte Zeugnisse und eine Auszeichnung für besondere Leistungen im Fach Deutsch, die auch einen Buchpreis einschloss. Herr Seiler erzählt, er habe eine Ausbildung zum Rechtsanwalts- und Notargehilfen gemacht. Das Abschlussdokument, das er mir zeigt, »soll bleiben«, genauso wie das Zeugnis über seine Lehre zum Bankkaufmann,
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In der Philatelie bezeichnet man das als Ganzstück in Abgrenzung zur Ganzsache.
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sagt er. Es wird deutlich, dass Herrn Seiler an den Dokumenten und Zeugnissen ähnlich viel gelegen ist wie daran, dass alles ordentlich an seinem Platz steht. Er blättert in dem Ordner, um mir die darin abgehefteten Papiere vorzuführen, und es wird ersichtlich – auch durch das bestätigende Verhalten seines Sohnes – dass er sehr stolz auf seine Auszeichnungen ist. Ob »soll bleiben« allerdings bedeutet, dass er die Dokumente mit in sein Wohnheimzimmer nehmen möchte, bleibt offen. Meine Frage danach wird nicht eindeutig beantwortet. Wir sehen uns die Artefaktliste an. Sie ist nach Standorten in der Wohnung geordnet, aufgeführt sind die Objekte in der Regel wie folgt: »2. Links neben der Küchentür: Gerahmtes Bild in rosafarbenen und schwarzen Tönen, Hochformat. Szene aus dem Mythenwald Dandaka (Ceylon), Rama und Sita aus dem Ramayana-Epos. Gekauft etwa 1975 in Ubud auf Bali, Indonesien. Maler körperlich behindert. Preis ca. 25,- Euro.« Ich empfinde die Liste als einen Segen für meine Forschungsintentionen und denke: jetzt kann es richtig losgehen, das ist die Gelegenheit für einen Rundgang. Ich stehe auf, lese die Beschreibungen der im Wohnzimmer ausgestellten Objekte laut vor, suche die Gegenstände und stelle Fragen, um mehr über die Bedeutung und die Umstände ihrer Käufe zu erfahren. Herr Seiler aber scheint nicht dazu aufgelegt, mir Geschichten zu erzählen. Er fragt mich stattdessen, ob mir die Namen der darauf abgebildeten mythologischen Figuren etwas sagen und ob ich die Legenden kenne. Ich muss verneinen und bemerke, wie Herr Seiler zunehmend undeutlicher redet, obwohl wir inzwischen nahe zusammen vor den Objekten stehen, also in einer Situation, in der ich meine, ihm mein Interesse deutlich signalisieren zu können. Auch wenn das Prozedere äußerlich einer Art Führung gleicht, ist die Konversation eher unergiebig und, wie ich finde, befremdlich: er sagt nicht nur einmal Dinge wie »das kennen Sie alles nicht«, »davon haben Sie noch nicht gehört« oder »damit können Sie nichts anfangen«. Auch spricht er wieder davon, dass die Dinge im Altenheim nur verstauben würden, als ich danach frage, ob er wirklich keines der Stücke mitnehmen wolle. Aufbewahrt werden müssten sie aber schon. Da wir von einem Objekt zum anderen gehen, ist Unruhe in die Situation gekommen und es wird für Herrn Seiler merklich anstrengend. Bald bittet er seinen Sohn, ihn zurück zum Stuhl zu begleiten. Wir entscheiden, dass es gut wäre, jetzt die Photos zu machen. Der Photograph baut seine Kamera im Wohnzimmer auf und Richard Seiler zeigt mir die restliche
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Wohnung. Es ist alles auffällig sauber und aufgeräumt. An allen Türklinken in der Wohnung baumelt ein »Do-Not-Disturb«-Schild, wie sie in Hotels zu finden sind; überall sind Bilder, Teller und Masken zu sehen. Die Sammlung ist eindrucksvoll und die Positionen der einzelnen Dinge sind akkurat aufeinander abgestimmt. Im Wohnzimmer befinden sich die meisten Wandteller, aber auch viele Bilder und Artefakte: kleine Statuetten, Schnitzereien, Kästchen und Tabletts. Im Flur hängen hauptsächlich Masken und Platten mit Holzschnitzarbeiten, im Schlafzimmer sind es vor allem Bilder. Auf dem großen Schlafzimmerschrank liegen zwei in durchsichtige Plastikfolie eingepackte große Koffer, die über und über mit Airline- und Hotelaufklebern versehen sind. Gegenüber der Schlafzimmertür steht ein auffälliger, großer chinesischer Schrank mit Lackmalereien und Intarsien, zum Teil aus Perlmutt. Die Küche ist lang und schmal geschnitten. Hier findet man keine Souvenirs. An der rechten Wand stehen Küchenmöbel, schätzungsweise aus den dreißiger Jahren: ein Schrank und ein Buffetschrank mit zwei stoffbespannten Glastüren im oberen Bereich. Am Ende des Raums fungiert eine Arbeitsplatte auf einem niedrigen Einbauschrank als kleiner Tisch, anbei zwei Stühle, einer davon ist ein Thonet Modell Nr. 4. Wir setzen uns wieder und Herr Seiler kommt erneut auf die Flucht zu sprechen. Seine Familie habe in einer Marinesiedlung in Pillau gewohnt. Als die Landwege aus Ostpreußen heraus abgeschnitten worden waren und man eingesehen habe, dass die Bevölkerung doch evakuiert werden müsse, habe man begonnen, die Menschen mit großen Passagierschiffen auszufahren.4 Bis zum 12. Februar 1945 hätten auch er und seine Mutter mit einem dieser Schiffe, zum Beispiel der ›Pretoria‹ oder der ›Robert Ley‹, auslaufen sollen. Aber sie hätten gehört, was Ende Januar mit der ›Wilhelm Gustloff‹ geschehen sei und hätten Angst gehabt, bei der Evakuierungsaktion ums Leben zu kommen.5 Bereits 1944 sei er im Rahmen der Kinderlandverschickung (KLV) im Erzgebirge gewesen, weil seine Mutter die Bombenangriffe zu gefährlich eingeschätzt habe. Als dann die Lage in Ostpreußen immer aussichtsloser wurde, habe seine Mutter ihn aus der KLV zurückgeholt und sie seien »gegen den Strom« zurück in den Osten gegangen. Die Mutter ha-
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Es handelt sich hierbei um die sogenannte Operation ›Hannibal‹. Die ›Wilhelm Gustloff‹ mit über 10.000 Menschen an Bord wurde in der Nacht des 30. Januar 1945 von dem sowjetischen U-Boot S-13 mit drei Torpedos versenkt. Dabei starben über 9000 Menschen.
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be gewollt, dass sie in einer von der Marine organisierten Evakuierungsaktion Pillau über den Seeweg verlassen – am liebsten zusammen mit dem Vater. Aber dann sei es immer schlimmer geworden und schließlich habe ein befreundeter Kapitän der Mutter und ihm geholfen, an Bord eines Schiffes zu kommen. Sie seien aus Pillau nach Swinemünde und danach die Elbe hinunter geflohen. Drei Mal sei er befreit worden: von den Amerikanern, den Engländern und schließlich von den Russen. Und zwei Diktaturen habe er erlebt: das Naziregime und die Kommunisten. In Ostberlin, wo sie dann gewohnt hätten, habe er in einer Fußballmannschaft gespielt. 1953 sei er bei einem Spiel, das in Westberlin stattfand, geflohen. Er und einige seiner Mannschaftskollegen seien damals noch vor dem Spiel einfach gegangen. Der Trainer habe schon geahnt, dass es so kommen würde, ebenso die Leute zu Hause, auch wenn keiner über die Absichten gesprochen habe. Während er dies erzählt, sagt Herr Seiler einige russische Sätze. Er wirkt freudig überrascht darüber, dass ich sie verstehe. Und als ich erwähne, dass ich ebenfalls, wenn auch nur als kleines Mädchen, in einer kommunistischen Diktatur gelebt habe, bemerke ich bei ihm wachsende Bereitschaft, eine offenere Konversation mit mir zu führen, die aber leider bald unterbrochen wird, weil es an der Tür klingelt. Die Tochter vor Herrn Seiler, mit der ich bereits telefoniert hatte, kommt dazu. Das Gespräch findet nicht zurück zum Thema, sondern dreht sich nun um die beiden großen gerahmten Bilder an der Wand über dem Diwan. Der Künstler sei ein guter Freund von ihm gewesen, sagt Herr Seiler. Zwischen den Bildern hingen Photos, die die beiden Freunde zusammen auf Ibiza zeigten. Er fragt mich, ob mir der Name Pablo Richmann etwas sage. Kaum dass ich das verneine, bemerke ich, dass das Gespräch sich nicht weiter entwickeln will und so erfahre ich nichts über die »Ibiza-Zeit«. Daneben hängen zwei Bilder in schwarz-weiß sowie zwei Ölgemälde, die jeweils ein Schiff bei Nacht und stürmischer See zeigen, und ein Kartenstich (vermutlich auf den Anfang des 17. Jahrhunderts zu datieren), der die Gegend um Danzig und Königsberg abbildet. All diese Bilder seien ihm sehr wichtig, sagt er. Seine Tochter meint, an ihm gewandt, dass er diese ja auch mitnehmen wolle, zumindest habe er sich so geäußert. »Und was soll ich damit? Soll ich sie aufhängen? Die verstauben doch nur. Die Schiffe vielleicht«, sagt Herr Seiler und bittet seinen Sohn, ihm beim Aufstehen zu
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helfen. Sie gehen aus dem Zimmer. Offenbar war das Gespräch für ihn sehr anstrengend und es waren zu viele Menschen anwesend. Herr Seilers Tochter berichtet mir, er habe zusammen mit ihr genau durchgesprochen, was er, besonders bezüglich seiner Sammelobjekte, mitnehmen wolle. Sie hätten diese auch schon vorsortiert und in den Wohnzimmerschrank gestellt. Sie öffnet eine Glastür, hinter der sich drei Regalbretter voller Objekte befinden (Vasen, Figuren, drei Wandteller etc.), und erklärt mir, dass die Dinge im unteren Fach aussortiert worden seien und die im oberen auf jeden Fall mitgenommen werden sollten, ebenso einige der Teller, die noch im Wohnzimmer hingen. Aus dem mittleren Fach sollten auch einige Objekte dazukommen, er sei sich aber bei manchen noch unschlüssig. Kurz darauf ruft Herr Seiler uns ins Schlafzimmer und zeigt mir einen Porzellanteller, der über einer Schubladenkommode hängt. Darauf ist ein europäischer Straßenzug in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts dargestellt, darüber steht »A Present from London«. Herr Seiler verweist darauf, dass im unteren Bereich des Bildes »Made in Germany« steht und er erzählt dazu eine Geschichte. Es geht darin um einen »bekannten Engländer«, der eine Freundin in Peking hat. Diese bittet ihn, er solle ihr beim nächsten Besuch etwas aus London mitbringen. Er kauft den in Deutschland gefertigten Teller und bringt ihn ihr als Geschenk mit. Heute aber hängt er wieder hier in Deutschland. Herr Seiler sieht mich lächelnd an und fragt, ob das nicht witzig sei? Ich verstehe nicht, was er mir damit sagen möchte und frage, wer der Engländer gewesen sei. Das wisse er nicht, sagt er. Er wisse nicht, wie es wirklich gewesen sei, vielleicht war sie gar nicht aus Peking oder vielleicht war es ein Freund und keine Freundin. Erst als er lacht und nochmals auf den »Made in Germany«-Schriftzug weist, wird mir klar, dass diese Erzählung nur illustriert, wie er sich die Geschichte des Objekts ausmalt. Er selbst, erzählt er, habe den Teller um 1980 auf einem Trödelmarkt in Rangun (Myanmar) bei einer chinesischen Händlerin gekauft. Die Reise, die dieser Teller gemacht haben müsse, der schon dadurch interessant sei, dass er in Deutschland hergestellt wurde, um als Souvenir in London verkauft zu werden, fasziniere ihn. Herr Seiler ist sogar aufgestanden, um mit mir vor dem Teller zu stehen, während er die Geschichte erzählt. Bald aber lässt er sich wieder auf das Bett nieder. Er sagt,
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es ginge ihm nicht gut und er würde sich gerne ausruhen.6 Der Photograph und ich verabschieden uns von Herrn Seiler und seinen Kindern. Zweites Gespräch, Wohnheimzimmer (März 2010) Seit einigen Wochen bewohnt Herr Seiler nun sein Zimmer im Altenheim. Sein Sohn und ich verabreden, uns dort zu treffen, um die Photos, die bei dem Gespräch einen Monat zuvor entstanden sind, anzusehen. Wie auch schon beim letzten Mal, höre ich gleich nach dem Eintreten Herrn Seiler, der sicher gehen will, dass die Jacken aufgehängt und die Schuhe ausgezogen und an den dafür vorgesehenen Platz gestellt werden. Er sitzt in seinem Sessel mit den Fellen, der aus der Wohnung mitgenommen wurde und begrüßt mich sehr freundlich. Einige der Teller und Bilder hängen, ähnlich angeordnet wie im früheren Wohnzimmer, an der Wand. Auch die runde Lackschachtel aus Südostasien sehe ich wieder. Ich starte den Laptop, um die Photos zu zeigen, was Herr Seiler mit einer Bemerkung über junge Leute und ihre Vorliebe für technische Geräte kommentiert. Ich hoffe, dass er beim Durchsehen der Photos ins Erzählen kommt. Zum Beispiel wäre es interessant, zu erfahren, was – außer dem offensichtlichen – nun hier im Wohnheimzimmer zu finden ist, was nicht und warum. Auch hoffe ich, dass er dieses Mal mehr von den Dingen und den damit verbundenen Geschichten spricht. Aber Herr Seiler fühlt sich nicht wohl und hat offenbar keine Lust auf eine derartige Konversation. Schon nach den ersten Photos fragt er, warum wir uns das ansehen würden. Er meint, er kenne die Dinge alle schon, das sei für ihn nicht interessant und ob sein Sohn und ich uns die Bilder nicht auch später ansehen könnten, wenn uns so daran gelegen sei. Wir beide versuchen, ihm begreiflich zu machen, dass wir das gerne mit ihm zusammen machen würden, schließlich handle es sich um seine Sachen. Aber Herr Seiler lässt sich nicht umstimmen. Er wolle viel lieber hinunter gehen, Kaffee trinken und ein Stück Kuchen essen.
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Herr Seiler scheint während des Gesprächs nicht geistig verwirrt und spricht stets nachvollziehbar, auch wenn er zuweilen weite Gedankensprünge macht und nicht immer auf angeschnittene Themen oder zum Ausgangspunkt zurückkommt. Warum er sich schlecht fühlt und schwach wirkt, weiß ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Nach dem ersten Besuch im Heim erfahre ich von seinem Sohn, dass Herr Seiler an Parkinson und Alzheimer leidet.
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Es ist nicht zu übersehen, dass Herr Seiler sich heute körperlich sehr unwohl fühlt und es unangebracht wäre, ihn weiter mit den Bildern zu bedrängen. Für diesen Besuch hatte ich auch vorgesehen, das Zimmer zu photographieren, um eine Vergleichsbasis zu den Photos aus der Wohnung zu haben. Aber auch das verschiebe ich auf das nächste Mal und warte vor der Tür, während Richard Seiler seinem Vater hilft, sich für den Cafeteriabesuch bereit zu machen. Herrn Seiler wäre meine Anwesenheit dabei unangenehm, das ist an seinem Verhalten zu erkennen. Wenig Zeit vergeht, bis Richard Seiler seinen Vater behutsam zum Rollator geleitet, der vor der Tür steht. Draußen im Flur läuft eine Frau langsam entlang der hölzernen Stange, die an der Wand angebracht ist, wobei sie sich mit beiden Händen daran festhält und sich vorwärts schiebt. Herr Seiler sieht das offenbar nicht zum ersten Mal: »Sie macht wieder ihre Turnübungen«, sagt er, und ich glaube, sowohl Abneigung als auch Resignation in seiner Stimme vernehmen zu können. Wir bestellen Kaffee und Kuchen. Leider entwickelt sich kein Gespräch, das für mich Anknüpfungsmöglichkeiten bietet. Danach besteht Herr Seiler darauf, dass sein Sohn ihm etwas auf dem Klavier vorspielt, das im großen Gemeinschafts- und Festsaal im Erdgeschoss des Altenheimes steht. Nach einigen Stücken möchte Herr Seiler wieder auf sein Zimmer. Ich verabschiede mich von dem alten Herrn, der, obwohl er sich heute sichtlich schlecht fühlt, sehr freundlich ist. Nach diesem Treffen gehen Richard Seiler und ich noch in ein nahe gelegenes Café und ich zeige ihm die Photos. Er ist von den Aufnahmen begeistert, besonders interessant findet er die unüblichen Blickwinkel, in dem die ihm so bekannten Objekte und Räume zu sehen sind. Er beschreibt seinen Vater als jemanden, dem »Materielles nicht so wichtig ist ‒ vielleicht wegen seiner Geschichte, er war immer unterwegs«. Auch erzählt er mir, dass alle Möbel in der Wohnung, außer denen in seinem ehemaligen Kinderzimmer, nicht von seinem Vater gekauft wurden. Er habe vor 20 Jahren, als er bei seiner (Richard Seilers) Mutter7 ausgezogen sei, die Wohnung von einer alten Frau, die ins Heim musste, mitsamt der Einrichtung übernommen. »Vielleicht bedeuten ihm diese Sachen auch deswegen nicht so viel«, sagt er.
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Die Mutter von Richard Seiler ist aus Südostasien, die beiden Töchter von Herrn Seiler haben eine andere Mutter.
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Drittes Gespräch, Wohnheim, nicht verabredet (März 2010) Am nächsten Vormittag warte ich in der Cafeteria des Altenheimes. Ich bin mit einem anderen Bewohner verabredet, der aber nicht auf seinem Zimmer war und den ich so abzupassen hoffe. Es ist ca. halb zwölf, so dass sich nach und nach viele Senioren im Foyer versammeln, um sich vor dem bald anstehenden Mittagessen noch zu unterhalten. Herr Seiler setzt sich an einen der Tische und ich geselle mich zu ihm. Wir unterhalten uns ein wenig über allgemeine Themen und bald möchte er aufstehen und ein wenig laufen. Er stützt sich dabei auf seinen Rollator. Wir nehmen auf der Bank gegenüber des Eingangs Platz und Herr Seiler deutet auf seine Gehhilfe: »Das ist auch so eine Sache hier, dieses Ding – daran wollte ich mich gar nicht gewöhnen. Das ist mir so unlieb. Aber ich habe es eingesehen«, sagt er. Ich frage ihn, wie es ihm hier ergehe und ob er sich eingelebt habe. »Eingelebt?! Es ist eben so. Sehen Sie, ich habe in so vielen Hotelzimmern gewohnt, für mich ist das einerlei.« Er erzählt vom Leben aus einem kleinen Koffer, das er lange geführt habe. Mir scheint, er versucht, sich von dem Umzug unberührt zu geben, räumt aber immer wieder ein, dass es ihm lästig sei, hier zu sein. Es sei schon eine schlimme Sache, das mit dem Altenheim, sagt er schließlich, betont aber, dass er sich leicht an veränderte Lebensumstände gewöhnen könne. Besonders bedrücke ihn der Gedanke, bald noch abhängiger vom Pflegepersonal zu sein und der Gedanke an den Verlust seiner geistigen Fähigkeiten bis hin zur »Selbstauflösung«, wie er sagt. Er wirkt unruhig und niedergeschlagen. Letztes Gespräch, Wohnheimzimmer (September 2010) Über ein halbes Jahr nach dem Umzug verabrede ich mit Richard Seiler einen Besuch bei seinem Vater. Ich möchte sehen, wie das Zimmer, in dem Herr Seiler nun seit etwa einem halben Jahr wohnt, inzwischen aussieht, Photos für die Auswertung machen und vor allem mit Herrn Seiler ein abschließendes Gespräch führen. Sein Sohn hatte mir im Vorfeld berichtet, er habe merklich abgebaut und es sei immer schwieriger, ihm in Gesprächen zu folgen. Ich treffe die beiden in Herrn Seilers Zimmer an, wie immer öffnet Richard Seiler die Tür. Der alte Herr hat auf einem Sessel an der Fensterfront Platz genommen und die Beine hochgelegt. »Darf ich sitzen bleiben?«, fragt er lächelnd. Er macht einen freundlichen und offenen Eindruck. Ich lasse mich auf dem Sessel gegenüber nieder (Richard Seiler nimmt auf dem
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Bett Platz) und erkundige mich nach seinem Befinden. Er freue sich über jeden Tag, den er nicht auf der Pflegestation verbringen müsse und an dem die Schwestern ihm das Essen nicht in Form von Brei einflößten »und sie mich fragen, ob es schmeckt und ich, gleich was es ist, brav ja sage, weil ich mich nicht mehr erinnern kann, was ich esse.« Während er das sagt, macht er überzogen die Gesten einer fürsorglichen Pflegerin nach. Es ginge ihm auf jeden Fall nicht schlecht und er freue sich über Richards Besuche. Er solle nur seine Doktorarbeit endlich beenden, so dass er (Herr Seiler) nicht immer das Gefühl habe, ihn von der Arbeit abzuhalten. Ich lenke das Gespräch auf Herrn Seilers Alltagsgestaltung. Er sagt, dass es ihm an Konzentration mangle, um längere Texte, geschweige denn Bücher, zu lesen. Auch die langen Spaziergänge, von denen er sich vorgestellt hatte, sie machen zu können, müssten ausfallen. Dabei deutet er zum Fenster hinaus auf den bereits leicht herbstlich anmutenden Park an der Rückfront des Heims. Schließlich sagt er: »Man muss das, was man tun will, dann tun, wenn es möglich ist und es nicht auf später verschieben. Dann ist es nämlich meist zu spät.« Er habe gedacht, er könne noch viele Bücher, die ihn interessieren, lesen, wenn er erst einmal im Altenheim sei. Doch nun würde ihm allein der Fernseher ein wenig Abwechslung bieten. Daraufhin führt er das Gespräch auf ein Thema der Tagespolitik.8 Herr Seiler ist guter Laune. Ich frage, ob ich ein paar Photos von dem Zimmer machen kann. Darauf richtet sich Herr Seiler in seinem Sessel auf, schlägt die Beine übereinander und lächelt mich herzlich an, so dass ich ein
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Er setzt zu einer Argumentation an, die mit der Entstehung der unterschiedlichen Weltreligionen beginnt, ergeht sich in detaillierten Ausführungen, komplizierten Parenthesen und versucht, verschiedene Gedankengänge einzubinden. Zunächst fehlt seinen Sätzen das Ende und schließlich verliert er den Faden ganz. Schon bei den vorangegangenen Gesprächen ist mir Herr Seilers Hang aufgefallen, über Umwege und Querverweise seine Gedanken darzulegen. Dabei gelang es ihm bereits bei unserem ersten Treffen nicht immer, die Bezüge am Ende zu einer klaren Aussage zusammenzusetzen. Damals schien mir das nicht weiter ungewöhnlich, da selbst bei jungen Menschen, die die Angewohnheit haben, bei der Darlegung ihrer Argumente vom Hundertsten ins Tausendste zu gelangen, ganz ähnliche Beobachtungen gemacht werden können. Diesmal allerdings war es frappierend und letzten Endes auch der Grund, warum wir das Thema ad acta legen mussten.
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paar Aufnahmen von ihm machen kann. Ich freue mich über seine Reaktion, da er bisher dem Photographieren sehr reserviert gegenüberstand und ich auch sonst bei unseren Gesprächen den Eindruck hatte, dass er mein Anliegen, über seine Dinge zu sprechen, für einfältig hält. (Das schließe ich vornehmlich aus seinen Bemerkungen, ich würde die Dinge oder den Kontext, aus dem sie stammen, nicht kennen, die Geschichten seien für mich uninteressant etc.) Ich photographiere systematisch den Raum ab und erkläre, dass ich das zur Gedächtnisstütze mache, um später abzugleichen, welche Gegenstände in einem ähnlichen Ensemble wie zuvor in der Wohnung zusammengestellt sind. Daraufhin beginnt zuerst Richard Seiler dann Herr Seiler, über alle Objekte, denen ich mich zuwende, Auskunft zu geben: In welchem Zimmer sie standen, was sich in ihrer Nähe befand und auch etwas über ihre Geschichte – allerdings keine weiteren Informationen als die im Inventar erwähnten (Kaufort, Preis und Jahr). Herr Seiler hebt die Abbildungen aus Indonesien heraus, die Szenen aus Epen zeigen, sowie diejenigen, die hinduistische Mythen thematisieren. Mir fällt auf, dass viele der Bilder, Karten und Teller ähnlich beisammen gehängt sind wie in der vorherigen Wohnung, einige sind sogar wieder in der Nähe derselben Möbelstücke aufgestellt. Einen prominenten Platz nehmen vier Teller ein, die als Ausschnitt einer zuvor größeren Gruppe, wieder diagonal übereinander angeordnet, mittig zwischen Herrn Seilers Sessel und seinem Bett an der Wand hängen. Darunter, auf dem an die Wand gestellten Wohnzimmertisch mit Glasplatte und Wiener Geflecht, stehen wie zuvor zwei schlanke chinesische Fishbone-Skulpturen. Die runde Lackschatulle hat dazwischen Platz gefunden (wie zuvor ein anderes Schmuckkästchen), darauf liegen weiterhin Herrn Seilers Brillen. Das Kästchen, das zuvor anstelle des Tisches unter den Tellern stand, ist nun an der Wand gegenüber zu finden, darauf die Photos und Schnitzereien, die im früheren Wohnzimmer auf dem Klavier aufgereiht waren, darüber, ähnlich wie zuvor, eine Karte von Preußen und zwei australische Bilder. Der einzige Unterschied besteht in der Anzahl der Photos: Es sind nun vier Bilder. Hinzugekommen sind die beiden Photos, die zuvor an der Wand neben dem Diwan hingen und Herrn Seilers Freund, den Maler Pablo Richmann, auf Ibiza zeigen. Photos von seinen Kindern oder deren Müttern sind nicht aufgestellt, lediglich auf einem der Photos mit Pablo Richmann ist Herr Seiler mit einem Kleinkind, seinem Sohn, auf dem Arm zu sehen. Ein weiterer
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Verwandter ist auf dem Bild daneben zu finden: Herr Seilers Enkel beim Geigespielen. Das vierte Photo sei eine Portraitaufnahme eines guten Freundes aus Ungarn, ohne den sein Sohn »jetzt nicht so gut Klavier spielen« würde.9 Links von der großen Preußenkarte über dem Kästchen hängt der in Deutschland hergestellte Souvenirteller aus London wieder. Herr Seiler macht mich erneut auf die »spannende Geschichte«, die dieses Stück haben müsse, aufmerksam und dann auf ein anders Mitbringsel aus London: Auf dem Fernseher, der auf demselben Möbelstück steht wie in der früheren Wohnung, finden sich auch dieselben beiden Gegenstände wieder, nämlich eine Uhr und eine kleine, silberne Plastikfigur, die Amor darstellt. Auf dem schwarzen Sockel ist ein Aufkleber mit der Aufschrift »Souvenir of London«. Das sei das erste Mitbringsel seines Sohnes von einer Reise, Richard Seiler soll damals 11 Jahre alt gewesen sein, sagt Herr Seiler. Hinter dem Fernseher steht ein rundes, zweistöckiges Tischchen, das in der früheren Wohnung als Ablage und Telefonkonsole gedient hatte und gleich hinter der Wohnzimmertür stand. Jetzt sind eine Schirmlampe und mehrere kleine Buddhafiguren (oben) sowie einige Vasen (unten) darauf zu finden. Es handelt sich hierbei, bis auf die Lampe, um Gegenstände, die von Herrn Seiler und seiner Tochter zum Mitnehmen beiseitegestellt worden waren und die bei meinem ersten Besuch auf dem obersten Regalbrett des Wohnzimmerschranks standen. Herr Seiler sagt, im Flur hingen auch noch Bilder und steht auf, um sie mir zu zeigen. Fast auf alle sind Darstellungen aus hinduistischen Epen und entsprechende Gottheiten zu sehen. Es sind zwar wieder keine persönlichen (Objekt-)Geschichten, die Herr Seiler erzählt, aber durch seine detaillierten Ausführungen wird deutlich, dass er an diesen Stücken besonders hängt. Anders als beim ersten Gespräch fragt er dieses Mal nicht immer wieder, ob mir die Kulturen, Mythologien und Orte, von denen er berichtet, etwas sagen. Damals hatte er sogar zuweilen gar nicht erst darüber zu sprechen
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Herr Seiler betont seine Wertschätzung für diesen Mann und nennt ihn einen engen Freund, dem er viel zu verdanken habe. Das Bild findet sich, als einziges Photo aus dem Wohnzimmer, auf der Inventarliste mit Wertgegenständen wieder. Bei meinem ersten Besuch hatte er mit mir über die Dinge auf dem Klavier nicht gesprochen. Als ich nach den Objekten fragte, gab er sehr kurze Antworten. Erst als ich das Gespräch auf die darüber hängende Karte von Preußen lenkte, gab sich Herr Seiler wieder etwas konversationsfreudiger.
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begonnen, sondern nur angemerkt, dass mir das nichts sage oder ich nichts damit anfangen könne. Heute wirkt er besser gelaunt und vitaler als bei unseren anderen Begegnungen und es entsteht ein Austausch zwischen uns, wie er zuvor nicht möglich war. Zuerst denke ich, seine Offenheit und Bereitschaft, sich auf meine Fragen einzulassen, sei – wie schon bei den anderen Informanten beobachtet – auch damit zu begründen, dass es inzwischen offensichtlich ist, dass ich schwanger bin. Als sein Sohn aber etwas diesbezüglich anmerkt, stellt sich heraus, dass Herr Seiler meine Schwangerschaft gar nicht wahrgenommen hat. Als er auf dem Weg zurück zum Sessel an dem Kästchen mit den Dingen, die ehemals auf dem Klavier standen, vorbeigeht, greift er nach einer der Holzskulpturen: einem Affen mit weit aufgerissenem Maul. Laut Inventarliste handelt es sich hierbei um den Affenkönig Sugriva aus dem Ramayana-Epos. Herr Seiler stellt mir den Affenkönig vor, gibt ein paar Eckdaten zu dem Epos, nennt weitere wichtige Figuren aus der Sage und diskutiert dann mit seinem Sohn, ob es nicht doch nur der General des Königs sei, der hier dargestellt ist. Dann weist er mich auf die Bearbeitung des Holzes hin und die Machart der vielen Felllocken, der spitzen Zähne und der an sich ziemlich imposanten Haltung des »hässlichen Kerls«. Er stellt ihn wieder hin und greift nach einer der Figuren daneben, einem dicken, trinkenden Mann, den er in den siebziger oder achtziger Jahren auf Bali gekauft habe. Dabei bemerkt er, dass das Holz einen tiefen Riss bekommen hat. Vater und Sohn unterhalten sich darüber, wie und wann die Skulptur wohl beschädigt wurde oder ob der Riss altersbedingt entstanden sei. Das Gespräch gleitet ab – am Material sozusagen. 4.1.2 Frau Kaiser (geb. 1927) Wie bei allen zukünftigen Bewohnern, deren Angehörige den Umzug organisieren, stellt die Heimleiterin den Kontakt für mich zu der Seniorin über diese Personen her. Im Fall von Frau Kaiser ist es deren Schwiegertochter, Frau Teck, die sich darum kümmert. Der Umzug ist aus logistischen Gründen in zwei Stufen geplant. Frau Kaiser möchte sobald als möglich umziehen und muss dies auch, wegen der mit dem Vermieter ihrer Wohnung vereinbarten Kündigungsfristen. Das Heimzimmer, in dem sie wohnen wird, ist aber wegen Renovierungsarbeiten erst in zwei Monaten bezugsfertig.
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Daher wird die Seniorin zunächst in das Gästeappartement ziehen, so dass ihre Wohnung zum Ende des Monats März geräumt werden kann. Telefonat mit der Schwiegertochter, Frau Teck (März 2010) Frau Teck wirkt meinem Projekt gegenüber sehr offen und berichtet mir viel von ihrer Schwiegermutter. Diese habe keine größeren körperlichen Beschwerden, aber die Bewältigung des Alltags fiele ihr schwer. »Sie isst gar nicht mehr, sie lebt von zwei Flaschen Malzbier am Tag. Wenn ich ihr etwas einkaufe, finde ich es eine Woche später genau so im Regal.« Selber würde sich Frau Kaiser gar nichts mehr kaufen, zumindest nichts »Sinnvolles«. Auch mit Geld könne sie nicht mehr umgehen – sowohl die Kontoführung als auch das Wirtschaften mit Bargeld fielen ihr schwer. Frau Teck und ihr Mann hatten eine Haushaltshilfe angestellt. Diese habe es aber auf Dauer »schamlos ausgenutzt«, dass Frau Kaisers Kurzzeitgedächtnis ihr Schwierigkeiten bereitet. So habe sie zum Beispiel den Lohn für eine Dienstleistung mehrere Male eingefordert. Es habe gedauert, bis Frau Teck und ihr Mann begriffen hatten, warum Frau Kaiser immer wieder nach Geld fragt. »Sie hat dann in einem Monat 1000 Euro durchgebracht«, sagt Frau Teck – danach hätten alle gemeinsam beschlossen, dass es nun an der Zeit für den Umzug ins Altenheim sei. Sie erzählt mir, Frau Kaiser habe nach dem Tod ihres ersten Mannes noch mal geheiratet, um, laut eigener Aussage, nicht allein zu sein. Sie habe ihren zweiten Mann lange gepflegt, da er 1991 einen Schlaganfall erlitten habe. Diese Aufgabe sei vor drei Jahren, als er verstarb, weggefallen. Nach Einschätzung von Frau Teck, trage dieser Umstand dazu bei, dass Frau Kaiser immer schlechter zurechtkäme. Frau Teck berichtet, sie habe beobachtet, dass ihre Schwiegermutter zunehmend Phasen habe, in denen ihre Gedächtnisprobleme gravierend würden, so dass sie sich nicht mehr orientieren könne, nicht mehr wisse, was sie gerade getan habe oder tun wolle. So wie Frau Teck es schildert, hat ihre Schwiegermutter keine Schwierigkeiten, den anstehenden Umzug zu akzeptieren. Frau Kaiser gehe offen damit um und sie sei nicht weiter davon betroffen. Sie sortiere und packe bereits, eine Cousine helfe ihr dabei. Wir verabreden, uns zwei Tage später zu treffen und gemeinsam zu Frau Kaiser in die Wohnung zu fahren. Außerdem ist Frau Teck einverstanden, dass ich bei der für Ende März geplanten Räumung der Wohnung anwesend bin (vgl. Kap. 4.4).
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Erstes Gespräch, Wohnung (März 2010) Zusammen mit ihrer Schwiegertochter besuche ich Frau Kaiser in ihrer Wohnung. Sie erwartet uns mit einer Kanne Kaffee, Frau Teck hat Kuchen mitgebracht. Wir setzen uns in das Esszimmer von Frau Kaiser, die Unterhaltung beginnt ganz ungezwungen und ohne dass ich eine einleitende Frage stelle. In diesen Raum werden, wie ich erfahre, die Dinge gebracht, die für das Altenheim bestimmt sind: die fertig gepackten Kisten und die wenigen Möbel. Letztere stünden aber noch nicht alle hier. Neben der Tür befindet sich ein bereits leer geräumter Gläserschrank mit neoklassizistischen und neobarocken Zierelementen. Ich erfahre, dass dieser aus praktischen und ästhetischen Gründen in jedem Fall Teil der Einrichtung im Wohnheim werden soll. Das zweiteilige Möbel hat unten zwei Türen und darüber je eine Schublade; der obere Bereich hat ebenfalls zwei Türen, diese sind über die ganze Höhe verglast, hinter ihnen befinden sich zwei Glasböden. Daneben stehen mehrere gepackte und beschriftete Kisten, eine davon enthält demnach Geschirr und ist mit dem Namen von Frau Kaisers Schwiegertochter beschriftet. Ich erfahre, dass Frau Kaisers Enkelin demnächst eine eigene Wohnung beziehen wird und ihre Großmutter Haushaltsgegenstände wie Geschirr, Blumenvasen etc. für sie zur Seite lege. Frau Kaiser sagt, sie habe auch sonst schon viel sortiert und sie wisse auch bereits, welche Möbel mitkämen: besagter Schrank, ein niedriger Tisch aus dem Wohnzimmer, dazu die zwei Sessel sowie eine kleine Kommode mit Schubladen für den (bereits vorhandenen) Flachbildfernseher ‒ allesamt gemütliche und praktische Einrichtungsgegenstände. Neues würde sie sich nicht zulegen. Mehr passe ja nicht in das Zimmer, sagt Frau Kaiser mit einem fragenden Ton in der Stimme. Immer wieder besprechen die beiden Frauen auch organisatorische Dinge, die aber nicht unmittelbar mit dem Umzug ins Heim zu tun haben. Es zeichnet sich ab, dass ein thematisch gerichtetes Gespräch unter diesen Umständen schwierig wird, ich erfahre aber, dass Frau Kaiser seit 1982 in dieser Wohnung lebt. Dass sie nun umziehe, wisse sie seit vier Wochen; mit dem Packen habe sie vor zwei Wochen begonnen, teilweise zusammen mit ihrer Cousine. Frau Kaiser wirkt bescheiden und man gewinnt den Eindruck, sie habe sich mit der Situation abgefunden. Sie sagt, das sei jetzt eben so, was solle man machen und zuckt dabei mit den Schultern. Wir reden kaum über ihre Dinge, weil die Auskünfte knapp und sachlich sind und wenig Möglichkeit lassen, auf die Geschichten dahinter einzugehen.
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Wenn ich nach Photos, die im Zimmer aufgestellt sind, frage, zählt sie die darauf zu sehenden Personen auf und nennt gegebenenfalls die Gelegenheit, zu der sie aufgenommen wurden. Überhaupt sind wenige Photos in der Wohnung: im Esszimmer beispielsweise steht nur eines, das Frau Kaisers Sohn und ihre Schwiegertochter mit den beiden Kindern an der Silberhochzeit zeigt. Ein Photokalender, den die Enkel gemacht haben, hängt an der Wand, daneben ein weiterer, religiöser Kalender sowie ein Photo von Frau Kaisers neuapostolischer Kirchengemeinde. Ich finde die Redundanz der Kalender und anderer Objekte merkwürdig. Auch eine Vielzahl von Uhren steht und hängt beispielsweise nebeneinander in den einzelnen Räumen, manchmal im Ensemble mit Thermometer und Barometer. Ich frage, wie es dazu kommt. »Ich hatte die eben, dann habe ich sie dahin getan«, sagt Frau Kaiser in Bezug auf mehrere Uhren. »Da hängt auch noch eine«, bemerkt sie beinahe amüsiert, als sei ihr diese Eigenheit selber noch nicht aufgefallen. Was den weiteren Wandschmuck anbelangt, ist zu bemerken, dass er in Frau Kaisers Augen die Funktion von Dekor zu haben scheint: Der Wandteppich ist eben ein Wandteppich, die Wandteller sind für sie einfach nur schön. Ich erinnere mich, die gleichen Teller in einer anderen Seniorenwohnung gesehen zu haben und spreche das an. »Ja, die gab es mal. Das sind Szenen aus Märchen.« – »Aus welchen Märchen?«, frage ich. Die unbekümmerte Antwort lautet: »Weiß ich nicht.« Ich sehe mir die Abbildungen an und kann die Erzählungen identifizieren. Aber Frau Kaiser nimmt die Information mit einem Schulterzucken zur Kenntnis. Was den Wandteppich betrifft, erfahre ich erst später, dass er, genauso wie die wenigen Gobelins, die in der Wohnung aufgehängt sind, von der ersten Frau von Frau Kaisers zweitem Mann handgearbeitet wurde. Dass Frau Kaiser das zunächst nicht erwähnt hat, hängt aber ihrer Einschätzung nach nicht daran, dass dieser Kontext sie störe, sondern an der Tatsache, dass sie grundsätzlich keinen innigen Bezug zu Dingen habe. Alle Zimmer der Wohnung sind tapeziert: jeder Raum hat ein eigenes Wanddesign, dennoch sind es stets Blumenmotive in Rosa-, Grün- und Brauntönen, die mal in Reihen gegliedert, mal flächig auf Raufaser, mal in kleine Rauten gerahmt, mal als Streublümchenmuster die Wände zieren. Wandschmuck, in Form von Bildern und sonstigem Dekor, sind in der ganzen Wohnung eher rar. Im Esszimmer hängt mit Wandteppich, Wandtellern und Kalendern noch das meiste. Gehäkelte Zierdeckchen, zum Teil mit sehr
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kleinem Durchmesser, sind hingegen in der ganzen Wohnung, sogar unter Stofftieren und Couchkissen, zu finden. Ich kann Frau Kaiser nicht dazu bringen, Geschichten zu erzählen über Herkunft und Anschaffung der Objekte oder Erlebnisse, die sie mit ihnen verbindet. Damit wir überhaupt von ihren Dingen reden, muss ich diese gezielt und einzeln ansprechen, wodurch ich gezwungenermaßen eine Auswahl treffe. Bald bemerke ich, dass ich das Gespräch nicht länger auf ihre Sachen fokussieren kann. Mit der Zeit werden meine Fragen plumper, ich befürchte, schon beinahe unbeholfen zu wirken. Erst nachdem Frau Kaiser fast nichts anderes mehr sagt, als: »So ist es. Jetzt muss ich eben weg«, finde ich mich damit ab, dass vermutlich alles, was dazu zu sagen ist, bereits stichpunktartig in meinem Notizblock steht. Es ist nicht zu übersehen, dass Frau Kaisers Dinge schon stark in Bewegung und auch durcheinandergeraten sind. Im Wohnzimmer stehen mehrere Kartons; die meisten sind noch zusammengefaltet. Sie sind an der großen Schrankwand aus dunklem Holz im »altdeutschen Stil« abgestellt und verbauen den Blick auf den Fernseher. Die Schrankwand ist, zumindest in den einsehbaren Bereichen, bereits ausgeräumt. Auf der anderen Seite sind Bananenkisten aus dem Supermarkt gestapelt, gefüllt mit den bereits sortierten Sachen – vornehmlich Geschirr, das Frau Teck weitestgehend für ihre Tochter mitnehmen möchte. ein Koffer mit Kleidung für Frau Kaiser lehnt dagegen. Noch leere Kartons und Kisten stehen daneben bereit. Einige Schritte weiter sind zwei Kartons, die offenbar noch nicht fertig gepackt sind: ein Telefon, Schuhkartons und Handtaschen liegen auf dem einen, der andere ist bereits fast voll mit Textilien. In der Ecke, unter einem relativ alten Exemplar eines Keyboards, sind mehrere halbvolle Müllsäcke. Die Couch daneben ist offensichtlich schon länger nicht mehr benutzt worden, die Kissen liegen unberührt darauf und nehmen fast die gesamte Sitzfläche in Anspruch. Die beiden Sessel, die sich um den dunkelgrünen Steintisch gruppieren (Möbel, die für das Altenheimzimmer vorgesehen sind), stehen willkürlich im Raum, keine Sitzgelegenheit ist in Richtung des ohnehin zugestellten Fernsehers ausgerichtet. Dieses Zimmer wird offenbar nur noch als Ort zum Einpacken genutzt, während Küche, Bad und Schlafzimmer noch voll intakt und in Wohnbenutzung sind. Ich darf mich alleine und frei in der Wohnung bewegen und muss regelrecht darauf achten, dass Frau Kaiser immer mit im Raum ist, so dass es mir möglich ist, doch noch mehr
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über einige Dinge zu erfahren. Die Methode, das Gespräch anhand eines Rundgangs zu führen, will in diesem Fall nicht greifen. Einige Erinnerungen in Zusammenhang mit den Einrichtungs- und Dekorgegenständen werden aber doch verbalisiert, wenn ich mich auffallend lange vor bestimmten Objekten aufhalte, die Frau Kaiser dann kurz kommentiert. In einer der Zimmerecken, am Fenster, sind zwei große Lederleporellos mit je drei Photos aufgehängt. Frau Kaiser erklärt mir mit einem Lächeln, dass in einem davon Photos von Freunden aus der Gemeinde zu sehen seien. Im zweiten, dem etwas tiefer hängenden, sei oben das Portrait ihres ersten Mannes, darunter das der ersten Frau ihres zweiten Mannes und an dritter Stelle ein Hochzeitsphoto von ihr und ihrem zweiten Mann. Das elektrische Klavier neben der Couch fällt in der sonst wenige Überraschungen bergenden Wohnung auf, und ich hoffe, eine tiefere Bindung (zur oder über die Musik) auftun zu können. Zudem befinden sich in der Nähe auch ein Plattenspieler, der aber schon länger unbenutzt scheint, und viele Schallplatten. Frau Kaiser berichtet auf meine Frage hin knapp, dass sie in der Kirchengemeinde im Rahmen der Gottesdienste viele Jahre Elektroorgel gespielt habe. Sie sagt, sie habe sich für Musik interessiert, diese habe sie immer schon »angesprochen«. Ich frage sie, ob sie das Instrument mitnehmen wird. »Ach nein! Das spiel' ich jetzt nicht mehr! Das ist vorbei«, antwortet sie. Auch der Plattenspieler und die Platten sollen nicht mit.10 Es überrascht mich in diesem Kontext besonders, dass Frau Kaiser offenbar ohne größere Wehmut für sie prägende Dinge aussortiert. Auch scheint es sie nicht weiter zu beschäftigen, was mit ihren Sachen geschehen wird. Sie weiß, dass ihre Wohnung geräumt und dass alles, was nicht sie oder ihre Angehörigen mitnehmen, weggeworfen werden wird. Das Schlafzimmer wirkt intakt: Das mit einem rosafarbenen Überwurf bedeckte Bett ist von Spiegelschränken umrahmt, dazwischen sind Hängeschränke angebracht und ein in Fächer gegliedertes Kopfteil. An der gegenüberliegenden Wand befindet sich eine, die ganze Breite einnehmende Schrankwand. Die Möbel in diesem Zimmer, mit ihren zahlreichen Holztü-
10 Von Frau Teck erfahre ich später, dass Frau Kaiser bereits seit drei Jahren nicht mehr musiziere, obwohl sie sehr gut und gerne gespielt habe. Auch sonst würde sie sich nicht mehr mit Musik befassen, selbst das Radio liefe nur noch selten. Frau Kaisers Schwiegertochter antwortet auf meine Frage nach dem Grund, dass sei einfach so gekommen.
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ren, lassen auf sehr viel Stauraum schließen. Man kann nur erahnen, wie viele Dinge hier lagern. Über einer Kommode, auf der zwei kleine Vasen und ein Schmuckkästchen auf einem Häkeldeckchen stehen, hängt ein großes Hochzeitsbild von Frau Kaiser und ihrem zweiten Mann. Der Rahmen ist goldgefasst, die Randzonen der Aufnahme, die in einem Photostudio gemacht wurde, sind verwischt, so dass das Paar und der orangerote Blumenstrauß zwischen ihnen von einem unscharfen Oval umgeben sind. Über dem Bett, auf einem langen Regalbrett, sind mehrere Plüschtiere zu sehen: Ein Panda, ein Hund, ein Hase und zwei Puppen. Ich versuche ein letztes Mal, mich den Geschichten hinter den Dingen, die ich sehe, zu nähern und frage, was es mit den Tieren auf sich habe. Wieder gibt die Antwort keine Information preis, die über die bejahte Existenz und die offensichtliche Typologie der Objekte hinausgeht (z.B.: »Ja, das sind meine Stofftiere. Ich hab die dort hingestellt«).11 Weitere Fragen nach der Herkunft oder dem zukünftigen Verbleib der Dinge haben sich mehrmals als wenig fruchtbringend erwiesen. Ich möchte nicht riskieren, die Situation ins Lächerliche zu ziehen und so belasse ich es bei dem Gesehenen und Gesagten. Frau Kaiser macht bei dem Gespräch einen entspannten Eindruck und nicht zuletzt durch Frau Tecks Anwesenheit kommt eine angenehme, fast familiäre Atmosphäre auf. Dass nicht über die Dinge gesprochen wird, scheint nicht mit einer Art Tabu zusammenzuhängen, sondern entspricht Frau Kaisers allgemeiner Haltung. Auch über sich selbst erzählt sie nicht allzu ausführlich. Ich frage mich, ob es damit zusammenhängt, dass sie nichts preisgeben möchte, aber angesichts der ungezwungenen Unterhaltung kann das nicht der maßgebliche Grund sein. Ich erfahre, dass sie von 1950 bis 1958 in der Porzellanabteilung eines großen Kaufhauses und in den Jahren von 1972 bis 1985 bei einer Bank an der Couponkasse gearbeitet habe. Ihr erster Mann, der Vater ihres Sohnes, sei früh und überraschend verstorben. 1978 habe sie dann ein zweites Mal geheiratet.
11 Frau Teck erzählt mir bei einer späteren Gelegenheit, dass auch sie nicht wisse, ob diese Figuren ihrer Schwiegermutter etwas bedeuten – obwohl sie doch an einem so bedeutungsvollen Ort stehen, wie sie sagt. Die eine Puppe habe Frau Kaiser schon sehr lange, mehr sei ihr darüber auch nicht bekannt. Es seien jedenfalls nicht die ehemaligen Spielsachen der Enkel.
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Mehrere Gespräche mit Frau Kaiser und Frau Teck, Wohnheim, nicht verabredet (April/Mai 2010)12 Wenn ich Frau Kaiser zufällig im Altenheim über den Weg laufe, sind die Unterhaltungen mit ihr kurz und geprägt von Bescheidenheit. Mit Blick auf den Umzug sagt sie jedes Mal, das sei jetzt eben so, was solle man machen und zuckt dabei mit den Schultern. Bei den Gesprächen mit ihr fällt es mir besonders schwer, das Bewegende an der Bewegung ihrer Dinge zu fassen. Es scheint, dass sie den Wechsel ihres Wohnortes als relativ leicht zu vollziehenden Übergang von einer Normalsituation in die nächste erlebt. Die bei Frau Kaisers Umzug auftretenden Schwierigkeiten bleiben weitestgehend auf der organisatorischen Ebene. So ist aus logistischen Gründen die Zwischenlagerung der Koffer, Kartons und Möbel für knapp zwei Monate nötig: Frau Kaiser lebt zwar im Altenheim, kann aber ihr Zimmer, da es renoviert wird, noch nicht beziehen und wohnt übergangsweise im Gästeappartement. Für diesen Zeitraum hat Frau Kaiser mithilfe ihrer Schwiegertochter einige Sachen, vornehmlich Kleidung, gesondert verpackt, so dass sie sich auch im provisorischen Zimmer einrichten kann. Während die kleineren Gegenstände bereits in den Keller des Altenheims gebracht werden können, müssen die Möbel bei Frau Kaisers Angehörigen zwischengelagert werden. Was im Rahmen dieses zweifachen Umzugs mit dem Hab und Gut von Frau Kaiser geschehen ist, ist schwer nachzuvollziehen und noch schwerer zu bewerten. Die Sachen sind, nachdem Frau Kaiser diese selbst sortiert und verpackt hat, noch einige Male bewegt worden. Frau Teck erzählt mir, dass sie bei Besuchen bemerkt habe, dass ihre Schwiegermutter zunehmend Kisten, die nicht für das Gästeappartement vorgesehen waren, sondern im Keller der Einrichtung zwischengelagert wurden, auszupacken begann. Als sie dann das eigentliche Zimmer beziehen konnte, sei aufgefallen, dass einige Sachen (Geschirr, Besteck und dergleichen) gefehlt hätten. Frau Teck habe außerdem nochmals alles durchgesehen, was in der Wohnung geblieben war, weil ihr merkwürdig erschienen sei, welche Dinge zurückgelassen wurden – Dinge, die sie selbst in einer solchen Situation mitgenommen hät-
12 Frau Kaiser verlässt noch vor Ende März ihre Wohnung und bezieht im Wohnheim das Gästeappartement. Ihr Zimmer steht ihr erst ab Mitte März zur Verfügung. In diesen Zeitraum laufen wir uns einige Male im Altenheim zufällig über den Weg.
