Macht, Emotion und Geselligkeit: Studien zur Soziabilität in Deutschland 1500–1900 3515094032, 9783515094030

Die Selbstorganisation in Genossenschaften, Sozietäten und Vereinen stellt in Deutschland seit dem Mittelalter ein freih

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German Pages 233 [235] Year 2009

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INHALT
VORWORT
EINLEITUNG
1. „GENOSSENSCHAFT“ IN DER DEUTSCHEN GESCHICHTE. WIRTSCHAFTS- UND LEBENSFORMEN
2. EMOTION UND DISZIPLIN. SOZIALVERHALTEN UND WERTEWANDEL DER JUGENDLICHEN BILDUNGSSCHICHT IM ÜBERGANG ZUR BÜRGERLICHEN GESELLSCHAFT (17.–19. JAHRHUNDERT)
3. EINSAMKEIT UND FREUNDSCHAFT. DIE LEBENSFÜHRUNGSART DER JUGENDLICHEN BILDUNGSSCHICHT 1750–1819
4. ELITEANSPRUCH UND GEHEIMNIS IN DEN GEHEIMGESELLSCHAFTEN DES 18. JAHRHUNDERTS
5. DIE LEBENSBILANZ EINES VERHINDERTEN UMSTÜRZLERS. ADOLPH FREIHERR VON KNIGGES WERK „ÜBER DEN UMGANG MIT MENSCHEN“
6. STUDENTISCHER PROTEST, ZIVILER UNGEHORSAM UND ‚BEWEGUNGSPARTEI‘ IN DEUTSCHLAND 1815–1833
7. VEREIN, GESELLSCHAFT, GEHEIMGESELLSCHAFT, ASSOZIATION, GENOSSENSCHAFT. GESCHICHTLICHE GRUNDBEGRIFFE
8. STRUKTURMERKMALE UND ENTWICKLUNGSTENDENZEN DES VEREINSWESENS IN DEUTSCHLAND 1789–1848
9. „ARBEITERSCHAFT“ – „GENOSSENSCHAFT“ –„GEWERKVEREIN“ – „GEWERKSCHAFT“. ZUR BEGRIFFSGESCHICHTE DER DEUTSCHEN GEWERKSCHAFTSBEWEGUNG 1862–1877
VERZEICHNIS DER ERSTEN DRUCKORTE
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Macht, Emotion und Geselligkeit: Studien zur Soziabilität in Deutschland 1500–1900
 3515094032, 9783515094030

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Wolfgang Hardtwig Macht, Emotion und Geselligkeit

Wolfgang Hardtwig

Macht, Emotion und Geselligkeit Studien zur Soziabilität in Deutschland 1500–1900

Franz Steiner Verlag Stuttgart 2009

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. ISBN 978-3-515-09403-0

Jede Verwertung des Werkes außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Übersetzung, Nachdruck, Mikroverfilmung oder vergleichbare Verfahren sowie für die Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen. © 2009 Franz Steiner Verlag, Stuttgart Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier Druck: Printservice Decker & Bokor, Bad Tölz Printed in Germany

INHALT Vorwort ..............................................................................................................

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Einleitung ...........................................................................................................

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1. „Genossenschaft“ in der deutschen Geschichte. Wirtschafts- und Lebensformen .............................................................................................. 13 2. Emotion und Disziplin. Sozialverhalten und Wertewandel der jugendlichen Bildungsschicht im Übergang zur bürgerlichen Gesellschaft (17.–19. Jahrhundert) .................................................................................. 33 3. Einsamkeit und Freundschaft. Die Lebensführungsart der jugendlichen Bildungsschicht 1750 bis 1819 ................................................................... 63 4. Eliteanspruch und Geheimnis in den Geheimgesellschaften des 18. Jahrhunderts .......................................................................................... 85 5. Die Lebensbilanz eines verhinderten Umstürzlers: Adolph Freiherr von Knigges Werk „Über den Umgang mit Menschen“ .................................... 103 6. Studentischer Protest, ziviler Ungehorsam und ‚Bewegungspartei‘ in Deutschland 1815–1833 .......................................................................... 109 7. Verein, Gesellschaft, Geheimgesellschaft, Assoziation, Genossenschaft. Geschichtliche Grundbegriffe ..................................................................... 139 8. Strukturmerkmale und Entwicklungstendenzen des Vereinswesens in Deutschland 1789–1848 .............................................................................. 181 9. ‚Arbeiterschaft‘ – ‚Genossenschaft‘ – ‚Gewerkverein‘ – ‚Gewerkschaft‘. Zur Begriffsgeschichte der deutschen Gewerkschaftsbewegung 1862–1877 .......................................................... 215 Verzeichnis der ersten Druckorte ....................................................................... 233

VORWORT Der hier vorgelegte Sammelband vereinigt Studien aus den Jahren 1984–2008. Chronologisch liegt ihr Schwerpunkt zwischen der Mitte des 18. und der Mitte des 19. Jahrhunderts. In drei Aufsätzen wird bis ins 16. Jahrhundert zurück bzw. bis zur unmittelbaren Gegenwart vorausgegriffen. Die Aufsätze verbinden Fragestellungen der Sozial- und Kulturgeschichte, der Mentalitäts- und Begriffsgeschichte mit solchen der politischen Geschichte im engeren Sinn. Zu manchen der angeschnittenen Aspekte – insbesondere zum politischen Vereinswesen im Vormärz – sind seit der Erstpublikation ergiebige Studien erschienen. Da sie die hier getroffenen Aussagen – soweit ich sehe – nirgends grundsätzlich in Frage stellen, wurde auf eine Überarbeitung von Text und Anmerkungen verzichtet. In zwei Fällen (Nr. 2 und 3) habe ich den ursprünglichen Titel etwas, in einem Fall (Nr. 6) vollständig geändert, um die Fragestellung deutlicher zu machen oder auch zuzuspitzen. Bei Nr. 1 wurde die Vortragsform, bei Nr. 5 die Form eines Zeitungsartikels beibehalten. Dem Steiner Verlag danke ich für seine Bereitschaft, diese Aufsätze neu zu publizieren. Dank schulde ich weiterhin Kerstin Brudnachowski und Sinje Ewert für die Herstellung des Manuskripts und Teresa Dapp und Birgit Lulay für die Fahnenkorrekturen. Berlin

Frühjahr 2009

EINLEITUNG Wolfgang Hardtwig Forschungen zur Soziabilität sind in Deutschland nicht sehr zahlreich. Allerdings gab es in den 1970/80er Jahren eine Welle von Forschungen zu den aufklärerischen Sozietäten und zur Entstehung der bürgerlichen und unterbürgerlichen Vereinskultur im 19. Jahrhundert. Damit sollte eine Gesellungsform der entstehenden bürgerlichen Gesellschaft erschlossen werden, die sich seit den 1830er Jahren zunächst zögernd, seit den 1860er Jahren rapide in die Arbeiterschaft ausdehnte und im übrigen in unterschiedlichen Formen schon im 18. Jahrhundert Teile des Adels integriert hatte. Die Stoßrichtung dieser Fragestellung zielte darauf ab, Elemente zunehmenden bürgerlichen Selbstbewusstseins und bürgerlicher Selbstorganisation zu erschließen. Es ging darum, die Verdichtung und wachsende Hochschätzung von Geselligkeit, die neuen Kommunikationsformen und die Ausbreitung und Intensivierung bestimmter kultureller Praktiken wie des Lesens und des Diskutierens und ihre Einbindung in die Geselligkeit zu erfassen, das Bedürfnis nach und die Teilhabe an technischem Fortschritt, wissenschaftlicher Erkenntnis und Kunstgenuss zu rekonstruieren. Dabei wurde auch der Differenzierung ebenso wie der Vernetzung der verschiedenen Gruppen des Bürgertums, aber auch von Bürgertum und Adel, sowie der zunehmenden Aneignung dieser Organisationsform durch die aufstrebende Arbeiterschaft nachgegangen. Schließlich ging es um die sehr komplexen Vorgänge einer allmählichen, vielfach retardierten, an unterschiedliche lokale und territorialstaatliche Bedingungen geknüpfte und vom sozioökonomischen Wandel abhängige Politisierung der entstehenden Staatsbürgerschaften im Verein und durch den Verein. Dieser Fragestellung sind auch die hier gesammelten Aufsätze und Vorträge aus den Jahren 1984-2008 verpflichtet. Sie erweitern den skizzierten Fragehorizont aber vor allem um drei leitende Gesichtspunkte. Zu nennen sind: 1. Die chronologische Tiefenerstreckung. Gewiss sind das Gründen von Vereinen und das Mitwirken am Vereinsleben zunächst primär bürgerliche Praktiken, die sich in der Emanzipation des Bürgertums von den Strukturen der feudalen Gesellschaft und der absolutistischer Herrschaft herausgebildet, verbreitet und ausdifferenziert haben. Aber die Schärfe der Kontinuitätsbrüche durch Spätaufklärung und Revolutionszeitalter wird – so massiv und unbestreitbar sie ist – gern überzeichnet. Das kontrastive Denken in Polaritäten – Alteuropa versus Moderne Welt, Korporation versus Assoziation, Gemeinschaft versus Individualität u.ä. – das einem tiefsitzenden gedanklichen Ordnungsbedürfnis entspringt – bevorzugt notwendigerweise die klaren Abgrenzungen gegenüber Mischformen, fließenden Übergängen, Über-

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Einleitung

lagerungen und Kombinationen von Alt und Neu. Gefördert wird es durch die zunehmende Arbeitsteilung in der Geschichtswissenschaft, die notwendigerweise vielfach zur Unkenntnis der weiten Welt außerhalb des jeweiligen Spezialgebietes führt. Der oft auch historisch-politisch in einem emphatischen Verhältnis zur Moderne gegründete Konsens über die Alterität des Lebens in den Jahrhunderten vor dem Revolutionszeitalter gegenüber allem Späteren trägt zu einem solchen Schematismus bei. Demgegenüber arbeiten einige der hier vorgelegten Aufsätze zum Teil tiefreichende Kontinuitätslinien zwischen der der Frühneuzeit und dem 19. Jahrhundert heraus. Dazu gehört zum Beispiel die genossenschaftliche Organisations- und Lebensweise, die im Handwerk bis in die Hochindustrialisierung hinein verwurzelt blieb und – angepasst an die Bedingungen der liberalisierten bürgerlichen Gesellschaft – bis heute ein wesentliches Instrument handwerklicher und agrarischer Betriebs- und Vertriebsorganisation geblieben ist. Dazu gehört auch die Prägekraft der handwerklich-genossenschaftlichen Verhaltens-, Denk- und Sprechweisen noch in der Emanzipationsbewegung sozialdemokratisch-gewerkschaftlicher Vereine gegen die bürgerlich-liberaldemokratische Hegemonie in der Vereinskultur der 1860er Jahre. Schließlich gehört dazu die Mentalitäts- und Verhaltensprägung der bürgerlich-aristokratischen, akademisch gebildeten Führungsschicht durch ein studentisches Verbindungswesen, das frühneuzeitliche Traditionen bis über die Mitte des 20. Jahrhunderts hinaus weiterführte. 2. Der Wandel der Gefühlskultur. Korporations-, Sozietäts- und Vereinswesen sind Handlungs- und Kommunikationsräume, die – außerhalb der Familie, aber auch in enger Wechselwirkung mit ihr – die Entstehung der modernen Gefühlskultur wesentlich beeinflusst haben. In Teilen des studentischen Verbindungswesens fand die mit der aufklärerischen Vernunfthochschätzung wie die Rückseite einer Medaille verbundene Forderung nach Vertiefung, Differenzierung und Reflexion der individuellen Emotionalität Resonanz und ein Übungsfeld, auf dem ein neuer bürgerlicharistokratischer Tugendkanon nicht nur verkündet und diskutiert, sondern auch praktiziert werden konnte. Er verschmolz ein älteres, noch ständisch-genossenschaftliches Solidarverhalten mit der Internalisierung von Disziplinierungsanforderungen und einem individualisierten Konzept von Freundschaft, das persönliche Wahl, gefühlsmäßige Nähe, Gleichklang von Empfindungs- und Reaktionsweisen mit einem neuartig-persönlichen Verständnis von Bildung verband. Das Reden über Gefühle und die gegenseitige Versicherung gefühlsmäßiger Nähe wurden üblich und in einen Begründungszusammenhang mit Leistungspostulaten und gesellschaftlichen Führungsansprüchen – also mit Macht – gebracht. Emotionalität muss diszipliniert werden – so die Forderung –, aber in ihrer disziplinierten Form steigert sie auch die Ausstrahlung, die gesellschaftliche Akzeptanz und die Leistungsfähigkeit des einzelnen. Sie fördert die individuelle Handlungsmotivation, die Bereitschaft und Fähigkeit, Verantwortung zu übernehmen, die Fähigkeit zu sozialem Verhalten und zu „vernünftigem“, das heißt kommunizierbarem Konfliktaustrag. Zwei der hier vorgelegten Aufsätze arbeiten diese neuartige Formung der eigenen

Einleitung

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Emotionalität und die mit ihr verbundene Dialektik von Innerlichkeit und gesellschaftlichem Führungsanspruch heraus. 3. Die Aussagekraft der politisch-sozialen Sprache. Der umfangreichste der hier wieder abgedruckten Aufsätze „Verein, Gesellschaft, Geheimgesellschaft, Assoziation, Genossenschaft. Geschichtliche Grundbegriffe“ wurde zuerst in dem von Otto Brunner, Werner Conze und Reinhart Koselleck konzipierten und herausgegebenen „Lexikon“ der politisch-sozialen Sprache in Deutschland publiziert. Die begriffsgeschichtliche Methode bewährt sich nicht nur bei den Großbegriffen der politischen Theorie wie „Gesellschaft“, „Staat“, „Revolution“, sondern auch bei Termini, die heute so selbstverständlich – und also im Hinblick auf Theoriebildung unergiebig – geworden sind wie „Verein“ oder „Gewerkschaft“. „Verein“ stieg im frühen 19. Jahrhundert zum Fahnenwort der liberalen und demokratischen Theorie auf, in dessen Kontext die großen Themen der Zeit abgehandelt wurden: die Politisierung der Gesellschaft; die Emotionalisierung des Politischen unter kosmopolitischem wie nationalem Vorzeichen; die Pluralisierung der politischen Gesellschaft und ihre Aufspaltung in Parteien und Interessen; ständische und klassenpolitische Vergemeinschaftung; das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft/Gemeinschaft/Staat; das Verhältnis von Privatheit und Öffentlichkeit; die föderativen Strukturen gesamtdeutscher Staatlichkeit; der deutsche „Nationalcharakter“ u.a.m. Allerdings kommt die Vielschichtigkeit und nahezu Allbezüglichkeit dieser Semantik nur in den Blick, wenn das Netzwerk der Referenzbegriffe von „Verein“ – „Gesellschaft“, „Sozietät“, „Assoziation“, „Genossenschaft“, „Gewerkschaft“ – untersucht wird. Das Tertium comperationis dieser Begriffe ist immer der Anspruch auf Selbstbestimmtheit, Partizipation an der Macht und also auch Teilung und Kontrolle von Macht – verbunden mit dem Bedürfnis nach Gemeinschaftlichkeit und Zusammenhalt. Der Gebrauch dieser Termini in der großen Theorie und Poesie von Friedrich Schiller über Marx/Engels bis zu Lorenz von Stein und Otto von Gierke schlägt die Brücke von den Bedürfnissen und Gesellungsformen der Privatleute und den Korporationen als juristischen Personen, die in der neu entstehenden Öffentlichkeit agieren, zu den politischen Parteien und zum Staat als Körperschaft. Unter den Stichworten „Assoziation“, „Sozietät“, „Verein“ etc. diskutierten die Mitglieder der entstehenden bürgerlich-industriellen Gesellschaft, welche Regeln für ihr Zusammenleben in den kleinen privaten Kreisen wie in den politischen Organisationen im Staat gelten sollten, wo die Grenzen zwischen Privatheit und Öffentlichkeit gezogen und ob und wieweit soziale Hierarchien und Machtstrukturen staatlicher Herrschaft durch sie korrigiert und transformiert werden könnten und sollten. Das genannte Begriffsnetz war offen für liberale und demokratische, aber auch für sozialistische und konservative Besetzungen und demonstriert damit Grenzziehungen und unterschiedliche Interessen- und Ideenformierungen ebenso wie Felder semantischer Konsensbildung, die dazu beitrugen, die in ihren Binnenstrukturen sich pluralisierende nationale Gesellschaft zusammenzuhalten. Immer geht es dabei um das Verhältnis von Zwang und Selbstbestimmtheit. Die Karriere dieser Begriffe endete in dem Moment, als die in ihnen artikulierten Wünsche und Forderungen nach Selbstbestimmtheit und Machtteilhabe selbstver-

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Einleitung

ständlich zu werden begannen und in Gesetze fixiert wurden, die – mit kleineren Modifikationen – bis heute gültig sind. Die Formen, in denen im 18. und 19. Jahrhundert um Selbstbestimmtheit gerungen wurde, sind heute nicht mehr umkämpft. Die Problemstellung aber: die Definition von Selbstbestimmtheit, ihre Möglichkeiten und Grenzen im politisch-gesellschaftlichen und kulturellen Ganzen, sind so aktuell wie im 18. und 19. Jahrhundert.

1. „GENOSSENSCHAFT“ IN DER DEUTSCHEN GESCHICHTE. WIRTSCHAFTS- UND LEBENSFORMEN1 Im Folgenden sollen die genossenschaftlichen Wirtschaftsweisen und Lebensformen in rund 1.000 Jahren deutscher Geschichte skizziert werden. Das kann natürlich nicht abgehen ohne Verallgemeinerungen, denen der Historiker grundsätzlich misstrauisch gegenübersteht, und auch nicht ohne Weglassungen und Verkürzungen. Gerade bei einem so weitgespannten Thema ist es jedoch notwendig, sich zu konzentrieren. Ich werde daher beginnen mit einigen definitorischen Überlegungen, die zeigen sollen, dass die Begriffe und Modelle, die wir heute verwenden, alles andere als naturwüchsig sind und dass das Prinzip der genossenschaftlichen Personenverbindung über rund 800 Jahre hinweg den Gesellschaftsaufbau und seine kulturellen Ausformungen weit über das reine Wirtschaftsprinzip von Genossenschaft hinaus prägte. In einem zweiten, umfangreichen Abschnitt sollen dann Entstehung, Entwicklung, Ordnungsprinzipien, Funktionen sowie einige wichtige Spielarten und Anwendungsfelder des genossenschaftlichen Prinzips im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit dargestellt werden. Drittens untersuche ich die Krise, aber auch die Kontinuitäten genossenschaftlicher Organisationsweise im Übergang von der Alten Welt zur Moderne, bevor im vierten und letzten Teil die modernen genossenschaftlichen Bewegungen auf dem Land und in der Stadt, die sich in Deutschland vor allem mit den Namen Wilhelm Raiffeisen, Hermann Schulze-Delitzsch und Ferdinand Lassalle verbinden, angeschnitten werden sollen. 1

Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um einen Vortrag, der im Rahmen der XVI. Internationalen Genossenschaftswissenschaftlichen Tagung an der Universität in Köln am 7. 10. 2008 gehalten wurde. Erstabdruck in: Hans Jürgen Rösner/Frank Schulz-Nieswandt (Hg.): Beiträge genossenschaftlicher Selbsthilfe zur wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung, LIT-Verlag, August 2009. Die Vortragsform ist beibehalten. Auf Einzelnachweise wurde verzichtet. Zugrundegelegt sind u.a.: Otto von Gierke, Das deutsche Genossenschaftsrecht, 4 Bde., 1868–1913, ND Graz 1954; Wolfgang Hardtwig, Genossenschaft, Sekte, Verein in Deutschland. Vom Spätmittelalter bis zur Französischen Revolution, München 1997; ders., Verein, Gesellschaft, Geheimgesellschaft, Assoziation, Genossenschaft. Geschichtliche Grundbegriffe, in diesem Band, S. 139–180; Helmut Faust, Geschichte der Genossenschaftsbewegung. Ursprung und Aufbruch der Genossenschaftsbewegung in England, Frankreich und Deutschland, sowie ihre weitere Entwicklung im deutschen Sprachraum, 3. überarb. u. stark erweiterte Aufl. Frankfurt a.M. 1977; Otto Gerhard Oexle, Die mittelalterlichen Gilden. Ihre Selbstdeutung und ihr Beitrag zur Formung sozialer Strukturen, in: Albert Zimmermann (Hg.), Soziale Ordnungen im Selbstverständnis des Mittelalters, 1. Halbbd. Berlin, New York 1979, S. 203–226; Otto Gerhard Oexle, Die mittelalterliche Zunft als Forschungsproblem. Ein Beitrag zur Wissenschaftsgeschichte der Moderne, in: Blätter für deutsche Landesgeschichte 118, 1982, S. 1–44; Wilfried Reininghaus, Die Entstehung der Gesellengilden im Spätmittelalter, Wiesbaden 1981; Ludwig Remling, Bruderschaften in Franken. Kirchen- und sozialgeschichtliche Untersuchungen zum spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Bruderschaftswesen, Würzburg 1986.

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1. Genossenschaft in der deutschen Geschichte

I Die gesellschaftliche Ordnung im Alten Reich war geprägt durch das Mit- und Gegeneinander zweier Ordnungsprinzipien: des herrschaftlichen und des genossenschaftlichen. Herrschaft hieß Unterwerfung und Anstaltlichkeit, Genossenschaft hingegen Kooperation und grundsätzliche Gleichheit. Da alle gesellschaftliche Ordnung im Alten Reich ständisch geschichtet war, konnte grundsätzliche Gleichheit nur Gleichheit der Standesgenossen heißen. Innerhalb der Ständeordnung aber schuf die Genossenschaft eine horizontale Sozialbeziehung, im Gegensatz zur herrschaftlichen Über- und Unterordnung. Diese Gegenüberstellung ist allerdings idealtypisch. In der Realität konnten Träger von Herrschaft genossenschaftliche Beziehungen ebenso eingehen wie Genossenschaften von herrschaftlichen Bezügen durchdrungen werden. Seit dem 19. Jahrhundert fasst man in der Rechtssprache alle auf genossenschaftlicher Grundlage aufgebauten Sozialgebilde unter dem Terminus „Korporation“ zusammen. Korporation heißt eine Gesamtheit von Personen, deren Mitglieder sich zu einem gemeinsamen Zweck vereinigt haben und selbständig rechtsfähig sind, zum Beispiel eine Gemeinde, eine Universität, eine Gilde oder eine Zunft. Der Terminus „juristische Person“ war der Rechtssprache bis zum Ende des 18. Jahrhunderts noch unbekannt. Zur Benennung der eigenen rechtlichen Handlungsfähigkeit bediente man sich bis dahin einer Reihe von Begriffen, die in der Korporationslehre bereits seit dem 13. Jahrhundert entwickelt worden waren, wie etwa „persona ficta, mystica oder imaginaria“, und bezeichnete damit die einheitliche Rechtspersönlichkeit der korporativen Personengemeinschaft. Ein Existenzrecht hatte die Korporation dieser über fünf bis sechs Jahrhunderte hinweg immer intensiver ausgearbeiteten Lehre zufolge nur mit staatlicher Genehmigung. Seit der Verdichtung von Staatlichkeit im späten Mittelalter nahmen städtische und staatliche Obrigkeiten immer stärker das Recht in Anspruch, Korporationen aller Art zu kontrollieren und ihnen missfällige Korporationen ganz aufzuheben oder zu verbieten. Nach deutschrechtlichen Grundsätzen waren „Privatversammlungen bzw. - organisationen“ allerdings – soweit diese Begriffe hier überhaupt anwendbar sind – im Mittelalter zulässig und nicht weiter beschränkt. Mittelalterliche Landrechte kannten daher auch keine obrigkeitliche Bestätigung von Korporationen. Förmliche Versammlungs- und Vereinigungsverbote kamen erst an der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert auf, als die Landesherren sich zum Ausbau ihrer Herrschaft zunehmend römisch-rechtlicher Elemente bedienten. Das grundlegende Modell, das dann vom späten Mittelalter bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts das Recht von Korporationen bzw. Privatgesellschaften prägte, geht auf die Lex Julia des Kaisers Augustus zurück, hatte also eine – allerdings unterschiedlich intensive – Geltungsdauer von knapp 2.000 Jahren. Es unterschied „collegia“ bzw. „universitates licita“ und „illicita“. Eine Vereinigung bedurfte demnach, um bestehen zu können, einer obrigkeitlichen Genehmigung – oder sie war „illicitum“ und somit aufzulösen. Im Bewusstsein der Obrigkeiten und ihrer Verwaltungen verknüpften sich – gefördert durch die genossenschaftlich-religiösen Unruhen der Reformation, insbesondere

1. Genossenschaft in der deutschen Geschichte

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der Bauern, der städtischen Unterschichten und des Adels – Versammlungen und Zusammenschlüsse von Landes- und Stadtbewohnern aus eigener Initiative – oder gar mit dem Anspruch, aus eigenem Recht zu handeln – mit dem Verdacht von Aufruhr und Empörung. Die erlaubten „universitates“, „collegia“ und zunehmend auch „societates“ bezeichneten dagegen die korporativ-genossenschaftlichen Gebilde wie Stadt- und Dorfgemeinschaft, Zunft und Gilde, aber auch Landstände, Ritterorden und Universitäten, Bruderschaften, geistliche und kirchliche Stiftungen. Dass man seit dem 19. Jahrhundert alle diese auf genossenschaftlicher Gemeinschaftsbildung beruhenden Einrichtungen unter dem Begriff „Korporation“ zusammenfasst, ist wesentlich das Ergebnis des Meinungskampfes um Nutzen und Nachteil der Zünfte, die als Inbegriff genossenschaftlicher Wirtschaftsweise in der Alten Welt gelten können. Jetzt entstand zudem die begriffliche Gegenüberstellung von „Korporation und Assoziation“. Der „Korporation“ als dem umfassenden „Lebensverband“, in den man hineingeboren wird und der alle Lebensbereiche integriert, trat die „Assoziation“ gegenüber als Bezeichnung für Vereinigungen, die sich auf partikulare Zwecke wie etwa reine Geselligkeit, Geschichts- oder Naturkunde u. ä. konzentrieren, in die man autonom eintreten bzw. wieder austreten kann und die daher insgesamt als Ausdruck der spezifisch modernen Individualität gilt. Im 18. Jahrhundert wurde sie vor allem als „Privatgesellschaft“ oder „Gesellschaft“ oder „Sozietät“ bezeichnet. Diese Unterscheidung ist allerdings wiederum idealtypisch. Für unser historisches Bildungswissen verkörpern sich diese Idealtypen am prägnantesten in der mittelalterlichen Zunft einerseits und im modernen Verein andererseits. In seinem grundlegenden Werk über „Das deutsche Genossenschaftsrecht“, das seit 1868 in vier Bänden erschien, durchbrach der Jurist und Rechtshistoriker Otto von Gierke diese allzu schematische Polarität von „Assoziation“ und „Korporation“ und verband Merkmale beider Typen in seinem Begriff der „freien Einung“. Er verstand darunter Personenverbindungen, die freiwillig eingegangen werden, zugleich aber mit ihren Zwecken und Funktionen alle Lebensbereiche umgreifen. Der mittelalterliche Sprachgebrauch versteht unter „Einung“ eine Übereinkunft, einen Vertrag, ein Bündnis, in einem präzisierten Wortsinn eine durch einen Eid beschworene Gemeinschaft. Die „geschworenen Einungen“ des Mittelalters beruhten auf einem Kontraktverhältnis zwischen einzelnen Rechtssubjekten, die auf dem Weg der „Willkür“ selbst Recht setzten, das dann für alle Mitglieder ihres Kreises gelten sollte. So entstand ein Sonderrecht, das sich in einer eigenen Satzung konkretisierte und sich in eigener Gerichtsbarkeit realisierte, die vor allem der Friedewahrung zwischen den Mitgliedern dienen, aber auch die Solidarität der Mitglieder gegenüber Dritten sichern sollte. Der aus dem zeitgenössischen Sprachgebrauch heraus konzipierte historische Begriff der „freien Einung“ ermöglichte es, strukturelle Gemeinsamkeiten zwischen dem umfassenden mittelalterlichen Lebensverband und der modernen Assoziation in den Blick zu nehmen. Korporationen ebenso wie später die Sozietäten entstanden im wesentlichen im Sozialraum der Stadt. Sie setzten die Verdichtung von Wohnen, Verkehr und Kommunikation, die Funktionsvielfalt und erhöhte Arbeitsteiligkeit der städtischen Gesellschaft, insgesamt also urbane Lebensformen, aber auch die Verfassungsstruktur der Stadtgemeinde vor-

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1. Genossenschaft in der deutschen Geschichte

aus. Diese hat sich zwischen dem Anfang des 11. und der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts ausgebildet und wies selbst den Charakter einer einungsrechtlichen Genossenschaft auf. So konnte sich im Hochmittelalter das Prinzip der freien Personenverbindung auf der Grundlage der einungsrechtlich-genossenschaftlichen Bürgergemeinde breit entfalten. Der Begriff der „Genossenschaft“ selbst ist bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts eher selten, er bezeichnet allenfalls „Gemeinschaft im Stande“ und beginnt seine moderne Karriere erst in den 1840er Jahren zunächst als Kampfbegriff deutschrechtlicher liberaler Juristen gegen das, was sie das „Juristenrecht“ des absolutistischen, freiheitsfeindlichen Anstaltsstaates nannten. II Seit dem späten 8. Jahrhundert bereits sind Personenverbände belegt, die die Unterstützung ihrer Mitglieder in Notlagen organisierten und auf einem gegenseitig geleisteten Eid beruhten. Anfangs handelte es sich um Klerikergilden. Laiengilden, zunächst als Verbindungen von Kaufleuten, entstanden seit dem 11. Jahrhundert. Seit dem Ende des 12. Jahrhunderts ging der Gildename auf gewerbliche Berufsgenossenschaften über, vor allem auf die Zunft. Eine scharfe Trennung zwischen Gilde und Zunft ist im Hoch- und Spätmittelalter begrifflich nicht möglich, die Berufsgenossenschaften der Handwerker konnten „Gilde“, „Zunft“, „Zeche“ oder „Innung“ heißen. Gründungsakt, Rechtsstellung, organisatorische Struktur und Zwecke waren im wesentlichen identisch. Die Mitglieder verpflichteten sich im Eid, sich gegenseitig in Notlagen aller Art zu unterstützen, bei den Kaufmannsgilden vor allem in Fällen von Raub, Duell, Brand oder Schiffbruch fern der Heimat, generell aber auch bei Krankheit und Verarmung. Diese Unterstützungspflicht konnte sich zu mehr oder weniger ausgeprägten Formen der „caritas“ – übrigens auch gegenüber Nichtmitgliedern – steigern. Gilde und Zunft setzten die Rechtsgleichheit der Mitglieder voraus, damit aber auch eine prinzipielle Gleichheit von Rang und – damals sehr wichtig – Ehre, sowie eine gewisse, wenn auch nicht strikte, Gleichheit des Vermögens. Der Verband zielte darauf, die Stärkeren nicht noch stärker und die Schwächeren nicht noch schwächer werden zu lassen. Die Mitgliederversammlung wählte den Vorstand für eine befristete Amtszeit und fasste gemeinsam die Beschlüsse. Gilde und Zunft entfalteten ein intensives Verbandsleben, das die Alltagswirklichkeit der Mitglieder weithin prägte, vor allem mit dem „convivium“, dem „Gildemahl“, das lange kultischen Charakter trug. Das gemeinsame Essen und Trinken schuf und bewahrte Nähe und Vertrautheit und bekräftigte immer neu die Gemeinschaft. Das Verbandsleben übte auch die gemeinschaftlichen, speziellen Verhaltensregeln ein und sicherte die Beachtung der gruppenkonstituierenden Gemeinschaftswerte – eine, wie man heute sagen würde, frühe bürgerliche Sozialisation. Zumindest bis zum Ende des 13. Jahrhunderts hatten die Kaufmanns- und Handwerkerverbände auch eine deutlich religiöse Prägung. Ganz selbstverständlich konnten die Verbände daher auch „fraternitas“, „confraternitas“ oder „Bruder-

1. Genossenschaft in der deutschen Geschichte

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schaft“ heißen. In seinen Ursprüngen kam dem Akt des Eides sakrale Bedeutung zu, ebenso wie dem Mahl und der für den Gruppenzusammenhang grundlegenden Totenmemoria. Arbeit, Religion und Geselligkeit gehörten im mittelalterlichen Gemeinschaftsleben zusammen. Bruderschaft und Brüderlichkeit waren von jeher herrschaftsfremde oder herrschaftsfeindliche Konzepte und Begriffe. Die bruderschaftliche Gemeinschaftsbildung entsprach auch der gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und beruflichen Differenzierung, die im 11. und 12. Jahrhundert Platz griff. Dieser Differenzierungsprozess steht auch hinter der Gründung der genossenschaftlichen Selbsthilfevereinigungen der Handwerksgesellen, der sogenannten „Gesellenbruderschaften“. Im Reich entstanden sie seit den 1330er Jahren, als die Handwerksgesellen auf Grund demographischer und ökonomischer Voraussetzungen mehr Freiheiten und eigene Handlungsspielräume gewannen und die Sitte des Gesellenwanderns, die sich seit dem 14. Jahrhundert ausbreitete und seit dem 16. Jahrhundert obligatorisch wurde, nach gildehaften Selbsthilfeorganisationen verlangte. Auch hier regelten Ordnungen die bruderschaftlichen Normen und Aktivitäten, vielfach legten sie ausdrücklich einen Beitrittszwang fest, der aber nicht immer verbindlich gewesen ist, und auch hier verschmolzen Interessen der Arbeitsorganisation, religiöse Bedürfnisse und der Wunsch nach Geselligkeit. Gesellenbruderschaften boten in einer Welt voller Bedrohungen Unterstützung, sie vermittelten Arbeit und halfen in Konfliktfällen mit der Obrigkeit und den zünftischen Meistern. Vielfach veranstalteten sie gemeinsame Gottesdienste an bestimmten Festtagen, sorgten für die Bestattung der Verstorbenen und das geistliche Gedächtnis und ermöglichten den Gesellen, in der städtischen Öffentlichkeit gemeinschaftlich aufzutreten. Sie begleiteten den beruflichen Werdegang mit einer ritualisierten Geselligkeit, etwa dem zeremoniellen Öffnen der Gesellenlade, dem Ansagen des Handwerksbrauchs, der „Beutelung“ bei Ausbrüchen aus der Solidarität, Spotttaufe u.ä. Mit dieser Funktionsvielfalt erhob sich dann allerdings auch sehr bald die Frage nach der Rechtsstellung der Bruderschaften. Seit etwa 1390 verboten die Stadträte die Gesellentrinkstuben bzw. die ihnen zugrundeliegenden Gesellschaften. Das erklärt sich aus der strengen ständischen Hierarchie im Sozialgefüge der Stadt. Selbst bürgerlich-zünftische Trinkstuben oder Zunfthäuser entstanden erst etwa seit der Mitte des 14. Jahrhunderts, nachdem bis dahin nur patrizische Familien und Fraktionen Stubengesellschaften hatten bilden dürfen. Nachdem die städtischen Instanzen in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts erfolgreich die Autonomie der Zünfte eingeschränkt hatten, gingen sie auch verstärkt gegen die Bruderschaften vor, da sie in den selbständigen, häufigen und unkontrollierten Zusammenkünften der Gesellen eine Einschränkung ihrer obrigkeitlichen Stellung vermuteten und immer und überall auf der Hut waren vor allem, was der Zusammenrottung und mithin der Konspiration verdächtig schien. Die rechtliche Situation der Bruderschaften blieb bis zu ihrem endgültigen Verschwinden bei der Aufhebung der Zunftverfassung zu Beginn des 19. Jahrhunderts letztlich ungeklärt. Die Gesellenverbände behaupteten sich aber ohne Rechtssicherheit, das Ausmaß der Duldung hing jeweils von örtlichen Voraussetzungen und konkreten Vorkommnissen ab. Zunft und Gesellenbru-

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derschaft kooperierten im 16., 17. und frühen 18. Jahrhundert noch vielfach. Für Hessen-Kassel zum Beispiel wurde nachgewiesen, dass noch Anfang der 1730er Jahre die Meister auf Seiten der Gesellen gegen die Stadtobrigkeit Stellung bezogen. Am Ende des Jahrhunderts verschlechterte sich das Verhältnis im Zeichen der Trennung von Kapitaleignern und Lohnarbeitern. Die städtischen Magistrate und staatlichen Behörden aber traten den Bruderschaften mit Misstrauen gegenüber. Sie duldeten meist ihre Existenz, suchten ihren Freiraum aber nach Möglichkeit einzuschränken. Sie unterwarfen sie vor allem im 18. Jahrhundert ihrer Sozialdisziplinierungsabsicht und bekämpften jeden erkennbaren Ansatz überlokaler Verflechtung und Kommunikation. Daher führten die Bruderschaften mitunter ein verborgenes Dasein, bis nach dem Aufstand der Augsburger Schuhknechte 1726 die „Reichshandwerksordnung“ von 1731 „Koalitionen“ generell verbot und sich das Klima für die Bruderschaften überall, wenn auch von Territorium zu Territorium unterschiedlich intensiv, verschlechterte. Diese zunehmenden Spannungen mündeten schließlich in den 1790er Jahren in eine ganze Serie von Gesellenaufständen: so in dem Mainzer Gesellenaufstand vom September 1790, dem Bremer Aufstand von 1791, dem Hamburger vom August 1791, den Rostockern von 1791 und 1795, dem Berliner vom Mai 1795, dem Frankfurter vom Juni 1798. Der bedeutendste war der Breslauer Gesellenaufstand Ende April 1793. Seine Ursachen sind endogener Natur, Einflüsse der Französischen Revolution lassen sich kaum nachweisen. In Breslau setzte ein vergleichsweise geringfügiger Anlass – ein Schneidergeselle hatte neue Arbeit angenommen, ohne zuvor bei seinem Meister zu kündigen – eine Kette von Solidarisierungen der Gesellen einerseits, sowie scharfe und provozierende Aktionen der Meister, der Stadtobrigkeit und schließlich des Militärs andererseits in Gang. Im Kern ging es darum, die „Ehre“ der Bruderschaften, d.h. ihre Autonomie, zu wahren. Nicht die Lohnfrage stand im Vordergrund, sondern die Erhaltung der Korporation. Noch einmal erreichte also die Solidarisierung unter den Gesellen einen Höhepunkt. Die Aufstandswelle konnte aber nicht verhindern, dass die Gesellen-Bruderschaften nach der Jahrhundertwende in Preußen wie auch andernorts aufgelöst wurden. Seit dem 13. Jahrhundert versteht man unter „Bruderschaften“, „fraternitates“ aber auch einen eigenen Typus von Personenvereinigungen, der, wie ursprünglich die Gilde und die Zunft, freiwillig und auf Dauer angelegt war, jedoch religiöse und karitative Aktivitäten in den Vordergrund stellte und dem man bis heute viel zu wenig Beachtung geschenkt hat. In ihm fand die religiöse Laienbewegung des Spätmittelalters ihre charakteristische Form. Dieses vielfach hierarchie- und kirchenkritische, manchmal auch ausdrücklich antiklerikale religiöse Heilsverlangen schlug sich bezeichnenderweise in einer ausdrücklich genossenschaftlichen Vergesellschaftung nieder. Die Bruderschaften standen von Anfang an in einem gewissen Spannungsverhältnis zur Kirche, zum höheren Klerus, teilweise auch zum Pfarrklerus. Bis zur Gegenreformation stellten die Bruderschaften auch nicht kirchliche, sondern – sofern der Ausdruck für die vormoderne Zeit Sinn macht – „private“ Vereinigungen dar, die der offiziellen Seelsorgestruktur in gewisser Weise alternativ gegenübertraten und daher auch Misstrauen auf Seiten des höheren Klerus auslösten. Das Prinzip der Bruderschaft erwies sich als außerordentlich vielseitig und

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plastisch. Die genossenschaftliche Gemeinschaftsform ermöglichte es, dass spirituelle und außerspirituelle, aber immer gemeinschaftsbezogene Bedürfnisse die verschiedensten Legierungen eingingen. Zu unterscheiden sind etwa die Andachtsbruderschaften – mit den Sondertypen der Wallfahrtsbruderschaft und der katechetischen Bruderschaft – sozialkaritative Bruderschaften, Erziehungsgemeinschaften, Bildungs- und Unterrichtsgemeinschaften, asketische und devotionelle Gemeinschaften. Die Übergänge sind gleitend. Solche Bruderschaften sind also freiwillige, auf Dauer angelegte Personenvereinigungen mit primär religiösen, oft auch karitativen Aktivitäten. Als weitere Merkmale sind der Verbandscharakter, eine gewisse Festigkeit und Identität, die Anbindungen an eine Kirche oder Kapelle, die Verbindung von religiösen mit bestimmten gesellschaftlichen Funktionen und schließlich eine gewisse Eigenständigkeit mit bestimmten Statuten und eigenen Organen herausgearbeitet worden. Es gab kirchliche Bruderschaften mit ökonomischen Aufgaben wie etwa dem Bau von Kirchen oder der Bewirtung von Pilgern. Den sozial-karitativen Vereinigungen werden die Spitalbruderschaften zugerechnet, ebenso die Erzbruderschaften der Barmherzigkeit, Pilgerbruderschaften und Begräbnisbruderschaften. Zu den Bildungs- und Unterrichtsbruderschaften gehören die – seltenen – Schulbruderschaften sowie literarische Bruderschaften (fratres literati). Zu den asketischen Gemeinschaften zählen die unterschiedlichen Drittordensgemeinschaften meist von unverheirateten Frauen. Die letzte Gruppe der „devotionellen Bruderschaften“ umschließt u.a. Fronleichnamsbruderschaften, Heilig-Geist-Bruderschaften, unterschiedliche Ausprägungen von Marien-Bruderschaften und die Bruderschaften zur Verehrung von bestimmten Heiligen. Zum „Massenphänomen“ – in den mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Proportionen – weitete sich das Bruderschaftswesen erst aus, als sich nach den ersten – den Klerikerbruderschaften – die Laien dieser Organisationsform bemächtigten. Was die Dichte der Organisation angeht, so gibt es erhebliche lokale und regionale Unterschiede. In Krakau zum Beispiel, das in der Mitte des 14. Jahrhunderts 14.000 Einwohner zählte, existierten im 15. Jahrhundert nur etwa 15 Bruderschaften; im ähnlich großen Lübeck dagegen gab es im selben Zeitraum rund 70 Bruderschaften. In der Neustadt Thorn gehörten 1455 allein der Marienbruderschaft 95 Männer und 42 Witwen an. Rechnet man jeweils die Familienangehörigen und die am Bruderschaftswesen beteiligten Dienstboten hinzu, so kommt man bei einer geschätzten Gesamtzahl von 1.700 Bewohnern der Neustadt Thorn auf rund ein Drittel der Gesamtbevölkerung (500–600 Personen), die mit der Marienbruderschaft verbunden waren. In eine tiefe Krise gerieten die religiösen Bruderschaften in der Reformation. Luther sprach bereits 1519 in seiner Abhandlung „Von den Bruderschaften“ das Verdikt über sie und entzog ihnen theologisch die Grundlage, indem er in seiner Gnadenlehre das gegenseitige Fürbittgebet entwertete – also sozusagen die religiös-spirituelle Seite des genossenschaftlichen Prinzips gegenseitiger Unterstützung. Wo sich die Reformation durchsetzte, verschwanden die Bruderschaften, ihr Vermögen schlugen die kirchlich-weltlichen Obrigkeiten den öffentlichen Wohltätigkeits- und Erziehungseinrichtungen zu. In den katholischen Reichsteilen blühte

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jedoch das Bruderschaftswesen in der gegenreformatorischen Erneuerung des Glaubens wieder auf und durchdrang jetzt mit religiös-seelsorgerlichen und gesellschaftlich-kommunikativen Leistungen Städte und ländliche Gemeinden noch wesentlich breiter und intensiver als vor der Reformation. Hinzu kam, dass die Neugründungen von Bruderschaften, vor allem auch die neuen Orden der Gegenreformation und katholischen Reform – insbesondere die Jesuiten – die Bindung an die kirchliche Zentrale in Rom verstärkten und zur Vereinheitlichung des Bruderschaftswesens wesentlich beitrugen. Trotzdem verschwand die spätmittelalterliche Vielfalt der Formen nicht. Vorreformatorische Bruderschaften konstituierten sich neu oder wurden neu bestätigt. Aber im Ganzen gestalteten die Trientiner Beschlüsse des Konzils von Trient und die päpstliche Politik das Bruderschaftswesen erheblich um. Geselligkeit und soziale Aktivitäten traten zurück, der Schwerpunkt lag jetzt zunehmend bei der Frömmigkeitspraxis und der religiösen Unterweisung. Die Initiative bei Neugründungen ging weitgehend auf die Geistlichen über, die dann auch meist die Leitung übernahmen. Dies alles bedeutete, dass im Zuge der Konfessionalisierung das genossenschaftliche Element der Bruderschaften zurückgedrängt wurde und dass anstaltlich-herrschaftliche Strukturen sehr viel stärker durchdrangen als zuvor. An die Stelle der freien Laienvereinigung trat mehr und mehr der kirchlich kontrollierte Zusammenschluss der Gläubigen. Im 18. Jahrhundert schwächte sich unter dem Einfluss der Aufklärung die bruderschaftliche Verpflichtung vielfach ab. Kaiserin Maria Theresia verbot mehrfach die Neugründung bzw. Aufnahme neuer Mitglieder in Bruderschaften, ihr Sohn Joseph II. hob die Bruderschaften 1783 vollständig auf. Gleichwohl verschwanden sie nicht völlig von der Bildfläche. In der katholischen Erneuerungsbewegung seit Mitte des 19. Jahrhunderts lebten sie, jetzt noch straffer kirchlich geleitet, in großer Breite und Intensität wieder auf. Als Blütezeit des Genossenschaftsprinzips gilt das Spätmittelalter, doch schwächte sich das maßgebliche Kriterium der „freien Einung“, die Freiwilligkeit der Zugehörigkeit, bereits seit der Mitte des 13. Jahrhunderts immer stärker ab. Zünfte und Gilden verwandelten sich bald schon in Zwangsvereinigungen, aus Kaufmannsgilden und Handwerkerzünften wurden „privilegierte Korporationen“ [Gierke]. Deren Bestreben war es, ihren Mitgliedern und deren Familien ein standesgemäßes Einkommen zu sichern, den Zugang zum Beruf zu regulieren und dabei auch die qualitativen Standards des Handwerks aufrechtzuerhalten. Daher beschränkten sie die Anzahl der Meister und versuchten, die Entstehung nichtzünftiger Gewerbe in der Stadt und auf dem Land zu verhindern. Die Erhaltung und Mehrung des eigenen Privilegs trat vielfach in den Vordergrund. Dabei verschärften sich vor allem im Verlauf des 16. Jahrhunderts die Spannungen zwischen den privilegierten Handwerkern, die über „ausreichende Nahrung“ verfügten und vielfach auch zu beträchtlichem Wohlstand kamen, und verarmenden Handwerkern innerhalb und außerhalb der Zünfte. Das genossenschaftliche Prinzip stand vor der zunehmend schärferen Herausforderung, die allmählich zunehmende Differenzierung von Betriebsformen und -größen, von technologischem Fortschritt und Beharrungstendenz, von Wohlstand bzw. Armut, von subsistenz- und marktwirtschaftlicher Ausrichtung zu integrieren. Die Probleme lassen sich u.a. am schwierigeren

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Verhältnis von Obrigkeiten und Zunftmeistern zu den Gesellenbruderschaften deutlich ablesen. Um die gemeinschaftliche Sitte zu wahren und Spannungen im Schichtungsgefüge der Gesellschaft zu vermeiden, erließ der Reichstag in Regensburg mehrfach Kleiderordnungen, die ein allzu prunkvolles Auftreten der wohlhabenden Zunftmeister verhindern sollten. Die Abschließungs- und Monopolisierungspolitik der Zünfte war allerdings nur teilweise erfolgreich, ein insgesamt immer größer werdender Teil der gewerblichen Produktion kam von nicht-zünftischen Gewerbetreibenden in Stadt und Land. Die feste Regulierung der Arbeit verhinderte zudem einen wesentlichen Anstieg der Arbeitsproduktivität. Zudem wurden die Zünfte zunehmend von den regulierenden Eingriffen der städtischen und staatlichen Obrigkeit abhängig. Andererseits darf man die Beschränkung der tradierten genossenschaftlichen Selbstverwaltung auch nicht überschätzen. Der Durchgriff von Stadtobrigkeit und absolutistischem Zentralstaat auf die Selbstorganisation von Handwerkern und Kaufleuten blieb vielfach begrenzt. Nach wie vor reglementierten die Verbände das Verhalten ihrer Mitglieder nach genossenschaftlichen Grundsätzen, so die gegenseitige Unterstützungspflicht, eine umfassenden Geselligkeit als gemeinschaftsbildendes Zentrum, die Rechtsgleichheit der Mitglieder, die konstitutive Bedeutung der Mitgliederversammlung mit der periodischen Wahl des Vorstands. Früher als viele Handwerkerzünfte und Gesellenbruderschaften verloren die Kaufmannsgilden ihren umfassenden Aufgabenkreis für die Lebensgestaltung ihrer Mitglieder. Ihre Bedeutung für Recht, Gericht und Polizei ging schon im 17. Jahrhundert in dem Maß zurück, wie ein überterritorial gültiges Handelsrecht und eine stärkere überlokale Orientierung des Kaufmannsstandes Platz griffen. Die Genossenschaftsgerichte verwandelten sich in Handelsgerichte, Obrigkeiten zogen die äußere und innere Handelspolizei an sich und transformierten die kaufmännischen Körperschaften in Anstalten dieser Handelspolizei. Doch wirkte andererseits die genossenschaftliche Tradition mit einer Privilegierung der Mitglieder, eigener Gerichtsbarkeit und ständischem Selbstverständnis auch noch in den Berufsverbänden der Kaufleute im 19. Jahrhundert nach. Mit Blick auf den Freiwilligkeitsverband verbietet sich einmal mehr und hier besonders eine zu scharfe Gegenüberstellung von „alter“ und „moderner Welt“. Um es noch einmal an den religiösen Bruderschaften zu demonstrieren: Die Netze des Bruderschaftswesens hatten sich im späten Mittelalter ausgebreitet, die Reformation im altkirchlichen Raum überdauert und sie unterlagen im Prozess der katholischen Konfessionalisierung einem erheblichen Strukturwandel. Die neue herrschaftliche Durchformung der katholisch-religiösen Freiwilligkeitsgemeinschaft vollzog sich durchaus in Analogie mit dem Strukturwandel in den anderen genossenschaftlichen Sozialformen, die sich in der Frühneuzeit gehalten haben. Schließlich bewies das Bruderschaftswesen über die Krisen der Aufklärung, des Revolutionszeitalters und der Säkularisation hinweg eine erstaunliche Beharrungskraft und gliederte sich seit der katholischen Erneuerung des 19. Jahrhunderts in das moderne, dichte, wirkmächtige und für das katholische Milieu und seine außerordentliche Beharrungskraft prägende katholische Vereinswesen ein.

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III Schon im Spätmittelalter und in der Frühneuzeit entstanden auf der Basis des Genossenschaftsprinzips Gesellungsformen, welche die alteuropäische Genossenschaft den Bedingungen zunehmend differenzierter, pluralistischer, nachständischegalitärer Gesellschaften und liberal-kapitalistischen Konkurrenzwirtschaften anpasste. Die ständische Welt der frühen Neuzeit war von Anfang an nicht so geschlossen und unflexibel, wie es die liberale und demokratische Kritik seit der Aufklärung manchmal nahegelegt hat. Eine Mischform zwischen ständischer Korporation und „moderner“ Assoziation stellt zum Beispiel die „Schützengilde“, die „Schützenbruderschaft“ bzw. der Schützenverein dar. Zwischen dem 13. und 16. Jahrhundert (insbesondere zwischen 1220 und 1400) entstanden zahlreiche Schützengesellschaften in rheinischen und westfälischen Städten, in den Hansestädten, in Nürnberg u.a.. Anfangs stellten sie einen wichtigen Bestandteil der genossenschaftlichen Wehrverfassung dar, doch trat diese Funktion schon im Spätmittelalter zurück. Der Dreißigjährige Krieg stürzte sie in eine tiefe Krise, da er zeigte, dass die genossenschaftliche Selbstverteidigung endgültig obsolet geworden war. Wichtig waren sie hingegen für die Geselligkeit und als Stütze des bürgerlichen Festkalenders, etwa mit dem rituellen Vogelschießen und anschließender Prozession. Ihre Mitgliedschaft war zwar bürgerlich, kannte aber innerhalb der städtischen Einwohnerschaft keine prinzipielle Ständeabgrenzung. Von zwei gut untersuchten Beispielen – Nürnberg und Hamburg – weiß man, dass der Rat mit jeweils zwei „Schützenherren“ das Patronat und auch die Kontrolle übernahm. In Hamburg bestellte er darüber hinaus mit vier „Älterleuten“ und dem städtischen Artilleriemeister den Vorstand. Während die Hamburger Gesellschaft am Ende des 18. Jahrhunderts nur noch dahinvegetierte und 1819 aufgelöst wurde, gewann die Nürnberger Gesellschaft zunehmende Autonomie gegenüber dem Rat. Beide Gesellschaften ordneten ihr Vereinsleben mit Hilfe einer Satzung, die im Laufe der Jahrhunderte mehrfach erneuert, aber nicht grundlegend geändert wurde. Spezifisch gildehafte Züge sind nicht zu übersehen: so etwa die große Aufmerksamkeit, die die Nürnberger Ordnungen der Sicherung des inneren Friedens und der gesellschaftsinternen Moralität und Gottesfürchtigkeit zuwandten, wobei allerdings der Rat die Strafgewalt innehatte. Insgesamt aber weisen die Schützengesellschaften zumindest in den Städten Merkmale auf, die sie mehr als verbreitete Frühformen des „Vereins“-Typus erscheinen lässt denn als genossenschaftliche Korporation. Aus der Vielzahl der genossenschaftlichen Gesellungsformen, die korporative und assoziative Elemente vereinten, seien schließlich noch die studentischen „Landsmannschaften“ herausgegriffen. Landsmannschaften entstanden erstmals im frühen 16. Jahrhundert an einigen nord- und mitteldeutschen Universitäten und breiteten sich vor allem im 17. Jahrhundert an allen Universitäten des protestantischen Deutschland aus. Sie unterschieden sich von den älteren „nationes“ als Gliederungen der Studentenschaft vor allem, weil sie nicht mehr in der Universi-

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tätsverfassung verankerte korporative Zwangsvereinigungen, sondern mehr oder weniger freiwillige Zusammenschlüsse der Studierenden darstellten. Sie erfassten an vielen Universitäten die Mehrheit der Studentenschaft, näherten sich mit einer informellen Beitrittspflicht manchmal dem Charakter eines Zwangsverbandes und bestimmten einen kurzen, aber prägenden Lebensabschnitt der jugendlichen Bildungsschicht tiefgreifend. Ähnlich wie bei den Gesellenbruderschaften ging es zuerst um geselligen Anschluss in einer neuen Umgebung, um Unterstützung in den vielfältigen Risiken und Unsicherheiten einer Existenz oftmals weitab vom Heimatort, bei geringer öffentlicher Sicherheit, häufig ungeregelter und manchmal auch abenteuerlicher Lebensführung der Mitglieder. Mit der materiellen Unterstützungsaufgabe verbanden sich die ständisch-landsmannschaftliche Ehrenwahrung und die Reglementierung der studentischen Umgangs- und Verhaltensformen. Die Landsmannschaften zogen die Grenzen ihrer Mitgliederschaft entlang den Einzugsgebieten der Studierenden, wie etwa in Halle der Schwaben, Franken und Schweizer, der Magdeburger, Mannsfelder und Anhalter, der Hessen und Westfalen etc. Zahlreiche Elemente des von den Landsmannschaften organisierten studentischen Brauchtums stimmen, besonders im 17. Jahrhundert, mit der zünftisch-handwerklichen Sitte überein. Seit der Mitte des 18. Jahrhunderts entstanden aus den Landsmannschaften heraus studentische „Orden“ – in einer gewissen Anlehnung an die Freimaurerorden. Damit näherte sich die korporative Sozialform dem modernen Sozietätswesen an, die ursprünglich genossenschaftliche Gemeinschaftsbildung entwickelte sich vielfach zu einer vertieften, bewusst kultivierten individualisierten Freundschaft weiter. Aus dieser Tradition ging seit dem späten 18. Jahrhundert das studentische Verbindungswesen hervor, dessen Ausläufern wir heute noch gelegentlich begegnen, meist in wenig erfreulichem Zusammenhang. Im frühen 19. Jahrhundert brachte es die fortschrittlich-radikalen Burschenschaften hervor, die seit der gescheiterten Revolution von 1848/49 zu einem betont maskulin-konservativen Nationalismus übergingen und – wie die weniger explizit politischen Korps – im Kaiserreich und in der Weimarer Republik eine vielfach fatale Rolle bei der Sozialisation der männlichen jugendlichen Bildungsschicht spielten. Das studentische Verbindungswesen zeigt mit seiner korporativ-assoziativen Mischverfassung also auch, wie stark der Überhang alteuropäisch-genossenschaftlicher Formen in die entstehende moderne Welt hinein sein konnte. Abzulesen ist das vor allem am Nachleben der Zunftverfassung im 19. Jahrhundert. Wo die Gewerbefreiheit nicht wie in Preußen in der Reformära zwischen 1800 und 1815 eingeführt wurde, da schufen die Reformer zumindest die Organisationsform der „Konzessionierten Gewerbe“, die jetzt behördlich gelenkt wurden, aber nach wie vor primär subsistenz-, nicht konkurrenzwirtschaftlich orientiert waren und in der zünftische Ausbildung, Marktregulierung und Sitte meist nur wenig gebrochen bis zur endgültigen Einführung der Gewerbefreiheit in den 1860er Jahren in Sachsen, Baden, Württemberg und Bayern weiterlebten. Die Frage nach einer direkten Kontinuität der Gesellenbruderschaften zu modernen Assoziationsformen ist bis vor kurzem nahezu unbeachtet geblieben, hat sich aber im Zuge der Forschung zur Arbeiter- und Arbeiterbewegungsgeschichte zuletzt stärker in den Vordergrund geschoben. Unmittelbare Verbindungslinien von

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den Bruderschaften zu den Vereinsgründungen der gewerblichen Unterschicht in der beginnenden Industrialisierung schienen infolge der Krise der Bruderschaften im späten 18. Jahrhundert und ihres endgültigen und faktisch auch durchgesetzten Verbots in allen deutschen Staaten nach 1804 unerheblich zu sein. Dieser Annahme steht indessen eine Reihe von Argumenten entgegen, die alle auf ein stärkeres Nachwirken der älteren „plebejischen Volkskultur“ auf die späteren Verhaltensweisen und Organisationsmuster der Industriearbeiterschaft hinweisen. So bewies die Überlieferung sozialer Selbsthilfe bei den Gesellen trotz des Verbindungsverbots hartnäckige Lebenskraft. Der Streik als gewerkschaftliche Kampfform hat eine lange Tradition von Gesellenausständen hinter sich. Zum Teil duldeten die Behörden sogar den Fortbestand von Selbsthilfeeinrichtungen trotz des Verbindungsverbots gegenüber den Gesellen. Funktionen und Strukturmerkmale gewerkschaftlicher Organisation und der „Arbeiterverbrüderung“ von 1848 sind in der zentralen Bedeutung des Solidaritätsprinzips, der Unterstützungskassen, der Tendenz zur überlokalen Zusammenarbeit, der Bedeutung der Wanderunterstützung, dem Gesinnungspostulat der „Brüderlichkeit“ bei den Gesellenbruderschaften vorgebildet. Neben dem Eigenleben auch der neuen „konzessionierten Gewerbe“ und sonstiger gewerblicher Vereinigungen, das sich äußern konnte in der Bagatellgerichtsbarkeit, in der Rechtsfähigkeit, im Recht der geschworenen Meister, selbst zu wählen, in der Handwerkslade, in die Meister und Gesellen ihre Beiträge einzulegen hatten, belegen auch die Organisation und das Feiern von Festen, wie sich wesentliche Funktionen der genossenschaftlichen Einung auch unter den gewandelten Voraussetzungen verschärfter obrigkeitlicher Kontrolle und Disziplinierung zumindest zeitweise durch hielten und wie die Trägerschaft auch bei einem tiefgreifenden Strukturwandel des Sozialgefüges im 19. Jahrhundert auf funktional äquivalente Sozialkörper überging. So greift z.B. das Fest der Bergleute auch nach der Umstellung der Betriebe und Belegschaften von der ständischen Gemeinschaft der Bergleute zu privatkapitalistischen Unternehmen mit kontraktlich geregelter Arbeit auf altüberlieferte Festabläufe und Symbole zurück, jetzt nicht mehr auf der Grundlage der ständisch definierten Knappschaft, sondern des bergmännischen Vereinswesens. Oder: Der Nürnberger Schembartlauf, eine Spielart des allgemeinen Fastnachtstreibens mit der Sitte, eine Gesichtsmaske zu tragen, entsprang der Sitte des Metzgertanzes um 1500 und blieb organisatorisch vom Handwerk getragen, freilich vom Rat eingeschränkt und 1840 schließlich verboten, aus Sorge, dass die allgemeine Ordnung dadurch gefährdet werden könnte. Das sonstige Fastnachtsgeschehen wurde abgewickelt von lockeren Vereinigungen, denen feste Satzungen gefehlt haben dürften, die aber wohl aus den einzelnen Gewerben heraus gebildet wurden. Wie lange sich Brauchtum, das im Rahmen der mittelalterlichen Einung entstanden war, und in dem sich dessen substantielles Merkmal, die enge und im Jahresablauf immer wieder vergegenwärtigte Verflechtung von Arbeit, Religion und Geselligkeit, über Jahrhunderte hinweg gehalten hat, lässt sich exemplarisch auch am kirchlichen Fest beobachten. So hatte die Prozession als festlicher Aufzug, als Bekundung der genossenschaftlichen Einheit und ihrer Stellung in der lokalen Gemeinschaft in den Zünften und Gilden des Mittelalters eine zentrale Rolle gespielt.

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Als sich im 19. Jahrhundert nach der Einführung der Gewerbefreiheit die Bedingungen für Gemeinschaftsbildungen auf gewerblicher Grundlage völlig verändert hatten, blieb die Prozession vielfach nach wie vor das Symbol eines bruderschaftlich gefärbten Gemeinschaftsbewusstseins, mitunter mit ausdrücklicher Zustimmung der Obrigkeit. So forderte z.B. der Münchner Magistrat 1869 nach der Auflösung der konzessionierten Gewerbe 1868 deren Nachfolgeorganisationen, die „freien Gewerbevereine“, auf, sich wie bisher an der Fronleichnamsprozession zu beteiligen. Mehrfach konnte unmittelbar aus der gesellenbruderschaftlichen und zünftischen Organisationsüberlieferung heraus der neue, assoziative Typus des Versicherungsvereins aufblühen. Die alten Reichsstädte gaben dabei trotz der herrschaftlich-patrizischen Überformung der mittelalterlichen Kommunalverfassung in der Frühen Neuzeit einen fruchtbareren Nährboden für die Impulse genossenschaftlicher Selbstverwaltung ab als die einer straffen landesherrlichen Aufsicht unterworfenen, wenn auch wirtschaftlich teilweise dynamischeren Haupt- und Residenzstädte – allerdings nur, wenn sie sich wirtschaftliche Schwerpunktfunktionen erhalten hatten oder neu erschließen konnten und insofern neue Anstöße erfuhren. So gründeten bereits 1742 achtzig Interessenten in Nürnberg eine Handlungsgehilfenkasse mit allen Merkmalen einer modernen Versicherungsgesellschaft auf Gegenseitigkeit. Arbeitsgrundlage war eine Satzung, man bildete einen zwölfköpfigen Vorstand mit Direktor, Buchhalter, Buchhalteradjunkt, Kassier und Kassierbeigeordnetem sowie sieben Mitdirektoren; der Vorstand ergänzte sich durch Kooptation, den Mitgliedern stand das Recht zu, Einsicht in die Bücher zu nehmen; die Mitgliedschaft auf der Basis fester vierteljährlicher Beiträge war freiwillig. Die 1770er und 1780er Jahre sahen dann einen Gründungsboom für Versicherungsvereine, 1784 entstanden mehrere Begräbnisgesellschaften, die Versicherungsabsicht erweiterte sich auf andere, Aufwand erfordernde Lebenssituationen, so besonders bei der „Hochzeits- und Leichenkasse“ von 1784 mit ihren über 1.000 Mitgliedern. Nunmehr griff der Rat ein, verlangte von allen Kassen die Vorlage der Satzungen und Rechnungen und unterband so die freie Gründung von rechtsfähigen Vereinen ohne ausdrückliche obrigkeitliche Bestätigung, lenkte aber auch mit dem jetzt gültigen Grundsatz der Normativbestimmungen für Versicherungsvereine die Entwicklung in geordnetere Bahnen. Aus der Gesamtheit der angeführten Beispiele ergibt sich zum einen, dass die Gesellungsformen der ständischen Welt in der Frühen Neuzeit mitunter offener waren als man vielfach gemeint hat. Die korporative Gemeinschaft, die ihr strukturell entsprach, weist daher eine Fülle von Variationsmöglichkeiten auf bis hin zu Gesellungsformen, die den Schwerpunkt bereits zum assoziativen Vereinigungstypus verlagern. Es zeigt sich aber andererseits auch, dass das handwerkliche und kaufmännische Stadtbürgertum, die städtische Ober- und Mittelschicht, in der Mitte des 18. Jahrhunderts über jahrhundertealte, in der Alltagswirklichkeit tief eingedrungene und sie weithin prägende genossenschaftliche Organisationserfahrung verfügte, wenn auch natürlich die wachsende Ausdehnung und Intensität von Ratsherrschaft und Staatsverwaltung die genossenschaftlich bestimmten Sozialbeziehungen zum Teil herrschaftlich durchformt, gelegentlich auch ganz unterdrückt

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hatten. Wesentliche Fähigkeiten bürgerlicher Selbstorganisation wie die Delegation von Leitungsbefugnissen in der Wahl von Vorständen, die Verantwortlichkeit der Gewählten gegenüber der Mitgliederschaft, die Verwaltung eines gemeinsamen Vermögens, die Friedewahrung in der Gemeinschaft durch Riten der Geselligkeit und durch verbandsinterne Gerichtsbarkeit oder Disziplinargewalt, die Vertretung gemeinsamer Interessen nach außen – alles dies musste nicht mehr grundsätzlich neu gelernt werden. Unbestreitbar ist dagegen, dass im Zuge der Festigung von Ratsregiment und absolutistischer Herrschaft die öffentlichen Funktionen der „subordinierten Gewalten“ und Verbände zurückgingen. Mit dieser Bilanz der Bedeutung und Funktion der genossenschaftlichen Wirtschafts- und Lebensweise in der alten Welt komme ich zu der genossenschaftlichen Bewegung der 1850er und 60er Jahre, in denen die Grundlagen für das heutige höchst ausgedehnte und differenzierte Genossenschaftswesen gelegt wurden. IV So viele Annäherungen und Überschneidungen von korporativem und assoziativem Zusammenschluss es an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert gab, so wandelten sich doch mit der Aufklärung und der Französischen Revolution und ihren Folgen die Legitimationsgrundlagen der Wirtschaftsverfassung, der Sozialordnung und der politischen Systeme so grundlegend, dass den genossenschaftlichen Gemeinschaften auf Dauer jedenfalls die Basis entzogen zu werden schien. Das Prinzip individueller Selbstbestimmtheit, mit freier Orts- und Berufswahl, freier Wahl des Lebenspartners, Lockerungen der traditionellen Sitte, Freiheit der Religion und Freiheit im Ausleben persönlicher Interessen – das alles musste den korporativen Zwangsverband sprengen. Die liberalisierte Verkehrswirtschaft baute auf der freien Konkurrenz auf und entwertete die korporative Solidarität. Das Postulat der égalité sollte einhergehen mit der fraternité, aber diese konnte allenfalls gelten für selbstbestimmte Individuen im Zuge einer weit gefassten liberté – laut Max Weber begann mit dem Aufstieg des Kapitalismus das „Weltalter der Unbrüderlichkeit“, also eigentlich auch das Ende von religiösen Bruderschaften und des sozialen Bandes der christlichen Brüderlichkeit überhaupt. Mit der Ausbreitung der industriellen Produktionsmethoden und der technischen Weltbeherrschung setzte ein Globalisierungsschub der Wirtschaft ein, der einen neuen Warenstrom rund um die Welt ermöglichte und Anfänge des heutigen Weltmarktes hervorbrachte; nicht umsonst heißt der erste große Konjunktureinbruch von 1857 die „erste Weltwirtschaftskrise“. Die 16 Jahre später folgende sogenannte „Große Depression“ ab 1873 wirkte sich zwar in Deutschland besonders stark aus, zeigte aber verschärft auch die Züge weltwirtschaftlicher Verflechtung. Angesichts der neuen Technologien und Betriebsformen in der Wirtschaft sagten nicht nur Karl Marx, sondern auch „bürgerliche“ Nationalökonomen das Absterben der handwerklichen Produktion voraus. Dies alles entwertete zunehmend den unmittelbaren Lokal- und Regionalbezug des Wirtschaftens, der die genossenschaft-

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liche Lebensform in der alten Welt trotz der vielfach sehr weit reichenden Handelsbeziehungen von Städten und Gilden abschwächte. Zudem wandelte sich das Verhältnis der Handwerker zur Zeit von Grund auf. Sozialistische und konservative Beobachter prophezeiten seit den 40er Jahren den mehr oder weniger unaufhaltsamen Niedergang des Handwerks bei gleichzeitigem Aufstieg der Industrie, die Zeitperspektive öffnete sich und stürzte die Handwerker in ein Gefühl umfassender Bedrohung. Eine ganze Lebensform und also auch eine ganze Mentalität, ein viele Jahrhunderte altes Wertesystem und die ihm entsprechenden Verhaltensmuster erodierten und schienen am Ende dem Untergang geweiht. Der Berufsstolz, das zünftische Ethos der Ehrbarkeit, die Ehre des Standes – was waren sie noch wert gegenüber der rücksichtslosen Konkurrenz, dem bedingungslosen Streben nach jenem Markterfolg, der jetzt mit einer permanent aufzubringenden Anstrengung und der ebenso permanenten Bedrohtheit des sozialen Status das Lebensgefühl zu bestimmen begann. Arbeitsamkeit – aber nicht zu viel – Sparsamkeit, Ehrenhaftigkeit, strenge Rechtlichkeit nicht ohne einen autoritären Zug – das war bisher im Rahmen der ständisch-zünftischen Ordnung funktional und also auch moralisch gut gewesen. Mit dieser Einstellung aber gerieten die Handwerker jetzt ökonomisch und gesellschaftlich in die Defensive. Vom Beginn des Jahrhunderts an bis tief ins Kaiserreich hinein durchzieht die Quellen zur Handwerksgeschichte ein Ton unaufhörlicher Klage und der Abwehrhaltung gegen alles Neue und Fremde, gegen die Aufsteiger, gegen die Veränderer, gegen das Aufbrechen der lokalen und partikularen Strukturen. Andererseits kam das alles nicht über Nacht. Der Übergang zur Gewerbefreiheit in Deutschland dauerte regional unterschiedlich von 1808 bis 1866, für manche Behörden galt in diesen Jahrzehnten nach wie vor der Primat des Nahrungsprinzips vor ökonomischer Erneuerung und Privatinitiative, das Handwerk starb nicht einfach, vielmehr nahm es in absoluten Zahlen sogar kontinuierlich zu. Allerdings differenzierte es sich nach Verdienstmöglichkeiten und Betriebsgrößen weit aus, vom proletarisierten Einzel- bis zum florierenden Mittelbetrieb, etwa im Baugewerbe der expandierenden Städte. In dieser ökonomischen und sozialen Krise, die in der Revolution 1848/49 kulminierte aber keineswegs endete, ließen sich viele der ökonomisch Bedrohten davon überzeugen, dass ein Rückgriff auf altbekannte genossenschaftliche Prinzipien Abhilfe schaffen könne. Sucht man nach der Gemeinsamkeit dieser Gruppen, so wird man sie, wenn auch vereinfacht und etwas anachronistisch, mit dem Stichwort „Modernisierungsverlierer“ fassen können: das Handwerk – das sich, wie es ihm auch tatsächlich gehen mochte, jedenfalls als solches empfand; Bauern, die vielfach unter den Ablösungssummen für ihre unter rein ökonomischen Gesichtspunkten vielfach sehr ambivalente „Befreiung“ von den feudalen Bindungen litten; gelernte Arbeiter, also eigentlich die Handwerksgesellen und auch Handwerksmeister, denen das Vordringen der industriellen Produktionsweise die Aussicht verschloss, jemals noch selbständig werden zu können. Als neuer Faktor in der Geschichte der genossenschaftlichen Organisation ist jetzt allerdings die entscheidende Bedeutung einzelner Personen zu betonen, ihrer Konzepte, ihrer Energie, auch ihrer Streitigkeiten. Die wichtigsten Wortführer der

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neuen „genossenschaftlichen Bewegung“ seit der Mitte des 19. Jahrhunderts waren weder Bauern noch Handwerker noch – zumindest anfangs – Facharbeiter, sondern „Bildungbürger“. Einer – Viktor Aimé Huber – war Mediziner und Sprachwissenschaftler, zwei waren Verwaltungsjuristen, Friedrich Wilhelm Raiffeisen und Hermann Schulze-Delitzsch, einer Anwalt, Ferdinand Lassalle. Man könnte noch Eduard Pfeiffer hinzuzählen, studierter Nationalökonom und Finanzwissenschaftler. Die Hervorhebung ihrer Rolle mag etwas zugespitzt erscheinen, aber ihre Initiativ- und Prägewirkung ist doch unstrittig und auffallend. Sie stehen, wiederum zugespitzt formuliert, für die Entstehung eines neuen Typus’ von politischem Akteur, des „Verbandspolitikers“. Die Bezeichnung mag für die Gründer der neuen genossenschaftlichen Bewegung um die Mitte des 19. Jahrhunderts etwas anachronistisch klingen, und alle diese Akteure stellen als Persönlichkeiten sehr viel mehr dar, als wir mit dem Wort zu assoziieren gewohnt sind. Am wenigsten „Politiker“ ist Friedrich Wilhelm Raiffeisen, der Gründer des ländlichen Genossenschaftswesens, den die Erfahrung als junger Bürgermeister in den Elendsgebieten der Eifel antrieb; er suchte auch nicht den Anschluss an eine der sich jetzt formierenden politischen Parteien. Anders Hermann Schulze-Delitzsch, der Gründer des gewerblichen Genossenschaftswesens, ursprünglich Patrimonial- und Kreisrichter in Sachsen und einer der beherztesten und scharfsinnigsten ‚Linksliberalen‘ (wie man heute vielleicht sagen könnte) in der revolutionären preußischen Nationalversammlung von 1848, deren berühmten Steuerverweigerungsbeschluss er mitredigierte; im anschließenden Hochverratsprozess verteidigte er sich mit meisterlicher anwaltlicher Beredsamkeit und wurde freigesprochen. Er zählte zu den Mitbegründern der „Deutschen Fortschrittspartei“ 1861 und gehörte seit 1867 zunächst dem Norddeutschen und dann dem Deutschen Reichstag an. Auf der anderen Seite des politischen Spektrums steht Viktor Aimé Huber, seit 1836 Professor der Neueren Geschichte und asiatischen Sprachen zuerst in Rostock, dann Marburg, dann Berlin. In der Revolution 1848 zählte er zu den Mitbegründern der preußischen Konservativen Partei und stand Friedrich Wilhelm IV. nahe. 1851 allerdings verließ er die Partei wieder, legte auch seine Professur nieder und kämpfte jetzt als eine Art freelancer oder Intellektueller für die Einführung von Genossenschaften nach englischem Vorbild, vor allem für die Wohnungsbaugenossenschaften. Am meisten dem Funktionärstyp nähert sich Eduard Pfeiffer an, Sohn eines Stuttgarter Bankiers und erfolgreicher Propagandist und Organisator des Konsumvereinswesens. Eine ausgesprochen politische Rolle wählte dagegen Ferdinand Lassalle als demokratischer Akteur von 1848, Literat, Begründer des „Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins“ 1863 und damit Gründungsvater des reformistischen Zweigs der deutschen Arbeiterbewegung. Er erhob die „Produktivgenossenschaften“ zu einem zentralen Programmpunkt seiner Partei. Alle diese Initiatoren eines neuen Genossenschaftswesens agierten unter den Bedingungen des langsam entstehenden politischen Massenmarktes – Raiffeisen auf dem Lande am wenigsten, Lassalle als Arbeiterführer am stärksten. Jeder schrieb erfolgreiche und mehrfach aufgelegte Programmschriften, wie Huber mit seiner „Die Selbsthülfe der arbeitenden Klassen durch Wirtschaftsvereine und in-

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nere Ansiedlung“ (1848), oder der 28jährige Pfeiffer mit seinem Buch „Über Genossenschaftswesen“ (1862). Alle arbeiteten ganz bewusst mit sprachpolitischen Mitteln, prägten Begriffe oder besetzten Begriffe neu. Pfeiffer erfand für das genossenschaftliche Prinzip den „Kooperatismus“, Huber die „industrielle Assoziation“, womit er die Produktivgenossenschaft meinte. Die politischen unter den Akteuren nutzten die Sprachpolitik auch zur energischen Abgrenzung, um ihrem Programm Profil zu geben und es in ihren jeweiligen Zielgruppen zu verankern – wobei ich keinerlei sprachmanipulative Absicht unterstelle. Auf dem explosiv sich erweiternden und aufdifferenzierenden Bücher- und Meinungsmarkt der 50er und 60er Jahre suchten und fanden diese Akteure in einem anfangs kooperativen, später gereizt-streitlustigen und schließlich definitiv-abgrenzenden Diskurs ihre jeweiligen Strategien und Zielgruppen, wobei sie teils nolens, teils volens die Binnenstrukturen der künftigen bürgerlich-industriellen Gesellschaft markierten. Allen Akteuren war klar, dass man zu der gebundenen Wirtschaftsverfassung Alteuropas nicht mehr zurückkehren könne und dass die neuen Genossenschaften – mit den heutigen Begriffen gesprochen – nicht Korporationen, sondern nur Assoziationen sein konnten. Alle neuen Genossenschaften entstanden aus einer wirtschaftlichen Notlage und verfolgten primär wirtschaftliche Zwecke. Aber alle diese Gründer hatten auch die genossenschaftliche Tradition Alteuropas vor Augen und wollten aus diesem Erbe das Solidaritätsprinzip übernehmen – ohne die Freiheitsbeschränkungen und die Privilegierungen, die der vormodernen Genossenschaft notwendigerweise angehaftet hatten. Die neue Genossenschaft stellte für das Wirtschaften ihrer Mitglieder einen gemeinsamen Betrieb zur Verfügung, was möglich wurde, weil die Mitglieder aus ihrer persönlichen Entscheidung heraus eine Personenvereinigung bildeten. Notwendigerweise bestanden zwischen Personenvereinigung und Betrieb Wechselwirkungen, die im wesentlichen intendiert waren. Die neuen Genossenschaften sind mitgliederbezogen, sie setzen auf Selbsthilfe, Selbstverwaltung und Selbstverantwortung. Innerhalb der Gesamtheit der modernen Wirtschaften mag man ihre Besonderheit gegenüber der privaten Wirtschaftssphäre darin sehen, dass sie einen eigenen „Stil“ des Wirtschaftens entwickelten – zumindest, wird man heute einschränken müssen, anfangs. In die Gedankenwelt der Gründerväter und auch der Mitglieder der ersten neu gegründeten Genossenschaften flossen ökonomische und soziale Erfahrungen, Handlungskonzepte und Ideen ein, die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft jeweils auf eigene Art vermittelten. Hinter Raiffeisens ländlichen Spar- und Darlehenskassen stand die schon seit den 1760er Jahren anlaufende Gründungswelle von landwirtschaftlichen oder – im aufklärerischen Sprachgebrauch – „patriotischen“ Gesellschaften zur Förderung des Gemeinwohls, wobei jetzt das entscheidend Neue hinzukam, den durch Ablösungslasten, durch Güterzertrümmerung und Wucher gedrückten Bauern auch die Möglichkeit von Kapitalbildung und Kreditnahme auf dem Wege der Selbsthilfe zu verschaffen. Raiffeisen kam – wie in Berlin V.A. Huber – vom christlich-konservativen, patriarchalischen Fürsorgegedanken her. Aber die Einsicht in die ökonomischen Zwänge und die Hinwendung zum Selbsthilfeprinzip brachte beide in die Nähe des liberalen Assoziationsgedankens, den sie zumindest für die wirtschaftliche Grundlegung der ländlichen Spar- und Darlehens-

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vereine auf der einen und der Baugenossenschaften auf der anderen Seite dann ganz übernahmen. Schulze-Delitzsch und Pfeiffer dagegen mussten nur das liberale Selbsthilfeprinzip und den vormärzlichen liberalen Vereinsenthusiasmus aufnehmen und auf die Organisation der gewerblichen Mittelschicht anwenden. Auch hier gab es einen gesellschaftspolitischen und kulturellen Mehrwert über die ökonomische Funktion hinaus. Der Verein erschien ihnen als die Möglichkeit überhaupt, in der bürgerlichen Gesellschaft Selbstbestimmtheit und Kooperation, Unterhaltung und Bildung zu fördern: „Laßt uns Menschen werden“ – so lautet eine charakteristische Formulierung in den zahllosen Vereinsprogrammen – „und einen Verein gründen“. In diesen liberaldemokratischen Bahnen dachte zunächst auch Ferdinand Lassalle, ehe ihm sein „ehernes Lohngesetz“ den Glauben daran raubte, dass der einzelne Lohnabhängige durch seiner Hände Arbeit Einkommen ansammeln und sich so aus seinem Elend befreien könne. Er griff daher auf die frühsozialistische Ideenwelt zurück, die allerdings auch sonst für die genossenschaftliche Bewegung von erheblicher Bedeutung gewesen ist: auf die Schriften von Robert Owen, Charles Fourier, Louis Blanc, Henri de Saint-Simon und auch auf die praktischen Experimente der frühen englischen Sozialreformbewegung wie das Beispiel der Pioniere von Rochdale. In den 1850er und selbst den frühen 1860er Jahren ging hier noch vieles zusammen, aber die ideenpolitischen Klärungen hatten doch schon eingesetzt. Der Kampf um die Genossenschaft wurde Teil der Auseinandersetzung um die Trennung von Liberal- und Sozialdemokratie. Noch in seinem „Offenen Antwortschreiben“ vom 1. März 1863, dem Gründungsdokument des „Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins“, erwies Ferdinand Lassalle dem Liberalen Schulze-Delitzsch seine Referenz als Begründer des deutschen Genossenschaftswesens; allerdings – so Lassalle – eigneten sich seine Genossenschaften nicht dazu, die Situation der Arbeiterklasse insgesamt zu verbessern. Kredit- und Rohstoffgenossenschaften nützten nur dem kleinen, auf eigene Rechnung arbeitenden Handwerksbetrieb, nicht dem Industriearbeiter. Um für die Produktivgenossenschaften zum nötigen Startkapital zu kommen, setzte Lassalle auf staatliche Kredite und hoffte, dass die Produktivgenossenschaften so als Stützpfeiler auf dem Weg der Wirtschaft zu einer friedlichen sozialistischen Neuordnung dienen könnten. Schulze allerdings verwahrte sich gegen jede Kritik und antwortete am 29. 3. 1863 direkt. Er führte das misslungene Beispiel von Staatssubvention in den Pariser Nationalwerkstätten 1848 an, ereiferte sich über die „Dreistigkeit und das Halbwissen des Herrn Lassalle“ und schloss mit der Parole: „dort Redensart, hier Kapital und Bildung – wir wollen sehen, wer das Feld behält!“ Es folgte dann eine wilde Polemik, auch noch über den Tod Lassalles im Duell im August 1864 hinaus. 1863 waren die Fronten noch nicht endgültig geklärt; bis zum Ende der 60er Jahre aber waren die wesentlichen Entscheidungen gefallen. Man kann es an den Begriffen ablesen. Der Ausdruck „Genossenschaft“ ist bis zum Beginn der 1848er Jahre, wenn überhaupt, nur in der Bedeutung „Gleichheit am Stande“ belegt, bezeichnete aber dann mit einer gewissen Präzisierung „Zunft, Innung, Gesellschaft“. Allmählich näherte er sich der Semantik der liberalen Fahnenwörter „Gesellschaft,

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Verein, Assoziation“ an, blieb aber doch immer der ständisch-korporativen Tradition verhaftet. Aus dieser Vermittlungsposition heraus ergab sich der Aufstieg zum Rechts- und Orientierungsbegriff der Mittelstandsbewegung. Unter Rückgriff auf vermeintlich mittelalterliche Vorbilder entwickelte sich das Konzept von Genossenschaft als Gemeinschaft, aus der sich unmittelbar politische Partizipationsansprüche der Privateigentümer als Staatsbürger herleiten ließen, die aber auch den Gedanken einer Einheit von Arbeit und Kapital in kleinbetrieblichen Formen und einer Solidargemeinschaft der Arbeitenden zu verkörpern schien gegenüber der uneingeschränkten kapitalistischen Konkurrenzgesellschaft. Mit Stoßrichtung gegen die Vereinzelung des Individuums im rechtsegalitären bürokratischen Anstaltsstaat und in der liberalisierten Verkehrswirtschaft entwickelte Schulze-Delitzsch den Terminus „Genossenschaft“ zum Sammelbegriff für einen Vereinstyp, in dem sich die kleinen Gewerbetreibenden gegenüber dem Großbetrieb konkurrenzfähig zu erhalten suchten. Das Fahnenwort „Genossenschaft“ trug somit die ökonomische, aber auch politisch-soziale Hoffnung auf eine relativ homogene Gesellschaft von Kleineigentümern. Begriff und Rechtsform der Genossenschaft setzten sich dann innerhalb von knapp 25 Jahren durch. In Anlehnung an das Gesetz des Norddeutschen Bundes von 1868 definierte man jetzt generell Genossenschaften als Gesellschaften, die die Förderung des Kredits, des Erwerbs oder der Wirtschaft ihrer Mitglieder mittels gemeinschaftlichen Geschäftsbetriebes bezweckten. Damit war im Verständnis des Bürgertums das Kassen- und Unterstützungsvereinswesen der Arbeiter aus dem Bedeutungsfeld von Genossenschaft ausgeschieden und auf der Ebene der Organisationsbegriffe die Trennung von „Mittelstand“ und lohnabhängiger Arbeiterschaft vollzogen. Das Ergebnis war auch deshalb so eindeutig, weil nach der Revolution das bis dahin höchst beliebte Fahnenwort „Assoziation“ zunehmend mit den Pariser Nationalwerkstätten und mit Sozialismus überhaupt assoziiert wurde. Huber sprach daher seit 1852 grundsätzlich nicht mehr von „Assoziationen“ sondern von „Genossenschaften“, und auch Schulze-Delitzsch vollzog Mitte der 50er Jahre diese sprachpolitische Wende – übrigens mit stark nationalistischem Beigeschmack: die Franzosen erschienen als die staatsversessenen, zentralistischen Anhänger der „association“, die Deutschen als das Volk der freien, selbstbestimmten Bürger, die kooperativ und selbstständig handeln und den Staat auf Abstand halten – die umgekehrte Sonderwegsthese sozusagen. Lassalle dagegen sprach in seinem „Offenen Antwortschreiben“ 1863 von der „Association der arbeitenden Klassen“ und der „Association des Arbeiterstandes“, womit er auf seine theoretisch nicht eindeutige und vermittelnde Position zwischen dem Modell einer antagonistischen Klassengesellschaft und der Hoffnung auf die Lösung des sozialen Konflikts durch eine liberal-demokratische Staatsverfassung verwies. Die Bebel-Liebknecht’sche, nicht Lassalleanische Richtung der deutschen Arbeiterbewegung, der „Verband der deutschen Arbeitervereine“ schloss sich aber 1868 der von Karl Marx gegründeten „Internationalen Arbeiter-Association“ an. Damit drangen die politisch-strategischen und die utopischen Gehalte des „Assiozationsbegriffs“ von Marx und Engels im Selbstverständnis der deutschen Arbeiterbewegung durch.

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Über die Erfolgsgeschichte der mittelständischen Genossenschaften muss nicht mehr viel gesagt werden. Am wenigsten reüssierten die Produktivgenossenschaften. Sie erwiesen sich in der zunehmenden Arbeitsteilung und Spezialisierung der industriewirtschaftlichen Produktion nicht wirklich als konkurrenzfähig, jedenfalls in Deutschland. Das Genossenschaftswesen zeigt insgesamt erhebliche nationale Unterschiede – anders als in Deutschland entwickelte sich in Frankreich ein breites Milieu von Arbeitergenossenschaften in der Bauindustrie, im Maschinenbau, im Druckereiwesen u.a., die Mitte des 20. Jahrhunderts in über 500 Verbänden organisiert waren. Dagegen stellt die Entwicklung der ländlichen Genossenschaften in Deutschland eine ausgesprochene Erfolgsgeschichte dar. In ihrem Spektrum dominierten die Kreditgenossenschaften, zusammengefasst im Deutschen Raiffeisenverband e.V., der 1961 2,14 Millionen Mitglieder umschloss. Auch die gewerblichen Genossenschaften nach dem Modell von Schulze-Delitzsch florierten, zwischen 1850 und 1880 stieg die Zahl der Kreditgenossenschaften von Null auf rund 1.900 und die der Rohstoffvereine auf 150. Ihr Erfolg geht auch darauf zurück, dass es in der „Großen Depression“ nach 1873 zwar Zusammenbrüche gab, dass sich aber gemäß den Warnungen und der Strategie Schulzes die Genossenschaften insgesamt von spekulativen Geschäften in Wertpapieren und Immobilien, also vom Aufgabenbereich der Großbanken fernhielten. Mitte des 20. Jahrhunderts zählte man rund 2.300 Genossenschaften mit 2,2 Millionen Mitgliedern. Eine Sonderrolle spielten die Konsumvereine. Ihr Ursprung in Deutschland liegt in der Revolution 1848 und er steht der Brüderlichkeitssemantik der reformistischen deutschen Arbeiterverbrüderung des Marx-Gegners und Schriftsetzers Stefan Born nahe. Dauerhaftigkeit und breite Resonanz gewannen sie allerdings erst seit den 1860er Jahren, als sie sich dem Schulze-Delitzsch’schen Modell und damit dem demokratischen Radikalismus annäherten. 1890 zählte man rund 1.000 Konsumvereine. Ihren endgültigen Durchbruch erzielten sie aber erst nach der Neufassung des Genossenschaftsgesetzes 1889, als das Schulze’sche Prinzip der unbeschränkten Haftpflicht aufgegeben und die beschränkte Haftpflicht eingeführt wurde. Konsumvereine waren an Größe interessiert, um mit ihrer Preispolitik möglichst auf das allgemeine Preisniveau einwirken zu können, und eine solche Größenordnung ließ sich mit Solidarhaftung schwer erreichen. Allerdings schwächte sich damit auch das genossenschaftliche Gemeinschaftsideal ab. Für die Sozialdemokraten stellten die Konsumvereine ein Problem dar, weil ihre Ziele der offiziellen Parteidoktrin einer Revolutionierung der Gesellschaft diametral entgegenstanden. Es dauerte bis 1899, dass die SPD in Konsumvereinen ein mögliches Mittel sah, die „wirtschaftliche Lage ihrer Mitglieder zu verbessern“, wobei sie aber festhielt, dass den Vereinen keine entscheidende Bedeutung für die Befreiung der Arbeiterklasse aus den Fesseln der Lohnsklaverei zukomme.

2. EMOTION UND DISZIPLIN. SOZIALVERHALTEN UND WERTEWANDEL DER JUGENDLICHEN BILDUNGSSCHICHT IM ÜBERGANG ZUR BÜRGERLICHEN GESELLSCHAFT (17.–19. JAHRHUNDERT) Die folgende Untersuchung verbindet zwei Fragestellungen, denen sich die Forschung neuerdings intensiv zuwendet: die Frage nach der Herausbildung des Bildungsbürgertums als einer — spezifisch deutschen — sozialkulturellen Gruppierung, die in mancher Hinsicht zwar heterogen war, aber ein wesentliches gemeinsames soziales Unterscheidungsmerkmal aufwies, die anerkannte Bildung; und die Frage nach typischen generationsbedingten Verhaltensformen, Sozialisationsbedürfnissen und Konflikten der Jugend, nach ihrer Emotionalität und ihrer Disziplinierung. Für beide Fragerichtungen stellen die Jahre von der Mitte des 18. Jahrhunderts bis um 1815 eine entscheidende Epoche dar: In ihr entsteht mit der Bedeutungssteigerung, Ausdehnung, Reglementierung und Privilegierung von Bildung das Bildungsbürgertum als eine herausgehobene und von den Zeitgenossen als Einheit wahrgenommene Schicht; und in ihr setzt ein grundlegender Wandel in der Einteilung der Lebensphasen und im Status von „Jugend“ innerhalb der Gesamtgesellschaft ein. Auch in der agrarisch bestimmten älteren Gesellschaft war der Generationswechsel nicht einfach bruchlos verlaufen und hatte die Jugend eine eigene Sitte entwickelt. Vor allem in Phasen verstärkten Bevölkerungswachstums konnte der Spannungsausgleich zwischen den Generationen Störungen unterliegen. Im Ganzen aber war Jugendlichkeit als Lebensphase zeitlich länger gestreckt, in ihrer Besonderheit weniger beachtet und sehr viel stärker auf die reine Sicherung des Familienerhalts hin angelegt gewesen als in der darauffolgenden Epoche raschen Bevölkerungswachstums, offeneren Berufszugangs und vermehrter Ressourcen.1 Wenn das Bildungsbürgertum eine soziale Einheit in dem Sinne darstellt, dass sich seine „Teilgruppen nach Lebenschancen, Interessen, Selbstverständnis und Verhaltensweisen ähnelten“2, so ist es eine entscheidende Frage, worin diese Einheit im Einzelnen besteht, wie sie zustande kommt und auf welchen zentralen Wertvorstellungen sie beruht. Klarere Kenntnis darüber lässt sich erwarten, wenn man den Mentalitäts- und Verhaltenswandel insbesondere der jugendlichen Bildungsschicht untersucht. Lassen sich bereits bei den 18- bis 25jährigen in der studentischen Le1

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Grundlegend, wenn auch im Einzelnen diskussionsbedürftig: John R. Gillis, Geschichte der Jugend. Tradition und Wandel im Verhältnis der Altersgruppen und Generationen, dt., 2. Aufl. Weinheim/Basel 1984, sowie allgemein Norbert Elias, Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen, 2 Bde. 3. Aufl. Frankfurt 1976. Werner Conze, Jürgen Kocka, Einleitung zu: diess. (Hg.), Bildungsbürgertum im 19. Jh., Teil I, Bildungsbürgertum und Professionalisierung in internationalen Vergleichen, Stuttgart 1985, S. 9–26, Zitat S. 12.

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bensform spezifische Verhaltensweisen, Wertorientierungen und Bewusstseinsformen ermitteln? Welche Kommunikationsformen haben die jugendlichen Akademiker vorgefunden, weitertradiert und verändert, welche Sitten betrachteten sie als verbindlich oder revisionsbedürftig, welche Symbole ihres „Stands“ und ihres Lebensstils haben sie gepflegt und diskutiert? Welche Sozialisationsinstanzen haben diese Prägungen bewirkt? Unterliegen diese Instanzen ihrerseits einem Wandel? In welchen Rahmen staatlich-institutioneller Voraussetzungen sind sie einzuordnen? Methodisch bietet es sich an, die Umformung von Kommunikationsstil, Verhaltenskodex, Wertekanon, Selbsteinschätzung und Zukunftsperspektivierung der jugendlichen Bildungsschicht über die Akten der staatlichen und universitären Behörden, über autobiographische Äußerungen und insbesondere über das umfangreiche Quellenmaterial zu den studentischen Verbindungen zu erschließen. Eine Schwierigkeit besteht hier allerdings darin, dass sich schon in den Aufbruchsphasen studentischer Reformbewegungen nach 1750 immer nur eine kleine Minderheit die im Folgenden zu skizzierende Programmatik voll zu eigen gemacht hat. Sowohl bei den studentischen Orden, wie bei den Korps, wie schließlich auch bei den Burschenschaften sind die zeitgenössischen Klagen über die „Veräußerlichung“ Legion. Schwer zu beurteilen ist auch die Stellung der nichtorganisierten und der nur nominell irgendeiner Verbindung angehörenden Studenten innerhalb dieser Bewegungen. Zum Teil standen sie wohl abseits all der neuen Ambitionen und Verhaltensweisen. Zum Teil ist aber auch zu vermuten, dass sie sich den negativen Seiten des traditionellen Verbindungslebens, dem Renommieren, der Duellwut, dem uneingelösten Überlegenheitsanspruch etc. bewusst entzogen und in informellen Kreisen und Freundeszirkeln den Werte- und Mentalitätswandel unauffälliger, aber auch konkreter vollzogen. Man sollte den Realitätsgehalt von Statuten aber auch nicht zu gering veranschlagen, besonders wenn die in ihnen formulierten Absichten von der Tradition sehr weitgehend abweichen und wenn ihre Aussagen durch Nachrichten aus dem Innenleben der Studentengesellschaften eine gewisse Bestätigung finden. Sie signalisieren jedenfalls, dass die jugendliche Bildungsschicht in neuer Weise anfing, sich in ein reflektiertes Verhältnis zu ihren eigenen Lebenszielen, ihren Identitätsproblemen und ihrer Stellung in der Gesellschaft zu setzen.3 I. Die Rechtsstellung der Studentenschaft, die Universitätspolitik und das Verhalten des Staates gegenüber den studentischen Verbindungen in der Frühen Neuzeit folgten aus zwei in sich widersprüchlichen Grundgegebenheiten der staatlich-gesellschaftlichen Verfassung und der Staatsbildungspolitik der frühneuzeitlichen 3

Vgl. Wolfgang Hardtwig, Krise der Universität, studentische Reformbewegung (1750–1819) und die Sozialisation der jugendlichen deutschen Bildungsschicht. Aufriß eines Forschungsproblems, in: Geschichte und Gesellschaft Jg. 11 (1985), S. 155 ff.; ders., Studentenschaft und Aufklärung. Landsmannschaften und Studentenorden in Deutschland im 18. Jahrhundert, in: E. François, (Hg,), Geselligkeit, Vereinswesen und bürgerliche Gesellschaft in Frankreich, in Deutschland und in der Schweiz, 1750–1850, Paris 1986, S. 245 ff.

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Territorien: aus der Gewährung korporativer Libertät für die Gesamtkörperschaft der Universitas einerseits und aus dem Streben nach staatlichem Gewaltmonopol und der Sozialdisziplinierungspolitik andererseits.4 Obgleich damit von Anfang an, seit der Gründung der ersten Universitäten auf dem Territorium des Reiches, ein Spannungszustand angelegt war, blieb dieser Zustand trotz aller Wandlungen im Einzelnen außerordentlich stabil, insbesondere was die institutionelle Stellung angeht.5 Von Anfang an entwickelten die „Wissenschaftstreibenden“, Lehrende wie Lernende, ein „exclusives Berufsethos“ und strebten erfolgreich nach rechtlicher Anerkennung ihrer Unabhängigkeit in Form eines eigenen „Standes“.6 Auf dieser Grundlage entstand die Rechtsfigur der „akademischen Freiheit“. Sie stützte sich vor allem auf die „rektorale Disziplinargerichtsbarkeit, auf das Selbstergänzungsrecht der Korporation und auf das Streikrecht … als Sonderform des korporativen Widerstandes bei Privilegienverletzung“.7 Dieses Recht auf Vorlesungsstreik bzw. Auswanderung wurde bis zu den wiederholten „Auszügen“ von Studenten aus ihren Universitäten im späten 18. und im 19. Jahrhundert auch immer wieder wahrgenommen.8 Zwar hatte sich bereits im späten Mittelalter die Freiheit der Lehrenden zunehmend zur korporativen Libertät als Vorrecht und Privileg innerhalb des staatlichgesellschaftlichen Herrschaftsgefüges gewandelt. Doch auch dieses Bewusstsein der eigenen Freiheit als eines Privilegs färbte auf die Studierenden ab und durchformte ihr ständisches Selbstbewusstsein gegenüber den anderen Gruppen der Gesellschaft. Mit der Intensivierung der frühneuzeitlichen Staatsbildung veränderte sich allerdings auch die Stellung der Universitäten im Verhältnis zu ihren Landesherren.9 Ihre Privilegien verengten sich zu staatlich eingeräumten und garantierten Freiheiten. Die Grundelemente der korporativ-libertären Selbstverwaltung blieben aber erhalten. Bei den Neugründungen des späten 17. und des frühen 18. Jahrhunderts stärkten die Landesherren die Gerichtshoheit sogar wieder, um die Anzie-

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Zur Sozialdisziplinierung noch immer grundlegend: Gerhard Oestreich, Strukturprobleme des europäischen Absolutismus, in: VSWG, Bd. 55 (1968), S. 329 ff. Dies betont zuletzt auch Peter Moraw, Aspekte und Dimensionen älterer deutscher Universitätsgeschichte, in: ders. u. V. Press (Hg.), Academia Giessensis, Beiträge zur älteren Gießener Universitätsgeschichte, Marburg 1982, S. 2, bes. S. 24 f. Vgl. Laetitia Boehm, Libertas Scholastica und Negotium Scholare. Entstehung und Sozialprestige des akademischen Standes im Mittelalter, in: H. Rössler u. G. Franz (Hg.), Universität und Gelehrtenstand 1400–1800, Limburg 1970, S. 21 u.ö. Ebda, S. 41 f. Zur Bedeutung dieser Protestform noch für das 19. Jahrhundert vgl. Karsten Bohnson, Studentische Auszüge, in: Student und Hochschule im 19. Jh. Studien und Materialien, Göttingen 1975, S. 173–242. Vgl. Peter Baumgart, Universitätsgründungen im konfessionellen Zeitalter: Würzburg und Helmstedt, in: ders. und Notker Hammerstein (Hg.), Beiträge zu Problemen deutscher Universitätsgründungen in der frühen Neuzeit, Nedeln/Liechtenstein 1978, S. 191 ff., hier: S. 200; Notker Hammerstein, Die Universitätsgründungen im Zeichen der Aufklärung, ebda., S. 363 ff., hier: S. 279, sowie ders., Zur Geschichte der Deutschen Universität im Zeitalter der Aufklärung, in: Rössler/Franz (Hg.), Universität und Gelehrtenstand (wie Anm. 6), S. 145 ff., hier S. 151 ff.

