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German Pages 314 [317] Year 1991
Ian Stewart Mathematik Probleme — Themen — Fragen
Probleme — Themen — Fragen
Diese Buchreihe präsentiert den heutigen Stand der Forschung mit besonderem Augenmerk auf die aktuellen Fragen der einzelnen Teilgebiete. Von bedeutenden Fachleuten wurde jeweils eine umfassende Übersicht zu einem bestimmten Thema verfaßt, die sich sowohl an Studenten als auch interessierte Laien wendet.
Folgende Bände erscheinen in dieser Reihe: Biologie Chemie Evolution Mathematik Physik
John Maynard Smith W. Graham Richards Mark Ridley Ian Stewart Anthony J. Leggett
IAN STEWART
MATHEMATIK
PROBLEME - THEMEN - FRAGEN
Aus dem Englischen übersetzt und herausgegeben von Günther Eisen reich, Leipzig
Mit 10 Abbildungen
Akademie-Verlag Berlin
Original veröffentlicht in englischer Sprache von Oxford University Press unter dem Titel "The Problems of Mathematics" © Ian Stewart 1987
ISBN 3-05-500794-8 Erschienen im Akademie-Verlag Berlin, Leipziger Str. 3—4, Berlin, DDR-1086 © Birkhäuaer-Verlag Basel und Akademie-Verlag Berlin 1990 Lizenznummer: 202 • 100/90 Printed in the German Democratic Republic Gesamtherstellung: VEB Druckhaus „Maxim Gorki", Altenburg, DDR-7400 Lektor: Dipl.-Math. Gesine Reiher LSV 1004 Bestellnummer: 7641024 (9290)
Vorwort des Herausgebers
Das vorliegende Buch gehört zu einer Serie von Büchern, die sich damit befassen, die Probleme einzelner Wissenschaftsdisziplinen einem breiteren Leserkreis nahezubringen, und damit einem weithin bestehenden Bedürfnis entsprechen. Im Hinblick auf die bei vielen bestehende Aversion gegenüber mathematischen Fragestellungen und die Tendenz, mathematisches Unverständnis als Kavaliersdelikt zu tolerieren, kommt der Popularisierung der Mathematik in gutem Sinne eine besondere Bedeutung zu. Diese wird noch dadurch verstärkt, daß sich gerade gegenwärtig in der Mathematik bedeutende Entwicklungen und Akzentverschiebungen vollziehen, so daß der Autor von dem gegenwärtigen Zeitalter geradezu als dem Goldenen Zeitalter der Mathematik spricht. In diesem Sinne scheint mir das Buch von Ian Stewart in besonderem Maße geeignet, Vorurteile abzubauen und das Anliegen der Mathematik und die mathematische Denkweise einem breiten Leserkreis nahezubringen. Durch die erfrischende Sprache, auf deren Bewahrung bei der Übertragung ins Deutsche großer Wert gelegt wurde, und die Einordnung in allgemeine wissenschaftshistorische Zusammenhänge wird die Lektüre des Buches zu einem Genuß. Neben traditionellen Fragestellungen mit ihrer oft wechselvollen Geschichte in alter und neuer Sicht — wie Primfaktorzerlegung, Nichteuklidische Geometrie und dem Problem des Unendlichen in der Mathematik — werden auch moderne Theorien — wie Katastrophentheorie, Fraktale, Chaos, Nichtstandardanalysis und Kompliziertheitstheorie — behandelt, so daß auch Leser mit weitergehender mathematischer Ausbildung profitieren können. Die Erfahrung lehrt, daß selbst ausgebildete Wissenschaftler gern mal einen Blick in Übersichtsdarstellungen von Nachbardisziplinen werfen. Ansonsten ist zum Verständnis kaum mehr als eine solide Schulbildung erforderlich. Wer sich für darüber hinausgehende Vertiefungen und Präzisierungen interessiert, findet am Schluß des Buches Literaturhin5
weise zu den einzelnen Kapiteln, die teilweise durch im Deutschen vorliegende Übersetzungen ergänzt wurden. Um den Bedürfnissen der deutschsprachigen Leser entgegenzukommen, wurden (durch einen Stern markiert) ein paar vornehmlich deutschsprachige Aufsätze und Werke (allerdings keine ausgesprochene Spezialliteratur) hinzugefügt. I m Text vorkommende Zitate wurden, sofern sie original deutschsprachig sind, nach Möglichkeit an Hand der Originalliteratur wiedergegeben. Einige der Präzisierung dienende kurze Zusätze stehen ohne sonstige besondere Kennzeichnung in eckigen Klammern. Dem besseren Verständnis dient auch eine zusätzliche Abbildung in der deutschsprachigen Ausgabe. Frau G. Reiher und Herrn Dr. R. Höppner vom Lektorat Mathematik des Akademie-Verlags danke ich für die angenehme Zusammenarbeit. Leipzig, im Juli 1989
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G. Eisen reich
Vorwort
Mathematik ist kein zwischen zwei Einbanddecken eingesperrtes Buch, zwischen eherne Schlösser gebunden, dessen Inhalte zu durchforschen es lediglich der Geduld bedarf; sie ist keine Mine, deren Schätze erst nach langer Zeit in Besitz genommen werden können, die aber nur eine beschränkte Anzahl von Gängen und Adern füllen; sie ist kein Boden, dessen Fruchtbarkeit durch den Ertrag sukzessiver Ernten erschöpft werden kann; sie ist kein Kontinent oder Ozean, dessen Mäche kartiert und dessen Kontur festgelegt werden kann: sie ist grenzenlos wie der Raum, den sie für ihre Atemzüge als zu eng empfindet; ihre Möglichkeiten sind ebenso unendlich wie die Welten, die jemals ins Blickfeld des Astronomen getreten und sich vervielfacht haben; sie läßt sich ebensowenig zwischen abgesteckten Grenzen einschränken oder auf Definitionen von permanenter Gültigkeit reduzieren wie das Bewußtsein des Lebens, das in jeder Monade, in jedem Atom der Materie, in jedem Blatt und jeder Keimzelle zu schlummern scheint und jederzeit bereit ist, in neue Formen pflanzlicher und tierischer Existenz auszubrechen.
James Joseph Sylvester
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Inhaltsverzeichnis
Interview mit einem Mathematiker 1. Die Natur der Mathematik 2. Der Preis des Primseins 3. Interesse am Rande . 4. Das vernachlässigte Buch von Euklid 5. Paralleldenken 6. Der Wunderkrug 7. Geister verblichener Größen 8. Der Duellant und das Monster 9. Viel Lärm um Verknotung 10. Das purpurrote Mauerblümchen 11. Wurzelziehen aus Nichtradizierbarem 12. Dirne Fortuna 13. Die Mathematik der Natur 14. Oh! Katastrophe! 15. Die Muster des Chaos 16. Die zwei-und-einhalbte Dimension 17. Die einsame Welle 18. Dixit Algorizmi 19. Die Grenzen der Berechenbarkeit 20. Eine Tour durch das Minenfeld Weitere Literaturhinweise Namenverzeichnis Sachverzeichnis
11 15 27 39 53 65 77 89 108 123 144 154 168 180 200 213 226 240 255 265 275 290 304 309
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Interview mit einem Mathematiker geführt von Seamus A n d r o i d im Namen des sprichwörtlichen Mannes auf der Straße Sprich die Wahrheit, aber sage sie frisiert. Emily Dickinson
Android: Guten Abend, liebe Zuschauer, und seien Sie wieder einmal willkommen bei Boffins 1 and Brains, der Show, in der Wissenschaftler aus sich herausgehen und uns erzählen, was sie vorhaben. Heute abend haben wir einen Mathematiker im Studio, [wendet sich an den Mathematiker] Willkommen zu der Show. Mathematiker: Ich danke Ihnen, Seamus. Hallo alle miteinander. Android: In früheren Sendungen hatten wir hier einen Physiker, der uns erzählt hat, wie Atome von einem Kristall abprallen; einen Chemiker, der über neue Arten von Kunststoffen gesprochen hat; einen Biologen mit Berichten über die Frühentwicklung des Giraffenembryos; einen Ingenieur mit einigen neuen Ideen über das öffentliche Transportwesen; und einen Astronomen, der gerade die am weitesten entfernte Galaxis im bekannten Universum entdeckt hat. Nun, Herr Mathematiker, was für Ergötzliches haben Sie für uns in petto? Mathematiker: Ich habe gedacht, etwas darüber zu sagen, wie Sie eine topologische, aber nicht differenzierbare 4-Mannigfaltigkeit durch Chirurgie auf der Kummerschen Fläche bekommen können. Sehen Sie, es gibt diese faszinierende Kohomologie-Schnittform, die mit der Ausnahme-Liealgebra Es in Zusammenhang steht, und ... Android: [sarkastisch] Das ist ja faszinierend. Mathematiker: [überrascht und befriedigt] Ich danke Ihnen. Android.: Ist das ganze Kauderwelsch wirklich von Bedeutung? Mathematiker: [überrascht, aber nun nicht mehr befriedigt] Natürlich! Es ist eine der wichtigsten Entdeckungen des letzten Jahrzehnts! Android: Können Sie sie in Worten erklären, die für gewöhnliche Sterbliche verständlich sind? 1
Wissenschaftler, die im Auftrag der Regierung an Geheimobjekten arbeiten (Anm. d. Hrsg.)
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Mathematiker: Schauen Sie nur, Sie Schlaumeier, wenn das von gewöhnlichen Sterblichen verstanden werden könnte, da brauchten Sie doch wohl keine Mathematiker mehr, die für Sie die Arbeit machen, nicht wahr? Android: Ich möchte keine technischen Einzelheiten. Vielmehr einen allgemeinen Eindruck davon, worum es geht. Mathematiker: Sie können aber keinen Eindruck davon bekommen, worum es geht, ohne die technischen Details zu verstehen. Android: Warum denn nicht? Mathematiker: [der niemals zuvor darüber nachgedacht hat] Nun eben, Sie können es halt nicht. Android: Die Physiker scheinen es aber fertigzubringen. Mathematiker: Sie haben es aber auch mit Dingen aus der täglichen Erfahrung zu tun. Android: Na klar. ,Wie Gluonenantiabschirmung die Farbladung eines Quarks beeinflußt.' ,Leitungsbänder in Galliumarsenid.' Die ganze Zeit auf dem Weg zur Arbeit stolpern Sie darüber, nicht wahr? Mathematiker: J a , aber ... Android: Ich bin mir sicher, daß die Physiker all die technischen Details ebenso faszinierend finden werden wie Sie. Aber sie drängen sich nicht so damit auf. Mathematiker: Wie soll ich aber dann die Sache erklären, wenn ich nicht die Einzelheiten nenne? Android: Wie können Sie denn sonst von jemandem verstanden werden? Mathematiker: Wenn ich aber die Feinheiten übergehe, so wird einiges von dem, was ich sage, nicht mehr ganz stimmen! Wie kann ich über Mannigfaltigkeiten sprechen, ohne zu erwähnen, daß die Sätze nur dann funktionieren, wenn die Mannigfaltigkeiten endlichdimensional, parakompakt und hausdorffsch sind und einen leeren Rand haben? Android: Lügen Sie halt ein bißchen. Mathematiker: Das liegt mir aber nicht! Androiq: Warum nicht? Jedermann sonst macht es doch auch. Mathematiker: [verführt, aber im Widerstreit mit einer lebenslangen Gewöhnung] Aber ich muß die Wahrheit sagen! Android: Sicher. Aber Sie könnten bereit sein, sie ein wenig zu verbiegen, wenn dadurch verständlicher wird, was Sie gerade tun. 12
Mathematiker: [unsicher] Also, dann ... Android: Beginnen wir! Was ist die Hauptsache, um die es in der Mathematik geht? Mathematiker: Probleme zu lösen. Android: Fein. So erzählen Sie uns also, um was für Probleme es geht, woher sie stammen, wie sie gelöst werden; wie die Leute aussehen, die sie lösen; was Sie mit den Antworten anfangen können, wenn Sie sie gewonnen haben; was für Probleme noch nicht gelöst worden sind, wie sich der Standpunkt der Leute bei ihrer Lösung oder beim Scheitern, sie zu lösen, ändert, was Mathematik ist und wo sie betrieben wird. So etwa. Die ganze Mathematik in einer Nußschale. Mathematiker: Oh, die ganze Sache kann ich nicht erfassen! Sie ist viel zu umfangreich. Ich will mein bestes tun, es gibt aber viele Gebiete, von denen ich keinen blassen Dunst habe, die muß ich also außer acht lassen. Android: Nur recht und billig. Es wird vielen wie Schuppen von den Augen fallen, was sich überhaupt alles Neues jemals in der Mathematik abspielt. Mathematiker: Und ich kann technische Einzelheiten nicht gänzlich vermeiden. Ich werde kaum die Forschung in der Gruppentheorie erörtern können, ohne wenigstens grob zu sagen, was eine Gruppe ist. Etwas mehr, als ein Physiker über schwarze Löcher sprechen könnte, ohne etwas über gekrümmte RaumZeit zu sagen. Android: Recht und billig. Aber überziehen Sie das nicht. Ich meine... Mathematiker: ... ich soll nicht erklären, wie die Annahme eines C-Atlas auf einer pseudoriemannschen Mannigfaltigkeit die Existenz eines analytischen Atlas impliziert. Android: Ich hätte es nicht besser ausdrücken können. Mathematiker: [skeptisch, aber über sein eigenes Wagnis erregt] Gut, ich denke, ich könnte es auf den Versuch ankommen lassen...
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1.
Die Natur der Mathematik Ich gehe dreimal, und ein Drittel von mir und ein Fünftel von mir werden zu mir addiert; ich kehre voll erfüllt zurück. Was ist die Größe, die dies sagt? Der Schreiber Ahmose — Papyrus Rhind
Eines der größten Probleme der Mathematik besteht darin, jemand anderem zu erklären, worum es in ihr geht. Die technischen Fallen ihres Themas, ihre Symbolik und peinliche Genauigkeit, ihre verwirrende Terminologie, ihre scheinbare Lust an langatmigen Rechnungen: dies alles scheint ihre wirkliche Natur zu verdunkeln. Ein Musiker wäre entsetzt, würde man seine Kunst als ,eine Menge auf einer Reihe von Linien gezeichneter Kaulquappen' zusammenfassen; das ist aber alles, was das ungeübte Auge auf einem Notenblatt sehen kann. Die Erhabenheit, die Seelenangst, die Anflüge von Gefühlsausbrüchen und die Dissonanzen der Verzweiflung: sie in den Kaulquappen zu erkennen, ist nicht leicht. Sie sind zwar gegenwärtig, jedoch nur in kodierter Form, nicht substantiell. Ebenso stellt der Symbolismus der Mathematik nur ihre kodierte Form, nicht ihr Wesen dar. Auch sie besitzt Erhabenheit, Seelenangst und Anflüge von Gefühlsausbrüchen. Es besteht jedoch ein Unterschied. Selbst ein zufälliger Hörer kann sich an einem Musikstück erfreuen. Nur die Ausführenden müssen in der Lage sein, die Fratzen der Kaulquappen zu verstehen. Musik übt auf fast jeden eine unmittelbare Anziehungskraft aus. Einer mathematischen Aufführung kommt jedoch meiner Meinung nach das Renaissanceturnier am nächsten, in dem führende Mathematiker einen öffentlichen Wettkampf um die Probleme der jeweils anderen abgehalten haben. Diese Idee ließe sich vielleicht nutzbringend wiederbeleben, ihre Attraktivität ist jedoch eher die schweren sportlichen Kampfes als die von Musik. Musik kann unter verschiedenen Gesichtspunkten betrachtet werden: von dem des Hörers, des Ausübenden, des Komponisten. In der Mathematik gibt es niemanden, der dem Hörer entspricht, und selbst wenn dem so wäre, würde ihn eher der Komponist als der Ausübende interessieren. Es ist eher die Schöpfung neuer 15
Mathematik als ihre Ausübung, was interessiert. Mathematik hat nichts mit Symbolen und Berechnungen zu tun. Diese sind nur Handwerkszeug — Triller und Viertelnoten und Fingerübungen. Die Mathematik hat es mit Ideen zu tun. Insbesondere geht es darum, wie verschiedene Gedanken zueinander in Beziehung stehen. Wenn eine gewisse Information bekannt ist, was muß dann sonst noch notwendig folgen? Das Ziel der Mathematik besteht darin, solche Fragen zu verstehen, indem man das Unwesentliche abstreift und zum Kern des Problems vordringt. Es geht nicht so sehr nur darum, die rechte Antwort zu bekommen, sondern mehr darum zu verstehen, warum überhaupt eine Antwort möglich ist und warum sie gerade so ausfällt. Gute Mathematik hat einen Nerv für Ökonomie und ein Element der Überraschung. Aber vor allem hat sie einen tieferen Sinn.
Rohmaterialien Ich nehme an, die landläufige Vorstellung von einem Mathematiker ist die eines ernsten, bebrillten Burschen, der über einer endlosen Liste von Zahlen brütet. Eine Art von Superbuchhalter. Sicher ist es dieses Bild, das einen ausgezeichneten Computerwissenschaftler in einer großen Vorlesung zu der Bemerkung inspiriert hat, „was in der Mathematik nur mit Bleistift und Papier getan werden kann, ist bereits erledigt". Er hatte ganz und gar unrecht, und auch seine Vorstellung ist völlig falsch. Unter meinen Kollegen gibt es einen enthusiastischen Abfahrtsläufer, einen erstklassigen Bergsteiger, einen Kleinbauern, der auf nüchternen Magen einen Traktor zerlegen kann, einen Dichter und einen Verfasser von Detektivgeschichten. Und keiner von ihnen ist im Rechnen sonderlich gut. Wie ich bereits gesagt habe, hat es die Mathematik nicht mit Berechnungen zu tun, sondern mit Ideen. Irgend jemand hat einmal einen Satz über Primzahlen aufgestellt und dabei behauptet, er könne niemals bewiesen werden, da es keine gute Bezeichnung für Primzahlen gebe. Carl Friedrich Gauß hat diesen Satz in fünf Minuten aus dem Stand bewiesen, wobei er (etwas bitter) gesagt hat, was er benötige, seien Begriffe, nicht Bezeichnungen. Rechnungen sind lediglich Mittel zu einem Zweck. Be16
weist man einen Satz lediglich durch umfangreiche Rechnungen, so versteht man dieses Resultat nicht richtig, solange man nicht die Gründe dafür, warum die Rechnung zum Ziele führt, angeben kann und die Rechnung naturgemäß und unvermeidbar erscheint. Nicht alle Ideen sind Mathematik, aber jede gute Mathematik muß eine Idee enthalten. Pythagoras und seine Schule haben die Mathematik folgendermaßen in vier Gebiete eingeteilt: Mathematik Diskret Absolut Relativ I I Arithmetik Musik
Kontinuierlich Statisch
Dynamisch I I Geometrie Astronomie
Drei davon sind nach wie vor größere Quellen der mathematischen Inspiration. Dem vierten, der Musik, wird nicht mehr dieselbe Bedeutung zugesprochen, es kann jedoch als der algebraische oder kombinatorische Zugang umgedeutet werden. (Noch immer neigen die Mathematiker in starkem Maße dazu, musisch talentiert zu sein.) Diesen vier hat die moderne Mathematik ein fünftes hinzugefügt: die Glücksfee. Damit gibt es jetzt fünf verschiedene Quellen mathematischer Ideen. Es sind Zahl, Gestait, Anordnung, Bewegung und Zufall. Die grundlegendste und am besten bekannte ist die Zahl. Ursprünglich muß der Begriff der Zahl durch das Zählen aufgekommen sein: von Besitzungen, Tagen, Feinden. Messung von Längen und Gewichten führte zu Brüchen und den ,reellen' Zahlen. Durch einen bedeutenderen Akt mathematischer Einbildungskraft sind die ,imaginären' Zahlen, wie ]/ —1, erschaffen worden. Von da ab war die Mathematik niemals mehr ganz dieselbe. Gestalt oder Form führten zur Geometrie: nicht gerade zu dem stereotypen und pedantischen Stil der Geometrie, für dessen Benutzung Euklid verantwortlich zu machen ist, sondern zu ihren modernen Nachkommen, wie Topologie, Singularitätentheorie, Lieschen Gruppen und Eichfeldtheorien. Neuartige geometrische Formen — Fraktale, Katastrophen, Faserbündel, selt17
same Attraktoren — regen noch immer zu neuen Entwicklungen in der Mathematik an. Probleme über die Arten, Gegenstände nach verschiedenen Regeln anzuordnen, führen zur Kombinatorik, zu Teilen der modernen Algebra und der Zahlentheorie und zu dem, was als ,finite Mathematik' bekannt wird, der Basis von viel Computerwissenschaft. Bewegung — von Kanonenkugeln, Planeten oder Wellen — hat die Differential- und Integralrechnung, die Theorie der gewöhnlichen und die der partiellen Differentialgleichungen, die Variationsrechnung und die topologische Dynamik inspiriert. Viele der größten Gebiete mathematischer Forschung betreffen die Art und Weise, in der sich Systeme in der Zeit entwickeln. Eine modernere Zutat ist Zufall oder Stochastizität. Erst seit ein paar Jahrhunderten hat man erkannt, daß der Zufall seinen eigenen Typ von Muster und Regelmäßigkeit besitzt; und erst in den letzten fünfzig Jahren ist es möglich geworden, diese Aussage zu präzisieren. Wahrscheinlichkeitsrechnung und Statistik sind offensichtliche Ergebnisse; weniger bekannt, aber gleichfalls wichtig ist die Theorie der stochastischen Differentialgleichungen — Dynamik plus Zufallseinwirkung. Die treibende Kraft Die treibende Kraft der Mathematik sind Probleme. Ein gutes Problem ist eines, dessen Lösung, statt bloß in eine Sackgasse zu führen, ganz neue Ausblicke eröffnet. Viele gute Probleme sind schwer: in der Mathematik wie in allen Berufen bekommt man selten etwas umsonst. Aber nicht alle schweren Probleme sind gut: intellektuelles Gewichtheben mag geistige Muskeln aufbauen, wer will aber schon ein Gehirn mit Muskelkater? Eine weitere wichtige Quelle mathematischer Inspiration sind Beispiele. Ein wirklich hübsches, auf sich beruhendes Stück Mathematik, das sich auf ein vernünftig gewähltes Beispiel konzentriert, trägt oft den Keim einer allgemeinen Theorie in sich, in der das Beispiel ein bloßes Detail wird, das sich nach Belieben ausschmücken läßt. Ich will beide kombinieren, indem ich einige Beispiele mathematischer Probleme angebe. Um die Kontinuität des mathematischen Denkens zu betonen, sind sie aus allen Zeitperioden entnommen. Jegliche technischen Termini werden später erklärt. 18
(1) Gibt es einen Bruch, dessen Quadrat genau gleich 2 ist? (2) Kann die allgemeine Gleichung fünften Grades unter Benutzung von Radikalen gelöst werden? (3) Welche Gestalt hat die Kurve schnellsten Abstiegs? (4) Ist die glatte Standardstruktur auf dem vierdimensionalen Raum die einzig mögliche? (5) Gibt es ein effizientes Computerprogramm zur Bestimmung der Primfaktoren einer gegebenen Zahl? Jedes einzelne Problem erfordert einen Kommentar und vorhergehende Erklärungen. Ich will sie der Reihe nach durchgehen. Das erste ist — negativ — von den alten Griechen beantwortet worden. Die Entdeckung wird im allgemeinen der Pythagoreischen Schule um etwa 550 v. Chr. zugeschrieben. Es handelte sich um eine wichtige Frage, weil die griechischen Geometer wußten, daß die Diagonale des Einheitsquadrats eine Länge besitzt, deren Quadrat 2 ist. In der Natur kommen somit geometrische Größen vor, die sich nicht als Brüche (Verhältnisse ganzer Zahlen) schreiben lassen. Nach einer Legende sind zur Feier dieser Entdeckung hundert Ochsen geopfert worden. Mag dies auch unwahr sein (von den Pythagoreern sind uns keine Dokumente überliefert), so rechtfertigte die Entdeckung sicherlich eine derartige Verherrlichung. Sie hat die nächsten 600 Jahre griechischer Mathematik nachhaltig beeinflußt und das Gleichgewicht zwischen Arithmetik und Geometrie zugunsten der Geometrie verschoben. Trotz der wunderbaren Entdeckungen der griechischen Geometrie hat diese Unausgewogenheit die Entwicklung der Mathematik ernsthaft gestört. Ihre Auswirkungen waren noch 2000 Jahre später zu spüren, als Isaac Newton und Gottfried Wilhelm Leibniz die Differential- und Integralrechnung erfanden. Das zweite Problem kam während der Renaissance auf. Ein Radikal ist eine Formel, die nur die üblichen Operationen der Arithmetik (Addition, Subtraktion, Multiplikation und Division) zusammen mit dem Wurzelziehen enthält. Der Grad einer Gleichung ist die höchste Potenz der Unbekannten, die in ihr vorkommt. Gleichungen ersten und zweiten Grades (lineare und quadratische Gleichungen) sind um 2000 v. Chr. von den alten Babyloniern effektiv gelöst worden. Die Grade 3 und höher stellten ein ungelöstes Problem von großer Berühmtheit dar, das 19
bis zum sechzehnten Jahrhundert allen Attacken widerstand, in dem die kubische Gleichung (Gleichung vom Grade 3) von Scipione del Ferro von Bologna und Niccolo Fontana (mit dem Spitznamen Tartaglia, ,der Stotterer') von Brescia gelöst wurde. Bald darauf löste Lodovico Ferrari die biquadratische Gleichung (Grad 4). In allen Fällen erfolgte die Lösung durch Radikale. Die Gleichung fünften Grades widerstand jedoch allen Bemühungen. Im neunzehnten Jahrhundert haben zwei junge Mathematiker, Niels Henrik Abel und ivariste Galois, unabhängig voneinander die Unmöglichkeit einer solchen Lösung bewiesen. Das Werk von Galois hat zu einem Großteil der modernen Algebra geführt und stellt noch heute ein fruchtbares Forschungsgebiet dar. Das dritte Problem betrifft (ein idealisiertes mathematisches Modell der) Bewegung eines Teilchens unter dem Einfluß der Schwerkraft entlang einem reibungsfreien Draht von einem Punkt aus zu einem niedriger gelegenen Punkt (der um einen gewissen Abstand seitwärts verschoben ist). Je nach der Form dieses Drahtes wird das Teilchen zu seiner Reise verschiedene Zeiten benötigen. Was für eine Form des Drahtes führt zur kürzesten Reise? Galileo Galilei erhielt 1630 eine falsche Antwort (er dachte, es sei ein Kreisbogen). Johann Bernoulli stellt 1696 das Problem erneut unter dem Namen ,Brachistochrone'; Lösungen wurden von Newton, Leibniz, Guillaume de l'Hospital, Bernoulli selbst und seinem Bruder Jakob gefunden. Die Lösung stellt eine umgekehrte Zykloide dar (den Weg, den ein Punkt auf dem Rand eines sich bewegenden Rades beschreibt). Dieses elegante Problem mit seiner sauberen und befriedigend klassischen Antwort führte zur Variationsrechnung, die sogleich zunächst die Mechanik und dann die Optik revolutionierte. Heutzutage stellt sie noch immer einen Eckstein der mathematischen
beschreibt eine Zykloide.