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te. Es handelt sich um Gebrauchsgegenstände, um »Kleinigkeiten«, wie Frau Teck sie nennt, die sie zum Stutzen gebracht hätten. »Sie hat einfach sinnlos gepackt«, sagt sie über ihre Schwiegermutter. Ich frage sie, warum und bitte sie, mir Beispiele zu nennen. Frau Teck zuckt mit den Schultern und meint: »Vielleicht, um nichts wegzuwerfen.« Sie erzählt, sie habe Haushaltsgegenstände, die man im Heim nicht brauche, mitgenommen und andere, »wertvolle« Sachen, wie »alte und schöne« Porzellanobjekte, an eine Bekannte verschenkt. Letztes Gespräch, Wohnheimzimmer (Juni 2010) Den Termin für das Gespräch nach ihrem Umzug vereinbare ich einen Tag zuvor telefonisch mit Frau Kaiser. Als ich zur verabredeten Zeit an der Tür klopfe, öffnet sie die Tür im nächsten Augenblick und sieht mich überrascht an. Ich frage, ob ich ungelegen käme, weil es so wirkt, als ob sie gerade das Zimmer verlassen wollte, und erwähne, dass wir gestern telefoniert hatten. »Ah ja, ich wollte noch in die Gruppe. Ich wusste nicht, dass Sie schon heute kommen wollten«, sagt sie, winkt mich dann aber doch ins Zimmer, meint, ich solle Platz nehmen und erkundigt sich nach meinem Befinden. Sie ist freundlich und empfängt mich trotz der anfänglichen Überraschung offen. Dennoch merkt man ihr ein wenig die Ungeduld an, die, wie mir scheint, auch daher rührt, dass sie nicht genau weiß, mit welchen Absichten ich gekommen bin. Ich merke, dass ich schnell zur Sache kommen muss, und frage, wie sie sich eingelebt habe. Eine einsilbige Antwort, »gut«, ist alles was sie erwidert; sie klingt dabei ein wenig unbeholfen. Nach zwei, drei weiteren, möglichst unverfänglich auf meine Interessen weisenden Fragen, die ebenso freundlich und einsilbig beantwortet werden, bin ich es, die sich unbeholfen fühlt. Als sie schließlich das Thema auf mich und meinem Befinden angesichts meiner Schwangerschaft zu sprechen kommt, ist das ein Signal für mich, dass ich meine Taktik ändern muss. Ich entscheide mich, direkter und ein wenig provokant auf sie zuzugehen und frage, ob sie zufrieden sei mit der neuen Wohnsituation. Auch wenn sie dadurch nicht sofort auf ihre Dinge zu sprechen kommen würde, könnte ich dann, so meine Hoffnung, das Gespräch darauf lenken. Sie bejaht meine Frage. Sie sei zufrieden, ihr fehle nichts und sie sei sehr eingebunden in die Aktivitäten im Heim, sagt sie und zeigt mir ihren Terminplaner: Gedächtnistraining, Malgruppe, Bewegungstherapie und dann noch die Mahlzeiten. Sie habe häufig Besuch und sonntags ginge sie
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weiterhin in dieselbe Kirchengemeinde; es komme ihr gelegen, dass sie jetzt einen kürzeren Weg dorthin habe. Sie fühle sich wohl und es fehle ihr an nichts, wiederholt sie. Sie vermisse auch nichts aus der alten Wohnung, versichert sie auf meine Nachfrage. Ich entschiede mich, noch provokativer vorzugehen, indem ich ihr berichte, ich sei bei der Räumung ihrer Wohnung dabei gewesen, um sie für meine Forschung zu dokumentieren. Sie fragt mich, ob es gut verlaufen sei und wie lange es gedauert habe, nimmt die Antworten zur Kenntnis und gibt mir weder mit einem Seufzer noch mit irgendeiner anderen Geste einen Angriffspunkt für weiteres Nachfragen. Ich weiß, dass, zeige ich mich weiter beharrlich, ich entweder auf Unverständnis stoße und eine absurde Gesprächssituation hervorrufe oder auf eine derart tief sitzende Problematik stoße, dass Frau Kaiser verletzt wird. Ich breche somit die offensive Taktik ab und denke über eine andere Möglichkeit nach. Einen Rundgang machen die räumlichen Gegebenheiten obsolet, da alles überschaubar ist und nirgends etwas aufgestellt oder aufgehängt ist, das ich mir aus der Nähe ansehen müsste. Ich entschließe mich, wie schon bei dem ersten Gespräch, über ausgewählte Dinge zu sprechen. Ich setze, in einem ersten Schritt, bei einem scheinbar unverfänglichen, unwichtigen Objekt an und beginne ein Gespräch darüber. Danach versuche ich, dieses in eine Richtung zu lenken, in der die Thematisierung der persönlichen Beziehung zu den Dingen unumgänglich wird. Hier bieten sich, so scheint es mir, die Dinge auf dem Fensterbrett an: Dort ist ein geblümter Tischläufer ausgelegt, darauf stehen zwei üppig blühende Orchideen, eine kleine Schirmlampe, dazwischen, je auf ein zusätzliches kleines Platzdeckchen gestellt, zwei bunte Glasvasen und eine Puppe. Diese Stoffpuppe war in der früheren Wohnung mit anderen Puppen und Stofftieren am Kopfende des Bettes platziert. Sie stellt eine alte Frau mit grauem Haar, Schultertuch und Schürze dar, die zwei Stricknadeln mit Strickzeug in den Händen hält. Sie ist die einzige der Figuren aus dem Schlafzimmer, die im neuen Wohnkontext zu sehen ist. Ich mache also zunächst eine Bemerkung über ihre Blütenpracht der Orchidee. »Ja, denen geht es hier auch gut, drüben wären sie bald eingegangen«, antwortet Frau Kaiser – jetzt der zweite Schritt: »Ah, die Puppe haben Sie mitgenommen!« – »Ja, die Oma strickt jetzt hier«, sagt Frau Kaiser; ich sehe es als Chance, nach dem Gespräch eine Geschichte in meinem Notizbuch festhalten zu können und frage, was mit den anderen Figuren passiert ist. »Die habe ich dort gelassen«, sagt sie unbekümmert. »Und wa-
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rum haben Sie nur diese mitgenommen?«, will ich wissen. »Die hat mir gefallen«, ist die kurze Antwort. Sie habe die Puppe schon lange, könne sich nicht mehr erinnern, woher, antwortet sie noch auf meine Nachfrage. Für Frau Kaiser scheint nicht viel mitzuschwingen, wenn sie über ihre Dinge spricht; Erinnerungen oder Geschichten sind kaum auszumachen. Ich muss es hinnehmen, da auch weitere Versuche ähnlich verlaufen. Wieder ist das Gespräch kurz und geprägt von Bescheidenheit und Selbstbeherrschung, ohne dass ich den Eindruck habe, sie müsse sich dafür zurückhalten. Man kann sagen, Frau Kaiser absolviert das Gespräch gewissermaßen wie eine Prüfung. Ich muss erkennen, dass alles gesagt ist. Ich stehe auf und signalisiere, dass ich sie nicht weiter aufhalten wolle. Dennoch bitte ich sie, als Gedächtnisstütze Photos machen zu dürfen. Sie willigt mit einer einladenden Geste ein und macht sich währenddessen wortlos fertig, um sogleich mit mir hinauszugehen. Das Zimmer ist, wie erwartet, wohnlich eingerichtet und so möbliert, wie es mir beim ersten Gespräch in der früheren Wohnung geschildert wurde. Einige Muster hat Frau Kaiser beibehalten: unter den wenigen aufgestellten Dingen sind Platzdeckchen ausgebreitet, es fallen Ensembles gleicher Dinge sowie eine große Anzahl an Kissen auf. Als dekorativ gestaltete Abstellflächen dienen die bereits geschilderte Fensterbank, ein kleiner runder Tisch daneben und der Fernsehschrank. Auf dem Tisch liegt eine gefüllte Obstschale aus Kristallglas, darunter eine üppige Spitzendecke. Auf der niedrigen Kommode, auf welcher der Flachbildfernseher steht, finden sich auch zwei gerahmte Photos von Frau Kaisers Familie (Sohn mit Frau und Kindern), ein kleines Radio, eine leere Kristallbonbonniere, eine Vase mit frischen Blumen und eine weitere Schirmlampe – jeder Gegenstand steht auf einem Häkeldeckchen. An den Wänden hängt nichts außer den beiden Photos. Auf einem als Nachtkästchen fungierenden runden Tisch stehen drei Uhren. Auf den beiden Sofas links daneben finden sich Sitzkissen, zudem oben auf den Lehnen drei große Zierkissen und ein weiteres auf dem Bett. Auf dem langen Steintisch vor den ausladenden Sofas liegt, auf einer Spitzendecke, eine grüne Glasschale. Darauf und daneben sind ein Terminplaner, abgeheftete Übersichtspläne zu den im Altenheim angebotenen Veranstaltungen, Prospekte und ein Kugelschreiber verteilt. Es stechen zwei Aspekte bei der Einrichtung hervor: Zum einen sind die beiden Sessel nebeneinander an der Wand aufgestellt. Sie sind beide auf den Fernseher ausgerichtet, nicht aufeinander, so dass ich mich stark drehen
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muss, um mich Frau Kaiser bei unserem Gespräch zuzuwenden. Sie kann ebenfalls nicht mittig im Sessel Platz nehmen und sich anlehnen, sondern muss sich in eine Ecke drängen. Zum anderen fällt die Einrichtung des den Sesseln gegenüberstehenden und an die Fernsehkommode grenzenden Vitrinenschranks auf. Dieses Möbel stand bei unserem ersten Treffen schon leer geräumt im Esszimmer. Da das Glas im oberen Teil durchsichtig ist, sieht man die darin befindlichen Gegenstände: sieben Sets bestehend aus je sechs Gläsern, manche aus Kristallglas, die für verschiedenste Getränke vorgesehen sind. Sie sind auf den oberen beiden Brettern aufgereiht. Die bunt bemalten Trinkgläser, die im untersten Regalfach mit mehreren Kaffeetassen und Kuchentellern aus unterschiedlichen Services gestapelt sind, wirken dagegen ein wenig unordentlich abgestellt. Die zwei Vitrinentüren des Schranks sind mit je einem Schlüssel zu öffnen, der auch als Knauf fungiert und daher immer im Schlüsselloch steckt. An der rechten Tür hängt darüber, an einem langen türkisen Band, Frau Kaisers Zimmerschlüssel. Sie nimmt ihn ab und stellt sich in die Tür zum kleinen Flur des Wohnheimzimmers, auf mich wartend. Ich bedanke mich für das Gespräch und verabschiede mich, während wir gemeinsam herausgehen. Ich überlege, ob ich Frau Kaiser noch einmal aufsuchen soll, in der Hoffnung, ein Gespräch zu führen, bei dem nicht Aufbruchsstimmung herrscht, evtl. wieder im Beisein eines Angehörigen. Ich telefoniere mit ihrer Schwiegertochter bezüglich eines günstigen Termins und erhalte dabei einige Einblicke, die mich von dieser Idee abbringen. Frau Teck berichtet mir, die Demenz bei ihrer Schwiegermutter sei immer deutlicher ausgeprägt. Besonders regelmäßiges Essen und die Körperhygiene würden zunehmend zum Problem. Ihr Gedächtnis sei von Tag zu Tag unzuverlässiger und sie habe den Eindruck, Frau Kaiser wolle sich gar nicht mehr mit ihrer alten Wohnung, ihrem Umzug und auch ihren Sachen beschäftigen. Die Schwiegertochter erzählt, Frau Kaiser rede schlichtweg nicht darüber, und wenn man sie darauf anspräche, mache es den Eindruck, als habe sie damit abgeschlossen, als sehe sie keinen Grund, diese Erinnerung aktiv zu pflegen. Frau Teck kommt somit zu einer ähnlichen Einschätzung wie ich, sagt ihre Schwiegermutter scheine ganz gut damit klarzukommen. Sie selber könne allerdings, laut eigener Aussage, das Verhalten ihrer Schwiegermutter nicht nachvollziehen.
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Ein Beispiel für ein durchaus bemerkenswertes, aber mir konsequent erscheinendes Verhalten, bekomme ich beinahe ein dreiviertel Jahr später, als ich Frau Teck wiedertreffe: Sie erzählt mir, sie habe das Hochzeitsbild ihrer Schwiegermutter, das sie mit ihrem zweiten Mann zeigt, bei sich behalten, denn Frau Kaiser hatte es im Rahmen des Umzugs aussortiert und in der Wohnung zurückgelassen, so wie alle Dinge, die weggeworfen oder verschenkt werden sollten. Frau Teck habe es ihrer Schwiegermutter vor einiger Zeit mitgebracht und erwartet, dass sie sich darüber freue, dass sie bereue, es nicht mitgenommen zu haben und es nun in ihrem Zimmer aufhängen würde. Die Reaktion sei aber sehr zurückhaltend und gleichgültig gewesen. Sie (Frau Kaiser) habe das gerahmte Photo einfach in ihrem Bettkasten deponiert und seitdem nicht mehr hervorgeholt. An ihren Wänden hingen immer noch keine Bilder. Auf meine Nachfrage antwortet Frau Teck, sie könne sich auch nicht erklären, warum Frau Kaiser sich entschieden hat, keine Bilder aufzuhängen. Sie habe ihre Schwiegermutter zwar darauf angesprochen, aber die Antwort sei nicht erhellend gewesen. Sowohl Frau Teck als auch ich kommen aufgrund des Verhaltens von Frau Kaiser zu dem Schluss, dass die alte Dame ihren Weg gefunden hat, mit der Situation umzugehen. Aus gewissen Perspektiven mag dieser zwar ungewöhnlich erscheinen, sollte aber, so finden wir, nicht durch ein ständiges Thematisieren unsererseits in Frage gestellt werden.
4.2 S ICH
TRENNEN
4.2.1 Herr Richter (geb. 1925) Herr Richter lebt seit Dezember 2009 im Altenheim. Er wohnt allerdings nicht nur dort, denn er ist nach wie vor im Besitz seines Hauses in einem Vorort der Stadt. Er hat es finanziell vorerst nicht nötig, den Umzug abzuwickeln. Die wenigen Möbel, die in seinem Wohnheimzimmer vorhanden sind, wurden ihm vom der Leitung der Einrichtung zur Verfügung gestellt. Die Heimleiterin berichtet mir, dass ihrer Einschätzung nach die einzigen persönlichen Gegenstände in Herrn Richters Zimmer seine Kleidungsstücke seien. Sie sagt, seine Tochter und seine Ehefrau seien schon vor längerer
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Zeit verstorben, die nächsten Angehörigen seien ein Enkelkind und dessen Vater.13 Diese wohnten aber nicht in der Nähe, so dass auf der einen Seite niemand auf ihn Druck ausüben würde, das Haus zu räumen, auf der anderen Seite natürlich auch schwerer Unterstützung für einen Umzug zu erhalten sei. Es gäbe aber eine ältere Dame, seine Lebensgefährtin, die hier in der Stadt wohne und »noch recht fit« sei. Diese würde ihm »zureden«, damit er nächstens »die Sache in Angriff nimmt«. Erstes Gespräch, Wohnheim (März 2010) Es bedarf mehrerer Versuche, bis es zu einem ersten Gespräch mit Herrn Richter kommt, weil er zu der verabredeten Zeit ständig außer Haus zu sein scheint. Überhaupt, so erfahre ich, ist er, obwohl er sich nur mithilfe zweier Krücken fortbewegen kann, viel unterwegs und sehr selbstbestimmt. Als ich ihn nach vier Anläufen endlich antreffe, hat die Heimleiterin schon Feierabend und kann mich daher nicht begleiten, um mich vorzustellen. Zuerst denkt Herr Richter, ich käme wegen einer Schrankwand, die er in das Wohnheimzimmer einbauen lassen möchte. Es dauert ein wenig, bis er sich daran erinnert, dass die Heimleiterin ihm von mir erzählt hat, dann macht er aber einen sehr offenen Eindruck. Durch die Startschwierigkeiten hatte ich befürchtet, Herr Richter sei zu abgelenkt und vielleicht überfordert mit der unsteten Wohnsituation, um auch noch Gespräche mit mir darüber zu führen. Aber er findet sich schnell in die Sache ein und fängt an, über sich und sein Leben zu berichten, wirkt dabei konzentriert und kommt von selbst immer wieder auf den Umzug und auf seine Dinge zu sprechen – ein aus meiner Sicht idealer Gesprächsverlauf. Er sitzt auf einem sesselartigen Stuhl an einem Tisch, der an der Fensterfront des Raumes steht, an der Wandseite daneben ist ein zweiter Stuhl, auf dem ich mich niederlasse. Es ist ungewöhnlich, dass ich den Platz in der Nische zugewiesen bekomme, zumeist sitzen dort die Senioren, weil man von hier aus den Raum überblickt. Damit ist das der Ort, der sich zum Sitzen selbstredend für den Bewohner, nicht den Besucher, anbietet. Herr Richter erzählt, er sei ab 1960 als Leiter der Hausverwaltung bei einem Großanlagenbauer hier in der Stadt tätig und für mehrere Ingenieurund Großraumbüros verantwortlich gewesen. Im selben Jahr habe er zu-
13 Im Laufe der Gespräche mit Herrn Richter werden noch einige weitere nahestehende Personen eine Rolle spielen.
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sammen mit seiner Frau ein Reihenmittelhaus in einem der Vororte bezogen.14 Er berichtet ausführlich über seine Zeit in der Firma: von Großraumbüros, ihrer Atmosphäre und davon, wie sich der Arbeitsalltag gestaltet hat. Auch spricht er über einzelne Begebenheiten mit Kollegen und den »Chefs«. Er zeigt sich durchaus stolz, davon berichten zu können, dass er ein gern gesehener Mitarbeiter war, dem man zutraute, Probleme zu meistern. Aus seinen Erzählungen und der Art, wie er spricht und sich gibt, wird klar, dass er ein ruhiges Temperament und eine verständnisvolle Art hat. Ich habe den Eindruck, dass aus dem Gesagten vor allem das Gefühl spricht, anerkannt gewesen zu sein und einen Platz gefunden und ausgefüllt zu haben. Er spricht auch von seiner Frau und erzählt, dass diese 1992 im Krankenhaus gestorben sei, wegen eines Behandlungsfehlers, wie er sagt. Einzelheiten erfahre ich erst nach und nach von ihm, immer wieder spricht er von seiner Ehe, die er als wunderbar und sehr erfüllt bezeichnet, und davon, dass seine Frau und er immer über alles gesprochen und alles gemeinsam entschieden hätten. »Du sollst alles tun können, was ich auch machen kann«, das sei seine Devise gewesen. Als er dann eine gute Anstellung hatte, hätten sie zusammen entschieden, dass sie »Zuhause bleibt«. Ich lenke das Gespräch auf sein Haus in dem kleinen Vorort nordwestlich der Stadt und erfahre, dass es, als sie es bezogen hatten, gerade neu gebaut worden war. Es sei jetzt noch genauso eingerichtet wie in der Zeit, als er und seine Frau dort gewohnt hätten – ins Altenheim habe er lediglich Kleidung mitgenommen. Herr Richter zählt auf, dass er drei Hemden, drei Unterhemden, acht Paar Socken sowie eine Jacke hier habe. Mehr brauche er nicht für eine Woche und das würde er dann immer an den wöchentlichen Wäscheservice im Haus zur Reinigung abgeben. Zuhause habe er viele neue, noch eingepackte Sachen. Die müsse er herbringen und dann das Haus verkaufen. Ich frage nach den anderen Dingen: Möbel, Photos und Bilder, Unterlagen und sonstige Gegenstände, die Teil eines Haushaltes sind. Er sagt, das bleibe alles »im Haus«, er habe ja hier keinen Platz. Gerne würde er in dem Zimmer an der langen Wand gegenüber des Bettes eine helle Schrankwand einziehen lassen (jetzt steht ein dunkles Holzregal dort).
14 Ob die gemeinsame Tochter, die zu dem Zeitpunkt sicherlich noch lebte, mit einzog, erwähnt er nicht. Im Laufe des ganzen Gesprächs spricht er kein einziges Mal von ihr, auch wenn er den Schwiegersohn und die Enkelin erwähnt.
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Daher habe er auch gemeint, ich sei »zum Ausmessen gekommen«. Dort soll dann Platz für seine Ordner, Teller und Tassen sein. Was in den Ordnern abgeheftet sei, frage ich – »Verträge und Unterlagen«. Zum Beispiel der Mietvertrag bezüglich des Wohnheimzimmers, das er seit Anfang Dezember 2009 gemietet hat (hergekommen sei er aber erst Mitte des Monats) und der Schriftverkehr bezüglich seines Behindertenausweises. Das sei ja nicht so viel, sage ich, da wäre ja noch Platz für anderes. Vielleicht brauche er ja gar keine große Schrankwand, er könne sich ja auch ein Möbelstück aus seinem Haus aussuchen. »Nein, das wird alles mitverkauft«, sagt er. Und die Schrankwand müsse schon sein, er hebe immer alles sorgfältig auf, man wisse ja nie, wann man das wieder brauchen kann, man müsse ja ständig irgendwelche Unterlagen und Bescheinigungen zur Hand haben. Das Regal, welches er jetzt benutzt, sei zu klein und unpraktisch und außerdem sollte es etwas helles sein, damit es zum Zimmer passe. Ich frage nach den Sachen, die im besagten Regal und auf einem niedrigen Tischchen daneben stehen: vor allem Geschirr, ein Fernseher und ein älteres Radio. Die beiden Geräte gehörten ihm, alles andere sei »vom Heim«. Solche Dinge müsse er dann schon noch mitnehmen, bevor alles verkauft würde. Momentan kümmerten sich die Nachbarn um das Haus, erzählt er, und dass in der Garage ein neues Auto stünde, das er erst einmal gefahren habe. Er hätte für sein altes Auto die »Abwrackprämie« bekommen und sich dann einen VW zugelegt. Kurz darauf, im Oktober, sei sein Zustand zunehmend schlechter geworden. Er habe immer heftigere Schwindelanfälle bekommen, sei verwirrt gewesen und sei einfach nicht mehr alleine zurechtgekommen. Zuerst sei er ins Krankenhaus gegangen und dann wurde nach und nach klar, dass er nicht mehr ohne Hilfe alleine wohnen könne. Er habe daraufhin den Platz im Wohnheim angenommen und wollte erst abwarten, ob es sich doch so weit bessere, dass er zurück in sein Haus könne. Aber inzwischen sei klar, dass das nicht mehr auf Dauer ginge. Er sagt feststellend: »Selbst wenn ich jetzt zurückgehe, ich weiß ja nicht, ob es nicht wieder schlimmer wird. Ich weiß ja nicht, wie lange es gut geht. Und dann muss ich wieder ins Krankenhaus. Dann verliere ich das Zimmer.« Das Zimmer im Heim habe er davor nicht selbst gesehen, sein Schwiegersohn und seine Schwägerin hätten sich darum gekümmert. Am Anfang sei er recht orientierungslos gewesen: Zwei Mal habe er den Weg zurück zum Heim nicht mehr gefunden, einmal sei er dann einfach zur nächsten
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Polizeiwache gegangen. Inzwischen laufe das besser und er habe auch immer einen Stadtplan dabei. Er müsse jetzt wieder lernen, in Alltagssituationen zurechtzukommen. Aber allein zu wohnen, das traue er sich nicht mehr zu: »Ich habe das akzeptiert. Seitdem bin ich ruhiger geworden«. Er spricht gelassen und berichtet viel von der Ehe mit seiner verstorbenen Frau und erzählt, dass er wegen ihr in die Stadt gekommen sei. Sie hätten 1947 geheiratet und seien gleich hierher gezogen, weil ihr Vater eine Bäckerei hatte und Unterstützung brauchte. Da hätte es was zu tun gegeben. Gebürtig sei er aus Sachsen-Anhalt, genauer aus dem Unstruttal. Die meisten Leute dort hätten Weinberge gehabt, so auch seine Familie, und auch Gewehre, um diese zu bewachen und um Schreck- und Warnschüsse abzugeben. Als der Krieg vorbei war, hätten »die Kommunisten« diese Leute als ein Problem angesehen, weil sie Angst hatten, sie könnten sich gegen sie organisieren, zumal die Hänge auch gute Verstecke boten. Also hätten sie den Besitz von Waffen verboten und alle, die doch welche hatten und in die Weinberge gingen, inhaftiert oder getötet. Jemand aus einem Nachbardorf habe angegeben, dass auch Herr Richter ein Gewehr habe, obwohl dies nicht der Fall gewesen sei. Wenige Tage bevor die Russen gekommen seien, um nach ihm zu suchen, habe er aber zufällig ohnehin sein Dorf verlassen und sei mit seiner Frau hier her gekommen. Überhaupt habe er im Krieg sehr viel Glück gehabt, sagt er. Als es anfing, habe er sich gesagt: »Du schießt auf keinen Menschen.« Er sei bei der Division Hermann Göring gewesen und Anfang 1945 in Ostpreußen verwundet worden – eben aufgrund des getroffenen Vorsatzes. Es sei aber »mindestens Glück im Unglück« gewesen, denn bald danach kam es zu verheerenden Schlachten an der Ostfront, an der er so nicht teilnehmen musste. Am 10. April 1945 habe er dann die Erlaubnis bekommen, nach Hause zu gehen. Das sei einmal mehr großes Glück gewesen, denn einen knappen Monat später sei die Division gezwungen worden, sich der Roten Armee zu ergeben, was den meisten Männern früher oder später das Leben gekostet habe. »Wenn ich nur daran denke, wie viel Glück ich hatte, ach, was für ein Leben ich hatte«, sagt er und beginnt von der Nachkriegszeit, die er zusammen mit seiner Frau erlebt hatte, zu erzählen. Sein Schwiegervater habe gleich nach dem Krieg begonnen, die Bäckerei mit ihren sieben Öfen wieder aufzubauen und zu betreiben. Anfangs seien die Backwaren mit dem Fahrrad ausgeliefert worden, später hätten sie einen kleinen Lieferwagen gehabt. Es habe immer viel zu tun gegeben in der Bäckerei, wo er bis 1958
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gearbeitet habe, als dann sein Schwiegervater aufhörte. Dessen Töchter hätten den Erlös aus dem Verkauf des Betriebs untereinander geteilt. Er habe aus der Zeit noch die Ausfahrchroniken und Photos, aber nicht hier im Heim. Die sollten sein Schwiegersohn und seine Enkelin nehmen. »Ich kann damit nichts anfangen«, sagt er. Überhaupt sollten die Kinder sich alles nehmen, was sie wollten. Ich erfahre, dass er zur Familie seines Schwiegersohns, die nicht in der Nähe wohne, ein gutes Verhältnis habe. Mit gutem Verhältnis, das wird deutlich, meint er aber kein enges Verhältnis, denn als Hilfestellung beim Hausverkauf und ähnlichen Aktionen plant er sie nicht ein. Viel häufiger erwähnt er in diesem Zusammenhang seine »Bekannte«, wie er sie nennt. Er spricht von ihr wie von einer selbstverständlichen Begleiterin und äußert sich bezüglich ihrer Person oder der Beziehung zu ihr nicht genauer. Bei einem späteren Treffen erfahre ich, dass sie eine ehemalige Arbeitskollegin sei, die er nicht mehr gesehen habe, nachdem er in Rente gegangen war. Er sei ihr, nach dem Tod seiner Frau, an einem Tag aus Zufall mehrere Male über den Weg gelaufen und seitdem hätten sie sich regelmäßig getroffen. Er wolle sie zwar nicht heiraten, das sei für ihn immer ausgeschlossen gewesen (»meine Frau ist meine Frau«), aber seiner Bekannten solle etwas von ihm bleiben und deswegen habe er sie im Testament berücksichtigt. Ich frage ihn, was ihm, wenn er an sein Haus denkt – beispielsweise an das Wohnzimmer – und sich vorstellt, dort zu sein, als erstes einfällt. Etwa besondere Dinge, die dort aufgestellt seien. Er erzählt mir von einer »schönen Figuren aus Holz«, die er aus dem Schwarzwald habe und von weiteren Steinfiguren, wie die einer Bärin mit ihrem Jungen, die aus Kanada stammten. Er schwärmt davon, wie schön die Objekte sind und formt sie in Größe und Umriss mit der Hand nach, fast, als würde er darüberstreichen. Ich frage, warum er nicht einige davon mitnehme, die Schrankwand sei ja groß genug. »Nein, da kommen die Ordner hin. Hundert Ordner, ein ganzes Leben lang. Suchen Sie da mal was raus. Das ist das Schwerste, deswegen steht das alles noch nicht.« Herr Richter hält sich in Bezug auf das genaue Prozedere des Umzugs bedeckt. Ich erfahre, dass er noch nichts eingepackt oder sortiert hat, obgleich er seit Dezember einige Male in seinem Haus war. Auch wenn er sagt, dass er sich damit abgefunden habe, nicht mehr zurück zu können, um dort zu leben, so merkt man doch, dass diese Tatsache und die Aufgabe, mit der er angesichts des endgültigen Umzugs konfrontiert ist, schwer auf ihm
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lasten. Er erzählt wieder, wie teuer und schwierig es zu bewerkstelligen sei, von hier zu seinem Haus zu fahren. Sein Schwerbehindertenausweis sei nun erweitert worden, so dass er demnächst auch vergünstigt mit dem Taxi fahren könne, aber auch hierfür bräuchte er viele Unterlagen aus den Ordnern und die müsse er erst einmal alle finden. Und dann müsse noch ein Käufer gefunden und der Verkauf abgewickelt werden. Sobald es nun wärmer werde, würde er das in Angriff nehmen. Mit der Zeit lenkt er zunehmend vom Thema ab und erzählt wieder von seinem Job sowie von seiner Schwägerin, die in Kanada lebt und die er und seine Frau dort mehrmals besucht haben. Sie sei sehr reich und sammle schon lange amerikanische Luxusoldtimer. Er selbst sei auch schon mit einem solchen »Fünfmeterschlitten« gefahren. Ich finde keine Möglichkeit, noch ein Mal das Gespräch auf seine persönlichen Dinge zu bringen. Auch wenn er das Gegenteil äußert, so scheint mir doch, er ist innerlich noch nicht ganz überzeugt von der Notwendigkeit, im Heim zu bleiben. Er handelt und spricht so, als sei dies nur eine Übergangslösung – es ginge ihm ja immer besser, sagt er – und als würde der Umzug noch weit in der Zukunft liegen, auch wenn er schon sehr genaue Vorstellungen hat, wie dieser vonstattengehen soll. Wir verabreden, uns kurz vor einem sicheren Umzugstermin wieder zu treffen. Zweites Gespräch, Cafeteria Wohnheim, nicht verabredet (Juni 2010) Ich habe die Heimleiterin gebeten, mich zu benachrichtigen, wenn Herr Richter in Bezug auf den endgültigen Umzug aktiv wird, aber über drei Monate nach unserem ersten Gespräch scheint immer noch nichts passiert zu sein. Als ich, im Rahmen eines Besuchs im Altenheim für ein anderes Gespräch, Herrn Richter bei Kaffee und Kuchen in der Cafeteria antreffe, setze ich mich zu ihm. Auf meine Frage nach dem Stand der Dinge erzählt er mir, dass er in den nächsten Wochen mit dem Durchsehen der Dinge und dem Einpacken anfangen wolle. Seine Bekannte sei gerade im Urlaub, doch wenn sie wieder zurückkäme, dann müssten sie gemeinsam zu seinem Haus fahren und entscheiden, was mit den Dingen geschehen solle. Da seien zum Beispiel viele ungetragene Hemden, die er seinem Schwager zuschicken wolle. Er selber habe nun alles hier, was er an Kleidung brauche: zwölf langärmelige Hemden, zwanzig kurzärmelige und so weiter. »Wissen Sie, wenn ich früher in der Stadt war und ich habe dabei ein Hemd gesehen,
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zum Beispiel beim Karstadt, das mir gefallen hat, dann habe ich mir das immer gern gekauft. Und ich habe viele neue Hemden, noch eingepackt, die brauche ich nicht mehr.« Ich frage, warum er nicht die neuen Hemden mitnimmt und die alten weggibt, aber er scheint meinen Gedanken nicht nachzuvollziehen und wiederholt, dass die seinem Schwager sicher gut passten. Auch um die Bilder müsse er sich kümmern. Er habe ein Gemälde mit einem Blumenstillleben – noch von seinen Schwiegereltern – und zwei weitere, die er und seine Frau gleich nach dem Krieg gekauft hätten. Da müsse er »mal schauen«, ob er die verkaufen könne, oder ob sich »die Kinder« darum kümmern. Sie seien sicher recht alt und »was wert«. Während er von den Bildern spricht, zeigt er deren Formate mit der Hand an und beschreibt mit den Fingern in der Luft den Raum und den Ort, an dem sie hängen. Das alles werde er aber erst entscheiden, wenn seine Bekannte wieder da sei, im Großen und Ganzen wisse er ja, was mit solle, und vieles (damit meint er die Kleidung) habe er sich ja schon geholt. Es ginge also eher darum, sich um das Verbleiben bestimmter Dinge zu kümmern. Jetzt, wo er sich mit der Situation abgefunden habe, falle ihm alles leichter und er sei viel ruhiger, sagt er, genau wie bei dem ersten Gespräch. Er sehe alles ganz sachlich, und dadurch habe er viel gewonnen. Tatsächlich macht er einmal mehr einen ruhigen und gut überlegten Eindruck, er wirkt in gewisser Hinsicht sogar ungerührt. Die einzigen Dinge, die ihm wirklich Unannehmlichkeiten zu bereiten scheinen, sind seine eingeschränkte Mobilität und dass die Bewältigung des Umzugs per Taxis teuer und umständlich ist. Herr Richter erzählt mir von seiner Lebensgefährtin und von ihrer Familie, die im Schwarzwald lebt. Er sagt, sie stehe ihm immer zur Seite. Er spricht auch von seiner Frau, ihrem Tod im Krankenhaus und davon, dass er Ärzten nicht ganz traue. Er selbst sei jetzt auf der Suche nach einem guten Orthopäden, denn er habe Beschwerden in der Hüfte. Ich frage ihn, ob ich dabei sein kann, wenn er mit seiner Bekannten zum Packen in sein Haus fährt. Er ist damit einverstanden, dass ich den Umzug dokumentiere und sichert zu, mir Bescheid zu geben, sobald es losginge. Da Herr Richter sich auch nach mehreren Wochen nicht meldet, rufe ich ihn einen Monat nach unserem Gespräch an und erfahre, dass die Beschwerden in der Hüfte deutlich stärker geworden seien. Er sagt, bezüglich des Umzugs sei nichts passiert und da könne er jetzt auch nichts machen.
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Das würde ihn sehr ärgern. Er klingt geknickt und betrübt und beendet das Gespräch schnell, weil es ihn »zu sehr belastet«. Drittes Gespräch, Wohnheimzimmer, nicht verabredet (September 2010) Im September bin ich im Altenheim, um mit zwei der Senioren das Abschlussgespräch zu führen. Da die Heimleiterin mich informiert hat, dass Herr Richter in letzter Zeit vermehrt Dinge aus seinem Haus bringt, weil er bald den Einbau der Schrankwand erwartet, besuche ich auch ihn, um zu sehen, wie das Zimmer inzwischen aussieht. Viel geändert hat sich in den sechs Monaten, seit ich das erste Mal bei ihm war, nicht. Auf dem Tisch liegt immer noch dieselbe Tischdecke. Darauf sind Ordner, Hefter, Notizen, Zeitungen und vieles mehr ausgebreitet – wie auch beim ersten Treffen. Es wirkt seltsam, im Zimmer eines alten Herrn einen offenbar als Schreibtisch und Ablage für wichtige Papiere und Dokumente genutzten Esstisch zu sehen, auf dem eine rosafarbene Zierdecke liegt. Auf dem dunklen, circa einen Meter breiten Regal, das an der Wand gegenüber dem Bett steht, sind noch einige Dinge dazugekommen: Sektgläser und weiteres Geschirr sowie Besteck, das er offenbar von Zuhause mitgenommen hat, Pflege- und Kosmetikartikel, Zeitschriften und Bürozubehör (Kleber, Heftklammern etc.). Die Funktion des Regals ist offensichtlich darauf beschränkt, ein dienliches Aufbewahrungsmöbel zu sein, in dessen Fächer nützliche Gebrauchsgegenstände, mehr oder weniger thematisch sortiert, gelagert werden können. Herr Richter empfängt mich freundlich. Dieses Mal setzt er sich auf den zum Tisch zugehörigen Stuhl, so dass der Raum sich vor ihm öffnet und er gleichzeitig die Dinge auf dem Tisch im Blick und in Reichweite hat. Zwei Möbel sind dazugekommen: ein größerer Sessel und der zugehörige Fußschemel. Während der Schemel offenbar benutzt wird und, ähnlich wie der von Herrn Richter gewählte Sitzplatz, darauf verweist, dass er das Zimmer nun stärker als Wohn- und weniger als Aufenthaltsort betrachtet, steht der Sessel zwischen Regal und Fernsehunterbau, schlichtweg an der Wand ohne Bezug zum Zimmer selbst. Eine dort sitzende Person wäre nicht in das Geschehen im Raum eingebunden. Ich setze mich deswegen auf den Fußschemel, ohne dass Herr Richter dies als problematisch empfindet. Das zeigt, dass der vorhandene Sessel tatsächlich nicht von Besuchern genutzt
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wird, beinahe so, als sei er von Herrn Richter gar nicht zur Benutzung gedacht worden. Während Herr Richter bei unserem letzten Treffen noch nicht bemerkt hatte, dass ich schwanger bin, erzählt er mir nun mit Blick auf meinen Bauch, dass seine Frau und er sich noch mehr Kinder gewünscht hätten, doch sie hatte nach der Geburt ihrer Tochter zwei Fehlgeburten. Er ist aber darauf bedacht, das Thema schnell wieder ad acta zu legen, zum einen, weil es ihn offenbar traurig stimmt, zum anderen aus Rücksicht auf mich, wie mir scheint. So kommt er auf seine eigene Kindheit zu sprechen: »Ach, wenn ich an meine Kindheit denke – ich hatte so eine gute Erziehung, ich hatte so eine schöne Kindheit.« Er berichtet mir, dass er sich noch gut an die Zeit erinnert, als er ein Junge war, zum Beispiel daran, wie er »so groß« (zeigt etwa die Größe eines Sechsjährigen an) sich aufgeregt zwischen den Erwachsenen getummelt habe. Es klingt wie eine schöne Erinnerung an eine Situation, in der er das Gefühlt hatte, gut aufgehoben und behütet zu sein. Als er aber sagt, dass er, wenn er Jungen auf der Straße sieht, sich oft denkt, dass er auch einer war, kann ich nicht sicher deuten, worauf die Rührung in seiner Stimme zurückzuführen ist. Ist es die glückliche Erinnerung oder der Wunsch danach, das selber wieder erleben zu dürfen? Es wird in seinen Erzählungen deutlich, dass er einen sehr starken Bezug zu seiner Kindheit und Erziehung hat, diese Zeit weiterhin als Teil seines Ichs wahrnimmt und dass seine Einstellung zum Leben grundlegend von den Erfahrungen dieser Zeit geprägt ist. Immer wieder betont er auch, welch Glück er im Leben und besonders in der Zeit des Krieges gehabt habe. Ich lenke behutsam das Gespräch auf den bevorstehenden Umzug, um über die Planung desselben etwas in Erfahrung zu bringen. Herr Richter gibt sich jetzt ganz bestimmt und resolut: Die Schrankwand müsse nun schnell eingebaut werden, er habe bereits die Zusage, dass sie noch diesen Monat montiert werde. Dann sei alles ganz schnell zu erledigen: das Haus müsse verkauft werden, so bald wie möglich. Er habe diesbezüglich auch schon mit einem Makler gesprochen und dieser habe zugesagt, für ihn den Verkauf des Hauses abzuwickeln, sobald Herr Richter alles mitgenommen habe, was er noch brauche. Die restlichen Dinge würden dann mit verkauft werden. Ich frage nach den Sachen, die er nicht ins Altenheim mitnehmen kann, die aber auch nicht im Haus bleiben könnten; persönliche Gegenstände, wie sie sich im Laufe der Jahre in Schränken, Schubladen oder im Keller sammeln. »Ja, das muss noch weg. Das macht der Makler. Ich kann
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nicht«, sagt er. »Ich nehme nur was für hier mit.« Es bleibt unklar, wie dieses »ich kann nicht« zu verstehen ist. Er wirkt aber resolut, beinahe aktionistisch, so dass ich ihn nicht durch eine möglicherweise prekäre Aussage bremsen möchte. Ich frage daher konkret nach eben den Dingen, die er noch mitnehmen möchte. Es gäbe ein Stillleben mit Blumen, das er unbedingt hier in seinem Zimmer aufhängen möchte und zwei weitere, die er verkaufen will, wieder an denselben Kunsthändler, von dem er und seine Frau sie gekauft hatten. Und dann seien da noch drei Wandteller, die wolle er unbedingt holen. Das würde er noch herbringen, wenn die Schrankwand drin sei und dann könne das Haus dem Makler übergeben werden. Die Art, in der er über den Umzug redet, erweckt den Eindruck, dass der Ablauf genau geplant sei und dass die Zeit dränge. Er äußert sich wieder radikal bezüglich der mitzunehmenden Dinge: er sagt, er brauche nichts davon und wirkt auf gewisse Weise unversöhnlich dabei. Er spricht wiederholt davon, die Situation akzeptiert zu haben. Doch sein Verhalten, der fast schon ein Jahr dauernde Umzug und die Eindringlichkeit, mit der er spricht, zeigen, wie sehr ihn dieses Thema beschäftigt und dass es ihm schwer fällt, den definitiven Umzug durchzuführen. Viertes Gespräch, Umzugsbegleitung, Haus (November 2010) Als es endlich zu der erhofften gemeinsamen Fahrt mit Herrn Richter zu seinem Haus kommt, ist es bereits Anfang November und ich bin in den letzten Schwangerschaftswochen, weshalb mich mein Mann begleitet. Auch Herr Richters Lebensgefährtin ist auf der Fahrt dabei. Beinahe ein Jahr ist es nun her, seit Herr Richter das Zimmer im Altenheim gemietet hat. Seine Lebensgefährtin wirft ihm einen skeptischen Blick zu, als er vor der Abfahrt versichert, dass schon alles hier sei und nur »die Teller« noch fehlten. Nachdem Herr Richter das Gebäude, dem man seine Errichtung in den frühen Sechzigern deutlich ansieht, aufschließt, betreten wir ein dunkles und kaltes, aber komplett eingerichtetes Haus: An der Garderobe im Flur hängen Jacken, darunter stehen Schuhe mit Erde daran, im kleinen Bad neben der Türe finden sich Handtücher und Toilettenpapier und in der Küche steht, zusammen mit anderen dort üblicherweise anzutreffenden Gegenständen, eine angebrochene Mineralwasserflasche. Erst als wir das Wohnzimmer betreten und Herr Richter die Rollläden hochzieht, kann man Hinweise darauf erkennen, dass hier ein Umzug stattfindet und das Haus nicht
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mehr bewohnt wird. Während auf dem kleinen Tisch neben der Couch noch Aktenhefter und Zeitschriften und auf dem niedrigeren der beiden schrankartigen Wohnzimmermöbel Schreibzeug, Papiere und das Telefon so daliegen, als seien sie gerade noch benutzt worden (mit Häkeldeckchen darunter) sind die Regale der hohen Schrankwand fast zur Gänze leer geräumt. Gartenmöbel stehen mitten im Raum. Herr Richter begibt sich in das Esszimmer; es ist ein kleiner Raum mit zweckmäßiger Einrichtung. An der Wand über dem Tisch hängen drei prunkvoll gestaltete Wandteller. Die wolle er unbedingt mitnehmen, sagt er und nimmt sofort den ersten Teller von der Wand, so dass ich ihn wieder aufhängen muss, um ein Photo davon zu machen. Ich frage nach ihrer Geschichte. Herr Richter lächelt und beginnt zu erzählen: »Meine Frau und ich haben uns gerne kleine Freuden gemacht.« In einem Kaufhaus, in dem es viele schöne Haushaltsartikel gegeben habe, hätten sie die Teller gesehen und beschlossen, sie für ihr Esszimmer mitzunehmen – seither hingen sie dort. Auf der Rückseite ist noch der Preis in DM zu sehen, die beiden Teller haben 646,- bzw. 696,- DM gekostet, die in der Mitte hängende Platte 1033,- DM. Es sich leisten zu können, »einfach so« eine derart hohe Summe für etwas auszugeben, das einem gefällt, sei »einfach ein gutes Gefühl« gewesen. Das »gute Gefühl«, das er mit dieser Art zu leben verbindet und die schöne Erinnerung daran, finden Widerhall in seinen Worten. Ich frage ihn, warum er und seine Frau gerade diese Teller ausgewählt hätten, was denn darauf zu sehen sei. »Vögel und Blumen«, sagt er und lacht. Er wisse nicht, was es mit den Tellern auf sich habe. Ich drehe die Teller um, auf der Rückseite findet sich die Aufschrift »Delft« und Jahreszahlen wie »1636«. Doch dass es sich bei den Tellern vermutlich um Delfter Fayence handelt, wie sie seit dem 17. Jahrhundert hergestellt wird, interessiert Herrn Richter nicht. Es geht ihm offenbar nur um den Wert, den diese Teller ausschließlich für ihn persönlich haben. Der Aufhängungsort der Objekte zeigt auch deutlich, dass sie nicht als Kunstgegenstände gesehen werden. Sie hängen – klassisch für das Interieur einer Angestelltenwohnung – ungeschützt über dem Esstisch, dazwischen rustikal anmutendes, grobes überdimensionales Holzbesteck mit Dekor aus getrockneten Blumen und Kräutern. Herr Richter beginnt, die Teller einzupacken. Seine Lebensgefährtin, die die gerade erzählte Geschichte immer wieder bestätigend kommentiert hat, fragt Herrn Richter, wo er die Teller aufhängen wolle, sagt ihm, es sei keinen Platz dafür im Zimmer im Altenheim. Herr Richter hält inne und sagt, ohne unge-
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duldig zu werden, ruhig und bestimmt: »Ich nehm' die mit. Ich nehm' die mit oder ich derschmeiß sie an der Wand.« Dann lächelt er. Das Esszimmer ist klein. Neben dem Tisch, auf dem eine weiße Tischdecke liegt, befinden sich nur noch ein niedriges Schränkchen und ein halbrundes Eckregal im Raum. Auf dem Regal sind vornehmlich kleinere, noch verpackte Süßigkeiten zu sehen, wie sie an Weihnachten, Sylvester oder Ostern verschenkt werden; auf dem Schränkchen darunter liegt ein gewebtes Deckchen, darauf Schreibzeug, Zeitschriften und Bürozubehör, sowie ein kleiner Plüschhase. Ich frage nach dem Hasen, woraufhin seine Lebensgefährtin ihn in die Hand nimmt und erzählt, den habe Herr Richter von ihr zu Ostern bekommen. »Ich schenk ihm immer wieder so was.« – »Ja, mein Haus ist voll von solchen Tieren. Ich mag so was, die sind süß«, sagt er und lacht ein wenig beschämt und ein wenig schelmisch. »Willst du den nicht mitnehmen?«, fragt sie ihn. »Ja, wo soll ich ihn denn hintun? Nein, der bleibt hier«, sagt Herr Richter und geht in die Küche. Den Durchgang von der Küche ins Speisezimmer habe er selbst geplant und ausgeführt, erzählt er und fügt, nicht ohne Stolz, hinzu, dass in der Folge die Nachbarn in baugleichen Häusern ähnliche Veränderungen vorgenommen hätten. »Wie kann man nur so was Blödes bauen: Das Speisezimmer neben der Küche und dann kein Durchgang? Da habe ich gesagt: ich geh nicht außen rum!« Im großen und hellen Wohnzimmer, in das wir uns daraufhin zurückbegeben, beginnt Herr Richter unaufgefordert eine kleine Führung zu machen. Er weiß zu jedem Ding etwas zu erzählen. Die Felle auf den Sesseln, die Bärenskulptur auf dem Fensterbrett, die in Bilderrahmen eingepressten Edelweißblüten und Federn seien alles Urlaubsmitbringsel: die ersten beiden aus Kanada, letztere aus den Alpen. In die Berge seien sie, er und seine Frau, gern gegangen. Er spricht lange über diese Fahrten. Ich frage, was mit den Souvenirs geschehen soll, und er sagt, dass die Bärenskulptur an seine Schwester gehen solle. Sie habe bereits die andere, die er und seine Frau damals mitgebracht hatten ‒ eine Bärin und ihr Junges ‒ bei sich. Das daneben stehende Pferd soll der Bruder erhalten, er habe schon oft danach gefragt. Das sei kein Souvenir, sondern bei einem Kunsthändler gekauft worden, genauso wie die Bilder an den Wänden, von denen er bereits berichtet hatte und die er wieder an denselben Kunsthändler verkaufen wolle. Auch im Wohnzimmer hängen Wandteller. Da Herr Richter nicht von selbst auf sie zu sprechen kommt, frage ich danach. Er antwortet, diese hät-
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ten sie sich auch gekauft, im selben Geschäft wie die anderen; sie seien ihm nicht so wichtig, aber auch schön. Ich schaue nach den Preisschildern auf der Rückseite und bemerke, dass sie ähnlich teuer waren. »Ja, die haben uns auch gut gefallen. Wir haben uns immer wieder was Schönes gekauft, uns was Schönes geleistet, sind immer wieder weggefahren«, sagt er. Wie stehen daraufhin vor mehreren Photos, die als Kollagen in zwei Rahmen an der Wand hängen. Die meisten zeigen ihn und seine Frau, häufig in Urlaubssituationen. Aber auch seine Tochter und seine Enkelin sind zu sehen und, in einer gesonderten Kollage, er und seine Frau mit deren Geschwistern und ihren Ehepartnern in Kanada. Er erzählt von den Reisen dorthin, wie sehr sie sie genossen hätten und wie anders das Leben dort sei, besonders wenn man Geld habe. All diese Reiseberichte, die Geschichten der Dinge und was mit ihnen geschehen soll, hat er scheinbar (genau so) seiner Lebensgefährtin bereits mehrmals erzählt, da diese mitunter seine Sätze beenden kann oder Herrn Richters Antworten auf meine Fragen vorgreift. Ich frage noch nach der schon teilweise geleerten Schrankwand und erfahre, dass hier »die Kinder schon mitgenommen haben, was sie gebrauchen konnten«. Besonders seien dies Gläser sowie Porzellan- und Kristallgegenstände gewesen. Das Photo von einem Hund, das darin aufgestellt ist und nun fast verlassen wirkt , zeigt, so erzählt Herr Richter, seine »treue Hündin«, die ihn und seine Frau lange begleitet habe. In den geschlossenen Fächern der Schrankwand sind noch viele Gegenstände, teilweise unordentlich zusammengestellt, wie seine Lebensgefährtin durch Öffnen der Türen und Schubladen offenbart, und warten darauf, sortiert zu werden. Es sind vor allem Gebrauchs- und Dekorationsobjekte wie sie in Wohnzimmerschränken zu finden sind (Tassen, Vasen, Servierplatten), aber auch Ordner und Photoalben. Herr Richter meint, diese interessierten ihn nicht. »Da sollen die Kinder noch mal schauen, ansonsten wird das so verkauft.« Das Wohnzimmer erweckt den Eindruck, noch bewohnt zu werden: überall sind Deckchen auf den Möbeln, Stifte und Schreibzeug stehen bereit, Zeitschriften und Broschüren liegen aufgeschlagen neben den Sesseln und der Couch, die mit Kissen und Decken bestückt sind. Seine Lebensgefährtin nimmt eine davon für ihn mit. Herr Richter sagt, das solle so wie es ist verkauft werden. Er malt sich aus, wie eine junge Familie, die noch nicht viel Geld hat, sich über die ganzen Dinge freut, die alle noch »schön und brauchbar, noch sehr gut« seien. Seine Lebensgefährtin lacht und sagt ihm,
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dass das heutzutage niemand noch so nutzen wolle. »Junge Leute stellen sich doch was anderes vor, die brauchen das nicht.« – »Warum denn? Das ist doch wunderbar eingerichtet. Doch, die werden es sich hier schön einrichten – es ist ja alles da«, antwortet er. »Im Keller ist auch alles, was man für ein Haus braucht: Waschmaschine, Besen, Schneeschaufel… Ach, da ist alles, Sie werden sehen. Ich habe einen ordentlichen Haushalt.« Wir gehen in den Keller und Herr Richter zeigt uns die Räume. Im Flur unter der Treppe sind zwei Schuhregale aufgestellt und gefüllt mit Herrenschuhe. In der Waschküche, am Ende des Flurs, steht alles so da, als wäre es gestern erst benutzt worden: Putzlappen und Handschuhe sind zum Trocknen aufgehängt, im Spülbecken ein Eimer. Unterschiedliche Sorten Waschmittel und Weichspüler sowie Wäschekörbe stehen auf bzw. unter einem Tisch neben einer augenscheinlich erst kürzlich angeschafften Waschmaschine bereit. An der aufgespannten Wäscheleine hängen Kleiderbügel zum Trocknen von Hemden, Blusen und Pullovern. Im nächsten, dem größten Kellerraum, ist über die Länge einer Wand ein Regal aufgebaut, in dem vor allem Weinflaschen lagern, aber auch Kartons, Koffer, Gartengeräte, Blumentöpfe, Klebeband, Pinsel und einige Paar Gummistiefel. An den Wänden hängen und lehnen Leiter und längere Arbeitsgeräte, sowie mehrere Staubsauger. Das Regal ist so konstruiert, dass im hinteren Bereich keine Böden eingezogen sind, sondern eine Aufhängemöglichkeit für Schrubber und dergleichen eingebaut ist. Hier finden sich Besen aller Art, Rechen, Schaufeln und auch Handsägen: Alles ist geordnet aufgehängt, aber ohne dabei den Eindruck von Pedanterie zu erwecken. Daneben sind in dem Raum noch alte Kücheneinbaumöbel (1960er Jahre) und zwei weitere verschließbare Schränke. Der dritte Raum, der Treppe am nächsten, hat als einziger ein von Vorhängen und Gardinen gerahmtes Fenster. Hier ist ein Teppich über dem Linoleumboden ausgelegt, es stehen aussortierte Schränke, Stühle und andere Möbel sowie ein Fernseher darin. Ein Bügelbrett ist gebrauchsfertig aufgestellt, darauf das Bügeleisen. Hier findet sich auch Wandschmuck; unter anderem eine gerahmte Photokollage wie im Wohnzimmer mit nahezu den gleichen Photos. Ein alter Medienschrank birgt neben einem Tonbandgerät und einigen anderen technischen Geräten eine Vielzahl von Ordnern, Videokassetten und Tonbändern. Auf den zwei Tischen daneben sind ähnliche Objekte zu sehen. Diesem Zimmer gegenüber liegt ein vierte Raum, der Heizungskeller.