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hungskraft der Universität für Lehrende und Studierende zu erhöhen.10 Mit dem nie ganz gelösten Spannungszustand zwischen ständischer Freiheit, einer Art „Peuplierungsinteresse“ der Landesherren an ihren Universitäten und dem staatlichen Bemühen, alle Lebensbereiche mit den eigenen Hoheits- und Regulierungsansprüchen zu durchdringen, ist der Rahmen für die Entfaltung einer spezifisch studentischen Sitte und Kultur in der Frühen Neuzeit bezeichnet. Seit es spezifisch studentische Vereinigungen gibt, sind sie verboten. Aber seit es Verbote gibt, sind sie auch fruchtlos geblieben. Der unablässige Kampf der Behörden lässt sich verstehen als Teilprozess in dem Bemühen des frühneuzeitlichen Staates, sein Gewaltmonopol gegenüber allen gesellschaftlichen Gruppen durchzusetzen, alle Formen genossenschaftlicher oder assoziativer Verbindungen entweder ganz abzubauen oder zumindest der eigenen Legitimierung und Satzungshoheit zu unterwerfen.11 Dass dies gegenüber den studentischen Verbindungen niemals gelang, spiegelt sehr genau die Schwierigkeiten bei der Durchsetzung des absoluten Anstaltsstaates wider. 1633 kam es erstmals, ausgehend von Wittenberg, zu einem Versuch, alle evangelischen Reichsstände zu einem gemeinsamen Vorgehen gegen die Landsmannschaften zu bewegen. In der Konsolidierungsphase nach dem Dreißigjährigen Krieg wurde tatsächlich 1664 ein Reichsschluss der evangelischen Stände verabschiedet, der aber folgenlos blieb. In zwei bisher bekannten Fällen resignierten die landesherrlichen Behörden schließlich und duldeten die Landsmannschaften, wenn auch nur vorübergehend: in Rostock von der Mitte des 17. Jahrhunderts bis 1750 und in Königsberg.12 An der neugegründeten Universität Halle versuchten die Behörden, die Landsmannschaften sofort nach ihrem ersten Auftreten 1717 zu unterdrücken. Seit 1745 mehren sich überall die landesherrlichen Verordnungen und richten sich jetzt nicht mehr nur gegen die Landsmannschaften, sondern ausdrücklich gegen die Orden, denen zum Teil noch schärfere Strafen angedroht werden.13 Nach den schweren Straßentumulten in Jena im Sommer 1792 erreichte der Kampf gegen die Verbindungen schließlich tatsächlich ein neues Niveau. Der Sachsen-Weimarische Gesandte in Regensburg wurde beauftragt, das Corpus Evangelicum des Reichstags zu gemeinsamem Vorgehen zu bewegen. Auf Vorschlag Preußens hin wurde die Frage dann den Gesamtreichsständen vorgetragen. 1793 erhob der Reichstag die Vorschläge Herzog Karl Augusts zur Ordensbe10 Vgl. Baumgart, Universitätsgründungen im konfessionellen Zeitalter (wie Anm. 9), S. 200; Hammerstein, Zur Geschichte der Deutschen Universität im Zeitalter der Aufklärung (wie Anm. 9), S. 152. 11 Zum Verhältnis von Staat und Sozietätswesen vgl. Wolfgang Hardtwig, Politische Gesellschaft und Verein zwischen aufgeklärtem Absolutismus und der Grundrechtserklärung der Frankfurter Paulskirche, in: G. Birtsch (Hg.), Grund- und Freiheitsrechte vom Ausgang des Mittelalters bis zur Revolution von 1848, Göttingen 1981, S. 336 ff., hier bes. S. 338 ff. 12 Wilhelm Bruchmüller, Das deutsche Studententum. Von seinen Anfängen bis zur Gegenwart, Leipzig u.a. 1922, S. 65 f. 13 Als charakteristisches Beispiel vgl. das Edikt für die Universität Jena vom 13. 2. 1767, abgedr. in: Actenmäßige Nachricht über die seit dem 10ten Junius 1792 auf der Akademie zu Jena vorgefallenen Unruhen, Weimar 1792, Beilage A. Ein Überblick über die Verbotsedikte bei Christoph Meiners, Geschichte der Entstehung der Hohen Schulen, Bd. IV, Göttingen 1805, S. 163 f.

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kämpfung zum Reichsgutachten, das aber vom Kaiser nicht bestätigt wurde.14 Es sollte die Ordensmitglieder vom Staatsdienst ausschließen und versuchte, die Ordensbekämpfung überterritorial zu koordinieren, indem bei auswärtigen Studenten jeweils Mitteilung an die zuständige Behörde des Heimatlandes gemacht werden sollte. Damit knüpfte das Reichsgutachten einerseits an das Verbindungsverbot von 1664 an und nahm andererseits bereits die wesentlichen Bestimmungen aus den Karlsbader Beschlüssen von 1819 vorweg.15 Obgleich es keine Rechtsverbindlichkeit erhalten hatte, legten anschließend verschiedene deutsche Staaten – so etwa Hannover, Preußen und Sachsen – ihren Ordensedikten seine Bestimmungen zugrunde.16 Das Absinken der Rezeptionen etwa bei den Jenaer Konstantisten und Äußerungen von Ordensstudenten deuten darauf hin, dass diese Verbotsverschärfung auch tatsächlich Wirkung zeigte.17 Aber es gelang auch jetzt keineswegs, die Orden gänzlich auszuschalten. Für ihr allmähliches Ende im Lauf des folgenden Jahrzehnts war die Abkehr der Studenten selbst vom Ordensgedanken mindestens ebenso wichtig wie der staatliche Verbotsdruck. Denn auch die neuen Landsmannschaften, die sich jetzt zu konstituieren begannen, blieben mit dem Verbot belegt. Zwar gibt es einzelne Fälle, in denen sich die Kränzchen einer wohlwollenden Duldung oder sogar der offiziellen Anerkennung erfreuen konnten, aber solche Annäherungen blieben doch punktuell und befristet.18 Die Gründe für die weitgehende Erfolglosigkeit der staatlichen Verbote sind mannigfaltig. Am stärksten fiel ins Gewicht, dass die Landesherrn selbst auch jetzt noch vor allem darauf bedacht waren, auswärtige Studenten nicht durch Einschränkung des „burschikosen Lebens“ von ihren Landesuniversitäten zu verschrecken.19 Hinzu kommen auch noch im späten 18. Jahrhundert Mängel im Verwaltungsapparat sowie, vor allem bei den kleineren Staaten, auch fehlende Zwangsmittel. In Jena stellte sich z.B. 1797 heraus, dass man vergessen hatte, das von Sachsen-Weimar selbst initiierte Reichsgutachten zu publizieren.20 Als es in Marburg 1798 wieder einmal zu einer Untersuchung gegen die Orden kam, wurde ein

14 Vgl. dazu Ernst Deuerlein, Neues vom Konstantistenorden, in: Wende und Schau, Kösener Jahrbuch, 2. Folge (1932), S. 90 ff., hier S. 130 f., sowie Paul Wentzke, Geschichte der Deutschen Burschenschaft, Bd. I Vor- und Frühzeit bis zu den Karlsbader Beschlüssen, 2. Aufl. Heidelberg 1965 (= Quellen und Darstellungen, Bd. 6), S. 26. 15 Universitätsgesetz, §§ 3,4 in: Ernst Rudolf Huber, Dokumente zur Deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. I, Stuttgart 1961, S. 90 f. 16 Vgl. Deuerlein, Neues vom Konstantistenorden (wie Anm. 14), S. 132; W. Bruchmüller, Der Leipziger Student 1409–1909, Leipzig 1909, S. 107. 17 Vgl. Deuerlein, Neues vom Konstantistenorden (wie Anm. 14), S. 146. 18 Vgl. für Erlangen: Wilhelm Fabricius, Die deutschen Corps, 2. umgearb. u. verm. Aufl., Frankfurt a.M. 1926, S. 189. 19 Vgl. z.B. Georg Heer, Marburger Studentenleben, Marburg 1927, S. 75 ff.; Moraw, Aspekte und Dimensionen (wie Anm. 5), weist S. 40 darauf hin, dass die „Ökonomisierungstendenz“ der frühneuzeitlichen Universität die Widerstandskraft gegen Studentenunruhen geschwächt habe. 20 Deuerlein, Neues vom Konstantistenorden (wie Anm. 14), S. 132.

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Student relegiert, einer mit dem Consilium abeundi bestraft,21 schärfer vorzugehen vermied man, ähnlich wie auch in Jena, um keine Unruhen auszulösen.22 Vielfach stellten sich die Professoren, mit den Studenten nicht nur in einer Lehr- und Lern-, sondern auch in einer ökonomischen Subsistenzgemeinschaft verbunden, schützend vor die Verbindungen. Als Woellner z. B. ein scharfes Edikt gegen die Orden in Frankfurt a.O. erließ, sprach sich die Professorenschaft mehrheitlich gegen die „strengen Gesetze“ aus.23 Betrieb einmal ein Hochschullehrer wie Fichte in Jena 1792 energisch und konsequent den Kampf gegen die Verbindungen, so spielten sowohl Professorenkollegen wie auch die staatliche Universitätsbehörde das ganze Ordenswesen plötzlich herunter und versagten ihre Unterstützung.24 Die Studenten ihrerseits entzogen sich den Nachstellungen mit verschiedenen Methoden. Entweder lösten sie die Orden bei drohenden Untersuchungen selbst vorübergehend auf und nahmen nach deren Ende das Ordensleben unverändert wieder auf.25 Oder die Statuten erlaubten den Mitgliedern ausdrücklich, in Ordensangelegenheiten vor den universitären oder staatlichen Organen einen Meineid zu schwören. Die Methoden der neuen Landsmannschaften unterscheiden sich hier keineswegs von denen der Orden. In Göttingen z.B. bildeten sich 1811 die Landsmannschaften vor einer Untersuchung in die Form von Klubs um.26 Vor allem gilt wohl auch für die studentischen Verbindungen, was die zeitgenössische Literatur über die Geheimgesellschaften überhaupt feststellte: Das Geheimnis und das Verbot wirkten an sich selbst schon als Attraktion und erhöhten den Gruppenzusammenhalt. In der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts drangen zunehmend solche Bestimmungen und Argumente in die landesherrlichen Mandate ein, die am Charakter der Verbindungen als einer Art intermediärer Gewalt Anstoß nahmen. Dabei wurden vor allem die Organisationsmerkmale angegriffen, in denen Privatvereinigungen quasiherrschaftliche Züge zu usurpieren schienen. Mit der autonomen Setzung von Statuten – so heißt es – maßten sich die Verbindungen ein außerstaatliches Zwangsrecht gegenüber Staatsuntertanen an.27 Hier tauchte das Hauptargument aller Vereinsgegner auf, das dann die Diskussion um das Vereinsrecht seit dem öffentlich ausgetragenen Kampf um die Geheimgesellschaften ab circa 1780 bis zur endgültigen Gewährung auch des politischen Vereinigungsrechts in den 1860er Jahren beherrschte: die Gefahr, die für das Gemeinwesen von einem „Staat im Staate“ 21 Heer, Marburger Studentenleben (wie Anm. 19), S. 82. 22 Deuerlein, Neues vom Konstantistenorden (wie Anm. 14), S. 119. 23 Gutachten des Professors Berens, dem sich die Professorenmehrheit anschloß, abgedr. bei Ludwig Golinski, Die Studentenverbindung in Frankfurt a.O., Diss. phil. Breslau 1903, S. 65 f. 24 Fichtes vergeblicher Kampf gegen die Orden in Jena ist mehrfach beschrieben worden, vgl. Deurlein, Neues vom Konstantistenorden (wie Anm. 13), S. 132 ff.; Otto Götze, Die Jenaer akademischen Logen und Studentenorden des 18. Jh.s, Jena 1932, S. 118 ff. 25 Andererseits erwiesen sich die Behörden als zu unflexibel, um innerstudentische Reformbewegungen aufzugreifen und zu fördern, vgl. unten Abschnitt 2. 26 Vgl. Fabricius, Deutsche Corps (wie Anm. 18), S. 225. 27 Exemplarisch die Jenaer Verordnung vom 20. 5. 1765: Die Landsmannschaften hätten „gewisse Verordnungen … eigenmächtig gefestiget“, die „academischen Bürger“ würden auf „unerträgliche Weise zu Sclaven ihrer Mitbürger gemacht“, abgedr. in: C. Meiners, Geschichte der Entstehung der Hohen Schulen (wie Anm. 13), S. 164 f.

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ausgehe.28 Dieses Motiv allein erklärt aber noch nicht den wachsenden Druck auf die Studentenschaft. Denn die un- oder vorpolitischen bürgerlichen Sozietäten konnten sich im aufgeklärten Absolutismus mehr oder weniger ungehindert entfalten.29 Wichtiger als die Verbotspraxis der Behörden war für die studentische Denkweise und Mentalität am Ende der langfristige und insgesamt steigende Sozialisationsdruck, den die Staaten auf ihre künftige Führungsschicht auszuüben suchten. Dieser Druck nahm in der Frühneuzeit in dem Maße zu, wie die Staaten ihr Tätigkeitsfeld und ihren Kompetenzanspruch ausdehnten und die Gesamtheit der Untertanen auch gesinnungs- und verhaltensmäßig ihrer Wohlfahrts- und Beaufsichtigungspolitik zu unterwerfen suchten. Die Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts über das studentische Leben, verfasst im wesentlichen von Staatsbeamten, spiegelt durchweg dieses Interesse an der Disziplinierung, Moralisierung und Effektivitätssteigerung auch der jugendlichen Bildungsschicht wider. Argumentation und Tenor dieser Perspektive auf das studentische Leben sind exemplarisch in Johann Matthäus Meyfarths umfänglichem Traktat „Christliche Erinnerung …“ zusammengefasst. Er hat die geläufigen und immer wieder repetierten Topoi und Sentenzen der etatistisch-moralistischen Kritik an der „studentischen Freiheit“ bis zum Ende des 18. Jahrhunderts wesentlich geprägt.30 Er geißelt in den schärfsten Ausdrücken den Pennalismus, das Duellwesen, Trinksitten, Finanzgebaren, fehlende Arbeitsdisziplin und ausschweifendes Sexualleben der Studentenschaft und bezieht in seine Jeremiade durchaus auch die Lehrenden ein. Die an sich schon seit dem 16. Jahrhundert festzustellende Tendenz zu immer mehr staatlicher Sittenüberwachung und Beaufsichtigung nimmt nun seit der Mitte des 18. Jahrhunderts deutlich erkennbar zu. Die Disziplinarvorschriften der Würzburger Universitätsreform von 1749 zum Beispiel lehnen sich noch weitgehend an die Statuten Julius Echters von Mespelbrunn aus dem Jahr 1587 an, ebenso wie das Dekret Franz Ludwig von Erthals zur „Aufsicht über die Moralität der Jünglinge“ 1791.31 Aber die Aufsicht wird jetzt intensiviert, die Strafandrohung präzisiert. Das staatliche Leitbild studentischer Lebensführung verändert sich in Richtung auf bürgerliche Wohlanständigkeit und „Tugend“, gelehrte Ausbildung, Staatsloyalität und eine besondere Verantwortung für das allgemeine Wohl.32 Das Preußische Allgemeine Landrecht z.B. handelt in vier Paragraphen von der inneren Verfassung der Universitäten, in sechs von der Aufnahme der Studenten und in 45 Paragraphen 28 Vgl. dazu W. Hardtwig, Strukturmerkmale und Entwicklungstendenzen des Vereinswesens in Deutschland 1800–1848, in diesem Band S. 181–214. 29 Vgl. W. Hardtwig, Politische Gesellschaft und Verein (wie Anm. 11), S. 338 ff. 30 Johann Matthäus Meyfart, Christliche Erinnerung von den aus den evangelischen hohen Schulen in Deutschland an manchen Orten entwichenen Ordnungen und Erbaren Sitten und bei dieser elenden Zeit eingeschlichenen Barbareien, Schleissingen 1631, Kap. 9, S. 77 ff., Kap. 15, S. 142, Kap. 18, S. 161 ff.; zur studentischen Sitte vgl. Friedrich Schulze, Paul Szymank, Das deutsche Studententum von den ältesten Zeiten bis zur Gegenwart, 4. Aufl. München 1932, S. 106–135, 189–207. 31 Zit. nach Ernst Schubert, Studium und Studenten an der Alma Julia im 17. und 18. Jh., in: 1582–1982. Studentenschaft und Korporationswesen an der Universität Würzburg, Würzburg 1982, S. 11 ff., hier: S. 14. 32 Ebda, S. 15 ff.

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von der Aufsicht über Studienfleiß und Aufführung der Studenten: „Unfleiß oder unordentliche Lebensart“ müssen vom Dekan dem Senat angezeigt werden, „Schlägereyen, Schwelgereyen und andere zum öffentlichen Aergerniß, oder zur Stöhrung der gemeinen Ruhe und Sicherheit gereichende Exzesse“ der Studenten sollen „nachdrücklich geahndet“ werden; es folgen ein genauer Strafkatalog und schließlich in 27 Paragraphen detaillierte Anweisungen, auf welche Weise das Schuldenmachen unterbunden werden könne.33 Damit greift der Staat tief in die private Lebensführung der jugendlichen Bildungsschicht hinein und versucht Friedlichkeit, Fleiß und Verzicht auf die Ungebundenheit und die überschäumenden Lebensregungen der Adoleszenz zu erzwingen. Auf dem Wege obrigkeitlicher Disziplinarvorschriften soll der jugendliche Untertan und kommende Staatsdiener zum Menschen mit „wohlgeordneten Leidenschaften“ geformt werden.34 Schließlich erhielten alle diese Bemühungen um die Beschränkung der „studentischen Freiheit“ seit 1789 neue Schubkraft durch die Erfahrung der Französischen Revolution. Landesherren und Universitätskollegien begannen das studentische Verbindungswesen besonders seit 1792 als latent oder offen politische Bedrohung aufzufassen. Die Jenaer Unruhen von 1792 wurden als Teil der revolutionären Unrast begriffen, die ganz Europa ergriffen habe. Herder sprach sich schon 1790 gegen das Tragen von Kokarden aus, die ein politisch deutbares und an „Soldatentum“ erinnerndes „Feldzeichen“ seien, Goethe deutete den Auszug der Studenten nach Nohra bei Weimar als „Kinderkrankheit“ vor dem Hintergrund der großen Krankheit der Französischen Revolution.35 Von jetzt an zieht sich durch die Ordensedikte leitmotivisch der Hinweis auf die „Schwärmerei“ der Studenten, womit aufklärerisch-weltbürgerliche Ideen bzw. die Ideen von 1789 gemeint waren, die als Gefahr für die bestehende Staatsverfassung gesehen wurden.36 Was die Regierungsmaßnahmen angeht, so kulminierte die Politisierung des Kampfes um das studentische Gesellschaftswesen in einer Berliner Ministerialverfügung an die Universität Erlangen 1798. Sie legte die Stellung der preußischen Behörden generell fest. Unter direktem Hinweis auf die Statuten der Erlanger Konstantisten heißt es, sie seien nicht bloß Äußerungen „jugendlicher Torheit“, sondern enthielten „gefährliche Sätze“, sie predigten die Grundsätze der Jakobinerklubs und postulierten unveräußerliche Menschenrechte und angeborene Freiheiten.37 Damit war in Preußen die Bekämpfung der Ver33 Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten von 1794. Textausgabe, mit einer Einführung von H. Hattenhauer und einer Bibliographie von G. Bernert, Frankfurt 1970, II/12 §§ 92, 85, 99–126. 34 Statuten der Universität Würzburg 1785, zit. nach Schubert, Studium und Studenten (wie Anm. 31), S. 15. 35 Vgl. Carl Schüddekopf, Ein Gutachten Goethes über Abschaffung der Duelle an der Universität Jena 1792, in: Goethejahrbuch Bd. 19 (1898), S. 20–34, hier S. 33; Johann Gottfried Herder, Einige Anmerkungen über das Projekt zu erlaubten landsmannschaftlichen Verbindungen auf Universitäten, eingereicht am 4. Okt. 1790, in: Herders Sämtliche Werke, hg. v. B. Suphan, Bd. 38, Berlin 1889, S. 468–475, hier: S. 469. 36 Vgl. z.B. das Würzburger Ordensedikt des Fürstbischofs Karl Georg von Fechenbach 1795 bei Schubert, Studium und Studenten (wie Anm. 31), S. 25. 37 Vgl. Wentzke, Geschichte der Deutschen Burschenschaft (wie Anm. 14), S. 26; Hans Gerth,

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bindungen auf die Ebene des politischen Vereinsverbots gehoben worden – gleichzeitig mit dem Erlass gegen die politischen Vereine, der neben dem Allgemeinen Landrecht das Vereinsrecht bis 1848 bestimmte.38 Die Sorge der Regierungen war zwar im höchsten Maße übertrieben. Gleichwohl ist nicht zu übersehen, dass es Ansätze zur Rezeption von aufklärerisch-revolutionärem Ideengut und zur Politisierung gegeben hat. Erste Anzeichen für das Erwachen politischer Interessen sind schon in den 1760er Jahren zu registrieren. Laukhart berichtet aus Jena, dass besonders die sogenannten „Reichsländer“, also die Studenten aus dem territorial zersplitterten Südwesten Deutschlands, auf Seiten Preußens und Friedrichs des Großen Partei bezogen hätten – so weitgehend, dass der Senat das öffentliche „Raisonnieren“ der Studenten schließlich verbot.39 Bis 1790 ist über weitere ausdrücklich politische Äußerungen der Studentenschaft nichts bekannt, dann aber gibt es an verschiedenen Universitäten Indizien für eine gewisse Politisierung. Die Parolen mochten in manchen Fällen auch nur dazu dienen, die alte „studentische Freiheit“ zeitgemäß einzukleiden. Relativ bewusst und artikuliert scheint das politische Interesse bei einigen Tübinger Studenten gewesen zu sein, gefördert durch den starken Anteil elsässischer Studenten, der sogenannten „Mömpelgarder“. Das führte zur Gründung eines politischen „Klubs“, in dem Tageszeitungen gelesen und aktuelle politische Fragen erörtert wurden.40 In Marburg und Gießen politisierte sich 1795 unter der Führung des Privatdozenten der Rechte J. L. J. Greineisen die Loge des auch in anderen Orten politisch bewusstesten der Studentenorden, der Konstantisten.41 Geläufige Formen der Sympathiebekundung mit den Revolutionsidealen waren Stammbucheintragungen wie etwa „Vive la liberté“, „Vive Jean Jacques!“, „Freiheit und Vaterland“, „Tod den Tyrannen“ und ähnliches, das Absingen des Revolutionsliedes „Ça ira“, von Preisliedern auf die gefallenen französischen Freiheitshelden oder – besonders häufig – das Absingen von Schillers Freiheitslied in den „Räubern“ „Ein freies Leben führen wir“.42 In Bürgerliche Intelligenz um 1800, 2. Aufl., Göttingen 1976, S. 39. 38 Vereinsedikt vom 20. 10. 1798, in: Ernst Rudolf Huber, Dokumente (wie Anm. 15), S. 58 ff. 39 Vgl. das ausführliche Referat nach Laukhart bei Moritz Busch, Die gute alte Zeit, Bd. I, Leipzig 1878, S. 192 f.; ebda S. 149–208 ein Abriß der Geschichte des Mosellaner-Ordens. 40 Jetzt v.a.: Uwe Jens Wandel, Verdacht von Democratismus? Studien zur Geschichte von Stadt und Universität Tübingen im Zeitalter der Französischen Revolution, Tübingen 1981, S. 47– 68. 41 Vgl. Georg Heer, Studentenorden an der Universität Marburg seit der Mitte des 18. Jh.s, in: Zeitschrift d. Vereins f. hess. Geschichte und Landeskunde Bd. 56 (1927), S. 199 ff., hier S. 234; zu den Anführern des Ordens zählte seit 1799 Peter Siegmund Martin, der sich 1809 am Dörnbergschen Aufstand gegen die Franzosen beteiligte und 1798 bereits Pläne zu einer Gesamtverbindung an „allen vaterländischen Hochschulen“ verfolgte, vgl. dazu Ernst Müsebeck, Siegmund Peter Martin und Hans Rudolph von Plehwe, zwei Vertreter des deutschen Einheitsgedankens von 1806–1820, in: Quellen und Darstellungen, Bd. II, hg. v. H. Haupt, Heidelberg 1911, S. 75 ff., hier S. 75, sowie Wentzke, Geschichte der Deutschen Burschenschaft (wie Anm. 14), S. 42. 42 Heer, Studentenorden an der Universität Marburg (wie Anm. 41), S. 234; Georg Schmidgall, Der Konstantistensenior Karl August von Wangenheim, in: Deutsche Corpszeitung, Jg. 44, Nr. 5 (1927), S. 158; Rolf-Joachim Baum, Aus der Frühzeit der Würzburger Verbindungen (1770– 1815), in: 1582–1982. Studentenschaft und Korporationswesen an der Universität Würzburg,

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Würzburg bildeten sich in der Studentenschaft 1798 offenbar zwei Lager heraus: Revolutionsfreunde und Revolutionsgegner, die ähnlich wie Peter Siegmund Martin in Marburg bereits nationale Unabhängigkeitsparolen ausgaben. Die Revolutionsfreunde stammten aus dem Rheinland und aus der Pfalz, die anderen, überwiegend Franken, gehörten dem Konstantistenorden an.43 Die Studenten aus den französisch verwalteten Gebieten bejahten offenbar die französische Herrschaft, ebenso wie die Mitglieder der ersten Rhenanen-Landsmannschaft in Jena, die sich als französische Bürger verstanden.44 Ausgesprochen absolutismus- und adelskritische Reflexionen finden sich im Tagebuch des Landshuter Suevia-Gründers von Ow.45 Die Anfänge der neuen Landsmannschaften sind also ebenfalls nicht frei von Politisierungsansätzen. Diese berühren sich vereinzelt mit den Organisationsbestrebungen der radikalisierten deutschen Spätaufklärung. So wurden die Jenaer Tumulte 1792 durch den griechischen Studenten Polizo ausgelöst, der offenbar den Versuch machte, die Jenaer Orden in Kontakt zu bringen mit F.C. Bahrdts Projekt einer „Deutschen Union“.46 Eine Verbindung von Studentenorden und bürgerlicher Sozietätsbewegung schwebte offenbar auch dem ehemaligen Konstantisten Karl von Held vor.47 Insgesamt blieben diese Politisierungsansätze aber vereinzelt und ergriffen nur wenige Studenten. Trotz des gelegentlichen Auftretens politischer Impulse bei den neuen Korps wandte sich die studentische Reformbewegung seit der Jahrhundertwende im Ganzen von ausdrücklich politischen Aktivitäten ab. II. Das Selbstverständnis und die Verhaltensnormen der jugendlichen Bildungsschicht in der Frühen Neuzeit orientierten sich am Leitbegriff der „studentischen Freiheit“. Er grenzte die Studentenschaft als Einheit von den übrigen Gruppen der Gesellschaft ab, betonte ihre Vorrechte als selbständiger „Stand“ und beschrieb ein spezifisches Rollenverhalten. Dieser eigene „Stand“ bedingt eine im Einzelfall zwar unterschiedliche, aber im Ganzen doch große Distanz aller Universitätsangehörigen

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hg. zur 400-Jahrfeier der Alma Julia vom Institut für Hochschulkunde an der Universität Würzburg, Würzburg 1982, S. 54 f. Baum, Aus der Frühzeit (wie Anm. 42), S. 54 f.; in Würzburg äußerte sich 1804 der Universitätskurator von Thürheim auch besorgt über die „Absonderung der Studirenden in getheilte Gesellschaften und Partheyen“ und forderte ganz im Sinne der Gleichsetzung von studentischen und bürgerlich-aufklärerischen Gesellschaften, besonders „auf die Bildung gemeiner Sozietäten ein wachsames Auge“ zu haben, zit. ebda, S. 59. Vgl. Fabricius, Deutsche Corps (wie Anm. 18), S. 193. Ferdinand Kurz, Ursprung und Stiftung der Suevia München, Tagebucheintrag vom 9. 1. 1804, in: Academische Monatshefte Jg. XIX (1902/03), S. 2 ff., hier S. 4. Vgl. Pietsch, Geschichte der Loge zu E., abdr. in: Deuerlein, Neues vom Konstantistenorden (wie Anm. 14), S. 107 f.; Günther Mühlpfordt, Radikale Aufklärung und nationale Leserorganisation. Die Deutsche Union von Karl Friedrich Bahrdt, in: Otto Dann (Hg.), Lesegesellschaften und bürgerliche Emanzipation. Ein europäischer Vergleich. München 1981, S. 103 ff. Zu Held vgl. die Biographie von K. A. Varnhagen von Ense, Hans von Held. Ein preußisches Karakterbild, Leipzig 1845, bes. S. 5–23.

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zur jeweiligen Stadtgesellschaft. Sie konnte bei der Professorenschaft abgeschwächt werden durch verwandtschaftliche Verflechtung mit dem städtischen Honoratiorentum oder durch den vor allem in 18. Jahrhundert zunehmenden Versuch, sich in die Hofgesellschaft zu integrieren;48 sie blieb aber doch sehr fühlbar. Dadurch erhielt auch das libertäre Selbstverständnis der Studenten einen gewissen inneruniversitären Rückhalt. „Studentische Freiheit“ umfasste bis zum Ende des 18. Jahrhunderts und vielfach noch weit darüber hinaus die Erscheinungsformen jugendlicher Ungebundenheit, jugendlichen Unabhängigkeitsdranges und jugendlicher Selbstüberhebung. Provozieren, tumultuieren, renommieren, duellieren, Wirte prellen und Schulden nicht bezahlen — alles das deklarierten die Studenten als ihr besonderes Vorrecht gegenüber der Societas civilis. Dieses Ausleben lässt sich verstehen als eine durch generationen-spezifische Verhaltensweisen akzentuierte Erscheinungsform des „unbändigen Freiheitstriebes“, den Kurt von Raumer als Merkmal der Gesellschaften des Ancien Régime beschrieben hat.49 Nur eine außergewöhnliche Konstellation wie beim Sonderfall Leipzig konnte diesen Gegensatz auflockern.50 Vom frühen 16. bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts erfährt man immer wieder von Provokationen gegen Bürger, von Schlägereien mit den Handwerksgesellen und Auseinandersetzungen mit dem Militär – trotz aller Tumultmandate der Landesherren.51 Vor allem Verbote von Landsmannschaften oder Orden konnten heftige Ausschreitungen auslösen.52 Unter dem Motto, die „studentische Ehre“ müsse gewahrt werden, griffen die Studenten dann auch zum äußersten Kampfmittel, dem Auszug, so in Erlangen 1761 und vor allem in Jena 1793.53 Hier wurde der Konflikt durch die Über48 Vgl. Schubert, Studium und Studenten (wie Anm. 31), S. 22 ff.; Hammerstein, Zur Geschichte der Deutschen Universität (wie Anm. 9), S. 156; ders., Die Universitätsgründungen im Zeichen der Aufklärung (wie Anm. 9), S. 271. 49 Kurt von Raumer, Absoluter Staat, korporative Libertät, persönliche Freiheit, in: H.-H. Hofmann (Hg.), Die Entstehung des modernen Staates, Köln u.a. 1967, S. 173 ff., hier S. 193. 50 Vgl. Bruchmüller, Der Leipziger Student (wie Anm. 16), S. 75 ff. 51 A. Pernwerth von Bärnstein, Beiträge zur Geschichte und Literatur des Studententhums von der Gründung der ältesten deutschen Universität bis auf die unmittelbare Gegenwart, mit besonderer Berücksichtigung des 19. Jh.s, Würzburg 1882, S. 16; Georg Heer, Studentenorden an der Universität Marburg (wie Anm. 41); Graf Du Moulin-Eckart, Geschichte der deutschen Universitäten, Stuttgart 1929, S. 75; Schubert, Studium und Studenten (wie Anm. 31), S. 23; Carl von Rotteck, Gesammelte und nachgelassene Schriften mit Biographie und Schriftwechsel, hg. von H. v. Rotteck, Bd. I, Pforzheim 1841, S. 9; Wentzke, Geschichte der Deutschen Burschenschaft (wie Anm. 14), S. 29. 52 Bruchmüller, Das deutsche Studententum von seinen Anfängen bis zur Gegenwart, Leipzig/ Berlin 1922, S. 45. 53 Vgl. Georg Schultheiß, Der Erlanger Studentenauszug von 1751, in: Acad. Monatshefte Jg. 25 (1908/09), S. 56–60, 122–134; zu Jena :Actenmäßige Nachricht über die seit dem 10. Junius 1792 auf der Academie zu Jena vorgefallenen Unruhen (wie Anm. 13), S. 6 f., sowie die Darstellungen bei Fabricius, Deutsche Corps (wie Anm. 18), S. 151 ff.; Deuerlein, Neues vom Konstantistenorden (wie Anm. 14), S. 121 ff.; Götze, Die Jenaer akademischen Logen (wie Anm. 24), S. 193 ff.; zum Plan eines Auszugs von der neugegründeten Universität Berlin nach Jena vgl. Fabricius, Deutsche Corps, S. 262 f.; zu Frankfurt/O. (1803): Golinski, Die Studentenverbindungen in Frankfurt (wie Anm. 23), S. 72; der Göttinger Auszug von 1780 hat seine Ursachen hingegen in einem Streit mit den örtlichen Tischlergesellen, in dessen Gefolge sich

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schneidung zweier Frontlinien verschärft: der traditionellen zwischen Verbindungsstudenten und Behörden und der neuen zwischen studentischen Duellanhängern und Duellgegnern. Es ist für die Entwicklung der folgenden Jahre sehr charakteristisch, dass der ursprünglichen Reformbewegung der Studentenorden nun selbst eine immer stärker anschwellende Opposition der Nicht-Organisierten, der „Renoncen“, gegenübertrat. Sie griff die ursprünglichen Ordensziele auf, entwickelte sie weiter und machte sie gegen die Orden selbst geltend. Vor allem forderte sie den vollständigen Verzicht auf den praktisch bestehenden Duellzwang bei Beleidigungen; in Jena wandte sie sich mit diesem Anliegen sogar an die großherzogliche Universitätsbehörde, insbesondere an Goethe. Damit durchbrach sie die bisher eindeutige Frontlinie zwischen Studentenschaft insgesamt und Behörden und hob die innerstudentischen Reformansätze auf ein neues Niveau. Für die Obrigkeit ihrerseits stellte das Duell die anstößigste Form dar, studentische „Freiheit“ zu praktizieren. Es hatte sich seit der Mitte des 17. Jahrhunderts auch in der studentischen Sitte allgemein durchgesetzt, seit dem Ende des Jahrhunderts zunehmend in der Form des „Rencontre“, eines Zweikampfs, der bei einem Zusammenstoß auf der Stelle ohne weitere Regelung ausgefochten wurde; gleichzeitig hatte sich neben der harmloseren Form der Hiebmensur die oft lebensgefährliche der Stoßmensur ausgebreitet. Dass die Studenten die bewaffnete Ehrenwahrung in ihren Verhaltenskodex aufnahmen, erklärt sich einerseits aus der allgemeinen Militarisierung des öffentlichen Lebens im Dreißigjährigen Krieg; wichtiger dürfte aber auf die Dauer die soziale Umschichtung innerhalb der Studentenschaft gewesen sein: der sinkende Anteil der Bürgerlichen schon seit circa 1550, die verminderten Aufstiegschancen der kleinbürgerlichen Scholaren im ganzen 18. Jahrhundert, die adelsfreundliche Zulassungspolitik der Landesherren seit dem ausgehenden 17. Jahrhundert und mit alledem die Anpassung des studentischen esprit de corps an die adelige Standeskultur.54 Am Ende des 17. Jahrhunderts zählte sich die Studentenschaft neben den Offizieren und der Beamtenschaft zu den „degentragenden“ Gruppen der Gesellschaft. Erstmals tauchte jetzt auch der Begriff der „Kavaliersehre“ in der Studentensprache auf.

die Göttinger Handwerkergilden gegen die Studentenschaft zusammentaten, Fabricius, Deutsche Corps, S. 251 (wie Anm. 3). 54 Vgl. Franz Eulenburg, Die Frequenz der deutschen Universitäten von der Gründung bis zur Gegenwart, in: Abh. d. phil.-hist. Klasse der kgl. Sächs. Gesellsch. d. Wiss. Bd. XXIV, Leipzig 1904, S. 53 ff.; Hermann Mitgau, Soziale Herkunft der Studenten bis 1900, in: Rössler/Franz (Hg.), Universität und Gelehrtenstand (wie Anm. 6), S. 237; Moraw, Aspekte und Dimensionen (wie Anm. 5), S. 35; zur Diskussion über die Entstehung eines akademischen Proletariats für Bayern und Preußen (Halle); R. A. Müller, Sozialstatus und Studienchance in Bayern im Zeitalter des Absolutismus, in: Historisches Jahrbuch 93 (1975), S. 120 ff., hier S. 123 ff.; für Österreich: Grete Klingenstein, Akademikerüberschuß als soziales Problem im Aufgeklärten Absolutismus, in: G. Klingenstein u.a. (Hg.), Bildung, Politik und Gesellschaft. Wiener Beiträge zur Geschichte der Neuzeit Bd. 5, München 1978, S. 165 ff., sowie R. A. Müller, Aristokratisierung des Studiums. Bemerkungen zu der Adelsfrequenz an süddeutschen Universitäten im 17. Jh., in: Geschichte und Gesellschaft 10 (1984), S. 31–45 passim.

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Das Duell hat mehrere Wurzeln, von denen nur eine hier angesprochen werden soll: die ursprünglich im Selbstverständnis des Kriegerstandes verankerte Überzeugung, dass der einzelne seine Ehre selbst zu verteidigen habe; ihr korrespondiert die Anschauung, dass eine ehrverletzende Beleidigung durch Gesetz und Richter nicht ausreichend gesühnt werden könne, dass es dazu vielmehr einer Handlung bedürfe, „durch die der Beleidigte öffentlich zu erkennen gebe, dass ihm die Ehre lieber als sein Leben sei.“55 Gegenüber dem staatlichen Anspruch auf das Gewaltmonopol enthält der Zweikampf grundsätzlich ein anarchisches Element. Er brachte den absolutistischen Staat in ein Dilemma, das bei den starken Relikten aristokratisch-feudaler Privilegierung in Deutschland bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts nicht völlig aufgelöst werden konnte. Denn gerade zur Durchsetzung der staatlichen Hoheitsrechte war er gezwungen, sich auf den Adel als einen Stand zu stützen, der, zumindest was das Offizierskorps angeht, sich nicht von der Überzeugung abbringen ließ, dass er sich für eine ehrenrührige Beleidigung selbst Genugtuung zu verschaffen habe. Insofern stellt das Duell nicht nur eine Form der Ehrenwahrung gegenüber Standesgenossen dar, sondern latent immer auch eine Form der Freiheitswahrung gegenüber dem Staat. Auf diese Weise kam in die staatliche Duellgesetzgebung der widersprüchliche Zug, dass das Duell einerseits mit den denkbar schwersten Strafen bedroht wurde, dass die Durchsetzung des staatlichen Duellverbots aber bis zum beginnenden 20. Jahrhundert niemals wirklich gelang.56 Die Antiduellgesetzgebung setzt bereits im späten 16. Jahrhundert ein. Sie verschärft sich seit der Mitte des 17. Jahrhunderts mit dem ersten preußischen Duellverbot von 1652.57 Das Duelledikt des Großen Kurfürsten von 1688 bezieht sich neben den „Civil- und Militair- und anderen Bedienungen“ ausdrücklich auch auf die „studirende Jugend auff den Academien“, die bisher vielfach „in der besten Blüthe des Alters, zu großem Schaden des gemeinen Wesens und zu Betrübnis ihrer Eltern und Angehörigen, freventlich und muthwillig … weggerissen und aufgerieben“ worden sei. Welches Gewicht diesem Problem von den Landesherren beigemessen wurde, erkennt man an dem absonderlichen Vorschlag Friedrichs des Großen, einen internationalen Fürstenkongress zur Bekämpfung des Duellwesens einzuberufen.58 Während also die Ausrottung des Zweikampfs eine zentrale Rolle in der staatlich verordneten Affekt- und Verhaltensdisziplinierung spielte, stellte das Duell umgekehrt einen Kernpunkt des studentischen Bemühens dar, sich ein markantes Freiheitssymbol des führenden Staatsstandes anzueignen und sich selbst 55 Carl Gottlieb Svarez, Vorträge über Recht und Staat, hg. von H. Conrad u. Gerd Kleinheyer Köln u.a. 1960, S. 445; vgl. dazu Friedrich Zunkel, Artikel „Ehre“ in: O. Brunner, W. Conze, R. Koselleck (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 2, Stuttgart 1975, S. 1 ff., hier S. 40–44. 56 Vgl. dazu Karl Demeter, Das deutsche Offizierkorps in Gesellschaft und Staat 1650–1945, 4. überarb. u. erw. Aufl., Frankfurt 1965, S. 124 ff. 57 Das erste Duellverbot in Würzburg datiert aus dem Jahr 1587, vgl. Schubert, Studium und Studenten (wie Anm. 31), S. 26 f.; vgl. auch Demeter, Das deutsche Offizierskorps (wie Anm. 56), S. 121 ff. 58 Zit. nach Demeter, Das deutsche Offizierskorps (wie Anm. 56), S. 124. Denkschrift von Ahasverus Fritsche für den Kurfürsten von Sachsen (1603), vgl. auch Bruchmüller, Das deutsche Studententum (wie Anm. 52), S. 49 ff.

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das mit dem adligen Ehrbegriff verbundene Bewusstsein von Vorrang und Würde zu bestätigen. Welche Ausmaße die Schlägereien tatsächlich annehmen konnten, ist noch einem Bericht des führenden Burschenschafters Robert Wesselhöft zu entnehmen; demnach kam es unter den 350 Studenten der Universität Jena im Sommer 1815 in einer Woche zu 147, einmal allein an einem Tag zu 35 Zweikämpfen.59 In den studentischen Komments seit 1790 nimmt die Regelung des Duellwesens weitaus den größten Raum ein. Gerade an den Komments lässt sich aber auch ablesen, dass sich in der Auffassung des Duells bei den Studenten seit circa 1770 ein langsamer Wandel abzuzeichnen begann. Er schlug sich nieder in einer differenzierten, zum Teil bis zum Absurden genauen Abstufung von möglichen Beleidigungen, in einer strengeren und allgemeingültigen Normierung angemessener Reaktionen und schließlich in zunehmenden Bestrebungen bei der Studentenschaft selbst, Konflikte und Ehrenhändel friedlich beizulegen. Seit Beginn der 90er Jahre versuchten studentische Initiativen an verschiedenen Universitäten mit sogenannten „Ehrengerichten“, das heißt Schiedsgerichten von Standesgenossen, ein zentrales Organ zu schaffen, vor dem die Ehrverletzungen verhandelt und der Streit durch Entschuldigung als einer sublimeren Form der Satisfaktion beigelegt werden sollte.60 In Jena bildete sich 1809 auf Anregung des Theologieprofessors Karl Christoph Fr. Schmid ein „Verein der freien Studenten“, der seine Mitglieder darauf festlegte, Beleidigungen auf dem „gesetzlichen Wege auszumachen“. Nach ihrem Scheitern lebte die Reformbewegung 1814 in einem „Tugendbund“ wieder auf.61 Die größte Resonanz hatte wohl die schon erwähnte Jenaer „Chokoladistenbewegung“ von 1793 gefunden. Herder hatte sich bei einer gutachtlichen Stellungnahme 1790 in konventionellen Bahnen bewegt und die Ehrengerichte mit dem Argument abgelehnt, die „jungen Leute“ seien „blos Schüler“.62 Goethe dagegen urteilte sehr viel scharfsinniger. Für ihn stellte sich die Initiative als eine „Verbindung vernünftiger junger Leute“, eine Gesittungs- und Selbstbestimmungsbewegung innerhalb der Studentenschaft dar, die „etwas, was schon lange gedacht und ausgeübt“ worden sei, zur allgemeinen Anerkennung bringen wollte. Sie ging ihm nur nicht weit genug. Die Ehrengerichte erschienen ihm als eine Möglichkeit zur Einübung in bürgerliche Selbstbestimmung, vergleichbar mit intellektuellen Übungen durch Probeaufgaben bei Medizinern, Juristen und Theologiestudenten.63 59 In: Hermann Haupt, Die Jenaische Burschenschaft von der Zeit ihrer Gründung bis zum Wartburgfeste. Ihre Verfassungsentwicklung und ihre inneren Kämpfe, in: Quellen und Darstellungen, Bd. I, S. 18 ff., hier S. 52; zur Fortsetzung der Reform in den Burschenschaften vgl. Wolfgang Hardtwig, Studentische Mentalität – politische Jugendbewegung – Nationalismus. Die Anfänge der deutschen Burschenschaft, in: HZ 242 (1986), S. 581 ff., bes. S. 581–600. 60 Vgl. Haupt, Die Jenaische Burschenschaft (wie Anm. 59), S. 46 ff.; H. O. Keunecke, Die Studentenschaft und ihre Orden im 18. Jahrhundert, in: A. Wendehorst (Hg.), Erlangen, Geschichte der Stadt in Darstellungen und Bilddokumenten, München 1984, S. 88; Golinski, Die Studentenverbindungen in Fkf. a. O. (wie Anm. 23), S. 48. 61 Haupt, Die jenaische Burschenschaft (wie Anm. 59), S. 48. 62 Einige Anmerkungen über das Projekt zu erlaubten landsmannschaftlichen Verbindungen (wie Anm. 35), S. 469. 63 Goethes Gutachten über Abschaffung der Duelle an der Universität Jena 1792, bei Schüddekopf (wie Anm. 25), S. 21; Eine sarkastische Kommentierung des Ehrengerichtsgedankens gibt

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In den alten Landsmannschaften wie in den Orden waren die führenden Positionen der Senioren und Konsenioren bis dahin den physisch stärksten und den geübtesten Schlägern zugefallen. Insofern hatten sich die studentischen Verbindungen auch Aspekte des Ethos der waffentragenden Schichten zu eigen gemacht. In der Ehrengerichtsbewegung wie in den Antiduellbewegungen überhaupt bahnt sich dagegen ein Wandel in der Wertorientierung wie im Statussystem der Studentenschaft an; die kriegerischen Eigenschaften treten allmählich zurück gegenüber kommunikativen und intellektuellen. Die Bewährung körperlicher Überlegenheit wird schließlich überhaupt angezweifelt. Einzelne Statuten schreiben um 1800 ausdrücklich vor, dass bei der Wahl der Seniors die Geschicklichkeit im Fechten bedeutungslos zu sein habe.64 Das heißt keineswegs, dass das agonale Verhalten selbst verschwindet, aber die Rivalität wird jetzt auf einer höheren Ebene ausgetragen. An die Stelle von physischer Kraft und Geschicklichkeit treten in einem langfristigen Entwicklungsprozess Studienfleiß, geregelt-moralische Lebensführung, Kontaktund Diskussionsfähigkeit und das Vermögen, die eigenen Ziele durch den Einsatz intellektuell-psychischer Eigenschaften zu verfolgen und durchzusetzen. Einen interessanten Beleg gibt hier Heinrich von Dahls autobiographische Schilderung seiner Rolle bei den Jenaer Ereignissen von 1792. Er betont ausdrücklich, mit der Waffe nicht der Geschickteste gewesen zu sein; trotzdem sei es ihm gelungen, von den Kommilitonen als Autorität anerkannt zu werden.65 Fast alle Statuten verlangten von den Mitgliedern bei ordensinternen Konfliktfällen vorab den Versuch zur gütlichen Einigung, einige schrieben sogar vor, das Schlagen ganz zu vermeiden, weil man nicht verbunden sei, durch Schlagen Ruhm zu erwerben, sondern seiner wahren Bestimmung näher zu kommen.66 Es gibt jetzt zumindest den Komment-Bestimmungen zufolge Formen und Gründe der Kränkung, die mit der Unbescholtenheit des Namens durchaus in Einklang zu bringen sind. Damit können reale soziale Erfahrungen grundsätzlich mehr Raum gewinnen. Die Reaktion in Konfliktsituationen wird abgestuft und insofern entritualisiert. Die Motive und Bedürfnisse der Kontrahenten können besser wahrgenommen und gegenüber den jeweils eigenen in Rechnung gestellt werden. Diese Öffnung in ganz bestimmte soziale Konfliktsituationen baut die Fixierung des Mitstudenten auf eine ganz bestimmte Rolle ab; sie erweitert und kompliziert damit aber auch den Spielraum der kommunikativen Reaktionen. An die soziale Aufmerksamkeit sind neue Anforderungen gestellt. Die Kontrahenten haben eine Mehrzahl von Faktoren zu demgegenüber Laukhart, der darin ein Mittel der Orden sah, durch die Besetzung der Ehrengerichtsstellen mit Ordenssenioren die Herrschaft der Orden zu verstärken, vgl. Laukhart, Annalen der Universität zu Schilda oder Bockstreiche und Harlekinaden der gelehrten Handwerksinnungen in Deutschland, 3, Leipzig 1798–99, S. 361 ff., bes. S. 326. 64 Gesetze der gelehrten Amicistenloge, abgedr. in: Fabricius, Deutsche Corps (wie Anm. 18), S. 148; vgl. auch die Guestphalia-Konstitution Göttingen 1812: Carl Manfred Frommel, Die Guestphalia zu Göttingen vom 9. November 1812 und ihre Constitution, in: Wende und Schau, Kösener Jahrbuch NF (1932), S. 194 ff.; hier S. 205. 65 Der Jenaer Studentenauszug nach Erfurt 1792, nach der Darstellung des Estländers Heinrich von Dahl, abgedr. in: Acad. Monatshefte Jg. XXV (1908/09) Nr. 298, S. 321 ff. 66 Vgl. Statuten der Pommerschen Kränzchens in Frankfurt a. O.; Golinski, Die Studentenverbindungen in Frankfurt (wie Anm. 23), S. 96.

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berücksichtigen und gegeneinander abzuwägen. Mit alledem gewinnen die Erfahrungen in sozialen Konfliktsituationen des Studentenlebens an Übertragbarkeit auf das bürgerliche soziale Leben überhaupt. Mit der Differenzierung und Personalisierung von Beleidigung und Sühne lockerte sich auch, wenngleich sehr langsam, die Fixierung des „guten Namens“ auf das traditionelle korporative Ehrgefühl. Es hatte sich an den zahllosen Kämpfen jeweils mit ganzen Gruppen der Gesellschaft, mit dem Militär und vor allem mit den Handwerksgesellen gezeigt. Im Zentrum hatte hier jeweils das Ansehen des „studentischen Standes“ im Ganzen gestanden. Auch in den neuen Landsmannschaften nach 1790 kam es allerdings noch häufig zu sogenannten „pro-patria“-Gefechten, wo im Namen nicht des individuellen, sondern des landsmannschaftlichen Ansehens jeweils mehrere Kämpfer einer Landsmannschaft gegeneinander antraten. Aber in der Gesamttendenz ging es jetzt nicht mehr so sehr darum, die Landsmannschaft als ein Allgemeines zu schützen, vielmehr wurde das Duell zunehmend reduziert auf Beleidigungen, die den Kern der individuellen Selbstachtung zu treffen schienen. Die Entscheidung darüber, welche Mittel zur Ehrenwahrung ergriffen werden sollten, trat in das Ermessen des Einzelnen, seine innere Entscheidungsfreiheit gewann an Gewicht gegenüber der Gruppenregel. Darüber haben dann vor allem die ersten Burschenschafter und ihre professoralen Förderer bis ins Einzelne gehende Theorien aufgestellt.67 III. Die Diskussion um das Duell signalisiert an einem gesellschaftlichen Ritual mit höchstem Symbolwert, dass das Verhalten in der Gesellschaft überhaupt in neuartiger Weise zum Problem wurde. Die Beschäftigung mit diesem Thema nahm zu, die Studentenschaft begann ihre Existenzform und ihre Gruppenkultur in bisher unbekanntem Ausmaß und Impetus mit Selbstinterpretationen zu durchdringen. Dieser Prozess blieb nicht begrenzt auf die jugendliche Bildungsschicht, vielmehr stieg in der spätaufklärerischen Gesellschaft die Pragmatik des Umgangs überhaupt zum großen Thema auf. Diese Diskussion kulminierte in den 1780er Jahren erstmals in einem der Meisterwerke der deutschen Spätaufklärung, des Freiherrn v. Knigges „Über den Umgang mit Menschen“.68 Knigge lässt dabei eine sehr weitgehende Einsicht in die Interdependenz von zwischenmenschlichem Verhalten, gesellschaftlicher Schichtung, Rigidität bzw. Offenheit des gesellschaftlichen 67 Vgl. J. Chr. L. Wilhelm Stark, Über den Geist des deutschen Studentenlebens, insbesondere zu Jena. Zugleich Beitrag und Einleitung zur Geschichte der Jenaischen Burschenschaft vom J. 1815, abgedr. in: Jenaische Blätter für Geschichte und Reform des deutschen Universitätswesens. Jena 1859, Heft 2, S. 61–73, hier S. 66 ff.; Jacob Friedrich Fries, Handbuch der praktischen Philosophie oder der philosophischen Zwecklehre, 1. Theil, Bd. I, Heidelberg 1818, S. 331 ff. 68 A. Freyherr von Knigge, Ueber den Umgang mit Menschen, Hannover 1788; zur Wirkungsgeschichte vgl. den Ausstellungskatalog: Ob Baron Knigge auch wirklich todt ist? Wolfenbüttel 1977.

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Normengefüges und schließlich auch der Struktur des politischen Systems erkennen. Die studentischen Statuten sprechen diesen Zusammenhang zwar nicht ausdrücklich aus, aber sie verweisen doch indirekt auf ihn. Sie reflektieren damit auch den gesellschaftlich-politischen Wandel in den Staaten des aufgeklärten Absolutismus.69 Im Vergleich zu den älteren Quellenaussagen über das studentische Leben fällt zunächst auf, welche Bedeutung sich das einzelne Individuum jetzt zuspricht.70 Welcher Gebrauch von den „eigenen Kräften“ gemacht werden soll, wie sie einzuschätzen sind, welchem Zweck sie dienen sollen, wie sie genutzt werden können, um einen höchstmöglichen Effekt zu erzielen, wie sie sich prinzipiell zu den „eigenen Kräften“ anderer stellen sollen – darum beginnt das Denken jetzt unermüdlich zu kreisen. Vom Wohl und Wehe der eigenen Person hängt in diesen Reflexionen nicht nur jeweils das individuelle Schicksal, sondern auch das Schicksal der Gruppe, des Ordens oder der Landsmannschaft, der „Nation“ im Sinne des territorialstaatlichen Patriotismus und schließlich auch der ganzen Menschheit ab.71 Die Erkenntnis, Entfaltung und Kultivierung der persönlichen Fähigkeiten und Möglichkeiten wird zur Pflicht – sich selbst wie der Gemeinschaft gegenüber. Dieser neuen Gewichtung der eigenen Individualität entspricht ein neues Verständnis von „Freiheit“; es meint primär die persönliche Souveränität – vor aller möglichen politischen Bedeutung, aber keineswegs unabhängig von ihr.72 Es gilt als Teil der persönlichen Bildung, wenn der Einzelne lernt, sich aus zufälligen Konstellationen herauszulösen, selbst die Handlungsinitiative zu ergreifen und sich damit Lebensumständen der verschiedensten Art nicht auszuliefern oder zu überlassen, sondern sich zu ihrem Herrn zu machen.73 Dazu gehört auch das Bedürfnis, sich von äußeren Bestätigungen der verschiedensten Art unabhängig zu machen. Die Aufforderung: „suche in dir selbst Belohnung“74 verweist wiederum auf die eigene Person als die wesentlichste Instanz der Rechtfertigung und verbindet sich schlüssig mit der Maxime: „Krieche vor niemand …“75 Es geht bei diesen Aufforderungen nicht so sehr darum, ein äußerliches Herr-Knecht-Verhältnis, eine reale Unterordnung abzuwerfen; insofern sind sie nicht zweckrational-pragmatisch im Sinne eines unmittelbar zu erreichenden Zustands zu verstehen. Vielmehr geht es vor allem darum, sich innerlich von Unter- und Überordnungsverhältnissen freizumachen, sich nicht im Übermaß beeindrucken zu lassen, Distanz zu gewinnen. Es geht also primär um den individuellen Charakter, die persönliche Vitalität, das Zutrauen des Einzelnen zu sich selbst, aus dem sich dann seine Stellung in der 69 Zum Diskussionsstand über den „aufgeklärten Absolutismus“ vgl. K. O. Frh. von Aretin, Der Aufgeklärte Absolutismus als europäisches Problem, in: ders. (Hg.), Der aufgeklärte Absolutismus, Köln 1974, S. 24 ff. 70 Vgl. als Beispiel, das die Motive und Ziele bes. konzentriert zusammenfasst: „Einrichtung des Amicisten-Ordens 1794, in: Götze, Die Jenaer akademischen Logen (wie Anm. 24), S. 197 ff. 71 Jenaer Harmonistengesetze, in: Götze, Die Jenaer akademischen Orden (wie Anm. 24), S. 205, § 18. 72 Einrichtung des Amicisten-Ordens 1794, in: Götze, ebda. (wie Anm. 24), S. 198 § 17. 73 Ebda., S. 198 § 9. 74 Ebda., S. 198 § 17. 75 Ebda., S. 199 § 19.

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Gesellschaft ergibt. Unterwürfigkeit „erstickt das Herz“, heißt es da, also die innere Freiheit, die als die Vorbedingung jedes nach außen getragenen Freiheitsanspruchs erscheint. Die Formulierungen bewegen sich ganz auf der Ebene menschlichen Grundverhaltens, dieses kann sich auf enge Freunde, auf die Familie, auf Berufskollegen, schließlich auf Amtsträger bzw. Repräsentanten der politisch-gesellschaftlichen Macht beziehen; die Grenzen gesellschaftlicher Kreise oder sozialer Schichten treten zurück, ebenso wie der Unterschied von privat und öffentlich. Eben damit bleibt das postulierte Verhalten, das sich an dem zentralen Wert der persönlichen Souveränität orientiert, aber auch nicht auf den privaten Umgang beschränkt. Würde das studentische Programm individueller Charakterbildung tatsächlich verwirklicht, so fielen – so kann man folgern – unberechtigte Formen der Über- und Unterordnung gleichsam von selbst in sich zusammen. Historisch geht es damit allerdings auch um die Voraussetzungen und Vorstufen dafür, dass die Legitimität bestehender, nicht auf persönliche Leistung gegründeter Statushierarchien bestritten wird. Die Neuorientierung menschlicher Grundverhaltensweisen gibt sich also zwar nach außen neutral gegenüber der gesellschaftlich-politischen Ordnung des Ancien Régime; sie ist es aber nicht, denn das Kontrastmodell zu dem hier umschriebenen Verhalten lässt sich in der Tat bündig mit dem Begriff der „Untertanengesinnung“ zusammenfassen. Die „Freiheit“ im Kernbereich der persönlichen Einstellung setzt sich z.B. ausdrücklich um in die Ungezwungenheit des Umgangs mit den Ordensoberen.76 Deren Autorität wiederum kann sich nicht einfach auf das Amt selbst stützen, sie bedarf vielmehr der Legitimierung durch persönliche Leistung und Überzeugungskraft, wobei den Ordensmitgliedern ausdrücklich aufgetragen wird, auf ihren Rechten und Ansprüchen zu bestehen, und das heißt auch, die Leistungen der Oberen selbst zu prüfen. Dem unbestechlichen Urteil gegenüber anderen korrespondiert allerdings auch die Forderung nach unbestechlicher Redlichkeit gegen sich selbst. Beides zusammen erst ermöglicht persönliche Unabhängigkeit. Entscheidend auch für das Verhalten nach außen bleibt, dass die selbständige Persönlichkeit in Einklang steht mit sich selbst und eben damit die Selbstachtung und die Kraft des Auftretens nach außen behauptet. Zu diesem idealen Sozialcharakter des jugendlichen Gebildeten gehört schließlich ganz substantiell auch der Anspruch, die eigene Überzeugung nicht nur zu wahren, sondern auch nach außen zur Geltung zu bringen. Die Pragmatik des sozialen Umgangs sieht daher durchaus auch Anweisungen vor, wie man ideelle Ziele in der Gesellschaft erfolgversprechend vertritt: es gelte „nach Kräften Aufklärung zu verbreiten“, was aber nur gelingen könne, wenn man den „Schein des Reformators“ vermeide.77 Hinter alledem steht eine neue Grundeinstellung der Aktivität, die im Zusammenhang mit der gleichzeitigen Transformation der Wissensbedürfnisse von einem im Wesentlichen abgeschlossenen und abschließbaren Wissen zur selbständigen Forschung und – sozialgeschichtlich – der Lockerung von Rollen und Rollenerwartungen im Erosionsprozess der ständischen Gesellschaft gesehen werden 76 Ebda., S. 199, §§ 28/29. 77 Ebda., S. 198, § 12.

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muss. Lernen, Streben und Erziehen gewinnen den Stellenwert einer Grundnorm, die sich gegen die Statik der ständischen Umgangserziehung wendet. Jedes Ordensmitglied soll zugleich „Schüler“, „Lehrer“ und „Freund“ des anderen sein.78 „Trägheit und Untätigkeit“ werden perhorresziert, alle Kenntnisse sind prinzipiell ergänzungs- und erweiterungsbedürftig, die positive Wertbesetzung von Fleiß und Bildungswille enthält ein Ethos der moralischen und intellektuellen Rastlosigkeit, das zumindest als kollektives Verhaltensmerkmal der angehenden Bildungsschicht ganz neu ist. Dieses Ethos der Rastlosigkeit verleiht dem Studium selbst als Lebensphase sorgfältiger Berufsvorbereitung neues Gewicht. Jedem Einzelnen wird der „Zweck“ zugewiesen, sich durch höhere wissenschaftliche Bildung zu vervollkommnen, durch „fleißiges Betragen ebenso wie durch Privatfleiß“.79 Das Perfektionsethos schreibt aber auch vor, den persönlichen Lebensplan grundsätzlich an der oberen und im Prinzip nie wirklich erreichbaren Grenze der individuellen Möglichkeiten auszurichten und sich nicht mit weniger zufrieden zu geben. Bleibt man dahinter zurück, so begeht man Verrat an sich selbst und damit auch an der Gesellschaft. Eine solche Aktivierung aller Kräfte, die Grundverfasstheit der Anstrengung, setzt ihrerseits voraus, dass nichts so bleiben muss, wie es ist, das heißt, sie speist sich aus der wenn auch unausdrücklichen Überzeugung, dass alles veränderbar sei – änderbar allerdings wiederum primär, indem der Einzelne mit der Änderung bei sich selbst anfängt, sein Leben und Handeln bewusst und überlegt lenkt. Diese reflektierte Lebensgestaltung setzt andererseits eben eine neue Kultur des Umgangs miteinander voraus. Das „Hören“ ist so notwendig wie das „Reden“, die Offenheit für Eindrücke von außen so wichtig wie das Festhalten an einer wohlbegründeten eigenen Überzeugung. Erst in der Intersubjektivität baut sich das fundierte Selbstbewusstsein auf, das Handeln bedarf nicht nur der Abgrenzung des seiner selbst sicheren Individuums, es potenziert seine Wirkung andererseits in der Verbindung mit den Kräften anderer.80 Gleichwohl dient der Umgang in der studentischen Verbindung auch dazu, Distanz und zwischenmenschliche Vorsicht einzuüben. Der Einzelne soll lernen zu differenzieren zwischen denen, die ihm nahe stehen, und denen, die ihm fremd bleiben oder zu denen er keine persönlich gefärbte Beziehung aufbauen kann oder will. „Vorsichtig und klug muß man stets handeln, zutraulich sei man nur gegen seine Mitglieder, immer muß ein gewisser Grad von Zurückhaltung andere von Zudringlichkeiten abschrecken“.81 Damit wird eine Technik des zwischenmenschlichen Umgangs erlernt, die darauf angelegt ist, Kontakt zu erleichtern und zu vervielfältigen, zugleich aber auch – nach Wahl – Ungestörtheit zu sichern. Durch diese Differenzierung in der Vertrautheit des Umgangs lernt der Einzelne, den Kern 78 Einrichtung des Amicisten-Ordens (Götze, wie Anm. 72), S. 198, § 14; vgl. ganz ähnlich die Einleitung der Guestphalia-Konstitution Göttingen 1812 (wie Anm. 70), S. 203. 79 Gesetze der schwäbischen Landsmannschaft, gestiftet den 25. Nov. 1805 auf der Universität Heidelberg, abgedr. bei: W. Fabricius, Die älteste Suevia zu Heidelberg (1905), in: Academische Monatshefte Nr. 193 (1900), Jg. XVIII, S. 2 ff., hier S. 3. 80 Jenaer Harmonistengesetze (wie Anm. 71), S. 198 f., §§ 16, 20, 22. 81 Gesetze der Schwäbischen Landsmannschaft (wie Anm. 79), S. 4.

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seiner Persönlichkeit zu schützen und die eigenen Einstellungen und Gefühle nicht vorbehaltlos offenzulegen, andererseits aber Schroffheit und abweisendes Benehmen zu vermeiden – insgesamt also ein Verfahren, die soziale Situation offen zu gestalten, ohne sich der Gefahr des Vertrauensbruchs oder der Verletzung von Gefühlen auszuliefern. IV. Die intensive Beschäftigung der Studentenschaft mit Formen des kommunikativen Verhaltens und der Frage nach dem Verhältnis von Individuum und Gruppe bzw. Gesellschaft im Ganzen deutet daraufhin, dass im gesellschaftlichen und intellektuellen Wandel seit circa 1770, intensiviert seit den 90er Jahren und dann noch verstärkt in der burschenschaftlichen Reform, die Identitätsproblematik der jugendlichen Intelligenzschicht zum Thema erhoben wird. Die studentischen Verbindungen sollen dabei ausdrücklich identitätssichernde oder -stabilisierende Aufgaben übernehmen; sie sollen die „Bestimmtheit des Charakters“ unterstützen.82 Historisch scheint die jugendliche Identität solange kein explizit diskutiertes Problem gewesen zu sein, als die Berufung auf eine nicht weiter hinterfragte „studentische Freiheit“ als Gegenwelt zur Bürgerexistenz ein Moratorium vorberuflicher Unabhängigkeit und Ungebundenheit sicherstellte. In dieser noch institutionell definierten Identität der Studierenden ist zumindest im studentischen Schrifttum noch kein Platz für Erörterungen über die Lebensphase psychischer Instabilität, die im normalen Lebensablauf dem Erwachsenenalter vorausgeht. In dem Maße aber, in dem „Freiheit“ als persönliches, nicht als korporativ-ständisches Gut, als individueller Ausgleich von Unabhängigkeitswunsch und Bindungsverlangen begriffen wird, steigt die Unausgeglichenheit der Impulse, das Schwanken der Gefühle, die mangelnde subjektive Klarheit über die individuelle Stellung in der Gesellschaft, die Unsicherheit über die künftige Berufslaufbahn zum Problem auf, über das nachgedacht und geredet werden kann und muss. Von der Lockerung der ständischen Schichtung, vom Wandel des Berufssystems im Übergang zur bürgerlichen Gesellschaft, von der intellektuell-moralischen Reformbewegung der Aufklärung, von der neuen Disziplin der Pädagogik und ihren Postulaten an die Mitglieder der „gebildeten Stände“ her wird jetzt die jugendliche Reifephase zwischen 17 und 25 Jahren zum Gegenstand des Raisonnements nicht nur von Lehrenden und Erziehern, sondern der Heranwachsenden selbst. Die Adoleszenz gilt vor allem für „zwiespältige Persönlichkeiten“ als Phase einer „Wachstumskrise“, in der sich die Persönlichkeit „im Zentrum ihrer persönlichen Kraft“ verwandeln kann.83 Prüft man die Statuten von Orden, Landsmann82 „Constitution der ehemaligen Landsmannschaft der Franken auf der Hochschule Leipzig, angeblich ein Auszug aus der Constitution des Ordens der Amicisten“, abgedr. bei Joachim Leopold Haupt, Landsmannschaften und Burschenschaft, Altenburg 1820, S. 225; vgl. ähnlich: Guestphalen-Constitution Göttingen 1812 (wie Anm. 64), S. 203. 83 Erik H. Erikson, Der junge Mann Luther. Eine psychoanalytische und historische Studie, Frankfurt 1975, S. 43.

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schaften und schließlich auch der Burschenschaften auch unter solchen Aspekten, so fällt u.a. ihr immer schärfer sich ausprägender Appellcharakter ins Auge; sie lassen sich lesen als Aufforderung zur Selbstprüfung und zur Richtungsänderung in der Auffassung und Gestaltung des eigenen Lebens – ein für die Wachstumskrise dieses Lebensalters offenbar charakteristischer Habitus. Auffällig ist auch das offenkundige Bedürfnis, sich selbst zu Vergangenheit und Zukunft in ein bewusstes Verhältnis zu setzen, also das eigene Leben in einem kontinuierlichen Verlauf zu sehen – eine Fähigkeit, die normalerweise erst den Erwachsenen kennzeichnet.84 „Losgerissen von allen Banden ihrer früheren Verhältnisse“ und alleingestellt „auf der Bahn der akademischen Ehre“ – so schildern Statuten um 1790 die Situation der Verbindungsmitglieder –, suchen die Studierenden Orientierung und Stabilisierung im geselligen Umgang.85 Form und Inhalt dieses Umgangs aber richten sich ihrerseits aus an der Finalisierung der Studienjahre auf das künftige Erwachsenenleben – eine Mediatisierung des „Moratoriums“ Studienzeit, die den früheren Studentengenerationen bis zum späten 18. Jahrhundert – zumindest nach Ausweis der Selbstinterpretationen – völlig fern steht und mit der Kultivierung des studentischen Unfugs systematisch unterlaufen worden war: „Der Academische Aufenthalt soll eine Vorbereitung sein für das künftige Leben. Der unerfahrene Jüngling soll hinreifen zum Manne. Ein planmäßiges Durchdenken und Durchführen seiner Pläne soll seine Sphäre bezeichnen. Selbständig soll er beginnen zu handeln, um einsichtsvoll seinen Willen zu lenken in den verwickelten Verhältnissen des ferneren Lebens … Rastloses Streben nach möglichst vollkommener wissenschaftlicher Bildung und nach Menschenkenntnis soll sein Thun beseelen und erst nachdem er dieser höchsten Tendenz Realität gab, darf er seinen Zweck in seinem ganzen Umfange erreicht glauben.“86 Mag diese gravitätische Umschreibung der Bildungszwecke des Studiums von der Realität des studentischen Daseins auch recht weit abweichen, so artikuliert sich hier doch – für die gleichzeitigen Statuten durchaus repräsentativ – eine neuartige Ernsthaftigkeit des jugendlichen Berufs- und Amtsanwärters. Verschiedentlich findet sich in den Statuten der Hinweis auf negative Erfahrungen mit der eigenen Persönlichkeitsverfassung, mit Unselbständigkeit, Wankelmütigkeit, menschlicher Unerfahrenheit, verbunden mit der Erkenntnis, dass eine falsche Weichenstellung dauerhafte Folgen haben oder – krass moralisierend ausgedrückt – möglicherweise „unaufhaltsam zum Verderben“ fortreißen könne.87 In die Interpretation der studentischen Lebensform wird also neuerdings die Gefahr eines grundsätzlichen Scheiterns des ursprünglichen Lebensplanes mit einbezogen, mit dem ganzen Druck, den dieses Bewusstsein ausüben kann, und mit der ganzen Last alternativer Lebensentscheidungen, die jetzt ausdrücklich in das Ermessen und in die Entscheidungskraft des Studierenden selbst hineinverlegt sind. Damit lockert sich auch das herkömmliche starre Gegeneinander der Generationen zumindest im 84 Vgl. ebda., S. 122. 85 Constitution der ehemaligen Landsmannschaft (wie Anm. 82), S. 225. 86 Die Constitution der Guestphalia zu Jena vom 18. April 1808, hg. v. W. Meyer, in: Academische Monatshefte Jg. XXIII (1906/07), S. 371 ff., hier S. 372. 87 Gesetze der schwäbischen Landsmannschaft (wie Anm. 79), S. 2.

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Bewusstsein der Studenten auf. Die Studenten betonen jetzt das eigene Mannesalter und begreifen Studienzeit und studentische Existenzform als Vorbereitung und Einübung in das verantwortliche Leben bürgerlicher Pflichten und Rechte: „Wir sollen hier zu Männern reifen und Kenntnisse sammeln, die uns dem Vaterland und überhaupt der menschlichen Gesellschaft nützlich machen“.88 Mit dem so eröffneten Zeithorizont stellt sich das Studentenleben nicht mehr als auch zeitlich geschlossene Gegenwelt gegen das verachtete und möglichst hinausgeschobene Philistertum dar, sondern als Vorbereitung auf die Zukunft in der bürgerlichen Öffentlichkeit, die bereits ins Studium hineinreicht bzw. im studentischen Selbstverständnis antizipiert wird. In dieser Konfrontation mit dem Ganzen der persönlichen Lebensperspektive rückt das Verhältnis von Ungebundenheit und Disziplin ins Zentrum aller Verhaltensratschläge – ganz im Gegensatz zur älteren studentischen Sitte, die – im Verhältnis zur Bürger- und Erwachsenenwelt – den Akzent ausschließlich auf die Ungebundenheit gelegt hatte. Auf der jetzt erreichten Ebene systematischer Theoriebildung der Studentenschaft über ihre eigene Lebensform wird nun auch grundsätzlich ein Ausgleich zwischen normativen Verhaltensvorgaben und individuellen Impulsen gesucht, auf der Ebene des praktischen Handelns, aber auch auf der Ebene der Reflexion selbst: „Freyheit und Unabhängigkeit unseres intellectuellen Ichs sollen wir daher zunächst zu erreichen streben, vor den Anreitzungen eines sichern Mechanismus weder zu pedantisch in die Convenienz uns schmiegen, noch in den Idealismus einer höhern Sphäre uns träumen und Subjectivität und Objectivität zu einem homogenen Ganzen bilden“.89 Identität und Soziabilität werden auf neue Weise miteinander verknüpft. Die Gemeinschaft stützt den Einzelnen auf dem schwierigen Weg zu sich selbst, das ist jedenfalls ihre ausdrücklich erklärte Aufgabe90 – ein Prinzip, das die studentischen Verbindungen mit der Idee der Geheimgesellschaften des späteren 18. Jahrhunderts insgesamt teilen. Auch im Programm der Identitätsfindung durch Gruppenbildung übernehmen die studentischen Verbindungen, was die Träger der Sozietätsbewegung des späten 18. Jahrhunderts überhaupt von der individualisierten und intensivierten Kommunikation erhoffen: Erweiterung und Ergänzung der eigenen Möglichkeiten durch Lernen und Assimilieren, aber auch durch aktives Wirken auf andere, Resonanz für das Ich, soziale Überprüfung und Mäßigung der eigenen Ansprüche, Bekanntwerden mit bisher fremden Lebensmöglichkeiten und Klärung der eigenen Bestrebungen, Aufklärung über sich selbst und eben damit ichgerechte Einfügung in das Ganze der Gesell88 Die Konstitution der Göttinger Guestphalia (1812) (wie Anm. 64), S. 335; vgl. auch die Jenaer Harmonistengesetze, Götze, Die Jenaer akademischen Orden (wie Anm. 24), S. 205: „Fliehe den Müssiggang … und wende deine Jahre so an, dass sie auf der Wage der Menschheit einst Jahrhunderte wägen. Belebe dich zu dieser Pflicht durch den Gedanken an die Zukunft“; vgl. ähnlich ebda., S. 207; einzelne Konstitutionen sprechen jetzt erstmals und betont von den Studenten als „Männern“, vgl. W. Fabricius, Die Konstitutionen der Marburger Rheinländer und Hessen (1812), in: Academische Monatshefte, Jg. XVIII (1902), S. 334 ff., hier S. 335. 89 Die Konstitution der Guestphalia zu Jena vom 28. April 1808 (wie Anm. 86), S. 372. 90 Vgl. Gesetze der schwäbischen Landsmannschaft (wie Anm. 79), S. 3; vgl. auch die Jenaer Guestphalia-Konstitution 1808 (wie Anm. 86), S. 372.

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schaft.91 Im gemeinsamen Bemühen um Bildung will man schließlich lernen, negative Gefühlsregungen umzuwandeln in zielgerichtete und verantwortbare Impulse.92 Zur Identität des „gebildeten Menschen“, wie sich der Student jetzt selbst schon zu bezeichnen beginnt, gehört schließlich eine sehr weitgehende Kontrolle und Beherrschung der Affekte. Die Verhaltensanweisungen zielen durchweg auf die Dämpfung und Zügelung aller affektiven Regungen – auch hier in bewusster Abkehr von den Gebräuchen und dem Stil der herkömmlichen studentischen Sitte: „Sanftmuth ist nicht immer Folge von Mutlosigkeit und Renommisterey hat gewöhnlich bloß den Charakter der Feigheit und Brutalität zum Grunde.“93 Das Gemeinschaftsleben stellt sich idealiter dar als Erziehung zur Mäßigung von Temperamentsausbrüchen, zur Auskömmlichkeit im Kreise der Verbindungs- und Standesgenossen, aber auch im Verhältnis zu anderen Gruppen der Gesellschaft. Regungen der Verletzbarkeit, des Zorns, der Aggressivität und des unmittelbaren Überlegenheitsanspruchs, wie sie dem älteren Verständnis der „studentischen Ehre“ und der Praxis des Duellwesens zugrunde liegen, sollten an die Leine vernünftigen Kalküls gelegt werden. Daher lesen sich die Bestimmungen des Komments häufig wie Anweisungen zu einem gesittungsfördernden Handlungsaufschub, der die sozialen Beziehungen von der Tyrannis rein emotionaler und augenblicklicher Reaktionsweisen befreien soll. Auftretende seelische Spannungen sollen nicht durch sofortiges Ausleben beseitigt, sondern vernunftgesteuert verarbeitet werden. Die Selbstverpflichtung der Studierenden auf Studienfleiß, Bildungsbeflissenheit, Moralisierung und Ehrbarkeit, der Abbau des Duellwesens, die Disziplinierung und Sublimierung der unmittelbaren Triebregungen – dies alles sind Symptome eines tiefgreifenden Einstellungswandels, der die Stellung der Studentenschaft in Gesellschaft und Staat von Grund auf verändert. Was bisher einen schier unüberwindlichen Gegensatz dargestellt hatte, Bürgerwelt und Studentenwelt, das beginnt nun zumindest der Tendenz nach zu verschmelzen. Die Studentenschaft übernimmt – von zählebigen und vor allem auch altersbedingten Grundelementen der „studentischen Freiheit“ abgesehen – den bürgerlichen Tugend- und Wertekanon und die entsprechende Lebensinterpretation, welche die bürgerlich-aufklärerische Reformbewegung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zunehmend als gesamtgesellschaftliches Verhaltensmuster geltend gemacht hatte. Dieser Prozess ist innerhalb der Studentenschaft keineswegs widerstandslos abgelaufen. Er trieb selbst auch wieder gegenläufige Tendenzen hervor, die sich aber als eine Spielart traditionalistischer Opposition auf der Grundlage eines unaufhaltsamen Veränderungsprozesses verstehen lassen. Die Gesamtrichtung der studentischen Reform richtete sich auf die mehr oder weniger freiwillige Integration der jugendlichen Bildungs91 Vgl. dazu Wolfgang Hardtwig, Verein, Gesellschaft, Geheimgesellschaft, Assoziation, Genossenschaft, Gewerkschaft. Geschichtliche Grundbegriffe 1750–1870, in diesem Band, S. 139– 180. 92 Vgl. Robert Wesselhöft, zit. in Hermann Haupt, Die Jenaische Burschenschaft von der Zeit ihrer Gründung bis zum Wartburgfest. Ihre Verfassungsentwicklung und ihre inneren Kämpfe, in: Quellen und Darstellungen, Bd. I, S. 13 ff., hier S. 52. 93 Gesetze der schwäbischen Landsmannschaft (wie Anm. 79), S. 4.

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schicht in die entstehende bürgerliche Gesellschaft. Der Unitist Woltmann hat diesen Vorgang im Rückblick auf das Ordensleben auf den Begriff gebracht: „man handelte für und durch eine Gemeinschaft und erhielt eine Idee von dem Leben einer bürgerlichen Gesellschaft darin Gemeinsinn herrschen darf“.94 Die Studentenschaft begann, ihre Konfrontation gegenüber dem Staat und seinen Behörden abzubauen. Die Verschärfung des staatlichen Disziplinierungsdrucks hat dabei sicher mitgewirkt; die sehr weitgehende innere Identifizierung der Studentenschaft mit dem Staat scheint mit dem, was man unter „Sozialdisziplinierung“ versteht, aber nicht hinreichend erklärt. Die grundsätzliche Antihaltung gegen die Amtsgewalt der universitären und staatlichen Obrigkeit lockert sich trotz des weiterbestehenden Verbindungsverbotes. Ein ganz neues Leitmotiv beginnt, die Konstitutionen der neuen Landsmannschaften zu durchziehen, nämlich das Programm, „mit unserer Obrigkeit zu einem Zwecke zu arbeiten“.95 Es wäre verfehlt, solche Formulierungen nur als taktische Anpassung oder als bewusste Täuschung der Behörden zu interpretieren, wenngleich diese Motive mitgespielt haben mögen. In den Konstitutionen der 1780er und 90er Jahre, verstärkt in denen von der Jahrhundertwende bis zu den „Befreiungskriegen“, kristallisiert sich die innere Annäherung an den Staat aber immer deutlicher und differenzierter heraus. Das Selbstverständnis der Studenten zielt jetzt darauf, „dem Staat redliche, brauchbare Männer zu verschaffen“.96 Analog zum allmählichen Auftauchen der Vorstellung von einer allgemeinen Staatsbürgergesellschaft in der politisch-gesellschaftlichen Theoriebildung der Aufklärung entwickeln also auch die Studenten von sich aus ein staatsbürgerliches Bewusstsein.97 Die Studentenschaft macht sich den Patriotismus des aufgeklärten Bürgertums zu eigen und verpflichtet sich selbst zur Loyalität gegenüber dem Landesherrn und dem Gemeinwohl:98 es sei die „Hauptpflicht jeden Bruders“ – so heißt es etwa 94 Zit. nach Rudolf Körner, Der Unitist K. L. v. Woltmann und seine Zeit (1770–1817), in: Einst und Jetzt, Bd. 13 (1968), S. 68 ff. 95 Eingabe der Märker und Pommern an den Rektor der Universität Frankfurt/O., abgedr. in Golinski. Die Studentenverbindungen in Frankfurt a. O. (wie Anm. 23), S. 95 f. 96 Statuten der Würzburger Konstantisten (um 1798) bei Baum, Aus der Frühzeit der Würzburger Verbindungen (wie Anm. 42), S. 54. 97 Vgl. Gesetze der schwäbischen Landsmannschaft (wie Anm. 79), S. 2, wo es heißt: „Voll Hoffnung und Zutrauen betritt der studirende Jüngling, um einst ein brauchbares Glied der menschlichen Gesellschaft, ein nützlicher Staatsbürger zu werden, die Academie“…; zum Staatsbürgerbegriff vgl. Manfred Riedel, Art. „Bürger, Staatsbürger, Bürgertum“, in: O. Brunner, W. Conze, R. Koselleck (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 1, Stuttgart 1972, S. 672 ff., hier S. 689–699, sowie Michael Stolleis, Untertan – Bürger – Staatsbürger, Bemerkungen zur juristischen Terminologie im späten 18. Jh., in: Rudolf Vierhaus (Hg.), Bürger und Bürgerlichkeit im Zeitalter der Aufklärung, Heidelberg 1981, S. 65 ff., bes. S. 85. 98 Vgl. über die Ziele z.B. auch die „Einrichtung des Amicisten-Ordens 1794 in Jena, Einleitung: „Schöne, edle Handlungen, Rechtschaffenheit, wahre Aufklärung, Patriotismus, solide Gelehrsamkeit, gutes Herz, vollkommene Schätzung der menschlichen Freiheit, …“, in: Götze, Die Jenaer akademischen Logen (wie Anm. 24), S. 197; „Liebe Gott, dein Vaterland, sei der Obrigkeit deines Landes Untertan, und ehre die Religion, zu der du dich bekennst; denn sie gibt unseren Einsichten ihren Adel, ihre Richtung und Brauchbarkeit“; zit. nach Georg Heer, Marburger Studentenleben 1527–1927, Marburg 1927, S. 194 f.; zum „Patriotismus“ vgl. u.a. Rudolf

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–, „daß er sich der obrigkeitlichen Anordnung des Staates, davon er ein Unterthan ist, wofern nicht ein ganz offenbarer Mißbrauch der Oberherrschaft sichtbar ist, nicht widersetze und auch den ungerechten Forderungen der obersten Gewalt nicht widersetzlich als ein Rebell widerstrebe, sondern als ein rechtschaffener Unterthan bey seinem Fürsten oder dem Minister deßselbigen nur ehrerbietige und auf Vernunft begründete Gegenvorstellungen mache, übrigens sich aber aller gewaltsamen und zu schädlichen Empörungen Anlaß gebenden Mitteln ernstlich enthalte.“99 Dieses Erziehungsprogramm der Studierenden zielt ganz im Sinne der Aufklärung zunächst auf die Bildung des Menschen zum Menschen und dann, darüber hinausgehend, auf die Bildung des Menschen zum „Bürger“. Ein solcher Patriotismus meint vor allem bewusste Hinwendung zu dem ins Auge gefassten Wirkungskreis, vernunftgemäße Anerkennung der Pflichten, die mit diesem Wirkungskreis verbunden sind, Anerkennung der Obrigkeit und ihrer Herrschaftslegitimität, selbstbewusster Stolz auf die eigene Tugendhaftigkeit und Abscheu gegen Unruhe oder Aufruhr. Die neuerdings proklamierten Ideale des studentischen Gemeinschaftslebens wie Freundschaft, friedlicher Konfliktaustrag, gegenseitige Anerkennung werden nicht mehr als Besonderheiten des studentischen Standes beschrieben, sondern auf das Ganze der Gesellschaft und ihre staatlich-herrschaftliche Verfassung bezogen. Diese Hinwendung zu Bürgerleben und Staatsbewusstsein beginnt bereits bei den Orden, verstärkt sich seit circa 1795 und hat sich offenbar um 1808 bei einer Spitzengruppe besonders bewusster und fürs öffentliche Leben aufgeschlossener Studenten bereits durchgesetzt. V. Die Intensivierung und Kultivierung der studentischen Kommunikationsformen, die Auseinandersetzung mit dem Problem der Identität, die Tendenz der Studentenschaft zur Selbstintegration in die entstehende bürgerliche Gesellschaft – diese ganze Bewegung zur Umformung des Sozialcharakters der jugendlichen Bildungsschicht verweist nicht nur auf die Anziehungskraft der Aufklärung als intellektuell-moralischer Reformbewegung, sondern – in engstem Zusammenhang damit – auf die veränderte sozialökonomische Lage der Gebildeten. Um 1790 hatte die Bildung ihre gesellschaftliche Bedeutung bereits soweit zur Geltung gebracht, dass sie die traditionale geburtsständische Schichtung mit der neuen sozialen OberVierhaus, Politisches Bewußtsein in Deutschland vor 1789, in: Der Staat VI, 1967, S. 175 ff., sowie ders., „Patriotismus“ – Begriff und Realität einer moralisch-politischen Haltung, in: Ulrich Herrmann (Hg.), „Die Bildung des Bürgers“. Die Formierung der bürgerlichen Gesellschaft und die Gebildeten im 18. Jh., Weinheim u.a. 1982, S. 119 ff.; Ulrich Herrmann, Die Kodifizierung bürgerlichen Bewußtseins in der deutschen Spätaufklärung – Carl Friedrich Bahrdts „Handbuch der Moral für den Bürgerstand aus dem Jahr 1789“, in: R. Vierhaus (Hg.), Bürger und Bürgerlichkeit (wie Anm. 97), S. 321 ff., sowie die Beiträge von Hanns Erich Bödeker ebda., S. 221 ff. und Günter Scholz ebda., S. 255 ff. 99 Jenaer Harmonistengesetze, in: Götze, Die Jenaer akademischen Logen (wie Anm. 24), S. 179.

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schicht der „gebildeten Stände“ aufbrach.100 In dem Maße, wie die Rechtseinheit „Stand“ im frühen 19. Jahrhundert an Bedeutung verliert und mit der Freisetzung der bürgerlichen Leistungsgesellschaft die Bildung sich als gesellschaftliches Statuskriterium etabliert, lässt sich diese Gruppe als „Bildungsbürgertum“ bezeichnen. Die Ausformung dieser neuen sozialen Oberschicht im späteren 18. Jahrhundert ist durch zwei in sich widersprüchliche Tendenzen gekennzeichnet, die auf die Wertorientierung und Selbsteinschätzung der jugendlichen Bildungsschicht nicht ohne Folgen bleiben konnten: zum einen durch ihre Staatsnähe, gekoppelt mit der rechtlichen und zum Teil zumindest auch ökonomischen Privilegierung der Beamtenschaft; zum anderen aber durch die Verknappung des Stellenangebots für die jugendlichen Amtsanwärter in der ganzen zweiten Jahrhunderthälfte und darüber hinaus bis um 1815. Aus beiden ergibt sich für die Studentenschaft ein und dieselbe Konsequenz. Die Präsenz des Staates, seiner Ausbildungs- und Bildungsanforderungen, seiner Verteilungsfunktion bei den Berufschancen, seiner direkten und indirekten Einflussmöglichkeiten auf die Gestaltung und Interpretation der Studienjahre nimmt während dieses ganzen Zeitraumes zu. Zudem tritt der Staat mit seinen Ausbildungs- und Loyalitätsforderungen jetzt stärker hervor. Mit dem Ausbau des Gymnasiums als eines betont auf den Staat bezogenen Schulsystems101 macht er seine Ansprüche bereits in der schulischen Sozialisation geltend. Der herkömmliche Studiengang mit einem universitären Grad als Abschluss genügte immer weniger zur Qualifikation für ein Staatsamt. Hatte die Divergenz von Ausbildungsleistung der Universitäten und Kompetenzanforderungen des Staates in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts einer „Entkoppelung von Studium und Berufszugang“ Vorschub geleistet,102 so band seit der Jahrhundertmitte der Aufbau moderner staatlicher Prüfungssysteme Studium, Studienabschluss bzw. Prüfung und Berufszugang unmittelbar aneinander. Das humanistische Gelehrsamkeitsideal trat zurück gegenüber der Tendenz zur praktischen und spezialisierten Berufsausbildung. Die neuhumanistische Universitätsreform hat an dieser verstärkten Präsenz staatlicher Ausbildungsbedürfnisse und Leistungsanforderungen im Studium nichts geändert. Vielmehr ließe sich zugespitzt sagen, dass der neuhumanistische Bildungs- und Wissenschaftsbegriff die Forderung nach Innenleitung zu Ende denkt, die auch eine Elite innerhalb der Studentenschaft schon 100 Vgl. dazu Rudolf Vierhaus, Art. „Bildung“, in: Geschichtliche Grundbegriffe (wie Anm. 55), Bd. I, bes. S. 521–534; Reinhart Koselleck, Preußen zwischen Reform und Revolution. Allgemeines Landrecht, Verwaltung und soziale Bewegung von 1791–1848, 3. Aufl. Stuttgart 1982, S. 68–115; R. St. Turner, The Bildungsbürgertum and the Learned Professions in Prussia 1770– 1830: The Origins of a Class, in: Histoire Sociale – Social History, Vol. XIII (1980), S. 105– 135. 101 Karl Ernst Jeismann, Das preußische Gymnasium in Staat und Gesellschaft. Die Entstehung des Gymnasiums als Schule des Staates und der Gebildeten 1787–1817, Stuttgart 1974, S. 39. 102 Hammerstein, Zur Geschichte der deutschen Universität im Zeitalter der Aufklärung, in: Rössler/Franz (Hg.), Universität und Gelehrtenstand (wie Anm. 6), S. 145–182, hier S. 164; vgl. auch Turner, The Bildungsbürgertum (wie Anm. 10), S. 111–125; Hanns-Werner Prahl, Sozialgeschichte des Hochschulwesens, München 1978, S. 162 ff.; Wilhelm Bleek, Von der Kameralausbildung zum Juristenprivileg. Studium, Prüfung und Ausbildung der höheren Beamten in Deutschland im 18. und 19. Jh., Berlin 1972, bes. S. 58 ff.

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an sich selbst zu richten begonnen hatte.103 Die Mentalität der Studierenden hatte sich auf die veränderten staatlichen Qualifikationsanforderungen einzustellen begonnen zu einem Zeitpunkt, als der Staat durch Reform der Prüfungssysteme und Karrierewege und verstärkte Einflussversuche auf die universitäre Lehre seinen veränderten Qualifikations- und Bildungsbedarf schon anmeldete, ohne noch die volle Konsequenz mit einer umfassenden Reform von Organisation, Rechtsstellung, Personalauswahl und Wissenschafts- und Bildungskonzeption zu ziehen. Die Anpassung der Studierenden an die staatlichen Bildungs-, Ausbildungsund Loyalitätsanforderungen muss daneben stark gefördert worden sein durch die Arbeitsmarktsituation für Akademiker. Obgleich die Zahl der Studenten zwischen 1750 und 1810 kontinuierlich auf circa 5 000 Studierende zurückging,104 fanden doch keineswegs alle eine ihrer akademischen Ausbildung entsprechende Stellung.105 Es besteht ein nach wie vor nicht aufgeklärter Widerspruch zwischen der sinkenden Studentenfrequenz einerseits und der allgemeinen Annahme, der Staat habe sich am Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts für den „Einstrom und die Tätigkeit reformgesinnter, aufgeklärter und liberaler Gebildeter“ geöffnet.106 Jedenfalls aktualisierte sich bei dem knappen Stellenangebot das Problem der sozialen Rekrutierung der Studentenschaft. Die Zahlen für Halle, Göttingen, Tübingen, Ingolstadt und Erlangen lassen für die letzten drei Jahrzehnte des 18. Jahrhunderts auf einen steigenden Adelsanteil schließen – bei der erwähnten gleichzeitigen Rückläufigkeit der Frequenz insgesamt. Gleichwohl kann man m.E. in der Studentenschaft nicht von einer „réaction nobilitaire“ sprechen.107 Zwar verfolgten die staatlichen Zentralbehörden mit dem Aufbau der neuen Prüfungssysteme im 18. Jahrhundert u.a. auch den Zweck, ein wirkliches oder vermutetes Überangebot vor allem an wenig bemittelten bürgerlichen Amtsanwärtern im Interesse des Adels von der Universität fernzuhalten.108 Der Adel spielte auch mit seinem gesellschaftlich-politischen Führungsanspruch, seiner Auffassung des Studiums als Teil der Kavaliersausbildung, seinem Ehrbegriff mit der bewaffneten Ehrenwahrung 103 Vgl. allgemein noch immer: Helmut Schelsky, Einsamkeit und Freiheit. Idee und Gestalt der deutschen Universität und ihrer Reformen, 2. Aufl. Hamburg 1971; Vierhaus, „Bildung“ (wie Anm. 100), S. 529. 104 Mitgau, Soziale Herkunft der deutschen Studenten (wie Anm. 59), S. 233 ff.; Wolfgang Zorn, Hochschule und höhere Schule in der deutschen Sozialgeschichte der Neuzeit, in: Festschrift f. Max Braubach, hg. v. K. Repgen u. St. Skalweit, München 1964, S. 321 ff. bes. S. 325 f.; Konrad Jarausch, Die neuhumanistische Universität und die bürgerliche Gesellschaft 1800–1870. Eine quantitative Untersuchung zur Sozialstruktur der Studentenschaft deutscher Universitäten, in: Darstellungen und Quellen zur Geschichte der deutschen Einheitsbewegung im 19. und 20. Jh., hg. von Chr. Probst u.a., Heidelberg 1981, S. 11–68, hier S. 11 ff. 105 Für Erlangen z.B. wird geschätzt, dass nur etwa die Hälfte der Immatrikulierten eine ausbildungsadäquate Stellung fand, vgl. Keunecke, Die Studentenschaft und ihre Orden (wie Anm. 60), S. 85; zum Problem vgl. Hartmut Titze, Die zyklische Überproduktion von Akademikern im 19. und 20. Jh., in: Geschichte und Gesellschaft 10 (1984), S. 93 ff., hier S. 95 f. 106 R. Vierhaus, „Bildung“ (wie Anm. 100), S. 533; Moraw, Aspekte und Dimensionen (wie Anm. 5), S. 38. 107 So H. Jarausch, Deutsche Studenten 1800–1970, Frankfurt 1984, S. 15 f. 108 Vgl. Moraw, Aspekte und Dimensionen (wie Anm. 5), S. 35.

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vor allem im früheren 18. Jahrhundert noch eine wesentliche Rolle innerhalb der Universität. Auch wird der gegen bürgerliche Aufsteiger gewandte Topos vom gefährlichen Anwachsen des akademischen Proletariats, der im späten 17. Jahrhundert aufkommt, in den frühen 1770er Jahren von bürgerlichen oder neuadligen Gelehrten wie Meiners und Michaelis in Göttingen oder Sonnenfels in Wien reproduziert.109 Zudem spielten adlige Studenten in den Orden und den rekonstituierten Landsmannschaften der Jahrhundertwende eine nicht zu übersehende Rolle. Der Balte Heinrich von Dahl zum Beispiel führte den Jenaer Auszug nach Nohra,110 die explizit politischen Statutenentwürfe des preußischen Konstantisten Heinrich von Held gaben den Anstoß zum Verbotsedikt vom 20. 10. 1798, der Thüringer Freiherr von Wangenheim gilt als Rädelsführer der Erlanger Studententumulte 1793/94, die nicht ganz ohne politischen Hintergrund sind; das Verweisungspatent der Universität spricht von „bösen Anschlägen und Partheiungen“, welche „die Staaten verwirren und umstürzen wollen“, und beklagt, dass „derartige Menschen … nicht nur aus dem niedrigsten Volke, sondern aus einer alten berühmten Adelsfamilie“ stammen.111 Ludwig von Vincke gründete 1794 aus Opposition gegen die Machtansprüche der Orden seinerseits eine Westfalen-Landsmannschaft;112 die erste studentische Verbindung an der Universität Landshut, die Suevia, wurde von dem Württemberger von Ow ins Leben gerufen.113 Alle diese aristokratischen Protagonisten der studentischen Sozietätsbewegung sind entweder energische Anhänger der Aufklärung oder sie treten später, wie Wangenheim und Vincke, als liberale Reformbeamte hervor. Der steigende Anteil des Adels an der Studentenschaft lässt also für sich selbst noch nicht auf eine erneute Aristokratisierung des Studiums schließen. Im Kontext der steigenden Bedeutung von Bildung im gesellschaftlichen Statussystem ist eher anzunehmen, dass sich der Adel den allmählich objektivierten Qualifikationskriterien beim Zugang zu den Staatsämtern anpasste.114 Gerade bei der verstärkten Rivalität um den Berufszugang dürften die bürgerlichen Studierenden ihrerseits die messbare und nachgewiesene Leistung als Qualifikationskriterium stärker als zuvor betont haben. Die Diskrepanz zwischen der zunehmenden Versachlichung und Institutionalisierung des Berufszugangs und der nach wie vor bestehenden Bevorzugung des Adels musste die Selbsterziehung der bürgerlichen Mehrheit der Studenten zu einer Studienauffassung forcieren, deren Ziel stärker als zuvor in professionalisierter Sachkenntnis, staatsloyaler Gesinnung und Dienstbereitschaft bestand. Die Arbeitsteilung zwischen adligen und bürgerlichen Beamten, die sich 109 Vgl. Johann David Michaelis, Räsonnement über die protestantischen Universitäten in Deutschland, Teil III, Frankfurt und Leipzig 1773, S. 157, 168–273; Grete Klingenstein, Akademikerüberschuß als soziales Problem (wie Anm. 54), S. 165–182. 110 Der Jenaer Studentenauszug nach Erfurt (wie Anm. 71). 111 Schmidgall, Der Konstantistensenior Karl August von Wangenheim (wie Anm. 42), S. 160. 112 Vgl. W. Fabricius, Beiträge zur Geschichte der Guestphalia Erlangen von 1794, in: Deutsche Corpszeitung Jg. 48 (1931), Nr. 1, S. 21–25. 113 Vgl. Kurz, Ursprung und Stiftung der Suevia München (wie Anm. 45). 114 Vgl. für Preußen allgemein: Hans Rosenberg, Bureaucracy, Aristocracy and Autocracy, The Prussian Experience 1660–1815, Cambridge (Mass.) 1966, S. 175–201.

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etwa in Preußen zur Zeit Friedrichs des Großen herausgebildet hatte, zwang die bürgerlichen Amtsbewerber geradezu, auf der berufsqualifizierenden Funktion eines erfolgreich absolvierten Studiums zu bestehen und damit in der Tendenz das Studium selbst bereits zu „professionalisieren“, um nicht auf die technischen und internen Stellen, auf die Militärbürokratie und auf die Magistratskollegien beschränkt zu bleiben.115 Die Reformtendenzen der studentischen Sozietätsbewegung sind in dieser Situation mit der Funktion der Geheimgesellschaften überhaupt zu vergleichen: Sie lassen den bestehenden gesellschaftlichen Zustand nach außen unangetastet, bilden aber Wertmuster und Verhaltensweisen heraus, die längerfristig der Emanzipation des Bürgertums dienen. Dem entspricht, dass man seit den 1790er Jahren von allergischen Reaktionen etwa gegen die übliche Vorzugsbehandlung adliger Studenten bei Disziplinarmaßnahmen im Gefolge studentischer Händel erfährt.116 Dem entspricht aber auch – sehr viel wichtiger – die Loslösung der Auffassung von „Beruf“, „Amt“, „Profession“ von der Fixierung auf eine vorgängige Standesschichtung.117 Gleichzeitig lässt die Selbstverständlichkeit der Nachwuchsrekrutierung nach Konnexion und Patronage nach. In Preußen verliert die in lokalen Bindungen verwurzelte ständische Justizbürokratie – ein Residuum der Patronage für einen geschlossenen Kreis patrizischer Familien – bis circa 1750 praktisch jeglichen Einfluss gegenüber der neuen, zentralistischen Verwaltungsbürokratie in der Kriegsund Domänenkammer und im Generaldirektorium.118 In den Universitäten schwächt die Krise des humanistisch-rhetorischen Gelehrsamkeitsideals mit seinem Schwerpunkt auf der Allgemeinbildung spätestens seit der Mitte des 18. Jahrhunderts die Geschlossenheit der „Familienuniversität“ mit der familiären Konnexion und der Herrschaft von Gelehrtendynastien, so dass sich langsam eine stärker fach- und leistungsbezogene Auslese durchsetzen kann.119 Wenn damit sowohl bei den Justiz- und Verwaltungsbeamten wie auch bei der Professorenschaft das Konkurrenzprinzip allmählich Platz zu greifen beginnt, so liegt es nahe, dass sich die aufgewertete Leistungsrivalität gerade bei dem knappen Stellenangebot auch innerhalb der Studentenschaft selbst schon verstärkt geltend macht. Sie bleibt zwar eingebunden in die grundsätzliche Solidarität der Studierenden und in eine säkularisierte correctio fraterna als Kohärenzprinzip studentischer Gesellung, sie machte sich aber doch in 115 Vgl. v.a. Hammerstein, Zur Geschichte der deutschen Universität (wie Anm. 6), S. 166 ff.; Bleek, Von der Kameralausbildung zum Juristenprivileg (wie Anm. 102), S. 69 ff. 116 Keunecke, Die Studentenschaft und ihre Orden (wie Anm. 60), S. 86. 117 Werner Conze, Art. „Beruf“, in: Geschichtliche Grundbegriffe (wie Anm. 55), Bd. I, S. 490 ff., hier S. 500 ff. 118 Vgl. v.a. Peter Lundgreen, Gegensatz und Verschmelzung von „alter“ und „neuer“ Bürokratie im Ancien Régime: ein Vergleich von Frankreich und Preußen, in: H.-U. Wehler (Hg.), Sozialgeschichte heute. Festschrift für Hans Rosenberg zum 70. Geburtstag, Göttingen 1974, S. 104– 118; Turner, The Bildungsbürgertum, S. 120. 119 Vgl. Friedrich Wilhelm Euler, Entstehung und Entwicklung der deutschen Gelehrtengesellschaften, in: Rössler/Franz (Hg.), Universität und Gelehrtenstand (wie Anm. 6), S. 183–232, sowie Moraw, Aspekte und Dimensionen (wie Anm. 5), S. 14 ff.; ders., Humboldt in Gießen. Zur Professorenberufung an einer deutschen Universität des 19. Jh.s, in: Geschichte und Gesellschaft 10 (1984), S. 47–71.