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Physik dar, dessen Wirkung ebenso in der Quantenmechanik und der allgemeinen Relativitätstheorie wie in der reinen Mathematik spürbar ist. Das vierte Problem ist jüngeren Datums und gehört zu einem Gebiet, das als Differentialtopologie bekannt ist. Hierin untersucht man mehrdimensionale Analoga von Flächen oder Mannigfaltigkeiten. Diese werden mit einem ,Glattheits'begriff versehen, so daß man beispielsweise entscheiden kann, ob eine auf der Mannigfaltigkeit gezogene Kurve eine scharfe Ecke besitzt oder nicht. Eine wichtigere Frage betrifft die Eindeutigkeit der glatten Struktur auf einer gegebenen Mannigfaltigkeit. 1963 hat John Milnor die mathematische Welt dadurch aufgeschreckt, daß er auf der siebendimensionalen Sphäre mehr als eine glatte Struktur gefunden hat. Seitdem sind Verallgemeinerungen seiner exotischen Sphären auch in anderen Dimensionen gefunden worden. Es wurde jedoch immer noch erwartet, daß vertrautere Mannigfaltigkeiten, insbesondere der gewöhnliche n-dimensionale Raum, nur eine glatte Struktur besitzen sollten — die nämlich, die in der Differential- und Integralrechnung allgemein angewendet wird. Und dies konnte (nicht gerade leicht) auch für alle Dimensionen außer 4 bewiesen werden. 1083 hat jedoch Simon Donaldson gezeigt, daß es auf einem vierdimensionalen Raum zusätzlich zu der Standardstruktur eine exotische glatte Struktur gibt. In Wahrheit hat er ein etwas anderes Problem gelöst, wobei er einige sehr neue Gedanken benutzt hat, die aus der Wechselwirkung zwischen Topologie, Algebra und mathematischer Physik herrühren. Als Donaldsons Resultate mit dem früheren Werk von Michael Freedman, Karen Uhlenbeck und C. H. Taubes kombiniert wurden, kam der exotische vierdimensionale Raum zum Vorschein. Das fünfte Problem entstammt einem neuen Zweig der Mathematik, bekannt als Komplexitätstheorie. Das Aufkommen des Elektronenrechners hat die Aufmerksamkeit nicht nur darauf gelenkt, wie mathematische Probleme zu lösen sind, sondern auch auf die Effizienz ihrer Lösungen. Donald Knuth pflegt zu bemerken, daß ein größerer Stilunterschied zwischen Mathematikern und Computerwissenschaftlern darin besteht, daß sich erstere im großen und ganzen nicht um die Kosten (Arbeit, Zeit oder Geld) einer Lösung scheren. In der Komplexitätstheorie sind es gerade die Kosten (gemessen mittels der Gesamtzahl 21
arithmetischer Operationen), die an erster Stelle stehen. Unterschieden wird wesentlich danach, wie die Kosten zunehmen, wenn die Menge der Eingabedaten wächst. Typisch wachsen diese entweder langsam (langsamer als "eine feste Potenz des Eingabedatenumfangs) oder sehr schnell (,exponentielles Wachstum', wenn sich die Kosten für jeden einzelnen Zuwachs der Eingabedaten mit einem bestimmten Betrag multiplizieren). Man erinnere sich, daß eine Primzahl eine Zahl ohne Teiler, wie etwa 11 oder 29, ist. Jede Zahl ist Produkt von Primzahlen, es ist aber keineswegs leicht, diese Faktoren zu ermitteln. Alle eventuellen Faktoren der Reihe nach durchzuprobieren, ist ein Verfahren, dessen Kosten mit der Größe der Zahl exponentiell anwächst. Die Frage lautet: Kann man eine effizientere Methode finden — eine, deren Kosten wie eine feste Potenz wachsen? Niemand kennt die Antwort. Favorit war eine gewisse Zeit lang ,Nein'; aber gerade, während ich schreibe, hat Hendrik Lenstra ein neues Verfahren entdeckt, das in vielen Fällen schneller als die üblichen ist, so daß , Ja' im Begriff ist, auf der Innenbahn zu überrunden. Die Lösung ist nicht nur in der Komplexitätstheorie von Bedeutung, sondern auch in der Kryptographie: eine Anzahl theoretisch unknackbarer' militärischer und diplomatischer Codes würde, wenn die Antwort ,Ja' lautete, nicht länger unknackbar sein.
Der historische Faden Ein Wesenszug mathematischer Ideen, der durch meine Problemauswahl illustriert wird, ist ihre ungewöhnlich lange Lebensdauer. Die babylonische Lösung quadratischer Gleichungen ist heutzutage noch ebenso frisch und nützlich wie vor 4000 Jahren. Die Variationsrechnung trug zunächst in der klassischen Mechanik Früchte, überlebte jedoch die Quantenrevolution völlig unversehrt. Die Art und Weise, in der sie benutzt wurde, wechselte, die mathematische Grundlage jedoch nicht. Galois' Ideen stehen nach wie vor in der vordersten Front mathematischer Forschung. Wer weiß, wohin die Donaldsonschen führen mögen? Mathematiker nehmen im allgemeinen von den mathematischen Ursprüngen ihrer Gedanken mehr Notiz als viele andere Wissenschaftler. Das liegt nicht etwa daran, daß sich in der Gegenwart 22
in der Mathematik nichts Bedeutendes ereignet — das genaue Gegenteil ist der Fall. Es liegt vielmehr daran, daß mathematische Ideen eine Dauerhaftigkeit aufweisen, deren es physikalischen Theorien ermangelt. In der Tat ist guten mathematischen Ideen kaum beizukommen. Sie resultieren aus der vereinten Arbeit vieler Leute über lange Zeitperioden. Ihre Entdeckung beinhaltet falsche Wendungen und geistige Sackgassen. Sie lassen sich nicht nach Wunsch hervorbringen: wirklich neuartige Mathematik entsteht nicht über eine industrielle ,Forschung und Entwicklung'. Dafür zahlen sie aber für all diese Anstrengung durch ihre Dauerhaftigkeit und Anpassungsfähigkeit. Die ptolemäische Theorie des Sonnensystems ist für einen modernen Kosmologen nur von historischem Interesse, in ernsthaften Forschungen macht er von ihr jedoch keinen Gebrauch. Dagegen werden Tausende Jahre alte mathematische Ideen Tag für Tag in der modernsten Mathematik, tatsächlich sogar in allen Zweigen der Naturwissenschaft benutzt. Die Zykloide war für die Griechen eine faszinierende Merkwürdigkeit, sie konnten mit ihr jedoch nichts anfangen. Als Brachistochrone gab sie den Anstoß zur Variationsrechnung. Christian Huygens wendete sie an, um eine genaugehende Uhr zu entwerfen. Die Ingenieure nutzen sie heutzutage zum Entwurf von Getrieben. Sie kommt in der Himmelsmechanik und in Teilchenbeschleunigern vor. Für etwas von solch bescheidener Herkunft ist das tatsächlich eine Karriere.
Der Hauptstrom Der Mississippi ist 2848 Meilen lang, und sein Einzugsgebiet erstreckt sich über eine Fläche von 1,24 Millionen Quadratmeilen. An vielen Stellen sieht er wie ein Labyrinth von Windungen und Verflechtungen und toten Armen von Stauwasser aus, er bringt es aber fertig, faktisch die ganze Länge des nordamerikanischen Kontinents zu durchfließen, von Lake Itasca in Minnesota nach New Orleans in Lousiana. Es gibt Nebenflüsse, Mäander und U-förmige Schleifen von Seen, die ganz vom Hauptfluß herausgeschnitten werden; der Hauptstrom existiert jedoch, und er kann von jedermann erkannt werden, der die Stärke des Stroms zu messen versteht. An seiner Mündung dringt der Mississippi in einem 23
enormen schlammigen Delta in den Golf von Mexiko ein, der seine eigenen Seitenschosse und Hauptkanäle besitzt, deren Gestalt und Verbindungen in ständigem Wechsel begriffen sind. Die Mathematik verhält sich in vielem wie der Mississippi. Es gibt Seitenschosse, tote Enden und Nebenflüsse, der Hauptstrom existiert aber, und man kann ihn dort finden, wo die Strömung — die mathematische Kraft — am stärksten ist. Ihr Delta ist die Forschungsmathematik: es ist im Wachstum begriffen, es geht irgendwohin (es braucht aber nicht immer ersichtlich zu sein, wohin), und was heute wie ein größerer Kanal aussieht, kann sich morgen mit Schlamm verstopfen und aufgegeben werden. Mittlerweile weitet sich vielleicht plötzlich ein kleineres Rinnsal zu einem tosenden Sturzbach aus. Die beste Mathematik bereichert stets den Hauptstrom, manchmal dadurch, daß sie ihn in eine gänzlich neue Richtung ablenkt.
Das Goldene Zeitalter Bis in die jüngste Vergangenheit gehörte die in den Schulen gelehrte Mathematik zu der,klassischen' Periode, wobei der jüngste Teil die Differential- und Integralrechnung ist (die von etwa 1700 ab datiert). Selbst mit dem Aufkommen der sog.,modernen Mathematik' ist das meiste Material, das gelehrt wird, mindestens ein Jahrhundert alt! Teilweise als Konsequenz davon wird die Mathematik von vielen als ein toter Gegenstand angesehen, und oft überkommt es einen wie eine Offenbarung, daß etwas Neues zu entdecken bleibt. Können wir das Goldene Zeitalter der Mathematik in der Geschichte einordnen? War es zur Zeit von Euklid, als die logischen Grundlagen des geometrischen Denkens gelegt wurden? Die Entwicklung des indisch-arabischen Zahlensystems? Die Renaissanceblüte der Algebra? Descartes' Koordinatengeometrie [ = analytische Geometrie]? Die Differential- und Integralrechnung von Newton und Leibniz? Das ausgedehnte Bauwerk der Naturphilosophie des achtzehnten Jahrhunderts, das die Mathematik den Bedürfnissen von Astronomie, Hydrodynamik, Mechanik, Elastizität, Wärme, Licht und Schall unterordnete? Wenn es tatsächlich so etwas wie ein Goldenes Zeitalter der 24
Mathematik gegeben hat, so ist es keines von diesen. Es ist das gegenwärtige. Während der letzten fünfzig Jahre ist mehr Mathematik als in allen vorangegangenen Zeitaltern zusammengenommen geschaffen worden. Es gibt über 1500 mathematisch Fachzeitschriften, die jährlich um die 25000 Artikel (in über hundert Sprachen) veröffentlichen. 1868 wurden im Jahrbuch über die Fortschritte der Mathematik gerade zwölf Kategorien mathematischer Aktivität aufgezählt, in den Mathematical Bevieivs für 1985 sind es über sechzig. Natürlich ist es die Qualität, nicht die Quantität, die wir als unseren Maßstab benutzen sollten, aber auch nach diesem Standard ist das Goldene Zeitalter das moderne. Einige Beobachter haben bekannt, in der Mannigfaltigkeit und Ungezwungenheit heutiger Mathematik Symptome von Dekadenz und Verfall zu entdecken. Sie sprechen uns gegenüber davon, daß die Mathematik in nicht miteinander in Zusammenhang stehende Spezialgebiete zerfallen ist, daß sie ihren Sinn für Einheit verloren hat und keine Vorstellung davon besitzt, wo es lang geht. Sie sprechen von einer ,Krise' in der Mathematik, als ob das ganze Thema kollektiv eine falsche Wendung genommen habe. Es gibt keine Krise. Die heutige Mathematik ist gesund, einheitlich und für die übrige menschliche Kultur so von Belang wie eh und je. Die Mathematiker wissen sehr wohl, wo es ihrer Meinung nach mit ihnen und ihrem Gegenstand weitergeht. Wenn eine Krise vorzuliegen scheint, so deshalb, weil der Gegenstand zu umfangreich geworden ist, um noch von einem einzelnen erfaßt werden zu können. Das macht es schwer, einen echten Überblick darüber zu gewinnen, was getan worden ist und wozu es gut ist. Für einen außenstehenden Beobachter mag die Neigung des Mathematikers zu abstrakter Theorie und haarspalterischer Logik introvertiert und blutschänderisch erscheinen. Sein scheinbarer Mangel an Aufmerksamkeit gegenüber der realen Welt l i ß t an die egozentrische Selbstgefälligkeit des Elfenbeinturms denken. Die heutige Mathematik ist jedoch keine fremdartige Verirrung: sie ist eine natürliche Fortsetzung des mathematischen Hauptstroms. Sie ist abstrakt und allgemein und streng logisch, jedoch nicht aus Perversität, sondern weil dies der einzige Weg zu sein scheint, um das Geschäft richtig zu betreiben. Wie die meisten Wissenschaften heutzutage enthält sie zahlreiche Spezialgebiete, weil sie üppig gediehen und ge25
wachsen ist. Der heutigen Mathematik ist es gelungen, Probleme zu lösen, um deren Lösung die größten Geister vergangener Jahrhunderte vergeblich gerungen haben. Ihre abstraktesten Theorien finden laufend neue Anwendungen auf grundlegende Fragen in Physik, Chemie, Biologie, Numerik und Ingenieurwissenschaften. Ist das Dekadenz und Verfall? Ich bezweifle es.
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Der Preis des Primseins Angenommen, die Reinemachefrau gibt p und q versehentlich in den Müllschlucker, aber so, daß das Produkt pq gerettet wird. Wie sind p und q wiederzufinden? Es muß für die Mathematik niederdrückend empfunden werden, daß die am meisten erfolgversprechenden Zugänge den Müllabladeplatz aufsuchen und mnemohypnotische Techniken anwenden. Hendrik W. Lenstra jr.
Einige der besten Probleme in der Mathematik sind zugleich die einfachsten. Es ist schwer, sich etwas Einfacheres und Natürlicheres zu denken als die Arithmetik. Die additive Struktur der ganzen Zahlen 1,2,3,... ist ein bißchen zu einfach, um irgendwelche großartigen Mysterien zu bieten, die multiplikative Struktur stellt jedoch Probleme, die noch nach Tausenden von Jahren die schöpferische Arbeit inspirieren. Man nehme beispielsweise die sehr einfache und natürliche Idee einer Primzahl — einer Zahl, die nicht durch Multiplikation zweier kleinerer Zahlen gewonnen werden kann. Aus dem Altertum war es als eine empirische Tatsache bekannt, daß sich alle Zahlen in eindeutiger Weise als Produkte von Primzahlen darstellen lassen, und den Griechen ist es gelungen, das zu beweisen. Damit erhebt sich das Problem, für jede gegebene Zahl diese Primzahlen zu ermitteln. Es ist nicht schwer, sich theoretische' Methoden auszudenken. Beispielsweise haben die Griechen ein Verfahren entwickelt, das Sieb des Eratosthenes heißt und darauf hinausläuft, alle möglichen Produkte von Primzahlen auszurechnen und nachzusehen, ob die gewünschte Zahl irgendwo vorkommt. Es ist ein bißchen so, als würde man ein Haus bauen, indem man systematisch alle möglichen Arten durchprobiert, zehntausend Ziegelsteine anzuordnen, um dann diejenige zu wählen, die am meisten bewohnbar erscheint, und für praktische Zwecke ist es hoffnungslos ineffizient. Selbst heutzutage gibt es noch einen großen Spielraum für Verbesserungen, und grundlegende Fragen sind noch immer unbeantwortet. Die Quelle der Schwierigkeiten liegt in dem schizophrenen 27
Charakter der Primzahlen. Don Zagier, ein erfahrener Zahlentheoretiker, beschreibt ihn wie folgt 1 : „Es gibt zwei Tatsachen über die Verteilung der Primzahlen, von denen ich hoffe, Sie dermaßen zu überzeugen, daß sie für immer in Ihrem Herzen eingraviert sind. Die eine ist, daß die Primzahlen, trotz ihrer einfachen Definition und Rolle als Bausteine der natürlichen Zahlen, zu den willkürlichsten, widerspenstigsten Objekten gehören, die der Mathematiker überhaupt studiert. Sie wachsen wie Unkraut unter den natürlichen Zahlen, scheinbar keinem anderen Gesetz als dem Zufall unterworfen, und kein Mensch kann voraussagen, wo wieder eine sprießen wird, noch einer Zahl ansehen, ob sie prim ist oder nicht. Die andere Tatsache ist viel verblüffender, denn sie sagt just das Gegenteil — daß die Primzahlen die ungeheuerste Regelmäßigkeit aufzeigen, daß sie durchaus Gesetzen unterworfen sind und diesen mit fast peinlicher Genauigkeit gehorchen." Zagier bezieht sich dabei insbesondere auf die im vergangenen Jahrhundert entwickelten umfangreichen Theorien über die Primzahlverteilung. Beispielsweise gibt es den Primzahlsatz, der 1792 auf Grund umfangreichen numerischen Materials von Carl Friedrich Gauß vermutet und 1896 unabhängig voneinander von Jacques Hadamard und Charles-Jean de la Vallee Poussin bewiesen worden ist. Dieser Satz sagt aus, daß die Anzahl der Primzahlen kleiner als x für große x immer besser durch .r/log x approximiert wird. Im diesem Kapitel wenden wir jedoch unsere Aufmerksamkeit weniger erhabenen Dingen zu und konzentrieren uns vielmehr auf die rechnerischen Aspekte der Primzahlen. Selbst mit diesem einfachen Rohmaterial hat die Mathematik ein erstaunliches Gewand geschneidert. Fast als Nebenergebnis beobachten wir, daß die Zahlentheorie, die lange Zeit hindurch als der abstrakteste und unpraktischste Zweig der Mathematik angesehen worden ist, für die Kryptographie eine solche Bedeutung erlangt hat, daß seitdem ernsthaft versucht wird, einige ihrer Ergebnisse als militärische Geheimnisse zu deklarieren.
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Zagier, D.: Die ersten 50 Millionen Primzahlen. In: W. Borho et al.: Lebendige Zahlen. Birkhäuser, Basel 1981, S. 41—42. (Anrn. d. Hrsg.)
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Teile und herrsche Die Folge der Primzahlen beginnt mit 2, 3, 5, 7, 11,13,17,19, 23, 2 9 , . . . und erstreckt sich in ziemlich unregelmäßiger Weise jenseits annehmbarer Grenzen der Berechnung. Die größte bekannte Primzahl ist 2216091 — 1 und wurde von David Slowinski auf einem Cray X-MP-Supercomputer gefunden. Wir können jedoch sicher sein, daß es noch größere Primzahlen gibt, selbst wenn wir nicht wissen, welche, weil Euklid bewiesen hat, daß es unendlich viele Primzahlen gibt. Der Kern des Beweises besteht darin, anzunehmen, daß nur endlich viele Primzahlen existieren; man multipliziere sie alle miteinander und addiere 1. Das Resultat muß einen Primfaktor enthalten; dieser kann aber keiner aus der ursprünglichen Liste seir, weil diese alle den Rest 1 lassen. Das ist ein Widerspruch, es kann also von Anfang an keine endliche Liste gegeben haben, mit der wir hätten beginnen können. Bilden wir demnach die enorm große Zahl 2 • 3 • 4 • 5 • ... • (2216091 - 1) + 1, so wissen wir, daß alle ihre Primfaktoren größer als Slowinskis gigantische Primzahl sein müssen. Wir verfügen jedoch über keinen gangbaren Weg, irgendeinen dieser Faktoren zu finden, und da liegt der Hund begraben.
Testen der Primzahleigenschaft Die beiden zentralen praktischen Probleme in der Primzahltheorie sind: (1) einen effizienten Weg zu finden, um zu entscheiden, ob eine gegebene Zahl prim ist; (2) einen effizienten Weg zu finden, um eine gegebene Zahl in Primfaktoren zu zerlegen. Offensichtlich ist (2) mindestens so schwierig wie (1), da sich (1) aus jeder Lösung von (2) als Spezialfall ergibt. Das Umgekehrte ist nicht evident (und wahrscheinlich auch nicht richtig): Wir werden im folgenden sehen, daß man möglicherweise beweisen kann, daß eine Zahl nicht prim ist, ohne tatsächlich jeden Faktor explizit anzugeben. ,Effizient' schließt hier ein, daß die Rechenzeit nicht zu schnell mit der Größe der Zahl 29
wachsen sollte. Im Kapitel 18 werde ich über diesen Gedanken eine Menge mehr zu sagen haben. Der direkteste Weg, um einen Faktor einer Zahl zu ermitteln oder zu beweisen, daß sie prim ist, falls kein Faktor existiert, besteht in der versuchsweisen Division: man dividiere der Reihe nach durch jede Zahl (bis zur Quadratwurzel der zu testenden Zahl) und sehe nach, ob eine Division aufgeht. Das ist jedoch nicht effizient. Man stelle sich einen Computer vor, der pro Sekunde eine Million Versuche durchführen kann. Er wird für eine 30stellige Zahl mehr als einen Tag benötigen, für eine 40stellige Zahl eine Million Jahre und zehn Billionen Jahre für eine 50stellige Zahl — länger, als nach den gängigen Voraussagen das Alter des Universums beträgt! Offensichtlich mag es Abkürzungswege geben; die schnellste bekannte Methode benötigt jedoch für eine 75stellige Zahl etwa einen Monat und für eine lOOstellige Zahl ein Jahrhundert oder mehr. Bis vor kurzem befanden sich beide Probleme in einem sehr argen Zustand. In den letzten fünf Jahren ist bei (1), dem Testen der Primzahleigenschaft, ein enormer Fortschritt erzielt worden. Von einer lOOstelligen Zahl kann jetzt auf einem schnellen Computer in etwa 45 Sekunden nachgewiesen werden, daß sie prim ist (oder nicht); eine 200stellige Zahl beansprucht 6 Minuten. Eine lOOOstellige Zahl mag etwa eine Woche benötigen. Im Gegensatz dazu sieht es mit des Lösung von (2) für eine 200stellige Zahl noch äußerst böse aus.
Finite Arithmetik Um zu verstehen, wie dieser Fortschritt zustande gekommen ist, müssen wir von einem Gedanken ausgehen, den erstmalig Gauß in seinen Disquisitiones Arithmeticae, einem Meilenstein in der Zahlentheorie, kodifiziert hat. Man betrachte eine Uhr, die (in unorthodoxer Weise) mit den Stunden 0,1, 2,..., 11 numeriert ist. Eine solche Uhr weist eine ihr eigene besondere Arithmetik auf. Da beispielsweise 8 Uhr drei Stunden nach 5 Uhr ist, können wir sagen, daß wie üblich 3 + 5 = 8 ist. Drei Stunden nach 10 Uhr ist jedoch 1 Uhr, und 3 Stunden nach 11 Uhr ist 2 Uhr; aus dem gleichen Grunde ist also 3 + 10 = 1 und 3 + 11 = 2. Nicht gerade Standard! Trotzdem hat diese ,Uhrenarithmetik' sehr viel für sich, insbesondere gelten fast alle üblichen Gesetze 30
der Algebra. Nach Gauß beschreiben wir sie als Arithmetik nach dem Modul 12 und ersetzen , = ' durch das Symbol , = ' als Erinnerung daran, daß ein gewisser Schwindel stattfindet. Die Relation , = ' heißt Kongruenz. In der Arithmetik modulo (d. h. nach dem Modul) 12 werden alle Vielfachen von 12 ignoriert. Es ist also 10 + 3 = 13 = 1, da 13 = 12 + 1 ist und wir die 12 ignorieren können. Auch jede andere Zahl n kann als Modul benutzt werden: jetzt werden die Vielfachen von n ignoriert. Das resultierende Zahlensystem besteht nur aus den Zahlen 0,1, 2 , . . . , « — 1 und besitzt neben der Addition eine eigene Multiplikation und Subtraktion. Mit der Division sieht es weniger erfreulich aus; wenn aber n eine Primzahl ist, so kann man durch jede von Null verschiedene Zahl dividieren. Modulo 7 finden wir beispielsweise 3/5 = 2, da 2 • 5 = 10 = 3 ist. Diese bizarre Arithmetik ist von Gauß eingeführt worden, weil sie zur Behandlung von Teilbarfceitefragen ideal geeignet ist. In der Zahlentheorie wird sie seitdem ständig zu diesem Zweck verwendet.
Der kleine Fermatsche Satz Zwei wichtige Sätze in der Mathematik tragen den Namen von Pierre de Fermat, einem französischen Rechtsanwalt und Amateurzahlentheoretiker par excellence. Einer davon, der große Fermatsche Satz, stellt überhaupt keinen wirklichen Satz dar, sondern ein größeres offenes Problem (siehe Kapitel 3). Der andere, oft der ,kleine Satz' genannt, ist so einfach, daß sein Beweis nur ein paar Zeilen lang ist; er bildet jedoch ein Meisterstück an Scharfsinn und ein Resultat mit erstaunlichen Konsequenzen. Er sagt folgendes aus. Angenommen, p ist eine Primzahl und a irgendeine nicht durch p teilbare Zahl. Dann ist a?*1 = 1 (mod^). Das ,mod p' erinnert uns gerade daran, daß p der Modul ist. Mit anderen Worten: «P -1 läßt bei Division durch p den Rest 1. Beispielsweise erwarten wir einen Rest 1, wenn wir 210 = 1024 durch 11 teilen, da 11 eine Primzahl ist. Nun ist 1024 = 93 • 11 + 1, das stimmt also. Andererseits ist 211 = 2048 = 170 -12 + 8, läßt also bei der Division durch 12 den Rest 8. Es ist uns damit gelungen zu beweisen, daß 12 keine Primzahl ist, ohne irgendwelche bestimmten Faktoren aufgezeigt zu haben. 31
Dieser Fakt ist kaum neu, ähnliche Berechnungen lassen sich jedoch für sehr große Werte der Zahl p durchführen, wo das Ergebnis weniger evident ist. Die Berechnung von aP(mod p) läßt sich erfolgreich in einer Zeit durchführen, die wie die dritte Potenz der Stellenzahl von p wächst. Uns liegt hiermit also ein effektiver Test dafür vor, daß eine Zahl keine Primzahl ist, vorausgesetzt, wir wissen, welcher Wert von a zu wählen ist!
Falltürcodes Warum sollte jemand an großen Primzahlen und Faktorzerlegung interessiert sein? Neben der reinen Freude an all dem gibt es einen praktischen Grund, den ich bereits früher angedeutet habe: Anwendungen auf die Kryptographie. Ein großer Anteil militärischer Bemühungen richtet sich auf die Suche nach einem ,unknackbaren', aber effektiven Code. Ende der 70er Jahre haben Ralph Merkle, Whitfield Diffie und Martin Hellman eine neue Art von Code vorgeschlagen, genannt Public-key-Kryptosystem (Yerschlüsselungssystem mit öffentlichem Schlüssel). Die Anwendung eines beliebigen Codes erfolgt in zwei grundlegenden Schritten: dem Codieren einer Nachricht und ihrer Decodierung. Bei den meisten Codes ist jeder, der den ersten Schritt durchzuführen vermag, auch in der Lage, den zweiten auszuführen, und es wäre undenkbar, dem Feind (oder der Öffentlichkeit, die viele Regierungen in demselben Licht zu sehen scheinen) die Methode freizugeben, mit der eine Nachricht in einen Code umgewandelt werden kann. Der Feind brauchte nur das Codierungsverfahren Rückgängig zu machen', um alle nachfolgenden codierten Nachrichten zu knacken. Merkle, Diffie und Hellman haben erkannt, daß dieses Argument nicht hieb- und stichfest ist. Das zweideutige Wort lautet ,nur'. Angenommen, das Godierungsverfahren ist sehr schwer rückgängig zu machen (wie das Kochen eines Eies). Dann schadet es nicht, seine Einzelheiten preiszugeben. Das hat zu der Idee einer Falltürfunktion geführt. Jeder Code nimmt eine Nachricht M auf und erzeugt eine codierte Form f(M). Decodierung der Nachricht ist gleichbedeutend damit, eine Umkehrfunktion / _ 1 zu finden, so daß = M wird. Wir nennen / eine Falltürfunktion, wenn / sehr leicht, f"1 aber sehr schwer, 32
für praktische Zwecke im Grunde genommen also unmöglich zu berechnen ist. Eine Falltürfunktion in diesem Sinne ist kein sehr praktischer Code, weil es für den legitimen Benutzer genauso schwer wie für den Feind ist, die Nachricht zu decodieren. Der letztendliche Dreh besteht darin, / auf solche Weise zu definieren, daß durch eine einzelne (geheimgehaltene) Zusatzinformation die Berechnung von / _ 1 leicht wird. Das ist das einzige bißchen Information, das man dem Feind nicht erzählen darf. In dem nach Ted Rivest, Adi Shamir und Leonard Adleman genannten RSA-System wird dies mit Hilfe des kleinen Fermatschen Satzes erreicht. Man beginne mit zwei großen Primzahlen p und q, die geheimgehalten werden; der Öffentlichkeit sind jedoch ihr Produkt n = pq und eine weitere Zahl E, der GodieTungsschliissel, zugänglich. Eine beliebige Nachricht läßt sich leicht durch eine Ziffernfolge darstellen; diese spalte man in Blöcke auf, die, als Zahlen aufgefaßt, kleiner als n sind. Dann reicht es aus, blockweise zu codieren. Um dies zu bewerkstelligen, transformiere man jeden Block B in die Zahl G = BB (mod n). Dann ist C die codierte Nachricht. Um zu decodieren, muß man einen Decoiierungsschlüssel D kennen, der so gewählt ist, daß DE modulo (p — 1) (q — 1) kongruent zu 1 ist. Dann geht aus einer von Leonhard Euler stammenden geringfügigen Verallgemeinerung des kleinen Fermatschen Satzes hervor, daß GD = B (mod n) ist, man kann also B aus G durch einen ähnlichen Prozeß zurü ckgeWinnen. Der springende Punkt besteht darin, daß das liebe Publikum zwar n und E kennt, nicht aber p und q, so daß es nicht (p — 1) (q — 1) ausrechnen und damit D finden kann. Der Entwerfer des Codes kennt dagegen p und q, weil er gerade von diesen ausgegangen ist. Ebenso verhält es sich mit jedem legitimen Empfänger: der Entwerfer wird sie ihm genannt haben. Die Sicherheit dieses Systems hängt von genau einer Sache ab: der notorischen Schwierigkeit, eine gegebene Zahl n in Primzahlen zu zerlegen, auf die in Lenstras Bemerkung über die Reinemachefrau im Zitat zu Beginn dieses Kapitels hingewiesen wurde. Sie glauben ihm nicht? 0 . K., hier ist es, was die Reinemachefrau zurückgelassen hat: n — 2 67 — 1. Wenn Sie p und q in weniger als einer Ewigkeit von Hand berechnen können, werden Sie F. N. Cole schlagen, der dies erst 1903 getan hat. (Siehe das Ende dieses Kapitels.) 33
Es gibt noch einen anderen Wesenszug dieses Codes: Der Urheber einer Nachricht kann eine beglaubigte Unterschrift' hinterlassen. Angenommen, zwei Personen, Alfie und Betty, kennen beide den geheimen Decodierungsschlüssel D und können somit miteinander kommunizieren. Eines Tages empfängt Alfie eine Nachricht und stellt bei ihrer Decodierung fest, daß sie ,GRUSS B E T T Y ' endet. Wie kann er sicher sein, daß es wirklich Betty war, die sie gesendet hat? Der Codierungsschlüssel E ist öffentlich: jedermann kann eine Nachricht, die mit ,GRUSS BETTY' endet, codieren und abschicken! Vielleicht war es Gemma und nicht Betty, die sie geschickt hat. Betty kann jedoch beweisen, daß sie den geheimen Schlüssel D kennt, indem sie Alf die Nachricht (GRUSS BETTY)» sendet. Er kann durch Codieren mit E überprüfen und erhält (GRUSS BETTY)»®, was im Klartext GRUSS BETTY ist. Niemand, der D nicht kennt, kann eine solche Nachricht erzeugen. Mit ein bißchen mehr Mühe kann man erreichen, daß die Unterschrift von der Nachricht abhängt, so daß sie auch nicht aus einer früher aufgefangenen Mitteilung kopiert werden kann. Wenn natürlich der Feind von D Wind bekommen hat, so ist alle Sicherheit dahin, aber kein Code ist gegen unerlaubten Besitz seines Decodierungsverfahrens gefeit.