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Die zuvor, besonders bei den Erzählungen von den Reisen, noch ausgelassene Stimmung scheint angesichts der Unmenge der hier lagernden Dinge gekippt zu sein. Herr Richter kommentiert die Räume nur mit knappen Bemerkungen zur offensichtlichen Funktion. Wir gehen zurück in den großen Raum; da wolle er noch etwas mitnehmen. Er geht zum Weinregal und fragt seine Lebensgefährtin, ob sie nicht ein oder zwei Flaschen wolle, er trinke ja keinen Alkohol. »Das musst du auch noch durchschauen«, sagt sie und deutet auf das Regal. Dann sieht sie in den Raum und sagt. »Da ist noch so viel.« Die beiden Senioren nehmen mehrere Weinflaschen in die Hand, besehen sie nach Herkunft und Jahrgang und legen sie wieder hin. Herr Richter weist seine Lebensgefährtin an, sie solle die alten Weinflaschen nicht so schwungvoll bewegen, da der Wein sonst seinen Geschmack verliere. Dann schüttelt er den Kopf und sagt: »Was hier alles ist! Die ganzen Sachen! Man darf nicht daran denken!« Langsam geht er mit seinen zwei Krücken durch den Raum und öffnet alle Schranktüren. Manche Fächer sind leer und er zeigt darüber eine gewisse Erleichterung, in anderen sind noch Dinge, zumeist Ordner und andere Papiere. Er unterhält sich lange mit seiner Lebensgefährtin darüber, dass hier noch all diese Sachen seien und was er oder sie davon mitnehmen sollten, ohne tatsächlich eine Entscheidung zu treffen. »Man darf nicht daran denken!«, sagt er erneut. Sie versucht, ihn darauf hinzuweisen, dass alles sortiert und gegebenenfalls weggeworfen werden müsse, doch auf das Thema will er sich nicht einlassen und möchte auch jetzt die Gelegenheit nicht nutzen, um etwas mitzunehmen. Er findet einen alten mechanischen Spielzeugaffen, sagt, er sei lustig und will ihn aufziehen, damit die Becken, die er in den Pfoten hält, aneinander schlagen, aber das Objekt versagt den Dienst. Herr Richter kann sich nur schwer damit abfinden, dass es nicht funktioniert und zwingt den Affen ein paar Mal manuell dazu, die Bewegung auszuführen, für die der Mechanismus vorgesehen ist. Schließlich stellt er ihn zurück in das Fach und schließt die Tür. Dann öffnet er einen der abschließbaren Schränke, in dem auch Ordner und Tonbänder aufbewahrt werden. Daneben sind noch etliche Glühbirnen sowie mehrere Rollen Klebeband und Seilknollen zu sehen. Ich frage nach den Tonbändern. Er sagt, seine Frau und er hätten sich immer wieder Musik, die ihnen gefallen habe, aufgenommen und so über die Jahre eine schöne Kollektion »wunderbarer Lieder« zusammengetragen. »Man darf nicht daran denken!«, sagt er wieder und immer wieder wenn es
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darum geht, was mit all den Dingen aus seinem Haus in Zukunft geschehen soll. Als er, wie zuvor im Wohnzimmer, davon spricht, dass er nur mitnehmen wolle, was er noch braucht und das Übrige der Makler wegräumen werde oder die neuen Besitzer übernehmen werden, kann man heraushören, dass er selber nicht ganz daran glauben kann, dass es so geregelt werden kann. Seine Stimme bebt, als er sich mit all den Ordnern und Aufnahmen, den Werkzeugen und Geräten, die hier unten gesammelt sind, konfrontiert sieht. Er erzählt dann immer wieder von seiner Arbeit als Hausmeister, sagt, dass diese eine wichtige Sache für ihn gewesen sei. Daher habe er auch seinen Haushalt gerne »gut geführt«. Er habe immer Wert darauf gelegt, alles bereit zu haben. Letztlich nimmt er eine Schnur aus dem Schrank und packt sie ein ‒ die könne man immer gebrauchen, sagt er. Dann bedeutet er uns, dass wir wieder in den ersten Stock gehen sollen. Das obere Stockwerk beherbergt drei Zimmer und ein Bad. Alle Wände, wie schon der untere Flur und der Treppenaufgang, sind tapeziert, teilweise finden sich mehreren unterschiedlich gemusterte Tapeten in einem Raum. Der ganze obere Bereich ist so eingerichtet, wie es in den sechziger Jahren modern war: Die Wände in Aufgang und Flur sind mit zum Teil sehr großen, geometrischen Mustern geschmückt und in kräftigen Grün-, Gelbund Orangetönen gehalten; in den Zimmern hingegen finden sich Tapeten in eher gedeckten Braun-, Olive- und Rosetönen mit floralen Motiven oder mit Streifen. Auf dem Boden ist ein Teppich ausgelegt, der ein kleinteiliges Kreismuster in braun auf beigem Untergrund zeigt. Das Badezimmer mit Toilette, Wanne, Dusche und zwei Waschbecken ist in dunklem Blau gefliest, auf dem Boden ist ein Mosaik in weiß und schwarz verlegt. Wie schon im Erdgeschoss entsteht auch hier der Eindruck, das Haus sei noch bewohnt: Handtücher hängen an den Haltern, auf dem Badewannenrand liegt ein Lappen zum Trocknen, auf den Ablagen unter den Spiegeln sind Zahnpasta, Zahnbürste und weitere Hygiene- und Kosmetikprodukte zu finden, eine Rolle Toilettenpapier hängt an der Halterung, eine weitere steht auf dem Spülkasten bereit, daneben eine alte analoge Personenwaage in dunkelblau. Nur eines der Zimmer wirkt wenig genutzt. Auch hier ist noch nichts ausgeräumt worden. Auf dem Tisch liegt eine Tischdecke, ebenso wie auf dem niedrigen Schrankmöbel gegenüber. Darauf befinden sich einige Dekorgegenstände; mittig ein Porzellanpferd, von dem Herr Richter sagt, es sei sehr alt. Seine Frau habe es von ihrer Großmutter bekommen und nun
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solle es an die Enkelin weitergegeben werden. Hier in diesem Zimmer habe auch das Stillleben von seinen Schwiegereltern gehangen, das er bereits vor wenigen Wochen mit dem Taxi ins Heim gebracht habe und mir später zeigen wolle. Das Zimmer am Ende des Flurs habe seine Lebensgefährtin genutzt, sagt er, als wir hinübergehen. Hier außen am Schrank hängen Herr Richters gebügelte Hosen, an dem in der Mitte des Zimmers stehenden Heimtrainer pendeln Kleiderbügel, an einem davon ist eine Weste. Bevor wir das Zimmer verlassen, frage ich nach dem Teddybären, der auf der Couch sitzt. »Den hab ich von ihr«, sagt er und weist auf seine Lebensgefährtin. »Der ist süß. Nehmen Sie den doch für Ihren Kleinen«, sagt er zu mir. Bevor ich antworten kann, erzählt seine Lebensgefährtin von dem ersten gemeinsamen Weihnachten, das sie im Unstruttal verbracht hatten. Sie habe den Teddy dorthin mitgenommen, um ihn Herrn Richter zu schenken. »Nimm du ihn doch mit. Dann brauchst du nicht alleine schlafen«, sagt sie zu ihm. »Das mache ich. Ich nehm' den gerne in den Arm. Das mache ich wirklich.« Daraufhin packt er den Bären ein. Schließlich gehen wir in das Schlafzimmer und er sagt, während er die Rollläden hochzieht und der Blick auf den Garten frei wird: »Wer hier einzieht, hat ein gutes und gepflegtes Haus. Es ist nicht groß, aber es hat einen schönen Garten. Man kann hier gut leben.« Mir fällt auf, dass es am dem Doppelbett, das frisch bezogen und nur aufgeschüttelt, nicht gemacht oder gar mit einer Tagesdecke geschützt ist, zwei Leselampen gibt, aber nur auf einem der Nachtkästchen Gegenstände wie Taschentücher und eine Zeitschrift liegen. Herr Richter bleibt vor der Kommode gleich neben der Türe stehen. Darüber hängen zwei Bilder, dazwischen ein geknüpfter Wandteppich, der einen Harlekin in einem Halbmond zeigt, im Hintergrund Sternenhimmel. »Den will ich mitnehmen«, sagt Herr Richter, »wo kann ich den aufhängen?« Ich bin überrascht, weil er, im Gegensatz zu allen anderen Gegenständen, von denen er schon seit Monaten zielsicher spricht, diesen Teppich nie erwähnt hatte. Auch seine Lebensgefährtin scheint irritiert und spricht sich relativ deutlich dagegen aus, sagt, es gäbe nun wirklich keinen Platz mehr. Als ich mit Herrn Richter alleine in seinem Schlafzimmer bleibe, frage ich zuerst nach den beiden Bildern auf der Kommode. Da eine Frau und ein Kind darauf abgebildet sind, möchte ich es vermeiden, darüber in großer Runde mit ihm zu sprechen. Er sagt, darauf seien seine Frau und er mit der
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gemeinsamen Tochter zu sehen, als diese noch keine zwei Jahre alt war und betrachtet die Photos eine Weile. Dann frage ich, warum er so gerne den Teppich mitnehmen wolle. Er sieht zur Wand, lächelt und sagt: »Da bin ich wieder Kind.« Er habe ihn zusammen mit seiner Frau geknüpft, erzählt er. Er fühle sich so gut aufgehoben, wenn er an seine Kindheit denkt, und sein starker Bezug zu dieser Zeit wird einmal mehr deutlich. »Ich sehe mich heute noch, wie ich als Kind herummarschiert bin«, sagt er wieder. Und diesmal gesteht er offen: »Ich wünschte, ich könnte noch einmal Kind sein.« Während wir durch die Zimmer gehen, sagt Herr Richters Lebensgefährtin immer wieder zu ihm, er brauche bequeme Sitzgelegenheiten und zeigt ihm verschiedene Optionen auf. Aber Herr Richter antwortet stets, er habe keinen Platz für die Sitzmöbel aus dem Wohnzimmer, und nur die seien wirklich bequem. Schließlich entscheidet er sich für einen Stuhl aus dem Keller, doch kurz vor der Abfahrt verzichtet er doch darauf, ihn mitzunehmen. Er sagt, der Stuhl sei zu groß, er habe was er brauche. Seine Lebensgefährtin erwidert, er benötige eine bequeme Sitzgelegenheit für sich und noch eine zusätzliche für Besuch, er aber lässt sich nicht auf die Argumentation ein. Herr Richter nimmt die Wandteller mit, außerdem noch ein paar »nützliche Kleinigkeiten« aus dem Keller, wie zum Beispiel selbstklebende Haken, um Handtücher im Bad aufzuhängen. Seine Lebensgefährtin packt den Teddy und eine Decke für ihn ein und für sich eine Flasche Wein und ein Zierdeckchen, das ihr besonders gut gefällt. Zurück im Heim begleiten wir Herrn Richter noch auf sein Zimmer, in dem inzwischen die Schrankwand eingebaut ist. Sie besteht aus zwei hohen, doppeltürigen Schränken, einem eintürigen dazwischen sowie einem niedrigen, mit zwei Schubladen und zwei kleinen Türchen. Auf letztgenanntem stehen, wie ehemals auf der vom Heim gestellten Kommode, ein altes Radio und ein neuer, kleiner Flachbildfernseher. Daneben ist jetzt ein zweiteiliger Bilderrahmen aufgestellt, in dem zwei Schwarzweißphotos von Herrn Richters junger Tochter zu sehen sind, aufgenommen vermutlich in den sechziger oder siebziger Jahren. Hinter drei der verschließbaren Schranktüren sind Regalböden eingezogen, die meisten der Fächer stehen noch leer. Eines der doppeltürigen Elemente dient als zusätzlicher Kleiderschrank. Herr Richters Lebensgefährtin beginnt, die mitgebrachten Sachen in die verschließbaren Schränke einzusortieren. Die Zierteller finden in dem niedrigen Teil hinter den kleinen Türen ihren vorläufigen Platz. Der Ted-
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dybär wird von Herrn Richter auf dem Bett platziert. Mir fällt auf, dass der Tisch in der Ecke vor dem Fenster seit meinem ersten Besuch unverändert geblieben ist. Weiterhin finden sich hier auf derselben rosafarbenen Tischdecke unter anderem Unterlagen, Akten, Zeitschriften, Bürozubehör (z.B. ein Tacker), ein Telefon, Medikamente und eine Wasserflasche mit Glas. Herr Richter holt das große Floralstillleben, von dem er erzählt hat, hervor und bittet mich, sein Alter zu schätzen. Es ist ein großes Bild, einschließlich des prunkvollen goldenen Rahmens fast einen Meter hoch und über einen Meter breit. Vor dunklem Hintergrund zeigt es einen üppigen Strauß aus Flieder, Rosen und Pfingstrosen in Pastelltönen in einer niedrigen, hellen Vase, welche die gesamte Bildfläche einnimmt. Auf der Rückseite sind zwei Etikette, beide von Herrn Richter mit Kugelschreiber in Großbuchstaben beschriftet: »Blumenbild. Ein Erbstück von Eduard und Else Doser, geb. Drese (die Eltern von Charlotte), erhalten im November 1968.« Und: »Ein Bild von Lottes Eltern. Nach dem Ableben von Oma Else – Oktober 1968 – erhalten. Ein Blumenstrauß.« Herr Richter ist sehr stolz auf das Bild und meint, es müsse um die hundertfünfzig Jahre alt sein. Ich schätze es auf das dritte Viertel des 19. Jahrhunderts und er nickt zustimmend. Wenn ich das nächste Mal käme, würde ich es hier an der Wand finden, sagt er beim Abschied und zeigt über sein Bett. Letztes Gespräch, Wohnheimzimmer, nicht verabredet (März 2011) Ich treffe Herrn Richter zufällig auf dem Flur vor seinem Zimmer. Er muss gerade aus der Stadt gekommen sein, denn er trägt einige Tüten mit Einkäufen. Es dauert ein wenig, bis er mich erkennt und sich an mich, die Gespräche und die Fahrt zu seinem Haus erinnert. Wir sprechen nur wenige Minuten miteinander, doch ich nutze die Gelegenheit, mich im Zimmer umzusehen: Das Blumenbild hängt, wie angekündigt, über dem Bett, links und rechts davon zwei der Wandteller. Der plattenartige Teller hat rechts von der Tür seinen Platz gefunden. Verglichen zum meinem letzten Besuch ist einiges an Wandschmuck dazugekommen: die zwei Edelweiß und Federn aus den Alpen sowie die Photokollage aus dem Wohnzimmer mit den Photos seiner Frau, seiner Tochter und seiner Enkelin. Auf dem niedrigen Teil des Einbauschranks ist eine weitere Aufnahme seiner Frau zu sehen. Auf dem Schreibtisch mit der rosa Tischdecke stehen das Bild aus dem Schlafzimmer, das ebenfalls seien Frau zeigt, und die Pferdeskulptur, die
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laut eigener Aussage an seinen Bruder hätte gehen sollen. Auf dem Bett, das nicht mit der vom Heim gestellten Bettwäsche bezogen ist, findet sich der Teddy an der gleichen Stelle, an die er ihn vor fünf Monaten zum ersten Mal gesetzt hat. Mitten im Raum steht sein Heimtrainer, daran hängen die zwei Stöcke, die er aber für den Bewegungsradius, den das Zimmer ihm bietet, nicht braucht. Er erzählt mir, er fahre jeden Tag eine gute Strecke darauf und mache dazu noch Kniebeugen. Beides würde ihm sehr bei den Problemen mit seiner Hüfte helfen und die Ärztin habe die Medikamentendosis schon deutlich senken können. Wir unterhalten uns ein wenig über sein Wohlergehen und ich erkenne, dass er zwar gealtert aussieht, aber körperlich besser zurechtkommt als beim letzten Treffen. Ich frage nach dem Haus, ob es schon verkauft ist. Er berichtet, dass es zwei Interessenten gäbe und dass eine Frau von der Deutschen Bank sich darum kümmert. »Das wird jetzt in den nächsten zwei Wochen abgewickelt«, meint er. »So bald schon?« frage ich. »Haben Sie denn all Ihre Sachen schon geholt oder wollen Sie noch einmal rausfahren?« Mit der Antwort lässt er sich Zeit und schmunzelt, bevor er sagt: »Wenn ich daran denke, dass 90 Prozent der Dinge, meine Dinge, im Haus sind… Die werden alle weggefahren. Aber das ist nicht meine Sache. Ich kann mich nicht darum kümmern. Das muss die Frau von der Deutschen Bank wegwerfen, oder die neuen Besitzer.« Vielleicht, so meint er, würden sie ja auch was behalten, seine Möbel im Wohnzimmer seien ja »noch gut« gewesen. Er brauche nichts mehr, er sei zufrieden. Er ist guter Laune, als wir uns nach dem kurzen Gespräch verabschieden. Ein Jahr später, als die Forschungsphase schon lange abgeschlossen ist, frage ich die Heimleiterin nach Neuigkeiten über die von mir begleiteten Senioren und erfahre, dass Herrn Richters Haus immer noch nicht verkauft ist. Laut seiner Aussage solle es aber bald so weit sein. Ein Gespräch nach dem endgültigen Abschluss des Umzugsprozesses kann somit mit Herrn Richter nicht geführt werden.
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4.2.2 Frau Schwarz (geb. 1925) Frau Schwarz bewohnt Anfang März 2010 bereits seit mehreren Wochen ein Zimmer auf der Wohnpflegestation der Einrichtung. Nach einem Krankenhausaufenthalt wurde sie zur weiteren Genesung auf die Reha-Station eines anderen Heimes überwiesen, danach zog sie in das von mir beforschte Haus. Hier lebt sie vorerst in einem der Doppelzimmer im ersten Stockwerk, also im Pflegebereich. Etwa seit Weihnachten sind in dem Zimmer insgesamt drei Damen untergebracht. Die beiden anderen Bewohnerinnen sind 101 und 108 Jahre alt und beide stark pflegebedürftig. Frau Schwarzens Zustand hat sich in den letzten Wochen erheblich gebessert, so dass sie inzwischen keine intensive Pflege mehr braucht. Sie soll demnächst in eines der Zimmer des Wohnbereiches umziehen. Ihre frühere Wohnung ist bereits von einer ihrer Töchter, Frau Beer, aufgelöst worden. Mit dieser vereinbare ich telefonisch einen Termin, um Frau Schwarz gemeinsam einen Besuch abzustatten. Telefonat mit der Tochter, Frau Beer (März 2010) Frau Beer berichtet mir, dass erst einige Zeit nach Frau Schwarzens Einlieferung im Krankenhaus klar wurde, dass sie nicht wieder nach Hause zurückkehren könne und ihre Wohnung aufgelöst werden müsse. Die Dinge, die sie in ihr Altenwohnheimzimmer mitnehmen würde, hatte die Tochter in Absprache mit Frau Schwarz ausgesucht. Diese sei sich bewusst darüber gewesen, dass sie ihre Wohnung nicht selbst hätte ausräumen können, sagt Frau Beer. Daher habe Frau Schwarz die Aufgabe vertrauensvoll in andere Hände gegeben. »Wenn mir dann was fehlt und du hast es weggeschmissen, dann hab' ich halt Pech gehabt«, soll sie gesagt haben. Selbstverständlich habe sie einige Dinge benannt, die in jedem Fall behalten werden sollen. Auf die Frage, um welche Sachen es sich dabei handelte, werden vornehmlich »nützliche« Gegenstände genannt, bestimmte Möbel beispielsweise. Ich insistierte und frage etwa nach Photoalben und anderen Erinnerungsgegenständen. Daraufhin erzählt mir Frau Beer, dass ihr Vater sehr früh verstorben sei und in der ganzen Wohnung ihrer Mutter nur ein Bild von ihm hinge. Ihre Mutter habe behauptet, sich das Photoalbum, in dem seine Bilder sind, nie wieder angesehen zu haben. Die Tochter sagt: »Ich glaube ihr das«, und dass es daher nicht verwunderlich sei, dass Frau Schwarz keine Erinnerungsstücke benannt hat.
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Frau Beer beschreibt ihre Mutter als starken Menschen, der es gewohnt sei, »den Ton anzugeben«, das »Regiment zu führen«. Sie sei immer auf sich allein gestellt gewesen und habe allein gelebt. Deswegen sei es nun eine große Umstellung, in einem Umfeld zu wohnen, in dem ständig andere Menschen zugegen sind und in dem fremdregulierte Abläufe das Leben bestimmen. Erstes Gespräch, Wohnheim, Pflegestation (März 2010) Ich treffe die beiden Damen am runden Tisch in der Mitte des Flurs im ersten Obergeschoss. Neben Frau Schwarz und ihrer Tochter sitzen noch zwei ältere Frauen, Bewohnerinnen des Heimes, mit am Tisch. Eine davon wird mir als Frau Schwarzens Freundin, die sie hier im Wohnpflegebereich gewonnen habe, vorgestellt. Wir kommen schnell ins Gespräch und die Freundin sagt, dass sie Frau Schwarz sehr vermissen wird. Die beiden Damen berichten von ihren Gemeinsamkeiten und dass sie sich schnell lieb gewonnen hätten. Sie erzählen, dass es schwierig sei, sich »hier« mit jemandem zu unterhalten, weil die meisten Bewohner auf der Pflegestation an fortgeschrittener Demenz litten. Einige, wie die beiden Damen in Frau Schwarzens Zimmer, seien sogar bettlägerig. Frau Schwarz und ihre Freundin bezeichnen die psychisch veränderten Bewohner als »die«, sagen »mit denen ist es eine andere Sache«. Die neben mir sitzende Dame sei auch »eine von ihnen«. »Sie ist ängstlich«, sagt Frau Schwarz – »sehr ängstlich«, bekräftigt die Freundin. Obwohl Frau Beer, in dem Wissen, dass ich gerne mehr über die persönlichen Dinge ihrer Mutter erfahren würde, immer wieder versucht, das Gespräch auf den Umzug zu lenken, will dies nicht recht gelingen. Den beiden befreundeten Seniorinnen ist offenbar nach Erzählen zumute. Sie sprechen von den in der Einrichtung angebotenen Aktionen und Gruppen, wie den Bastel- und Blumenpflanzrunden oder dem Gedächtnistraining und vom Tagesablauf auf der Pflegestation. Immer wieder wird deutlich, wie gern sich die beiden Damen haben und wie wichtig sie einander sind. Durch die exponierte Situation im Flur wecken wir die Neugier der anderen Bewohner, von denen sich inzwischen etliche am oder in der Nähe des Tisches aufhalten und gerne mit einbezogen werden möchten. Da nach und nach ein ungestörtes Gespräch unmöglich wird, schlägt mir Frau Beer diskret vor, mit ihrer Mutter ins Foyer zu gehen und in der Cafeteria Platz zu nehmen. Zuvor aber zeigen mir die beiden Damen noch das Zimmer, in
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dem Frau Schwarz seit mehreren Monaten lebt. Gleich links von der Tür steht ein Bett, in dem eine sehr alte Frau liegt, dahinter schließt das Bett von Frau Schwarz an. Gegenüber, in einer Nische, die durch das Bad gebildet wird, liegt eine weitere hochbetagte Frau. Bis auf je ein Brettregal über den Betten sowie je einem Nachtkästchen und einem mehrtürigen Einbauschrank sind in dem Zimmer keine weiteren Möbel. Offen sichtbare persönliche Gegenstände der Zimmerbewohnerinnen sind fast ausschließlich am Kopfende der Betten zu finden, genauer auf den Nachtkästchen und den Regalen. Die Anzahl von Frau Schwarzens Dingen ist deutlich höher als die der beiden anderen Damen, auch wenn es sich hierbei lediglich um ein paar Zeitschriften und einige Puppen handelt. In der Cafeteria bestellen wir Kaffee und Kuchen. Wir haben freie Platzwahl, denn außer uns ist niemand zugegen. Ich nutze den Ortswechsel, um auf den Umzug zu sprechen zu kommen und frage Frau Schwarz, ob sie sich darauf freut, wieder in eigene vier Wände zu ziehen, also in das Zimmer im Wohnbereich, und von ihren eigenen Sachen umgeben zu sein. Daraufhin erzählt sie mir wieder von ihrer Freundin, die sie vermissen wird und von einer besonderen Eigenheit, die sie verbinde: Beide genössen es, vor dem Frühstück eine Tasse schwarzen und ungesüßten Kaffee zu trinken. »Wissen Sie, wie viel das wert ist, wenn zwei Menschen eine Freude teilen? Ich geh’ dann immer gleich ganz früh hinunter und hol’ uns den Kaffee. Dann trinken wir ihn zusammen.« Das Frühstück wird dann später im ersten Stock mit den anderen eingenommen. »Das wird mir fehlen.« Es ist schwer, das Gespräch zu lenken, weil Frau Schwarz viel zu berichten weiß und vom einen ins andere kommt. Das, was sie sagt, steht zwar durchaus in Zusammenhang mit meinen Fragen, allerdings kann es nicht als direkte Antwort gesehen werden. Da sie ganz und gar nicht wirr wirkt und es dem Gesagten nicht an Kohärenz fehlt, beginne ich, mir Sorgen über meine Fragen zu machen, die zwar in meinen Augen präzise sind, Frau Schwarz aber nicht zu konkreten, dingbezogenen Aussagen zu bewegen scheinen. Die Art, in der sie spricht, ist zeitfüllend, weil sie sich um genaue und vollständige Beschreibungen und Berichte bemüht. So erzählt sie mir auf eine Frage hin, die auf Erinnerungsgegenstände zielte, ausführlich von einem türkischen Jungen aus ihrer früheren Nachbarschaft, der durch ihre Zuwendung und intensive Nachhilfe, besonders im Fach Deutsch, letztendlich erfolgreich ein Studium habe absolvieren können. Sie erläutert mir ihre Methoden, beschreibt seine Erfolge und seinen Werde-
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gang, verliert nicht den Faden und endet schließlich mit dem Satz: »Er besucht mich immer wieder, auch hier im Heim. Letzte Woche war er da, das hat mich sehr gefreut.« Erst im Lauf des Gesprächs wird sich zeigen, dass sowohl meine Fragen als auch Frau Schwarz klar genug sind. Frau Schwarz bestätigt mit ihren Aussagen, was ihre Tochter schon am Telefon erzählt hatte: Ihr sei klar gewesen, dass sie nicht mehr in die Wohnung zurückkehren würde. Sie habe darauf vertraut, dass ihre Tochter schon das Wichtigste beiseitegelegt habe. Was aus den andern Sachen geworden ist, interessiere sie nicht, sie könne diese ohnehin nicht alle in ihrem Heimzimmer unterbringen. »Einiges wird ja da sein, wenn ich dann in das Zimmer ziehe. Das wird schon das Wichtigste sein, nicht wahr?«, fragt sie ihre Tochter und klingt dabei eher feststellend als unsicher. So genau ihre Ausführungen zuvor waren, als das Gesprächsthema noch nicht ihre eigenen Gegenstände fokussiert hat, so knapp sind ihre Antworten jetzt. Sie kommt nicht auf bestimmte Gegenstände zu sprechen und spricht auch nicht davon, wie ihre Wohnung eingerichtet war. Es macht nicht den Eindruck, als ob es ihr schwer fallen würde, über das Thema zu sprechen. Sie ist sachlich und gefasst, freundlich wie zuvor und weiterhin bereit, Auskunft zu geben. Dennoch entwickelt sich kaum ein dynamisches Gespräch, geschweige denn ein freies Erzählen. Ich versuche, eine Art »Gedächtnisspaziergang« zu machen, habe aber schnell den Eindruck, dass sie sich auf ein solches Experiment nicht einlassen kann. Im Augenblick erscheint es ihr auch nicht wichtig, über das Thema zu sprechen. Ich stelle eine letzte Frage: »Gibt es einen bestimmten Gegenstand, irgendein Ding, auf das Sie sich besonders freuen, es wieder zu sehen? Irgendetwas, von dem Sie sagen: ›Schön, es wieder in der Hand halten zu können‹, wenn Sie in das Zimmer ziehen?« – »Ja. Meine Erinnerung ist mir sehr wichtig. Dass ich wieder alles im Gedächtnis behalten kann. Daran will ich weiterarbeiten.« Frau Schwarz fängt an, ausführlich von dem Gedächtnistraining, das sie jetzt schon regelmäßig besucht, zu erzählen und von den Fortschritten, die sie bereits erzielt hat. Daran wolle sie, wenn sie erst wieder ein eigenes Zimmer hat, gezielt weiterarbeiten. Ob und inwiefern das Zimmer oder vielleicht sogar die eigenen Dinge damit zu tun haben – auf diese Frage geht sie nicht ein. Ihr sei es anfangs nicht mehr möglich gewesen, zu zählen, sagt sie weiter. Mithilfe von Bildern, die als Eselsbrücken visualisiert werden, kann sie wieder die Zahlenfolge reproduzieren.
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Sie führt uns vor, wie die Gedächtnisstütze funktioniert und es überrascht mich sehr, dass sie tatsächlich Schwierigkeiten hat, die Zahlen von eins bis zehn in der richtigen Reihenfolge aufzusagen. Aus meiner Sicht hat in den letzten eineinhalb Stunden nichts darauf hingewiesen, dass Frau Schwarz Schwierigkeiten mit der Funktion ihres Gedächtnisses hat, auch nicht in Bezug darauf, was in der jüngeren Vergangenheit geschehen ist. Mir wird nun klar, wie irritierend und verunsichernd für sie das Bewusstsein sein muss, an einer so einfachen Aufgabe zu scheitern. Letztes Gespräch, Einzugstag, Wohnheimzimmer (April 2010) An dem Tag, an dem Frau Schwarz das Zimmer im Wohnbereich bezieht, kann ich dabei sein. Frau Beer berichtet bei einem Telefonat ein paar Tage zuvor, sie plane, vormittags das Zimmer zusammen mit ihrer Schwester vorzubereiten und es mit einigen Möbelstücken wie einem Stehregal, Sessel, Tischchen und einigen persönlichen Gegenständen einzurichten. Noch vor dem Mittagessen solle es fertig sein, so dass Frau Schwarz es zum ersten Mal in Augenschein nehmen könne. Nach dem Mittagessen könne ich dann dazukommen. Ich frage, ob und warum Frau Schwarz sich nicht beim Einrichten beteiligt. »Ach, das ist ja nicht so viel«, sagt Frau Beer, »das ist schon in Ordnung so. Sie kann ja dann alles selber umräumen.« Bei dem nachmittäglichen Treffen gewinne ich den Eindruck, dass diese Aussage durchaus berechtigt ist: Es wirkt nicht so, als sei Frau Schwarz aus dem Prozedere ausgeschlossen oder ferngehalten worden. Vielmehr scheint es mir, dass es ihr der Ablauf so ganz recht ist – auch wenn das mit dem sonst so selbstbestimmten Charakter nicht zusammenzupassen scheint. Als ich wie verabredet am frühen Nachmittag an die Tür des neuen Zimmers klopfe, macht niemand auf. Nach kurzer Zeit kommt Frau Beer hinzu und wundert sich darüber, dass ihre Mutter noch nicht da ist. Während wir warten, berichtet mir Frau Beer, ihre Mutter habe den Raum schon gesehen, sich darüber gefreut und ihn sofort angenommen. Sie sei im Großen und Ganzen gefasst und guter Laune gewesen und ganz glücklich über das neue Zimmer und ihre Sachen. Natürlich sei es schon eine emotionale Sache, aber sie habe sich nicht groß aus der Ruhe bringen lassen. Schließlich geht Frau Beer ihre Mutter suchen, weil sie sich Sorgen macht, und findet sie unten im Foyer im Gespräch mit ihrer Freundin. Frau Schwarz sagt, sie sei nicht wie verabredet sofort zu ihrem Zimmer hochgefahren, weil sie es für »nicht so wichtig hielt«. Sie wirkt guter Dinge, aber
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ganz und gar nicht daran interessiert, über ihr Zimmer mit mir zu sprechen und beantwortet meine Fragen nur mit affirmativen Aussagen, wie »Ja, das ist mein alter Sessel« oder »Das Regal stand auch bei mir Zuhause, das hab ich schon lange.« Wir setzen uns: Frau Schwarz lässt sich auf dem Couchsessel nieder, ihre Tochter auf dem Bett und ich nehme gegenüber von Frau Schwarz auf einem Schalensessel Platz. Sie beginnt sofort davon zu erzählen, was letzte Nacht vorgefallen ist. »Ich habe etwas sehr Schweres erlebt, letzte Nacht. Sehr schwer. Das kann nicht jeder«, sagt sie. Sie habe eine der beiden alten Frauen, mit denen sie sich das Zimmer geteilt hatte, beim Sterben begleitet. Zuerst habe sie gehört, wie ihre Bettnachbarin merkwürdige Laute von sich gab und da sei sie wach in ihrem Bett liegen geblieben und habe so lange für die über Hundertjährige gebetet, bis diese schließlich still war. Das habe mehrere Stunden gedauert. In der Früh sei sie dann, »ohne ein großes Aufsehen zu machen«, die Schwestern holen gegangen. Sie betont immer wieder, dass sie nicht das Zimmer verlassen hatte und dass sie von vielen der Angestellten für ihr Verhalten gelobt worden sei. »Andere könnten das nicht so wie ich«, sagt sie. Sie wirkt weder aufgewühlt noch emotional betroffen beim Erzählen, auch wenn sie durchaus starke Gefühle beschreibt. Sie ist vielmehr um ausführliche und präzise Formulierungen bemüht. Angesichts den Erlebnisse der letzter Nacht und der Frage danach, »welch eine Sorte Mensch« sie sei, scheint ihr auch heute ein Gespräch über ihre Dinge nicht wichtig. Sie kommt auf den Neffen der Verstorbenen zu sprechen, der sich nicht um diese gekümmert habe und der nur auf ihr Erbe aus gewesen sein. Die Greisin habe eine Betreuerin zugeteilt bekommen, die sich, ohne etwas dafür erwarten zu können, rührend und aufopferungsvoll um die alte Frau gekümmert habe – das habe Frau Schwarz sehr bewundert. Wir werden ein paar Mal unterbrochen, weil der Hausmeister und ein junger Lehrling immer wieder in das Zimmer kommen, um noch einige Kleinigkeiten zu regeln: die Lampe muss montiert werden und das Bett erhöht, damit Frau Schwarz leichter aufstehen kann. Auch das Telefon klingelt einige Male. Immer, wenn wir unterbrochen werden, lenke ich danach das Gespräch auf Dinge aus dem Zimmer oder gehe zu bestimmten Objekten hin und frage nach ihnen. Besonders fällt mir auf, dass im Regal die Sachen wie aufgereiht wirken. Ich erfahre, dass einige der Gegenstände aus Ton von Frau Schwarzens anderer Tochter angefertigt worden seien, das Bild sei von Frau Beers Sohn. Diese beiden werden als die »Künstler in der
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Familie« bezeichnet. Andere im Regal zu sehende Dinge seien Souvenirs, so ein Krug und die dazugehörigen Becher. Ob diese aus Bulgarien oder Kroatien stammen, wisse Frau Schwarz aber nicht mehr. Sie sagt resümierend, dass ihr das Zimmer gut gefalle und sie sich wohl fühle. Sie habe sich besonders über ein gebackenes Osterlamm gefreut, das Frau Beer für sie besorgte hatte, und dass der Balkon so hübsch sei. Im Zimmer sind an verschiedenen Stellen Puppen und Stofftiere unterschiedlicher Größen zu sehen und ich frage, ob es damit etwas Besonderes auf sich habe. »Ach, die hab ich schon lange. Die sind halt so zusammengekommen.« Einige der Puppen haben auch einen Namen, konkrete Geschichten scheint es nicht zu geben. Sie müssten auch alle noch ihren Platz finden, sagt die Tochter. Während kurz darauf Frau Schwarz mit dem Hausmeister und seinem Helfer über die Betthöhe diskutiert, sagt Frau Beer zu mir: »Der Igel ist ihr sehr wichtig. Den habe ich ihr geschenkt. Als sie den heute Früh gesehen hat, da sind ihr die Tränen gekommen.« Sie soll gesagt haben: »Das ist ja schön, dass du an den gedacht hast.« Ich frage die Tochter nach den Kriterien bei der Auswahl der Dinge. »Das war mir schon klar [was mit muss]. War nicht so schwer; so viel gab es da ja auch nicht.« Einmal mehr habe ich den Eindruck, dass Mutter und Tochter wie ein gut eingespieltes, altbekanntes Team einander begreifen. Später spreche ich Frau Schwarz auf den Igel an. Ganz gefasst und sachlich sagt sie: »Ja, der ist wichtig, den hat mir meine Tochter geschenkt als mein Mann gestorben ist, als, ja, Ersatz sozusagen [sie stockt] zum Trost, damit ich nicht so einsam bin.« Wir sprechen anschließend über den Wandschmuck des Zimmers. An den Wänden hängen zehn Bilder, einige davon wurden von Frau Beers Schwester, die heute nicht anwesend ist, gemalt. Photos sind nur zwei zu finden; beide stehen auf dem Bettkasten. Sie zeigen Frau Schwarz in jüngeren Jahren: einmal mit ihrer Mutter und einmal zwischen ihren beiden Töchtern, die auf dem Photo etwa Mitte zwanzig sind. Dazwischen steht ein alter Wecker. Im Kontrast zu diesem sehr vergangenheitsbezogenen Arrangement wirkt die Geschichte, die Frau Schwarz zu dem großen und auffallenden Hundertwasser-Kunstdruck gleich hinter der Tür erzählt. Es sei gar nicht so lange her, dass sie ihn sich zugelegt habe. Sie sei zu Besuch bei einer Freundin gewesen, in deren Wohnung viele Kunstdrucke von Hundertwasser hingen. Zuerst habe sie gedacht, dass es scheußlich sei, sich so etwas an die Wand zu hängen. Das zweite Mal als sie da gewesen sei, habe
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sie es nicht mehr so schlimm gefunden, dann interessant, dann faszinierend und schließlich habe sie auch unbedingt solch ein Bild haben wollen. Unser Gespräch findet ein schnelles Ende, als Frau Beer auffällt, dass ihre Mutter und sie gleich noch einen Besprechungstermin mit der Heimleiterin haben. Frau Schwarz verabschiedet mich herzlich. Sie wirkt trotz der vielen Ereignisse des Tages und besonders der letzten Nacht gefasst, voller Energie und freundlich.
4.3 S ICH
LOSREISSEN
4.3.1 Frau Berger15 (geb. 1927) Frau Berger ist meine »erste Kandidatin«, wie die Heimleiterin es ausdrückt. Sie ist Anfang 80 und hat kurz vor Weihnachten das Zimmer im Heim bezogen. Der Umzug selbst sei, so die Heimleiterin, noch im Gange, da Frau Berger eine Eigentumswohnung besitze, die just neben dem Altenheim liege. Die Heimleiterin berichtet, dass ihr die Dame schon länger bekannt sei. Frau Berger habe keine Angehörigen und habe zunehmend an psychischen Problemen gelitten, sie drohte zu vereinsamen. Mit ein Grund dafür sei, so die Heimleiterin, dass es um die Deutschkenntnisse der gebürtig aus Rumänien stammenden Seniorin nicht gut bestellt sei, obwohl diese schon seit den siebziger Jahren in Deutschland lebt. Sie sei schon länger in das Heim gekommen, um hier Mittag zu essen – ein Angebot für Senioren, die nicht im Haus wohnen, denen aber die Gemeinschaft und die Erleichterung, die das Speisen im Altenheim bieten, willkommen sind. Als kürzlich ein Zimmer frei wurde, habe sie Frau Berger »überreden müssen«, es anzunehmen. Mit dem Argument, dass ihre Sachen nicht in das von ihr als sehr klein empfundene Zimmer passten, schlug Frau Berger das Angebot der Heimleiterin immer wieder aus. Nur als diese ihr dann versprach, dass sie, einmal im Heim eingezogen, das nächste freiwerdende Eineinhalbzimmerappartement beziehen könne, habe sie sich darauf eingelassen, vorläufig das kleinere Zimmer zu mieten. Der Heimleiterin war es nach eigener Aus-
15 Alle wörtlichen Zitate von Frau Berger sind von mir aus dem Rumänischen ins Deutsche übersetzt.
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sage sehr daran gelegen, die soziale und psychische Situation von Frau Berger zu stabilisieren. Inzwischen habe Frau Berger sich, zumindest was das Mobiliar angeht, weitestgehend im Heim eingerichtet. Ihren großen Schlafzimmerschrank habe sie sich vom Schreiner einpassen lassen, jetzt überlege sie noch eine Lösung bezüglich eines Tisches. Frau Berger sei übrigens die erste und vorerst die einzige Bewohnerin, der die Heimleitung genehmigt habe, ein selbst mitgebrachtes Bett anstelle der vom Wohnheim gestellten Spezialbetten zu benutzen. Da die Seniorin kein Pflegebett brauche und auch keine Schwierigkeiten beim Aufstehen habe, und besonders weil sie darauf bestünde, würde demnächst das momentan provisorisch benutzte Wohnheimbett gegen ein eigenes umgetauscht. Überhaupt habe Frau Berger ganz eigene und genaue Vorstellungen, wie das Zimmer aussehen solle. Sie sei nach wie vor damit beschäftigt, Möbel zu stellen und die Rahmenbedingungen der neuen Wohnumgebung zu schaffen. Noch sei so gut wie nichts eingeräumt, nur ein paar Bilder habe sie schon mitgebracht. Erstes Gespräch, Wohnheimzimmer, nicht verabredet (Januar 2010) Als ich Frau Berger das erste Mal sehe, kniet sie auf dem Boden und schiebt einen Zollstock unter das Bett, das bald ausgetauscht werden soll. Neben ihr steht eine andere Bewohnerin des Heimes und diskutiert mit ihr darüber, ob der Durchgang zwischen Bett (das nächstens hergebracht werden soll) und dem Schrank gegenüber breit genug sei, wenn dieses in den Raum ragte und nicht, wie das jetzige, mit der Längsseite an der Wand aufgestellt sei. Als sie die Heimleiterin sieht, beginnt sie gleich, ihr die Probleme und neuen Ideen bezüglich der Einrichtung zu skizzieren. Tatsächlich ist ihr Deutsch recht holprig und ich kann deutlich den rumänischen Satzbau heraushören, der dem Gesagten zugrunde liegt. Frau Berger übersetzt rumänisch konzipierte Gedanken wortwörtlich ins Deutsche – so ihr Wortschatz dies ermöglicht. Das Gesagte erhält so nicht nur einen fragmentarischen Charakter, sondern ruft durch die unpassende Verwendung von Wörtern auch falsche Konnotationen und widersprüchliche implizite Bedeutungen hervor. Frau Bergers Bekannte verabschiedet sich und die Heimleiterin nutzt die Gelegenheit mich vorzustellen. Frau Berger lächelt mir geschwind zu und begrüßt mich rasch, um sich sofort wieder der Heimleiterin zuzuwen-
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den und dieser energisch ihr neuestes Vorhaben zu erläutern. Es geht darum, bündig am kunststeinernen, fensterbrettartigen Überbau des Heizkörpers ein Brett anbringen zu lassen, um die Stellfläche zu vergrößern. Die Konstruktion soll als Tischersatz fungieren, um den Platz, den ein freistehender Tisch einnehmen würde, zu gewinnen. Bereits jetzt wird durch die Flaschen, Gläser, Tassen, eine Thermoskanne und einige Bücher auf dem Fensterbrett sowie durch die Positionierung zweier Stühle deutlich, dass der Ort zum Sitzen, sich unterhalten, lesen etc. genutzt wird. Es dauert eine ganze Weile, bis sich Frau Bergers Aufmerksamkeit eingehender auf mich richtet, als sie mich ganz unvermittelt nach meiner Meinung in dieser Sache fragt. Nach wenigen Sätzen spricht sie ihr schlechtes Deutsch an, woraufhin ich ihr anbiete, das Gespräch auf Rumänisch weiterzuführen. Frau Berger ist hoch erfreut und aufgeregt zugleich, ihre Stimme überschlägt sich, als sie mich in die Arme nimmt, auf beide Wangen küsst und mir versichert, wie sehr sie sich freut, mit mir in ihrer Muttersprache sprechen zu können. Sie zieht mich geradezu in das Zimmer, und beeilt sich, die Heimleiterin zu verabschieden. Diese verlässt sichtlich amüsiert das Zimmer: die Raumgestaltungsbesprechung ist verschoben. Frau Berger möchte alles mögliche über mich wissen. Wir setzen uns auf die beiden Stühle am Fensterbrett: mir weist sie den an der Wand zu, sie nimmt mit dem Gesicht zum Raum Platz. Nachdem wir die für Emigranten wichtigen Eckdaten (woher, wann, wohin, wie, warum16) ausgetauscht haben, erkundigt sie sich nach meinem Anliegen. Ihre Fragen und die Versuche, meine Antworten im Lauf des Gesprächs immer wieder in eigenen Worten zusammenzufassen, zeigen deutlich ihr Interesse, ihre geistigen Kapazitäten und ihre Bildungsniveau auf. An einer Stelle kommentiert sie meine Ausführungen wie folgt: »Ja. Menschen und Dinge gehören zusammen. Da kann man nicht anfangen zu zählen: der hat so viel davon, davon, davon. Man muss genauer hinsehen. Ich zum Beispiel habe hier diese Ikonen.« Sie zeigt auf einen mir gegenüberstehenden niedrigen Schrank. Darüber hängen vier Ikonen im orthodoxen Stil: unten, auf einer Linie, finden sich drei Bilder in Öl auf Holz, mittig darüber hängt ein Hinterglasbild. Auf der Kommode stehen auf einem Makrameedeckchen drei gerahmte Photos. Links und rechts sei ihr verstorbener Mann zu sehen, mittig ihre Mutter, beschreibt sie. Im linken und
16 Ausführungen hierzu im nächsten Kapitel.
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mittleren Rahmen ist je ein schwarzweiß Passphoto ihres Mannes zusätzlich in den Rahmengeklemmt. Die Bilder sind aufeinander ausgerichtet; das der Mutter ist so nach hinten verschoben, dass mittig auf dem Schränkchen eine Kerze Platz hat. Sie brennt gerade. Frau Berger meint, man könne sagen, sie habe an dieser Stelle einen Altar gebaut. Aber das wäre so nicht ganz richtig. »Ich habe keinen festen Glauben, ich bin nicht religiös. 17 Schließlich habe ich so lange im Kommunismus gelebt und für die Armee gearbeitet als Kartographin – da konnte man nicht einfach sonntags in die Kirche gehen. Aber auch in meiner Erziehung war das kein Dogma. Warum hängen die Ikonen da? Weil ich sie gemalt habe. Und ich habe sie gemalt, weil ich gerne male und weil ich etwas Traditionelles, etwas aus der rumänischen Volkskunst malen wollte. Und eigentlich ist das kein Altar, sondern meine Bar«, sagt sie lachend. Sie erzählt, sie mache sich sehr viele Gedanken über sich und ihre Sachen und sie wolle mir keine Interpretationen aufdrängen. Aber sie sei immer schon »ein wenig verrückt« gewesen, habe immer sehr auf ihre Einrichtung und ihre Kleidung geachtet. »Schöne Dinge« hätten sie angesprochen: Kunst, Theater, Bücher. »Ich bin auch noch sehr jugendlich«, sagt sie.18 »Ich mag junge Menschen und ich mag es, dass sich die Welt verändert.« Sie zeigt mir ein Bild, das hinter der Tür an der Wand lehnt, ein Portrait ihrer Mutter, das kurz vor deren Tod gemalt wurde. »Siehst du, wie ähnlich sie mir sieht?«, fragt sie mich. Sie erklärt mir, dass ihr das Bild sehr wichtig sei, sie es in letzter Zeit häufig betrachten würde und dass es sie traurig mache, weil es sie an ihre Familie erinnere. Ihre drei Schwestern seien alle bereits verstorben, ihre Mutter schon lange. Sie zeigt mir alte Schwarzweiß-
17 Der rumänische Wortlaut ist: »Nu sunt religioasă.« Eine solche Aussage bedeutet im rumänischen Sprachgebrauch weniger, dass man Atheist ist, sondern dass man den Glauben nicht konform der formalen Riten praktiziert. »Religiös sein« bezieht sich vor allem auf die Erfüllung der von der Glaubensgemeinschaft gesetzten Normen, was landläufig als Anzeichen für die Glaubensfestigkeit angesehen wird. Glaube und Kirche sind im allgemeinen Denken sehr stark verschränkt. Daher passt dieser Satz auch inhaltlich zu der Aussage, dass es ihr als Zivilistin in der Armee nicht möglich war, eine Kirche aufzusuchen. 18 Tatsächlich hat sie mir sofort das Du angeboten und meinte sinngemäß: »Ich duze dich, du duzt mich. So machen wir das, sonst wird das nichts.«
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aufnahmen, auf denen die Frauen noch jung sind. Es handelt sich um großformatige Aufnahmen, die in Photostudios gemacht wurden, mit Ausnahme eines Bildes ihrer, zum Zeitpunkt der Aufnahme noch unverheirateten Mutter, das diese gut gekleidet, mit teurem Schmuck und mit einer Freundin bei sich zu Hause in einer Art Salon zeigt. Sie bewahrt die Photos ebenfalls hinter der Tür in einer Mappe auf. Ich frage sie, ob sie diese noch aufhängen wolle, sie sagt aber, deren Zeit sei vorbei. Sie sehe sie sich aber gerne an und suche dann immer nach den Ähnlichkeiten der Frauen untereinander. Die Photos in der Mappe wirken wie Dokumente, durch die Frau Berger ihre Vergangenheit abrufen und erforschen kann, wenn sie sie durchblättert und auslegt. Sie erzählt mir von dem Leben mit ihrer Mutter und den Schwestern, zuerst in Tulcea, und dann, nach dem frühen Tod des Vaters, in Bukarest. Dabei beschreibt sie auch ausführlich die Wohnungen sowie deren Einrichtung und Möbelstücke, an denen man sehen könne, so sagt sie, dass die »orientalische Kultur« in der Dobrudscha sehr stark präsent war und wohl bis heute noch sei. Sie berichtet von den obligatorischen Divans und einem Möbel, einem sogenannten Wandtisch, das nur als Ablage für Blumenvasen und andere dekorative Dinge gedacht sei. Der Wandtisch, den ihre Mutter von deren Mutter geerbt habe, stünde nun bei ihr zu Hause als Esstisch. Sie betont in diesem Zusammenhang, dass es ihr immer gefallen habe, die Dinge nicht nur im Spiegel ihrer vorgegebenen Verwendungszwecke zu betrachten. Wir kommen auf zwischenmenschliche Beziehungen zu sprechen und sie erzählt, dass die Ehe mit ihrem Mann aus einer Freundschaft entstanden sei. Diese Verbindung habe viel bedeutet, als es darum ging, schlechte Zeiten durchzustehen. Wir reden lange über ihren Mann und die, wie sie sagt, außergewöhnliche Ehe, die sie hatten. Schließlich kommt die Sprache auf die Ehe allgemein, und sie stellt mir auch Fragen, will wissen, wie ich die Ehe erlebe. Im Laufe dieses Gesprächs bemerke ich, wie Frau Berger mit dem Daumen den unteren Teil ihres linken Ringfingers reibt (in Rumänien trägt man den Ehering links). Während ich spreche, steht sie schließlich wortlos auf, geht zu ihrem Nachtkästchen und nimmt etwas heraus. Sie setzt sich wieder zu mir, streift sich einen goldenen Ring über den Finger, reibt noch einige Male darüber und führt das Gespräch, das sich ja eigentlich um mich dreht und das nicht unterbrochen wurde, ohne ein Zeichen von Wehmut oder Melancholie weiter.