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der neuen Akzentsetzung auf der individualisierten Bildung bemerkbar. Der Konnexionsgedanke selbst verschwindet dabei keineswegs; er kehrt wieder im neuen „Lebensprinzip“, das die Orden und rekonstituierten Landsmannschaften anfangs vereinzelt, seit der Jahrhundertwende aber verbreitet postulieren. Es soll die gegenseitige Unterstützung auch bei der Bewerbung um Ämter und Würden sicherstellen, aber nicht mehr auf der Basis familiärer oder ständischer Zusammengehörigkeit, sondern auf der Grundlage freundschaftlicher Verbundenheit in den freiwilligen und selbstgewählten studentischen Verbindungen, wobei Beimischungen des älteren Regionalismus und der Sippenkonnexion keineswegs fehlen. Der neue Kommunikationsstil der Verbindungen geht demgemäß einerseits von der Konkurrenzsituation der Studierenden aus, zielt aber andererseits darauf, die Konkurrenz sozial zu bändigen. Die Statuten postulieren also ein Sozialverhalten, das Rivalität und Loyalität miteinander verknüpft und das neue Leistungsethos einübt. Nicht nur die Verschärfung des staatlichen Gewaltmonopols im Übergang zum rational durchorganisierten Anstaltsstaat, auch die neue, wesentlich auf Leistung und Bildung gestützte gesellschaftliche Statuszuweisung und die wachsende Abhängigkeit aller Mitglieder der Gesellschaft voneinander im liberalisierten „System der Bedürfnisse“ schreiben die verstärkte rationale Kontrolle aller affektiven Regungen vor und engen den herkömmlichen Freiraum der studentischen Existenz als Phase gesellschaftlich geduldeten Auslebens archaischer Affektivität zunehmend ein. Insofern nimmt der Wandel der studentischen Kultur die für die liberalisierte bürgerliche Erwerbs- und Konkurrenzgesellschaft charakteristische Prägung des Affekthaushalts vorweg und treibt sie zugleich voran.

3. EINSAMKEIT UND FREUNDSCHAFT. DIE LEBENSFÜHRUNGSART DER JUGENDLICHEN BILDUNGSSCHICHT 1750–1819 Der folgende Beitrag stellt sich die Aufgabe, die spezielle Sozialisation der jugendlichen Bildungsschicht im Zeitraum zwischen 1770 und 1830 zu untersuchen. Ziel ist es, einen, wie ich meine, sehr präzise fassbaren ,,Lebensführungsstil“ des entstehenden Bildungsbürgertums zu rekonstruieren – präzise fassbar zumindest für eine bestimmte und bestimmende Lebensphase der angehenden Bildungsbürger – die Studienzeit; und präzise fassbar vor allem in seiner Idee, die von der Wirklichkeit natürlich weithin abweicht. Dazu sind einige methodische Vorbemerkungen notwendig. Als Quellenbasis dient primär die Überlieferung zur Geschichte der studentischen Verbindungen – vor allem autobiographische Äußerungen, Aktenmaterial der zuständigen Behörden – soweit veröffentlicht – und die Statuten. Zu deren Aussagegehalt ist in Rechnung zu stellen, dass sie der bekannten Max Weber’schen Polarität von Außeralltäglichkeit und Veralltäglichung bzw. Routinisierung in ganz besonderem Maße unterliegen; die Verfasser der Statuten waren in dieser Terminologie eher den „Virtuosen“, die breite Mehrheit der assoziierten und auch die vom Verbindungswesen nicht erfassten Studierenden eher den der Realität Akkommodierten, für ethische Entlastung Zugänglichen zuzurechnen. Trotzdem: Inhalt, Diktion und Niveau der studentischen Äußerungen über sich selbst ändern sich seit 1750, verstärkt seit 1770 derart durchgreifend, dass man auf einen tiefgehenden Wandel im Verhalten und in den Selbstinterpretationen der Studierenden schließen muss. Zu prüfen ist selbstverständlich, inwieweit die Quellen aus dem studentischen Verbindungswesen als repräsentativ gelten können für die Studierenden insgesamt. Gefragt wird hier ja nicht nach dem Verbindungswesen an sich, sondern danach, was sich anhand der über das Verbindungswesen erschlossenen Quellen über die Vergesellschaftung, den Einstellungs- und Wertwandel der jugendlichen Bildungsschicht überhaupt sagen lässt. Aus den vereinzelt und eher zufällig überlieferten Mitgliederlisten lässt sich schließen, dass – mit erheblichen örtlichen und zeitlichen Schwankungen – zwischen 10 und 40 % aller Studierenden in den reformierten Verbindungstypen der Orden und rekonstituierten Landsmannschaften 1750 bis 1815 organisiert waren; die Burschenschaften umfassten bekanntlich etwa ein fünftel aller Studierenden. Man muss aber zumindest für bestimmte Bereiche annehmen, dass jener Verhaltens- und Wertewandel von den nichtkorporierten Studenten bereits vorweggenommen worden war oder zumindest vergleichsweise still und unauffällig vollzogen wurde, der dann in den studentischen Gesellschaften relativ laut und aufwendig nachgeholt wurde – so etwa bei der Zunahme und Erweiterung der Lektüre, der Integration gelehrter Interessen ins Studium überhaupt, aber vor allem bei dem für den ganzen studentischen Lebensstil eminent wichtigen Kampf

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um die Reform bzw. die Beseitigung des Duells: Hier sind seit den neunziger Jahren immer wieder „Renoncebewegungen“ entstanden, Oppositionen gegen das Schlagen und gegen die Korporierten überhaupt; sie konnten – etwa in Jena oder Heidelberg – bis zu einem Drittel aller Studierenden erfassen. In der erbitterten Auseinandersetzung, die der Medizinstudent und spätere Dichter Karl Immermann in Halle 1816/17 gegen die Teutonia ausfocht, vertrat er die „progressive“ Position gegenüber der Burschenschaft, die sich selbst – durchaus nicht zu Unrecht – als Reformbewegung begriff. Er warf ihr das ,,ängstliche und strenge Aufrechterhalten“ dessen vor, was ,,größtenteils als veraltet erscheint“; es werde nur deshalb verteidigt, weil es seit Jahrhunderten auf den Universitäten gegolten habe.1 Der sehr frühe Burschenkomment von ,,Martialis Schluck Raufenfeldensis“ 1778 geht mit seiner ironischen Verteidigung der älteren studentischen Sitte bereits von deren defensiver Position aus, wie sie in Landsmannschaften und studentischen Orden durchaus noch gepflegt wurde, während eben diese studentischen Assoziationen gleichzeitig aber auch schon an die Reformierung des studentischen Lebensstils gingen.2 Schließlich sind vorab noch einige Bemerkungen zur Geschichte des studentischen Verbindungswesens vonnöten, um das Ausmaß des Wandels im studentischen Selbstverständnis ermessen zu können. Studentische Sitte und Lebensführungsart wurden in der alten Welt an allen protestantischen Universitäten des Reichs von den alten Landsmannschaften beherrscht. Die Zugehörigkeit war mehr oder weniger Pflicht. Organisationsprinzip war, wie der Name sagt, die regionale Zusammengehörigkeit, die sich mit den territorialstaatlichen Grenzen nur in Ausnahmefällen deckte. Die Funktionen ergaben sich aus den Lebensbedingungen der Studierenden in der alten Welt: Schutz und Unterstützung der Mitglieder gegen alle möglichen Arten der Bedrohung und Gefährdung: bei Krankheit und Tod, bei Geldnot und bei der Ehrenwahrung. Diese alten Landsmannschaften bildeten den organisatorischen Rückhalt für die traditionelle Sitte. Die frühneuzeitliche studentische Sitte rekurrierte auf eine ständisch interpretierte studentische Freiheit mit ostentativ gewahrten Privilegien – Vorrechten, die sich vor allem aus dem Charakter des Studiums als eines ,,Moratoriums“ vor dem Eintritt ins Erwachsenen- und Berufsleben ergaben. Sie gewährten den Studierenden einen befristeten Freiraum für das Ausleben archaischer Triebregungen: renommieren, provozieren, duellieren, randalieren, Wirte prellen, Schulden nicht bezahlen, ungenierte Befriedigung sexueller Bedürfnisse in den einschlägigen Häusern – alles dieses wurde unter dem Begriff der studentischen Freiheit zusammengefasst und praktiziert. Die studentische Gemeinschaft war im Wesentlichen in sich geschlossen – ohne gesellschaftlichen Umgang mit der Stadtgesellschaft, im Allgemeinen auf Kriegsfuß mit Polizei und Militär – Streitigkeiten, Gefechte, vereinzelt förmliche Straßenschlachten waren das Üb1

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Letztes Wort über die Streitigkeiten der Studierenden zu Halle seit dem 4. März 1817, von Immermann, Leipzig 1817, S. 13; Immermann hob die Auseinandersetzung zu Recht ins Grundsätzliche: es gehe hier nicht um ,,Privatstreitigkeiten“; vielmehr führe die Teutonia den Kampf gegen einen ,,Zustand, welcher zu einer, dem Geiste der Zeit mehr angemessenen, Gestaltung des Studentenleben führen“ könne; ebda. S. 5. Erich Bauer, Der älteste Burschenkomment von 1778 verfaßt von Martialis Schluck Raufenfeldensis, in: Einst und Jetzt, Bd. 13 (1968), S. 5–19.

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liche. Ein solcher Zuschnitt der studentischen Existenz betonte den Gegensatz der Generationen, die Freiheit von allen bürgerlichen Pflichten und Bindungen, er gewährte eine Enklave archaischer Affektivität vor dem Eintritt in die streng genormte und kontrollierte Ehrbarkeit des bürgerlichen Lebens. Diese Formung des studentischen Lebens blieb selbstverständlich auch in den seit etwa 1770 energisch einsetzenden Neuerungsbestrebungen der Grundbestand der Sitte, wesentlich mitbestimmt natürlich durch die altersbedingten Eigenheiten dieser Lebensphase. Aber die seit etwa 1750 neugegründeten zahlreichen studentischen Orden stellen den ersten Versuch der Studierenden dar, sich selbst in den bürgerlichen Wertekanon und in die entstehende bürgerliche Gesellschaft bewusst und zielgerichtet zu integrieren.3 Nach einer Blütezeit von etwa 25 Jahren zerfallen die Orden und werden abgelöst von einer neuen landsmannschaftlich orientierten Organisationsweise, die sich zwar einerseits mit außerordentlicher Schärfe gegen die ordensartigen Sozietäten wendet – aber deren wesentlichen zivilisatorischen Impuls aufnimmt und verstärkt weiterführt. Die Burschenschaften schließlich sind in dieser Perspektive als innerstudentische Reformbewegung nichts anderes als die energische Fortführung der mit den Orden eingeleiteten innerstudentischen Moralisierungs-, Gesittungs- und Zivilisierungsbestrebungen – allerdings jetzt unter explizit politischem Vorzeichen.4 Im Folgenden soll nun gezeigt werden, wie im Rahmen dieser – wie ich meine, durchgehenden – studentischen Reform die ,,Idee der Selbstverwirklichung durch Bildung und die Selbstverpflichtung auf Bildungserwerb und Bildungspflege“ (Koselleck) postuliert werden (I). Diese Ideen setzen sich in eine dezidierte Rationalisierung der Lebensführung um, wobei zu klären ist, inwieweit diese Rationalisierung funktional zugleich Modernisierungsleistungen erbringt (II). Danach sollen nach dem gesamtgesellschaftlichen Geltungsanspruch dieser ,,Lebensführungsart“ und nach dem Eliteanspruch der jugendlichen Bildungsschicht gefragt (III) sowie die Entstehungsbedingungen und verursachenden Faktoren des studentischen Werte- und Verhaltenswandels diskutiert werden (IV). I Selbst wenn man eine erhebliche Diskrepanz zwischen statutarischen Absichtserklärungen und tatsächlicher Lebensführung in Rechnung stellt – es ist doch höchst bemerkenswert, in welcher „Weise und in welchem Ausmaß die jugendliche Bildungsschicht seit den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts die Lebensspanne ihrer universitären Existenz einem neuen Ethos zu unterwerfen sucht: dem Ethos

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Vgl. zum Ganzen: Wolfgang Hardtwig, Studentenschaft und Aufklärung. Landsmannschaften und Studentenorden in Deutschland im 18. Jahrhundert, in: E. François (Hg.), Geselligkeit, Vereinswesen und bürgerliche Gesellschaft in Frankreich, in Deutschland und in der Schweiz 1750–1850, Paris 1987, S. 245 ff. Vgl. Wolfgang Hardtwig, Studentische Mentalität – politische Jugendbewegung – Nationalismus. Die Anfänge der deutschen Burschenschaft, in: ders., Nationalismus und Bürgerkultur in Deutschland 1500–1914, Göttingen 1994, S. 108–148.

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der Selbstvervollkommnung in intellektueller und moralischer Hinsicht.5 Ziemlich genau datierbar – ab 1798 – machen Statuten und Statutenentwürfe ein ,,immerwährendes Ringen nach Vollkommenheit und strenge Erfüllung (der) Pflichten“ zur Auflage.6 Der Gießener Ehrenspiegel von 1816 verlangt – konkret von der burschenschaftlichen Verbindung der ,,Schwarzen“, prinzipiell aber von allen – einen „jeder Arbeit und Aufopferung gewärtigen Willen, zu dem Höchsten, was Gedanke und Gefühl auch erreichen mag, unablässig hinanzustreben“.7 Anspannung, Anstrengung, die Ausrichtung der eigenen Lebensplanung an den höchsten nur denkbaren Maßstäben – das wird jetzt in immer neuen Variationen zur Grundnorm erklärt, auf die sich alles Weitere bezieht. Ein solches Ethos der Rastlosigkeit und der Selbstvervollkommnung war dem älteren studentischen Selbstverständnis völlig fremd gewesen.8 Die Anstrengung gilt sowohl dem Intellekt wie der Moral oder, wie es zeitgenössisch heißt, der ,,Charakterbildung“, und die Quellen deuten darauf hin, dass die literarische Bildung im engeren Sinn, also der Erwerb von Bildungswissen, gegenüber der moralischen Anstrengung und Selbstdisziplinierung von der Chronologie wie von der Gewichtung her das Sekundäre, stärker Abgeleitete ist. Am Anfang steht das Bemühen um ein neues praktisches Lebensführungsideal. Einem landsmannschaftlichen Statutenentwurf von 1806 ist diese Reihung deutlich zu entnehmen: ,,Sittlichkeit, Humanität, Liebe zur Wissenschaft“.9 Zur Sittlichkeit gehört auch der Studienfleiß; dass die Aufforderung zu Kollegbesuch und Liebe zu den Wissenschaften jetzt ausdrücklich in die Statuten hineingeschrieben wird, ist – im Vergleich zur älteren Sitte – eine beachtliche Neuerung; sie kann sich pathetisch artikulieren – ,,fliehe den Müßiggang, er setzt dich in den Augen der übrigen tief herab, und wende deine Jahre so an, daß sie auf der Wage der Menschheit einst Jahrhunderte wagen“10 – oder, seit der Jahrhundertwende, eher nüchtern-geschäftsmäßig.11 Zur Sittlichkeit gehört weiter die Aufforderung zu bürgerlicher Solidität 5

Vgl. Wolfgang Hardtwig, Emotion und Disziplin, Sozialverhalten und Wertewandel der jugendlichen Bildungsschicht im Übergang zur bürgerlichen Gesellschaft (17.–19. Jahrhundert), in diesem Band, S. 33–62, sowie ders., Krise der Universität, studentische Reformbewegung (1750–1819) und die Sozialisation der jugendlichen deutschen Bildungsschicht. Aufriß eines Forschungsproblems, in: Geschichte und Gesellschaft, Jg. 11 (1985), S. 155 ff. 6 Gesetze der schwäbischen Landsmannschaft, gestiftet den 25. Nov. 1805 auf der Universität Heidelberg, abgedr. bei: W. Fabricius, Die älteste Suevia zu Heidelberg (1805), in: Academische Monatshefte 193 (1900) XVIII, S. 3; K. A. Varnhagen von Ense, Hans von Held. Ein preußisches Karakterbild, Leipzig 1845, S. 13 f. 7 Carl Walbrach (Hg.), Der Gießener Ehrenspiegel. Beiträge zur Geschichte der teutschen Sammtschulen seit den Freiheitskriegen 1813. Frankfurt a.M. 1927, S. 57. 8 Constitution der ehemaligen Landsmannschaft der Franken auf der Hochschule Leipzig, angeblich ein Auszug aus der Constitution des Ordens der Amicisten, abgedr. bei Joachim Leopold Haupt, Landsmannschaften und Burschenschaft, Altenburg 1820, S. 226 f. 9 F. Kurz, Ursprung und Stiftung der Suevia München (mit Tagebucheintragungen), in: Academische Monatshefte XIX (1902/03), S. 5. 10 „Einrichtung des Amicisten-Ordens, Jena 1794“, mit stark freimaurerischer Färbung, vgl. Otto Götze, Die Jenaer akademischen Logen und Studentenorden des XVIII. Jahrhunderts, Jena 1932, S. 205. 11 Walter Meyer, Die Konstitution der Guestphalia zu Jena vom 28. April 1808, in: Academische Monatshefte XXIII (1906/07), S. 375.

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– konkret der Kampf gegen das übliche Schuldenmachen.12 So sollte etwa der Sekretär der Jenaer Guestphalia ausdrücklich ein ,,vorzüglich ordentlicher und wo möglich schuldenfreier Mensch“ sein – der Potentialis macht auch hier die permanente Spannung von Anspruch und Wirklichkeit sinnfällig.13 Zur Sittlichkeit und Humanität gehört schließlich, speziell bei den rekonstituierten Landsmannschaften seit der Jahrhundertwende, ein vor der Folie der älteren Tumultbräuche befremdlicher Wunsch nach Ordnung und Harmonie auf der Universität.14 Hinter all diesen auf den ersten Blick eher äußerlich wirkenden Benimmanweisungen steht doch unübersehbar ein Bedürfnis, sich nach selbstgesetzten Normen zu verhalten, die Regeln für die eigene Lebensführung selbst zu entwerfen, eine Ordnung aufzubauen, die nicht unbefragt vorgegeben ist, sondern vernünftig begründet werden muss. Bei aller Zähigkeit der traditionellen Sitte tritt jetzt doch das Verlangen nach einer Persönlichkeitsverfassung in den Vordergrund, in der sich der ,,einzelne selbst zu regieren weiß“, wie es Lessing für die Freimaurerei formuliert hat.15 Man will ein ,,sittlich vernünftiges Wesen“ sein.16 Der strenge und zumindest verbal rigorose Moralismus dieses permanenten Ringens um Vollkommenheit und strenge Pflichterfüllung steht im Dienst einer Verhaltensorientierung, die sich bewusst von der Leitung durch die Tradition zur Leitung durch das eigene Ich umstellen möchte. Die Studenten bemühen sich um jene persönliche Autonomie, wie sie institutionell durch die Humboldt’sche Universitätsreform ermöglicht werden sollte und wie sie die professoralen Präzeptoren des entstehenden bildungsbürgerlichen Lebensführungsstils immer wieder umschrieben haben. Orden und Landsmannschaften – also die studentischen Sozietätsformen der Jahre 1770–1815 – erscheinen so aus der Sicht selbst ihrer burschenschaftlich orientierten Kritiker als ,,der Platz, wo jeder das gilt, was er aus sich selbst macht“.17 Was Fichte in seiner höchst eindringlichen Schlussvorlesung in Jena 1794 von sei12 Eine detaillierte Schilderung der endlosen Geldprobleme, in die sich auch wohlhabende Studierende nach den Regeln der älteren studentischen Sitte zu verwickeln pflegten: Erinnerungen des stud. Carl v. Düring (1773–1862) an seine Universitätsjahre 1791–1793 in Jena und Göttingen, in: Einst und Jetzt, Bd. 13 (1968), S. 119 ff. 13 Carl Manfred Frommel, Die Guestphalia zu Göttingen vom 9. November 1812 und ihre Constitution, in: Wende und Schau, Kösener Jahrbuch N.F. 1832, S. 206. 14 Wilhelm Fabricius, Die Konstitutionen der Marburger Rheinländer und Hessen (1812), in: Academische Monatshefte XVIII (1902), S. 334 ff., hier: S. 335; das Harmonie- und Ordnungspostulat ist in diesem Zusammenhang zwar auch Bestandteil der Korporierten-Ideologie, deren eigentlicher Zweck die Behauptung einer Vormachtstellung gegenüber den Nichtkorporierten ist, sie hat aber doch einen zugleich kommunikativen und rational-lebensgestalterischen Sinn, vgl. ebda. f. S. 335. 15 Gotthold Ephraim Lessing, Ernst und Falk. Gespräche über Freymäurer (1778), in: Sämtliche Werke, hg. von K. Lachmann und F. Muncker, Bd. 13, S. 369. 16 ,,Kurtzer Auszug aus der Geschichte und den Gesetzen des (Unitisten)-Ordens zum Gebrauch bei Rezeptionen“, wohl aus den neunziger Jahren in Göttingen, in: E. Bauer und F. A. Pietzsch, Zum Göttinger Unitistenorden (1786–1799), in: Einst und Jetzt, Bd. 13 (1968), S. 55 ff., hier S. 57. 17 J. Chr. L. W. Stark, Über den Geist des deutschen Studentenlebens, insbesondere zu Jena. Zugleich Beitrag und Einleitung zur Geschichte der Jenaischen Burschenschaft vom J. 1815, abgedr. in: Jenaische Blätter für Geschichte und Reform des deutschen Universitätswesens, Jena 1859, Heft 2, S. 65.

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nen Studenten verlangte, waren sie im Rahmen ihrer Möglichkeiten durchaus willens, sich zu erarbeiten: die Fähigkeit zur intellektuellen und ethischen ,,Selbstthätigkeit“. Laut Fichte ging es darum, sich in ein distanziertes Verhältnis zu sich selbst zu setzen – einen ,,auf immer und auf alle Fälle gültigen Vertrag mit sich selbst“ einzugehen, die ,,Gründe aller seiner Überzeugungen in sich selbst zu bilden“ und „schlechterdings nichts in sich zu dulden“, was ,,auf bloße Autorität hin“ angenommen sei.18 Was Fichte hier mit Schwerpunkt auf der intellektuellen Selbständigkeit formuliert, variierte 21 Jahre später Jacob Friedrich Fries vor der ,,1815er Generation“ – mit stärkerer Betonung der emotionalen Komponente, wobei Vernunft und Gefühl in beiden Fällen – wie auch bei den Studenten – eng verbunden sind. Fries forderte von den Studenten die Tugend des Selbstvertrauens und der Selbstachtung.19 Ordensstatuten hatten schon 1774 von den Mitgliedern verlangt, ,,höflich“, aber nicht ,,kriechend höflich“ zu sein – die Umsetzung dieser Selbstachtung in den Umgangsstil.20 Der Rekurs auf das eigene Ich als die maßgebliche Instanz aller Entscheidungen spiegelt sich dann vor allem bei der Generation der ersten Burschenschafter in einer zum Teil radikalen Ablehnung des Regelwerks des studentischen Komments, weil er die Souveränität der eigenen Innerlichkeit beschränke. Über dem ,,Gesetz“ – dem Statut – steht das ,,eigene Gefühl“ und gibt die wichtigsten moralischen Vorschriften.21 Für den Umgang der Korporierten untereinander sollte der Wille zur eigenen moralischen Besserung der Kritik am anderen vorangehen.22 Das Programm der individuellen Autonomie und der Innenleitung soll auch die äußeren Formen des Auftretens und des Umgangs mit anderen bestimmen; so erklärt sich die durchgehende Kampfansage an das ,,Renommieren“ – das heißt konkret vor allem an die hochentwickelte Kultur der Beleidigung von sogenannten ,,Profanen“.23 Der seriöse Kern dabei ist ein neues Pathos der Redlichkeit, vor der man keine Differenz von Sein und Scheinen mehr hinnehmen will. Es gibt – so lässt sich zusammenfassen – keine andere Rechtfertigung des Einzelnen und seines Lebensschicksals mehr als das eigene Tun und Lassen, und letztgültige richtende Instanz ist das bildungswillige und disziplinierte Individuum selbst. Diese Idee der moralischen Selbstbildung verknüpft sich nunmehr unlöslich mit der Aufwertung des Bildungswissens. In den 1790er Jahren entstehen zahl18 Johann Gottlieb Fichte, Schlußvorlesung zum Sommerhalbjahr 1794, in: Werke (1797–1798) Bd. 4, hg. v. Reinhart Lauth und Hans Gliwitzky, Stuttgart-Bad Cannstatt 1970, S. 412. 19 Jacob Friedrich Fries, Handbuch der praktischen Philosophie oder der philosophischen Zwecklehre, 1. Teil, Bd. I, Heidelberg 1818, S. 331 ff. 20 Gesetze des Unanimitätsordens in Helmstedt, abgedr. in: Albert Dressel, Die Landsmannschaften und Studentenorden an der Universität Helmstedt, in: Jahrbuch des Geschichtsvereins für das Herzogtum Braunschweig 14 (1915/17), S. 147. 21 ,,Inbegriff der neueren Vorschriften, nach welcher die Märker und Pommern während ihres Aufenthaltes auf der Akademie sich gegenseitig zu behandeln versprachen“, abgedr. in: Ludwig Golinski, Die Studentenverbindungen in Frankfurt a.O., Diss. phil. Breslau 1903, S. 96. 22 Konstantistengesetze von 1785 in Frankfurt a.O., abgedr. ebda. S. 81. 23 Vgl. Gesetzbuch der Konstantisten von 1786, abgedr. in: Dressel, Die Landsmannschaften (wie Anm. 20), S. 153; vgl. auch Georg Heer, Marburger Studentenleben 1527 bis 1927, Marburg 1927, S. 197; Wilhelm Fabricius, Die deutschen Corps, 2. umgearb. u. verm. Aufl., Frankfurt a.M. 1926, S. 238.

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reiche spezielle studentische gelehrte Sozietäten, so in Leipzig, Jena, Marburg und Erlangen. Sie übertragen erstmals ausdrücklich die arbeitende Geselligkeit der aufklärerischen Sozietäten auf das studentische Leben; einzelne Gesellschaften schrieben das Anfertigen von Arbeiten literarischen, philosophischen, ästhetischen Inhalts vor; besonders bevorzugt war die sogenannte ,,philosophische Moral“.24 Nach der Jahrhundertwende dringt dann der Begriff der ,,höheren Bildung“ oder der ,,wissenschaftlichen Bildung“ in die Studentensprache ein. Moralität im Sinne der dargestellten Selbsterziehung zur Autonomie, Rechtschaffenheit und Bildung verschmelzen dabei zu einem einheitlichen Tugendkanon, in dem auch Bildung als Aneignung von Bildungswissen dem Perfektionsethos unterworfen wird. Einzelne Statuten schreiben jetzt als Verbindungszweck ausdrücklich vor, dass sich die Mitglieder ,,durch höhere wissenschaftliche Bildung zu vervollkommnen“ hatten. Bildung erscheint hier und in vergleichbaren Äußerungen deutlich nicht als Besitz, ein Haben, sondern als Eigenschaft, als ein Sein.25 Diese Konzeption von höherer oder wissenschaftlicher Bildung zieht auf der Ebene des Wissens die Konsequenz aus der Forderung nach Innenleitung – auch hier durchaus im Einklang mit der Forderung der Universitätsreformer nach Selbstproduktion des Wissens.26 II Die hier dargestellte Idee der Selbstverwirklichung durch Bildung lässt sich im Sinne Max Webers als gruppenspezifischer Beitrag der jugendlichen Bildungsschicht zum universellen Rationalisierungsprozess verstehen. Der Begriff der Rationalisierung bei Weber selbst ist bekanntlich mehrschichtig. Er besagt erstens die Fähigkeit, Dinge mit Hilfe empirischen Wissens und Könnens durch Berechnung zu beherrschen. Dieser Aspekt spielt bei der Legitimierung bildungsbürgerlicher Geltungsansprüche in der Gesamtgesellschaft eine Rolle, wird aber hier nicht weiter ausgeführt. Rationalisierung besagt zweitens die ,,Systematisierung von Sinnzusammenhängen“, die „intellektuelle Durcharbeitung und wissentliche Sublimierung von Sinnzielen“; und sie bedeutet drittens die Ausbildung einer methodischen Lebensführung, also ,,praktischen Rationalismus im weitesten Wortsinn“.27 Diesen Bedeutungskomponenten von Rationalisierung lässt sich sowohl die Idee der 24 Vgl. z.B. Georg Heer, Studentenorden an der Universität Marburg seit der Mitte des 18. Jahrhunderts, in: Zeitschrift des Vereins f. hess. Geschichte und Landeskunde 56 (1927), S. 230; ders., Marburger Studentenleben (wie Anm. 23), S. 204, 231, 233; W. Fabricius, Beiträge zur Geschichte der Guestphalia Erlangen von 1794, in: Deutsche Corpszeitung 48 (1931), S. 22; zum Ganzen: W. Hardtwig, Studentenschaft und Aufklärung (wie Anm. 3), S. 249–255. 25 Fabricius, Die älteste Suevia zu Heidelberg (wie Anm. 6), S. 3; Fabricius, Die Konstitutionen der Marburger Rheinländer und Hessen (wie Anm. 14), S. 335; Meyer, Die Konstitution der Guestphalia zu Jena (wie Anm. 11), S. 372. 26 Vgl. Rudolf Vierhaus, Bildung, in: Otto Brunner, „Werner Conze, Reinhart Koselleck (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Hist. Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. I, Stuttgart 1972, S. 530. 27 Wolfgang Schluchter, Rationalismus und Weltbeherrschung. Studien zu Max Weber, Frankfurt 1980, S. 10.

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Selbstverwirklichung durch Bildung wie die aus ihr begründete Lebensführungsart zuordnen. So sind etwa die asketischen Aspekte dieses Lebensführungsstils unübersehbar. Im Sinne Max Webers gehören dazu: die Ausbildung einer spezifischen Methode der Sinnfindung und Sinnerfüllung; der umfassende Anspruch der beherrschenden Ideen, der sich bei den Studierenden unter anderem in der bewussten Konfrontation mit dem Ganzen der persönlichen Lebensperspektive niederschlägt, und schließlich die freiwillige Unterwerfung unter einen selbstgesetzten Zwang.28 Die asketische Lebensführung ist Teil einer in der Geschichte der studentischen Sitte und Selbstinterpretation ganz neuen Planmäßigkeit, der diese ganze Lebensphase unterworfen wird. Der Zeithorizont des studentischen Lebens, in der alten Welt scharf und gezielt begrenzt auf das Ende der Studienzeit, dehnt sich und umfasst jetzt das ganze Leben. Erstmals führen die Orden seit Beginn der siebziger Jahre das Lebensprinzip ein, den Grundsatz des freundschaftlichen Zusammenhalts auch nach dem Abgang von der Universität. Mit Bewusstheit betonen die Statuten vor allem seit den neunziger Jahren, dass die einzuübende Moral die Moral fürs Leben sei; eine Sondermoral für die Studienjahre soll es gar nicht mehr geben oder nur in – allerdings höchst signifikanten – Teilbereichen wie bei der Ehrenwahrung. Die Zwecke und die Organisation der studentischen Kommunikation werden auf den Beruf und die Zukunft ausgerichtet. ,,Die Categorien jener – das ganze bürgerliche Leben umfassenden Zwecke sind: Sei rechtschaffen und treu und liebe deine Brüder; erfülle die Pflichten deines Berufes und Standes …“, und zwar mit großer Bewusstheit und Entschiedenheit: Der ,,Zweck ... liegt größtenteils in der Ferne der Zukunft“.29 Die Studierenden interpretieren ihre Universitätsjahre vom vorbürgerlichen und vorberuflichen Moratorium um zur Berufsvorbereitung und zur Einübung in bürgerlich-disziplinierte Lebensführung.30 Das kann im Extremfall zu spießbürgerlichen Bekundungen von Lebenssorgen führen.31 Es zeigt aber vor allem, dass das studentische Ethos der Jugendlichkeit jetzt sehr weitgehend von einem ernstgenommenen Berufsethos überformt wird: ,,Jeder hat die Pflicht auf sich, seinen wissenschaftlichen Beruf nach Kräften und individuellen Verhältnissen

28 Vgl. aus den Statuten der Marburger Konstantisten: ,,wenn der Zwang, den sie (die Männer und Jünglinge, d. Verf.) sich durch die strenge Beobachtung der Gesetze freiwillig auferlegen, im Stande ist, alle die Eigenschaften und Tugenden bei ihnen zur Reife zu bringen, die wahre Kennzeichen des rechtschaffenen biederen Mannes sind, so ist dies kein so tadelnswürdiges Unternehmen, als es in den Augen vieler scheint“, abgedr. in: Georg Heer, Marburger Studentenleben (wie Anm. 23). 29 Kurzer Auszug aus der Geschichte des (Unitisten)-Ordens (wohl aus den neunziger Jahren, wie Anm. 16), S. 57. 30 Vgl. dazu Hardtwig, Emotion und Disziplin, Sozialverhalten und Wertewandel, in diesem Band, S. 33–62. 31 „... muß niemand weder sich noch seine Familie durch Verschwendung oder Nachlässigkeit seiner Geschäfte unglücklich machen, kurz ein jeder muss ein ebenso guter Hausvater als Bürger seyn“, Von den allgemeinen (Gesetzen) des A.S.F. [Amicisten Ordens], abgedr. in: Dressel (wie Anm. 20), S. 145.

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zu erfüllen, um sich den Grad von wissenschaftlicher Bildung zu verschaffen zu suchen, den seine künftige Bestimmung von ihm fordert.“32 Mit dieser Ausdehnung der Zeitperspektive verbindet sich als durchgehendes und für das Selbstgefühl der Studenten zentrales Motiv eine verstärkte Affektdämpfung und Affektkontrolle. Die Orden z.B. machten vielfach zur Auflage, dass die Rezipienten keinen ,,veränderlichen Charakter“ haben dürften. Einzelne autobiographische Äußerungen spiegeln einen geradezu verzweifelten Kampf um die Verstetigung des Innenlebens wider. Der Suevia-Gründer von Ow in Landshut z.B. beklagt in einem Rückblick zum Jahresende seine Stimmungsumschwünge: ,,ungezähmter Durst nach zügelloser Freiheit – Burschenleben; Übergang von jenem in ein sanfteres … Geschmack am Studium, Angewöhnen an Ordnung – Alles wechselte in schnellen Zeiträumen“.33 Immer wieder weisen die Statuten den studentischen Verbindungen die Funktion zu, durch die Freundschaft der Mitglieder den Einzelnen auf dem mühevollen Weg der inneren Stabilisierung und Selbstdisziplinierung zu stützen. Solche Freundeshilfe ist freilich nur möglich, wenn eine Nähe und Subjektivierung der persönlichen Beziehung erreicht wird, die es erlaubt, sich in die Bedürfnisse und Nöte des anderen einzufühlen, und wenn die typisch ständischen Umgangsregeln, die jeden Einzelnen auf eine vergleichsweise statische Norm des Verhaltens festlegen, durchbrochen werden. Insofern kommt dem eminenten Freundschaftspathos des Zeitalters auch eine erhebliche funktionale Bedeutung im Prozess der Zivilisation zu. Die Prägung des Gefühlslebens überhaupt unterliegt einem starken Wandel. Die jugendliche Bildungsschicht macht das Gefühlsleben zum Gegenstand unermüdlicher Erörterungen und unterwirft es zugleich einem neuartigen rational-planenden Zugriff. Das Verhältnis von Emotion und rationaler Lebensgestaltung verschiebt sich in einem Ausmaß zugunsten bewusster Planung und Steuerung, das die Studentengenerationen seit 1770 fundamental von den früheren unterscheidet. Insofern lässt sich hier wirklich von einem Wandel sprechen, der bis in anthropologische Schichten reicht. Dieser Wandel zeigt sich zuerst an einem neuen Verhältnis zur Körperlichkeit. Immer geht es um die Disziplinierung der Triebe und um die bewusste Steuerung und Kontrolle der elementaren Äußerungen von Triebhaftigkeit. Eine große Rolle spielt dabei die Transformation der Sexualmoral, obwohl auf diesem Sektor die Differenz von Absicht und Wirklichkeit besonders groß geblieben zu sein scheint. Man kann die zahlreichen Absichtserklärungen in den studentischen Bekundungen zu diesem Thema alle auf die Formel bringen, die Fichte 1794 seinen Studenten vorgetragen hat: Die ,,erste Regel“ der gesamten studentischen Existenz sei es, ,,sich von der Sinnlichkeit, und besonders von der groben thierischen Sinnlichkeit nicht beherrschen zu lassen“.34 Die moralische und gesetzte Lebensart, deren man sich jetzt befleißigen will, schließt den Umgang mit ,,berüchtigten Frauenspersonen“ aus.35 Die entsprechenden programmatischen Äußerungen ziehen sich

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Constitution der ehemaligen Landsmannschaft der Franken (wie Anm. 8), S. 226 f. Fabricius, Die älteste Suevia (wie Anm. 6), S. 4. Fichte, Schlußvorlesung (wie Anm. 18), S. 411. Gesetze des Unanimitätsordens Helmstedt, in: Dressel (wie Anm. 20), S. 147.

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durch bis zu den Beschlüssen der Burschentage zwischen 1827 und 1833.36 In der frühen burschenschaftlichen Bewegung, besonders bei den Gießener Schwarzen, nehmen die Äußerungen zu diesem Thema dann schon pathologische Züge an. Aber in jedem Fall wird das Prestige einer zumindest partiellen sexuellen Askese kontinuierlich und systematisch erhöht. Die Sexualmoral hat sich der durchgehenden Disziplinierung der Lebensführung zu unterwerfen, die jetzt auch für das studentische Leben keine Enklaven der Freizügigkeit mehr dulden will. Erheblich geräuschvoller und zumindest bis 1819 auch erfolgreicher ist die Verhaltens- und Einstellungsänderung in einem anderen Bereich, der das Verhältnis zur Körperlichkeit betrifft: beim Duell. Auch hier geht es um die Sublimierung von Triebregungen und um die Disziplinierung der Affekte. Die bewaffnete Ehrenwahrung, das Duell, ist seit dem 17. Jahrhundert der eigentliche Kern der sogenannten „studentischen Ehre“. Der Großteil des Komments, der Systematisierung der studentischen Verhaltensnormen, die seit 1770 auch der schriftlichen Fixierung unterlagen, besteht aus Regelungen zum Duell. Welche Rolle es gespielt hat – für die Studenten und für den Staat –, soll nur an zwei Beispielen illustriert werden: Friedrich der Große machte in den siebziger Jahren den kuriosen Vorschlag, einen internationalen Kongress zur Bekämpfung des Duellwesens zu veranstalten; und Robert Wesselhöft, einer der Vorkämpfer der burschenschaftlichen Reformen, berichtet, dass im Sommersemester 1815 in Jena innerhalb einer Woche einmal 147 Duelle stattfanden.37 Dabei handelte es sich keineswegs um ein harmloses Spiel; die Einführung der Stichmensur neben der Hiebmensur in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts erhöhte noch die Gefährlichkeit; auch nach der zunehmenden Reglementierung durch den Komment gab es immer wieder Tote. Die Nichtkorporierten verlangten in wiederholten Renoncenbewegungen die völlige Abschaffung des Duells; die Reformer in den Sozietäten proklamierten die Einrichtung von Ehrengerichten, vor denen die unentwegten Ehrenhandel der Studierenden entweder friedlich beigelegt oder aber ein Duell im Ausnahmefall erlaubt werden sollte, wenn die Beleidigung bis in die Kernzone der persönlichen Selbstachtung vorgedrungen sei. Im Ganzen zielt die Duellreformbewegung innerhalb und außerhalb der studentischen Sozietäten darauf, die kriegerische Tugend körperlich-kämpferischer Überlegenheit durch neu bewertete kommunikative und intellektuelle Eigenschaften zu ersetzen. Der Aufbau von Über- und Unterordnung, von Herrschaftsbeziehungen zwischen den Studierenden selbst geschieht damit nicht mehr so sehr im sowohl unmittelbar-anschaulichen wie symbolischen Akt des Schlages, sondern orientiert sich an einer neuen Skala wichtiger Leistungen und Fähigkeiten. Mehrfach finden sich daher Vorschriften wie die folgende: ,,Geschicklichkeit im Fechten“ soll bei der Wahl des Seniors keine Rolle spielen, statt dessen aber ,,Rechtschaffenheit des Charakters, musterhaftes Betragen und vorzüglicher Fleiß und endlich ... Gewandtheit im Ausdruck“.38 Damit entritualisieren die Studierenden den Konfliktaustrag 36 Georg Heer, Geschichte der Deutschen Burschenschaft, Bd. 2, Die Demagogenzeit, Heidelberg 1927, S. 182. 37 Vgl. dazu und zum Duell allgemein: Hardtwig, Studentische Mentalität (wie Anm. 4), S. 591 ff.; ders., Sozialverhalten (wie Anm. 5), S. 315 ff. 38 Inbegriff der Vorschriften, Golinski (wie Anm. 21), S. 97.

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und erweitern gerade dadurch den Spielraum ihrer sozialen Erfahrungen. Das Duell stellt ja neben seiner unmittelbar-anschaulichen Funktion auch ein Symbol dafür dar, auf welchem zivilisatorischen Niveau der Austrag antagonistischer Interessen, Bedürfnisse und Meinungen überhaupt geregelt ist. An die Stelle einer augenblicklichen und – wenn nichts passiert – folgenlosen Befriedigung der Kampfeslust im körperlichen Wettstreit tritt jetzt, mit Norbert Elias formuliert, die ,,Bereitschaft zu mehr psychologischer Nuancierung und Komplizierung“.39 Es reicht für den psychischen und intellektuellen Haushalt der Studierenden offenbar nicht mehr aus, sich auf die vereinfachende und durch Sitte und Komment fixierte Feststellung: Ehrenkränkung oder Nicht-Ehrenkränkung zurückzuziehen. Vielmehr bemüht man sich jetzt zumindest ansatzweise, sich in den Kontrahenten hineinzudenken und hineinzufühlen. Der Gekränkte soll die Position des Kontrahenten in ein rationales Kalkül aufnehmen. Er gewöhnt sich auf diese Weise daran, Differenzen zwischen Absicht und Wirkung wahrzunehmen, Zweck-Mittel-Relationen zu bedenken, fremde Ansprüche und Bedürfnisse in Rechnung zu stellen und Handlungsfolgen vorauszuplanen. Die klare, aber nach der Affektabfuhr im Duell folgenlose Polarität von Freund und Feind tritt zurück zugunsten eines immer wieder neu auszubalancierenden Gleichgewichts von Akzeptierung und Ablehnung. Diese Art des Umgangs miteinander setzt an die Stelle eines kaum variablen und beliebig anwendbaren Regelsystems die jeweils in der Situation neu zu treffende individuelle Entscheidung; sie verlangt eine sehr viel höhere soziale Aufmerksamkeit und Unterscheidungsfähigkeit als das Ritual des Duellspiels. Sie verlangt aber auch eine permanente Kontrolle der Affekte, den Verzicht auf das sofortige Ausleben gefühlshafter Impulse. Insofern schlägt sich hier die Bereitschaft zum gesittungsfördernden, aber anstrengenden Handlungsaufschub nieder. Das unvermittelte Umschlagen der Gefühle und Haltungen – etwa von der Konfrontation zur Versöhnung – flacht sich ab; es entsteht ein Juste-milieu-Ideal der Gefühls- und Stimmungslagen. In welchem Maß die historisch variablen Formen der ,,Affektmodellierung“ in der jeweiligen gesellschaftlichen und politischen Verfassung begründet sind, hat Norbert Elias plausibel herausgearbeitet – wenngleich er eine der Antriebskräfte des Zivilisationsprozesses, die wachsende Macht der Zentralregierungen, m.E. zu einseitig hervorhebt. Unverkennbar jedenfalls antwortet die neue Stilisierung der Affektivität auf einen neuen gesellschaftlichen Bedarf und verstärkt ihrerseits diesen Bedarf. Diese gesellschaftliche Nachfrage ist durchaus zur Kenntnis genommen und in einen veränderten Wertkodex und in adäquate Verhaltensweisen umgesetzt worden. So dient die erhöhte Selbstkontrolle etwa beim Reden der persönlichen Unabhängigkeit in der Vielzahl gesellschaftlicher Abhängigkeiten und informeller Herrschaftsstrukturen.40 Die Reichweite und die soziale Exklusivität der persönlichen Beziehungen im doppelten Wortsinn lassen sich, so die neue, in Ver39 Norbert Elias, Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen, 2 Bde., 3. Aufl. Frankfurt 1976, Bd. I, S. 79. 40 Harmonistengesetze, Jena 1788, abgedr. in Götze (wie Anm. 10), S. 205; sowie ebda. S. 186; man solle im ,,Reden vorsichtig“ und ,,im Handeln bedachtsam“ sein, um sich nicht der „Gewalt anderer“ auszuliefern.

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haltensregeln umgesetzte Erkenntnis, durch bewusste Stilisierung des Auftretens steigern.41 Ganz allgemein bemühen sich Orden und Landsmannschaften um eine stärkere Selektion des Umgangs. Man schult die Fähigkeit, sich zielgerichtet und ohne Reibungsverluste in der Gesellschaft zu bewegen. Dieser Verhaltenszuschnitt ist zwar pragmatisch, aber die Umgangspragmatik ergibt sich doch notwendig aus einem substantiellen Bewusstseinswandel, der Aufwertung von Bewusstheit in jeder Hinsicht: ein bloß ,,halbbewusstes Streben“ genügt nicht; der Gebildete ist, wie Fichte das formuliert, an den Punkt gekommen, wo er zugleich frei und seiner Freiheit bewusst geworden sei.42 Dieser Freiheit als individueller Entscheidungsfähigkeit entspricht die bewusst geübte Fähigkeit, sich zu Menschen und Zuständen in Distanz zu setzen. Sie schützt den Kern der Persönlichkeit in der zunehmenden Vielfalt segmentierter Kontakte und dient gleichzeitig dazu, die soziale Situation offen zu gestalten. Die Selbsterziehung zielt einerseits auf innere Unabhängigkeit, andererseits aber auch auf ein deutliches Persönlichkeitsprofil nach außen; es geht darum, für andere eindeutig identifizierbar und verlässlich zu sein.43 Mit alldem wächst die Fähigkeit, auf einer sachlichen, nicht durch ständische Tradition und Sitte bestimmten Ebene miteinander umzugehen, sich zu bestimmten Zwecken zu assoziieren, in einzelnen Funktionen zu kooperieren, ohne doch die innere Unabhängigkeit aufzugeben. Das Verhalten der jugendlichen Bildungsschicht richtet sich damit auf die wachsende Komplexität der ökonomischen, sozialen und politischen Beziehungen in der entstehenden bürgerlichen Gesellschaft aus; das „Verhalten von immer mehr Menschen muß auf einander abgestimmt, das Gewebe der Aktionen muß genauer und straffer durchorganisiert sein, damit die einzelne Handlung darin ihre gesellschaftliche Funktion erfüllt.“ Der Einzelne wird gezwungen, ,,sein Verhalten immer differenzierter, immer regelmäßiger und stabiler zu regulieren“.44 Die Reform der studentischen Sitte trägt der quantitativen Vermehrung der Kontakte und der qualitativen Komplizierung der Kommunikationssituationen Rechnung.45 Dass all diese Funktionszwänge der bürgerlichen Gesellschaft die Besänftigung bis zur Domestizierung steigern konnten – das haben Einzelne offenbar gespürt, ohne es verhindern zu können. III In der publizistischen Diskussion sind den Ergebnissen der Begriffsgeschichte zufolge ,,Bildung“ und ,,gute“, d.h. ,,bessere“ Gesellschaft erstmals zu Beginn der

41 Vgl. Fabricius, Die älteste Suevia (wie Anm. 6), S. 4; es gehe darum, eine ,,fein gebildete (!) Außenseite“ zu zeigen. 42 Fichte, Schlußvorlesung (wie Anm. 18), S. 411. 43 Harmonistengesetze, Jena 1788, Götze (wie Anm. 10), S. 204. 44 Elias (wie Anm. 39) II, S. 317 f. 45 Den unauflöslichen Zusammenhang von Wissenvermehrung und Disziplinierung haben die Reformer gesehen und uneingeschränkt positiv gewertet: der ,,Gebildetere ist zugleich der Sanftere“, der ,,Ungebildete der Rauhe“, Fabricius, Die älteste Suevia (wie Anm. 6), S. 3.

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1790er Jahre korreliert worden.46 Vergleichbare explizite Verknüpfungen von Statusansprüchen mit dem Wort ,,Bildung“ finden sich in den studentischen Schriften genau datierbar seit 1804. Im innerstudentischen Statussystem selbst betonten die Reformer schon vorher den Vorrang der Bildung vor Vermögen, Stand und Religion.47 An sich ist es nichts Neues, dass die Gebildeten bzw. die ,,Gelehrten“ einen herausgehobenen Sozialstatus für sich beanspruchen. Seit dem Humanismus spielen in Deutschland die Gelehrten ihr Leistungsethos gegen die Geburtsprivilegien aus und versetzen sich selbst metaphorisch in den Adelsstand, so etwa mit der um 1600 üblichen Selbstbezeichnung als ,,nobilitas literaria“.48 Ernst Moritz Arndt bewegt sich insofern in herkömmlichen Bahnen, wenn er in seiner Schrift über den ,,Deutschen Studentenstaat“ von 1812 ,,vom Adel des Geistes, der Wissenschaft und der Kunst“ spricht. Allerdings akzentuiert er den Topos entschieden sozialemanzipatorisch. Er spricht einerseits von der ,,Gleichheit aller Klassen und Stände“, betont aber andererseits, wenn auch indirekt, die Exklusivität derer, die durch Bildung aufsteigen: Bildung erhebt den Sohn des Schuhmachers und Bauern zur Würde von Freiherrn und Grafen.49 Neu dagegen ist, dass diese ganze Thematik seit circa 1770 in den studentischen Diskurs einzieht, wenn auch anfangs mit einer charakteristisch verschobenen Frontlinie. Die studentischen Orden wiederholen nämlich zunächst einmal einfach den verdeckten Eliteanspruch der freimaurerischen Sozietäten. Sie bilden innerhalb der Gesamtstudentenschaft und selbst innerhalb der etablierten Landsmannschaften relativ kleine und geschlossene Zirkel, die sich bewusst aus der Masse der Studierenden ausgrenzen wollen. Die Bildung im dargestellten Sinne soll es den Mitgliedern ermöglichen, Menschen von ,,freyem Sinn“ und eben damit über die ,,gewöhnlichen und einfältigen Vorurtheile des großen Haufens erhaben“ zu sein.50 So weit der Anspruch. Die Wirklichkeit sah anders aus, gehört aber ebensosehr zur Konstituierung des Bildungsbürgertums als funktionaler Elite. Die Mitgliedschaft in den Orden war freiwillig, man wollte eine Gemeinschaft der Besten bilden, man rekrutierte sich mit Kooptation und Ballotage und sorgte so für die Geschlossenheit der Gruppe. Man pflegte das Geheimnis – nach Analogie der zeitgenössischen Geheimgesellschaften – und versuchte, geheimerweise die Machtpositionen in den älteren Verbindungen, den Landsmannschaften, an sich zu bringen. Tatsächlich zeichnen die Quellen, und zwar sowohl die behördlichen wie die studentischen, ein ziemlich wüstes Bild vom studentischen Alltag unter dem Vorzeichen der Ordensherrschaft. Man duellierte sich womöglich noch mehr als vorher, stritt sich um attraktive Neu46 Vgl. Vierhaus, Bildung (wie Anm. 26), S. 525. 47 Vgl. Heer, Marburger Studentenleben (wie Anm. 23), S. 233. 48 Vgl. Erich Trunz, Der deutsche Späthumanismus um 1600 als Standeskultur, in: Richard Alewyn (Hg.), Deutsche Barockforschung. Dokumentation einer Epoche, Köln u.a. 1965, S. 147 ff. bes. S. 160 f. 49 Ernst Moritz Arndt, Über den deutschen Studentenstaat, zuerst in: Der Wächter, Köln 1815; hier benutzt der Abdruck in: Jenaische Blätter für Geschichte und Reform des deutschen Universitätswesens, Jena 1859, Heft 1, S. 102. 50 Gesetzbuch der Konstantisten von 1786, Helmstedt, in: Dressel (wie Anm. 20), S. 152; ähnlich ebda. S. 131.

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zugänge, die jeweils lebenslängliche Zugehörigkeit und Treue schwören mussten, schloss Bündnisse ab, um gemeinsame Gegner zu bekämpfen, und zeigte sich äußerstenfalls auch gegenseitig bei der Universitätsbehörde an, was in der Regel eine Untersuchung zur Folge hatte, die sich dann allerdings gegen alle zu richten pflegte und zur vorübergehenden Auflösung oder Selbstauflösung führte. Zum Schutz der Orden vor dem staatlichen Zugriff war es ausdrücklich erlaubt, einen Meineid zu schwören, was den Behörden regelmäßig Gelegenheit gab, in den Verbotsdekreten die Anmaßung hoheitlicher Befugnisse und die Errichtung von Staaten im Staat zu beklagen. Es geht hier, wie bei den Geheimgesellschaften seit der Mitte der siebziger Jahre überhaupt, um ein vorpolitisches Machtspiel, in dem sich die Bedürfnislage und das Anspruchsniveau einer sich neu ausbildenden gesellschaftlich-politischen Elite artikulieren. Freigesetzt werden eine eminente Geltungssucht, der Wunsch nach ,,Glanz“, ,,Ruhm“, ,,Ansehen und Anhang“ und ein eminenter Drang nach Macht und Herrschaft.51 Dass das Ausspielen einer solchen Motivationsstruktur zwar moralisch fragwürdig, für die gesellschaftlich-politische Modernisierung aber bedeutsam ist, hat ein der moralischen Nachlässigkeit unverdächtiger Zeitgenosse präzis beschrieben: In Kants 1784 erschienener ,,Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“ heißt es, dass der Mensch seinen ,,Hang zur Faulheit“ nur überwinde ,,getrieben durch Ehrsucht, Herrschsucht oder Habsucht, sich einen Rang unter seinen Mitgenossen zu verschaffen, die er nicht wohl leiden, von denen er aber auch nicht lassen kann. Da geschehen nun die ersten wahren Schritte aus der Rohigkeit zur Kultur, die eigentlich in dem gesellschaftlichen Wert der Menschen besteht; da werden alle Talente nach und nach entwickelt, der Geschmack gebildet, und selbst durch fortgesetzte Aufklärung der Anfang zur Gründung einer Denkungsart gemacht, welche die grobe Naturanlage zur sittlichen Unterscheidung mit der Zeit in bestimmte praktische Prinzipien, und so eine pathologisch abgedrungene Zusammenstimmung zu einer Gesellschaft endlich in ein moralisches Ganzes verwandeln kann.“52 Innerhalb der Studentenschaft setzten sich damit die Prinzipien von Konkurrenz und permanenter Rivalität offen und positiv gewertet durch – ausbalanciert allerdings durch das neue Ethos der Freundschaft. In zahllosen Variationen wies man der Freundschaft die Aufgabe zu, den anderen auf dem mühevollen Weg der inneren Stabilisierung und Ichfindung zu stützen. Zugleich steigt ganz offenkundig, wie in der aufklärerischen Gesellschaft überhaupt, der Geselligkeitsdrang, der in der Sprache der Empfindsamkeit umschrieben wird. Mit dem Freundschaftskult einerseits, dem neuen Ethos der Bewusstheit und der Affektdisziplinierung andererseits kristallisiert sich ein neuer Diskursstil inner51 Kurz, Suevia (wie Anm. 9), S. 4; Pietsch, Geschichte der Loge zu E, abgedr. in: Ernst Deuerlein, Neues von Konstantistenorden, in: Wende und Schau, Kösener Jahrbuch, 2. Folge (1932), S. 90 ff., hier: S. 105 f.; Constitution der ehemaligen Landsmannschaft der Franken (wie Anm. 8), S. 227; vgl. dazu Hardtwig, Studentenschaft und Aufklärung (wie Anm. 3), S. 253 ff. 52 Immanuel Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (1784), in: Otto Heinrich von der Gablentz (Hg.), Immanuel Kant, Politische Schriften, Köln/Opladen 1965, S. 13 f.

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halb der jugendlichen Bildungsschicht heraus, dessen Maßstab, will man ihn auf eine Formel bringen, die Aufwertung des Individuellen ist. Dieser neue Diskursstil bleibt nicht ohne Rückwirkung auch auf das Verhältnis zwischen Studenten und Professoren, so wie er selbst nicht ohne vorgängige Wandlungen in dieser Beziehung hatte entstehen können; Ansätze zu wissensorientierten Diskussionsformen unter den Studenten und zu einem freieren Umgang zwischen Lehrern und Schülern hatte es schon an den reformorientierten Universitäten Halle und Göttingen im früheren 18. Jahrhundert gegeben.53 Und er ergibt sich zweitens aus der Umdeutung des Professorenamtes in der Reformzeit im Zusammenhang mit der gesellschaftlich-politischen Emanzipationsbewegung. Die zum Teil sehr enge Beziehung Professoren – Studenten in der alten Welt transformiert sich von einer Subsistenzgemeinschaft in eine stärker ideenpolitisch geprägte Verbundenheit. Einzelne Vorfälle, wie etwa in Halle 1788, markieren den Übergang zwischen der älteren, primär korporativ geprägten Gemeinschaft von Studenten und Professoren und der modernen, stärker auf der Basis von Intellektualität und geistigem Präzeptorenamt beruhenden Gesinnungsgemeinschaft. Aufgrund der Woellnerschen Religionsedikte war in Halle eine Regierungskommission erschienen, die die Lehrtätigkeit der Professoren Niemeyer und Nösselt überprüfen sollte; die Studenten brachten ihr ein Pereat aus und warfen ihr nach altem Tumultbrauch ein Fenster ein, woraufhin die Säkularfeier der Universität ausgesetzt wurde – ein Beispiel für die Überformung der korporativen Solidarität der Universitätsangehörigen durch den Kampf zwischen Aufklärung und Antiaufklärung.54 Die persönliche Färbung der Beziehung zwischen Professoren und Studenten auf der sachlichen Grundlage der Lehre zeigte sich dann in den neunziger Jahren vor allem an Beispielen wie Friedrich August Wolf in Halle, Schiller oder auch dem umstrittenen Fichte in Jena. Goethe registrierte bereits bei der Jenaer duellgegnerischen Bewegung, die Studenten bezögen ihre Ideen ,,von den Lehrstühlen der Philosophen“.55 Schiller legte 1784 in ,,Kabale und Liebe“ dem Präsidenten die Klage in den Mund, dass die jungen Leute mit unbotmäßigen Ideen von den Akademien kämen. Der Politisierungsschub durch die Befreiungskriege bestärkte dann die jungen ,,politischen Professoren“ Wilhelm Stark, Heinrich Luden, Jacob Friedrich Fries, die Brüder Welcker noch darin, zumindest die politisch bewegten Studenten in ihrem neuen ideenpolitischen Eliteanspruch zu bestärken. Diese Professoren verstanden sich als Repräsentanten der Gesamtnation, legitimiert durch Geist und Bildung: ,,Was die Gelehrten einer Nation einstimmig und anhaltend verlangen, das geschieht endlich.“56 Ihre Hörer machten sich diesen gesamtgesellschaftlichen Eliteanspruch zu eigen. 53 Vgl. Notger Hammerstein, Zur Geschichte der deutschen Universität im Zeitalter der Aufklärung in: Helmut Rössler, Günter Franz (Hgg.), Universität und Gelehrtenstand 1400–1800, Limburg 1970, S. 170 f. 54 Vgl. Otto Götze, 250 Jahre Hallisches Studentenleben, in: Deutsche Corpszeitung 48 (1931), S. 21–25. 55 Carl Schüddekopf, Ein Gutachten Goethes über die Abschaffung der Duelle an der Universität Jena 1792, in: Goethejahrbuch 19 (1898), S. 21. 56 Gottlieb Welcker, zit. im Hauptbericht der Central-Untersuchungs-Kommission d.d. Mainz den 14. December 1827, S. 27; vgl. ebda. S. 100, 197.

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IV Fragt man nach den Ursachen, warum sich gerade zwischen 1770 und 1819 die neue Bildungsbürgerlichkeit bei den Studenten durchgesetzt hat, so ist ein ganzes Geflecht sich gegenseitig verstärkender Bedingungen in Rechnung zu stellen. Massiv tritt aus den Quellen der staatliche Sozialdisziplinierungsdruck hervor. Topisch zieht sich der Vorwurf der Rohigkeit, Faulheit, Gewalttätigkeit und Ausschweifung durch die mit Universität und Studentenschaft befassten Schriften vor allem von Staatsbeamten in der Frühen Neuzeit. Der Tonfall dieser Kritik ist dem Standardwerk von Johann Matthäus Meyfart, ,,Christliche Erinnerung von den aus den evangelischen hohen Schulen in Deutschland mancher Orten entwichenen Ordnungen und ehrbaren Sitten …“ aus dem Jahr 1631 zu entnehmen.57 Mit barocker Wortgewalt werden hier Barbarei und moralische Verwahrlosung beklagt, die an den evangelischen Universitäten eingerissen seien. Solange die alten Landsmannschaften das Studentenleben bestimmten, konzentrierte sich die Kritik auf das, was damals „Nationalismus“ hieß – eben die landsmannschaftliche Organisation und auf bestimmte durch die Landsmannschaften gepflegte Bräuche wie den sogenannten Pennalismus.58 Inhalt und Tonfall dieser Kritik halten sich durch bis um 1800 und selbstverständlich auch darüber hinaus. Tatsächlich verfolgten die Behörden jede studentische Organisation mit einer besonders seit der Mitte des Jahrhunderts ansteigenden Flut von Verbotsedikten. Dazu kamen – nach Anfängen im späten 16. Jahrhundert – seit der Mitte des 17. Jahrhunderts die Duellverbote mit teilweise drakonischen Strafandrohungen. Schon seit dem 16. Jahrhundert schlug sich sowohl in den evangelischen wie in den katholischen landesherrlichen Universitätsordnungen die Überzeugung nieder, dass die studentischen Sitten im Namen der christlichen Lebensführung und staatlicher Ordnung überwacht werden müssten. Der Erfolg dieser Politik christlicher Polizei blieb allerdings bis um 1770 sehr begrenzt. Danach verschärfte sich der Disziplinierungsdruck; vor allem drang jetzt in der Universitätspolitik der Landesherren das Bemühen ein, die Restriktionspolitik durch ein aufklärerisch gefärbtes staatskonformes Leitbild des Studenten zu ergänzen.59 Der Tugendkanon, der hierbei propagiert wurde, deckte sich mit dem gleichzeitig von den Studierenden in den Orden und dann in den rekonstruierten Landsmannschaften entwickelten: Der Student sollte rechtschaffen sein, tugendhaft, mäßig, und im Ganzen ein Mensch mit ,,wolgeord57 Johann Matthäus Meyfart, Christliche Erinnerung von den aus den evangelischen hohen Schulen in Teutschland an manchen Orten entwichenen Ordnungen und Erbaren Sitten und bei dieser elenden Zeit eingeschlichenen Barbareien, Schleissingen 1631, bes. S. 77 ff., 142 ff., 161 ff. 58 Vgl. dazu noch immer: Friedrich Schulze, Paul Szymank, Das deutsche Studententum von den ältesten Zeiten bis zur Gegenwart, 4. Aufl., München 1932, S. 106–135, 189–207; Max Bauer, Sittengeschichte des deutschen Studententums, Dresden 1926; als Beispiel: Eine Deposition im 17. Jahrhundert. Nach gleichzeitigen Quellen bearbeitet von Dr. Fabricius, in: Academische Monatshefte XXV, (1908/09), S. 404 ff. 59 Vgl. dazu u.a. Ernst Schubert, Studium und Studenten an der Alma Julia im 17. und 18. Jahrhundert, in: 1582–1982. Studentenschaft und Korporationswesen an der Universität Würzburg [Würzburg], 1982, S. 14 ff.

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neten Leidenschaften“.60 Neu ist hierbei auch, dass den Studierenden für die Gesamtgesellschaft eine Vorbildfunktion und damit eine herausgehobene Stellung zugeschrieben wurde. Der Student sollte ,,allen Ständen durch einen erbaulichen Lebenswandel voranleuchten“.61 Die Eigenständigkeit der studentischen Sitte sollte gebrochen, der Student – verkürzt ausgedrückt – ,,verbürgerlicht“ werden. Das Allgemeine Preußische Landrecht handelt dieser staatlichen Interessenlage und Politik zufolge in dem Abschnitt ,,Von den Universitäten“ in fünf Paragraphen von der ,,Inneren Verfassung“, in einem von den ,,Rechten der Lehrer“, in sieben von der ,,Aufnahme der Studierenden“, und anschließend in 46 Paragraphen von der Lebensführung der Studenten; davon sind ausdrücklich 13 der akademischen Disziplin bzw. dem Strafkatalog vorbehalten und 27 dem Problem des Schuldenmachens.62 Dieser staatliche Disziplinierungsdruck ist sehr wohl verspürt worden, sonst hätten die Studenten nicht vereinzelt in den 1780er Jahren die Notwendigkeit des Wohlverhaltens ausdrücklich mit dem ,,unermeßlichen Schaden“ begründet, der andernfalls ,,bei der Rückkehr ins Vaterland“ anstünde.63 Der Strafkatalog der Karlsbader Beschlüsse ist inhaltlich in keiner Weise neu; die einzelnen Bestimmungen decken sich zum Teil wörtlich mit den zahlreichen Verbotsedikten des 18. Jahrhunderts. Ein Edikt für die Universität Jena vom 13. 2. 1767 bedrohte alle inländischen Korporationsmitglieder mit dem Verlust der Ämter und Würden, die übrigen Studenten mit der ,,unabbittlichen Relegation“; die Landeskinder sollten ,,aller Versorgung in Unsern Landen verlustig“ gehen, die auswärtigen Studenten ihren jeweiligen Heimatbehörden angezeigt werden. Hauswirte, bei denen Ordenszusammenkünfte stattgefunden haben, müssen diese bei Strafe von 50 Reichstalern anzeigen.64 Seit dem unter dem Eindruck der Französischen Revolution zustandegekommenen Reichsgutachten gegen studentische Geheimverbindungen vom Juni 179365 verschärfte sich der Disziplinierungsdruck noch erheblich. Trotzdem lässt sich der Verhaltenswandel der Studenten nicht allein auf die staatliche Politik der Sozialdisziplinierung zurückführen – schon deshalb nicht, weil die staatlichen Vorschriften vielfach nicht durchgesetzt werden konnten. Ein Beispiel für viele: Ein Student Heinig, der zunächst einige Semester in Jena studiert hatte, war in Halle relegiert worden und nach Jena zurückgekehrt; dort hatte er, obwohl nicht inskribiert, heftige Schlägereien zwischen den Orden ausgelöst. Der Senat sprach das Consilium abeundi aus, konnte es aber nicht durchsetzen: ,,Wir sind in Ermangelung eines verstärkten Militärs so wenig vermögend, ihn (d.h. Heinig) wegzuschaf-

60 Statuten der Universität 1785, Zit. ebda. S. 15. 61 Ebda. S. 16. 62 Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten von 1794. Textausgabe, mit einer Einführung von Hans Hattenhauer und einer Bibliographie von G. Bernert, Frankfurt 1970, 11/1299, S. 85–126. 63 Gesetzbuch des alten edlen XX. Orden für die XX. Loge in Marburg 1786, abgedr. in: Fabricius, Die deutschen Corps (wie Anm. 23), Anlage II, S. 11. 64 Beilage A in: Actenmäßige Nachricht über die seit dem 10. Junius 1792 auf der Academie zu Jena vorgefallenen Unruhen, Weimar 1792. 65 Vgl. dazu: Deuerlein, Neues vom Konstantistenorden (wie Anm. 51), S. 131 f.

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fen, als wir den überhand nehmenden Ansprüchen der Orden mit Nachdruck zu begegnen vermögend sind …“66 Der Senat schlug daher eine Amnestie vor. Stärker als die unmittelbare Sozialdisziplinierung hat aber sicher die allmähliche Entstehung eines Marktes für geistige Arbeit das Leistungsethos der Studierenden gefordert. Mit dem Aufbau der modernen Prüfungssysteme rationalisierten die Staaten, wie bisher vor allem für Preußen nachgewiesen worden ist, den Berufszugang. Die Prüfungen, zunehmend von Zentralbehörden gesteuert, objektivierten zwar die Leistungsanforderungen und überwanden insofern prinzipiell die altständischen Interessen; andererseits war aber die tatsächliche Privilegierung des Adels beim Ämterzugang keineswegs gebrochen. Faktisch diente das Prüfungswesen im 18. Jahrhundert dazu, ,,ein wirkliches oder vermutetes Überangebot hintanzustellen, d.h. vor allem zu große Konkurrenz für den Adel im Hinblick auf höhere Positionen“ zu verhindern.67 Hinzu kommt eine doch wieder ständisch geschichtete Funktionsteilung zwischen adligen und bürgerlichen Beamten etwa in Preußen, wo den Bürgerlichen vorzugsweise die technischen und internen Stellen und die Militärbürokratie offenstanden, die leitenden und repräsentativen Stellen aber dem Adel vorbehalten blieben.68 Gerade angesichts dieser formalen Gleichheit war es nicht nur eine Frage bewußterer Intellektualität oder gar eines freischwebenden neuen Persönlichkeitsideals, sondern eine ganz massive Wahrung von Lebenschancen, wenn die bürgerlichen Amtsanwärter die sachliche Qualifikation und den ,,inneren Beruf“ zum staatlichen Amt jetzt bereits im Studium stärker betonten. Zudem hat der Adel ja in den beiden letzten Jahrzehnten vor 1800 verstärkt zum Studium gedrängt.69 Was die Chancen des Berufszugangs angeht, befanden sich die bürgerlichen Studierenden auf dem Höhepunkt der Aufklärung in der Defensive. Verschärfend tritt hinzu, dass sich das Stellenangebot für die gebildeten Berufe trotz Aufklärung und Reformära zwischen 1750 und 1815 nicht erweiterte, sondern verknappte. Anders ist der Rückgang der Studentenzahlen von rund 8500 (im Jahr 1740) auf rund 5800 (1800) nicht zu erklären. Der Durchschnitt der Neuimmatriku66 Zit. ebda. S. 118 f. 67 Peter Moraw, Aspekte und Dimensionen älterer deutscher Universitätsgeschichte, in: P. Moraw, V. Press (Hg.), Beiträge zur älteren Gießener Universitätsgeschichte Marburg 1982, S. 35 f. 68 Vgl. Wilhelm Bleek, Von der Kameralausbildung zum Juristenprivileg. Studium, Prüfung und Ausbildung der höheren Beamten in Deutschland im 18. und 19. Jahrhundert, Berlin 1972, S. 69 ff.; Peter Lundgren, Gegensatz und Verschmelzung von ,,alter“ und ,,neuer“ Bürokratie im Ancien Regime: ein Vergleich von Frankreich und Preußen, in: Hans-Ulrich Wehler (Hg.), Sozialgeschichte heute. Festschrift für Hans Rosenberg zum 70. Geburtstag, Göttingen 1974, S. 104 ff. 69 In Göttingen steigt der Adel auf 18 %, in Erlangen auf 12,7 %; zudem liegt sein Anteil in der höchst-angesehenen Juristenfakultät weit über dem allgemeinen Prozentanteil, so in Ingolstadt zwischen 1780 und 1800 bei 36,1 %. Vgl. Reiner A. Müller, Sozialstatus und Studienchance in Bayern im Zeitalter des Absolutismus, in: Historisches Jahrbuch 93 (1975), S. 138; Konrad H. Jarausch, Deutsche Studenten 1800–1970, Frankfurt 1984, S. 16; vgl. auch ders., Die neuhumanistische Universität und die bürgerliche Gesellschaft 1800–1870. Eine quantitative Untersuchung zur Sozialstruktur der Studentenschaft deutscher Universitäten, in: Darstellungen und Quellen zur Geschichte der deutschen Einheitsbewegung im 19. und 20. Jahrhundert, hg. von Christian Probst u.a., Heidelberg 1981, S. 11 ff.

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lationen sank von 3 435,6 um 1700 auf 2 004,4 um 1810.70 In den Jahren zwischen 1780 und 1800 gab es eine ,,Überfüllungswelle“ in allen drei klassischen Disziplinen Jus, Theologie und Medizin – trotz insgesamt rückläufiger Frequenz. Das Problem des Berufszugangs verschärfte sich also noch durch eine zyklisch bedingte Überbesetzung bei den Amtsanwärtern.71 Wenn festgestellt wurde, dass die Reorganisation der Bildung jeweils auf dem Höhepunkt von Überlastungswellen der Universitäten stattgefunden habe, so liegt es nahe, dass der Druck der Arbeitsmarktsituation auch auf die studentische Auffassung des Studiums durchgeschlagen und sie geformt hat. Dem entspricht, dass sich bei den gelehrten Berufen, speziell bei den Professoren, Anfänge moderner Leistungskonkurrenz und einer entsprechenden Legitimierung des Ansehens durchsetzten. Die Konnexion, in der alten Welt selbstverständliches Rekrutierungsprinzip, verlor an Kraft, wenngleich sie keineswegs völlig verschwand.72 Innerhalb der Studentenschaft wurde über den Druck der beruflichen Konkurrenz direkt offenbar wenig geredet, indirekt hingegen zeigen sich deutlich Symptome einer Zukunftsangst, die mit dem studentischen Zivilisationsprozess und der neuen Idee der Bildung in Zusammenhang gebracht wurden. Der älteste bekannte Burschenkomment aus dem Jahr 1778 verteidigt ironisch die sogenannte ,,studentische Freiheit“, also das Duell, den Kommers, den Tumult, den Meineid, das Schuldenmachen. All diesen Errungenschaften der studentischen Freiheit drohe der Untergang, und zwar ,,von den Stubenhockern, der uns gefährlichsten Rotte. Sie sind es, die, wenn sie in’s Philisterium zurückkehren, die fettesten Ämter für sich wegschnappen, so dass uns kaum ein Thürsteher und Handlanger-Dienst übrig bleibt! ... Schlimme Zeiten! Schlimme Sitten!“73 Nach der Jahrhundertwende weisen dann rektorale Ansprachen ausdrücklich darauf hin, dass ein Leben nach dem Zuschnitt dieser studentischen Freiheit und ein Posten in der bürgerlichen Welt sich eigentlich ausschlossen.74 Die soziale Zusammensetzung der Studentenschaft mit dem immer noch überproportionalen Adelsanteil, die gleichzeitige scharfe Konkurrenz von adligen und bürgerlichen Amtsanwärtern, der neue Diskursstil der Studenten haben dazu geführt, dass die studentische Lebensführungsart und das daraus hervorgegangene bildungsbürgerliche Selbstverständnis eine Synthese oder, wenn man so will, eine Symbiose aus adlig-feudalen und bürgerlichen Elementen darstellt. Von der sozialen Zusammensetzung der Reformbewegungen her ergibt sich, soweit sich das aus den Mitgliederlisten ermitteln lässt: Die prozentuale Verteilung von Adel und bürgerlich-bäuerlichen Studenten in diesen Bewegungen entspricht in etwa der in der Gesamtstudentenschaft. Offenkundig nimmt der proportionale Anteil des Adels an den reformorientierten studentischen Sozietäten von den Orden über die neuen Landsmannschaften zu den Burschenschaften hin ab; diese Hypothese bedarf aller70 Jarausch, Dt. Studenten (wie Anm. 69), S. 15. 71 Hartmut Titze, Die zyklische Überproduktion von Akademikern im 19. und 20. Jahrhundert, in: G. u. G. 10 (1984), S. 92 ff., bes. S. 99, 104, 109. 72 Vgl. Peter Moraw, Humboldt in Gießen. Zur Professorenberufung an einer deutschen Universität des 19. Jahrhunderts, in: G. u. G. 10 (1984), S. 47 ff. 73 Abgedr. in: Erich Bauer, Der älteste Burschenkomment von 1778 (wie Anm. 2), S. 7. 74 Vgl. Frommel, Die Guestphalia zu Göttingen (wie Anm. 13), S. 195–198.

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dings noch des genauen zahlenmäßigen Belegs. An primär bürgerlich bestimmten Universitäten wie Helmstedt oder auch Erlangen dominieren eindeutig die Patriziersöhne; in Göttingen, der Universität der adligen Berufspolitiker, rekrutiert sich dagegen der Unitistenorden fast zu einem Drittel aus Adelssöhnen. Hier kehrt die ständische Schichtung auch in der Binnenstruktur der Verbindung wieder: Von 17 Senioren (1786–1799) sind mehr als die Hälfte adliger Herkunft.75 Bei den Jenaer Konstantisten lag der Adelsanteil erheblich niedriger. Adelsfeindlich waren die Orden auf keinen Fall, schon wegen ihres Drangs nach sozialem Ansehen und wegen der Finanzierung der Geselligkeit. Marburger Konstantisten z.B. erklärten unverblümt: ,,Gut ist es, wenn einige reiche Leute unter uns sind, welche dem Orden äußeren Glanz geben können“.76 Bei einem der ersten lebensfähigen Korps, der Heidelberger Suevia, kamen im Jahr 1805 von 59 Gründungsmitgliedern vier aus dem Adel, das sind 6,7 %.77 Bei den Orden, aber auch noch bei den ersten Korps fällt auf, dass hier der jugendliche Reformadel relativ stark vertreten ist, so etwa in Preußen mit dem radikalen Konstantisten Karl von Held, der wegen seiner scharfen Kritik an der Verwaltung in den polnischen Teilungsgebieten in die Nähe des Jakobinertums gerückt wurde und nach der Publikation einiger nationalpolitischer Broschüren 1806/07 resigniert und mit verpfuschter Karriere aus der Politik ausschied; in Erlangen mit Ludwig von Vincke, der dort 1794 die erste westfälische Landsmannschaft gründete; ebenfalls in Erlangen mit Karl Ludwig von Wangenheim, dem späteren württembergischen Bundesgesandten und Tübinger Universitätskurator.78 Im Ganzen ist die studentische Sitte bei der Entstehung des Bildungsbürgertums als eigenständiger Sozialgruppe aus bürgerlichen und aristokratischen Elementen zusammengewachsen. Bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts dominierten die Analogien zur zünftischen Lebensgestaltung: die schon erwähnten Unterstützungsfunktionen der Landsmannschaften – im 18. Jahrhundert dann nach dem Vorbild der aufklärerischen Sozietäten zum Teil weiterentwickelt zur Philanthropie; die Regelung der Beziehungen zwischen Studienanfängern und höheren Semestern ähnlich denen zwischen Lehrlingen und Gesellen; Sitten wie das ,,Freisprechen“ u. a.m. Seit dem Dreißigjährigen Krieg kann man dann von einer Aristokratisierung des Lebensstils sprechen, dem sich auch die bürgerlichen Studierenden unterwarfen. Dazu gehörte das Tragen herrenmäßiger Kleidung – wogegen sich dann in speziellen Kleidervorschriften Orden, Korps und Burschenschaften wandten; aber auch die Tracht der radikalreformerischen ,,Schwarzen“ stand noch in dieser Tradition. Dazu gehörte das Duellspiel, die Aneignung aristokratischer Standesrequisiten wie Degen und Feder, die Selbstbezeichnung als „Cavalier“ u.ä. Hier verhielten 75 Vgl. dazu die Mitgliederliste des Göttinger Unitistenordens bei Bauer/Pietzsch, Zum Göttinger Unitistenorden (wie Anm. 16), S. 59–67. 76 Zit. nach Heer, Marburger Studentenleben (wie Anm. 23), S. 201. 77 Vgl. die Mitgliederliste bei Fabricius, Die älteste Suevia (wie Anm. 6), S. 5–7. 78 Vgl. Karl August Varnhagen von Ense, Hans von Held. Ein preußisches Karakterbild, Leipzig 1845; Fabricius, Beiträge zur Geschichte der Guestphalia Erlangen (wie Anm. 24), S. 21 ff.; Georg Schmidgall, Der Konstantistensenior Karl August von Wangenheim, in: Deutsche Corpszeitung 44 (1927), S. 158 ff.

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sich die Studierenden analog zur ,,Verhöflichung“ der Gelehrten überhaupt mit deren Hang, zur Hofgesellschaft zu gehören, mit der Übernahme des höfischen Courtoisie-Ideals, mit dem Drang zu den einschlägigen Titeln, ,,Hofrat“, ,,geheimer Regierungsrat“, ,,geheimer Justizrat“ etc., die die Landesherren jetzt zu vergeben begannen. Gerade angesichts des sozialemanzipatorischen Zugs der innerstudentischen Reformbewegungen in der verschärften Konkurrenzsituation zwischen adligen und nicht-adligen Amtsanwärtern am Ende des 18. Jahrhunderts lag es dann nahe, dass die Bürgerlichen zwar einerseits die Idee der Selbstbildung und ihr neues Berufs- und Leistungsethos hervorhoben, dass sie aber andererseits die wichtigste Stütze des aristokratischen Selbstbewusstseins, die Ehre des degentragenden Standes, nicht aufgeben wollten, sondern mit neuer, verinnerlichter Begründung festhielten.79 Seit der Jahrhundertwende stützte die jugendliche Bildungsschicht ihr Selbstverständnis daher auf die neuartige Verbindung zweier Normenkreise, in der sich einerseits der Anpassungsprozess des Adels an das neue Bildungspostulat, andererseits der neue quasiaristokratische und allgemeingesellschaftliche Eliteanspruch des universitätsgebildeten Bürgertums aussprach.

79 Vgl. dazu den Ehrenspiegel (wie Anm. 7) sowie H. Haupt, Die Verfassungsurkunde der Jenaischen Burschenschaft vom 12. Juni 1815, in: Quellen und Darstellungen zur Geschichte der Burschenschaft und der deutschen Einheitsbewegung, Bd. I, Heidelberg 1910, S. 121.

4. ELITEANSPRUCH UND GEHEIMNIS IN DEN GEHEIMGESELLSCHAFTEN DES 18. JAHRHUNDERTS Wenn im Folgenden die Funktionen des Geheimnisses in den Sozietäten des 18. Jahrhunderts untersucht werden, so ist zunächst zwischen dem „Geheimnis“ als Wissensinhalt und Metapher einerseits und der „Geheimgesellschaft“ als einem bestimmten Typus gesellschaftlicher Organisation andererseits zu unterscheiden. Diese beiden Bedeutungsgehalte von Geheimnis können sich überschneiden, sie müssen es aber nicht. Terminologisch herrscht Einigkeit darüber, dass der Illuminatenbund und die Rosenkreuzergesellschaften des späten 18. Jahrhunderts Geheimgesellschaften im strengen Wortsinn sind. Die Freimaurerei verfolgte ursprünglich primär religiös-kulturelle und kommunikative Ziele und blieb bis in die Französische Revolution hinein im Ganzen unpolitisch; zumindest deklarierte sie sich so.1 Spätestens seit Beginn der 1780er Jahre allerdings sah sie sich politischen oder zu1

Zur Freimaurerei allgemein vgl.: A. Wolfstieg, Ursprung und Entwicklung der Freimaurerei, 3 Bde., 2. Aufl. Berlin 1923; F. Runkel, Geschichte der Freimaurerei in Deutschland, 3 Bde., Berlin 1931; sowie an neueren zusammenfassenden Problemskizzen: L. Hammermayer, Zur Geschichte der europäischen Freimaurerei und der Geheimgesellschaften im 18. Jahrhundert, in: E. H. Balazs, L. Hammermayer, H. Wagner, J. Woitowiz (Hg.), Beförderer der Aufklärung in Mittel- und Osteuropa. Freimaurer, Gesellschaften, Clubs, Berlin 1979, 9ff.; H. Wagner, Die politische und kulturelle Bedeutung der Freimaurer im 18. Jahrhundert, in: E. Balazs u.a. (Hg.), Beförderer der Aufklärung in Mittel- und Osteuropa (wie oben), 69ff.; H. Reinalter, Zur Aufgabenstellung der gegenwärtigen Freimaurerforschung, in: ders. (Hg.), Freimaurer und Geheimbünde im 18. Jahrhundert in Mitteleuropa, Frankfurt 1983, 9–31; einen Querschnitt durch die im Folgenden angeschnittenen Probleme bieten die Beiträge in: P. Chr. Ludz (Hg.), Geheime Gesellschaften, Heidelberg 1979; zu den Illuminaten: E. Weis, Montgelas 1759–1799. Zwischen Revolution und Reform, München 1971, bes. 31–41; R. van Dülmen, Der Geheimbund der Illuminaten. Darstellung, Analyse, Dokumentation, Stuttgart 1975; L. Hammermayer, Illuminaten in Bayern. Zu Geschichte, Fortwirken und Legende des Geheimbundes, in: H. Glaser (Hg.), Krone und Verfassung. König Max I. Joseph und der neue Staat. Beiträge zur Bayerischen Geschichte und Kunst 1799–1825, München u.a. 1980, 146–173; N. Schindler, Der Geheimbund der Illuminaten: Aufklärung, Geheimnis und Politik, in: H. Reinalter (Hg.), Freimaurer und Geheimbünde (wie oben), 284–318; M. Agethen, Geheimbund und Utopie. Illuminaten, Freimaurer und deutsche Spätaufklärung, München 1984; zu den Rosenkreuzern: A. Marx, Die Gold- und Rosenkreuzer. Ein Mysterienbund des ausgehenden 18. Jahrhunderts in Deutschland, in: B. Beyer (Hg.), Das Freimaurer-Museum, Bd. 5, Zeulenroda-Leipzig 1930, 168ff.; H. Möller, Die Bruderschaft der Gold- und Rosenkreuzer. Struktur, Zielsetzung und Wirkung einer antiaufklärerischen Geheimgesellschaft, zuletzt in: H. Reinalter (Hg.), Freimaurer und Geheimbünde, (wie oben), 199–239; erste zusammenfassende Darstellung zum Sozietätswesen der Aufklärung: U. Im Hof, Das gesellige Jahrhundert. Gesellschaft und Gesellschaften im Zeitalter der Aufklärung, München 1982; R. van Dülmen, Die Gesellschaft der Aufklärer. Zur bürgerlichen Emanzipation und aufklärerischen Kultur in Deutschland, Frankfurt 1986; H. Möller, Vernunft und Kritik. Deutsche Aufklärung im 17. und 18. Jahrhundert, Frankfurt 1986, 213–231.

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mindest kryptopolitischen Einflüssen ausgesetzt. Demgegenüber reflektierte der Geheimbund der Illuminaten bereits die Grenzen, die auch der aufgeklärte Absolutismus der Aufklärung zog, und setzte diese Erkenntnis in ein politisch gemeintes Organisationsmuster und Aktionsprogramm um. Der Rosenkreuzerbund wiederum reagierte auf die Ausbreitung und den politischen bzw. religions- und kirchenpolitischen Machtgewinn der Aufklärung politisch, indem er sich die Bekämpfung der Aufklärung in Gesellschaft, Kirche und staatlichem Handeln zur Aufgabe machte.2 Die Freimaurerei ihrerseits brachte seit Beginn der 1760er Jahre eine solche Vielfalt von Organisationstypen und Varianten ihrer Weltanschauung hervor, dass sich von „der Freimaurerei“ nur noch auf einer hohen Ebene der Abstraktion und unter Vernachlässigung sehr bedeutsamer Unterschiede der Organisation und der Programmatik sprechen lässt. Die zahlreichen Spielarten des Freimaurertums und die mehr oder weniger explizit politischen Geheimgesellschaften der Spätaufklärungsepoche verbindet allerdings das eine konstitutive Merkmal: die Zentrierung um das Geheimnis – sei es nun symbolisch oder konkret-konspirativ verstanden. Diese beiden Typen des Geheimnisses selbst lassen sich wiederum in der historischen Realität nicht eindeutig trennen, sie überlagern sich, so dass der begrifflichen Unterscheidung mehr idealtypischer als realtypischer Charakter zukommt. Das Geheimnis als Chiffre für die Möglichkeit von Autonomie und Selbstbildung der Person ist in den programmatischen Texten des Illuminatenordens ebenso gegenwärtig wie die Vorstellung vom planmäßigen, verdeckten, also geheimen Handeln in politischer Absicht. Umgekehrt setzt das Geheimnis als Chiffre für das lockende Unbekannte in der Erforschung der Natur die konkrete Absonderung der intellektuell Suchenden von den öffentlich sanktionierten Institutionen und Formen der Wissensaneignung voraus. Im Folgenden soll untersucht werden, welche Funktionen dem Geheimnis im Sozietätswesen des späteren 18. Jahrhunderts von den Zeitgenossen selbst zugeschrieben wurden, und zwar von Seiten der Beteiligten und Anhänger dieser Gesellschaften selbst wie ihrer Gegner, die im Übrigen meist ursprünglich ebenso Beteiligte waren wie ihre Kontrahenten. Es geht also primär um den Diskurs der Zeitgenossen selbst über das Geheimnis. Spezifisch und der Intention nach eindeutig politische Funktionen des Geheimnisses sollen hier vernachlässigt bzw. nur im Kontext anderer Gesichtspunkte behandelt werden. Äußerungen über den Illuminatenorden bzw. die Rosenkreuzer werden miteinbezogen, soweit es nicht ausdrücklich oder primär um politische Ansprüche oder Gefahren des Geheimnisses im Verständnis des späten 18. Jahrhunderts geht. Fragt man zunächst nach der sozialen Zusammensetzung und, sicherlich ebenso wichtig, nach der Selbsteinschätzung der Freimaurergesellschaften als soziale Gruppen, so fällt der Gleichheitsanspruch der Mitglieder zuerst ins Auge. Er dekla2

Zur Politisierung der deutschen Spätaufklärung und dem Kampf um die Geheimgesellschaft zuerst und immer noch unverzichtbar: F. Valjavec, Die Entstehung der politischen Strömungen in Deutschland 1770–1815, unveränd. Nachdruck der Ausg. von 1951, mit einem Nachwort von J. Garber, Königstein 1978, 255–341; K. Epstein, Die Ursprünge des Konservativismus in Deutschland. Der Ausgangspunkt: Die Herausforderung durch die französische Revolution, dt. Frankfurt 1973, bes. 105–136.

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riert im Rahmen des Freiwilligkeitsverbandes der Loge das neue Prinzip ständeneutraler und ständeverschmelzender Gesellschaftsbildung. In Lessings „Gesprächen über Freymäurer“ ist der Anspruch klar formuliert, dass „jeder würdige Mann von gehöriger Anlage … ohne Unterschied seines bürgerlichen Standes“ in den Orden aufzunehmen sei.3 Emphatischer und allgemeiner, weil ohne einschränkenden Hinweis auf Würde und gehörige Anlage, aber auch rhetorischer, heißt es gelegentlich, die Maurerei vereinige Leute aus „allen Ständen“.4 Der Berliner Verleger, Aufklärer und Freimaurer Friedrich Nicolai betont den Nutzen freimaurerischer Ständeindifferenz und Rechtsgleichheit besonders für Verhältnisse, in denen „Stolz und Pedanterey“ zu extremer Abgrenzung der Schichten gegeneinander geführt hätten.5 Zweifellos ist die Freimaurerei ursprünglich, zumindest in England, eine primär, wenn auch nicht rein bürgerliche Schöpfung, in die das Bürgertum zunächst den Adel hineinzog, um so auf der Ebene der Gleichberechtigung mit ihm umzugehen.6 Auf dem Kontinent und so auch in Deutschland stellt sich jedoch die Freimaurerei von Beginn an als bürgerlich-aristokratische Mischgesellschaft dar, in der das Element der Egalisierung nach oben deutlicher hervortritt. Es formt sich je nach der Zusammensetzung der örtlichen Führungsschichten jeweils unterschiedlich, aber mit der gleichen Grundtendenz aus. In Wien boten die Logen dem besit3

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Gotthold Ephraim Lessing, Ernst und Falk. Gespräche über Freymäurer (1778), in: Sämtliche Werke, hg. von K. Lachmann und F. Muncker Bd. 13, 367; ebenso suspendiere die Freimaurergesellschaft den Unterschied zwischen „reicheren und ärmeren Gliedern“, ebda, 358; die tatsächliche Sozialstruktur der Freimaurergesellschaften kann hier nicht untersucht werden: vgl. dazu den Beitrag von W. Dotzauer in diesem Band sowie ders., Freimaurergesellschaften am Rhein: Aufgeklärte Sozietäten auf dem linken Rheinufer vom Ausgang des Ancien Régime bis zum Ende der napoleonischen Herrschaft, Wiesbaden 1977, 233ff.; ders., Bonner aufgeklärte Gesellschaften und geheime Sozietäten bis zum Jahr 1815 unter besonderer Berücksichtigung des Mitgliederbestandes der Freimaurerloge „Frères courageux“ in napoleonischer Zeit, in: Bonner Geschichtsblätter Bd. 23 (1969), 80ff. Schatten und Licht. Epilog zu den wienerischen Maurerschriften, Wien 1786, 30; vgl. dazu den Rückblick allerdings für den Spezialfall einer dynamischen Reichsstadt bei Friedrich Wilhelm von Schütz, Freie Bekenntnisse eines Veteranen der Maurerei und anderer geheimen Gesellschaften, Leipzig 1924, 16: „In Hamburg fand ich es gerade so, wie es, was Gleichheit der Stände anbetrifft, in allen Logen sein sollte, Senatoren, Gelehrte, Kaufleute, Seeleute und Professionisten, alle bunt durcheinander, und auf äußeren Rang und Titel wird hier, so wie überall, am wenigsten aber in den Logen gesehen“. Friedrich Nicolai, Einige Bemerkungen über den Ursprung und die Geschichte der Rosenkreuzer und Freimaurer, veranlasst durch die sogenannte historisch-kritische Untersuchung des Herrn Hofraths Buhle über diesen Gegenstand, Berlin/Stettin 1806, 22, Anm.; zu Nicolai vgl. H. Möller, Aufklärung in Preußen. Der Verleger, Publizist und Geschichtsschreiber Friedrich Nicolai, Berlin 1974; das Statut des Illuminatenordens spricht davon, dass „in dem Orden aller Unterschied des Standes und der Würde verschwindet“, in: R. van Dülmen, der Geheimbund der Illuminaten (wie Anm. 1), 154; vgl. auch [A.C.F. Rebmann], Apologie einer geheimen Gesellschaft edlerer Art gegen die Angriffe eines Ungenannten, Leipzig, Frankfurt 1792, 12; zu Recht weist Agethen (wie Anm. 1), 57 darauf hin, das Ideal der „Gleichheit der Stände“ erscheine nicht erst in der heutigen Forschung, sondern bereits im zeitgenössischen Urteil als Kern freimaurerischen Selbstverständnisses. So v.a. R. Koselleck, Kritik und Krise. Ein Beitrag zu Pathogenese der bürgerlichen Welt, 2. Aufl. München 1969, 57f.

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zenden und gebildeten Bürgertum die Möglichkeit, sich mit dem Adel auf eine Stufe zu stellen.7 In der Münsteraner Loge „Friedrich zu den drei Balken“ sagte die Anrede „Bruder“ wenig über eine wirkliche Gleichstellung bürgerlicher und aristokratischer Logenmitglieder, der gesellschaftliche Führungsanspruch des Adels blieb gewahrt und wurde von den bürgerlichen Mitgliedern auch anerkannt.8 In Hamburg bot die Freimaurerei vor allem der entstehenden freien Intelligenz, Privatlehrern, Übersetzern, Buchhändlern u.ä., sowie gesellschaftlichen Randgruppen wie Juden und Schauspielern die Möglichkeit zur Anpassung nach oben.9 Dem Anspruch auf Ständeegalisierung innerhalb der Freimaurergesellschaften steht dabei aber ebenso deutlich, wenn auch bisher weniger beachtet, ein ausgesprochener Eliteanspruch der Logen im Verhältnis zur bürgerlichen Gesellschaft insgesamt gegenüber10; er bedeutet mehr als lediglich die Bewahrung der Exklusivität der Gebildeten gegenüber Gewerbebürgertum und Unterschichten. Er entspricht sozial eher dem Selbstbewusstsein der Mitglieder des „persönlichen Standes“ und spricht sich aus in der durchaus topischen Distanzierung vom „großen Haufen“; diese Redewendung ist keineswegs besonders polemisch gemeint, sondern setzt die Kluft zwischen der Mehrheit außerhalb der Gesellschaften und der Elite innerhalb der Gesellschaften als selbstverständlich voraus. Wieland kleidet dieses Distanzbewusstsein in einen bildlichen Vergleich: die Mitglieder der – in diesem Falle übrigens informellen – „geheimen Gesellschaft“ haben Einsicht oder können sehen, was den „Augen des großen Haufens von jeher verborgen geblieben“.11 Dieses Elitebewusstsein gründet sich expressis verbis jedoch nicht auf ständisch bedingte Qualitäten, sondern betont auf individuelle, personale Tugenden und Qualitäten. Der Hamburger Freimaurer und Freimaurer-Kritiker Heinrich Chr. Albrecht beschreibt als ideale Erwartung an die Freimaurer, dass sie durch „mehr Besonnenheit und Bewußtseyn“ ausgezeichnet sein sollten, als der „große Haufen der Menschen“.12 Im Selbstverständnis der Freimaurer gründet sich dieser Beson7

Vgl. dazu die Beiträge von Eva Huber und Helmut Reinalter, in: H. Reinalter (Hg.), Aufklärung und Geheimgesellschaften, München 1989, S. 173–188, 151–172 . 8 Vgl. H. Reif, Westfälischer Adel 1770–1860. Vom Herrschaftsstand zur regionalen Elite, Göttingen 1979, 406; zumindest gilt dies für die 1780er Jahre. 9 F. Kopitzsch, Grundzüge einer Sozialgeschichte der Aufklärung in Hamburg und Altona, 2 Teile, Hamburg 1982, 316; K. von Raumer, Deutschland um 1800. Krise und Neugestaltung 1789–1815, Konstanz o.J., 18, weist bereits daraufhin, dass im Logenwesen „ebensoviel Spieltrieb, gesellschaftlicher Geltungswille und Aufstiegsdrang zur Auswirkung gekommen seien wie „wirkliche Erneuerungskräfte“; aus sozialgeschichtlicher Sicht stellen allerdings gesellschaftlicher Geltungswille bzw. Aufstiegsdrang und wirkliche Erneuerungskräfte weniger einen Gegensatz denn eine Einheit dar, vor allem, wenn sie sich in die Ausbildung einer schichtenmodifizierenden Organisationsstruktur umsetzen. 10 Zu Recht jetzt betont bei Agethen, Geheimbund und Utopie (wie Anm. 1), 57; im Anschluss an P. Ch. Ludz, Überlegungen zu einer soziologischen Analyse geheimer Gesellschaften, in: ders. (Hg.), Geheime Gesellschaften (wie Anm. 1), 97, der den Begriff „esoterische Eliten“ einführt. 11 Christoph Martin Wieland, Das Geheimnis des Kosmopolitenordens in: Der Teutsche Merkur, Nr. 7, 1788, 103; ähnlich Adolf Frh. v. Knigge, Beitrag zur neuesten Geschichte des Freymaurerordens, Berlin 1786, 176. 12 Heinrich Christoph Albrecht, Geheime Geschichte eines Rosenkreuzers. Aus seinen eigenen Papieren, Hamburg 1792, 4.

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derheitsanspruch freilich nicht nur auf intellektuelle Eigenschaften, sondern auf ethische Qualitäten, auf die Moralität, die sich mit der Intellektualität untrennbar verbindet. Die Freimaurerei gilt als „Bund, ... für den alle böse, schwache oder unzuverlässige Menschen ewig profan bleiben müssen ...“.13 Bei dieser neuen Hierarchisierung auf der Grundlage persönlicher geistiger Überlegenheit, eine Hierarchisierung, die quer steht zur geburtsständischen Ordnung, nimmt es nicht Wunder, dass die Grenze zwischen der Majorität der unselbständig Denkenden und Handelnden und der Minorität der bewusst Entscheidenden nicht nur zwischen der bürgerlichen Gesellschaft und den Geheimgesellschaften verläuft, sondern – vor allem seit Beginn der 80er Jahre deutlich fassbar – auch innerhalb der Gesellschaften. Der Aufbau neuer Ungleichheit zwischen den Ordensmitgliedern ist nicht einfach nur auf die Fortwirkung oder Nachahmung der Hochgradsysteme zurückzuführen, die sich innerhalb der Freimaurerei seit den 1760er Jahren immer mehr durchgesetzt hatten, und in denen sich offenbar Elemente einer Adelsreaktion mit dem Rekurs auf Organisationsstrukturen und Ritus der katholischen Kirche verbanden.14 Zwar ist die Tendenz zur logeninternen Hierarchisierung entlang einem überholten Statussystem bei der „Strikten Observanz“, die sich am weitesten in der Erfindung von Hochgraden verlor, am deutlichsten zu fassen, so etwa, wenn die Mitglieder der höheren Grade Ritternamen führten oder wenn die Gründungslegende die unmittelbare Herkunft des Ordens vom mittelalterlichen Ritterorden der Templer ableitete. Hier heißt es sogar, bei der Aufnahme in den Orden sei „der weltliche Stand der Brüder jederzeit in Erwägung zu ziehen“.15 Aber für die Freimaurerei ganz allgemein galt, dass das logeninterne Gleichheitsgebot ausdrücklich nicht auf den logenexternen Raum der bürgerlichen Gesellschaft als solcher übertragen wurde und dass daher eher die Neigung bestand, die ständische Struktur in der Ämterhierarchie der Logen abzubilden. Die Spannung zwischen Postulat und Wirklichkeit wurde freilich empfunden und das Gleichheitspostulat mitunter kritisch eingefordert und zwar in einer bewusst bürgerlichen Logenkritik.16 Der innergesellschaftliche Differenzierungsprozess tritt auch bei den betont aufklärerischen Vertretern und Theoretikern der Freimaurerei auf, bei Lessing, bei Joseph von Sonnenfels oder beim Freiherrn von Knigge, dann allerdings nicht mit geburtsständisch-traditionaler Begründung, sondern personalistisch abgeleitet, aus dem unterschiedlichen Grad individueller Einsicht. Lessing vertritt insofern eine idealistische Extremposition, als er in einer historisch offenkundig falschen Herleitung des Wortes „Free-Masonry“ die Freimaure13 Ignaz von Born, Vorerinnerung über die Veranlassung, den Zweck und die eigentliche Bestimmung dieses Journals, in: Journal für Freimaurer, 1. Jg. 1784, 3–14. 14 Grundlegend dazu immer noch: G. A. Schiffmann, Die Entstehung der Rittergrade in der Freimaurerei um die Mitte des 18. Jahrhunderts, Leipzig 1882; sowie aus der neueren Literatur u.a.: Dotzauer, Bonner aufgeklärte Gesellschaften (wie Anm. 3), 80f.; Agethen, Geheimbund und Utopie (wie Anm. 1), 60. 15 Chr. F. Kessler von Sprengseysen, Scala algebraica oeconomica, oder: Des Anti-Saint-Nicaise 3. und letzter Teil, Leipzig 1787, 63. 16 Etwas über geheime Verbindungen, in: A.L. Schlözers Staatsanzeigen, Bd. 8, Heft 31 (1786), 273; der Verfasser beklagt die Neigung, „Durchlauchtigte, Hochgeborne, Hochwohl- und Wohlgeborne Personen auch dort recht zu unterscheiden“ (im Logeninneren).