Pseudoprimzahlen
Mit dieser Anwendung im Auge, kehren wir zu zwei theoretischen Problemen zurück: Testen auf die Primzahleigenschaft und Faktorzerlegung. Der früher erwähnte Fermatsche Test für Nichtprimzahlen ist nicht narrensicher. Für jeden Wert von a gibt es nämlich unendlich viele Nichtprimzahlen p, für die ar1 = 1 (mod^) ist. Diese JJ'S heißen Pseudoprimzahlen zur Basis a. Schlimmer noch, es gibt Nichtprimzahlen p, die für alle Basen a (die keinen Faktor mit p gemein haben) Pseudoprimzahlen sind. Solche p's heißen Garmichaeische Zahlen-, die kleinste ist 561 = 3 • 11 • 17. (Sie funktioniert, weil 3 - 1, 11 - 1 und 17 - 1 allesamt 561 — 1 teilen, ein Modell, das für Carmichaelsche Zahlen typisch ist. Man versuche zu erkennen, wie man das unter Benutzung des kleinen Fermatschen Satzes erklären kann.) 34
Es gibt eine von G. L. Miller stammende verwandte, aber kompliziertere Idee, die ich nicht im Detail beschreiben will. Sie weist dieselbe Eigenschaft auf, daß von jeder Zahl, die bei dem Millerschen Test durchfällt, bekannt ist, daß sie nicht prim ist; das Bestehen des Tests ist jedoch noch keine Garantie für eine Primzahl. Eine Zahl, die den Millerschen Test besteht, heißt eine starke Pseudoprimzahl zur Basis a. Anderenfalls heißt a ein Zeuge für (das Nichtprimsein von) p. Es stellt sich heraus, daß es für die starke Pseudoprimzahleigenschaft kein Analogon der Carmichaelschen Zahlen gibt. In der Tat besitzen die meisten Nichtprimzahlen einen sehr kleinen Zeugen. Beispielsweise haben John Selfridge und S. S. Wagstaff durch direkte Rechnung gefunden, daß 3215031751 die einzige Nichtprimzahl kleiner als 25 Milliarden ist, die keine der Zahlen 2, 3, 5 und 7 als Zeugen besitzt. Indem man das ausnutzt, kann man einen effektiven Primzahltest für 9stellige Zahlen herleiten, der auf einem programmierbaren Taschenrechner nicht mehr als zwei Minuten benötigt. Miller hat diesen Gedanken weiterverfolgt. Wenn wir zeigen können, daß jede Nichtprimzahl einen hinreichend kleinen Zeugen besitzt, so verfügen wir über einen effizienten Primzahltest, der für alle Primzahlen funktioniert. Er war in der Lage, nachzuweisen, daß jede ungerade Nichtprimzahl n einen Zeugen kleiner als 70 (log n)2 besitzt, aber nur dadurch, daß er sich auf eine der berüchtigsten unbewiesenen Vermutungen in der ganzen Mathematik, die Riemannsche Vermutung (siehe Kapitel 11) stützte. Das bringt uns in eine sehr seltsame Lage. Wir haben einen Primzahltest, von dem wir ziemlich sicher sein können, daß er effizient ist; wir können aber nicht beweisen, daß dem so ist. Wenn die Riemannsche Vermutung in der Tat richtig ist — wie die meisten Experten denken —, dann ist der Test wirklich effizient. In praxi funktioniert er wahrscheinlich für fast alle Zahlen effizient. Ein Ingenieur zum Beispiel mag wohl das Problem als gelöst ansehen. (Das ist nicht als Kränkung gemeint — in den Ingenieurwissenschaften ist das Kriterium ,es funktioniert' jedenfalls als der einzige vernünftige Test in Erwägung zu ziehen.) Die Mathematiker finden die Lage völlig unbefriedigend — ich nehme an, weil, obgleich sie ,die Antwort' zu haben glauben, in ihrem Verständnis der Sache eine Lücke klafft. Das ist ein Punkt, über den ein Mathematiker wahrscheinlich nicht hin35
weggehen wird, schon deshalb nicht, weil die Erfahrung gelehrt hat, daß immer dann, wenn eine Lücke nicht verstanden wird, alle Arten von schönen und wichtigen Gedanken dahinschwinden.
Jenseits vernünftigen Zweifels?
Hinsichtlich praktischer (selbst etwas dubioser) Tests gibt es einen kühnen Vorschlag von M. 0. Rabin. Man wähle Zufallsbasen und wende den Millerschen Test wiederholt an. Eine Zahl, die alle Tests übersteht, ist ,mit einer überwältigenden Wahrscheinlichkeit' Primzahl. Dieser Vorschlag wirft faszinierende philosophische Fragen hinsichtlich der mathematischen Wahrheit auf (und wirft auf die mathematische Mentalität ein erhellendes Nebenlicht). Die Philosophie ist folgende. Im Gegensatz zu früheren Zeitaltern wird im gegenwärtigen die Mathematik nicht länger als vollkommen angesehen. Jedes Produkt des menschlichen Geistes wird wahrscheinlich Fehler enthalten. Die Wahrscheinlichkeit dafür, daß eine Zahl fünfzig stochastische MillerTests besteht, ohne prim zu sein, ist weit geringer als die Wahrscheinlichkeit dafür, daß jemals in Rechnungen oder in der Logik ein menschlicher Fehler auftritt, oder die Wahrscheinlichkeit eines Computer- oder Rechnerfehlers. Daher ist es müßig, über die außerordentlich geringe Wahrscheinlichkeit eines Verfahrensfehlers Haarspalterei zu betreiben. Das ist ein überzeugendes Argument; es mag sogar korrekt sein. Es ist aber eine Tatsache, daß sich nur sehr wenige Mathematiker damit zufrieden geben. Sie machen sich darüber Sorgen, daß möglicherweise alles schiefgeht — viel mehr, als sie sich darum sorgen, in der Logik oder in Rechnungen unentdeckte Fehler zu machen! ,Probabilistische' Beweise von der Art, wie Rabin sie vorschlägt, sind schlechte Kunstfertigheit. Die Möglichkeit eines unentdeckten Fehlers ist akzeptabel (weil man nichts dagegen kann, als sorgfältig zu überprüfen und die Resultate gegenüber anderen bekannten Sätzen zu testen); das bekannte Vorliegen eines logischen Hintertürchens ist es nicht. Zusätzlich gibt es den leisen Verdacht, daß der Begriff der Wahrscheinlichkeit' nicht angemessen zu sein braucht. Wenn eine Zahl gegeben ist, so ist sie entweder prim oder sie ist es nicht. Also ist sie entweder mit der Wahrscheinlichkeit 0 prim, oder sie ist mit der 36
Wahrscheinlichkeit 1 prim. Der Haken ist natürlich der, daß wir nicht wissen, mit welcher. In diesem Lichte gesehen, ist jedoch eine Auesage wie ,12345321999 . . . 627 ist mit der Wahrscheinlichkeit 0,9999999999999 prim' glatter Unsinn. Anderenfalls besteht zumindest die mathematische Herausforderung, dem dann einen guten Sinn zu verleihen. Und natürlich besteht auch der oben ausgesprochene Verdacht, daß eine Lücke in einem Beweis ein Hinweis auf neue zu findende Ideen ist — vorausgesetzt, wir sind nicht so selbstgefällig, daß wir das Problem als gelöst deklarieren und niemals die Mühe auf uns nehmen, weiterzuschauen. Der Adloman-Ilumolysche Test 1980 haben Adleman und Robert Rumely in der Tat weitergeschaut, und sie haben einige jener verborgenen Ideen gefunden, mit denen sie den Millerschen Test so modifizieren konnten, daß er ohne ein probabilistisches oder mutmaßliches Frisieren eine Garantie für Primsein oder Nichtprimsein abgibt. Die Laufzeit ist natürlich ein bißchen länger, aber das Verfahren (insbesondere in der kurze Zeit danach von Lenstra verbesserten Version) ist für, sagen wir, 200stellige Primzahlen ganz praktikabel. Ihr Gedanke besteht darin, aus einem starken Pseudoprimzahltest mehr Information herauszuholen als nur das ,Bestehen' oder ,Versagen', indem einige Ideen aus der algebraischen Zahlentheorie herangezogen werden, die mit den sogenannten ,höheren Reziprozitätsgesetzen' zusammenhängen. Einige sehr spitzfindige Mathematik, sowohl klassische als auch moderne, kommt mit ins Spiel, trotz des relativ irdischen Problems, auf das sie angewendet wird. Für eine ¿-stellige Zahl besitzt ihr Verfahren eine Laufzeit von etwa 4I0siogfc. Das ist eine ,nahezu polynomiale Zeit' und macht die Methode praktisch anwendbar. Eine exakte Schranke für die Laufzeit ist von Adleman und Rumely vermutet und bald danach von Andrew Odlyzko und Carl Pomerance bewiesen worden. Eine endgültige Wendung der Geschichte tritt ein, während ich gerade schreibe. Lenstra hat einen Weg ausfindig gemacht, um zur Faktorzerlegung großer Zahlen,elliptische Kurven' heranzuziehen. Die Methode funktioniert am besten, wenn drei oder mehr Faktoren vorliegen oder wenn es zwei gibt, die ziemlich 37
weit voneinander entfernt sind. Die Zahlentheoretiker beschäftigen sich seit einem halben Jahrhundert mit der Untersuchung elliptischer Kurven wegen deren tiefliegender innerer Schönheit. Niemand hat aber je einen Zusammenhang mit der Faktorzerlegung vermutet. Die Antwort von Cole 2« - 1 = 193707721 • 761838257287.
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3. Interesse am Rande Darf ich beiläufig jeden Leser dieses Abschnitts ersuchen, der sich einbildet, einen Beweis zu haben, ihn mir nicht zu senden? Ich habe wohl über hundert fehlerhafte Beweise geprüft und meine, meinen Teil getan zu haben. Ein solcher hat mich vor vielen Jahren drei Wochen lang aufgehalten. Ich habe gespürt, daß da etwas faul ist, konnte den Fehler aber nicht finden. In meiner Verzweiflung habe ich das Autormanuskript einem sehr aufgeweckten Mädchen aus meiner Trigonometrieklasse überlassen, die in einer halben Stunde den Schnitzer entdeckt hat. Jeder, der über einem Beweis nachsinnt, mag sich für das interessieren, was Hilbert 1920 auf die Frage, warum er sich nicht darum bemühe, gesagt hat: Ehe er beginne, müsse er drei Jahre intensiven Studiums hineinstecken, und er habe nicht diese viele Zeit, um sie auf einen wahrscheinlichen Mißerfolg zu verschwenden. Eric Temple Bell
Einer der größten Zahlentheoretiker des siebzehnten Jahrhunderts war der Rechtsanwalt Pierre de Fermat. Sein Ruhm beruht auf seiner Korrespondenz mit anderen Mathematikern, denn er hat sehr wenig veröffentlicht. Er wollte Herausforderungen in der Zahlentheorie stellen, die auf seinen eigenen Berechnungen basieren; und zu seinem Tode hat er eine Anzahl von Sätzen hinterlassen, deren Beweise, wenn überhaupt, nur ihm bekannt waren. Der berüchtigste von diesen war eine Randnotiz in seinem eigenen Exemplar der Arithmetica von Diophant: „Einen Kubus in zwei Kuben, eine vierte Potenz in vierte Potenzen oder allgemein irgendeine höhere als die zweite Potenz in zwei von derselben Art zu zerlegen ist unmöglich, wovon ich einen bemerkenswerten Beweis gefunden habe. Der Rand ist zu schmal, um ihn zu fassen." Sollte Fermat tatsächlich einen Beweis gehabt haben, so hat niemand die leiseste Ahnung davon. Was wir gegenwärtig über den großen Fermatschen Satz wissen, wie er nunmehr genannt wird, erfordert Methoden, die im siebzehnten Jahrhundert unmöglich zur Verfügung gestanden haben können. Aber ob nun Fermat etwas bemerkt hat, was seitdem jedem entgangen ist, oder ob er sich selbst getäuscht hat, seine fast beiläufige Bemerkung ist seitdem für eine ungeheure Menge Mathematik verantwortlich. Der große Fermatsche Satz ist ein Beispiel für ein Problem, das so gut ist, daß selbst seine Fehlschläge die Mathematik über alle Maßen bereichert haben. 39
Alexandrinische Algebra
332 v. Chr. hat Alexander der Große in Ägypten eine Stadt gegründet und sie bescheiden Alexandria genannt. Er starb jedoch 323 v. Chr., bevor die Stadt vollendet war. In der darauffolgenden politischen Instabilität zerfiel das Alexandrinische Imperium in drei Teile, von denen einer Ägypten unter der Ptolemäischen Dynastie war. Die hauptsächlichste mathematische Aktivität nach der klassischen griechischen Periode erfolgte innerhalb des Ptolemäischen Imperiums, insbesondere in Alexandria. Dort blühten Naturwissenschaft und Mathematik bis zur Zerstörung der Alexandrinischen Bibliothek, die A. D. 392 durch die Römer unter Theodosius begann und 640 von den Moslems vollendet wurde — „wenn es bereits im Koran steht, so ist es überflüssig; anderenfalls ist es Ketzerei". Es wird geschätzt, daß unter Theodosius über 300000 Manuskripte zerstört worden sind. Etwa ein Jahrhundert vor seinem endgültigen Niedergang brachte Alexandria den Höhepunkt der griechischen Algebra hervor, das Werk von Diophant. Über Diophant ist sehr wenig bekannt — es wird nur vermutet, daß er Grieche war. Er hat eine Anzahl von Büchern geschrieben, von denen die Arithmetica das wichtigste war. Man könnte ihn als den Euklid der Algebra beschreiben. Er hat eine symbolische Bezeichnung mit verschiedenen Symbolen für das Quadrat der Unbekannten, ihren Kubus usw. eingeführt. Und er hat über die Lösung von Gleichungen geschrieben. Unter einer Lösung verstand er eine rationale Zahl, gewöhnlich eine ganze Zahl. Dies war nicht so sehr eine explizite Forderung als vielmehr eine stillschweigende Annahme: dies waren die einzigen Arten von Zahlen, die mit der Arithmetik behandelt werden konnten. Heutzutage gebrauchen wir den Ausdruck diophantische Gleichung für eine Gleichung, deren Lösungen in ganzen Zahlen gesucht werden. Unter den von Diophant behandelten Problemen befindet sich das der pythagoreischen Zahlentripel ganzer Zahlen, die die Seiten eines rechtwinkligen Dreiecks bilden. Von sehr alten Zeiten her war bekannt, daß ein Dreieck, dessen Seiten 3, 4 und 5 Einheiten lang sind, einen rechten Winkel besitzt. Unter Benutzung des Satzes von Pythagoras läuft das allgemeine Problem darauf hinaus, ganze Zahlen a, b, c zu finden, so daß a? + 62 = c 2 ist. Die altbabylonische Tafel Plimpton 322, die von etwa 1900 40
bis 1600 v. Chr. datiert, zählt fünfzehn solcher Tripel auf. Diophant packt das allgemeine Problem an, obgleich er zur Exemplifizierung der Methode Spezialfälle heranzieht. Beispielsweise fragt Problem 8 in Buch 1 nach einer Teilung von 16 in zwei Quadrate und erhält die Antwort 256/25 und 144/25. In moderner Schreibweise wird die allgemeine Lösung durch a = h(u2 — v2),
b = 2kuv,
c = Jc(u2 + i'2)
mit beliebigen ganzen Zahlen k, u, v gegeben. Es existieren somit unendlich viele Lösungen, und diese lassen sich mit Hilfe von Polynomfunktionen freier Parameter angeben. Diophant hat viele andere Arten von Gleichungen untersucht, zum Beispiel einen kubischen Ausdruck gleich einem Quadrat gesetzt. Sein Ziel bestand darin, eine gewisse Lösung zu finden, nicht aber alle Lösungen. Wie Morris Kline sagt: „Er verfügt über keine allgemeinen Methoden. Seine Mannigfaltigkeit von Methoden für die einzelnen Probleme verblüfft mehr, als daß sie erleuchtet. Er war ein gewitzter und kluger Virtuose, aber anscheinend nicht tief genug, um das innere Wesen seiner Methoden zu erkennen und damit Allgemeinheit zu erreichen." Bis zu einem gewissen Grade trifft das auf die längste Zeit der Geschichte der diophantischen Gleichungen zu; in den letzten zwei Jahrzehnten wurde jedoch ein enormer Fortschritt erzielt, und schließlich tritt ein hohes Maß an Einheit und Ordnung zutage.
Der professionelle Amateur Fermat, Sohn eines Händlers, genoß zu Anfang des 17. Jahrhunderts in Toulouse eine Ausbildung als Rechtsanwalt. Fast selbständig schuf er das, was jetzt Zahlentheorie heißt: die Mathematik der ganzen Zahlen. In seinem Buch The Mathematics of Great Amateurs weigert sich Julian Coolidge, Fermat aufzunehmen, weil er so gut war, um als professionell angesehen werden zu können. Fermat besaß sicherlich ein leistungsfähiges mathematisches Gehirn, und er hat es nicht auf Zahlentheorie eingeschränkt. Einige seiner Arbeiten haben die Grundgedanken der Differential- und Integralrechnung und der Wahrscheinlichkeitsrechnung vorweggenommen. Unter seinen unvergänglichen Resultaten befindet sich eines, das aussagt, daß jede Primzahl der 41
Form én + 1 eine Summe von zwei Quadraten ist. Zum Beispiel ist 17 — 42 -f- l 2 , 137 = II 2 + 42. Nur wenige von Fermata Beweisen sind überliefert, wir wissen aber, daß er seine Resultate nicht bloß erraten hat, weil seine Briefe an andere Mathematiker gelegentlich Einzelheiten von Beweisen enthalten. Dieses besondere Resultat hier hat Fermat durch eine von ihm selbst erfundene Methode bewiesen, genannt descente infinie (unendlicher Abstieg). Die Grundidee besteht im Nachweis dessen, daß der Satz, wenn er für eine gewisse Primzahl der Form 4n + 1 nicht gilt, dann auch für eine kleinere Primzahl dieser Form versagt. Indem wir unbegrenzt absteigen, sehen wir, daß er für die kleinste derartige Primzahl versagen muß, nämlich für 5. Es ist aber 5 = 22 + l 2 , ein Widerspruch. Im modernen Licht betrachtet, stellt dies gerade eine Variante der Methode der mathematischen Induktion dar; zu Fermats Zeiten war es jedoch originell. Während Fermat über das Werk von Diophant über pythagoreische Zahlentripel nachgesonnen hat, muß er damit begonnen haben, über das analoge Problem für Kuben, vierte Potenzen und so fort nachzudenken, das heißt, über die Fermatsche Gleichung an + bn = c" (n 3). Wir wissen dies auf Grund der oben erwähnten Randnotiz, die versichert, daß es für n ^ 3 keine Lösungen in ganzen Zahlen gibt. Es ist leicht zu sehen, daß es ausreicht, dies für n = 4 und für jede ungerade Primzahl n zu beweisen. Eine Skizze von Fermats Beweis für n = 4 ist bekannt. Euler hat einen Beweis für n = 3 geliefert. Der Fall n = 5 ist 1828 von Peter Lejeune Dirichlet und 1830 von Adrien-Marie Legendre bewiesen worden. 1832 hat ihn Dirichlet für n — 14 bewiesen ; merkwürdig ist, daß dies leichter zu behandeln ist als die entsprechende Primzahl n = 7, und andere haben versucht, die Auslassung zu reparieren. 1839 hat Gabriel Lamé einen Beweis für n = 7 angeboten, der jedoch Fehler enthielt. Gauß hat sich daran versucht, ist gescheitert und hat an Heinrich Olbers1 geschrieben: „Ich gestehe zwar, daß das Fermatsche Theorem als isolierter Satz für mich wenig Interesse hat, denn es lassen sich eine Menge solcher Sätze leicht aufstellen, die man weder beweisen noch widerlegen kann." Selbst der größte Mathematiker leidet gelegentlich unter dem Saure-Trauben-Syndrom.
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Brief vom 2. 8. 1817 (Anm. d. Hrsg.)
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Algebraische Zahlen Der Schlüssel zu weiterem Fortschritt liegt in der Idee einer algebraischen Zahl — einer Zahl, die einer polynoalen Gleichung mit rationalen Koeffizienten genügt. Beispielsweise ist die Zahl ]/2 algebraisch, da sie der Gleichung (|/2)2 —2 = 0 genügt. (Manche Zahlen, wie etwa n, sind nicht algebraisch; sie heißen dann transzendent. Für weitere Diskussion siehe Kapitel 4.) Es stellt sich heraus, daß algebraische Zahlen ihre eigene Art von Arithmetik besitzen, in der sich die Begriffe der ganzen Zahlen, Primzahlen usw. zufriedenstellend verallgemeinern lassen. Zum Beispiel ist in dem System der ganzen Gaußschen Zahlen « + fcj/ —1, wo a und b gewöhnliche ganze Zahlen sind, jede Zahl ein eindeutig bestimmtes Produkt von Primzahlen. Allgemeiner sind ganze algebraische Zahlen solche Zahlen, die einer polynomialen Gleichung mit ganzen Koeffizienten und höchstem Koeffizienten 1 genügen. Summen und Produkte ganzer algebraischer Zahlen sind wieder ganze algebraische Zahlen. Das Hauptmotiv für die Einführung algebraischer Zahlen in die Zahlentheorie besteht darin, daß sie Informationen über diophantische Gleichungen vermitteln. So hat zum Beispiel Fermat festgestellt, daß y = ± 5 , x = 3 die einzigen ganzzahligen Lösungen der Gleichung y2 -f- 2 = x3 sind. Hier ist eine Beweisskizze, die ganze algebraische Zahlen der Form a + b ]/ —2 verwendet. Wir bringen diese ins Spiel, weil sich durch Faktorzerlegung der linken Seite (y + ]/"—2) (y -
= z3
ergibt. Durch ein bißchen Tüfteln finden wir, daß wir annehmen können, daß die beiden Zahlen links keinen Faktor gemein haben. Nun gilt im Bereich der gewöhnlichen ganzen Zahlen: Wenn das Produkt zweier Zahlen ohne gemeinsame Faktoren ein Kubus ist, so ist jede für sich ein Kubus. Nehmen wir also an, daß dieses Resultat auch noch für ganze algebraische Zahlen gilt, so folgt insbesondere y
+
f r
2
=
{a
+
bi~2y.
Durch Entwickeln und Vergleich der Koeffizienten von
er43
gibt sich
1 = &(3a2 -
2b2),
dessen einzige Lösungen sich durch Probieren leicht finden lassen. Es muß b — ± 1 und 3a2 — 2öa = ± 1 sein. Somit ist a — ± 1 und 6 = 1 . Dann wird x — 3 und y = ± 5 , wie behauptet. So, wie es dasteht, ist dies kein strenger Beweis, weil wir nicht sicher sein können, daß das Resultat über Kuben auch noch für ganze Zahlen der Form a + b gilt. In der Tat läßt sich dies als Folgerung aus der eindeutigen Primfaktorzerlegung solcher ganzer Zahlen beweisen. Der Beweis liegt nicht völlig auf der Hand, ist aber nicht sonderlich tief. Dies ist ein exzellentes Beispiel dafür, wie man durch Einführung eines neuen Hilfsbegriffs — hier der Zahlen a -f- b ]/—2 — Resultate über gewöhnlichere Gegenstände der Mathematik, hier über die ganzen Zahlen, herleiten kann. Der neue Hilfsbegriff bringt eine gewisse Extrastruktur mit sich, die man ausnutzen und danach eliminieren kann, um sich daraufhin den Weg zurück zu dem ursprünglichen Problem zu bahnen. Kreisteilungsaritlimetik Mehrere Mathematiker haben bemerkt, daß man zu einer ähnlichen Faktorzerlegung des Ausdrucks an -f- 6" gelangen kann, indem man von der — gewöhnlich mit £ bezeichneten — komplexen w-ten Einheitswurzel Gebrauch macht. Wie im vorangegangenen Abschnitt sollte, wenn an + b" eine exakte w-te Potenz ist, dies nach sich ziehen, daß auch jeder Faktor eine perfekte n-te Potenz ist. 1874 hat Lamé einen Beweis des großen Fermatschen Satzes angekündigt, der auf diesem Argument beruht. Joseph Liouville, der offensichtlich gerade eine gewisse Zeit lang über die Sache nachgedacht hatte, hat prompt an Lamé geschrieben und darauf hingewiesen, daß der Beweis nur funktioniert, wenn man zeigen kann, daß für ganze Kreisteilungszahlen (Polynome in f mit ganzzahligen Koeffizienten) eindeutige Primfaktorzerlegung gilt. Liouvilles Befürchtungen wurden noch verstärkt, als Ernst Kummer ihm schrieb, daß die eindeutige Primfaktorzerlegung für ganze Kreisteilungszahlen mit n = 23 versagt. Es sah so aus, als sei dieser besondere Zugang zum großen Fermatschen Satz auf ein unüberwindliches Hindernis gestoßen. 44
Die Ideallösung Eine der Kardinalregeln mathematischer Forschung besteht darin, eine gute Idee nicht gleich aufzugeben, wenn sie nicht funktioniert. Kummer, zum Mathematiker gewordener Theologe und Schüler von Gauß und Dirichlet, hat einen Weg gefunden, um die Eindeutigkeit der Primfaktorzerlegung wiederherzustellen, und zwar nicht nur für die ganzen Kreisteilungszahlen, sondern für irgendein System algebraischer Zahlen. Ihm kam diese Idee, als er an einem völlig anderen Problem der Zahlentheorie arbeitete, das als die höheren ßeziprozitätsgesetze bekannt ist. Ich will nur so viel sagen, daß diese mit den Bedingungen zu tun haben, unter denen die Gleichung a = 6™(mod p) gilt; es handelt sich um ein ausgedehntes und wichtiges Gebiet, würde uns aber zu weit vom Thema weg führen. Kummer entwickelte eine Theorie der idealen Zahlen. In ihrer ursprünglichen Formulierung sind dies überhaupt keine Zahlen: es sind die Geister nichtexistenter Zahlen. Eine ideale Zahl n ist eine Beziehung zwischen wirklichen Zahlen, die sich wie Kongruenz modulo n verhält, abgesehen davon, daß es kein n gibt, modulo dem Kongruenz vorliegen könnte. Später fand man, daß es möglich ist, auf zwei verschiedene Weisen den Geist auszutreiben. Eine ideale Zahl kann als eine echte Zahl in einem größeren System algebraischer Zahlen oder als eine Menge «on Zahlen im ursprünglichen System gedeutet werden. Die zweite Deutung hat mehr Gunst gefunden und zu einem modernen Begriff geführt, Ideal genannt. Kummer hat bewiesen, daß sich algebraische Zahlen, auch wenn sie nicht immer in Primfaktoren zerlegbar sind, doch eindeutig in ideale Primzahlen faktorisieren lassen. Mit dieser neuen Waffe bewaffnet (die mit der Geschicklichkeit eines Meisterduellanten gehandhabt werden muß, indem man von gewöhnlichen zu idealen Zahlen ausweicht oder wieder zurück nachstößt, wenn die richtige Bresche erscheint), hat Kummer den großen Fermatschen Satz für Exponenten n bewiesen, die ,reguläre' Primzahlen sind. Es gibt eine etwas technische Definition dessen, was dies bedeutet: Hier möge genügen, daß damit unter den Primzahlen kleiner als 100 alle außer 37, 59 und 67 erfaßt werden. Unter Heranziehung zusätzlicher Argumente haben sich Kummer und Dimitri Mirimanoff auch mit diesen Fällen befaßt. Man vermutete, daß sich auf diesem Wege das Ergebnis für unendlich viele Primzahlen 45
beweisen läßt; ironischerweise ist gegenwärtig stattdessen vielmehr bekannt, daß die Methode für unendlich viele Primzahlen versagtl Natürlich mag es andere Methoden geben ... Durch Erweiterung dieser Techniken haben verschiedene Mathematiker die Grenzen weiter hinausgeschoben; und 1980 hat Wagstaff gezeigt, daß der große Fermatsche Satz für alle n bis 125000 richtig ist. Beiläufig bedeutet dies, daß jegliches Gegenbeispiel, wenn eines existiert, absolut unermeßliche Zahlen enthalten muß, die mindestens eine Million Stellen besitzen — es besteht also keine Hoffnung, sie durch Zufall oder direkte Berechnung zu finden.