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Während des Gespräches thematisiert Frau Berger von sich aus einige konkrete Dinge, die in ihrem Wohnheimzimmer zu finden sind. Am Fußende des Bettes steht ein Nachtkästchen, auf dem eine Vielzahl von Medikamenten und Vitaminpräparaten in deren jeweiligen Schachteln aufgereiht sind. Auch Rezepte liegen dabei. In der Nähe des Einganges wiederum, auf einem dreibeinigen, halbovalen Konsolentisch, liegt eine Obstschale, Säfte und Tees. Frau Berger erzählt mir, als ich sie darauf anspreche, dass ihr Mann Arzt, genauer gesagt Internist, gewesen sei. Sie wisse daher, wie wichtig Vitamine seien, gerade jetzt im Winter, und mit Tees habe sie »schon immer viel gemacht«. Aber auch zu Medikamenten und deren Wirkung habe sie, wohl wegen ihres Mannes, einen »ganz anderen Bezug«. Sie sagt, das sei nicht einfach nur die »rosa oder die blaue Pille« für sie, sondern etwas, das Wirkstoffe enthält, und eben auch Nebenwirkungen verursacht. »Darin sind Stoffe, die – das muss man ganz klar sagen – uns beeinflussen.« Das Wohnheimzimmer ist offensichtlich noch in Gestaltung. Es hängen zwar schon Frau Bergers Leuchter aus der früheren Wohnung (im Flur reicht einer der Leuchter so tief, dass man die Türe zum Bad nicht richtig öffnen kann, doch Frau Berger besteht auf diesen Lampenschirm), an den Wänden sind aber außer den Ikonen noch keine Bilder zu sehen. Hinter der Tür, wo u.a. die Photos aufbewahrt werden, stapeln sich noch Kisten, zusammengerollte Teppiche und andere Dinge. Frau Berger erzählt mir, dass sie es kaum erwarten kann, ihr eigenes Bett in das Zimmer stellen zu dürfen. In diesem hier sei »wer weiß wer gelegen« und »wer weiß wer gestorben«. Die Matratze habe sie bereits ausgetauscht. Sie habe lange überlegt, welche Möbel sie in das Heimzimmer stellen wolle und sich schließlich für die aus dem Schlafzimmer entschieden. Zum einen, weil diese weiß seien, wodurch sie das Zimmer aufhellten und optisch vergrößerten und zum anderen, weil sie, wenn sie sich schon auf nur ein Zimmer beschränken müsse, wohl am leichtesten im Schlafzimmer ihre Zeit verbringen könne, mit Lesen zum Beispiel. Um die Möbel in den neuen Raum stellen zu können, hat Frau Berger den mittleren Teil des sechstürigen Schrankes durch Regalbretter ersetzen lassen. Darauf stehen nun der Fernseher sowie einige Photos und kleine Dekor-Gegenstände. Die Regale wirken noch leer und es ist leicht auszumachen, dass am Korpus einst Türen befestigt waren. Frau Berger äußert Bedenken, ob ihr Umgang mit den Schlafzimmermöbeln zu gewagt sei, schließlich sehe man ihnen ihren
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Zweck und Bestimmungsort nach wie vor an. Auch wenn sie sich wohlfühle, so zu wohnen, so wäre es vielleicht doch angebrachter gewesen, sich an einer Wohnzimmereinrichtung zu orientieren. Ja, sie wolle mehr Wohnzimmercharakter in den Raum bringen, sagt sie, und zwar über die noch aufzuhängenden, vornehmlich selbstgemalten Bilder. Dann überlegt sie weiter und sagt, dass das wiederum aber zur Folge haben könnte, dass das Zimmer überladen aussehe. Überhaupt hoffe sie, dass bald ein Eineinhalbzimmerappartement frei würde, denn sie wolle so viel wie möglich von ihren Sachen behalten. Sachen die, wie sie sagt, besondere und ausgesuchte Möbel seien, teure Teppiche und Erbstücke, um die sie sich zum Teil sehr bemüht habe. Sie verweist auf das nächste Treffen, bei dem sie mir ihre Wohnung und die »kleinen Schätze« zeigen wolle. Zweites Gespräch, Wohnheimzimmer und Wohnung (Januar 2010) Wie verabredet, finde ich mich eine Woche später wieder bei Frau Berger im Wohnheim ein. Seit sie im Dezember ins Heim gezogen ist, bringt sie, so erzählt sie, immer wieder Dinge, manchmal nur in ihrer Handtasche, aus der zwei Gehminuten entfernten Wohnung mit hierher. Sie geht mit mir auf den Balkon und weist auf das Hochhaus, das rechter Hand den Park hinter der Wohnanlage für Senioren begrenzt. Sie zeigt auf eine Fensterreihe im unteren Bereich und sagt, ihre Wohnung sei dort, wo man die vielen Pflanzen auf dem Fensterbrett zwischen den beiseite drapierten Vorhängen sehen kann. Heute wolle sie ein paar dieser Pflanzen holen, denn langsam würden sie »an Vernachlässigung« leiden. Und auch ein paar Bilder wolle sie abhängen und mitnehmen. Zunächst aber bietet sie mir einen Tee an und wir setzen uns auf die zwei Stühle am Fensterbrett. Das Portrait ihrer Mutter ist nun nicht mehr hinter der Tür zu finden, sondern lehnt, recht prominent, in einem der Regale in der umgebauten Schrankwand. In dem Wissen, dass ich mit ihr über ihre Dinge sprechen möchte, beginnt Frau Berger das Gespräch von sich aus mit dem Satz: »Dass ich meine eigenen Sachen dabei habe, heißt, dass ich mich nicht entfernt habe.« Sie erzählt, sie habe keine Nachkommen. Es gäbe, über ihren Vater, eine »griechische Seite« der Familie, das seien die einzigen noch lebenden Verwandten, zu ihnen habe sie aber keinen Kontakt. Sie zeigt mit einer ausladenden Geste auf die Dinge in ihrem Zimmer und sagt, sie wolle auf keinen Fall, dass ihre Sachen nach ihrem Tod an ihre Nichte väterlicherseits, die
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sie seit Jahrzehnten nicht mehr gesehen habe, gehen. Dazu sei sie zu sehr von einer Filmszene geprägt worden, die das in ihren Augen Typische der östlichen Mentalität wiedergebe: In »Alexis Sorbas« würde der Besitz einer im Sterben liegenden Frau vor ihren Augen aufgeteilt, sogar das Leintuch, auf dem sie liege, würde man unter ihr wegziehen. So schätze sie auch diese Frau ein. Überhaupt habe ihre Nichte ja gar keinen Bezug zu ihr und den Sachen, warum solle sie diese dann bekommen? Die bloße Verwandtschaft sei da kein Grund. Seit die letzte ihrer Schwestern gestorben sei, habe sie mit Rumänien gebrochen und in Deutschland lebe ohnehin niemand, der ihr nahestünde – daher gedenke sie nicht, ihre Dinge jemandem zu vererben. Vorerst einmal wolle sie verschenken, »was nötig sei«, den Rest möchte sie ins Altenheim mitnehmen, auch wenn bei Weitem nicht alles in ihr Zimmer passe. Sie habe die Idee, mit ihren Möbeln hier in einem der oberen Stockwerke einen Aufenthaltsraum einzurichten, wo die Senioren sich gemeinsam einfinden können wie in einem Casino: »Die eine spielt Karten, die andern Rommé [sic!]… Ich zum Beispiel male gerne. Warum sollten wir das nicht zusammen in einer schönen Atmosphäre machen, und nicht jeder für sich auf den unpersönlichen Tischen im Flur?« Ich frage nach der Position der Heimleiterin zu dieser Idee. »Warum soll die Heimleiterin etwas dagegen haben?«, fragt sie. Es sei doch auch in ihrem Interesse, dass alle sich wohlfühlten und ihre Sachen seien allesamt von ausnehmend guter Qualität, stilvoll und schön – kein »billiges Zeug, wie jedermann es im Wohnzimmer stehen hat«. Mit diesen Worten steht sie auf und meint, wir sollen nun in ihre Wohnung gehen, sie wolle mir die Sachen zeigen. Wir laufen zu dem benachbarten, zehnstöckigen Wohngebäude, in dem sich, im zweiten Stockwerk gelegen, die Eigentumswohnung von Frau Berger befindet. Unterwegs sprechen wir darüber, dass sich für sie, wenn sie aus dem Fenster schaue, nur die Perspektive, nicht die Aussicht geändert habe. Sie lächelt ein wenig amüsiert, ein wenig ironisch, und sagt, es sei immer noch derselbe Park mit den vielen Jugendlichen, die sich dort treffen, den sie von ihrem Balkon aus sehe. Nur habe sie zuvor auf das Altenheim geblickt und nun blicke sie auf ihre ehemalige Wohnung. Als wir die Wohnung betreten, stellt sich plötzlich ein Stimmungswechsel bei Frau Berger ein: Bereits an der Tür ist sie schon sehr nervös, kann diese kaum aufsperren, weil ihre Hände zittern. Sobald die Tür offen ist und wir in den Flur treten, sieht man an der Wand die drei abmontierten Türen des Schlafzimmerschrankes. Frau Berger hält einen Augenblick inne und
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betrachtet sich in einem der darauf angebrachten Spiegel. Sie murmelt Unverständliches vor sich hin und beginnt sofort im Flur herumliegende Dinge nach mir nicht ersichtlichen Kriterien an einen anderen Platz zu stellen. Sie seufzt, beklagt den Zustand der Wohnung, den Umstand des Umzugs und macht alles in allem einen recht aufgelösten Eindruck. Sowohl Frau Berger als auch ihre Wohnung wirken, als sei der bevorstehende, in gewisser Weise schon vollzogene Umzug, nicht Teil der Realität. Ich erachte es für wichtig, erst einmal eine Art Normalität hinsichtlich meiner Anwesenheit herzustellen, weil ich den Eindruck habe, dass ihre Hilflosigkeit bezüglich der sich nun voll vor ihr ausbreitenden Situation verstärkt wird, wenn eine eigentlich Fremde in voller Straßenkleidung in ihrem Flur steht. Ich ziehe also Mantel und Schuhe aus und frage, wo ich diese ablegen kann. In die Rolle der Gastgeberin gedrängt, sammelt sich Frau Berger wieder und führt mich sodann ins Wohnzimmer. Hier ist alles unberührt, man sieht keinerlei Hinweise darauf, dass die Wohnung bald aufgelöst werden soll. Die vielen Möbel und Einrichtungsgegenstände sind ganz offenbar aufeinander abgestimmt, es dominieren dunkle Holz- und Ledertöne, ein moosgrüner Teppich harmoniert mit einer gepolsterten Sitzgruppe im Biedermeier-Stil am Ende des Raumes unter dem großen Fenster. Auf der Fensterbank sind Zierpflanzen in gleich aussehenden Blumentöpfen aufgereiht, in den Zimmerecken stehen kleine Möbel mit Tischleuchten, Holz- und Porzellanfiguren und anderen Dekorgegenständen. Gleich im Eingangsbereich des Zimmers ist eine Sitzecke arrangiert: zwei Sessel und ein Zweisitzer im Chesterfield-Design gruppieren sich um einen roten Marmortisch. Dazwischen erstreckt sich eine fünfachsige Echtholz-Schrankwand mit eingebauter Vitrine und Eckregal. An der gegenüberliegenden Wand finden sich vier unterschiedliche Kommoden, alle aus dunklem Holz: Eine breite, mit fünf Relieftafeln auf den Türen wird von zwei turmförmigen, achteckigen Schubladenkommoden im asiatischen Stil gerahmt, rechts daneben steht eine weitere kleine Kommode mit floralen Intarsien auf den Türen und der Schublade. Die Platzierung der einzelnen Stücke ist durchdacht, überall sind symmetrisch auf Makrameedeckchen angeordnete Vasen und Schalen zu finden, oft mit fernöstlich anmutenden Ornamenten. An allen Wänden in diesem Raum hängen auf einer Linie, wie ein umlaufendes Band, insgesamt neun Gemälde, zwei Reliefs und ein mit chinesischen Motiven dekorierter Wasserspender mit Auffangbecken aus Porzellan.
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Die Bilder, sagt sie, seien alle von ihr, von ihren Schwestern oder von Bekannten gemalt und orientierten sich an »den großen Malern der frühen Moderne«. Unter zwei der Bilder hängen mittig ein kleiner Wandteller und ein gerahmtes Photo. Nur ein weiteres Photo ist in der hinteren rechten Ecke auf einem Tisch, fast schon hinter der Schrankwand versteckt, zu sehen. Das Raumbild wirkt inszeniert, die Gegenstände darin ausgestellt. Besonders die hohe, zum Betrachter schräg gekippte Hängung der Bilder, wie auch in vielen Galerien und Museen zu finden, vermittelt den Eindruck akribisch dekorativer, auf Präsentation abzielender, Gestaltung. Frau Berger bleibt schweigend hinter mir stehen und wartet, als wolle sie es mir ermöglichen, den Raum auf mich wirken zu lassen. Anhand der Gemälde und ausgestellten Wertsachen (z.B. einer vergoldeten rokokoesken Standuhr) werde ich dann durch das Zimmer geführt und erfahre viel über Frau Bergers künstlerische Vorlieben, darüber, welche Motive und Maler sie gerne als Vorlage für die eigenen Bilder nimmt, über ihre Vorstellungen von »schön«, »romantisch« oder »Kitsch«. Die Bilder bringen sie aber auch dazu, von ihrer Mutter und ihren Schwestern zu erzählen, die, wie sie sagt, »sehr talentiert« gewesen seien. Besonders eine von ihnen, von der Frau Berger mir zwei Ölbilder zeigt, habe eine besondere Begabung19 gehabt. Gelegentlich bleibt ihre Hand auf einem Gegenstand ruhen und sie stellt mir diesen und seine Bedeutung in ihrem Leben anhand einer kurzen Geschichte vor. Dabei geht es nicht um den Erwerb und auch nicht um eine Verweisfunktion, die das jeweilige Objekt einnimmt (z.B. x erinnert mich an y; wenn ich x sehe, muss ich an y denken), sondern sie erzählt mir Situationen in ihrem Leben, in denen die konkreten Dinge anwesend waren oder eine Rolle gespielt haben. So sagt sie über einen Klappstuhl: »Dieser Stuhl [ein stoffbespannter Klappschemel] ist schuld daran, dass ich mir die Hüfte gebrochen habe. Ich habe mich darauf aufgestützt und er hat sich zusammengefaltet.« Oder: »Diese Uhr hat eine ganz besondere Geschichte. Als es mir kürzlich schlecht ging, muss ich mich daran festgehalten haben, bevor ich umgefallen bin. Die Uhr ist auch auf den Boden gefallen und stehengeblieben. So wussten sie dann, wann es passiert ist. Deswegen wollte die Heimleiterin unbedingt, dass ich noch vor Weihnachten das Zimmer nehme. Weil ich stundenlang bewusstlos hier gelegen habe.«
19 Rumänisch: A avut o mânǎ bunǎ. Wörtlich: Sie hat eine gute Hand gehabt.
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An der Schrankwand endet die Führung durch das stark an Traditionen des rumänischen bürgerlichen Interieur orientierte Zimmer: Repräsentative Nachschlagewerke und Bildbände, filigrane und glänzende Porzellanfiguren und Bonbonnieren sowie Vasen aus geschliffenem roten Kristallglas bestimmen als sichtbare Objekte, arrangiert auf Makrameedeckchen in und auf den Möbeln, den Charakter des Raumes. Aber auch als Produkte rumänischen Kunsthandwerks erkennbare Glas- und Steingutobjekte mit modernem Design, wie sie erst in den letzten Jahren dort erworben werden können, sowie eine große Gruppe fernöstlich anmutender Dekorationsgegenstände wie Kissen, Teller, Schalen und Vasen sind zu sehen. Alle diese Objekte sind für mich als Gegenstände, die in Rumänien erworben wurden, erkennbar. Ich spreche Frau Berger darauf an und sie erzählt mir, dass sie über die Jahre hinweg immer wieder und immer mehr solcher Dinge dort gekauft habe. Die neueren Arbeiten, besonders Gläser und Glasvasen, hätten ihr ausnehmend gut gefallen. Es sei gut, sagt sie, dass dieses traditionelle Kunstgewerbe wieder Fuß gefasst habe und dass auch neuere Formen und Materialien geschaffen und verarbeitet werden. Sie wolle es immer »besonders« haben: »Ich mag es nicht, zu Besuch bei Ionescu zu sein, und denken zu müssen, ich sei bei Georgescu.20 Wenn alles gleich ist, dann fehlt die Phantasie. Ich wollte immer, dass es bei mir anders aussieht, da habe ich alles dafür getan.« Schon in Rumänien sei sie sehr damit befasst gewesen, wie ihre Wohnung und ihre Kleidung aussahen und wie es um deren Qualität beschaffen war. Auch ihr Mann habe sich gerne gut gekleidet und Freude an den schönen und besonderen Dingen in der Wohnung gehabt. Für eine Ehe, sagt sie, würde der Geschmack eine wichtige Rolle spielen: dass man dieselben Vorlieben beim Essen, bei der Kleidung oder bei der Einrichtung habe, sei sehr hilfreich für ihr Funktionieren und für ein gutes Verhältnis zwischen den Ehepartnern. Wenn das gegeben sei, dann wisse man auch, dass man vermutlich in anderen Hin-
20 Die Pointe dieser Aussage funktioniert über die beiden ähnlich klingenden, in Rumänien sehr häufig anzutreffenden Namen. Außerdem spiegelt sich darin die Tatsache wider, dass sich im kommunistischen Rumänien fast alle Wohnungen und deren Einrichtung, in einer relativ weit zu fassenden Gegend und Schicht, sehr ähnlich waren.
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sichten ebenfalls zusammenpasst. 21 Seit sie in Deutschland lebe, sei sie immer auf der Jagd nach Besonderheiten »von Zuhause« gewesen und mit der Zeit sei es ihr sogar gelungen, einige größere Einrichtungsgegenstände mitzunehmen, wie den Tisch, von dem sie mir schon erzählt hatte. Sie zeigt auf die Essecke, die in der Verlängerung des Wohnzimmers entlang der Fensterfront in dem nicht abgetrennten »halben Zimmer« eingerichtet ist. Gegenüber des Fensters teilt ein Vorhang die rechts dahinter liegende, schmale Einbauküche ab, die auch vom Flur aus einen regulären Zugang hat. Diese ist gerade mit Malerplanen bedeckt, weil hier aufgrund eines Wasserschadens die Decke neu gestrichen werden muss. Hinter der Ecke der Wand, die Wohnzimmer und Küche trennt, ist ein weißer Einbauschrank versteckt. In einer offenen Aussparung darin entdecke ich, um zwei chinesisch dekorierte Vasen herum arrangiert, mehrere ungerahmte (Urlaubs-)Photos von Frau Bergers Mann. Außerdem sind dort Unterlagen und praktische Gegenstände wie Kleber und ein Locher deponiert, sowie ein kleines Tablett mit einer Glücksfigur, wie sie zu Neujahr verschenkt wird. Dieses kleine, kaum einsehbare Regal, steht im deutlichen Gegensatz zu der sonst ganz und gar durchdachten Platzierung der Gegenstände im Wohnzimmer. Der Tisch, einen Wangentisch der italienischen Renaissance imitierend, ist laut Frau Berger, sicher schon um die hundert Jahre alt. Um ihn stehen sechs schwere, dunkle Stühle, deren Lehnen skulptiert und deren Sitzflächen mit hellrotem Samtstoff gepolstert sind. Darunter liegt ein tiefroter Teppich mit feingliedrigen ovalen Mustern in beige und dunkelgrün. Frau Berger sagt mir, dies sei ein ganz besonderer Teppich, den sie von einer Reise in die Türkei mitgebracht habe: ein Buchara-Teppich. Mir fällt auf, dass Frau Berger die Typen und Modellbezeichnungen ihrer Möbel und anderen Einrichtungsgegenstände kennt und dass sie nicht nur den Gemälden, die an ihren Wänden hängen, sondern auch den Porzellanfiguren in der Vitrine Namen zuordnet. Für alles, was sie besitzt, kann sie einen Grund nennen, der zumeist mit dem Prestige der Objekte zusammenhängt. Sie spricht immer wieder die Qualität ihrer Sachen an und dass ihr Suchen und ihr Zusammengetragen eine langwierige Angelegenheit gewesen sei. Zuweilen erzählt sie, in welchem Zusammenhang sie die Dinge erworben hat und
21 Diese Aussage beeindruckt durch die Bestätigung der Bourdieuschen Theorie basierend auf die Reflexion der eigenen Lebenserfahrung und Überzeugung.
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welche Rolle diese danach in ihrem Leben gespielt haben, wie beispielsweise die erwähnte Uhr. Wir halten uns etwa eine dreiviertel Stunde im Wohnzimmer auf, setzen uns nicht, sondern betrachten die Gegenstände, die zu sehen sind. Ab und an öffnet Frau Berger auch die Türen der Möbel, dahinter finden sich Tischwäsche, Tafelservices, Kristallgläser und andere Gebrauchsgegenstände in repräsentativer Ausführung. Sie benennt bei dieser ›Führung‹ genau, welche Dinge sie mitnehmen wolle, welche sie wem versprochen habe oder schenken werde, welche Möbel für welchen Platz im Altenheim (inklusive des geplanten Aufenthaltszimmers) gedacht seien und welche (wenigen) Objekte noch keine Bestimmung hätten. Wegschmeißen oder aussortieren scheint für keines der Dinge eine Option zu sein. Auf meine Frage, wann der tatsächliche Umzug geplant ist, antwortet sie: »Na ja, ich mache jeden Tag etwas.« Ich deute an, dass die Möbel, ihr Inhalt und die Teppiche doch einen größeren logistischen Aufwand erfordern als die zwei Blumentöpfe, die sie neben ihre Handtasche gestellt hat. »Auch darum werde ich mich bald kümmern, es ist alles schon arrangiert«, sagt sie in einem festen und sachlichen Ton. Bevor wir den Raum verlassen, zeigt Frau Berger auf die grün gepolsterte Sitzgruppe unter dem Fenster. Darauf sind zwei Puppen nebeneinander gesetzt, die sie mir als »Hannerle und Pen« vorstellt. Sie sagt, dadurch, dass die Ehe mit ihrem Mann kinderlos gewesen sei, habe sie zum Spaß die beiden Puppen gelegentlich als solche angesprochen. Sie wisse selber nicht so recht, wie es zu dem ungleichen Paar gekommen sei und warum ihnen die jeweiligen Namen zugedacht wurden. Frau Berger erzählt mir, dass die beiden Puppen in das Gespräch eingebunden wurden, indem man sie nach ihrer Meinung fragte. Ihr Mann beispielsweise sprach gelegentlich in ihrem Beisein zu den Puppen, wenn er heimkam, und erzählte den beiden imaginären Kindern (und dadurch indirekt ihr) von seinem Tag. Das sei so eine Art Spiel zwischen den Eheleuten gewesen. »Dorel hatte einen wunderbaren Humor, er hatte viel Phantasie und war ein sanfter Mensch«, sagt Frau Berger und wendet sich zum Gehen. Als ich anbringe, dass ich gerne auch die anderen Zimmer sehen möchte, wirkt Frau Berger überrascht und ein wenig nervös. Selbstverständlich könne ich hineingehen, aber sie wisse nicht, was es in dem Durcheinander zu sehen gebe. Das Schlafzimmer sei ja schon fast leer und im dritten Zimmer habe sie schon mit »dem Ausmisten« angefangen. Ich frage sie,
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wie dieses Zimmer denn genutzt worden sei. Sie sagt, ihr Mann habe dort eine Art Heimbüro gehabt und sie habe es in den letzten Jahren als Lesezimmer genutzt. Da seien Unterlagen und Bücher aufbewahrt worden. Das schmale Zimmer wirkt sehr gemütlich. An der rechten Wand steht längs ein zum Divan umfunktioniertes Bett, bezogen mit einer hellen, geblümten Tagesdecke, gerahmt von zwei dunklen, vollen Bücherregalen mit Glastüren, darüber ein Bücherbord mit zwei Brettern. Gleich neben der Tür findet sich ein niedriger Abstelltisch mit geschwungenen Beinen. An der schmalen Seite des Raumes, unter dem Fenster, befindet sich ein runder Tisch, über den eine Tischdecke mit Erdbeermotiv gelegt wurde. Da kein Stuhl zu sehen ist, schließe ich, dass auch dieser Tisch als Ablagefläche dient. In den schmalen Spalt zwischen dem hinteren Bücherregal und der Balkontür ist ein Bügelbrett geschoben, auf der anderen Seite der Balkontür sieht man eine Blumensäule mit einer Pflanze, auf dem Fensterbrett daneben sind mehrere Topfblumen platziert. An die rechte Wand des Zimmers, das mit einem roten Teppich in orientalischem Design ausgelegt ist, sind keine Möbel gestellt; man sieht aber an den drei Nägeln, dass daran wohl Bilder oder ähnliche Gegenstände zur Wandverzierung gehangen haben müssen. Abgesehen von dem im fernöstlichen Stil bemalten Wandteller unter dem Bücherbord und den Dekorgegenständen (Buchstützen, eine kleinen Bronzefigur und einem Ibrik ‒ ein Kupferbehältnis, in dem Mokka zubereitet wird ‒ darin, nicht zusammenpassend, eine Feder) ist die Einrichtung des Raumes, wenn auch sehr adrett, als zweckmäßig zu bezeichnen. Die Wände sind, wie in allen anderen Räumen (inkl. Flur und Bad) in einem warmen Pastellton getüncht, die Decke ist weiß belassen. Auf dem Bett, auf dem kleinen Beistelltisch und auf dem Boden daneben liegen hauptsächlich Unterlagen, Medikamente und Romane, jeweils einem der drei Orte zugeordnet. Auf der Liegefläche des Bettes sind lose Blätter, Ordner und kleine Schachteln abgestellt. Dazwischen sind Gegenstände zu sehen, die offenbar momentan keine Funktion haben, aber möglicherweise noch gebraucht werden können: eine Papiertüte, eine Halsstabilisationskrause, leere Schnellhefter und Kartons, einige Sachbücher. Die Romane auf dem Boden sind nur zum Teil gestapelt, die meisten Bücher sind eher übereinandergeworfen. Frau Berger sagt, die hätte sie alle schon gelesen, ich solle mir welche aussuchen. Da ich ablehne, nimmt Frau Berger Buch für Buch in die Hand und erzählt mir von der Handlung, dem Autor, beschreibt Schreibstil und Genre. Mein Eindruck, Frau Berger würde
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ihre Dinge nur sortieren, nichts aussortieren, verstärkt sich. Sie möchte alles, wenn schon nicht mehr in ihrem Besitz, so an einem von ihr dafür vorgesehenen Ort wissen. Die Dinge auf dem Bett, unter denen auch solche sind, von denen man sich (nicht nur im Rahmen eines Umzugs) durchaus trennen könnte, verstören sie offensichtlich. Sie macht den Eindruck, überfordert zu sein, als sie auf die vergleichsweise übersichtliche Ansammlung mit den Worten »das ist das reinste Chaos« zeigt. Während das Wohnzimmer unberührt wirkt und im Lesezimmer eine beginnende Bewegung der Dinge auszumachen ist, wirkt das Schlafzimmer leer und leblos. Der Schrank, der wohl den meisten Platz eingenommen hat, befindet sich bereits in Frau Bergers Altenheimzimmer, ebenso der Teppich und alle Kleinmöbel. Nur ein schmales Bett mit Kopfteil steht auf dem Parkettboden, darüber hängt an einer Stange ein Wandteppich, der drei Pferde an einer Tränke in einer mediterranen Landschaft zeigt. Bett und Kopfteil sind mit demselben Stoff bezogen, aus dem die Tagesdecke im Lesezimmer ist. Frau Berger erklärt mir, dass sie das zweite Bett, in dem ihr Mann geschlafen hatte, einige Jahre nach seinem Tod in den anderen Raum gestellt habe, weil sie gerne im Liegen lese und dort schließlich ihre Bücher stünden. So habe sie auch mehr Platz im Schlafzimmer gehabt und die beiden Stühle und den Konsolentisch, die bereits »drüben« seien, dazugestellt. »Es ist schon praktisch, so etwas im Schlafzimmer zu haben, dann wirkt es gastlicher, nicht einfach nur wie ein Abstellraum für Kleider und schlafende Menschen.« Sie lacht. »Das war das erste Zimmer, das umgezogen ist, ich schlafe ja schon seit mehr als einem Monat drüben.« Auf dem Bett, dessen Matratzenbezug den Farbton der Wände aufnimmt, liegt eine zusammengefaltete, nicht bezogene Decke, darauf mehrere Hüte und ein Aquarell, das eine Straßenszene einer mediterran-französisch wirkenden Stadt, zeitlich etwa in den Sechzigern einzuordnen, zeigt. Dazwischen befinden sich, typologisch nicht sortiert, Gebrauchsgegenstände, die üblicherweise in den Schubladen und Schränken eines Schlafzimmers (namentlich dem einer älteren Dame) zu finden sind: Kleiderbügel, Geschenkschleifen, Duftsäckchen, eingepackte Feinstrumpfhosen und dergleichen. Auch auf diesem Bett scheint sich die Problematik des Aussortierens widerzuspiegeln. »Das selbe Chaos wie auf dem anderen«, sagt Frau Berger mit Blick auf die Liegefläche. »Schau mal, ob du was davon brauchst.« Es ist offensichtlich, dass Frau Berger nicht weiß, was sie mit den Gegenständen anfangen soll. Sie ist sich bewusst, dass sie diese entweder nicht braucht oder im Wohn-
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heimzimmer kein Platz mehr dafür zu finden ist. Die Sachen würden landläufig weder als schön noch als wertvoll oder als nützlich genug betrachtet werden, so dass Frau Berger sie kaum verschenken kann. Doch sie sind allesamt noch brauchbar. Für mich erhärtet sich der Verdacht, dass für Frau Berger die Option Dinge wegzuwerfen nicht impliziert ist, wenn sie davon spricht, dass sie sich noch darum »kümmern« muss. Frau Berger fühlt sich zunehmend unwohl in dem trostlos wirkenden Zimmer, in dem der Eindruck des Leerseins aufgrund der Abdrücke, welche die Möbel über die Jahre an den Wänden hinterlassen haben, verstärkt wird. Sie tritt nervös von einem Fuß auf den anderen und bewegt sich Richtung Tür. Dann reicht sie mir meinen Mantel und eine Topfpflanze mit der Bitte, sie mit hinüber zu tragen. Unterwegs stellt sie mir Fragen über meine Familie und meine Geburtsstadt, was ich als Signal interpretiere, nicht weiter über Wohnung, Umzug und ihre Dinge zu sprechen. Sie hat offenbar entschieden, dass es für den Augenblick mit diesem Thema genug sei, denn im Altenheim angekommen verabschiedet sie mich rasch mit dem Verweis auf das bald anstehende Abendessen. Ich weiß aber, dass sie im Allgemeinen keinen Wert darauf legt, zu den Mahlzeiten pünktlich zu kommen; das nach ihren Lebensgewohnheiten viel zu früh gereichte Abendessen sagt ihr im besonderen Maße nicht zu. Drittes Gespräch, Umzugsbegleitung, Wohnung (Juni 2010) Seit Frau Bergers Einzug in das Altenheim ist ein halbes Jahr vergangen. Zwar ist ihr Zimmer hier schon lange eingerichtet, aber ihre Wohnung ist nach wie vor nicht ausgeräumt, geschweige denn vermietet. Nicht nur, dass viele der Möbel sich noch dort befinden, vielmehr ist die Ordnung von Frau Bergers Dinge, die weiterhin darin und darauf lagern, vielerorts weiterhin ungestört. Die Leiterin der Einrichtung macht nun regelmäßige Termine mit Frau Berger aus, um für einige Stunden gemeinsam die Sachen in der Wohnung zu sortieren. Ich vereinbare mit den beiden, beim nächsten dieser Treffen dabei zu sein. Als es soweit ist, wirkt Frau Berger unkonzentriert, nervös, überspannt und man gewinnt den Eindruck, sie sei geradezu verängstigt. In der Wohnung angekommen, geht sie in das Bücher- und Lesezimmer. Dort stehen bereits mehrere halbvolle Kartons bereit, Tisch und Bett werden als Sortierund Ablagefläche genutzt. Neben einigen Büchern und Bildern liegen dort viele Ordner und lose Blätter: Dokumente, Akten, Notizen. Alle Möbel ste-
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hen noch an ihrem Platz, sogar die Tischdecke und der Überwurf auf dem Bett sind noch ausgebreitet. Die Büchervitrine an der linken Seite ist bereits leer, während die neben der Fensterfront noch unangetastet aussieht. Von der Heimleiterin weiß ich, dass das Ausräumen nur in sehr kurzen Zeitetappen möglich ist. Das liegt an Frau Bergers labiler Gemütslage. Aufgrund der starken Belastung, als die sie das Ausräumen, besonders des kleinen Zimmers, empfindet, ist ihr eine längere Auseinandersetzung mit der Materie unmöglich. Es steht somit für ein solches Treffen maximal eine Stunde zur Verfügung, in welcher der Umzug vorangetrieben werden kann. Ich versuche, diese konzentrierte Phase nicht zu stören, und sehe mich in der Wohnung um, während die Heimleiterin und Frau Berger die Papiere durchgehen. Frau Berger hat darum gebeten, dass ich »danach noch ein wenig bleibe«, um mit ihr »in Ruhe ein paar Dinge durchzusehen«, von denen sie »nicht alleine entscheiden [kann], was damit passieren soll.« Das Wohnzimmer ist nun in einem deutlich anderen Zustand als im Frühjahr. Die Chesterfieldsessel und die Couch, die grüne Sitzgruppe und die dazugehörigen Tischchen sind verschwunden, der Teppich ist zusammengerollt worden und liegt unter dem Fenster, die Kleinmöbel mit den dekorativ symmetrisch angeordneten Vasen, Figuren und Makrameedeckchen sind nicht mehr zu sehen, die Bilder und die Vorhänge wurden entfernt. Lediglich in der Schrankwand stehen noch, in den unteren offenen Fächern, einige Bücher und Porzellangegenstände. Auch die ausladenden Deckenleuchter im Wohn- und Essbereich sind noch an ihrem Platz. In der Ecke gleich links neben der Tür, wo zuvor die Ledersessel und die Ledercouch arrangiert waren, sind Blumen, Blumensäulen, große Vasen, kleine Beistelltische, einige Bilder, Kissen und Bücher zusammengetragen worden. Die ehemals zwischen Zweisitzer und Zimmerecke eingepasste dreieckige Wandkonsole aus dunklem Holz, die als dekorative Abstellfläche und Sichtschutz diente, wirkt wie ein beinahe ruinenhaftes Überbleibsel, dessen Charme nun der neuen, schmucklosen Anbringung preisgegeben ist. Von ihrer Eleganz und der zurückhaltenden Perfektion im vorherigen Ensemble ist nichts geblieben. Die dort verbrachten Dinge sind alle für das Altenheim vorgesehen, allerdings nicht für Frau Bergers Zimmer, ebenso die meisten Möbel aus dem Wohnzimmer; diese wurden bereits abgeholt. Die ›Casino-Lösung‹ ist allerdings nicht zustande gekommen, sie war seitens der Heimleitung auch nie ernsthaft in Erwägung gezogen worden.
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Aus Frau Bergers ehemaliger Essecke sind die rot bezogenen Stühle verschwunden, der Wangentisch und der Teppich stehen noch da. Darauf sowie in der Küche sind mehrere Services gestapelt. Andere, nicht dazugehörige Tassen, Teller und Schüsseln verschiedener Größe liegen dazwischen. Alle Objekte sehen mehr nach Sonntags- als nach Gebrauchsgeschirr aus. Die Schränke sind leer, und ich weiß, dass Frau Berger nur »die guten Stücke« mitgenommen hat; somit sind diese wohl jene, die als »weniger guten« von ihr eingestuft werden, also solche, die verschenkt werden sollen, wie Frau Berger zuvor kurz angedeutet hat. An Dritte verteilt werden auch alle Dinge, die ins Schlafzimmer gebracht wurden. Dort finden sich vor allem Bücher (zwei Stapel), ein zusammengerollter Teppich und ein Klappstuhl. Auf dem nun abgezogenen Einzelbett ist ein niedriger Stapel aus kleinformatigen Bildern und Holzkästchen. Frau Berger ruft mich nach einiger Zeit in das kleine Zimmer, in dem sie und die Heimleiterin zugange sind. Ich soll etwas übersetzten, ein Dokument, damit sie gemeinsam entscheiden können, ob es aufgehoben werden muss. Frau Berger sieht sehr blass aus, ihre Hände, die sie sonst gut koordinieren kann, zittern stark, ihre Stimme ist brüchig. Ich bleibe, nachdem ich den Sinn des in Rumänisch verfassten Schriftstücks in deutscher Sprache wiedergegeben habe, im Raum und beobachte das Auswahlverfahren: Frau Berger bestimmt, was aussortiert wird, zumeist nimmt sie mehrere Papiere auf einmal und legt sie in die Wegwerfkiste oder sagt zur Heimleiterin, sie solle es tun. Dies macht sie allerdings weder konsequent noch strukturiert, sondern mit großen zeitlichen Intervallen dazwischen, in denen sie innehält, als müsse sie sich orientieren. Immer wieder muss sie sich dazu durchringen, weiterzumachen, immer wieder muss die Heimleiterin sie zurückholen aus ihrer Gedankenversunkenheit und sie zu einer Entscheidung animieren. Als der Karton voll ist, bittet Frau Berger mich, einen Müllsack bereitzustellen; darin werden die noch auf dem Bett verbliebenen Unterlagen gelegt. Diese als wichtig angesehenen Dokumente hat die Heimleiterin beiseitegelegt. Objekte, die bleiben sollen, werden auf den großen runden Tisch abgestellt. Nach den offiziellen Papieren sind die Bücher und Bilder an der Reihe. Über die meisten Dinge, die Frau Berger in die Hand nimmt, sagt sie etwas. Es sind keine Objektgeschichten, sondern kurze assoziative Äußerungen, schlaglichtartige Erinnerungen oder Eigenschaftszuweisungen wie »schön«, »wertvoll« oder »alt«. Sie befühlt die Dinge noch mal von allen Seiten, bevor sie diese zuordnet.
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Nachdem die Dinge, die auf dem Bett lagen, soweit zugeordnet sind, wendet Frau Berger sich den Schubladen der rechts davon stehenden Büchervitrine zu. Hier, im schmalen Zwischenraum von Kanapee und Fensterwand, werden vor allem persönliche und private Schriftstücke aufbewahrt. Viele davon zerreißt sie, zum Teil bündelweise, bevor sie sie in den von mir gehaltenen Müllsack wirft. Ihre Verfassung scheint mir immer bedenklicher und bei der untersten Schublade angekommen, beginnt sie, zu weinen: »Die Sachen von meinem Mann – seine Handschrift«, sagt sie. Sie setzt sich auf das Kanapee daneben und zerreißt jedes einzelne Dokument, nachdem sie es zuvor kurz in den zitternden Händen gehalten hat. Dann drückt sie mir die Papierfetzen in die Hand, damit ich sie wegwerfe. Die Schublade ist halb leer und Frau Berger hat wieder die Fassung gefunden, als die Heimleiterin, die das Zimmer verlassen hat, um die alte Dame nicht unter Druck zu setzen, sich schließlich verabschiedet. Ich bleibe mit Frau Berger in ihrer Wohnung und sehe zu, wie sie leise weinend Erinnerungsstücke an ihren Mann aus dem hölzernen Kasten herausnimmt, ansieht und größtenteils vernichtet. Auch seine Zahnprothese hatte sie aufbewahrt und dies offenbar vergessen. Ein wenig überrascht von diesem Fund, weiterhin schluchzend, wirft sie die Aufbewahrungsschachtel samt Inhalt in den großen blauen Sack. Die Skurrilität dieses Objekts scheint sie aber ein wenig abgelenkt zu haben. Sie fragt mich, halb amüsiert, halb besorgt, ob ich sie nun für verrückt halte, was ich verneine. Wieder zur Kommunikation mit mir fähig, erzählt sie mir von ihrem Mann und dass sie, weil er schon lange tot sei, nur noch wenige seiner persönlichen Dinge und auch nicht viele Erinnerungsstücke behalten habe. Auch sei sie schon lange nicht mehr mit den Sachen aus dieser Schublade konfrontiert gewesen und habe daher nicht genau gewusst, was auf sie zukomme. Sie zeigt mir einen drehbaren Plastikkalender, bei dem Wochentag, Datum und Monat in einem roten Rahmen angezeigt und durch Drehen der vier Einzelringe umgeblättert werden. Sie sagt mir, der Kalender zeige den Todestag ihres Ehemannes und legt ihn zu den wenigen Dingen auf den runden Tisch. Daneben sind noch einige Medikamente, ein Paar neue Socken, eine Lederbörse, zwei figürliche Buchstützen aus Holz, eine kleine Bronzefigur, einem Bogenschützen nachempfunden, sowie eine Tischleuchte mit Steinsockel und Schirm. Dann wendet sie sich dem blauen Müllsack zu mit den Worten »Warte mal – gib die Prothese noch mal her.« Ihr Sinneswandel überrascht mich. Ich halte ihr den Sack auf, so dass sie danach suchen kann.
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Als sie das Objekt wieder aus dem Müll nimmt, genau begutachtet und nach allen Seiten dreht, sieht es so aus, als ob sie die Prothese doch aufheben wolle. Schließlich sagt sie: »Nein, nein«, und wirft das Stück einfach wieder in den Beutel. Ein wenig verstört von ihrem Verhalten frage ich, was los sei. Darauf erwidert sie kühl: »Ich wollte sehen, ob da Goldzähne drin sind, die hätte man herausbrechen können. Aber da war nichts dran.« In meinem Beisein räumt Frau Berger die Schublade zu Ende aus. Sie scheint wieder ein wenig Mut gefasst zu haben. Sie hat aufgehört zu weinen, spricht weiterhin über die Papiere, wirkt dabei kühl und rational, fast übertrieben sachlich. Dann beginnt sie, von ihrem Mann zu sprechen und erzählt mir einige vertrauliche Geschichten. Mir wird klar, dass sie mich auch deswegen zu bleiben gebeten hat, weil sie sich gerne im Zuge der Aussortierung der Sachen das ein oder andere Erlebnis noch mal ins Gedächtnis rufen und darüber sprechen wollte. Wie sie sagt, sei die Heimleiterin aber nicht die richtige Person dafür gewesen, diese würde sie, in doppelter Hinsicht, nicht verstehen. »Und es ist auch nicht gut, dass fremde Leute, wenn man von denen abhängig ist, alles über einen wissen«, sagt sie entschlossen. »Wer weiß, was die dann von einem denken, was für Schlüsse sie ziehen – falsche Schlüsse, will ich sagen.« Im Lauf des Tages werden immer mehr Bücher ins Schlafzimmer gebracht und die vielen Stapel türmen sich nun dort.22 Als wir schließlich die letzten Bücher hinüberbringen, fragt mich Frau Berger, was sie mit ihnen machen soll. Sie habe sie alle gelesen, habe sie gesammelt. Es liegen viele großformatige Bildbände unter den Büchern: Künstlermonographien, Bände die ganze Kunstepochen behandeln oder bestimmte museale Sammlungen. Als ich darauf zu sprechen komme, erzählt sie, dass sie ihr ganzes Leben eine Passion für Kunst gehabt habe. Sie habe alle wichtigen Künstler, vor allem die Impressionisten und die Expressionisten, sowie ihre Werke gekannt. Und sie habe viele Museen besucht und deren Kataloge immer mitgenommen. Sie beschreibt bestimmte Gemälde und Galerien und spricht über die einzelnen Phasen der Avantgarde um die Jahrhundertwende. Sie klatscht erfreut in die Hände, als sie erfährt, dass ich Kunstgeschichte studiert habe und sagt, dass sich das ja wunderbar treffe. Ich solle mir alle Kunst-Bücher mitnehmen. Als ich abwinke, fragt sie mich, was sie denn
22 Die Auswertung der Photos ergibt insgesamt zwölf Stapel, davon haben sieben mindestens Hüfthöhe erreicht, die anderen circa Kniehöhe.