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rei schließlich auf eine „geschlossene vertraute Tischgesellschaft“, das heißt auf das vertraute Gespräch, die Freundschaft reduziert.17 Sehr viel mehr in Herrschaftsstrukturen – auch logeninternen Herrschaftsstrukturen – denkt der neuadlige Wiener Aufklärer, Professor der Staatswissenschaft und Hofrat Joseph von Sonnenfels. Er verlangt gerade in der Krise der Freimaurerei, wie sie 1782 im Wilhelmsbader Konvent zum Ausdruck gekommen war18, die Brüder sollten Zutrauen zu der Einsicht der Ordens„führer“ haben.19 Der Radikalaufklärer Adolph Freiherr von Knigge schließlich unterscheidet in durchaus typischer Weise die „wenigen Bessern“, durch deren Einsatz vor allem die „allgemeinen Zwecke“ des Ordens erfüllt würden, von der Menge mittelmäßiger, nämlich verführbarer Menschen auch in den Orden.20 Die immanente Kritik an der ständischen Ordnung durch ihre Suspendierung in der geheimen Versammlung des Freimaurerbundes setzt zwar das Postulat einer – nach unten abgegrenzten – grundsätzlichen Standesgleichheit frei, doch ist diese Gleichheitsforderung zugleich die Voraussetzung für den Aufbau einer neuen, wenn auch informellen Ungleichheit. Dem Selbstverständnis der Logen zufolge gründet sie in der Fähigkeit zur individuellen Selbstbestimmung. Die Geheimgesellschaft erscheint demnach als eine Verbindung von Personen, die sich gemeinsam um die Fähigkeit zu persönlicher Autonomie bemühen, diese Bemühung jedoch – innerhalb der ständisch-feudalen Herrschafts- und Gesellschaftsordnung – in den abgegrenzten Raum geheimer Gesellschaftsbildung verlegen müssen. Insofern sind die Logen – zugespitzt formuliert – Instanzen des Übergangs von der ständisch-korporativen zur bürgerlich-individuellen Ungleichheit. Auf die neuartige individualistische Legitimierung des Anspruchs auf eine elitäre Stellung stützt sich auch das elitäre Gruppenbewusstsein gegenüber der Gesamtgesellschaft. Dieses freilich konnte dann umgekehrt in der seit Mitte der 80er Jahre anschwellenden Kritik der Geheimgesellschaften Anlass zur Abgrenzung gegen die Freimaurerei werden. So entlarvten die Gegner der Maurerei, die sich seit Beginn der 80er Jahre deutlicher formierten und zunehmendes publizistisches Gewicht gewannen, die mehr oder weniger deutliche Insinuation aufgeklärter Brüder, dass außer17 Lessings Darstellung der Freimaurerei und ihrer Prinzipien ist allerdings extrem esoterisch; der Reduktion auf die Freundschaft entspricht die Kritik an jeglicher „äußerlichen Verbindung, die so leicht in bürgerliche“, d.h. staatliche Anordnungen ausarten könne, Lessing, Ernst und Falk (wie Anm. 31), 410, 406; ich folge hier der Interpretation von P. Michelsen, Die „wahren Taten“ der Freimaurer. Lessings „Ernst und Falk“, in: P. Chr. Ludz (Hg.), Geheime Gesellschaften (wie Anm. 1), 293ff.; vgl. ähnlich Wieland, das Geheimnis des Kosmopolitenordens, (wie Anm. 11), 112f.: das „ganze Geheimnis“ liege in einer „gewissen natürlichen Verwandtschaft und Sympathie“, die Zusammenkünfte seien die der „besten und vertrautesten Freunde“; sowie die „Allgemeinen Ordens-Statuten der Illuminierten (1781), abgedruckt in: R. van Dülmen, Der Geheimbund der Illuminaten, (wie Anm. l), 153. 18 Vgl. dazu grundlegend: L. Hammermayer, Der Wilhelmsbader Freimaurer-Konvent von 1782. Ein Höhe- und Wendepunkt der Geschichte der deutschen und europäischen Geheimgesellschaften, Heidelberg 1981. 19 Journal für Freymaurer, als Manuskript gedruckt für Brüder und Meister des Ordens ...; 1784, hier zit. nach Leopold Alois Hoffmann, Die zwo Schwestern P*** und W*** oder neu entdecktes Freymaurer- und Revolutionssystem, o.O. 1796, 41. 20 Knigge, Beitrag zur neuesten Geschichte (wie Anm. 11), 166, 171; vgl. ebda 164 die Forderung, die Zahl der Ordensmitglieder klein zu halten.

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halb des Ordens kein „tugendhafter Mann auf Erden“ lebe, mit Lust als Ordensideologie.21 In der Kritik an den Geheimgesellschaften nach der Aufdeckung des Illuminatenordens wurde der Eliteanspruch polemisch mit dem Geheimnis in Beziehung gebracht und aus der Tatsache des Rückzugs ins Arkanum die für alle Geheimgesellschaften konstitutive Behauptung einer besonderen Moralität in ein bewusst schiefes Licht gesetzt: „Warum sondert ihr Euch ab? Haltet ihr euch für besser oder seid ihr schlimmer als andere ehrliche Leute“?22 Im Zuge der jetzt bereits entstehenden Konspirationsfurcht erscheint die logeninterne Hierarchisierung auch als ein Instrument zur zielbewussten Steuerung einer Verschwörung durch eine kleine Minderheit.23 Leopold Alois Hoffmann, der energischste Kritiker der Geheimgesellschaft schon vor 1789, erklärt, in dieselbe Richtung zielend, die Hochgrade zu einem Instrument bewusster Irreführung der Mehrheit der Logenanhänger durch eine Minderheit, die sich dabei der Eitelkeit und Verführbarkeit der Menschen bediene.24 Im selben Zusammenhang verfällt dann auch die Unterscheidung von Eingeweihten und Uneingeweihten bzw. Profanen einer zunehmend sarkastischen Ablehnung. Logenkritiker wie Hoffmann oder Göchhausen interpretieren diese Unterscheidung unmittelbar oder mittelbar politisch als den Versuch, etwas zu verbergen, was das Licht der Publizität und die Öffentlichkeit gegenüber der Regierung zu scheuen habe.25 Der im Begriff der „Eingeweihtheit“ bzw. „Profanität“ ausgesagte sakrale Bedeutungsinhalt, der für die Freimaurerei durchaus konstitutiv ist, der selbst im Hochgradsystem der Hund’schen „Strikten Observanz“ keineswegs völlig verschwunden ist und der auch noch in den Erneuerungsversuchen der Maurerei auf dem Wilhelmsbader Konvent 1782 als wichtiges Motiv der ganzen Maurerbewegung zu spüren ist, wird dabei entweder nicht mehr ernst genommen und ideologiekritisch als Fiktion entlarvt, oder im orthodoxen Sinne als Untergrabung der amtskirchlichen Autorität perhorresziert.26 Und schließlich erklärt die Kritik den Eliteanspruch und seine ostentative Darstellung, die im halböffentlichen Geheim21 Joseph M. Babo, Über Freimaurer, (München) 1784, 13. 22 Ernst August Anton von Göchhausen, Enthüllung des Systems der Weltbürger-Republik. In Briefen aus der Verlassenschaft eines Freymaurers, Rom (= Leipzig) 1786, 175. 23 Ebda, 207; vgl. Epstein, Die Ursprünge des Konservativismus (wie Anm. 2), 120ff. 24 „Macht keine neuen Narren durch Austeilung sogenannter höherer Grade, die ja doch nichts sind, als Lockspeise der Einfältigen im Geiste und der armen Sünder ohne Kopf, in: [Leopold Alois Hoffmann] Kaiser Josephs Reformation der Freymaurer. Eine Denkschrift fürs 18. Jahrhundert, von E***, o.O. o.J., 43; zu Hoffmann und den Anfängen der Verschwörungstheorie vgl. noch immer: G. Krüger, Die Eudämonisten. Ein Beitrag zur Publizistik des ausgehenden 18. Jahrhunderts, in: Historische Zeitschrift 143 (1931), 467ff.; F. Valjavec, Die Entstehung der politischen Strömungen in Deutschland (wie Anm. 2), 271ff.; K. Epstein, Die Ursprünge des Konservativismus, (wie Anm. 2), 599ff., sowie J.R. von Bieberstein, Die These von der Verschwörung 1776–1945. Philosophen, Freimaurer, Juden, Liberale und Sozialisten als Verschwörer gegen die Sozialordnung, Bonn u.a. 1976. 25 Vgl. z.B. [L.A. Hoffmann], Kaiser Josephs Reformation (wie Anm. 24), 44. 26 Zu einer angemessenen Würdigung der religionsgeschichtlichen Aspekte v.a. der Illuminaten zuerst: M. Agethen, Mittelalterlicher Sektentypus und Illuminatenideologie. Ein Versuch zur geistesgeschichtlich-soziologischen Einordnung des Illuminatenbundes, in: P.C. Ludz, Geheime Gesellschaften (wie Anm. 1), 121ff.; und jetzt ders., Geheimbund und Utopie (wie Anm.

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nis enthalten ist, zu einer Zumutung für die Öffentlichkeit. Es ist gerade die Publizität des Geheimnisses und damit die Inanspruchnahme von Besonderheit, ohne diese zu erklären und damit das Geheimnis offen zu legen, was am Ende, gefördert durch das Illuminatenverbot und die daran anschließenden Erörterungen, als Anmaßung empfunden wird: „Geheimnisse haben immer die mächtigen Stimmen des ungleich größern Theils gegen sich, und wie mich dünkt mit allem Recht; wollt ihr Geheimnisse haben, so habt sie so geheim, daß kein Mensch etwas davon spürt; sonst habt gar keine. Geheimnisse, die man merken läßt, reizen die Neugierde; die Neugierde, das eitelste und stolzeste Triebwerk im Menschen, ist ... beleidigt bei der ewigen Zurückhaltung ...“,27 Geheimnis und Exklusivitätsanspruch werden schließlich gleichgesetzt. In der latent politischen Diskussion der 1780er Jahre werfen sich Aufklärungsgegner und Aufklärer gegenseitig vor, mit der Bildung von Geheimgesellschaften ein Monopol wirklichen oder prätendierten Wissens zu beanspruchen. „Öffentlichkeit“ erscheint dabei nicht nur als die Sphäre intellektueller Publizität, Öffentlichkeit wird vielmehr zumindest implizit mit einem sozialen Substrat verbunden: mit der Gesamtheit derer, die wissenshungrig und an Selbstbestimmung – wie sie auch im Einzelnen verstanden sein mag – interessiert sind, die sich aber infolge des Exklusivitätsanspruchs des Arkanums ausgeschlossen fühlen und sich eben deshalb auch sozial degradiert finden. Eine Denunziationsschrift gegen den antiaufklärerischen Rosenkreuzerorden bringt diese Berufung auf die Gesellschaft der Gebildeten und Bildungswilligen als Substrat der Öffentlichkeit auf die ironische Formel: „Das größte der Geheimnisse war, daß sie ewige Geheimnisse für den Pöbel sein sollten“ – wobei „Pöbel“ hier nicht die soziale Unterschicht meint, sondern metaphorisch die ausgeschlossenen Gebildeten.28 Fragt man nach den nicht- oder vorpolitischen Funktionen des Geheimnisses, so zeigt sich zunächst vor allem, dass man den Rückzug einzelner in den abgeschirmten Raum des Arkanums auf keinen Fall auf ein einziges oder ausschlaggebendes Motiv zurückführen kann. Für die Zeitgenossen jedenfalls verband sich mit der Vorstellung und dem Begriff „Geheimgesellschaft“ eine Vielzahl von Leistungen bzw. Funktionen, die jeweils aufeinander verweisen. Am offensten ist in den zeitgenössischen Aussagen der Geselligkeitszweck zu fassen. Der erhöhte Grad von Geselligkeit, der durch die Maurerei und ihre Derivate ermöglicht wird, erscheint an und für sich schon als Errungenschaft und als verdienstvoll. Die gesteigerte Empfindung von Geselligkeit wird als genussvoll und beglückend erlebt. Eine Gesellschaft, die ihren Mitgliedern auch nur für einige Minuten eine solche „wohltätige Erhöhung des Gefühls der Geselligkeit“ gewähre, müsse auf „unverdorbene Menschen“ unfehlbar anziehend wirken.29 Sie gewähre den „reinsten Genuß der 1); zu den religiösen Antriebskräften beim Wilhelmsbader Reformversuch: L. Hammermayer, der Wilhelmsbader Konvent (wie Anm. 18). 27 [L.A. Hoffmann], Kaiser Josephs Reformation der Freymaurer (wie Anm. 24), 14f. 28 Der Rosenkreuzer in seiner Blösse. Zum Nutzen der Staaten durch Zweifel wider die wahre Weisheit der sogennanten ächten Freymäurer oder goldnen Rosenkreutzer des alten Systems von Magister Pianco, vielen kreisen Bundesverwandten, 2. Aufl. Amsterdam 1782, 25. 29 Albrecht, Geheime Geschichte eines Rosenkreuzers (wie Anm. 12), 5 d; vgl. ähnlich Fr. Nicolai, Öffentliche Erklärung über seine geheime Verbindung mit dem Illuminatenorden. Nebst

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Menschheit“ – wobei ‚Menschheit‘ hier in erster Linie Menschlichkeit meint, die Konnotation, dass man es pars pro toto hier mit der ganzen Gattung zu tun habe, aber selbstverständlich mitläuft. Die Geheimgesellschaft bietet den Rahmen für zahlreichere und intensivere menschliche Kontakte als es in den festgelegten Geselligkeitsformen der societas civilis selbst möglich wäre. Die Mitgliedschaft in Geheimgesellschaften erscheint als ,,Wechselbrief der Geselligkeit“, der es ermöglicht, interessante Mensch kennen zu lernen und – etwa auf Reisen – jederzeit Anschluss zu finden.30 Die Geheimgesellschaft ermöglicht damit – nur scheinbar paradox – die Erweiterung und die Verdichtung von Kommunikation, die Vermehrung und Beschleunigung des Gedankenaustauschs. Das Motiv, jederzeit und an jedem Ort gesellschaftlichen Anschluss zu finden und interessante Persönlichkeiten kennen zu lernen, ist vor allem für diejenigen ausschlaggebend, die im Übrigen den Bestrebungen und Erscheinungsformen der Freimaurerei und der Geheimgesellschaften skeptisch begegneten. Goethe begründete seinen Eintritt in die Weimarer Loge „Amalia“ 1790 mit dem Argument, es habe ihm ,,nur an diesem Titel“ gefehlt, um ,,mit Personen, die ich schätzen lernte, in nähere Verbindung zu treten“; dieses „gesellige Gefühl“ sei es allein, was ihn um Aufnahme habe nachsuchen lassen.31 Der spätere Hamburger Oberaltensekretär Ferdinand Beneke notierte 1794 auf einer Reise in seinem Tagebuch, er fühle eine „Leere, zugleich mit der Fähigkeit, sie auszufüllen“ und erhoffte sich die Überwindung seiner Vereinzelung von der örtlichen Maurerei, wollte aber zugleich den Anschein vermeiden, er wünsche sich dadurch zielstrebig hochgestellte Persönlichkeiten zu Förderern bzw. „Connexionsgönnern“ zu machen.32 Die Geselligkeit beschränkte sich dabei nicht auf den rein intellektuellen Gedankenaustausch und die Wissenserweiterung, sondern strebte über die Vernunftgemeinschaft hinaus zur Gefühlsgemeinschaft. In einer hochgradig partikularisierten Gesellschaft, in der zudem Staat und Kirche den Anspruch geltend machen, im Rahmen ihrer Gemeinwohlvorstellung das intellektuelle Leben zensurieren und die Lebenskreise entlang ständischer Schichtungskriterien getrennt halten zu müssen, ist das Argument durchaus schlüssig, durch geheime Verbindungen werde das „Zutrauen unter den Menschen“ verstärkt. Die Geheimgesellschaft erscheint als diejenige Form der Geselligkeit, in der sich das Gefühl, die nicht nur verstandesmäßige, beyläufigen Digressionen betreffend Herrn Johann August Stark und Herrn Johann Caspar Lavater, Berlin, Stettin 1788, 17, wo es heißt: „alle Geselligkeit ist gut, und der Trieb dazu ist von Gott als eines der wichtigsten Werkzeuge menschlicher Glückseligkeit allen Menschen ins Herz gelegt“. 30 Etwas über geheime Verbindungen (wie Anm. 16), 278. 31 Zit. nach E. Lennhoff und O. Posener, Internationales Freimaurer-Lexikon, München u.a. 1932, 616; ähnlich bekennt Franz Wilhelm von Spiegel, die „Bekanntschaft einiger edelen Menschen“ habe ihn verleitet, „Freimaurer“ zu werden; es habe den Nutzen nicht, den man in der Jugend davon erwarte, er bereue es jedoch nicht, weil es ihm „mehr Menschenkenntnis gewährt“ habe: Spiegel, Chronik meines Lebens, abgedruckt in: M. Braubach, Die Lebenschronik des Freiherrn Franz Wilhelm von Spiegel zum Diesenberg, zugleich ein Beitrag zur Geschichte der Aufklärung, München 1952, 140–224, hier 171. 32 Tagebuch des Hamburger Oberaltensekretärs Ferdinand Beneke, im Auszug abgedruckt in: F. Valjavec, Die Entstehung der politischen Strömungen in Deutschland (wie Anm. 2), 446.

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sondern „herzliche“ Teilnahme aneinander äußern kann.33 Im abgeschirmten Bereich der Geheimgesellschaft können die Impulse der Innerlichkeit und unverstellter mitmenschlicher Empfindung zum Ausdruck kommen. Der selbst gewählte menschliche Kontakt vertieft sich über das gemeinsame Raisonnement hinaus zur gefühlsbestimmten Nähe. Der Aufschwung der Geheimgesellschaften beruht demnach wesentlich auch auf der zeitgenössischen Ausbildung von Empfindsamkeit und Gefühlskultur, auf der Vertiefung der Subjektivität des Einzelnen und auf den verstärkten Ansprüchen dieser Subjektivität. Das Geheimnis übernimmt die Funktion, diesen Impulsen und Ansprüchen aus der erweiterten und vertieften Innerlichkeit einen Ort zu schaffen, wo sie sich äußern können, zugleich aber gegenüber der bürgerlichen Gesellschaft die Diskretion gewahrt bleibt. Das Geheimnis erweist sich damit zwar einerseits als Mittel der Absonderung und Desintegration in der bürgerlichen Gesellschaft, zugleich aber auch und gerade deshalb als Mittel intensivierter Gemeinschaftsbildung zwischen den Mitgliedern. „Das Geheimnis erschweret wohl nicht ... den Zusammenhang der Glieder, sondern gibt der Gesellschaft noch mehr Bindendes und Angenehmes“.34 In der zentralen Rolle von Geselligkeit, Kommunikation, Freundschaft in den Geheimgesellschaften, insbesondere der Freimaurerei, schlägt sich das Bedürfnis nieder, jenseits der Beschränkungen von Stand, Religion und Nation von Mensch zu Mensch miteinander umzugehen – das ist der Gesichtspunkt, der von der Forschung bisher am intensivsten herausgearbeitet wurde. Lessing hat das Problem am allgemeinsten formuliert, auf einer Ebene der Abstraktion, welche die spezifischen Merkmale des Absolutismus und der ständischen Gesellschaft hinter sich lässt und insofern Gültigkeit auch unabhängig von der konkreten historischen Situation der Spätaufklärung beanspruchen kann. Da die bürgerliche Gesellschaft die Menschen in verschiedene Völker und Religionen teile und trenne und ihre Trennung auch in jedem dieser Teile „gleichsam bis ins Unendliche“ fortsetze, suche der Freimaurer in der Gesellschaft des Ordens sich über die „Vorurtheile der Völkerschaft“, die „Vorurtheile der angeborenen Religion“ und den Unterschied zwischen ,,reicheren und ärmeren Gliedern“ der societas civilis hinwegzusetzen.35 Es geht um die Überwindung jeder Form von Partikularität, von traditionalen und einschränkenden Bindungen, die den Umgang von Mensch zu Mensch hemmen und den Einzelnen in der Enge partikularer Interessen festhalten. In der Gebundenheit der ständischen Gesellschaft und der absolutistischen Herrschaftsform, wo Privilegienordnung, territoriale Zersplitterung und ausschließliche Konfessionalität die Lebenswelt des Einzelnen noch durchgehend beherrschen, stellt dieses Programm der Geheimgesellschaften ein wesentliches Element intellektueller und gesellschaftlicher Bewegung dar.36 Der „Orden, der seine Schüler lehrt, das Wohlwollen seines Herzens 33 Etwas über geheime Verbindungen, (wie Anm. 16) 280f. 34 Christian Garve, Über die Besorgnisse der Protestanten in Ansehung der Verbreitung des Katholizismus, in: Berlinische Monatsschrift, 6 (1785), 81; vgl. auch die allgemeiner, nicht speziell auf die Ansprüche des empfindsamer gewordenen Menschen bezogene Formulierung dieser Abgrenzungsbedürfnisse bei Schindler, Der Geheimbund der Illuminaten (wie Anm. 1), 292. 35 Lessing, Ernst und Falk (wie Anm. 3), 358, 360. 36 Den fortdauernden Widerspruch zwischen Programm der Freimaurerei und sozialer und poli-

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nicht auf die Grenzen seines Landes einzuschränken“, der den „Feind aller menschlichen Glückseligkeit (den Religionshaß) zu vertilgen sucht“, und der schließlich „den wahren Wert des Menschen nach seinem inneren Adel abmisst“ versteht sich als Träger eines umfassenden Kampfes gegen traditionale Vorurteile und Begrenzungen des Lebens und des Denkens. Insofern können die Geheimgesellschaften in der Tat als „institutionalisierter Ausdruck der Aufklärung“ begriffen werden.37 Der Drang zur Überwindung der ständischen, konfessionellen und territorialen bzw. nationalen Grenzen schließt implizit, und zum Teil auch explizit, die Kritik an den Trennungen der bürgerlichen Gesellschaft ein. Die universalistische Gesinnungsgemeinschaft zieht sich ins Geheime zurück, um so, vorübergehend herausgelöst aus der bürgerlichen Gesellschaft, jene Trennungen zwischen Nationen, Ständen und Religionen aufheben zu können, die durch den Charakter der Staatlichkeit und infolge der Pluralität von Staaten notwendig gegeben sind. Wenn Lessing darauf hinweist, die Menschen seien nur durch Trennung zu vereinigen, so formuliert er auch die Aporie der Geheimgesellschaften. Sie wollen Partikularität überwinden, indem sie eine neue Grenze ziehen: die zwischen der öffentlichen Existenz in der bürgerlichen Gesellschaft und dem abgeschirmten Raum des Arkanums. Diese Aporie wird von Lessing nicht aufgelöst, die Trennungen der bürgerlichen Gesellschaft selbst gelten ihm als notwendig; es scheint mir aber fraglich, ob Lessing hier den Gedanken einer herrschaftsfreien Gesellschaft als „Fluchtpunkt“ wirklich gedacht hat, auf den sich die „wahren Taten“ der Freimaurer beziehen.38 Ausdrücklich aber ergibt sich aus der Forderung nach Aufhebung von Partikularität das Postulat der Toleranz. Im Binnenraum der Geheimgesellschaften lässt sie sich praktizieren; allerdings schloss sie die Juden nur in einigen Fällen ein.39

tischer Realität betont L. Hammermayer, Zur Geschichte der europäischen Freimaurerei (wie Anm. 1), 28. 37 So Ludz, Überlegungen zu einer soziologischen Analyse geheimer Gesellschaften (wie Anm. 10), 105, das Zitat in der „Freimaurerzeitung“, Neuwied, 15. 1. 1787, abgedruckt bei J. Hansen (Hg.), Quellen zur Geschichte des Rheinlandes im Zeitalter der Französischen Revolution, Bd. I, Bonn 1931, 55f. Zum Verhältnis von Freimaurerei und Aufklärung grundlegend mit sorgfältiger Differenzierung von aufklärerischen und nicht-aufklärerischen Elementen: R. Vierhaus, Aufklärung und Freimauerei in Deutschland, in: R. v. Thadden u.a. (Hg.), Das Vergangene und die Geschichte, Festschrift für R. Wittram, Göttingen 1973, 23ff., hier besonders 24–31; etwas zu einlinig die These Epsteins, dass man die Freimaurerei als eine „organisierte Bewegung zur Förderung aufklärerischer Absichten“ bezeichnen können, Epstein, Die Ursprünge (wie Anm. 2), 105. 38 So Michelsen, Die „wahren Taten“ der Freimaurer (wie Anm. 17), 303. 39 Vgl. v.a. J. Katz, Der Orden der Asiatischen Brüder, in: H. Reinalter (Hg.), Freimaurer und Geheimbünde (wie Anm. 1), 240–282 passim. Das Toleranzprogramm sehr konkret im Zusammenhang mit der Überwindung von Partikularität formuliert: Etwas über geheime Verbindungen (wie Anm. 16), 277: „Durch die Verhältnisse der Maurerei, wurden Männer von allen ReligionsParteien, von allen Ständen, Adliche und Bürgerliche, CivilBediente, Hofleute und MilitärPersonen, die sich sonst nie, oder höchst selten, aus ihren Stand- und DienstCirceln herausgesetzt haben würden, oft und nahe zusammengebracht“, dadurch habe sich die „Einseitigkeit im Denken“, die „Intoleranz in speculativen Meinungen“ und die „Verachtung verschiedener Stände“ verloren und statt dessen „Toleranz“ und „Menschenschätzung“ verbreitet.

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Folgt man der Selbstdeutung der wichtigsten Repräsentanten der Freimaurerei, so stellt die durch das Geheimnis geschützte Organisation eine Gruppe von Menschen dar, die sich von den Fesseln unmittelbarer Interessen gelöst hatte und nichts anderes anstrebte als Wissen und Tugend. Dass hier notwendig ein Widerspruch zwischen Anspruch und Wirklichkeit auftreten musste, wurde wohl gesehen, er wurde aber dort, wo sich die Freimaurerei theoretisch artikulierte, im Sinne einer konkreten Utopie für überwindbar gehalten. Das Geheimnis sollte es möglich machen, die historisch verfestigte Realität der gesellschaftlich-kulturellen Existenz zu unterlaufen und dem „gewöhnlichen“ Lauf der Dinge den „natürlichen“ gegenüberzustellen, so dass wider alle bisherige Erfahrung eine „Gesellschaft absichtsloser reiner Tugendfreunde“ denkbar würde.40 Tatsächlich waren unter dem Siegel der Verschwiegenheit Kontakte und Verbindungen möglich, die herkömmlich als undenkbar galten oder sehr erschwert waren, wobei die Funktion der Freimaurergesellschaften als organisatorischer Träger der Aufklärung jeweils von örtlichen Bedingungen abhing und demgemäß durchaus unterschiedlich eingeschätzt werden muss. Für die Stadtrepublik Hamburg, wo sich die Aufklärung – im protestantischen Raum – aufgrund der Stadtverfassung, der wirtschaftlichen Struktur und der Stellung der Stadt als Handelsmetropole vergleichsweise frei entfalten konnte, ist ihre Bedeutung eher zu relativieren41, für Wien dagegen zu betonen.42 Wo im konkreten Logenleben Wirklichkeit und Anspruch aufeinander prallten, entstanden naturgemäß Mischformen der Realisierung der Idee: so etwa, wenn in einer Freimaurergesellschaft zwar die ständischen und die regionalen, aber nicht die konfessionellen Grenzen überwunden wurden.43 Der Anspruch, die staatlichen bzw. die nationalen Grenzen zu überspringen, hat das Organisationsgeflecht und die Kommunikationsströme innerhalb der Maurerei von Anfang an tatsächlich bestimmt, er wurde aber dann zunehmend, besonders seit Beginn der 80er Jahre, durch gegenläufige Strömungen konterkariert. Die führende Stellung von jüngeren Brüdern regierender Fürsten in den Logen brachte einzelne Systeme in eine zwar verdeckte, aber deutliche Abhängigkeit von staatspolitischen Interessen. Auf den Verhandlungen des Wilhelmsbader Konvents spielten die Verselbständigungstendenzen der italienischen Provinz innerhalb der 40 Von dem Einfluß der Maurerey auf die Bildung der Jugend, in: Journal für Freymaurer Jg. 2 (1785), 165, S. 163–174. 41 Kopitzsch, Grundzüge einer Sozialgeschichte der Aufklärung (wie Anm. 9), 313; ders., Die Aufklärung in Deutschland. Zu ihren Leistungen, Grenzen und Wirkungen, in: Archiv für Sozialgeschichte 23 (1983), 1–21, hier: 10. 42 Vgl. H. Reinalter, Die Freimaurerei zwischen Josephinismus und frühfranziszeischer Reaktion. Zur gesellschaftlichen Rolle und indirekt politischen Macht der Geheimbünde im 18. Jahrhundert, in: ders. (Hg.), Freimaurer und Geheimbünde (wie Anm. 1), 35–84; in Wien übernahmen gerade einige Exjesuiten ungeachtet der Einschätzung der Exjesuiten als der eigentlichen Drahtzieher der Gegenaufklärung im protestantischen Deutschland eine zentrale Rolle in der Freimaurerei, so etwa Born, Blumauer, Reinhold, Haschka; vgl. H. Haberzettl, Die Stellung der Exjesuiten in Politik und Kulturleben Österreichs zu Ende des 18. Jahrhunderts, Wien 1973, 48–56. 43 Vgl. Reif, Westfälischer Adel (wie Anm. 8), 406 für die 1778 unter der Protektion des Ministers Franz von Fürstenberg gegründete Münsteraner Loge „Friedrich zu den drei Balken“.

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Strikten Observanz eine erhebliche Rolle; ihnen wurde auch nachgegeben. 1784 lösten sich die österreichischen Freimaurer im Zusammenhang mit dem Bayerischen Erbfolgekrieg und der Auflösung des Illuminatenordens von der Großen Landesloge von Deutschland in Berlin und konstituierten eine eigene österreichische Nationalloge. In Wien prägte sich unter dem Einfluss Josephs II. die allgemeine Tendenz der Fürstenhäuser besonders stark aus, die geheimen Gesellschaften als Instrumente konspirativer Staatenpolitik zu benutzen. Für die Dynastien bot dieses Instrument den Vorteil, dass es über den traditionellen Bereich der Diplomatie und ihrer Methodik hinausgriff und geeignet schien, sich gleichsam der „Öffentlichkeit“ der geheimen Gesellschaften, d.h. der in den Gesellschaften versammelten Personen zu bemächtigen, die in Gesellschaft und Staat eine maßgebliche, aber nicht ausdrücklich politische Rolle im modernen Wortsinn spielten.44 Gemäß ihrem Postulat, Partikularität zu überwinden, entwickelte die Freimaurerei in ihren Gründungsmythen und in ihrem spezifischen Geschichtsbild eine Art Gegenhistorie – die Geschichte der Wissensbereitschaft und der Bemühung um das Eigentliche, neben der oder gegen die geläufige Geschichte der Herrschaft und Institutionen, die Territorial-, Nationen- und Dynastiegeschichte, die Geschichte der Stände, der Konfession und Kirchen. Es ist das Konzept einer Oppositionsgeschichte außerhalb der Standes-, Konfessions- und Landesgrenzen, gleichsam eine Geschichte der Ganzheitsbestrebungen, durch die Jahrhunderte hindurch getragen durch die unterstellte Kette der Geheimgesellschaften und der Mysterien. Entsprechend ihrem universellen Anspruch ist diese Historie universalgeschichtlich angelegt und beginnt in mythischer Zeit, bei den Mysterien der Ägypter, oder bei der Frühgeschichte des Judentums.45 Auch diese neuartigen und unkonventionellen Wissensinteressen lassen erkennen, wie sich das Individuum über die traditionalen Grenzen hinaus zu entfalten wünscht: es begründet diese Bedürfnisse mit der neuartigen Emphase, die auf Selbstbestimmtheit, vernunftgeleitetes Handeln, auf Innenleitung gelegt wird. Der gesteigerte Individualitätsanspruch geht aus von der Freisetzung von Neugier und Interesse, er artikuliert sich zuerst in der Entfesselung des Wissensdranges. Als wesentliches Motiv für die zunehmende Attraktivität der Orden erschien bereits im zeitgenössischen Raisonnement die Hoffnung auf die „glänzenden und wichtigen Entdeckungen“, die durch „größere oder kleinere Gesellschaften“ vermittelt werden sollten.46 Zu der Erweiterung des gelehrten, theoretischen oder auch naturphi44 Vgl. dazu die Verhandlungen auf dem Wilhelmsbader Konvent, höchst aufschlussreich dargestellt bei Hammermayer, Der Wilhelmsbader Freimaurer-Konvent (wie Anm. 18). 45 Vgl. z.B. Ignaz von Borns Abhandlung „Über die Mysterien der Aegyptier, in: Journal für Freimaurer Jg. 1 (1784), 15–132; in seiner Vorrede skizziert er das Forschungsprogramm: es gehe darum, den „Spuren der Entstehung des universellen ‚Bundes‘“ der moralisch Guten und intellektuell Aufgeschlossenen „und allen auch nur zufälligen Ähnlichkeit nachzuspüren, die er (dieser Bund, W. H.) mit den geheimen Gesellschaften aller Völker und Zeiten gemein hat ...“, Vorerinnerung (wie Anm. 12), 12. 46 Albrecht, Geheime Geschichte eines Rosenkreuzers (wie Anm. 12), 22; dem entspricht die häufige Doppelmitgliedschaft in gelehrten und geheimen Gesellschaften, vgl. dazu u.a. Hammermayer, Zur Geschichte der europäischen Freimaurerei (wie Anm. 1), 31. Zum Erkenntnisprogramm der Illuminaten vgl. u.a. das Statut (1781), van Dülmen, Illuminaten (wie Anm.

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losophischen oder -spekulativen Wissens, das je nach dem Typus der Geheimgesellschaft in das Gewand des Geheimnisses gehüllt wurde, kommt das Interesse an der Erweiterung der „Menschenkenntnis“. Die Geheimgesellschaften boten Gelegenheit zur Befriedigung eines gesteigerten Erfahrungs- und Erlebnishungers. Die geheime Gesellschaft erschien als der Ort, an dem „die wirkliche Welt von ganz neuen Seiten“ betrachtet werden konnte; sie bot ein Surrogat „menschlicher Leidenschaften, Neigungen, Entwürfe, Meinungen und Phantasien“ (Nicolai), die in der traditionsgeleiteten Moralität und Handlungsnorm der vormodernen Gesellschaft unterdrückt oder tabuisiert wurden. Nicolai beschreibt dabei auch den Sog, der von der Existenz von Geheimgesellschaften als solchen ausging und der, wiederum über die Neugier, den Zulauf zweifellos verstärkt hat. Wer an der intellektuellen und gesellschaftlichen Bewegung der 1770er bis 1790er Jahre teilnehmen wollte, konnte die Geheimgesellschaft nicht ignorieren. Die Inhalte, um die es in den Geheimgesellschaften ging, hätten – so Nicolai – viele tausende Menschen ernsthaft in Anspruch genommen; schon damit seien die Geheimgesellschaften ein prägender Faktor der zeitgenössischen Kultur. Nicolai gibt damit Aufschluss über den seriösen Hintergrund der Modebewegung, die die Ausbreitung und Ausdifferenzierung der Maurerei in verschiedene Richtungen zweifellos auch war.47 Das Geheimnis war die Voraussetzung für die Freisetzung der Phantasie und damit ein wesentliches Mittel zur Öffnung des Wissenshorizontes. Das Wissen emanzipiert sich – verdeckt – von der Herrschaft der Anstalten Staat und Kirche. Insofern stellt sich die Neigung zur Geheimgesellschaft insgesamt als Bewegung gegen die Lehrautorität der Kirchen dar. Direkt oder indirekt verlagern alle Typen von Geheimgesellschaften von der traditionellen Johannesmaurerei über die Hochgradsysteme bis zu den beiden kryptopolitischen Polen, den betont traditionsbezogenen Rosenkreuzern und den betont fortschrittsfreudigen Illuminaten, die Inhalte, den Umfang und die Intensität des Wissens weg von dem Zuständigkeitsbereich, den die Kirchen mit ihrer Lehrautorität in Anspruch genommen hatten. Die Geheimgesellschaften lassen sich damit als signifikante Übergangserscheinung von der alteuropäischen Gebundenheit und Statik zur modernen Selbständigkeit und Entgrenzung des Wissens verstehen – auch dann, wenn die Inhalte und Methoden des esoterischen Erkenntnisstrebens dem Rationalitätsideal der modernen Wissenschaft nicht entsprechen. Die Geheimgesellschaft entzieht die Denk- und Verhaltensmöglichkeiten des Menschen – im begrenzten Raum ihrer Aktivitäten – dem Regelungsmonopol der Anstalten. Der Tendenz nach streben die aufklärerisch-maurerischen Wissensinteressen schließlich nach der Phase der Abschottung und Geheimhaltung gegenüber den ,Profanen‘ und den herrschaftlichen Institutionen über die reine Esoterik hinaus. 1), 156: neben der „praktischen Philosophie beschäftigt sich der Orden mit der Natur und Naturkunde; mit Cameral- und Oekonomie-Wesen; mit den Freyen Künsten, schönen Wissenschaften und Sprachen“; vgl. auch ebda, 225f. 47 Nicolai, Öffentliche Erklärung (wie Anm. 29), 12, 18; vgl. dazu auch E. Manheim, Aufklärung und Öffentlichkeit im 18. Jahrhundert, hg. und eingel. von N. Schindler (Nachdruck der Ausgabe von 1933), Stuttgart, Bad Cannstadt 1979, 117, der das Geheimnis als „Köder für menschlichen Verstand, Herz und Einbildungskraft“ beschreibt.

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Sie verselbständigen sich und überspringen die Grenze zwischen dem Binnenraum der Geheimgesellschaft mit ihren „Wissenden“ und der Öffentlichkeit der aufklärerischen Gesellschaft als Ganzes. 1782 zum Beispiel schlug Ignaz von Born, der Meister vom Stuhl der Wiener Loge „Zur wahren Eintracht“, vor, die gebräuchlichen Instruktionslogen mit der bloßen Verlesung von Gesetzen, Gebräuchen und Zeremonien in Übungslogen umzuwandeln. Born zielte mit seinem Exposé auf die Weiterentwicklung der Wiener Logen zu einer Art Ersatzakademie. Die Stellungnahmen der Logenbrüder signalisieren deren Einverständnis. Im Bewusstsein der gelehrten Logenbrüder flachte sich der Unterschied zwischen maurerischer und profaner Wissenschaft ab. Am weitesten ging dabei Karl Haidinger, Mineraloge, Geologe und Adjunkt im kaiserlichen Naturalienkabinett: „Bearbeiten wir alle Künste und Wissenschaften ohne Unterschied, so wird der Nuzen, den wir schaffen, allgemein seyn, und mag die Welt uns dann gelehrte Gesellschaft, mag sie uns heißen, was sie will, wir sind uns unseres Zweckes bewußt. Wir verbreiten Licht …“.48 Wissenserweiterung bedeutete dabei für die Zeitgenossen nicht nur quantitative Vermehrung der Erkenntnisse, vielmehr wurde sie im aufklärerischen Bildungsverständnis zur Bedingung der Möglichkeit der Selbsterziehung zur Moralität. Wenn Goethe in seinem Logenlustspiel „Der Großcophta“ 1791 den hoffnungsvollen Adepten die Erwartung aussprechen lässt, „daß die Hindernisse, die dem sittlichen Menschen entgegenstehen, nicht unüberwindlich sei‘n, daß es möglich sei, sich nicht allein zu kennen, sondern sich auch zu bessern, daß es möglich sei, die Rechte der Menschen nicht nur einzusehen, sondern auch durchzusetzen“, so charakterisiert er die Programmatik der Geheimgesellschaften, welche Wissen und Tugend zu vermitteln, das eine aus dem andern herzuleiten versuchten.49 Die Rückwendung auf die eigene Individualität, die Erforschung der eigenen Wünsche, Bedürfnisse und Hoffnungen in den Logen ermöglicht – so das Programm – die Einübung in individuelle Selbstbestimmtheit auf dem Wege der Erkenntnis.50 Die Autonomie der sittlichen Persönlichkeit kann sich nicht in der Einsamkeit und Isolation des bloßen Bezuges auf sich selbst entwickeln; vielmehr entsteht sie in der selbst gewählten Gemeinschaft Gleichgesinnter. Die innere Hierarchie der Loge stützt den Lernwilligen auf seinem Weg. Dabei ist vorausgesetzt, dass diese Hierarchie 48 Zit. nach E. Rosenstrauch-Königsberg, Ausstrahlungen des Journals für Freymaurer, in: E.H. Balázs u.a. (Hg.), Beförderer der Aufklärung (wie Anm. 1), 103, 117, hier: 104. 49 Johann Wolfgang von Goethe, Werke (Weimarer Ausgabe), Bd. 17, 1894, 117ff., hier: III, 5; zu Goethes herber Kritik an den Geheimgesellschaften vgl. W. Martens, Geheimnis und Logenwesen als Elemente des Betrugs zu Goethes Lustspiel „Der Großcophta“, in: Ludz, Geheimgesellschaften (wie Anm. 1), 325ff. 50 Vgl. dazu die ähnliche These von E. Manheim, Aufklärung und Öffentliche Meinung (wie Anm. 47), 91: „Die Absonderung im esoterischen Zirkel ist die Stätte, wo die ursprüngliche Gediegenheit der menschlichen Anlagen zur sichtbaren Darstellung kommen muß. Hier sollen die naturvererbten und a priori zum Guten hin tendierenden Anlagen freigelegt werden.“ Deutlich ist jedenfalls der Rekurs auf die ursprüngliche, wenn auch bildungsbedürftige Menschlichkeit gegenüber der verformenden Macht herrschaftlicher Institutionen; darüber hinausgehend interpretiert N. Schindler das Geheimnis zu Recht als eine „sinnhafte Chiffre für die Freiheit der Selbstverwirklichung“, N. Schindler, Der Geheimbund der Illuminaten (wie Anm. 1), 289.

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selbst nicht traditional legitimiert ist, sondern ihrerseits auf dem jeweiligen Grade individueller Selbstvervollkommnung beruht. Das nach Selbstbestimmtheit strebende Individuum fügt sich in eine Ordnung ein, die ihm bei der Suche nach der eigenen Persönlichkeit behilflich ist. Wer dann über sich selbst zu bestimmen vermag, ist auch zur Leitung und Anleitung anderer berechtigt. Das Ziel jedes Einzelnen müsse sein, dass er sich selbst zu regieren weiß.51 In allen hier herangezogenen Äußerungen handelt es sich allerdings um das kritische Referat einer Programmatik, die ihren Anspruch in der Wirklichkeit nicht einzulösen vermag. Doch bleibt der „moralische Zweck“, die Tugenderziehung, unbestrittener Kern des Selbstverständnisses der Geheimgesellschaften und im Allgemeinen der einzige, der bis zu den ersten Anfängen des politischen Konservativismus in der Mitte der 80er Jahre von der kritisch raisonierenden Öffentlichkeit den Geheimgesellschaften als berechtigt zugestanden wurde.52 Die neutral referierenden und die ordenskritischen Schriften geben schließlich auch noch Auskunft darüber, dass bereits den Zeitgenossen ein gewisser Zusammenhang von Individualisierungstrend und Ritual deutlich war. Das „Geheime“ solcher „Verbindungen“ – so heißt es etwa – vermittle den „sehr anziehenden Reiz“, „etwas besonders unter sich“ zu haben, „woran nicht alle Menschen teil nehmen“. Die Geheimgesellschaft bietet die Möglichkeit, sich als Einzelner aus der Menge herauszuheben; wesentlich ist die Erkenntnis, dass der Einzelne in den Initiationsritualen der geheimen Verbindung die „Hauptperson“ ist.53 Der Ritus baut ein gesteigertes Ichgefühl auf und pflegt es, indem jeder Einzelne ausdrücklich ein Recht auf die betonte Aufmerksamkeit aller anderen erhält. Im geheimen Ritual verleihen sich die Logenbrüder gegenseitig Wichtigkeit und sprechen sich eine Bedeutung zu, die über die Alltäglichkeit hinausgeht. Gelegentlich wird der Zusammenhang von erhöhtem Ichgefühl und Feierlichkeit scharfsinnig analysiert. Anders als die offizielle Festlichkeit von Staat und Kirche, in der nicht das Individuum, sondern die Institution und die von ihr vertretenen Gehalte im Mittelpunkt stehen, vermittelt sie dem Einzelnen das Gefühl des „Wichtigen, Ernsten, Hohen und Erhabenen“54, an dem er partizipiert, das er freiwillig bejaht. Durch die Geheimgesellschaft in seiner Weltkenntnis bereichert und in seinem Selbstbewusstsein gestärkt, dem „kleineren Zirkel weiserer Männer“ zugehörig, kehrt der Einzelne in die Öffentlichkeit der bürgerlichen Gesellschaft zurück, nimmt seinen, ihm von der „Vorsehung angewiesenen Platz“ ein und tut, „individuell und in seinen öffentlichen Verhältnissen, soviel Gutes ... als er kann“.55 Die Vielzahl der Funktionen, die den Geheimgesellschaften von ihren Befürwortern zugesprochen werden, beruht letztlich immer auf der gemeinschaftsbilden51 Lessing, Ernst und Falk (wie Anm. 3). 52 Etwas über geheime Verbindungen (wie Anm. 16), 273. Vgl. die Programmatik des Illuminatenordens; seine „ganze Bemühung“ gehe bloß „dahin, den Menschen die Verbesserung ihres moralischen Charakters interessant und notwendig zu machen“, Ordens-Statut, van Dülmen, Illuminaten, 152; vgl. auch ebda, 225, 241. 53 Etwas über geheime Verbindungen (wie Anm. 16), 285. 54 Albrecht, Geheime Geschichte (wie Anm. 12), 94. 55 Knigge, Beyträge zur neuesten Geschichte (wie Anm. 11), 170.

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den und durch die Gemeinschaft bildenden Kraft des Geheimnisses. „Zurückhaltung, Mißtrauen und Entfernung“ sollen aufgehoben werden durch „esprit de corps und durch gemeinschaftliche Bewahrung des Geheimnisses“. Nur so lange die Gemeinschaft „in ihrer ganzen Reinigkeit“ bleibe, „nicht wirbt, nicht lockt, unbekannt bleibt, zuweilen unterdrückt, und dadurch eifriger“, kann sie die Fülle ihrer Zwecke verwirklichen: „moralische und intellectuelle Verbesserung und Aufklärung des Geistes, Hang zu Wohltätigkeit und Menschenliebe, zu Großmuth, zum Patriotismus, zu edler Aufopferung und zu Bezähmung unreiner Leidenschaften“.56 Die Esoterik ist Bedingung ihrer Wirkungsmöglichkeit. Indem die Geheimgesellschaft Tugend, Wissen, Patriotismus, Kosmopolitismus und Humanität für sich in Anspruch nimmt und in ihr Geheimnis hinein nimmt, spricht sie alle diese Tugenden der ‚profanen‘ Welt ab. Sie grenzt sich als die Gemeinschaft der virtuell Besten in der Gesellschaft aus und bleibt doch in der alltäglichen Rückkehr ihrer Mitglieder in die profane Welt dieser Gesellschaft verhaftet. So erscheint das Geheimnis zugleich als Rückzug aus der Welt und als Bedingung der Möglichkeit, in die profane Welt hineinzuwirken und sie schließlich im Sinne des eigenen Ideals umzugestalten. Es nimmt daher nicht Wunder, wenn die Geheimgesellschaften sich in einem dynamischen Geschichtsbild verorten. Für Joseph von Sonnenfels war die Maurerei nicht per se zur Verborgenheit und zum Geheimnis bestimmt; nachdem aber Gewalt, Bosheit und Arglist in der Welt Überhand genommen hätten, sei „Offenherzigkeit ein Fehler, Verschwiegenheit eine Tugend und Vereinbarung gegen die Mehrheit eine Notwendigkeit“ geworden.57 Die Minderheit der Tugendhaften und Verschwiegenen kündigt an, in die profane Welt zurückkehren und deren ethische Wirklichkeit prägen zu wollen. Die Gegenwart wird interpretiert als Übergangsstadium zur endlichen Rückkehr in eine in der Zukunft zu verändernde Öffentlichkeit. Insofern setzt das Geheimnis den Glauben an eine fundamentale Veränderbarkeit der Welt voraus. Nicolai wunderte sich ausdrücklich darüber, wie viele „gutmütige Leute“ daran glaubten, dass eine geheime Gesellschaft „im Allgemeinen freie Untersuchung der Wahrheit, Entwicklung der Geisteskräfte, Moralität, vernünftige Religion und die Folge aus diesen, die allgemeine Glückseligkeit des menschlichen Geschlechts“ fördern könne.58 Es bestätigt nur diese grundlegende Struktur der Erwartung im Bewusstsein der „Geheimen“, wenn im Zeichen zunehmender Kritik an der Praxis der Orden Geheimgesellschaften in die gedankliche Verbindung mit dem Begriff der Utopie gebracht wurden: eine Sozietät, die mehr zu tun gedenke, als sich der Tugendpflege zu widmen, die sich mit einer „gänzlichen Verbesserung des Menschengeschlechts abgeben“ wolle, träume von „Platonischen Republiken, von Utopien“; damit mache sie sich lächerlich.59 Im Zeichen der allgemein einsetzenden Kritik an den Geheimgesellschaften gaben sich auch die Mitglieder und Anhänger der Gesellschaften skeptisch. Sie blieben jedoch dem Grundmuster des Glaubens an die Veränderbarkeit der Zustände im Sinne eines universalen Fortschritts verhaftet. Die gesteigerte innerwelt56 57 58 59

Ebda, 164f. Zit. nach Leopold Alois Hoffmann, Die zwo Schwestern (wie Anm. 19), 54. Nicolai, Öffentliche Erklärung (wie Anm. 47), 91. Etwas über geheime Verbindungen (wie Anm. 16), 282.

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liche Glückserwartung ist allen Geheimgesellschaften gemeinsam, selbst den konservativ-religiösen Rosenkreuzern.60 Am deutlichsten hat diesen Eudaimonismus der Illuminatenorden ausformuliert; die entsprechenden Aussagen Weishaupts in den Illuminatenstatuten bringen aber durchaus das Selbstverständnis auch der Maurerei zum Ausdruck: alles, was die Ordensmitglieder für den Orden zu tun scheinen, diene „im Grunde zur Beförderung ihres eigenen Wohls“, so dass alle Mitglieder „mit vereinten Kräften zu ihrer wechselseitigen Glückseligkeit arbeiten“61. Der Freiherr von Knigge lehnte zwar in der Ernüchterung über die Ergebnisse der Geheimbündelei nach dem Verbot des Illuminatenordens alle „Welt-Reformationssysteme“ ab und bezeichnete sie als „eitel Torheit und Hirngespinste“62; er gab aber so wenig wie irgend ein anderer Illuminat oder überzeugter Freimaurer die prinzipielle Fortschrittshoffnung auf. Es war schließlich dieses utopistische Element der Geheimverbindungen – das freilich nur im Falle der Illuminaten zu konkreter konspirativ-politischer Fortschrittsplanung geführt hatte – was die Geheimgesellschaften in den Augen der Regierungen in Misskredit brachte und mit dem Erstarken der Gegenaufklärung seit der Mitte der 1780er Jahre zum Verbot bzw. zur weitgehenden Restriktion des ganzen latent politisch gewordenen „geheimen“ Sozietätswesens führte.

60 Zu den Rosenkreuzern vgl. Starke, Erweise aus den eigenen Schriften. Des Hochheiligen Ordens Gold- und Rosenkreutzer ... Rom 5555 (Die Schrift besteht aus dem 1777 erlassenen Instruktionsbuch des Ordens, anonym vermutlich von J.J. Bode herausgegeben). 61 In: van Dülmen, der Geheimbund der Illuminaten (wie Anm. 1), 153. 62 Knigge, Beitrag zur neuesten Geschichte (wie Anm. 11), 23ff.

5. DIE LEBENSBILANZ EINES VERHINDERTEN UMSTÜRZLERS. ADOLPH FREIHERR VON KNIGGES WERK „ÜBER DEN UMGANG MIT MENSCHEN“ Generationen von Deutschen lernten Anstand und Benimm aus Büchern unter dem Sammelnamen „Knigge“. Noch 1970 wurde ein Leitfaden „Umgangsformen heute“ als „Knigge des Atomzeitalters“ angepriesen. Die Person allerdings, die sich hinter dem Namen Knigge verbirgt, ist im Laufe einer zweihundertjährigen Wirkungsgeschichte nahezu unsichtbar geworden. Wer kennt das Buch wirklich, das als UrKnigge all den Vorschriftsbüchern für Kaufleute und Diplomaten, für Autofahrer und Sportler, für Braut- und Eheleute zugrunde liegt? Mancher würde sich wundern, welchem Geist er sich damit anvertraut hat. Denn „Über den Umgang mit Menschen“, Adolph Freiherrn von Knigges Buch, 1788 herausgekommen und 1796 bereits in 5. Auflage erschienen, ist eines der Hauptwerke der radikal und politisch gewordenen deutschen Spätaufklärung, es ist das Werk eines verhinderten Umstürzlers. Die Umdeutung und Trivialisierung zum bloßen Benimmbuch, die bereits 1801 einsetzt, sagt denn auch einiges aus über die Geschicke der Aufklärung in Deutschland. […] Den Ruf eines Revolutionärs hatte sich Knigge vor allem durch seinen Beitritt zum Illuminatenorden eingehandelt, einer „Geheimgesellschaft“ der Aufklärungsära in Deutschland. Wer damals außerhalb der konventionellen Bahnen über Gott und die Welt nachdenken, sich mit Gleichgesinnten oder Gleich-Interessierten treffen wollte, um Gesellschaft und Staat zu kritisieren, musste sich in kleinen elitären Zirkeln zusammenschließen. Die Mitglieder der „Geheimgesellschaften“, Freimaurer, Rosenkreuzer und Illuminaten, waren zum guten Teil jene Beamte, Offiziere und Gelehrte, die den absolutistischen Staat vertraten. Der Freimaurer Friedrich der Große ist das prominenteste Beispiel. Der Illuminatenorden allerdings, 1776 in Ingolstadt von dem Juraprofessor Adam Weishaupt gegründet, durchbrach die Selbstbeschränkung dieser Zirkel auf das bloße Raisonnement. Zwar blieben auch hier die politischen Ziele vage. Denn es sollte eine bloße Revolution des Geistes sein, die nach Weishaupts und Knigges Planung schließlich die „Erlösung des Menschen-Geschlechtes“ vom Sündenfall der Unterwerfung unter eine absolutistische Herrschaft ermöglichen sollte. Weishaupt und Knigge glaubten, dass Einsicht und Moral allein eine solche Veränderung herbeiführen könnten. Immerhin aber trägt das Programm, mit Privatheit und ihrem Tugendkanon den aktuellen Herrschaftsbetrieb zu überwinden, tatsächlich revolutionäre Züge. Die Strategie des Ordens, Herrschaft ganz abzu-

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schaffen, indem Illuminaten in aller Stille die entscheidenden Positionen in Staat und Gesellschaft übernahmen, musste bei den Regierungen elementare Unterwanderungsängste auslösen. Als die bayerischen Behörden daher 1784/85 interne Unterlagen des Illuminatenordens entdeckten, sah sich die gesamte politisch gewordene Aufklärung denunziert. Der Ausbruch der großen Revolution in Frankreich 1789 gab den Verschwörungsvermutungen verständlicherweise weiteren Auftrieb. Sie knüpften sich in Deutschland grundsätzlich an die Illuminaten. Knigge hatte sich schon vor Entdeckung des Ordens ernüchtert von der Geheimbündelei zurückgezogen. Aber er gab seine prinzipielle Fortschrittshoffnung keineswegs auf. Er reduzierte die Utopie und konkretisierte sie, indem er ein Regelbuch schrieb, das den illuminatischen Zielen verpflichtet blieb. Es sollte dem aufgeklärten, dem klugen und moralischen Menschen helfen, sich in der Gesellschaft durchzusetzen. L.A. Hoffmanns Vermutung, dass sich hier ein Revolutionär geschickt getarnt habe, traf also in keiner Weise zu. Doch Knigge trägt neben den unübersehbaren exzentrischen durchaus auch typische Züge der deutschen Bildungsschicht in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts. Dazu gehört etwa das Studium an der Reformuniversität Göttingen, wo die Tradition adliger studentischer Lebensführung sich mit bürgerlichem Ehrgeiz und Leistungsbewusstsein verband; dazu gehört die hohe Mobilität der Intelligenz, die ein weites Feld sozialer Erfahrung erschloss; dazu gehört auch eine soziale Zwischenstellung, die auf neue Freiräume innerhalb der gesellschaftlichen Ordnung hinweist. Knigge wechselte zwischen den Rollen des Hofmannes, des Landedelmannes, der seine Güter – in diesem Fall das kleine Besitztum seiner Frau – verwaltet, und schließlich der Rolle eines politischen Schriftstellers. Er verkörpert zumindest zeitweise den neuen sozialen Typus des freien Schriftstellers, der vom literarischen Markt zu leben sucht und auf den Ertrag seiner Theaterstücke, Romane und kritischen Schriften angewiesen ist. Er selbst führt die Erfahrungen seines ereignisreichen und unsteten Lebens als Beglaubigung für den Wahrheitsanspruch seiner Thesen über den Umgang mit Menschen an. [...] Die durchgehende Spannung, die Knigge zwischen dem puren, gleichsam vorgesellschaftlichen und dem konkreten, an Profession, Amt und Stand gebundenen Menschen aufbaut, verweist auf die eigentliche Triebkraft hinter seinen Reflexionen: Er litt darunter, dass menschlicher und sozialer Rang auseinanderklaffen, dass der Bessere oft dem Schlechteren gehorchen muss, dass „Rang und Glanz“ häufig den eigentlichen Wert des Menschen verdunkeln. Damit erweist sich Knigge als Aufklärer par excellence. Allerdings hatten Herrscherkritik und Moralphilosophie immer schon die Differenz zwischen Leistung und Rang von Amtsträgern beklagt. Aber Knigge gibt sich mit der ererbten, christlich fundierten Einstellung, dass man sich mit der Unvollkommenheit der äußeren Welt abzufinden habe, nicht mehr zufrieden. Er glaubt an die Möglichkeit, dass die Weisesten und Klügsten mit Hilfe einer Pragmatik des gesellschaftlichen Umgangs auch zu der bürgerlichen Stellung und „äußeren Achtung“ kommen können, die ihnen eigentlich zusteht. Daher präsentiert er die Topoi aufklärerischer Staats- und Gesellschaftskritik und lässt dabei

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den Aufriss einer auf Leistung, Verdienst und Utilität gestellten Gesellschafts- und Staatsverfassung durchscheinen. So schließt sich Knigge der langen Reihe von Adelskritikern an, die seit dem Beginn des 18. Jahrhunderts zunehmend den Vorrang des Adels in Frage stellten, sowohl vom Ökonomischen wie von der Idee der Menschenwürde und Menschengleichheit her. Dagegen wertet er die Arbeit des Handwerkers und Kaufmanns auf: Sie schafft gegenüber dem unproduktiven Müßiggang von Adel und Hofwelt den wirtschaftlichen Wohlstand und bildet die Grundlage aller Kultur. Energisch wird Knigge, wenn es um einzelne Gruppen aus der Unterschicht geht. Knecht und Magd verwahrlosen – so Knigge im Widerspruch zu den beliebten Klagen über das Gesinde – nur dort, wo die Herrschaft ihren patriarchalischen Fürsorge- und Aufsichtspflichten nicht mehr nachkommt. Vor allem löst sich der Begriff des „Pöbels“ von der Zuordnung zur sozialen Unterschicht. Pöbel gibt es für Knigge in allen Schichten, den „lesenden Pöbel“ bei den Professoren und im literarischen Publikum den „vornehmen und reichen Pöbel“ bei Hofleuten und Fabrikanten, schließlich spricht Knigge sogar von fürstlichem Pöbel. Die Maßstäbe dieser Pöbelhaftigkeit liegen in der für alle Menschen gültigen Moralität. Intensiv beschäftigt sich Knigge mit der ungesicherten Stellung der jungen Intelligenz in der oft lang dauernden Übergangsphase zwischen Studienabschluss und Beamtung. Es könne ihm durch die Seele gehen, so Knigge, wenn er den Hauslehrer in manchen adligen Häusern demütig und stumm an der Tafel der gnädigen Herrschaft sitzen sehe, wo alle, auch Kinder und Bediente, auf ihn herabblickten, der doch eigentlich als „der wichtigste Wohltäter der ganzen Familie angesehen werden sollte“. Diese Erfahrung hat ein Großteil der deutschen Intelligenz machen müssen, von Basedow bis Winckelmann, auch Herder, Kant, Fichte, Hegel, Jean Paul oder Hölderlin ist sie nicht erspart geblieben. Sie hinterließ oft tiefe seelische Verletzungen. Innerlich und äußerlich labil, mit einem Lebensstil konfrontiert, der ihnen fremd war, häufig wie Domestiken behandelt, neigten die Hofmeister und Informatoren zur Stützung ihrer Selbstachtung dazu, den Wert und die gesellschaftliche Bedeutung der Bildung um so schärfer zu akzentuieren. Nach Jahren solcher ungesicherter Zwischenexistenz in der sich öffnenden ständischen Gesellschaft mussten sie es als unerhörte Befreiung empfinden, wenn sich ihnen schließlich eine staatliche Stelle mit der Aussicht eröffnete, auf dem Gebiet ihres eigentlichen Interesses in sozial angesehener Position tätig zu sein. Versöhnen – das bedeutet für Knigge freilich nicht, dass er Vorrechte der Geburt in Gesellschaft und Staat akzeptiert hätte. Mit seiner zur Herrschaftskritik gesteigerten Hofkritik reiht er sich in eine Folge von illustren Autoren ein, die den Topos „bei Hof – bei Höll“ seit dem späten Mittelalter beschrieben haben, von Enea Silvio Piccolomini über Sebastian Brant, Erasmus von Rotterdam, Thomas Morus, den Florilegien und Sprichwörtersammlungen des 16. und 17. Jahrhunderts bis zu Gotthold Ephraim Lessing und Friedrich Schiller. Dabei ergänzt er das geläufige moralistische Motiv der Schmeichlerschelte durch die für das spätere 18. Jahrhundert charakteristische Zivilisationskritik. Ähnlich wie Schiller im Wilhelm Tell gibt er ihr die Form des Hof-Land-Gegensatzes. Das Land mit seinen biederen

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Beamten und Provinz-Edelleuten kontrastiert als Ort von „Freiheit, Fröhlichkeit und Offenheit“ zu Zwang, Misstrauen und Präsentation des Hoflebens. Zu Knigges politischem Radikalismus stehen sein ausgeprägter Paternalismus und die gemäßigten gesellschaftspolitischen Überzeugungen in beträchtlichem Gegensatz. Das Familienmodell des Umgangsbuches baut noch auf der alteuropäischen Haus- und Lebensgemeinschaft des „ganzen Hauses“ auf. Seine Vorschläge, wie Eheleute, Eltern und Kinder und wie die Herrschaft mit dem Gesinde umgehen sollen, stellen Besitz, Versorgung, das Miteinander-Auskommen in den Vordergrund, die Familie bleibt im herkömmlichen Sinne Lebens- und Produktionsgemeinschaft, und als solche ist sie auch das Modell der politischen Gemeinde. Aber der Wandel zur modernen, „privaten“ Familie kündigt sich doch an. Knigge spricht von subjektiver Zuneigung, ja Leidenschaft als Grundlage der Ehe. Allerdings ordnet er Grad der Intimität und Familiarität schichtenspezifisch zu. Die Fähigkeit zur „häuslichen Glückseligkeit“ findet er nur bei Personen „mittleren Standes“. Die sehr Vornehmen hingegen fühlten keine „Seelen-Bedürfnisse“, sie lebten auf fremdem Fuß miteinander und bedürften keiner anderen Regeln als solcher, die eine feine Erziehung vorschreibe. Die Ironie gegen die feine Erziehung unterstellt dabei, dass die zu mehr Innerlichkeit tendierende bürgerliche Familienmoral letztlich doch vorbildlich sei für die ganze Gesellschaft. Zum Maßstab für die durchaus hierarchische soziale Ordnung, die Knigge sich vorstellt, werden Gefühlsechtheit und Gefühlsgröße der Individuen, ihr authentischer Charakter. Diese Selbstbestimmtheit, die Fähigkeit, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen – und sie auch nach außen erkennen zu lassen – schien Knigge allerdings ebenso erstrebenswert wie schwer erreichbar. Denn der Satz, dass jeder Mensch in der Welt nur so viel gilt, wie er aus sich selbst macht, erlegt dem einzelnen eine schwere Last auf: Jeder hat seinen legitimen Platz in der Gesellschaft selbst zu suchen und zu finden. Knigges Ratschläge wollen eine Orientierungshilfe geben im neuzeitlichen Prozess der Individualisierung. Insofern sind sie gerade das nicht, wofür man sie lange gehalten und wozu man sie eifrig entstellt hat: ein Leitfaden zur Konvention. Jeder einzelne soll vielmehr lernen, sein Verhalten individuell nach Situation, Charakter und Gewissen einzurichten. Dass eine solche persönliche Autonomie neue Probleme aufwirft, hat Knigge deutlich gesehen. Die soziale Schmerzempfindlichkeit steigt in dem Maße, wie der einzelne mit einem unverwechselbaren Persönlichkeitsprofil nach außen sichtbar werden will. Die Balance von Verbergen und Offenbaren des Persönlichen muss immer wieder neu austariert werden. Das Leben in der erstrebten mobilen und offenen Gesellschaft – die in ihren Grundzügen immer noch unsere Gesellschaft ist – wird komplizierter und anstrengender und verlangt einen hohen Grad an Bewusstheit. So formuliert Knigge schließlich sehr modern das Verlangen, „ohne Angst in dem Umgang mit Menschen“ auskommen zu können. Die Emanzipation des Individuellen bedingt aber auch eine neue Gewichtung gesellschaftlicher Mechanismen, gerade weil sich die statische Einheit „Gesellschaft“ in ein System vielfältigster Kommunikation auflöst. Die Lehrsysteme der alten Welt hatten das Nachdenken über Gesellschaft, über die Beziehungen der Menschen zueinander und über die Institutionen weitgehend in der Philosophie un-

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tergebracht, speziell der politischen Philosophie, der Staats- und Rechtslehre, der Ethik. Knigge steht für einen frühen Versuch, außerhalb dieser disziplinären Schranken die Bau- und Bewegungsgesetze der Gesellschaft bei sich selbst zu analysieren. Dabei werden soziale Institutionen und Gewohnheiten energisch historisiert und säkularisiert. Man habe, so Knigge, zu lange bloße Übereinkünfte mit ewigen Wahrheiten verwechselt. Damit entsteht Raum für einige bemerkenswerte gesellschaftstheoretische Einsichten: so etwa, wenn er im Jargon der Hofleute die gruppenbildende Funktion von Spezialsprachen darstellt; oder wenn er geradezu behavioristisch die Funktionsweise moralischer Normsysteme erläutert: Bei den Schauspielern zum Beispiel falle ein Motiv für gutes Benehmen weg, die Rücksicht auf den guten Ruf. Im Meinungsspektrum der deutschen Intelligenz in der Ära der Französischen Revolution nimmt Knigge eine eigenständige Position ein, ohne doch den Rang großer Theorie zu erreichen. Sein Buch leidet mitunter an Detailversessenheit, gleitet manchmal ins Banale ab, nichts sagende Formulierungen unterlaufen dem Vielschreiber Knigge auch in seinem Meisterwerk. Die politische Philosophie dieser Jahrzehnte diente immer auch als Ersatz für die praktische Teilnahme an Politik und Wirtschaft, für ein öffentliches Leben oder eine Revolution. Die fundamentale Theorie faszinierte nicht zuletzt deshalb, weil sie immer auch Kompensation war. Knigges Vorschläge dagegen weisen einen ganz anderen Weg. Er will mit seinen praktischen und unkomplizierten Ratschlägen gerade auch der aufstrebenden bürgerlichen Bildungsschicht aus der realen Ohnmacht heraushelfen. Er leitet dazu an, sich im öffentlichen Leben, auch bei Hofe, in der Welt der Politik zurechtzufinden, die Regeln im Umgang mit Machtträgern zu begreifen und sich ihrer auch zu bedienen. Gerade diese Position hat ihn aber um die erhoffte politische Wirkung gebracht. Denn seine letztlich auf Mündigkeit und politische Mitwirkung zielenden Ratschläge ließen sich durch seine revolutionären politischen Überzeugungen denunzieren. Die überscharfe Hofkritik musste angesichts der Reformen, denen sich der absolutistische Staat mit Hilfe seiner beamteten bürgerlichen Intelligenz unterzog, ohne Resonanz bleiben. Schließlich trug der Aufklärer Knigge zu seiner verkorksten Wirkungsgeschichte selbst auch noch bei. Sein Glaube, dass sich alle menschlichen Beziehungen letzten Endes bei aller Bedeutung von Gefühl und Leidenschaft vernünftig steuern ließen, setzten seinen „Umgang mit Menschen“ der Gefahr aus, als Steinbruch für platte Anstandsregeln missbraucht zu werden. Dass aber Kommunikationsfähigkeit des Einzelnen und politisch-soziale Ordnung voneinander abhängen und sich gegenseitig bedingen – diese originelle Erkenntnis Knigges ist der Erinnerung wert.

6. STUDENTISCHER PROTEST, ZIVILER UNGEHORSAM UND ‚BEWEGUNGSPARTEI‘ IN DEUTSCHLAND 1815–1833 I Fasst man die Entwicklung der burschenschaftlichen Bewegung in der eigentlichen Restaurationszeit 1815 bis 1830 und in den Jahren nach der Pariser Julirevolution bis zum Kulminationspunkt der studentischen Unruhe, dem Frankfurter Wachensturm im April 1833, zusammen, so ist zunächst zu beachten, dass sich die Bedingungen des politischen Handelns in den Jahren 1815 bis 1819, 1819/20 bis 1827 und 1827 bis 1833 ganz erheblich unterscheiden. In einer Hinsicht ist die Konstellation allerdings ähnlich: 1814/15 und 1827 bis 1831/32 sind Jahre einer gewissen Liberalisierung und erweiterter Handlungsmöglichkeiten, in denen sich der Erwartungshorizont für verfassungs- und national-politische Reformen ausdehnte.1 Danach folgt jeweils eine Phase enttäuschter Erwartungen und verschärfter Repressionen, mit den Wiener Kongressbeschlüssen 1815, in Preußen mit dem Tugendbundstreit an der Jahreswende 1815/16, mit den Verboten der Burschenschaften im Anschluss an die Wartburgfeier 1817, Maßnahmen, die sich unmittelbar vergleichen lassen mit der verschärften Restauration im Anschluss an die allgemeine politisch-soziale Bewegung 1830/31, den Bundesbeschlüssen vom 5. 7. 1832 und zahlreichen einzelstaatlichen Verordnungen bereits im Lauf des Jahres 1831. 1

Zur Geschichte der Burschenschaften 1815–33 vgl. v.a. F.G. Eyck, The Political Theories and Activities of the German Academic Youth between 1815 and 1819, in: Journal of Modern History 27 (1955), S. 27 ff.; Karl Georg Faber, Student und Politik in der ersten deutschen Burschenschaft, in: GWU 21 (1970), S. 68 ff.; Ray Lutz, The German Revolutionary Student Movement, 1819–1833, in: Central European History, Vol. IV (1971), S. 215 ff.; Konrad H. Jarausch, The Sources of German Student Unrest, in: L. Stone (Hg.), The University in Society, Vol. 11, Princeton u.a. 1975, S. 533 ff.; Wolfgang Hardtwig, Vormärz. Der monarchische Staat und das Bürgertum, München 1985, S. 3 ff.; ders., Die Burschenschaften zwischen aufklärerischer Sozietätsbewegung und Nationalismus. Bemerkungen zu einem Forschungsproblem, in: Aufklärung – Vormärz – Revolution 4 (1984), S. 46 ff.; ders., Krise der Universität, studentische Reformbewegung (1750–1819) und die Sozialisation der jugendlichen deutschen Bildungsschicht, Aufriß eines Forschungsproblems, in: Geschichte und Gesellschaft 11 (1985), S. 155 ff. Grundlegend nach wie vor Paul Wentzke, Geschichte der deutschen Burschenschaft, Bd. 1, Vor- und Frühzeit bis zu den Karlsbader Beschlüssen, 2. Aufl. Heidelberg 1965 (= Quellen und Darstellungen zur Geschichte der Burschenschaft und der deutschen Einheitsbewegung, Bd. VI, im Folgenden abgekürzt: Quellen und Darstellungen); Georg Heer, Geschichte der deutschen Burschenschaft, Bd. 2, Die Demagogenzeit (1820–1833), 2. Aufl. Heidelberg 1965 (= Quellen und Darstellungen 10; die Darstellung ist als Materialsammlung unentbehrlich, in den unkritisch kleindeutsch-nationalen Urteilen und in der Sichtweise allerdings überholt; im Folgenden abgek.: Heer); Wolfgang Hardtwig, Studentische Mentalität – Politische Jugendbewegung – Nationalismus. Die Anfänge der deutschen Burschenschaft, zuletzt in: ders., Nationalismus und Bürgerkultur 1500–1914, Göttingen 1994, S. 108–148.

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Der entscheidende Unterschied dagegen liegt in dem ungleich höheren Grad der allgemeinen Unzufriedenheit, sowohl der sozialökonomisch bedingten Unruhe der bäuerlich-kleinbürgerlichen Unterschicht wie der bürgerlich-liberalen Auflehnung gegen die Beschränkung der politischen Äußerungs- und Organisationsfreiheit seit dem Sommer 1830. Die Politisierung nahm ein ungleich größeres Ausmaß an als in den Anfängen der liberal-demokratischen Bewegung bis Karlsbad. Die allgemeine Unzufriedenheit artikulierte sich in Publizistik und oppositionellen Organisationsansätzen nach der Julirevolution ungleich konkreter. Im Hinblick auf die Burschenschaften analysierte der radikale Aktivist, spätere Liberale und Verfasser der „Grundsätze der Realpolitik“ (1853), Ludwig von Rochau, im April 1831 zutreffend, die Gewaltsamkeit burschenschaftlicher Aktivitäten 1818/19, also vor allem der Kotzebue-Mord, sei aus der „trostlosen politischen Lage“ entstanden; jetzt dagegen befinde sich die Burschenschaft im Einklang mit einer breiten Volksbewegung; der „durch die Zeitverhältnisse gegebene Zweck der Burschenschaft“ sei daher die „Bürgertugend“.2 Diese Formulierung drückt keineswegs, wie es heute scheinen könnte, eine Selbstverständlichkeit aus. Sie verweist vielmehr auf die Probleme, die sich der politischen Jugendbewegung schon in ihrer Gründungsphase 1814 bis 1818 stellten und die sich bis 1833 nur noch verschärften. Zum einen sah sich die politisch bewegte Minderheit der Studentenschaft – die nie mehr als 1/5 aller Studierenden ausmachte – mit der Beharrungskraft der traditionellen studentischen Sitte und der Einschätzung dieser Lebensphase als „Moratorium“ vor dem Eintritt in das bürgerliche Erwachsenen- und Berufsleben konfrontiert. Die überwiegende Mehrheit der Studentenschaft insgesamt, nach 1820 auch die Mehrheit innerhalb der Burschenschaften, hielt am Primat eines eigenständigen und gegen die Disziplin- und Moralitätsanforderungen der bürgerlichen Gesellschaft gewendeten, spezifisch jugendlichen Lebensstils fest. Zwar hatte sich die strikte Grenzziehung zwischen dieser „studentischen“ und betont vor- oder außerbürgerlichen Sitte im Zuge der innerstudentischen Reform- und Selbstdisziplinierungsbewegung seit circa 1750 erheblich abgeschwächt,3 zu einer bewussten und konsequenten Politisierung des studentischen Daseins war aber im ganzen Zeitraum zwischen 1814 und 1833 nur eine ganz kleine Elite innerhalb der Studentenschaft bereit. Zum anderen entwickelte auch diese kleine Elite nur langsam ein wirkliches politisches Programm. Und drittens entstanden bereits seit 1815 erhebliche Meinungsunterschiede über das wünschenswerte Ausmaß des politischen Engagements und konkreter politischer Aktionen. Den größten Teil der frühen programmatischen Texte, der Verfassungsurkunde der Jenaer Urburschenschaft vom 12. Juni 1815 und des Gießener Ehrenspiegels von 1816 nahmen noch die konventionellen Bestimmungen des studentischen 2 3

Zit. nach Heer, S. 226 f., Anm.; vgl. die biographische Skizze: Otto Oppermann, August Ludwig von Rochau, in: Quellen und Darstellungen, Bd. VIII, S. 150 ff. Vgl. dazu Wolfgang Hardtwig, Studentenschaft und Aufklärung. Landsmannschaften und Studentenorden in Deutschland im 18. Jahrhundert, in: E. François (Hg.), Vereinswesen und bürgerliche Gesellschaft in Deutschland, Frankreich und der Schweiz 1750–1850, Paris 1986, 239–261.

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Komments in Anspruch.4 Die Einleitungen allerdings überformen diese konventionellen Regelkodizes mit dem neuen Orientierungsbegriff der „nationalen Bildung“ und mit einer nationalpolitischen Umdeutung der herkömmlichen Begriffe von studentischer „Ehre“, „Freiheit“ und „Gleichheit“.5 Im Umkreis der mittelrheinischen nationalpolitischen Vereinsbildung der „Deutschen Gesellschaften“ nahm der bedeutendste Theoretiker der burschenschaftlichen Gründergeneration, Karl Follen, bereits 1815/16 republikanisch-unitarische Ideen auf.6 Sie fanden allerdings bis 1819/20 nur in dem von Follen geprägten Kreis der Gießener „Unbedingten“ Anklang, und auch da wohl nur vereinzelt und mehr in Form von Gedankenspielen ohne ernsthafte Realisierungsabsicht. Im wichtigsten Zentrum der burschenschaftlichen Bewegung, Jena, formulierte der Student Riemann im Anschluss an die Wartburgfeier und unter dem Einfluss von Heinrich Luden eine gemäßigte Programmschrift für die konstitutionelle Staatsform und einen föderativen Nationalstaat, die „Grundsätze der Wartburgfeier“ (1817/18).7 Nach den Karlsbader Beschlüssen sind keine konsistenten und grundsätzlich neuen konzeptionellen Entwürfe entstanden. Die Mehrheitsmeinung der Burschenschafter drückt am ehesten Joachim Leopold Haupts umfangreiches Buch „Landsmannschaften und Burschenschaft“ (1820) aus.8 Haupt plädierte dafür, sich auf Wissenschaft und Bildung zu konzentrieren und auf dem Weg über die politische Bildung das nationale Bewusstsein zu verbreiten. Auf direkte politische Aktivitäten sollte verzichtet werden. Demgegenüber entwarf Karl Follen verstärkt seit 1819 Projekte konkreter Umsturzplanung. Von ihnen wird bei der Untersuchung der burschenschaftlichen Organisationsstrukturen noch zu reden sein. Die Haupt’sche Linie eines national- und verfassungspolitischen Reformismus auf der Grundlage von Bildung und Wissenschaft wurde dann 1827 bei der Neugründung des nationalen Verbandes der deutschen Burschenschaft wieder aufgenommen. Als Zweck des Verbandes legte der Bamberger Burschentag im September 1827 die Bestimmung fest: „Vorbereitung zur Herbeiführung eines frei und gerecht geordneten und in Volksfreiheit gesicherten Staatslebens im deutschen 4

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Herman Haupt (Hg.), Die Verfassungsmerkmale der Jenaischen Burschenschaft vom 12. Juni 1815, in: Quellen und Darstellungen I, S. 114–161; Carl Walbrach (Hg.), Der Gießener Ehrenspiegel, Frankfurt 1927, S. 56–62. Verfassungsurkunde der Jenaischen Burschenschaft (wie Anm. 4), S. 118–123; Ehrenspiegel (wie Anm. 4), S. 309–331. Vgl. dazu Friedrich Meinecke, Die deutschen Gesellschaften und der Hoffmannsche Bund. Ein Beitrag zur Geschichte der politischen Bewegungen in Deutschland im Zeitalter der Befreiungskriege, Stuttgart 1891; ders., Zur Geschichte des Hoffmannschen Bundes, in: Quellen und Darstellungen 1, S. 4 ff.; zu den von Adolf und Karl Follen entworfenen republikanischen „Grundzüge für eine künftige Reichsverfassung“; vgl.: Wentzke, Geschichte der deutschen Burschenschaft (wie Anm. 1), S. 305; zu Follen vgl. noch immer: Herman Haupt, Karl Follen und die Gießener Schwarzen. Beiträge zur Geschichte der politischen Geheimbünde und der Verfassungsentwicklung der deutschen Burschenschaft in den Jahren 1815–1819, Gießen 1907. Grundsätze der Wartburgfeier, abgedr. in: Heinrich Ehrenteich, Heinrich Luden und sein Einfluß auf die Burschenschaft, in: Quellen und Darstellungen IV, S. 123–129. Joachim Leopold Haupt, Landsmannschaften und Burschenschaft, Altenburg 1820.

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Volke vermittelst Beförderung eines freien, wissenschaftlichen, sittlichen und volkstümlichen Lebens auf der Hochschule ...“.9 Seit der Pariser Julirevolution 1830 löste sich dieses Verständnis von Bürgertugend aber dann schrittweise und unter permanenten Friktionen mit den gemäßigteren Gruppen vom Attentismus der 20er Jahre und gravitierte immer stärker zu einer aktiven politischen Betätigung. Der Dresdner Burschentag vom April 1831 hielt zwar noch am Grundsatz der Nichteinmischung in die aktive Politik fest; Aufgabe der Burschenschaft sei es, ihre Mitglieder wissenschaftlich zu bilden, damit sie imstande seien, durch „geistige Mittel“ zur Herstellung „volkstümlicher Staatseinrichtungen“ beizutragen.10 Dem einzelnen Mitglied war damit aber im Gegensatz zur bisherigen Verbandslinie faktisch die Teilnahme auch an umstürzlerischen Aktivitäten freigestellt. Der Frankfurter Burschentag Ende September 1831 legte sich dann auf eine „praktisch-politische Tendenz“ des Verbandes fest, wobei die Möglichkeit auch des gewaltsamen Umsturzes nicht offen ausgesprochen, aber indirekt eingeräumt war: Er verlangte „selbständiges Eingreifen in die Verhältnisse des Vaterlandes, wo, wann und auf welche Weise die Möglichkeit des selbständigen Wirkens“ gegeben sei.11 Der Stuttgarter Burschentag Ende Dezember 1832 schließlich deklarierte offen „den Weg der Revolution“ als den einzig Erfolg versprechenden.12 Dieses Programm setzte eine kleine Gruppe von ca. 30 radikalen Studenten am 3. April 1833 in den gescheiterten Umsturzversuch des Frankfurter Wachensturmes um. Diese spektakuläre Wendung zu einem aussichtslosen Versuch, eine Revolution in ganz Deutschland auszulösen, hat in der Vormärzforschung offenkundig die Aufmerksamkeit von den übrigen Protest- und Organisationsformen der Burschenschaften abgelenkt. Sie sollen daher im Wesentlichen auf der Grundlage des Hauptberichts der Mainzer Zentraluntersuchungskommission und der von der älteren Literatur zu den Burschenschaften zusammengetragenen Fakten systematisiert und analysiert werden. II Zunächst ist genauer zu klären, unter welchen rechtlichen Voraussetzungen sich die burschenschaftliche Bewegung entwickelte, welche organisatorischen Strukturen sie unter diesen Bedingungen ausbildete und wie sich beides auf die politische Strategie der Burschenschaften auswirkte. Wie für das Vereinswesen insgesamt ist auch für die Organisationsstrukturen und Protestformen der ersten politischen Jugendbewegung in Deutschland der Rechtsrahmen, in dem sich die politische Bewegung seit 1806 zu artikulieren begann, von entscheidender Bedeutung. Grundsätzlich galt auch in der Formierungsphase der Burschenschaften 1814 bis 1819 das Verbot jeglicher politischer Vereini9

Abgedr. in: G. Heer, Die allgemeine deutsche Burschenschaft und die Burschentage 1827– 1833, in: Quellen und Darstellungen IV, S. 271 f. 10 Heer, S. 237; Protokoll abgedr. in: Heer, Die allgemeine deutsche Burschenschaft, S. 302– 309. 11 Heer, S. 237; Heer, Die allgemeine deutsche Burschenschaft, S. 311–328. 12 Heer, S. 282; Heer, Die allgemeine deutsche Burschenschaft, S. 337–343.

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gung, wie es in Preußen im Allgemeinen Landrecht von 1794 festgelegt war und 1798 unter dem Eindruck vermeintlicher und tatsächlicher jakobinischer Strömungen noch einmal bekräftigt wurde.13 Analog hatten auch die übrigen deutschen Staaten in einer Reihe von Verordnungen der Entwicklung eines politischen Vereinswesens einen Riegel vorgeschoben.14 Hinzu kam speziell für das studentische Verbindungswesen das Verbot der Landsmannschaften und Orden, dessen Tradition mindestens bis ins frühe 17. Jahrhundert zurückreicht. Die zahlreichen Verordnungen mit der Kulmination im „Reichsgutachten gegen ordensartige Geheimverbindungen an deutschen Universitäten“ vom 19. Juni 1793 konnte allerdings die Ausbreitung der aufklärerischen Orden seit circa 1770 und die Konstituierung reformierter Landsmannschaften (Korps) seit circa 1790 nicht verhindern.15 Seit der Jahrhundertwende schritten die Behörden nur noch vereinzelt nach schwereren Zwischenfällen gegen das jetzt primär landsmannschaftliche Verbindungswesen ein, während die Orden teils infolge der Verbotspraxis, teils wegen der Abwendung der Studenten selbst vom Ordensgedanken von den Universitäten verschwanden.16 Der Aufstieg der Burschenschaften vollzog sich also bis zu den Verboten im Anschluss an die Wartburgfeier vom 18. Oktober 1817 in einem Raum nicht eindeutig geklärten Rechts, danach – schon vor den Karlsbader Beschlüssen vom 20. September 1819 – unter den Bedingungen eindeutiger Illegalität. Anders als die frühneuzeitlichen Verbindungsverbote und selbst noch die Verbote burschenschaftlicher Vereine nach der Wartburgfeier haben die Karlsbader Beschlüsse die Entwicklung des studentischen Korporationswesens tief greifend beeinflusst. Zwar konnten die Beschlüsse die burschenschaftliche Bewegung nicht vollständig unterdrücken. An den einzelnen Universitäten bestanden vielfach reduzierte oder getarnte Verbindungen weiter. Der nationale Zusammenhalt blieb bis 1823 durch die Burschentage von Streitberg (1821) und Amorbach/Gernsheim (1822) wenigstens notdürftig gewahrt, zerriss dann aber bis 1827 praktisch vollständig. Vor allem sahen sich die Burschenschaften gezwungen, ihren Allgemeinheitsanspruch aufzugeben und sich mit der Position von einer unter vielen Studentenverbindungen zufrieden zu geben, wodurch die Korps wieder stark an Einfluss gewannen.17 Für die Demokratisierung der inneren Verfassung wie für den Eintritt 13 Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten von 1794, hg. von H. Hattenhauer, Frankfurt u.a. 1970, 11, § 1, 2, S. 436; Text der VO vom 20.10.1798 in: Ernst Rudolf Huber (Hg.), Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. I, Stuttgart 1961, S. 58 ff. 14 Vgl. dazu W. Hardtwig, Politische Gesellschaft und Verein zwischen aufgeklärtem Absolutismus und der Grundrechtserklärung der Frankfurter Paulskirche, in: G. Birtsch (Hg.), Grundund Freiheitsrechte im Wandel von Gesellschaft und Geschichte, Göttingen 1981, S. 336 ff.; zum Vereinsrecht: J. Baron, Das deutsche Vereinswesen und der Staat im 19. Jahrhundert, Diss. jur. Göttingen 1962, Th. Vormbaum, Die Rechtsfähigkeit des Vereins im 19. Jahrhundert. Ein Beitrag zur Entstehungsgeschichte des BGB, Berlin 1975. 15 Ein Überblick über die Verbotsedikte bei Christoph Meiners, Geschichte der Entstehung der Hohen Schulen, Bd. IV, Göttingen 1805, S. 163 f.; zum Reichsgutachten vgl. Ernst Deuerlein, Neues vom Konstantistenorden, in: Wende und Schau, Kösener Jahrbuch 2. Folge (1932), S. 130 ff. 16 Vgl. W. Hardtwig, Studentenschaft und Aufklärung (wie Anm. 3). 17 Heer, S. 193 ff., 234.

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der burschenschaftlichen Jugendbewegung in die politische Öffentlichkeit stellten die Beschlüsse ein entscheidendes Hemmnis dar. Die Verfassung, die nationale Verbandsentwicklung, die politische Programmatik und die Strategie der Burschenschaften stehen seither ganz unter dem Vorzeichen des Verbotsdrucks. Zunächst warf das Verbot die Frage nach dem Verhältnis von Öffentlichkeit und Geheimorganisation neu auf. Gegenüber dem älteren Verbindungswesen der Orden und Landsmannschaften gewann mit dem burschenschaftlichen Reformansatz auch der Grundsatz der Öffentlichkeit an Raum. Der „Ehrenspiegel“ entwickelt die Vorstellung einer nationalen Öffentlichkeit, die sich in der Gemeinsamkeit von Sitte, Meinung und politischem Willen äußern soll.18 Die „allgemeine Meinung“ garantiere innerhalb der Nation das Bewusstsein gemeinsamer Zielorientierung, gemeinsamer Verhaltensweisen und gemeinsamen Handelns. Karl Follen und die Gießener „Unbedingten“ beziehen damit zunächst dieselbe Position wie gleichzeitig die liberalen Reformanhänger im sogenannten „Tugendbundstreit“, der 1815 vom konservativ-etatistischen preußischen Staatsrat Schmalz ausgelösten heftigen öffentlichen Auseinandersetzung um die Existenz geheimer „staatsverräterischer“ Verbindungen in Preußen bzw. konkret um die Zulässigkeit politischer Vereine überhaupt.19 Die unterstellte politische Gesinnungseinheit der Nation und die Zielvorstellung einer Volksrepräsentation veränderten innerhalb der studentischen Reformbewegung wie im liberaldemokratischen Lager überhaupt die Einschätzung der geheimen Organisation, in der sich unter den Bedingungen des Absolutismus das kritische, die Grenzen von Regionalität, Konfessionalität, Standeszugehörigkeit überschreitende Denken formiert hatte. Der Ruf nach Konstitution bedeutete ja zugleich die Anerkennung einer politisch fungierenden Öffentlichkeit. Der Rückzug ins Geheimnis hätte die liberalen Partizipationswünsche selbst wiederum unterlaufen. Dem nationalen Staat – so argumentierte Arndt – dürfe durch Geheimverbindungen nichts an Lebendigkeit, Geist und Mut entzogen werden; jegliche Exklusivität, auch die des „vornehmen Geheimnisses“, sei ihm schädlich.20 Nach der Wartburgfeier führte die Jenaer Burschenschaft die Öffentlichkeit ihrer Versammlungen ein.21 Auch innerstudentische Auseinandersetzungen wurden jetzt vor dem Forum der bürgerlichen Öffentlichkeit ausgetragen. Der Streit in Halle zwischen der Teutonia und den von Karl Immermann angeführten Renoncen spielte sich in der Form des publizistischen Meinungskampfes mit Broschüren und Unterschriftensammlungen ab.22 Allerdings drang die Forderung nach Öffentlichkeit keineswegs vollständig durch. 18 Ehrenspiegel (wie Anm. 4), S. 312. 19 Vgl. O. Dann, Geheime Organisierung und politisches Engagement im deutschen Bürgertum des frühen 19. Jahrhunderts. Der Tugendbund-Streit in Preußen, in: P. Chr. Ludz (Hg.), Geheime Gesellschaften, Heidelberg 1979, S. 416 ff. 20 Ernst Moritz Arndt, Geist der Zeit IV, in: ders., Ausgewählte Werke, hg. von H. Meisner und R. Geerds, Leipzig o.J., Bd. 12, S. 102 ff.; vgl. auch den Brief Arndts an Reimer (8. 1. 1816), zit. in: Hauptbericht der Central-Untersuchungs-Commission, d.d. Mainz den 14. Dez. 1827 (hier benutzt in der von W. Siemann für die Universitätsbibliothek hergestellten Kopie, S. 85; im Folgenden abgek.: Hauptbericht). 21 Hauptbericht, S. 64. 22 Vgl. Eduard Dietz, Die Teutonia und die Allgemeine Burschenschaft in Halle, in: Quellen und Darstellungen 11, S. 215–305.

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Tendenzen zu einer neuerlichen geheimen Organisation zeigten sich bereits nach der Wartburgfeier, am deutlichsten bei Karl Follen und bei dem Jahn-Anhänger und Turner Wilhelm Harnisch. Die Chronologie macht deutlich, dass das Vereinsverbot für diese Wendung zum Geheimnis verantwortlich ist, das dann unter den Bedingungen der Jahre nach 1815/19 auch einen völlig anderen Charakter annehmen musste als das übliche halböffentliche Geheimnis des Absolutismus. Zwar gingen auch Follen und Harnisch bei ihren Organisationsmodellen noch in der Tradition latent politischer aufklärerischer Geheimgesellschaften vom Bildungs- und Diskussionsbedürfnis als Movens der Sozietätsbildung aus, aber ihnen ging es jetzt nicht um bloßes Raisonnement im Zeichen einer Fortschrittserwartung, die sich über Bildung und Kritik gleichsam von selbst realisieren sollte. Sie verfochten jetzt vielmehr die Notwendigkeit direkter politischer Agitation und der Planung des Herrschaftswechsels. Die Geheimorganisation diente nicht mehr der Pflege der Exklusivität bzw. der Selbstverständigung einer vorpolitischen Leistungs- und Wissenselite, sondern der konspirativen Arbeit.23 Karl Follen vertrat diese Linie – Geheimhaltung der Zusammenkünfte, Erhöhung der Anforderungen bei der Rezeption von Mitgliedern, beides im Hinblick auf mögliche Umsturzvorbereitungen – im Oktober 1818 in informellen Zusammenkünften während des Jenaer Burschentages.24 Sein Konzept unterlag hier aber noch gegen die Theorie einer funktionierenden politischen Öffentlichkeit, wie sie vor allem einer der professoralen Mentoren der Jenaer Urburschenschaft, der Philosoph Jacob Friedrich Fries, im Einklang mit der Mehrheit der Burschenschafter vertrat.25 Nach den Karlsbader Beschlüssen blieb den Burschenschaftern aber keine andere Wahl als die Geheimorganisation, wollten sie nicht ihre politischen Ziele preisgeben. Als unmittelbare Folge der Karlsbader Beschlüsse traten sich 1820 auch die beiden Grundrichtungen innerhalb der Burschenschaften deutlich artikuliert gegenüber, die in der Polarität von „Unbedingten“ und Gemäßigten bereits seit 1815/16 bestanden, die Bewegung aber noch nicht grundsätzlich in zwei Lager gespalten hatten. Nach 1827, selbst unter den Bedingungen des wieder gelockerten Verbindungsverbotes, verfestigte sich dieser Gegensatz zur Parteibildung in „Germanen“ und „Arminen“. Die gemäßigte, vergleichsweise traditionalistische Strömung der Arminen stellte sich primär in die Kontinuität der innerstudentischen Gesittungsund Bildungsbewegung. Ähnlich wie Leopold Haupt 1820 erklärte sie in den Jahren 1827 bis 1833 die Bildung zum Hauptzweck der Burschenschaft; aus Bildung und Wissenschaft heraus sollte sich nach dem Modell der allgemeinen liberalen Fortschrittserwartung allmählich von selbst die Verwirklichung von Einheit und Freiheit ergeben.26 Auf jede aktive politische Betätigung sollte verzichtet werden. Es liegt auf der Hand, dass diese relative Entpolitisierung der Mehrheit der Burschenschafter durch den Verbotsdruck ganz wesentlich gefördert worden ist, auch wenn das weder 1820 noch in der eigentlichen Blütephase der arminianischen 23 24 25 26

Vgl. Dann, Geheime Organisierung (wie Anm. 19), S. 421. Hauptbericht, S. 85. Hauptbericht, S. 85. Repräsentativ dafür: Joachim Leopold Haupt, Landsmannschaften und Burschenschaft (wie Anm. 8).

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Richtung 1827 bis 1833 ausdrücklich gesagt wurde. Auf der anderen Seite verschärfte sich die konspirative Neigung bei den politischen Aktivisten. Die erzwungene erhöhte soziale Marginalität der politisch bewusstesten Führungsgruppe der Burschenschaft, die sich jetzt als radikale Intelligenz definieren lässt, die Radikalisierung der Ideologie und der Aufbau nichtdemokratischer, hierarchischer Organisationsstrukturen bedingen sich gegenseitig.27 Äußerungen von Karl Follen bestätigen bereits Ende 1819 diesen Zusammenhang: nachdem auf dem Weg über die Öffentlichkeit, nämlich die Presse und die akademische Lehrtätigkeit, nichts mehr erreicht werden könne, seien die bisherigen Anhänger der konstitutionellen Monarchie zum Verfassungsideal der Republik übergegangen.28 Follens Forderung nach geheimer Organisation fand jetzt breitere Resonanz, an den meisten Universitäten entstanden sogenannte „engere Vereine“. Das Organisationsmodell der „engeren Vereine“ ist allerdings nicht völlig neu. Es tritt bereits seit der Jahrhundertwende vereinzelt bei den Korps auf, um eine Kerngruppe engagierter und aktiver Mitglieder von der Mehrheit in den Landsmannschaften abzugrenzen. Die Reformpartei in der Jenaer Burschenschaft hatte diese Organisationsform auf Betreiben Robert Wesselhöfts im Mai 1818, also noch vor den Karlsbader Beschlüssen, aufgenommen, um aus dem kleinen Kreis von anfangs acht Mitgliedern die politische Diskussion in der Burschenschaft zu steuern.29 Nach Karlsbad konstituierten sich „engere Vereine“ aber auch in Göttingen, Halle und Leipzig. Die bewusst klein, zwischen 15 und 20 Mitgliedern, gehaltenen Kreise ergänzten sich durch Kooptation und hielten untereinander den Kontakt aufrecht.30 Sie bildeten die Zentren, aus denen sich die Einzelburschenschaften neu konstituierten oder um die herum sie sich erhielten. Auf eigenen Kartelltagen in Sondershausen 1820 und in Passendorf/Kröwitz bei Halle 1823 legten sie die Ziele ihrer Politik, die sich im Wesentlichen auf die Erhaltung der Organisation reduziert hatten, fest. Die erzwungene Tendenz zu immer mehr Geheimbündelei und innerer Hierarchie schlug sich auf dem Kartelltag von 1823 in dem – allerdings abgelehnten – Vorschlag nieder, innerhalb der engeren Vereine noch einmal engere Zirkel zu bilden.31 Die Demokratisierungsleistung der Jahre 1815 bis 1819 wurde – mehr von außen als von innen her bedingt – preisgegeben, und zwar beim radikalen Zweig der Burschenschaft auch dann noch, als seit 1827 studentische Vereinigungen zu rein geselligen Zwecken in den meisten Staaten wieder zugelassen waren. Die Würzburger Burschenschaft, von der 1827 die Initiative zur Neugründung des nationalen Verbandes ausging, änderte 1828/29 ihre Verfassung und unterschied jetzt ausdrücklich einen weiteren und einen engeren Verein, der gegenüber den Behörden geheim zu halten sei und der sich selbst mit Dreiviertelmehrheit per Kooptation ergänzte. Diese Trennung bildete von jetzt an generell ein konstitutives 27 Grundlegend zu diesem Zusammenhang: P. Chr. Ludz, Ideologie, Intelligenz und Organisation. Bemerkungen über ihren Zusammenhang in der frühbürgerlichen Gesellschaft, in: Jahrbuch für Sozialwissenschaft 15 (1964), S. 82 ff. 28 Hauptbericht, S. 117. 29 Hauptbericht, S. 73, 156. 30 Heer, S. 101 ff. 31 Heer, S. 107.

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Merkmal der politisch aktivistischen Germanen gegenüber den Arminen.32 Überall wird der Elitecharakter der engeren Vereine über Selbstrekrutierung und Probezeit bzw. Mindestalter hervorgehoben, während die äußeren Kreise praktisch rechtlos sind; darüber hinaus streben die engeren Vereine teilweise bewusst eine reduzierte Mitgliederzahl an: in Jena z.B. ging sie gesteuert im Sommer 1827 von 70 auf 50 zurück. Nach 1830 verschärfte sich diese Tendenz ganz allgemein und griff nun auch auf die weiteren Kreise über. Je mehr sich innerhalb der germanischen Burschenschaften die Umsturzabsichten konkretisierten, desto mehr verwandelte sich dieser radikale Zweig in eine Kaderformation politisierter Jugendlicher, ohne allerdings zu einer wirklich stabilen organisatorischen Struktur und Mitgliederschaft zu finden. Überall bleiben die Mitgliederzahlen der Germanen hinter denen der Arminen zurück; in Erlangen z.B. standen im März 1829 58 Germanen 102 Arminen gegenüber; nirgends kam die Germania nach 1830 über 100 Mitglieder hinaus (Halle Nov. 1830: 14–16 Mitglieder, Göttingen WS 1831 (immerhin nach dem Rathaussturm): circa 60 Mitglieder, Heidelberg 1831: circa 78 Mitglieder, Freiburg 1832: 71 Mitglieder).33 Allerdings zeichneten sich nach 1830 auch gegenläufige Tendenzen ab, an denen sich die Spannungen zwischen den beiden Flügeln der Bewegung ablesen lassen. Die arminische Richtung kannte im Allgemeinen nur eine Art von Mitgliedern, und diese demokratische, aber quietistische Haltung übte offenbar auf die Studentenschaft erhebliche Anziehungskraft aus. In Bonn z.B. verlangten die Renoncen der in ihrem Programm durchaus germanischen Burschenschaft, nachdem ihnen schon eine Reihe von Zugeständnissen gemacht worden war, das Stimmrecht in allen sie angehenden Fragen und die Aufnahme von 12 ihrer Vertreter in den engeren Verein.34 Der Frankfurter Allgemeine Burschentag vom September 1831, der die politische Linie der Germanen bekräftigte, beschloss, den Renoncen entgegenzukommen; sie sollten an allen Verhandlungen mit Ausnahme des Ehrengerichts teilnehmen dürfen; die Existenz des Verbandes sollte ihnen mitgeteilt werden, seine Organisation im Einzelnen aber unbekannt bleiben.35 Insgesamt allerdings konnte sich diese Tendenz zur Öffnung und Demokratisierung der einzelnen Burschenschaften nicht durchsetzen, weil die Divergenz zwischen dem wachsenden Radikalismus der aktivistischen Minderheit und dem vorrangigen Interesse der Renoncen an studentischer Geselligkeit zu groß blieb. Bereits unmittelbar nach den Karlsbader Beschlüssen traten zwei weitere Strukturmerkmale geheimbündischer Organisationen hervor, die sich in den germanischen Verbindungen bis 1833 durchhielten: der Versuch der Internationalisierung der Bewegung und der Realitätsverlust der politisch radikalen Gruppen ohne konkrete Wirkungschancen im Inland oder in der Emigration. Der Versuch, internationale Kontakte zwischen Gleichgesinnten zu knüpfen, ergab sich zunächst praktisch als Konsequenz der Flucht ins Ausland, mit der sich einige der Anführer den behördlichen Untersuchungen im Anschluss an den Kotzebue-Mord entzogen. Karl Follen hatte bereits im September 1819 in einer Diskussion der Gießener „Unbe32 33 34 35

Heer, S. 154 ff. Heer, S. 161, 167, 180, 193, 199, 209, 229, 254, 266, 271. Heer, S. 193 ff., 234. Heer, S. 232 ff.