Neue Lösungen für alte Einige diophantische Gleichungen, darunter die für die pythagoreischen Zahlentripel, haben die Eigenschaft, daß man durch Auffinden von ein paar Lösungen aus diesen neue erzeugen kann. Einige der interessantesten Gleichungen dieses Typs ergeben sich durch die elliptischen Kurven, die ich im vorangegangenen Kapitel erwähnt habe; sie haben die Form y2 — ax3 + bx2 -f- cx + d. Jede Gerade schneidet eine solche Kurve in drei Punkten. Wenn die Koordinaten von zweien bekannt sind, ist es möglich, die Koordinaten des dritten zu berechnen. Falls die ersten beiden rationale Koordinaten besitzen, so auch der dritte. Man kann sich den dritten Punkt als eine Art,Produkt' der anderen beiden denken. Erstaunlicherweise genügt dieses Produkt vernünftigen algebraischen Gesetzen, die Lösungsmenge bildet also das, was ein Algebraiker. eine abelsche Gruppe nennen würde. L. J. Mordell hat für die Gleichung jeglicher elliptischer Kurve bewiesen, daß endlich viele rationale Lösungen existieren, aus denen sich jede andere Lösung durch wiederholte Produktbildung dieser Art gewinnen läßt. Die Gruppe der Lösungen ist mithin ,endlich erzeugt'. Insbesondere besitzt die Gleichung unendlich viele rationale Lösungen. Andere diophantische Gleichungen sind mit ihren Lösungen viel knickriger, denn sie haben nur endlich viele oder überhaupt keine! Beispielsweise gibt es einen wichtigen Satz von Axel Thue und Carl Siegel, der aussagt, daß eine all46
gemeine Klasse von Gleichungen vom Grade 3 oder höher nur endlich viele Lösungen besitzt. Ein eigentümlicheres Beispiel stellt W. Ljunggrens Resultat von 1942 dar, daß es genau zwei Lösungen der Gleichung a;2 + 1 = 2y l gibt, nämlich (x, y) = (1,1) und (239,13). Die Frage lautet also, wie kann man Scrooge1 vom Weihnachtsmann unterscheiden? Gleichungen mit Löchern Die Antwort darauf kam aus einer ganz anderen Richtung: aus der algebraischen Geometrie. Algebraische Geometer untersuchen (sehr verallgemeinerte Versionen von) Kurven und Flächen, die durch polynomiale Gleichungen definiert werden, genannt algebraische Mannigfaltigkeiten. Der Hauptanstoß für die Theorie kam aus dem Werk des neunzehnten Jahrhunderts über Polynome über den komplexen Zahlen. Eine Gleichung f{x, y) = 0 in zwei reellen Variablen definiert in der (a;,?/)-Ebene eine Kurve. Eine ähnliche Gleichung in zwei komplexen Variablen definiert ein analoges Objekt, eine komplexe Kurve. Die komplexe Gerade ist jedoch zweidimensional, während die reelle Gerade eindimensional ist; komplexe Objekte pflegen also im Vergleich zu den entsprechenden reellen Objekten eine doppelt so große Dimension zu haben. Es folgt, daß eine komplexe Kurve über den reellen Zahlen zweidimensional ist, das heißt, sie ist in Wirklichkeit eine Fläche. Nach den Topologen sieht eine allgemeine Fläche aus wie eine Sphäre mit Mengen angeklebter Henkel oder äquivalent dazu wie ein Torus (amerikanischer Pfannkuchen 2 ) mit vielen Löchern. Die Anzahl der Löcher heißt das Geschlecht der Fläche. Zu jeder komplexen Gleichung gehört somit eine Zahl, ihr Geschlecht. Diese topologisch definierte Zahl mag als eine ziemlich willkürliche und obskure Erfindung erscheinen, sie ist aber in der algebraischen Geometrie sehr wichtig. Sie läßt sich zum Beispiel arithmetisch berechnen. Mordeil hat 1922 bemerkt, daß die einzigen Gleichungen, von denen bekannt ist, daß sie unendlich viele rationale Lösungen besitzen, diejenigen vom Geschlecht 0 oder 1 sind. Beispielsweise 1 2
Gestalt aus „A Christmas Carol in Prose" (1843) von Charles Dickens (Anm. d. Hrsg.) Ein Pfannkuchen ist in den USA ringförmig (Anm. d. Hrsg.) 47
hat die pythagoreische Gleichung das Geschlecht 0, elliptischeKurven haben das Geschlecht 1. Jede von Diophantos behandelte Gleichung besitzt das Geschlecht 0 oder 1! Hier endlich schien eine gewisse Ordnung und Allgemeinheit zutage zu treten. Mordell hat vermutet, daß jede Gleichung vom Geschlecht 2 oder mehr nur endlich viele rationale Lösungen besitzt, eventuell gar keine. Die Fermatsche Gleichung hat das Geschlecht (n — 1) (n — 2)/2, das größer als 1 ist, wenn n größer als 3 ist. Somit hat ein einzelner Spezialfall der Mordelischen Vermutung zur Folge, daß es für jedes n > 3 nur endlich viele Lösungen (wenn überhaupt welche) der Fermatschen Gleichung gibt. Damit wird offenbar, was für ein mächtiges Resultat die Mordelische Vermutung wäre. Der nächste Schritt nach dem Beweis der Endlichkeit der Lösungsmenge würde darin bestehen, eine bestimmte Schranke für ihre Größe festzulegen — ,den Satz effektiv zu machen'. Danach würde sich im Prinzip durch eine Routinerechnung zeigen lassen, ob überhaupt irgendwelche Lösungen existieren, und sie wäre gegebenenfalls zu ermitteln. Natürlich sind das alles leere Versprechungen, aber so stand es nun mal um die Mordellsche Vermutung. Für die Mordellsche Vermutung sprach nur sehr wenig; so wenig, daß Andre Weil, einer der führenden Zahlentheoretiker der Welt, bemerkt hat, daß „man keinen guten Grund erkennen kann, um dafür oder dagegen zu wetten". Weil ist ein häufiger Kritiker der Überbeanspruchung des Wortes ,Vermutung', mit dem wilde Mutmaßungen hochtrabend ausgezeichnet werden, von denen Mathematiker hoffen, sie mögen sich als wahr herausstellen. Ironischerweise hat gerade eine gewisse, auf Weil zurückgehende Vermutung einen Weg zu einem Beweis der Mordellschen Vermutung eröffnet.
Die Früchte der Langeweile Weil erzählt uns von 1947, als er in Chicago war: „Ich fühlte mich gelangweilt und niedergedrückt und begann, da ich nicht wußte, was ich tun sollte, zwei Abhandlungen von Gauß über biquadratische Reste zu lesen, die ich niemals zuvor gelesen hatte. Die ganzen Gaußchen Zahlen kommen in der zweiten Arbeit vor. Die erste befaßt sich wesentlich mit der Anzahl 48
der Lösungen von Gleichungen ax4 — biß — 1 im Primkörper modulo p und mit dem Zusammenhang zwischen diesen und gewissen Gaußschen Summen; die Methode ist in Wahrheit genau dieselbe, die im letzten Abschnitt der Disquisitiones auf die Gaußschen Summen für die Ordnung 3 und die Gleichungen aa;3 — by3 — 1 angewendet wird. Dann bemerkte ich, daß sich ähnliche Prinzipien auf alle Gleichungen der Form axm + by" + czr... = 0 anwenden lassen und daß dies die Richtigkeit der sogenannten ,Riemannschen Vermutung" für alle Kurven axn + byn -j- cz" = 0 über endlichen Körpern nach sich zieht. Dies führte mich dazu für Mannigfaltigkeiten über endlichen Körpern zu vermuten...". Die Weilschen Vermutungen können als grundlegende Beiträge zu folgender Frage beschrieben werden: Wenn eine Primzahl p gegeben ist, wie viele Lösungen besitzt dann eine gegebene diophantische Gleichung modulo p\ Dies ist für gewöhnliche ganzzahlige Lösungen diophantischer Gleichungen wichtig, da sich jede Lösung in ganzen Zahlen reduzieren' läßt und damit eine Lösung modulo p ergibt. Falls beispielsweise keine Lösungen modulo p existieren, so kann es überhaupt keine Lösungen geben! In praxi besteht das Problem darin, die Informationen, die aus der Reduktion modulo verschiedener Primzahlen entspringen, »zusammenzukleben*, und Weil hat dazu einen sehr schönen Gedanken entwickelt. Es ist bekannt, daß es für jede Primzahlpotenz pn einen endlichen Körper gibt, der genau pn Elemente enthält. Ein Körper ist ein System mit widerspruchsfreier Arithmetik, die Division zuläßt. Wenn eine Gleichung gegeben ist, so sei an die Anzahl ihrer Lösungen in diesem Körper. Es gibt ein Dingsbums, das Zetafunktion der Gleichung heißt und mit allen diesen Zahlen an gebildet ist. Man definiere eine algebraische Mannigfaltigkeit als die Lösungsmenge von nicht nur einer Gleichung, sondern eines Gleichungssystems. Dann hat Weil auf Grund seiner Untersuchungen von Kurven vermutet, daß für eine allgemeine algebraische Mannigfaltigkeit V drei Dinge gelten: (1) Die Zetafunktion von V läßt sich mittels einer speziellen endlichen Menge ganzer algebraischer Zahlen ausdrücken. (2) Zwischen den Zetafunktionen von s und s/pn besteht eine , Funktionalgleichung'. (3) (Die ,Riemannsche Vermutung' für F) Die ganzen algebra49
ischen Zahlen in (1) liegen alle auf einem Kreis in der komplexen Zahlenebene, dessen Mittelpunkt der Ursprung und dessen Radius p"'2 ist. All dies mag ziemlich technisch aussehen, der springende Punkt ist jedoch der, daß man sehr detaillierte Information über die Lösungsanzahl eines Systems diophantischer Gleichungen über einem endlichen Körper bekommt.
Der topologische Zusammenhang Wie ist Weil zu diesen Vermutungen gelangt? Sie waren keineswegs bloße Mutmaßungen; er hatte einen starken Verdacht, daß sie gelten könnten. Sie ,klangen gut'. Der Grund war eine Analogie zur Topologie. Die Idee besteht darin, die sogenannte Lefschetzsche Spurformel anzuwenden, welche die Anzahl der Fixpunkte einer topologischen Tranformation zählt. Die Transformation, um die es hier geht, ist die Frobenius-Abbildung, die x in XP überführt. Das Fazit all dessen ist die Weilsche Vermutung (1). Vermutung (2) rührt von einer topologischen ,Dualitäts'theorie her. Nummer (3) ist viel tieferliegend und enthält andere Vermutungen, die von Solomon Lefschetz und William Hodge stammen. Es gibt einen Haken an der Sache: Die Lefschetzsche Spurformel funktioniert nur für topologische Räume, und endliche Körper haben keine vernünftige topologische Struktur. Daher läßt sich die Weilsche Analogie nicht streng machen. In der Tat wäre sie aufgegeben worden ungeachtet dessen, daß sie für Kurven das richtige Resultat liefert. Schließlich sind die Weilschen Vermutungen 1975 von Pierre Deligne unter Benutzung ziemlich verschiedener (und schwieriger) Methoden bewiesen worden. Sie haben sich seitdem für viele Probleme, bei denen die algebraische Geometrie ins Spiel kommt, als absolut fundamental erwiesen.
Ein Übermaß an Vermutungen Seit dem neunzehnten Jahrhundert ist von den algebraischen Geometern fortwährend eine Analogie zwischen algebraischen Zahlkörpern und ,Funktionenkörpern' ausgebeutet worden, 50
deren Elemente einer Gleichung genügen, deren Koeffizienten nicht rationale Zahlen, sondern rationale Funktionen p{x)/q(x) mit Polynomen p und q sind. Der erste Hinweis darauf, daß Mordell recht haben könnte, kam 1963, als Juri Manin das analoge Resultat für Funktionenkörper bewiesen hat. H. Grauert hat 1965 unabhängig davon dasselbe Ergebnis erhalten. Inzwischen hatte 1962 Igor Safarevic eine Vermutung über ,gute Reduktion' für Kurven aufgestellt — den Prozeß, durch den eine Gleichung über den ganzen Zahlen modulo einer Primzahl reduziert wird. (Statt etwa x3 = 22 zu lösen, betrachtet man Gleichungen wie etwa xz = 22 (mod 7). Diese hat die Lösung x s= 2 (mod 7) und sagt uns etwas über das Original x aus. Unter Benutzung vieler Primzahlen an Stelle von 7 kann man weitere Informationen gewinnen.) Seine Idee bestand darin, daß es nur endlich viele Kurventypen gegebenen Geschlechts geben sollte, die für alle außer einer festen endlichen Menge von Primzahlen gute Reduktion aufweisen. Die wichtige Eigenschaft ist die Endlichkeit der Kurvenmenge. Und der Gang der Dinge beschleunigte sich 1968, als A. N . Parsin bewies, daß die Vermutung von Safarevic die Mordelische Vermutung nach sich zieht. Wie Sie mittlerweile haben bemerken können, ist die algebraische Geometrie reich mit Vermutungen gesegnet. 1966 hat John Täte noch eine weitere aufgestellt, über ,abelsche Mannigfaltigkeiten', eine Verallgemeinerung elliptischer Kurven auf beliebige Dimensionen. Seit Anfang der 80er Jahre hegen Experten in diophantischen Gleichungen den Verdacht, daß Mordell recht hatte, daß ein Beweis nicht mehr fern lauert und daß die Tatesche Vermutung auch inbegriffen sein wird. Und 1983 hat Gerd Faltings einen Weg gefunden, um nicht nur die Mordellsche Vermutung, sondern auch jene von Safarevic und Täte zu beweisen. Seine Methode kann als eine sehr kunstvolle Variation über Fermats ,Descente infinie' betrachtet werden. Faltings beweist zunächst die Tatesche Vermutung. Kombiniert mit den Resultaten von Deligne über die Weilschen Vermutungen, begründet er die Vermutung von Safarevic. Und nun wird der Beweis durch Parsins Werk über die Mordellsche Vermutung vervollständigt. Hinsichtlich des großen Fermatschen Satzes verbleibt noch eine Lücke. Endlich viele Lösungen sind nicht dasselbe wie gar keine. Soviel wir auf Grund des Satzes von Faltings sagen können, könnte die Fermatsche Gleichung für jedes n Millionen von
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Lösungen besitzen! Jedoch hat D. R. Heath-Brown kürzlich bewiesen, daß der Bruchteil der ganzen Zahlen n, für die sie keine Lösung besitzt, mit großem n gegen 100 Prozent geht, der große Fermatsche Satz ist also ,fast immer' richtig. Können wir das ,fast' fallenlassen? Das ist für die nächste Generation von Mathematikern zu entscheiden.
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4. Das vernachlässigte Buch von Euklid Die Entdeckung inkommensurabler Verhältnisse wird Hippasus von Metapontum zugeschrieben. Den Pythagoreern wird nachgesagt, zu der Zeit auf See gewesen zu sein und Hippasus dafür über Bord geworfen zu haben, daß er ein Element im Universum hervorgebracht hat, das die Pythagoreische Doktrin verleugnet, daß sich alle Phänomene im Universum auf ganze Zahlen oder ihre Verhältnisse reduzieren lassen. Morris Kline
Zu den berühmtesten Büchern in der ganzen wechselvollen Geschichte der Mathematik gehören Euklids Elemente, eine Reihe von Texten über Geometrie, die von etwa 300 v. Chr. datieren. Euklid hat in der logischen Argumentation einen Standard gesetzt, der 2000 Jahre lang nicht überschritten worden ist. Obgleich seine Logik für modernes Denken Lücken aufweist, liefert doch sein axiomatischer Zugang ein Modell für vieles in der heutigen Mathematik. Große Teile der Elemente sind seit dem Mittelalter bis zum Ende des neunzehnten Jahrhunderts faktisch unverändert im Schulunterricht benutzt worden. Gelehrt wurden unter anderem kongruente Dreiecke, Satz des Pythagoras, die Konstruktion von Polygonen und die Klassifikation der fünf regulären Körper. Eines der Bücher Euklids ist jedoch kaum jemals gelehrt worden: das zehnte. Es ist viel obskurer als die anderen Bücher, auf den ersten Blick eine vermischte Kompilation technischer Resultate mit keinem einheitlichen Thema. Es hat wahrscheinlich nur wenige Lehrer gegeben, die in Buch Zehn etwas Bedeutungsvolles sehen und allein seine Rolle im Schema der Mathematik richtig einschätzen konnten. Seine ,Atmosphäre' ist von der der übrigen zwölf Bücher gänzlich verschieden. Und der Grund dafür ist, daß es in Wirklichkeit überhaupt nicht um Geometrie geht, sondern um Arithmetik. Es ist ein Beleg für eine lange Auseinandersetzung mit einigen der tieferliegenden Eigenschaften des reellen Zahlensystems. Die Geschichte ist verwirrend, weil sie verschiedene Gedanken zusammenbringt, die in verschiedenen Verkleidungen die Entwicklung der Mathematik geformt haben. Insbesondere zeigt sie, wie der Besitz einer wohlentwickelten Technik die nachfolgende Forschung auf ein Nebengleis schieben kann und dabei 53
die Existenz eines einfacheren und klareren Gesichtspunktes verdunkelt. Mit anderen Worten: Wenn man etwas mit Erfolg tut, ungeachtet dessen, wie unbeholfen die Art und Weise drumherum ist, so ist es doch viel leichter, in dieser Weise fortzufahren, als ein besseres Verständnis für das herauszubilden, was in Wahrheit geschieht. In der Tat lieben es die Praktiker einer komplizierten Technik, in ihren Komplikationen zu schwelgen, wenn sie sie erst einmal gemeistert haben. Dasselbe ereignet sich in der modernen Forschung ziemlich oft. Es ist bedauerlich, weil das Wesen guter Mathematik gerade darin besteht, zum Kern eines Problems vorzudringen: Eine Lösung allein ist nicht das endgültige Ziel.
Opferung dem Irrationalen Obgleich es die Mathematik nicht nur, nicht einmal in erster Linie, mit Zahlen zu tun hat, spielen diese doch eine grundlegende Rolle. Die Mathematiker unterscheiden viele Typen von Zahlen. Die natürlichen Zahlen sind die traditionellen positiven ganzen Zahlen 0,1, 2, 3 , . . . und so weiter. Die ganzen Zahlen sind positive und negative ganze Zahlen. Die rationalen Zahlen sind Verhältnisse ganzer Zahlen — d. h. Brüche. Die reellen Zahlen sind alle Zahlen, die durch eine abbrechende oder nichtabbrechende Dezimalentwicklung darstellbar sind. Die komplexen Zahlen entstehen aus den reellen Zahlen, wenn man zuläßt, daß — 1 eine Quadratwurzel besitzt. Historisch ist jede neue Erweiterung des Zahlensystems erst nach langdauernden philosophischen Gefechten durchgesetzt worden. Dabei sind die Kämpfe stets nicht dadurch zugunsten der Erweiterung des Systems gewonnen worden, daß die intellektuellen Argumente so gut waren, sondern auf Grund der überwältigenden Nützlichkeit der Ergebnisse, die auf diese Weise erhalten wurden. Zahlen sind so eng mit gewissen Aspekten der natürlichen Welt verbunden, daß wir dazu neigen, sie uns als etwas Einmaliges und fast Physikalisches vorzustellen. Erst bei tiefergehender Analyse wird klar, daß sie eine Erfindung des menschlichen Geistes sind — eine Methode,, durch die unsere Hirne Aspekte der Natur modellieren können. Sie sind nicht die Natur selbst. 54
Zur Zeit der Pythagoreer hatte sich das Zahlensystem zu dem entwickelt, was wir jetzt als die Stufe der rationalen Zahlen beschreiben würden: ganze Zahlen und ihre Verhältnisse. Ganze Zahlen sind leicht zu veranschaulichen und zu handhaben: alles, was man braucht, ist ein großer Vorrat an Kieselsteinen, um sie als Zählmarken zu verwenden. Brüche sind auch ganz gut zu2 gänglich: um die Zahl — zu erhalten, nimmt man einen Gegen3 stand, wie etwa einen Sack voll Sand, teilt ihn in drei gleiche Haufen und wählt zwei von ihnen aus. Es gibt unendlich viele Brüche, und sie lassen eine unendlich feine Teilung der Zahlenreihe zu. Für solche Zwecke wie Handel, Landvermessung und Astronomie sind die rationalen Zahlen mehr als ausreichend. Selbst heute lassen sich die genauesten wissenschaftlichen Messungen in nicht mehr als etwa zehn Dezimalstellen ausdrücken; es reichen also rationale Zahlen mit Nennern bis zu 10 Milliarden oder so aus, um die Versuchsergebnisse zu beschreiben. Sie genügen jedoch nicht den Erfordernissen der Theorie. Bei der Untersuchung der logischen Grundlage der bekannten Geometrie haben die Pythagoreer eine erstaunliche Entdeckung gemacht. In der Geometrie treten Zahlen natürlicherweise als Längen von Strecken auf. Außerdem wußten die Griechen, daß sich die arithmetischen Operationen mittels geometrischer Konstruktionen durchführen lassen. Beispielsweise kann man zwei Zahlen addieren, indem man Strecken entsprechender Länge aneinander legt. Es schien evident, daß jeder Strecke als Länge eine Zahl (das heißt eine rationale Zahl) und jeder (rationalen) Zahl eine Länge entspricht. Mit den so fein verteilten rationalen Zahlen kann es sicherlich keine Lücken geben — keine Strecken, die etwa keine rationale Länge besitzen. Die Pythagoreer haben jedoch herausgefunden, daß gewisse leicht konstruierbare Strekken Längen haben, die keiner rationalen Zahl entsprechen. Sie nannten sie irrational. Beispielsweise ist die Diagonale eines Einheitsquadrats (deren Länge, wie wir jetzt sagen würden, ]/2 beträgt) eine solche Strecke. Die goldene Zahl r = (l +1/5)/2, die zum Beispiel in der Geometrie von Fünfecken auftritt, ist eine weitere. Es stehen offenbar drei Möglichkeiten offen: zu leugnen, daß diese Diagonale existiert (was die Geometrie ruiniert); zu akzeptieren, daß Strecken nicht notwendig Längen 55
besitzen (dito); oder zu akzeptieren, daß Längen nicht Zahlen zu entsprechen brauchen (was die Arithmetik ruiniert). Schlimmer noch, alle Sätze, bei deren Beweis stillschweigend angenommen wurde, daß Längen rationale Zahlen sind, sind fehlerhaft. Beispielsweise der Satz, daß das Verhältnis der Flächeninhalte von zwei Quadraten dasselbe ist wie das Quadrat des Verhältnisses ihrer Seiten.
Ratio vincit omnia Die griechische Lösung bestand darin, die Arithmetik herauszuwerfen und die Strecken selbst als synonym mit ihren Längen zu nehmen. Dann sind Flächeninhalte mit den entsprechenden Quadraten synonym, und so weiter. Ein Verhältnis wird dann eine gewisse Art von Relation zwischen Paaren von Strecken. Der Hauptgrund dafür, daß dieser Trick funktioniert, besteht darin, daß alle wirklich grundlegenden Sätze von rationalen Zahlen handeln. Man braucht nicht zu wissen, was ein Verhältnis ist, man braucht nur zu wissen, wann zwei Verhältnisse gleich sind, und anderenfalls, welches größer ist. Die griechische Antwort darauf, die von Eudoxus gegeben worden ist, steht am Anfang von Buch Fünf der Elemente. Eine moderne Version dieser Definition könnte folgendermaßen lauten: ,um zwei irrationale Zahlen zu unterscheiden, muß man zwischen ihnen eine rationale Zahl auffinden'. Das Original ist weit schwerfälliger und arbeitet nicht mit Zahlen, sondern mit Verhältnissen. Dem modernen Auge suggeriert es unmittelbar den Gedanken, irrationale Zahlen mittels approximierender rationaler Zahlen zu handhaben. In den Händen der Griechen hat es zu ungefähr demselben Gedanken geführt, nur in einer plumperen Form.