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sonst damit tun solle? »Soll ich sie denn wegschmeißen? Immer alles wegschmeißen! Schmeißen! Schmeißen!«,23 sagt sie wütend und sinkt kraftlos auf das Bett. Ich nehme ein paar Bücher, setze mich zu ihr und frage, ob sie denn wirklich nichts davon mitnehmen wolle. Wir sehen sie uns an. Nach fast einer Stunde hat sie einige Bücher ausgewählt: In manchen sind Gemälde abgebildet, die sie nachgemalt hat, andere zeigen ihre Lieblingskünstler. Ich muss versprechen, den Rest der Kunst-Bücher mitzunehmen. Die Romane werde sie wohl entsorgen müssen. Ich frage, ob ich einen Müllsack bringen soll, dann könne ich ihr helfen, sie hinunterzubringen. »Nein, nicht heute«, sagt sie. Vielleicht käme noch eine Freundin, die ein paar mitnehmen wolle. »Willst du nichts für deine Mutter einpacken?« Ich frage nach dem Verbleib der Möbel, als wir hinüber in das Wohnzimmer gehen, um ein paar Sachen in das Altenheim mitzunehmen. Sie wisse es nicht, sagt sie seufzend. Die Heimleiterin wolle ja nichts haben. Sie zeigt auf den großen zusammengerollten Teppich und beschreibt, wie schön er sei und von welch guter Qualität. »Sie will ihn nicht. Ich habe Sie gefragt, ›Warum sollen Sie es nicht schön haben?‹, aber sie will ihn nicht. Sie will den Teppich nicht, sie will den Kronleuchter nicht… alles wegschmeißen.« Frau Bergers Tonfall schwankt zwischen Wut und Verzweiflung, ihre Sätze sind kurz, wirken beklemmt und hilflos. »Wo ist da der Respekt den alten Menschen gegenüber? Das kann man nicht von ihnen verlangen! Es ist immerhin ihr Leben – man kann das nicht einfach so wegschmeißen.«24 Sie sagt, die Schrankwand, die aus massivem Holz und sehr geschmackvoll sei – eine hochwertige Arbeit, wie sie versichert – habe die Heimleiterin auch nicht gewollt. Ich werfe ein, dass sie bereits Möbel und Dinge mitgenommen habe und dass sich für die wuchtige Schrankwand gewiss kein Platz findet im Heim. Frau Berger winkt ab: »Hast du irgend-
23 Die kursiv gedruckten Wörter wurden in deutscher Sprache in die sonst rumänisch geführte Unterhaltung eingefügt. 24 Der letzte zitierte Satz lautet im Original: »Nu poţi să wegschmeißen chiar aşa!« und müsste wörtlich wie folgt übersetzt werden: »Du kannst nicht in einem gar solchen Ausmaß wegschmeißen«. Die Satzkonstruktion zeigt im Rumänischen etwas Normatives an, der Ausdruck »chiar aşa« etwas Unglaubliches, Unglaubwürdiges, und ist gleichermaßen mit Machtlosigkeit als auch dem Impuls, etwas Unerhörtes zu unterbinden, konnotiert.
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wo welche davon [den bereits mitgenommene Objekten] gesehen? Und eines sag ich dir: wenn sie gewollt hätte, hätte sie [einen Platz] gefunden.« Sie habe das Möbel dem Hausmeister geschenkt, bezweifle aber, dass es bei ihm in guten Händen sei. Er sei kein Mann, der den Wert des Möbels zu schätzen wisse. »Wer weiß, was er mit der Schrankwand macht«, sagt sie. Das Geschirr, das im Esszimmer und der Küche, nach Servicezugehörigkeit sortiert, aufgereiht liegt, ginge an eine Freundin und eine Nachbarin. Diese würden die Sachen zum einen gut gebrauchen können und zum anderen auch deren Außergewöhnlichkeit sehen. »So etwas hat nicht jeder«, sagt sie und dass sie immer darauf geachtet habe, besondere Dinge zu besitzen. Ich erinnere mich, dass sie etwas Ähnliches bei unserem ersten Zusammentreffen unterstrichen hatte, und kann bestätigen, dass Frau Bergers (Gebrauchs-)Gegenstände dem entsprechen, was in der älteren Generation der etwas gehobenen Schicht in Rumänien als ›klassisch-schön‹ angesehen wird, dass sie aber gleichzeitig eine auffallend offene Haltung moderneren Designs entgegenbringt, was ihrem Inventar eine leicht eklektische Note gibt. Für einen Außenstehenden ist die Divergenz möglicherweise kaum merkbar, aber für mich als ,kulturelle Insiderin‹ zeigt sie sich beispielsweise in den vielen Glasobjekten der neueren rumänischen Kunsthandwerkschule, aber auch im Mut, bewusst Objekte sichtbar in der Wohnung aufzustellen, die in oben genannten Kreisen als Kitsch gelten würden. Frau Berger sagt, sie habe schon einiges mitgenommen an Gläsern, Tellern und Tassen und müsse sich nun überlegen, wie und wo sie diese unterbringen könne. Aber es sei dennoch viel übrig geblieben. Sie habe auch das der Heimleiterin angeboten, aber sie habe es ebenfalls nicht haben wollen. »Ich verstehe sie nicht. Wenn jemand zu ihr kommt und sie bietet ihm ein Wasser in einem schönen Kristallglas an oder Tee aus so einer schönen Tasse (sie zeigt auf das bemalte und mit Gold verzierte Service) – macht das nicht gleich einen anderen Eindruck? Und sie kann ja die Chesterfieldcouch zu sich [ins Büro] stellen, dann kann man darauf Platz nehmen. Das wäre doch schön so.«25 Bevor wir gehen, führt mich Frau Berger, meinen Oberarm haltend, noch einmal zum Geschirr und beginnt, sechs schmale Kristallkelche in
25 Der letzte zitierte Satz lautet im Original: »Asa ar fi frumos« und ist stark normativ. Die Formulierung ist eine elegantere Art, um »so macht man das« oder »so gehört sich das« zu sagen.
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meine übergehängte Handtasche zu stecken: »Damit könnt ihr anstoßen, wenn der Kleine kommt!«, sagt sie nur. Letztes Gespräch, Wohnheimzimmer (September 2010) Frau Bergers Wohnung ist nun ausgeräumt und vermietet. Ich besuche sie in ihrem inzwischen sehr vollen, aber gelungen eingerichteten Zimmer. Beinahe wie ein Band, das den Raum zusammen hält, wirken die vielen großen Gemälde mit üppiger Rahmung, die, an einer Linie ausgerichtet, auf Kopfhöhe hängen. Die Langwand, an der das Kopfende des Bettes steht, ist dabei deutlich die prominenteste. Die Starre der symmetrischen Anordnung wird durch einige kleine Bilder sowie durch den Wasserbehälter mit asiatischen Ornamenten durchbrochen. Das übergroße Portrait, das Frau Bergers Mutter zeigt, hängt hinter der Tür und ist am besten zu sehen, wenn diese geschlossen ist und man auf dem Bett sitzt oder darin liegt. Gegenüber dem Bett steht nach wie vor der umgebaute weiße Schrank. Auf dem mittleren Regalbrett sind der Fernseher, Schreibutensilien und einige kleine Porzellan- und Kunststoffgegenstände (dekorative und nützliche gemischt) zu finden, auf dem unteren einige großformatige Kunstbücher, die nun, anders als zuvor, nicht mehr repräsentativ ausgestellt sind, sondern praktisch aufgereiht. Die anderen drei Regalbretter beherbergen eine Art Ausstellung. Insgesamt elf Photos finden sich hier; die meisten zeigen Frau Berger und ihren Mann, oder ihn alleine, oft in Urlaubssituationen. Einige der Photos sind gerahmte, andere darin eingesteckte Passbilder, wiederum andere Photos lehnen an Gegenständen. Die Anordnung der Dinge ist auf drei der Regalebenen identisch: links und rechts ein gerahmtes Bild, dass zur Mitte hin geneigt ist, mittig eine Porzellanfigur. Hinter und vor den Rahmen sind ebenfalls kleinere Figuren und Vasen zu finden. Auf einem der Regale sind es die beiden Puppen, »Hannerle und Pen«, welche die Rahmen zu halten scheinen und beinahe ganz von ihnen verdeckt werden. Alle Photos kenne ich bereits aus der alten Wohnung oder von der altarähnlichen Kommode hinter dem großen Schrank. Diese ist inzwischen frei von Photos, die vier Ikonen hängen anders, damit sie von der aufwändigen Standuhr, die nun dort steht (dieselbe, von der bereits die Rede war) nicht verdeckt werden. Links und rechts der Uhr steht auf Makrameedeckchen je eine Porzellanfigur, davor ein kleines Glasschälchen. Photos sind hier nicht mehr zu finden. Noch ist das Zimmer nicht fertig eingerichtet. So lehnen manche Bilder an der Wand hinter und neben der Tür. Ich frage Frau Berger, wo sie für
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diese noch Platz finden wolle, sie antwortet, das wolle sie auch gerne wissen und lacht. Auf den Balkon hat sie einen schmalen Schrank gestellt, wie er in Abstellkammern oder Bädern verwendet wird. Darin bewahrt sie die mitgenommenen Kristallgläser und das bemalte Porzellangeschirr auf. Sie sagt allerdings, sie müsse eine bessere Lösung finden, dort verstaubten die Sachen zu sehr. Herausragend ist Frau Bergers Etagen-Tisch, der vor dem bodentiefen Fenster neben der Balkontür eingebaut wurde. Vor diesem Fenster ist der Heizkörper montiert. Dahinter ist nun ein Paneel aus weißen Brettern angebracht, an denen über dem Heizkörper eine abgerundete Platte befestigt ist, die ca. einen halben Meter in den Raum ragt und als Tisch dient. Darüber findet sich etwa mittig an dem überstehenden Paneel eine weitere, deutlich kürzere und nur einige Zentimeter tiefe, Platte. Darauf sind zwei größere dunkelblaue Vasen aufgestellt, die einen hellblauen Zierteller rahmen, vor dem Teller ist eine große Weintraube aus Glas und Metall auf das Makrameedeckchen, das das Regal schmückt, gelegt. Die Vasen und der Teller haben ein asiatisch anmutendes Floralmotiv. Auf der Tischplatte sind links und rechts des Regals zwei höhere Gegenstände aufgestellt: Eine Schirmlampe mit figürlich ausgeformtem Fuß und eine Holzfigur, die zwei Kraniche zeigt. Darunter liegt, passend zum Schirm der Lampe, eine ockergelbe Tischdecke mit Blumen und Ranken. Neben den dekorativen Gegenständen finden sich auf dem Tisch Tablettenschachteln, Brot, ein halb volles Marmeladenglas, eine Flasche, eine Thermoskanne und mehrere Gläser und Becher, die zum Teil auf Servietten abgestellt sind. Bei aufmerksamer Betrachtung des Raumes fallen mir vor allem zwei Aspekte auf: Zum einen sind sämtliche Dinge, die auf dem hinteren kleinen Tisch, der beinahe versteckt in der Ecke zwischen Schrankwand und Fenster im früheren Wohnzimmer stand, im Altenheimzimmer wiederzufinden – allerdings in neuer Anordnung im ganzen Raum verteilt. Zum anderen sind zu den »schönen Dingen«, von denen nur noch wenige auf Frau Bergers symmetrieliebende Art ausgestellt sind, viele kleine, unspektakuläre, qualitativ und ästhetisch nicht mit den anderen Objekten vergleichbare Dinge dazugekommen. Sie finden sich, besonders im Schrankregal, zwischen den vertrauten prunkvollen Prestigegegenständen: ein kleines Holzkreuz mit Aufhängung, eine Schornsteinfegerfigur, wie sie zu Sylvester verschenkt wird, ein kleiner Plastikhund, eine künstliche Rose, die aus einer der hinter den Bildern stehenden Vasen spitzt, kleine, bemalte und unbemalte Stein-
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gutfiguren, die Kinder zeigen. Das ganze Regal wirkt wie eine Mischung aus Photoausstellung und Objektsammlung, mit einigen besonderen Stücken, beispielsweise den Porzellanfiguren, die mittig angeordnet sind und frei stehen. Bezüglich der Beobachtung, sie habe alle Dinge mitgenommen, die ehemals beisammen auf dem Tisch standen, hat Frau Berger keine Erklärung, nur ein verschmitztes Lächeln parat. Anders verhält es sich mit den kleinen Nippes-Objekten. Sie erzählt zu jedem eine kurze Geschichte, die zwar wenig spektakulär ist, aber mit ihr lieben Menschen oder besonderen Orten zu tun hat. Es sind Geschenke, Souvenirs und Erinnerungsobjekte, die dezidiert auf ein Ereignis verweisen und die schon lange in ihrem Besitz sind. Sowohl diese als auch die Photos sind nun, im Gegensatz zur anderen Wohnung, viel prominenter, viel offener aufgestellt. Auch diese Beobachtung ringt Frau Berger, als ich sie damit konfrontiere, ein kokettes Lächeln ab, als wolle sie sagen: ›Genau so ist es‹. Darüber, warum es so ist oder sein könnte, schweigt sie. Frau Berger scheint in guter Stimmung zu sein, ist redselig und wirkt auf den ersten Blick geradezu dynamisch. Ich frage, ob alles gut gelaufen sei mit dem Umzug und der Vermietung der Wohnung. Sie unterbricht mich mit einer energischen Geste. Das sei vorbei, damit habe sie abgeschlossen, sagt sie. Vieles sei unsauber abgelaufen, aber daran wolle sie nun nicht mehr denken. Und dann sagt sie, beinahe nebenbei: »Ich hatte alles, und alles musste ich wegschmeißen!« Mit einem Mal wandelt sich ihre Dynamik in Ruhelosigkeit. Es wird offensichtlich, dass sie etwas umtreibt: die Anspannung in ihrem Gesicht, ihre Körperhaltung, ihre Stimmmodulation verraten es nun. Doch sie möchte offenbar nicht darüber reden, weicht meinen Fragen aus, zwar ohne wütend zu werden, aber mit einer deutlich spürbaren Verbissenheit. Auf meinem Weg in ihr Zimmer habe ich gesehen, dass der ganze Flur des ersten Obergeschosses, einschließlich des Bereichs vor den Räumlichkeiten der Heimleiterin, hinter der Glastür, die gleich neben Frau Bergers Zimmer den hinteren Teil des Flures abtrennt, mit Frau Bergers Möbeln und Bildern bestückt ist. Ich frage sie, ob es ihr gefällt. Es stellt sich heraus, dass sie recht unzufrieden ist mit der Aufstellung. Man hätte es ihrer Meinung nach viel hübscher, ansprechender, adretter machen können. Sie habe der Heimleiterin gezeigt wie, aber diese hätte es einfach so gemacht, wie sie es wollte. Das sei jetzt zwar schon schöner als mit den alten Möbeln,
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aber einfach nicht so, wie es sich gehört. Frau Berger erzählt mir, dass sie missgünstige Blicke und Getratsche unter den anderen Bewohnern wegen der Möbel beobachtet habe. »Sie können nicht begreifen, dass eine Rumänin so etwas Außergewöhnliches hat. Wenn sie Rumänien hören, denken sie, dass wir in Erdlöchern wohnen und dass wir auf offenen Feuerstellen kochen – dabei wissen sie nicht einmal, wie die Hauptstadt von Rumänien heißt. Sie sind neidisch. Neidisch, weil ich so viel Kultur habe und mich mit besonderen Dingen umgeben habe in meinem Leben!« Damit ist unser Gespräch wieder an einen Punkt gekommen, den Frau Berger schon vor etwa einem halben Jahr angesprochen hatte. 26 Damals zeichnete sich ab, dass der mit ihren Möbeln eingerichtete »Salon«, wie sie ihn sich ausmalt, seitens der Heimleitung nicht umgesetzt werden würde. Frau Berger hat lange gebraucht, bis sie diesen Gedanken akzeptiert hat. Was sie dabei aber nach wie vor nicht nachvollziehen kann, sind die Gründe für das Scheitern ihrer zur fixen Idee gewordenen Vorstellung. Sie schiebt nach wie vor die Verantwortung allein der Heimleiterin und dem Umstand zu, dass man, so ihre Theorie, ihr als Ausländerin einen guten Geschmack nicht zugestehe und, in Konfrontation mit dessen Vorhandensein, der Neid die Oberhand gewinne. Argumentationen bezüglich Sitzhöhe, Sicherheit und ähnlichen praktischen Aspekten kann und will sie nicht folgen. Wie schon sechs Monate zuvor führe ich an, dass die anderen Bewohner gar nicht erst die Möglichkeit hatten, so viele ihrer Dinge zu behalten. Ich sage ihr, sie sei die Einzige im ganzen Heim, die Möbel und Bilder von sich – und davon nicht wenige – auf den Korridor des Stockwerks, auf dem sie wohnt, stellen durfte. Das Argument greift aus zwei Gründen nicht. Der erste hängt meines Erachtens mit der weiter oben beschriebenen Haltung zusammen und hat sich bereits bei früheren Gesprächen abgezeichnet: Sie kann nicht erkennen, welche ungewöhnliche Möglichkeit ihr zugesprochen wurde, sieht nicht die Ausnahme, die für sie gemacht wurde. Ihrer Argumentation folgend, ist ihr die Behandlung, die ihr selbstverständlich hätte zuteil werden sollen, verwehrt geblieben. Diese Sichtweise und ihre Argumente sind so gut ineinander verwoben, dass es schwer möglich ist, ihr eine andere Perspektive zu zeigen. Es ist undenkbar für sie, dass Richtlinien und Vorschriften (von deren Existenz sie ohnehin nicht ganz überzeugt ist) darüber bestimmen, ob und welche Möbel geeignet sind, außerhalb der Zim-
26 Dieses ungeplante und kurze Treffen ist hier nicht ausgeführt.
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mer zu stehen. Die Entscheidung der Heimleitung beruht in ihren Augen auf rein persönlichen Präferenzen. Der zweite Grund, warum Frau Berger nach wie vor das Gefühl hat, sich unheimlich beschränken zu müssen, warum sie eine derart drastische und überzogene Formulierung benutzt wie: »Ich hatte alles, und alles musste ich wegschmeißen!«, wird erst durch die Art deutlich, in der sie über die Möbel spricht, die nicht in ihrem Zimmer stehen: »Ich hatte eine tolle Couchgarnitur. Sehr teuer und gut gepflegt. Chesterfield-Stil. Die durfte ich auch nicht mitnehmen. Sie steht draußen im Flur.« Durch den Aufstellungsort, der nicht innerhalb ihres Privatraumes ist, scheinen ihr ihre alten Möbel, Bilder und Vasen nur wie das Phantombild ihrer Dinge, so als seien es nicht mehr dieselben und besonders nicht mehr ihre Sachen. Man kann heraushören, dass ihr die Möbel, die in ihren Augen aus dem Kontext gerissen wurden, fremd geworden sind. Auch verschenkte Dinge werden von ihr unter »weggeschmissen« subsumiert. Frau Berger gibt sich bei unserem letzten Treffen im Rahmen meiner Forschungen verschlossen und ist nicht bereit, mich ›den Dingen auf den Grund gehen zu lassen‹. Andeutungen ignoriert sie, auf offenes Nachfragen reagiert sie mit floskelhaften Aussagen. Der Grundtenor (»Das ist Vergangenheit«) bleibt ungebrochen und bestimmt das Gespräch, wirkt, wie er sicherlich von Frau Bergers Seite aus wirken soll: als unüberwindbare Wand. Dennoch ist sie gut gelaunt, sehr freundlich und herzlich zu mir. Sie lenkt unsere Unterhaltung immer wieder auf mein ungeborenes Kind und lässt sich von mir genau beschreiben, wie das Kinderzimmer aussehen wird, wie ich mir die Zeit nach der Geburt vorstelle und so weiter. Ohne ihr das ehrliche Interesse absprechen zu wollen, fällt mir auf, dass sie versucht, von meiner Forschung abzulenken. Sie wählt geschickt ein naheliegendes Thema, dem ich schlecht ausweichen kann. Ich verliere die Position der Fragestellerin und muss mich mit Eindrücken begnügen, deren Hintergründe mir nur bedingt durch Frau Bergers Aussagen offen gelegt werden. 4.3.2 Frau Lindner (geb. 1913) Frau Lindner wohnt zurzeit im Gästeappartement, in das sie etwa vier Wochen zuvor gezogen ist. Es ist angedacht, dass sie in zwei Wochen ein reguläres Zimmer beziehen kann, das gerade renoviert wird. Ihre Tochter, die fast 400 km entfernt lebt und sich momentan im Urlaub befindet, wird am
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Umzugstag den Transfer der Sachen aus der noch bestehenden Wohnung organisieren. Die Heimleiterin äußert Bedenken bezüglich der Eignung der 96 Jahre alten Dame für meine Forschungsgespräche, macht sie mir aber dennoch bekannt. Sie berichtet, Frau Lindner hadere sehr mit ihrem Schicksal, alles hinter sich lassen und ins Altenheim einziehen zu müssen. Vielleicht könne sie durch meinen Besuch und mein Interesse aufgemuntert werden, es könne aber durchaus auch sein, dass ihr das Gespräch schwer falle und sie zusätzlich belaste. Ich solle einfach entsprechend sensibel reagieren. Erstes Gespräch, Gästeappartement, Wohnheim, nicht verabredet (März 2010) Frau Lindners Reaktion auf mein Anliegen fällt sehr entschieden aus: »Ach, daran möchte ich gar nicht denken. Es ist so schwer.« Es wird sofort deutlich, wie bewusst sie sich der Situation ist, in der sie sich befindet, und sie benennt diese als »schmerzlich«. Dennoch lädt sie die Heimleiterin und mich ein, uns zu setzen. Wir nehmen auf dem Bettsofa im großzügigen Gästeappartement Platz. Eine uns gegenüber eingebaute Schrankwand am anderen Ende des Raumes trennt den Wohn- und Schlafbereich von einer dahinterliegenden Küchenzeile ab. Mir fällt auf, dass es ausgesprochen ordentlich in dem Appartement ist, so dass man denken könnte, Frau Lindner sei erst heute Morgen eingetroffen. Die Art, wie sie sich im Raum bewegt, lässt sie fehl am Platz wirken, so als könne sie sich nicht in die Umgebung des Raumes einfügen. Schon von Anbeginn der Unterredung wird deutlich, dass die hoch betagte Dame über eine außergewöhnliche Gabe, sich auszudrücken verfügt, dass sie hohen Wert darauf legt, ihre Worte gezielt und mit Bedacht zu wählen. Das Bilden selbst komplexer Sätze fällt ihr nicht nur leicht, es scheint, als sei es ihr gar nicht möglich, anders zu formulieren, um ihrem Anspruch, differenzierte Aussagen zu machen und Betrachtungen nachvollziehbar zu erläutern, gerecht zu werden. Frau Lindner ist laut eigener Aussage in sehr schlechter seelischer Verfassung – sie thematisiert sogar Todeswünsche: »Wenn ich nicht so feige wäre, würde ich geneigt sein zu sagen, es wäre das Vernünftigste, dem ein Ende zu setzen. Ich müsste dort herunterspringen.« Dabei sieht sie zur Brüstung des Balkons im siebten Stock. Das Unfassbare an dieser Situation scheint mir die Art, in der sie ihre Gedanken äußert. Diese ermöglicht es
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weder, ihr Trost zu spenden, noch das Gesagte als unbedacht oder nur als sinnbildlichen Ausdruck ihrer Gefühle abzutun. Verzweiflung oder Drohung schwingt in ihren Worten nicht mit. Es klingt wie die Präsentation des einzig sinnvollen Ergebnisses einer nüchternen Überlegung. Die Heimleiterin sagt zu ihr, dass sie sich an die neue Situation gewöhnen werde. Es wirkt, als ob Frau Lindner solche Aussagen nicht zum ersten Mal hört. Nachdem die Heimleiterin sich verabschiedet hat, erfahre ich von Frau Lindner, dass sie nach einem Krankenhausaufenthalt direkt in das Altenheim gebracht wurde. Ihre Wohnung, die in der Nähe liegt, suche sie gelegentlich auf. Nachbarn, bei denen sie die Schlüssel hinterlegt habe, kümmerten sich noch um die Blumen. Aber die Wohnung solle aufgelöst werden, sobald ihre Tochter aus dem Urlaub zurück sei, so dass der Umzug abgeschlossen werden könne. Über ihre Dinge, die sie mitnehmen und die sie zurücklassen wird, möchte Frau Lindner nicht sprechen. Auf konkretisierende Fragen antwortet sie, indem sie die belastende Situation schildert. Nicht nur einmal äußert sie durch Aussagen wie: »Ach, so etwas ist schrecklich. Wenn ich das nur nicht machen müsste. Sie wissen nicht, wie schwer es ist«, dass es ihr lieber wäre, »das nicht (mehr) zu erleben«. Es scheint fast so, als sähe sie eine grundlegende, prinzipielle Ungereimtheit darin, dass es überhaupt »so weit gekommen ist«. Immer wieder unterbricht sich Frau Lindner in den ohnehin nur halbherzig beendeten Sätzen, und man merkt, dass es ihr geradezu unerhört scheint, über dieses Thema zu sprechen. Immer wieder wendet sie sich an mich und fragt nach meiner Untersuchung im Altenheim. Ihr Interesse gründet offenbar nicht nur auf ein Gefühl für die guten Manieren einer Konversation, sondern auf ehrlicher Neugier, und ihre Fragen zeigen, dass sie die von mir erläuterten Zusammenhänge versteht und weiterdenkt. Sie stellt mir auch Fragen zu meinem privaten Hintergrund und ist sichtlich angetan über das Gespräch. Gegen Ende nimmt sie meine Hand, lächelt mich an und sagt: »Sie erinnern mich, wenn Sie den Vergleich erlauben, an mich selbst, als ich jung war.« Sie verabschiedet mich herzlich und in sichtlich besserer Stimmung. Telefonat mit Tochter, Frau Heinrich (März 2010) Kurz vor Frau Lindners Umzugstermin telefoniere ich mit ihrer Tochter, Frau Heinrich. Neben dem bereits im Methodenteil geschilderten Gespräch über mein Vorhaben und die Wohnalben berichtet sie mir von ihrer Mutter:
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Sie sagt, es ginge Frau Lindner gar nicht gut mit diesem Schritt, erwähnt aber auch, dass mein Besuch sie wohl aufgemuntert hätte. Am Umzugstag könne ich allerdings nicht vorbeikommen, denn sie selbst wolle auf keinen Fall in einer solchen Situation noch jemanden dabei haben. Geplant sei, mit ihrer Mutter in die Wohnung zu gehen, um zusammen noch einmal einzelne Dinge auszuwählen – dies sei in den Wochen vor ihrem Urlaub bereits vorbereitet worden. Ich könne, betont sie, weder bei diesem letzten Aufenthalt ihrer Mutter in der Wohnung noch bei der Räumung, die über eine karitative Firma organisiert werden soll, dabei sein. Sie gibt an, dass die Sachen ihrer Mutter zum Teil schon von dieser aussortiert wurden; sie würde nun den Rest machen. Dabei wolle sie einige Dinge verschenken, die restlichen sollen dem sozialen Möbelhaus, welches sich auch um die Abholung und komplette Räumung kümmere, überlassen werden. Letztes Gespräch, Wohnheimzimmer (Juni 2010) Frau Lindner wohnt inzwischen seit etwa drei Monaten in einem Zimmer im Wohnbereich. Sie erinnert sich zwar nicht mehr an unser erstes Treffen, ist aber gerne bereit, sich mit mir zu unterhalten und bittet mich freundlich herein. Sie macht einen offenen und interessierten Eindruck und ist sehr zuvorkommend. Sie besteht darauf, dass ich meine Jacke nicht über meine Tasche lege, sondern sie im Flur aufhänge, und geht dann mit mir auf den Balkon, auf dem mehrere Gartenstühle ineinandergestapelt und mit einer Folie bedeckt sind. Ich trage einen herein und stelle ihn gegenüber des Stuhls auf, auf dem Frau Lindner sich niederlässt. Sie bietet mir ein Glas Wasser an. Der Platz vor dem Fenster, an dem bei anderen Senioren mindestens zwei Sitzgelegenheiten und zumeist ein kleines Tischchen stehen, ist von einem großen Schreibtisch im Stil der Fünfziger Jahre besetzt. Davor steht ein gemütlicher, gepolsterter Schreibtischstuhl, der recht neu zu sein scheint, mit drei Kissen darauf. Offenbar hat Frau Lindner gerade noch dort gesessen, denn auf dem Schreibtisch ist eine aufgeschlagene Zeitung, darauf ihre Brille abgelegt und ein Glas mit frischem Mineralwasser steht daneben. Ansonsten sind u.a. ein Telefon, einige Zeitschriften, Schreibsachen und ein Photo (das ihren Mann zeigt) darauf zu sehen. Die hochbetagte Dame, was sie für mich »tun kann« und nach einiger Zeit beginnt sie sich daran zu erinnern, dass wir uns vor einigen Monaten schon einmal getroffen hatten. Ich frage sie nach dem Schreibtisch und er-
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fahre, dass er ihrem Mann, der vor »schätzungsweise«27 zehn Jahren verstarb, gehört hat. Er sei Akademiker, Doktor der Politik, gewesen, sie selbst habe als Sekretärin gearbeitet. Sie habe sich gar nicht vorstellen können, ohne diesen Schreibtisch herzuziehen. Für sie sei es wie selbstverständlich, dass er in diesem Zimmer stünde, schließlich sei er ein ständiger Begleiter in ihrem Leben gewesen. Auch würde sie ihn weiterhin gut gebrauchen können. Sie erzählt mir, dass sie es sehr genossen habe, an all den Gesprächen ihres Mannes mit seinen Kollegen teilnehmen zu können. Bescheiden formuliert sie, dass man auch immer wieder gern ihre Einschätzung gehört habe, auch wenn sie keine »Fachverständige« gewesen sei. »Diese Kreise« würden ihr sehr fehlen. »Aber lassen Sie uns über das sprechen, weswegen Sie gekommen sind«, unterbricht sie sich selbst. Ich sage ihr, wir täten dies bereits, da ich mich für den Schreibtisch und für das, was sie in Zusammenhang damit berichtet, sehr interessiere. Sie fragt mich, ob etwas an dem Schreibtisch überraschend sei und ich gebe zurück, dass in keinem anderen Altenheimzimmer (zumindest nicht in dem einer Frau), das ich bisher gesehen habe, etwas Vergleichbares steht. Dort stünden eher Couchtische und mindestens je ein gemütlicher Sessel. »Wissen Sie«, antwortet sie, »wir Theoretiker des praktischen Lebens, wir erkennen manchmal nur schwer die nützlichen Dinge – möchte ich sagen – aber können Sie es sich ohne einen Schreibtisch vorstellen?« Sie erwähnt in diesem Zusammenhang auch, dass sie selten Besuch bekäme. Frau Lindner erzählt mir von ihrem Mann, mit dem sie in zweiter Ehe verheiratet war. Sie hätten in Ostberlin gelebt.28 Ihr Mann hatte gerade seine Doktorarbeit in Politik beendet, als sie die Stadt fluchtartig verlassen mussten. Eigentlich hätte er sich auf den Ausbau seiner akademischen Kar-
27 Frau Lindner kann sich nicht mehr sicher in der Zeit orientieren, darum sind alle Jahresangaben und Angaben von Zeitspannen mit einem Fragezeichen zu versehen. Ich habe versucht, die Chronologie der Abläufe soweit wie möglich zu rekonstruieren. 28 Ihr erster Mann sei der Vater ihrer Tochter. Diese habe er im Kindesalter Mitte der vierziger Jahre zu seiner Schwester, südlich von München, gebracht. Nach dem Krieg sei es den Leuten in ländlich geprägten Bayern viel besser ergangen, als denen in der Hauptstadt. Frau Lindner war also von ihrer Tochter getrennt worden. Beide Frauen berichten, dieser Umstand sei prägend für ihre Beziehung zueinander, die distanziert und sachlich wirkt.
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riere vorbereitet. Allerdings seien in dieser Doktorarbeit wohl in den Augen der Regierung »systemfeindliche Äußerungen« zu finden gewesen. Daher habe er sich darüber im Klaren sein müssen, dass ihnen eine Flucht in den Westen bevorstünde, als er abgelehnt hatte, seine Arbeit zu verändern. Es müsse Anfang bis Mitte der fünfziger Jahre gewesen sein, als sie und ihr Mann des Nächtens, ohne jegliche Vorbereitung, Ostberlin verlassen hätten. Das Zeichen sei der Anruf eines Kollegen gewesen. Frau Lindner habe ihren Mann am Telefon »Jetzt sofort?!« sagen hören. Der andere müsse bejaht haben, denn daraufhin seien sie, ohne irgendetwas mitzunehmen, gegangen. Einzig seine Doktorarbeit habe er eingepackt. Ich frage nach, ob sie das Dokument hier habe, was sie verneinte. »Sehen Sie, da muss ich meine Tochter mal fragen.« Die Doktorarbeit sei ihr sicher irgendwo in der Wohnung in die Hände gekommen und die hätte sie schon gerne hier, schließlich sei sie ja der »Grund für alles« gewesen, sagt sie. Ich erfahre, dass bereits vor ihrer Einlieferung ins Krankenhaus der Gedanke bestanden habe, die Wohnung aufzugeben. Sie erzählt, dass sie selbst noch einige Sachen verschenkt habe und alles andere, nun, da sie sich nicht mehr darum kümmern könne, ihre Tochter besorgen würde. Diese habe das ganz gut gemacht, sie habe an alles gedacht. Was könne man auch schon in so ein kleines Zimmer stellen – die Sachen hätten ohnehin keine Bedeutung mehr. Sie erzählt mir, sie und ihr Mann hätten in zwei Zimmern je zwei lange Regale gehabt, die vom Boden bis zur Decke gereicht hätten. Diese seien voller Bücher gewesen und immer, wenn sie etwas habe wissen wollen, habe sie genau gewusst, wo sie nachsehen könne. Diese Bücher würden ihr fehlen, aber es habe keinen Sinn, sie mitzunehmen. Wie solle sie eine Auswahl treffen. Und selbst wenn, dann stünden diese Bücher nicht mehr an ihrem Platz, in ihrem Kontext, und das sei es gewesen, was die Vertrautheit ausgemacht habe – zu den Büchern und zu der Wohnung. Außer der von Seiten des Heims bereits vorhandenen Möblierung und dem Schreibtisch ist noch ein wuchtiges Möbelstück, eine Art niedriger viertüriger Schrank, dem Bett gegenüber aufgestellt. Mir bleibt verborgen, was sich hinter den Türen befindet. Daneben steht der Fernseher auf einem Tischchen mit Rollen; einige Photos und gemalte Bilder sind an den Wänden aufgehängt. Wir reden über das Bild, das über dem Fernseher zu sehen ist und Frau Lindner inmitten ihrer Familie zeigt. Es wurde vor einigen Jahren am Wohnort ihrer Tochter im Süden Deutschlands aufgenommen. Frau Lindner sagt, sie fände die Gegend zwar schön, würde aber nicht dort leben
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wollen. Sie erzählt mir von ihrer Tochter, den Enkeln und deren Leben. Ihnen würde es finanziell sehr gut gehen, besser als einst ihr und ihrem Mann. Letzteres sagt sie nicht ohne Stolz und Freude. Einer der beiden Enkelsöhne habe geheiratet und nun ein Haus auf einem großen Grundstück in der Stadt gebaut. Er habe zwei Kinder, die ihr jedes Jahr einen Photokalender bastelten. Der andere sei »eher ein Künstler«, sagt sie amüsiert. Man merkt Frau Lindner an, dass sie nach wie vor nicht gerne über den Verlust ihrer vertrauten Umgebung spricht. Sie wirkt aber nicht mehr so verloren wie in dem Gästeappartement und äußert sich zufrieden über ihr Heimzimmer, darüber wie ihre Tochter den Umzug gemacht und was sie ausgewählt habe. Ihr fehle es an nichts und sie vermisse auch nichts, sagt sie.
4.4 J ENSEITS DER G ESPRÄCHE : D IE R ÄUMUNG VON F RAU K AISERS W OHNUNG (M ÄRZ 2010) Alle sechs Informanten haben die Mehrzahl ihrer Dinge zurückgelassen – ganz gleich, wie intensiv sie sich an der Auswahl beteiligt haben oder wie lange es gedauert hat, bis die Zimmer im Altenheim alle Gegenstände aufgenommen hatten, die aus dem alten Hausstand mitgenommen wurden. Die zurückgelassenen Dinge sind nach dem Umzug nicht mehr im Besitz derer, in deren Wohnung sie über die Jahre standen. Viele werden verschenkt, an Angehörige, Freunde und Bekannte, einige wenige verkauft. Manche gehen als Spenden an karitative Organisationen. Doch immer wird ein Teil der Sachen zu Müll. Es ist ein mehrstufiger Prozess, der mit dem ersten Wegwerfen eines (schon lange) nicht mehr benötigten oder bereits defekten Gegenstands in Hinblick auf den bevorstehenden Umzug beginnen kann. An dessen Ende steht nicht selten fast die gesamte Möblierung der früheren Wohnung zertrümmert und auf den Bürgersteig gestapelt für den Abtransport durch die Sperrmüllabfuhr bereit. Bei einer meiner Informantinnen kann ich das just so geartete Ende der zurückgelassenen Dinge beobachten. Die Angehörigen von Frau Kaiser haben zugestimmt, dass ich dabei sein darf, wenn die Wohnung der Seniorin geräumt wird. Sie selbst ist an diesem Tag nicht dort anwesend. Der Umzug ins Heim hat ca. zwei Wochen zuvor stattgefunden. Ihr neues Zimmer ist zwar noch nicht bezugsfertig, aber Frau Kaiser wohnt in der Zwischenzeit
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im Gästeappartement. Wie zuvor beschrieben, hat Frau Kaiser, teils unterstützt durch Angehörige, selbst ihre Dinge sortiert, und entschieden, was davon sie behalten möchte und was an wen verschenkt wird. Die Möbel, Koffer und Kartons mit Dingen, die mitgenommen werden sollten oder noch gebraucht wurden, brachte man in das zuvor geleerte Esszimmer. Frau Kaisers Schwiegertochter, Frau Teck, hat die Sachen, die vornehmlich für ihre Tochter bestimmt waren, größtenteils bereits abgeholt. Diese zog zu der Zeit in eine eigene Wohnung und hatte daher nicht nur an Erinnerungsstücken Interesse, sondern auch an praktischen Alltagsgegenständen. Auch an Freunde und Bekannte von Frau Kaiser gingen Objekte aus dem Haushalt. Letztlich war im ehemaligen Esszimmer nur noch das übrig, was heute in Frau Kaisers Altenheimzimmer zu finden ist. Am Tag der Räumung sind einige für das Heim ausgewählte Dinge bereits dorthin verbracht worden, andere sollen nun aus der Wohnung weggefahren werden: Möbel und einige Kisten, vornehmlich mit Geschirr und Gläsern gefüllt. Die Sachen werden zu einem Teil im Keller des Altenheimes zum anderen bei Frau Kaisers Angehörigen zwischengelagert, bis das definitive Zimmer bezugsfertig ist. Alles, was dann noch in der Wohnung ist, so die Vereinbarung, kann und soll weggeworfen werden. Die Familie von Frau Kaiser hat hierzu ein Räumungsunternehmen engagiert. Einige Stunden bevor deren Mitarbeiter kommen, finden sich Frau Kaisers Sohn, dessen Ehefrau, deren Sohn sowie ein Neffe von Frau Kaiser in der Wohnung ein, wo auch ich die Angehörigen treffe. Zwei weitere Personen, eine Frau und ein Mann, beide etwa in Frau Kaisers Alter, kommen in die Wohnung, um mitzuhelfen. Auf meine Frage hin antwortet Frau Teck, dies seien Familienfreunde und würden ihre Schwiegermutter schon sehr lange aus der Gemeinde bzw. aus der Nachbarschaft kennen. Sie hätten darauf bestanden, heute herzukommen. Sie denke, sie wollen sich gewiss auch von der Wohnung verabschieden. Frau Teck postiert sich im hinteren Teil in der Küche, in der Nähe des Fensters. Sie kocht Kaffee und bereitet die mitgebrachte Brotzeit vor. Mir fällt auf, dass sie die Kaffeemaschine, die in der Küche eigentlich bereits einen Platz hatte, auf das Fensterbrett stellt. Dort reiht sie auch die mitgebrachten Dinge aus ihrem Korb auf. Die männlichen Familienmitglieder von Frau Kaiser machen sich sofort an die Arbeit. Sie gehen direkt in den kleinen Raum, in dem die von ihnen mitzunehmenden Dinge lagern. Mit kurzen Sätzen sprechen sie ab, in welcher Reihenfolge sie die Sachen in das Auto bringen und wer mit wem zu-
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sammen welche Stücke trägt. Der ältere Herr, der ein weißes Hemd und ein Sakko trägt, steht auch dabei. Im Gegensatz zu den anderen wirkt er aber nicht auf die anstehende Aufgabe fokussiert und sieht sich im Raum um. Während die anderen die Türen aushängen, um den engen Radius im Eingangsbereich mit den sperrigen Möbeln bewältigen zu können, geht er in der Wohnung umher und bedauert murmelnd, dass es »so gekommen ist«. Er packt aber sofort mit an, als die anderen beginnen, Sachen herunterzutragen und macht bei der Arbeit einen gefassten Eindruck. Ich laufe immer wieder hinter den Trägern her, um die Gespräche zu verfolgen. Der Herr mit dem Sakko spricht vergleichsweise viel, zuweilen auch über die Situation und beweist dabei einen trockenen Humor. Die anderen begegnen ihm mit Respekt, scheinen aber bemüht, das Anstehende schnell und kommentarlos hinter sich zu bringen. Frau Kaisers Sohn und ihre Enkel verstauen Sessel, Tischchen, den Buffetschrank und die anderen Dinge in einem geliehenen Kleintransporter und polstern die Möbel mit Teppichen. Obwohl sie nichts auseinandergebaut haben und der Wagen schnell voll ist, reicht der Platz aus. Währenddessen bleibt Frau Teck in der Küche. Sie fungiert als Ansprechperson und Koordinatorin der ganzen Aktion. Ihr Mann, Sohn und Neffe werden den Transporter mit Frau Kaisers Sachen nach der Brotzeit wegfahren und ausladen, sie bleibt den ganzen Tag in der Wohnung. Die ältere Dame, die sich auch eingefunden hat, hält sich bei Frau Teck in der Küche auf und wirkt ein wenig zerstreut. Ich habe den Eindruck, sie wisse nicht, wie sie mit der Situation, der sie unbedingt beiwohnen wollte, umgehen soll. Sie versucht immer wieder, die Bestürzung über die Räumung und darüber, »dass es so kommen musste« zu thematisieren, scheitert aber an der Ambivalenz, es zum einen nicht begreifen zu können und zum anderen zu wissen, dass es dennoch nicht anders sein kann. Auch geht Frau Teck gut organisiert und rational an die Sache heran und bietet ihr wenig Angriffsfläche für ein sentimentales Gespräch. Schließlich begleitet Frau Teck die ältere Dame durch die Wohnung, und fragt sie, ob sie etwas mitnehmen wolle. Sie zeigt ihr die Nische im Flur, in der ihre Schwiegermutter Vorräte gelagert hat, doch Frau Kaisers Freundin scheint Hemmungen zu haben, etwas mitzunehmen. Sie entscheidet sich schließlich für einige nicht angebrochene Wasch- und Spülmittelpackungen, als Frau Teck, pragmatisch denkend, mit dem hohen Preis dieser Produkte argumentiert.
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Ich nutze die Gelegenheit, um mir über den Zustand aller Zimmer einen Überblick zu verschaffen. Im Wohnzimmer sind nur noch der Teppich, die Couch und leer geräumte Schränke von der einstigen Einrichtung übrig. Die prominente Schrankwand wirkt jetzt, ohne jeglichen Inhalt, aber mit viel Staub darauf, noch wuchtiger. Auf der Couch liegen der Leuchter, der einst an der Decke hing, und eine dazugehörige Wandapplique. Im Schlafzimmer sind die Rollläden fast ganz heruntergezogen und es fällt nur wenig Licht auf die Dutzenden blauen Müllsäcke, die dort lagern und es unmöglich machen, den Raum zu betreten. Dieses Zimmer fungiert als Aufbewahrungsort für alles, was nicht mehr gebraucht wird. Die Gegenstände befinden sich weitestgehend in Tüten, Kisten und Kartons, stehen aber auch aufeinandergestapelt auf den leeren Möbeln. So sind zum Beispiel 14 Töpfe, teils mit zugehörigem Deckel, auf der kleinen Kommode abgestellt, über der vor wenigen Wochen noch das Hochzeitsbild der zweiten Eheschließung und zwei Wandsprüche hingen. Auf der Tapete heben sich an der Stelle drei hellere Flecken ab, die Nägel stecken noch in der Wand. Alles, was sich noch hier befindet, ist zu Müll deklariert doch als solcher in der Regel nicht durch den Zustand erkennbar, sondern schlichtweg durch den Standort oder dadurch, dass die Dinge in Säcke gepackt wurden. Kleiderbügel, Wäscheständer, Seifen, Abflusssiebe, eine Hängeleuchte, diverse Körbe und Uhren sind zwischen ca. zwei Dutzend Müllsäcken zu sehen. Die offenen oder durchsichtigen unter ihnen geben ihren Inhalt preis: Heimtextilien und Kleidung, ein Beutel voller Wäscheklammern, beschriebene Papiere und kleinere Elektrogeräte. Die Matratzen und Lattenroste wurden aus dem Bettgestell herausgehoben und lehnen unter dem Fenster an der Wand. Der so gewonnene Platz dient als zusätzliche Stellfläche für den Abfall der Sortieraktion. Während der Flur komplett leer geräumt wurde, um so viel Bewegungsraum wie möglich zu gewinnen, wirken Bad und Küche relativ intakt. Das ist zum einen mit der fest eingebauten Ausstattung dieser Räume zu begründen, zum anderen sind aber auch nicht mehr benötigte Gebrauchsgegenstände weiterhin an ihrem Platz, wie etwa die Zahnputzbecher im Bad. Auch in der Küche findet sich noch eine Grundausstattung an elektrischen Geräten wie Kaffeemaschine und Wasserkocher, daneben Kaffeetassen und Teller, Putzmittel und Lappen sowie der Mülleimer. Dennoch hat Frau Teck nicht nur Proviant mitgenommen, sondern auch Plastikbecher und Pappteller.