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dingten“ darauf hingewiesen, dass eine Revolution in Deutschland nur bei Unterstützung von außen, in Verbindung mit Frankreich, Italien und Polen Aussichten auf Erfolg haben könne.36 Jetzt setzte er die Repressionserfahrung sofort um in die These, dass nach dem Scheitern des reformerischen Kurses der Weg des gewaltsamen Umsturzes gegangen werden müsse; eine Revolution in Deutschland sei nicht denkbar ohne Erschütterung von außen.37 Der Untersuchungsbericht rekonstruiert für die Jahre 1820 bis 1825 en detail die Bemühungen Follens und einiger Mitemigranten, Kontakte vor allem zu französischen, aber auch italienischen Oppositionellen zu knüpfen. Selbst aus dem Untersuchungsbericht, der den Emigranten bei allen ihren Bewegungen eine Planmäßigkeit und eine Zielgerichtetheit des Handelns unterstellt, die sie nicht haben konnten, geht allerdings hervor, dass diese Kontakte über die Ebene des bloßen Meinungsaustauschs mit tatsächlichen oder vermeintlichen Gesinnungsgenossen nirgends hinauskamen.38 Metternichs Theorie einer internationalen Verschwörung schon vor 1830 übertreibt maßlos die reale Umsturzgefahr, ist aber doch auch nicht völlig aus der Luft gegriffen.39 Denn auch die radikalen Burschenschafter im Inland bestätigten ihre politische Gesinnung durch die Identifikation mit außerdeutschen Freiheitsbewegungen, 1821/22 vor allem mit dem piemontesischen und dem griechischen Aufstand, 1831/32 mit dem polnischen Aufstand. Vereinzelt sah man in einem europäischen Bürgerkrieg die Voraussetzung für die nationale Einigung Deutschlands.40 Die konkreteste Form nahm die Internationalisierung in der vereinzelten Rekrutenwerbung und im Zuzug einiger weniger Freiwilliger nach Piemont und Griechenland an.41 Die Tübinger Burschenschaft, die sich allerdings eines besonderen Freiheitsspielraums erfreute, verabschiedete schon beim Waterloofest 1820 ein Solidaritätsbekenntnis mit den spanischen Aufständischen gegen die restaurative Regierung Ferdinands VII. Im Frühjahr 1821 brachen 20 Tübinger Studenten zur Unterstützung des piemontesischen Aufstandes auf, von denen allerdings nur einer bis Mailand und Turin kam. Drei weitere Tübinger Burschenschafter verloren bei den Kämpfen in Griechenland ihr Leben.42 Einige Burschenschafter erwogen im Herbst 1821 sogar den Plan, eine „Griechische Legion“ von Freiwilligen aufzustellen, dann aber nicht nach Griechenland zu ziehen, sondern mit ihrer Hilfe eine Erhebung in Deutschland selbst auszulösen.43 Dieses Projekt wurde zwar verworfen, macht aber deutlich, wie weit die radikalen Burschenschafter den Kontakt zur Realität verloren hatten. Diese Entfrem36 37 38 39

40 41 42

43

Hauptbericht, S. 117. Hauptbericht, S. 125. Hauptbericht, S. 121 ff. Zu den Verschwörungstheorien der Metternich-Ära vgl. Johannes Rogalla v. Biederstein, Die These von der Verschwörung 1776–1945. Philosophen, Freimaurer, Juden, Liberale und Sozialisten als Verschwörer gegen die Sozialordnung, Bern u.a. 1976, S. 138 ff. Hauptbericht, S. 166. Hauptbericht, S. 165, 173 ff., 191. Reinhard Müth, Studentische Emanzipation und staatliche Repression. Die politische Bewegung der Tübinger Studenten im Vormärz, insbesondere von 1825–1837, Tübingen 1977, S. 38 ff. Hauptbericht, S. 200 ff.; Heer, S. 124.

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dung von der Wirklichkeit hatte sich bereits unmittelbar nach den Karlsbader Beschlüssen angekündigt. Schon im Dezember 1819 entwarf Follen den phantastischen Plan einer „Deutschen Bildungsanstalt in Amerika“. Sie sollte der radikalen emigrierten Intelligenz eine materielle Basis und äußere Sicherheit bieten, die Keimzelle einer deutschen Staatsgründung in den USA bilden und eine langfristige Revolutionsplanung ermöglichen.44 Eine sehr weitgehende Fehleinschätzung der politisch-gesellschaftlichen Situation in Deutschland stand auch hinter der Gründung des sogenannten „Jünglingsbundes“, der konkretesten Initiative in Richtung auf eine tatsächliche Umsturzplanung. Er wurde offenbar im Februar 1821 von Chur aus von Karl Follen, Karl Völker und A. v. Dittmar angeregt, umfasste im Sommer 1821 58, im Winter 1822/23 73, auf dem Höhepunkt seiner Ausdehnung circa 150 Mitglieder und verfolgte laut seiner aus konspirativen Gründen nur mündlich mitgeteilten Satzung den „Umsturz der bestehenden Verfassungen, um einen Zustand herbeizuführen, worin das Volk durch selbst gewählte Vertreter sich eine Verfassung geben kann“.45 Der von Follen mit der Gründungstätigkeit an den deutschen Universitäten beauftragte Student von Sprewitz war im Ernst der Meinung, dass das „Deutsche Volk willens sei, sich eine solche Verfassung durch Gewalt zu verschaffen“.46 Der Jünglingsbund sollte an den Universitäten für diesen Umsturz arbeiten und sich im Moment der revolutionären Aktion mit einem „Männerbund“ – Anhängern der Bewegung, die schon im bürgerlichen Leben standen – vereinigen. Einen Männerbund hat es allerdings nie gegeben. Als die Mitglieder des Jünglingsbundes dies Ende 1822 zur Kenntnis nehmen mussten, suchten sie den Bund aufzulösen. Außer der Tatsache der geheimen Verbrüderung selbst hat der Jünglingsbund keinerlei revolutionäre Aktivitäten in die Wege geleitet. Aus Tübingen weiß man aber immerhin, dass sich die Mitglieder mit der politischen Theorie des französischen Frühliberalismus, besonders mit den Schriften von Benjamin Constant, befassten.47 Im Januar 1824 wurde die „Verschwörung“ aufgedeckt, zahlreiche Mitglieder wurden verhaftet und jahrelang in Untersuchungshaft genommen.48 Da sich der Mitgliederkreis des „Jünglingsbundes“ mit dem der „engeren Vereine“ weitgehend deckte, traf die Verfolgung des Jünglingsbundes die ganze burschenschaftliche Rumpforganisation entscheidend. Bis 1827/28 verschwanden daher auch die engeren Vereine von den Universitäten. Die Burschenschaften waren also – sieht man von den spektakulären Ereignissen der Wartburgfeier am 18. Oktober 1817 und dem Kotzebue-Mord von 1819 ab – zwischen 1815 und 1819 vor allem mit der innerstudentischen Reform, mit dem Aufbau ihrer Organisationen und mit der allmählichen Herausarbeitung einer konkreten politischen Programmatik beschäftigt, danach bis 1827, soweit überhaupt möglich, mit der Erhaltung der Organisation. Die politisch aktivsten Anführer bemühten sich von der Emigration aus, eine organisatorische Basis für konkrete Umsturzplanung zu legen, verloren dabei 44 45 46 47 48

Hauptbericht, S. 119 f. Hauptbericht, S. 187; Heer, S. 110. Hauptbericht, S. 187. Müth, S. 42 f. Vgl. zusammenfassend: Heer, S. 109–129.

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aber weitgehend – wie ihre Gefolgsleute in Deutschland – den Kontakt zur politischen Realität in den deutschen Staaten und in der Studentenschaft. Auch zwischen 1827 und 1833 lastete das Verbot jeglicher politischer Betätigung unvermindert auf den studentischen Vereinen. Es ist daher zu fragen, inwieweit überhaupt von einer Protestbewegung gesprochen werden kann, die in der Öffentlichkeit mit der Artikulation von politisch-gesellschaftlichen Zielen hervortrat und ihre Ziele auch tatsächlich durchzusetzen versuchte. Im Folgenden sollen daher die einzelnen Protestformen genauer untersucht werden. III 1. Die Publizistik. Bereits 1815/16 setzten erste Versuche ein, eigene Publikationsorgane zu schaffen, die gezielt der Meinungsbildung durch etatistische Blätter entgegenarbeiten sollten. Diese Pläne wurden vor allem in dem Personenkreis diskutiert, der sich in den „Deutschen Gesellschaften“ zusammengefunden hatte und sich dann durch Mitglieder der Heidelberger Teutonia und der Gießener „Unbedingten“ ergänzte, also vor allem Wilhelm und Louis Snell, Karl und August Follen, Karl und Gottlieb Welcker und der Kreis der Darmstädter „Schwarzen“. Die Darmstädter „Schwarzen“ gehören zwar nicht mehr unmittelbar zur Burschenschaft, sie spielen aber bis 1820 die aktivste Rolle bei der Umsetzung der Jugendbewegung in konkrete Politik und stehen dabei doch auch in engem Kontakt mit der eigentlichen burschenschaftlichen Bewegung. Aus der Heidelberger Teutonia und der Gießener „Teutschen Lesegesellschaft“ (1814/15) hervorgegangen, wahrten sie nach dem Studium in der Form eines jugendlichen Freundeskreises den Zusammenhang sowohl untereinander wie zu den Gießener „Unbedingten“ oder „Schwarzen“, von denen sie auch den Namen übernommen hatten, zu Arndt und Görres, zu dem Berliner Kreis um den Buchhändler Reimer sowie, locker und seit 1817 vor allem durch Karl Follen vermittelt, zur Jenaer Burschenschaft. Sie stammten überwiegend selbst aus Beamtenfamilien und traten meist selbst wieder in Beamtenoder in beamtenähnliche Laufbahnen ein. Unbestrittener Kopf des Kreises war Heinrich Karl Hofmann, seit 1816 Advokat in Darmstadt, zuvor in der Heidelberger Teutonia mit profilierten Reformvorschlägen hervorgetreten.49 Nach der Unterdrückung von Görres‘ „Rheinischem Merkur“ setzte vom März bis Juli 1816 eine lebhafte Korrespondenz zwischen den Brüdern Snell, dem späteren Ibell-Attentäter Karl Löning, Karl Welcker und H.K. Hofmann über die Gründung eines „Deutschen Volksblattes“ ein, das der „Ermutigung und Aufklärung des

49 Zu den Darmstädter „Schwarzen“: Siegfried Büttner, Die Anfänge des Parlamentarismus in Hessen-Darmstadt und das Du-Thilsche System, Darmstadt 1969, S. 13–23; zu Hofmann vgl. die umfangreiche biographische Untersuchung von H. Haupt, Heinrich Karl Hofmann, ein süddeutscher Vorkämpfer des deutschen Einheitsgedankens, in: Quellen und Darstellungen, Bd. III, S. 327 ff.; Georg Heer, Wilhelm Snell und sein Deutscher (sog. Hoffmannscher) Bund von 1814/15 und dessen Einwirkung auf die Urburschenschaft, in: Quellen und Darstellungen 13, S. 133 ff.

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weniger gebildeten Theils des Volkes“ dienen sollte.50 Diese Zeitschriftenprojekte wurden mehrfach wieder aufgenommen, besonders konkret nach dem Eingehen von Ludwig Wielands „Patriot“ in Jena im Winter 1818/19.51 Die Pläne scheiterten jeweils an Verboten, Inhaftierungen (August Follen), vor allem aber am Geldmangel. Bemerkenswerterweise diskutierte man dabei aber eine unmittelbare Vorform derjenigen Verbindung von Zeitschrift und Leser bzw. Subskribenten- und Anhängerorganisation, die dann 1831 von Siebenpfeiffer für seinen „Boten aus dem Westen“ verwirklicht wurde.52 Jeder Anhänger sollte sich zu monatlichen Zahlungen verpflichten und darüber hinaus Subskribenten werben. August Follen hoffte auf diese Weise, 800 feste Abnehmer zusammenzubringen.53 Da diese Pläne sich aber alle nicht realisieren ließen, beschloss der Kreis, sich vorläufig auf Beiträge zu sympathisierenden Zeitschriften zu beschränken, insbesondere zu Ludens „Nemesis“. Daneben gab es schon vor 1819 einzelne Flugblattaktionen. Das wahrscheinlich von Karl Follen stammende Gedicht: „Deutsche Jugend an die Deutsche Menge zum 18. Oktober 1818“ – dem Jahrestag der Wartburgfeier und Gründungstag der „Allgemeinen deutschen Burschenschaft“ – wurde vor allem von Gießener „Unbedingten“ und Jenaer Studenten in einer „ungeheueren Menge von Abdrücken“, wie sich der Hauptbericht ausdrückt – an verschiedenen Orten verteilt.54 Hier setzt die Agitation mit Hilfe des politischen Liedes ein, die nach 1830 systematisch ausgebaut wurde. Nach der Julirevolution gewann dann auch die Publizistik einen neuen Stellenwert und gelangte über das Stadium bloßer Projekte zumindest ansatzweise hinaus. So beschloss die Jenaische Germania im Anschluss an den Dresdner Burschentag Anfang 1831, „Burschen-Zeitungen“ herauszubringen, in denen zur Intensivierung der politischen Bildung bei den Studenten selbst sowohl spezifisch studentische wie allgemein-politische Fragen diskutiert werden sollten; daneben wollte sie „geeignete“ Aufsätze in allgemein-liberalen Blättern unterbringen, um damit im „Volk“ das Einheits- und Freiheitsverlangen zu stärken.55 Der Frankfurter Burschentag machte sich diese Programmpunkte zu eigen.56 Inwieweit diese Absicht insgesamt verwirklicht wurde, bedarf noch genauerer Klärung. In prägnanten Einzelfällen beteiligten sich aber in der Tat die Burschenschafter zunehmend an der Meinungsbildung in der sich jetzt freier artikulierenden Öffentlichkeit. So gab die Freiburger Burschenschaft 1831/32 unter der Leitung eines ihrer Gründer, des späteren Archivars Bader, eine eigene Zeitschrift, „Der Schwarzwälder“, heraus, die wegen ihres scharfen Oppositionskurses große Resonanz fand.57 Einer der aktivsten Burschenschafter, der auch später noch publizistisch tätige Franz von Florencourt, arbeitete im Sommer 1831 an Försters „Volksblatt für 50 Zit. nach Hauptbericht, S. 43. 51 Vgl. Hauptbericht, S. 87–89, 113. 52 Vgl. Cornelia Foerster, Der Preß- und Vaterlandsverein von 1832/33. Sozialstruktur und Organisationsverhalten der bürgerlichen Bewegung in der Zeit des Hambacher Festes, Trier 1982. 53 Hauptbericht, S. 113. 54 Hauptbericht, S. 90. 55 Heer, S. 226. 56 Heer, S. 239. 57 Heer, S. 266.

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das konstitutionelle Deutschland“ in Fulda mit.58 In München suchte gleichzeitig die Germania systematisch den Kontakt mit der liberalen und demokratischen Presse.59 Zudem betätigten sich die Burschenschafter als Verteiler radikaler Zeitschriften.60 2. Die Polenvereine. Es lag im allgemeinen Verbot politischer Vereine begründet, dass latent oder hintergründig politische Meinungsäußerungen im Rahmen von Vereinen zuerst in der Identifikation des liberalen Bürgertums mit außerdeutschen Freiheitsbewegungen möglich wurden.61 In diesem Rahmen entstand auch erstmals eine breitere vereinsmäßige Zusammenarbeit von Studenten und Bürgerschaft. Wo das Verbot studentischer Organisation vergleichsweise locker gehandhabt wurde, wie in Tübingen, hatten sich Studenten bereits im griechischen Unabhängigkeitskampf 1821 an der Gründung von Unterstützungsvereinen beteiligt.62 Gefördert durch die allgemeine Unruhe nach der Julirevolution übten die Polendurchzüge seit Herbst 1831 auf die Burschenschafter wie auf die bürgerliche liberale oder demokratisch-radikale Opposition überhaupt eine hochgradig mobilisierende Wirkung aus. Überall wurden in den Polenvereinen ehemalige Burschenschafter aktiv.63 In Freiburg gehörte die Organisation von Unterstützungsmaßnahmen für Polenflüchtlinge zu den ersten Aktivitäten der neu gegründeten Germania.64 In Jena überbrückte die gemeinsame Arbeit im Polenkomitee Ende 1831 vorübergehend die Spaltung zwischen Arminen und Germanen.65 Trotz ihrer Tendenz zum Weiterbestand auch nach dem Abschwellen des Flüchtlingsstromes im Frühjahr 1832 blieben die Polenvereine allerdings anlassgebunden und verloren damit schon vor der Verschärfung des Vereinsverbotes durch den Deutschen Bund nach dem Hambacher Fest an Bedeutung. 3. Der Preß- und Vaterlandsverein. Der im Januar 1832 gegründete „Preß- und Vaterlandsverein“, der erste Ansatz einer liberaldemokratischen gesamtnationalen Parteigründung im vormärzlichen Deutschland, fand in den Burschenschaften ein günstiges Rekrutierungsfeld für seine Mitgliederwerbung. Umgekehrt waren fast alle Burschenschaften bereit, sich für den Preß- und Vaterlandsverein zu engagieren. Allerdings traten im gleichen Maß, in dem die radikalen Burschenschaften sich zum gewaltsamen Umsturz entschlossen, die politischen Ziele auseinander, ohne dass diese Zieldivergenz im Verein ausgetragen worden wäre. Der Preßverein konnte bei seiner Werbung jeweils ganze Gruppen ansprechen, meist erklärten 58 Heer, S. 274; Georg Heer, Franz von Florencourt. Ein Burschenschafter der Demagogenzeit, in: Quellen und Darstellungen 14, S. 145 ff. 59 Götz Freiherr von Pölnitz, Die deutsche Einheits- und Freiheitsbewegung in der Münchner Studentenschaft (1826–1850), München 1930, S. 48 f. 60 Pölnitz, Die deutsche Einheits- und Freiheitsbewegung, S. 56. 61 Vgl. Wolfgang Hardtwig, Strukturmerkmale und Entwicklungstendenzen des Vereinswesens in Deutschland 1789–1848, in diesem Band S. 181–214. 62 Müth, S. 39; zum Philhellenismus vgl. A. Tischler, Die philhellenische Bewegung der 1820er Jahre in den preußischen Westprovinzen, Diss. Köln 1981. 63 Heer, S. 243; zu den Polenvereinen vgl. vorläufig noch A. Gerecke, Das deutsche Echo auf die polnische Erhebung von 1830, Wiesbaden 1964, S. 52–137 passim. 64 Heer, S. 266. 65 Heer, S. 257; zu Gießen und München ebd. S. 289, sowie Pölnitz, S. 55.

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mehrere Studenten zusammen ihren Beitritt.66 In Heidelberg und Tübingen trat die Germania jeweils nahezu geschlossen dem Preßverein bei. Als der Senat der Universität Heidelberg am 11. 5. 1832 die Studenten vor einer Mitgliedschaft im Preßverein warnte, unterschrieben 164 Germanen eine von Brüggemann entworfene Protesteingabe an den Prorektor.67 Allgemein erfolgte der Anschluss entweder auf der Grundlage persönlicher Kontakte von studentischen Anführern zu Preßvereinsmitgliedern oder unmittelbar angestoßen vom Wirthschen Aufruf in der „Deutschen Tribüne“ vom 3. 2. 1832.68 Einzelne Burschenschafter, wie die Tübinger, warben an anderen Universitäten für den Beitritt zum Preßverein. Der Anschluss der Burschenschaften trug dazu bei, dass der Preßverein sein Organisationsnetz über sein südwestdeutsches Zentrum hinaus auf nord- und mitteldeutsche Universitätsstädte wie Jena und Greifswald ausdehnen konnte.69 Der Stuttgarter Burschentag beschloss im Dezember 1832 sogar den formellen Anschluss des Gesamtverbandes an den Verein. Für das studentische Selbstverständnis ist vor allem wichtig, dass sich die Burschenschaften mit ihrem Beitritt zu der bis dahin umfassendsten und in ihren Zielen eindeutigsten Organisation der bürgerlichen Opposition erstmals wirklich konsequent von der Tradition studentischer Exklusivitätswahrung lösten; sie verzichteten darauf, die Eigenständigkeit der studentischen Sitte und Kultur und den herkömmlichen studentischen Besonderheitsanspruch als herausgehobene Sozialgruppe innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft hervorzukehren und akzeptierten wie die übrigen Mitglieder des Vereins die Autorität der Vorstände. Im Preßverein schlossen sich also die bürgerliche und die spezifisch studentische Protestbewegung zu einer – im Rahmen der rechtlich beschränkten politischen Öffentlichkeit – konsistenten Organisation zusammen, in der die nichtstudentischen Träger der Opposition die Führung hatten. Aber die studentischen Aktivisten fanden im Organisationsgefüge des Preßvereins auch ein Forum, das ihnen Wirkungsmöglichkeiten über die Universität hinaus bot. Der rhetorisch begabte Anführer der Heidelberger Germanen, Karl Heinrich Brüggemann, konnte als Redner beim Hambacher Fest eine Massenzuhörerschaft von 20 000 Menschen ansprechen. Umgekehrt wies die Führungsgruppe des Preßvereins bei ihrer Besprechung am Vorabend des Festes am 26. Mai einen Antrag des Heidelberger Burschenschafters Köhler ab, zu gewaltsamen Aktionen gegen die Regierungen überzugehen.70 Hier bahnte sich schon die Konstellation an, die ein Jahr später das Scheitern des Frankfurter Wachensturms mit verursacht hat. Der liberal-demokratische Reformismus der bürgerlichen außerparlamentarischen Opposition wandte sich gegen gewaltsame revolutionäre Maßnahmen, aus denen eine weitergehende sozialrevolutionäre Mobilisierung der Unterschichten entstehen konnte, sympathisierte aber durchaus mit den Zielen der aktivistischen Richtung innerhalb der Burschenschaft. Insofern trug die Verbindung von Burschenschaft und Preßverein zur Ermutigung der Wachenstürmer bei, allerdings auch zu ihrem Irrglauben, mit einer begrenzten 66 67 68 69 70

Foerster, Der Preß- und Vaterlandsverein (wie Anm. 52), S. 45 ff. Heer, S. 256, 279. Foerster, Der Preß- und Vaterlandsverein (wie Anm. 52), S. 46. Foerster, Der Preß- und Vaterlandsverein (wie Anm. 52), S. 48. Heer, S. 245 f.

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revolutionären Aktion nur den Anfang für eine allgemeine Volkserhebung machen zu müssen. 4. Bürgergesellschaften und lockere Formen der Assoziation mit der oppositionellen Bürgerschaft. Bereits auf dem Frankfurter Burschentag vom Oktober 1831 hatte die Burschenschaft eine wesentliche Voraussetzung zur Selbstintegration der studentischen Organisationen und Aktivitäten in die allgemeine „Bewegungspartei“ des Vormärz geschaffen, die zwar vorläufig – sieht man vom Preßverein ab – nur als Gesinnungsgemeinschaft bestand, die sich aber seit der Julirevolution schlagartig in größerer Breite und Bestimmtheit artikulierte. Die Vertreter der im Verband zusammengefassten Burschenschaften Jena, Erlangen, Gießen, Kiel, Leipzig, Marburg, München, Tübingen und Würzburg deklarierten die Notwendigkeit einer „Umgestaltung des burschenschaftlichen Lebens... da die Zeit dringend fordert, daß die Burschenschaft als eine politische Assoziation gegen jedes illiberale Prinzip auftrete“.71 Damit nahmen sie für sich die Bezeichnung „liberal“ in Anspruch. In der politischen Diskussion nach 1830 diente der Liberalismusbegriff allgemein dazu, kämpferisch und bewusst die Lager in Fortschrittsfreunde und -gegner zu trennen und die Opposition unter einem gemeinsamen politischen Schlagwort zu sammeln.72 Indem sich die Burschenschaft zum Liberalismus bekannte, trat sie nicht nur erklärtermaßen in das Feld der politischen Auseinandersetzung ein, sie verband damit auch die ausdrückliche Schlussfolgerung, dass es unter dem Vorzeichen dieses politischen Leitbegriffes eine Besonderheit und also auch Exklusivität studentischer Kultur und nur indirekt politischer, wissenschaftlich-moralischer Wirkungsweise nicht mehr geben könne.73 Ähnliche Bedeutung kommt der Selbstbezeichnung der Burschenschaft als „politischer Assoziation“ zu; denn damit erklärte sich die Burschenschaft unter Verzicht auf alle Relikte quasiständischer „studentischer Freiheit“ zu einem Bestandteil der allgemeinen politischen Vereinsbewegung, in der sich – vorläufig noch durch das Verbot politischer Vereine retardiert – die Verfestigung der oppositionellen politischen Strömungen zu modernen Parteien vorbereitete. Zugleich identifizierte sich die Burschenschaft mit der emphatischen politischen Fortschrittserwartung, die der Assoziationsbegriff im vormärzlichen Deutschland aussagte und die ihn bis 1848 zu einem der politisch-gesellschaftlichen Schlüsselbegriffe aufsteigen ließ. Im Zuge dieser Selbstzuordnung der Burschenschaft zur allgemeinen vormärzlichen Bewegungspartei kam es seit Ende 1830 auch außerhalb des Preßvereins zu verschiedenen Anläufen, Studenten und Bürgerschaft zusammenzuführen. An erster Stelle sind hier die Versuche zu nennen, die Kontakte zwischen studentischer Aktivitas und Altburschenschaftlern, dem „Philisterium“, zu vertiefen und zu ver71 Zit. nach Heer, S. 237. 72 Vgl. R. Vierhaus, Art. „Liberalismus“, in: O. Brunner, W. Conze, R. Koselleck (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 3, Stuttgart 1982, S. 766, sowie D. Langewiesche, Europa zwischen Restauration und Revolution 1815–1849, München 1985, S. 128 f. 73 Zu den studentischen Lebensformen vgl. W. Hardtwig, Emotion und Disziplin. Sozialverhalten und Wertewandel der jugendlichen Bildungsschicht im Übergang zur bürgerlichen Gesellschaft (17.–19. Jahrhundert), in diesem Band, S. 33 ff.

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festigen und so die aus der Universität Ausgeschiedenen zu verstärkten politischem Engagement zu mobilisieren. Dieser Gedanke hatte bereits Follens Konzeption sich ergänzender Jünglings- und Männerbünde 1821–1824 zugrunde gelegen, war aber bei der rigorosen Handhabung des Verbindungsverbots und dem allgemeinen Erlahmen der politischen Bewegung in den 20er Jahren nicht durchzuführen gewesen. In ihrem Programmvorstoß vom Anfang des Jahres 1831 schlug die Jenaer Burschenschaft neben verstärkter publizistischer Tätigkeit die Gründung von Philistervereinen vor74 – die konsequente Übertragung eines in der aufklärerischen studentischen Reformbewegung entwickelten Gedankens, des „Lebensprinzips“75, auf die Ebene der politischen Agitation. Eigene Philistervereine sind allerdings – soweit erkennbar – nicht mehr entstanden, doch verstärken sich die informellen Kontakte mit „Philistern“.76 Auch sonst machte das traditionell gespannte Verhältnis von Studenten- und Bürgerschaft einer neuen Gemeinsamkeit Platz. Mehrfach sind generationenspezifische Verbrüderungen zwischen Studenten und Nichtstudenten belegt. In München entstand 1832 ein Klub aus Freistudenten und Beamten; er veranstaltete geschlossene Zusammenkünfte, auf denen neben Verfassungs- auch Strategiefragen diskutiert wurden, so vor allem, wie die politische Agitation von der Stadt aus auch aufs flache Land ausgedehnt werden könne.77 Noch weiter gingen einzelne Bestrebungen, die Burschenschaft als eigenständige Organisation überhaupt aufzulösen und stattdessen politische Klubs aus Studenten, Philistern und Bürgern zu gründen. Im Frühjahr 1832 warb die Münchner Germania für dieses Konzept bei den Burschenschaften in Tübingen, Erlangen und Würzburg. Tübingen als geschäftsführende Burschenschaft im Verband lehnte es allerdings ab.78 In Würzburg scheinen sich die Burschenschafter in Bürgergesellschaften engagiert zu haben, im September 1832 diskutierten sie den Plan, einen politischen Klub zu bilden, der im Oktober auch tatsächlich gegründet worden zu sein scheint, wenngleich sich die Burschenschaft dabei nicht vollständig auflöste.79 Zweifellos hätte sich die Zusammenarbeit zwischen bürgerlicher Vereinsbewegung und Burschenschaft noch intensiviert und die Exklusivität des studentischen Lebens weiter abgeflacht, wäre diese ganze Entwicklung nicht durch die verschärfte Verbotspraxis seit den Bundesbeschlüssen und insbesondere nach dem Frankfurter Wachensturm völlig unterbunden worden. 5. Das politische Fest. Am Anfang dieser politischen Organisationsform in Deutschland steht Ernst Moritz Arndts Programmschrift für die Gründung natio74 75 76 77 78 79

Heer, S. 226. Vgl. Hardtwig, Studenentschaft und Aufklärung (wie Anm. 3). Heer, S. 227. Pölnitz, Die deutsche Einheits- und Freiheitsbewegung (wie Anm. 59), S. 57. Heer, S. 270. Heer, S. 270; die offiziöse Darstellung von Ilse betont dazu, dass diese „politischen Clubs“ die „unterscheidenden Merkmale eigentlicher Studentenverbindungen verloren“ hätten, eine Entwicklung, die sich nach dem Wachensturm dann fortsetzte, vgl. L. Fr. Ilse, Geschichte der politischen Untersuchungen, welche durch die neben der Bundesversammlung errichteten Commissionen, der Central-Untersuchungs-Commission zu Mainz und der Bundes-Central-Behörde zu Frankfurt in den Jahren 1819 bis 1827 und 1833 bis 1842 geführt sind, Frankfurt 1860, S. 368 f.

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nalpolitischer Vereine, „Entwurf einer teutschen Gesellschaft“; hier arbeitete er die Möglichkeiten der Information, der Agitation und der Verfestigung von politischer Gesinnung und Gruppenkohärenz heraus, die das politische Fest bot.80 Dementsprechend planten die im Anschluss an Arndts Entwurf entstandenen „Deutschen Gesellschaften“ in Idstein, Kreuznach, Wiesbaden, Butzbach, Langen-Schwalbach, Gießen und Heidelberg bereits 1815 politische Feste zum Jahrestag der Leipziger Völkerschlacht. Laut Hauptbericht sollte damit „das erste Beispiel eines anscheinend von dem Volke ausgegangenen, ohne Mitwirkung, ja selbst gegen den Willen der Regierungen gefeierten Festes gegeben werden“.81 Die mobilisierende und integrierende Wirkung der Wartburgfeier, der ersten und epochemachenden politischen Demonstration dieser Art in Deutschland, bei der sich die „Nation“ selbständig und unabhängig von staatlicher Sanktion äußerte, schlug sich in der Gründung der „Allgemeinen deutschen Burschenschaft“ am Jahrestag der Wartburgfeier in Jena nieder.82 1820/21 wurde im ‚Sympathisantenkreis‘ Karl Follens über das politische Fest als Mittel diskutiert, eine in verschiedene Lesegesellschaften verstreute Anhängerschaft jedes Jahr einmal zusammenzuführen.83 Seine eigentliche Blütezeit erlebte das politische Fest aber in der von der Julirevolution ausgelösten Massenunruhe bis zum Ende des Jahres 1832 mit dem Kulminationspunkt im Hambacher Fest. Diese Feste stellten das wichtigste und wirksamste Mittel dar, die verschiedenen bildungsbürgerlichen, gewerbe- bzw. kleinbürgerlichen und zum Teil auch bäuerlichen Gruppen der Opposition zusammenzuführen, die Unzufriedenheit und ihre jeweiligen Gründe zu artikulieren, politische und soziale Forderungen aufzustellen, sich der Gemeinsamkeit im Zeichen dieser Forderungen zu vergewissern und sie nach außen massen- und werbewirksam zu vertreten.84 Im Frühjahr und Sommer 1832 partizipierten die Burschenschaften an der vom Preßverein ausgelösten Festbewegung. Ihr Schwerpunkt lag vor allem in Baden mit Ausstrahlung nach Hessen-Darmstadt und Kurhessen, Bayern und Württemberg. Die Hauptvertreter der Heidelberger Germania, Brüggemann und Köhler, hielten Ansprachen auf dem Pressefreiheitsfest am 1. 3. 1832 in Heidelberg, beim „Fest der freien Presse“ am 1. 4. 1832 in Weinheim und beim Volksfest in Wilhelmsbad bei Hanau am 22. Juni 1832. Zum Volksfest auf dem Ottilienberg bei Freiburg am 27. Mai 1832 hatte die Freiburger Germania selbst eingeladen, hier praktizierten die Studenten auch ein weiteres der vom Preßverein in der rheinpfälzischen Bewegung 1832 entwickelten Protestmittel: die Sammlung von Unterschriften als Ferment des Zusammenhalts zwischen den Opponenten und als öffentliche Bekundung

80 In: Ernst Moritz Arndt, Ausgewählte Werke (wie Anm. 20), Bd. 13, 1908, S. 250 ff. 81 Hauptbericht, S. 23. 82 Vgl. dazu noch immer E. R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. I, 2. Aufl. Stuttgart 1967, S. 711 ff. 83 Hauptbericht, S. 153 ff. 84 Zur Sonderform des politischen Festessens vgl. W. Schieder, Der Rheinpfälzische Liberalismus von 1832 als politische Protestbewegung, in: H. Berding u.a. (Hg.), Vom Staat des Ancien Régime zum modernen Parteienstaat, Fs. f. Th. Schieder, Wien 1978, S. 178 ff.

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der Unzufriedenheit.85 Der Tenor der Reden verließ zumindest bei den Vertretern der Burschenschaften den Boden liberal-konstitutioneller Forderungen und näherte sich jetzt direkter Umsturzagitation an. Beim Wilhelmsbader Fest Ende Juni 1832 rief Brüggemann vor 8 000 bis 10 000 Zuhörern zunächst zum Eintritt in den Preßverein auf, dann aber auch zur Steuerverweigerung und zur Anschaffung von Waffen.86 Bei einer gemeinsamen Versammlung von Bürgern und Studenten am 8. Juli 1832 in der Nähe von Reichenbach bei Würzburg wurden die Bauern aufgefordert, Gülten und Zehnten zu verweigern. Bei einem Volksfest im Guttenberger Wald am 8. August 1832 erklärte der Würzburger Burschenschafter Hoffbauer, Deutschland könne nur auf dem Weg des Umsturzes frei werden.87 Mit dem Abflachen der politischen Bewegung im Anschluss an das Maßnahmengesetz des deutschen Bundes am 5. Juli 1832 verlor dann die germanische Richtung der Burschenschaft naturgemäß diese Basis für weitere massenwirksame politische Agitation. 6. Die Verflechtung mit der Kammeropposition. Während die Mitarbeit im latent (Polenvereine) und offen (Preßverein) politischen Vereinswesen vor allem das Zusammenwirken von burschenschaftlichem Radikalismus und außerparlamentarischer Opposition förderte – die allerdings über die Gründung des Preßvereins ihrerseits mit der radikalen Kammeropposition verbunden war – stellten sich die Burschenschaften daneben auch verstärkt auf die Kammern als Organe und Instrumente ein, mit deren Hilfe sie ihre eigenen Ziele voranbringen konnten. Auch hier ging, ähnlich wie bei der Publizistik, der Kreis der Darmstädter „Schwarzen“ in Verbindung mit Karl Follen und den Gießener „Unbedingten“ voran. Im Frühjahr 1817 verfolgte er zuerst das Projekt einer gesamtdeutschen Adressenbewegung zur Einrichtung einer Volksvertretung beim Bundestag.88 Zu diesem Zweck wurden u.a. Arndt in Bonn, Görres in Koblenz, Jahn in Berlin, Gottlieb Welcker in Göttingen, Carl Welcker in Heidelberg, die Brüder Snell im Nassauischen angeschrieben. Im Herbst 1817 veränderte man den Plan: gefordert werden sollte jetzt die Durchführung des Artikels 13 der Bundesverfassung, also die Einführung einer repräsentativen landständischen Verfassung in allen deutschen Staaten. Die Federführung übernahm hierbei ein standesherrlicher Beamter, der Justizkanzleirat Ferdinand Karl Heinrich Beck (1789–1862), der offenkundig durch seine Teilnahme an der Wartburgfeier motiviert worden war und später nicht mehr hervortrat.89 Beck sammelte immerhin 800 bis 1000 Unterschriften, stellte den Kontakt zu den Führern der späteren bayerischen Kammeropposition, Behr in Würzburg und Hornthal in Bamberg, her90 und überreichte die Petition selbst in Frankfurt, wo er vom österreichischen Bundesgesandten Graf Buol empfangen wurde. Aus der Sicht der Zentral-Untersuchungskommission verdiente diese „Nati85 86 87 88 89

Heer, S. 266, vgl. W. Schieder, Der Rheinpfälzische Liberalismus (wie Anm. 84), S. 181 ff. Heer, S. 246. Heer, S. 272. Hauptbericht, S. 44 f. Vgl. Hauptbericht, S. 46, dazu Büttner, Die Anfänge des Parlamentarismus (wie Anm. 49), S. 7 ff. 90 Hauptbericht, S. 46, 69; die Zahlenangabe nach Büttner, S. 7; nach der im Hauptbericht zitierten Angabe von Beck waren es circa 2 000 Unterschriften.

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onaladresse“ deshalb „vorzügliche Beachtung“, weil sie die erste derartige „über den Umfang von ganz Deutschland verbreitete“ Unternehmung gewesen sei, das „Selbstvertrauen“ der „Demagogen“ gestärkt und die Infrastruktur ihrer Bekanntschaften erweitert habe.91 Tatsächlich scheint Joseph Görres für seine Adresse im Rahmen der rheinischen Adressenbewegung im Herbst 1817 die Anregung der „Schwarzen“ wie auch die für die „Nationaladresse“ gesammelten Unterschriften verwendet zu haben.92 Danach konzentrierten sich die „Schwarzen“ in richtiger Einschätzung ihrer Agitationschancen auf die hessische Landespolitik und trieben die hessische Verfassungsbewegung mit Adressen und Unterschriftensammlungen voran. Am 24. August 1818 wurde eine von ihnen initiierte Adresse mit der Bitte um vertragsmäßige Einführung einer Repräsentativverfassung übergeben. Durch die Konzentration auf einen überschaubaren Wirkungskreis, durch das Eingehen auf die sozialen Ursachen der bürgerlichen und bäuerlichen Bewegung gelang es den „Schwarzen“ vor allem bis zum Edikt vom 18. März 1820, das eine landständische Verfassung für das Großherzogtum schuf, sich eine geachtete und volkstümliche Stellung im antietatistischen und antibürokratischen Protest der Bevölkerungsmasse zu sichern. Danach wurden vor allem Karl Heinrich Hofmanns Aktivitäten durch die polizeiliche Überwachung weitgehend lahm gelegt. Der Anwaltszwang für Eingaben an die Regierung erleichterte den „Schwarzen“ die Arbeit. Die konsequente Berufung auf Rechtspositionen verlieh ihnen zusätzliches Ansehen. Die Bewegung kulminierte in der von den „Schwarzen“ getragenen und organisierten Steuerverweigerungskampagne, die in Oberhessen und Starkenburg tatsächlich zum Steuerstreik führte.93 Die Aktionen der „Schwarzen“ gewannen noch verstärktes Gewicht, weil sie institutionellen Rückhalt in den Gemeindevertretungen fanden. Der Plan der Regierung, das überhandnehmende Problem der Gemeindeverschuldung durch eine zentrale Schuldentilgungsanstalt mit bevorrechtigter Stellung gegenüber den Gemeindevermögen zu lösen, brachte einen bis an den Rand des zivilen Ungehorsams heranführenden Protest der Kommunen in Gang. Zwischen dem 23. August 1818 und dem 1. April 1819 organisierten die „Schwarzen“ eine Reihe von Versammlungen mit Schwerpunkt in Oberhessen, bis die Regierung dieses Versammlungswesen per Verordnung verbot. Dabei wurden Petitionen verfasst, auf denen die „Schwarzen“ auch zielstrebig politische Lieder von Theodor Körner und Karl Follen unters Volk brachten, z.B. „Brüder, so kann‘s nicht gehen“, aus dem ‚Großen Gedicht‘ der Gießener „Unbedingten“; das Lied ist laut Hauptbericht „sogar in Michelstadt selbst – dem Sitz des standesherrlichen Amtes und der Justizcanzlei – häufig auf den Straßen von Bauernburschen gesungen worden“.94 Zwar sind nicht die eigentlich studentischen Vereine die Hauptinitiatoren dieser populären, sozialö91 Hauptbericht, S. 46 f. 92 Hauptbericht, S. 60; zur rheinischen Adressenbewegung vgl. Karl-Georg Faber, Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert, Restauration und Revolution. Von 1815–1851, Wiesbaden 1979, S. 119 f.; dort weitere Literatur. 93 Hauptbericht, S. 113 ff. 94 Hauptbericht, S. 114.

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konomisch bedingten und durch Verwaltungsmissstände unterstützten sozialen Protest- und politischen Verfassungsbewegung, aber die ursprünglichen Impulse stammten doch aus den Anfängen der „Schwarzen“ in der Gießener und Heidelberger Burschenschaft; darüber hinaus leisteten die Gießener „Unbedingten“ unter Leitung von Karl Follen Hilfsdienste wie das Abschreiben von Texten und das Sammeln von Unterschriften.95 Die ganze Agitation wurde systematisch ergänzt durch eine bewusst volkstümliche Publizistik. Vor allem der von dem ehemaligen Mitglied der Gießener „Teutschen Lesegesellschaft“, Wilhelm Schulz, herausgegebene politische Katechismus mit dem Titel „Frag- und Antwortbüchlein über Allerlei, was im Deutschen Vaterlande besonders Noth thut. Für den Deutschen Bürgers- und Bauersmann“ nahm bereits Georg Büchners Prinzip vorweg, die Realität des bäuerlichen Lebens präzis und leicht fasslich zu schildern und durch Bibelzitate und bibelnahe Sprache an die noch religiös geprägte Vorstellungskraft der Adressaten zu appellieren.96 Der Hauptbericht hebt hervor, die Broschüre sei „ganz eigentlich auf die untersten Klassen des Volkes berechnet“, die Sprache „fasslich und gedrängt, aber belebt durch Erinnerungen und Bilder aus dem Volksleben“, die Regierenden würden als „Vornehme und Reiche“ dargestellt, „welche von dem Elende des verachteten, unterdrückten und mißhandelten Bürger- und Bauernstandes schwelgen“ etc. Die Schrift wurde in zwei Auflagen von insgesamt 3 500 Exemplaren verbreitet, entweder durch Versendung an Sympathisanten, verbunden mit anonymen Instruktionen über die Art der weiteren Verbreitung, oder durch Hinterlegung der Broschüren in Posthäusern oder Gaststuben durch die Schwarzen selbst, oder vereinzelt sogar durch offizielle Verteilung in den Gemeindeversammlungen; schließlich lancierten die „Schwarzen“ auch Teilabdrucke in öffentlichen Blättern.97 Die von den „Schwarzen“ eingeleitete Entwicklung, die Verschmelzung des jugendlichen und speziell des studentischen Protests gegen die Stagnation nationaler Einigungsansätze und gegen die spätabsolutistische Verfassung der Einzelstaaten mit einer sozialökonomisch und von Verwaltungsmissständen bedingten breiten bäuerlich-bürgerlichen Opposition, brach mit den Karlsbader Beschlüssen ab. Nach der Julirevolution bildeten sich aber sofort wieder Formen der Kommunikation und der Zusammenarbeit zwischen Burschenschaften und „ständischer“ Opposition heraus. Sie unterscheiden sich jeweils nach Anlass und Zielsetzung, bedeuten in der Konsequenz aber immer eine Stärkung der liberalen Kammeropposition, indem sie deren Forderungen im außerparlamentarischen Raum vertraten. Der wichtigste Fall einer solchen Kooperation, die allerdings noch bei der Herstellung einer Gesinnungsgemeinschaft stehen blieb und noch nicht zu konkreten Formen der Zusammenarbeit führte, entwickelte sich in München aus dem Nebeneinander von – zumindest anfangs – eher konventionellen studentischen Tumulten und der Zuspitzung der sogenannten „Kammerkämpfe“ seit dem Dezember 1830. Nach den Unruhen in München im Dezember 1830 machten einzelne Vertreter der 95 Hauptbericht, S. 113 ff. 96 Zu Schultz vgl. Büttner, Die Anfänge des Parlamentarismus (wie Anm. 49), S. 15 ff. 97 Hauptbericht, S. 95.

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Kammeropposition die rigorose Politik Ludwigs I. gegenüber den Studenten zum Gegenstand heftiger Landtagsdebatten. Zu der von der Germania veranstalteten Waterloo-Feier im Sommer 1831 erschien mit den Abgeordneten Seuffert, Culmann, Eisenmann, von Closen die Prominenz des frondierenden Landtages, dessen Auflösung durch Ludwig I. am 29. 12. 1831 die rheinpfälzische Protestbewegung in Gang setzte.98 Unter dem Vorzeichen gemeinsamer Opposition gegen die Beschränkung der politischen Öffentlichkeit trat von Closen im Landtag für die Freiheit studentischer Meinungsäußerung und Organisation ein und protestierte gegen die Verhaftungen von Studenten. Umgekehrt bekundete in Baden die Heidelberger und Freiburger Studentenschaft öffentlich ihre Solidarität mit der Landtagsopposition. Die Gründer der Freiburger Burschenschaft, Bader und Obermüller, beteiligten sich an der Organisation des festlichen Empfanges für die Abgeordneten und Professoren Duttlinger, Welcker und Rotteck bei ihrer Rückkehr vom Landtag am 10. und 11. Dezember 1831. Bader bewegte zudem eine Studentenversammlung zu einer Dankkundgebung an die Landstände.99 Brüggemann erklärte in seiner Rede auf dem Weinheimer Pressefest, die Jugend sei für die Volksfreiheit engagiert, es seien aber „unbeugsame Männer“ nötig wie die Abgeordneten der Volkskammer, die in Baden die Pressefreiheit erkämpft hätten.100 Im Herbst 1832 beteiligte sich die Tübinger Burschenschaft dann energisch an der Wahlbewegung für den württembergischen Landtag. Wo es noch keine Repräsentativverfassung gab, wie in Schleswig-Holstein, setzte sich die Studentenschaft in einer Eingabe an den Senat der Universität Kiel dafür ein, eine Volksvertretung zu schaffen.101 Eine Form der Integration in die Opposition des Kammerliberalismus war es auch, wenn die Burschenschafter in den frühkonstitutionellen Staaten verschiedentlich Protestschreiben gegen die Bundesbeschlüsse vom 5. Juli 1832 an die zweiten Kammern adressierten.102 Besondere Bedeutung gewann die Verflechtung von burschenschaftlicher und Kammeropposition in Kurhessen. Sie lief hier allerdings im Wesentlichen über eine Person, den Führer der liberalen Opposition, Sylvester Jordan. Er riet der Marburger Burschenschaft auf deren Anfrage ab, nach der Gewährung der Verfassung am 5. 1. 1831 die Regierung um die Genehmigung für eine gesamtstudentische Verbindung zu ersuchen: die Behörden würden dadurch nur auf die bestehenden – verbotenen – Korporationen aufmerksam gemacht.103 Einer der Initiatoren des Frankfurter Wachensturmes, Gustav Körner, hat Jordan Ende Februar 1833 in die Aufstandspläne eingeweiht und scheint von ihm die Zusicherung erhalten zu haben, dass im Falle einer – absehbaren – Landtagsauflösung eine breite Mehrheit der Bevölkerung sich an einer Volkserhebung beteiligen werde.104

98 99 100 101 102 103 104

Pölnitz, Die deutsche Einheits- und Freiheitsbewegung (wie Anm. 59), S. 49. Heer, S. 266. Heer, S. 244. 14. 12. 1830; die Eingabe war von 102 Studenten unterzeichnet, vgl. Heer, S. 281. Heer, S. 290. Heer, S. 233. Heer, S. 292 f.

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7. Studentischer Tumult und politischer Protest. Das Ausleben der studentischen Freiheit hatte in der Frühen Neuzeit immer wieder zu heftigen Auseinandersetzungen mit der universitätsstädtischen Bürgerschaft, mit Handwerksgesellen und mit dem Militär geführt. Selbst nach 1789, beispielsweise bei den lang dauernden Jenaer Unruhen vom Sommer 1792, ging es dabei aber noch fast ausschließlich um das Ausleben jugendlicher Aggressivität; politische Implikationen spielten bis dahin überhaupt keine und seitdem allenfalls eine sehr vermittelte Rolle.105 Im Zuge der burschenschaftlichen Selbstdisziplinierungs- und Gesittungsbewegung seit 1815 waren die Tumulte überhaupt stark zurückgegangen. Im Gefolge der Julirevolution 1832 traten dagegen die traditionellen Formen studentischer Provokation und Unmutsäußerung in den Formen des Tumultes wieder vermehrt auf – allerdings jetzt aus Anlässen, die vom Herkommen abwichen, mit vermehrten ausdrücklich politischen Willensbekundungen und mit einer ganz neuen Verflechtung mit den Äußerungen bürgerlichen Protests. Unter den Bedingungen der nicht zur Entfaltung gekommenen Revolutionsbewegung in Deutschland nahmen sich jetzt auch konventionelle studentische Tumulte für die Regierungen bedrohlich aus. Wenn bereits in den 1790er Jahren weitgehend unpolitische Tumulte als Äußerungen des neuen revolutionären Geistes interpretiert wurden,106 so erst recht nach der Julirevolution. Vergleichsweise harmlos, aber doch schon im Rahmen dieser neuen – politischen – Konstellation liefen die Jenaer Unruhen vom September 1830 ab. An ihnen waren Bürger und Studenten beteiligt. Das Militär machte ihnen ein rasches Ende, nachdem ein Gartenhäuschen angezündet, Fenster eingeworfen und Studenten aus dem Karzer befreit worden waren. Die gegenüber der Tradition studentischer Exklusivität und Bürgerprovozierung neue Solidarität von Studenten und Bürgern führte nach dem gemeinsamen Tumultuieren auch noch dazu, dass einige Germanen eine Beschwerdeschrift an die Regierung aufsetzten, in der sie die Freilassung der inhaftierten Bürger forderten.107 An der Jahreswende 1832/33 stürmte – wiederum in Jena – ein Studententrupp im Anschluss an die Ausschreitung einiger Germanen das Rathaus, in das sich Polizisten und Pedelle geflüchtet hatten. Dem Ereignis kam jetzt schon erheblicher politischer Symbolwert zu, obgleich sich Anlass und Verlauf der Zwischenfälle durchaus in konventionellen Bahnen bewegten. Im Laufe des Januars und Februars 1833 entwickelten sich mehrfach heftige Schlägereien zwischen Studenten und Polizei; der Aufruhr endete schließlich mit einer Massenflucht der von Relegation bedrohten Studenten und der Selbstauflösung der Germania. Eine ganz neue politische Dimension gewann der studentische Tumult in München und in Göttingen. Diffuse Unzufriedenheit und übertriebenes Eingreifen der Polizei hatten in der Weihnachtsnacht 1830 in München aus nichtigem Anlass, einer Katzenmusik für den unbeliebten Prorektor, zu einer bis dahin unbekannten 105 Vgl. z.B. Actenmäßige Nachricht über die seit dem roten Junius 1792 auf der Academie zu Jena vorgefallenen Unruhen, Weimar 1792. 106 Vgl. dazu Hardtwig, Studentenschaft und Aufklärung (wie Anm. 3). 107 Die Absendung des Protestschreibens wurde dann allerdings durch den Widerspruch der Arminen verhindert, vgl. Heer, S. 192.

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Eskalation von Provokation und behördlicher Überreaktion geführt. Die Münchner Bürgerschaft ergriff in der Konfrontation von Burschenschaft und Polizei Partei auf der Seite der Studenten – vor dem Hintergrund der herkömmlichen Spannung zwischen Bürgerschaft und tumultuierenden Studenten ein für die Regierung erschreckender Vorgang. In ihm äußerte sich der aufgestaute bürgerliche Unwille gegen die freiheitsbeschränkende Bevormundung durch den vormärzlichen Obrigkeitsstaat. Der ursprüngliche und an sich altgewohnte studentische Unfug löste anhaltende Bürgertumulte aus, an denen sich dann wiederum Studenten beteiligten. Auf Seiten der staatlichen Organe selbst wurden Spannungen deutlich, als die Justiz die circa 60 Verhafteten, darunter 20 Germanen, am 31. 3. 1831 zum Ärger des Königs freisprach. Die Diskussion über die ursprünglichen Vorgänge veranlasste Ludwig am 28. 1. 1831 zur Verschärfung der Pressezensur, die dann zum Protest des Landtages führte. Die Münchner Germania hatte in der gespannten Lage nach der Julirevolution den innenpolitischen Kurswechsel Ludwigs I. und in dessen Folge die erbitterten Kämpfe in der 2. Kammer bis zur Landtagsauflösung im Dezember 1831 ausgelöst.108 Noch sehr viel mehr als in München näherte sich der studentische Tumult beim Göttinger Rathaussturm am 9. 1. 1832 einer gezielten und planvoll durchgeführten, politisch motivierten Aktion an, bei der von Beginn an Studenten und Bürger gleichermaßen beteiligt waren. Auf studentischer Seite gab den Anlass zum Aufruhr die Befreiung eines wegen freizügiger Reden verhafteten Arminen durch 300 bis 400 Studenten am 3. 12. 1830; in charakteristischer Weise verbindet sich hier ein gewohntes Verhaltensschema – Befreiung eines Kommilitonen – mit einem neuen politischen Delikt. Zu bürgerlichen Unruhen kam es zunächst in Osterrode, wo sich am 5. Januar 1831 unter der Leitung des Advokaten Dr. Freytag ein neuer Gemeinderat und eine Kommunalgarde bildeten. Ein Flugblatt forderte – keineswegs revolutionär – ein gemeinsames Vorgehen von Stadt und Land, um dem König und seinem Stellvertreter die Probleme des Landes nahe zu bringen. Es handelte sich also im Grund nur um eine radikalisierte Form der Beschwerde, die dem König selbst keineswegs die Loyalität aufkündigte. Am 9. Januar 1831 folgte in Göttingen ein ganz ähnlicher Aufruf, der allerdings inhaltlich weiter ging, indem er eine „aus allen Klassen des Volkes frei gewählte Ständeversammlung“ und eine „vollkommen freie Verfassung“ verlangte.109 Aber auch hier sprengte der Aufruf nicht die Form einer Petition an den König. Die Führung des politischen Protestes lag in Göttingen bei den Advokaten Seidensticker und Eggeling und den Privatdozenten Heinrich Ahrens, Hermann von Rauschenplatt und Theodor Schuster. Seidensticker, Eggeling und Ahrens waren ehemalige Burschenschafter, Rauschenplatt und Schuster 108 Vgl. dazu Pölnitz, Die deutsche Einheits- und Freiheitsbewegung (wie Anm. 59), S. 45 ff.; Max Spindler, Die Regierungszeit Ludwigs I. (1825–1848), in: ders. (Hg.), Bayerische Geschichte im 19. und 20. Jahrhundert 1800 bis 1970, Teilband 1, Sonderausgabe München 1978, S. 149 ff.; W. Schieder, Der Rheinpfälzische Liberalismus (wie Anm. 84), S. 174 ff. 109 Vgl. dazu Kh. Kolb, J. Teiwes, Beiträge zur politischen, Sozial- und Rechtsgeschichte der Hannoverschen Ständeversammlung von 1814–1833 und 1833–1849, Hildesheim 1977, S. 66 ff.; zur Bewertung vgl. auch E. R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. 11, 2. Aufl., Stuttgart 1975, S. 67 f.

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ehemalige Korpsstudenten. Der Magistrat wurde abgesetzt, ein revolutionärer, aus Bürgern und Studenten bestehender Gemeinderat übernahm das Regiment. Bürgerwehr und bewaffnete Studentenschaft besetzten die Wachen. Am 16. Januar rückte Militär ein, die Anführer flüchteten. Was das Ausmaß der Erhebung angeht, so handelte es sich zunächst um ein rein lokales Ereignis. Im Vergleich zu den Münchner Unruhen fällt indessen die engere Verflechtung von studentischem und bildungsbürgerlich-gewerbebürgerlichem Protest ins Auge. Sie ist bedingt durch die Kombination der ihrerseits politisch akzentuierten studentischen Tumulttradition mit der politischen Unzufriedenheit in dem noch altständisch verfassten Königreich Hannover, das im Vergleich zum frühkonstitutionellen Bayern noch weniger Möglichkeiten bot, Beschwerden unmittelbar an Monarch und Regierung heranzutragen. Die Wirkung sprengte schließlich den lokalen Rahmen, indem sie im ganzen Land eine breite Protestwelle freisetzte. Im Kabinettsministerium gingen 80 Petitionen aus allen großen Städten und zahlreichen kleineren Orten ein mit jeweils sehr ähnlichen Wunschkatalogen: Verfassung mit gleichen staatsbürgerlichen Rechten, Gleichheit vor dem Gesetz, freie Berufswahl, Sicherung der persönlichen Freiheitsrechte, Ablösbarkeit der Zehnten etc. Ähnlich wie im Fall Bayerns gab die Verbindung von studentischem und bürgerlichem Protest den Anstoß zu einem durchgreifenden innenpolitischen Kurswechsel, im Fall Hannovers zum Rücktritt des leitenden Ministers Graf Münster am 12. 2. 1831 und zum Erlass einer konstitutionellen Verfassung am 26. 9. 1833. Schließlich stellte der Frankfurter Wachensturm vom 3. 4. 1833 einen wirklichen Aufstandsversuch dar, dessen Ernsthaftigkeit nicht unterschätzt werden sollte. In der Tat war hier die Putschplanung – wie immer wieder betont worden ist – im Einzelnen völlig unzulänglich, die Frage der künftigen Verfassung ungeklärt und die Erwartung in die Bereitschaft der Bevölkerung zum Ungehorsam höchst übertrieben. Bei der Bewertung ist aber andererseits doch auch zu berücksichtigen, wie weit sich die beteiligten Studenten hier von der jahrhundertealten, festgefügten und bei der überwiegenden Mehrheit der Studenten ja noch tief verwurzelten Tradition einer exklusiven unpolitischen Jugendkultur gelöst hatten. Vor dem Hintergrund dieser Macht der herkömmlichen studentischen Sitte gesehen, belegt der Putschversuch ein vergleichsweise hohes Maß an politischer Bewusstheit, praktisch-politischer Zielstrebigkeit und selbst konkreter Planung; schließlich erscheint auch der Glaube an eine verbreitete Revolutionsbereitschaft der Bevölkerung nicht als völlig unrealistisch. Es war gelungen, wenn auch in sehr kleinem Umfang, in der revolutionären Aktion die Einheit von „Philistertum“ und Aktivitas herzustellen, die seit 1820 immer wieder gefordert worden war. Bei den Organisatoren des Wachensturmes, den Brüdern Georg und Gustav Bunsen, den Advokaten Franz Gärth und Gustav Körner handelt es sich um ehemalige Burschenschafter. Körner war Vorsteher der Münchner Germania während der Dezemberunruhen 1830 gewesen.110 Durch die Mitgliedschaft zahlreicher Germanen in den Preßvereinssektionen der Universitätsstädte war ein enger Anschluss der politisch aktiven Studen110 Vgl. die Liste der Teilnehmer am Wachensturm bei Heer, S. 296 f.

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tenschaft an die überregional organisierte liberal-demokratische Opposition hergestellt worden. Zwei Mitglieder des Frankfurter Zentralkomitees des Preßvereins, die Advokaten Jucho und Gärth, waren zumindest in die Vorbereitung des Wachensturmes verwickelt, ohne dass sie sich dann am Aufruhr selbst beteiligt hätten. Es wurde allerdings nachgewiesen, dass darüber hinaus keine direkte Verbindung zwischen Preßverein und Umsturzvorbereitung bestanden hat, „weder über die Organisation noch über die unmittelbaren Akteure“; die Verbindung lag vielmehr „im Vorfeld und Hintergrund des Unternehmens“.111 Aber Preßverein und Burschenschaften gingen in den Zielen des Aufstandes weitgehend einig, mit den Preßvereinsmitgliedern stand immerhin ein ‚Sympathisanten‘-Umfeld bereit, mit dessen Hilfe nach dem gescheiterten Putsch die meisten Beteiligten ins Ausland flüchten konnten. Darüber hinaus hatten sich die Führer des Aufstandes der Bereitschaft von weithin anerkannten Anführern der Parlamentsopposition vergewissert, eine allgemeine Erhebung zu unterstützen (Sylvester Jordan) bzw. sich an der geplanten provisorischen Regierung zu beteiligen (Schüler).112 In der Serie der politischen Feste des Jahres 1832 hatte durchaus der Eindruck einer latenten Revolutionsbereitschaft bei der Bevölkerungsmehrheit entstehen können. Die Teilnehmer am Göttinger Rathaussturm verbreiteten – aus ihrer Sicht nicht zu Unrecht – wie leicht ein Aufruhr in Gang zu setzen sei. Bei der Zeitplanung berücksichtigte man insofern die ständische Bewegung, als die Organisatoren die allgemeine Erregung nach der kurhessischen Landtagsauflösung am 18. März 1833 in Rechnung stellten. Tatsächlich war es hier mit der Verfassungsgebung nicht gelungen, das Land zu befrieden.113 Die Erkundigungs- und Werbereise, die Gustav Körner Ende Februar 1833 antrat, lässt erkennen, dass sehr wohl Ansätze zu einer realistischen Chancenabwägung vorhanden waren, zumindest bei den Gewährsleuten und Sympathisanten, die Körner aufsuchte. Wo in den vergangenen zwei Jahren Unruhen zumindest mit Teilerfolgen stattgefunden hatten, in Hannover (Göttingen), Sachsen (Leipzig) und Kurhessen (Kassel), wo Verfassungen erlassen und städtische Selbstverwaltungsrechte erweitert worden waren, wo das politische Gewicht des Bürgertums in kurzer Frist erheblich zugenommen hatte, wurden die Aussichten positiv beurteilt, in Orten dagegen, die von der politischen und sozialen Bewegung abgeschnitten waren oder wo die Opposition ergebnislos geblieben war, wie Coburg und Bamberg, negativ.114 Die Organisatoren des Aufstands gingen davon aus, dass das Zentrum der erhofften Massenbewegung in Hessen, Rheinbayern, Baden und Württemberg liegen werde. Gerade hier hatte die Opposition nach der Julirevolution zunächst einige wesentliche Forderungen beim Presse- und Vereinsrecht laut artikulieren und zum Teil – kurzfristig – auch durchsetzen können. Die scharfe Reaktionspolitik seit Anfang bzw. Mitte 1832 musste hier die Unzufriedenheit mit den Regierungen nur steigern. Mit 111 Foerster, Der Preß- und Vaterlandsverein (wie Anm. 52), S. 55. 112 Heer, S. 292 f. 113 Vgl. dazu Manfred Bullik, Staat und Gesellschaft im hessischen Vormärz. Wahlrecht, Wahlen und öffentliche Meinung in Kurhessen 1830–1848, Köln 1971, S. 177 ff. 114 Heer, S. 293.

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der Aufforderung zum Steuerstreik in Kurhessen wie in Bayern stellten sich die Burschenschafter zumindest sporadisch auf die sozialökonomischen Ursachen der gewerbebürgerlichen und bäuerlichen Unruhe ein. Überall hatte seit 1830 die Radikalität der Forderungen zugenommen, die Schlagworte von Republik und Volkssouveränität hatten an Zugkraft gewonnen. Die parlamentarische Opposition konnte sich auf einen breiten Rückhalt in der Bevölkerung stützen, die Aktionsformen politischen Handelns hatten sich über die Kammerdebatte hinaus zu außerparlamentarischer Organisation und direkter Aktion erweitert und damit die Schubkraft hinter den Forderungen gesteigert. Es ist daher durchaus verständlich, wenn die studentischen Aktionisten in ihrer auch altersbedingten Unerfahrenheit gegenüber der Beharrungskraft traditionaler Gesinnung und herrschaftlicher Institutionen die weit verbreitete „latente Tendenz zum zivilen Ungehorsam“115 in eine latente Revolutionsbereitschaft umdeuteten. IV Die burschenschaftliche Bewegung ist demnach mit ihrer Politisierungs- und Radikalisierungstendenz, ihren Protestformen, zum Teil mit den Strukturen der inneren Organisation, auf jeden Fall aber mit ihren Wirkungschancen eingelassen in die Entwicklung der „Bewegungspartei“ im Vormärz insgesamt. Ihre Entfaltung hängt damit in Aktion und Reaktion ab von den gesellschaftlichen, politisch-institutionellen und rechtlichen Rahmenbedingungen des liberal-oppositionellen Handelns überhaupt. Sie sah sich als spezifisch bildungsbürgerliche Bewegung aber auch schon mit Problemen konfrontiert, die aus der Ausbildung von Klassenstrukturen innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft entstanden. Dazu noch einige abschließende Beobachtungen. Es fällt auf, dass der Schwerpunkt der burschenschaftlichen Aktivitäten von Anfang an in den Staaten mit konstitutioneller Verfassung liegt, bis 1819 in Sachsen-Weimar, nach 1827 in Bayern, Baden, Württemberg, Hessen-Darmstadt und Kurhessen. Das preußische Halle dagegen, in der Entstehungsphase der Burschenschaften neben Jena, Gießen und Heidelberg eines der Hauptzentren, spielte danach keine wesentliche Rolle mehr, erst 1829 fand die dortige Studentenschaft wieder zu einer festeren burschenschaftlichen Organisation, wobei aber die Mehrheit arminisch blieb und bis 1830 den Beitritt zum Verband verweigerte. Die Breslauer Burschenschaft blieb höchst gemäßigt, lehnte den Beitritt zum Preßverein ab und polemisierte gegen die Umsturzprogrammatik des Frankfurter Burschentages; Bonn verhielt sich weitgehend unpolitisch; Berlin spielte in der Geschichte der Burschenschaft überhaupt keine Rolle. Die Gründe liegen in der rigorosen Aufsichts- und 115 Th. Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800–1866. Bürgerwelt und starker Staat, München 1983, S. 368; zum Ganzen vgl. ebd., S. 366 ff.; der Charakter der Bewegung 1830–1832 als „vergessener Revolution“ bes. hervorgehoben bei H. Volkmann, Soziale Innovation und Systemstabilität am Beispiel der Krise von 1830–1832, in: O. Neuloh (Hg.), Soziale Innovation und sozialer Konflikt, Göttingen 1977, S. 41 ff. und Reinhard Rürup, Deutschland im 19. Jahrhundert 1815–1871, Göttingen 1985, S. 147 ff.

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Verbotspraxis der preußischen Behörden. Schon für die Zeit bis zur Wartburgfeier hatte der Untersuchungsbericht registriert, dass hier nach dem Tugendbundstreit Ende 1815 im Vergleich zum südlichen Deutschland die Aktivitäten der Bewegungspartei gering gewesen seien.116 Die drakonischen Strafen, die Preußen gegen die Mitglieder des Jünglingsbundes verhängte, scheinen auch nach 1827 noch vom politischen Engagement abgeschreckt zu haben. Seit 1827 ging die Führungsrolle innerhalb der Studentenschaft schließlich ganz an die Universitäten der konstitutionellen Mittelstaaten über. Mit Unwillen registriert die kleindeutsch-nationalistische Burschenschaftshistorie, dass der Anstoß zur Neugründung des Verbandes 1827 ausgerechnet aus Würzburg kam.117 In den Jahren bis 1833 lag die Initiative dann bei München, Erlangen, Würzburg, seit 1830 zunehmend auch bei Heidelberg (mit wachsender Bedeutung Freiburgs) sowie, wenn auch nicht so ausgeprägt, bei Marburg und Gießen. Von den nördlichen Universitäten blieb Jena die aktivste. Die Gründe liegen auf der Hand: Die Lockerung der Verbotspraxis ging zunächst von Bayern aus, die ständische Bewegung in Hessen-Darmstadt 1817–20, die Kammerkämpfe und die mit ihnen verbundene erhöhte Mobilisierung der Öffentlichkeit, die gesteigerte Publizität auch durch freiere Handhabung der Zensur, die außerparlamentarische Protestbewegung in der Rheinpfalz und die anschließende Agitation des Preßvereins schufen ungleich günstigere Voraussetzungen für die Einmischung der Studentenschaft in die Politik als in Preußen oder Österreich. In der politischen Programmatik reproduziert die Burschenschaft die Vorstellungswelt der bürgerlich-liberalen, in Teilen sich auch schon zu demokratisch-republikanischen Forderungen radikalisierenden Einheits- und Freiheitsbewegung, wenn auch gebrochen durch das Medium der studentischen Sitte und Kultur. Der Gegensatz von Arminen und Germanen lässt sich mit Einschränkung auch verstehen als Gegensatz von liberal-bildungsbürgerlicher Fortschrittserwartung durch die Ausbreitung von Wissenschaft und Bildung, die notwendig zu Repräsentativverfassung, mehr bürgerlichen Freiheitsrechten und nationaler Einheit führen werde, und liberaldemokratischem Aktivismus, der sich in seinem Misstrauen gegen das Bestehende und Überlieferte nicht einer immanenten Entwicklung zu mehr Freiheit überlassen wollte. Die Nähe zum demokratischen Radikalismus, die sich unter dem bestimmenden Einfluss Karl Follens zur selben Zeit ausbreitete, als Ludwig Jahn auf eine konstitutionelle Zielsetzung einschwenkte, und die nach der Julirevolution zunehmend hervortrat, bedingt darüber hinaus auf direktem und indirektem Wege Strukturähnlichkeiten des burschenschaftlichen Radikalismus mit dem der ersten deutschen Arbeiterbewegung. Zunächst übernahmen von 1833 bis zum Ende der 30er Jahre ehemalige Anführer der Studentenschaft, Jacob Venedey (Burschenschafter) und Theodor Schuster (Korpsbursche) die Führung im Pariser „Bund der Geächteten“. Unter den identischen Bedingungen des Organisationsverbots bauten

116 Hauptbericht, S. 49. 117 Heer, S. 154 f.

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sie eine elitäre hierarchische Organisation auf, die das konspirative Grundmodell der „engeren Vereine“ übernahm und verfeinerte.118 Die strukturelle Ähnlichkeit der Organisation kann allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass die systematische Verbindung von radikaler Intelligenz und Handwerker-Arbeitern in den Emigrationsvereinen gegenüber der spezifisch studentischen Protestbewegung etwas grundsätzlich Neues darstellt. Die Burschenschaften blieben auch in der Phase ihres wachsenden Extremismus nach 1830 ganz auf dem Boden der bürgerlich-liberalen Verfassungswünsche, gesellschaftspolitisch indifferent und – in kritischen Fällen – ablehnend gegenüber allen sozialrevolutionären Tendenzen in den Volksunruhen und Massenbewegungen. Als in den Leipziger Unruhen vom September 1830 Gesellen, Lohnarbeiter des Zunfthandwerks und der Manufakturen, proletarisierte Zunftmeister, Tagelöhner und Arbeiter Wohnungen und Büros von Behördenvertretern, Industriellenvillen und Maschinen zu demolieren begannen, schloss sich die Studentenschaft der bürgerlichen Kommunalgarde an, um Ruhe und Ordnung wiederherzustellen.119 Ähnlich im Tübinger „Gogenaufstand“ vom Januar 1831. Hier lehnten sich Weingärtner und die Unterschicht der Tübinger Altstadt gegen das übertriebene Polizeiregiment in der Stadt auf. Nach einem Appell des Kanzlers der Universität, Autenrieth, der sich dabei ausdrücklich auf das Leipziger Vorbild berief, erklärten sich die Vertreter der – verbotenen – Korporationen zur Bildung einer Studentenwehr bereit; von 852 Studierenden meldeten sich mehr als 500. Als ein Regierungsvertreter nach dem Ende des Aufruhrs den Dank der Regierung zum Ausdruck brachte, nützten die Vertreter von Burschenschaft und Korps die Gelegenheit, die Assoziationsfreiheit zu fordern. In einer für den sozialen Standort der jugendlichen Bildungsschicht im Vormärz höchst aufschlussreichen Weise verbindet sich hier ein zentraler Programmpunkt des Liberalismus, der antietatistische Gedanke der Volksbewaffnung, verknüpft mit der Forderung nach Erweiterung der Organisationsfreiheit, mit der Abwehr unterbürgerlichen, primär sozial bedingten Protests.120 Auch wo einzelne burschenschaftliche Agitatoren in der politischen Festbewegung des Jahres 1832 etwa mit der Aufforderung zum Steuerstreik die bäuerlich-bürgerliche Unterschicht angesprochen hatten, war es doch immer um die Mobilisierung einer möglichst großen Anhängerschaft für die verfassungspolitischen Forderungen, nicht um soziale Ziele gegangen. Hier zeichnet sich auch im Rahmen der Politisierung der Studentenschaft das Dilemma ab, das den bürgerlichen Liberalismus seit den ersten Volksunruhen von 1830 bis zur Revolution 1848 und weit darüber hinaus verfolgen sollte: sich gegen die sozialen und politischen Emanzipationsansprüche der unterbürgerlichen Schichten zu einem Zeitpunkt wehren zu müssen, als die eigenen gesellschaftlichen und politischen Emanzipationsforderungen noch nicht erfüllt waren. 118 Vgl. dazu W. Schieder, Anfänge der deutschen Arbeiterbewegung. Die Auslandsvereine im Jahrzehnt nach der Julirevolution von 1830, Stuttgart 1930, S. 82–92, 132–139; R. Koselleck, Artikel „Bund“, in: O. Brunner, W. Conze, R. Koselleck (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 1 (1972), S. 646 ff. 119 Hartmut Zwahr, Die Konstituierung des Proletariats als Klasse. Strukturuntersuchungen über das Leipziger Proletariat während der industriellen Revolution, München 1981, S. 216 f. 120 Müth, Studentische Emanzipation und staatliche Repression (wie Anm. 42), S. 94 ff.

7. VEREIN, GESELLSCHAFT, GEHEIMGESELLSCHAFT, ASSOZIATION, GENOSSENSCHAFT. GESCHICHTLICHE GRUNDBEGRIFFE I. EINLEITUNG Das Wort ‚Verein‘ ist entstanden aus dem mittelhochdeutschen vereinen (althochdeutsch fareinen), das seit dem 12. Jahrhundert belegt ist. Es benennt seit dem 14. Jahrhundert das Verbundensein, das Übereinkommen, die Vereinigung mehrerer Gegenstände oder Personen. Der ursprüngliche Text des sogenannten „Kurvereins von Rense“ 1338 kennt das Substantiv ‚Verein‘ noch nicht, sondern spricht von dem bundnusse bzw. verbundnusse zwischen den Kurfürsten.1 Im 16. Jahrhundert kommt Verein vor als Bezeichnung für Abkommen zwischen zwei Partnern,2 für die bäuerlichen Zusammenschlüsse im Bauernkrieg 1525, für die konfessionelle Verbindung evangelischer Reichsstände im Schmalkaldischen Bund (christlicher voreine)3, aber auch für einen überkonfessionellen Zusammenschluss von Reichsfürsten4. Zum Begriff verfestigt sich das Wort erst im späten 18. Jahrhundert5. Es ist jetzt auf den Geltungsbereich des deutschen Reichsrechts festgelegt und bezeichnet – zum Teil noch in der älteren femininen Singularform – eine Verein von Churfürsten6 oder allgemeiner einen Reichsfürsten-Verein7. Es meint bis zum Ende des Alten Reichs im Kontext des Staatsrechts immer die Rechtsform der Einung bzw. des korporativen Zusammenschlusses von ständischen bzw. reichsunmittel1

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Kurverein von Rense (6. 7. 1338), abgedr. in: Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Reichsverfassung in Mittelalter und Neuzeit, hg. v. Karl Zeumer (Leipzig 1904), 155, Nr. 126; vgl. dazu Ludwig Weiland, Über die Sprache und die Texte des Kurvereins und des Weisthums von Rense, Neues Archiv der Geschichte für ältere deutsche Geschichtskunde 18 (1892), 329 ff. Hans Sachs, Der Zug Kaiser Caroli V. in Frankreich (1544), abgedr. in: Die historischen Volkslieder der Deutschen vom 13. bis 16. Jahrhundert, hg. v. Rochus W. T. v. Liliencron, Bd. 4 (Leipzig 1869), 254, über die Übereinkunft zwischen der Besatzung von St.-Dizier und Karl V. bei der Belagerung der Stadt: Des ward die stat erschrecket ganz, machten ein verein und vertrag. Philipp von Hessen an den Augsburger Rat, 1. 4. 1546, abgedr. in Briefe und Acten zur Geschichte des 16. Jahrhunderts, Bd. 1: Beiträge zur Reichsgeschichte 1546–1551, hg. v. August v. Druffel (München 1873), 8. Vgl. dazu Bernhard Sicken, Der Heidelberger Verein (1553–1556). Zugleich ein Beitrag zur Reichspolitik Herzog Christophs von Württemberg in den ersten Jahren seiner Regierung, Zeitschrift für Württembergische Landesgeschichte 32 (1973), 320 ff. Johann Christoph Adelung, Versuch eines vollständigen grammatisch-kritischen Wörterbuches der hochdeutschen Mundart, 5 Bde., Leipzig 1774–1786, Bd. 4 (1780), 1408. Johannes v. Müller, Darstellungen des Fürstenbundes (Leipzig 1787), 41. Heinrich Gottfried Scheidemantel, Repertorium des teutschen Staats- und Lehnrechts, 4 Bde., Leipzig 1782–1795, Bd. 2 (1782), 146.

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7. Verein, Gesellschaft, Geheimgesellschaft, Assoziation, Genossenschaft

baren Herrschaftsträgern8. ‚Verein‘ ist viel stärker spezialisiert als ‚Bund‘, das auch Verträge zwischen Reichsständen und nichtdeutschen Staaten bezeichnet, und ‚Assoziation‘, das Allianzen zwischen Reichsständen, zwischen auswärtigen Mächten und Reichsständen und zwischen europäischen Mächten außerhalb des Reiches benennen kann. Der Verein ist ein Zusammenschluss von Trägern genuiner Herrschaftsrechte, wobei vorzugsweise, aber nicht immer, die gemeinsame Rechtsstellung im „Stand“ vorausgesetzt wird.9 Seit Beginn der 1790er Jahre adaptiert die Terminologie der naturrechtlichen Staats- und Gesellschaftstheorie den Vereinsbegriff. Sie baut dabei auf dem reichsrechtlich-traditionalen Sprachgebrauch auf: der Freiwilligkeit beim Zusammenschluss und der Verbindung ursprünglich getrennter Kräfte, um damit einen gemeinsamen Zweck zu verwirklichen. Im Rahmen der ständischen Welt erschließt der Verein eine Organisationsform, welche die Genossen an gemeinsame Beschlussbildung, an bündische Tagungsformen, an die Einsetzung und Kontrolle von gemeinsamen Exekutivorganen und an vertragliche Ordnung überhaupt gewöhnt. Im Vereinsbegriff verbindet sich das vormoderne Einungsprinzip mit spezifisch neuzeitlichen Formen assoziativer Gesellschaftsbildung. Die Seltenheit der Belege deutet aber auf den Vorrang korporativer, dem freiwilligen Entschluss entzogener Formen der Vergesellschaftung in der ständisch gegliederten Welt hin. Dies zeigt sich vor allem auch daran, dass ‚Verein‘ in den Wörterbüchern anders als im skizzierten Sinne nicht vorkommt. II. DIE PRIVATVERBINDUNG IN AUFKLÄRUNG UND ABSOLUTISMUS 1. ‚Gesellschaft‘ in der Bildungsbewegung des 17. und 18. Jahrhunderts Der Verein als freiwilliger, befristeter Zusammenschluss von Personen, die gemeinsam klar definierte Ziele verfolgen, setzt die neuartige Rechtsfähigkeit gleichgestellter Individuen voraus, wie sie durch das Naturrecht begründet wurde. Der moderne Sprachgebrauch von ‚Verein‘ knüpft daher an die reichsrechtlich überlieferten Bedeutungskomponenten auf dem „Umweg“ über den Begriff ‚Gesellschaft‘ an, der die spezifisch modernen Formen von Vergesellschaftung und Herrschaft in sich entfaltet. Auf diesem Weg steigt der Verein zur allgegenwärtigen und dominierenden Rechts- und Organisationsform privater und öffentlicher Aktivitäten auf. Im 17. Jahrhundert ist ‚Gesellschaft‘ oder ‚Sozietät‘ als Bezeichnung für Handels- und Erwerbsgesellschaften gebräuchlich. Mit den Sprachgesellschaften, wie der „Fruchtbringenden Gesellschaft“ (1617) in Weimar oder der „Deutschgesinne8

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Vgl. Das Staatsrecht des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation. Eine Darstellung der Reichsverfassung gegen Ende des 18. Jahrhunderts nach einer Handschrift der Weimarer Nationalbibliothek, hg. v. Wolfgang Wagner (Karlsruhe 1968), 42; Johann Georg Kerner, Allgemeines positives Staats-Genossenschaftsrecht der unmittelbaren freyen Reichsritterschaft in Schwaben, Franken und am Rhein (Lemgo 1788), 360. Otto Brunner, Die Freiheitsrechte in der altständischen Gesellschaft (1954), in: ders., Neue Wege der Sozialgeschichte (1956), 2. Aufl. (Göttingen 1968), 187 ff.

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ten Genossenschaft“ (um 1643) in Hamburg, entwickelten sich die ersten Anfänge einer Gesellschaftsbewegung, in der das Interesse an Bildung dominierte.10 Seit der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert erweiterten sich die bis dahin vereinzelten Gründungen von Zirkeln und gelehrten Vereinigungen zu einer breiten „Gesellschafts- und Akademiebewegung“.11 a) ‚Akademie‘, ‚Societät‘, ‚Gesellschaft‘ und die neuzeitliche Konzeption der Wissenschaft. Das Programm dieses neuen Typs der Bildungsgesellschaft ist in Anlehnung an die westeuropäischen Vorbilder der „Royal Society“ in London und der „Académie Française“ von Leibniz in einer Reihe von Denkschriften zur Gründung einer Akademie in Deutschland entworfen worden. Die aufrichtung einer Societät in Teutschland zu auffnehmen der Künste und Wissenschaften sollte zur Glückseligkeit Menschlichen Geschlechts beitragen.12 Die Wissenschaft verwandelt sich von der Anschauung einer als statisch vorausgesetzten Schöpfungsordnung hin zur Möglichkeit der Ausgestaltung und schließlich Umgestaltung der als verbesserungsfähig angesehenen Natur. Die alteuropäische Einheit von theoretischer Naturerkenntnis und praktischer Handlungsorientierung, die mit dem Theoriebegriff gemeint ist13, formt sich hier um zur Konzeption der Wissenschaft als Arbeit. Die Societät verwirklicht dabei neue Kommunikationsformen der Gelehrten, die sie aus der Vereinzelung einer wesentlich auf sich selbst bezogenen Bildungsabsicht lösen, dementsprechend einen neuartigen Informationsfluss schaffen und bisher getrennte disziplinäre Bereiche miteinander verbinden sollen: die Societät oder Academie soll mehrere Conspiration und engere Correspondenz erfahrener Leute ermöglichen, viele schöne nüzliche Gedancken, Inventiones und Experimenta, die oft zu Grunde und verloren gehen, sammeln, aufbewahren und bereitstellen und Theoretici Empiricis felici connubio conjugiren14. Leibniz setzte sich dafür ein, dass sich die Gesellschaften an den Staat anlehnten, nicht nur aus der pragmatischen Erwartung staatlicher Finanzierung, sondern gemäß dem Ziel, mit Hilfe der gelehrten Vereinigung das bonum commune herbeizuführen. Den Monarchen wird für die Zwecke absolutistisch-merkantilistischer Wohlfahrtspoli10 Kurtzer Bericht der Fruchtbringenden Gesellschaft Zweck und Vorhaben (Köthen 1622); Philipp v. Zesen, Der hoch-preiswürdigen Deutschgesinneten Genossenschaft Erster Zwo Zünfte … (Hamburg 1676); vgl. Karl F. Otto, Die Sprachgesellschaften des 17. Jahrhunderts (Stuttgart 1968). 11 Ludwig Hammermeyer, Akademiebewegung und Wissenschaftsorganisation. Formen, Tendenzen und Wandel in Europa während der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, in: Wissenschaftspolitik in Mittel- und Osteuropa. Akademien und Hochschulen im 18. und beginnenden 19. Jahrhundert, hg. v. Erik Amberger, Michael Ciesla, Lászlo Spiklay (Berlin 1976), 1 ff. 12 Gottfried Wilhelm Leibniz, Grundriß eines Bedenckens von aufrichtung einer Societät in Teutschland zu auffnehmen der Künste und Wissenschaften (1671?), in: Gottfried Wilhelm Leibniz, Sämtliche Schriften und Briefe, hg. von der Preußischen (bzw. Deutschen) Akademie der Wissenschaften, Darmstadt/Berlin, Leipzig/Berlin 1923 ff., Bd. 1 (1931), 530, 536. 13 Joachim Ritter, Das bürgerliche Leben. Zur aristotelischen Theorie des Glücks, Vierteljahresschrift für wissenschaftliche Pädagogik 32 (1956), 6 ff.; ders., Institution ethisch. Bemerkungen zur philosophischen Theorie des Handelns, Studium generale (1968), 659 ff. 14 Leibniz, Grundriß, 14.

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tik eine Organisation zur Seite gestellt, mit deren Hilfe Künste und Wissenschaften, res litteraria, res medica et chirurgica, Manufacturen und Commercien verbessert werden könnten.15 Leibniz insistierte darauf, diesen neuen Typus gelehrter Vereinigung auch durch ihren Namen, Societät, von den Universitäten als Stätten traditioneller und konventioneller Lehre und Wissenspflege abzuheben.16 b) Die aufklärerische Gesellschaftsbewegung. Leibniz‘ Denkschriften skizzieren das Programm nicht nur der Akademiebewegung, die sich seit 1700 in Deutschland durchsetzte, sondern auch der gelehrten Gesellschaften, die sich in verschiedenen Typen entwickelten und für den ökonomischen, sozialen und schließlich auch politischen Modernisierungsprozess seit der Mitte des 18. Jahrhunderts erhebliche Bedeutung gewannen. Am Begriff der gelehrten ‚Societät‘ oder ‚Gesellschaft‘ artikulierte sich ein innovatorischer Anspruch von Privatleuten, welche ein originär privates Bedürfnis, nämlich Erkenntnismöglichkeit und Erkenntniswillen von den Einengungen und Festlegungen jeglicher Form von Orthodoxie zu befreien, in die Energie zur freiwilligen Vergesellschaftung umsetzten. Unter dem Namen einer gelehrten Gesellschaft verstanden deren Mitglieder eine aus eigenem Triebe und besonderer Liebe zu den Wissenschaften angestellte Versammlung geschickter und munterer Köpfe, welche sich zu Vermehrung, Ausbreitung und Anwendung der sowohl nützlichen und angenehmen Gelehrsamkeit untereinander zu einer gemeinschaftlichen Arbeit und willigem Beitrage einmütig verbinden.17 Dabei kam auch ein neues Selbstbewusstsein der Gelehrten zum Vorschein, das den Vorrang des Adels und die geburtsständische Ordnung überhaupt in Zweifel zog. Die Mitglieder von Akademien und gelehrten Gesellschaften verstanden sich als eigener Stand, der quer stand zur ständischen Schichtung und deren Legitimität. Die gelehrten Gesellschaften waren Gesellungen, in denen der soziale Superioritätsanspruch des Adels durch den einer — kleinen — Schicht aufgeklärter Bürger in Frage gestellt und der Tendenz nach abgelöst wurde. Isaac Iselin resümierte 1770, seit dem späten 17., vor allem aber im 18. Jahrhundert habe sich eine neue Art von Ritterschaft gebildet, welche die Ausbreitung des Lichts und der Gelehrsamkeit gefördert habe. Fürsten und Bürger hätten in fast allen Städten Europas Akademien und gelehrte Gesellschaften gegründet, die zwischen den bessern Geistern aller Nationen und aller Stände eine kostbare Brüderschaft hätten entstehen lassen und die den Stand der Gelehrten gleichsam als durch einen besseren Adel gehoben hätten.18 Seit etwa 1750 dehnte sich die Gesellschaftsbewegung zu einer allgemeinen Bildungsbewegung aus, die die Schicht der Gebildeten insgesamt erfasste und dabei verschiedene Vereinstypen entwickelte. Für die verschiedenen Formen von Le15 Ebd., 14 ff. 16 Ders. an D.E. Jablonski, 26. 3. 1700, abgedr. in: Adolf Harnack, Geschichte der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 2: Urkunden und Actenstücke (Berlin 1900), 72. 17 Johann Georg Lotter, Antrittsrede, in: Der Deutschen Gesellschaft in Leipzig gesammelte Reden, Schriften und Geschichte, hg. v. Johann Christoph Gottsched (Leipzig 1732), 353. 18 Isaac Iselin, Über die Geschichte der Menschheit, neue u. verbesserte Aufl., Bd. 1 (Zürich 1770), 387.

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sezirkeln und Lesebibliotheken setzte sich seit etwa 1770 der Sammelname der Lesegesellschaft durch. In ihr kristallisierte sich nicht nur ein neues Lesebedürfnis, sondern darüber hinaus die Suche nach einer neuen Lebensform. Die Mitglieder sahen den Nutzen einer wohleingerichteten Lesegesellschaft in der Verfeinerung der Sitten und des Geschmacks, der Verbreitung der Literatur und der Wissenschaften und in der Wonne des gesellschaftlichen Lebens.19 Die Lesegesellschaft organisierte den geselligen Verkehr neu und baute ihn aus dem gemeinsamen Interesse an Wissenserwerb und diskursiver Klärung des Wissens auf. Die Lektüre erweiterte sich zum „Medium sozialer Kommunikation“.20 In der „arbeitenden Geselligkeit“21 verständigte sich die an bürgerlichen Wertvorstellungen orientierte Oberschicht der Gebildeten auch über ihre eigene, wichtiger gewordene Rolle in einer Welt, die grundsätzlich als veränderbar galt. Dieselben Motive wie bei den Lesegesellschaften, aber unmittelbarer auf die Praxis des bürgerlichen Lebens und Arbeitens bezogen, führten zur Gründung der zahlreichen landwirtschaftlichen Sozietäten (seit 1763) und patriotischen Vereine. Ihrem Programm entsprechend nannten sie sich etwa „Sittlich-ökonomische Gesellschaft“22 oder „Gesellschaft zur Beförderung der Künste und nützlichen Gewerbe“.23 In der Gesellschaft definierte sich der ökonomisch und geistig selbständige Bürger, der sich zu moralischem und verantwortlichem Handeln verpflichtet und berechtigt fühlte, als Patriot. Wenn Patriotismus für die Gebildeten der zweiten Jahrhunderthälfte die „bewußtseinsmäßige Aneignung des politischen Gemeinwesens“ bedeutete,24 so waren die Gesellschaften latent politisch. In ihnen sammelte und artikulierte sich die Kritik, aber auch die Handlungsbereitschaft aufgeklärter Bürger. Diese fassten die ihnen im Absolutismus zugedachte Rolle als Staatsuntertanen neu und aktiver und überließen den Staatszweck umfassender Wohlfahrtssteigerung nicht mehr nur der „Polizei“ obrigkeitlich-patriarchalischer Fürsorge,

19 Journal von und für Deutschland 6 (1789); Allgemeine Literatur-Zeitung, Nr. 140, 5. 12. 1783, zit. nach Marlies Prüsener, Lesegesellschaften im 18. Jahrhundert. Ein Beitrag zur Lesergeschichte (Diss. München 1971), abgedr. in: Archiv für Geschichte des Buchwesens 13 (1972), 421 f. 20 Otto Dann, Die Lesegesellschaften des 18. Jahrhunderts und der gesellschaftliche Aufbruch des deutschen Bürgertums, in: Buch und Leser. Vorträge des 1. Jahrestreffens des Wolfenbütteler Arbeitskreises für die Geschichte des Buchwesens, hg. v. Herbert G. Göpfert (Hamburg 1977), 160 ff., bes. 163. 21 Der Begriff von Varnhagen von Ense, aufgenommen und thematisiert von Wilhelm Rössler, Die Entstehung des modernen Erziehungswesens in Deutschland (Stuttgart 1961), 194 f.; vgl. Thomas Nipperdey, Der Verein als soziale Struktur in Deutschland im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert, in: ders., Gesellschaft, Kultur, Theorie. Gesammelte Aufsätze zur Neueren Geschichte (Göttingen 1976), 174 ff., bes. 185 f. 22 Bayerisch-ökonomischer Hausvater zu Nutzen und Vergnügen 1779 bis 1786; Gesammelte Schriften der Kurpfalzbayerischen Gesellschaft sittlicher und landwirtschaftlicher Wissenschaften in Burghausen, Bd. 1 (Burghausen 1779). 23 Ausführliche Nachricht von der Hamburgischen Gesellschaft zur Beförderung der Künste und nützlichen Gewerbe, Journal von und für Deutschland 8 (1791), 100. 24 Rudolf Vierhaus, Politisches Bewußtsein in Deutschland vor 1789, in: Der Staat 6 (1967), 175 ff.

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ohne dass jedoch ein prinzipieller Gegensatz von bürgerlichem und herrschaftlichobrigkeitlichem Interesse entstanden wäre. c) Das Recht der Privatgesellschaften im Absolutismus. Ihren Anspruch, nicht nur private Zwecke, sondern auch das öffentliche Wohl zu fördern, legitimierten die Gesellschaften, indem sie sich auf die Gemeinwohlformel aus der naturrechtlichen Staatszwecklehre beriefen. Der absolutistische Staat verlieh aber nur solchen Teilverbänden Körperschaftsrechte, welche traditionell an der Erfüllung des allgemeinen Staatszwecks, der Wohlfahrt, teilnahmen, die aber ihre Rechte doch nur qua staatlicher Delegation ausübten: den Korporationen, wie Städten, Zünften, Universitäten. Der körperschaftliche Charakter der Privatgesellschaften als juristischer Personen blieb in Deutschland bis zur endgültigen Beseitigung absolutistischer Verfassungsformen 1848 entweder ganz ausgeschlossen oder rechtlich ungeklärt. Rechtsgrundlage für die Verbindungen von Staatsuntertanen oder -bürgern war bis über 1848 hinaus die öffentlich-rechtliche Konzession oder Genehmigung in jedem einzelnen Fall. Die Erörterungen über die Vereinigungsfreiheit fanden ihre theoretische Grundlage im neuzeitlichen Naturrecht. Um den freiwilligen Personenverband begrifflich zu fassen, bediente sich die Rechtssprache des römisch-rechtlichen Begriffs ‚societas‘. Dieser benannte einen Vertrag, in dem sich die Mitglieder gegenseitig zu bestimmten Leistungen verpflichten, um einen gemeinsamen Zweck zu erreichen. Er stellte ein Rechtsverhältnis allein zwischen den socii her, war aber selbst nicht als Vertragspartner, Eigentümer oder Schuldner rechtsfähig. Der Rechtsbegriff ‚societas‘ bot sich der naturrechtlichen Staats- und Polizeiwissenschaft des 18. Jahrhunderts aus zwei Gründen an: 1) Er definierte eine freiwillige Personenverbindung, ohne ihr Körperschaftsrechte zuzubilligen. Entsprechend der Herkunft aus dem römischen Privatrecht bezeichnete er noch bis zum Ende des 18. Jahrhunderts vor allem die Erwerbs- und Handelsgesellschaft: Laut Zedler legten sich den Namen einer Societät, lat. Societas oder Sodalitas, Frantz. Société oder Compagnie, die Gemeinschaft, Mascopey, Compagnie, Communität, insbesondere diejenigen Kaufleute zu, welche ihren Handel dergestalt gemeinschaftlich treiben, daß sie beides, Gewinn und Verlust, miteinander teilen.25 2) Der Begriff ging von der Annahme einer individuellen Rechtsfähigkeit der Einzelnen aus und entsprach damit dem Grundgedanken der naturrechtlichen Staats- und Gesellschaftslehre: dem des freiwilligen Kontraktes ursprünglich rechtsgleicher Individuen. Die Äquivokation der römisch-rechtlichen ‚societas‘ bzw. ‚Gesellschaft‘ mit ‚Gesellschaft‘ in der Naturrechtstheorie kündigt begrifflich die Herausbildung der bürgerlichen Gesellschaft als einer Privatrechtsgesellschaft an. 25 Johann Heinrich Zedler, Großes vollständiges Universallexicon aller Wissenschaften und Künste, 64 Bde., 4 Suppl.Bde. (Halle, Leipzig 1732–1750), Bd. 38 (1743), 171, Art. Societät. – Noch 1813 bezeichnet Johann Heinrich Campe, Wörterbuch zur Erklärung und Verdeutschung der unserer Sprache aufgedrungenen fremden Ausdrücke, 2. Aufl. (1813; Ndr. 1970), 558, s.v. Societät, die Gesellschaft, mit dem Begriff nur den Societätshandel oder Gesellschaftshandel, daneben allerdings die Societät der Wissenschaften – ein Beleg für die Ausdehnung des Begriffsfeldes auf die Institutionen der Bildung.

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Der aufgeklärt-absolutistische Staat, dessen Beamte häufig Mitglieder der aufgeklärten Gesellschaften waren, hatte durchaus ein Interesse an den Modernisierungsimpulsen und den öffentlichen Leistungen der pragmatisch-utilitaristischen Gesellschaften, der landwirtschaftlichen und patriotischen und Gelehrten-Sozietäten. Polizeiwissenschaft und Staatsrechtslehre sprachen sich daher für ihre Zulassung aus. Sie gaben einen Raum privater und zugleich öffentlich nützlicher Handlungen frei, ohne jedoch einen Reservatbereich bürgerlicher Freiheit gesetzlich abzustecken. Privat-Gesellschaften, die der Regent ... gehen lasset, wie sie gehen, sollten erlaubt sein, doch blieb ein Aufsichtsrecht der Behörden selbstverständlich.26 Der Begriff ‚Privatgesellschaft‘ konnte auch dazu dienen, die Gesellschaftsbewegung von den Korporationen abzugrenzen, die staatliche Funktionen über ihre Mitglieder übertragen erhielten. Diese hießen dann öffentliche Gesellschaften oder Staatsgesellschaften.27 Hier ist der naturrechtliche Leitbegriff ‚Gesellschaft‘ bereits so allgemein geworden, dass auch die traditionalen Verbände darunter subsumiert werden konnten. Für das Allgemeine Preußische Landrecht von 1794, mit dem die neuere Vereinsgesetzgebung beginnt, ist die Frage nach dem gemeinschaftlichen Endzweck der Assoziationen als Verbindungen mehrerer Mitglieder des Staates entscheidend; es verbot Gesellschaften, deren Zweck und Geschäfte der gemeinen Ruhe, Sicherheit und Ordnung zuwiderlaufen.28 Seit Beginn der 1790er Jahre zeichnete sich im jüngeren Naturrecht29 die Tendenz ab, die Handlungssphäre der Privaten, die Gesellschaft insgesamt, vom Staat abzulösen und den Staatszweck so zu begrenzen, dass die bürgerliche Freiheit mehr Spielraum erhielt. Das Vereinigungsrecht trat damit in den Kontext eines Katalogs von Rechten wie Pressefreiheit, Äußerungsfreiheit, Auswanderungsfreiheit. Dieser Katalog hatte freilich gedanklich und begrifflich noch nicht den Charakter von Grundrechten, leitete sich also nicht aus dem Anspruch her, vorstaatlich begründetes Menschenrecht zu sein. Er stand vielmehr noch in der älteren Tradition einer Gegenüberstellung von Rechten der Untertanen und Rechten der Obrigkeit. Günther Heinrich von Berg z.B. betonte, dass Volksversammlungen und Zusammenkünfte, die wegen gemeinschaftlicher Angelegenheiten, besonders wegen gemeiner Beschwerden bisweilen veranstaltet würden, an sich nicht unerlaubt seien, wenn sie vorher bei der Behörde gemeldet würden. Damit war die freie bürgerliche Vereinigung und Versammlung ausdrücklich zum Recht erklärt,30 doch blieb die bürgerliche Freiheit insgesamt der Beaufsichtigung durch die „Freiheitspolizei“ unter26 Johann Jacob Moser, Neues Teutsches Staatsrecht, Bd. 17: Von der Teutschen Unterthanen Rechten und Pflichten (Frankfurt, Leipzig 1774; Ndr. Osnabrück 1967), 262, § 3. 27 Johann Christoph Hoffbauer, Naturrecht aus dem Begriffe des Rechts entwickelt (Halle 1793), 244; Begrifflichkeit und Gedankengang sind praktisch unverändert ebd., 4. Aufl. (Merseburg 1825). 28 ALR II, 6, § 1 f. 29 Zu dieser Periodisierung: Diethelm Klippel, Politische Freiheit und Freiheitsrechte im deutschen Naturrecht des 18. Jahrhunderts (Paderborn 1976), 135 ff. 30 Günther Heinrich von Berg, Handbuch des Teutschen Policeyrechts (1799), 2. Aufl., Bd. 1 (Hannover 1802), 243 f.

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worfen.31 Der Einfluss der Naturrechtslehre führte in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts auch zur Definition der Kirche als ‚societas‘ in der sogenannten Kollegialtheorie.32 Die Kirche hatte demnach den Status einer Gesellschaft wie jede andere. Ihr Anspruch, ecclesia spiritualis, göttliche Stiftung zu sein, trat zurück. Der geistliche Auftrag der Kirche ging auf im allgemeinen Wohlfahrtszweck. Da aufklärerisch auch das geistliche Recht aus der Vernunft zu beweisen war, ergab sich daraus, dass auch die Kirche bloß als eine geistliche Gesellschaft zu betrachten sei, ohne alle Absicht auf die Wahrheit und Wirklichkeit der Religion.33 2. Die Geheimgesellschaft a) Das Geheimnis und die Konstitution der Gruppe. Der Begriff ‚Geheimgesellschaft‘ nimmt in der deutschen Spätaufklärung eine zentrale Stellung ein. Die Zeitgenossen verbanden damit eine Vielzahl von Funktionen, die jedoch alle miteinander verflochten sind. Im Vordergrund stand das Bedürfnis, unabhängig von den Beschränkungen des Standes, der Religion und der Nation miteinander umzugehen. Es ging vor allem darum, jene Beschränkungen zu überwinden, welche den Selbstentfaltungsanspruch der aufgeklärten Bildungsschicht hemmten: die Gebundenheit in der ständischen Gesellschaft und in der absolutistischen Herrschaft, in der Privilegienordnung, der territorialen Zersplitterung und der Konfessionalität. Der Orden, der seine Schüler lehrt, das Wohlwollen seines Herzens nicht auf die Grenzen seines Landes einzuschränken, der den Feind aller menschlichen Glückseligkeit [den Religionshaß] zu vertilgen sucht und der schließlich den wahren Wert des Menschen nach seinem inneren Adel abmißt,34 stellte ein zentrales Moment der aufklärerisch geprägten intellektuellen und gesellschaftlichen Bewegung dar, die sowohl die Freimaurerlogen als auch ihre ideologisch und politisch sich verselbständigenden Filiationen der Rosenkreuzer und der Illuminaten umfasste.