Exhaustion Angenommen, es liegen zwei Dreiecke von derselben Form vor, von denen aber eines doppelt so groß wie das andere ist (d. h., seine Seiten sind doppelt so lang). Dann wissen wir, daß sein Flächeninhalt viermal so groß ist. Flächeninhalte gehen mit dem Quadrat der Größe. Die Griechen konnten dies für Dreiecke be56
Abb. 2. Die alte griechische Exhaustionsmethode approximiert einen Kreis durch innere und äußere Polygone, deren Flächeninhalte um einen beliebig kleinen Betrag voneinander abweichen. Auf diese Weise kann der Flächeninhalt des Kreises ermittelt werden.
weisen, und indem sie eine Menge dreieckiger Stücke zusammenklebten, konnten sie es für Polygone beweisen. Aber selbst eine so einfache und grundlegende Figur wie ein Kreis läßt sich nicht aus Dreiecken zusammensetzen. Trotzdem haben sie es geschafft, den Beweis auf Kreise und andere Figuren auszudehnen, indem sie diese durch Polygone angenähert haben. Es gibt für den ersten Kreis ein einbeschriebenes Vieleck und ein umbeschriebenes Vieleck und für den zweiten Kreis ein ähnliches Paar. Die einbeschriebenen Vielecke haben Flächeninhalte, die zu den Quadraten ihrer Seiten proportional sind, und dasselbe gilt für die äußeren. Der Unterschied zwischen innerem und äußerem Polygon kann so klein gemacht werden, wie wir wollen, und der Kreis selbst ist dazwischen eingepfercht. In dieser Lage läßt sich die Methode von Eudoxus anwenden. Entweder ist das Verhältnis der Flächeninhalte der Kreise gleich dem Verhältnis der Quadrate ihrer Größen, oder es ist größer, oder es ist kleiner. Wenn es kleiner ist, so muß es um 57
einen bestimmten Betrag kleiner sein; das läßt Raum, um in die Lücke ein approximierendes Vieleck zu zwängen, wodurch sich zeigt, daß die Sache auch für das Vieleck schiefgeht. Das ist aber absurd, weil bekannt ist, daß das Resultat für Polygone richtig ist. Dasselbe Argument ist anwendbar, wenn es größer ist. Schlußfolgerung: Nur Gleichheit ist möglich! Die vollblütige griechische Version dieser Methode heißt Exhaustion, weil die approximierenden Vielecke den ganzen Flächeninhalt »ausschöpfen'. Auf den ersten Blick scheint die Methode sehr schwerfällig; trotz ihrer Schwerfälligkeit läßt sie sich jedoch nach einem bißchen Übung ganz leicht anwenden. Und das ist es, was die Griechen in einer starren Denkform gefangenhielt. Es hinderte sie daran, eine bescheidene Form von Arithmetik oder Algebra herauszubilden; es störte selbst den Bereich von Kurven und Flächen, die sie mit ihrer Geometrie zu behandeln suchten. Das Bemerkenswerte ist, wieviel gute Arbeit sie unter diesem selbstauferlegten Handikap tatsächlich geleistet haben. (Um den Griechen gegenüber fair zu sein: es wäre sehr schwer gewesen, ohne die geometrischen Einsichten, die ihr Werk geliefert hat, ein volles Verständnis für die Subtilitäten der reellen Zahlen zu entwickeln.)
Das Vermächtnis von Buch Zehn Womit das obskure Buch Zehn zu tun zu haben scheint, ist ein Versuch, verschiedene Arten irrationaler Zahlen zu klassifizieren. Grundsätzlich sind die einzigen irrationalen Zahlen, die geometrisch handhabbar sind, diejenigen, die Quadratwurzeln beinhalten. Dabei gibt es einfachere, wie ]/7, und kompliziertere, wie | / 3 j/7 ]/31 - 19 j/2 + 11 ]/V 1/3I + 19]/2 . Buch Zehn versucht, sich mit diesen Komplexitäten auseinanderzusetzen. Seine Resultate sind heutzutage nicht sehr bedeutend, aber das Studium verschiedener Arten von Irrationalitäten ist es sicherlich. Und ein wichtiges Werkzeug, Iiettenbruchentmcklung, läßt sich sehr wohl bis auf Buch Zehn zurückverfolgen. •58
Ein typischer Kettenbruch sieht folgendermaßen aus: 1
1+ 3 +
2 +
t
Er ist nicht so schrecklich, wie er aussieht, vorausgesetzt, man arbeitet ihn in der richtigen Reihenfolge ab. Beginnend mit dem 1 9 unteren Ende, haben wir 2 -{ = —. Das Reziproke davon ist 4 4 4/9, und durch Addition von 3 bekommen wir 31/9. Man nehme wiederum das Reziproke, wobei man 9/31 erhält, und addiere die anfängliche 1, um 40/31 zu erhalten. Das ist die Antwort. Der bequemeren Bezeichnung halber kann man die sperrige Formel mit [1; 3, 2, 4] abkürzen, und sowohl der Buchdrucker als auch mein Wortprozessor werden viel glücklicher sein, wenn wir überall entsprechend verfahren. Zu irgendeiner gegebenen Zahl kann man ihren Kettenbruch ermitteln. Für eine rationale Zahl, wie 40/31, bricht der Bruch schließlich ab. Für eine irrationale Zahl tut er es nicht, und dies liefert eine klare Unterscheidung zwischen den zwei Typen von Zahlen, wenn auch keine, mit der sich stets leicht umgehen läßt! Die Entwicklungen einiger wichtiger Irrationalzahlen lauten folgendermaßen: st — [3; 7 , 1 5 , 1 , 2 9 2 , 1 , 1 , 6 , 1 , 3 , . . . ] e = [ 2 ; l , 2,1,1,4,1,1,6,1, 1,8,...] 1/2 = [1; 2, 2, 2, 2, 2, 2, 2, 2, 2, 2,...] l/3 = [ l ; l , 2 , 1, 2, 1,2,1, 2 , 1 , 2 , 1 , . . . ] r = [1;1,1,1,1,1,1,1,1,1,1,1,1,...]. Hier ist e die Basis der natürlichen Logarithmen, und r ist die früher erwähnte goldene Zahl (l + ]/5)/2. Einige Muster Werfen wir einen genaueren Blick auf n. Bricht man die Kettenbruchentwicklung sehr frühzeitig ab, so bekommt man [3; 7], ausgerechnet 22/7, einen Bruch, den jedes Schulkind kennt. Bre59
chen wir ein paar Schritte später ab, so bekommen wir [3; 7 , 1 5 , 1 ] = 355/113, eine weitere berühmte Approximation von n. Numerisch gilt 22/7 = 3 , 1 4 2 8 5 7 1 . . . , 355/113 = 3 , 1 4 1 5 9 2 9 . . . , j r = 3,14159265..., und wir bemerken, daß man bessere Resultate erhält, wenn man mehr Glieder in der Kettenbruchentwicklung beibehält. Man kann beweisen, daß die Kettenbruchentwicklung die ftestaiöglichen rationalen Approximationen liefert. Es gibt in den aufgelisteten Resultaten einige faszinierende Muster — oder es ist kein Muster erkennbar. Der offensichtlichste Fall liegt bei t vor, wo alle Glieder 1 sind! Auch bei ]/2 und )/3~ treten periodische Folgen auf. Alle drei beinhalten nichts Schlimmeres als Quadratwurzeln aus rationalen Zahlen, und im achtzehnten Jahrhundert ist festgestellt worden, daß dies kein zufälliges Zusammentreffen darstellt. Periodische Kettenbruchentwicklungen entsprechen nämlich quadratischen Irrationalitäten' a - f rfb, wo a und b rational sind. Sie können auch bemerken, daß e ein Muster aufweist, aber kein periodisches. Das Muster verlangt, den Bruch ins Unendliche fortzusetzen; daraus folgt, daß e irrational sein muß. Da der Kettenbruch nicht periodisch ist, kann er auch keine quadratische Irrationalzahl sein. Euler hat dies 1737 als Teil einer allgemeinen Untersuchung von Kettenbrüchen festgestellt. Johann Lambert hat mit Hilfe von Kettenbrüchen bewiesen, daß aus der Rationalität von x folgt, daß e® und tana; nicht rational sind. Demnach ist n irrational. Die Mathematiker würden herzlich gern wissen, welche Muster in Kettenbruchentwicklungen welchen Zahlen entsprechen. Kann man beispielsweise irgendetwas über kubische Irrationalitäten (wie etwa }/2) aussagen? Für welche Zahlen gibt es eine obere Schranke für die Größe der Glieder in der Kettenbruchentwicklung? Diese Fragen sind an allen möglichen Stellen wichtig, namentlich in der Theorie dynamischer Systeme. Bekannt ist aber sehr wenig.
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Einige sind irrationaler als andere Der Zugang über die Kettenbruchentwicklung hat uns dazu geführt, die quadratischen Irrationalzahlen mit ihren periodischen Mustern auszuzeichnen; es gibt aber noch andere Wege, um Irrationalitäten zu klassifizieren. Wie in Kapitel 3 erwähnt, existiert eine ganz grundlegende Einteilung in algebraische Zahlen, die einer polynomialen Gleichung mit rationalen Koeffizienten genügen, und transzendente Zahlen, für die das nicht gilt. Die Zahlen j/2, x und ]/2 sind algebraisch. Eine polynomiale Gleichung, die von ~c oder e erfüllt wird, liegt nicht auf der Hand, so daß zu vermuten ist, daß sie transzendent sind. Andererseits gibt es in der Mathematik unerwartete Formeln, wie etwa die bemerkenswerte Eulersche 4- i
=
0,
es wäre also unklug, voreilige Schlüsse zu ziehen. Wie sich herausgestellt hat, sind e und n transzendent, die Beweise ließen jedoch eine Weile auf sich warten. In der Tat hat bis 1844 niemand gewußt, ob überhaupt eine transzendente Zahl existiert. In diesem Jahr hat Liouville einen Satz bewiesen, nach dem sich algebraische Irrationalzahlen durch rationale Zahlen nicht sehr gut approximieren lassen. Es ist dann ein leichtes, eine irrationale Zahl mit ungewöhnlich guten rationalen Approximationen zu finden, die notgedrungen transzendent sein muß. Ein Beispiel stellt 1,1010010000100000000100000000000000001... dar, wo sich die Anzahl Nullen zwischen aufeinanderfolgenden Einsen mit jedem Schritt verdoppelt. Doch ist man damit noch weit vom Transzendenzbeweis für irgendeine ,natürlich vorkommende' Zahl entfernt. Dieser Schritt ist 1873 von Charles Hermite getan worden, der bewiesen hat, daß e transzendent ist. Er schrieb 1 : „Ich werde keinen Versuch wagen, die Transzendenz der Zahl n nachzuweisen. Falls andere sich dranmachen wollen, wird niemand glücklicher über ihren Erfolg sein als ich; aber 1
in einem Brief an Borchardt. Zitiert nach E. T. Bell: Die großen Mathematiker. Econ-Verlag, Düsseldorf, Wien 1967, S. 442 (Anm. d. Hrsg.)
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glauben Sie mir, es ist eine harte Nuß." Ferdinand Lindemann war 1882 bei dieser Aufgabe Erfolg beschieden, und zwar durch eine Methode, die der von Hermite sehr ähnlich ist, und unter Heranziehung der oben erwähnten Eulerschen Formel.
Die Quadratur des Kreises
Warum war man so darauf erpicht, die Transzendenz von nt zu beweisen? Die Griechen haben ihren Nachfolgern drei berühmte Probleme überliefert: geometrische Konstruktionen unter alleiniger Benutzung von Zirkel und Lineal zu ersinnen, um (a) ein Quadrat zu finden, dessen Flächeninhalt gleich dem eines gegebenen Kreises ist; (b) einen gegebenen Winkel zu dreiteilen; (c) einen Würfel zu finden, dessen Volumen doppelt so groß wie das eines gegebenen Würfels ist. Das Ergebnis von Lindemann führt unmittelbar zu einem Beweis dafür, daß Problem (a), die Quadratur des Kreises, unlösbar ist. Der Grund dafür liegt darin, daß jede geometrische Konstruktion in elementare Schritte zerlegt werden und als eine Reihe von Lösungen linearer oder quadratischer Gleichungen gedeutet werden kann. Daher genügt jede Länge, die sich durch eine geometrische Konstruktion gewinnen läßt, einer polynomialen Gleichung. Die Quadratur des Kreises ist äquivalent zur Konstruktion einer Strecke der Länge n, die Transzendenz von n liefert also das entscheidende Argument. Hier sehen wir, wie die Mathematik einen ihrer typischen Tricks anwendet. Das ursprüngliche Problem — den Kreis zu quadrieren — ist offensichtlich eines aus der Geometrie. Man könnte erwarten, daß seine Lösung auch geometrisch ist. Seine Übersetzung mittels der Koordinatengeometrie in algebraische Ausdrücke führt zu einer Umformulierung, deren Lösung man algebraisch erwarten sollte. Der Lindemannsche Beweis ist jedoch analytisch; er verwendet Methoden der Differential- und Integralrechnung, insbesondere die Eulersche Formel, die e und 7t in Zusammenhang bringt (und deren Beweis unendliche Reihen erfordert). Die langgesuchte Lösung des Problems kommt nicht — und kann auch nicht kommen — aus einem direkten 62
geometrischen Angriff. Es ist ein nützlicher taxonomischer Kunstgriff, die Mathematik in einzelne Spezialgebiete einzuteilen, wer sich aber einbildet, daß ihr Gegenstand selbst diese Einteilungen respektiert, der ignoriert die Lehren aus der Geschichte.
Ein Beweis, den Euler verfehlte 1737 notierte Euler, er könne die Reihe
benutzen, um Resultate über Primzahlen zu beweisen — beispielsweise, daß die Summe ihrer Reziproken unendlich ist, nicht so sehr, um zu zeigen, daß es unendlich viele Primzahlen gibt, sondern daß sie nicht zu dünn gesät sind. (1859 hat sich Bernhard Riemann auf eine starke Erweiterung des Eulerschen Werks eingelassen, mit der er die analytische Theorie der Primzahlen begründet hat. Die Funktion Ç(x) ist jetzt als Riemannsche Zetafunktion bekannt.) Mit enormer Mühe schaffte es Euler, die Reihe für gewisse z-Werte zu summieren. 1734 fand er, daß 2) = JI2/6 ist. Später bewies er, daß £{n) für alle geraden n ein rationales Vielfaches von n n ist. Wir können hieraus herleiten, daß £(n) für alle geraden n irrational (in Wahrheit transzendent) ist. Bis vor kurzem konnte niemand etwas in dieser Hinsicht für ungerades n aussagen, und das ganze Problem sah ziemlich hoffnungslos aus. Sie können sich die Reaktionen vorstellen, als R. Apéry von der Universität von Caen im Juni 1978 auf den Journées Arithmétiques von Marseille-Luminy angekündigt war, um „Über die Irrationalität von £(3)" zu sprechen; Alf van der Poorten, der dort anwesend war, berichtete über den Vortrag wie folgt: „Es herrschte allgemeine Skepsis. Der Vortrag tendierte dazu, diese Ansicht zu regelrechtem Unglauben zu verstärken. Diejenigen, die zufällig zuhörten oder sich durchquälten, weil sie nicht französisch sprachen, schienen nur eine Folge von unwahrscheinlichen Aussagen zu vernehmen." Van der Poorten zählt dann einige bizarre Formeln auf, die in eine Folge rationaler Approximationen von £(3) münden, die so schnell dagegen konvergiert, daß dies (auf Grund von Liouvilles Resultat) nicht rational sein kann. Er fährt fort : „Ich hörte etwas unglaubwürdig, daß Henri Cohen zum Bei63
spiel glaubte, diese Behauptungen mögen sehr wohl richtig sein. Schon ungeheuer fasziniert, traf ich mich in einer Abenddiskussion mit Hendrik Lenstra und Cohen, in der Cohen die meisten Einzelheiten des Beweises erläuterte und demonstrierte. Wir sind weggegangen, überzeugt davon, daß Professor Apery in der Tat einen wunderbaren und großartigen Beweis für die Irrationalität von f (3) gefunden hat. Aber wir blieben unfähig, einen kritischen Schritt zu beweisen." Das Problem beinhaltete eine während seines Beweises von Apery konstruierte Folge, von der er behauptete, daß sie aus ganzen Zahlen besteht. Es schien kein Grund dafür vorzuliegen, daß das stimmt. In der Tat war es auf den ersten Blick offensichtlich falsch', weil die von Apery benutzte Formel so sonderbar war. Jedoch ... „In Marseille war unsere Überraschung total, als unsere Taschenrechner HP-67 fortgesetzt, ganzzahlige Werte, produzierten." Aber nur Apery, so schien es, wußte, warum; und er hat es nicht verraten. Dann bekannten zwei Monate später Cohen und van der Poorten auf dem Treffen von Helsinki des Internationalen Mathematikerkongresses Zagier gegenüber ihre Schwierigkeit. ,Mit irritierender Geschwindigkeit' füllte er die Lücke in ihrer Beweisführung. Damit stand fest, daß Apery recht hatte und somit auch seine bizarren Formeln stimmten. Van der Poorten faßt die Episode zusammen: „Was in aller Welt geht hier vor? Aperys unglaublicher Beweis scheint eine Mischung aus Wundern und Mysterien zu sein. Hier haben wir anscheinend die Spitze eines Eisbergs. Sieht der vollständige Berg ebenso aus? Ich für meinen Teil neige zu der Ansicht, daß vieles von dem, was dargelegt worden ist, mehr eine Mystifizierung als eine Erklärung darstellt. Am alleralarmierendsten sollte indessen die Tatsache sein, daß Aperys Beweis nichts enthält, das nicht bereits einem Mathematiker vor 200 Jahren zugänglich gewesen wäre." Apery ist, wie ich schließe, bei einigen Kreisen der mathematischen Gemeinde nicht sonderlich beliebt. Nach Cohens Bericht in Helsinki sprach ein Zuhörer etwa sauer über ,einen Sieg für den französischen Bauern'. Aber ein anderer erwiderte edelmütiger: „Nein! Nein! Das ist wunderbar. Es ist etwas, was Euler getan haben könnte!"
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Paralleldenken Das Studium der ,Nichteuklidiselien' Geometrie bringt den Studenten nichts als Ermüdung, Eitelkeit, Arroganz und Schwachsinn. Der ,Nichteuklidische' Raum ist die trügerische Erfindung von Dämonen, die freudig den dunklen Verstand der ,Nichteuklidischen' mit unechtem Wissen füttern. Die .Nichteuklidischen' scheinen sich, wie die alten Sophisten, nicht bewußt zu sein, daß ihr Verstand durch die Eingebungen der bösen Geister verdunkelt worden ist. Matthew Ryan
Sydney Smith erzählt von zwei streitsüchtigen Frauen diesseits und jenseits eines Gartenzaunes. ,Diese Frauen werden sich niemals einigen', sagte Smith, ,sie argumentieren von verschiedenen Voraussetzungen aus.' Dies spiegelt die von Philosophen und Logikern gleichermaßen schmerzhaft gelernte Lektion wider, daß man für nichts nichts bekommen kann. Jedwede Kette von logischen Schlüssen muß mit unbewiesenen Hypothesen beginnen. Wie Aristoteles gesagt hat: ,Nicht alles kann bewiesen werden, anderenfalls wäre die Beweiskette endlos. Man muß irgendwo beginnen und mit Dingen anfangen, die angenommen werden, aber unbeweisbar sind.' Euklid war sich dessen bewußt, und als er die Elemente schrieb, begann er damit, seine Annahmen aufzuzählen. Die meisten davon sind ziemlich unanfechtbar, z. B.: „Was demselben gleich ist, ist auch untereinander gleich." Unter diesen befindet sich aber eine, deren intuitive Anziehungskraft viel mehr umstritten ist 1 : „Und daß, wenn eine gerade Linie beim Schnitt mit zwei geraden Linien bewirkt, daß innen auf derselben Seite entstehende Winkel zusammen kleiner als zwei Rechte werden, dann die geraden Linien bei Verlängerung ins unendliche sich treffen auf der Seite, auf der die Winkel liegen, die zusammen kleiner als zwei Rechte sind." Mit ein wenig Mühe kann man sehen, daß diese Annahme zu einer schneller erfaßbaren äquivalent ist: Wenn eine Gerade und ein Punkt außerhalb von ihr gegeben sind, dann gibt es durch den gegebenen Punkt genau eine Parallele zu der Geraden. Eine 1
Die Elemente, herausgegeben von Cl. Thaer, I. Teil. Akademische Verlagsgesellschaft, Leipzig 1933, S. 3 (Anm. d. Hrsg.)
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Parallele ist natürlich eine Gerade, die die ursprüngliche Gerade nicht schneidet, wie weit sie auch erzeugt, d. h. verlängert wird. Die Kommentatoren zu Euklid haben allgemein die Notwendigkeit einer solchen Annahme als einen Makel angesehen. Jean Le Rond d'Alembert nannte sie einen Skandal. Proclus kritisierte sie um A. D. 450 rundweg: „Dies sollte gänzlich herausgestrichen werden; denn es ist ein Satz, der viele Schwierigkeiten beinhaltet, die Ptolemäus in einem gewissen Buch zu lösen sich vorgenommen hat. Die Feststellung, daß die beiden Geraden, da sie mehr und mehr konvergieren, je mehr sie erzeugt werden, sich irgendwann treffen werden, ist plausibel, aber nicht notwendig." Klar ist, daß die Griechen lange und angestrengt über die Natur der Annahme nachgedacht haben. Im nachhinein wurden unzählige Versuche unternommen, um zu beweisen, daß sie aus den übrigen Annahmen Euklids folgt, aber keiner war erfolgreich. Euklids Ansicht war gerechtfertigt, als es klar zu werden begann, daß es widerspruchsfreie Versionen der Geometrie gibt, in denen sein Parallelenaxiom nicht gilt. An Stelle einer einzelnen Geometrie gibt es eine Mannigfaltigkeit von Geometrien, in denen unterschiedliche Sätze wahr sind. Ihre Entdeckung nahm lange Zeit in Anspruch, da jedermann glaubte, daß Geometrie irgendwie als ein Objekt der Natur existiert, nicht nur als eine Konstruktion des menschlichen Geistes. Schließlich stellte man fest, daß es sich um keine Frage handelt, die allein durch mathematische Überlegung beantwortet werden kann, während die Frage nach der wahren Geometrie der Natur völlig legitim ist.
Euklid ohne Makel Die frühesten Arbeiten über das Problem hatten einen Beweis der von Euklid behaupteten Eigenschaft von Parallelen zum Ziel. Es gibt ein paar mathematische Probleme, die anscheinend auf Spinner anziehend wirken: die Quadratur des Kreises, Winkeldreiteilung, der große Fermatsche Satz und das Parailelenaxiom. Abgesehen von Übereifrigen gab es einige ausgezeichnete Arbeiten von Leuten, die dachten, einen Beweis gefunden zu haben, die aber in Wahrheit die Annahme Euklids durch eine logisch äquivalente unbewiesene ersetzt hatten. Zu solchen Annahmen gehören: 6ß
Drei Punkte liegen entweder auf einer Geraden oder auf einem Kreis. Der Flächeninhalt eines Dreiecks kann so groß sein, wie man will. Die Winkel eines Dreiecks haben 180° als Summe. Es existieren ähnliche Figuren. Andere erkannten, daß sie lediglich einen logischen Ersatz für Euklids Axiom gefunden hatten, empfanden ihre Version aber als mehr intuitiv. Der erste ernstzunehmende Angriff wurde von Girolamo Saccheri unternommen, der 173B ein zweibändiges Werk veröffentlicht hat, Euklid, befreit von jedem Makel1. Saccheri versuchte sich in einem Widerspruchsbeweis, der auf folgender Konstruktion beruhte. Man zeichne eine Gerade, errichte darauf zwei Senkrechte gleicher Länge und verbinde sie durch eine neue Gerade. Man betrachte die Winkel (sie sind gleich), die diese Gerade mit den Senkrechten einschließen. Dann sind drei Fälle möglich: (a) Sie sind rechte Winkel. (b) Sie sind stumpf (größer als ein rechter Winkel). (c) Sie sind spitz (kleiner als ein rechter Winkel). Wenn Sie so wollen, ist Saccheris Gedanke der, zu versuchen, ein Rechteck zu konstruieren und dann zu fragen, ob es gelungen ist. Er zeigte, daß (a) dasselbe wie das Parallelenaxiom besagt. Die Idee bestand darin, nachzuweisen, daß sowohl (b) als auch (c) zu einem Widerspruch führen, also falsch sind. Saccheri fuhr dann fort, eine Reihe von Deduktionen Vorzunehmen. Buch 1 widerlegt (zu seines Autors Befriedigung) den stumpfen Winkel und endet mit der herausfordernden Feststellung, daß ,die Hypothese des spitzen Winkels absolut falsch ist, weil sie der Natur der Geraden zuwiderläuft'. Saccheri pfiff im Dunklen, um sich Mut zu machen. Daß er selbst nicht überzeugt war, wird durch die Existenz von Buch 2 nahegelegt, das versucht, die Argumentation abzustützen. Für eine entscheidende Aussage, Nummer 37, 1
Der Originaltitel lautet: Euclides ab omni naevo vindicatus. Mailand 1733; deutsche Übersetzung in Engel, Fr., und P. Stäckel: Theorie der Parallellinien, Leipzig 1895 (Anm. d. Hrsg.) 67
werden drei Beweise gegeben: Alle sind fehlerhaft. Einer beinhaltet Infinitesimale; einer würde, wäre er korrekt, beweisen, daß alle Kreise denselben Umfang haben; und einer beschwört physikalische Gedanken von Zeit und Bewegung. Nachdem er am eigenen Haken zappelt, kommt Sacchari zu Aussage 38: ,Die Hypothese des spitzen Winkels ist absolut falsch, weil sie sich selbst zerstört.' Er faßt dann alles zusammen, indem er die Widerlegung der Hypothese des stumpfen Winkels als ,klar wie Mittagslicht' beschreibt, aber bemerkt, daß die Falschheit des spitzen Winkels von der störenden Aussage 37 abhängt. Fünfzig Jahre später versuchte Lambert einen zu dem von Sacchari sehr ähnlichen Zugang, indem er eine große Anzahl von Sätzen bewies, die, obgleich in der Sicht Euklids sehr seltsam, keine logischen Widersprüche ergeben. Unter seinen Resultaten über die Hypothese des spitzen Winkels gibt es eine Formel, die den Flächeninhalt eines Dreiecks mit der Summe seiner Winkel in Zusammenhang bringt: k*{n -(A-YB
+ C)),
worin k eine gewisse Konstante ist. Dies sieht ähnlich wie ein Satz in der sphärischen Geometrie aus, in der der Flächeninhalt eines Dreiecks auf einer Sphäre vom Radius r gleich r2((A + B+C)
- rt)
ist. Durch Ersetzung von r durch k ]/ — 1 wagte Lambert die Vermutung, daß die entsprechende Geometrie die einer Sphäre mit imaginärem Radius ist. Was er damit meinte — wenn überhaupt etwas —, ist unklar; wir können jedoch in seinem Werk den Keim der Idee entdecken, daß das Parallelenaxiom für die Geometrie auf einer Fläche versagen kann.
Parallclcntdecliungen Alle diese frühen Bemühungen waren durch den Wunsch motiviert, jedwede Alternativen zu Euklid auszumerzen. Mit dem neunzehnten Jahrhundert kam jedoch ein kühnerer Standpunkt auf: widerspruchsfreie Geometrien anzugeben, die von der Euklids abweichen, insbesondere hinsichtlich der Parallelen. Die 68
Grundgedanken dazu scheinen unabhängig voneinander drei Leuten gekommen zu sein: Janos Bolyai, Nikolaj Ivanovic Lobacevskij und Carl Friedrich Gauß. Bolyai war ein verwegener junger Artillerieoffizier, der dem Vernehmen nach an einem Tage nacheinander dreizehn Duelle focht und gewann. Lobacevskij war Dozent an der Universität von Kasan. Gauß war der führende Mathematiker seiner (vielleicht jeder) Epoche. Bolyais Vater Farkas [ = Wolfgang] war ein Freund von Gauß und hatte selbst über das Parallelenaxiom gearbeitet. Er riet seinem Sohn, seine Zeit nicht mit einem so undankbaren Problem zu verschwenden. 1823 schrieb jedoch der Sohn dem Vater von seinen ,wunderbaren Entdeckungen' und sagte: „Ich habe aus dem Nichts ein neues Universum geschaffen." Mittlerweile war Lobacevskij nicht untätig: Er trug 1826 über Parallelen vor und veröffentlichte 1829 eine langatmige Arbeit in Russisch, die, erstmalig gedruckt, eine Alternative zu Euklid begründete. Sie trug den unglücklichen Namen Imaginäre Geometrie. Bolyai veröffentlichte seine Arbeit 1832. Gauß schrieb dann in einem sehr merkwürdigen Brief an den älteren Bolyai, daß er unmöglich dessen Sohnes Werk loben könne, da er, Gauß, viel früher identische Resultate erhalten habe (aber sie nicht habe drucken lassen). Gauß' Zurückweisung verdammte Bolyai zu einem Leben in mathematischer Dunkelheit, und die Verdienste seines Werkes wurden erst nach seinem Tode anerkannt. Lobacevskij widerfuhr es wenig besser: er starb blind und in Armut. Es gibt ein Zeugnis, um auf Gauß' Anspruch zurückzukommen: 1824 schrieb er an Franz Taurinus1: „Die Annahme, dass die Summe der 3 Winkel kleiner sei als 180°, führt auf eine eigene, von der unsrigen (Euklidischen) ganz verschiedene Geometrie, die in sich selbst durchaus consequent ist, und die ich für mich selbst ganz befriedigend ausgebildet habe, so dass ich jede Aufgabe in derselben auflösen kann ... Vielleicht werde ich, wenn ich einmal mehr Müsse gewinne, als in meinen gegenwärtigen Verhältnissen, selbst in Zukunft meine Untersuchungen bekannt machen." In Wirklichkeit tat er es nie, anscheinend in Sorge darum, daß die Öffentlichkeit ihn nicht verstehen würde: „Ich fürchte das Geschrei der Böotier ..."