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Frau Kaisers Sohn und seine Helfer sind fertig, bevor die Räumungsfirma eintrifft. Frau Teck hat die Brotzeit vorbereitet, doch die Männer scheinen nicht interessiert: Sie stehen untätig herum, rauchen auf dem Balkon oder besehen noch einmal die Wohnung. Sie wirken unruhig und vermeiden es, viel zu sprechen. Frau Teck erklärt mir, wie der weitere Verlauf geplant ist: Die Räumungsfirma werde alle Möbel, inklusive der Einbauküche, ausbauen und nach draußen bringen. Diese würden aber nicht von ihnen abtransportiert, sondern vom städtischen Sperrmüll abgeholt. Dazu sei ein Termin für in zwei Tagen vereinbart worden. Diese Leistung müsse, weil sie nicht an einem der jährlich stattfindenden, fixen Termine in Anspruch genommen werden könne, bezahlt werden. Die Räumungsfirma nehme lediglich Elektromüll, auch die großen Geräte wie Herd und Kühlschrank, sowie die Säcke aus dem Schlafzimmer mit. Manches müssten gesondert entsorgt werden, andere Geräte verkaufe die Räumungsfirma weiter. Frau Teck sagt, die »Entrümpler« könnten gerne auch Möbel, Lampen und Teppiche zum Weiterverkauf mitnehmen, wenn sie wollten. Schließlich treffen die drei Männer von der Räumungsfirma ein: zwei Arbeiter und ihr Vorgesetzter. Die Wohnung ist voller Menschen, überall wird gesprochen, gezeigt, geplant. Tatsächlich bekundet der Firmenleiter nach dem Rundgang Interesse an einigen Objekten wie einer alten Schreibmaschine, einem Teppich sowie der Telefonbank und handelt rasch einen Preis für den Kristallkronleuchter samt Wandleuchte aus. Er entscheidet schließlich, im Wohnzimmer anzufangen. Wie auf einen Schlag sind nur noch die drei Profis und ich im Raum. Der Leiter der Räumungsfirma fragt mich, ob ich »so etwas« schon einmal gesehen hätte – damit meint er eine Räumung. Ich müsse mir bewusst sein, dass die Möbel jetzt möglichst schnell auseinandergenommen werden müssten. Dabei ginge es »schonungslos« und »hart« zu und es habe »viel mit Gewalt zu tun«. »Und mit Staub«, sagt einer seiner Arbeiter. Er jedenfalls, ergänzt der Chef, habe keinerlei Probleme mit Aggressionen mehr, seit er im Geschäft sei. Er lacht und die Männer ziehen ihre Arbeitshandschuhe an. Sie gehen zu dem großen Wohnzimmerschrank im altdeutschen Stil, öffnen die kleinen Türen und stemmen sich dagegen, bis die Gelenke nachgeben. Wo Scheiben eingebaut sind, wird vorsichtig hantiert, damit nicht Scherben die Verletzungsgefahr erhöhen. An manchen Stellen muss geschraubt werden; dies besorgt stets der Firmenleiter. Er koordiniert auch den Abbau und achtet darauf, dass die Statik des Möbels dabei vorteilhaft genutzt wird, nichts
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vorzeitig zusammenbricht und dass die ausgebauten Bretter stabil an der Wand lehnen. Der Schrank ist widerstandsfähig, da er aus schweren, festen Platten zusammengebaut ist, die sehr gut miteinander verbunden sind. Die Arbeiter loben die »gute, alte Qualität«. »Unglaublich, wo kriegen Sie heute noch so was!«, sagt der Chef und zeigt mir die akkurat angebrachten Blenden. Als die Rückwand herausgeschlagen wird, wirbeln Unmengen Staub auf und der Blick auf die alte Tapete wird freigegeben: die neue wurde angebracht, ohne die schwere Schrankwand zu verschieben. Die untere Tapete ist mit einem ähnlichen Muster versehen, nur ein wenig dunkler, gelbstichiger, und die an den über handflächengroßen Zweigen arrangierten Blumen sind kleiner und liegen dichter. Die Männer lächeln amüsiert: aus heutiger Perspektive ist kaum ein Unterschied im Design zu erkennen, auch wenn zwischen den beiden Tapezieraktionen vermutlich 20 Jahre liegen. Die Arbeiter ziehen das übriggebliebene Grundgerüst der Schrankwand hervor. Dadurch kommt so viel Staub in die Luft, dass ich kaum mehr Photos machen kann, weil die vielen Partikel reflektieren und die Aufnahmen unzählige weiße Punkte aufweisen. Das untere Brett eines Hohlraumes, der sich unbenutzbar zur Wand hin öffnete, wirkt auf den ersten Blick, als sei es weißgrau gestrichen. Erst bei genauerem Hinsehen erkennt man, dass sich hier seit den siebziger Jahren eine dicke Schicht Staub ungestört angesammelt hat. Zum Schluss werden nun die langen Querbretter vorsichtig herausgebrochen, weil man sich an den schweren, fast drei Meter langen Bauteilen leicht verletzen kann. Das Krachen hallt in der nahezu leeren und stillen Wohnung wieder. Ich frage mich, wo Frau Kaisers Familie ist. Erst als der Familienfreund mit den grauen Haaren in die Tür tritt, wird mir klar, dass sie sich alle in der Wohnung aufhalten, aber nicht den Raum betreten wollen. Der alte Mann bleibt einige Zeit kopfschüttelnd in der Tür stehen und geht dann wortlos wieder. Als das Möbelstück bis auf die schwere Bodenplatte auseinandergebrochen worden ist und die Männer die Bauteile hinuntertragen, bemerke ich, dass die Familie von Frau Kaiser sich am weitest entfernten Ort der Wohnung, im hinteren Teil der Küche versammelt hat und Brotzeit macht. Keiner betritt das Wohnzimmer, bevor es so gut wie leer ist. Während die Männer von der Räumungsfirma beginnen, die einzelnen Bretter, in die sie das Möbel zerlegt haben, heraus zu tragen, bringen auch die Angehörigen von Frau Kaiser die letzten als brauchbar definierten Sa-
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chen aus der Wohnung. Sie gehen aneinander vorbei, als würden sie nicht in bzw. aus ein und derselben Wohnung kommen und gehen. Die Männer laden noch einige halbvolle Säcke und einen Karton in den Kleintransporter und fahren weg. Auch die beiden Familienfreunde verabschieden sich. Zuerst geht die Frau, zwei Schachteln Waschmittel unter den Arm geklemmt. Der Herr im Sakko wartet, bis Frau Kaisers Sohn und seine Helfer weggefahren sind und macht sich dann auch auf den Weg. Frau Teck bleibt in der Küche, in der Schüsseln mit Essen, benutzte Pappteller mit der Aufschrift »Beach Party«, Plastikbesteck, angebrochene Getränkeflaschen, eine Tüte mit Brötchen und halb volle Kaffeetassen herumstehen. Vom Küchenfenster aus sieht sie direkt vor die Haustür und kann so die Szene genau überblicken: Die beiden Transporter, sind vor der Tür geparkt, und man kann beobachten, welche Dinge gerade aus dem Haus getragen, eingeladen oder zum Sperrmüllstapel gebracht werden. Draußen hat es angefangen zu regnen und die Arbeiter beeilen sich mit dem Aufschichten der Möbelteile. Neben dem Wohnhaus ist eine Einfahrt mit Garagen. Dort werden die zerlegten Möbel gelagert. Dabei ist es wichtig, einen möglichst kompakten Stapel zu erstellen, um den Preis, der pro Kubikmeter berechnet wird, niedrig zu halten. Akkurat und passgenau deponieren die Männer die Bretter auf einander. Der Haufen wächst schnell; auf die Schicht mit den Möbeln aus dem Wohnzimmer kommt ein Garderobenschrank, den der Leiter der Räumungsfirma in der Zwischenzeit entfernt und auseinandergenommen hat, dann die hellen Möbelstücke des Schlafzimmers. Schubladen, die nicht demontiert werden, werden von vorne in den Bretterkorpus hineingeschoben, so dass das Gebilde wie ein Regal wirkt, das horizontal in sich zusammengestürzt ist, weil die Seitenteile weggenommen wurden. Zwischendrin liegen zwei Matratzen, die Laken noch aufgezogen. Während die beiden Arbeiter unablässig Bretter nach unten bringen, bleibt ihr Vorgesetzter meist in der Wohnung, schraubt und bricht Möbel auseinander und unterhält sich mit Frau Teck und mir. Wir erfahren, dass er üblicherweise damit zu kämpfen hat, dass die kompakten Sperrmüllstapel beim Abtransport wie Schüttgut in die LKWs befördert werden. Dadurch erhöht sich die Kubatur drastisch – der Abrechnung liegt dann meist diese zugrunde. Der Leiter der Räumungsfirma ist, laut eigener Angabe, schon lange im Geschäft und die Räumung von Frau Kaisers Appartement erscheint ihm als kleiner und leichter Auftrag. Sie wird vermutlich nicht in zukünftigen
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Berichten von skurrilen und denkwürdigen Aufträgen Erwähnung finden, wie wir sie hören. Aus den Schilderungen seiner Erlebnisse bei anderen Räumungen lässt sich folgern, dass er sich darüber bewusst ist, wie problematisch und spannungsvoll sein Arbeitsfeld ist. Die Perspektiven der ehemaligen Bewohner oder der Angehörigen sowie gesellschaftskritische Äußerungen fließen immer wieder ein und die humorvoll erzählten Geschichten klingen gut reflektiert. Ich gehe zwischen der Küche, in der Frau Teck sich die meiste Zeit aufhält, dem Zimmer, in dem gerade die Einrichtung auseinandergebaut wird, und dem Bretterstapel auf der Straße hin und her und dokumentiere das Voranschreiten durch Photos und Notizen. Als in den anderen Zimmern keine Möbel mehr sind, ist die Küche an der Reihe. Frau Teck verlässt den Raum nicht, sondern bleibt an dem der Tür gegenüberliegende Fenster, so dass die Männer des Räumungsunternehmens sich zu ihr vorarbeiten. Vor unseren Augen wird die Einbauküche Stück für Stück herausgenommen und die darunterliegende alte Tapete tritt, wie im Wohnzimmer, zum Vorschein. Auf einem der größeren Schränke ist hinten ein Papier mit Klebestreifen angebracht, darauf steht: »K. E. 31.7.78«. »So 'ne Einbauküche war damals ganz modern«, sagt der Chef und erwähnt mehrmals lobend die Qualität der alten Möbel und die Genauigkeit und Liebe zum Detail, mit der sie gefertigt wurden. Er zeigt uns in einem der Schränke die sechs eingebauten Behälter aus durchsichtigem Plastik. Als Mischung zwischen Schublade und Vorratsbehälter waren sie zu der Zeit die fortschrittliche Variante der Salz-, Mehl-, Zucker- und Kaffeedosen, die beschriftet auf offenen Regalen standen. Selbst die schwer abzumontierende Küche ist in etwas mehr als einer Stunde nach unten getragen. Nur das Waschbecken und der Wasserhahn sind geblieben. Auf dem Fensterbrett stapeln sich die letzten Gegenstände: Das meiste sind von Frau Teck mitgebrachte Utensilien; Putzmittel, die Kaffeemaschine und die benutzten Tassen sind auch noch übrig. Frau Teck spült die bunten Plastikbecher, die sie mitgenommen hat. Dann nimmt sie einen der halbvollen Müllsäcke, die noch in der Wohnung liegen (in dem daneben ist unter anderem eine angebrochene Flasche Weichspüler) und räumt alles hinein, was nicht mehr gebraucht wird. Darunter sind ein weißes Schnurtelefon und die gebrauchten Pappteller, die benutzten Kaffeetassen aus Porzellan und die dazugehörige Zuckerdose. Die Kaffeemaschine und der Wasserkocher, die aus dem Inventar von Frau Kaiser stammten und
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für die Räumungsaktion noch gebraucht wurden, sind nun abgebaut. Frau Kaisers Enkelin möchte sie für ihre neue Wohnung. Am Ende muss nur noch der Keller ausgeräumt werden. Die Männer stöhnen, als ihnen bewusst wird, dass auch dieser Raum zur Wohnung gehört. Sie sagen, es sei jedes Mal dasselbe: Sie würden den Keller immer ausblenden, obgleich er ein unberechenbares Plus an Arbeit darstelle. Hier würden auf kleinstem Raum und meist bei schlechten Lichtverhältnissen die unterschiedlichsten Dinge dicht an dicht gelagert. Bei der Begehung stellt sich aber heraus, dass Frau Kaisers Keller für die Männer von der Räumungsfirma wenig Aufwand birgt; nicht mehr als eine ähnlich große Fläche in der Wohnung selbst. Die beiden schmalen Regalschränke sind fast unbenutzt, einige leere Flaschen und Gläser, Blumentöpfe, Holzleisten, verrostetes Werkzeug und ein Teppich liegen auf dem Betonboden. Zwei Paar Krücken lehnen an einem leeren Stoffschrank. Während draußen von den beiden Arbeitern über die Schicht mit den dicken Platten aus der Küche noch die wenigen Möbelteile aus dem Keller gelegt werden, hat ihr Vorgesetzter begonnen, den Transporter fertig zu beladen. Noch haben nicht viele Gegenstände ihren Platz dort gefunden. Das Keyboard, auf dem Frau Kaiser gerne gespielt hat, die Telefonbank, die der Firmeninhaber mitnehmen wollte, und der Elektroherd sind schon im Laderaum. Wo die Kochplatten montiert waren (diese können dem Sperrmüllabtransport überlassen werden) ist nun ein Hohlraum, in dem sich die Töpfe, die auf der Schlafzimmerkommode gelagert waren, stapeln. Nun werden die gut gefüllten blauen Säcke verfrachtet. Danach verpacken die Männer sorgsam die Kristallleuchter und legen sie in einen der Teppiche aus der Wohnung, den ihr Vorgesetzter mitnehmen möchte. Das von ihnen mitgebrachte Werkzeug und die leeren Gläser aus dem Keller werden dazugestellt, dann ist der Transporter voll. Die Wohnung wird für leer erklärt; die Arbeiten sind beendet. Das Esszimmer, das als erstes frei war und dann als Arbeitsraum und Abstellort für die gesondert zu entsorgenden Elektrogeräte fungierte, wird nun genutzt, um auf dem Fensterbrett Dinge abzustellen, die Frau Teck am Morgen gebracht hatte und die nun wieder von ihr mitgenommen werden sollen. Die Gardinenhalter stecken noch in der Wand. Auch auf dem Fensterbrett in der Küche sind Dinge übriggeblieben: Kaffee in einer Dose, Filter und Pappteller für die Handwerker, welche die Renovierung durchführen. Im Wohnzimmer lehnt ein Besen an der Wand. Einer der Arbeiter nimmt ihn und
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fegt den Raum. Haken sind, besonders im Bad, noch an den Wänden und Fliesen zu finden; wo Bilder hingen, sieht man Spuren. Frau Kaisers Enkel und auch die ältere Dame, die schon am Morgen da war, sind wiedergekommen. Er, um seiner Mutter bei den letzten Handgriffen behilflich zu sein, sie, um selbigen beizuwohnen. Als letztes wird die Couch heruntergebracht und neben den Bretterstapel gestellt – sie ist nur wenig kleiner als dieser. Mit diesem Möbelstück verlassen alle die Wohnung. Frau Teck, die alles koordiniert hat, geht hinter den Männern vom Räumungsunternehmen, welche die Couch herausbringen, her, ihr Sohn, der den Teppich aus dem Wohnzimmer trägt, folgt ihr. Die Familienfreundin läuft als letzte in der Reihe und dreht sich als einzige noch einmal vor dem Haus kurz um. Nachdem sich die Gruppe aufgelöst hat geht Frau Kaisers Schwiegertochter noch einmal in die leere Wohnung, um sich zu vergewissern, dass alles weg ist. An diesem Tag werden die Möbel aus Frau Kaisers Dreizimmerwohnung, die sie ihr halbes Leben begleitet haben, innerhalb von fünf Stunden auf schätzungsweise vier bis fünf Kubikmeter vor ihrer Wohnung am Straßenrand gestapelt.
4.5 Z USAMMENFÜHRUNG DER G ESPRÄCHE
UND
S YSTEMATISIERUNG
Systematisches Durchlesen und Kodieren der Forschungsberichte, immer neue Beobachtungen im Feld und mitunter der ein oder andere glückliche Zufall, von dem noch die Rede sein wird, haben eine Vielzahl an Zusammenhängen sichtbar werden lassen. Der Auswertungsprozess einer derart dichten und manchmal hermetischen Datensammlung wie der hier beschriebenen wächst über Monate hinweg und ist immer auch ein Kampf um den »roten Faden« bzw. der Entwirrung vieler davon. Es scheint ein wenig überraschend, beinahe inadäquat, wenn ein guter Teil der Ergebnisse sich in wenig eindrucksvollen Tabellen erfassen lässt. Dennoch haben diese Platz sparenden Übersichtsinstrumente den Vorteil, dass sie ein sehr dichtes System aufschlüsseln können. Von einer detaillierten Explizierung der möglichen Perspektiven auf rein deskriptiver Ebene soll an dieser Stelle abgesehen werden. Die Ausformulierung eines solch komplexen Bezugssystems würde eine (Un-)Menge an Text produzieren, ohne dabei ein vertieftes und
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deutendes Verständnis der Untersuchung zu gewähren. Nicht zuletzt deswegen wurde die untenstehende Darstellungsform gewählt. Die Schlussfolgerungen aus diesen beiden Bezugs- und Bedeutungsnetzen werden für den im nächsten Kapitel vollzogenen interpretativen Zugang aufgegriffen und dargelegt. Zuvor möchte ich aber eine Reflexion der gesamten Feldforschungszeit (inkl. ›Meilensteine‹ im Auswertungsprozess) bieten (vgl. Kap. 4.6). Tabelle 6: Zusammenführung. Wohnsituation zum Zeitpunkt des ersten Gesprächs: in der früheren Wohnung
bereits im Wohnheimzimmer, bereits im Heim, aber noch Eigentumswohnung/ Haus noch nicht im späteren Zimmer, vorhanden Wohnung wird/ ist schon aufgelöst
Herr Seiler
Herr Richter
Frau Berger
Frau Schwarz (Pflegebereich)
Frau Lindner (Gästeappartement)
Schwiegersohn und Enkel, Tochter verstorben
Keine Kinder, keine lebenden Geschwister
2 Töchter
1 Tochter
selber/ Altenheim
Töchter (eine aktiver)
Tochter
Frau Kaiser
Nächste Angehörige: 1 Sohn, 2 Töchter
1 Sohn
Wer organisiert den Umzug hauptsächlich? Kinder
Schwiegertochter (Räumung: mit Sohn und Enkel)
selber (/bedingt Lebensgefährtin)
Ungefähre Umzugsdauer (= von Platzzusage bis zur leeren Wohnung): 1 Monat
1 Monat
min. 2 Jahre
über ½ Jahr
1 Monat
1 Monat
selber (da keine andere Wahl, s.o.); wenig engagiert
selber (da keine andere Wahl, s.o.); engagiert
Tochter; nach Absprache
Tochter; wenig Absprache
Angehörige & Räumung
Angehörige & karitative Einrichtung
Wer wählt vornehmlich aus? Kinder und Herr Seiler selber; Herr Seiler wenig engagiert
Fr. K. selber; engagiert
Was geschieht mit der Mehrzahl der restlichen Dinge? Angehörige & Müll
Angehörige & Räumung
bleiben im Haus
werden verschenkt
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Zu Tabelle 6: Diese erste Tabelle listet die faktischen Rahmenbedingungen auf und ermöglicht das Aufsuchen prinzipieller Ähnlichkeiten zwischen den einzelnen Fällen. Grundlegende Gruppierungsmöglichkeiten und Regeln zeichnen sich ab. So kann man erkennen, dass bei Herrn Richter und bei Frau Berger das eigene Haus/die Eigentumswohnung auf der einen Seite und das Fehlen (greifbarer) Angehöriger auf der anderen Seite mit einer langen Umzugsdauer in Verbindung stehen. Zudem sehen beide davon ab, ihre Wohnung räumen zu lassen und vermeiden es, Dinge wegzuwerfen. So kann die folgende Tabelle auch bezüglich anderer Kriterien und Personen Ähnlichkeiten und Zusammenhänge deutlich machen und führt die sechs individuellen Fälle zusammen. Zu Tabelle 7: Die zweite Tabelle baut auf der ersten auf und führt über diese hinaus. Sie bildet die systematischen und konzeptuellen Zusammenhänge ab und legt eine Gruppenbildung entsprechend der Haltung der Senioren gegenüber dem letzten Umzug im Allgemeinen und den Dingen im Speziellen nahe. Bezeichnender Weise stimmt diese, wie bereits erläutert, mit der aufgrund anderer Erwägungen gewählten Anordnung des Haupttextes überein (vgl. Kap. 4). Die am rechten Rand angegebenen, vertikalen Kodierungen der Tabelleninhalte, die sich auf die fett hervorgehobenen Textteile in den mittleren Spalten beziehen, zeigen ähnlich gelagerte Sicht- und Zugangsweisen auf. Hierbei wird deutlich, dass alle Senioren den Weg der größtmöglichen Contenance zu gehen versuchen. Der Situation wird gewiss nicht immer mit Demut begegnet, oft verbissen, voll Wut oder einfach, indem man es sich verbietet, hinzusehen und daran zu denken, wie Herr Richter es so oft betont. Es aber hinzunehmen, das scheinen alle sich selbst schuldig zu sein. Dies gelingt, so lässt es mich das Material nachzeichnen, in den jeweiligen Zweiergruppen der zweiten besprochenen Person besser als der ersten (also z.B. Frau Kaiser besser als Herrn Seiler) und in Bezug auf das ganze Sample der ersten Gruppe besser als der letzten; folglich Frau Kaiser am besten, Frau Berger am wenigsten. Wie sich dies in den jeweiligen Mensch-DingBeziehungen äußert und was es für den Umgang mit den Dingen mit sich bringt, wird in Kapitel 4 besprochen.
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Dinge sind…
unberührt, teilweise wütend
die Kinder nehmen, möglichst alle wegkommen
einfach da, LAST, für ihn nicht (mehr) bedeutend
aktiv
bis zu einem gew. Punkt stark wahrgenommen
teils engagiert, teils unberührt,
von ihr ausgewählt sein, übrige sollen wegkommen
einfach da
gezwungenermaßen wahrgenommen, so wenig wie möglich gestaltet
distanziert (obwohl »seine Sache«), ruhig
nach Nützlichkeit ausgewählt sein, sinnvoll/ rational versorgt sein
austauschbar, aber auch LAST (»Man darf nicht daran denken«)
passiv
nicht wahrgenommen
distanziert (da nicht »ihre Sache«),
von Tochter ausgewählt werden
austauschbar
ANDERE PRIORITÄTEN
aktiv
gezwungenermaßen wahrgenommen, so wenig wie möglich gestaltet
stark engagiert, wird problematisiert, Trotz, Trauer, zunehmend bemüht um Akzeptanz
möglichst alle bleiben
wichtig, »ihr Leben«, verloren
teils aktiv, vorwiewiegend passiv
wenig wahrgenommen
widerwillig, depressiv, zunehmende Akzeptanz
versorgt sein (nach Gutdünken der Tochter)
wichtig, aber nicht mehr im richtigen Kontext
sich losreißen
H. Seiler Fr. Kaiser Fr. Schwarz
H. Richter
aktiv
Fr. Berger Fr. Lindner
ANDERE PRIORITÄTEN
sich arrangieren
Dinge sollen…
passiv und wenig wahrgenommen
sich trennen
Haltung gegenüber dem Umzugsprozess ist…
aktiv
Möglichkeit selber auszuwählen besteht…
Möglichkeit selber auszuwählen wird…
Tabelle 7: Systematisierung.
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Die in Kapitälchen abgedruckten Begriffe verweisen auf die Möglichkeit, den Umgang der Senioren mit ihren Dingen auch quer zu den drei hier gebildeten Gruppen miteinander zu vergleichen. Dem wird in Kapitel 5 nachgegangen.
4.6 F ELDREFLEXION : D AS L EBEN
DER
ANDEREN
In Kapitel 3 wird erläutert, mit welchen Mitteln das Forschungsdesign und die Methoden der ›Feldrealität‹ im Laufe der empirischen Untersuchung angepasst wurden. Auch ist die Interaktion zwischen mir als Forscherin und den Senioren, ihren Angehörigen und anderen Beteiligten, dem ›Feld‹ also, sowohl im methodologischen Part als auch in den Fallstudien immer wieder zur Sprache gekommen. In diesem letzten Abschnitt des empirischen Teils sollen die von mir aus den einschlägigen Werken vielfach aufgegriffenen Forderungen nach methodischer Reflexion auf einer weiteren Ebene erfüllt und das zuvor Dargelegte inhaltlich erweitert werden. Denn der Aspekt der Wahrnehmung des jeweils anderen Gesprächspartners, die Frage nach der Interaktion zwischen mir und den Senioren, den beiden Hauptakteuren dieser Untersuchung, ist auf der ganz basalen zwischenmenschlichen Ebene bisher nur unzureichend betrachtet worden. Und das, obwohl einem das Gegenüber, mit dem man sich auseinandersetzt, mit dem man spricht, dem man zuhört, der einen in sein Leben lässt und der Teil des eigenen Lebens wird, zuallererst als Mensch, nicht als Forscher, nicht als Experte und nicht als Betroffener, gegeben ist. Das Folgende stellt eine Beschreibung jener Umstände dar, die, wie in Kapitel 3.3 nachzulesen, einen indirekten Einfluss auf die Methodik hatten. Diese abschließende Betrachtung soll nicht als methodengenerierende Reflexion verstanden werden, sie ist vielmehr eine Selbstbeobachtung der beobachtenden Teilnehmerin, der Forscherperson also. In meinen Forschungsnotizen ist nach dem zweiten Gespräch mit Frau Lindner folgende Passage zu lesen: »Frau Lindner freut sich über die Gespräche sehr und mehr als andere Senioren aus dem Heim stellt sie mir, ähnlich wie Frau Berger, viele Fragen. Wie schon bei Frau Berger scheint mir auch hier, dass diese gleichberechtigte Konversation eine Kondition sine qua non für das ›Preisgeben‹ der erfragten Informationen ist. Alle Ge-
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sprächspartner wollen mehr Einzelheiten als gedacht zu meinem Projekt und meiner Person wissen, und ich bemerke, wie das Sprechen darüber dazu beiträgt, dass sich ein Vertrauensverhältnis ausbildet. Diese beiden Damen sind aber an einem tiefergehenden Austausch interessiert. Es scheint, als denken sie Sympathie in Richtung gleichberechtigter Freundschaftsbeziehungen. Beinahe mehr als mir lieb, wird die Unterhaltung mit Frau Lindner zu einem ›Gespräch von Frau zu Frau‹, dreht sich um meine Schwangerschaft und um Frau Lindners Tochter, Enkel und Urenkel.«
Was sich zu diesem Zeitpunkt noch als ein erster, wenig erschlossener Eindruck darstellte, sollte im weiteren Verlauf bestimmend für meine gesamte Feldforschung werden. Ich hatte bereits geschildert, dass ich zunehmend einen Wandel im Verhalten meiner Gesprächspartner ausmachen konnte, als meine damalige Schwangerschaft sichtbar wurde und wir begannen, uns genau darüber zu unterhalten. Danach erst eröffneten mir die Senioren Zusammenhänge, die es mir erlaubten, den zuvor beobachteten Umgang mit ihren Dingen tiefergreifend zu verstehen. Da man aber nicht jeder Feldforscherin, und schon gar nicht jedem Feldforscher, empfehlen kann schwanger zu werden, nur um tiefere Einsichten in ihren Untersuchungen zu erlangen, stellt sich die Frage, welche allgemeinen Aussagen die konstatierten Veränderungen erlauben. Dazu ist es sinnvoll, eine Vorher-NachherBeschreibung der Situation zu geben. Anfänglich bemühte ich mich, forschungstechnisch immer gleich vorzugehen und hatte letztlich auch immer das gleiche Problem: Die Aufzeichnungen in meinem Notizblock waren spannend, aber nicht aufschlussreich über die Beweggründe der Senioren, manche Dinge derart radikal hinter sich zu lassen, wie in fünf der sechs Fälle beobachtet. Meine Gesprächspartner zeigten sich freundlich, aber nicht offen, und mir gelang es zuweilen kaum, das Gespräch zu lenken. Die Unterhaltungen begleitete aber meinerseits das Gefühl, lästig zu fallen und trotz aller Explikationen meiner Absichten nicht die Position der in den Augen der Senioren sinnlos Fragenden ablegen zu können. Ich hatte natürlich ausführlich und ungefragt über Hintergrund und Absicht meiner Forschung aufgeklärt und auch persönliche Fragen offen beantwortet. Ich musste aber feststellen, dass meine Auskunftsbereitschaft über den Grund, aus dem ich mich für ihren letzten Umzug interessierte, den Senioren kaum Motivation gab, mehr als meine Anwesenheit zuzulassen. Fragen und Nachfragen wurden oft unberührt oder ausweichend beantwortet.
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Freilich wusste ich um »Verständigungsschwierigkeiten im Feld«, wie sie beispielsweise der Volkskundler Utz Jeggle (1984) in seinem so betitelten Aufsatz plastisch darlegt. Er illustriert an zehn Beispielen, wie und warum Informanten sich ihm – mal mehr, mal weniger offensichtlich – entzogen, manchmal sogar verweigert hatten. Jeggle zeigt damit die Uneindeutigkeit auf, die wissenschaftliches Arbeiten zu vermeiden versucht und die gleichzeitig ein konstituierendes Moment zwischenmenschlicher Begegnungen ist. Folgerichtig fordert er, Forschung stets auch als ein solches Zusammentreffen zu sehen und betont, dass »Feldforschung […] nicht nur mit der Entdeckung einer neuen Umwelt, sondern auch mit der Erfahrung von mir in dieser Umwelt zu tun« hat (Jeggle 1984: 112). Als ich bemerkte, dass mit dem Sichtbarwerden meiner Schwangerschaft meine Forschung einen unverhofften Aufschwung erfuhr, begann ich unweigerlich, mich mit meiner Rolle im Setting intensiver auseinanderzusetzen. Zwei Aspekte konnte ich dabei als bedeutend isolieren. Zunächst einmal verweist der Umstand, durch den die Veränderung hervorgerufen wurde, auf die Relevanz der »Leibhaftigkeit in der ethnologischen Forschung«, die Judith Schlehe in einem Aufsatz aus dem Jahr 1996 behandelt. Sie fordert eine Reflexion der Fremd- und Eigenwahrnehmung der Körperlichkeit des Forschers und plädiert für die Aufnahme des Aspektes der »leiblichen Erfahrung« in den Kanon der diskutierten Einflüsse auf das Feld: »[…] es wäre generell angebracht, Reflexionen über die Subjektivität von Forschenden und über die ihre Wahrnehmung und Wissensproduktion leitenden Bedingungen auch die leibliche Erfahrung einzubeziehen. Situiertes Wissen, im Sinne von Haraway, heißt dann nicht nur die Sicht auf einen Körper, der als Agent und Akteur mit Bedeutung verknüpft ist, sondern auch die Sicht von einem Körper aus.« (Schlehe 1996: 460)
Zweitens erschien mir sinnvoll, danach zu fragen, was, auf einer übergeordneten Ebene betrachtet, dazu geführt hat, dass meine veränderte Leiblichkeit etwas in der Haltung der Senioren mir gegenüber geändert hatte. Wichtig ist festzuhalten, dass nicht etwa die Distanz, welche die Senioren zu den Dingen in meinem Beisein einnahmen, überwunden wurde. Vielmehr legte mein jeweiliges Gegenüber eine neue Bereitschaft an den Tag, mir zu erklären, warum diese distanzierte Position gewählt wurde und ver-
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ringerte somit auf kommunikativer Ebene den Abstand zu mir. Natürlich hatte sich keiner der Senioren dazu geäußert, warum der Umstand, nun mit einer Schwangeren zu sprechen, zu einer neuen Art des Umgangs mit mir führte. Ich bemerkte, dass Frau Berger von Anfang an einen derartigen Umgang an den Tag gelegt hatte und dass Herr Seiler, ohne bemerkt zu haben, dass ich schwanger war, ebenso an diesen Punkt gelangte. Es musste also in den meisten Fällen eine Erweiterung des Vertrauens zwischen mir und meinen Gesprächspartner stattgefunden haben, die in einer bestimmten Form in Zusammenhang mit meiner veränderten Apparenz zu bringen ist. Was aber ist es im Allgemeinen, das eine offene Art dem Gegenüber, also in diesem Fall dem Forschenden, zu begegnen befördert? Anhand einer Analyse meiner Zugangsmöglichkeiten zu den beiden gerade erwähnten Personen im Verlauf der Forschung möchte ich im Folgenden aufzeigen, was sich auf einer übergeordneten Ebene verändert hatte und den Begriff der ›verstehenden Teilhabe‹ einführen. Herr Seiler betonte stets, wie wenig ich wohl mit seinen Dingen und seinen Geschichten darüber anfangen könne. Erst nach und nach, als er bemerkte, dass einige der Orte und Ereignisse, über die er sprach, mir vertraut waren, begann er mich stärker als gleichwertige Gesprächspartnerin zu behandeln. Das bloße Fragen um der Neugier oder der Wissenschaft willen war nicht ausreichend gewesen. Im letzten Gespräch konnte er besser als im ersten einschätzen, mit wem er es zu tun hatte: Wir hatten uns viel über aktuelle und historische Ereignisse unterhalten. Er hatte sich ein Bild davon machen können, wer ihm, jenseits der Doktorandin, Fragen stellte. Seine nahezu einschüchternde Verweigerungshaltung, die er anfangs in den Gesprächen einnahm, änderte sich dadurch, dass er merkte, mir sind einige Belange, die ihn betrafen, geläufig. Selbstverständlich kann ich das Wenigste von dem, was er erlebt hat, aus eigener Erfahrung nachvollziehen. Aber ich habe einige der Orte, die für ihn bedeutend waren, aufgesucht. Ich kenne ein paar russische Wörter ‒ in diesem Fall waren es genau die richtigen ‒ und habe, wenn auch nur durch ein paar Jahre in meiner Kindheit, das Leben in einem vom Kommunismus geprägten Staat erfahren. Das zeichnete mich für ihn als eine Gesprächspartnerin aus, die teilnehmen konnte an dem, was er zu berichten hatte, und ließ ihn sich mir gegenüber mehr öffnen. So durfte ich am Ende unseres ersten Gesprächs seine selbst entworfene Anekdote zum Londoner Souvenirteller aus Fernost hören. Damit war eine erste Ebene erreicht, auf der das Vertrauen zwischen mir und meinem
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Gesprächspartner durch verstehende Teilhabe, wie ich es nennen möchte, an den Erfahrungen des Anderen konstituiert wurde und nicht etwa durch ein asymmetrisches Verhältnis wie fachliche Kompetenz oder versierte Fragetechniken. Ganz anders als Herr Seiler wirkte Frau Berger auf mich. Sie hatte sich stets sehr betroffen und berührt von ihrem Umzug gezeigt und sich mir von Beginn an diesbezüglich anvertraut. Wenn man aber die Einträge über unsere Begegnungen im Forschungstagebuch liest, wird ersichtlich, dass die Voraussetzung für ihre Offenheit auf denselben Prinzipien wie bei Herr Seiler basierte, auf verstehende Teilhabe an ihrer individuellen Geschichte. Frau Berger stammte aus Rumänien und sprach nach wie vor schlecht Deutsch. Dem Zufall, dass auch ich in Rumänien geboren bin und die Landessprache gut beherrsche, ist zu verdanken, dass wir uns ungehindert unterhalten konnten. In unseren Gesprächen war unser beider Herkunftsland auf vielen Ebenen ein Thema und Frau Berger stellte mir zahlreiche Fragen bezüglich meiner Einschätzung der Unterschiede zwischen Deutschland und Rumänien sowie zur gesellschaftlichen und politischen Entwicklung im Osten. Die uns gemeinsame Herkunft schien für sie sogar Grund zur Annahme zu geben, ich begriffe in besonderem Maße, was sie mit ihren Dingen verband und was es für sie bedeutete, diese wegzugeben. Die im Grunde zufällige Fügung war ein wiederkehrendes Motiv, wenn es darum ging, über ihre Sachen und den für sie so schmerzhaften Verlust der eigenen Dinge, für dessen Notwendigkeit sie wenig Verständnis aufbrachte, zu sprechen. Frau Berger irrte nicht in der Annahme, dass ihre Argumentationsmuster mir aus meinem Umfeld vertraut waren. Sie verlangte keine Zustimmung von mir, sondern ging davon aus, ich könne ihre spezifische Sichtweise nachvollziehen. Ähnlich wie Herr Seiler, dem es darauf ankam, dass das, was er mir erzählte, nicht des Erzählen willens bedeutend war, sondern aufgrund des Inhalts. Das Verständnis für ein Objekt, und vielleicht auch für dessen Besitzer, bedarf nicht nur des Interesses an seiner Geschichte, sondern auch eines tieferen Verständnisses für deren Inhalt. Eine solche Sichtweise widerspricht natürlich dem Ansatz einer modernen qualitativen Forschung, wie sie vornehmlich in soziologischen Lehrbüchern dargelegt wird: Da geht es um das Erzählen-Lassen, um die gleichwertige Relevanz einer jeden Geschichte, unabhängig von der Lebensnähe des Forschers zu deren Inhalt und um die Bedeutung des Erzählens an sich. Die Schwierigkeiten, den Konsens über das, was Wissenschaft ist oder sein
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soll, in der Forschungspraxis umzusetzen, sind lange bekannt. Schon vor fast 30 Jahren haben Jutta Dornheim und Wolfgang Alber, die zusammen an dem Forschungsprojekt »Heilkultur und Krebs« über den Umgang mit Krebserkrankung forschten, diese Probleme auf eine eindrucksvolle Weise thematisiert. Über ein Interview mit einer ehemals krebskranken, brustamputierten Frau berichtet Jutta Dornheim (1984) und reflektiert dabei, wie unbedachte Aussagen, die ungeahnt das Gespräch in eine betretene PattSituation führen, das Aufbrechen starrer Methoden fördern (ebd.: 149ff.). Alber (1984) erzählt von seinen Erfahrungen bei den Interviews mit Krebspatienten, die in Kliniken lebten. Was er über die Schwierigkeiten der »Samplerekrutierung«, und damit, den »Zugang zum Feld« zu finden, berichtet, sowie über den Kampf um eine adäquate Methodologie, die sich immer ein Stück zu weit von den etablierten Ansätzen wegzubewegen droht, lässt sich erkenntnisfördernd mit der Methodendiskussion aus dieser Studie (vgl. Kap. 3) zusammenführen. Eine Passage aus Albers Reflexion scheint mir darüber hinaus für die hier verfolgte Argumentation besonders spannend: »Da saß ich, in den Augen meiner Interviewpartner ein junger Mann, dem die Erfahrung des Krieges, der Not, des beruflichen Ausgebranntseins und dann auch dieser Krankheit fehlte und versuchte, eine Verständigungsebene zu finden, die es in der Form des Lehrbuches nie geben konnte.« (Alber 1984: 118)
Albers reflektiert sich in seiner Rolle als »junger Mann«, der in seiner Erlebnis- und Erfahrungswelt, bei aller Empathie, denkbar weit weg ist von dem realen Schicksal seiner Gesprächspartner. Ähnliches begann ich auch bei meiner Forschung zu begreifen, als mir klar wurde, dass jede Frage nach dem Verbleib eines Gegenstandes im Kontext des letzten Umzugs, nach dem dafür vorgesehenen Schicksal, zu einem Verweis auf das Ende aller Dinge, auf den Tod, werden kann. Die unberührte, stoische oder sachliche Antwort oder Grundhaltung meiner Gesprächspartner sollte mich darüber hinwegtäuschen; doch wie sich zeigte wird jeder, der seine Wohnung ausräumt, um in ein Altenheim zu ziehen, sich seiner eigenen Vergänglichkeit in hohem Maß eben durch sein Tun bewusst. Einmal vor Augen geführt, so wie durch Frau Lindners Tochter bezüglich der Wohnalben, setzte bei mir ein Verstehensprozess ein, der mir nach und nach verdeutlichte, dass mein Gegenüber eine Rechtfertigung verlangt für das Eindringen in
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sein (Gefühls-)Leben. Vielleicht ist dieses Bedürfnis besonders ausgeprägt bei Menschen, die am Ende ihres (langen) Lebens stehen, weil sie wissen möchten, mit welchem Recht man sie damit konfrontiert. Auf die Fragen einer (jungen) Forscherin zu antworten und damit zu wissenschaftlichem Erkenntnisgewinn beizutragen, ist in den Augen der Gefragten nicht zwingend ein triftiger Grund, um aufwühlende Emotionen zuzulassen oder zuzugeben. Forschungsfragen haftet immer etwas Steriles und Starres an. Fragen, besonders über das eigene Leben, Leiden oder Lieben, beantwortet man eher jemandem, dem man zutraut, mit dem erfragten Wissen nicht nur objektiv protokollarisch, sondern auch verstehend und emphatisch umzugehen. Der Umstand, dass ich schwanger war, führte selbstverständlich nicht zwangsläufig dazu, dass ich meinen Gesprächspartnern mehr Empathie entgegen brachte, auch konnte ich dadurch ihre Lage oder Lebensgeschichte nicht besser verstehen. Vielmehr bot sich andersherum, also für die Senioren, aber die Möglichkeit, an meiner momentanen Situation teilzunehmen. Im Austausch für die Einblicke in ihre Biographie erhielten sie Einblicke in die meine. Um diese anzubieten oder einzufordern, bedarf es keiner Schwangerschaft. Das Spezifikum der Schwangerschaft lag lediglich darin, dass ihre Sichtbarkeit einen Übergang von meinen Fragen zu Fragen über mich jeder Zeit ermöglichte, durch die ständige physische Anwesenheit eines möglichen Gesprächsthemas. Doch die neue Haltung der Senioren mir gegenüber deutete auch darauf hin, dass meine veränderte Leiblichkeit zugleich etwas über mich aussagte, was den Senioren das Gefühl gab, ich könne auch sie besser verstehen. Manche fühlten sich an ihre Töchter oder Frauen erinnert, andere an sich selbst. Für wieder andere schien es bedeutsam, zu sehen, dass neues Leben entsteht. Vielleicht war die Kernaussage, die sie durch den Anblick einer schwangeren Forscherin erhielten, dass vor ihnen ein Mensch stand, der sich nicht (nur) dadurch auszeichnete, dass er seinen Platz in der Gesellschaft und im Berufsleben erstrebte, sondern auch dadurch, dass er das Menschsein selbst annimmt und Verantwortung für das eigene Leben und das anderer schultert. Biographische Forschung rückt oft Menschen am Ende ihres Lebens in den Blick und vice versa ist Forschung mit Menschen am Ende ihres Lebens immer in gewissem Sinne Biographieforschung. Umso verwunderlicher, dass in den einschlägigen Werken die spezifischen Bedürfnisse der Befragten wenig zur Sprache kommen oder kaum als solche erkannt wer-
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den. Ein Beispiel: Im Jahr 1984 erscheint das Buch »Biographische Forschung« von Werner Fuchs, im dem der Autor in ein paar Sätzen langwierige »moralische Appelle« an »die jungen Leute« bei Interviews mit älteren Personen problematisiert (1984: 242). Überlegungen zu Anliegen, Berechtigung oder der aus der Perspektive der Älteren empfundenen Notwendigkeit solcher Appelle wurden, auch in den neuen Auflagen, nicht angestellt. Der Tenor des knappen Absatzes ist stattdessen: Wie anstrengend, wenn das Feld nicht akademisch auf die Fragen der Akademiker antwortet! Dieses und ähnlich gelagerte Bücher werden bis heute in Neuauflagen weiterhin als Standardwerke rezipiert. Im Grunde ist also durch Fuchs zu einer Zeit, in der Dornheim und Albers sich für ihre Bemühungen um eine feldadäquate (und dadurch unkonventionelle) Methodik rechtfertigen müssen, bereits erkannt worden, dass eine Spezifik und Eigenlogik in der empirischen Forschung besteht, die mit dem Sample zusammenhängt. Die Konsequenzen und Reaktionen sind – weiterhin – mehr als inadäquat: Die »Methodenfüchse« (Alber 1984: 118) haben sich in den letzten 30 Jahren nur unzureichend Gedanken gemacht über Feldsituationen, in denen das bevorstehende Ende des Lebens in jedem Satz, ganz gleich auf welcher Seite er fällt, im Anliegen der Forschung selbst, im Wiedersehen und im Verabschieden der Gesprächspartner immer einen, wenn auch zumeist stillen, Platz findet. Ein (überraschendes) Desiderat, wenn man bedenkt, wie weit fortgeschritten und erkenntnisreich die quantitative Altersforschung nicht zuletzt aufgrund der demographischen Entwicklung inzwischen ist (vgl. Kap. 2.3). Von den ethischen Prinzipien, wie Spradley (1979) sie formulierte, und denen man als Forscher zweifelsohne verpflichtet ist, war bereits die Rede. Aus diesem Zusammenhang stammt auch der Satz »Informants are human beings with problems, concerns, and interests« (Spradley 1979: 34). Er fordert, »consider informants first«, »safeguard informants« rights, interests, and sensitivities«, »communicate research objectives«, »protect the privacy of informants«, »don’t exploit informants«, sowie »make reports available to informants« (Spradley 1979: 34ff.). Im Fall eines Samples wie des hier vorgestellten, müssen Überlegungen zur Spezifik und Eigenlogik der mit den Informanten geführten Unterhaltungen erweiternd dazu genommen werden. Respekt dem Gesprächspartner gegenüber zu zeigen, bedeutet bei der Forschung mit alten Menschen, deren Lebenserfahrung und ihre inzwischen stark verfestigten Eigenheiten zu würdigen. Nachfragen,
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die bei einem anderen Sample sicherlich hartnäckiger hätten gestaltet werden können, um besser nachzuvollziehen, nach welchen Kriterien Entscheidungen getroffen und wodurch Handlungen motiviert worden sind, müssen hier der so-ist-es-nun-mal-Argumentation weichen. Am Ende des Lebens ist vieles wie es ist und ein (Hinter-)Fragender muss bedenken, dass die durch das detaillierte Erklären einsetzende Reflexion für den Antwortenden verstörend, aufwühlend und verunsichernd sein kann. Eine Person, die damit befasst ist, ihrem eigenen Tod zu begegnen, darf in der Umsetzung der selbst gewählten Strategie nicht ins Wanken gebracht werden. Hinzu kommt, dass die Fragen nach der Bedeutung der eigenen Dinge Fragen nach dem (für den Gefragten) Selbstverständlichen sind (vgl. Kap. 5.1). Manchmal ist ein Objekt schlichtweg wichtig und, wie im Fall der Wandteller von Herrn Richter, ein anderes, ähnliches, eben nicht. Die Frage nach dem ›Warum‹ läuft dann ins Leere, besonders wenn die Antwort das eigene Sein mitbetrifft. »Das ist eben so«, verweist direkter als erwartet (und vom Forschenden erwünscht), auf »ich bin eben so«, wenn das (So-)Sein des Ichs zu seinem Ende kommt. Albers und Dornheims Erfahrungen bei der Forschung mit Krebspatienten sind gute Beispiele dafür, wie der Vorsatz, ein narratives oder anderes definiertes Interview zu führen, scheitert, wenn das zu Schildernde so weit reichende, existenzielle Folgen hat, dass es bei Aufforderung kaum in Worte zu fassen ist. Auch sind, der Dortmunder Soziologin Ivonne Küsters folgend, gewisse Kriterien notwendig, um die narrative Reproduktion einer Situation zu gewährleisen. Dazu gehören die Involvierung des Informanten in den Vorgang sowie ein prozesshafter Charakter des selbigen (Küsters 2006: 31). Die Selbstpositionierung der Senioren und ihre Wahrnehmung der Vorgänge haben vermutlich mit dazu geführt, dass ein reflektiertes Sprechen über den Umgang mit den Dingen beim letzten Umzug vielfach nicht möglich war. Die Senioren setzten alle auf ihre Art durch, was Herr Richter forderte, wenn er immer wieder sagte: »Man darf nicht daran denken.« Hier wird verweigert, was Voraussetzung für konkrete Antworten auf gezielte Fragen ist: Eine Situation nicht nur zu durchleben, sondern auch, sie reflektiert zu erleben. Wie aber soll man eine Situation bewusst erleben, die man gar nicht erleben möchte – oder sollte, so wie sich Frau Lindner bei unserem ersten Gespräch äußerte. Zudem: der bevorstehende eigene Tod ist nicht ex post reflektierbar. Das ganze Sein eines Individuums wird gleich-
»…
DAS ALLES KOMMT WEG!«
– E MPIRISCHE F ALLSTUDIEN | 211
sam in dessen Sterben vereint: Man ist nie derart unausweichlich und ganz und gar bei sich wie im Moment seines Todes. Die Bedürfnisse des Gesprächspartners müssen zur obersten Instanz bei der Wahl der Methoden erhoben und seine Selbstwahrnehmung respektvoll berücksichtigt werden. Wissenschaftliches Arbeiten zeichnet sich nicht in erster Linie durch das Streben nach den längst als Mythos enttarnten Idealen wie Neutralität, Objektivität oder Allgemeingültigkeit aus. Vielmehr ist eine dem Untersuchungsgegenstand angepasste und auf vielfachen Ebenen reflektierte Methode die Voraussetzung für präzise und differenzierte Aussagen, deren innere Logik durch die Ausführungen des Forschers überprüfbar wird (Jeggle 1984: 112). In dieser Form erlangte Aussagen sind es, die Wissenschaft als solche ausmachen. Wer im Austausch mit Menschen forscht, muss bereit sein, sich selbst als Mensch einzubringen.
5. Dinge und Relevanzen: Ein interpretierender Zugang Wer will sagen, was ist? Wer will die Dinge mit ihrem Werte kränken? RILKE 1973: 131
Wie sieht das Bild aus, das man vor Augen hat, wenn man an den Umzug eines nahestehenden Angehörigen ins Altenheim denkt? Stellt man sich dabei vor, dass die Person kaum etwas mitnehmen möchte? Oder würde man eher denken, dass sie an vielen, in unseren Augen womöglich zu vielen, Dingen festhält? In den vorhergehenden Kapiteln wurde beschrieben, dass der Großteil der Gegenstände, die in den Haushalten der Menschen, die ich beim Umzugsprozess begleitet habe, zu finden waren, einen anderen Weg als ihre Besitzer gegangen ist. Dennoch wurde mitunter aus der Perspektive Dritter die Auswahl als zu üppig oder nach falschen Kriterien getroffen angesehen. So verwies Herr Richters Lebensgefährtin auf die beschränkten Platzverhältnisse, als er auf die Mitnahme seiner Wandteller bestand – obwohl sie wusste, dass die drei Stücke ihm viel bedeuteten. Gleichzeitig legte sie ihm nahe, ein Stofftier einzupacken, das er von ihr geschenkt bekommen hatte. Auch erinnerte sie ihn wiederholt daran, Sitzmöbel nicht zu vergessen, für die der Platzbedarf im Raum deutlich höher war als für Wandteller, deren praktischer Nutzen aber aus ihrer Sicht als Besucherin natürlich stärker ins Auge fiel. Auch Frau Teck äußerte sich verständnislos über die Auswahlkriterien ihrer Schwiegermutter. Dass Frau Kaiser einerseits schöne, erinnerungsträchtige und wertvolle Haushalts- und Dekorgegenstände verschenkte oder nicht mitnahm, andererseits aber viele aus Sicht ihrer Schwiegertochter überflüssige Gegenstände auswählte, mag
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an ihrer abnehmenden geistigen Leistung gelegen haben. Dennoch kann, dieser Aspekt, wenn überhaupt, nicht als einzige Erklärung dienen: Frau Kaiser hatte bei der Konfrontation mit Dingen aus ihrem alten Besitz, die als biographische Objekte gelten könnten, ihre Entscheidung, sie zurückzulassen, nicht revidiert. Vielmehr beteuerte sie wiederholt, nichts zu vermissen. Tatsächlich treten, wie in der nun folgenden Schlussbetrachtung gezeigt werden soll, im Zusammenhang des letzten Umzuges Aspekte zu Tage, welche den Bezug zu den eigenen Dingen auf unerwartete Art neu gestalten. Die Aussage, nichts mitnehmen zu wollen, ist die vielleicht größte Überraschung, die ich im Lauf meiner Forschung erlebt habe. Sie ist schockierend, sowohl für mich als auch für die Angehörigen, wie bei Herrn Seiler zu sehen war. Seine Tochter relativierte sofort seine Äußerung, betonte, das sei so nicht richtig – dennoch bekräftigte Herr Seiler seine Haltung immer wieder. Wie ist das zu verstehen? Welche Parameter und Bewertungsmuster greifen, wenn von ›nichts‹, ›viel‹ oder ›zu viel mitnehmen‹ die Rede ist? Welche Rolle spielen Kriterien wie Nützlichkeit, Pragmatismus, ideeller Wert und Erinnerungsfunktion bei der Auswahl der Dinge? Den Antworten auf diese Fragen soll sich im vorliegenden abschließenden Kapitel durch eine verstehende Deutung der empirischen Forschung genähert werden. Die sechs vorgestellten Fallstudien sind in den Kapitel 4.1 bis 4.4 in drei Gruppen gegliedert, in denen je zwei Personen einander gegenüberstehen. In einer ersten Auswertung (vgl. Kap. 4.5) konnten innerhalb jeder Zweiergruppe eine ähnliche Haltung zum bevorstehenden Umzug und dadurch analoge Strategien im Umgang mit den Dingen aufgezeigt werden. Zunächst wurden stets jene Personen behandelt, bei denen sich die Praktiken im Umgang mit den Dingen als vergleichsweise fragile Aushandlungsgesten der Mensch-Ding-Beziehung darstellten (Herr Seiler, Herr Richter und Frau Berger). Die Senioren, die souveräner bei der Umsetzung des jeweils für sich gewählten Zugangs vorgingen (Frau Kaiser, Frau Schwarz und Frau Lindner) sind ihnen gegenübergestellt. Die Anordnung der Gruppen selbst erfolgte nach der (emotionalen) Intensität, mit der die Personen – besonders jene, bei denen sich die verfolgte Strategie als problematisch darstellte – in Austausch zu ihren Dingen traten (vgl. Kap. 4.1-4.4). Somit ergibt sich eine Klimax von ›sich arrangieren‹ über ›sich trennen‹ bis hin zu ›sich losreißen‹.