31 Vgl. Hans Maier, Die ältere deutsche Staats- und Verwaltungslehre (1966), 2. Aufl. (München 1980), 207 ff., bes. 213. 32 Klaus Schlaich, Kollegialtheorie. Kirche, Recht und Staat in der Aufklärung (München 1969); Ulrich Scheuner, Staatliche Verbandsbildung und Verbandsaufsicht in Deutschland im 19. Jahrhundert, Der Staat, Beih. 2 (1978), 100. 33 Johann Lorenz von Mosheim, Allgemeines Kirchenrecht der Protestanten, hg. v. Christian Ernst von Windheim (Helmstedt 1760), 426. 34 Freimaurer Zeitung, Nr. 6, 15. 1. 1787, abgedr. in: Quellen zur Geschichte des Rheinlandes im Zeitalter d. Französischen Revolution (1780—1801), hg. v. Joseph Hansen, Bd. 1 (Bonn 1931), 55 f.; zur Funktion des Geheimnisses und zu Geheimorganisationen im späten 18. Jh. vgl. die Beiträge in: Geheime Gesellschaften, hg. v. Christian Ludz (Heidelberg 1979); R. Vierhaus, Aufklärung und Freimaurerei in Deutschland, in: Das Vergangene und die Geschichte, Festschrift Reinhard Wittram, hg. v. Rudolf von Thadden (Göttingen 1973), 23 ff.; Reinhart Koselleck, Kritik und Krise. Ein Beitrag zur Pathogenese der bürgerlichen Welt (Freiburg, München 1959; Ndr. Frankfurt 1973), 39 ff.; Lucian Hölscher, Öffentlichkeit und Geheimnis. Eine begriffsgeschichtliche Untersuchung zur Entstehung der Öffentlichkeit in der frühen Neuzeit (Stuttgart 1979), 136 ff.

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Ein gesteigerter Individualitätsanspruch setzte Neugier und Interesse frei und entfesselte den Wissensdrang. Da der Erfahrungs- und Erlebnishunger in der strengen Gebundenheit von Wissen und Handeln in der ständisch-absolutistischen Welt wenig Entfaltungsmöglichkeiten hatte, wich er ins Geheimnis aus. Die geheime Gesellschaft schuf eine Möglichkeit, die wirkliche Welt von ganz neuen Seiten zu betrachten, und bot ein Surrogat menschlicher Leidenschaften, Neigungen, Entwürfe, Meinungen und Phantasien,35 die in der traditionsgeleiteten Moralität und Handlungsnorm der vormodernen Gesellschaft unterdrückt und tabuisiert worden waren. Das Geheimnis sicherte diesen Impulsen gesteigerter Intellektualität und Innerlichkeit einen Aktionsraum, der gegenüber der bürgerlichen Gesellschaft die Diskretion zu wahren versprach. Das Geheimnis war einerseits ein Mittel der Besonderung und Abgrenzung, zugleich aber und gerade dadurch ein Mittel intensivierter Gemeinschaftsbildung. Darüber hinaus fügte sich das verstärkt nach Selbstbestimmtheit strebende Individuum in eine – selbstgewählte – Ordnung ein, die ihm bei der Suche nach der eigenen Persönlichkeit behilflich zu sein versprach. Der moralische Zweck, die Tugenderziehung, war der Kern des Selbstverständnisses und blieb auch außerhalb der Anhänger- und Mitgliedschaft im allgemeinen der einzige, der jedem geheimen Orden als berechtigt zugebilligt wurde.36 Mit dem Anspruch auf Innenleitung verband sich sozial eine gewisse Exklusivität. Von dem Geheimnis solcher Verbindungen ging der Reiz aus, etwas besonderes unter sich zu haben, woran nicht alle Menschen teilnehmen37. Nach Wieland konnten die Mitglieder der geheimen Gesellschaften sehen, was den Augen des großen Haufens von jeher verborgen geblieben sei.38 Freimaurer, Rosenkreuzer und Illuminaten hießen sowohl in der Selbstdefinition wie in der kritischen Literatur durchweg auch ‚Orden‘ oder ‚Sekten‘. Dieser Sprachgebrauch erschließt wesentliche Strukturmerkmale dieses Typus der Vereinsbildung und der deutschen Aufklärung überhaupt in den letzten beiden Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts. Die zeitgenössische Diskussion unterschied unbefangen das profane Publikum oder die Profanen von den Ordensmitgliedern, doch sah sich der Selbstabgrenzungsanspruch der Orden gegenüber dem ungeweihten Haufen seit den 1780er Jahren zunehmender Kritik ausgesetzt.39 Es sei bei den Freimaurern gebräuchlich, einige ihrer Brüder Clericos, ihre Meister ehrwürdig und hochwürdig zu nennen; sie legten sich damit Benennungen aus dem geistlichen Stande zu, obgleich sie nichts mit der Religion zu tun hätten.40 Hypertrophe Züge nahm diese sakrale Sprachwelt bei dem Illuminatengründer Adam Weishaupt an. Er verglich sich selbst mit Christus und wandte sich mit seinem Geheimbundpro35 Christoph Friedrich Nicolai, Öffentliche Erklärung über seine geheime Verbindung mit dem Illuminatenorden. Nebst beyläufigen Digressionen betreffend Herrn Johann August Stark und Herrn Johann Caspar Lavater (Berlin, Stettin 1788), 18. 36 Etwas über geheime Verbindungen, Staats-Anzeigen 8 (1786), 272. 37 Ebd. 38 Christoph Martin Wieland, Das Geheimnis des Kosmopolitenordens, Der Teutsche Merkur 7 (1788), 103. 39 Joseph Marius Babo, Über Freimaurer (München 1784), 12. 40 Briefe eines Mannes an seinen Freund, Der Teutsche Merkur 5 (1786), 266 f.

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jekt an die Erleuchter, die Heiligen, die Auserwählten.41 Der Übernahme sakraler Gehalte durch die Geheimgesellschaften entsprach auf der anderen Seite die Kritik an der Amtskirche. In der Selbstbezeichnung als ‚Orden‘ und in der Fremdbezeichnung als ‚Sekte‘ kommt zum Ausdruck, dass sich hier auch religiöse Impulse in säkularisierter Form außerhalb der Kirchen eine Organisation schufen.42 b) Das Geheimnis und die Politisierung der Gesellschaft in der Spätaufklärung. Mit der Gründung des Illuminatenordens (1774) überschritt der Erziehungsund Bildungsanspruch der Geheimgesellschaften die Grenze der privaten Selbstvervollkommnung und begann, die Moralitätsforderung der Einzelnen mit der Realität und den Legitimitätsprinzipien absolutistischer Herrschaft zu konfrontieren. Die unbegrenzte Erwartung in die Erziehbarkeit des Menschen setzte sich jetzt um in ein Programm zur Aufhebung von Herrschaft durch die Geheimgesellschaft. Adam Weishaupt ging davon aus, dass Erziehung als Veränderung von Sitten Revolutionen bewirken könne.43 Ihm zufolge ist Herrschaft entstanden, weil die ungezähmten Leidenschaften die Unterwerfung unter einen äußeren Willen unabweisbar gemacht hätten. Gelinge die Erziehung zur sittlichen Autonomie, so würden herrschaftliche Institutionen obsolet. Daraus ergab sich die eigentümliche Stellung der illuminatischen Theorie und Ordenspraxis zwischen aufklärerischer Erziehungsutopie und politischem Plan zur Unterwanderung des absolutistischen Staates. Die wirklichen Absichten des Ordens umschrieb Weishaupt als Politik.44 Aufklärung und Absolutismus traten damit in einen unauflösbaren Widerspruch. Die Diskussion über Funktionen und mögliche Gefahren der Geheimgesellschaften seit Beginn der 80er Jahre beleuchtete zugleich die Funktionsweise und die Krise des aufgeklärten Absolutismus. Für Kant war daher der bloße Gehorsam unter dem Mechanismus der Staatsverfassung ohne den Geist der Freiheit, d.h. das Recht der Untertanen, das Zwangsmonopol des Staates selbständig vernünftig zu begründen, die veranlassende Ursache aller geheimen Gesellschaften.45 Bezeichnend für den Übergang von der latenten zur offenen Politisierung der publizistischen Auseinandersetzung seit der Mitte der 80er Jahre ist das Auftreten der Verschwörungstheorien. Die Wortführer der Aufklärung und des entstehenden Konservativismus traten sich gegenüber und beschuldigten sich gegenseitig, die Geheimgesellschaften als Mittel für den heimlichen Kampf um politische Macht zu benut41 Adam Weishaupt an Anton von Massenhausen, 19. 9. 1776, abgedr. in: Richard van Dülmen, Der Geheimbund der Illuminaten (1975), 2. Aufl. (Stuttgart-Bad Cannstatt 1977), 217; ders., Anrede an die neu aufzunehmenden Illuminatos dirigentes (1782), ebd., 166. 42 Der Gedanke, den Illuminatenorden auch als eine Ausprägung religiösen Sektierertums zu interpretieren erstmals bei Manfred Agethen, Mittelalterlicher Sektentypus und Illuminatenideologie. Ein Versuch zur geistesgeschichtlich-soziologischen Einordnung des Illuminatenbundes, in: Ludz, Geheime Gesellschaften, 121ff. 43 Weishaupt, Anrede, 184. 44 Ders. an Franz Xaver von Zwackh, 10. 3. 1778, abgedr. in: van Dülmen, Geheimbund, 222. 45 Immanuel Kant, Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis (1793), Immanuel Kant, Gesammelte Schriften, hg. von der Königlich Preußischen (bzw. Deutschen) Akademie der Wissenschaften, 24 Bde. (Berlin, Leipzig 1900–1966), Bd. 8 (1912/23; Ndr. 1968), 305.

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zen.46 Die Gegenbewegung gegen die Aufklärung erhielt Auftrieb, seit sie sich nicht mehr auf religiöse Inhalte beschränkte, sondern auch die politischen Gefahren der Aufklärungsbewegung hervorhob. Die Aufklärungsgegner setzten den moralischen Emanzipationsanspruch der Geheimgesellschaften gleich mit politischem Umsturzwillen. Von einem missverstandenen Begriff von Freiheit infiziert, glichen die Logen ... moralischen und politischen Pesthäusern.47 Die geheimen Orden seien ins Interesse der Philosophie gezogen und zu Knechten der Aufklärung und des Kosmopolitismus degradiert worden.48 Sprachpolitisch kulminierte die These von der Entfesselung der Revolution durch das konspirative Geflecht der von Illuminaten gesteuerten Geheimgesellschaften in der Äquivokation, die seit 1795 die politische Pointe der Verschwörungstheorie ausmachte: bereits 1789 seien die allermeisten französischen Freimaurer-Logen Illuminaten-Logen geworden. Um ihre Machenschaften geheimzuhalten, hätten die Illuminaten-Logen sich in Jacobiner-, Cordeliers- oder Feuillanten-Clubs umbenannt.49 3. Die politische Vereinigung in der Ära der Französischen Revolution Die Übernahme des Terminus ‚Club‘ in die deutsche politische Sprache signalisiert in der Geschichte der freiwilligen Vereinigung den qualitativen Umschlag von der krypto- oder vorpolitischen zur offen politischen Vereinigung. Er steht ganz unter dem Vorzeichen der Erfahrung des Umsturzes in Frankreich. Auffälligerweise wurde ‚Club‘ vom Beginn der Revolution an als Kampf- und Denunziationsbegriff von den Revolutionsgegnern in Anspruch genommen und blieb bis in die liberale Staatsrechtslehre des Vormärz hinein in diesem Sinne negativ besetzt. Die Mitglieder solcher Vereinigungen selbst oder auch die sogenannten deutschen Jakobiner hingegen bevorzugten – zumindest anfangs – den Terminus ‚Gesellschaft‘. Offen politische Klubs gab es in Deutschland nur in den von den französischen Revolutionsheeren besetzten Gebieten. Der wichtigste von ihnen war die „Gesellschaft der Freunde der Gleichheit und Freiheit“ in Mainz, in deren Rahmen die Revolutionsanhänger sich über Wesen und Funktion vereinsartiger Verbindungen klar zu werden suchten. Der ,,Bürgerfreund“, das Organ der Gesellschaft, schrieb im Oktober 1792, es gebe in Mainz Hof- und andere Räte, sie sich zur Zeit noch zu 46 Vgl. Fritz Valjavec, Die Entstehung der politischen Strömungen in Deutschland 1770–1815 (1951), Ndr. hg. v. Jörn Garber (Kronberg/Ts. 1978), 278 ff.; Klaus Epstein, Die Ursprünge des Konservatismus in Deutschland. Der Ausgangspunkt: Die Herausforderung durch die Französische Revolution 1770–1806 (Frankfurt, Wien, Berlin 1973), 105 ff.; Johannes Rogalla von Bieberstein, Die These von der Verschwörung 1776–1945. Philosophen, Freimaurer, Juden, Liberale und Sozialisten als Verschwörer gegen die Sozialordnung (Bern, Frankfurt, Las Vegas 1976), 18 ff. 47 [Ernst August Anton v. Goechhausen], Enthüllung des Systems der Weltbürger-Republik in Briefen aus der Verlassenschaft eines Freymaurers (Rom 1786), XII. 48 Leopold Alois Hoffmann, Achtzehn Paragraphen über Katholizismus, Jesuitismus, geheime Orden und moderne Aufklärung in Deutschland. Eine Denkschrift an deutsche Regenten und das deutsche Publicum (Deutschland 1787), 55. 49 Ders., Höchst wichtige Erinnerungen zur rechten Zeit ... (Wien 1795), 78.

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gut dünkten, dem hiesigen öffentlichen und autorisierten Klub der Gesellschaft für Freiheit und Gleichheit beizutreten, weil sie sich zu Bürgern herablassen müssten: diese sollten aufhören, sich zu schämen, dass sie Menschen sind.50 An die Stelle der Vielzahl von Freiheiten mit der Rechtsform des Privilegs in der ständisch-feudalen Gesellschaft ist der singularische Begriff ‚Freiheit‘ getreten. Das Gleichheitspostulat beanspruchte für alle vernünftigen Menschen gleichen Anteil an der Gesetzgebung,51 meinte jedoch ausdrücklich nicht die Gleichheit des Besitzes. Die Trennung von Privatmann und homo politicus, von Mensch und Bürger, von Gesellschaft und Staat sollte durch den Klub aufgehoben werden. Jedoch lehnte die „Gesellschaft“ für sich zunächst ausdrücklich jede öffentlich anerkannte politische Existenz ab.52 Die deutschen Jakobiner machten sich die vereinsfeindliche Grundeinstellung der Französischen Revolution zu eigen, der vor allem daran gelegen war, den freien Arbeitsvertrag durchzusetzen, die korporativen Verbände der Zünfte aufzulösen und intermediäre Gewalten zwischen Staatsbürgern und Gesetzgebungskörperschaft nicht mehr zu dulden. Diese Frontstellung erklärt, dass auch dem assoziativen Freiwilligkeitsverband eine ausdrücklich politische Stellung nicht zugebilligt wurde; im Sinne des Einheits- und Ausschließlichkeitsanspruchs der Rousseauschen volonté générale erschien er als Beschränkung der individuellen politischen Freiheit und als Aufspaltung des politischen Willens der Gesamtbürgerschaft in neuerliche Partikularinteressen. Dahinter stand letztlich der Glaube an die Selbstdurchsetzung des vernünftigen politischen Willens in der Erziehungsarbeit der Aufklärung und im Diskurs der Aufgeklärten. Entsprechend der aufklärerischen Tendenz zu bildungsbedingter, also auch sozialer Exklusivität machte die neuartige Integration des Begriffs ‚Volk‘ in das Bedeutungsfeld die Gesellschaft der Volksfreunde53 auch noch nicht zur Organisation unterbürgerlicher Schichten. Mit der Radikalisierung der revolutionären Entwicklung in Frankreich und mit der Verschlechterung der Kriegslage in Deutschland wurde der Mainzer Klub in eine Situation gedrängt, in der sich die Dialektik der Aufklärung auch begrifflich widerspiegelt. Im März 1793 ist der Zweck der Volksgesellschaften nicht mehr allein, das Volk zu belehren, sondern darüber hinaus, die Feinde der guten Sache zu entdecken und ihre Anschläge zu vereiteln.54 Der Klub sah sich aus der Rolle einer Gesellschaft für politische Bildung in die einer Art Wohlfahrtsausschuss gedrängt. Im Gefolge der revolutionären Ereignisse wurde die Handlungsfreiheit auch der un- oder vorpolitischen Gesellschaften in Deutschland stärker überwacht und eingeschränkt. Sprachpolitisch schlug sich dies in der Gleichsetzung von ‚Lesegesellschaft‘ und ‚Club‘ nieder, mit der die Regierungen den Lesegesellschaften allgemein politische Absichten, politische Wirkungen und das Sympathisieren mit der

50 Der Bürgerfreund, Nr. 2, 30. 10. 1792, zit. in: Die Mainzer Republik, Bd. 1: Protokolle des Jakobinerklubs, hg. v. Heinrich Scheel (Berlin 1975), 67, Anm. d. 51 Georg Christian Gottlieb Wedekind, Rede v. 30. 10. 1792, ebd., 86. 52 Statutenentwurf der Gesellschaft der Freunde der Freiheit und Gleichheit (23. 12. 1792), ebd., 418. 53 Wedekind, Rede v. 30. 10. 1792, ebd., 83. 54 Charles-Jean Rougemaitre, Rede v. 7. 3. 1793, ebd., 802.

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Revolution unterstellten.55 Die im äußerlichen das Gepräge der Lesegesellschaft führenden Zusammenkünfte der Privatpersonen seien bei gegenwärtigen Zeitläufen an sich verdächtig und könnten daher im politischen Staate nicht geduldet werden.56 Der Sprachgebrauch der Behörden bestätigte damit den latent politischen Charakter vorpolitischer Gesellschaften.57 Alle Vereinigungen mit politischem Anstrich wurden unter der denunzierenden Sammelbezeichnung ‚Club‘ zusammengefasst. In der konservativen und liberalkonservativen ebenso wie in der etatistischen Argumentation stieg der Clubgeist zu einem eigenständigen Handlungsträger auf. Jeder Klub erschien als Betätigungsfeld für Demagogengeist;58 Clubstimme wolle für Volksstimme gelten.59 Aus dieser Kritik ergab sich dann der seither immer wiederkehrende Topos etatistischer Vereinskritik: die Privatgesellschaft bilde eine neue politische Institution innerhalb der bestehenden Staatsverfassung. III. DIE FREIWILLIGE VEREINIGUNG ZWISCHEN AUFKLÄRUNG UND RESTAURATION 1. Geselligkeit und Bildung Seit Beginn der 1790er Jahre verselbständigte sich der Geselligkeitszweck gegenüber der stärker universalistischen Konzeption des spezifisch aufklärerischen Vereinswesens. Seit der Jahrhundertwende erfolgte eine Welle von Gründungen ausdrücklich unpolitischer Vereine. Dies war nicht nur eine Folge der Entpolitisierungspolitik der Regierungen, sondern auch eines neuartigen Bedürfnisses, das seine Wurzeln im Individualisierungsprozess hatte, wie er durch Aufklärung und Empfindsamkeit vorangetrieben worden war: des Bedürfnisses, Gemüt und Innerlichkeit in der begrenzten Öffentlichkeit der außerfamilialen, aber „familiären“ Verbindung auszuleben. Im Sprachgebrauch der Jahrhundertwende schlug sich dieser Vorgang nieder in der zunehmenden Kritik an den Konnotationen des aufklärerischen Gesellschaftsbegriffs und in der allmählichen Verdrängung von ‚Gesellschaft‘ durch die gefühlshaltigeren Begriffe ‚Bund‘ und ‚Verein‘.60

55 Vgl. den Bericht des kaiserlichen Gesandtschaftssekretärs (6. 8. 1791), abgedr. in: Hansen, Quellen (s. Anm. 34), Bd. 1, 924. 56 Graf Karl von Nesselrode, Erlaß v. 3. 7. 1792, ebd., Bd. 2 (Bonn 1933), 279. 57 Tatsächlich verwandelte sich nur die verschwindend geringe Zahl von 4 oder 5 Lesegesellschaften in politische Vereinigungen, vgl. Klaus Gerteis, Bildung und Revolution. Die deutschen Lesegesellschaften am Ende des 18. Jahrhunderts, Archiv für Kulturgeschichte 53 (1971), 127 ff. 58 Ernst Brandes, Betrachtungen über den Zeitgeist in Deutschland in den letzten Decennien des vorigen Jahrhunderts (Hannover 1808), 151. 59 Ebd., 151 ff. 60 Reinhart Koselleck, Art: Bund Bündnis, Föderalismus, Bundesstaat. In: Otto Brunner, Werner Conze, Reinhart Koselleck (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe: Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland Bd. 1, 582–671, hier: 644; der Bedeutungswandel dieses Referenzbegriffs verläuft zu dem von ‚Verein‘ in wesentlichen Zügen parallel.

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War die Semantik der aufgeklärten ‚Gesellschaft‘ immer geprägt von der vertragsrechtlichen Vorstellung eines rationalen Tausches von Rechten und Verpflichtungen, so trat jetzt die menschliche Bildung als konstitutives Merkmal der Vergesellschaftung in den Vordergrund. Friedrich Schlegel wandte sich gegen die Aufklärungsgesellschaften, weil die literarischen Vereine, Akademien und Institute zu kleine Handhaben geboten hätten, um eine Aussicht ins Unendliche für innere Bildung zu eröffnen.61 Anstelle eines praktischen, für die Gesellschaft nützlichen Zwecks stand hier ein betont nicht-utilitärer Vervollkommnungsanspruch des Individuums im Zentrum. Es entspricht dieser Emotionalisierung, dass die Semantik des Vereinsbegriffs jetzt wesentliche Bedeutungsgehalte aus der dichterischen Sprache aufnahm. Im Begriff ‚Verein‘ kamen emphatisch die Freiwilligkeit der Bindung, die individuelle Selbständigkeit der Verbundenen und die gefühlsmäßige Nähe zum Ausdruck. Das neue Gemeinschaftsbedürfnis konnte dabei noch die aufklärerische Pathosformel ‚Menschheit‘ aufnehmen wie in Schillers ,,Maria Stuart“: England ist nicht die Welt, sein Parlament nicht der Verein der menschlichen Geschlechter.62 Vor allem aber vermittelte der Vereinsbegriff die affektiven Beziehungen der Einzelnen mit den Wertnormen und Tugendvorstellungen der Gesellschaft. Im heiteren Verein versöhnen sich widersprüchliche Gefühle, er bringt den wilden Sturm der Leidenschaften zur Ruhe.63 Die politisch-sentimentale Poesie der Burschenschaften sprach später in den Attributen von ‚Verein‘ und ‚Bund‘ die Gehalte der Freundschaft aus, die ins Politische hinüberspielten: der herzinnige Verein, der starke, herrliche Verein, der traute Verein mobilisiert die Kräfte der Innerlichkeit für politische Ziele, für der Freiheit Festverein.64 Die Herzens- und Gesinnungsgemeinschaft überwiegt hier gegenüber den Bedeutungsgehalten einer formalisierten Gesellschaft von Persönlichkeiten, die nur einen fest umgrenzten Teil ihrer Interessen in einem statutarisch genormten Gemeinschaftsleben wahrnehmen. In der Formel vom ewigen Verein65 betonte der poetisch-emphatische Sprachgebrauch den Wunsch nach Dauer. Diese Polarität von Einsamkeit und Gesellschaftsbildung, das Wechselspiel von Weltbezug und Ichbezug, ging als Strukturprinzip auch in die neuhumanistische Reformuniversität ein. Der gesteigerte Anspruch auf Entfaltung der individuellen Kräfte drängte auf praktische Anwendung in der Wissenschafts- und Bildungsorganisation. Der wissenschaftliche Verein der neuen Universität verkörperte 61 Friedrich Schlegel, Philosophische Fragmente (1798/1801), Kritische Friedrich Schlegel Ausgabe, hg. v. Ernst Behler unter Mitarbeit von Jean-Jacques Anstett und Hans Eichner u.a., l. Abt., Bd. 2 (1971), 367. 62 Schiller, Maria Stuart. Ein Trauerspiel 2, 3 (1799/1800), Werke, hg. v. Herbert Kraft u. Hans Mayer, Bd. 2 (Frankfurt 1966), 43; Menschheit, Bd. 3, 1093 ff. 63 Franz Grillparzer, Bianca von Castilien 2, 4 (1809/10), Werke, hg. v. August Sauer, 2. Abt., Bd. 1 (Wien 1911), 67. 64 Wilhelm Olshausen, Das Wartburgfest (1817); August Wentzel, Silvester (1818); Josef G. Zuccarini, Festlied (1820), alle Texte abgedr. in: Burschenschaftliche Dichtung von der Frühzeit bis auf unsere Tage. Eine Auslese, hg. v. Friedrich Harzmann (Heidelberg 1930), 41 50. 62. 65 Zacharias Werner, Martin Luther oder die Weihe der Kraft (1807), Deutsche National-Literatur, Bd. 151 (o.J.), 46.

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die notwendige innere Einheit aller Wissenschaft, er ermöglichte die verschiedensten Arten der Mitteilung und der Gemeinschaft aller Beschäftigungen, und er institutionalisierte schließlich zugleich die notwendige Widersetzlichkeit der Wissenschaft gegenüber dem Staat wie auch das Bedürfnis, ... vom Staate geschützt und begünstigt zu werden.66 2. Der Streit um den Tugendbund und das Selbstverständnis des deutschen Frühliberalismus Im Sog der nationalen Bewegung seit 1806 wurde im Vereinsbegriff die gefühlsbetonte Bindung auf den Bereich der politischen Ordnung übertragen und bildete als nationale Emotion das Ferment freiwilliger Gesellschaftsbildung. Die Kontamination der Bedeutungsfelder aus der Poesie einerseits, der Rechts- und Theoriesprache andererseits zeigt, dass die auf Innerlichkeit und Moralität gegründete kleine Gemeinschaft den Anspruch erhob, als gesellschaftlicher und politischer Handlungsträger offiziell anerkannt zu werden. Dieser Emanzipationsvorgang stand im Zusammenhang mit der Selbstreform des Obrigkeitsstaates, in dem die politisch engagierte und reformwillige Bildungsschicht selbst die Aufhebung der Differenz von innen und außen forderte, von Innerlichkeit und Gefühl hier und politischer Ordnung dort, wie sie der absolutistisch regierte Staat fixiert hatte. Repräsentativ für die neuartige Handlungsbereitschaft staatsloyaler und staatsnaher Bürger ist der sogenannte ,,Tugendbund“ (gegründet im April 1808 in Königsberg). Die Gesellschaft gab sich selbst den Namen sittlich-wissenschaftlicher Verein67 und definierte in den Statuten als Vereinszwecke unter anderem: den Patriotismus zu erwecken und zu vermehren, ... das Unglück des Staates in seinen Einzelheiten kennenzulernen, Vorschläge zu dessen Minderung und endlicher Abhelfung zu machen und an deren Ausführung kräftig mitzuwirken.68 Dieses Partizipationsverlangen wurde für den preußischen Konservativismus zum Stein des Anstoßes und zum Anlass grundsätzlicher ideenpolitischer Klärungen. Für den konservativen Etatismus konnten Maßregeln des Staates schlechthin nie Gegenstand einer Privatverbindung sein.69 Es ist für die Geschichte der bürgerlichen Emanzipationsbewegung in Deutschland charakteristisch, dass der Terminus ‚politischer Verein‘ zuerst im Untertitel der Denunziationsschrift des Staatsrats Schmalz gegenüber ei66 Friedrich Daniel Schleiermacher, Gelegentliche Gedanken über Universitäten in deutschem Sinn (1808), in: Friedrich Daniel Schleiermacher, Sämtliche Werke, Gesamtausgabe, 22 Bde. in 3 Abt. (Berlin 1835–1864), 3. Abt., Bd. 1 (1846), 550. 539 f. 542 f. 67 J.D.F. Mannsdorf, Aktenmäßiger Bericht über den geheimen deutschen Bund und das Turnwesen, in: Geschichte der geheimen Verbindungen in der neuesten Zeit (Leipzig 1831), H. 1, 41; vgl. O. Dann, Geheime Organisierung und politisches Engagement im deutschen Bürgertum des frühen 19. Jahrhunderts. Der Tugendbund-Streit in Preußen, in: Ludz, Geheime Gesellschaften (s. Anm. 34), 399 ff. 68 Mannsdorf, Aktenmäßiger Bericht, 41. 69 Theodor Schmalz, Berichtigung einer Stelle in der Bredow-Venturischen Chronik für das Jahr 1808. Über politische Vereine und ein Wort über Scharnhorsts und meine Verhältnisse zu ihnen (Berlin 1815), 15.

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ner Versammlung durchaus staatsloyaler Reformbeamter auftrat und von diesen zunächst auch keineswegs für sich beansprucht, sondern vermieden wurde. Barthold Georg Niebuhr unterschied in seiner Antwort begrifflich zwischen ‚Partei‘, ‚Sekte‘ und ‚Gesellschaft‘. Die politische Sekte sei eine bloße informelle Interessen- und Gesinnungsgemeinschaft von Personen ohne verantwortliche Stellung und Handlungsmöglichkeit.70 Ihr steht gegenüber die politische Parthei, in der politisch engagierte Amtsträger eine unorganisierte politische Überzeugungsgemeinschaft bilden. Niebuhr bejahte solche Parteien, löste aber ihre widersprüchliche Situation in einem spätabsolutistisch verfassten Staat nicht auf: in einem Staate, wo die Souveränität ungeteilt dem Monarchen gehört, könne von einer politischen Parthei vernünftigerweise die Rede gar nicht sein; es solle aber damit so genau nicht genommen werden; politische Partheien ... müssen in jedem Staate entstehen, wo Leben und Freiheit ist.71 Die entscheidende Grenze, die Niebuhr, offenbar ohne taktische Erwägungen, zog, ist der Übergang zur Organisation, zur institutionalisierten Handlungsgemeinschaft. Entstünde aus der Sekte oder der Partei eine politische Gesellschaft oder Verbindung, so sei dies der Anfang von etwas ganz anderem und vom ersten Schritt an eine entscheidende Verletzung der Verhältnisse des Unterthans zur souveränen Macht.72 Solche Verbindungen stellten per se eine Verletzung der bestehenden Verfassung und der alleinigen monarchischen Souveränität dar, selbst wenn sie nicht auf Verfassungsänderung hinarbeiteten. 3. Die Vereine der national-demokratischen (Jugend-)Bewegung Der von Schmalz in die politische Sprache eingeführte Begriff des ‚politischen Vereins‘ bezeichnete auch den national-politischen Verein mit jugendbündischem Charakter. In der Übergangssituation zwischen nationaler Befreiungsbewegung und Restauration formte sich die Identifikation mit dem Staat gegen den nationalen Feind um zum politischen Partizipationsanspruch in der bürokratischen Monarchie und zur Negation einzelstaatlicher Souveränität. Der Name ,,Deutscher Bund“, den Jahn und Friesen für ihren 1810 gegründeten nationalpolitischen Unterstützungsverein wählten,73 bezeichnet den Willen der Mitglieder, sich mit Hilfe gesellschaftlicher Selbstorganisation außerhalb des absolutistischen Institutionengefüges dem Ganzen der Nation freiwillig und emphatisch zuzuordnen. Ein geheimer Verein musste der Bund nicht nur wegen des Schutzes gegenüber der französischen Besatzungsmacht bleiben, sondern auch, weil die Selbstbezeichnung der Mitglieder als

70 Barthold Georg Niebuhr, Über geheime Verbindungen im preußischen Staat und deren Denunciation (Berlin 1815), 8. 71 Ebd., 8 f. 72 Ebd., 10. 73 Diese Definition nach O. Dann, Die Anfänge politischer Vereinsbildung in Deutschland, in: Soziale Bewegung und politische Verfassung. Beiträge zur Geschichte der modernen Welt, Festschrift Werner Conze, hg. v. Ulrich Engelhard, Volker Sellin, Horst Stuke (Stuttgart 1976), 197 ff.

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Eidgenossen eine republikanische Gesinnung zum Ausdruck brachte.74 Demokratisch war auch das Programm des 1812 gegründeten „Turnkünstler-Vereins“, gebildet von den Turnfertigsten und Allgemeingebildetsten aus allen Ständen der bürgerlichen Gesellschaft.75 Der aufklärerische Impuls einer – auf die Oberschichten begrenzten – Ständeverschmelzung verwandelte sich in der national-demokratischen Programmatik des Vereins in eine politisch gemeinte Egalität. Sie lag auch Ernst Moritz Arndts „Entwurf einer teutschen Gesellschaft“ von 1814 zugrunde, in dem die Pflege der nationalen Identität und ihrer vor- und außerrationalen Elemente zum eigentlichen Vereinsinhalt erhoben wurde. Es gebe in Deutschland so viel Verbindungen und Gesellschaften ..., öffentliche und geheime ... Freimaurer, Illuminaten, Rosenkränzler, Klubbisten, Assembleisten, Ressurzisten, Museisten, Kassinisten, die schon mit ihrem Namen fast alle auf fremde Zeichen und Zwecke hinwiesen; er wolle dagegen eine Verbindung für das Vaterland stiften, eine teutsche Gesellschaft ..., für alle Deutschen ohne Unterschied der Religion und Regierung.76 Anstöße von Arndts „Entwurf“ flossen mit Impulsen aus den national-demokratischen Vereinsbildungen Jahns, aus der neuhumanistischen Bildungsbewegung und aus dem empfindsamen und romantischen Freundschaftskult zur Jugendbewegung der deutschen Burschenschaften zusammen. Ihre Organisationsbegriffe sind ‚Bund‘ und ‚Verein‘, mehr oder weniger äquivok gebraucht. Dadurch gingen die Charakteristika des Bundesbegriffs als eines Überzeugungs- und Erwartungsbegriffs77 auch auf den Vereinsbegriff über. Die neuen Verbindungsnamen wie „Teutonia“ (Heidelberg 1814) oder ,.Germania“ (Gießen 1815) belegen den Bezug auf die Nation. Musste man aus Gründen behördlicher Verbotsdrohung auf die neuen Namen verzichten, so erschien etwa in der Ersatzbezeichnung der Gießener Burschenschaft als „Deutscher Bildungs- und Freundschaftsverein“ doch wieder die Nation.78 In Abgrenzung gegen die Konnotationen des Gesellschaftsbegriffs, für den klar definierte praktische Zwecke charakteristisch waren, der auch seine Herkunft aus der Rechtssprache nie abstreifte, brachte die politische Jugendbewegung ihre Motive und Bedürfnisse auf den Begriff der Gemeinschaft, die, in der innersten Natur des Menschen verankert, dazu beitragen sollte, die Vereinzelung der Per-

74 Der deutsche Bund gegen Napoleon und die Jahn’sche Untersuchung. Ein amtlicher Bericht E.T.W.[A.] Hoffmann‘s vom 15. 2. 1820 als Dezernenten im Jahn‘schen Prozeß, abgedr. in: Heinrich Proehle, Friedrich Ludwig Jahn‘s Leben. Nebst Mitteilungen aus seinem literarischen Nachlasse (Berlin 1855), 326. 75 Friedrich Ludwig Jahn, Die deutsche Turnkunst zur Errichtung der Turnplätze, zusammen mit Ernst Eisele (Berlin 1816), VI. XI. 76 Arndt, Entwurf einer teutschen Gesellschaft (1814), in: Ernst Moritz Arndt, Ausgewählte Werke, hg. v. Heinrich Meiner und Rudolf Geerds, 16 Bde. (Leipzig o.J.), Bd. 13 (1908), 260 f. 77 Koselleck, Art. Bund, Bündnis (wie Anm. 60), 646. 78 Der „Deutsche Bildungs- und Freundschaftsverein“ ist die Nachfolgeorganisation der Gießener „Germania“, nachdem sie von ihren landsmannschaftlichen Gegnern im Winter 1815/16 als politische Verschwörung denunziert worden war, vgl. Hermann Haupt, Karl Follen und die Gießener Schwarzen. Beiträge zur Geschichte der politischen Geheimbünde und der Verfassungsentwicklung der alten Bruderschaft in den Jahren 1815–1819 (Gießen 1907), 10 ff.

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son aufzuheben.79 Der Emphase auf ‚Gemeinschaft‘ stand der Rekurs auf eine Gesinnungsethik gegenüber, welche nur mehr die selbstgesetzten Normen akzeptierte. Für Karl Follen stellte sich daher die Burschenschaft als ein inniger, unbesieglicher Bund der Überzeugung dar, der allein noch vor dem innern Gesetz und Gerichte gerechtfertigt werden musste.80 Im Bund versammelten sich demnach Personen, die als letzte Instanz für ihre politische Meinungs- und Willensbildung nur die individuelle Überzeugung anerkannten. Die Burschenschaften erschienen dadurch in der behördlichen Lesart als eine Menge von fast durch ganz Deutschland verteilten kleineren Vereinen, welche wissenschaftliche Zwecke zum Deckmantel ihrer hochverräterischen Absichten vorschützen und mit revolutionären Clubs außerhalb Deutschlands eine einheitliche Umsturzorganisation aufbauten.81 IV. STAATENGEMEINSCHAFT UND NATIONALSTAAT 1. Die Utopie vom „ewigen Frieden“ Im Übergang vom europäischen Staatensystem des Absolutismus zur europäischen Nationalstaatsordnung des 19. Jahrhunderts setzte sich für die verschiedenen Konzeptionen, die Vielfalt von rivalisierenden Mächten zu einer harmonischen Einheit ohne despotische Zentralisierung zusammenzuschließen, immer mehr der Begriff ‚Verein‘ durch. Das tertium comparationis für diese Ausdehnung vom Staatsrecht auf das Völkerrecht ist in den tragenden Bedeutungsgehalten des Vereinsbegriffs zu suchen: in der Freiwilligkeit der Entscheidung und der Selbständigkeit und Gleichrangigkeit der einzelnen Mitglieder. Der Vereinsbegriff schob sich zunächst neben ‚Bund‘; er signalisierte damit, dass sich die Konnotationen einer universitas christiana, die an ‚Bund‘ hafteten, abschwächten, so dass dieser Begriff auf der Ebene der Staatenbeziehungen gegen einen rein säkularen wie ‚Verein‘ konvertibel wurde.82 In Kants Reflexionen über die Möglichkeit eines ewigen Friedens bildete der naturrechtliche Grundgedanke einer freiwilligen Verbindung selbstbestimmter Individuen zu einer allgemein gültigen Rechtsordnung die Grundlage für die Analogie von Staats- und Völkerrecht. Einzelne Menschen ebenso wie Völker hätten den Naturzustand zu überwinden; nur dann könne das Recht in einem allgemeinen Staatenverein (analogisch mit dem, wodurch ein Volk Staat wird) peremtorisch gelten 79 Schreiben des Jenenser Burschentages (April 1818), abgedr. in: Georg Heer, Die ältesten Urkunden zur Geschichte der allgemeinen deutschen Burschenschaft, in: Quellen und Darstellungen zur Geschichte der Burschenschaft und der deutschen Einheitsbewegung, hg. v. H. Haupt u. P. Wentzke, Bd. 13 (Heidelberg 1932), 122. 80 [Karl Follen], Beiträge zur Geschichte der teutschen Samtschulen seit dem Freiheitskriege 1813, abgedr. in: Der Gießener Ehrenspiegel, hg. v. Carl Walbrach (Frankfurt 1927), Vorwort, 5. 81 Amtliche Belehrung über den Geist und das Wesen der Burschenschaft, aus den Untersuchungsakten gezogen und zunächst zur Verwarnung für alle Studierenden an den königlichpreußischen Universitäten bestimmt (Halle 1824), 7 f. 82 Koselleck, Art. Bund, Bündnis (wie Anm. 60), 640 ff.

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und ein wahrer Friedenszustand entstehen.83 Ein solcher föderativer Verein machte die Zusammenstimmung der Politik mit der Moral denkbar, wenn auch nicht wirklich.84 Dieser aus dem Naturrecht entwickelten, machtstaatskritischen Konzeption eines Bundes gleichberechtigter Völker trat in der Romantik die restaurative Vorstellung einer christlichen Universalmonarchie gegenüber. Nach Friedrich Schlegel würde der von Kant vorgeschlagene Völkerverein ein republikanisches Verhältnis zwischen den Völkern voraussetzen und damit den Keim zum Bürgerkrieg legen.85 Schlegel stellte den Mängeln eines idealen Völkervereins ... das System des Kaisertums und der Hierarchie gegenüber.86 Um den befürchteten terroristischen Konsequenzen individueller oder staatlicher Beanspruchung der Moralität für die eigenen Handlungen zu entgehen, verlagerte Schlegel die Legitimationsgrundlage für Machtentfaltung vom Vertrag und der individuellen Entscheidung in eine christlich gesetzte, statische Herrschaftsordnung.87 Allerdings kam auch er nicht umhin, einen gewissen Selbständigkeitsanspruch der Völker oder Staaten zu konzedieren. Er bildete dafür den Begriff eines monarchischen Völkervereins – ohne Anspruch auf absolute Totalität.88 2. Vom alten Reich zum Deutschen Bund: ‚Staatenverein‘ Bei Kant und Schlegel organisierte der Vereinsbegriff die Überlegungen zu einer Weltstaatenordnung im Zerfallsprozess der universitas christiana. Auf der Ebene der realen Neuordnung des europäischen Staatensystems nach der Auflösung des Alten Reiches diente derselbe Begriff dazu, die Ausbalancierung von Vielfalt und Einheit der deutschen Staatenwelt verfassungsrechtlich zu fixieren. Wilhelm von Humboldt unterschied 1813 zwei Bindungsmittel für ein politisches Ganzes; eine wirkliche Verfassung, oder einen bloßen Verein.89 Gegenüber dem an sich Wünschenswerteren beschied er sich beim Geringeren, einem bloßen Staatenverein, einem Bund.90 Er knüpfte damit unmittelbar an die Tradition des Alten Reiches an und verband sie mit dem neuen nationalpolitischen Argument von der territorialkulturellen Vielgestaltigkeit der einheitlichen deutschen Kulturnation. Nationen 83 Kant, Metaphysik der Sitten (1797), in: Immanuel Kant, Gesammelte Schriften, hg. v. der Königlich Preußischen (bzw. Deutschen) Akademie der Wissenschaften, 24 Bde. (Berlin, Leipzig 1900–1966), Bd. 6 (1907/14; Ndr. 1968), 350. 84 Ders., Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf (1795), ebd., Bd. 8, 385. 85 Friedrich Schlegel, Die Entwicklung der Philosophie in zwölf Büchern (1804/05), Kritische Friedrich Schlegel Ausgabe, hg. v. Ernst Behler unter Mitarbeit von Jean-Jacques Anstett und Hans Eichner u.a., 2. Abt., Bd. 13 (1964), 165. 86 Ebd. 87 Ebd., 165 ff. 88 Ebd., 167. 89 Wilhelm von Humboldt, Denkschrift über die deutsche Verfassung (1813), in: Wilhelm von Humboldt, Gesammelte Schriften, hg. von der Königlich Preußischen (bzw. Deutschen) Akademie der Wissenschaften, 17 Bde. (Berlin, Leipzig 1903–1936, Ndr. 1968), Bd. 11 (1903), 98. 90 Ebd., 99.

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hätten wie die Individuen, ihre, durch keine Politik abzuändernden Richtungen. Die Richtung Deutschlands ist ein Staatenverein zu sein.91 Der Freiherr vom Stein machte sich diese Haltung zu eigen: dem Wunsch der Nation sei zwar die Bildung einer kräftigen Verfassung am meisten angemessen; ihr stünde aber das Individuelle der handelnden Personen und das Verhältnis der verbündeten Staaten im Wege, man müsse sich daher mit dem leichter Erreichbaren, nämlich einem Staatenverein begnügen.92 In der Diskussion um Bundesstaat oder Staatenbund diente der Terminus zunehmend dazu, eine lockere föderative Vereinigung auf der Grundlage des verfassungsrechtlichen Status quo der Gliedstaaten zu bezeichnen. Der Deutsche Bund definierte sich in der Wiener Schlussakte vom 15. 5. 1820 in seinem Außenverhältnis als Einheit, im Binnenverhältnis der Gliedstaaten durch die Vielheit: Der deutsche Bund ist ein völkerrechtlicher Verein der deutschen souveränen Fürsten und freien Städte, zur Bewahrung der Unabhängigkeit und Unverletzbarkeit ihrer im Bunde begriffenen Staaten ... Dieser Verein besteht in seinem Innern als eine Gemeinschaft selbständiger unter sich unabhängiger Staaten, mit wechselseitigen gleichen Vertrags-Rechten, ... in seinen äußeren Verhältnissen aber als eine in politischer Einheit verbundene Gesamt-Macht.93 Im vormärzlichen Auslegungsstreit um die Bundesverfassung suchte die liberal-oppositionelle Staatslehre die Bundesakte stärker in die Richtung eines bundesstaatlichen Grundgesetzes zu interpretieren. Sie bezeichnete den Bund als wahrhaft staatsrechtlichen Nationalverein und leitete daraus den Anspruch auf eine gesamtnationale Verfassung und eine Nationalrepräsentation ab.94 Die Kombination des Rechtsterminus ‚Verein‘ mit dem Erwartungsbegriff ‚Nation‘ zielte nicht auf eine revolutionäre Beseitigung des gewordenen Rechts, sondern auf die Verwirklichung der nationalen Einheit auf der Grundlage der historisch gewordenen Einzelstaaten. In der vorrevolutionären Krise des deutschen Bundes wandte schließlich auch die preußisch-etatistische Darstellung des Bundes bei Radowitz den Schulbegriff eines rein völkerrechtlichen Vereins ins Negative, weil er die gewaltigste Kraft der Gegenwart, ... die Nationalität, nicht in sich aufgenommen habe.95 3. Nationale Wirtschaftseinheit und Weltwirtschaftssystem

91 Ebd., 101. 92 Frh. vom Stein, Bemerkungen zur Verfassungsdenkschrift Wilhelm von Humboldts (3. 1. 1814), Reichsfreiherr Karl von und zum Stein, Briefe und amtliche Schriften, bearb. v. Erich Botzenhart, neu hg. v. Walther Hubatsch, 8 Bde. (Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz 1957–1970), Bd. 4 (1963), 428. 93 Schlußakte der Wiener Ministerkonferenzen (15. 5. 1820), abgedr. in: Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, hg. v. Ernst Rudolf Huber, Bd. 1 (Stuttgart 1961), 81. 94 Carl Welcker, Art. Deutscher Bund und Bundesrecht, Carl Rotteck, Carl Welcker (Hg.), StaatsLexicon oder Encyclopädie der Staatswissenschaften, 15 Bde., 4 Suppl.Bde., 2. Aufl., Bd. 4 (1846), 9. 95 Joseph v. Radowitz, Denkschrift über die vom deutschen Bunde zu ergreifenden Maßregeln, in: Ausgewählte Schriften, hg. v. Wilhelm Corvinus, Bd. 2 (Regensburg o. J.), 46. 51.

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Nachdem die Nationalidee in der Konstituierungsphase des deutschen Nationalbewusstseins zwischen 1806 und 1815 vor allem von Bildungsbürgertum und Staatsbeamtenschaft artikuliert worden war, begann seit der Wiederbelebung von gewerblicher Produktion und Handel nach dem Ende der napoleonischen Kriege und unter dem Druck der industriellen Konkurrenz Englands auch das Handels- und Besitzbürgertum den Gedanken der nationalen Einheit zu forcieren. Friedrich List gründete 1819 den „Verein deutscher Kaufleute und Fabrikanten“.96 Die Spezialisierung des Vereinsbegriffs in der Terminologie der Handelspolitik bedeutete keinen Verzicht auf den nationalen Einheitswunsch. Für den Promotor der preußischen Zollpolitik, Motz, ergab sich 1829 zumindest die Perspektive auf die politische Einheit als notwendiger Folge der kommerziellen Einheit des preußisch-hessischen und des bayerisch-württembergischen Zoll- und Handelsvereins.97 Aus der durch den preußisch-süddeutschen Handelsvertrag von 1829 geschaffenen Einheit ging 1833 der Gesamtverein hervor, für den dann der Name „Deutscher Zollverein“ üblich wurde.98 Die liberale Opposition machte sich den Terminus „Zollverein“ zu eigen und belud ihn mit dem Erwartungsgehalt nationaler Einigungspolitik. Für Friedrich List kamen jetzt in der Idee des Zollvereins das instinktartige Gefühl und der Trieb der Selbsterhaltung der ganzen Nation zusammen“.99 Für den entstehenden National-Liberalismus galt im politischen Programm der Heppenheimer Versammlung vom Herbst 1847 die nationalstaatliche Einheit als durchführbar, indem der Zollverein, ... das einzige Band gemeinsam deutscher Interessen, zu einem deutschen Verein mit einem nationalen Parlament weiterentwickelt werden sollte.100 Deutete die Austauschbarkeit von „Zollverein“ und „deutschem Verein“ schon auf das erhebliche Gewicht eines nationalen Marktes für die nationale staatliche Einheit hin, so beleuchtete die Freihandelslehre mit ihrer Wortschöpfung eines erwerblichen Weltvereins umgekehrt die Interdependenz der sich industrialisierenden Nationalwirtschaften im entstehenden Kreislaufsystem der Weltwirtschaft.101

96 List, Bittschrift der in Frankfurt zur Ostermesse 1819 versammelten Kaufleute und Fabrikanten ... an die Bundesversammlung, in: Friedrich List, Schriften, Reden, Briefe, hg. v. Erwin von Beckerath, Karl Goeser u.a., 8 Bde. (Berlin 1927–1935), Bd. 1/2 (1933), 491. 97 Friedrich Christian Adolf v. Motz, Memoire über die hohe Wichtigkeit der von Preußen mit Bayern, Württemberg und Großherzogtum Hessen abgeschlossenen Zoll- und Handelsverträge ... (Juni 1829), abgedr. in: Vorgeschichte und Begründung des deutschen Zollvereins 1815– 1834. Akten der Staaten des Deutschen Bundes und der europäischen Mächte, hg. v. Wilfried von Eisenhart, Anton Ritthaler, Hermann Oncken, Bd. 3 (Berlin 1934), 532. 534. 98 Zollvereinigungs-Vertrag v. 22. 3. 1833, Gesetzes-Sammlung für die königlich preußischen Staaten 1833, Nr. 21 (Berlin 1833), 147, Art. 1. 99 Friedrich List, Die politisch-ökonomische Nationaleinheit der Deutschen (1845/46), (wie Anm. 96) Bd. 7 (1931), 443. 446. 100 Das Heppenheimer Programm der südwestdeutschen Liberalen (10. 10. 1847), abgedr. in: Huber, Dokumente, Bd. 1, 262 f. 101 John Prince-Smith, Über Handelsfeindseligkeit (1843), in: John Prince-Smith, Gesammelte Schriften, hg. v. Otto Michaelis, Bd. 2 (Berlin 1879), 84.

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V. DIE FREIWILLIGE VEREINIGUNG IM VERFASSUNGSSTAAT UND IN DER BÜRGERLICHEN GESELLSCHAFT 1. Freiwilligkeitsverband und politisches System im Vormärz a) Wörterbuchebene: ‚Assoziation‘ und ‚Verein‘ als Strukturprinzipien der bürgerlichen Gesellschaft. Seit der Mitte der 1830er Jahre setzte sich neben dem Vereinsbegriff nahezu bedeutungsgleich der Begriff ‚Assoziation‘ als neue Pathosformel der politisch-sozialen Diskussion durch. Der Begriff konnte in den Jahren bis 1848 schließlich jede Form freiwilliger Vergesellschaftung bezeichnen. Sogar die Abgrenzung zum traditionalen Zwangsverband der Korporation wurde flüssig. Überall, wo die Verbindlichkeit ständischer Lebensgestaltung nachließ, trat an ihre Stelle der Verein oder die Assoziation.102 Warum die entstehende bürgerliche Gesellschaft seit der Mitte der 30er Jahre ‚Assoziation‘ – stärker noch als ‚Verein‘ – zu ihrem Leitbegriff machte, zeigt sich am besten auf der Kommunikationsebene der Lexika. Die frühneuzeitlichen Lexika führen unter dem Stichwort ‚Verein‘ nur die reichsrechtliche Bedeutung auf. Als ‚Assoziation‘ wurde allgemein die Mitgesellschaft, Zugesellung, speziell aber – und bevorzugt – die Handelsgesellschaft benannt.103 Seit den 1780er Jahren schob sich der philosophische Kunstausdruck einer associatio idearum daneben, als Terminus für die unwillkürliche Verknüpfung von Gedanken.104 Der Anstoß für die neue inhaltliche Ausfüllung und Gewichtung des Begriffs ging zweifellos von der fortgeschritteneren Theorieentwicklung in England und Frankreich aus. Getragen wurde sie bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts vom Begriff ‚society‘ bzw. ‚société‘. Er benannte ein über Familie, Freundschaft und Nachbarschaft hinausgehendes Gesellschaftsbedürfnis, das sich in larger communities and commonwealths Raum schafft, wobei diese societies den zivilisatorischen Fortschritt vorantreiben sollen: it is in these only, that the more sublime powers of our nature attain the highest improvement and perfection of which they are capable.105 Bis 1830 verselbständigte sich dann sowohl in England als auch in Frankreich der Assoziationsbegriff. Der allgemeine Sprachgebrauch versteht jetzt darunter the natural indination which all men have into sociable life, wie auch die confederacy als union for particular purposes; good or ill.106 1833 entfal102 Vgl. Nipperdey, Verein (s. Anm. 21), 174; Wolfgang Hardtwig, Strukturmerkmale und Entwicklungstendenzen des Vereinswesens in Deutschland 1789 bis 1848, in diesem Band, 181 ff. 103 Zedler, Bd. 2 (1732), 1913, Art. Associare: Associiren, in Compagniegesellschaft ... aufnehmen und einlassen, zugesellen, zusammenfügen, vergesellschaften ...; association, Gesellschaft, Zugesellung, Societät, Compagnie. 104 Vgl. z.B. Christian Friedrich Schwan, Nouveau dictionnaire de la langue allemande et francoise 2.Aufl., Bd. 1 (1787), 140, s.v. Association. 105 Encyclopaedia Brittannica, 3 vol. (Edinburg 1771), 614, Art. Society; der Dict. Ac. franç., 5e éd., t. 1 (1798), 61, verweist unter association auf ebd., 5e ed., t. 2 (1798), 482 société und führt unter dem Stichwort noch unverbunden den naturrechtlichen Allgemeinbegriff für ‚Gesellschaft‘ und eine Verbindung von Privatleuten zur Realisierung gemeinsamer Zwecke an. 106 Samuel Johnson, A Dictionary of the English Language, vol. 1 (Ausg. 1831), 118, Art. Association.

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tete die „Encyclopédie des gens du monde“ in einem Neueinsatz ein breites, aber auch präzis umrissenes Bedeutungsfeld von ‚association‘. Sie resümiert die Aufspaltung des Vereinswesens nach verschiedenen Interessen, deutet Konstitutionsmerkmale von ‚association‘, ‚solidarité‘ und ‚participation‘ als Antwort auf zunehmende Arbeitsteilung und Ausdehnung des Handels und geht selbstverständlich von der Berechtigung und Bedeutsamkeit des politischen Vereins aus.107 Diese Inhalte fanden dann seit 1833 Aufnahme im Assoziationsbegriff der deutschen Lexika. Im Zentrum stand jetzt das Bewusstsein neuartiger Möglichkeiten der Naturbeherrschung. In der Vereinzelung sei der Mensch das schwächste und hülfloseste Geschöpf, unfähig zur Entwicklung seiner Fähigkeiten und zur Befriedigung seiner Bedürfnisse; ... aber zu mächtigen Gebietern der Erde, zu einer wachsenden Herrschaft über die Natur erheben sich die Vereine der Menschen durch die Verbindung ihrer Kräfte für Erreichung gemeinsamer Zwecke.108 Seit sich die ständisch-feudale Welt auflöse, das Grundeigentum mobil werde, das Monopol einzelner Classen auf Besitz und Erwerb der geistigen Schätze zerfalle und sich in allen Lebensbereichen das Prinzip der freieren Konkurrenz durchsetze, könnten sich die freien Associationen auf alle Bereiche menschlicher Tätigkeit ausdehnen.109 Die alte Bedeutung der ‚Handelsgesellschaft‘ ging nicht verloren; vielmehr weitete sich die Vergesellschaftung zum Zweck der Ertragssteigerung durch Kapitalansammlung und Arbeitsteilung vom Sonderfall der vormodernen Wirtschaftsverfassung zum Strukturprinzip der Gesellschaft aus. Die bürgerliche Gesellschaft wird beschrieben als wirtschaftliche Gewinn- und Konkurrenzgesellschaft, als Bildungsgesellschaft und als sich selbst bestimmendes Normensystem: die Assoziation ermöglicht zuerst Gewinn und Vertrieb aller materiellen Güter in neuen Formen, dann die gemeinsame Erforschung der Wahrheit in allen Reichen des Wissens, und schließlich greift der Associationsgeist mit Missionsgesellschaften, Mäßigkeitsvereinen, Vereinen zur Verbesserung von Verbrechern etc. in das religiöse und sittliche Leben ein.110 Die Assoziation als die der bürgerlichen Erwerbs- und Konkurrenzgesellschaft entsprechende Gesellungsform löst den Menschen aus der Naturabhängigkeit und schafft die Möglichkeiten zu schier unbegrenzter Selbstentfaltung.

107 Encyclopédie des gens du monde. Répertoire universel des sciences, des lettres et des arts, 22 vol. (Paris 1833–1844), vol. 1 (1833), 421 ff., Art. Association; Dictionnaire de l’Academie francaise, 6e éd., t. 1 (1835), 117, Art. Association; Brockhaus, Conversations-Lexicon oder Handwörterbuch für die gebildeten Stände, 8. Aufl., 12 Bde. (Leipzig 1833–37), Bd. 1 (1833), 457, Art. Association. 108 Brockhaus, Conversations-Lexicon der Gegenwart, 4 Bde. (Leipzig 1838–1841), Bd. 1 (1838), 244, Artikel Associationen. 109 Ebd. – Der Artikel „Association“ bei Joseph Meyer, Das große Conversations-Lexikon für die gebildeten Stände, 15 Bde. (Hildburghausen 1839–1852), Bd. 4 (1843), 983 ff., übernimmt diese Partien mehr oder weniger wörtlich, vertieft jedoch darüber hinaus den Abschnitt über das Vereinsrecht und behandelt ausführlich den Frühsozialismus; praktisch deckungsgleich auch Rheinisches Conversations-Lexikon Lex., 4. Aufl., Bd. 12 (1845), 359 f., Art. Vereine, besonders politische. 110 Brockhaus, Conversations-Lexicon der Gegenwart, Bd. 1, 244, Art. Associationen.

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Seit 1843 rezipieren die Lexika frühsozialistische Gedanken und bewerten die Assoziation in gewissen, meist radikalen nationalökonomischen Systemen – vor allem Owens, Saint-Simons und Fouriers – als Anerkennung eines begründeten Bedürfnisses. Auf der Erfahrungsgrundlage der englischen Gewerkschaftsentwicklung registrieren sie das Auftreten von Assoziationen der Arbeiter gegen die Fabrikherren und beurteilen sie als gefährlich für die ganze Gesellschaft, fordern jedoch aus bürgerlich-sozialreformerischer Sicht, die gewerkschaftlichen Vereine nicht einfach zu unterdrücken, sondern ihnen durch Beseitigung der Ursachen möglichst vorzubeugen.111 Nach 1848 spiegeln die Lexika die Tendenz zur Diversifikation und zur Verrechtlichung der assoziativen Verbindungen, wobei auch die Toleranz gegenüber ‚Assoziation‘ als Leitbegriff politisch-sozialer Emanzipation verschwindet. Der Brockhaus von 1851 kritisiert die fortwährende und sehr laxe Wortverwendung und unterscheidet in völkerrechtlicher Beziehung: Allianz, Koalition, Föderation, Bündnis, für das innere Staatsleben: politischer Verein, für die Wissenschaft: Sozietäten und gelehrte Vereine ... Die Assoziation im Ideenkreise des Socialismus, vor 1848 den Sprachgebrauch dominierend und durchaus positiv gewürdigt, wird jetzt unter dem Gesichtspunkt der Unausführbarkeit nur noch knapp referiert und kritisch verworfen.112 Schließlich deutet sich hier bereits die Ersetzung von ‚Assoziation‘ durch ‚Genossenschaft‘ an, die 1864 im Zuge der breiten mittelständisch-handwerklichen, wirtschaftlichen Selbsthilfevereinsbewegung entfaltet wird.113 Seit 1875 schließlich führt der weitgehende Abschluss des Differenzierungs- und Verrechtlichungsprozesses dazu, dass die verschiedenen Assoziationstypen in der Sammelbezeichnung ‚Vereinswesen‘ aufzugehen beginnen. ‚Genossenschaft‘ hat sich dabei gegenüber ‚Assoziation‘ endgültig verselbständigt.114 Gegenüber der Semantik von ‚Assoziation‘ spezialisiert sich das Stichwort ‚Verein‘ bereits früh auf den politischen Verein. Die Anklänge an den korporativständischen Verband treten nach 1835 zurück. Dass die politische Tendenz einen Verein ... für sich allein noch nicht strafbar mache, bleibt im Vormärz die bewusst gegen Bundesbeschlüsse und einzelstaatliche Gesetzgebung vertretene Grundüberzeugung.115 Nach 1848/49 nähert sich die Semantik des ‚politischen Vereins‘ einem positiv besetzten Begriff von politischer Partei an.116 Dieser setzt aber noch kein System moderner Parlamentsparteien voraus, sondern möchte die Aktivitäten von politischem Verein und Partei im frühkonstitutionell-vormärzlichen Sinne auf einzelne Gesetzesvorhaben beschränken. Erst gegen Ende der 1870er Jahre akzeptiert der Sprachgebrauch der Konversationslexika die Verfestigung der politischen Verbandsbildung zu kompakten ... nach ihrem Zweck, ihrem Anhang im Volke und ihrer

111 112 113 114

Brockhaus, 9. Aufl., Bd. 1 (1843), 568, Art. Association. Ebd., 10. Aufl., Bd. 1 (1851), 745 f., Art. Association. Ebd., 11. Aufl., Bd. 1 (1864), 747, Art. Association. Ebd., 12. Aufl., Bd. 1 (1875), 338, Art. Association; vgl. Meyer, H.J., Neues ConversationsLexikon für alle Stände, 3. Aufl., 16 Bde. (Leipzig 1872–1879), Bd. 7 (1874), 600, Art. Genossenschaften. 115 Brockhaus, 8. Aufl., Bd. 8 (1835), 677 f., Art. Politischer Verein. 116 Ebd., 10. Aufl., Bd. 11 (1854), 242, Art. Politischer Verein.

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Beharrlichkeit meß- und wägbaren Parteien.117 Damit verschwindet das Stichwort und der Kampfbegriff ‚politischer Verein‘; er wird seit den 1880er Jahren einerseits von dem inzwischen konsolidierten neuen Leitbegriff ‚Partei‘, andrerseits von der politisch indifferenten Sammelbezeichnung ‚Vereinswesen‘ aufgesogen.118 b) ‚Staat‘ als ‚Verein‘ in der liberalen Theorie. In seiner spezifisch modernen Bedeutung führte der Vereinsbegriff weder den reichsrechtlichen Sprachgebrauch weiter, noch diente er als Ersatzbegriff etwa für die durch revolutionäre Konnotationen diskreditierten Termini ‚Klub‘ oder ‚Gesellschaft‘. Die neue Semantik ergab sich vielmehr aus einem Desiderat der Staats- und Gesellschaftslehre, die einen neuen theoretischen Zusammenhang begrifflich zu dokumentieren hatte. ‚Verein‘ konnte – wie ‚Gesellschaft‘ – die freiwillige Verbindung von rechtsgleichen Individuen benennen, deren Zusammenschluss jedoch – im Unterschied zu ‚Gesellschaft‘ – nicht in einem ahistorischen Vertragsabschluß aufgeht. Im Übergang der aufgeklärt-absolutistischen Naturrechtslehre zur frühliberalen Theorie trug der Vereinsbegriff also zwei neue Bedeutungskomponenten. 1) Er reflektierte den Übergang von der alteuropäischen bürgerlichen zur modernen Staatsbürgergesellschaft.119 ‚Bürgerlicher Verein‘ und ‚Staatsverein‘ sind in ihrem theoretischen Zusammenhang mit der Staatsbürgergesellschaft Oppositionsbegriffe gegenüber der traditionalen, gegliederten Sozial- und Herrschaftsordnung der societas civilis. In der Neuprägung ‚bürgerlicher Verein‘ fand die Idee eines einheitlichen bürgerlichen und schließlich staatsbürgerlichen Rechts ihren Namen. Sie blieb aber sozial zurückgebunden an die alteuropäische Ordnungseinheit des „ganzen Hauses“ und beschrieb damit die Konzeption einer Gesellschaft von rechtsgleichen Hausvätern.120 2) ‚Verein‘ artikulierte gegenüber ‚Gesellschaft‘ das Bedürfnis, die Tätigkeit des Sich-Vereinens selbst zu substantivieren und damit einen Vorgang zu bezeichnen, der als solcher schon das maßgebliche Prinzip des Zusammenlebens in die Wirklichkeit bringt. Je mehr sich in der Theoriesprache ‚bürgerlicher Verein‘ durchsetzte, desto mehr trat das naturrechtlich-absolutistische Konstrukt eines ahistorisch-fiktiven Gesellschafts- und Herrschaftsvertrages in den Hintergrund. Der Vereinsbegriff historisierte den Vorgang der Vergesellschaftung und der Staatsbildung, hielt jedoch an der Grundfigur einer freiwilligen Vereinbarung rechtsgleicher Individuen als Grundlage staatlicher Gewaltausübung fest. Am Leitfaden des Vereinsbegriffs lässt sich verfolgen, wie die liberale politische Theorie an Stelle einer raum- und zeitlos gültigen Vernunft allmählich die Vernunft der historischen Ent117 Ebd., 12. Aufl., Bd. 12 (1878), 910, Art. Politischer Verein. 118 Ebd., 13. Aufl., Bd. 12 (1886), 130, Art. Politischer Verein. 119 Zur Neuprägung ‚Staatsgesellschaft‘ vergl. den Art. Gesellschaft, bürgerliche, Bd. 2, 753 ff. 767 ff.; vgl. auch Werner Conze, Das Spannungsfeld von Staat und Gesellschaft im Vormärz, in: ders. (Hg.), Staat und Gesellschaft im deutschen Vormärz 1815–1848 (Stuttgart 1962), 207 ff., bes. 225 f. 120 Otto Brunner, Das „Ganze Haus“ und die alteuropäische „Ökonomik“ (1958), in: ders., Neue Wege (s. Anm. 9), 103 ff.; zu den traditionalen Elementen in der frühliberalen Theorie: Lothar Gall, Liberalismus und „bürgerliche Gesellschaft“. Zu Charakter und Entwicklung der liberalen Bewegung in Deutschland, Historische Zeitschrift 220 (1975), 324 ff.

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wicklung zum Legitimationsprinzip gesellschaftlicher und staatlicher Verfassung erhob. In einem bedeutenden Vorgriff auf die Theoriegeschichte des Frühliberalismus in Deutschland skizzierte August Ludwig Schlözer 1793 die Semantik des neuen Leitbegriffs. Er definierte die bürgerliche Gesellschaft als einen Verein ... freier Hausväter, eingegangen durch den contrat social als eines Aggregats der Vorteile aller und jeder Individuen, in dem sich jeder einzelne Unabhängigkeit, Freiheit und Gleichheit, ... wie vorhin vorbehält. Die bürgerliche Gesellschaft entsteht als ein FamilienVerein;121 theoretische Einsicht und praktische Erfahrung erzwingen darüber hinaus den Abschluss eines Herrschaftsvertrages, den Übergang zum Staat als MenschenVerein, mit der Unterwerfung unter den Herrscher, Obrigkeit, oberste Gewalt, Souverän.122 Der Bürger der societas civilis mit Herrschaftsrechten sui generis entwickelt sich zum Menschen als Untertan, dem eine einheitliche Staatsgewalt gegenübersteht. Zweck dieses Vereins ist aber ausdrücklich nicht das Glück des Herrschers, sondern das Glück aller.123 Friedrich Christoph Dahlmann bediente sich 1815 der Formel vom gesellschaftlichen Verein als eines Sammelbegriffs für politisch-soziale Ordnung überhaupt. Er verband die alte Wortbedeutung einer ständischen Einung mit dem nachrevolutionären liberalen Nationalgedanken: die als Grundlage ... eines dauernden vaterländischen Vereins geforderte nationale Repräsentativverfassung dürfe den historischen Zusammenhang mit dem alten deutschen Reichsvereine nicht gänzlich verlieren.124 Im Staat als Verein assoziiert sich demnach eine Gesamtheit von Menschen, die durch eine gemeinsame Geschichte geprägt ist und aus ihr historisch-politisches Selbstverständnis und Einheitsbewusstsein gewinnt. Der Begriff des ‚Staates‘ als ‚Verein‘ im „organischen Liberalismus“ diente als Oppositionsbegriff sowohl gegen altständischen Konservativismus wie auch gegen eine ahistorisch-etatistische Herrschaftslegitimation. Anders als im naturrechtlichen Kontraktmodell waren die Formen des Zusammenlebens nicht ein für allemal mit dem Abschluss des Gesellschafts- und Herrschaftsvertrages fixiert und legitimiert. Und im Gegensatz zur konservativen Kritik am Heraustreten aus einer vermeintlich unveränderlichen Natur- und Schöpfungsordnung rückte der Begriff des ‚Staates‘ als ‚Verein‘ die in der Natur angelegten kulturellen Entfaltungsmöglichkeiten des Natürlichen ins Zentrum und erlaubte, die Bildung von Verbänden aller Art als Ergebnis des menschlichen Willens zu immer differenzierterer Lösung der Konflikte zwischen den Individuen zu deuten. In einer solchen Naturgeschichte des Staates ließ sich ‚Staat‘ definieren als Verein naturgemäß zusammengehörender und sich dieser Zusammengehörigkeit bewußter Menschen unter Gesetzen des Rechtes, um mit- und durcheinander alle Zwecke der Menschheit zu verfolgen.125 Die Vorstel121 August Ludwig Schlözer, Allgemeines StatsRecht und StatsVerfassungsLere ... (Göttingen 1793), 63 ff. 122 Ebd., 73. 75. 123 Ebd., 94. 124 Friedrich Christoph Dahlmann, Ein Wort über Verfassung (1815), Kleine Schriften (Stuttgart 1886), 25. 125 Eduard Henke, Öffentliches Recht der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der Kantone der Schweiz. Nebst Grundzügen des allgemeinen Staatsrechts (Aarau 1824), 3. 24.

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lung vom Staat als Verein trug der für den Liberalismus grundlegenden Antinomie von Individuum und Kollektiv Rechnung und bot zugleich eine Möglichkeit an, sie aufzulösen: das Zusammenwirken ... der selbständigen autonomischen Persönlichkeiten konnte als freies Wollen und Anerkennen gedeutet werden, als freier Friedens- und Hilfs- (oder Rechts- und Staats-)verein, durch den die Freiheit und in dieser die Bestimmung und das Wohl aller verwirklicht werden sollte.126 c) Das Grundrecht der Vereinigungsfreiheit und die Politisierung des Vereins. Die Konzeption des Staates als Verein bedeutete auch, dass das Recht zur freiwilligen Vereinigung im Staat zum substantiellen Bestandteil der staatlichen Ordnung aufstieg. Das Vereinsrecht wurde in der liberaloppositionellen Theorie des Vormärz in den Katalog unverzichtbarer Rechte des Einzelnen im Staat aufgenommen,127 wobei diese bürgerlichen Rechte teils noch in der Denk- und Sprachtradition der Polizeiwissenschaft als Rechte der Untertanen gewertet wurden, teils aber – und seit 1830 in zunehmender Breite – als vorstaatlich begründete Ur- und Menschenrechte, bei denen das natürliche Recht, Gesellschaften zu schließen, auch im Staat in voller Gültigkeit und Kraft bleibt.128 Gefordert wurde die Freiheit der Einigung als das Recht, mit anderen Verbindungen (Gesellschaften oder Corporationen) einzugehen, ohne dafür einer besonderen Erlaubnis des Staates zu bedürfen – sofern der Verein nicht den Status einer juristischen Person anstrebte –, ohne aber auch den Verein dem Staate verheimlichen zu wollen.129 Neben die traditionale Begründung der Vereinigungsfreiheit aus der Gegenüberstellung von Rechten des Herrschers und Rechten des Untertans und neben die Herleitung aus einem vorstaatlichen Menschenrecht trat seit Beginn der 1830er Jahre zunehmend auch eine verfassungsrechtlich-politische Begründung. Das Recht, sich zu beliebigen, auch politischen Zwecken öffentlich zu vereinen und Verammlungen zur Beratung gemeinsamer Angelegenheiten abzuhalten, wurde aus der Natur konstitutioneller Staatseinrichtungen abgeleitet.130 Der Verein stellte demnach eine Möglichkeit dar, das in der bürgerlichen Gesellschaft vorhandene Wissen und die Handlungsbereitschaft der Bürger einem Staate zuzuführen, der dieses Engagements seinerseits bedurfte und durch die Einführung einer konstitutionellen Verfassung sich auf die Partizipation der Bürger an der Gesetzgebung festgelegt hatte. Das Recht der freien Assoziation und zur vereinsmäßigen Beschäftigung mit Staatsangelegenheiten nahm die liberale Opposition auch dann für sich in Anspruch, wenn die Vereinigungsfreiheit wie in fast allen frühkonstitutionellen Verfassungen mit Stillschweigen übergangen 126 Carl Welcker, Artikel Staatsverfassung, in: Rotteck/Welcker, 2. Aufl., Bd. 12 (1848), 366. 127 Sylvester Jordan, Versuche über allgemeines Staatsrecht in systematischer Ordnung und mit Bezugnahme auf Politik (Marburg 1828), 411 f.; zur Ideengeschichte der Vereinigungsfreiheit im Vormärz: Friedrich Müller, Korporation und Assoziation. Eine Problemgeschichte der Vereinigungsfreiheit im deutschen Vormärz (Berlin 1965). 128 Carl von Rotteck, Lehrbuch des Vernunftrechts und der Staatswissenschaften, Bd. 2 (Stuttgart 1830), 138. 129 Sylvester Jordan, Lehrbuch des allgemeinen Staatsrechts, Bd. 1 (Kassel 1831), 87. 130 August Ludwig Reyscher, Publizistische Versuche, mit besonderer Rücksicht auf württembergisches Staatsrecht (Stuttgart 1832), 164.

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wurde. Die Sicherung der Privatrechte und die Gewährung der frühkonstitutionellen staatsbürgerlichen Rechte zog die Vereinigungsfreiheit selbstverständlich nach sich. Dass ein Verein sich mit Politik beschäftigt, galt als Symptom für ein kräftiges politisches Leben und als Instrument, die Übereinstimmung der Bürger über Rechte, Pflichten und freiwillige Leistungen zu fördern.131 Die liberale Theorie begründete somit Vorteile eines politisch bewussten Vereinswesens staatsbürgerlich-pädagogisch aus der Einübung in demokratische Verhaltensweisen und aus der Förderung des politischen Pflichtbewusstseins und beschrieb damit indirekt das Vereinswesen auch als Einübung in parlamentarische Verhaltensweisen. In den 40er Jahren, insbesondere seit 1844, konzentrierte die liberale politische Theorie, die ja immer auch politische Publizistik war, die Aufmerksamkeit noch stärker als zuvor auf das Assoziations- und Vereinsprinzip und bildete hier auch Aspekte einer Parteitheorie unter den spezifischen Bedingungen des vormärzlichen politischen Systems in Deutschland heraus.132 Welcker erhob die freie Vereinigung der Bürger zur Basis der gesellschaftlichen, rechtlichen und politischen Ordnung überhaupt und erklärte sie zu einem ausschlaggebenden Kriterium für bürgerliche und politische Freiheit.133 Die Grenzen zwischen Privatvereinen, ... öffentlichen und schließlich politischen Vereinen wurden durchlässig – ein Indiz dafür, dass das Vereinswesen insgesamt in einen politischen Zusammenhang rückte.134 ‚Assoziation‘ als Sammelbezeichnung für politisches Engagement der Bürger umfasste unter dem Namen einer ungeschlossenen Assoziation auch die kurzfristige Vereinigung in der Volksversammlung. Das freie Assoziationsrecht wurde zum Maßstab im Kampf zwischen den Grundsätzen der Repräsentativverfassung und des Absolutismus.135 Der Assoziationsbegriff sicherte das liberale Zukunftsmodell auch gegen die mögliche Bedrohung durch soziale Desintegration ab. Die modernen Vereine, ständeübergreifend und klassenneutral, entwickelten nach Meinung der Liberalen als Träger des gesamt-kulturellen Fortschritts auch für die rohesten Mitglieder der untersten Stände ... bildende, disziplinierende und moralisch veredelnde Kraft.136 Die liberale Vereinslehre untergrub zwar durch eine latente Gewichtsverlagerung zu den Mitwirkungsrechten der Staatsbürger insgeheim die frühkonstitutionelle Auffassung von der monarchischen Souveränität, doch ging sie noch vom Verfassungsmodell eines harmonischen Zusammenwirkens zwischen Volk und Regierung aus. Dagegen brach der demokratische Radikalismus unmittelbar vor Ausbruch der Revolution 1848 mit dieser Vorstellung eines grundsätzlich versöhnungswilligen und versöhnungsfähigen Dualismus von Volkswillen und Willen des Mon131 Robert v. Mohl, Staatsrecht des Königreichs Württemberg, Bd. 1 (Tübingen 1829), 377 f.; ähnlich Heinrich Zoepfl, Grundsätze des allgemeinen und des constitutionell-monarchischen Staatsrechts (Heidelberg 1841), 183 f. 132 Vgl. Hardtwig, Strukturmerkmale (s. Anm. 102), 181 ff. Manfred Botzenhart, Deutscher Parlamentarismus in der Revolutionszeit 1848–1850 (Düsseldorf 1977), 317 ff. 133 Carl Welcker, Artikel Association, Verein, Gesellschaft, Volksversammlung (Reden ans Volk und collective Petitionen), Associationsrecht, in: Rotteck/Welcker, 2. Aufl., Bd. 1 (1845), 723 ff. 134 Ebd., 724. 135 Ebd., 723. 136 Ebd., 725.

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archen. Nach Gustav von Struve standen Regierungen und Vereinsleben sich als unversöhnliche Gegner gegenüber. Die Bedürfnisse des Volkes zielten darauf, durch das Vereinsleben institutionelle und traditionale Herrschaft – das heißt letztlich Herrschaft überhaupt – aufzuheben. Die radikal oppositionelle Rolle, die Struve dem Vereinswesen zudachte, ermöglichte die Äquivokation von ‚Verein‘/‘Partei‘ und zugleich die Aufwertung von ‚Partei‘ zum positiven Kampfbegriff: Das Parteiwesen verhalte sich zum Vereinsleben, wie der Krieg zum Frieden; ... das Vereinsleben als Schule des Parteilebens wurde damit zum unverzichtbaren Bestandteil des Konfliktaustrages mit den monarchischen Regierungen und des politischen Erziehungsprozesses des Volkes zur Selbstregierung in der Demokratie.137 2. ‚Verein‘ in der frühen deutschen Arbeiterbewegung a) Der frühsozialistische Ideenzusammenhang. Der vergleichsweise späte Einsatz der Industrialisierung und die Behinderung von Diskussion und Organisation durch die Gesetzgebung führten dazu, dass die sozialistische Neuinterpretation des Assoziationsbegriffs in Deutschland erst relativ spät Raum gewann. Vereinzelt in den 20er, besonders aber in der Mitte der 30er Jahre finden sich Spuren einer Rezeption von Fouriers Assoziationstheorie. Dabei führen die recht dilettantischen Vorschläge zur Lösung des Pauperismusproblems zu einer grundsätzlichen, wenn auch in sich widersprüchlichen Industrialismus- und Modernitätskritik hinüber. Die Anziehungskraft der Fourier’schen ‚association‘ ergab sich offenbar zunächst daraus, dass sie die sozialen Konflikte zu entschärfen, zugleich aber Privateigentum und Privaterwerb bestehen zu lassen versprach.138 Die Umbildung von ‚Assoziation‘ zum Programmbegriff für eine Reform oder Revolutionierung der Eigentumsordnung fand dagegen in den intellektuellen Auseinandersetzungen der Pariser Emigranten- und Gesellenvereine statt.139 Hier begann sich ‚Assoziation‘ zum Leitbegriff einer Klassenideologie und der entstehenden politisch-sozialen Emanzipationsbewegung der Arbeiterschaft zu transformieren. Für Theodor Schuster kam aus dem Verein das Vollkommene.140 Schuster übertrug den Grundgedanken des liberalen Vereinsenthusiasmus, die Vereinigung der Kräfte, auf die Arbeit und ihre Organisation: Das Ansammeln und Ordnen der Kräfte ist das wahre Geheimnis der 137 Gustav von Struve, Grundzüge der Staatswissenschaft, Bd. 3: Von den Handlungen des Staates oder allgemeines Staatsverfassungsrecht. Das Volksleben (Frankfurt 1848), 207, 215 f., 218. 138 Franz Tappehorn, Die vollkommene Assoziation als Vermittlerin der Einheit des Vernunftstaates und der Lehre Jesu (Augsburg 1834); S.R. Schneider, Das Problem der Zeit und dessen Lösung durch die Assoziation (Gotha 1834); Christoph Friedrich Grieb, Über Organisation der Arbeit (Stuttgart 1846); Franz Stromeyer, Organisation der Arbeit (Belle-Vue bei Konstanz 1844). 139 Vgl. Wolfgang Schieder, Anfänge der deutschen Arbeiterbewegung. Die Auslandsvereine im Jahrzehnt nach der Julirevolution von 1830 (Stuttgart 1963), 191 ff., 245 ff. 140 Theodor Schuster, Gedanken eines Republikaners, Der Geächtete 2 (1835), abgedr. in: Vom kleinbürgerlichen Demokratismus zum Kommunismus. Zeitschriften aus der Frühzeit der deutschen Arbeiterbewegung (1834–1847), hg. v. Werner Kowalski (Berlin 1967), 57; vgl. Schieder, Anfänge, 197.

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menschlichen Allmacht im Gebiet der Mechanik ... Was der eine nicht vollführt, ersinnt, vollführen, ersinnen alle zusammen.141 Gegenüber dieser noch immer von liberalen und demokratischen Gehalten beherrschten Vorstellungswelt baute Wilhelm Weitling seit den ausgehenden 30er Jahren ‚Assoziation‘ zum Oppositionsbegriff gegen die bürgerliche Gesellschaft auf. Er entwickelte erstmals für den deutschen Sprachbereich einen Plan zur grundlegenden Reform von Gesellschaft und Arbeitsverfassung, indem er die Gütergemeinschaft zum Organisationsprinzip für das menschliche Zusammenleben erklärte. Dabei übernahm Weitling zwar Inhalte der Fourier’schen ‚association‘, verlieh ihr aber einen neuen Stellenwert im Programm revolutionärer Zukunftsplanung. Das Mittel der Assoziation sei revolutionär nur dann, wenn man es über die politische und rechtliche Gleichheit der Demokraten hinaus als Realisierung einer natürlichen Gleichheit der Menschen auffasse.142 Seit die frühsozialistische Theorie den Assoziationsbegriff einer Klassenideologie zuzuordnen begann, lockerte sich die Äquivokation von ‚Verein‘/‘Assoziation‘. Das Ziel egalisierter Bedürfnisbefriedigung durch Vergesellschaftung von Arbeit und Produktionsmitteln verselbständigte sich gegenüber der liberalen und demokratischen Idee gesteigerter individueller Freiheit auf der Grundlage des Privateigentums. Die Grundbedeutung des Assoziationsbegriffs, die freiwillige Verbindung rechtsgleicher Individuen, erlaubte vorläufig noch die gleichzeitige Verwendung des Wortes sowohl im frühsozialistischen Ideenzusammenhang wie im Lager der bürgerlichen Sozialreformer, obgleich sich der Wortgebrauch bereits vor 1848 aufzuspalten begann. Es bedurfte noch der Revolutionserfahrung und der Beobachtung einer dauerhaften Politisierung der lohnabhängigen Unterschicht in der seit 1850 rasch zunehmenden Industrialisierung, um in einem 20jährigen Polarisierungsprozess den Assoziationsbegriff eindeutig dem sozialistischen Lager zuzuordnen. b) ‚Assoziation der Produzenten‘ bei Marx und Engels. Mit der Erhebung des Klassengegensatzes zum alleinigen Bewegungsprinzip der Geschichte suspendierte die Marx/Engels’sche Theorie die Möglichkeit klassenübergreifender, freiwilliger Gemeinschaftsformen als Träger des sozialen, politischen und kulturellen Fortschritts.143 ‚Assoziation‘ engte sich in ihrer sozialen Zusammensetzung ein und weitete sich eben damit zum Gegenbegriff zu ‚Entfremdung‘ als beherrschender Struktur der bürgerlichen Gesellschaft aus. Ihr wurden entscheidende historische Funktionen übertragen: sie sollte die Konkurrenz der Proletarier untereinander aufheben, damit der Bourgeoisie die Bedingung ihrer Herrschaft entziehen und sich selbst revolutionär als das Ganze der Gesellschaft etablieren.144 Sie wird zum Ins141 Schuster, Gedanken, 56 f. 142 Wilhelm Weitling, Garantien der Harmonie und Freiheit (1842), hg. v. Ahlrich Meyer (Stuttgart 1974), 238. 143 Marx/Engels, Manifest der Kommunistischen Partei (1848), Karl Marx, Friedrich Engels, Werke, hg. vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, 39 Bde. (Berlin 1958– 1971), Bd. 4 (1959), 462. 144 Ebd., 470, 473 f.

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trument der Formierung des Proletariats als einer selbstbewussten Klasse. ‚Assoziation‘ ist zugleich aktueller Kampfbegriff und eschatologischer Erwartungs- und Erfüllungsbegriff für den versöhnten gesellschaftlichen Endzustand; der Begriff bezeichnet im Plural gegenwärtige Arbeitervereine und Koalitionen und im Singular die zukünftige Einheit der Produzenten. Die Voraussetzung für diese Bedeutungsfülle ist, dass ‚Assoziation‘ jetzt auch ein versöhntes Verhältnis des Menschen zur Natur beschreibt. Indem sich die Produktivkräfte ... in den Händen der assoziierten Produzenten aus dämonischen Herrschern in völlige Diener145 verwandeln, soll es den Arbeitern möglich werden, ihren Stoffwechsel mit der Natur rationell zu regeln, statt von ihr als einer blinden Macht beherrscht zu werden.146 Die Befreiung von den Zwängen der Naturherrschaft befreit auch von der Herrschaft von Menschen über Menschen. In der assoziierten Arbeit, die ihr Werk mit williger Hand, rüstigem Geist und fröhlichen Herzens verrichtet, brauchen die Produktionsmittel nicht mehr als Herrschaftsmittel monopolisiert zu werden.147 c) Die Auslandsorganisationen. Die verschiedenen Motive und Ziele, die in den Organisationsbestrebungen der ersten deutschen Arbeiterbewegung zusammenflossen, lassen sich an den Namen ablesen, die Handwerksgesellen und Intellektuelle für ihre Verbindungen wählten. Die deutsche Vereinsbewegung im Ausland setzte 1832 mit dem „Deutschen Volksverein“ in Paris ein, einer Filiation des „Deutschen Vaterlandsvereins zur Unterstützung der freien Presse“, der aus der radikalliberalen Bewegung der Rheinpfalz hervorgegangen war. Ludwig Börne beschrieb die Zielsetzung dieses Vereins noch mit dem Begriff Patriotismus.148 Das Ziel der Presseund Meinungsfreiheit wird hier auch unter dem Organisationsbegriff ‚Bund‘149 verfolgt, eine Selbstbezeichnung, die 1834 und 1838 mit der Umbenennung zum „Bund der Geächteten“ und zum „Bund der Gerechten“ eine Tendenz zu esoterischer Abspaltung von der ächtenden und ungerechten Gesamtgesellschaft erkennen lässt. Am Bundesbegriff haftete traditionell das in die Illegalität verwiesene Programm des demokratischen Nationalstaats: Der deutsche Bund der Geächteten ist eine wesentlich geheime Verbindung ... Zweck des Bundes ist die Befreiung und Wiedergeburt Deutschlands.150 Nach dem Eintritt von Marx und Engels löste die Namensänderung in den „Bund der Kommunisten“ die Verbindung endgültig von der Tradition des bürgerlich-nationalen demokratischen Radikalismus und legte ihn auf den Sturz der Bourgeoisie, die Herrschaft des Proletariats, die Aufhebung der

145 Engels, Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft (1880), ebd., Bd. 19 (1962), 223. 146 Marx, Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, Bd. 3 (1894), ebd., Bd. 25 (1949), 828. 147 Ders., Inauguraladresse der Internationalen Arbeiterassoziation (1864), ebd., Bd. 16 (1962), 12. 148 Ludwig Börne, Briefe aus Paris, 26. 2. 1832, Ludwig Börne, Historisch-kritische Ausgabe, hg. v. Ludwig Geiger u.a., Bd. 7 (Berlin, Leipzig, Wien, Stuttgart 1913), 117. 149 Ebd., 118. 150 Statuten des Bundes der Geächteten (um 1834/35), abgedr. in: Der Bund der Kommunisten. Dokumente und Materialien, Bd. 1: 1836–1849, hg. vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED (Berlin 1970), 982.

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... bürgerlichen Gesellschaft und die Gründung einer neuen Gesellschaft ohne Klassen und ohne Privateigentum fest.151 Wesentliche Anstöße für den Aufbau eines Vereinswesens von Handwerksgesellen und radikalen Intellektuellen gingen vom demokratischen Geheimbund des „Neuen“ oder „Jungen Deutschland“ aus. Seine Organisationseinheiten nannten sich vielfach ‚Klub‘ und erinnerten damit an die politischen Ideen von 1789.152 Den geheimen Klubs wurden oft Vereine angegliedert, deren Programm offiziell unpolitisch war und welche den Bildungszweck in ihrem Namen deklarierten.153 Dahinter stand keineswegs nur die Absicht, politische Aktivitäten zu verschleiern; vielmehr gingen Bildung und Politik in den Vereinsaktivitäten vielfach ineinander über.154 Es war offenbar eine verbreitete Hoffnung organisationswilliger ArbeiterHandwerker, dass die Praxis des Zusammenlebens und -arbeitens in der Innenwelt des arbeiterspezifischen Vereinslebens auch zur Gestaltung einer neuen Ordnung in der Außenwelt disponiere.155 3. Die bürgerliche Pauperismusdiskussion des Vormärz a) Soziales Vereinswesen zwischen staatlicher „Polizei“, christlicher Caritas und Emanzipation der Unterschicht. Viele bürgerliche Beobachter machten um 1840 noch den Verwaltungsstaat verantwortlich sowohl für die wirtschaftliche Modernisierung als auch für die Behebung der sozialen Missstände. In dieser Perspektive hatten Privatvereine zur Unterstützung im besonderen Falle nur subsidiäre Funktion, weil mit ihnen nicht das erreicht werden könne, was unter der Autorität und Leitung des allgegenwärtigen Staates möglich schien.156 Zunehmend aber meldeten sich die Anhänger der wirtschaftlichen Liberalisierung zu Wort, sie versprachen sich eine Lösung des Pauperproblems durch den Markt.157 Immer mehr erwarteten die Mitglieder der entstehenden bürgerlichen Gesellschaft die Beruhi151 Statuten des Bundes der Kommunisten, angenommen vom zweiten Kongreß (8. 12. 1847), ebd., 626. 152 Vgl. Schieder, Anfänge (s. Anm. 139), 135 f. 153 Vgl. etwa die von Karl Schapper 1840 in London gegründete „Deutsche Bildungsgesellschaft“, Engels, Zur Geschichte des „Bundes der Kommunisten“ (1885), abgedr. in: Bund der Kommunisten, Bd. 1, 64. 154 Schieder, Anfänge, 133. 155 [Johann Caspar Bluntschli], Die Kommunisten in der Schweiz nach den bei Weitling vorgefundenen Papieren. Wörtlicher Abdruck des Kommissionsberichts an die Hohe Regierung des Standes Zürich (Zürich 1843; Ndr. Glashütten/Ts. 1973), 31. 156 [S.], Theorie und Praxis zur Bewältigung des Pauperismus, Deutsche Vierteljahrschrift (1844), H. 1, 45. 157 V. Hattorf, Ist Verarmung und dauernde Noth für einen Theil unserer Bevölkerung mit Grund zu besorgen ... (Hannover 1845); Systematisierungen verschiedener Lösungskonzepte bei Carl Jantke, Zur Deutung des Pauperismus, Einleitung zu: Die Eigentumslosen. Der deutsche Pauperismus und die Emanzipationskrise in Darstellungen und Deutungen der zeitgenössischen Literatur, hg. v. C. Jantke u. D. Hilger (München 1965), 7 ff.; Klaus-Jürgen Matz, Pauperismus und Bevölkerung. Die gesetzlichen Ehebeschränkungen in den süddeutschen Staaten während des 19. Jahrhunderts (Stuttgart 1980), 53 ff.

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gung der verwirrten öffentlichen und gesellschaftlichen Zustände vom Geist der Association und verlangten vom Staat nicht förmliche Protektion und aktive Begünstigung, sondern ungestörte Entfaltungsmöglichkeit für die Energien der Bürger selbst.158 Die Tendenz zur selbständigen Urteilsbildung auch über das immer drängender werdende soziale Problem trug dazu bei, dass die Mitglieder der bürgerlichen Gesellschaft diese zunehmend als eigenen Handlungsraum auffassten und ihr die Verantwortung auch für die Behebung der sozialen Missstände übertrugen. Wurde erst einmal anerkannt, dass die Bedürftigkeit bei der Mehrzahl der Betroffenen aus den sozio-ökonomischen Folgen von Dekorporation und Disproportionalisierung der bisher in ständischen Schranken gehaltenen und begrenzten Unterschicht entstand,159 so ergab sich daraus auch die Kritik an den Vereinen der Philanthropen, die nicht die Ursache des Übels angriffen, sondern nur immer die einzelnen Folgen der Ursachen beheben wollten.160 Indem Robert Mohl dem Wohltätigkeitsvereinswesen Arbeitervereine zur Erwachsenenbildung gegenüberstellte, räumte er den Pauperisierten das Recht ein, sich von Objekten bürgerlich-christlicher Caritas zu Subjekten eigener Vereinsorganisationen zu emanzipieren. Victor Aimé Huber verband den Gedanken der Association mit dem der Siedlungsgemeinschaft, der inneren Colonisation. Der genossenschaftliche Zusammenschluss der Pauperisierten im proletarischen Quartier sollte zugleich christliches Familienleben und eigenes Standesbewusstsein der Arbeiter als Grundlage staatlicher und gesellschaftlicher Ordnung ermöglichen.161 b) Die Assoziation als Hilfe zur Selbsthilfe: Konzepte des Bildungsvereins. Seit Beginn der 40er Jahre, insbesondere seit dem Schock des Weberaufstandes in Schlesien 1844, wuchs die Bereitschaft bürgerlicher Vereinsbefürworter, Vereine zu akzeptieren, in denen die „arbeitenden Klassen“ nicht mehr aus der Perspektive ihrer mangelnden Fähigkeit zur Selbstbestimmung betrachtet wurden, sondern aus der ihrer Integrationsfähigkeit in die bürgerliche Gesellschaft. Der Verein als Mittel zur Konstitution der bürgerlichen Gesellschaft übernahm zusätzlich die Funktion, deren krisenhafte Bedrohung durch die soziale Spannung zwischen Besitzenden und Nichtbesitzenden auszuschalten. Die liberalen Vereinsbefürworter sahen sich dabei vor allem zwei Schwierigkeiten gegenüber: zum einen der Gespensterfurcht der Staatsgewalt ... vor allem, was irgendwie als Association sich darstellt; in dieser Sicht blieben ‚Assoziation‘ und ‚Verein‘ Abgrenzungsbegriffe gegen den reglementierenden und beaufsichtigenden Anstaltsstaat; zum anderen aber dem noch

158 Die Zwangsarbeitshäuser, ihre Zöglinge und die Vereine, Deutsche Vierteljahrschrift (1844), H. 3, 5 f. 159 Vgl. Werner Conze, Vom „Pöbel“ zum „Proletariat“. Sozialgeschichtliche Voraussetzungen für den Sozialismus in Deutschland (1954), in: Moderne deutsche Sozialgeschichte, hg. v. HansUlrich Wehler (Köln, Berlin 1968), 111 ff.; Conze, Spannungsfeld (s. Anm. 119), 248 ff. 160 Robert Mohl, Die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der politischen Ökonomie, Deutsche Vierteljahrschrift (1840), H. 3, 36 f. 161 Victor Aimé Huber, Wirtschaftsvereine und innere Ansiedlung (1848), Ausgewählte Schriften, hg. v. K. Munding (Berlin 1894), 840, 859.

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fehlenden Associationsgeist beim Proletariat;162 in dieser Sicht sind ‚Assoziation‘ und ‚Verein‘ Integrationsbegriffe gegenüber der Unterschicht. Mohl setzte stärker auf die staatliche Gesetzgebung zur Reform der Betriebsverfassung und hatte bei allem grundsätzlichen Plädoyer für die Anwendung des Associationsprincips doch das Bedenken, dass es mit den gegenwärtigen Staatseinrichtungen kollidiere.163 Johann Baptist Fallati band seine Vorstellung von der Selbstorganisation des Proletariats an den Begriff eines Arbeiterstandes zurück.164 Ein noch christlich-patriarchalisch getönter Fürsorgegedanke ging in den „Centralverein für das Wohl der arbeitenden Klassen“ ein, eine Gründung, die von sozial aufgeschlossenen und reformwilligen Beamten und Unternehmern getragen wurde.165 Als Identifikationsbegriffe der bürgerlichen Gesellschaft ließen sich ‚Assoziation‘ und ‚Verein‘ auch in der Anwendung auf die Organisation der unterbürgerlichen Schicht von politischen Implikationen nicht freihalten. Die Vereinskonzeptionen des liberalen rheinischen Unternehmertums spiegeln die Entwicklung des Vereinswesens zu Kristallisationskernen politischer Emanzipationsansprüche der Unterschicht und die wachsende Bereitschaft, solche Ansprüche im Rahmen des Entwicklungsmodells der bürgerlichen Gesellschaft auch anzuerkennen. Der „Aachener Verein zur Beförderung der Arbeitsamkeit“ verdankte seinen Namen der Absicht seines Gründers David Hansemann, die Pauperisierten vor allem zur Arbeitsmentalität als der zentralen bürgerlichen Tugend zu erziehen.166 Demgegenüber repräsentierte der 1843 von Friedrich Harkort gegründete „Verein für die deutsche Volksschule und Verbreitung gemeinnütziger Kenntnisse“ ein umfassendes Konzept der Volksbildung auch im Blick auf die Erziehung zu politischer Mündigkeit.167 Gustav Mevissen schließlich gab in seinem Entwurf eines „Allgemeinen Hülfs- und Bildungsvereins“ (1845) die liberale Koppelung von Bildung und Individualität auf und erklärte Bildung mit dem Geist der Massen für vereinbar.168

162 Ebd., 860 f. 163 Mohl, Vergangenheit, 64 ff. 164 Johann Baptist Fallati, Das Vereinswesen als Mittel zur Sittigung der Fabrikarbeiter, in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 1 (1844), 745 u. passim. 165 Aufruf zur Bildung eines Vereins für das Wohl der Hand- und Fabrikarbeiter (7. 10. 1844), abgedr. in: Mittheilungen des Centralvereins für das Wohl der arbeitenden Klassen, 1. Lfg. (25. 8. 1848), Ndr. hg. v. Wolfgang Köllmann u. Jürgen Reulecke, Bd. 1 (Hagen 1980), 19. – Vgl. Jürgen Reulecke, Der Centralverein für das Wohl der arbeitenden Klassen. Zur Entstehung und Entwicklung der frühen Sozialreform in Preußen/Deutschland, ebd., 23 ff. 166 Vgl. Heinz Richard Schneider, Bürgerliche Vereinsbestrebungen für das „Wohl der arbeitenden Klassen“ in der preußischen Rheinprovinz im 19. Jahrhundert (Diss. Bonn 1967), 9 ff. 167 So Friedrich Harkort, Die Vereine zur Hebung der unteren Volksklassen nebst Bemerkungen über den Central-Verein in Berlin (Elberfeld 1845); ders., Bemerkungen über die Hindernisse der Civilisation und Emancipation der unteren Klassen (1844), in: Freidrich Harkort, Schriften und Reden zur Volksschule und Volksbildung, hg. v. Karl-Ernst Jeismann (Paderborn 1969), 64 ff. 168 Gustav von Mevissen, Über den „Allgemeinen Hülfs- und Bildungsverein“ (1845), abgedr. in: Joseph Hansen, Gustav v. Mevissen. Ein rheinisches Lebensbild 1815–1899, Bd. 2: Abb., Denkschriften, Reden und Briefe (Berlin 1906), 129 ff., bes. 136.