1
Brief von Gauß an Taurinus vom 8. 11. 1820 (Anm. d. Hrsg.)
Geometrien innerhalb von Geometrien Alle drei Forscher haben sich davon überzeugt, einen alternativen, widerspruchsfreien Geometrietyp gefunden zu haben. Sie empfanden in dieser Weise, weil alles vernünftig zusammenzupassen schien. Aber ein vollständiger Beweis dafür, daß das System niemals zu einem Widerspruch führen werde, stand noch aus. Es ist zweifelhaft, ob dieser Mangel wirklich bemerkt wurde; sicherlich hat sich darüber niemand zu große Sorgen gemacht. Den letzten Schritt ist 1868 Eugenio Beltrami gegangen. Er beschäftigte sich gerade mit der Geometrie der Flächen. Auf einer gekrümmten Fläche ist das Analogon einer Gerade eine Geodätische — die kürzeste Kurve zwischen zwei Punkten. Beltrami führte eine Pseudosphäre genannte Fläche ein und zeigte, daß die Geometrie ihrer Geodätischen Saccharis Hypothese des spitzen Winkels genügt. Sie gnügt auch den übrigen Axiomen Euklids. Es ist die Bolyai/Gauß/Lobacevskijsche Nichteuklidische Geometrie in Verkleidung. Daraus folgt, daß die Nichteuklidische Geometrie niemals zu einem Widerspruch führen kann — da anderenfalls die Pseudosphäre nicht existieren könnte. Und die Pseudosphäre ist eine Konstruktion in der Euklidischen Geometrie. Genauer : Was wir jetzt wissen, ist, daß die einzige Möglichkeit, in der sich die Nichteuklidische Geometrie widersprechen kann, darin besteht, daß sich die Euklidische Geometrie selbst widerspricht. Hätte Saccheris Programm Erfolg gehabt, so hätte er die Euklidische Geometrie nicht etwa vervollkommnet, sondern vernichtet! Beltrami hatte das gefunden, was wir heutzutage ein Modell für die Nichteuklidische Geometrie nennen: ein mathematisches System, dessen Objekte, geeignet interpretiert, allen Axiomen Euklids mit Ausnahme des Parallelenaxioms genügen. Die Existenz eines solchen Modells schließt jede Möglichkeit aus, das Parallelenaxiom aus den anderen Axiomen zu beweisen. Denn ein solcher Beweis würde, innerhalb des Modells gedeutet, das Modell zwingen, gleichfalls seiner Interpretation des Parallelenaxioms zu gehorchen. Wie David Hilbert eines Tages auf einem Berliner Bahnhof geäußert hat: „Man muß jederzeit an Stelle von Punkten, Geraden, Ebenen Tische, Stühle, Bierseidel sagen können." Der dahinter steckende Gedanke ist der, daß in einem Beweis nur diejenigen Eigenschaften geometrischer Objekte be70
nutzt werden dürfen, die durch die Axiome ausgedrückt werden, so daß es also auf jedwede spezielle Deutung in realen Begriffen im Prinzip nicht ankommt. In praxi hilft ein gutes Bild der Intuition, und man könnte wetten, daß Hilberts geometrisches Werk durch die übliche Vorstellung von Geraden auf einem Blatt Papier inspiriert worden war, nicht etwa durch Bierseidel auf einem Tisch. Er hat damit nicht gesagt, daß das traditionelle Bild nicht nützlich wäre, sondern nur, daß es nicht wesentlich ist. Beltramis Modell folgten bald weitere. Ein besonders schönes ist von Henri Poincaré entworfen worden, der eine dreidimensionale Version folgendermaßen beschrieben hat 1 : „Wir wollen uns z. B. eine in eine große Kugel eingeschlossene Welt denken, welche folgenden Gesetzen unterworfen ist: Die Temperatur ist darin nicht gleichmäßig; sie ist im Mittelpunkte am größten und vermindert sich in dem Maße, als man sich von ihm entfernt, um auf den absoluten Nullpunkt herabzusinken, wenn man die Kugel erreicht, in der diese Welt eingeschlossen ist. Ich bestimme das Gesetz, nach welchem diese Temperatur sich verändern soll, noch genauer. Sei R der Halbmesser der begrenzenden Kugel, sei r die Entfernung des betrachteten Punktes vom Mittelpunkte dieser Kugel, dann soll die absolute Temperatur proportional zu B? — r 2 sein. Ich setze weiter voraus, daß in dieser Welt alle Körper dènselben Ausdehnungskoeffizienten haben, so daß die Länge irgendeines Lineals seiner absoluten Temperatur proportional sei. Endlich setze ich voraus, daß ein Objekt, welches von einem Punkte nach einem anderen mit verschiedener Temperatur übertragen wird, sich sofort ins Wärme-Gleichgewicht mit seiner neuen Umgebung setzt. Nichts ist in dieser Hypothese widerspruchsvoll oder undenkbar. Ein bewegliches Objekt wird also immer kleiner in dem Maße, wie es sich der begrenzenden Kugel nähert. Betrachten wir vor allem, daß diese Welt ihren Einwohnern 1
Poincaré, H.: Wissenschaft und Hypothese. 2. Aufl., B. G. Teubner, Leipzig 1906, S. 66—68 (Anm. d. Hrsg.)
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unbegrenzt erscheinen wird, wenn sie auch vom Gesichtspunkte unserer gewöhnlichen Geometrie aus als begrenzt gilt. Wenn diese Einwohner sich in der Tat der begrenzenden Kugel nähern wollen, kühlen sie ab und werden immer kleiner. Die Schritte, welche sie machen, sind also auch immer kleiner, so daß sie niemals die begrenzende Kugel erreichen können. Wenn für uns die Geometrie nur das Studium der Gesetze ist, nach welchen die festen, unveränderlichen Körper sich bewegen, so wird sie für die hypothetischen Wesen das Studium der Gesetze sein, nach denen sich die (für jene Einwohner scheinbar festen) Körper bewegen, welche durch die soeben besprochenen Temperatur-Differenzen deformiert werden." Poincaré geht daran, dieses Modell auszuarbeiten, so daß die durch Lichtstrahlen durchlaufenen Wege gekrümmt werden — in Wirklichkeit Kreisbögen, die den Rand unter rechten Winkeln treffen — und der Nichteuklidischen Geometrie genügen. Es ist in Wahrheit ein dreidimensionales Modell; das analoge Modell, das an Stelle einer Kugel eine Kreisscheibe benutzt, erzeugt eine zweidimensionale Nichteuklidische Geometrie. Felix Klein, der gleichfalls Modelle der Nichteuklidischen Geometrie entworfen hat, prägte den Namen hyperbolische Geometrie für ein Modell, das der Saccherischen Hypothese des spitzen Winkels genügt, und elliptische Geometrie für den stumpfen Winkel. Ein Modell für die elliptische Geometrie ist sehr leicht zu finden. Man betrachte die Oberfläche einer Kugel; man interpretiere ,Gerade' als ,Großkreis' und ,Punkt' als ,Paar von Antipodenpunkten'. (Großkreise schneiden einander in zwei Antipodenpunkten; um dem Axiom Euklids zu genügen, daß sich zwei Geraden in höchstens einem Punkte schneiden, muß man Antipodenpunkte paarweise identifizieren. Das ist nach dem Hilbertschen Diktum über Tische, Stühle und Bierseidel zulässig.)
Eine Angelegenheit verspäteter Einsicht Für den modernen Geist ist es erstaunlich, wie lange man brauchte, um zu erkennen, daß neben der Euklidischen noch andere Geometrien möglich sind. Die Geometrie auf einer Sphäre war bereits wohlentwickelt und besaß wichtige Anwendungen in 72
der Astronomie und daher in der Navigation. Hatte niemand gemerkt, daß in der sphärischen Geometrie das Parallelenaxiom falsch ist? Die Antwort lautet, daß das sehr wohl der Fall war; aber man war dadurch nicht beeindruckt, da die Sphäre augenscheinlich nicht die Ebene ist. Außerdem schneiden sich auf einer Sphäre irgendzwei Geraden, d. h. Großkreise, in zwei Punkten. Das ist offensichtlich nicht das, was man von einer Geraden erwarten würde. Nur jemand mit einem abweichenden logischen Standpunkt kann dieses Problem meistern, indem er so tut, als ob Antipodenpunkte derselbe Punkt sind! Nichts davon wäre seinerzeit überzeugend gewesen, weil es offensichtlich war, daß Großkreise keine Geraden sind und daß zwei Punkte nicht derselbe Punkt sind. Um zu verstehen, warum es jetzt überzeugend ist, müssen wir eine Reise voraus in der Zeit machen und einen Blick auf die Logik axiomatischer Systeme werfen. Der Sinn eines Axiomensystems besteht darin, daß alle Annahmen zu Beginn klar ausgesprochen werden müssen. Mit anderen Worten, die Spielregeln sind präzise niederzulegen. Man fragt nicht danach, ob die Axiome ,wahr' sind, ebenso wie man nicht fragt, ob die Regeln des Schachspiels ,wahr' sind. Jedoch erwartet man, ein spielbares Spiel vor sich zu haben. Würden die Schachregeln einerseits darauf bestehen, daß Weiß den ersten Zug hat, und andererseits, daß Schwarz zuerst zieht, so würde es bereits unmöglich sein, das Spiel zu beginnen. Mit anderen Worten, wir verlangen, daß die Regeln widerspruchsfrei sind. Mit Axiomensystemen verhält es sich genauso: der entscheidende Test ist Widerspruchsfreiheit, nicht Wahrheit. Ein Weg, um zu beweisen, daß ein Axiomensystem widerspruchsfrei ist, besteht darin, etwas aufzuweisen, das ihm genügt. Schon das Beispiel eines einzigen legalen Schachspiels weist nach, daß die Regeln zu einem spielbaren Spiel führen; ein Modell für ein Axiomensystem garantiert, daß seine Annahmen nicht einander widersprechen. Man kann beispielsweise zeigen, daß die Euklidische Geometrie widerspruchsfrei ist, indem man das übliche Koordinatengeometriemodell der Ebene als Menge von Punkten (x, y) nimmt, wo x und y Zahlen sind, und nachprüft, daß alle Axiome gelten. Es gibt jedoch noch ein Haar in der Suppe: die Frage, welche Zutaten zulässig sind. Das Koordinatenmodell der Geometrie begründet nur dann die Widerspruchsfreiheit, wenn die Ausgangsmaterialien — hier die Arithmetik — bereits als wider73
spruchsfrei bekannt sind. Mit anderen Worten, alle Widerspruchsfreiheitsbeweise sind relativ. Anstatt zu behaupten, daß das System X widerspruchsfrei ist, können wir lediglich zeigen, daß X widerspruchsfrei ist, vorausgesetzt, ein gewisses anderes System 7 ist es. Dieser jetzt weithin angenommene Standpunkt geht das ganze Problem aus einer anderen Richtung an. Die ursprüngliche Frage lautete: Ist die Geometrie Euklids die einzig wahre? Aber jetzt muß sogar die Euklidische Geometrie einer genauen Prüfung unterzogen werden. Ist sie widerspruchsfrei? Und die Antwort lautet, daß wir keine Ahnung davon haben. Ist jedoch die Arithmetik widerspruchsfrei, so auch die Geometrie nach Euklid. Wir fragen jetzt: Ist die IVYcÄfeuklidische Geometrie widerspruchsfrei? Und die Antwort lautet wiederum, daß wir es nicht wissen, daß sie aber widerspruchsfrei ist, wenn nur entweder die Arithmetik oder die Euklidische Geometrie widerspruchsfrei ist. Vom mathematischen Standpunkt aus kann man sowohl von der Euklidischen als auch von der Nichteuklidischen Geometrie vernünftigen Gebrauch machen. Welche von ihnen (wenn überhaupt eine) die wahre Geometrie des physikalischen Raumes ist, erweist sich als eine Frage an das Experiment, nicht an die Mathematik. Das erscheint jetzt so vernünftig, so daß es kaum nachvollziehbar ist, wie trübe es damals damit bestellt war. Die Klarheit ist eine Sache verspäteter Einsicht: ohne die beispiellosen Gedanken der Pioniere des neunzehnten Jahrhunderts würde alles noch immer im Dunkeln liegen.
Gekrümmter Baum Die Entdeckung nichteuklidischer Geometrien befreite die Mathematik von ihrer früheren starren Haltung, und eine Unmenge fremdartiger Geometrien wucherte empor. Man könnte denken, daß diese Merkwürdigkeiten, wenn auch von theoretischem Interesse, so doch von keiner Bedeutung für das Verhalten des realen JRaumes sind. Aber auch das stellte sich als unrichtig heraus. 1854 war ein junger Deutscher, Georg Bernhard Riemann, verpflichtet, für den Titel Privatdozent seine Probevorlesung abzuhalten. Prüfer war der große Gauß höchst selbst. Riemann bot mehrere Alternativen an, die eine mit mehr, die andere mit 74
weniger Risiko, und Gauß wählte die provokatorischste mit dem Titel „Über die Hypothesen, die der Geometrie zugrunde liegen". Gauß sagte später, er habe dieses Thema gewählt, weil er sich selber darüber schon Gedanken gemacht hätte und nun darauf gespannt wäre, was der junge Mann darüber zu sagen haben würde. Riemann hielt, sich bei dieser Gelegenheit steigernd, einen brillanten Vortrag, in dem er sich vorstellte, daß die Raumgeometrie von Punkt zu Punkt variieren könne: hyperbolisch hier, euklidisch da, elliptisch dort. In zwei Dimensionen können wir uns dies als die Geometrie von Geodätischen auf einer gewissen gekrümmten Fläche vorstellen: die Natur der Krümmung bestimmt die lokale Geometrie. Riemann erweiterte dies auf mehrdimensionale Räume oder Mannigfaltigkeiten. Er endete prophetisch mit der Bemerkung:1 „ . . . es bleibt nun die Frage zu erörtern, wie, in welchem Grade und in welchem Umfange diese Voraussetzungen durch die Erfahrung verbürgt werden ... Es muß also entweder das dem Räume zu Grunde liegende Wirkliche eine discrete Mannigfaltigkeit bilden, oder der Grund der Mass Verhältnisse ausserhalb, in darauf wirkenden bindenden Kräften, gesucht werden... Es führt dies hinüber in das Gebiet einer anderen Wissenschaft, in das Gebiet der Physik, welche wohl die Natur der heutigen Veranlassung nicht zu betreten erlaubt." 1870 hat William Kingdon Clifford die Prophezeihung aufgenommen. „Ich behaupte ..., daß kleine Raumteile ähnlich zu kleinen Hügeln auf einer Fläche sind, die im Durchschnitt flach ist ... Daß diese Eigenschaft, gekrümmt oder verzerrt zu sein, nach der Art einer Welle kontinuierlich von einem Raumteil zu einem anderen übergeht." Und er regte an, daß jede physikalische Bewegung gerade die Kräuselung dieser Wellen ist. In Albert Einsteins etwa sechzig Jahre nach Riemann veröffentlichten Allgemeinen Relativitätstheorie2 wird die Gravitationskraft als eine Krümmung der Raum-Zeit angesehen. In der Nähe einer großen Masse ist der Raum mehr gekrümmt als weitab davon.
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Bernhard Riemann's Gesammelte Mathematische Werke. 2. Aufl., B. G. Teubner, Leipzig 1892, S. 284, 286 (Anm. d. Hrsg.) Einstein, A . : Die Grundlagen der Allgemeinen Relativitätstheorie. Johann Ambrosius Barth, Leipzig 1916 (Anm. d. Hrsg.)
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Teilchen, die sich durch den Raum bewegen, folgen wegen dieser geometrischen Verzerrung gekrümmten Bahnen. Die besten je ausgedachten Experimente bestätigen alle Einsteins Bild, das eine Anzahl von Beobachtungen erklärt, die mit einer Euklidischen Geometrie für die Raum-Zeit nicht in Einklang stehen würden, zum Beispiel Unregelmäßigkeiten in der Bewegung des Planeten Merkur und die Lichtablenkung durch einen Stern. Erst kürzlich haben Astronomen entdeckt, daß ganze Galaxien als .Gravitationslinsen' wirken können, die das Licht von verschiedenen Quellen fokussieren und verbiegen können. In einem Falle fand man sogar, daß das, was zwei identische Quasare dicht nebeneinander am Himmel zu sein schienen, ein Doppelbild eines einzelnen Quasars auf der abgewandten Seite einer massiven Galaxis in einer verzerrten Gravitationslinse darstellte. Die Galaxis wurde entdeckt, indem man ein Bild von dem anderen ,subtrahierte'. In noch jüngerer Zeit hat die Untersuchung von solitären Wellen oder Solitonen einige Theoretiker auf die Idee gebracht, daß das Verhalten subatomarer Teilchen den sich bewegenden Bergen, die Clifford sich vorstellte, ähneln könne. Jedenfalls sind wir ziemlich sicher, daß die Geometrie von Raum oder Raum-Zeit in astronomischen Maßstäben nicht Euklidisch ist!
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6. Der Wunderkrug To see a world in a gram of sand, And a Heaven in a wild flower, Hold Infinity in the palm of your hand, And Eternity in an hour. William Blake Um die Welt in einem Sandkorn zu sehen Und einen Himmel in einer wilden Blume, Halte das Unendliche in deiner Handfläche Und die Ewigkeit in einer Stunde. William Blake
Greift man irgendein Mathematikbuch oder eine mathematische Zeitschrift heraus, so wird man wahrscheinlich bereits nach einer oder zwei Seiten auf das Unendliche stoßen. Ziehe ich beispielsweise aufs Geratewohl ein paar Bücher aus meinem Regal heraus, so bezieht sich die zweite Zeile der Einführung in Harold Davenports The Higher Arithmelic auf ,die natürlichen Zahlen 1, 2. 3 , . . u n d die Folge von Punkten soll ausdrücken, daß die natürlichen Zahlen in ihrer Gesamtheit unendlich sind. Seite 2 der Numerical Analysis von Lee Johnson und Dean Riess führt die unendlichen Reihen für die Exponentialfunktion an. B. A. F. Wehrfritz' Infinite Linear Groups — muß ich noch mehr sagen? Seite 1 von Nonlinear Dynamics and Turbulence, herausgegeben von G. I. Barenblatt, G. Iooss und D. D. Joseph, bezieht sich auf ,die Navier-Stokesschen Gleichungen oder eine endlichdimensionale Galerkinsche Approximation', die uns korrekt zu dem Schluß führt, daß die vollständigen Navier-Stokesschen Gleichungen von den Mathematikern als ein unendlichdimensionaler Gegenstand behandelt werden. Seite 434 der Winning Ways1 von Elwyn Berlekamp, John Conway und Richard Guy spricht von einem Spiel, dessen Position ,co, 0, ¿ 1 , ± 4 ' ist, wo oo das Standardsymbol für ,Unendlich' ist. Sie denken vielleicht, daß ein 1
In deutscher Übersetzung unter dem Titel „Gewinnen. Strategien für mathematische Spiele" 1985 bei Yieweg, Braunschweig, erschienen (Anm. d. Hrsg.) 77
Hinweis auf Seite 434 etwas übertrieben wäre, aber es ist die sechste Seite in Band 2, und Band 1 habe ich nicht überprüft. Das Unendliche ist nach Philip Davis und Reuben Hersh der ,Wunderkrug der Mathematik'. Er ist wunderbar, weil seine Inhalte unerschöpflich sind. Man entnehme einem unendlichen Gefäß einen Gegenstand, und es bleibt nicht etwa einer weniger, sondern genau dieselbe Anzahl zurück. Paradoxa wie diese sind es, die unsere Vorfahren gezwungen haben, mit Schlüssen, die Bezugnahmen auf das Unendliche beinhalten, äußerst vorsichtig zu sein. Aber die Verlockung des Unendlichen ist zu groß. Es ist eine wunderbare Sache, um überflüssige Dinge darin zu verlieren. Die Anzahl mathematischer Beweise, die dadurch gelangen, daß jedwede Schwierigkeit erst nach Unendlich geschoben und dann beobachtet wird, daß sie gänzlich verschwinden, ist selbst fast unendlich groß. Was meinen wir aber wirklich mit Unendlich? Ist es wilder Unsinn, oder kann es gezähmt werden? Sind die Unendlichkeiten der Mathematik real, oder sind sie geschickte Fälschungen, der Wolf des Unendlichen in einem endlichen Schafspelz?
Hilberts Hotel Wenn Sie einen Tisch decken und an jedem Platz ein Messer und eine Gabel liegt, dann wissen Sie, daß es ebenso viele Messer wie Gabeln gibt. Das ist der Fall, ob Sie nun ein intimes Essen für Zwei bei Kerzenlicht oder ein Chinesisches Bankett für 2000 ausrichten, und Sie brauchen nicht zu wissen, wie viele Plätze belegt sind, um sicher zu sein, daß die Anzahlen übereinstimmen. Diese Bemerkung ist der Eckstein des Anzahlbegriffs. Von zwei Mengen von Dingen sagt man, daß sie sich eineindeutig entsprechen, wenn jedem Ding in der einen ein einziges Ding in der anderen entspricht und umgekehrt. Mengen, die einander eineindeutig zugeordnet werden können, enthalten dieselbe Anzahl von Objekten. Wenn die Mengen unendlich sind, treten jedoch Paradoxa auf. Beispielsweise hat Hilbert ein imaginäres Hotel mit unendlich vielen Räumen beschrieben, mit 1 , 2 , 3 , . . . numeriert. Eines Abends, als das Hotel voll besetzt ist, trifft ein einzelner Gast ein und sucht nach Logis. Der findige Hotelmanager schiebt 78
jeden Gast ein Zimmer weiter, so daß der Bewohner von Zimmer 1 nach Zimmer 2 verlegt wird, der von Zimmer 2 in Zimmer 3 und so weiter. Nachdem alle Gäste umverlegt sind, wird Zimmer 1 für den Neuankömmling frei! Am nächsten Tag trifft eine unendliche Reisekutsche ein, die unendlich viele neue Gäste enthält. Diesmal verlegt der Manager den Bewohner von Zimmer 1 nach Zimmer 2, den von Zimmer 2 nach 4, den von Zimmer 3 nach 6 , . . . , den von Zimmer n nach 2n. Damit werden alle Zimmer mit ungerader Nummer frei, der Kutschenreisende Nummer 1 kann also in das Zimmer 1 gehen, Nummer 2 in Zimmer 3, Nummer 3 in Zimmer 5 and allgemein Nummer n in Zimmer 2n — 1. Selbst wenn unendlich oft Kutschen voller Reisender eintreffen, kann jeder untergebracht werden. Ähnliche Paradoxa sind durch die Geschichte hindurch bemerkt worden. Proclus, der etwa um A. D. 450 Kommentare zu Euklid geschrieben hat, hat festgestellt, daß ein Kreis durch einen seiner Durchmesser in zwei Hälften geteilt wird, es muß also doppelt so viele Hälften wie Durchmesser geben. Die Philosophen im Mittelalter haben erkannt, daß sich zwei konzentrische Kreise miteinander eineindeutig paaren lassen, indem man die Punkte auf demselben Radius einander entsprechen läßt; ein kleiner Kreis besitzt also ebenso viele Punkte wie ein großer. In Galileis Discorsi e dimostrazioni matematiche intorno ä due nueve scienze stellt der weise Salviati dasselbe Problem 1 : „Frage ich nun, wieviel Quadratzahlen es gibt, so kann man in Wahrheit antworten, ebensoviel als es Wurzeln gibt, denn jedes Quadrat hat eine Wurzel, jede Wurzel hat ihr Quadrat, kein Quadrat hat mehr als eine Wurzel, keine Wurzel mehr als ein Quadrat." Hierauf erwidert der selten zufriedenzustellende Sagredo2: „Was ist denn zu thun, um einen Abschluss zu gewinnen?" Und Salviati entwischt mit: „Ich sehe keinen anderen Ausweg als zu sagen, unendlich ist die Anzahl aller Zahlen, unendlich die der Quadrate, unendlich die der Wurzeln; weder ist die Menge der Quadrate kleiner als die der Zahlen, noch ist die Menge der
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Galilei, G.: Unterredungen und mathematische Demonstrationen, Erster und zweiter Tag. Ostwald's Klassiker der exakten Wissenschaften Nr. 11. W. Engelmann, Leipzig 1890, S. 31 (Anm. d. Hrsg.) Bei Stewart steht fälschlich Simplieius statt Sagredo. Außerdem ist dort eine weitere Passage von Salviati ausgelassen (Anm. d. Hrsg.)
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letzteren größer; und schliesslich haben die Attribute des Gleichen, des Grösseren und des Kleineren nicht statt bei Unendlichem, sondern sie gelten nur bei endlichen Grössen." Unendlichkeit in Verkleidung Galileis Antwort auf die Paradoxa lautet, daß sich das Unendliche ganz anders als sonst etwas verhält und am besten vermieden wird. Manchmal ist es jedoch sehr schwer, es zu vermeiden. Das Problem des Unendlichen ist am eindringlichsten in den Anfangsstadien der Differential- und Integralrechnung mit dem Aufkommen unendlicher Reihen aufgetreten. Was ist beispielsweise 1 + 1/2 +
1/4+1/8+1/16+...?
Es ist leicht zu sehen, daß die Summe mit zunehmender Gliederzahl immer näher bei 2 liegt. Es ist also angebracht zu sagen, daß die ganze unendliche Summe exakt 2 ist. Newton hat unendliche Reihen zur Grundlage seiner Methoden zur Differentiation und Integration von Funktionen gemacht. Man muß sich also dem Problem stellen, ihnen einen Sinn zu geben. Und unendliche Reihen sind selbst sonderbar. Wozu summiert sich beispielsweise die Reihe 1 - 1 + 1 - 1 + 1 - 1 + ...? Folgendermaßen geschrieben ( 1 - 1 ) + ( 1 - 1 ) + ( 1 - 1 ) + ..., ist die Summe offensichtlich 0. Andererseits ist 1 _ ( 1 _ 1) _ (1 _ 1) _ . . . offensichtlich 1. Es ist also 0 = 1 , und die ganze Mathematik fällt in einen Widerspruch zusammen. Die Differential- und Integralrechnung war für ihre Praktiker viel zu wichtig, als daß sie sich durch kleinere Haken und philosophische Probleme wie dieses abhalten ließen. Schließlich wurde die Sache dadurch gelöst, daß man Aussagen über unendliche Summen auf gewundenere über endliche Summen zurückführte. Statt von einer unendlichen Summe a a + Oj + a 2 + . . . zu sagen, sie habe den Wert a, sagen wir, man kann erreichen, daß die 80
endliche Summe a0 + «1 + • • • + ß» von a um weniger als irgendeinen vorgegebenen Fehler s abweicht, wenn nur n größer als ein gewisses N (das von e abhängt) gemacht wird. Nur wenn ein solches a existiert, konvergiert die Reihe, das heißt, ist die Summe als sinnvoll anzusehen. Auf dieselbe Weise läßt sich die Feststellung ,es gibt unendlich viele ganze Zahlen' durch die endliche Version ersetzen: ,zu jeder vorgegebenen ganzen Zahl gibt es eine größere'. Wie es Gauß 1831 formuliert hat: 1 „Ich protestiere gegen den Gebrauch einer unendlichen Größe als einer vollendeten, welches in der Mathematik niemals erlaubt ist. Das Unendliche ist nur eine façon de parier, in dem man eigentlich von Grenzen spricht, denen gewisse Verhältnisse so nahe kommen als man will, während anderen ohne Einschränkung zu wachsen verstattet ist." Heute lernen die Studenten in jedem Universitätskurs über Analysis, in dieser Weise das Unendliche zu handhaben. Ein typisches troblem könnte lauten: ,Man beweise, daß (n2 + n)/7i2 gegen 1 strebt, wenn n gegen Unendlich geht'. Wehe dem Studenten, der antwortet ,(co2 + oo)/oo2 = oo/oo = 1'. Wehe aber auch dem, der schreibt ,(n2 + n)/n2 = 1 + 1 ¡n, nun n = oo sein läßt und 1 -f- l/oo = 1 + 0 = 1 bekommt', obgleich sich hier über die Korrektheit diskutieren läßt. (Bevor Ihnen gestattet ist, derlei Dinge salopp zu schreiben, müssen Sie ihre mathematische Volljährigkeit beweisen, indem Sie durch die umständlichen Umschreibungen gehen, die notwendig sind, um die Sache unangreifbar zu machen. Wenn Sie ihn einmal gelernt haben, nicht zu salopp, diesen harten Weg, hat niemand etwas dagegen, wenn Sie salopp sind !) Die,, jr Gesichtspunkt geht auf Aristoteles zurück und wird als 'potentielles Unendlich beschrieben. Wir behaupten nicht, daß ein aktuales Unendlich existiert, sondern wir formulieren unsere Aussage in eine Form um, die von den Größen zuläßt, so groß zu sein, wie es gerade notwendig ist. Wir sind nicht länger der Meinung, der Wunderkrug enthalte wahrhaft unendlich viele Gegenstände; wir bemerken vielmehr, daß es darin, wie viele wir auch herausnehmen, immer noch einen weiteren gibt. Das mag wie eine ziemlich dubiose Unterscheidung klingen, vermeidet aber auf einem philosophischen Niveau die kritische Frage: ,Wie viel ist in diesem Gefäß?' 1
Gauß an Schumacher, 12. Juli 1831 (Anm. d. Hrsg.)