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Für die nun folgende abschließende Betrachtung wird dieses Ordnungsschema wieder aufgegriffen und gleichsam erweitert. Ziel ist es, die sechs Einzelfallstudien auch synchron in einer Art Querschnitt zu betrachten, der sich an den drei Phasen des Umzugs (vor, während und danach) orientiert. Diese sind damit bei der Gliederung des folgenden Kapitels maßgebend. Damit ergibt sich eine Korrespondenz sowohl zur formalen Struktur als auch zum Inhalt des Literatur- und Theorieteils, so dass sich eine Verflechtung des empirisch Erarbeiteten mit dem theoretisch Abgeleiteten Schritt für Schritt realisieren lässt. Die nachfolgende Tabelle stellt dar, wie dieser Querschnitt durch die Fallstudien mit den literaturgestützten Überlegungen für den im vorliegenden Kapitel formulierten interpretativen Zugang zusammengeführt wurde. Tabelle 8: Gliederungsschema des interpretierenden Teils. Empirie
Vor dem Umzug
Während des Umzugs
Nach dem Umzug
Theorie
Alltagsdinge zwischen habituellem Symbol u. persönlichem Wert: Kulturell vermittelte Bedeutungssysteme und biographische Objekte (vgl. Kap. 2.1)
Stofflichkeit und Leiblichkeit: Perzeption, Aneignung und Eigensinn der Dinge (vgl. Kap. 2.2)
Wohnen: Leben mit, unter und in Dingen (vgl. Kap. 2.3)
Interpretativer Zugang
Bedeutung und Bedeutungslosigkeit der Dinge (vgl. Kap. 5.1)
Potenzial und Ambivalenz der Mensch-DingBeziehung (vgl. Kap. 5.2)
Wohnen nach dem letzten Umzug (vgl. Kap. 5.3)
Die durchbrochenen Trennlinien zwischen den Umzugsphasen zeigen an, dass hier keine scharfen Abgrenzungen möglich sind ‒ besonders in Fällen wie beispielsweise dem von Herrn Richter: dieser hatte schon kurz vor Beginn meiner Untersuchung seinen Lebensmittelpunkt ins Altenheim verlagert, hatte aber über den gesamten Verlauf meiner Forschung sein Haus nicht geräumt und brachte immer wieder Dinge daraus in sein Zimmer. Konkret aufgelistet, gehen die jeweiligen Gespräche folgendermaßen in die drei Phasen ein:
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Phase 1: Vor dem Umzug, Kapitel 5.1 Herr Seiler: Erstes Gespräch, Wohnung (Februar 2010) Zweites Gespräch, Wohnheimzimmer (März 2010) Frau Kaiser: Erstes Gespräch, Wohnung (März 2010) Mehrere Gespräche mit Frau Kaiser und Frau Teck, Wohnheim (April/Mai 2010) Herr Richter: Erstes Gespräch, Wohnheim (März 2010) Zweites Gespräch, Cafeteria Wohnheim (Juni 2010) Drittes Gespräch, Wohnheimzimmer (Juni 2010) Viertes Gespräch, Umzugsbegleitung, Haus (November 2010) Frau Schwarz: Erstes Gespräch, Wohnheim, Pflegestation (März 2010) Frau Berger: Erstes Gespräch, Wohnheimzimmer (Januar 2010) Zweites Gespräch, Wohnheimzimmer und Wohnung (Januar 2010) Frau Lindner: Erstes Gespräch, Gästeappartement, Wohnheim (März 2010) Phase 2: Während des Umzugs, Kapitel 5.2 Herr Seiler: Zweites Gespräch, Wohnheimzimmer (März 2010) Drittes Gespräch, Wohnheim (März 2010) Frau Kaiser: Mehrere Gespräche mit Frau Kaiser und Frau Teck, Wohnheim (April/Mai 2010); Räumung von Frau Kaisers Wohnung (März 2010) Herr Richter: Viertes Gespräch, Umzugsbegleitung, Haus (November 2010) Frau Schwarz: Letztes Gespräch, Einzugstag, Wohnheimzimmer (April 2010) Frau Berger: Drittes Gespräch, Umzugsbegleitung, Wohnung (Juni 2010) Frau Lindner: Letztes Gespräch, Wohnheimzimmer (Juni 2010) Phase 3: Nach dem Umzug, Kapitel 5.3 Herr Seiler: Letztes Gespräch, Wohnheimzimmer (September 2010) Frau Kaiser: Letztes Gespräch, Wohnheimzimmer (Juni 2010) Herr Richter: Drittes Gespräch, Wohnheimzimmer (September 2010) Letztes Gespräch, Wohnheimzimmer (März 2011) Frau Schwarz: Letztes Gespräch, Einzugstag, Wohnheimzimmer (April 2010) Frau Berger: Letztes Gespräch, Wohnheimzimmer (September 2010) Frau Lindner: Letztes Gespräch, Wohnheimzimmer (Juni 2010)
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Die im empirischen Teil aufgezeigten ähnlichen Strukturen im Umgang mit den Dingen können nun um den Vergleich derjenigen Personen, die innerhalb der gebildeten Zweiergruppen jeweils leichter bzw. schwerer mit den Herausforderungen des letzten Umzugs zurechtgekommen sind, erweitert werden. Die einzelnen Fallstudien werden im Folgenden somit auch quer zueinander gelesen. Tabelle 9: Vergleich der Gliederungsschemata im empirischen und im interpretierenden Teil.
Die folgenden drei Kapitel sind in je drei Sinnabschnitte untergliedert, die eine grundlegende Zusammenführung, eine Diskussion der Fallbeispiele und eine reflexive Interpretation darstellen. Die Reihung dieser Sinnabschnitte ist aber nicht immer dieselbe, sondern wurde der entsprechenden Argumentationslogik angepasst.
5.1 B EDEUTUNG UND B EDEUTUNGSLOSIGKEIT DER D INGE In einer der rar gestreuten Untersuchungen zum Thema Umzug im Allgemeinen beschreibt Jean-Sébastian Marcoux (2001: 71f., 80f.) auch den Wechsel zweier Senioren aus ihren Wohnungen in institutionalisierte Einrichtungen. Von ähnlichen Umzügen ist des Weiteren in einer kurzen Passage in Judy Attfields »Wild Things. The Material Culture of Everyday
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Life« zu lesen (2000: 256-261). Hier ist die Rede von einem Herrn, der sich weitestgehend neu einrichtet, weil er seine alten Möbel und Dekorgegenstände zu stark mit seiner verstorbenen Frau in Verbindung bringt. Er beschließt, diese in seinem Haus zurück zu lassen. Beide Texte berichten von der Tendenz der untersuchten Personen, nicht nur aufgrund der eingeschränkten Platzverhältnisse wenige Dinge mitzunehmen. Sie vermitteln den Eindruck einer teils neutralen und distanzierten Haltung der Senioren gegenüber dem Großteil ihres Besitzes. Die Autoren bestätigen die Ergebnisse der hier dargelegten Untersuchung, klammern aber in ihrer Betrachtung die Irritation aus, die entsteht, wenn biographische Objekte und Erinnerungsgegenstände nicht für den Umzug eingepackt und zum Teil auch nicht an nahestehende Personen weitergegeben werden. Der Bruch mit den Dingen ist ein zentraler Befund meiner Untersuchungen, den es zu verstehen gilt. Auch eröffnet sich die Frage, warum (nicht zuletzt bei den meisten Angehörigen) der Eindruck entsteht, den Dingen würde mit unangemessenen Wert- und Bedeutungszuweisungen begegnet. Um diese Punkte zu beantworten, muss der (sich veränderten) Bedeutung der Dinge nachgegangen und die Möglichkeit ihrer (beginnenden) Bedeutungslosigkeit bedacht werden. Schritt 1: grundlegende Zusammenführung In Kapitel 2.1 war von den vielen Dimensionen der Bedeutung und Funktion der Dinge die Rede – Aspekte, durch die unser Blick auf die Dinge und ihre Rolle für uns zwar nicht umfassend erklärt werden kann (und die zuweilen zu verschobenen und kurzsichtigen Deutungen verleiten können), die aber ohne Zweifel maßgeblich für Handhabung und Bewertung der Dinge sind. In einer erster Näherung kann ›Bedeutung‹ bezüglich materieller Objektivationen in zwei Aspekte unterschieden werden: bedeutend als und bedeutend für. Ein einfaches Beispiel illustriert den fließenden Übergang zwischen den Bedeutungsebenen eines Objekts und seinen Funktionen: Die Funktion einer Armbanduhr ist es, die genaue Zeit anzuzeigen, ihre Bedeutung steigt für jemanden, der zum Beispiel beruflich auf hohe Präzision diesbezüglich angewiesen ist. Sie kann aber auch als Statussymbol fungieren, also im Sinne von bedeutend als. Weiter kann dieselbe Uhr für ihren Träger bedeutend sein, weil sie sehr teuer war und es viel Anstrengung gekostet hat, das Geld dafür zusammenzubekommen. Sie ist hier somit möglicherweise auch ein Erinnerungsobjekt an die eigene Leistung,
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durch die sie erworben werden konnte, und ein Verweis auf die Ausdauer, die dazu nötig war. Ihr Wert kann gleichzeitig persönlicher wie materieller Natur sein. Dabei ist ihr Zeichen- und Symbolcharakter mit ihrem Wertspektrum (Geldwert, Gebrauchswert, persönlicher Wert etc.) eng verknüpft. Denn in ihrer Funktion als Zeichen verweisen die Dinge auf Wert(e). Der Wert der Dinge ist, ähnlich wie Bedeutung und Funktion, weder auf einen Aspekt reduzierbar (Höhe des monetären Äquivalents, Erinnerung, persönliche Konnotation) noch kontextlos benennbar. Kontexte aber unterliegen Veränderungen: Möglich also, dass eine Person, deren Armbanduhr ihr aufgrund beruflicher Aufgaben von besonderem Wert war, ihre Anstellung verliert. Die Uhr ist nun nicht nur weniger nützlich, sondern vielleicht auch ein immer präsentes Zeichen ihrer eigenen Wert- und Sinnlosigkeit geworden. Doch der Besitz eine Armbanduhr kann auch vollkommen selbstverständlich und ihr Verlust nicht weiter von Bedeutung sein. Eine neue Uhr kann sie ersetzen, ohne dass man die alte vermisst; oder sie verliert ihren Stellenwert, weil keine besondere Notwendigkeit zur Pünktlichkeit mehr besteht; oder weil ein Handy, welches die Uhrzeit ebenfalls anzeigt, alle Facetten ihrer Funktion übernehmen kann. Der Diagnose der Selbstverständlichkeit der Dinge haftet immer etwas Verurteilungswürdiges und Unmoralisches an. Dass wir Dinge nicht wertzuschätzen wüssten und sie uns austauschbar geworden seien, ist häufig der Ansatz linksorientierter, konsumkritischer Autoren. Ohne die Berechtigung einer solchen Perspektive in Frage stellen zu wollen, besonders vor dem Hintergrund der sozialen Tragweite, welche die Herstellung der stets verfügbaren Güter impliziert, sei darauf hingewiesen, dass die als selbstredend empfundene Verfügbarkeit der eigenen Sachen gerade im Haushaltskontext, nicht eine Besonderheit der modernen Konsumgesellschaft ist. Wenn Objekte, die gebraucht werden, fehlen, wird ihre Abwesenheit gewiss ins Auge fallen. Aber wenn solche, die nicht (mehr) gebraucht werden, abhanden kommen, kann man sich damit arrangieren, selbst wenn es sich dabei um die einst teuer gekaufte Einbauküche handelt, für die man viel gespart hat. Die kontextgebundene Bedeutung und Bedeutungslosigkeit der Dinge bildet sich in der ersten Phase des Umzugs, in der vornehmlich (aus)sortiert wird, beobachtbar heraus. Hier begegnen die Senioren zum ersten Mal den selbstverständlich verfügbaren Gegenständen ihres Haushalts in gleichem Maße wie den herausragenden biographischen Objekten unterschiedlichster
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Couleur (die aber ebenso durch ihr Vorhandensein im Haushalt stets zugänglich sind) mit der Frage: Spielt dieses Objekt im neuen und gleichzeitig letzten Abschnitt meines Lebens (noch) eine Rolle und wenn ja, welche? Schritt 2: Diskussion der Fallbeispiele Herr Seiler und Frau Kaiser gingen vergleichsweise nüchtern an die Beantwortung dieser Frage. Während aber Herr Seiler, von dem später noch die Rede sein wird, seine indifferente Haltung immer wieder neu aufbauen musste, war ich anfangs verstört von der Selbstverständlichkeit, mit der Frau Kaiser ihren Dingen und deren Verlust begegnete, und konnte nicht verstehen, warum ihre Antworten im Gespräch so knapp und geradezu positivistisch ausfielen. Es zeigte sich aber bald, dass ihre Haltung ihr dabei half, den bevorstehenden Umzug zu meistern. Die normative Kraft, die in der Aussage »das ist eben so« steckt, kam im Lauf der ersten Unterredung deutlich zur Geltung. Illustriert wurde das nicht nur anhand des als wenig problematisch empfundenen Auswahlprozesses, sondern auch bezüglich ihres Wohnungsdekors, zum Beispiel der Wandteller. Was auf ihnen zu sehen war, war Frau Kaiser weder bekannt noch wichtig. Sie wusste nicht mehr, wie sie zu den Objekten gekommen war und hatte sie aufgehängt, weil man das eben so tut – und zwar thematisch passend im Esszimmer. Es liegt nahe, ihre Aussagen dahingehend zu interpretieren, dass Frau Kaiser Wandteller deswegen besaß oder sogar gekauft hat, weil es zu der Zeit, in der sie ihre Wohnung bezogen und eingerichtet hat, und vielleicht auch in ihrem sozialen Umfeld, Usus war, Wände mit derartigen Dekorgegenstände zu schmücken. Das Motiv auf den Tellern und die Gelegenheit, bei der jene in ihren Haushalt eingegangen waren, waren für Frau Kaiser dabei nicht weiter von Bedeutung. War Frau Kaisers Bezug zu dem größten Teil ihrer Einrichtung stark geprägt von Konventionen und wenig über eine emotionale Ebene zu erfassen? Eine solche Haltung mutet seltsam an, sie scheint nahezu verwerflich. Vielleicht hätte man erwartet, dass eine alte Dame versucht, (wahllos) an allen Gegenständen festzuhalten, die sie an ihr langes Leben erinnern: An selbstgehäkelten Decken ebenso wie an den gern gehörten Schallplatten, vielleicht sogar an dem vermutlich nie wieder zum Einsatz kommenden zwölfteiligen Tafelservice. Doch Frau Kaiser hatte sich mit dem Umzug und seinen Folgen für sie und ihren Hausstand arrangiert. Sie zeigte sich (nicht nur) im ersten Gespräch unberührt von ihren Dingen, sowohl von de-
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nen, die sie hinter sich lassen, als auch von denen, die sie mitnehmen wollte. Keines stach dabei heraus; die Erwägungen, die sie für die Auswahl benannte, waren pragmatischer Natur. So müssen auch die für ihre Enkelin verpackten Objekte weniger als Erbe, sondern vielmehr als praktisches Startpaket für die erste eigene Wohnung gesehen werden. Da ich nicht dabei sein konnte, ist schwer zu sagen, ob Frau Kaiser das Sortieren ihrer Dinge tatsächlich nüchtern und emotionslos durchgeführt hat (und selbst wenn ich es gesehen hätte, wäre damit nicht ausgeschlossen, dass sie sich schlichtweg gut beherrschen konnte). Doch das Beobachtete spricht dafür, dass sie den Umzug gemeistert hat, ohne einer inneren Zerrissenheit durch die Aufgabe zu erleben. Herrn Seiler, der ähnliche Aussagen wie Frau Kaiser machte und eine vergleichbare Haltung seinen Dingen gegenüber einzunehmen versuchte, zeigte sich vom bevorstehenden Umbruch wesentlich stärker belastet. Herr Seiler kann als ein freundlicher und zuvorkommender Mann mit festen Vorstellungen, einem starken Drang, diese umzusetzen, und einem noch stärkeren Bedürfnis, in Bewegung zu sein, beschrieben werden. Wichtig war ihm vor allem, dass seine Dinge geordnet, gut aufgehoben und an ihrem Platz waren, und dass auf sie geachtet wurde. Er machte aber den Eindruck, sich dagegen zu wehren, dass ihm Gegenstände zur Last werden und unnütz erscheinen könnten. Immer wieder sagte er über seine Bilder, Skulpturen und die anderen Kunstgegenstände, er könne mit ihnen nichts mehr anfangen, sie würden im Altenheim zu Staubfängern werden. Gleichzeitig betonte er aber den Wert der Objekte. Eine solche Einschätzung setzt sich stets aus unterschiedlichen Aspekten zusammen und ist von Gegenstand zu Gegenstand verschieden. Im Fall von Herrn Seiler hatten einige Dinge einen Geldwert auf dem Kunstmarkt, der (inzwischen) höher ist als der Preis, den Herr Seiler für sie gezahlt hatte. Sie hatten einen Sammelwert: für ihn und für andere Sammler (wobei dieser nicht identisch sein muss). Sie hatten Seltenheitswert, Erinnerungswert und persönlichen Wert, sowohl für Herrn Seiler wie auch für seine Kinder. Ähnlich wie Frau Kaiser sah Herr Seiler viele Dinge in seiner Wohnung nicht mehr als dienlich für sich an. Doch während Frau Kaiser langwierig aussortierte, war er wesentlich radikaler in seiner Haltung und sagte, dass er schlichtweg nichts mitnehmen wolle. Für Frau Kaiser schienen die Dinge nichts zu bedeuten; Herr Seiler wirkte, als würde er darum kämpfen, dass ihn die Gegenstände nicht mehr berührten. Beide verfolgten also dieselbe
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Strategie, sich mit dem Umzug und dem teilweisen Verlust ihres Besitzes zu arrangieren. Herr Seiler war dabei aber weniger erfolgreich als Frau Kaiser. Bei den Möbeln, die Herr Seiler von der Vormieterin übernommen hatte, war es für ihn nicht schwer, gleichgültig ihrem Schicksal gegenüberzustehen (eine ähnliche Haltung hatte Frau Kaiser zu ihrer Küche, die sie sich immerhin selbst erspart hatte). Doch in Bezug auf die biographischen Objekte wurde Herrn Seiler eine unverbissene Indifferenz zur Herausforderung. Das Schicksal der Wandteller, Bilder und Skulpturen war ihm keineswegs einerlei. Aber er schien sich dazu durchgerungen zu haben, diese Dinge nicht mehr als Teil seines Lebens zu sehen und dass er sich damit abzufinden hatte. Sich emotional zu materiellen Dingen zu äußern, lag nicht in Herrn Seilers Art, dennoch wurde schnell klar, dass all seine Dekorgegenstände, die mit seinen vielen Reisen in Zusammenhang standen, eine Geschichte hatten. Im Gespräch wurden kaum persönliche Aspekte angesprochen, lediglich, wie bei einer nüchternen Führung durch eine Sammlung von Fremdobjekten Sujet, Herstellungsort und Kaufpreis angegeben. Es wirkte dabei fast, als habe er keinen persönlichen Bezug zu den von seinen Reisen mitgebrachten Kunstgegenständen. Gleichzeitig war das Unterwegssein ‒ nicht nur dadurch ‒ allgegenwärtig in seiner Wohnung: die Karten und Gemälde von Schiffen an der Wand, die Koffer auf dem Schlafzimmerschrank, die »Do not disturb«-Schilder an den Türklinken und die Möbel, mit denen er sich nicht selbst eingerichtet hatte, lassen eine Verbindung zu seinem sprichwörtlich bewegten Leben erkennen. Im Gegensatz zu Frau Kaiser konnte ich bei Herrn Seiler erkennen, dass ihm Gespräche über seine Dinge nicht grundlegend sinnlos erschienen. Durch das Erkundigen danach, ob ich wisse, wovon er sprach, wurde gleichsam deutlich, dass für ihn nur jemand als Gesprächspartner in Frage kam, der selbst einen Bezug zu diesen Dingen aufbauen konnte. Von sich aus und ohne dass ich meine Kenntnis zum Thema unter Beweis stellen musste, sprach Herr Seiler nur über das Briefmarkenalbum seines Vaters, die Ganzstücke, die er seinem Sohn aus aller Welt geschickt hatte, den Teller aus London und Rangun und die Ausbildungszeugnisse. Besonders bemerkenswert erscheint mir, dass auch nachdem seine Tochter die sortierten Gegenstände im Wohnzimmerschrank angesprochen hatte, Herr Seiler sagte, er wolle nichts mitnehmen. Die Dinge schienen ihn tatsächlich nicht mehr zu berühren, nicht in dem Sinn, dass er Wert darauf
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legte, sie weiter um sich zu haben. Gleichwohl wünschte er, so wie er in dem intakten Ensemble der Wohnung wissen wollte, dass alles an dem dafür vorgesehenen Platz stand, dass die (aus welchen Aspekten auch immer) von ihm als wertvoll identifizierten Dinge eine neue Ordnung fänden und »die Kinder« sie nehmen würden. Seine Angehörigen sollten die Auswahl der Sachen und den Umzug besorgen. Diese entlasteten ihn dadurch, bezogen ihn aber immer wieder in die Entscheidungen mit ein. Auch wägten sie selber ab, was dem Vater wichtig war und demnach in der neuen Wohnumgebung einen Platz finden sollte. In unseren Gesprächen wurde nach der resoluten Totalabsage schließlich doch das ein oder andere Stück benannt, das (vielleicht) mitkommen sollte: Die Briefmarkensammlung des Vaters, die Gemälde von den Schiffen und die Ausbildungszeugnisse. Der Kreis der Dinge, die er schließlich in Zusammenhang mit seiner Lebensgeschichte thematisierte, bildet also eine Schnittmenge mit den Objekten, die er als mögliche Auswahl für das Wohnheimzimmer angab. Hierin zeigt sich zum einen die in Kapitel 2.1 eingeführte Rolle der Dinge als Begleiter der Biographie, als Erinnerungsträger und als Symbole in einer »family-lore« oder »individual-lore«. Ersichtlich werden aber auch der Drang, die Bereitschaft und der Wunsch, die namentlichen Dinge bedeutungslos werden zu lassen und die Verantwortung für sie, und dazu gehört die Pflege der damit verbundenen Erinnerung, ab- oder auch aufzugeben. Bezeichnend für Herrn Seilers Zugang zu den Dingen ist auch, dass er die ›praktischen‹ Gegenstände, die er zweifelsohne mitzunehmen gedachte, wie kleinere Möbel oder Kleidungsstücke, nicht erwähnte. Solche Dinge fielen komplett aus der Kategorie bedeutender und damit thematisierungswürdiger Objekte heraus. Für ihn waren sie selbstverständlich und galten als austauschbar. Mit dieser Beobachtung konfrontiert, brachten sowohl sein Sohn als auch er das Nichterwähnen einiger Dinge mit der Tatsache in Verbindung, dass Herr Seiler viel auf Reisen gewesen und somit daran gewohnt war, nur über eine beschränkte Auswahl an alltäglichen Gebrauchsgegenständen sowie an Kleidung zu verfügen. So hängte die Äußerung, er wolle nichts mitnehmen, sichtlich damit zusammen, dass Herr Seiler einen kategorischen Unterschied zwischen praktischen Dingen auf der einen Seite und wertvollen oder bedeutenden Objekten auf der anderen Seite machte. Dass er die Funktionsebene der Dinge von ihrer Bedeutungsebene abkoppelte, zeigte auch die Beobachtung bezüglich seiner Wandteller: Keines der immerhin 17 dieser Objekte war in der Küche oder in irgendeinem Bezug
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zu einem Essplatz zu finden, 15 hingen im Wohnzimmer und zwei im Schlafzimmer. Auch Herr Richters Äußerungen während der Gespräche im Heim und der Zustand seines bereits seit Monaten bewohnten Zimmers in der Einrichtung ließen vermuten, dass er ähnlich spartanisch bei der Auswahl der Dinge, die er mitnehmen wollte, vorgehen würde, wie Herr Seiler dies beabsichtigte. Wie dieser, legte auch Herr Richter besonderen Wert auf Unterlagen und Dokumente sowie auf deren ordentliche Aufbewahrung. Bei Herrn Seiler handelte es sich dabei um die Meilensteine seines Lebens, bei Herrn Richter um alle Art offizieller Papiere, die er als wichtig ansah. Immer wieder, ganz anders als Herr Seiler, hob Herr Richter die ›praktischen‹ Dinge hervor, wenn es um seine Auswahl ging: So benannte er explizit Kleidungstücke (und zwar als Mengenangaben) und Aufbewahrungsmöbel (der Einbauschrank, den er sich eigens vornehmlich für die Aufbewahrung der Dokumente anfertigen ließ). Im Sinn einer Kontrapunktik kann man formulieren, dass Herr Seiler die innere Distanzierung zu den Dingen wählte, um die räumliche zu bewältigen, während sich Herr Richter für die räumliche Distanzierung entschied, um eine innere zu erlangen. Herr Richter war nach seinem teilweisen Umzug in das Wohnheim weiterhin in engem Austausch zu seinen Dingen, denn im Gegensatz zu Herrn Seiler konnte er seine Angehörigen nicht um die Auflösung seines Haushaltes bitten. Doch auch er war bestrebt, so viel wie möglich von dieser Arbeit an Dritte abzugeben, indem er das Haus mit dem Großteil des sich darin befindenden Inventars zu verkaufen suchte. Was mit den Objekten geschehen sollte, die ihm wichtig erschienen, welche davon in das Altenheimzimmer mit umziehen sollten und welche verschenkt oder verkauft werden sollten, musste er allerdings selber entscheiden. Wenn er von diesen sprach, klang es nahezu fürsorglich. Er beschrieb sie detailliert und formte ihre Umrisse in der Luft nach. Es war fast, als sorge er sich um seine Dinge. Allerdings nicht, um sie weiter für oder um sich zu haben. Seine Auswahl war bestimmt von Zurückhaltung: ungetragene Hemden wollte er lieber seinem Schwager geben als sie für sich zu nutzen. Aber dass sie da waren, das war ihm wichtig. Bei seiner Entscheidung ging es ihm um ein quantitatives Inventar, um die Verfügbarkeit der Hemden, nicht um ihre Besonderheit oder ihren Wert. Grundsätzlich waren ihm die Dinge des täglichen Bedarfs, wenn auch aus anderen Beweggründen, ähnlich austauschbar wie Herrn Seiler.
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Herr Richter gab sich bei den ersten Gesprächen, die wir im Heim führten, distanziert und beherrscht bezüglich der Dinge, die er zurücklassen oder vor dem endgültigen Auszug weggeben wollte, aber nicht unbekümmert. Er hatte sich ausgiebig Gedanken gemacht, sich genau mit dem Schicksal der für ihn (aus praktischen, sentimentalen oder anderen Gründen) herausstechenden Objekte befasst und benannte präzise die wenigen Gegenstände, die er noch mitnehmen wollte. Von allen anderen Dingen abstrahierte er; sie gingen auf in dem, was er als »das Haus« bezeichnete. Herr Richter hatte die Ambition entwickelt, einen Schlussstrich zu ziehen und sich von möglichst allem zu trennen. Schnell fiel auf, wie langwierig dieser Trennungsprozess war. Herr Richters Umzug schien kein Ende zu finden oder, vielleicht treffender, keinen Anfang. Als ich sein Haus zum ersten Mal sah, wirkte es, als werde es noch bewohnt, obgleich Herr Richter seinen Lebensmittelpunkt schon vor über einem Jahr in das Altenheim verlagert hatte. Bei dem Besuch des früheren Wohnortes zeigte sich auch, dass er eine durchaus emotionale und vor allem erinnerungsreiche Beziehung zu den Dingen in seinem Haushalt hatte. Er wusste bei den meisten seiner Gegenstände, gleichgültig ob sie prominent aufgestellt waren oder nicht, über deren Herkunft zu berichten. Sie erinnerten ihn an konkrete biographische Momente und er verband sie mit bestimmten Menschen und Ereignissen. Oft kam er beim Erzählen über die Dinge auf seine Prinzipien, Haltungen und Empfindungen zu sprechen. Dazu waren, die Gegenstände in seinem Haus an ihren Plätzen vor Augen, kaum Aufforderungen meinerseits nötig. Seine dabei anwesende Lebensgefährtin kannte viele der Objektgeschichten; daraus schloss ich, dass Herr Richter sich nicht nur in dem Wissen, dass es mich für meine Forschung interessierte, über das, was ihn mit seinen Dingen verband, äußerte. Aber, anders als Herr Seiler (und ganz anders als Frau Berger), rückte Herr Richter kaum ihren materiellen Wert in den Vordergrund. Weder war ihm wichtig, was die Gegenstände, die er besaß, gekostet hatten, noch dass sie nach Ansicht anderer Personen als selten, außergewöhnlich oder prestigeträchtig galten. Für Herrn Richter schienen allein die Verbindungen zwischen ihm, seinem Leben und den Objekten relevant – eine Verknüpfung, die er angesichts des Wohnungswechsels aufzulösen suchte. An der Umsetzung dieses Entschlusses hatte er über einen sehr langen Zeitraum zu arbeiten. Ganz anders verlief der Umzug bei Frau Schwarz: Der Bruch mit der alten Wohnumgebung war überraschend gekommen und die Auflösung ihres
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Haushaltes wurde in kurzer Zeit von ihren Angehörigen abgewickelt. Es schien zunächst unwahrscheinlich, dass Frau Schwarz sich so gut erholte, als dass sie in einem Zimmer im Wohnbereich leben konnte. Aufgrund des nicht selbstbestimmten Umzugs hätte es durchaus sein können, dass sie mit sich, dem Schicksal und dem Verlust ihrer Dinge (sie wusste zum Zeitpunkt des ersten Gesprächs noch nicht einmal, welcher Gegenstände genau) haderte. Doch Frau Schwarz gab sich, wie ihre Tochter es bereits am Telefon eingeschätzt hatte, unbekümmert distanziert. Sie wusste, dass sie bald wieder mit einigen ihrer Dinge zusammen wohnen würde und sie vertraute darauf, dass ihre Tochter die in ihren Augen richtige Auswahl treffen würde. Ebenso ging sie davon aus, dass ihr das Abhandenkommen der anderen Gegenstände nichts ausmachen würde. Wesentlich unangenehmer als die Abspaltung von ihren Dingen empfand sie die Trennung von ihrer neu gewonnenen Freundin; bedeutend wichtiger als das Wiedersehen mit manchen Objekten aus ihrem Haushalt war ihr das Wiedererlangen ihrer Gedächtnisfunktionen. Damit erklärt sich vielleicht auch ihr Fokus bei den Gesprächen auf das Berichten von Erlebnissen. Möglich, dass sie sich nicht mehr differenziert an ihre Sachen entsann. Denkbar aber auch, dass die Erfahrung, sich plötzlich an elementare und selbstverständliche Aspekte nicht mehr erinnern zu können, so tiefschürfend war, dass die Angst, zu vergessen, wer man war und wer man ist, nicht nur stark präsent wurde, sondern auch zunächst entkoppelt von dem, was man hatte und was einen begleitet hat. Die unerwarteten Themenwechsel in Frau Schwarzens Antworten rührten augenscheinlich von einer aufgebenden Haltung gegenüber den Dingen und von einem Verhältnis zu diesen, wie es nach einer inneren Trennung besteht. Konfrontiert mit der abnehmenden Gedächtnisleistung, so meine Beobachtung, formte sich ein Bewusstsein dafür, dass persönliche Bedeutungen und Erfahrungen, die mit den Dingen verbunden wurden, nur abgerufen werden konnten, wenn das Erinnern funktionierte. Über die sinnliche Wahrnehmung kann zwar die bloße Anwesenheit der Objekte als Katalysator für Erinnerungen wirken, doch verlässlich läuft dies nur auf der Ebene intrinsischer Handlungsanweisungen ab. Eine konkrete und bildhafte persönliche Erinnerung, die für die Bestätigung der eigenen Identität nötig ist, ist den Dingen nicht belastbar eingeschrieben. Daraus ist zu schließen, dass Objekte in Frau Schwarzens persönlicher Bewertung grundsätzlich als nicht
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wichtig eingestuft wurden, weil in ihrer persönlichen Erinnerung ein Defizit zu erscheinen begann. Ähnliches war bei Herrn Seiler zu beobachten. Noch weniger als bei Frau Kaiser und bei Frau Schwarz waren bei dem ersten Gespräch mit Frau Lindner die Dinge zur Sprache gekommen. In dieser Konversation hatte nicht ein einziges Objekt eine Rolle gespielt, auch wenn Frau Lindner wesentlich mehr Platz im Gästeappartement zur Verfügung stand als Frau Schwarz auf der Pflegestation. Nichts in ihrem Zimmer hatte darauf hingewiesen, dass die Seniorin hier wohnte. Der Eindruck wurde von ihrer Aussage bestätigt, sie sollte das gar nicht mehr erleben. Sie wirkte, als käme ihr ihre eigene Situation unerhört vor, als sei sie dem konsistenten Bild, das sie noch kurz zuvor von ihrem Lebensabend hatte, entrissen worden, und als hätte sie sich nun in einer absurden Situation wiedergefunden. Im Gegensatz dazu hatte ich bei Frau Berger bei den ersten Zusammentreffen nicht das Gefühl, es mit einem Menschen zu tun zu haben, der sich als entwurzelt empfindet. Sie schien in kreativer Aushandlung und fruchtbarem Dialog mit sich und ihrer neuen Wohnsituation zu sein. Aber als wir das erste Mal ihre Wohnung betraten, wurde, den sich bereits in Bewegung befindlichen Haushalt vor Augen, Frau Bergers Drang an den Dingen festzuhalten offenbar. Es schien, als könne sie sich gar nicht vorstellen, irgendetwas davon seinem Ende preiszugeben. Ähnlich wie Herr Seiler und Herr Richter sah sie es als ihre Aufgabe an, sich um ihre Dinge zu kümmern. In ihren Augen bedeutete dies, dass jeder Gegenstand einen sinnvollen neuen Platz finden müsse, so dass er ihr oder anderen Menschen (z.B. als Einrichtung eines Gemeinschaftsraumes) dienlich sein und Freude bringen könne. Frau Berger bezeichnete sich selbst als eine Person, die sich viele Gedanken über ihre Dinge machte und der es wichtig war, dass die Objekte in ihrem Haushalt »etwas Besonderes« und von hoher Qualität waren. Ähnlich wie Herr Seiler stellte sie die Dinge in ihrer Wohnung aus, arrangierte sie, konnte sie exakt bezeichnen, wusste, was sie (figürlich oder bildlich) zeigten, woher sie stammten und was sie wert waren, als sie in ihren Besitz gelangt waren. Es gab, ganz anders als bei Frau Kaiser, immer einen Grund für deren Erwerb, ein gezieltes Suchen oder ein glückliches Finden. Im Fall von Herrn Seiler sollten die Geschichten der Dinge nur von denen gehört werden, die den Gegenständen auf eine ähnliche Art wie er nahe kommen können, anderen Personen gab er sachliche und knappe Antworten. Für Frau Berger hingegen war es wichtig, dass diese Geschichten erfragt und
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erzählt wurden, sie exponierte nicht nur die Objekte, sondern auch deren Rolle: Die Dinge hatten Eigennamen, eine aktive gestaltende Präsenz und eine Mitwirkung in ihrem Leben. Bemerkenswerter Weise wurde das aktive Moment der Dinge gerade durch die starre, akkurate, symmetrische und an ein Museum oder eine Galerie erinnernde Art ihrer Präsentation vermittelt. Während Herr Seiler organische und bewegte Ensembles verschiedener Souvenirs zusammenfügte, stellte Frau Berger ihre Dinge aus und brachte sie zur Schau. So konnten sie nicht als ein dekorativer und organisch gewachsener Hintergrund wahrgenommen werden, sondern wurden dem Besucher als Aufforderung, betrachtet zu werden, gewahr. Aus Frau Bergers Perspektive vor dem Umzug waren ihre Dinge tatsächlich nur Zeichen und Symbole, nur Träger von Botschaften und Übermittler von Erinnerungen. Ganz besonders aber sollten sie als Prestige- und Distinktionsobjekte gelesen werden, ähnlich wie Bourdieu es nahe legt. Frau Berger vertrat auch bezüglich des Geschmacks eine Position, die intuitiv den Thesen Bourdieus folgt: Sie unterstrich, dass sie schon in jungen Jahren einen Zugang zu den Dingen hatte, der stets bemüht war, sich mit Objekten, die aus dem Rahmen fallen, zu umgeben. Die damaligen sozio-politischen Verhältnisse in Rumänien machten es schwer, Einrichtungsgegenstände zu besorgen, die sich von denen der Nachbarn unterschieden. So ragte alles, was sich nur leicht von dem Standardrepertoire an Haushaltsgegenständen abhob, stark heraus – Anderssein fiel sofort auf und wurde rasch als deviant und absonderlich kategorisiert. Aus heutiger Zeit betrachtet, in der die Auswahl an Objekten, über die verfügt werden kann, deutlich breiter ist, sind weniger die Dinge, die Frau Berger besaß, rar, sondern vielmehr ihr Geschmack und ihre Präferenzen für wuchtige und verzierte Objekte. Schritt 3: reflexive Interpretation Dass eine solche Perspektive, wie Frau Berger sie einnahm, indem sie die Dinge nach ihrer Funktion als kulturelles Kapital klassifizierte, auf dingtheoretischer Ebene als unzureichend zu bezeichnen ist, wurde in Kapitel 2.1 deutlich. Empirische Belege dafür finden sich, wie soeben erneut dargelegt, bereits in den ersten Gesprächen der unternommenen Forschung. Es waren besonders die irritierenden, ungereimten und knappen Antworten von Herrn Seiler, Frau Kaiser und Frau Schwarz, die bei genauer Betrachtung erkennen ließen, dass Bedeutung und Funktion der Dinge keine unum-
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stößlichen Argumente für ihren Wert waren – ebenso wenig für das Bestreben, sie behalten zu wollen. Für alle Senioren mit Ausnahme von Frau Berger hatte sich bereits durch die Konfrontation mit dem bevorstehenden Umzug die Haltung zu den eigenen Dingen verändert und der Wunsch, sie um sich haben zu wollen, wurde relativiert, ihre Anwesenheit als stark ambivalent empfunden. In Abhängigkeit der persönlichen Situation der Besitzer wandeln sich die Rollen, die ihre Dinge für sie im allgemeinen und konkret in Ihrem alltäglichen Leben einnehmen. Wenn wir von den Bedeutungen der Gegenstände und ihren Funktionen ausgehen, etwa als Erinnerungsträger, als biographische Objekte oder als Statussymbole, so müssten diese konsequenterweise als Konstanten angenommen werden. Es läge also demnach nicht bei den Besitzern oder den Betrachtern der Dinge, zu entscheiden, ob sie solche Valenzen in ihrer Wahrnehmung der Objekte berücksichtigen wollen oder nicht: Die Bedeutungen wären immer da. Einem solchen Modell zufolge evozieren die Gegenstände Erinnerungen und strahlen ununterbrochen ihre semantische Kraft aus. Ein Wandel ihrer Bedeutung und Funktion wäre nur möglich, wenn sich beispielsweise die Dinge selber oder die sozialen Konventionen, Werte und Normen verändern. Eine veränderte Lebenssituation des Betrachters würde zu keinen Wandel der Bedeutung führen, sondern nur zu einer anderen Perspektive. Die vorliegenden Beobachtungen aber weisen deutlich darauf hin, dass angesichts des letzten Umzuges eine Neubewertung, eine grundlegend andere Wahrnehmung der Dinge, stattfindet: sowohl im Einzelnen als auch im Allgemeinen. Der Sinn der Objekte verschiebt sich und löst sich zuweilen auf. Gegenstände werden unwichtig und erfahren eine Entwertung. Ihre Besitzer wollen sie nicht mehr haben, verschenken sie oder werfen sie in den Müll – auch wenn, oder gerade weil, sie nach wie vor eine Beziehung zu ihnen haben. Der Verlauf des Aussortierens, Weggebens und Wegwerfens ist dabei weit komplexer und geht über die hier angesprochene Logik der Entwertung hinaus. Wie im letzten Abschnitt des Kapitels 2.1 anhand der Literatur und der theoretischen Überlegungen herausgestellt wurde, ist das Überführen eines Objektes aus dem Haushaltskontext in den Müll nicht zwingend ein Hinweis auf dessen Wertlosigkeit. Auch erhält der Auswahlprozess durch die Anzahl der Gegenstände, über die entschieden werden muss, ein kontingentes Moment, weil diese das Maß des Überschaubaren sprengt. Manchmal äußert sich das in einer radikalen Einstellung dem ge-
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samten Besitz gegenüber, so zum Beispiel als Wunsch, alles hinter sich zu lassen, als Indifferenz oder in dem Versuch, die Dinge an einem dafür als geeignet angesehenen Platz zu wissen. Die beschriebene situative Um- und Neubewertung der Dinge kommt durch den reziproken Austausch mit diesen zustande. Dieser Austausch ist unumgänglich, wenn man seinen eigenen Haushalt auflösen muss. Im Folgenden sollen die im Feld gemachten Beobachtungen dieses Umbruchs mit der theoretisch ausgearbeiteten Möglichkeitsbedingung der Mensch-DingBeziehung zusammengeführt und vor deren Hintergrund analysiert werden.
5.2 P OTENZIAL UND AMBIVALENZ DER M ENSCH -D ING -B EZIEHUNG Dieses Kapitel widmet sich dem zentralen Moment des letzten Umzuges, der Bewegung der Dinge, deren (Neu-)Aufteilung, der Auflösung des gewachsenen Bestandes, wie er im zuvor bewohnten Haushalt anzutreffen war. Die Implikationen einer Mensch-Ding-Beziehung, wie sie in Kapitel 2.2 vorgestellt wurden, können anhand der im Feld gefundenen Verhaltensweisen aufgezeigt und gestützt werden. Es war nur bei der Hälfte der sechs begleiteten Personen möglich – in der Regel aufgrund der Wünsche der Senioren und deren Angehörigen – die mittlere der drei Umzugsphasen, die Bewegung der Dinge von einem Ort zum anderen, zu dokumentieren. Um das Potenzial und die Ambivalenz einer solchen Beziehung, welche in diesen Momenten deutlich zum Vorschein treten, diskutieren zu können, soll zunächst die Spezifik der Situation der drei Senioren, deren Haushaltsauflösung ich teilnehmend beobachten konnte (Frau Kaiser, Herr Richter und Frau Berger), rekapituliert werden (Schritt 1). Daraufhin wird ein modellhafter Überblick über den Ablauf und die involvierten Personen eines solchen Prozesses gegeben, bei dem der Besitzer selbst entscheiden und sich einbringen kann. Eine sich daran anschließende graphische Übersicht veranschaulicht strukturell mögliche Objekt-Itinerarien am Ende einer lebenslangen Beziehung. Dabei liegt das besondere Augenmerk auf den jeweiligen Akteuren und Handlungsoptionen bezüglich des Sachensembles (Schritt 2). Nachdem der Umgang mit den Dingen bei und nach der Sortierung genauer beleuchtet wurde, lässt sich schließlich der Austausch mit ih-
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nen und ihre Rolle im Kontext des letzten Umzuges herausarbeiten (Schritt 3). Schritt 1: Diskussion der Fallbeispiele Bei Herrn Richter und Frau Berger, die je Eigentümer der Räumlichkeiten waren, in denen sie vor dem Umzug ins Heim gewohnt hatten, hat sich der Prozess des Umzugs über viele Monate hinweg erstreckt. In beiden Fällen gab es keine nahestehenden Verwandten, die ihre Unterstützung hätten anbieten können. Die Senioren hatten zu dem Zeitpunkt, zu dem ich das erste Mal mit ihnen sprechen konnte, ihren Lebensmittelpunkt bereits, wenn auch erst seit kurzem, ins Wohnheim verlagert und brachten ihre Dinge etappenweise, nahezu Stück für Stück, aus der alten Wohnung. Sie wählten also Objekte aus dem noch bestehenden Ensemble aus und reihten sie in das ihres neuen Ein-Zimmer-Appartements ein. Bei je mindestens einer solchen ›Umzugseinheit‹ konnte ich dabei sein. Herr Richter entschied sich, ähnlich wie der Informant in dem zuvor (Kap. 5.1) erwähnten Fallbeispiel von Attfield (2000: 260f.), dazu, das Ensemble seines intakten und gut gepflegten Haushaltes so vollständig wie möglich zu erhalten und im Haus zu belassen, damit die Käufer des Anwesens es gegebenenfalls nutzen konnten. Er nahm nur einzelne Stücke davon für sich heraus; darunter befanden sich Dokumente, Kleidung, Objekte von persönlichem Wert wie geerbte Gegenstände (z.B. das Gemälde mit dem Stillleben), solche, die er zu wichtigen Anlässen oder von ihm besonderen Menschen geschenkt bekommen hatte (z.B. eines der Plüschtiere von seiner Lebensgefährtin), oder solche, mit denen er eine besondere Erinnerung verband (z.B. die Wandteller aus dem Esszimmer). Zudem löste er eine weitere Gruppe von Dingen aus seinem Besitz heraus, die er laut eigener Aussage zu verkaufen beabsichtige, und zwar an denselben Kunsthändler, von dem er sie einst erworben hatte. Eine weitere Einheit bildeten die Objekte, die er an seine Angehörigen gab; dabei ist zu unterscheiden zwischen praktischen und nützlichen Gütern, wie den Hemden für seinen Schwager, Erbstücken (die durchaus neben einem persönlichen auch einen pekuniären Wert haben können) wie das Porzellanpferd für seine Enkelin, und den Dingen, die sich seine Verwandten selber aus dem Ensemble heraussuchten, wie mit den Gegenständen aus dem Wohnzimmerschrank geschehen. Auch seine Lebensgefährtin hatte (nicht nur) an dem Tag, an dem wir das Haus aufgesucht haben, einige Dinge für sich mitgenommen. Alles in allen
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verließ aber nur eine vergleichsweise geringe Stückzahl an Objekten den Bestand; sogar Einrichtungsgegenstände, die sich im Heimzimmer durchaus sinnvoll gebrauchen hätten lassen, wurden entweder eigens in Auftrag gegeben bzw. gekauft (der Schrank), vom Heim geliehen (der Tisch) oder einfach nicht mitgenommen (Stühle). An die Auflösung seines Haushaltes zu denken, verbat sich Herr Richter; weder war er bereit, es selber zu machen, noch ließ er den Gedanken zu, dass es die neuen Besitzer womöglich täten. Herr Richters Wunsch war es, das Haus mitsamt der darin befindlichen Dinge zu verkaufen und sie weiterzugeben, weiter in Benutzung zu wissen, weiter beisammen zu lassen. Das einzige, das nicht unabhängig von ihm bestehen durfte, waren die drei Wandteller. Diese nahm er an dem Tag, an dem ich ihn begleiten durfte, mit. Er äußerte deutlich seine Bereitschaft, die Objekte ansonsten vor Ort zu zerstören. Offensichtlicher Zweck der Aussage war, zu unterstreichen, dass er die Teller unbedingt weiter in seinem Besitz und in seiner nahen Umgebung haben wollte, und nicht eine tatsächliche Absichtsbekundung. Bemerkenswert ist, dass der durchaus hohe Geldwert der Fayencen dabei nur eine Verweisrolle auf den Wert ihrer persönlichen Bedeutung hat, indem er zum Zeichen für das »gute Gefühl« geworden war, es sich leisten zu können, sich »einfach so« einen Wunsch zu erfüllen. Wofür, aus einer objektiven Perspektive betrachtet, er und seine Frau damals das Geld ausgegeben hatten, nämlich für traditionelle und anerkannte Delfter Handwerkskunst, spielte für Herrn Richter keine Rolle. Das Zusammenbleiben des Inventars war für Frau Berger in besonderem Maße wichtig. Allerdings wollte sie, im Gegensatz zu Herrn Richter, so viel wie möglich davon behalten. Sie erwog sogar in den ersten Monaten nach ihrem Umzug ins Heim, also zu einem Zeitpunkt, zu dem ihre Wohnung bis auf das Schlafzimmer noch intakt war, das nächste frei werdende Eineinhalbzimmerappartement zu mieten, um mehr Platz für ihre Sachen zu haben. ›Sich um die Dinge noch kümmern müssen‹ war bei Frau Berger wörtlich gemeint und bezog sich auf den Verbleib, nicht auf die Entsorgung der Dinge. So wollte sie einen Aufenthaltsraum für die Heimbewohner (»Casino«) mit ihren Objekten einrichten. Die Möbel dafür mitnehmen zu dürfen, war für Frau Berger eine Frage der Schicht, der Distinktion und des Geschmacks, ganz im Sinne Bourdieus, und nicht eine Frage nach Regeln und Strukturen, nach nichtdiskursiven Praktiken einer institutionalisierten Einrichtung (hier des Altenheims) im Sinne Foucaults. Für sie war eine
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Gleichbehandlung der Bewohner in dieser Sache nicht denkbar, denn allein der sich durch Geschmack und Besitz offenbarende soziale Status entschied aus ihrer Sicht über eine (damit notwendige) Bevorzugung. Diese hätte ihr in ihren Augen zuteil werden müssen. Nach ihrer Logik waren die Gegenstände anderer Leute also deswegen nicht im Haus zu finden, weil sie, gemessen an dem was als guter Geschmack gelten müsse, es nicht wert waren, behalten zu werden. Dass es ihren Sachen, die solchen normativen Ansprüchen ihres Erachtens zweifelsohne genügten, verwehrt blieb, als Einrichtung eines Aufenthaltsraumes für alle Bewohner zu dienen, war ihrer Meinung nach der Unmöglichkeit geschuldet, einer Ausländerin einen höheren sozialen Status zuzugestehen als ›einheimischen‹ Menschen. Es wird einleuchten, dass sich eine solche Vorstellung besonders leicht in einer Gesellschaft entwickelt und in die Praxis umgesetzt wird, welche die Gleichheit aller Menschen zum freiheitseinschränkenden Dogma erhoben hat. Ähnlich wie Herr Richter sich gleichsam verweigerte, irgendetwas zu entsorgen, warf auch Frau Berger nur gezwungenermaßen und lediglich sehr wenige Dinge tatsächlich weg. Da sie für den Großteil der Gegenstände, die sie selbst nicht mitnehmen wollte oder konnte, neue Besitzer gefunden hatte, und viele davon tatsächlich vom Heim (aber nicht für den erhofften Aufenthaltsraum) übernommen wurden, waren es vornehmlich Dokumente, die bei der Sortierung abfielen. Bei einigen der Papiere handelte es sich um Briefe ihres Mannes. Die meisten davon wurden zerrissen, bevor Frau Berger sich von ihnen trennte. Überhaupt waren das Befühlen und das anschließende eigenhändige Zerstören der Dinge, die Frau Bergers Haushalt in Müllsäcken verließen, ein dominantes Verhaltensmotiv bei der Schritt für Schritt vonstatten gehenden Räumung ihrer Wohnung. Frau Berger vernichtete Dinge, die sie zuvor aufgrund deren persönlichen Bedeutung und deren Funktion als Erinnerungsträger aufbewahrt hatte. Wie ihr Verhalten bezüglich der Zahnprothese ihres Mannes zeigt, war sie aber auch bereit, Dingen Gewalt anzutun, um vom materiellen Wert eines Gegenstandes zu profitieren. Hier vollzog der Rollenwandel des Objekts sich binnen weniger Minuten. Sobald der persönliche Wert keine Rolle mehr spielt, ist auch die Unversehrtheit des Objektes nicht mehr wichtig. Ganz anders als Frau Berger und Herr Richter war Frau Kaiser zeitlich recht beschränkt bei der Sortierung ihrer Sachen. Sie musste die Auswahl der Dinge, die sie mitnehmen wollte, innerhalb weniger Wochen treffen und die Gegenstände verpacken, so dass die Sachen dann zusammen an ei-
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nem Tag transportiert werden konnten. Eine kleinere Anzahl an Objekten stand ihr im Gästeappartement sofort zur Verfügung, der Rest wurde zwischengelagert, bis sie das für sie vorgesehene Zimmer beziehen konnte. Hier war es nicht das Hantieren der Seniorin mit den zu behaltenden Dingen, das ich beobachten konnte, sondern das der Angehörigen und Dritter mit dem zurückgelassenen Haushaltsinventar. Während Herr Richter die Zerstörung für ihn wichtiger Dinge als Alternative zu einer drohenden Trennung von ihnen benannte und Frau Berger Objekte, von denen sie sich letztlich losreißen musste, weil sie niemandem außer ihr wichtig waren, vor dem Wegwerfen zerstörte, überließ Frau Kaiser die Vernichtung und Entsorgung des unbrauchbar gewordenen Teils ihres Haushaltes ihren Angehörigen. Frau Kaiser arrangierte sich also mit der Tatsache, viele ihrer Dinge zurückzulassen. Sie bemühte sich nicht darum, alles eventuell Brauchbare oder Wertvolle an andere weiterzugeben. In vollem Bewusstsein, dass die Gegenstände weggeworfen und dabei weitestgehend vernichtet werden würden, entschied sie sich, diese Aufgabe zu übertragen. Auch Herr Richter überließ das Schicksal seiner Dinge anderen Personen, doch in der Hoffnung auf ihre weitere Nutzung. Man dürfe nicht daran denken, sagte er immer wieder in Bezug darauf, dass er sein Haus mit nahezu all den darin befindlichen Gegenständen aufgeben müsse, dass letztere unnütz werden können, dass sie womöglich weggeworfen werden. Letztlich trennte er sich aber von dem ganzen Ensemble und entschied sich, ganz bestimmte einzelne Objekte in neue Kontexte einzubetten. Frau Berger musste sich von ihren Dingen regelrecht losreißen. Als sie erkannte, dass sie nicht alles behalten konnte, bemühte sie sich, so vielen der anderen Dinge wie möglich, eine von ihr unabhängige Existenz zu gewährleisten. Doch nicht selten zweifelte sie daran, dass die Sachen, die ihr sehr viel bedeuteten (»sie sind mein Leben«), tatsächlich gut aufgehoben waren bei ihren neuen Besitzern. Diese standen in einem losen Verhältnis zu ihr, waren bestenfalls gute Bekannte. Frau Berger hatte am wenigsten die Möglichkeit, anderen Menschen Entscheidungen zu überlassen und wohl auch am wenigsten den Wunsch dazu, da die potentiellen Unterstützer ihr nicht nahestanden. Sie zweifelte das Verständnis anderer für sie, ihre Dinge und ihrer Beziehung zu diesen an.