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c) Konservative Modernitätskritik mit Hilfe des Korporationsbegriffs. Während die bürgerlich-liberale Sozialreform hoffte, dass freiwillige Vereinigungen die amorphe Masse von Pauperisierten in die bürgerliche Gesellschaft der freien und rechtsgleichen Individuen eingliedern würden, rekurrierte die konservative Modernitätskritik im allgemeinen auf den traditionalen Zwangsverband, die Korporation. Für den bayrischen Bergrat Franz von Baader waren die sogenannten Assoziationen des Arbeitervolks Kristallisationsformen des modernen Revolutionismus, der sich von seinem ursprünglichen politischen auf den sozialen [Boden] verschoben habe.169 Baader stellte der freien Vereinigung und der selbständigen Zusammenfassung individueller und partikularer Interessen die alteuropäische korporative Libertät gegenüber, die Freiheit nur in der Form überindividuell-ständischer Privilegien, nicht in der Form persönlicher Selbstbestimmung kannte. Die Verflechtung dieses Sozialkonservativismus mit der Idee des christlichen Staates wird deutlich, wenn Baader den Angriff auf das Christentum mit dem auf Standschaften und Korporationen gleichsetzt.170 Neben dem ständischen bediente sich auch der etatistisch orientierte Konservativismus des Korporationsbegriffs. Dieser schien der Gefahr zu begegnen, dass die klaren Grenzen zwischen Rechten der Privaten und öffentlichen Aufgaben verwischt wurden und dass die neuen Vereinstypen durch die Gewährung des Rechtsstatus einer juristischen Person einen quasi-institutionellen Rang usurpierten. Die vor allem auch gegen den neuen Genossenschaftsbegriff des liberalen Georg Beseler gerichtete These, dass es kein ... Bedürfnis sei, den nun einmal herkömmlichen und geläufigen Ausdruck Corporation ... mit einem andern ... zu vertauschen, hatte längerfristig keine Zukunft.171 Der Korporationsbegriff stand für ein gesellschaftspolitisches Programm, das keine gesellschaftsgestaltende Kraft mehr gewinnen konnte. Der reflektierte Konservativismus Friedrich Julius Stahls suchte daher nach der Revolution der Irreversibilität des einmal eingetretenen Bewegungsprozesses Rechnung zu tragen: er erkannte die Pflege der Association als Ausbildung eines neuen Prinzips für die Zukunft an.172 Doch blieb für ihn die Assoziation als Gegenmittel für die Ärmeren gegen die Übermacht des Kapitals vor allem ein Instrument zur Anpassung des Mittelstandes an die neuen Marktbedingungen, nicht zur sozialen und politischen Selbstorganisation der gewerblich-industriellen Unterschicht.173

169 Franz von Baader, Über das dermalige Mißverhältnis der Vermögenslosen oder Prolétairs zu den Vermögen besitzenden Klassen der Sozietät ... (1835), in: ders., Gesellschaftslehre, hg. v. Hans Grassl (München 1957), 237. 170 Ebd., 241. 171 Johann Heinrich Thöl, Volksrecht, Juristenrecht, Genossenschaften, Stände, gemeines Recht (Rostock, Schwerin 1846), 20. 172 Friedrich Julius Stahl, Die gegenwärtigen Parteien in Staat und Kirche (Berlin 1863), 282. 173 Ebd., 279.

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VI. DIE INDUSTRIELLE GESELLSCHAFT UND IHRE ORGANISATIONEN 1. Verrechtlichung und Differenzierung der Vereinsterminologie nach 1848/49 Nach der Revolution 1848/49 schlug die Tendenz der vormärzlichen Begriffsentwicklung, die Erhebung von ‚Verein‘ und ‚Assoziation‘ zu Universalformeln für alle Typen der Vergesellschaftung, um. Die Auflösung der einheitlichen Fortschrittserwartung in der vorrevolutionären „Bewegungspartei“ entzog den Begriffen die Aura eines nicht mehr kontrovers diskutierten Erwartungsbegriffs. Demgegenüber machte sich in der einsetzenden Reaktionsära das Bedürfnis nach stärkerer begrifflicher Differenzierung bemerkbar. Diese trug der Verrechtlichung des Vereinsbegriffs seit der Grundrechtserklärung der Frankfurter Paulskirche Rechnung,174 entsprach der Reaktion gegen das politische Vereinswesen der Revolutionszeit und genügte der faktischen Differenzierung des Vereinswesens in der Klassendifferenzierung der industriellen Gesellschaft.175 Die Frankfurter Nationalversammlung beschloss im § 162 der Reichsverfassung die Formulierung: Die Deutschen haben das Recht, Vereine zu gründen.176 Die Verfassungen von Preußen (1850, Art. 29, 30) und einiger Kleinstaaten übernahmen diese Bestimmungen mit der hauptsächlichen Einschränkung des Gesetzesvorbehalts.177 Die übrigen Staaten erließen – ebenso wie auch Preußen zusätzlich – gesetzliche Verbote des politischen Vereinswesens. Faktisch herrschte durch die unterschiedliche Anwendung des erneuten vereinsfeindlichen Bundesbeschlusses vom 13. Dezember 1854 und durch die unterschiedliche Verbotspraxis der Behörden in den 50er und frühen 60er Jahren sowohl bei Koalitionen als bei latent und offen politischen Vereinen erhebliche Rechtsunsicherheit.178 Im Gegensatz zum Vormärz verfestigte sich ‚politischer Verein‘ dabei jedoch zum Rechtsterminus. Die entstehenden wirtschaftlichen Selbsthilfevereine von Kleingewerbetreibenden und Bauern begannen sich unter dem 174 Vgl. Wolfgang Hardtwig, Politische Gesellschaft und Verein zwischen aufgeklärtem Absolutismus und der Grundrechtserklärung der Frankfurter Paulskirche, in: Grund- und Freiheitsrechte im Wandel von Geschichte und Gesellschaft, hg. v. Günter Birtsch (Göttingen1981), 336 ff., bes. 355 ff. 175 Dazu Klaus Tenfelde, Die Entfaltung des Vereinswesens während der industriellen Revolution in Deutschland (1850–1873), in: Otto Dann (Hg.), Vereinswesen und bürgerliche Gesellschaft in Deutschland, in: Beihefte der Historischen Zeitschrift (1983), 55 ff. 176 Verfassung des Deutschen Reiches (28. 3. 1849), abgedr. in: Huber, Dokumente (s. Anm. 93), Bd. 1, 321; zum Wandel der Rechtsnatur von Freiwilligkeitsverbänden in Gesetzgebung und Rechtsprechung nach 1848 vgl. Thomas Vormbaum, Die Rechtsfähigkeit der Vereine im 19. Jahrhundert. Ein Beitrag zur Entstehungsgeschichte des BGB (Berlin 1976), bes. 90 ff. 177 Zu der noch gebrochenen Nachwirkung der Grundrechte im Konstitutionalismus der zweiten Jahrhunderthälfte vgl. Rainer Wahl, Rechtliche Wirkungen und Funktionen der Grundrechte im deutschen Konstitutionalismus des 19. Jahrhunderts, in: Moderne deutsche Verfassungsgeschichte 1815–1914 (1971), hg. v. Ernst-Wolfgang Böckenförde, 2. Aufl. (Meisenheim 1981), 346 ff. 178 Vgl. Karl Erich Born, Sozialpolitische Probleme und Bestrebungen in Deutschland von 1848 bis zur Bismarckschen Sozialgesetzgebung, in: Interessenverbände in Deutschland, hg. v. Hans-Josef Varain (Köln 1973), 72 ff.

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Namen ‚Genossenschaft‘ zu sammeln, ‚Assoziation‘ tendierte zurück zur Ausgangsbedeutung Handelsgesellschaft, aber mit Einschluss der neuen großartigen Unternehmungen ... in der Form der Aktiengesellschaft.179 Daneben erhielt ‚Assoziation‘ im Sprachgebrauch der bürgerlichen Bildungsschicht allmählich eine negative Färbung, die sich aus der Inklination des Begriffs zur ,,Organisation der Arbeit“ und zum politischen „Arbeitervereinswesen“ ergab. Solche Assoziationen galten jetzt als entschiedenste Übertreibung und als Verleugnung der Rechte des Individuums; gewerkschaftliche Arbeitervereine erschienen als gefährlich für die Arbeit selbst, für die Industrie und die ganze Gesellschaft.180 2. Industriegesellschaft und Mittelstand: ‚Genossenschaft‘ Mit dem Ausdruck ‚Genossenschaft‘ tauchte in der politisch-sozialen Sprache ein Wort auf, das bis zum Beginn der 40er Jahre des 19. Jahrhunderts nur eine geringe Rolle gespielt hatte. Wenn überhaupt, so ist es in den Lexika des 18. Jahrhunderts nur in der Bedeutung Gleichheit am Stande belegt,181 doch zeichnete sich gegen Ende des 18. Jahrhunderts eine gewisse Präzisierung auf Zunft, Innung, Gesellschaft ab.182 Allmählich näherte es sich ‚Gesellschaft‘, ‚Verein‘ und ‚Assoziation‘, blieb jedoch stärker der ständisch-korporativen Tradition verhaftet. Aus dieser Vermittlungsposition ergab sich der Aufstieg zum Rechts- und Orientierungsbegriff der Mittelstandsbewegung. Der entscheidende sprachpolitische Schub kam aus der Rechtstheorie der jüngeren germanistischen Schule. In der Kritik an den herkömmlichen Rechtsbegriffen ‚societas‘ und ‚universitas‘, welche der absolutistischen Polizeiwissenschaft zur Definition der Rechtsnatur von Teilverbänden im Staat gedient hatten, griff Georg Beseler auf den deutschrechtlichen Typus eines Verbandes mit Gesamteigentum zurück, bei dem mehrere Personen Rechte an demselben Eigentum innehaben können.183 Dieser Verbandstyp der Genossenschaft wurde zum historischen Vorbild, aus dem sich unmittelbar politische Partizipationsansprüche der Privateigentümer als Staatsbürger herleiten ließen, das aber auch den Gedanken einer Einheit von Arbeit und Kapital in kleinbetrieblichen Formen und einer Solidargemeinschaft der Arbeitenden gegenüber der uneingeschränkten kapitalistischen Konkurrenzgesellschaft zu verkörpern schien. Beselers Begriff der Genossenschaft oder Corporation, sein Plädoyer für die engeren Kreise und das corporative Leben, richtete sich gegen die Vereinzelung des Individuums im rechtsegalitären, bürokratischen Anstaltsstaat und in der liberalisierten Verkehrswirtschaft.184 Hermann Schulze-Delitzsch entwickelte daraus das

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Brockhaus, 10. Aufl., Bd. 1, 747, Art. Association. Ebd. Zedler, Bd. 10 (1735), 887, Art. Genossenschaft. Adelung, Bd. 2 (1775), 564, s. v. Genossenschaft. Georg Beseler, Die Lehre von den Erbverträgen, Bd. 1: Die Vergabungen von Todes wegen nach dem älteren deutschen Rechte (Göttingen 1835), 87. 184 Ders., Volksrecht und Juristenrecht (Leipzig 1843), 158 ff.

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Konzept genossenschaftlicher Selbsthilfe der wirtschaftlichen Individuen.185 ‚Genossenschaft‘ wurde zum Sammelbegriff für einen Vereinstypus, in dem die kleinen Gewerbetreibenden sich gegenüber dem Großbetrieb konkurrenzfähig zu erhalten suchten. Der Genossenschaftsbegriff trug somit die ökonomische, aber auch politisch-soziale Hoffnung auf eine relativ homogene Gesellschaft von Kleineigentümern, welche die einander korrespondierenden ökonomischen und sozialen Entartungserscheinungen von liberalisierter Konkurrenzwirtschaft und Industrialisierung, den Mammonismus und den Pauperismus, durch wirtschaftliche Selbsthilfe überwinden könne.186 Begriff und Rechtsform der ‚Genossenschaft‘ setzten sich innerhalb von knapp 25 Jahren durch. Wenn die Konversationslexika die Genossenschaften im Anschluss an das Gesetz des Norddeutschen Bundes vom 4. 7. 1868 als Gesellschaften definierten, welche die Förderung des Kredits, des Erwerbs oder der Wirtschaft ihrer Mitglieder mittels gemeinschaftlichen Geschäftsbetriebes bezwecken,187 so war damit für das Verständnis der bürgerlichen Leserschaft das Kassen- und Unterstützungsvereinswesen der Arbeiter aus dem Bedeutungsfeld des Begriffs ausgeschieden und auch auf der Ebene der Organisationsbegriffe die Trennung von ‚Mittelstand‘ und ‚lohnabhängiger Arbeiterschaft‘ vollzogen. 3. Arbeiterbewegung: vom „Arbeiterbildungsverein“ zur „Internationalen Arbeiterassoziation“ Die Organisationsbestrebungen der Unterschicht fanden zwischen 1848 und 1863 und vielfach noch darüber hinaus ihren Namen vor allem im Begriff ‚Arbeiterbildungsverein‘. Dem Bildungsverein für Arbeiter ging es darum, eine allgemeine und moralische Bildung des Arbeiters zu ermöglichen, darüber hinaus aber den Arbeiter mit allen gesetzlichen Mitteln in den Vollgenuß aller staatsbürgerlichen Rechte zu bringen und ihn in gewerblicher und politischer Hinsicht zum ächten Staatsbürger heranzubilden.188 Unter der bürgerlich-demokratischen Dominanz trat das Selbstverständnis des Arbeitervereins bis 1863 noch nicht in Gegensatz zum liberalen Schlagwort vom Geist der Selbsthülfe.189

185 Hermann Schulze-Delitzsch, Das deutsche Assoziationswesen (1858), Schriften und Reden, Bd. 1 (1909), 270 ff. 186 Ders., Die arbeitenden Klassen und das Assoziationswesen in Deutschland als Programm zu einem deutschen Kongreß (1858), ebd., 239; vgl. W. Conze, Möglichkeiten und Grenzen der liberalen Arbeiterbewegung in Deutschland. Das Beispiel Schulze-Delitzschs (Heidelberg 1965), 19 ff. 187 Meyer 3. Aufl., Bd. 7, 600, Artikel Genossenschaften. 188 Reiselegitimationsbuch der Allgemeinen Arbeiter-Verbrüderung, Süddeutsche Vereinigung. Vereins-Statuten (1851), abgedr. in: Frolinde Balser, Sozial-Demokratie 1848/49–1863. Die erste deutsche Arbeiterorganisation „Allgemeine ArbeiterVerbrüderung“ nach der Revolution, Bd. 2: Quellen (Stuttgart 1962), 530. 189 Johann Peter Eichelsdörfer, Berichterstatter über den Tagungspunkt „Bildung der Arbeiter vermittelst der Arbeiterbildungsvereine“ auf dem 1. Vereinstag der deutschen Arbeitervereine

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Allmählich wandelte sich jedoch der Wille zum Aufstieg in eine sozial geachtete und politisch gleichrangige Stellung in der bürgerlichen Gesellschaft zur Absicht, sich von der bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Wertnormen und sozialen Geltungskriterien zu distanzieren. Begrifflich ist dies zu fassen in der Abkehr von ‚Arbeiterbildungsverein‘ und ‚Unterstützungsverein‘, vor allem aber in der Verbindung des Organisationsbegriffs ‚Assoziation‘ mit der Klasse oder dem Stand der Arbeiter, wie sie Ferdinand Lassalle 1863 vollzogen hat.190 Dass Lassalle noch ohne genaue Festlegung von der Association der Arbeiter, der Association der arbeitenden Klassen und der Association des Arbeiterstandes191 sprechen konnte, verweist auf seine theoretisch nicht eindeutige und politisch vermittelnde Position zwischen dem Modell einer antagonistischen Klassengesellschaft und der Hoffnung auf die Lösung des sozialen Konflikts durch eine liberal-demokratische Staatsverfassung. Mit dem Übergang des „Verbands der deutschen Arbeitervereine“ zum Programm der „Internationalen Arbeiterassoziation“ 1868 aber verfestigte sich der politische und soziale Antagonismus von Arbeitern und Bürgertum endgültig zur Leitvorstellung der sozialistischen Arbeiterbewegung. Wenn die Arbeitervereine eine bestimmte Parteipolitik betreiben sollten, so erheische das Interesse der Arbeiter, daß sie sich von ihren sozialen Gegnern auch ‚politisch trennen, weil die soziale und politische Frage untrennbar seien.192 Mit dem Anschluß ... des fünften deutschen Arbeitervereinstags ... an die Bestrebungen der Internationalen Arbeiter-Assoziation193 drangen die politisch-strategischen und die utopischen Gehalte des Assoziationsbegriffs von Marx und Engels im Selbstverständnis und in der Programmatik der deutschen Arbeiterbewegung durch. VII. AUSBLICK Zwischen 1850 und 1873 setzte sich der Verein endgültig als die Gesellungsweise der bürgerlichen und entstehenden industriellen Gesellschaft durch und wurde seither zur selbstverständlichen, alltäglichen und nicht mehr eigens diskutierten Organisationsform gesellschaftlicher und politischer Aktivitäten. Gegenüber den mehr oder weniger partikularen Theorien, wie sie von den zueinander in Konflikt tretenden sozialen und politischen Parteien und Bewegungen entwickelt wurden und die sich mit den Schlagworten ‚Verein‘, ‚Assoziation‘, ‚Genossenschaft‘, ‚Gewerkschaft‘ verbanden, suchte Lorenz von Stein alle Aspekte des zeitgenössischen Vereinswesens noch einmal in ein umfassendes historisches Entwicklungsmodell zu

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(7./8. 6. 1863), abgedr. in: Berichte über die Verhandlungen der Vereinstage der deutschen Arbeitervereine 1863 bis 1869, Ndr. hg. v. Dieter Dowe (Berlin, Bonn 1980), 11. Lassalle, Offenes Antwortschreiben an das Zentral-Komitee zur Berufung eines allgemeinen deutschen Arbeiterkongresses, in: Ferdinand Lassalle, Gesammelte Reden und Schriften, hg. v. Eduard Bernstein, Bd. 3 (1919), 49. Ebd., 69 f. Stand, Klasse, Abschn. XIII. 2. Wilhelm Liebknecht, Rede auf dem Nürnberger Vereinstag des „Verbandes der deutschen Arbeitervereine“ (6. 9. 1868), abgedr. in: Dieter Dowe, Berichte, 161. So der Wortlaut des Beschlusses, ebd., 163.

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7. Verein, Gesellschaft, Geheimgesellschaft, Assoziation, Genossenschaft

integrieren. Er führte die Differenzierung und Ausbreitung der Vereine auf die Strukturprinzipien der bürgerlichen und industriellen Gesellschaft zurück und prognostizierte, dass das Vereinswesen ... bestimmt und fähig sei, im öffentlichen und Privatleben einen Platz einzunehmen, von dessen Bedeutung und Umfang man sich noch gar keine rechte Vorstellung machen könne.194 Stein erwartete vom Vereinswesen die Lösung des gesellschaftlichen Antagonismus der Industriegesellschaft dort, wo sich Kapital und Arbeit zu scheiden beginnen.195 Das soziale Vereinswesen mit den Typen der Unterstützungsvereine, der Hülfsvereine und der Arbeitervereine196 verflüssigt demnach die Klassenstruktur der staatsbürgerlichen Gesellschaft in der Hochindustrialisierung und sichert die evolutionäre Entwicklung einer auf Freiheit des Eigentums und politischer Gleichheit aufgebauten Staats- und Gesellschaftsordnung. Stand bei Stein das Problem der ‚Klasse‘ im Vordergrund, so brachte Otto von Gierke die Begriffe ‚Verein‘, ‚Assoziation‘ und ‚Genossenschaft‘ in Verbindung mit ‚Nation‘. Indem er germanischen Genossenschaftssinn und romanischen Verschwörungsgeist gegenüberstellte und dem einen selbsttätigen Gemeinsinn und Fähigkeit zur Selbstverwaltung, dem anderen aber fanatische Unterwerfung unter eine unsichtbare Einheit und ... straffe Zentralisation zuordnete,197 nahm er das Vereinsprinzip als eine Form freiheitlicher Selbstorganisation als spezifisch germanisch-deutsche Errungenschaft in Anspruch und postulierte auf der Grundlage des Genossenschaftsbegriffs einen Sonderweg der nationalen Staats- und Gesellschaftsverfassung. Er entwickelte jedoch auch die liberale Vereinslehre in die Richtung einer Typologie von sozialen Verbänden weiter. Er sah in der vereinsmäßigen Gesellung, in der Genossenschaft, eine Möglichkeit, die Polarität von Zwang und Freiheit zu versöhnen. ‚Assoziation‘, ‚Verein‘, ‚Genossenschaft‘ – das waren in der Zusammenfassung der Theoriegeschichte des Vereinsgedankens Begriffe, in denen die gegenseitige Ergänzung und Beschränkung von Machtzentralisierung und freier Selbstbestimmung ausgesagt wurden. Das späte 19. und frühe 20. Jahrhundert brachte schließlich die Entdeckung der psychischen Bedeutung des Verbandslebens und die erneute, aber schärfer zugespitzte Unterscheidung von stärker triebhaft-natürlichen und primär zweckrationalbewussten Gesellungsformen. Bei Tönnies formt sich diese idealtypische Unterscheidung, die er begrifflich in die Polarität von Gemeinschaft und Gesellschaft fasst, in dem Gegensatz von Genossenschaft und Verein aus.198 Max Weber endlich registrierte die völlige Durchdringung des Alltagslebens durch die verschiedenen Formen des Vereins: der heutige Mensch sei Vereinsmensch in einem fürchterlichen, nie geahnten Ausmaße. Der Verein diente einerseits als Mittel der Auslese und ver194 Lorenz von Stein, Die Verwaltungslehre, Tl. 1: Die vollziehende Gewalt, Abt. 3: Das System des Vereinswesens und des Vereinsrechts (1865), 2. Aufl. (Stuttgart 1869; Ndr. Aalen 1962), V. 195 Ebd., 172. 196 Ebd., 174, 180, 185. 197 Otto von Gierke, Das deutsche Genossenschaftsrecht, Bd. 1: Rechtsgeschichte der deutschen Genossenschaft (Berlin 1868; Ndr. Graz 1954), 881 f. 198 Ferdinand Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft (1887), 2. Aufl. (Berlin 1912), 275.

7. Verein, Gesellschaft, Geheimgesellschaft, Assoziation, Genossenschaft

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helfe den im bürgerlichen Leben Angepaßten zur geschäftlichen, zur politischen, zu jeder Art von Herrschaft im sozialen Leben. Die Partei, der Verein, der Klub ermöglichten in der modernen Massengesellschaft in Wirklichkeit ... stets eine Minoritätsherrschaft. Andrerseits ist der Verein in seiner Omnipräsenz und seiner vielgestaltigen Erscheinung auch ein soziales Medium, welches die praktische Lebensführung fast aller Zeitgenossen beeinflusst und reglementiert. Er dient dabei auch dem universellen Trend der neuzeitlichen Rationalisierung, indem er durch die Ausbildung eines Apparats und die damit verbundene Tendenz zur Versachlichung zur Tragik jedes Realisationsversuchs von Ideen in der Wirklichkeit beiträgt.199 Das staatsbürgerliche Recht, unter einer sehr weit zurückgenommenen Staatsaufsicht zu beliebigen Zwecken Vereine zu gründen, stand im 20. Jahrhundert im freiheitlichen Rechtsstaat nicht mehr in Frage. Das freie Vereinsrecht bildet einen Kernbestand des Privatrechts und sichert in der industriellen Gesellschaft die Entfaltung von Vermögensgesellschaften, wie der Handelsgesellschaften, Aktiengesellschaften und Erwerbs- und Wirtschaftsgenossenschaften, der politischen Vereine bzw. – mit einer Sonderstellung – der Parteien, der wirtschaftlichen Interessenverbände wie des kulturellen Vereinswesens. Dass Ausbildung und Leistungsfähigkeit des Vereinswesens wesentlich bedingt seien von dem Maße, in welchem das Bewußtsein der freien Persönlichkeit die Gesellschaft durchformt,200 ist in der liberal-verfassungsstaatlichen Rechtslehre communis opinio geblieben. Der Verein, im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert primär die Organisationsform kultureller, gesellschaftlicher und politischer Reformbewegungen, hat sich zum Träger der modernen Massenkultur201 entwickelt. Seit Beginn der 20er Jahre geriet der klassischliberale Vereinstypus und damit auch der Vereinsbegriff allerdings in den Sog antiindividualistischer Modernitätskritik. Dass das pluralistisch-vielgestaltige und auf begrenzte, genau definierte Zwecke hin orientierte Vereinswesen der Vereinsamung des Individuums in der industriellen Massengesellschaft entgegenwirken könne, wurde vom neokorporativen und „organischen“ Staats- und Gesellschaftsdenken bezweifelt. In den von der Jugendbewegung beeinflussten Bünden wie in den Wehrverbänden machte sich ein wachsendes Bedürfnis nach lebensgemeinschaftlichem Zusammenhalt bemerkbar. Zunehmende Vereinsmüdigkeit wurde auf ein Übermaß intellektualistischer Beeinflussung in einem jetzt als mechanisch kritisierten Vereinswesen zurückgeführt.202 Gegenüber der Vereinsfeindschaft der nationalsozialistischen Volkstumsideologie stellte das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland im Art. 9, 1 das Grundrecht auf freie Vereinsbildung wieder her.

199 Max Weber, Geschäftsbericht, Verhandlungen des ersten deutschen Soziologentages (Tübingen 1911), 53, 56 ff. 200 Edgar Loening/Otto Loening, Artikel Vereins- und Versammlungsfreiheit, in: Handwörterbuch der Staatswissenschaften, 4. Aufl., Bd. 8 (1928), 543. 201 Otto Maresch, Artikel Verein; Vereinswesen, Staatslexikon, hg. v. der Görres-Gesellschaft, 5. Aufl., Bd. 5 (1932), 651. 202 Ebd., 652.

8. STRUKTURMERKMALE UND ENTWICKLUNGSTENDENZEN DES VEREINSWESENS IN DEUTSCHLAND 1789–1848 Grundlegend für die Geschichte des Vereinswesens1 in Deutschland sind die Rahmenbedingungen, die durch das Vereinsrecht gesetzt wurden.2 Sie haben Gründungstätigkeit und Vereinsleben, Satzungen und Selbstverständnis der Vereine aufs stärkste geformt. In seinen Grundzügen blieb das Vereinsrecht zwischen aufgeklärtem Absolutismus und Märzrevolution unverändert. Das Allgemeine Preußische Landrecht von 1794, mit dem die neuere Gesetzgebung beginnt, sanktionierte die soziale Wirklichkeit, die Entstehung eines weitverzweigten und vielseitigen Vereinswesens, zog aber eine scharfe Grenze gegenüber politischen Vereinen. Die Behörden behielten sich die Entscheidung darüber vor, was gegen ,,gemeines Wohl, Sicherheit und Ordnung“ verstoße und welche Vereinszwecke zulässig seien oder nicht. Unter dem Eindruck der Französischen Revolution verbot die Regierung 1798 noch einmal jede Beratung politischer Angelegenheiten in Vereinen. Diese Rechtsauffassung blieb in Preußen ebenso wie in den meisten deutschen Staaten bis 1848 maßgeblich und wurde jeweils an Wendepunkten der innenpolitischen Entwicklung in Deutschland neu und verschärft bekräftigt, so in Preußen 1816 zum Abschluss des sogenannten Tugendbundstreites und im Deutschen Bund mit den Beschlüssen von 1832. Erst die Frankfurter Reichsverfassung gewährte in Art. 8 allen Deutschen das Recht, sich ohne vorherige Genehmigung friedlich und ohne Waffen zu versammeln und Vereine zu bilden.3 Ähnlich wie das Vereinsrecht verharrte auch das Koalitionsrecht ganz in der polizeistaatlichen Tradition des 18. Jahrhunderts. Die Preußische Gewerbeordnung von 1845 differenzierte das Koalitionsverbot der Reichszunftordnung von 1731 lediglich genauer aus, indem es neben dem Koalitionsverbot für Arbeitgeber die Verbindungen von Gesellen, Fabrikarbeitern, Lehrlingen oder Gesinde bei hohen Stra1

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Für den langfristigen Entstehungszusammenhang des Vereinswesens vgl. W. Hardtwig, Genossenschaft, Sekte, Verein in Deutschland, Bd. 1. Vom Spätmittelalter bis zur Französischen Revolution, München 1997. Zum Vereinsrecht: J. Baron, Das deutsche Vereinswesen und der Staat im 19. Jahrhundert, Diss. jur. Göttingen 1962; Th. Vormbaum, Die Rechtsfähigkeit des Vereins im 19. Jahrhundert. Ein Beitrag zur Entstehungsgeschichte des BGB, Berlin 1975; P. Kögler, Arbeiterbewegung und Vereinsrecht. Ein Beitrag zur Entstehungsgeschichte des BGB, Berlin 1974; zum Koalitionsrecht vgl. W. Ritscher, Koalitionen und Koalitionsrecht in Deutschland bis zur Reichsgewerbeordnung, Stuttgart 1917. Zur Diskussion um das Grundrecht der Vereinigungsfreiheit vgl. W. Hardtwig, Politische Gesellschaft und Verein zwischen aufgeklärtem Absolutismus und der Grundrechtserklärung der Frankfurter Paulskirche, in: G. Birtsch (Hg.), Grund- und Freiheitsrechte im Wandel von Gesellschaft und Geschichte. Beiträge zur Geschichte der Grund- und Freiheitsrechte vom Ausgang des Mittelalters bis zur Revolution von 1848, Göttingen 1981, S. 336 ff., bes. 355 ff.

182 8. Strukturmerkmale und Entwicklungstendenzen des Vereinswesens in Deutschland fen untersagte.4 Anhaltende und schließlich nicht mehr zu unterdrückende Diskussionen über das Vereinsrecht seit 1815 und das Koalitionsrecht seit 1835 in Publizistik und Staatsrechtlehre, in den Kammern und beim Bundestag signalisieren, dass die Rechtsordnung in immer schärferen Widerspruch zur wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Wirklichkeit geriet. Die offizielle Vereinsrechtspolitik der Regierungen lässt sich auf eine kurze Formel bringen: sie erlaubte und forderte sogar vielfach alle möglichen Vereine, solange diese nicht das Kompetenzmonopol der bürokratischen Monarchie in allen politischen Angelegenheiten in Frage stellte. In den Vereinen schlossen sich die Menschen zusammen, ohne Bürger sein zu dürfen. Die Vereinsrechtspolitik der Regierungen verharrte damit bis 1848 auf der aufgeklärt-absolutistischen Staatszwecklehre und versuchte im Verhältnis von Staat und Untertanen bzw. Bürgern ein Verhältnis aufrechtzuerhalten, das in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts den Aufschwung des modernen Vereinswesens und ein relativ problemfreies Funktionieren der Genehmigungspraxis ermöglicht hatte. Eine Analyse der Vereinszwecke im Gründungszeitraum zwischen circa 1760 und circa 1800 erweist als beherrschendes Strukturmerkmal dieses Vereinswesens die pragmatisch-utilitaristische Zielsetzung. In ,,ökonomischen“, ,,patriotischen“ und ,,Lesegesellschaften“ wurde die städtisch-handwerkliche und die landwirtschaftliche Arbeit, die Kenntnis der Natur und der Geschichte vom aufklärerischen Prozess der Verwissenschaftlichung der Weltkenntnis erfasst.5 In Lektüre, Vortrag und Diskussion wurde nützliches Wissen erworben, nach Möglichkeit kritisch geprüft und erweitert. Im Zuge des neuzeitlichen Individualisierungsprozesses löste sich die Geselligkeit aus den Beschränkungen korporativer Sitte. Die Sphäre der Kultur emanzipierte sich von der Fixierung auf Hof, Aristokratie und Kirche und entwickelte sich zum eigenständigen Handlungs- und Anschauungsbereich der entstehenden bürgerlichen Gesellschaft.6 Alle diese Vereinszwecke, rationale Durchdringung der Arbeit und der Weltauslegung, individualisierte Bildung und eigenständige Pflege der Kultur bleiben für das Vereinswesen von 1800 bis 1848 ausschlaggebende Antriebskräfte. In mehr oder weniger veränderten Formen leben die Typen der landwirtschaftlichen, polytechnischen und Gewerbevereine, der geselligen und wissenschaftlichen Vereine fort und breiten sich immer mehr aus. Versucht man die Situation der Vereinsgründungen zu rekonstruieren, so lassen sich einige allgemeine Aussagen über die Motive machen: 4

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Vgl. E.R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. IV, Stuttgart 1969, S. 1135 ff.; vgl. auch R. Koselleck, Preußen zwischen Reform und Revolution. Allgemeines Landrecht, Verwaltung und soziale Bewegung von 1791 bis 1848, 2. Auf. Stuttgart 1975, S. 588 ff. Vgl. W. Hardtwig, Politische Gesellschaft und Verein, wie Anm. 3, bes. S. 338–345; Grundlegend zur Entstehungsgeschichte des Vereinswesens: Th. Nipperdey, Der Verein als soziale Struktur in Deutschland im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert, zuletzt in: ders., Gesellschaft, Kultur, Theorie, Gesammelte Aufsätze zur Neueren Geschichte, Göttingen 1976, S. 174ff.; zum Zusammenhang des Vereinswesens mit der Bildungsreformbewegung der Akademiegründungen vgl. L. Hammermayer, Akademiebewegung und Wissenschaftsorganisation. Formen, Tendenzen und Wandel in Europa während der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts, in: E. Amberger, M. Cieśla, L. Spiklay (Hg.), Wissenschaftspolitik in Mittel- und Osteuropa. Akademien und Hochschulen im 18. und beginnenden 19. Jahrhundert, Berlin 1976, bes. S. 14–23. Dazu v.a. Th. Nipperdey, Der Verein als soziale Struktur, wie Anm. 5, bes. S. 190–193.

8. Strukturmerkmale und Entwicklungstendenzen des Vereinswesens in Deutschland

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1. Überall dort, wo die Verbindlichkeit ständisch-korporativer Lebensgestaltung nachlässt oder verschwindet, tritt an ihre Stelle die freiwillige, selbstgewählte und immer nur partikulare Vergesellschaftung im Verein. Die pragmatisch-utilitaristischen Gesellschaften der Aufklärung, insbesondere die Lesegesellschaften, formen den geselligen Umgang der Menschen miteinander neu aus dem gemeinsamen Bedürfnis nach Wissenserweiterung und vielseitigerer, aber auch individueller gestalteter Kommunikation. Das vertiefte Interesse an Veränderungen, das sich in Lektüre und Diskussion ausspricht, setzt sich über die traditionale Legitimität korporativ-ständischer Bindungen hinweg. Die Geheimgesellschaften des 18. Jahrhunderts suspendieren systematisch, wenn auch nur vorübergehend, die korporativständischen Schranken, um den Kommunikationsraum der Gebildeten zu erweitern. In der Vielzahl der Vereine mit ,,ideellen Zwecken“, wie es in der zeitgenössischen Rechtssprache heißt, in den kulturellen Vereinen im weitesten Wortsinn, tritt an die Stelle einer durch gleiche wirtschaftlich-soziale Situation, Privileg und Tradition vorgeprägten Gemeinsamkeit die gemeinsame Zuordnung zu selbstgewählten kulturellen Interessen. Ähnlich ersetzt in den Arbeiter- bzw. Handwerkerbildungsvereinen des Vormärz die bewusste und freiwillige Assoziation mit Gleichgesinnten die traditionale Eingliederung in den Zunftverband. 2. Die Entfesselung der freien Konkurrenz und die Konfrontation mit den Gesetzen des langsam entstehenden nationalen und des internationalen Marktes, die Freisetzung von Kapital und Arbeit aus den ständischen Bindungen führt überall zur Gründung freiwilliger Assoziationen als Vermittlungsinstitutionen des technischen, wissenschaftlichen und betriebswirtschaftlichen Fortschritts in die landwirtschaftliche, gewerbliche und industrielle Arbeit. So erklären sich etwa die Gründungswellen für die polytechnischen und die Gewerbevereine ab 1815 und ab circa 1835 vor allem aus der Notwendigkeit, überlegener Konkurrenz standzuhalten, und aus den gesamtwirtschaftlichen Veränderungen, die sich Mitte der dreißiger Jahre aus der Gründung des Zollvereins, der Entstehung gewerblicher Großbetriebe in der Textilindustrie und im Maschinenbau und vor allem aus der Produktionssteigerung im Maschinenbau und in der Eisenverarbeitung ergaben. Unübersehbar ist auch der kausale Zusammenhang zwischen der Agrarkrise ab 1819 und der rapiden Ausbreitung des landwirtschaftlichen Vereinswesens. Häufig reagierten die Vereinsgründungen unmittelbar auf aktuelle Krisen. Dies zeigt sich etwa deutlich beim Wohltätigkeits- und Unterstützungsvereinswesen. Die Bürger von Halle an der Saale etwa versuchten 1832 den Folgen einer Cholera-Epidemie durch einen Hilfsverein und eine Speiseanstalt für Arme entgegen zu steuern. Bei starkem Anstieg der Getreidepreise wurden bürgerliche Unterstützungsvereine gegründet, so 1837/38 eine Speiseanstalt, 1842 ein Frauen-Unterstützungsverein, 1845 eine Arbeitsnachweisungsanstalt und eine Spargesellschaft für die ärmeren Klassen.7 3. Die Verselbständigung der Sphäre von Kultur, Wissenschaft, Technik, die Ausgestaltung des privaten Lebens mit kulturellen Aktivitäten führen zum Zusammenschluss von Bürgern mit gleichen kulturellen, religiös-weltanschaulichen oder 7

Vgl. Ch. Sachße, F. Tennstedt, Geschichte der Armenfürsorge in Deutschland vom Spätmittelalter bis zum 1. Weltkrieg, Stuttgart 1980, S. 225.

184 8. Strukturmerkmale und Entwicklungstendenzen des Vereinswesens in Deutschland wissenschaftlichen Interessen – von den verschiedenen Formen der Geschichtsvereine über naturwissenschaftliche und volkskundliche Vereine bis zu den Kunstvereinen und Gesangsvereinen.8 Der neue Individualismus der bürgerlichen Gesellschaft vereinzelt die Menschen, aber er räumt ihnen auch einen immer größer werdenden Spielraum für persönliche und private Bedürfnisse ein. Der Drang, die private Lebenswelt über Arbeit, Familie, Gemeindeleben hinaus zu bereichern, führte die Menschen neu und mit sehr speziellen Zielsetzungen zusammen. Für den Zeitraum zwischen 1800 und 1848 lassen sich schlagwortartig einige Entwicklungstendenzen benennen, denen das Vereinswesen allgemein unterworfen ist. 1. Die Differenzierung: Während die aufklärerischen Vereine meist mehrere Funktionen verbunden hatten, etwa Bildung, Forschung, Geselligkeit und Wohltätigkeit, spezialisieren sich jetzt zunehmend die Vereins-Aktivitäten. Bei den wissenschaftlichen Vereinen vollzieht die Organisation den inneren Differenzierungsprozess der Wissenschaften nach. In der ersten Jahrhunderthälfte halten sich dabei das Interesse an fachübergreifender wissenschaftlicher Kommunikation und Spezialisierung noch ungefähr die Waage. Die Hauptleistung der 1822 gegründeten ,,Gesellschaft deutscher Naturforscher und Ärzte“ etwa bestand zunächst in der Zusammenfassung aller naturwissenschaftlichen und medizinischen Interessen, ehe seit 1845 die immer zahlreicher werdenden Abspaltungen einzelner Fachgesellschaften beginnen.9 8

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Für die Breite und Vielfalt des unpolitischen Vereinswesens vgl. z.B. die Übersicht bei G. Kratzsch, Vereine mit ideellen Zwecken im 19. Jahrhundert. Ein Beitrag zur Vereinsgeschichte der Provinz Westfalen in: H. Dollinger u.a. (Hg.), Weltpolitik, Europagedanke, Regionalismus, Festschrift für H. Gollwitzer, Münster 1982, S. 193 ff. Zu Umfang, Schwerpunktbildung, territorialer Verteilung der wissenschaftlichen Gesellschaften sowie zu ihrem Verhältnis zu den wissenschaftlichen Organisationen des Staates vgl. F. R. Pfetsch, Zur Entwicklung der Wissenschaftspolitik in Deutschland 1750–1914, Berlin 1974, S. 193–214; ein Hauptbeispiel für die Innovationsleistung einer fächerübergreifenden wissenschaftlichen Vereinigung stellt die ,,Gesellschaft deutscher Naturforscher und Ärzte“ dar, vgl. R. v. Gizycki, Prozesse wissenschaftlicher Differenzierung, Berlin 1976; demnach ersetzt die GNÄ ältere und weniger bewegliche Sozietätsformen wie die seit 1652 bestehende Leopoldinisch-Carolinische Akademie der Naturforscher vor allem durch die organisatorische Zusammenfassung aller Naturforscher, durch ein intensiviertes Kommunikationsangebot auf Wanderversammlungen und die institutionalisierte Möglichkeit persönlicher Kontakte, vgl. ebda. S. 27–31; gegenüber der für die Gründungssituation entscheidend wichtigen Integrationsfunktion tritt ab 1847 die Funktionsdifferenzierung durch Abspaltung von Spezialgesellschaften immer deutlicher hervor; die Spezialisierungstendenz setzt z.B. in Preußen 1811 mit der Görlitzer ,,Ornitologischen Gesellschaft“ ein und verdichtet sich langsam ab der Mitte der 20er Jahre: vgl. den ,,Physikalischen Verein“ in Frankfurt (1824), die ,,Gesellschaft für Erdkunde“ (1828) den ,,Magnetischen Verein“ (1834) und den ,,Entomologischen Verein“ (1837) in Stettin, vgl. F. R. Pfetsch, Zur Entwicklung der Wissenschaftspolitik, S. 205; zum Verhältnis von ,,Spezialisierung und Entpartikularisierung“ vgl. allgemein: Th. Nipperdey, Der Verein als soziale Struktur, wie Anm. 5, S. 190–195; als Beispiel für berufsspezifische gelehrte Gesellschaften vgl. bes. die ärztlichen Lesegesellschaften, die sich seit circa 1770 ausbreiten; dazu W. Artelt, Die medizinischen Lesegesellschaften in Deutschland, in: Sudhoffs Archiv für die Geschichte der Medizin und Naturwissenschaften 37 (1955), S. 195 ff.; auf der Ebene der wissenschaftlich interessierten Vereine musste sich seit der Wende zum 19. Jahrhundert erst die Trennung von

8. Strukturmerkmale und Entwicklungstendenzen des Vereinswesens in Deutschland

185

2. Die Konzentration und Verbandsbildung: Bereits ab der Gründungswelle der 20er Jahre schließen sich die landwirtschaftlichen Vereine vielfach zu Kreis- und Hauptvereinen und später zu Provinzialvereinen zusammen,10 wenn sie nicht, wie etwa der Bayerische landwirtschaftliche Verein von 1809, von vornherein als überlokale gesamtstaatliche Organisationen konzipiert sind. Ähnliches gilt für die Gewerbevereine, wo in den 30er Jahren in fast allen Staaten gesamtterritoriale Dachorganisationen wie etwa die ,,Gesellschaft zur Beförderung der Gewerbe in Württemberg“ oder der ,,Großherzoglich-Hessische Gewerbeverein“ existierten.11 Der Versuch, die zollvereinsländischen Gewerbevereine organisatorisch zusammenzufassen, scheiterte jedoch noch 1843. Auch die kulturellen und wissenschaftlichen Vereinigungen zeigen die Tendenz zum überregionalen und schließlich nationalen Zusammenschluss. So verband etwa Alexander von Humboldt 1828 mit der ,,Gesellschaft deutscher Naturforscher und Ärzte“ ausdrücklich die Hoffnung, dass sich in ihr die geistige Einheit der Nation darstellen werde. So wie die Differenzierung des Vereinswesens die wachsende Komplexität der Bedürfnisse und Tätigkeiten in der modernen bürgerlichen Gesellschaft widerspiegelt, so verweisen Konzentration und Verbandsbildung auf eine wachsende überlokale und überregionale Kommunikationsbereitschaft. Viele der frühen kulturellen Vereine, wie etwa Geschichts- und naturkundliche Vereine, betonten ursprünglich gerade ihren lokalen oder regionalen Interessenhorizont.12 Die Tendenz zum großräumigeren Zusammenschluss ist demGeschichte und Naturkunde durchsetzen, die ihrerseits die Verselbständigung des Forscherinteresses gegenüber der pragmatischen Tendenz auf unmittelbare Anwendbarkeit und Nutzen voraussetzte; eigenständige geschichtskundliche oder geschichtswissenschaftliche Vereine entstehen daher erst seit 1819; vgl. H. Heimpel, Geschichtsvereine einst und jetzt, in: H. Boockmann u.a., Geschichtswissenschaft und Vereinswesen im 19. Jahrhundert. Beiträge zur Geschichte historischer Forschung in Deutschland, Göttingen 1972, S. 45 ff., hier bes. S. 46–50. 10 Vgl. z.B. den Regierungsbezirk Münster, wo sich bis 1848 10 Kreisvereine zusammengeschlossen hatten, Kratzsch, Vereine mit ideellen Zwecken, wie Anm. 8, S. 201. 11 Vgl. etwa der für Mitglieder aus ganz Bayern offene ,,Polytechnische Verein“ in München (1815), der ,,Patriotische Verein in Preußen zur Aufnahme der inländischen Fabriken“ (1817), der ,,Landwirtschafts-, Handels- und Gewerbeverein in Kassel“ (1820), der ,,Verein zur Beförderung des Gewerbefleißes in Preußen“ (1820), der ,,Verein für vaterländische Kultur in Schlesien“ (1829), der ,,Polytechnische Verein in Sachsen“ (1830), der „Verein zur Beförderung der Gewerbe in Württemberg“ (1830), der ,,Verein zur Ermunterung des Gewerbegesetzes in Böhmen“ (1834), der ,,Gewerbeverein in Hannover“ (1834), der ,,Gewerbeverein in Wien“ (1840). 12 Die Geschichtsvereine stehen bis 1848 ,,unter dem Vorzeichen der Landes- und Ortsgeschichte“, H. Heimpel, Geschichtsvereine, wie Anm. 9, S. 48; einer der Gründe dafür ist allerdings auch darin zu suchen, dass die Geschichtsvereine sehr stark von den Regierungen und Verwaltungen der Einzelstaaten beeinflusst wurden, denen insgesamt an der ,,politischen Verharmlosung der Geschichte“, (ebda. 54) und das heißt auch an der lokalen und regionalen Isolierung der Vereine gelegen war. Die Bedeutung des traditionsgebundenen lokalen Lebens im deutschen Bürgertum bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts arbeitet vor allem M. Walcker, German Home Towns. Community, State and General Estate 1648–1871, Ithaca u.a. 1971, S. 217– 403 passim heraus; im Anschluss an ihn und J. Sheehan, German Liberalism in the Nineteenth Century, Chicago u.a. 1978 fordert D. Langewiesche, für die deutsche Geschichte des Vormärz das ,,gewachsene Geflecht lokaler und regionaler Strukturen“ stärker zu berücksichtigen, vgl. D. Langewiesche, Europäische Liberale in den Revolutionen von 1848. Gesellschafts- und

186 8. Strukturmerkmale und Entwicklungstendenzen des Vereinswesens in Deutschland gegenüber nicht nur ein Gradmesser für wachsende Mobilität und Organisationsbereitschaft. Die Identifikation mit allgemeinen Zwecken wie Naturwissenschaft, Geschichtskenntnis, Musik, bildende Kunst u.a. erweist sich darüber hinaus als ein Weg, auf dem sich die Menschen aus der engen Einbindung in den lokalen Lebenskreis herauslösen. So gesehen ist die Freisetzung auch der ideellen, kulturellen Zwecke ein Faktor der gesellschaftlichen Modernisierung. Die Autonomisierung der Kultur, die organisatorisch weitgehend vom Verein getragen wird, treibt auf diese Weise zunächst indirekt auch die Nationsbildung voran, indem sie die Nation zum Rahmen der kulturellen Aktivitäten erhebt.13 3. Die soziale Erweiterung nach unten zugleich mit der Schichtendifferenzierung im Übergang von der Ständegesellschaft zur Klassengesellschaft. Während das aufklärerische Vereinswesen cum grano salis auf die Elite der aufgeklärten und aus der ständischen Ordnung heraustretenden bürgerlichen Oberschicht beschränkt bleibt, machen sich in der entstehenden dekorporierten bürgerlichen Gesellschaft allmählich fast alle sozialen Schichten die Form der freien Assoziation zu eigen. Dabei wird allmählich, unter starker Nachwirkung korporativ-ständischer Schichtung, die ständische Differenzierung durch die neue Bildungs- aber auch Besitzdifferenzierung ersetzt. So bilden sich in den größeren Städten neben den Geselligkeitsvereinen der bürgerlich-aristokratischen Oberschicht mit führendem Anteil des aufgeklärten Beamtentums analoge Vereine des Handels- und Gewerbebürgertums14 und seit den 30er Jahren zunächst wegen des Vereinsverbots vor allem im Ausland die Vereine der entstehenden Arbeiterschaft. verfassungspolitische Zielvorstellungen, in: Aus Politik und Zeitgeschehen, Beilage zu ,,Das Parlament“ 20 (1982), S. 22 ff., hier: S. 23. 13 So organisieren die Männergesangsvereine Sängerfeste, die sich zunächst an landschaftlichregionale Einheiten anlehnen, die keineswegs mit den politischen Einheiten der Bundesstaaten identisch sind; es gab norddeutsche, schwäbische, flämische, fränkische Liederfeste, ehe erstmals 1845 ein deutsches Liederfest in Würzburg veranstaltet wurde, vgl. O. Elben, Der volksthümliche deutsche Männergesang. Geschichte und Stellung im Leben der Nation. Der deutsche Sängerbund und seine Glieder, 2. Aufl. Tübingen 1888, S. 106 ff.; welches Gewicht die Fixierung auf den lokalen und regionalen Horizont im Vormärz noch hat, erhellt auch daraus, dass eine überregionale oder gar gesamtzollvereinsländische oder nationale wirtschaftliche Interessenorganisation zwar verschiedentlich versucht wurde, aber keinen Erfolg hatte; vgl. H. Best, Interessenpolitik und nationale Integration 1848/49. Handelspolitische Konflikte im frühindustriellen Deutschland, Göttingen 1980, S. 81–105 passim; die Verbandspolitik blieb vor 1840 auf regionale und lokale Industrie- und Gewerbevereine beschränkt; die Kommunikation zwischen den Vereinen wurde zum Teil allerdings auch von den Behörden behindert, wenn etwa interterritoriale Kontakte schon auf der Ebene der Gewerbevereine verboten wurden; vgl. das Beispiel des ,,Aachener Vereins für nützliche Wissenschaften und Gewerbe“, dem 1843 bei der Kontaktaufnahme mit der ,,Gesellschaft zur Förderung der Gewerbe in Württemberg“ der Konzessionsentzug angedroht wurde, vgl. Fr. Zunkel, Der rheinisch-westfälische Unternehmer 1834 bis 1879. Ein Beitrag zur Geschichte des deutschen Bürgertums im 19. Jahrhundert, Köln u.a. 1962, S. 153; an der Eigenständigkeit regionaler, auch hier die politischen Ländergrenzen überlagernder wirtschaftlicher Einheiten, nämlich Süddeutschland, Rheinland/Westfalen und Nord- und Westdeutschland mit Schlesien, Sachsen und Thüringen, scheitern 1843 Anläufe zur Gründung eines gesamtnationalen Industriellenverbandes, vgl. H. Best, Interessenpolitik und nationale Integration, S. 96 f. 14 Vgl. Th. Nipperdey, Der Verein als soziale Struktur, wie Anm. 5, 186; Beispiele für die soziale

8. Strukturmerkmale und Entwicklungstendenzen des Vereinswesens in Deutschland

187

4. Die massenhafte Ausdehnung. Genaue Zahlen über Ausbreitung der Vereine sind beim derzeitigen Forschungsstand nur für einzelne Vereinstypen bzw. Bundesstaaten zu ermitteln. Einige exemplarische Zahlen mögen hier jedoch die These rechtfertigen, dass bis 1848 die ländliche Oberschicht und das städtische Bürgertum in irgendeiner der vielen Formen vereinsmäßig organisiert und also mit den dort üblichen mehr oder weniger demokratischen Formen der Meinungsäußerung und Entscheidungsbildung bekannt oder vertraut geworden waren. Während in den 20 Jahren von 1801 bis 1820 in Preußen lediglich 8 Landwirtschaftsvereine gegründet wurden, waren es von 1821 bis 1830 bereits 23. Seither verstetigt sich die Entwicklung: 1831 bis 1840 sind es 109 Vereine, 1842 bis 1850 160. 1856 existierten in Preußen 408 landwirtschaftliche Vereine mit 40 563 Mitgliedern. Analoges gilt für die Gewerbevereine.15 1845 gab es in Preußen 1 680 Wohltätigkeitsvereine; 52 davon stammten aus dem 18. Jahrhundert. Nach stetiger Ausdehnung auf relativ niedrigem Niveau zwischen 1800 und 1820 wuchsen die Unterstützungsvereine rapide an: von 1820 bis 1830 125 Neugründungen, 1830 bis 1840 334 und allein in den Jahren 1840 bis 1845 316 Gründungen.16 Die Vereinsbewegung war zur Massenbewegung geworden, die, soweit es das Vereinsrecht zuließ, alle Schichten der Bevölkerung bis hin zur Handwerksgesellenelite der entstehenden Arbeiterschaft ergriffen hatte.

Differenzierung des geselligen Vereinswesens bei H. Schmitt, Das Vereinsleben der Stadt Weinheim an der Bergstraße. Volkskundliche Untersuchungen zum kulturellen Leben einer Mittelstadt, Weinheim 1963, S. 26; H. Freudenthal, Vereine in Hamburg. Ein Beitrag zur Geschichte und Volkskunde der Geselligkeit, Hamburg 1968, S. 91 ff.; E. Sieber, Stadt und Universität Tübingen in der Revolution von 1848/49, Tübingen 1975, S. 15 f.; I. Tornow, Das Münchener Vereinswesen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, mit einem Ausblick auf die zweite Jahrhunderthälfte, Diss. München 1977, S. 47 ff.; E. Illner, Bürgerliche Organisierung in Elberfeld. 1775–1850, Neustadt 1982, bes. S. 188–206. 15 F.W. Böttcher, Die Landwirtschaftlichen Vereine in den Preußischen Staaten. Eine tabellarischstatistische Nachweisung … Mit einem Anhange, enthaltend die landwirtschaftlichen Vereine der übrigen deutschen Staaten, 3., ganz neue bearb. Aufl. Berlin 1856, S. V, VI. 16 Ch. Sachße/F. Tennstedt, Geschichte der Armenfürsorge in Deutschland, wie Anm. 7, 239 f.; zu den wegen der vereinsrechtlichen Behinderung und den oft nur kurzfristigen Gründungen schlecht überlieferten und quantitativ schwer zu fassenden Handwerker-Bildungsvereinen vgl. K. Tenfelde, Lesegesellschaften und Arbeiterbildungsvereine. Ein Ausblick, in: O. Dann (Hg.), Lesegesellschaften und bürgerliche Emanzipation. Ein europäischer Vergleich, München 1981, S. 253 ff., hier: 259; demnach ist die Zählung von E. Todt, H. Radandt, Zur Frühgeschichte der deutschen Gewerkschaftsbewegung 1800–1849, Berlin (Ost) 1950, S. 81 ff. mit 36 Vereinen noch unvollständig.

188 8. Strukturmerkmale und Entwicklungstendenzen des Vereinswesens in Deutschland II Mit den Hinweisen auf Gründungssituationen, Motive und Ausdehnung des Vereinswesens dürfte deutlich geworden sein, dass der Verein kein peripheres Phänomen der deutschen Geschichte im Vormärz ist, sondern in den wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Veränderungen eine zentrale Rolle einnimmt. Es ist daher nur folgerichtig, dass in den Erörterungen über ,,Verein“, ,,Assoziation“, ,,Genossenschaft“ aktuelle Krisenphänomene und ein Gutteil der zeitgenössischen Gesellschafts- und Verfassungstheorie abgehandelt wurden. In dem Maße, in dem an die Stelle der ständisch-korporativ verfassten Gesellschaft das Leitbild einer Gesellschaft freier und rechtsgleicher Bürger trat, wurde die freiwillige Vergesellschaftung selbständig handlungs- und entscheidungsfähiger Individuen zum ausschlaggebenden Instrument des Konfliktaustrags und der Konfliktregulierung – zumindest in der Theorie. In der Praxis zog das restriktive Vereinsrecht enge Grenzen. Geht man davon aus, dass die beherrschenden Probleme des Vormärz sich unter zwei Gesichtspunkten zusammenfassen lassen: die soziale Integration der Gesellschaft zwischen Dekorporation und sich anbahnender industrieller Klassenspaltung einerseits und die politische Partizipation der Bürger im Übergang von absolutistischen zu konstitutionellen Verfassungsformen für eine liberalisierte und pluralistisch sich aufspaltende Gesellschaft andererseits, so richteten sich die Hoffnungen der Beteiligten auf beiden Konfliktfeldern, sofern sie nicht an ständischen oder absolutistischen Leitbildern festhielten, auf den Verein. Wir wenden uns zunächst dem Problem der sozialen Integration zu. Die objektive Zunahme der Armut in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts belastete die örtlichen Armenverbände über das bisher bekannte Maß hinaus. Wollte oder konnte man nicht mehr einfach den restriktiven Weg einer Verschärfung der Heimat- und Armengesetzgebung gehen, so mussten mit dem Auftreten des Pauperismus neue Wege eingeschlagen werden. Die Einschätzung der Armut bewegte sich im sozio-ökonomischen Strukturwandel von der vorindustriellen zur industriellen Gesellschaft zwischen den Normvorstellungen traditioneller christlicher Caritas, zünftisch-korporativ-gemeindebürgerlicher Lebensgestaltung und bürgerlichliberalem Individualismus. Die Lösung des Pauperproblems konnte von der Wiederherstellung der Zunftverfassung ebenso erwartet werden wie von der endgültigen Freisetzung der Konkurrenzwirtschaft oder schließlich von einer zwar liberalisierten, aber durch Privatwohltätigkeit oder staatliche Schutzgesetze in ihren Wirkungen humanisierte Wirtschaftsverfassung.17 Von der Beurteilung dieser Rah17 Vgl. dazu P. Mombert, Aus der Literatur über die soziale Frage und über die Arbeiterbewegung in Deutschland in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: Archiv für die Geschichte des Sozialismus und der Arbeiterbewegung Bd. 9 (1921), S. 169 ff.; C. Jantke, Zur Deutung des Pauperismus, in: C. Jantke und D. Hilger, Die Eigentumslosen. Der deutsche Pauperismus und die Emanzipationskrise in Darstellungen und Deutungen der zeitgenössischen Literatur, Freiburg 1965 S. 7 ff.; H. Stein, Pauperismus und Assoziation, in: International Review for Social History, Bd. 1 (1963) S. 1 ff.; W. Conze, Vom ,,Pöbel“ zum „Proletariat“. Sozialgeschichtliche Voraussetzungen für den Sozialismus in Deutschland, in: Vierteljahresschr. f. Sozial- u. Wirtschaftsgesch. Bd. 71 (1954), S. 333 ff.; ders. Das Spannungsfeld von Staat und Gesellschaft im

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menbedingungen her bestimmen sich dann der Stellenwert und die Funktionen, welche dem Vereinswesen als Mittel zur Bekämpfung des Pauperismus zugewiesen werden. Für die etatistisch Gesonnenen blieb auch um 1840 noch der Verwaltungsstaat verantwortlich für die Behebung sozialer Missstände. Private Armenunterstützungsvereine sollten hier nur im Einzelfall subsidiär eingreifen. Vorbehaltlose Verfechter des freien Marktes erhofften die Behebung der Pauperismusfrage unmittelbar von Produktionssteigerung und Wirtschaftswachstum: für sie trugen die ökonomischen Vereine als Steuerungsinstrumente der wirtschaftlichen Innovation indirekt zur Beseitigung der Massenarmut bei. Für die Entwicklung konstruktiver neuer Vereinskonzeptionen wurde entscheidend wichtig, dass Praktiker und Theoretiker sich aus den herkömmlichen Kategorien moralisierender Disqualifikation des Pöbels lösten und die Unterstützungsbedürftigkeit nicht mehr einfach auf Arbeitsverweigerung und habituelle Unfähigkeit zu bürgerlich-stetiger Lebensgestaltung zurückführten, sondern auch als objektive Folgen von Dekorporation und Disproportionalisierung der bisher in ständischen Schranken gehaltenen und begrenzten Unterschichten begriffen. Die Distanzierung vom patriarchalischen Fürsorgegedanken und den entsprechenden Vereinsformen verhält sich proportional zur Einsicht in den Strukturwandel von der traditionellen Bedürftigkeit der Miseri et Mali über die Massenarmut des Pauperismus zum frühindustriellen Arbeiterelend. Wo der Pauperismus nicht mehr nur als moralisches, sondern als wirtschaftliches und gesellschaftliches Problem aufgefasst oder wo – praktisch im Vorgriff auf den Aufschwung der Industrie – der Übergang vom Pöbel zum Proletariat diagnostiziert wurde, konnten weiterführende und zukunftsträchtige Vereinskonzeptionen entstehen. Hier sind vor allem zwei Vorstellungskreise geschichtsmächtig geworden: die liberale Anleitung zur Selbsthilfe durch den Verein und die frühsozialistischen Entwürfe für eine ,,Assoziation der Arbeit“. Zunächst soll von den bürgerlich-reformistischen Vereinsaktivitäten die Rede sein. In der Spannung zwischen der seit 1830 nicht nur latenten, sondern auch ausgesprochenen Revolutionsfurcht und der uneingeschränkten Erwartung des wirtschaftlichen und politischen Fortschritts verfolgen diese Initiativen mehrere Absichten: sie sollen die Unterschichten mit dem ,,industriösen Geist“ durchdringen, sie also mental an die Erfordernisse der Industriewirtschaft anpassen; sie sollen diejenigen, die ihr Schicksal nicht selbst in die Hand nehmen konnten, in die Fähigkeit zu eigenständiger Lebensgestaltung einüben; und sie sollen durch die Möglichkeit der Eigentumsbildung pazifizierend wirken und so das Potential der sozialen Unruhe entschärfen. Den nüchternen wirtschaftlichen und revolutionspräventiven Motiven gesellen sich in unterschiedlicher Ausprägung erzieherisch-moralische, gesellschaftspolitische und politische Motive hinzu. David Hansemanns ,,Aachener Verein zu Beförderung der Arbeitsamkeit“ von 1834 suchte die Lösung des PauperVormärz, in: ders. (Hg.), Staat und Gesellschaft im deutschen Vormärz 1815–1848, Stuttgart 1962, S. 207 ff., hier bes. 250–261; W. Abel, Der Pauperismus in Deutschland. Eine Nachlese zu Literaturberichten, in: W. Abel u.a. (Hg.), Wirtschaft, Geschichte und Wirtschaftsgeschichte, Festschrift f. Fr. Lütge, Stuttgart 1966, S. 284 ff.; K.-J. Matz, Pauperismus und Bevölkerung. Die gesetzlichen Ehebeschränkungen in den süddeutschen Staaten während des 19. Jahrhunderts, Stuttgart 1980, bes. S. 53–94.

190 8. Strukturmerkmale und Entwicklungstendenzen des Vereinswesens in Deutschland problems auf der Grundlage kapitalistischer Unternehmensgründung. Er rief Kassen ins Leben, welche den Vermögenslosen das Sparen erleichtern und durch Prämien belohnen sollten. Den finanziellen Rückhalt dafür boten die Zuschüsse aus Hansemanns 1824 gegründeter ,,Aachener Feuer-Versicherungs-Gesellschaft“. In malthusianischem Geist will Hansemann die für schädlich gehaltene philanthropische Privatwohltätigkeit ausschalten, hingegen die Anpassung an moderne Arbeitsmentalität prämiieren.18 Auch bei Friedrich Harkort steht der liberale Gedanke der Hinführung zu kontinuierlicher und mündiger Lebensführung im Zentrum, doch denkt er weniger in den Kategorien einer Konditionierung durch Prämien als in denen wirklicher Volksbildung. Harkorts „Verein für die deutsche Volksschule und Verbreitung gemeinnütziger Kenntnisse“ (1844) förderte nicht nur Schulen verschiedenen Typs, sondern gab auch Volksschriften und populärwissenschaftliche Abhandlungen heraus. Vereine ,,zur gegenseitigen praktischen und wissenschaftlichen Ausbildung“ sollten über die Schule hinaus Fachwissen an Handwerker, Kleinfabrikanten und Landwirte vermitteln und deren Interessenhorizont, berufliche Mobilität und damit auch soziale Absicherung erweitern. Daneben hatte Harkort Krankenkassen, Invalidenkassen und Konsumvereine im Auge.19 Enger als in dem umfassenden politisch-gesellschaftlichen Integrationsprogramm Harkorts ging es den Gründern des ,,Centralvereins für das Wohl der arbeitenden Klassen“ im Oktober 1844 vor allem um die Befriedung der ,,Hand- und Fabrikarbeiter“.20 Die Spar- und Prämienkassen, die auch hier an erster Stelle vorgeschlagen sind, sollten ergänzt werden durch Kranken- und Sterbeladen, Unterstützungs- und Pensionskassen, durch Fortbildungsschulen für Kinder und Einrichtungen zur Erwachsenenbildung. Gustav Mevissen schließlich gab im März 1845 die herkömmliche

18 Zu Hansemanns ,,Aachener Verein“ vgl. H.R. Schneider, Bürgerliche Vereinsbestrebungen für das ,,Wohl der arbeitenden Klassen“ in der Preußischen Rheinprovinz im 19. Jahrhundert. Diss. phil. Bonn 1967, S. 7–13, sowie über weitere ,,Vereine zur Beförderung der Arbeitsamkeit“ S. 13–18; vgl. auch A. Bergengrün, D. Hansemann, Berlin 1902, S. 54–74. 19 F. Harkort, Die Vereine zur Hebung der unteren Volksclassen nebst Bemerkungen über den Central-Verein in Berlin, Elberfeld 1845; wieder abgedruckt in: W. Köllmann, J. Reulecke (Hg.), Mitteilungen des Centralvereins für das Wohl der arbeitenden Klassen, Bd. I (Berlin 1848/49), Hagen 1980, S. 45 ff.; zu Harkort vgl. W. Köllmann, Gesellschaftsanschauungen und sozialpolitisches Wollen Friedrich Harkorts, in: Rheinische Vierteljahresblätter XXV (1960) S. 81 ff.; K.E. Jeismann, Volksbildung und Industrialisierung als Faktoren des sozialen Wandels im Vormärz. Dargestellt am Beispiel der Forderungen Friedrich Harkorts zur Bildungsreform, in: Zeitschrift für Pädagogik 18 (1972) S. 315 ff. 20 Aufruf zur Bildung eines Vereins für das Wohl der Hand- und Fabrikarbeiter vom 7. Oktober 1844, in: W. Köllmann und J. Reulecke (Hg.), Mittheilungen des Centralvereins, wie Anm. 19, S. 19; vgl. J. Reulecke, Der Centralverein für das Wohl der arbeitenden Klassen. Zur Entstehung und frühen Entwicklung der Sozialreform in Preußen/Deutschland, in: W. Köllmann, J. Reulecke, Mittheilungen, wie Anm. 19, S. 23 ff.; zu den lokalen Gründungsvorgängen in Bielefeld vgl. auch J.A. Klocke, Wirtschaftliche Entwicklung und soziale Lage der Unterschichten in Ostwestfalen von 1830 bis 1850, Diss. Bochum 1972, S. 104 ff.; W. Wortmann, Eisenbahnbauarbeiter im Vormärz. Sozialgeschichtliche Untersuchung der Bauarbeiter der Köln-Mindener Eisenbahn in Minden-Ravensburg 1844–1847, Köln u.a. S. 170–175.

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liberale Koppelung von Bildung und Individualität auf und forderte ausdrücklich und dringlich Bildung für die ,,Massen“.21 Bei alledem tat sich eine zunehmende Diskrepanz zwischen liberaler Unternehmerschaft, den Vereinsinitiatoren insgesamt, und Staatsverwaltung auf. Sie kulminierte in der an Unterdrückung grenzenden Behinderung des ,,Centralvereins“. Der Konfliktstoff lag letztlich in den über eine sozial-konservative Befriedungsstrategie hinausführenden gesellschafts-politischen und politischen Implikationen des Vereinswesens, die in den 40er Jahren immer stärker hervortraten. Das Vereinswesen wurde, zum Teil gewollt, zum Teil über das gewollte Maß hinaus, zum Kristallisationskern politischer Emanzipationsansprüche. Der Verein trug der Mobilisierung der Gesellschaft Rechnung und war damit per se schon ein Element der Bewegung. Die konservativen Kräfte in Regierung und Verwaltung sahen im Verein mit Recht eine zweifache Bedrohung: der Bildungsverein, konzipiert als eigenständiges und staatsfernes Integrationsinstrument für die in Bewegung geratene Unterschicht, barg in ihrer Sicht nicht nur die Gefahr gesteigerten Selbstbewusstseins und organisatorischer Sammlung einer staatsfremden oder staatsfeindlichen Schicht, sondern er konnte tatsächlich auch als Angriffswaffe gegen den spätabsolutistisch oder frühkonstitutionell verfassten und mit feudalständischen Relikten durchsetzten Staat dienen, indem er Bürgertum und Proletariat zum Teil unter gleichen Rechten, vor allem aber unter einer identischen historischen Entwicklungserwartung vereinigte.22 Allerdings begann die Annahme einer einheitlichen Zielori21 G. Mevissen, Über den Allgemeinen Hülfs- und Bildungsverein (15. 3. 1845), abgedr. in: J. Hansen, Gustav von Mevissen. Ein rheinisches Lebensbild 1815–1899, Bd. II, Abhandlungen, Denkschriften, Reden und Briefe, Berlin 1906, S. 129–137; Mevissen sieht die ,,Zahl der Proleten in allen Staaten der Gegenwart in einer höchst beunruhigenden Progression“ ansteigen und erwägt, ob die bevorstehende ,,Krisis eine äußere, durch revolutionäre Umwälzungen sich vollziehende“ sein werde, oder ob sie evolutionär abgefangen werden könne; dieser Gefahr gegenüber erscheinen ihm das private Wohltätigkeitsvereinswesen und ,,Spar- und Prämienkassen“ lediglich als ,,Palliativmittel“, welche den ,,Fortschritt eher zu hemmen, als zu fördern“ geeignet seien; zu den politisch-sozialen Überzeugungen der rheinisch-westfälischen Unternehmer vgl. allgemein: J. Köster, Der rheinische Frühliberalismus und die soziale Frage, Berlin 1938, Reprint Vaduz 1965; Fr. Zunkel, Die rheinisch-westfälischen Unternehmer 1834– 1879, wie Anm. 13, bes. S. 133–169; L. Puppher, Sozialpolitik und soziale Anschauung frühindustrieller Unternehmer in Rheinland-Westfalen, Köln 1966. 22 Die offiziöse Interpretation der Vereinsrechtsauslegung der konstitutionellen deutschen Regierungen nach der Juli-Revolution und nach den Bundesbeschlüssen bei J.H. Zirkler, Das Associationsrecht der Staatsbürger in den konstitutionellen Staaten und die Lehre von dem Verbrechen unerlaubter Verbindungen und Versammlungen, Leipzig 1834; Zirkler erkennt in einer grundrechtlich stilisierten Fassung der herkömmlichen absolutistisch-naturrechtlichen Lehre ein ,,freies Associationsrecht der Staatsbürger“ als ,,angeborenes und unveräußerliches Menschenrecht“ an, doch täuscht diese Formulierung, weil es ihm gerade auf die Trennung der privaten Sphäre von der öffentlich-politischen ankommt. Aufgabe der Politik sei es, den ,,rein menschlichen Associationsgeist mit der Unterordnung unter die Staatsgewalt zu versöhnen“, ebda., S. 3, 8; durchaus scharfsinnig die Analyse Metternichs, der die Vereine als Symptome des Revolutionszeitalters und als Organisationskerne der neuartigen ökonomischen, sozialen und politischen Dynamik erfasst; Metternich diagnostiziert den umfassenden Zusammenhang einer latenten Politisierung, der auch die offiziell nicht-politischen Vereine umfasst; er muss außer den rein geselligen Vereinen alle Typen der modernen Vereinsbewegung verwerfen, weil

192 8. Strukturmerkmale und Entwicklungstendenzen des Vereinswesens in Deutschland entierung durch Bildung im Verein bereits vor 1848 obsolet zu werden, wenn sie auch tatsächlich die entstehende Arbeiterbewegung bis 1868 noch weitgehend geprägt hat. Denn die auf Integration zielenden Vereinskonzeptionen konnten den weitergehenden Hoffnungen, welche die radikale frühsozialistische Intelligenz in das Assoziationsprinzip setzte, nicht mehr genügen. In der vormärzlichen ideenpolitischen Auseinandersetzung und Weiterentwicklung der frühsozialistischen Assoziationstheorien Robert Owens, Charles Fouriers, Victor Considérants und Louis Blancs reißt der Gegensatz auf zwischen Teilreformen auf der Grundlage der liberalen Verkehrswirtschaft und der individualistischen bürgerlichen Gesellschaft einerseits und utopischen Entwürfen zur Umgestaltung von Ökonomie, Gesellschaft, Staat, des Menschen überhaupt, andererseits.23 Die langfristig historisch wichtige Umdeutung der ,,Assoziation“ in ein Instrument zur Revolutionierung der Eigentumsordnung findet zunächst in den intelsie ,,auf die Grundlagen der Gesellschaft lösend“ wirken, Metternich, „Über das Vereinswesen“, in: Aus Metternichs Nachgelassenen Papieren, hg. von R. Metternich-Winneburg, 8 Bde., Wien 1880–84, Bd. VII, S. 138–140. 23 In der vormärzlichen Pauperismus- und Industrialismuskritik überlagern sich vielfach die Theoriebildung um ,,Assoziation“ und „Verein“ und die Vorstellung einer ,,Organisation der Arbeit“. Diese begegnet auf der ganzen Breite der politisch-theoretischen Diskussion vom Konservativismus bis zu den verschiedenen frühsozialistischen Theorien. Ihre gemeinsame Wurzel ist das Leiden am Antagonismus und an der Unüberschaubarkeit des freien Marktes und am Zerfall korporativer Lebensformen mit umfassender Lebensgestaltung. Für den wachsenden Problemdruck, der die liberalen Gelehrten zur Auseinandersetzung mit frühsozialistischen Theorien nötigte, ist die Entwicklung bei Robert Mohl symptomatisch; 1835 schien es ihm noch unnötig, Systeme ernst zu nehmen, welche von der ,,Aufhebung des Privateigentums und der Beschäftigung und Ernährung der arbeitenden Classen aus einem gemeinschaftlichen Nationalvermögen handeln“, vgl. R. Mohl, Über die Nachtheile, welche sowohl den Arbeitern selbst als dem Wohlstande und der Sicherheit der gesamten bürgerlichen Gesellschaft von dem fabrikmäßigen Betriebe der Industrie zugehen, und über die Notwendigkeit gründlicher Vorbeugungsmittel, in: Archiv der politischen Oeconomie und Polizeiwissenschaft, Bd. 2 (1835), S. 141 ff. hier: 172; vgl. dazu auch E. Angermann, Robert von Mohl 1799 bis 1875. Leben und Werk eines altliberalen Staatsgelehrten, Neuwied 1962, S. 211 ff. 1840 bereits eignet sich Mohl die Kapitalismuskritik Saint-Simons und Fouriers an, entwickelt dann aber jene Kritikpunkte, welche in der frühliberalen Auseinandersetzung mit frühsozialistischen Systementwürfen immer wiederkehren: der universelle Anspruch, mit der ,,Organisation der Arbeit“ alle Lebensverhältnisse umgestalten zu wollen, den Systemzwang zur Fixierung aller möglichen ephemeren Einzelheiten und die Verkennung anthropologisch vorgegebener Realitäten, wie des Gewinninteresses; R. Mohl, Die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der politischen Ökonomie, in: Deutsche Vierteljahrs-Schrift 1840, Heft III, S. 40–55 passim; vgl. ähnlich: Bülau, Der Pauperismus, in: Deutsche Vierteljahrs-Schrift 1838, Heft I, S. 79 ff., hier 95; B. Hildebrand, Die Nationalökonomie in Gegenwart und Zukunft, 1848, S. 139–141; wichtig vor allem: Th. Schuster, Gedanken eines Republikaners, in: Der Geächtete. Zeitschrift in Verbindung mit wahren deutschen Volksfreunden hg. von J. Venedey. Jg. 2, Paris 1935, hier zit. nach W. Kowalski, Vorgeschichte und Entstehung des Bundes der Gerechten, Berlin (Ost) 1962, Quellenanlage Nr. 6, S. 196 f., laut W. Schieder das erste deutsche Konzept eines ,,genossenschaftlichen Selbsthilfeprogrammes“ für die ,,arbeitenden Klassen“, W. Schieder, Anfänge der deutschen Arbeiterbewegung. Die Auslandsvereine im Jahrzehnt nach der Julirevolution von 1830, Stuttgart 1963, S. 197; Schuster plädiert übrigens auch für landwirtschaftliche Vereine; K. Schapper, Gütergemeinschaft (1838), abgedr. in W. Schieder, Anfänge, S. 319–327.

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lektuellen Auseinandersetzungen der Pariser Emigranten- und Gesellenvereine statt.24 Seit Wilhelm Weitlings publizistische Wirksamkeit am Ende der 30er Jahre einsetzt und seit sich sozialistische Ideen in Deutschland insbesondere ab 1844 ausbreiten,25 beginnt sich ,,Assoziation“ zum Terminus einer Klassenideologie und zum Erwartungsbegriff der – freilich nur sehr zögernd – entstehenden Klassenbewegung der Arbeiterschaft zu transformieren.26 Er durchläuft dabei eine Entwicklung vom diffusen Schlagwort dilettantischer Weltverbesserungsvorschläge über einen vielfältig auslegbaren Oppositionsbegriff gegen die bürgerliche Gesellschaft bis zur theoretisch umfassend ausgearbeiteten politisch-sozialen Weltformel einer ,,Assoziation der Produzenten“ bei Marx und Engels.27 III Die Geschichte sowohl der liberalen Vereinsinitiativen als auch der frühsozialistischen Assoziationstheorien macht deutlich, dass der Verein als Instrument der sozialen Integration nicht unpolitisch bleiben konnte, und dass das Vereinswesen damit in steigenden Gegensatz zu Vereinsrecht und Staatsverfassung geriet. Die Politisierung des Vereins und der vormärzlichen Gesellschaft durch den Verein vollzog sich auf verschiedenen Ebenen und von verschiedenen Ausgangspositionen aus. Einige Faktoren dieser Politisierung sollen im Folgenden kurz skizziert werden:

24 W. Weitling, Garantien der Harmonie und der Freiheit (1842), mit einer biographischen Einleitung und Anmerkungen, hg. von F. Mehring, Berlin 1908, S. 244; vgl. den Organisationsplan Weitlings für die Tätigkeit der Kommunisten in den Arbeitervereinen der Schweiz (1842), in: Der Bund der Kommunisten, Dokumente und Materialien, hg. von den Instituten für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED und beim ZK der KPDSU, Berlin (Ost), 1970, S. 18 ff. 25 Zur Rezeption der Vereinskonzeptionen der Auslandsvereine, bes. W. Weitlings, im Bürgertum. vgl. den vielgelesenen und einflussreichen Bericht: [Johann Caspar Bluntschli], Die Kommunisten in der Schweiz nach den bei Weitling vorgefundenen Papieren. Wörtlicher Abdruck des Kommissionsberichtes an die H. Regierung des Standes Zürich, Zürich 1843, bes. S. 2–18 passim, sowie in der Beurteilung ähnlich: [Heinrich Gelzer], Die geheimen deutschen Verbindungen in der Schweiz seit 1833. Ein Beitrag zur Geschichte des modernen Radikalismus und Communismus, Basel 1847. 26 In den zeitgenössischen Lexikonartikeln zu ,,Verein“ und ,,Assoziation“ wird häufig hingewiesen auf die theoretisch sehr unbedarften Schriften von F. Tappehorn, Die vollkommene Assoziation als Vermittlerin der Einheit des Vernunftstaates und der Lehre Jesu, Augsburg 1834 und S.R. Schneider, Das Problem der Zeit und dessen Lösung durch die Assoziation, Gotha 1834 – Traktate, die noch nicht in einem terminologisch einigermaßen korrekten Sinn als ,,sozialistisch“ angesprochen werden können. 27 K. Marx , F. Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, in: K. Marx, F. Engels, Werke, hg. vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Bd. 4, S. 462–464, 470, 473 f., 482; K. Marx, Inauguraladresse der Internationalen Arbeiterassoziation, in: Marx/Engels, Werke, Bd. 16, S. 11 f.; K. Marx, Das Kapital, in: Marx/Engels, Werke, Bd. 25, S. 828; F. Engels, Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft, in: Marx/Engels, Werke, Bd. 19, S. 224.

194 8. Strukturmerkmale und Entwicklungstendenzen des Vereinswesens in Deutschland 1. Die latente ,,Politisierung von oben“ Der Etatismus der auf die Reformfähigkeit des Staates vertrauenden, zunächst vereinstragende Intelligenzschicht28 hatte die Vereine vom aufgeklärten Absolutismus über die restaurative Wende von 1815 bis zur Julirevolution auf die Organisation politischer Opposition verzichten lassen.29 Jedoch hatte gerade die Staatsnähe auch ihre Kehrseite: denn die enge Verflechtung von Staatsverwaltung und Vereinen durch die Mitgliedschaft der Beamten einerseits, die Übernahme von Aufgaben für das öffentliche Wohl andererseits schloss indirekt eine Politisierung auch derjenigen Vereine ein, welche sich nicht ausdrücklich als politisch deklarierten.30 Dass die Vereine Aufgaben übernahmen, für welche im Absolutismus die obrigkeitliche Polizei zuständig gewesen war – Innovationsanstöße für die Wirtschaft, Förderung des Kulturlebens oder Armenfürsorge –, steigerte das Selbstgefühl der Bürger. Sie bestanden auf dem Anteil, den sie zum ,,Wohl des Ganzen“ beitrugen, auch dann, wenn diese Aktivität nicht die Billigung der Behörden fand.31

28 Zum gebildeten Bürgertum und dem vereinzelten Industriebürgertum als sozialer Trägerschicht des deutschen Vereinswesens seit dem Beginn der eigentlichen Vereinsbewegung ab etwa 1760 vgl. allgemein: Nipperdey, Der Verein als soziale Struktur, wie Anm. 5, S. 183 ff.; O. Dann, Die Anfänge politischer Vereinsbildung in Deutschland, in: K. Engelhardt, V. Sellin, H. Stuke (Hg.), Soziale Bewegung und politische Verfassung. Beiträge zur Geschichte der modernen Welt, Festschrift f. W. Conze, Stuttgart 1976, S. 197 ff., hier: 221–223; Untersuchungen zu einzelnen Vereinstypen: M. Prüsener, Lesegesellschaften im 18. Jahrhundert, Diss. München 1971, in: Börsenblatt für den deutschen Buchhandel, Jg. 28 (1972), S. 189 ff., hier bes. S. 208 ff.; O. Dann, Die Lesegesellschaften des 18. Jahrhunderts und der gesellschaftliche Aufbruch des deutschen Bürgertums, in: H.G. Göpfert (Hg.), Buch und Leser. Vorträge des 1. Jahrestreffens des Wolffenbütteler Arbeitskreises für Geschichte des Buchwesens, Hamburg 1977, S. 160 ff., hier: 168–172. 29 Dazu die Typisierung politisch engagierter Vereinsformen für den Zeitraum von circa 1790 bis 1819 in ,,informelle Aktionsgruppen“, ,,politische Diskussionszirkel“ und ,,national-politische Unterstützungsvereine“ bei O. Dann, Die Anfänge politischer Vereinsbildung in Deutschland, wie Anm. 28, S. 210–219; allen diesen Typen ist gemeinsam der Wille zum freiwilligen Engagement. Der Jahnsche Geheimbund ,,Deutscher Bund“ von 1810 gehörte mit seiner Rekrutierung aus der Studentenschaft einer anderen gesellschaftlichen Gruppierung an. 30 Vgl. dazu W. Hardtwig, Politische Gesellschaft und Verein, wie Anm. 3, S. 350 f.; Friedrich Wilhelm IV. verbot 1843 seinen Beamten jede Beteiligung an bürgerlichen Gesellschaften und Casinos – ein Indiz für die wachsende Entfremdung zwischen restaurativer Regierung und liberalen Staatsbeamten; in Preußen wurde das staatsständische Ethos seit 1822 durch die Rückwendung vom Justizstaat zum Polizeistaat systematisch untergraben. Vgl. R. Koselleck, Preußen zwischen Reform und Revolution, wie Anm. 4, S. 404–436. 31 S. z.B. Mone, ,,Über das deutsche Vereinswesen“, in: Deutsche Vierteljahrs-Schrift 1840, Heft 3, S. 287 ff., hier S. 295: ,,Geringschätzung der Vereinszwecke von oben, weil sie beliebten Ansichten und Systemen nicht entsprechen, ist eine große Verkehrtheit“.

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2. Die Ansätze zu einer politischen Interessenvertretung im ökonomischen Vereinswesen Heinrich Best hat gegenüber der älteren Anschauung weitgehende Ansätze zur organisierten Interessenvertretung bereits im Vormärz ermittelt,32 von Friedrich Lists ,,Deutschem Handels- und Gewerbeverein“ 1819 bis zu den Schutzzoll- und Freihandelsvereinen unmittelbar vor der Revolution. Mir scheint darüber hinaus, dass die interessenpolitische Aktivität etwa der Gewerbevereine stärker beachtet werden müsste. So gehörte zum Beispiel Joseph Utzschneider, der Vorsitzende des Münchner Polytechnischen Vereins, als Berichterstatter dem Ausschuss der 2. Kammer an, welcher die Anträge und Petitionen zur Zollordnung von 1819 behandelte. Utzschneider sammelte und referierte die Beschwerden und entwickelte schließlich eigene Vorschläge.33 Man wird kaum sagen können, dass Utzschneiders Gesetzentwurf der vom Verein angeregte und von der Mitgliederversammlung autorisierte Ausdruck einer einheitlichen und geregelten Willensäußerung der Vereinsmitglieder gewesen wäre.34 Vielmehr handelt es sich hier wohl um die charakteristische Verbindung von frühkonstitutioneller Gemeinwohlverpflichtung mit der neu32 H. Best, Interessenpolitik und nationale Integration 1848/49, wie Anm. 13, S. 81–104; so bedarf für den Frühkonstitutionalismus die These von Gerhard Schulz der Modifikation, dass ,,der Begriff der ,Interessengruppe‘ erst durch die Gegenüberstellung zu dem der politischen Partei konstituiert“ werde, G. Schulz, Über Entstehung und Formen von Interessengruppen in Deutschland seit Beginn der Industrialisierung, zuletzt in: H.J. Varain (Hg.), Interessenverbände in Deutschland, Köln 1973, S. 25 ff., hier: 27; ähnlich die Fixierung des Interessenverbandes auf ein entwickeltes Parteiensystem bei Th. Nipperdey, Interessenverbände und Parteien in Deutschland vor dem ersten Weltkrieg, in: ders. Gesellschaft, Kultur, Theorie, Göttingen 1976, S. 319 ff., hier: 319 f., relativierend aber ders., Verein als soziale Struktur, wie Anm. 5, S. 196; wichtiger als die Existenz voll ausgebildeter Parteien war für die Entstehung von Interessenverbänden die Existenz von politischen Entscheidungskörperschaften, auf die Einfluss zu nehmen sich lohnte; eine solche Körperschaft stellte grundsätzlich schon die Bundesversammlung dar, auf die Friedrich List mit seinem ,,Deutschen Handels- und Gewerbeverein“ einzuwirken suchte; vor allem die frühkonstitutionellen Kammern waren bereits lohnende Adressaten interessenpolitischer Initiativen; auf Ansätze zur Interessenvertretung durch wissenschaftlich-technische Vereine macht F. Zunkel, Der rheinisch-westfälische Unternehmer, wie Anm. 13, S. 154 aufmerksam. 33 Der Unternehmer Utzschneider plädierte für Abschaffung der bayerischen Transitzolle, für die restlose Beseitigung aller Ausfuhrzolle und für einheitliche Einfuhrzolle; er wandte sich also vor allem gegen eine fiskalisch orientierte Zollpolitik, vgl. ,,Allgemeiner Anzeiger für Bayern mit besonderer Beziehung auf Künste, Handel und Gewerbe“, hg. vom polytechnischen Verein, 1822, Nr. 20, S. 137–148, sowie auch die Stellungnahme Utzschneiders zu den Darmstädter Konferenzen über die Bildung eines süddeutschen Handelsvereins, in: Allgemeiner Anzeiger für Bayern … 25. 3. 1821, S. 157–171; dazu auch H. Pfisterer, Der Polytechnische Verein und sein Wirken im vorindustriellen Bayern (1815–1830), München 1975, S. 196–213. 34 Die Mitglieder des Gewerbevereins stimmten überein in der Kritik am Fiskalismus und an der Bürokratie und in dem Wunsch, dass die Geschäftswelt mit ihren Bedürfnissen stärker berücksichtigt werden solle; ebenso war man sich in der Ablehnung des Freihandels grundsätzlich einig, nicht aber über die gewünschten Einfuhrbeschränkungen, vgl. Pfisterer, Der Polytechnische Verein, wie Anm. 33, S. 211 f.; als Interessenpolitik lassen sich auch die Stellungnahmen des Vereins zur Gewerbeordnung verstehen; nach Erlass des Gewerbegesetzes von 1825 hörten die Äußerungen des Vereins zur Gewerbeordnung auf, vgl. ebda., S. 235–250 passim.

196 8. Strukturmerkmale und Entwicklungstendenzen des Vereinswesens in Deutschland artigen Artikulation von Wünschen einzelner Gruppen der Staatsuntertanen gegenüber der Regierungspolitik. Festzuhalten ist, dass Utzschneider über eine reine Konsultativtätigkeit weit hinausgeht, und dass die Publikation parlamentarischer Aktivitäten von Vereinsmitgliedern oder Gesinnungsgenossen im Gewerbeblatt Parlament und Verein auch über die Öffentlichkeit verflicht. Vergleichbare Fälle einer Parlamentszugehörigkeit von Vereinsmitgliedern wären zu untersuchen. Man käme damit der Breite des beruflichen und sozialen Spektrums des Frühliberalismus näher, dessen Erforschung etwa von Sheehan und Langewiesche mehrfach gefordert wurde.35 Noch eklatanter ist die Vertretung gewerblich-industrieller Interessen über die politische Vertretungskörperschaft am Beispiel des Sächsischen Industrievereins zu fassen. Dieser nahm 1831 zum neuen Verfassungsentwurf des Königreichs Sachsen Stellung;36 er wandte sich gegen ein Übergewicht des Landes bzw. der Agrarier in der zweiten Kammer und begründete dies ausgesprochen interessenpolitisch: Die landwirtschaftlichen Interessen seien per se einheitlicher als die der in sich hochdifferenzierten Gewerbe und der Industrie, daher genüge eine geringere Repräsentanz im Landtag. In dieser Argumentation geht das Aufbauprinzip der frühkonstitutionellen Repräsentativkörperschaft, die statische sozialständische Gliederung, gleitend in Formen moderner Interessenvertretung über. An die Stelle der ständisch-korporativen Einheiten ,,Stadt“ und ,,Land“ treten die ökonomischen Einheiten ,,Industrie“, ,,Gewerbe“, ,,Landwirtschaft“. Ihre Repräsentation wird nicht mehr primär, wie in der etatistisch-frühkonstitutionellen Lehre, als Artikulation des Gemeinwohls aufgefasst, vielmehr sollen die Vertreter von Industrie und Gewerbe, wie es in der Denkschrift heißt, ,,auf Gesetzgebung und Verwaltung jenen umsichtigen und intelligenten Einfluß ausüben können, die ihr Bestehen und Fortleben zu sichern vermögen“.37 3. Die latente Politisierung durch Identifikation mit außerdeutschen Freiheitsbewegungen Hier sind vor allem die Griechen- und Polenvereine zu nennen. Insbesondere zur Versorgung der polnischen Verwundeten, zur Unterstützung und zum Transport der polnischen Flüchtlinge bildeten sich überall in Deutschland Vereine, hinter deren offiziell karitativer Zielsetzung mehr oder weniger latent die Identifikation mit den vielfach irrtümlich angenommenen liberal-freiheitlichen Zielen des polnischen Aufstands38 steht. Die Vereinsaktivitäten setzen sich über die Wünsche und die Po35 Vgl. J.J. Sheehan, Liberalismus und Gesellschaft in Deutschland 1815–1848, in: L. Gall (Hg.), Liberalismus, 2. erw. Aufl. Königstein 1980, S. 208 ff., hier: 212; D. Langewiesche, Die deutsche Revolution von 1848/49 und die vorrevolutionäre Gesellschaft; Forschungsstand und Forschungsperspektiven, in: Archiv für Sozialgeschichte Bd. XXI (1981), S. 458 ff., hier: 478f. 36 Vgl. F. Miethke, Die organisatorische Zusammenfassung der sächsischen Industrie bis zur Begründung des Verbandes sächsischer Industrieller unter besonderer Berücksichtigung des Industrievereins für das Königreich Sachsen, Dresden 1926, S. 18 ff. 37 Zit. ebda., S. 19. 38 Vgl. A. Gerecke, Das deutsche Echo auf die polnische Erhebung von 1830, Wiesbaden 1964,

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litik der Regierungen deutlich hinweg, die sich bemühten, den Flüchtlingsstrom möglichst klein zu halten und möglichst schnell durch ihre Territorien hindurchzuschleusen. In den Polenvereinen bricht sich eine mit philanthropischen Motiven untermischte Politisierung des deutschen Bürgertums unter den restriktiven Bedingungen des Vereinsrechts Bahn.39 Dass die Polenvereine Teil nicht nur einer beiläufig-unabsichtlichen, sondern auch einer systematischen politischen Mobilisierung im deutschen Vormärz sind, erhellt aus der führenden Rolle liberaler Politiker und radikaler Agitatoren, wie etwa Hornthals, Wirths, Siebenpfeiffers und Eisenmanns in Bayern, insbesondere in den liberalen Zentren Bamberg, Würzburg und der Rheinpfalz.40 4. Die offene Politisierung im Anschluss an die Julirevolution, ausgehend von der Kammeropposition Das markanteste, aber nicht das einzige Beispiel ist der ,,Preß- und Vaterlandsverein“. Aus der Unterdrückung der erfolgreichen liberalen Opposition im bayerischen Landtag von 1831 durch die Landtagsauflösung entstand eine außerparlamentarische Fest- und Vereinsbewegung, die sich jedoch vom Bezug auf das Parlament nie ganz löste. Wolfgang Schieder und Cornelia Foerster haben gezeigt, dass sich im Preßverein die ,,Frühform einer liberalen“ und zugleich auch die einer ,,nationalen Partei“ herausgebildet hat, die trotz einzelner weitergehender Versuche keine revolutionären, sondern liberal-evolutionäre Ziele verfolgte.41 Das Vereinsverbot S. 52–137 passim; zum polnischen Unterstützungsvereinswesen: H.H. Hahn, Die Organe der polnischen ,,Großen Emigration“ 1831–1847, in: O. Dann u. Th. Schieder (Hg.), Nationalbewegung und soziale Organisation, Bd. I: Vergleichende Studien zur nationalen Vereinsbewegung des 19. Jahrhunderts in Europa, München u.a. 1978, S. 131–280, bes. 240 f. Zum Philhellenismus zuletzt A. Tischler, Die philhellenische Bewegung der 1820er Jahre in den preuß. Westprovinzen, Diss. Köln 1981. 39 Das Komitee des Polenvereins Regensburg z.B. suchte die Motive säuberlich auseinanderzuhalten und spricht von dem ,,heiligen Mitgefühl“, das ,,abgesehen von aller politischen Meinung“ die vereinsmäßige Unterstützungstätigkeit in Gang halte; es erklärt sich also in seinem Spendenaufruf offiziell für unpolitisch; gleichwohl weist der Appell an den ,,Gemeinsinn der Bürger“ auch in der bewusst zurückhaltenden Sprache unverkennbar über die bloß caritativen Motive hinaus, in: Der Bayerische Landbote, 13. 2. 1832. 40 Die ,,Deutsche Tribüne“ Wirths propagierte die Wiederherstellung des alten Polen nicht nur mit Argumenten des deutschen Handelsinteresses, sondern vor allem mit der politischen Folgewirkung: durch ein konstitutionelles Polen hätte Preußen von der Blockbildung mit dem konservativen Rußland ferngehalten werden können und wäre in ein ,,constitutionelles Deutschland“ hineingewachsen; durch die russische Herrschaft in Polen sei das ganze verfassungs- und außenpolitische Gleichgewichtssystem zwischen den konservativen Ostmächten und dem übrigen Europa gestört. Die Wiederherstellung Polens werde Preußen die ,,Verbrüderung mit den konstitutionellen Staaten Deutschlands“ ermöglichen; mit direktem Blick auf die Polenvereine heißt es daher: ,,unser eigenes Interesse ist es … das uns antreiben sollte, den unglücklichen Polen Hilfe zu senden“, Deutsche Tribüne, 27. 7. 1831, S. 202, 203; die ,,Deutsche Tribüne“ vom 1. 8. 1831 zieht die Analogie zu den Griechenvereinen und beklagt die geringere Teilnahme der Deutschen an den Polen. 41 Vgl. W. Schieder, Der Rheinpfälzische Liberalismus von 1832 als politische Protestbewegung,

198 8. Strukturmerkmale und Entwicklungstendenzen des Vereinswesens in Deutschland drängte einzelne radikale Mitglieder dann jedoch in die Emigration und dort in die geheimen Auslandsvereine. 5. Der Übergang von der Geheimgesellschaft zum kryptopolitischen oder politischen Verein Im aufgeklärten Absolutismus ergab sich die Entstehung und Ausdehnung der Geheimgesellschaften aus den Strukturbedingungen der langsam sich öffnenden gebundenen ständisch-feudalen Gesellschaft und aus der allmählichen Unterwanderung des staatlichen und kirchlichen Kompetenzmonopols für alle Formen der Lebensgestaltung. Ausgesprochen politisch wurde die Geheimgesellschaft nur im Sonderfall der Illuminaten.42 Mehr als die Geheimgesellschaften selbst verrät die seit den 80er Jahren ausufernde öffentliche Diskussion um die möglichen politischen Gefahren der Geheimgesellschaft Krisensymptome des aufgeklärten Absolutismus. Die autokratische Stellung des Monarchen bleibt unbestritten, jedoch bilden sich nach Meinung der Kritiker Organisationen außerhalb der verfassungsmäßigen Zuständigkeiten, welche den Willen des Monarchen zu beeinflussen suchen. Der Kreis der politisch Engagierten und derer, die mitsprechen wollen, beschränkt sich nicht mehr auf die Hofgesellschaft im engeren Sinne, vielmehr erweitert er sich auf die Mitglieder des gebildeten, ,,persönlichen“ Standes, der gerade vom aufgeklärt-absolutistischen Staat benötigt, erweitert und gefordert worden war, und der vor allem das Personal der Geheimgesellschaften stellte. Diese Schicht der staatsnahen und aufgeklärten, um eigenständige Urteilsbildung bemühten Untertanen agiert, soweit es um politische Fragen, insbesondere solche der Verfassung geht, nicht in der Öffentlichkeit, sondern zieht sich ins Geheimnis zurück. Die Geheimgesellschaft blieb ungefährlich, weil sie den Bestand der absoluten Monarchie letztlich nicht in Frage stellte, sondern lediglich den Denk-, Gefühls- und Handlungsspielraum gegenüber der ständischen Abschottung der Kommunikation und gegenüber der Weltauslegungsautorität des Staates und der Kirche erweitern wollte.43 Demgegenüber ist die geheime Organisation seit dem Zusammenbruch in: H. Berding u.a. (Hg.), Vom Staat des Ancien Régime zum modernen Parteienstaat, Festschrift für Th. Schieder, Wien 1978 S. 169 ff., bes. S. 181 ff.; Das Zitat in: W. Schieder, Das Hambacher Fest von 1832 als liberaler Protest, in: Aus Politik und Zeitgeschehen, Beilage zu ,,Das Parlament“ 20 (1982), S. 3 ff., hier: S. 10; C. Foerster, Der Preß- und Vaterlandsverein von 1832/33. Sozialstruktur und Organisationsverhalten der bürgerlichen Bewegung in der Zeit des Hambacher Festes, Trier 1982; diese Arbeit ersetzt die bisher noch unverzichtbare Diss. von G.H. Schneider, Der Preß- oder Vaterlandsverein 1832/33. Ein Beitrag zur Geschichte des Frankfurter Attentats … Diss. Heidelberg, Berlin 1897. 42 Zu den Illuminaten als zusammenfassende Darstellungen: R. van Dülmen, Der Geheimbund der Illuminaten. Darstellung, Analyse, Dokumentation, Stuttgart 1975, und L. Hammermayer, Illuminaten in Bayern. Geschichte, Fortwirken und Legende des Geheimbundes, in: H. Glaser (Hg.), Krone und Verfassung, König Max I. Joseph und der neue Staat. Beiträge zur Bayerischen Geschichte und Kunst 1799–1825, München u.a. 1980, S. 146 ff. 43 Vgl. dazu R. Vierhaus, Aufklärung und Freimaurerei in Deutschland, in: R. v. Thadden u.a. (Hg.), Das Vergangene und die Geschichte, Festschrift f. R. Wittram, Göttingen 1973, S. 23 ff.

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des absolutistischen Regierungs- und Verwaltungssystems in den napoleonischen Kriegen und seit der Öffnung zu frühkonstitutionellen Mitwirkungsrechten der Bürger das Symptom grundsätzlicher Gegnerschaft zur bestehenden Staats- und – seit der Formierung der demokratisch-frühsozialistischen Emigrantenvereine – auch der Gesellschaftsordnung. Der Preußische Tugendbund von 1808 steht insofern noch in der Tradition der aufklärerischen Geheimgesellschaft, als ein grundsätzlicher Gegensatz von Staat und Bürgern bzw. Untertanen keineswegs angenommen wird.44 Faktisch sollte das Geheimnis mehr zum Schutz vor der Besatzungsmacht als vor den eigenen Behörden dienen, bei denen man die Gründung ordnungsgemäß anzeigte. Indem jedoch ein unmittelbarer politischer Mitwirkungsanspruch stärker hervortrat, wies der Tugendbund auf die Geheimorganisationen der Befreiungsära und des Vormärz voraus. Bei dem 1810 von Jahn gegründeten ,,Deutschen Bund“ war die Geheimhaltung bereits wegen seiner republikanischen und also verfassungsfeindlichen Ziele geboten. Seit dem Verfassungsversprechen des Preußischen Königs verwarf daher auch der konstitutionelle deutsche Frühliberalismus die Geheimorganisation grundsätzlich. Die Forderung nach einer Konstitution bedeutete ja zugleich die Forderung nach politischer Öffentlichkeit. Geheimgesellschaften hatten gerade diesem politischen Grundsatzprogramm des Liberalismus widersprochen.45 Darüber hinaus beherrscht die Erinnerung an die Klubs der Französischen Revolution die Urteilsbildung nicht nur im konservativen Lager, sondern auch bei den Liberalen. Nach der Julirevolution 1830 tritt noch stärker als zuvor die Furcht vor allen Konspirationen hervor, die zur ,,Pöbelherrschaft“ führen konnten. Sie wird positiv ergänzt durch das Vertrauen in den Rechtsstaat und in die Möglichkeiten politischer Meinungsäußerungen, welche die konstitutionelle Monarchie geschaffen hat.46 Auch die Burschenschaften standen ursprünglich der Geheimorganisation ganz fern. An sich von ihrem Programm her auf öffentliche Wirksamkeit und Integration ins bürgerliche Leben angelegt, wurden sie teils durch raZu den Ansätzen politischer Opposition in den Geheimgesellschaften: E. Schmitt, Elemente einer Theorie der politischen Konspiration im 18. Jahrhundert. Einige typologische Bemerkungen, in: P.Ch. Ludz (Hg.), Geheime Gesellschaften, Heidelberg 1979, S. 65 ff. 44 Zum Tugendbund maßgeblich: O. Dann, Geheime Organisierung und politisches Engagement im deutschen Bürgertum des frühen 19. Jahrhunderts. Der Tugendbund-Streit in Preußen, in: P.Ch. Ludz (Hg.), Geheime Gesellschaften, wie Anm. 43, S. 399 ff. 45 Der deutsche Bund gegen Napoleon und die Jahnsche Untersuchung. Ein amtlicher Bericht E.T.W. Hofmanns vom 15. 2. 1820 als Dezernenten im Jahnschen Prozeß, abgedruckt in: H. Proehle, Friedrich Ludwig Jahns Leben. Nebst Mitteilungen aus einem literarischen Nachlaße, Berlin 1855, 2. Ausgabe 1872, bes. S. 324–329; vgl. dazu auch O. Dann, Gruppenbildung und gesellschaftliche Organisierung in der Epoche der deutschen Romantik, in: R. Brinkmann (Hg.), Romantik in Deutschland, Sonderband der Dt. Vierteljahrsschrift f. Litwiss. u. Geistesgesch., S. 115 ff., hier: 122 f.; dazu O. Dann, Geheime Organisation und politisches Engagement, wie Anm. 44, S. 415 ff. 46 Z.B. R. Mohl, System der Präventiv-Justiz oder Rechtspolizei, Tübingen 1834, S. 132 f.; das Vertrauen in die Legitimität fürstlicher Monopolgewalt blieb in Deutschland unerschüttert, gerade auch angesichts der seit 1830 erneuerten Revolutionsfurcht, vgl. H. Brandt, Landständische Repräsentation im deutschen Vormärz. Politisches Denken im Einflußfeld des monarchischen Prinzips, Neuwied u.a. 1968, S. 36; die Geheimgesellschaft wurde mit dem noch negativ besetzten Parteibegriff assoziiert.