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Summenkrise! Es hat jedoch auch weiterhin kühne Seelen gegeben, die fortfuhren, mit dem Gedanken des ,aktualen' Unendlich zu spielen, sich eine unendliche Menge nicht als einen Prozeß 1 , 2 , 3 , . . . vorzustellen, der im Prinzip über jeden gegebenen Punkt hinaus fortgesetzt werden kann, sondern als ein vervollständigtes unendliches Ganzes. Einer der ersten war Bernard Bolzano, der 1851 ein Buch mit dem Titel Paradoxien des Unendlichen geschrieben hat. Bolzanos Hauptanliegen bestand jedoch darin, für die Differential- und Integralrechnung solide Grundlagen zu schaffen, und er hat entschieden, daß dort aktual unendliche Mengen nicht wirklich benötigt werden. Ende des neunzehnten Jahrhunderts gab es in der Mathematik so etwas wie eine Krise. Nicht phantastische philosophische Paradoxien über das Unendliche, sondern eine solide, erdgebundene Krise war es, die die tagtägliche Technik in der Theorie der Fourier-Reihen arbeitender Mathematiker berührte. Eine Fourier-Reihe sieht etwa folgendermaßen aus: f(x) = cos x -{-
cos 2x + -i- cos 3x +
und ist von Joseph Fourier in seinem Werk über Wärmeströmung entwickelt worden. Die Frage lautet: Wann hat eine solche Reihe wirklich eine Summe? Verschiedene Mathematiker erhielten einander widersprechende Antworten. Es gab ein furchtbares Durcheinander, denn zu viele hatten plausible ,physikalische' Argumente an die Stelle guter logischer Mathematik gesetzt. Ein Ausmisten war dringend notwendig. Im wesentlichen ist die Antwort die, daß eine Fourier-Reihe einen guten Sinn ergibt, vorausgesetzt, die Menge der x-Werte, für die sich die Funktion / schlecht verhält, ist nicht selbst zu schlimm. Die Mathematiker waren gezwungen, auf die Feinstruktur von Punktmengen auf der reellen Zahlengeraden zu achten. 1874 führte dies Georg Cantor dazu, eine Theorie aktual unendlicher Mengen aufzustellen, ein Gebiet, das er in den nachfolgenden Jahren weiterentwickelte. Seine brillant originellen Ideen zogen die Aufmerksamkeit und einige Bewunderung auf sich, seine mehr konservativ gesinnten Zeitgenossen unternahmen jedoch nur wenig, 82
um ihren Widerwillen zu verbergen. Cantor tat zweierlei. Er begründete die Mengenlehre (ohne die den heutigen Mathematikern die Zunge gelähmt wäre, so eine grundlegende Sprache ist sie geworden), und er entdeckte dabei, daß einige Unendlichkeiten größer als andere sind.
Cantors Paradies Cantor machte aus dem, was jedermann sonst als eine Not betrachtet hatte, eine Tugend. Er definierte eine Menge als unendlich, wenn sie eineindeutig einem echten Teil (einer Untermenge) von sich zugeordnet werden kann.. Zwei Mengen sind äquivalent oder haben dieselbe Kardinalzahl, wenn sie sich einander eineindeutig zuordnen lassen. Die kleinste unendliche Menge ist diejenige, die die natürlichen Zahlen {0,1, 2, 3,...} umfaßt. Ihre Kardinalzahl wird mit dem Symbol Ko (Alephnull) bezeichnet, und dies ist die kleinste unendliche Zahl. Sie besitzt alle Arten seltsamer Eigenschaften, wie K o + l = Ko, Ko + Ko = Ko, Ko2 = Ko, aber nichtsdestoweniger führt sie zu einer widerspruchsfreien Version einer Arithmetik für unendliche Zahlen. (Was erwarten Sie, wie sich Unendlich verhält, wenn man es irgendwie verdoppelt?) Jede Menge mit der Kardinalzahl Ko heißt abzählbar. Beispiele sind unter anderem die Mengen der negativen ganzen Zahlen, alle ganzen Zahlen, die geraden Zahlen, die ungeraden Zahlen, die Quadrate, die Kuben, die Primzahlen und — überraschenderweise — die rationalen Zahlen. Wir neigen zu der Ansicht, daß es weit mehr rationale als ganze Zahlen gibt, weil zwischen aufeinanderfolgenden ganzen Zahlen große Lücken klaffen, während die rationalen dicht verteilt sind. Aber diese Intuition führt in die Irre, weil sie außer Acht läßt, daß eineindeutige Entsprechung nicht die Anordnung zu respektieren braucht, in der die Punkte auftreten. Eine rationale Zahl p/q ist durch ein Paar (p, q) ganzer Zahlen definiert, 1 die Anzahl 1
Bei der Abzahlung ist noch zu berücksichtigen, daß durch Erweitern auseinander hervorgehende Brüche dieselbe Zahl bezeichnen; am Ergebnis ändert sich dadurch jedoch nichts (Anrn. d. Hrsg.) 83
rationaler Zahlen ist also Xo2- Aber dies ist gerade Xo> wie wir gesehen haben. Nach all diesem beginnt man sich zu fragen, ob jede unendliche Menge abzählbar ist. Vielleicht hatte Salviati recht, und Ko ist nur ein phantastisches Symbol für oo. Cantor hat gezeigt, daß dem nicht so ist. Es gibt ein Unendliches, das größer ist als das Unendliche der natürlichen Zahlen! Der Beweis ist höchst originell. Kurz gesagt, besteht die Idee darin anzunehmen, daß die reellen Zahlen abzählbar sind, und Gründe für einen Widerspruch anzuführen. Man liste sie als Dezimalbruchentwicklungen auf. Dann bilde man eine neue Dezimalzahl, deren erste Ziffer nach dem Komma verschieden von derjenigen der ersten Zahl auf der Liste ist, deren zweite Ziffer von der der zweiten auf der Liste abweicht und allgemein deren ?i-te Ziffer sich von derjenigen der w-ten auf der Liste unterscheidet. Dann kann diese neue Zahl nicht irgendwo auf der Liste stehen, was absurd ist, da die Liste als vollständig vorausgesetzt worden war. 1 Dies ist das Cantorsche ,Diagonalverfahren'; es hat sich seitdem bei allen Arten wichtiger Probleme als nützlich erwiesen. Darauf aufbauend, war Cantor in der Lage, einen dramatischen Beweis dafür zu erbringen, daß transzendente Zahlen existieren müssen. Man erinnere sich der immensen Schwierigkeiten, denen man bei diesem Problem gegenüberstand. Cantor zeigte, daß die Menge der algebraischen Zahlen abzählbar ist. Da die Menge aller reellen Zahlen nicht abzählbar ist, muß es Zahlen geben, die nicht algebraisch sind. Ende des Beweises (der im Grunde genommen eine Trivialität ist); Zusammenbruch der Zuhörerschaft in Ungläubigkeit. In der Tat zeigt Cantors Argumentation mehr: sie zeigt, daß es überabzählbar viele transzendente Zahlen geben muß! Es gibt mehr transzendente Zahlen als algebraische, und man kann es beweisen, ohne jemals ein einziges Exemplar einer transzendenten Zahl aufzuweisen. Das muß wie Magie, nicht wie Mathematik erschienen sein. Selbst Cantor hatte seine Momente des Unglaubens. Als er, nachdem er drei Jahre lang versucht hatte, das Gegenteil nacli1
Da die Dezimalbruchentwicklung insofern nicht eindeutig ist, als die Entwicklungen n0, n1... »¡999 . . . und «„, n1... (ni + 1) 000 . . . dieselbe Zahl darstellen, muß (und kann) man zur Vermeidung von Komplikationen der Einfachheit halber voraussetzen, daß alle zu wählenden Ziffern von 0 und 9 verschieden sind (Anm. d. Hrsg.)
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zuweisen, endlich bewiesen hatte, daß der «-dimensionale Raum genauso viele Zahlen wie der eindimensionale Raum besitzt, sehrieb er: „Ich sehe es, aber ich glaube es nicht." Andere empfanden das noch ein wenig stärker, zum Beispiel Paul du BoisReymond: „Es scheint dem gemeinen Menschenverstand zuwiderzulaufen." Es gab auch einige Paradoxa, deren Lösung nicht gerade die phantasievolle Entwicklung einer neuen, aber konsistenten Intuition erforderten. Beispielsweise zeigte Cantor, daß es zu jeder gegebenen unendlichen Kardinalzahl eine größere gibt. Es existieren unendlich viele verschiedene Unendlichkeiten. Nun betrachte man aber die Kardinalzahl der Menge aller Kardinalzahlen. Diese muß größer sein als jedwede Kardinalzahl, sie selbst eingeschlossen! Dieses Problem wurde schließlich dadurch gelöst, daß man das Konzept einer ,Menge' einschränkte, ich würde aber nicht sagen wollen, daß die Leute selbst heutzutage mit dieser Antwort gänzlich zufrieden sind. Die mathematische Gemeinde war hinsichtlich der Bedeutung von Cantore Ideen gespalten. Von Leopold Kronecker wurde Cantor ein Jahrzehnt lang lauthals öffentlich angegriffen ; einmal hatte Cantor einen Nervenzusammenbruch. Kronecker vertrat aber eine sehr restriktive Philosophie der Mathematik — „Die ganzen Zahlen hat Gott gemacht, alles andere ist Menschenwerk" — , und er war ebensowenig gewillt, Cantors Theorien gutzuheißen, als die Republikanische Partei geneigt ist, den Mittleren Westen zur kollektiven Bewirtschaftung umzustimmen. Poincaré sagte, spätere Generationen würden sie betrachten als ,eine Krankheit, von der man sich erholt hat'. Hermann Weyl vertrat die Meinung, daß die Cantorsche Unendlichkeit von Unendlichkeiten „Nebel auf Nebel" war.1 Andererseits haben Adolf Hurwitz und Jaques Hadamard wichtige Anwendungen der Mengenlehre auf die Analysis entdeckt und darüber auf angesehenen internationalen Konferenzen vorgetragen. Hilbert, der führende Mathematiker seiner Epoche, sagte 1926: „Aus dem Paradies, das Cantor uns geschaffen, soll uns niemand vertreiben können", und pries seine Gedanken als „die bewundernswerteste Blüte menschlichen Geistes und überhaupt eine der höchsten Leistun1
Das vollständige Zitat lautet: „Den Himmel wollten wir stürmen und haben Nebel auf Nebel getürmt, die niemanden tragen, der ernsthaft auf ihnen zu stehen versucht." (H. Weyl: Über die neue Grundlagenkrise der Mathematik, Math. Z. 10 (1921), 70.) (Anm. d. Hrsg.)
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gen rein verstandesmäßiger menschlicher Tätigkeit". Wie es auch mit anderen überraschend originellen Ideen geht, kamen nur diejenigen, die darauf vorbereitet waren, sich um ihr Verständnis und ihren Gebrauch in ihrer eigenen Arbeit zu bemühen, dazu, sie richtig zu würdigen. Bei den negativ eingebildeten Kommentatoren auf den Seitenlinien überwucherte ihre Selbstüberschätzung ihre Phantasie und ihr Gespür. Heute bilden die Früchte von Cantors Mühen die Grundlage der gesamten Mathematik.
Die Kontinuumhypothese Nach Cantors Einsicht begannen die Mathematiker schnell zu erkennen, daß es drei grundlegend verschiedene Bereiche gibt, in denen sie wirken können: endliche, abzählbare und überabzählbare. Im endlichen Fall waren Schlußtechniken verfügbar, die sonst nicht benutzt werden können, beispielsweise das ,Schubkastenprinzip', nach dem man nicht n + 1 Gegenstände in n Kästen legen kann, so daß in jedem höchstens einer zu liegen kommt. Hilberts Hotel macht klar, daß dies für n = fto nicht zutrifft, und gleiches gilt für irgendein unendliches n. Abzählbare Mengen weisen wiederum ihre eigenen Wesenszüge auf; es gibt viele Gelegenheiten, wo 1 , 2 , 3 , . . . einfacher als 1, 2, 3 , . . . , n ist. Beispielsweise gilt 1 -1
1 4
1 1
9
!-••• = ^ 7 6 '
exakt, während niemand eine Formel für
1+
7 + i + - + 1/n2
besitzt. Der Grund dafür, daß 1, 2, 3 , . . . einfacher als 1, 2, 3, . . . , n ist, ist einfach der: Man braucht sich um das n am Ende keine Gedanken zu machen! Andererseits gelangt man durch Abzählen 1, 2, 3 , . . . schließlich zu jedem, was man will, man kann also eine abzählbare Menge über eine Serie von endlichen approximieren, während für den überabzählbaren Fall nichts dergleichen möglich ist. Es handelt sich um eine sehr grobe, aber sehr wichtige Unterscheidung; und man kann allerhand über 86
die Vorlieben und Abneigungen eines Mathematikers sagen, indem man ihn fragt, mit wie großen Mengen er am liebsten arbeitet. Cantor hat bewiesen, daß die Kardinalzahl der reellen Zahlen größer als Xo ist, aber er ließ die Frage unbeantwortet: Gibt es etwas dazwischen? Dieses Problem ist als Kontinuumhypothese bekanntgeworden. Jeder Versuch, sie zu beweisen, scheiterte kläglich; ebenso erging es aber auch jedem Versuch, eine Menge mit mehr Elementen als die ganzen Zahlen, aber mit weniger als die reellen Zahlen zu konstruieren. (Erinnert Sie das an etwas? Lesen Sie mal weiter!) Erst 1963 hat Paul Cohen tatsächlich bewiesen, daß die Antwort von Ihrer Version der Mengenlehre abhängt. Es gibt cantorsche Mengentheorien, in denen sie richtig ist, und nichtcantorsche Mengentheorien, in denen sie falsch ist. Das ist also Euklids Parallelenaxiom allüberall. Und wir alle sollten viel weniger selbstgefällig sein, wenn wir beobachten, daß moderne Mathematiker ebensolange brauchten, um sich mit der Existenz der nichtcantorschen Mengentheorie anzufreunden, wie unsere Vorgänger an der nichteuklidischen Geometrie gestrauchelt sind. ,Die einzige Lektion, die wir aus der Geschichte lernen, ist die, daß wir niemals aus der Geschichte lernen.'
Meine Kardinalzahl ist größer als deine Seit etwa den letzten zwanzig Jahren untersuchen die Logiker alle Arten von Alternativen zur Standardmengentheorie unter Benutzung des auf Euklid zurückgehenden axiomatischen Zugangs. Sie haben alle Arten von unkompliziert aussehenden Sätzen entdeckt, deren Wahrheit oder Falschheit von der präzisen Wahl der Axiome abhängt. Und sie haben es geschafft, eine Menge dieses Materials mit Hilfe von Axiomen für die Existenz von ,großen Kardinalzahlen' in ein System zu bringen. Eine unerreichbare Kardinalzahl beispielsweise ist eine, die sich nicht mittels einer kleineren Anzahl von kleineren Kardinalzahlen ausdrücken läßt. Grob gesprochen bestimmt der Kardinalzahltyp, der in einer Mengentheorie möglich ist, ziemlich viel von dem, was alles sonst dort getan werden kann. Die mathematischen Logiker untersuchen die relative Widerspruchsfreiheit verschiedener axiomatischer Theorien mittels 87
ihrer Konsistenzslärke. Eine Theorie besitzt eine größere Konsistenzstärke als eine andere, wenn ihre Widerspruchsfreiheit die der anderen impliziert (und insbesondere, wenn sie als Modell der anderen dienen kann). Das zentrale Problem in der mathematischen Logik besteht darin, die Konsistenzstärke in dieser Ordnung von jedem gegebenen Stück Mathematik zu bestimmen. Eines der schwächsten Systeme ist die gewöhnliche Arithmetik, wie sie von Giuseppe Peano axiomatisch formalisiert worden ist. Aber selbst noch schwächere Systeme haben sich als nützlich erwiesen. Die Analysis findet in einer stärkeren Theorie ihren Platz, die Arithmetik zweiter Stufe heißt. Noch stärkere Theorien ergeben sich, wenn man die Mengentheorie selbst axiomatisiert. Die Standardversion, die Zermelo-Fraenkelsche Mengentheorie, ist noch ganz schwach, obgleich die Lücke zwischen ihr und der Analysis in dem Sinne groß ist, daß viele mathematische Resultate zu ihrem Beweis mehr als die gewöhnliche Analysis, aber weniger als die Zermelo-Fraenkelsche Mengentheorie in ihrer Gesamtheit erfordern. Jenseits Zermelo-Fraenkel herrschen große Kardinalzahlen. Beispielsweise hat R. M. Solovay gezeigt, daß das Axiom ,Es gibt eine unerreichbare Kardinalzahl' nach sich zieht, daß jede Menge reeller Zahlen Lebesgue-meßbar ist (siehe Kapitel 12), und anschließend hat Shaharon Shela die Umkehrung bewiesen. Es gibt sogar Typen von Kardinalzahlen, die noch größer sind: Mahlo-Zahlen, schwach kompakte Kardinalzahlen, Hyper-Mahlo-Zahlen, unnennbare (ineffable) Kardinalzahlen, meßbare Kardinalzahlen, Ramsey-Zahlen, superkompakte, huge, w-huge Kardinalzahlen. Das reicht aus, daß sich Kronecker in seinem Grabe herumdreht — unendlich viele Male.
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Geister verblichener Größen Mad Mathesis alone was unconfined, Too mad for mere material chains to bind, New to pure space lifts her eestatie stare, Now, running round the circle, finds its square. Alexander Pope Die verrückte Mathesis allein war unbegrenzt, Zu verrückt, um bloße materielle Ketten zu knüpfen, Zum reinen Raum jetzt erhebt sich ihr ekstatischer Blick, Jetzt, um den Kreis laufend, findet sie ihn, ein Quadrat. Alexander Pope
I n diesen liederlichen Zeiten ist es schwer, sich klarzumachen wie wertvoll eine gebrauchte Dokumententratte ist. Richard Westfall erzählt uns, daß 1612 der Pfarrer von North Witham, ein gewisser Barnabas Smith, in einem umfangreichen Notizbuch „eine großartig geplante Menge theologischer Überschriften eingetragen und unter diesen Überschriften ein paar einschlägige Passagen aus seiner Lektüre ausgewählt hat. Wenn diese paar Bemerkungen alles sind, was er sein Leben lang an Informationen aus seiner Bibliothek entnahm, ist es nicht überraschend, daß er sich in bezug auf das Lernen keinen guten Namen gemacht hat. Einen solchen Haufen leeren Papiers konnte man im siebzehnten Jahrhundert aber nicht einfach beiseitelegen." Ich erwähne das alles nur aus einem Grund: Den Schatz hat sich Smiths' Stiefsohn, Isaac Newton, angeeignet, der ihn sein ,Sudelbuch' nannte, und in ihm sind die Geburtsstunden der Differential" und Integralrechnung protokolliert. I n mittelalterlichen Zeiten war Papier (oder vielmehr Pergament) noch knapper, und alte Manuskripte wurden gewöhnlich von Mönchen auf der Suche nach einer leeren Fläche, auf die Dinge von großer religiöser Bedeutung aufzuschreiben waren, reingewaschen. Unvollkommene Tilgung würde schwache Spuren des Originals zurücklassen, bekannt als Palimpsest. Wo die mittelalterlichen Mönche gut gewaschen haben, haben sie Werke von enormem Wert zerstört; aber mehr als ein wichtiges Doku89
ment ist durch schlechtes Waschen unbeabsichtigt für die Nachwelt gerettet worden. 1906 hörte der dänische Gelehrte J . L. Heiberg von einem mathematischen Palimpsest in Konstantinopel, spürte es auf und erkannte, daß es ursprünglich Werke von Archimedes enthalten hatte. Diese sind ausgewischt worden, um Raum für ein Euchologion des dreizehnten Jahrhunderts zu schaffen — eine Sammlung von Gebeten und Liturgien der östlichen orthodoxen Kirche. Zu dem Text gehörten Kugel und Zylinder, vieles von Über Spiralen, Teile von Die Kreismessung, Über das Gleichgewicht von Ebenen und Über schwimmende Körper. Alle diese Werke waren in anderen Manuskripten bewahrt. Sensationellerweise enthielt der Palimpsest auch das erste jemals gefundene Exemplar eines lange verlorenen Werkes, Die Methode. Es war von anderweitigen Referenzen bekannt, daß Archimedes ein Buch mit diesem Titel verfaßt hat, die Inhalte waren jedoch ein Mysterium. Es besitzt sowohl mathematische als auch historische Bedeutung, denn Die Methode klärt uns darüber auf, wie Archimedes auf seine Ideen gekommen ist. Wie die meisten Mathematiker erhielt er seine Resultate zunächst durch total unscharfe Methoden und polierte sie dann zu einem einwandfreien Beweis auf. Und natürlich ist nur die polierte Fassung jemals der Öffentlichkeit zugänglich geworden. Das ist eine Gewohnheit, die Generationen von Forschern die Einsichten ihrer Vorläufer vorenthalten hat. Unter den von Archimedes benutzten Methoden befand sich eine Technik, Körper in unendlich viele Stücke infinitesimaler Dicke zu zerschneiden und diese an die Arme einer gedanklichen Waage zu hängen, wo ihre Summe mit einem gewissen bekannten Objekt verglichen werden konnte. Er hat auf diese Weise das Volumen einer Kugel ermittelt. Eine große Anzahl von Problemen ist leichter streng zu lösen, wenn man von vornherein weiß, wie die Antwort lautet; die Methode war daher für Archimedes von großem Wert. Andere Mathematiker haben ähnlichen Gebrauch von infinitesimalen' Argumenten gemacht und sich gewöhnlich (aber nicht immer) für ihren Mangel an Strenge entschuldigt, die Schultern gezuckt und behauptet, daß ,das alles natürlich streng gemacht werden kann, wenn man ein wenig mehr Mühe in Kauf nimmt'. Infinitesimale plagten die Analysis des siebzehnten und des achtzehnten Jahrhunderts, obgleich die philosophischen Argu90
mentationen über sie nicht verhindern konnten, daß eine Menge guter Arbeit geleistet wurde. Das neunzehnte Jahrhundert hat jedoch den Begriff eines Infinitesimals sicher verbannt und ihn durch den eines Limes ersetzt. Man war einhellig der Meinung, daß Infinitesimale Unsinn sind. Womit nur gezeigt wird, daß man einem Konsens in den Ansichten nicht immer trauen k a n n . . .