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Schritt 2: grundlegende Zusammenführung Wie aus den zuvor beschriebenen Gesprächen ersichtlich, können tendenziell drei Phasen der Haushaltsauflösung herausgearbeitet werden. Der im Folgenden wiedergegeben Verlauf hat modellhaften Charakter und ist nicht von allen begleiteten Personen stringent verfolgt worden. In einer ersten Phase (1) werden die Dinge sortiert. Das geschieht weitestgehend im Vorfeld des eigentlichen Umzugs und die Sachen verbleiben dabei weiterhin in der Wohnung. Doch sie bekommen oft einen anderen Platz: Zum Beispiel werden sie aus den Schränken geräumt und auf freien Stellflächen aufgereiht, werden in Kisten verpackt oder in andere Räume gebracht, weil man ein Zimmer als den Ort definiert, in dem nicht mehr Benötigtes gelagert wird. Weggeworfen wird nur, was im klassischen Sinne Müll ist, also Sachen, die länger schon unbrauchbar waren und tatsächlich ohne triftigen Grund aufbewahrt wurden. Frau Kaiser und Frau Berger bieten gute Beispiele für Personen, die einen besonderen Wert auf diesen Teil des Prozesses legen. Bei Herrn Richter hingegen ist er wenig ausgeprägt. In einer nächsten Phase (2), die sich durchaus mit der ersten überschneiden kann, kommt es zum ersten Mal zu einem Aufbruch des Dingensembles. Nun treten manche Objekte aus der Wohnung und aus dem Besitz der umziehenden Personen heraus. Sie werden an Familie und Freunde verschenkt oder gehen als Spenden an karitative Einrichtungen, einzelne Objekte werden evtl. verkauft. Aber auch das Wegwerfen der Dinge, die aufgrund der neuen Situation unbrauchbar geworden sind, beginnt nun, eine Rolle zu spielen. Anfangs lediglich aussortierte Gegenstände wandern in den Hausmüll oder zumindest, wie bei Frau Kaiser, in Säcke, die in einem nicht mehr bewohnten Zimmer gestapelt werden. Die Dinge sind zum Zeitpunkt ihrer Entsorgung meist intakt und könnten weiter genutzt werden, würden sie aus den Müllbehältern geholt werden. Der Übergang von Phase eins zu Phase zwei ist fließend und kann sehr schwer fallen – wie bei Frau Berger zu sehen war, die nicht ohne fremde Hilfe den Schritt vom Sortieren zum Aussortieren machen konnte. Schließlich (3), wenn alle Dinge, die weiter erhalten bleiben sollen, entweder in die neue Wohnung ihrer Besitzer Einzug gefunden oder in den Räumlichkeiten der nächsten Bewohner einen Platz eingenommen haben, muss schließlich in der Regel die ehemalige Wohnung oder das Haus geräumt werden. Nun verwandelt sich alles, was noch vor Ort ist, per Definition zu Abfall und kann den Status nur durch jemanden verlieren, der die
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durch den ehemaligen Besitzer und dessen Angehörige als unbrauchbar klassifizierten Dinge wieder in den Gebrauch erhebt. Es ist also der Gebrauchswert für Dritte, der nun über die Weiterexistenz dieser verworfenen Gegenstände bestimmt. Zuweilen kommt eine materielle bzw. monetäre Wertebene, hinzu, auf welche in der Regel wiederum lediglich Dritte zugreifen, so zum Beispiel Räumungsunternehmen die Objekte aus dem aufzulösenden Haushalt weiterverkaufen. Die letzte Phase ist von ihrer zeitlichen Dauer vergleichsweise knapp, meist auf wenige Tage, zuweilen Stunden, beschränkt. Eine Räumung kann in Eigenleistung und bzw. oder in Fremdleistung erfolgen. Der Umgang mit den Dingen ist nun deutlich schonungsloser als in den zuvor beschriebenen Phasen: sie werden nicht nur per Definition zu Müll, sondern zumeist auch zerstört – aus praktischen Gründen, um das Wegwerfen zu erleichtern und um Platz zu sparen: Damit Schrankwände und Regale zu Müll werden können, müssen sie zuvor auseinandergenommen werden, was in Anbetracht ihres Funktionsverlustes ohne Rücksicht auf die Objekte und damit schnell geschehen kann. Die Gespräche, die in den Kapiteln 4.1-4.4 wiedergegeben sind, verweisen darauf, dass die Auseinandersetzung mit den Dingen nicht nur von den Senioren selbst vollzogen wird, sondern auch von Angehörigen oder Dritten. In der Regel sind in Phase eins die Hauptakteure die Besitzer selbst. Wie meine Forschung gezeigt hat, kommt es aber vor, wie beispielsweise bei Herrn Seiler, dass diese teils nur passiv mitgestalten, auch wenn aus gesundheitlicher Sicht die Möglichkeit dazu bestünde, alles selber zu entscheiden und vieles durchzuführen. Herr Richter hatte sich zu einem ganz anderen Vorgehen entschlossen und nahm die für ihn relevanten Sachen direkt aus dem ungeordneten Bestand mit. Er sortierte die Dinge auf einer abstrakten Ebene und veränderte nicht ihren Ort dazu. Seine Angehörigen wurden von ihm zwar mit ausgewählten Objekten bedacht, doch die, die ihm am nächsten standen, sollten selber eine Auswahl treffen und mitnehmen, was sie wollten. Die Erweiterung des Kreises der Akteure geht mit dem Übergang zur zweiten Phase einher. Beim Abwandern der Dinge aus dem früheren Wohnkontext treten zwangsläufig Verwandte und Freunde auf den Plan. Bei der dritten Phase, der Räumung schließlich, sind in der Regel auch entfernte Bekannte oder Fremde, wie private und bzw. oder professionelle Helfer, Passanten die Dinge vom Sperrmüll mitnehmen und so fort, im Spiel, ebenso Institutionen wie zum Beispiel die städtische Müllabfuhr oder karitative Einrichtungen. In einem tabellarischen Über-
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Graphik 2: Objekt-Itinerarien während und nach dem letzten Umzug (Lesebeginn mittig).
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blick sollen im Folgenden Objekt-Itinerarien, wie sie sich im Laufe des letzten Umzuges und darüber hinaus gestalten könnten, nachgezeichnet werden. Von dem in Auflösung begriffenen Inventar (in der Mitte der Graphik) wird ausgegangen, die damit zusammenhängenden Handlungsoptionen sind grau untermalt. Fette Schrift zeigt an, wo der Besitzer selbst auf seine Dinge Einfluss nimmt, kursive Schrift indiziert das Eingreifen Angehöriger oder Dritter. Die durchbrochen gerahmten Felder und die grauen Pfeile sind als Kommentare zur weiteren Differenzierung zu sehen, die punktierten Pfeile verbinden dabei nahezu deckungsgleiche bzw. ineinander übergehende Objektgruppen miteinander. Die prinzipielle Mobilität der Dinge macht es möglich, sie zu übertragen oder sich ihrer zu entledigen. Übertragen werden sie entweder in eine neue Wohnung, wie bei Umzügen üblich, oder in den Besitz einer anderen Person. Man kann hier im Sinne Daniel Millers ([2008] 2010) vom Trost der Dinge sprechen und sie als Anker sehen, so wie Nils A. Bringéus, wenn er vom Umzug seiner Mutter ins Altenheim berichtet: »Wir konnten es [das Zimmer] bis auf das Bett mit ihren eigenen Möbeln einrichten. […] Als meine Geschwister und ich dabei halfen, das Zimmer einzurichten, waren wir uns kaum darüber im Klaren, was die Möbel unserer Mutter bedeuten. Nachdem Sehkraft, Gehör und Gedächtnis geschwächt waren, wurden ihr die Möbel und Bilder buchstäblich wichtiger als ihr Krückstock. Sie waren ihr eine Stütze, und in ihnen fühlte sie sich verwurzelt. […] Die Möbel, Bilder und Kissen waren etwas Greifbares. Es waren ihre eigenen, sie waren mit Erinnerung geladen. Die Möbel gaben einem Menschen, der andere Stützen verloren hatte, Sicherheit[…].« (Bringéus 1986: 174)
Die hier angesprochenen Funktionen lassen Dinge als Identität zum Mitnehmen und Erinnerungen zum Weitergeben auftreten. Der Psychologe Franz Breuer (2013) setzt sich mit der Logik des Weitergebens, mit dem Personen und Generationen verbindenden Objekttransfer im Allgemeinen, und im Besonderen am Lebensende, auseinander. Er beleuchtet die Rolle vermachter Dinge bei Trauerarbeit und beim Gedenken an Verstorbene und verweist darauf, dass »das Schicksal persönlicher Objekte jenseits des Zeitpunktes ihres Transfers« in der wissenschaftlichen Betrachtung mit einer
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Idee von Transzendenz verbunden werden müsse. Breuer schreibt weiter über stark persönlich geprägte Objekte: »Der Schöpfer und Gestalter eines Objektes kann in Form seiner multidimensional geprägten Hinterlassenschaft in der Erinnerung fortleben und durch Implikationen bezüglich ihrer Handlungsmaximen (Organisation, Kultur und Ethik) fortwirken, auch wenn er gar nicht mehr als Protagonist der Objektverfügung amtiert – selbst dann noch, wenn er gar nicht mehr unter den Lebenden weilt.«
Ein solcher Erinnerungen stiftender Transfer setzt allerdings ein Gegenüber voraus, dem der (Vor-)Besitzer und die damit verbundenen Erinnerungen gut bekannt und bedeutungsvoll sind. An dieser Stelle kann somit eine Erklärung (von sicher mehreren zusammenspielenden) für die so unterschiedlichen Haltungen der begleiteten Personen bezüglich der eigenen Dinge formuliert werden. Frau Berger beispielsweise hat keine nahestehende Person, geschweige denn einen ihr lieben Angehörigen in ihrem Umfeld ‒ sie beschäftigt das Schicksal ihrer Dinge sehr. Herr Richter hat eine relativ lose Bindung zu den wenigen Angehörigen, denen er Dinge vermachen kann. Seine einzige Tochter, und damit die nächste Verwandte, ist bereits verstorben. Er denkt, soweit möglich, nicht an die Gegenstände, die er niemanden zuteilen kann, hofft aber dass sein Hausstand (möglichst als Ganzes) den neuen Besitzern nützlich sein kann. Frau Kaiser allerdings ist gut eingebunden in eine familiäre Struktur, deren Mitglieder in regem Austausch zueinander stehen. Des Weiteren hat sie enge Freunde und einen festen Platz in ihrer Kirchengemeinde. Sie weiß ihre aussortierten Sachen entweder gut aufgehoben und sinnvoll verwendet oder wirklich von Niemanden mehr gebraucht ‒ sie wirkt, als habe sie ihren Frieden mit der Situation geschlossen. Dinge weitergeben zu wollen und zu können, zeugt von einer, wie auch immer gearteten, Bedeutung und Funktion dieser Gegenstände. Doch die Abkehr von gewissen Dingen oder ihre Aufgabe sind umgekehrt kein Zeichen ihrer Wertlosigkeit. Selbst ihre Zerstörung birgt eine fundamentale Aussage über die Mensch-Ding-Beziehung. Wenn man mit Blick auf den Umzug in ein Altenheim den eigenen Haushalt auflöst, stellt sich das Bewusstsein des nicht mehr allzu weit entfernten Todes zwangsweise ein. Durch die Konfrontation mit den Dingen eines ganzen Lebens, die in manchen Fällen Stück für Stück durch die Hand gehen und gleichzeitig als Un-
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menge schierer Materialität hinter Schranktüren und aus Schubladen hervorgeholt werden, wird die Möglichkeit des Fortbestehens der Objekte über den eigenen Tod hinaus manifest. Bei manchen Gegenständen ist dies so beabsichtigt. Den meisten Dingen gegenüber stellt sich Gleichgültigkeit, Distanz oder zumindest eine zur Wahrung der Contenance notwendige Akzeptanz ihres Verlustes ein. Doch manche Dinge sind so eng mit einer Person verbunden, dass ihr der Gedanke, sie seien unabhängig von einem selbst, dass der eigene Tod ihnen nichts anhaben kann, unerträglich ist. Solche Objekte werden ihren Besitzern zum Symbol für das nahezu vergangene Leben, mit dessen Ende die Beziehung zu ihnen zwangsläufig ebenfalls vergehen wird, während jene aber weiter existieren können. Der Unwille hiergegen führt zum selbst gewählten und teils eigenhändig vollzogenen Ende der Beziehung durch das (passive oder aktive) Verwerfen oder Zerstören der namentlichen Objekte. Die Bandbreite erstreckt sich vom Zurücklassen des Hochzeitsphotos, wie Frau Kaiser es tat, in dem Wissen, dass alles, was in der Wohnung bleibt, von anderen weggeworfen werden wird, bis hin zum Zerreißen persönlicher Briefe, wie Frau Berger es vollführte, bevor sie mir die Fetzen in die Hand drückte, damit ich sie in den Müllbeutel gebe. Schritt 3: reflexive Interpretation In Kapitel 2.2 war mit Verweis auf Autoren wie Hans Peter Hahn, Bernhard Waldenfels und Maurice Merleu-Ponty die Rede vom Eigensinn der Dinge und ihrer sinnlichen Erfahrbarkeit, die als reziproke Selbst- und Umweltwahrnehmung Ich-konstituierend und -bestätigend wirkt (anders: ich nehme einen Gegenstand wahr und gleichzeitig nehme ich mich selber wahr, weil ich einen Gegenstand wahrnehme). Wie vorgestellt wurde, bestimmt der in der Stofflichkeit begründete Eigensinn der Dinge, auf den wir besonders mittels unserer haptischen Sinne Zugriff haben, unser Hantieren mit ihnen. Zuweilen stößt die Erkenntnis, dass der Rahmen unserer Bezugnahme auf Dinge von materiellen Eigenheiten vorgegeben ist, den gestaltenden Menschen als ihren potenziellen Schöpfer, Bedeutungsgeber und Besitzer vor den Kopf. Und immer wieder reagieren wir darauf mit physischer Aggression den Dingen gegenüber (Depner 2013). Dass wir Hand anlegen, um die Dinge zu machen, führt dazu, dass wir dies auch tun, um Macht über sie zu erlangen, gegebenenfalls mit Gewalt.
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Es gibt also Objekte, zu denen die Beziehung so geartet sein kann, dass der Gedanke an deren physisches Bestehen über das eigene hinaus unerträglich wird. Die betreffenden Menschen erfüllt es mit Neid und Eifersucht und sie wollen im jeweiligen Subjekt-Objekt-Austausch die Oberhand behalten. Dinge, welche die Senioren aufbewahrt und gepflegt haben, mit denen sie schonend und fürsorglich umgegangen waren, offenbaren ihnen am Ende des Lebens einen Vorsprung durch die Möglichkeit, dass ihr Itinerar von ihrem jetzigen Besitzer unabhängig weitergeführt werden kann. Weder kann ein solcher Vorsprung geduldet noch können die Gegenstände weitergegeben werden, weil die Beziehung zwischen ihnen und ihren Eigentümern für diese exklusiv und sehr intim ist. Dennoch, oder gerade deswegen, wählen die Senioren den Weg, solche Objekte zu zerstören oder durch andere vernichten zu lassen. Wenn Andere über das Schicksal der Dinge entscheiden sollen, kann, wie in Falle von Frau Kaiser, ein einzelnes Objekt, das inmitten von sonst unbestimmten Dingen zurückgelassen wird, der Gegenstand sein, den man von sich entkoppelt wissen möchte. Oder aber es spielt, wie bei Herrn Richter, der Aspekt des Ensembles der Dinge die übergeordnete Rolle. Hier ist der ›Gegenstand‹ der Entkopplung die im Laufe vieler Jahre gemeinsam mit seiner verstorbene Frau zusammengetragene Einrichtung. Die Einrichtung eines Hauses, in dem nicht zuletzt die früh verstorbene, in den Gesprächen selten erwähnte, Tochter großgezogen wurde. Gerade bei Herrn Richter schien das Bemühen darum, die Dinge loszulassen am deutlichsten erkennbar ‒ gleichzeitig war der Wunsch ersichtlich, sie für andere verfügbar zu machen. Wie geht dies zusammen und ist es Zufall, dass gerade er sich so darum bemühte? Von der subjektiv empfundenen Zusammengehörigkeit eines Haushaltsinventars soll im nächsten Abschnitt die Rede sein.
5.3 W OHNEN
NACH DEM LETZTEN
U MZUG
Mir fällt auf, dass viele der Bilder, Karten und Teller ähnlich beisammen gehängt sind wie in der vorherigen Wohnung, einige sind sogar wieder in der Nähe derselben Möbelstücke aufgestellt. Einen prominenten Platz nehmen vier Teller ein, die als Ausschnitt einer zuvor größeren Gruppe, wieder diagonal übereinander angeordnet, mittig zwischen Herrn Seilers Sessel und seinem Bett an der Wand hängen. Darunter, auf dem an die Wand ge-
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stellten Wohnzimmertisch mit Glasplatte und Wiener Geflecht, stehen wie zuvor zwei schlanke chinesische Fishbone-Skulpturen. Die runde Lackschatulle hat dazwischen Platz gefunden (wie zuvor ein anderes Schmuckkästchen), darauf liegen weiterhin Herrn Seilers Brillen. (Aus den Forschungsberichten, letztes Gespräch, Herr Seiler.) Dort [auf dem Fensterbrett] ist ein geblümter Tischläufer ausgelegt, darauf stehen zwei üppig blühende Orchideen, eine kleine Schirmlampe, dazwischen, je auf ein zusätzliches kleines Platzdeckchen gestellt, zwei bunte Glasvasen und eine Puppe. Diese Stoffpuppe war in der früheren Wohnung mit anderen Puppen und Stofftieren am Kopfende des Bettes platziert. […] »Ah, die Puppe haben Sie mitgenommen!« – »Ja, die Oma strickt jetzt hier«, sagt Frau Kaiser; ich […] frage, was mit den anderen Figuren passiert ist. »Die habe ich dort gelassen«, sagt sie unbekümmert. »Und warum haben Sie nur diese mitgenommen?«, will ich wissen. »Die hat mir gefallen«, ist die kurze Antwort. (Aus den Forschungsberichten, letztes Gespräch, Frau Kaiser.) »Haben Sie denn all Ihre Sachen schon geholt oder wollen Sie noch einmal rausfahren?« Mit der Antwort lässt er sich Zeit und schmunzelt, bevor er sagt: »Wenn ich daran denke, dass 90 Prozent der Dinge, meine Dinge, im Haus sind… Die werden alle weggefahren. Aber das ist nicht meine Sache. Ich kann mich nicht darum kümmern. Das muss die Frau von der Deutschen Bank wegwerfen, oder die neuen Besitzer.« Vielleicht, so meint er, würden sie ja auch was behalten, seine Möbel im Wohnzimmer seien ja »noch gut« gewesen. Er brauche nichts mehr, er sei zufrieden. (Aus den Forschungsberichten, letztes Gespräch, Herr Richter.) [Frau Beer über ihre Mutter, Frau Schwarz:] »Der Igel ist ihr sehr wichtig. Den habe ich ihr geschenkt. Als sie den heute Früh gesehen hat, da sind ihr die Tränen gekommen.« Sie soll gesagt haben: »Das ist ja schön, dass du an den gedacht hast.« Ich frage die Tochter nach den Kriterien bei der Auswahl der Dinge. »Das war mir schon klar [was mit muss]. War nicht so schwer; so viel gab es da ja auch nicht.« […] Später spreche ich Frau Schwarz auf den Igel an. Ganz gefasst und sachlich sagt sie: »Ja, der ist wichtig, den hat mir meine Tochter geschenkt als mein Mann gestorben ist,
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als, ja, Ersatz sozusagen [sie stockt] zum Trost, damit ich nicht so einsam bin.« (Aus den Forschungsberichten, letztes Gespräch, Frau Schwarz.) »Ich hatte eine tolle Couchgarnitur. Sehr teuer und gut gepflegt. Chesterfield-Stil. Die durfte ich auch nicht mitnehmen. Sie steht draußen im Flur.« Durch den Aufstellungsort, der nicht innerhalb ihres Privatraumes ist, scheinen ihr ihre alten Möbel, Bilder und Vasen nur wie das Phantombild ihrer Dinge, so als seien es nicht mehr dieselben und besonders nicht mehr ihre Sachen. Man kann heraushören, dass ihr die Möbel, die in ihren Augen aus dem Kontext gerissen wurden, fremd geworden sind. Auch verschenkte Dinge werden von ihr unter »weggeschmissen« subsumiert. (Aus den Forschungsberichten, letztes Gespräch, Frau Berger.) [Ihre Tochter] habe das ganz gut gemacht, sie habe an alles gedacht. Was könne man auch schon in so ein kleines Zimmer stellen – die Sachen hätten ohnehin keine Bedeutung mehr. Sie erzählt mir, sie und ihr Mann hätten in zwei Zimmern je zwei lange Regale gehabt, die vom Boden bis zur Decke gereicht hätten. Diese seien voller Bücher gewesen und immer, wenn sie etwas habe wissen wollen, habe sie genau gewusst, wo sie nachsehen könne. Diese Bücher würden ihr fehlen, aber es habe keinen Sinn, sie mitzunehmen. Wie solle sie eine Auswahl treffen. Und selbst wenn, dann stünden diese Bücher nicht mehr an ihrem Platz, in ihrem Kontext, und das sei es gewesen, was die Vertrautheit ausgemacht habe – zu den Büchern und zu der Wohnung. (Aus den Forschungsberichten, letztes Gespräch, Frau Lindner.) Welche Rolle spielt das Netzwerk der Dinge (Küchler 2013) in einem Bestand, der von seinem Besitzer als zusammengehörig empfunden wird? Wir haben gesehen, dass Objekte wertlos werden können, wenn sie für ihre früheren Eigentümer nicht mehr nützlich sind. Auch war die Rede davon, dass Dinge verworfen werden, wenn sie, aus welchen Gründen auch immer, nicht weitergegeben werden können. Der Zusammenhang zwischen den Möglichkeiten und Rahmenbedingungen des Objekttransfers und der Haltung der Senioren zu ihren Gegenständen wurde dargelegt. Menschen stehen aber nicht nur mit den einzelnen Elementen ihres Haushaltes in Beziehung, sondern mit dem ganzen Ensemble. Innerhalb eines solchen Ensem-
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bles sind die Dinge miteinander verknüpft, verweisen aufeinander und treten für einen Beobachter, besonders für einen ›(Mit-)Bewohner‹, in Austausch zueinander. Schritt 1: Diskussion der Fallbeispiele Ähnlich wie Frau Kaiser, wusste auch Herr Seiler, dass seine Sachen in vielfältiger Hinsicht Sinn-voll für seine Kinder sein würden, und war daher bestrebt, sich mit ihrem Verlust zu arrangieren. Doch Herr Seiler hatte verbissen darauf bestanden, nichts mitnehmen zu wollen, und versprach sich davon, mit dem Umzug besser umgehen zu können. Ihm erschien es dazu zielführend, eine unberührte, radikale und konsequente Haltung einzunehmen. Letztlich bewohnte er, und hierbei spielten seine Angehörigen eine große Rolle, einen dem früheren Wohnzimmer durchaus detailliert nachempfundenen Raum. Beim letzten Gespräch mit ihm gewann ich den Eindruck, dass dieser Umstand Herrn Richter erleichtert hat, sich mit der neuen Wohnsituation einzurichten. Er sprach von sich aus und geradezu ausgelassen über die Dinge im Raum, sogar anders als zuvor über solche, die keinen Sammlerwert hatten, wie über das Souvenir, das sein Sohn ihm im Alter von 11 Jahren aus London mitgebracht hatte. Frau Kaiser, der es von Anfang an am besten gelungen war, mit der Situation zurechtzukommen, und die prinzipiell einen losen Bezug zu ihren Dingen zu haben schien, hatte hingegen kaum ein Arrangement aus ihrem alten Zuhause reproduziert. Sie löste ohne Bedenken (und ohne dass sie es für nötig befand, die Gründe zu reflektieren) einzelne Objekte des Inventars aus ihrem vorherigen Netzwerk heraus und transferierte sie in ihr Heimzimmer in einen neuen Kontext. Doch auch bei ihr spielte die Idee des Ensembles, wenn auch in einer anderen Dimension, eine Rolle, wenn sie, ihrer Angewohnheit folgend, Dinge ähnlicher Funktion gruppiert oder in ihrer Vitrine gute Gläser dekorativ geordnet und Gebrauchsgeschirr pragmatisch gestapelt aufbewahrte. Die Zugehörigkeit der Dinge zu einer spezifischen Objektgattung bestimmte ihr Verhalten ihnen gegenüber. Bei Herrn Richter und Frau Schwarz habe ich eine Haltung gegenüber ihren Gegenständen beobachtet, die als distanziert zu bezeichnen ist. Herr Richter musste sich, ähnlich wie Herr Seiler, darum bemühen, den gewünschten emotionalen Abstand zu erlangen, während dies Frau Schwarz, vergleichbar mit Frau Kaiser, meiner Einschätzung nach ohne Mühe gelang. Das Ensemble war beiden Damen kein maßgebendes Kriterium für
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den Zugang zu den Dingen, sondern nur für den Umgang mit ihnen. Auch in Frau Schwarzens Wohnheimzimmer fand sich eine punktuelle Auswahl an Sachen wieder, die vorerst nicht in einem als Reproduktion ersichtlichen Verhältnis zueinander standen. Die Objekte müssten noch ihren Platz finden, ihr Gefüge wurde nach dem Umzug neu verhandelt. Die Bedeutung der Gegenstände für Frau Schwarz war bei der Auswahl der Dinge (die ihre Tochter getroffen hatte) tonangebend. Bedeutung als, zum Beispiel Mittel der Kommunikation, atmosphärisches Arrangement, gewollte Inszenierung oder Demonstration der eigenen gesellschaftlichen Position, spielte eine untergeordnete Rolle. Das Geschenk ihrer Tochter nach dem Tod des Ehemannes, der große Igel aus Stoff, stach heraus. Dass das von ihr zuvor bewohnte Inventar als Ensemble auseinandergebrochen war, schien sie im Allgemeinen nicht zu irritieren. Für Herrn Richter kann ähnliches in Bezug auf die Bedeutung, welche die einzelnen Dinge für ihn hatten, formuliert werden. So hing er beispielsweise die drei Teller, die sich über dem Esstisch befanden, in seinem Wohnheimzimmer nicht wieder in derselben Anordnung an die Wand. Die Bedeutung des Ensembles als solches spielte in seinem Fall aber keine marginale Rolle. Zwar war dessen Erhalt für Herrn Richter nicht dahingehend wichtig, dass er die Dinge so komplett und zusammenhängend wie möglich in die neue Wohnsituation transponieren mochte. Doch der Gedanke, dass das von ihm weitestgehend intakt zurückgelassene Haushaltsinventar aufgebrochen wurde, betrübte ihn sehr. Immer wieder verbat er es sich, daran zu denken, immer wieder klang die Hoffnung an, dass die im Haus belassenen Sachen gemeinsam genutzt würden und ihre Verbundenheit untereinander ungestört bliebe. Dass sich der Sinn der Dinge, wenn sie sich nicht mehr aufeinander und nicht mehr auf den vorgesehenen Kontext beziehen, verändert, ist am deutlichsten in den Fällen von Frau Berger und Frau Lindner zu sehen. Beide litten sehr darunter, dass sie von ihrer Wohnung und von ihren Dingen getrennt wurden. Sie mussten sich überwinden, um die neue Wohnsituation anzunehmen. Die Damen verfolgten dabei unterschiedliche Strategien und während Frau Berger anfänglich wenig Schwierigkeiten zu haben schien, war es am Ende Frau Lindner, der es leichter fiel, ihren Frieden mit den neuen Umständen zu schließen. Frau Berger versuchte, so viele ihrer Sachen wie möglich mitzunehmen und plante, ein Eineinhalbzimmerappartement im Heim zu mieten, um
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mehr unterbringen zu können. Darüber hinaus bemühte sie sich, sich außerhalb ihres Privatraumes weiterhin mit ihren Dingen zu umgeben. Der Verlauf des Umzugs sowie die neue Wohnsituation waren für Frau Berger nicht nur verbunden mit der Aufgabe vieler Sachen, sondern auch mit einem schmerzhaften und, wie es scheint, wenig verarbeitetem Aufbrechen der ihr eigenen Sichtweise auf ihre Dinge. Sie konnte zwar einen beträchtlichen Teil ihrer Möbel, Bilder und anderen Dekorgegenstände in den öffentlich zugänglichen Bereichen des Heims unterbringen, zum Beispiel auf dem Flur ihres Stockwerkes oder im Wartebereich vor den Büros der Heimverwaltung; und wenn die Heimleiterin Gästen ein Glas Wasser anbot, so wurde es in Frau Bergers Kristallgläser eingeschenkt, die offenbar doch ihren Weg in das Inventar der Einrichtung gefunden haben. Doch letztlich verlor Frau Berger den Bezug zu diesen Dingen, die nun nicht mehr in direkter Verbindung mit ihr waren und auch nicht mehr für sie standen, sie weder als private noch als soziale Person repräsentierten. Der Bezug zu diesen Objekten und zu den Dingen, die sie an Freunde und Bekannte verschenkt hatte, wurde zunehmend ähnlicher, obgleich erstere sich in ihrer unmittelbaren Umgebung und größtenteils nominell noch in ihren Besitz befanden. Was die weitergegebenen Dinge betraf, so zweifelte sie, ob die neuen Eigentümer sie zu schätzen wüssten. Ihre Aussagen lassen vermuten, dass nicht nur die Gegenstände, die tatsächlich im Müllcontainer landeten, in ihren Augen als »weggeschmissen« galten.1 Die Störung des Inventars in seiner Zusammengehörigkeit als Ensemble wird von Frau Berger besonders hinsichtlich dessen Bezogenheit zum Wohnraum empfunden. Innerhalb ihres Heimzimmers stand die Wiederherstellung des zuvor bekannten Bezugsgefüges der einzelnen Dinge nicht im Vordergrund. Sie richtete es mit den Möbeln ihres Schlafraumes ein und veränderte sie sogar teilweise dafür. Sie kaufte einen neuen Sessel und ließ
1
Innerhalb der Heimgemeinschaft wurde so wenig wie möglich thematisiert, dass es sich um Frau Bergers Möbel handelte. Seitens der Heimleitung bestand das Interesse, dass die anderen Bewohner sich nicht übergangen fühlten; Frau Berger vermutete, dass diese ihr mit Missgunst begegneten, weil sie selbst nicht so gut situiert waren. Was jene wirklich bezüglich der Möbel und Bilder dachten, konnte ich nicht festhalten, da meine Fragen zu diesem Thema von den Senioren mit einem Achselzucken und der Angabe, sie würden keine Sitzmöglichkeiten im Flur nutzen, beantwortet wurden.
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sich einen selbst entworfenen Konsolentisch zimmern, der dem Raum, der Einrichtung, ihren Bedürfnissen und ihrem ästhetischen Empfinden angepasst war. Ausgewählte Bilder aus allen Zimmern wurden aufgehängt, sie entschied sich für die besten Geschirr- und Glasservices, die sie sonst kaum benutzt hatte, und verhandelte Platz und Position der mitgenommenen Dinge immer wieder neu. Einige Einrichtungsmuster, wie die galerieartige Anbringung der Bilder und die Symmetrie der Arrangements in den Regalen, behielt sie bei, die einzelnen Objekte wurden aber zu einem neuen Netzwerk verflochten. So waren zwar nahezu alle Dinge von der kleinen Kommode, die zuvor in der Fensterecke des Wohnzimmers stand, inklusive dem darüber hängenden Bild, im Heimzimmer wiederzufinden, doch in vollkommen neuer Anordnung, an ganz unterschiedlichen Stellen des Raumes. Zudem kamen, ähnlich wie bei Herrn Seiler das Souvenir von seinem Sohn, neue Objekte ans Tageslicht, die zuvor nicht offen zu sehen waren. Ihre Zeigmächtigkeit gründete weder auf dem, was sie abbildeten (wie z.B. bei Photos und Bildern), noch auf dem, was sie wert waren (wie z.B. teure oder seltene Objekte). Es waren Gegenstände, deren Anwesenheit zu einem beträchtlichen Teil ausschließlich für Frau Berger auf etwas verwies, so wie die Schornsteinfegerfigur. Um sich Frau Bergers Haltung interpretativ zu nähern, muss zusätzlich die Komponente, die ihre Emigration spielt, bedacht werden: Sie führte immer wieder an, Gegenstände für ihre Wohnung vor dem Hintergrund bewusster Überlegungen, die in Verbindung mit Rumänien, ihrer Familie und ihrer Geschichte standen, ausgewählt zu haben. Ihre Dinge spiegeln, laut eigener Aussage, ihre Art zu sein und sind somit Erinnerungen an ihre Herkunft. Allerdings nicht im Sinn von Souvenirs, die auf das konkrete Ereignis einer Reise oder einen konkreten Ort verweisen. Die Dinge, die Frau Berger in ihrer Wohnung zusammengetragen hat, sind vielmehr das Ergebnis dessen, was sie geprägt hat. Sie zu reduzieren, allein schon ihre Ordnung zu verändern, bedeutete für sie einen Angriff von außen auf ein Gefüge, das sie als für sich konstitutiv empfand. Am deutlichsten wurde das, wenn sie sagte: »Wo ist da der Respekt den alten Menschen gegenüber? Das kann man nicht von ihnen verlangen! Es ist immerhin ihr Leben – man kann nicht einfach so [alles] wegschmeißen.« Durch die zweisprachige Formulierung erschließt sich, dass sie sich in ihrer stark am ästhetischen Ideal rumänischer Interieurs orientierter Wohnung vor einem ›deutschen Außen‹ zurückgezogen hat. Es geht um den Konflikt zwischen ihr als Ru-
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mänin und der deutschen Gesellschaft, die sie aus ihrer Sicht beschneidet, ja beneidet, wie im letzten Gespräch geäußert wurde. Frau Lindner war von der Dramatik, mit der sie ihre eigene Situation wahrnahm, so überwältigt, dass sie anfänglich gar nicht an ihre Dinge denken mochte. Nicht, weil ihr das weitere schmerzhafte Emotionen bereitet hätte, sondern weil die Aufgabe der alten Wohnung, die Idee, zur eigenen Nachlassverwalterin zu werden, für sie grundsätzlich inakzeptabel war. Nachdem sie aber mit ihrer Tochter zusammen den Haushalt aufgelöst hatte, schien sie wesentlich besser mit ihrer Lage zurechtzukommen. Sie hatte sich, gemessen an Frau Berger, für eine recht objektarme Einrichtung entschieden. Den Bezugsverlust der Gesamtheit ihrer Dinge zueinander und zu ihrer früheren Wohnung gestaltete sich für sie aber ebenfalls als große Schwierigkeit. Frau Lindner reflektierte und verbalisierte dies; bei unserem letzten Gespräch schien sie ihre Bestürzung über die Situation überwunden zu haben. Nur hatte Frau Lindner im Gegensatz zu Frau Berger eine Tochter, der sie Dinge weitergeben konnte, auch wenn die Bindung der beiden Frauen zueinander eher lose ist. Frau Lindner hatte aber auch ein bestimmtes Objekt, das ihr weitergegeben wurde: der Schreibtisch ihres Mannes. Mit diesem Gegenstand verband sie so viel, dass er physisch und metaphorisch den meisten Raum in ihrem Heimzimmer einnahm. An diesem Ding hielt sie fest. Schritt 2: grundlegende Zusammenführung Im voranstehenden Teil wurde ein Ausschnitt aus Niels A. Bringéus’ Bericht vom Umzug seiner Mutter ins Altenheim zitiert (vgl. Kap. 5.2). Bringéus stellt die These auf, dass in einen neuen Wohnkontext transferierte Dinge eine materielle Verankerung im (Wohn-)Raum über ihre Bedeutung gewährleisten: »Die Möbel, Bilder und Kissen waren etwas Greifbares. Es waren ihre eigenen, sie waren mit Erinnerung geladen. Die Möbel gaben einem Menschen, der andere Stützen verloren hatte, Sicherheit allein schon, daß sie ihm jedem Morgen sagen, wo er sich befindet. Vielleicht haben nur das Kind und der sehr alte Mensch ein solches Verhältnis zu den Dingen.« (Bringéus 1986: 174) [Herv. AD]
Die Ermöglichung einer solchen Stützfunktion sieht Bringéus in der Greifbarkeit der Objekte, im Bewusstsein, dass sie einem gehören, und in den
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mit ihnen verbundenen Erinnerungen. Aspekte, die in der vorliegenden Arbeit ausgiebig als Pfeiler der Mensch-Ding-Beziehung dargelegt wurden. Doch verkennt eine lineare Extrapolierung dieser Beziehung auf den Raumbezug des Individuums und sein Wohnempfinden nicht das Gefüge der Dinge untereinander, das Menschen konstituieren und dessen Teil sie sind? Wie die hier vorgestellte Untersuchung zeigt, sind die eigenen Dinge, aus dem vorgesehenen Wohnkontext gerissen, nicht in der Lage, das bekannte Wohngefühl gänzlich zu reproduzieren. Die Aussage darüber, wo sich ihr Besitzer befindet, wäre also demzufolge explizit nicht die, die Bringéus meint, sondern ironischerweise ihr Gegenteil: Die neu aufgestellten Dinge machen den Senioren erst recht deutlich, dass sie sich nicht mehr in ihrem vorherigen Zuhause befinden. Es wurde ersichtlich, dass ein derartig neuer Wohnkontext, wie ihn der Umzug ins Heim zur Folge hat, zur Umwertung der Dinge führt und dass, einhergehend mit einem solchen Umbruch, beobachtet werden kann, wie sinngefüllte Objekte in den Augen ihrer Besitzer sinnlos werden. Die eigenen Dinge haben in einem bestehenden Beziehungsgefüge eine bestimmte Bedeutung. Sie sind miteinander und mit dem Wohnraum verbunden. Die auf Gegenstände bezogene raumkonstituierende Handlung Wohnen ist von einem selbstbestimmten und selbst gewählten Rahmen abhängig. Die Wohnformen im hohen Alter sind aufgrund des demographischen Wandels unserer Zeit zunehmend in den Blickpunkt gesellschaftspolitischer und wissenschaftlicher Diskussionen geraten. Neue Modelle werden entwickelt und allgemeinhin geht der Trend weg von einem zeitigen Umzug in ein einst ›klassisches‹ Altenheim mit integrierter Pflegeabteilung, für den sich die sechs hier vorgestellten Senioren entschieden hatten. Institutionalisierte Alternativen sind auf der einen Seite die Anlagen für betreutes Wohnen. Diese bieten allerdings vergleichsweise wenig aktive Fürsorge und können möglicherweise früher oder später auch nicht mehr den Betreuungsbedarf der Alternden auffangen. Auf der anderen Seite steht die Bestrebung, gegebenenfalls mithilfe ambulanter Pflegedienste, so lange es irgend geht in den eigenen vier Wänden wohnen zu bleiben – und möglicherweise letztlich gezwungen zu sein, doch in ein Pflegeheim zu gehen. In einem solchen Kontext kann weder von einem selbst gewählten Umzug noch von einem selbstbestimmten Wohnen die Rede sein. Zudem verkennt die grundsätzlich positiv behaftete Vorstellung vom Zuhause-wohnenbleiben im letzten Lebensabschnitt, dass in den meisten Fällen auch inner-
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halb der bekannten Umgebung kein selbstbestimmtes Wohnen mehr möglich ist. Nach welchen Kriterien die Entscheidung, seinen Lebensabend zu verbringen, gefällt wird, ist eine Frage der persönlichen Präferenz, der Informationsmöglichkeiten und der angebotenen Alternativen – und natürlich der finanziellen und familiären Möglichkeiten. Die derzeitigen besonders im urbanen Milieu zu beobachtenden gesellschaftlichen Entwicklungen hin zu einer breiten Schicht von alten und sehr alten Menschen sowie hin zu Einpersonenhaushalten (was durchaus miteinander verschränkt ist), legen nahe, dass sich ein später Umzug mit deutlicher Einschränkung des Wohninventars zunehmend als Teil der individuellen Biographie etablieren wird. Auch wenn Wohnen ohne Dinge nicht denkbar ist, so bleiben beide Aspekte des menschlichen Alltags in ihrer Praxis oft aufgrund ihrer apparenten Selbstverständlichkeit unbedacht. Schritt 3: reflexive Interpretation Die Herausforderungen des letzten Umzugs auf der Ebene der MenschDing-Beziehung wurden auch wissenschaftlich bisher wenig beachtet. Dabei ist es die Auseinandersetzung mit den Dingen im Kontext des bevorstehenden Todes, die den Charakter unserer Beziehung zu ihnen in seiner fundamentalsten Form aufzuzeigen vermag. Die Gegenstände ändern ihre Bedeutung mit der Perspektive, aus der wir sie betrachten. Am Lebensende ist diese, bezogen auf das eigene Ich, zunehmend befreit sowohl von einem Zukunfts- und auch von einem Vergangenheitsbezug. So treten die wenigen Objekte, zu denen eine tiefe Bindung besteht, und die Beschaffenheit einer solchen Verknüpfung deutlich zum Vorschein. Der daraus resultierende Umgang mit den namentlichen Dingen mag verstören. So konnte Frau Teck die Auswahl, die ihre Schwiegermutter getroffen hatte, nicht nachvollziehen. Doch für Frau Kaiser waren nicht nur jene Objekte gleichgültig geworden, die, aus praktisch-pragmatischen Gesichtspunkten betrachtet, im Wohnheim nicht mehr nützlich waren, sondern auch solche, die sie für sich persönlich nicht mehr benötigte – und das war in ihren Augen auch Dinge, denen man einen sentimentalen Wert zusprechen würde, so wie beispielsweise ihr Hochzeitsbild. Die Einsicht, dass der bekannte Rahmen, den die Dinge dem Wohnen bieten, auch dann aufbricht und neu zusammengesetzt werden muss, wenn ein Teil der Gegenstände zusammenbleibt, begünstigte einen aktiven und
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selbstbestimmten letzten Umzug. Je früher es den Senioren gelang, einzelne biographische Objekte aus ihrem Haushaltsinventar herauszulösen und sich ihrer entweder zu entledigen (was durchaus ein befreiender und nicht nur ein belastender Akt sein konnte) oder sie in neue Kontexte zu integrieren, desto leichter kamen die Umziehenden mit der Situation zurecht. Solche neuen Kontexte können sowohl durch den Übergang der Dinge in den Besitz anderer Personen geschaffen werden als auch durch die Integration der aus dem Bestand entnommenen Objekte in ein Ensemble, das in Austausch mit den neuen Räumlichkeiten zusammengefügt wurde. Die Reproduktion bekannter Arrangements konnte bei den aktiv Umziehenden nicht als gängige Praxis ausgemacht werden. Von Seiten der Angehörigen umgesetzt, scheint eine Anlehnung an das bekannte allerdings durchaus eine Hilfestellung für die Bewältigung des Umbruchs darstellen zu können, so bei Herrn Seiler zu beobachten, der eine ablehnende und passive Haltung bei der Gestaltung seines Umzugs einnahm. Der prinzipielle Stellenwert zusammengehörig gedachter Dinge, eines Dingensembles also, wird von der gerade erwähnten Beobachtung allerdings nicht in Abrede gestellt: Besonders in der Masse (also bei Büchern oder Geschirr) geht das Bezugsgefüge der Gegenstände für ihre Besitzer über die Bedeutung der einzelnen Objekte hinaus, und der Sinn der Dinge droht sich mit dem Aufbrechen des Kontextes zu verlieren. Möglichst viele bekannte Objekte weiter um sich zu haben, ist, wie die Darstellungen zu Frau Berger verdeutlichen, dabei weder hilfreich noch tröstlich. Es muss sich ein der Situation und dem Wohnraum angepasstes Beziehungsgefüge zwischen Mensch und Dingen auf der einen Seite und den Gegenständen untereinander auf der anderen Seite ausbilden können. Das im direkten Austausch zu den Dingen erworbene Gefühl, sie zu beherrschen und über sie entscheiden zu können, kann, gerade in Momenten, in denen der Kontrollverlust auf vielen Ebenen zu einem Thema wird, ein selbstbestätigender Akt sein, nicht zuletzt wegen der körperlichen, sensorischen Implikation des Handelnden. Die viel beachtete und beschriebene »Macht der Dinge« wird somit auf den Kopf gestellt und verliert den Charakter einer aktiven Agency. Vielmehr sehen wir uns durch die Dinge, ihren Eigensinn und ihre Stofflichkeit dazu herausgefordert, Macht über sie zu erlangen und zu behalten. Ein Objekt, das den Anschein erweckt, Herrschaft über uns zu besitzen, ist immer das – mitunter unkontrollierbar gewordene – Produkt seines Schöpfers und/oder
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Gestalters. Ein tatsächlicher Austausch mit den Dingen selbst findet dann statt, wenn wir sie als eigenständiges Gegenüber anerkennen und zugleich einen Ausdruck unserer Überlegenheit über sie suchen. Nötig – und damit wahrnehmbar – wird dies aber nur in Ausnahmefällen. In Momenten ihrer Bewegung oder dem Bevorstehen einer ungewollten Trennung von ihnen präsentieren sich uns die Dinge in besonderem Maße als Handlungsaufforderungen. Es ist die physisch-stoffliche Präsenz der potenziell polyvalenten Dinge, das, was in dieser Studie unter dem paradoxen Begriff des ›nichtintentionalen Handelns‹ gefasst wurde (vgl. Kap. 2.3), die ihre Existenz als mitwirkende, dem Menschen entgegengestellte, Entitäten begründet.
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Jörg Gertel, Rachid Ouaissa (Hg.) Jugendbewegungen Städtischer Widerstand und Umbrüche in der arabischen Welt 2014, 400 Seiten, Hardcover, zahlr. z.T. farb. Abb. , 19,99 €, ISBN 978-3-8376-2130-3
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Kultur und soziale Praxis Martina Kleinert Weltumsegler Ethnographie eines mobilen Lebensstils zwischen Abenteuer, Ausstieg und Auswanderung 2014, 364 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2882-1
Marion Schulze Hardcore & Gender Soziologische Einblicke in eine globale Subkultur Juli 2015, ca. 400 Seiten, kart., ca. 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2732-9
Nadja Thoma, Magdalena Knappik (Hg.) Sprache und Bildung in Migrationsgesellschaften Machtkritische Perspektiven auf ein prekarisiertes Verhältnis Mai 2015, ca. 300 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2707-7
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Kultur und soziale Praxis Jens Adam, Asta Vonderau (Hg.) Formationen des Politischen Anthropologie politischer Felder 2014, 392 Seiten, kart., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2263-8
Désirée Bender, Tina Hollstein, Lena Huber, Cornelia Schweppe Auf den Spuren transnationaler Lebenswelten Ein wissenschaftliches Lesebuch. Erzählungen – Analysen – Dialoge Januar 2015, 206 Seiten, kart., 26,99 €, ISBN 978-3-8376-2901-9
Jonas Bens, Susanne Kleinfeld, Karoline Noack (Hg.) Fußball. Macht. Politik. Interdisziplinäre Perspektiven auf Fußball und Gesellschaft 2014, 192 Seiten, kart., 27,99 €, ISBN 978-3-8376-2558-5
Naime Cakir Islamfeindlichkeit Anatomie eines Feindbildes in Deutschland 2014, 274 Seiten, kart., 27,99 €, ISBN 978-3-8376-2661-2
Forschungsgruppe »Staatsprojekt Europa« (Hg.) Kämpfe um Migrationspolitik Theorie, Methode und Analysen kritischer Europaforschung 2014, 304 Seiten, kart., 24,99 €, ISBN 978-3-8376-2402-1
Heidrun Friese Grenzen der Gastfreundschaft Die Bootsflüchtlinge von Lampedusa und die europäische Frage 2014, 250 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2447-2
Christa Markom Rassismus aus der Mitte Die soziale Konstruktion der »Anderen« in Österreich 2014, 228 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2634-6
Wiebke Scharathow Risiken des Widerstandes Jugendliche und ihre Rassismuserfahrungen 2014, 478 Seiten, kart., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-2795-4
Yasemin Shooman »... weil ihre Kultur so ist« Narrative des antimuslimischen Rassismus 2014, 260 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2866-1
Henrike Terhart Körper und Migration Eine Studie zu Körperinszenierungen junger Frauen in Text und Bild 2014, 460 Seiten, kart., zahlr. Abb., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2618-6
Tatjana Thelen Care/Sorge Konstruktion, Reproduktion und Auflösung bedeutsamer Bindungen 2014, 298 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2562-2
Yeliz Yildirim-Krannig Kultur zwischen Nationalstaatlichkeit und Migration Plädoyer für einen Paradigmenwechsel 2014, 260 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2726-8
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