Einwände von Elea Wie wir gesehen haben, ist das pythagoreische Ideal von einer Zahl als der Basis für alles mit den irrationalen Zahlen kollidiert. Es kam auch mit der Eleatischen Schule, den Nachfolgern von Parmenides von Elea, in philosophische Schwierigkeiten. Der bekannteste Vertreter dieser Schule ist Zenon, der um 450 v. Chr. gelebt hat. Zenon brachte vier Paradoxa über die Natur von Raum und Zeit vor. Zwei greifen die Vorstellung an, daß sie diskret sind; zwei die, daß sie kontinuierlich sind. Die Geschichte des Infinitesimals ist viel weniger durchsichtig als die eines Cousins, des Unendlichen, und Überlegungen wie die von Zenon spielten eine bedeutende Rolle. Das ,Dichotomie'paradoxon greift die unendliche Teilbarkeit des Raumes an. Bevor ein Gegenstand eine gewisse Distanz durchlaufen kann, muß er sich erst halb so weit bewegen. Aber ehe er das tun kann, muß er sich ein Viertel so weit bewegen usw. Da er versucht, unendlich viele Dinge in der falschen Reihenfolge zu tun, kann er niemals starten. ,Achilles und die Schildkröte' beinhaltet ein ähnliches Szenarium mit einem flinken, aber zu spät startenden Achilles, der nicht in der Lage ist, eine langsamere Schildkröte einzuholen, weil immer dann, wenn Achilles die Stelle erreicht, wo die Schildkröte war, diese sich inzwischen weiterbewegt hat. Der ,Pfeil' greift die Diskretheit an. Ein fliegender Pfeil ist zu einem festen Zeitpunkt an einer festen Stelle — er ist dann aber von einem unbewegten Pfeil an derselben Stelle nicht zu unterscheiden, woher wissen wir also, daß er sich bewegt? Das ,Stadium' ist komplizierter und greift die Idee an, daß sowohl Raum als auch Zeit nur in bestimmtem Maß unterteilt werden können. Zenons Paradoxa sind subtiler, als sie scheinen, und stellen eher als Aussagen über die physikalische Raum-Zeit denn als mathematische Idealisierungen noch immer raffinierte Fragen. Die 91
Griechen fanden die Paradoxa niederschmetternd, und dies stieß sie noch weiter von den Zahlen ab und trieb sie in die Arme der Geometrie. Yerehrcnswiirdige Perlen Kann man sich eine Gerade als eine Art Punktfolge vorstellen? Kann eine Ebene in parallele Geraden zerschnitten werden oder ein Körper in Ebenen? Die moderne Sicht ist ,Ja', das Verdikt der Geschichte ein überwältigendes ,Nein'; der Hauptgrund dafür ist der, daß sich die Deutung dieser Frage geändert hat. Wenn eine Gerade nur in einem bestimmten Maße unterteilt werden kann, dann sind die Punkte so etwas wie kleine ,Atome der Geradheit' und folgen einander wie Perlen auf einer Schnur. Nach jedem Punkt gibt es einen eindeutig bestimmten nächsten Punkt. Was für eine reelle Zahl entspricht nun dem ,nächsten' Punkt nach dem Ursprung? Ist es 0,001? Nein, weil 0,0001 dichter dran ist. Aber 0,00001 liegt noch dichter dran und 0,000001 noch dichter und ..., man beginnt, für Achilles Sympathie zu empfinden. Was wir tun wollen, ist, 0,00000 ... niederzuschreiben und dann an der allerletzten Stelle eine 1 zu setzen, aber es gibt keine letzte Stelle! Es bestehen zwei Möglichkeiten, um aus dem Dilemma herauszukommen. Die eine läuft darauf hinaus zu behaupten, daß es wirklich eine nächste Zahl gibt, daß sie aber infinitesimal größer als 0 ist, was bedeutet, daß sie kleiner ist als irgendetwas von der Form 0,00...01. Die andere besteht darin, zu akzeptieren, daß es keine ,nächste Zahl' größer als 0 gibt. Dann läßt sich eine Gerade unbeschränkt oft unterteilen, und es existieren keine ,letzten Atome' oder Indivisiblen. Was bedeutet, daß man sich eine Gerade nicht aus Punkten zusammengesetzt denken kann, die in einer gewissen Reihenfolge aneinandergereiht sind. Andererseits ist es evident, daß jede spezielle Stelle auf der Geraden ein Punkt ist: man braucht nur eine andere Gerade zu ziehen, die hier kreuzt, und das Axiom von Euklid anzuwenden, daß ,zwei Geraden einander in einem Punkt treffen'. Das ist ein wirkliches Bindeglied, nicht wahr? Unsere nächste Beobachtung über Infinitesimale sieht so aus, als ob damit das Spiel so gut wie erledigt wäre:
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Es gibt keine Infinitesimale Angenommen, x ist die kleinste Zahl größer als 0. Dann ist 0 < a?/2 < x, also ist auch x/2 größer als Null und außerdem kleiner als x. Widersprach. Wir sollten uns jedoch nicht zu leicht zufriedengeben, weil eine andere Beobachtung lautet: Infinitesimale sind nützlich Ich habe bereits erwähnt, daß Archimedes Infinitesimale gewogen hat, um das Volumen einer Kugel zu ermitteln. Nicolaus von Cues hat zum Flächeninhalt eines Kreises einen ähnlichen Zugang gefunden, indem er ihn wie eine Torte in Stücke zerschnitten hat. Man stelle sich eine große Anzahl sehr dünner Stücke vor. Jedes ist fast dreieckig, sein Flächeninhalt ist also das halbe Produkt aus seiner Höhe (dem Kreisradius r) und der Länge der Basis. Die Gesamtlänge der Grundlinien liegt hinreichend nahe beim Kreisumfang, der, wie wir wissen, 2nr beträgt. Der Flächeninhalt ist also etwa 1/2 mal r mal 2nr, d. h. jrr2. Könnten wir uns den Kreis als eine unendliche Anzahl infinitesimal dünner Dreiecke denken, so würden wir überhaupt keinen Fehler begehen. Dies ist, verglichen mit dem Exhaustionsverfahren von Eudoxus, ein so einfacher Beweis, daß es bedauerlich ist, daß er Unsinn ist. Andererseits: wenn er schon Unsinn ist, warum gibt er dann die richtige Antwort? Und das ist nicht das einzige Beispiel: z. B. hat Demokrit das Volumen eines Kegels gefunden, indem er kreisförmige Scheiben übereinander türmte, eine Schlußweise, die die Bewunderung von Archimedes hervorgerufen hat. Seit Apollonius' Zeit etwa um 250 v. Chr. bestand großes Interesse an dem ,Tangentenproblem': wie ist an eine gegebene Kurve eine Tangente zu legen? Apollonius hat es für Kegelschnitte, insbesondere für die Parabel, mit rein geometrischen Mitteln gelöst. Newton und Leibniz, die Begründer der Differential- und Integralrechnung, griffen das Problem unter Benutzung der Koordinatengeometrie an. Die Gleichung der Parabel lautet y = x2. Das Hauptproblem besteht darin, den Anstieg ihrer Tangente in x zu ermitteln. Newton schloß folgendermaßen. Man lasse x geringfügig auf x + o wachsen. Dann ändert sich x2 in (x + o)2. 93
Die Änderungsgeschwindigkeit ist daher das Verhältnis der Differenz der Quadrate zur Differenz im z-Wert, nämlich [(« + o)2 - x>]l\{x + o) was vereinfacht
x],
[2ox + o2]/o = 2z + o
ergibt. Man lasse o gegen Null streben; dann strebt der Anstieg gegen 2x -f- 0 = 2x. Das ist der Anstieg der Tangente oder, wie es von Newton genannt wurde, die Fluxion der Fluente x2. Die Antwort steht auch mit Apollonius in Einklang. Ein weiteres zufälliges Zusammentreffen? Newtons Methode, die Quelle der modernen Analysis, frischt Teile auf, welche die Methode von Apollonius nicht erreichen kann. Sie funktioniert mit y — x3 genauso gut und ergibt eine Fluxion 3x2. Leibniz hatte ein ähnliches Argument, an Stelle von o verwendete er aber das Symbol dz (,ein kleines Stückchen von x'). Es mag Ihnen so vorkommen, als ob an all dem etwas faul ist. Wenn dem so ist, befinden Sie sich mit dem Erzkritiker der Differential- und Integralrechnung, Bischof George Berkeley, in Einklang. 1734 veröffentlichte er The Analyst, Or a Discourse Addressed to an Infidel Mathematician. Wherein It is examined whether the Object, Principles, and Inferences of the modern Analysis are more distinctly conceived, or more evidently deduced, than Religious Mysteries and Points of Faith. „Zuerst entferne den Balken aus Deinem eigenen Auge; dann wirst Du klar genug sehen, um das Stäubchen im Auge Deines Bruders herauszuwerfen." Berkeley wandte ein, daß entweder o nicht exakt gleich Null ist — in welchem Falle die Antwort falsch ist, obgleich nicht um viel —, oder es ist Null, in welchem Falle man nicht hierdurch dividieren kann und die Rechnung sinnlos ist. Er wies darauf hin, daß der Gebrauch von einem kleinen o an Stelle einer großen 0, wenn er auch nicht gerade notwendig Mogelei darstellt, so doch die Sachlage nicht wirklich verbessert. Newton hat eine Fluxion als das ,letzte Verhältnis verschwindender Inkremente' definiert. Worauf Berkeley vernünftigerweise erwidert: ,Und was sind diese Fluxionen? Die Geschwindigkeiten verschwindender Inkremente. Und was sind diese selben verschwindenden Inkremente? Sie sind weder endliche Größen noch unendlich kleine Größen noch gar nichts? Können wir sie 94
nicht Geister verblichener Größen nennen?' Berkeley wandte sich damit gegen die Berechnung einer Fluxion als eines Verhältnisses zweier Größen (2ox -f o2 und o im obigen Beispiel), die beide verschwinden. Das Verhältnis 0/0 ist sinnlos. Da 1 - 0 = 0 ist, haben wir 0/0 = 1; es ist aber auch 2 - 0 = 0, also 0/0 = 2. In der Tat kann man ähnlich ,beweisen', daß 0/0 = x für jedes x ist, das man will. Warum scheint also Newtons Methode zu funktionieren? Nach Berkeley, weil sich die Fehler kompensieren . Das erste, was man hinsichtlich der Einwände Berkeleys anerkennen muß, ist, daß er die Analytiker mit vollem Recht kritisiert hat. Es war eine scharfsinnige sachliche Kritik, und sie riß eine schreckliche Lücke. Wenn es auch in seinem Privatinteresse lag, sehr wohl zwischen mathematischem Beweis und religiösem Glauben zu unterscheiden, so hatte er jedenfalls sehr scharf über das nachgedacht, was er kritisierte. (Hätten doch die anderen ebenso gehandelt.) Niemand hatte eine wirklich gute Entgegnung für Berkeley parat. Andererseits ist es nicht gerade stichhaltig, zu sagen, daß hundert und aberhundert verschieden durchgeführte Berechnungen auf ,s:ch kompensierende Fehler' zurückgehen, ohne zu erklären, warum der Teufel die Fehler unaufhörlich sich kompensieren läßt! Wenn man wirklich beweisen kann, daß sich die Fehler stets kompensieren, so ist das in der Tatgleichbedeutend mit dem Beweis dessen, daß es überhauptkeine Tat gleichbedeutend mit dem Beweis dessen, daß es überhaupt keine Fehler gibt. Außerdem wußten Newton und seine Nachfolger, daß das, was sie taten, sinnvoll ist, weil sie eine etwas subtilere (wenn auch physikalische) Vorstellung davon hatten, was da vorging. Berkeley bestand darauf, wie ein Algebraiker o als eine gewisse wohlbestimmte Konstante aufzufassen. Dann müßte o sowohl Null als auch nicht Null sein, eine Absurdität. Newton dachte sich o jedoch als eine Variable, die man sich so dicht, wie man will, an 0 annähern lassen kann, ohne daß sie wirklich verschwindet. Newton dachte an den ganzen Prozeß, bei dem o auf Null schrumpft; Berkeley verlangte von Newton, seinen Wert in dem Moment vor dem Verschwinden zu fixieren, und das konnte Newton nicht. Er wußte, daß Achilles schließlich die Schildkröte einholt, weil er schneller läuft; Berkeley wollte Newton dazu bringen, den Zeitpunkt unmittelbar bevor die Schildkröte eingeholt wird, zu isolieren, und es ist klar, daß es 95
nichts dergleichen gibt. In der logischen Argumentation hat Berkeley mühelos gesiegt. Aber niemand nahm davon die geringste Notiz, denn die Methode funktionierte gut, egal, ob nun logisch oder nicht logisch. Nahezu Fehlschlüsse Colin MacLaurin hat in seinem Treatise on Fluxions versucht, die Korrektheit der Differential- und Integralrechnung durch eine Neuinterpretation ihrer Methoden innerhalb der klassischen Geometrie, namentlich der Exhaustion, zu beweisen. Er wurde darin ein solcher Könner, daß er mehrere Leute davon überzeugte, die Differential- und Integralrechnung gänzlich zugunsten der Geometrie abzuschaffen, was wiederum nicht in seiner Absicht lag. Leibniz suchte in den Infinitesimalen Zuflucht. „Nun werden da; und dy unendlich klein gewählt... Es ist nützlich, Größen zu betrachten, die in der Weise unendlich klein sind, daß sie, wenn ihr Verhältnis gesucht wird, nicht als Null betrachtet werden können, die aber vernachlässigt werden, sooft sie mit unvergleichlich größeren Größen zusammen vorkommen." Auch er stellte sich ein Infinitesimal als eine variable Größe vor, und er faßte das alles in einem Kontinuitätsgesetz zusammen: „Bei jedem angenommenen Übergang, der in irgendeinem Terminus endet, ist es erlaubt, eine allgemeine Überlegung anzuwenden, in die auch der Endterminus eingeschlossen werden kann." Mit anderen Worten, was für alle o's ungleich Null funktioniert, funktioniert auch für^o = 0. Er unterstützte dieses Prinzip durch Beispiele, nicht durch einen Beweis. Bei seinem Gebrauch bedarf es der Vorsicht: Man versuche es mit der,allgemeinen Überlegung' o > 0. Johann Bernoulli hat 1692 Teil I I eines Textes zur Differentialund Integralrechnung geschrieben, der schließlich 1742 ^veröffentlicht wurde. Verzögerungen bei der Publikation sind in der Mathematik nicht unbekannt, aber dieses Ausmaß ist ungewöhnlich. Vielleicht wollte Bernoulli auch einen Rekord aufstellen: Der erste Teil, 1691 geschrieben, wurde erst 1924 publiziert. Ersucht, den Schleier des Geheimnisses zu lüften, erklärte er 1 : 1
Bernoulli, J.: Die Differentialrechnung. Ostwald's Klassiker der exakten Wissenschaften Nr. 211, Akad. Verlagsges. Leipzig 1924, S. 11
(Anm. d. Hrsg.)
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„Eine Größe, die vermindert oder vermehrt wird um eine unendlich kleine Größe, wird weder vermindert noch vermehrt." Ist es nur das moderne Auge, das das rätselhaft findet? Er hat auch versucht, das Infinitesimal als l/oo zu definieren. Newtons Ideen von 1704 kamen der Sache näher als die von Bernoulli. „In der Mathematik sind die geringfügigsten Fehler nicht zu vernachlässigen. Ich sehe mathematische Größen nicht als aus sehr kleinen Teilchen bestehend an, sondern als durch eine kontinuierliche Bewegung beschrieben. Fluxionen sind, so genau wie wir wollen, die Zuwächse von Fluenten, die zu Zeiten erzeugt werden, die gleich und so klein wie möglich sind." Er weist explizit die Rechtfertigung durch Infinitesimale als unlogisch zurück. In der Tat ist er der modernen Interpretation sehr nahe gekommen, als er in der ersten und dritten Auflage der Principia gesagt hat 1 : „Jene letzten Verhältnisse, mit denen die Größen verschwinden, sind in der Wirklichkeit nicht die Verhältnisse der letzten Größen, sondern die Grenzen, denen die Verhältnisse fortwährend abnehmender Größen sich beständig nähern, und denen sie näher kommen als jeder angebbare Unterschied beträgt; welche sie jedoch niemals überschreiten und nicht früher erreichen können, als bis die Größen ins Unendliche verkleinert sind." Mit anderen Worten, um den Grenzwert zu finden, gegen den das Verhältnis 2ox -j- o 2 : o strebt, wenn o zu 0 abnimmt, setze man nicht o = 0, was das Verhältnis 0 : 0 ergibt. Stattdessen halte man o ungleich Null, kürze zu 2x + o : l und beobachte dann, daß dieses Verhältnis gegen 2x: 1 strebt, wenn o gegen 0 strebt. Newton wußte genau, was er t a t ; er konnte es nur noch nicht präzise ausdrücken. Etwa ab dieser Zeit verfehlte eine Reihe von Mathematikern, darunter John Wallis und James Gregory, das Ziel nur um Haaresbreite.
Der Plan verdichtet sich Bevor in der Differential- und Integralrechnung gründlich aufgeräumt worden war, trat eine neue Schwierigkeit auf: komplexe Zahlen. Wie wir in Kapitel 11 sehen werden, war die Ausdehnung 1
Sir Isaao Newton's Mathematische Principien der Naturlehre, herausgegeben von J. Ph. Wolfers, Verl. Robert Oppenheimer, Berlin 1872,
S. 54 (Antn. d. Hrsg.)
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der Analysis auf komplexwertige Funktionen selbst eine Quelle großer (aber schöpferischer) Konfusion. Trotzdem waren die Grundlagenprobleme der Differential- und Integralrechnung bald zu lösen. In der Bibel der komplexen Analysis, in seinem Gaurs cVAnalyse von 1821, gründete Augustin-Louis Cauchy die Theorie auf die Idee eines Limes und definierte ihn folgendermaßen: „Wenn die sukzessiven Werte, die einer Variablen erteilt werden, unbeschränkt gegen einen festen Wert streben, indem sie letzten Endes von ihm um so wenig abweichen, wie man will, so heißt dieser letztere der Limes aller anderen." Im Hinblick auf die Infinitesimale wurde er ganz deutlich: „Man sagt, daß eine variable Größe unendlich klein wird, wenn ihr Zahlenwert in solcher Weise unbeschränkt abnimmt, daß er gegen den Limes 0 konvergiert." Infinitesimale sind Variable, nicht Konstanten. Analog ist oo keine Konstante, sondern eine Variable, die unbeschränkt groß wird. Was hier vorliegt, ist der Aristotelische Begriff des potentiellen Unendlich, umgewandelt in potentielle Infinitesimalität. Es ist vielleicht ungerecht, zu behaupten, daß niemand definiert hat, was unter einer Variablen zu verstehen ist. Diese Unterlassung war nicht schlimm und ging unbemerkt vorbei. Es gibt eine Geschichte von Larry Niven, Convergent iSeries, in der ein leuchtend roter, gehörnter Dämon beschworen wird, und zwar unter Benutzung des traditionellen Verfahrens, eines Drudenfußes, in dem er prahlerisch erscheint. Dem Held wird ein Wunsch gewährt, aber — und das wie üblich im Kleingedruckten im Vertrag — nur für vierundzwanzig Stunden. Nachdem der Dämon der Hölle Bericht erstattet hat, erscheint er sogleich wieder im Drudenfuß und verlangt die traditionelle Strafe. Das Opfer hat aber das Recht, den Drudenfuß zu tilgen und ihn, wo immer es will, neu zu zeichnen. Nivens Heid kritzelt seinen Drudenfuß auf den dicken Bauch des Dämons. Als der Dämon wieder erscheint, sieht er sich selbst schnell schrumpfen, und ehe er inne werden kann, was sich ereignet, ... Bleibt ein infinitesimaler Dämon übrig? Nein, sagt Cauchy, es bleibt überhaupt kein Dämon zurück. Das Infinitesimal ist die Art, wie er verschwindet.
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Epsilontik Schließlich — und, offen gesagt, endlich — hat Karl Weierstraß so ungefähr um 1850 Ordnung in das Durcheinander gebracht, indem er die Formulierung ,so nahe wie uns beliebt' streng gefaßt hat. Wie nahe beliebt es uns denn'1. Er behandelte eine Variable nicht als eine sich aktiv ändernde Größe, sondern einfach als ein statisches Symbol für jedes Element einer Menge möglicher Werte. Eine Funktion f(x) strebt gegen einen Grenzwert L, falls a; gegen einen Wert a strebt, wenn zu einer beliebig vorgegebenen positiven Zahl e die Differenz /(x) — L [dem Betrage nach] kleiner als e ausfällt, sobald nur x — a [dem Betrage nach] kleiner als eine gewisse Zahl 6 ist, die von e abhängt. Es ist wie ein Spiel: ,Du sagst mir, wie dicht f(x) bei L liegen soll; dann werde ich Dir sagen, wie dicht x bei a sein muß.' Spieler Epsilon sagt, wie nahe er es haben will; dann ist Delta dran, sein Glück zu versuchen. Immer, wenn Delta eine Gewinnstrategie besitzt, strebt /(x) gegen den Grenzwert L. Diese Epsilon-Delta-Definition des Limes ist vielleicht ein bißchen schwerfällig, aber wie im Falle der griechischen Exhaustionsmethode gewöhnt sich ein kompetenter Professioneller bald daran und kann sie mit Präzision und gelegentlich mit verblüffender Virtuosität handhaben. Man bemerke, wie die physikalische Idee von der Bewegung durch eine Menge statischer Ereignisse ersetzt worden sind, für jede Wahl von e eines. Es ist nicht notwendig, an eine Variable e zu denken, die gegen 0 strebt; alles, was wir zu tun haben, ist, alle möglichen Werte (größer als 0) für e in Betracht zu ziehen und mit jedem erfolgreich umzugehen. Die Einführung des potentiellen an Stelle des aktualen Infinitesimalen ist ein Ablenkungsmanöver; das ganze Problem läßt sich in rein endlichen Ausdrücken formulieren. Weierstraß' Definition des Grenzwertes hat die Differential- und Integralrechnung von metaphysischen Überlegungen befreit, und die moderne Analysis wurde geboren. Heutzutage muß jeder Student, der einen Analysiskurs beginnt, eine oder zwei Wochen lang durch das hindurch, was umgangssprachlich ,Epsilontik' genannt wird — gewöhnlich zu seinem oder ihrem anfänglichen Entsetzen. Das ist der Weg, auf dem das Handwerk seine Lehrlinge bluten läßt. Wenn Sie Analysis jedoch verstehen und nicht nur mit der Differential- und Integralrechnung rechnen wollen; ist dies der bewährte Weg. 99
ßeebs Traum Trotz alledem gibt es in den althergebrachten Argumenten mit Infinitesimalen etwas Intuitives und Anziehendes. Sie sind noch in unserer Sprache enthalten, in unserer Art zu denken: ,Augenblicke' oder,Momente' der Zeit,,momentane' Geschwindigkeiten, die Vorstellung von einer Kurve als einer Reihe von unendlich kleinen Geradenstücken. Ingenieure, Chemiker und Physiker führen beglückt kleine Zuwächse dx ein, die sich wunderbarerweise an vernünftigen Stellen in der Rechnung in dz umwandeln, ohne sich über vollblütige Epsilontik Sorgen zu machen. ,Die Mathematiker haben dies schon irgendwie gerechtfertigt, sollen sie nur ihre Gehirne strapazieren, wenn sie wollen, ich bin auf Größeres aus.' Georges Reeb gibt dem beredten Ausdruck: „Schon immer hatten die Mathematiker den Traum einer Infinitesimalrechnung, die diesen Namen verdient, das heißt, in b
der dx und dy infinitesimale Zahlen sind, f f{x) dx eine echte o
Summe solcher Zahlen ist und Limites angenommen werden; und ein solcher Traum verdient vielleicht eine erkenntnistheoretische Erforschung. Einige andere Träume, vielleicht unbedeutendere, verglichen mit den Errungenschaften der Differential- und Integralrechnung, spukten in der Welt der Mathematiker und brachten einen sehnsüchtigen Gedanken hinein: die Idee von einer Welt, in der ganze Zahlen als ,groß', ,klein' oder sogar ,unbestimmt' eingestuft werden können, ohne die Möglichkeit widerspruchsfreien Schließens einzubüßen, in der sie dem Induktionsprinzip genügen und wo die Nachfolger kleiner ganzer Zahlen klein bleiben; einer Welt, in der konkrete Ansammlungen, die vielleicht unbestimmt, aber irgendwie nicht endlich sind, in einer einzigen endlichen Menge vereint werden könnten; einer Welt, in der sich stetige Funktionen fast perfekt durch Polynome festen Grades approximieren lassen. In einer solchen Welt könnten sich die endlichen Reiche entweder durch das Teleskop oder durch das Vergrößerungsglas erforschen lassen, und es würden sich ganz neue Bilder erschließen. In einer solchen Welt würden die durch Weierstraß dargelegten Kriterien von Strenge, in zweifachem Sinne gedeutet, Phantasie und Metapher erlauben." 100
Als Fußnote fügt er ein Beispiel hinzu: „E3 sollte eine endliche Kette geben, die einen gewissen Affen mit Darwin verbindet, wobei folgende Regeln gelten sollten: Eines Affen Sohn ist ein Affe, und der Vater eines Menschen ist ein Mensch." Nichtstandardanalysis Etwa zwischen 1920 und 1950 ereignete sich eine explosionsartige Entwicklung der mathematischen Logik, und eines der Gebiete, die aufkamen, war die Modelltheorie. In der Modelltheorie denkt man über irgendein Axiomensystem nach und versucht, mathematische Strukturen zu finden und zu charakterisieren, die allen Axiomen des Systems genügen — Modelle der Axiome. In diesem Sinne ist die Koordinatenebene ein Modell für die Axiome der Euklidischen Geometrie, Poincarés Universum ist ein Modell für die Axiome der hyperbolischen Geometrie usw. Die Logiker haben eine wichtige Unterscheidung zwischen dem getroffen, was sie Axiomensysteme erster Stufe genannt haben, und denen zweiter Stufe. In einer Theorie erster Stufe lassen sich durch die Axiome Eigenschaften ausdrücken, die zwar von allen Objekten in dem System gefordert werden, nicht aber von allen Mengen von Objekten. In einer Theorie zweiter Stufe gibt es keine solche Einschränkung. In der gewöhnlichen Arithmetik ist eine Aussage wie x+ y = y + x
für alle x und y
(1)
von erster Stufe, und von dieser Art sind alle üblichen Gesetze der Algebra; wenn x < 1/n für alle ganzen Zahlen n, so ist x = 0
(2)
ist jedoch von zweiter Stufe. Die übliche Liste von Axiomen für die reellen Zahlen ist von zweiter Stufe; und es ist seit langem bekannt, daß sie ein einziges Modell besitzt, die üblichen reellen Zahlen 1R. Das reicht aus. Es stellt sich jedoch heraus, daß bei einer solchen Abschwächung der Axiome, daß sie nur noch die Eigenschaften erster Stufe von ffi. beinhalten, noch andere Modelle existieren, darunter manche, die (2) verletzen. Sei R * ein solches Modell. Das Fazit ist eine Theorie einer Nichtstandardanalysis, wie sie um 1961 von Abraham Robinson ins Leben ge101
rufen worden ist. In der Nichtstandardanalysis gibt es aktuale Unendlichkeiten und aktuale Infinitesimale. Sie sind Konstanten, nicht Variable im Cauchyschen Stil. Und Reebs Traum wird wahr! Die Verletzung von (2) beispielsweise bedeutet präzis, daß a: ein ,echtes' Infinitesimal ist. Und wenn co eine unendliche ganze Zahl ist, so verbindet die Folge 1, 2, S, . . c o — 3, co — 2, co — 1, co die Affen 1, 2, 3 , . . . mit den Darwins o> — 3, cu — 2, co — 1, co.
Reelle und hyperreelle Zahlen Es ist nicht einmal ein neues Spiel. Wie viele Male zuvor ist schon das ,Zahlensystem erweitert worden, u m eine gewünschte Eigenschaft anzunehmen? Von den rationalen Zahlen zu den reellen, um zuzulassen; von den reellen zu den komplexen, u m / — I zuzulassen. Warum also nicht von den reellen zu den hyperreellen Zahlen, um Infinitesimale zuzulassen? I n der Nichtstandardanalysis gibt es gewöhnliche natürliche Zahlen N = {0,1, 2, 3,...}, na g u t ; aber es gibt ein größeres System von ,unnatürlichen' Zahlen, besser: natürlichen Nichtstandardzahlen' N*. Es gibt die gewöhnlichen ganzen Zahlen TL und die ganzen Nichtstandardzahlen TL*. Und es gibt die reellen Standardzahlen 1R plus die reellen Nichtstandardzahlen IR*. Und jedes P a a r ist, soweit es die Eigenschaften erster Stufe betrifft, ununterscheidbar; man kann also Eigenschaften erster Stufe von R beweisen, indem man mit IR* arbeitet, wenn man will; IR* bietet aber zahlreiche neue Bonbons an, wie Infinitesimale und Unendlichkeiten, die man auf neue Weise ausbeuten kann. Erst einmal ein paar Definitionen, u m auf den Geschmack zu kommen. Eine hyperreelle Zahl ist endlich, wenn sie kleiner als eine gewisse reelle Standardzahl ist. Sie ist infinitesimal, wenn sie kleiner als alle positiven reellen Standardzahlen ist. Jede Zahl, die nicht endlich ist, ist unendlich, und jede nicht in IR enthaltene ist eine Nichtstandardzahl. Wenn x ein Infinitesimal ist, so ist 1/x unendlich und umgekehrt. Nun zum Witz der Sache. Jede endliche hyperreelle Zahl besitzt einen eindeutig bestimmten Standardteil std (x), der unendlich benachbart zu x ist, d. h., 102
x — std (a;) ist infinitesimal1. Jede endliche hyperreelle Zahl gestattet eine eindeutige Darstellung als ,reelle Standardzahl plus Infinitesimal'. Es ist, als wenn jede reelle Standardzahl von einer unbestimmten Wolke unendlich benachbarter hyperreeller Zahlen, ihrem Halo, umgeben ist. 2 Und jeder solche Halo umgibt eine einzelne reelle Zahl, seinen Schatten. Werfen wir einen Blick auf Newtons Berechnung der Fluxion (Ableitung) der Funktion y = f(x) = x2. Was er tut, ist, eine kleine Zahl o zu nehmen und das Verhältnis [f(x -j- o) — f{x)]/o zu bilden. Das reduziert sich auf 2x + o, was sehr schön sein würde, wäre man nur das o los. Daher letzte Verhältnisse, Limites und Epsilontik, wie wir gesehen haben. Es gibt jedoch einen einfacheren Weg. Man nehme für o ein Infinitesimal und statt 2x -j- o seinen Standardteil, der 2x ist. Mit anderen Worten, die Ableitung wird als std {[f(x +0)-
f(x)]/o}
definiert, wo x eine reelle Standardzahl und o irgendein Infinitesimal ist. Das Alexandrinische Schwert, das den Gordischen Knoten durchschlägt, ist der unschuldig aussehende Gedanke des Standardteils. Er ist völlig streng, da std (x) eindeutig definiert ist. Und er vergißt auch überhaupt nichts außer dem Extra-o; er befreit sich tatsächlich vollständig von ihm. Was geht hier vor? Im Grunde genommen geht es um Größenordnungen für hyperreelle Zahlen, und man muß nur mit der richtigen Ordnung arbeiten. Reelle Standardzahlen sind von der Ordnung 0. Infinitesimale sind meist von der Ordnung 1, oa ist jedoch von der Ordnung 2, o3 von der Ordnung 3, usw. Dagegen sind Unendlichkeiten wie I/o von der Ordnung —1, I/o2 ist von der Ordnung — 2. Der Standardteil pickt aus jeder endlichen hyperreellen Zahl das Glied niedrigster Ordnung heraus. Die Nichtstandardanalysis führt im Prinzip zu keinen Schlüssen über 1R, die in irgendeiner Weise von der Standardanalysis abweichen. Es sind die Methode und der Hintergrund, auf dem sie wirkt, was Nichtstandard ist; die Resultate stellen jedoch wahre Sätze guter altmodischer Analysis dar. Was ist dann der 1 2
Allgemein heißen zwei Zahlen a und b infinitesimal benachbart, wenn a — b gleich Null oder infinitesimal ist (Anm. d. Hrsg.) Die Menge aller zu einer Zahl a infinitesimal benachbarten Zahlen heißt die Jlonade von a (Anm. d. Hrsg.)
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springende Punkt all dieses Geredes, wenn damit nichts bewiesen werden kann, was neu wäre? Bevor wir diese wichtige Frage diskutieren, wollen wir ein gewisses Gefühl dafür erlangen, wie sich die Nichtstandardanalysis verhält. Willkommen im Irrenhaus Ein Kurs in Nichtstandardanalysis sieht aus wie eine Zurschaustellung von genau denjenigen Fehlern, die zu vermeiden wir unsere Studenten stets und ständig lehren. Beispielsweise: (1) Eine Folge s„ ist beschränkt, wenn