200 8. Strukturmerkmale und Entwicklungstendenzen des Vereinswesens in Deutschland dikal-revolutionäre Persönlichkeiten wie Karl Follen, teils durch die unangemessene Repressionspolitik in den Karlsbader Beschlüssen und den Demagogenverfolgungen in die Geheimbündelei abgedrängt.47 Es kennzeichnet schließlich die exzentrische Position der radikal demokratischen Intelligenz in den Auslandsvereinen, dass sie die Geheimorganisation pflegten.48 Die demokratischen und frühsozialistischen Ideen waren der Entwicklung so weit voraus, dass sie in der liberal-evolutionären Strategie keinen Platz mehr fanden. Inwieweit die Geheimhaltung dabei über das hinausging, was das Vereinsverbot vorschrieb, inwieweit die Geheimbündelei ein inneres Ferment der Gruppenbildung selbst darstellt und inwieweit sich die innere Organisation des Geheimbunds aus der Situation der Gruppe in der Gesamtgesellschaft erklärt, wäre unter gruppenpsychologischen Gesichtspunkten noch genauer zu untersuchen.49 6. Die Emotionalisierung des Politischen und der Gruppenbindung Schon die Geheimgesellschaften des 18. Jahrhunderts entspringen neben dem Motiv, den vernünftigen Diskurs nach seinem sachlichen Umfang und nach seinem personellen Umkreis zu erweitern, aus den Bedürfnissen einer vertieften Gefühlsempfindlichkeit. Die Menschen suchen im selbstgewählten Kontakt der Geheimgesellschaft nicht nur das gemeinsame Raisonnement, sondern auch die gefühlsbestimmte Nähe. Die Entfaltung von Gefühlskultur und Empfindsamkeit, die größere Aufmerksamkeit für die Regungen des Seelenlebens, tragen den Aufschwung der Geheimgesellschaften wesentlich mit. Um die Jahrhundertwende verbinden sich in der Semantik des Vereinsbegriffs Bedeutungen des poetischen Sprachgebrauchs mit den Inhalten der politisch-theoretischen Sprache zu einem neuen Leitbegriff der politisch-sozialen Sprache. Die Überlagerung der Bedeutungsfelder deutet darauf hin, dass die auch auf Innerlichkeit und gemeinsame Empfindungslage gegründete kleine Gefühlsgemeinschaft jetzt den Anspruch erhebt, als rechtlich definierte Körperschaft institutionalisiert zu werden. Im Typus des national engagierten Vereins versteht sich die Gefühlsgemeinschaft erstmals nicht nur als offiziell anerkannter gesellschaftlicher, sondern auch politischer Handlungsträger. Die nationale Emotion, und nicht mehr nur der aufklärerisch-theorieorientierte vernünftig-mora47 Vgl. J.L. Haupt, Landsmannschaften und Burschenschaft. Ein freies Wort über die geselligen Verhältnisse der Studierenden auf den teutschen Hochschulen, Altenburg und Leipzig 1820, S. 64; ,,Einigkeit“ und ,,Ordnung“ seien Ziele, die keineswegs der geheimen Organisation bedürften; die Burschenschaft wolle ,,vollkommene Öffentlichkeit“, sei jedoch im Moment durch die Bundesbeschlüsse ins Geheimnis zurückgedrängt worden. 48 Zum Disput über die Organisationsform in den Auslandsvereinen vgl. W. Schieder, Anfänge der deutschen Arbeiterbewegung, wie Anm. 23, S. 135 ff. 49 Einen Ansatz weniger aus gruppenpsychologischen Gesichtspunkten als vielmehr von der Wissenssoziologie und der politischen Soziologie her bietet P.Ch. Ludzs, Ideologie, Intelligenz und Organisation. Bemerkungen über ihren Zusammenhang in der frühbürgerlichen Gesellschaft, in: Jahrbuch für Sozialwissenschaft 15 (1964), S. 82 ff.; Ludzs thematisiert vor allem den kausalen Zusammenhang zwischen ,,Ideologie“ als einer ,,Kampfform des Denkens“ mit der Herausbildung spezieller Organisationsformen.

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lische Diskurs wird zum Bindemittel der freiwilligen Gemeinschaftsbildung. Die besondere Leistung des Tugendbundes wurde von einem seiner Mitglieder später als Synthese von gefühlsmäßigen Handlungsimpulsen und rationaler Handlungskontrolle beschrieben.50 Ernst Moritz Arndt bekämpft in seinem ,,Entwurf einer deutschen Gesellschaft“ 1814 ausdrücklich sowohl die pragmatisch-utilitaristischen als auch die weltbürgerlichen Traditionen des Gesellschaftswesens. Er erklärt die Festigung der nationalen Identität gerade in ihren vor- und außerrationalen Elementen zum Wesenskern des Vereins.51 Das nationale Gefühl wird zum gesellschaftskonstituierenden Wert an sich, allerdings nicht ohne dass auch die sozialegalitären Bedeutungsgehalte des nachrevolutionären Nationalitätsbegriffs einflossen. Die Burschenschaften kultivieren ausdrücklich das gefühlsbestimmte Gemeinschaftserlebnis. Bei ihnen vertieft sich die Bildungsgesellschaft durch Freundschaft zur Gesinnungs- und zur politischen Glaubensgemeinschaft. Anders als in den Geselligkeitstheorien von Friedrich Schlegel und Novalis, welche das freundschaftliche Miteinander zum Mittel absoluter Ich-Entgrenzung hochstilisieren, findet die Gefühlsgemeinschaft hier ihren Halt in der gemeinschaftlichen Identifikation mit dem Wunschbild der nationalen Gemeinschaft.52 Auch im vor- oder nichtpolitischen Vereinswesen respondiert die Vereinszugehörigkeit doch immer auf die Bedürfnisse des Menschen auch in seinem Kommunikations- und Gemeinschaftsverlangen, nicht nur auf den jeweiligen speziellen Zweck. Schon die Tatsache, dass der Geselligkeitszweck fast allen Vereinsformen selbstverständlich beigemischt ist, deutet darauf hin.

7. Die Antizipation eines freien politischen Vereinswesens und die Entwicklung einer Parteitheorie in der liberalen und demokratischen Staatslehre Mit der einen Ausnahme Sachsen-Meiningens fehlte in den deutschen Verfassungen eine grundrechtliche Garantie der Vereinigungsfreiheit, mit deren Hilfe sich das Recht auf Assoziationsbildung hätte einfordern lassen.53 Vor und neben dem Wunsch nach verfassungsrechtlicher Fixierung eines vorstaatlichen Rechtes auf Vereinigungsfreiheit steht jedoch auch noch in der liberalen Staatsrechtslehre der 50 Geschichte der geheimen Verbindungen in der neuesten Zeit, Leipzig 1831, Heft 1. Aktenmäßiger Bericht über den geheimen deutschen Bund und das Turnwesen, von J.D.F. Mannsdorf, S. 44. 51 E.M. Arndt, Entwurf einer deutschen Gesellschaft (1814) in: Ernst Moritz Arndts ausgewählte Schriften, hg. von H. Meisner und R. Geerds, Leipzig 1908, S. 250ff., bes. S. 26 f. 52 Vgl. u.a. die Verfassungsurkunde der Jenaischen Burschenschaft vom 12. Juni 1815, abgedruckt in: H. Haupt (Hg.), Quellen und Darstellungen zur Geschichte der Burschenschaft und der deutschen Einheitsbewegung, Bd. I, Heidelberg 1921, S. 114 ff.; die Verfassungen der allgemeinen deutschen Burschenschaft abgedruckt bei G. Heer, Die ältesten Urkunden zur Geschichte der allgemeinen deutschen Burschenschaft, in: H. Haupt und P. Wentzke (Hg.), Quellen und Darstellungen, Bd. XIII, Heidelberg 1932, S. 61 ff.; das Schreiben des Jenenser Burschentages vom April 1818, ebda., S. 118 ff. 53 Vgl. Fr. Müller, Korporation und Assoziation. Eine Problemgeschichte der Vereinigungsfreiheit im deutschen Vormärz, Berlin 1965, S. 252 f.

202 8. Strukturmerkmale und Entwicklungstendenzen des Vereinswesens in Deutschland 30er Jahre eine ältere Überlieferung: sie fasst die bürgerlichen Rechte in der Sprachund Denktradition der aufgeklärt-absolutistischen Polizeiwissenschaft und der Abhandlungen des jüngeren Naturrechts unter dem Traditionsbegriff ,,Rechte der Untertanen“ zusammen.54 Seit den 30er Jahren wird die Vereinsfreiheit zunehmend politisch aus dem Geist der frühkonstitutionellen Verfassung abgeleitet. Sie setze im Volk ein lebendiges politisches Interesse voraus und sei darauf angewiesen, dass das in der Gesellschaft bei den Bürgern vorhandene Wissen auch in die politische Wissensbildung vermittelt werde. Das begrenzte Recht auf politische Aktivität, welches die frühkonstitutionellen Verfassungen den Untertanen gewährten, blieb nicht ohne Rückwirkung auf die Dynamik bei der Politisierung der Gesellschaft. In unentwegter Kritik am bestehenden Vereinsrecht postulierte die liberale Theorie ein freies politisches Vereinswesen als organisatorisches Forum für die politisch bewusst gewordenen Bürger. Robert Mohl begründete die Notwendigkeit eines politischen Vereinswesens staatsbürgerlich-pädagogisch damit, dass die Vereine demokratische Verhaltensweisen und politisches Pflichtbewusstsein einübten. Er legte damit indirekt das Vereinswesen bereits als Schule parlamentarischer Beratungsund Entscheidungsformen aus.55 Noch weitergehend als Mohl stellte Karl Welcker den Verein ins Zentrum der gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Fortschrittserwartung. Er erhebt die freiwillige Assoziation der Bürger zur Grundlage der gesellschaftlichen, rechtlichen und staatlichen Ordnung und zum entscheidenden Maßstab für bürgerliche Freiheit. Hier tritt der innere Zusammenhang zwischen freier Assoziation und dem liberalen Leitbild einer rechtsgleichen mittelständischen Eigentümergesellschaft am deutlichsten hervor. Die moderne Assoziation, ständeneutral und ständeübergreifend, entwickelt genug erzieherische Kraft, auch die zu eigenständiger soziokultureller Lebensgestaltung noch unfähigen Angehörigen der Unterschicht an die Disziplin und die Wertorientierung der bürgerlichen Gesellschaft heranzuführen. Die Ausdifferenzierung des Vereinswesens in der vormärzlichen Gesellschaft beschreibt Welcker mit der Typisierung in ,,private“, ,,öffentliche“ und ,,politische“ Vereine. Die Grenzen zwischen ihnen sind offen, so dass das Vereinswesen insgesamt in einem ausdrücklich politischen Zusammenhang steht.56 Im Kontext der frühliberalen konstitutionellen Theorie lässt sich insgesamt erkennen, dass die Lehre vom Verein die Gewichte zwischen Regierung, Volksvertre54 S. Jordan, Versuche über allgemeines Staatsrecht in systematischer Ordnung und mit Bezugnahme auf Politik, Marburg 1828, S. 411 f. 55 R. Mohl, Staatsrecht des Königreichs Württemberg, Bd. I, Tübingen 1829, S. 377 f.; ähnlich ders., System der Präventivjustiz, wie Anm. 46, S. 131 f.; A.L. Reyscher, Publizistische Versuche, Stuttgart 1932, S. 164; H. Zoepfl, Grundsätze des allgemeinen und des constitutionellmonarchischen Staatsrechts, Heidelberg 1841, S.183 f. 56 K. Welcker, Artikel ,,Association, Verein, Gesellschaft, Volksversammlung (Reden ans Volk und collective Petitionen) Associationsrecht, in: Rotteck/Welcker (Hg.), Staats-Lexicon oder Encyclopädie der Staatswissenschaften, 2. Aufl. Bd. I, Altona 1845, S. 723 ff., hier bes. S. 723–25, 733 f.; für die Stellung des Vereins in der Entwicklung der frühliberalen Theorie ist es bezeichnend, dass ein Artikel „Verein, Assoziation“ in der ersten Auflage noch fehlt; die neue Gewichtung des Vereins wird seit 1838 deutlich fassbar, besonders in den Vereinsartikeln der Konversationslexika.

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tung und Volk langsam verschob, ohne das monarchische Prinzip ausdrücklich in Frage zu stellen.57 Das Vereinswesen als inhärentes Prinzip der konstitutionellen Monarchie brachte einen neuen Faktor ins Spiel, der direkt oder indirekt das Gewicht der Ständevertretung vergrößerte. Wenn Rotteck und Welcker den Vereinen die Aufgabe zuschrieben, die Wahrung der Volksrechte seitens des Monarchen und der Regierung zu überwachen, so gewannen die Vereine neben und in Verbindung mit den Kammern quasi-institutionelle Stellung. Wenn weiterhin, wie Welcker es forderte – auch das Petitionsrecht nicht nur von Einzelnen, sondern von Vereinen wahrgenommen werden sollte, so erhielten die Vereine im politischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozess neben Regierung und Kammer eine durchaus eigenständige Position. Faktisch übernahmen die Vereine in der liberalen Theorie damit wesentliche Funktionen von Parteien. Die monarchische Souveränität bleibt nach außen unangetastet, jedoch wird das konstitutionelle System ausgefüllt durch außerparlamentarische politische Organe, die sich zu Regierung und Parlament in der Absicht in Beziehung setzen, auf den Gesetzgebungsvorgang einzuwirken.58 Die Lehre vom Verein entspricht damit in zweifacher Hinsicht auch sehr genau der Übergangssituation in der politischen Bewegung des Vormärz: sie untergräbt zum einen die monarchische Souveränität, ohne sie nach außen anzutasten; und sie bekennt sich zum anderen noch nicht zur pluralistischen und antagonistischen Aufspaltung der Gesellschaft; sie findet sich noch nicht bereit, ein System politischer Parteien als Träger eines politischen Lebens anzuerkennen, in dem diese Parteien antagonistisch um die Gesetzgebungsmacht rivalisieren. Es ist daher auch nur folgerichtig, dass substantielle Bestandteile einer Parteitheorie sozusagen verdeckt, unter dem Namen ,,Verein, Assoziation“, erarbeitet wurden.59 Das Wort fasst Struk57 Zum Axiom von der Harmonie zwischen Monarch und Ständen in der konstitutionellen Theorie vgl. H. Heffter, Die deutsche Selbstverwaltung im 19. Jahrhundert, Stuttgart 1950, S. 167; P. Wende, Radikalismus im Vormärz. Untersuchungen zur politischen Theorie der frühen deutschen Demokratie, Wiesbaden 1975, S. 56; H. Boldt, Deutsche Staatslehre im Vormärz, Düsseldorf 1975, S. 279, sowie E.R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. I, 2., verb. Aufl. Stuttgart 1957, S. 314 ff. 58 Diese Ergebnisse stimmen mit der Ansicht Boldts überein, dass das monarchische Prinzip in der konstitutionellen Lehre – zumindest seit den 40er Jahren – nur noch formal gewahrt worden sei, H. Boldt, Deutsche Staatslehre im Vormärz, wie Anm. 57, S. 279 f.; es bleibt jedoch zu beachten, dass faktische Aushöhlung und formale Wahrung auseinanderklaffen; diese Diskrepanz qualifiziert die Theorie der konstitutionellen Monarchie nicht nur systematisch als ,,Vermittlungstheorie“, sondern auch historisch als Übergangserscheinung, die bereits vor 1848 die Ansätze zu ihrer Selbstüberwindung zu entfalten begann; vgl. grundsätzlich: E.-W. Böckenförde, Der Verfassungstyp der deutschen konstitutionellen Monarchie im 19. Jahrhundert, zuletzt in: E.-W. Böckenförde (Hg.). Moderne deutsche Verfassungsgeschichte (1815–1914), 2. veränderte Aufl. Meisenheim 1981, S. 146 ff.; die Diskrepanz dürfte auch den inneren Zwiespalt des Frühliberalismus zwischen dem Wunsch nach dem Primat eines – liberal-fortschrittlichen – Monarchen und der Erfahrung des anhaltenden Konfliktes zwischen Regierung und Kammerliberalen wiedergeben. Ähnlich M. Botzenhart, Deutscher Parlamentarismus 1848– 1855, Düsseldorf 1977, S. 317, der etwa in Welckers Assoziations-Artikel Züge einer parteitheoretischen Abhandlung findet; allerdings scheint mir Botzenharts methodischer Vorbehalt gegen die Analyse des Wortgebrauchs in diesem Falle nicht stichhaltig. 59 Die verzögerte Herausbildung einer Parteitheorie in Deutschland ergibt sich demnach zwar aus

204 8. Strukturmerkmale und Entwicklungstendenzen des Vereinswesens in Deutschland turmerkmale der liberalisierten bürgerlichen Gesellschaft zusammen: Individualitätsanspruch und Freiwilligkeit der Gemeinschaftsbildung. Sich selbst als ,,Partei“, als partikulare, interessenbestimmte gesellschaftlich-politische Verbindung zur Durchsetzung bestimmter politischer Ziele zu bekennen, entsprach noch nicht der Wirklichkeit des politischen Lebens in den deutschen Staaten, wie es sich auch unter dem Druck der Restaurationsgesetzgebung und in noch wesentlich vorindustriellen Zuständen entwickelt hatte.60 Noch fühlten sich die Liberalen verpflichtet, ihr politisches Selbstverständnis und Auftreten von der ,,Interessenpolitik“ altständischer und etatistischer Gruppen abzugrenzen, denen man vorwarf, ihr partikulares Eigeninteresse an die Stelle des Gemeinwohls zu setzen. Im zeitgenössischen Sprachgebrauch sagte der Vereinsbegriff zwar immer aus, dass es um bestimmte, definierbare Ziele ging, die zentrale Vorstellung ,,Vereinigung der Kräfte zu einem gemeinsamen Zweck“ setzte jedoch auch immer voraus, dass dieser Zweck letztlich für alle förderlich sei. Unter den Bedingungen der vormärzlichen Bewusstseinslage transportierte der Begriff daher nicht alle, aber einige wesentliche Gehalte eines modernen Parteiverständnisses, wie etwa die ,,Ausrichtung nach einer welt-

der ,,mangelnden Anschauung und Erfahrung“ im politischen Leben Deutschlands, Th. Schieder, Die Theorie der Partei im älteren deutschen Liberalismus, in: ders., Staat und Gesellschaft im Wandel unserer Zeit, 2. Aufl. Darmstadt 1970, S. 110 ff., hier: 117, doch bedarf diese Bemerkung der Ergänzung; wesentlich waren auch die ,,verfassungsrechtlichen und politischen Hemmnisse“ – so D. Langewiesche, Die Anfänge der deutschen Parteien. Partei, Fraktion und Verein in der Revolution von 1848/49, in: Geschichte und Gesellschaft, Bd. 4 (1978), S. 324 ff., hier: 327. Doch scheint mir auch die soziale Struktur und die gesellschaftlich-politische Position derjenigen Schicht entscheidend, die im deutschen Vormärz sich aktiv politisch betätigte; die verzögerte Entstehung einer Parteitheorie ist wesentlich auch die Konsequenz aus dem deutschen Beamtenliberalismus; dies gilt auch dann, wenn sich im Blick auf lokale und territoriale politische Körperschaften und Bewegungen das soziale Spektrum des deutschen Frühliberalismus als wesentlich weiter gesteckt erweist als bisher vielfach angenommen, weil die Parteitheorie naturgemäß am ehesten den Anschauungen der intellektuellen Führungsschicht entspricht. In den literarischen Äußerungen des deutschen Frühliberalismus schlagen sich seine nationalen Entstehungsbedingungen exakt nieder. In ihnen artikuliert sich nicht der politische Emanzipationsanspruch eines erstarkenden Wirtschaftsbürgertums, sondern eine ,,literarisch-publizistische Freiheitsbewegung“, so H. Brandt, Landständische Repräsentation (wie Anm. 46, S. 160 f.), die vor allem vom aufklärerisch geprägten, aber auch absolutistischen Traditionen verpflichteten Beamtentum getragen wurde. 60 Wo im deutschen Frühliberalismus die ,,Partei“ als notwendige Erscheinung des politischen Lebens anerkannt wurde, wie etwa bei B.G. Niebuhr, reproduziert die Konzeption doch genau die Frontstellung eines liberal gesonnenen und modernisierungswilligen Beamtentums, das unter den Bedingungen spätabsolutistischer Verfassungsformen gegen die politische Vormachtstellung des Adels ankämpft und dabei für sich das Theorem von der Repräsentation des Gesamtwohls gegen die partikularen Adelsinteressen in Anspruch nimmt, vgl. B.G. Niebuhr, Über geheime Verbindungen im Preußischen Staat und deren Denunciation, Berlin 1815, S. 8 f.; eine Ausnahme bleibt der sehr frühe Ansatz von K.S. Zachariae, Vierzig Bücher vom Staate, Bd. II, Stuttgart, Tübingen 1820, S. 65, der seinen Parteibegriff zwar an die sozialständische Gliederung der Gesellschaft zurückbindet, jedoch Parteien durchaus im Sinne eines pluralistischen Spiels gesellschaftlicher Kräfte konzipiert.

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anschaulichen Grundtendenz“, das ,,Streben nach öffentlicher Wirksamkeit“ und die ,,Wahrnehmung konkreter politischer Aufgaben“.61 Dieses liberale Parteiverständnis in der Form des Vereinsverständnisses unterschied sich bis zum Ausbruch der Revolution nicht wesentlich von dem des demokratischen Radikalismus. Dieser gab jedoch stärker, als es der konstitutionelle Liberalismus, die spätere rechte Mitte der Paulskirche, tat, die Fiktion einer prinzipiellen Harmonie von Monarch und Volk, von Regierung und Repräsentativorgan, auf. Sie steigerte die latente Gewichtsverlagerung durch das Vereinswesen zur offenen Konfrontation zwischen Volk und Regierung, wobei sich das Vereinswesen in seiner Gesamtheit als organisatorischer Träger der Opposition formierte. Existenz und Ausbreitung des Vereinswesens waren für Gustav Struve zu Beginn des Jahres 1848 der Beweis dafür, dass die Gesellschaft institutionelle und traditionale Herrschaft – und das heißt letztlich Herrschaft überhaupt – abzuschütteln begann. Regierung und Vereinsleben stehen sich in unaufhebbarem Gegensatz gegenüber. Struve nimmt dem Parteibegriff seine Negativbesetzung, bleibt aber dem Wunschbild einer einheitlichen Verfassungs- und Bewegungspartei verhaftet, welche die Bedürfnisse der ganzen bürgerlichen Gesellschaft gegenüber dem Egoismus von Staat und Regierung verfechte. Das ,,Parteiwesen“ verhält sich dabei zum Vereinsleben ,,wie der Krieg zum Frieden“.62 Es ist die unerlässliche Vorschule für die revolutionäre Veränderung der politischen Verfassung. IV Die Politisierung des Vereinswesens in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist auch ein Teil der kulturellen und gesellschaftlichen Veränderungen und lässt sich aus diesem Zusammenhang nicht herauslösen. Als organisatorische Zusammenführung von gesinnungsgleichen Personen mit ähnlichen Interessen und Bedürfnissen und mit offen bekannten gemeinsamen Handlungsabsichten gewinnt das Vereinswesen ein immer stärkeres Eigengewicht bei der Erweiterung und dem neuen Aufbau sozialer Beziehungen im gesellschaftlichen Leben. Es darf nicht vergessen werden, dass die Tatsache der Organisation selbst, die Formulierung und Diskussion von Satzungen, das Abhalten von Mitgliederversammlungen, die Beschlussfassung, schon eminent politische Erfahrungen sind.63 Im Folgenden sollen andeutungsweise noch einige der Wege markiert werden, auf denen die Gesellschaft der deutschen Staaten zu dem Grad an Kommunikation, Organisationsbereitschaft und Organisationsfähigkeit fand, welche 1848 innerhalb kürzester Zeit die komplette Ausbildung eines funktionierenden Parteisystems ermöglichte.

61 Definitionsmerkmale moderner Parteien nach G.A. Ritter, Einleitung zu: ders. (Hg.), Die deutschen Parteien vor 1918, Köln 1973, S. 9. 62 G. v. Struve, Grundzüge der Staatswissenschaft, Bd. 3: Frankfurt 1848, S. 200–218 passim, Zitat S. 216. 63 Darauf weist für die Auslandsvereine der entstehenden Arbeiterbewegung bereits W. Schieder, Anfänge der deutschen Arbeiterbewegung, wie Anm. 23, S. 139, hin.

206 8. Strukturmerkmale und Entwicklungstendenzen des Vereinswesens in Deutschland Die freiwillige Assoziierung eröffnete neue Formen des Zusammenlebens und Zusammenwirkens in den Sphären der Arbeit, der Geselligkeit, des kulturellen Engagements und der politischen Betätigung. Die Übergänge zwischen den verschiedenen Vereinstypen waren offen und ermöglichten früher oder später mannigfache Verflechtungen zwischen wirtschaftlicher Interessenvertretung, kulturellem, bildungsbezogenem Engagement und politischer Urteilsbildung und Betätigung. Besondere Aufmerksamkeit verdient in diesem Zusammenhang die Rolle der Bildung bei der Politisierung der deutschen Gesellschaft. Die Untersuchung des Vereinswesens legt die Hypothese nahe, dass gerade über die Bildung wirtschaftliches, kulturelles und politisches Interesse zueinander in Beziehung gesetzt wurden. So ist zum Beispiel die in Vereinsform organisierte Bildungsbereitschaft des Gewerbebürgertums wesentlich mitverursacht durch den Zwang zur Anpassung an die entstehende bürgerliche Gesellschaft als wirtschaftliche Konkurrenzgesellschaft. Gefordert und gewünscht waren nicht mehr nur technische, betriebliche, überhaupt berufliche Fertigkeiten, sondern darüber hinaus die Erweiterung der Weltkenntnis und der Einsichtsfähigkeit in die Zusammenhänge des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens.64 Dies bedeutete gerade in den deutschen Staaten, wo Gesellschaft und Staat noch eng verklammert waren, notwendig auch die Berührung mit der Politik,65 insbesondere, da die Politik über Zollverein und Handelsfragen die Lebensbedingungen des Gewerbes unmittelbar anging und als unmittelbar angehend erlebt wurde. Der Kampf um Schutzzoll oder Freihandel ist, wie Best gezeigt hat, ein direkt vereinsorganisierendes Motiv.66 In der zeitgenössischen Vereinsliteratur lässt sich weiterhin um 1840 ein stärkeres Verlangen der Bildungselite nach mehr Kontakt mit der breiten Masse des Gewerbebürgertums feststellen. Dabei wird zwar wie herkömmlich in den Kategorien ständischer Schichtung gedacht, doch ist diese übergriffen durch die Einheit des Bildungsimpulses. Die Gewerbebürger teilen – so wird unterstellt – die Wissbegierde mit den Honoratioren. Der Bildungsverein verringert die Unterschiede zwischen der Vielzahl der selbständigen Bürger und der oberen Bildungsschicht. 64 Vgl. etwa die symptomatische Formulierung bei der Gründung des Coburger Gewerbevereins, man wolle mit seiner Hilfe das ,,ewige Einerlei, welches in Wissen und Fertigkeiten von dem Vater auf den Sohn … vererbt“ wurde, durchbrechen und ,,Entdeckungseifer“ freilegen, in: M. Amthor, Beiträge zu Coburgs und Gothas Annalen, oder kurze Beschreibung einiger gemeinnütziger Anstalten, welche in beiden Städten ins Leben getreten sind, Coburg 1836, S. 158 (aus der Eröffnungsrede, 1825). 65 Diese Berührung mit der Politik ist überall dort indirekt sogar programmatisch, wo den Vereinen die Funktion einer Zwischeninstanz zwischen Staatsbehörden und wirtschaftenden Staatsangehörigen zugedacht war, vgl. z.B. die Eröffnungsrede des Staatsrats Beuth bei der Eröffnung des Berliner Vereins zur Beförderung des Gewerbefleißes, J. Mieck, Preussische Gewerbepolitik in Berlin 1806–1844, Staatshilfe und Privatinitiative zwischen Merkantilismus und Liberalismus, Berlin 1965, S. 35 f.; Wirtschaft und Politik können schließlich sogar offen im Bildungsprogramm der Vereine ineinander übergehen; die Aachener ,,Gesellschaft für nützliche Wissenschaft und Gewerbe“ beantragte 1847, Vorlesungen über Wissenschaften und Künste abhalten zu dürfen; Oberpräsident Eichmann befürchtete, dass dabei auch Vorlesungen über Politik gehalten werden könnten, vgl. Fr. Zunkel, Der rheinisch-westfälische Unternehmer, wie Anm. 13 S. 153. 66 H. Best, Interessenpolitik und nationale Integration, wie Anm. 13, S. 81–105 passim.

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Unter dem Vorzeichen der Bildung, vor allem der Bildungsabsicht, wird ein schichtspezifisches Zusammengehörigkeitsgefühl der ,,bürgerlichen Klasse“ postuliert, das keineswegs unpolitisch ist. Denn die Bildungsabsicht geht unverhüllt in die Kultivierung eines ,,Volksbewusstseins“ über, das sich auf nationalpolitische Leitfiguren der Befreiungsära beruft.67 Dies gilt besonders für das schon von seiner Entstehungsgeschichte und seiner ideellen Begründung her nicht unpolitische Männergesangsvereinswesen und für die Turnbewegung. Der Schweizer Hans Georg Nägeli, Komponist, Vereinsinitiator und als Mitglied des Züricher ,,Großen Rats“ und des Erziehungsrats politisch aktiv tätig, entwickelte unter Anregung Pestalozzis die Idee des Männergesangs aus dem aufklärerischen Volksbildungsgedanken. Kunst, in einer für die Masse des Volks fasslichen Form gemeinschaftlich ausgeübt, sollte das Selbstgefühl des Einzelnen ebenso steigern wie seine Kommunikationsfähigkeit. Die Beseitigung der Kluft zwischen dem Verständnishorizont auch des nicht speziell ,,gebildeten“ Volks und den elaborierten Werken hoher Kultur sollte über die gesteigerte Empfänglichkeit die Gefühlswelt kultivieren, damit aber auch zu bürgerlichen Tugenden heranbilden. Dieser volkspädagogisch-liberale Impuls ging von der ersten Gründung einer deutschen Liedertafel in Stuttgart 1824 an in die Gesangsvereinsbewegung ein.68 Ebenso hatte bei den Turnern der Gedanke der Volkserziehung zentrale Bedeutung. Nicht nur wurde die körperliche Ausbildung selbst ,,vom Standpunkt deutscher Volkserziehung“ aus begründet, vielmehr füllten Bildungsbestrebungen auch einen großen Teil des Vereinslebens aus.69 So spielte die Pflege des deutschen Volksliedes eine große Rolle, einzelne große Turnvereine, etwa in Dresden oder in Frankfurt, bildeten eigene Gesangsabteilungen, viele Vereine nahmen Elemente von Lesegesellschaften in sich auf, wobei neben dem Turnerschrifttum vaterländische Literatur im Vordergrund stand. Für Vortragsabende über historische, literarische, staatswirtschaftliche Themen gewann man neben ,,gebildeten“ Turnfreunden auch prominente Nicht-Turner, die der Bewegung politisch-gesinnungsmäßig nahestanden, wie etwa Heinrich von Treitschke.70 67 Vgl. E.S., Über Lesevereine in Deutschland, in: Deutsche Vierteljahrs-Schrift 1839, Heft 1, S. 239 ff., hier: 245; Mone, Die Vereine für wissenschaftliche Vorträge, in: Deutsche VierteljahrsSchrift 1845, Heft 4, S. 227 ff., hier: 229. 68 Vgl. O. Elben, Der volksthümliche deutsche Männergesang, wie Anm. 13, S. 146 ff.; Die liberale Orientierung schlägt sich in der Schillerverehrung nieder. Beim Schillerfest des Stuttgarter Liederkreises am 9. 5. 1825 entstand die Planung des Thorwaldsenschen Schillerdenkmals, das 1839 enthüllt wurde. 69 K. Euler, Über den Zweck der Jahrbücher der Turnkunst, in: Jahrbücher der Turnkunst, Danzig 1843, Heft 1, S. 1 ff.; den erzieherisch-moralischen Anspruch des Turnwesens in der Phase seines zunehmend offen hervortretenden politischen Anspruchs beschrieb sehr anschaulich der Berichterstatter der Mainzer Turnzeitung 1846 anläßlich des Mainzer Turnfestes: der ,,moralische Eindruck“ sei sicher nachhaltiger als die ,,äußere Schaustellung“; er fand in den ,,freien und geordneten Turnkünsten“ vor allem die ,,Einmütigkeit, die Harmonie, die Brüderlichkeit, den Ernst“; man könne sich nicht losreißen von dem ,,tröstenden Gedanken, dass diese Turngeneration … noch viel mehr Aufopferung und Gesinnungsverschmelzung den Mißgeschicken und Zeitstürmen gegenüber aufzuleisten“ haben werde, ,,wenn es not tue“, zit. nach E. Neuendorff, Geschichte der neueren deutschen Leibesübung vom Beginn des 18. Jahrhunderts bis zur Gegenwart, 4 Bde, Bd. III, S. 397–462, hier: 427 f. 70 E. Neuendorff, Geschichte der Neueren deutschen Leibesübung, wie Anm. 69, S. 427 ff.

208 8. Strukturmerkmale und Entwicklungstendenzen des Vereinswesens in Deutschland Über die Bildung wird der Verein zum Kristallisationskern und zum Vermittlungsorgan eines gemeinbürgerlichen Selbstgefühls, das die Selbstbeschränkung der Bildung auf die ,,gebildeten Stände“ abstreift. Ein von ökonomischen Zwängen gefordertes Bildungsverlangen des handarbeitenden Bürgertums und der Glaube der Gebildeten an die einsichts- und disziplinfordernde Macht der Bildung begegnen sich auf diese Weise. Der Verein als organisatorischer Träger solcher Bildung begrenzt, indem er die Bildung zur Sache privater, aber gemeinschaftlicher Initiative macht, damit immer auch schon Zuständigkeit und Einfluss des Verwaltungsstaates, dem bis zu den Liberalen Mohl, Rotteck und Dahlmann hin die primäre Zuständigkeit für die Volksbildung vorbehalten bleiben sollte.71 Die im Vereinswesen und in der Vereinstheorie in den Vordergrund gestellte gesellschaftlich-politische Wertvorstellung der Bildung war gegenüber politischen Emanzipationsansprüchen nicht abzuschotten und war bei allen Unterschieden im einzelnen auch gar nicht so gedacht. Im Verein erhob die ,Aristokratie des Geistes‘ ihren Prioritätsanspruch gegenüber der Geburtsaristokratie, und zwar in der Form ,republikanischer‘ Verfassung. Die vereinsmäßige Organisation wird zum Mittel, die Gesellschaft insgesamt an den bürgerlichen Normvorstellungen der Tüchtigkeit, Intelligenz und Moralität, also der ,,Bildung“ im vormärzlich-liberalen Wortsinn, zu orientieren.72 Unter den besonderen Bedingungen des deutschen Frühliberalismus, der verzögerten Herausbildung einer bürgerlichen Eigentümergesellschaft mit typisch ,,bourgeoisem“ Bewusstsein, der nochmaligen gesellschaftlichen und politischen Fixierung des dominierenden Adelseinflusses durch hohe Bürokratie und geburtsständische Vertretungen und der ,,endogenen Tradition deutscher Aufklärung milder Observanz“73 ist die Autonomisierung und die Verbürgerlichung der Kultur und ihrer vereinsmäßigen Pflege – vor 1848 – eher eine Antriebskraft der politischen Emanzipationsbewegung als der Entpolitisierung. Dem Bildungsimpuls verdankt auch das entstehende Handwerker- bzw. Arbeitervereinswesen wesentliche Antriebskräfte. Bildungsvereine dieser Art sind seit den 20er Jahren belegt. In ihnen begegnet sich die Tradition der aufklärerischen Volksbildungsbestrebungen von oben mit einer neuen Rezeptionsbereitschaft der ,,handarbeitenden Klassen“ sowohl für die Bildungsinhalte als auch für die Organisations- und Geselligkeitsformen, wie sie in der bürgerlichen Lesegesellschaft entwickelt worden waren. Für die schichtenspezifische Rezeption von Bildungsinhalten ist es sicher bezeichnend, dass die Tendenz des gebildeten Bürgertums, kulturelle Gehalte zu einer eigenständigen, von allen materiellen Gehalten abgehobenen 71 Zum ,,Glauben der Gebildeten an die zugleich progressive und ordnungserhaltende, freiheitliche und Freiheit sichernde Macht der Bildung“ vgl. R. Vierhaus, Artikel ,,Bildung“, in: O. Brunner, W. Conze, R. Koselleck (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. I, Stuttgart 1972, S. 508 ff., hier: 543. 72 Den Primat der Bildung auch noch im ,,wahren Sozialismus“ betont D. Dowe, Organisatorische Anfänge der Arbeiterbewegung in der Rheinprovinz und in Westfalen bis zum Sozialistengesetz von 1878, in: J. Reulecke (Hg.), Arbeiterbewegung an Rhein und Ruhr. Beiträge zur Geschichte der Arbeiterbewegung in Rheinland-Westfalen, Wuppertal 1974, S. 51 ff., hier: 53. 73 K.-G. Faber, Strukturprobleme des deutschen Liberalismus im 19. Jahrhundert, in: Der Staat, Bd. 14 (1975), S. 201 ff., hier: 207 f.

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Sphäre der Betätigung und des Genusses zu erklären, hier nicht zu finden ist.74 Arbeit und Bildung, wirtschaftlich-soziale Bedürfnisse und geistige Anspannung und Horizonterweiterung bleiben unmittelbar und offen ausgesprochen aufeinander bezogen. Die Handwerker- und Arbeiterbildungsvereine des Vormärz organisieren Bildungsbereitschaft und sozialen Selbstbehauptungs- und Aufstiegsdrang; sie können daher auch innerhalb weniger Jahre bis 1848 zu Organen gesellschaftlichpolitischer Interessenartikulation werden. Schließlich ist noch einmal auf das Verhältnis von Vereinswesen und Nationalismus bzw. Nationalbewegung hinzuweisen. An der satzungsmäßigen Definition der Vereinsziele, an der Namensgebung, an der personellen Zusammensetzung und am organisatorischen Ausgriff der Vereine lässt sich ablesen, dass in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts der deutsche Einzelstaat diejenige politische Realität war, durch welche das Leben des Einzelnen und der Gesellschaft aufs stärkste geformt wurde.75 Das deutsche Vereinsleben ist ganz in diese Welt eingelassen, aber es strebt doch auch zunehmend über sie hinaus. Querschnitte durch das Vereinswesen eines deutschen Kleinstaates oder einer deutschen Residenzstadt beweisen, wie eng Hof, Staat und Vereine durch fürstliche Patronage und durch Staatsamt und Vereinszugehörigkeit verflochten waren.76 Das politische Bewusstsein der vereinsmäßig organisierten bürgerlichen Gesellschaft ging jedoch unverkennbar zu einer gesamtnationalen Einheitsvorstellung über, die nicht mehr auf die bloße Kulturnation beschränkt blieb. Die Fixierung auf die Territorien tritt schon in der Namensgebung allmählich zurück. Das Vereinswesen disponierte zu einem gesamtstaatlichen Nationalbewusstsein, ohne die Bindung an die einzelstaatliche Loyalität aufzugeben. Die erste offen politische Organisation mit gesamtnationalem Wirkungs- und Organisationsanspruch entstand allerdings mit den Burschenschaften bezeichnenderweise in der noch vor- und außerbürgerlichen Welt des universitären Studentenlebens. Diese stellten eine Verbindung dar, die sich in erster Linie durch ihre Generationenzugehörigkeit definierte und die deshalb, unterstützt durch die Mobilität des Studentendaseins, die ursprüngliche Bindung jedes Vereins an Ort, Region und Territorium, an den alltäglichen Umkreis des bürgerlichen Lebens leichter hinter sich lassen konnte. Der zweite, zumindest der Tendenz nach gesamtnationale Organisationsansatz, der ,,Preß- und Vaterlandsverein“, entwickelte sich demgegenüber bereits aus den verfassungsrechtlichen und politischen Bedingungen, welche durch den Frühkonstitutionalismus geschaffen worden waren: Um die Behinderung der parlamentarisch-oppositionellen Arbeit zu umgehen, und um über die Presse ungestörter auf die Gesetzgebungsarbeit der Kammern einwirken zu können, organisierten radikale Intellektuelle und Kammerabgeordnete eine Protestbewegung, die sich neben der Petition und dem politischen Fest auch der Vereinsorganisation bediente.77 Das Ausmaß der Politisierung im Vorfeld der Revolution erhellt schließlich daraus, dass ein latent politischer Zweig des Vereinswesens, die Turnerschaft, 74 75 76 77

Vgl. R. Vierhaus, Bildung, wie Anm. 71, S. 540. Vgl. dazu K.-G. Faber, Strukturprobleme des deutschen Liberalismus, wie Anm. 73, S. 205. Vgl. etwa M. Amthor, Beiträge zu Coburgs und Gothas Annalen, wie Anm. 64. Vgl. W. Schieder, Der rheinpfälzische Liberalismus, wie Anm. 41, S. 175–198.

210 8. Strukturmerkmale und Entwicklungstendenzen des Vereinswesens in Deutschland deren politische Meinungsäußerung seit 1815 erfolgreich unterdrückt worden war, im Herbst 1847 die Gründung eines nationalen Gesamtverbandes mit offen politischen Zielen betrieb, die allerdings von den Behörden noch unterbunden wurde.78 Dem fortschreitenden Bedürfnis zu gesamtnationalem Zusammenschluss korrespondiert die Ausdehnung der sozialen Basis beim politischen Vereinswesen. Die Identifikation sowohl mit den nationalpolitischen als auch mit den verfassungspolitischen Zielen des Liberalismus überfängt die Grenzen der sozialen Schichtung, welche zum Beispiel das gesellige Vereinswesen unterteilen. Vor allem bricht die Geschlossenheit der Bildungsschicht auf und macht Organisationsformen Platz, in denen sich Intelligenz und bürgerlicher Mittelstand verbinden. Zunächst dehnt sich das politische und kryptopolitische Vereinswesen über die Grenze des ,,persönlichen Standes“ und des – vergleichsweise seltenen – großen Besitzes aus, welche die verdeckt politische Gesellschaft des Spätabsolutismus, die privilegierte Gruppe der Juristen in Verwaltung und Justiz, der höheren Beamten insgesamt, der Professoren, Lehrer, Pfarrer und Offiziere, von der breiten Masse des Gewerbebürgertums getrennt hatte. Bereits der Tugendbund von 1808 durchstieß im Ansatz die soziale Esoterik der aufklärerischen Gebildetenzirkel. Die ab Sommer 1814 vor allem im Nassauischen ins Leben gerufenen nationalpolitischen Vereine, die sich entsprechend Arndts Vorschlag ,,Deutsche Gesellschaften“ nannten, erklärten programmatisch den ,,Mittelstand“ zur politisch-sozialen Kerngruppe der Nation, von der der gesinnungsmäßige Zusammenschluss der Nation ausgehen sollte. Tatsächlich zählten die ,,Deutschen Gesellschaften“ denn auch Handwerker und Studenten zu ihrem Mitgliederkreis, doch dominierte nach wie vor die Bildungsschicht, vor allem Pfarrer, Lehrer und Juristen.79 In der rheinpfälzischen Protestbewegung mit dem Preß- und Vaterlandsverein geht das Bildungsbürgertum unter Leitung seiner politischen Führungsgruppe aus der kritischen Intelligenz der Journalisten und Anwälte die Verbindung mit dem bürgerlichen Mittelstand ein, welche den pfälzischen Liberalismus zur Massenbewegung macht.80 Der Abgeordnete Römer setzte sich in der Vereinsrechtsdiskussion der 2. Württembergischen Kammer 1833 für politische Vereine mit dem Argument ein, dass sie geeignet seien, die Vorherrschaft der Beamten in der politischen Repräsentation zurückzudrängen zugunsten der Bauern und Gewerbetreibenden. In den Auslandsvereinen endlich schließen sich seit 1832 die originär bürgerlichen Intellektuellen aus den Burschenschaften und aus dem rheinpfälzischen Liberalismus mit den Handwerksgesellen zusammen zu einer überständischen Elite aus politischen Aktivisten der deutschen Intelligenz und politisierungsbereiten und politisierungsfähigen Handarbeitern. 78 Vgl. E. Neuendorff, Geschichte der neueren deutschen Leibesübung, wie Anm. 69, S. 441 ff.; J. Paschen, Demokratische Vereine und Preußischer Staat. Entwicklung und Unterdrückung der demokratischen Bewegung während der Revolution von 1848/49, München u.a. 1977, S. 27 f. 79 Vgl. Fr. Meinecke, Die Deutschen Gesellschaften und der Hoffmannsche Bund. Ein Beitrag zur Geschichte der politischen Bewegungen in Deutschland im Zeitalter der Befreiungskriege, Stuttgart 1891, S. 28 f. 80 W. Schieder, Der Rheinpfälzische Liberalismus, wie Anm. 41, S. 187 ff.

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V Marx und Engels legten nach ihrem Eintritt den ,,Bund der Gerechten“ als ,,Bund der Kommunisten“ 1847 eindeutig auf einen sozialrevolutionären Kurs fest. Trotz des verschiedentlich belegten Einflusses des ,,Bundes“ auf Handwerkervereine und Handwerkerbildungsvereine in Deutschland81 blieben diese jedoch von Sozialismus und Kommunismus weitgehend unberührt.82 Das Vereinswesen der Unterschicht war entgegen der Hoffnung von Marx/Engels als planmäßig verwendbares Instrument des Klassenkampfes nicht zu brauchen. Die Kooperation zwischen radikaler sozialistischer Intelligenz und handwerklich-proletarischer Unterschicht – in Deutschland durch Vereins- und Pressegesetzgebung ohnehin erschwert – reichte nicht aus, das Eigengewicht originär handwerklicher Organisationsbestrebungen zu überwinden. Diesen ging es in der Tradition korporativer Gesellungen vor allem um gegenseitige Unterstützung bei Tod, Krankheit, in besonderen Notfällen und bei der Gesellenwanderung, und um die Befriedigung des wachsenden Bildungsbedürfnisses und des Geselligkeitsdranges. Während sich in den Auslandsvereinen das beruflich-korporative Sonderbewusstsein der Handwerksgesellen bereits seit den 30er Jahren im übergreifenden Selbstverständnis als Arbeiter aufzulösen beginnt83 setzt dieser Prozess in Deutschland erst kurz vor der Revolution ein, schlägt sich aber nach Ausbruch der Revolution sofort in der Umbenennung von Handwerker- und Handwerkerbildungsvereinen in ,,Arbeitervereine“ nieder.84 In der Revolution entsteht mit der Arbeiterverbrüderung eine sozialreformerische gesamtnationale arbeiterspezifische Organisation. Ihre Mitglieder definieren sich als Angehörige einer Berufs- oder Erwerbsklasse im Sinne von Max Webers Klassenbegriff, demzufolge die ,,Chancen der Marktverwertung von Gütern und Leistungen“ für die Klassenlage den Ausschlag geben.85 Der Besitz der Ware ,,Arbeit“ definiert die Gruppenidentität, und zwar ohne Unterscheidung zwischen gelernter, angelernter und ungelernter Arbeit. Darüber hinaus rechtfertigt im Bewusstsein der Arbeiter der Besitz der Arbeit den Anspruch, als gleichberechtigte Mitglieder der Gesellschaft von den anderen anerkannt zu werden. Dabei verstehen sich die Arbeiter betont nicht als ,,Masse“, sondern als eine Vielzahl selbständiger Individuen mit gleicher Position auf dem Markt und mit gleicher sozialer Wertschätzung. Insofern 81 Vgl. K. Tenfelde, Lesegesellschaften und Arbeiterbildungsvereine, wie Anm. 16, S. 262 ff. 82 D. Dowe, Organisatorische Anfänge der Arbeiterbewegung, wie Anm. 72, S. 52 f. 83 Vgl. W. Conze, Artikel ,,Arbeiter“, in O. Brunner, W. Conze, R. Koselleck (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. I, S. 216 ff., hier: 228–231; W. Schieder, Anfänge der deutschen Arbeiterbewegung, wie Anm. 23, S. 83. 84 Vgl. etwa den Hannoveraner ,,Buchdruckerleseverein“, der sich im April 1848 in ,,Arbeiterverein“ umbenennt, den von Gottschalk gegründeten Kölner ,,Arbeiterverein“ und den Anfang Mai 1848 in Trier gegründeten ,,Arbeiterverein“. 85 M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Studienausgabe, hg. von J. Winckelmann, Köln 1964, S. 223–225; dazu: H. Stuke, Bedeutung und Problematik des Klassenbegriffs. Begriffs- und sozialgeschichtliche Überlegungen im Umkreis einer historischen Klassentheorie, in: ders., Sozialgeschichte – Begriffsgeschichte – Ideengeschichte, Gesammelte Aufsätze, hg. von W. Conze und H. Schomerus, Stuttgart 1979, S. 167 ff., hier bes. S. 179–182.

212 8. Strukturmerkmale und Entwicklungstendenzen des Vereinswesens in Deutschland steht die Arbeiterverbrüderung in der Tradition des liberalen Individualismus und den von ihm entwickelten Konstitutionsprinzipien des Vereins: individuelle Selbstbestimmtheit und Rechtsgleichheit – allerdings verknüpft mit dem Bewusstsein, dass die Entfaltungsmöglichkeiten der Person nicht nur durch diese selbst, sondern wesentlich auch durch Gruppenzugehörigkeit und Gruppenbewusstsein bedingt sind.86 Ihre Erwartung richtet sich auf die politische Berechtigung in einer sozialoder arbeitsständisch geordneten Gesellschaft mit einem System politischer Egalität, nicht auf den permanenten Konflikt in einer antagonistischen Klassengesellschaft.87 Die Arbeiterverbrüderung steht jenseits ständischer Ordnungsvorstellungen, insofern diese eine Abstufung der politischen Berechtigung einschließen, sie versteht sich aber auch keineswegs als ,,Klasse“ im Sinne der Marxschen Theorie, insofern diese einen grundsätzlichen Antagonismus zwischen Besitzern und Nichtbesitzern von Produktionsmitteln behauptet. Die sozialreformerische Zielsetzung der Arbeiterverbrüderung geht dahin, depossedierten Handwerksmeistern, Handwerksgesellen und Arbeitern soziale Achtung und politische Gleichrangigkeit in der Staatsbürgergesellschaft zu verschaffen. Ihre Absicht ist die Interessenwahrung der Arbeiterschaft in der bürgerlichen Gesellschaft und als Teil von ihr, nicht gegen sie. Die bürgerliche Gesellschaft selbst wird noch nicht in Frage gestellt. Es lässt sich daher sagen, dass die Gesellschaft mit der Auflösung der traditionellen societas civilis in verschiedene Schichten auseinanderfällt –zunächst noch entlang den traditionellen ständischen Schranken –, die sich mit zunehmender Durchsetzung von liberaler Verkehrswirtschaft und Industrialisierung antagonistisch zueinander verhalten, jedoch keineswegs zu konsequent klasseneinheitlichen Organisationen finden oder Organisationen bilden, welchen ein einheitliches Klassenbewusstsein zugrunde läge. Die außerparlamentarische Arbeiterbewegung verbindet sich in der Revolution in Organisationen von drei verschiedenen Richtungen: der sozial-konservativen der Handwerkerbewegung, der sozialreformerischen der Arbeiterverbrüderung und der sozialrevolutionären des Bundes der Kommunisten.88 So wie die Gruppierungen der Arbeiterbewegung sind die Schichten der bürgerlichen Gesellschaft überhaupt gegeneinander offen und determinieren das Verhalten der Einzelnen keineswegs eindeutig; spätestens seit dem März 1848 fordern jedoch alle, einschließlich des Konservativismus und des politischen Katholizismus, die Vereinigungsfreiheit, um ihre jeweiligen eigenen Vorstellungen und Interessen im ökonomischen und politischen System durchsetzen zu können. Seit 1808, 86 Vgl. Manifest des deutschen Arbeiter-Kongresses in Berlin an die konstituierende Versammlung zu Frankfurt am Main, abgedruckt bei M. Quarck, Die erste deutsche Arbeiterbewegung. Geschichte der Arbeiterverbrüderung 1848/49, Leipzig 1924, Anhang III, S. 348–350; zur Arbeiterverbrüderung vgl. F. Balser, Sozial-Demokratie 1848/49–1863, Die erste deutsche Arbeiterorganisation, 2 Bde. Stuttgart 2. Aufl. 1965, bis I, S. 47–54. 87 So auch u.a. F. Balser, Sozial-Demokratie, wie Anm. 86, S. 61; J. Reulecke, Sozialer Konflikt und bürgerliche Sozialreform in der Frühindustrialisierung, in: K. Tenfelde und H. Volkmann (Hg.), Streik, Zur Geschichte des Arbeitskampfes in Deutschland während der Industrialisierung, München 1981, S. 237 ff., hier: 243. 88 Diese Unterscheidung nach W. Schieder, Die Rolle der deutschen Arbeiter in der Revolution von 1848/49, in: Archiv für Frankfurts Geschichte und Kunst, Heft 54, Frankfurt 1974, S. 43 ff., hier bes. 45 f., 55 f.

8. Strukturmerkmale und Entwicklungstendenzen des Vereinswesens in Deutschland

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mit zunehmender Intensität seit 1830, steht der Verwaltungsstaat mit monarchischer Souveränität der gemeinsamen Forderung derjenigen Gruppen nach mehr individueller Freiheit und politischem Mitspracherecht gegenüber, die sich vom Primat der Bürokratie und von den Restbeständen geburtständischer Privilegien befreien wollen. So gesehen hatten die Regierungen durchaus recht, wenn sie sich von einer einheitlichen ,Bewegungspartei‘ bedroht fühlten. Der Zerfall dieser Einheit, die beginnende Divergenz von liberalen und radikal-demokratischen Vorstellungen auch beim Vereinsrecht bahnt sich allerdings vereinzelt bereits vor 1848 an – und zwar vor allem dadurch, dass die Frage des Koalitionsrechts nunmehr akut wurde. Der Frühsozialist Otto Lüning befürchtet bereits 1844, die ,,Bourgeoisie“ wolle ,,freie politische Institutionen“ möglicherweise nur zu ihrem eigenen ökonomischen Vorteil nutzen und das Assoziationsrecht sich selbst vorbehalten89 – ein Vorgriff auf den Kampf um das Koalitionsrecht bis 1868. Im Heppenheimer Programm der südwestdeutschen Liberalen vom 10. 10. 1847, das Fragen der staatlichen Neugestaltung Deutschlands und die mögliche Rolle des Zollvereins dabei in den Vordergrund stellt, fehlt die Forderung nach Vereins- und Versammlungsfreiheit – im Gegensatz zum Offenburger Programm der Demokraten vom 12. 9. 1847.90 Der Gemeinderat der Stadt Köln fand sich nach der Bürgerversammlung am 3. 3. 1848 vor dem Rathaustumult nicht bereit, den Antrag des Marx-Anhängers Dr. D‘Ester auf freies Assoziationsrecht zuzustimmen.91 Dies ist kein Zufall, dem Protokoll zufolge wurde um die Stellungnahme zum Vereinsrecht gerungen. Hier zeigt sich am Vereinsrecht bereits die Schwenkung zur Politik der Ruhe- und Ordnungswahrung, welche die rheinischwestfälische Unternehmerschaft bzw. das Wirtschaftsbürgertum bei den ersten Anzeichen eines proletarischen Aufruhrs vollzog.92 In der Frankfurter Paulskirche selbst war das Grundrecht der Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit dann allerdings völlig unstrittig. Lediglich beim Versammlungsrecht drangen die Abgeordneten der linken Mitte auf die völlige Unbeschränkbarkeit der Versammlungsfreiheit, während die Vertreter der rechten Mitte einen Vorbehalt bei ,,dringender Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit“ durchsetzten.93 Für das Vereinswesen bedeutete die Revolution von 1848/49 einen tiefen Einschnitt. Da das vormärzliche Vereinsrecht und die Restaurationspolitik die systemgerechte Entfaltung eines politischen Vereinswesens verzögert hatten, ist es nur folgerichtig, dass sofort nach der Freigabe der Vereinsfreiheit durch die Regierungen im März 1848 politische und interessenpolitische Organisationen massen89 O. Lüning, Dies Buch gehört dem Volk, Paderborn 1844, S. 160. 90 Das Heppenheimer Programm der südwestdeutschen Liberalen vom 10. 10. 1847, abgedr. in: E.R. Huber, Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. 1, Stuttgart 1961, S. 262– 264. 91 Adresse an den Abgeordneten Ludolf Camphausen, 3. 3. 1848, abgedruckt in: J. Hansen, Rheinische Briefe und Akten zur Geschichte der politischen Bewegung, Bd. II, Bonn 1942, S. 495. 92 Vgl. F. Zunkel, Der Rheinisch-Westfälische Unternehmer, wie Anm. 19, S. 171 f., 176; zu Spott und Ablehnung der Unternehmerschaft gegen das politische Vereinswesen in der Revolution, ebda. S. 178 f. 93 J.G. Droysen, Die Verhandlungen des Verfassungsausschußes der deutschen Nationalversammlung, Leipzig 1849, S. 23 ff.

214 8. Strukturmerkmale und Entwicklungstendenzen des Vereinswesens in Deutschland haft und auf allen gesellschaftlichen Ebenen in- und außerhalb des Parlaments auftraten.94 Damit verloren andererseits die politischen Begriffe ,,Assoziation“ und ,,Verein“ allmählich ihre Anziehungskraft und ihre zentrale Stelle in der deutschen gesellschaftlich-politischen Theorie. Die Verrechtlichung der Begriffe und die Realität der sozialen Revolution raubten der ,,Assoziation“ und dem ,,Verein“ in der Sprache des Liberalismus jene Aura unbedingter Fortschrittserwartung und die Qualität einer Universalformel zur Konfliktlösung in der bürgerlichen Gesellschaft, die im Vormärz an jeder Äußerung über Assoziation und die ,,Steigerung der Kräfte“ durch Vereinsbildung abzulesen sind. Die Reaktion auf die handwerklich-proletarischen Klassenabgrenzungsversuche der entstehenden Arbeiterbewegung, auf radikal-demokratische und proletarische Unruhen, auf Pauperismus und Frühsozialismus macht sich im liberalen Bürgertum bereits seit März 1848 bemerkbar. Sie geht in zwei Richtungen: zum einen fordert sie eine genauere Differenzierung der einzelnen Vereinstypen, zum anderen dringt sie auf Abgrenzung gegenüber den sozialistischen sozialutopischen Zielen einer ,,Assoziation der Arbeit“ und des Lebens. Der Begriff des ,,politischen Vereins“, bis 1848 in die universelle Pathosformel ,,Verein“ sozusagen inkorporiert, verselbständigt sich im Zuge der Vereinsgesetzgebung zum rechtlich definierten Terminus. Die neu entstehenden Selbsthilfevereine der Kleingewerbetreibenden und Bauern beginnen sich unter dem Namen ,,Genossenschaft“ zu sammeln, eine Bezeichnung, die Schulze-Delitzsch ab 1854 in einem bewussten, national und gesellschaftspolitisch begründeten, sprachpolitischen Abgrenzungsakt sowohl gegen den französischen Ursprung als auch gegen die sozialistischen Implikationen von ,,Assoziation“ durchsetzt.95 Die ,,Assoziation“ bleibt im Bürgertum von jetzt ab durch die Konnotation mit ,,Sozialismus“ eindeutig negativ besetzt – ein Vorgang, der sich allerdings bis 1868, bis zur endgültigen Selbstbenennung der deutschen Arbeiterbewegung als Teil der ,,Internationalen Arbeiter-Assoziation“ hinzieht. Die Trennung des Liberalismus vom demokratischen Radikalismus und vom sozialistischen Utopismus sowie die Diversifikation des Vereinswesens, die faktische und rechtliche Spezialisierung in den verschiedenen Bereichen des politischen Vereinswesens und des Genossenschaftswesens, im Koalitionsrecht und im Handelsrecht, lösen ,,Verein“ und ,,Assoziation“ als umfassende Formel für selbstbestimmtes, aber kooperatives Handeln, als Pathosformel für die Fortschrittserwartung einer einheitlichen bürgerlichen Gesellschaft auf.

94 Vgl. vor allem die Würdigung des Vereinswesens als einer organisierten Massenbewegung, ,,deren Auswirkungen auf den Revolutionsverlauf nicht hinter dem parlamentarischen und militärischen Geschehen zurückstehen“, D. Langewiesche, Die Anfänge der deutschen Parteien, wie Anm. 59, S. 339. 95 Bes. deutlich in: H. Schulze-Delitzsch, Das deutsche Genossenschaftswesen (1858), in: ders., Schriften und Reden … hg. v. Fr. Thorwart u.a., 5 Bde., Berlin 1909–1913, hier: Bd. I, S. 292 f.

9. „ARBEITERSCHAFT“ – „GENOSSENSCHAFT“ – „GEWERKVEREIN“ – „GEWERKSCHAFT“. ZUR BEGRIFFSGESCHICHTE DER DEUTSCHEN GEWERKSCHAFTSBEWEGUNG 1862–1877 Die Geschichte der Arbeiterbewegung zwischen der Revolution von 1848/49 und dem Nürnberger Vereinstag der deutschen Arbeitervereine 1868 bzw. dem Gothaer Vereinigungsparteitag 1875 lässt sich verstehen als Wendung der sich politisierenden und konfessionell nicht gebundenen Teile der gewerblichen Unterschicht vom Aufstiegswillen in eine sozial geachtete und politisch gleichrangige Stellung innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft hin zu einer zumindest partiellen Emanzipation von deren Wertnormen und sozialen Geltungskriterien. Dieser Vorgang vollzog sich in sehr kleinen Schritten und mit einer keineswegs immer und überall von den Betroffenen wahrnehmbaren Bewegungsrichtung. Er wurde angetrieben von einer Vielzahl unterschiedlicher und die verschiedenen Branchen ungleichmäßig erfassender ökonomischer, technischer und betrieblicher Modernisierungsschritte, die bei den Betroffenen höchst vielgestaltige und zum Teil auch in sich widersprüchliche Reaktionen, Erwartungen und Hoffnungen auslösten. Die Wandlungen im Vorstellungshorizont des Personenkreises, der sich in den Arbeiterbildungsvereinen zusammenfand – sozial-liberal engagierten Bürgern, Handwerksgesellen, im Alleinbetrieb arbeitenden und sozial absinkenden Handwerksmeistern und Fabrikarbeitern im eigentlichen Wortsinn –, bis zur endgültigen Spaltung zwischen bürgerlicher Demokratie und sozialistischer Arbeiterbewegung lassen sich dabei am Bedeutungsfeld, am Gewicht und am Orientierungsrang einiger weniger Begriffe ablesen, welche die jeweiligen Organisationsabsichten benannten und sie dabei auch im Kontext der zeitgenössischen historisch-politischen Sprache interpretierten.1 Neben Termini wie „Arbeiter“, „Proletariat“, „Klasse“,2 aber auch „Assoziation“, „Genossenschaft“ und „Verein“,3 gehört zu diesen signifikanten Selbst- und 1

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Zum begriffsgeschichtlichen Ansatz vgl. v.a. Reinhart Koselleck, Einleitung zu: Otto Brunner u.a. (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 1, Stuttgart 1972, S. XIII–XXVII; sowie ders., Begriffsgeschichte und Sozialgeschichte, in: ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt 1979, S. 107–129; ders. (Hg.), Historische Semantik und Begriffsgeschichte, Stuttgart 1978; kritisch dazu: Dietrich Busse, Historische Semantik. Analyse eines Programms, Stuttgart 1987. Werner Conze, Art. „Arbeiter“ in: Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 1, S. 216–242, Rudolf Walther, Art. „Stand, Klasse“, Abschnitte XI–XIV, in: ebd., Bd. 6 (1990), S. 250–278; vgl. auch Jürgen Kocka, Lohnarbeit und Klassenbildung, Berlin/Bonn 1983, S. 130–137. Vgl. dazu Wolfgang Hardtwig, Verein, Gesellschaft, Assoziation, Genossenschaft. Geschichtliche Grundbegriffe, in diesem Band, S. 139–180.

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9. „Arbeiterschaft“ – „Genossenschaft“ – „Gewerkverein“ – „Gewerkschaft“

Fremdbezeichnungen und Begriffen auch der Begriff der „Gewerkschaft“. 1877 verwendete A. Geib in seiner vielzitierten Gewerkschaftsstatistik erstmals den Terminus „Freie Gewerkschaften“ und schloss damit die Begriffsgeschichte von „Gewerkschaft“ vorläufig ab. Mit diesem Namen brachte er für die sozialdemokratischen Gewerkschaften die „Unabhängigkeit von staatlicher Kontrolle“ und die „Abgrenzung von den Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereinen“ zum Ausdruck.4 Neu ist dabei, dass er ausdrücklich und für die Zukunft des gewerkschaftlichen Zweiges der deutschen sozialistischen Arbeiterbewegung traditionsstiftend das Attribut „frei“ in Anspruch nahm. Der Begriff der „Gewerkschaft“ dagegen hatte sich in der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung bereits auf dem Scheitelpunkt der Gründerjahre zwischen 1868 und 1873 durchgesetzt. Er ist in der politisch-sozialen Sprache der letzten 140 Jahre so selbstverständlich geworden und so eindeutig umrissen, dass die sprachpolitischen Entwicklungen und Auseinandersetzungen, in denen er sich durchsetzte, in Vergessenheit geraten sind. Dass er sich durchsetzte, ist gleichwohl alles andere als selbstverständlich. Daher verspricht die Rekonstruktion dieser Kämpfe Aufschluss über die Sprach- und damit auch Denktraditionen, in denen der gewerkschaftliche Zweig der entstehenden sozialistischen Arbeiterbewegung stand, die er weiterbildete, umformte und aus denen er herausstrebte. Sie lässt weiterhin Rückschlüsse zu auf die Abgrenzungen und Neuorientierungen, die im Umfeld der politisch-sozialen Ideen und Organisationen in den späten 1860er und frühen 1870er Jahren vorgenommen wurden. Schließlich lässt sie erkennen, wie die Klärung und bewusste Fixierung der eigenen sozialen und politischen Erfahrungen, der Programmatik und der organisatorischen Strukturen in den sich voneinander abgrenzenden Parteirichtungen der entstehenden Arbeiterbewegung vor sich ging. Gerade an dem zunächst unentschiedenen Sprachgebrauch, an der anfangs tastenden und wenig reflektierten, sehr rasch aber dann präzisierten und stabilisierten Handhabung des Begriffs „Gewerkschaft“ und der zugehörigen Referenzbegriffe lässt sich die komplizierte Mischung von Traditionsbindung und Traditionsbruch ablesen, in der die Transformation der gewerblichen Unterschicht in die industrielle Lohnarbeiterschaft und die Notwendigkeit neuer Interessenorganisationen von den Betroffenen erlebt und das zunächst durchaus widerstrebend entwickelte „Bewußtsein der Unentrinnbarkeit des proletarischen Schicksals“5 verarbeitet wurde. Die Phase der begrifflichen und – damit eng verbunden – programmatischen Klärung stimmt dabei mit dem Gründungsrhythmus der Gewerkschaftsbewegung in bemerkenswertem Umfang überein. Nach ersten Anfängen in der Revolution 1848/49 und ihrer Unterdrückung in der Reaktionszeit lebte die frühe deutsche Gewerkschaftsbewegung seit 1861 wieder auf. Neben der allgemeinen Liberalisierung des politischen Klimas seit Beginn der Neuen Ära 1859 und dem schrittweisen Zugeständnis des Koalitionsrechtes durch die deutschen Regierungen zwischen 1861 und 1869 schuf der konjunkturelle Aufschwung seit 1853 mit der Hochblüte der 4

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Gerhard A. Ritter/Klaus Tenfelde, Der Durchbruch der Freien Gewerkschaften Deutschlands zur Massenbewegung im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts, in: Gerhard A. Ritter, Arbeiterbewegung, Parteien und Parlamentarismus, Göttingen 1976, S. 55–101, hier S. 57. Ebd., S. 55.

9. „Arbeiterschaft“ – „Genossenschaft“ – „Gewerkverein“ – „Gewerkschaft“

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Jahre 1868 bis 1873 und der damit verbundene endgültige Durchbruch der Industriellen Revolution die Voraussetzung für die anfangs sehr retardierte, 1868 bis 1873 aber extrem beschleunigte Ausbreitung von Interessenorganisationen der Arbeiter.6 Als wesentlicher, wenn auch keineswegs alleiniger Katalysator können dabei die Streikaktivitäten gelten, die seit 1853 verstärkt einsetzten und sich in den BoomJahren 1864/65 und 1868/73 jeweils zu förmlichen Streikwellen steigerten.7 Die Zunahme der Reallöhne und die auch bei den Arbeitnehmern sich ausbreitende Wachstums- und Fortschrittserwartung förderten die Organisationsbereitschaft. Für die endgültige Konstituierung und Formierung der deutschen Gewerkschaftsbewegung – bzw. genauer: der Gewerkschaftsbewegungen – haben schließlich zwei Faktoren ausschlaggebende Bedeutung gewonnen, die von ihren Gründern auch begrifflich reflektiert und interpretiert wurden: zum einen die unaufhaltsame proletarische Klassenbildung, die sich aus den nach wie vor prägenden Strukturen der ständisch-korporativen Gesellschaftsordnung heraus vollzog;8 und zum anderen die Überschneidung der Konstituierungsphase der deutschen Gewerkschaften mit den parteigeschichtlichen Weichenstellungen der Jahre 1861 bis 1875, die sich 1868/69 mit dem Nürnberger Vereinstag der Arbeiter-(bildungs)vereine und der Gründung der Eisenacher Sozialdemokratischen Arbeiterpartei besonders zuspitzten.9 II Die Konstituierungsphase der gewerkschaftlichen Arbeiterbewegung von 1861 bis 1873 ist begriffsgeschichtlich gekennzeichnet durch das allmähliche Zurücktreten von „Assoziation“, „Korporation“, „Gesellschaft“, „Verein“ und schließlich auch „Genossenschaft“ und durch die allmähliche Verselbständigung des Begriffs „Gewerkschaft“. Dieser Begriff ist nicht neu, er kommt bis dahin in zwei verschiedenen Bedeutungen vor: als klar umrissener Terminus der bergmännischen Sprache einerseits und als häufig synonym für „Zunft“ verwendete Sammelbezeichnung, die sich 6

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Vgl. dazu die detaillierte Darstellung bei Ulrich Engelhardt, „Nur vereinigt sind wir stark“. Die Anfänge der deutschen Gewerkschaftsbewegung 1862/63 bis 1869/70, 2 Bde., Stuttgart 1977; Willy Albrecht, Fachverein – Berufsgewerkschaft – Zentralverband. Organisationsprobleme der deutschen Gewerkschaften 1870–1890, Bonn 1982; Ulrich Engelhardt, Gewerkschaftliches Organisationsverhalten in der ersten Industrialisierungsphase, in: Werner Conze/Ulrich Engelhardt (Hg.), Arbeiter im Industrialisierungsprozeß, Stuttgart 1979, S. 372–402. Vgl. u.a. Ritter/Tenfelde, Durchbruch, S. 36 f.; Ulrich Engelhardt, Zur Entwicklung der Streikbewegungen in der ersten Industrialisierungsphase und zur Funktion von Streiks bei der Konstituierung der Gewerkschaftsbewegung in Deutschland, in: Internationale Wissenschaftliche Korrespondenz zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung 15 (1979), S. 547–568; Klaus Tenfelde/Heinrich Volkmann (Hg.), Streik. Zur Geschichte des Arbeitskampfes in Deutschland während der Industrialisierung, München 1981. Dazu grundlegend Jürgen Kocka, Arbeitsverhältnisse und Arbeiter. Grundlagen der Klassenbildung im 19. Jahrhundert, Bonn 1990. Vgl. u.a. Gerhard A. Ritter, Die sozialdemokratische Arbeiterbewegung Deutschlands bis zum Ersten Weltkrieg, in: ders., Arbeiterbewegung, S. 21–54, bes. S. 23 ff.

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9. „Arbeiterschaft“ – „Genossenschaft“ – „Gewerkverein“ – „Gewerkschaft“

an den umfassenden Begriff von „Gewerke“ anlehnte. Unter der bergrechtlichen „Gewerkschaft“ wurde bis zum Erlass des „Allgemeinen Berggesetzes für die Preußischen Staaten“ vom 24. 6. 1865 eine nach bergrechtlichen Sonderbestimmungen geregelte Gesellschaft von Eigentümern verstanden, die sich von der Aktiengesellschaft und der Gesellschaft mit beschränkter Haftung dadurch unterschied, dass sie nicht über ein festes Grundkapital verfügte, sondern bei zusätzlichem Kapitalbedarf weitere Zubußen der Genossen (Gewerken) ausschreiben konnte. Seit der Bergrechtsreform hatte die bergrechtliche Gewerkschaft wie die Aktiengesellschaft und die Gesellschaft mit beschränkter Haftung die Rechtsform einer juristischen Person, in der die Gewerke nicht mehr Gesamthandseigentum, sondern wie Aktionäre Mitgliedsrechte innehatten. „Gewerkschaft“ war demnach in der Bergmannsprache festgelegt auf die für den älteren Bergbau charakteristische Form der Vereinigung von Unternehmern. Die ältesten Belege für diesen Wortgebrauch reichen bis über das 16. Jahrhundert zurück. Im Verlauf der Frühen Neuzeit hatte sich dieser Sprachgebrauch so weitgehend verfestigt, dass er auch in den Lexika des 18. und frühen 19. Jahrhunderts bis zu Adelung und Campe in diesem Sinne kodifiziert worden war und sich bis in die Berggesetzgebung des 19. Jahrhunderts hinein unumstritten hielt.10 Die entstehende Gewerkschaftsbewegung dürfte allerdings bei ihrer Selbstbenennung weniger auf diesen bereits hochgradig verrechtlichten, spezialisierten und auf eine Arbeitgebervereinigung fixierten Terminus zurückgegriffen haben als auf das breite und in der Rechtssprache sehr viel weniger festgelegte Bedeutungsfeld von „Gewerk“, „Gewerke“. Neben der auch hier vereinzelt auftretenden bergrechtlichen Bedeutung kommt „Gewerk“, „Gewerke“, synonym vor für „Zunft“, „Zunftgenosse“. Aus dem frühneuzeitlichen Sprachgebrauch sind zahlreiche Wortverbindungen jeweils synonym zu „Zunft“ überliefert, z.B. der „Gewerksälteste“, „Gewerksgenosse“, „Gewerksherr“ (Zunftvorstand), die „Gewerklade“ (Zunftkasse) u.ä. Auch dieser Sprachgebrauch wird im 18. Jahrhundert von den Wörterbüchern kodifiziert. So fasste etwa Adelung unter “Gewerk“ einerseits alle zu einem Handwerk eines Ortes gehörigen Meister zusammen und hielt andererseits die allgemeine Verwendung für „Zunft“, „Innung“, „Handwerk“ ausdrücklich fest.11 Im Ganzen allerdings blieb das Bedeutungsfeld offener und weniger eindeutig festgelegt auf die rechtliche Gestalt der zünftischen Organisation.12 „Gewerk“ meinte zunehmend die Gesamtheit der Mitglieder eines Gewerbes, alle Klempner, Sattler, Maurer, Zimmerleute Berlins z.B., wobei die Unterscheidung von Meister und Ge10 Vgl. Johann Theodor Jablonski, Allgemeines Lexikon der Künste und Wissenschaften, 2 Bde., Königsberg/Leipzig 1721, S. 247; Johann Christoph Adelung, Versuch eines vollständigen grammatisch-kritischen Wörterbuchs der hochdeutschen Mundart, 5 Bde., Leipzig 1774–1786, hier Bd. II, S. 660; Johann Heinrich Campe, Wörterbuch der Deutschen Sprache, 5 Bde., Braunschweig 1807–1811, Bd. II, S. 362; vgl. zum Ganzen den Artikel „Gewerkschaft“, in: Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, Bd. VI, Nachdruck München 1984, Bd. VI, Sp. 5660–5666. 11 Adelung, Bd. II, S. 660. 12 Vgl. die Belege im Artikel „Gewerk“ und „Gewerke“ in: Deutsches Wörterbuch, Bd. VI, Sp. 5639–5652.

9. „Arbeiterschaft“ – „Genossenschaft“ – „Gewerkverein“ – „Gewerkschaft“

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selle in den Hintergrund trat. Die literarische Sprache des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts benannte mit „Gewerk“, „Gewerken“, vielfach die Gesamtheit aller Handwerker, häufig in der typischen unterscheidenden Kombination von „Künsten und Gewerken“.13 Der Ausdruck „Gewerkschaft“ selbst kommt in diesem Bedeutungsfeld zwar vor, auch in ausdrücklich synonymer Verwendung zu „Zunft“, bleibt aber unüblich. Insgesamt nehmen „Gewerk“, „Gewerke“, „Gewerkschaften“ außerhalb des präzise umrissenen bergrechtlichen Verwendungsbereiches im Laufe des 19. Jahrhunderts einen altertümelnden Nebensinn an. Innerhalb der Arbeiterbewegung trat der Terminus „Gewerk“ bis 1869 fast ausschließlich in Kombination mit „Genossenschaft“ auf. Mit dem Begriff „GewerksGenossenschaft“ fand die sozialdemokratische Arbeiterbewegung im Jahr des Nürnberger Vereinstags der deutschen Arbeitervereine den für sie zunächst allgemein üblichen Namen für die gewerkschaftlichen Vereine. Auf dem Nürnberger Vereinstag 1868 entzündete sich die Diskussion um die Rolle gewerkschaftlicher Vereine an einem charakteristischen Anlass: der Debatte über die Errichtung von Altersversorgungskassen. Der Berichterstatter war Julius Vahlteich. Vahlteich kam ursprünglich aus dem Umkreis des Weitlingschen Handwerkerkommunismus, der Arbeiterverbrüderung der Jahre 1848/49 und der bereits um Zentralisierung bemühten ersten Anfänge der Gewerkschaftsbewegung.14 Er wandte sich gegen die Gründung selbständiger Altersversorgungskassen und gegen Sparkassen mit Staatsbeteiligung und verwies die Versorgungskassen generell in den Zuständigkeitsbereich von „Gewerks-Genossenschaften nach englischem Vorbild“.15 Vahlteich setzte dabei gewerkschaftliche Vereine als effektive Interessenvertretungen der Arbeiterschaft in Berufsgliederungen gegen die intergewerblichen Bildungsvereine, die gegenüber der Aufgabe versagt hätten, den Arbeitern aus ihrem Elend herauszuhelfen. Damit erklärte er – und mit ihm der Nürnberger Vereinstag insgesamt – die Gründung von Gewerkschaften auch zu einem Programmpunkt innerhalb des endgültigen Ablösungsprozesses der Sozial- von der Liberaldemokratie.16 Die „Arbeiterbildungsvereine“ hätten lange und im Wesentlichen erfolglos mit den „klei13 Vgl. z.B. die charakteristische Formulierung von Ernst Moritz Arndt: „Wie wimmelnd und lebendig regte sich das Volk! Wie vervielfältigten und bevölkerten sich die Städte! Wie wuchsen Handel und Gewerke! Wie zogen Handel und Reichtümer weit durch das Land und die Meere!“, Ernst Moritz Arndt, Geist der Zeit, Bd. I, 1813, S. 231. 14 Vgl. Hartmut Zwahr, Zur Konstituierung des Proletariats als Klasse. Strukturuntersuchungen über das Leipziger Proletariat während der industriellen Revolution, München 1981, S. 296; Werner Ettelt, Wolfgang Schröder, Zur Rolle der Gewerkschaftsbewegung bei der Herausbildung der „Eisenacher Partei“, in: Horst Bartel/Ernst Engelberg (Hg.), Die großpreußisch-militaristische Reichsgründung 1871, Berlin 1971, Bd. I, S. 539 f. 15 Berichte über die Verhandlungen der Vereinstage deutscher Arbeitervereine 1863–1869, Nachdruck, hg. von Dieter Dowe, Berlin u.a. 1980, S. 169. 16 Vgl. dazu Gustav Mayer, Die Trennung der proletarischen von der bürgerlichen Demokratie in Deutschland, 1863–1870 (1912), wieder in: ders., Radikalismus, Sozialismus und bürgerliche Demokratie, hg. von Hans-Ulrich Wehler, Frankfurt 1969, S. 108–178; Wolfgang Schieder, Das Scheitern des bürgerlichen Radikalismus und die sozialistische Parteibildung in Deutschland, in: Hans Mommsen (Hg.), Sozialdemokratie zwischen Klassenbewegung und Volkspartei, Frankfurt 1974, S. 17–34; vgl. auch Hans Eckert, Liberal- oder Sozialdemokratie? Frühgeschichte der Nürnberger Arbeiterbewegung, Stuttgart 1968.

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9. „Arbeiterschaft“ – „Genossenschaft“ – „Gewerkverein“ – „Gewerkschaft“

nen Fragen der sozialen Besserstellung der Arbeiter“ kostbare Zeit und Arbeitskraft vergeudet, jetzt heiße es: „Organisation, Machtentfaltung unter dem Banner der sozialen Demokratie […].“ Obwohl er wisse, dass die Lage der Arbeiterschaft sich nur im Großen gründlich bessern lasse, verwerfe er doch die „kleinen Mittel“ nicht unbedingt, sondern wolle sie nur richtig angewendet sehen. Er forderte die Delegierten auf, „Gewerksgenossenschaften zu gründen“ und es ihnen zu überlassen, „Altersversorgungs- und ähnliche Kassen“ ins Leben zu rufen. „Die Frage der Gewerks-Genossenschaften nach englischem Vorbild ist eine Lebensfrage der sozialen Bewegung […]“.17 Mit diesen Formulierungen betonte Vahlteich die Bedeutung praktischer Einzelverbesserungen für die Arbeiterschaft – gleichzeitig mit der Festlegung des Vereinstages auf das marxistisch-sozialrevolutionäre Programm der Internationalen Arbeiterassoziation (IAA). Unübersehbar ist dabei das taktische Element. Die Berufsvereine erschienen als Rekrutierungsfeld für die sich radikalisierende Arbeiterbewegung. Vahlteichs vermittelnde Position beruhte auf dem Eingeständnis, dass die politische Arbeiterbewegung ihre Massenresonanz nur erweitern könne durch den Appell nicht an den „Proletarier“ als solchen, sondern an den noch von zünftischem Berufsstolz beeinflussten Handwerker-Arbeiter. Vahlteich hoffte, durch den systematischen Aufbau von Berufsvereinen nicht nur den Boden zu schaffen, auf dem das Kassenwesen in seinen vielfachen Formen sich entfalten könne und für das „die Gleichartigkeit des Gewerbes, der Lebensweise und des Lohnes, sowie das gegenseitige Bekanntsein der Mitglieder von wesentlichem Vorteil“ seien, sondern auch, „daß die Arbeitermassen, welche dem öffentlichen Leben bisher fern standen, zu diesem herangezogen und durch ihre Organisation zu einer allzeit schlagfertigen Armee für die politische und soziale Emanzipation des Volkes“ formiert werden könnten.18 Eine eindeutige begriffliche und programmatische Abgrenzung von den englischen Trade-Unions mit ihrer starken Verwurzelung in der Tradition zünftischer und betont berufsspezifischer Interessenwahrung war damit nicht verbunden.19 Das bedeutete auch, dass zwischen nicht- bzw. antisozialdemokratischen „Gewerkvereinen“ und „Gewerks-Genossenschaften“ als sozialdemokratischen Gewerkschaften noch nicht unterschieden wurde. Ein begriffliches Abgrenzungsbedürfnis gegenüber gewerkschaftlichen Vereinen, die der Fortschrittspartei nahestanden, bestand noch nicht. III So wie sich seit dem Brüsseler IAA-Kongreß die deutschen IAA-Mitglieder zunehmend an der Gewerkschaftsbewegung beteiligten, so setzten sich August Bebel und Wilhelm Liebknecht jetzt verstärkt für die „Gewerksgenossenschaften“ ein. Die vor allem funktionale Bedeutung der Gewerkvereine für die Mobilisierung der bis17 Berichte über die Verhandlungen der Vereinstage, S. 169. 18 Ebd. S. 169 f. 19 Vgl. dazu Jürgen Kocka, Lohnarbeit und Klassenbildung, S 187.

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lang überwiegend noch politisch neutralen Arbeiterschaft geht aus den programmatischen Formulierungen deutlich hervor. Laut einem Versammlungsbericht vom März 1869 machte August Bebel klar, „was die Gewerksgenossenschaften bezweckten“; es könne „kein besseres Mittel“ geben, „alle Arbeiter in die sozial-politische Bewegung hineinzuziehen, um sie zu gemeinsamem Handeln zu bewegen“.20 Die Solidarität der Berufskollegen diente als Keimzelle für ein neues Gemeinschaftsbewusstsein der Arbeiterschaft. Die Eisenacher Richtung der Arbeiterbewegung stellte sich darauf ein, Arbeiterorganisationen zu akzeptieren, zu integrieren und schließlich selbst anzuregen, die nicht primär politisch orientiert waren, die aber einem dringlich empfundenen Solidarisierungsbedürfnis der Handwerker-Arbeiter genügten.21 Bebel, Liebknecht und ihre Mitkämpfer sahen darin aber vor allem Instrumente, um die längerfristigen – eigentlichen – revolutionären Absichten propagieren zu können. Die Bebel-Liebknecht’sche Partei befand sich damit durchaus in Übereinstimmung mit der Marx-Engels’schen Lehre, der zufolge die quasi naturwüchsigen Arbeiterassoziationen zur unmittelbaren ökonomischen und sozialen Selbsthilfe gegen die Kapitalisten einen notwendigen, wenn auch nur anfänglichen Schritt auf dem Weg zur internationalen Assoziation aller Produzenten darstellten. Im Kommunistischen Manifest hatten Marx und Engels 1848 vom „massenhaften Zusammenhalten der Arbeiter“ gesprochen, das derzeit allerdings noch nicht die Folge „ihrer eigenen Vereinigung“, sondern die „Folge der Vereinigung der Bourgeoisie“ sei; in der Industriewirtschaft und ihren Krisen begännen die Arbeiter „Koalitionen gegen die Bourgeoisie“ zu bilden: „dauernde Assoziationen, um sich für die gelegentlichen Empörungen zu verproviantieren“. Diese Assoziationen als Koalitionen für locker organisierte Lohnkämpfe gehörten der Phase des „Kampfes in Emeuten“ und der „nur vorübergehenden Siege“ der Arbeiter an, ehe der „Fortschritt der Industrie“, dessen willenloser Träger die Bourgeoisie sei, „an die Stelle der Isolierung der Arbeiter durch die Konkurrenz ihre revolutionäre Vereinigung durch die Assoziation“ setzte.22 Mit diesen Formulierungen hatten Marx und Engels die grundsätzliche Berechtigung gewerkschaftlicher Arbeitervereine zwar anerkannt, aber auch die Einschätzung anklingen lassen, dass es sich um Vereinigungen von bloß vorübergehender Berechtigung handele. Damit ist die hauptsächlich instrumentelle Funktion schon fixiert, die den Gewerkschaften im Denken der führenden Köpfe der sozialistischen Arbeiterbewegung zukam und die zu den Spannungen zwischen gewerkschaftlicher und politischer sozialistischer Arbeiterbewegung von Anfang an wesentlich beitrug. Das Bemühen, die entstehende Gewerkschaftsbewegung so weit wie möglich in die politische Arbeiterbewegung zu integrieren und so auch die Kontrolle über die gewerkschaftlichen Vereine zu gewinnen bzw. auszubauen, ließ den Parteifüh20 Zit. nach Engelhardt, „Nur vereinigt sind wir stark“, S. 764. 21 Dass die Gewerkschaftsbewegung in ihren Anfängen zunächst weniger als lange angenommen von der politischen Arbeiterbewegung angeregt und gesteuert wurde, hat vor allem Engelhardt, „Nur vereinigt sind wir stark“, deutlich machen können. 22 Karl Marx, Friedrich Engels – Manifest der kommunistischen Partei, in: Karl Marx, Friedrich Engels, Werke, hg. vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Bd. IV, S. 470, 473 f.

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rern die gezielte Zentralisation der Vereine ratsam erscheinen. Die Buchdrucker und Schriftsetzer sowie die Zigarrenarbeiter hatten 1865/66 bereits gesamtdeutsche Gewerkschaften ins Leben gerufen, wobei die Buchdrucker und Schriftsetzer ebenso wie zahlreiche lokale Gewerkschaften es vermieden, parteipolitische Bindungen einzugehen. Das Bestreben der Leitung der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SDAP) war es daher, so weit als möglich Kenntnis von Gewerkschaftsgründungen zu erhalten und dann den überlokalen und überregionalen Zusammenschluss der Berufsvereine zu erreichen. Dementsprechend forderte Bebel die „Verbands- und Parteigenossen“ auf, ihn von „jedem Schritt zur Gründung von Gewerksgenossenschaften in Kenntnis zu setzen, um den Berufsgenossenschaften in anderen Orten davon Kenntnis zu geben und eine engere Verbindung herbeiführen zu können.“23 Aus der Sicht der Begriffsgeschichte fällt auf, dass sich 1868/69 zunächst die Bezeichnung „Gewerks-Genossenschaft“ für die gewerkschaftlichen Vereine weithin durchgesetzt hatte, ohne dass damit andere Bezeichnungen wie „Gewerkverein“, „Assoziation“, „Gesellschaft“, „Korporation“ etc. bereits endgültig verdrängt gewesen wären. Die rasche Zunahme der Gewerkschaftsgründungen, gefördert auch durch die jetzt systematische Gründungspolitik der SDAP-Spitze, erlaubte es dem „Demokratischen Wochenblatt“, im Januar 1869 ausdrücklich von einer „Gewerks-Genossenschaftsbewegung“ zu sprechen, in die nun auch die „ländlichen Gesinnungsgenossen“ einbezogen werden sollten.24 Einen Hinweis darauf, warum der Begriff der Genossenschaft zunächst eine solche Rolle spielte, ehe er dann rasch aus der Gewerkschaftsbewegung verdrängt wurde, gibt eine beliebig herausgegriffene Formulierung der Luckenwalder Textilarbeiter. Diese teilten Anfang 1869 mit, dass sie mit dem Gedanken umgingen, die „alten Zunfteinrichtungen zu vernünftigen Gewerksgenossenschaften umzubilden“.25 Es war ihnen darum zu tun, eine neue, von der Zunft eindeutig unterschiedene organisatorische Struktur zu schaffen, ohne doch mit der korporativ-zünftischen Tradition ganz zu brechen. Für eine solche Übergangsposition boten sich der Genossenschaftsbegriff und die damit verbundenen Konnotationen förmlich an. „Genossenschaft“ war im späteren 18. und frühen 19. Jahrhundert gelegentlich äquivok mit „Zunft“ und „Innung“ gebraucht worden und signalisierte auch in den 1850er und 1860er Jahren noch eine deutliche Nähe zu ständisch-korporativen Gesellungsformen. Nicht zuletzt unter dem Einfluss von Hermann Schulze-Delitzsch, der allerdings selbst anfangs ohne klare begriffliche Unterscheidung noch gern von „Assoziationen“ sprach, hatte sich „Genossenschaft“ in den 1860er Jahren als Sammelbezeichnung für Selbsthilfevereine der kleinen Gewerbetreibenden gegenüber den entstehenden industriellen Großbetrieben durchgesetzt. Der Terminus artikulierte die Hoffnung auf eine relativ homogene Gesellschaft von Kleineigentümern, die sich durch verstärkte innergewerbliche Zusammenarbeit beim Einkauf, Verkauf und bei der Kreditbeschaffung vor dem Konkurrenzdruck der großen Industrie und 23 Demokratisches Wochenblatt, Nr. 1, 2. 1. 1869, „Vororts- und Arbeiterangelegenheiten“. 24 Demokratisches Wochenblatt, Nr. 4, 23. 1. 1869, S. 41. 25 Demokratisches Wochenblatt, Nr. 1, 2. 1. 1869, S. 33.

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der Gefahr des Absinkens in die ökonomische Unselbständigkeit zu schützen hofften. Seit dem „Genossenschafts-Gesetz“ des Norddeutschen Bundes vom 4. 7. 1868 verstand die bürgerliche Publizistik ebenso wie die Rechtssprache unter „Genossenschaften“ eindeutig kleingewerblich-mittelständische Selbsthilfeorganisationen, zu denen das Kassen- und Unterstützungsvereinswesen der Arbeiter nicht mehr gezählt wurde.26 Der komplizierte Kunstbegriff der „Gewerks-Genossenschaft“ lässt ahnen, gegen welche mentalen Widerstände sich das „Bewußtsein der Unentrinnbarkeit des proletarischen Schicksals“ durchzusetzen hatte, wie nahe hier das Selbstbehauptungsstreben der kleinen, um ihr Überleben kämpfenden Selbständigen und der endgültig in die Lohnabhängigkeit verwiesenen Arbeiter noch beieinander lagen. Diesem Befund entspricht auch die Anziehungskraft, die von der Idee der Produktivgenossenschaft in den 1850er und 1860er Jahren für zahlreiche HandwerkerArbeiter ausging und die dazu führte, dass ein „bestimmter, in der frühen Sozialdemokratie stark vertretener Arbeitertypus zwischen Vollhandwerker und LebenszeitLohnarbeiter“ – Gesellen, Kleinmeister, verlegte Handwerker und Heimarbeiter – zunächst mehr zur Produktivassoziation als zu reinen Gewerkschaften tendierte, gerade weil diese den Lohnarbeiterstatus ihrer Mitglieder letztlich als gegeben hinnahmen.27 Der begriffsgeschichtlichen Chronologie entspricht auch, dass sich die Gewerkschaften und Arbeiterparteien erst seit den frühen 1870er Jahren deutlicher von dieser Idee genossenschaftlicher Selbsthilfe zu distanzieren begannen. Die endgültige rechtliche Fixierung des Genossenschaftsbegriffs auf die mittelständischen Selbsthilfevereine im Preußischen Genossenschaftsgesetz vom 4. 7. 1868 musste den Gründern von gewerkschaftlichen Vereinen aber auch deutlich machen, dass sie aus diesem betont bürgerlich-antiindustriellen, aber auch antiproletarischen Vereinswesen endgültig ausgeschlossen waren. Ein dezidiertes kollektives „Unterschiedsbewußtsein gegen die nicht proletarischen Gesellschaftsschichten“28 wurde unumgänglich und musste sich auch in der Selbstbezeichnung der gewerkschaftlichen Arbeitervereine niederschlagen. Die Wortverbindungen von „Gewerke“ und „Genossenschaft“ verschwanden daher seit 1869 zunehmend aus der Sprache der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung und machten der „Gewerkschaft“ Platz. Der „Vorbote“ sprach schon im Juli 1869 nicht mehr von „Werks-Genossenschaften“, als er darauf hinwies, dass derzeit „Kongresse auf Kongresse zur Grün26 Vgl. Wolfgang Hardtwig, Verein, Gesellschaft, Geheimgesellschaft, Assoziation, Genossenschaft. Geschichtliche Grundbegriffe, in diesem Band, S. 175 ff; grundlegend für die Genossenschaftsbewegung ist das Buch von Hermann Schulze-Delitzsch, Die arbeitenden Klassen und das Associationswesen in Deutschland, Leipzig 1858; vgl. dazu auch Rita Aldenhoff, Das Selbsthilfemodell als liberale Antwort auf die soziale Frage im 19. Jahrhundert. Schulze-Delitzsch und die Genossenschaften, in: Karl Holl u.a. (Hg.), Sozialer Liberalismus, Göttingen 1986, S. 57–69. 27 Jürgen Kocka, Traditionsbindung und Klassenbildung. Zum sozialhistorischen Ort der frühen deutschen Arbeiterbewegung, München 1987, S. 24; für die 50er/60er Jahre rechnet man mit mindestens 300 Produktivgenossenschaften in Deutschland; vgl. dazu Christiane Eisenberg, Frühe Arbeiterbewegung und Genossenschaften, Bonn 1985. 28 Götz Briefs, Das gewerbliche Proletariat, in: Grundriß der Sozialökonomik, Bd. IX/1: Die gesellschaftliche Schichtung im Kapitalismus, Tübingen 1926, S. 178.

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dung internationaler Gewerkschaften“ folgten.29 Im August 1869 machte es der Eisenacher Kongreß, nachdem er den Internationalismus ausdrücklich zum Programm erhoben hatte, „allen Mitgliedern zur Pflicht, Gewerkschaften auf internationaler Grundlage zu schaffen“.30 Damit wurde der kämpferische Charakter von Gewerkschaftsvereinen betont und jetzt auch in den Zusammenhang des MarxEngels’schen Revolutionsprogrammes gestellt. IV Wo von „Gewerkschaften“ die Rede ist, da fehlt fast nie der Hinweis auf den Streikzweck. Er wurde zum wichtigsten Unterscheidungsmerkmal der sozialdemokratischen Gewerkschaften von den sonstigen Arbeiterorganisationen, den liberalen Gewerkvereinen und den in den 1860er und 1870er Jahren entstehenden gewerkschaftsähnlichen katholischen Arbeiterorganisationen im Rheinland, im Ruhrgebiet und in Schlesien, den „Christlich-Sozialen Arbeitervereinen“. Fast immer fällt zusammen mit dem Stichwort „Gewerkschaft“ das Stichwort „Streik“. Tatsächlich besteht natürlich zwischen der Streikorganisation und der Bildung von Berufsvereinen ein ursächlicher Zusammenhang. Für die Mitglieder der Gewerkschaftsbewegung verband sich die Zielsetzung und Programmatik ihrer Vereine mit der Bereitschaft, für die eigenen Ziele mit dem Kampfmittel des Streiks einzutreten. Die Streikhäufigkeit erreichte Ende der 1860er, Anfang der 1870er Jahre einen neuen Höhepunkt. 1869 wurden 152 Streiks gezählt, im Rekordjahr 1872 352.31 Die Bezeichnung „Gewerkschaft“ haftete zunehmend an solchen Vereinen, die die Konfliktaustragung mit den Unternehmern durch Streikorganisation ausdrücklich vorsahen. Für die „Wiener Arbeiterzeitung“ z.B. war die Gründung von „Gewerkschaftsvereinen durch ganz Deutschland“ nicht nur der Beweis dafür, dass die deutschen Arbeiter jetzt „mit aller Kraft in die allgemeine internationale Arbeiterbewegung“ eingetreten seien, sondern vor allem auch dafür, dass sie „nun in geschlossenen Kolonnen auf den Kampfplatz rücken“ wollten, denn „ohne Arbeitseinstellungen“ sei der „Kampf der Sozial-Demokratie gegen die Bourgeoisie auf die Dauer nicht zu führen“.32 Auch für lassalleanische Arbeiter war 1868, vor der Einberufung des Gründungskongresses für einen Zentralverband der dem Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein (ADAV) nahestehenden Gewerkschaften, die Verknüpfung von „Gewerkschaft“ und Streikzweck konstitutiv. Die „Volkszeitung“ kündigte die Einberufung des Kongresses mit dem Satz an: „Die Versammlung (vom 12. 9. 1868 in Berlin, W. H.) billigt die Einberufung des Arbeiterkongresses zur Gründung von Gewerk29 Der Vorbote 1869, Nr. 6, S. 93. 30 Protokoll über die Verhandlungen des Allgemeinen deutschen sozial-demokratischen Arbeiterkongresses zu Eisenach am 7., 8., u. 9. August 1869, stenographisch mitgeschrieben von H. Roller in Berlin, Leipzig 1869, S. 925. 31 Tenfelde/Volkmann (Hg.), Streik, Tabelle S. 294. 32 Leitartikel „Zum deutschen Arbeitercongress in Berlin“, in: Social-Demokrat, Nr. 111, 23. 9. 1868.

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schaften und zur Organisation der Arbeitseinstellungen über ganz Deutschland“.33 In dieser Kombination mit dem Streikzweck setzte sich der Terminus nun innerhalb weniger Jahre durch. Sein Bedeutungsfeld gravitierte dabei zu einer grundsätzlichen Oppositionshaltung der gewerkschaftlich organisierten Arbeiter gegen die bürgerlich-kapitalistische Welt. „Gewerkschaft“ bezeichnete zumindest in der Rhetorik der parteipolitisch gebundenen Gewerkschaftsführer und Funktionäre zunehmend Vereine, die sich eine außer- und antibürgerliche Ideologie aneigneten. Zu dieser klaren semantischen Sezession zur Sprach- und Vorstellungswelt des am Herkommen haftenden Handwerks trug sicherlich auch bei, dass die politische Sprache des bürgerlichen Fortschritts die „Gewerkschaft“ ihrerseits sehr rasch mit dem „Streik“ identifizierte und den Streik dabei zugleich als Bruch mit den unverzichtbaren Konsensgrundlagen der gesellschaftlichen Ordnung ablehnte. Bereits 1858 hatte Hermann Schulze-Delitzsch hinsichtlich der englischen Trade-Unions von „Arbeitergewerkschaften“ als den „ersten Assoziationen“ der Industriearbeiter gesprochen, die allerdings nach Form und Zweck noch ziemlich roh seien. Ihr erstes und einziges Ziel bestehe darin, „Gegendruck gegen die Übermacht der Arbeitgeber“ auszuüben, vor allem durch laufende Beiträge in eine gemeinsame Kasse „die Mittel zusammenzubringen, um längere Zeit auch ohne Beschäftigung und Lohn zu bestehen“. Hier bahnte sich im zeitlichen Vorgriff am englischen Beispiel diejenige bürgerliche Sprachregelung an, die „Gewerkschaft“ auf die Bedeutung einer Arbeitskampf-Organisation einengte und festlegte.34 Ganz ähnlich – in Bezug auf das englische Beispiel und der damit verbundenen negativen Bewertung – bezeichnete Ludwig Bamberger 1873 die „Gewerkschaften“ im Wesentlichen als Streikorganisationsvereine und ordnete sie der Sozialdemokratie zu: Er differenzierte zwischen den „englischen Trade-Unions“, welchen die „deutschen Gewerkvereine“ entsprächen, und Verbindungen, die ausdrücklich „bloß zum Zweck des Streikens“ dienen sollten – „Trade Societies“. Analog dazu unterschied er auch für Deutschland „Gewerkvereine“ und „Gewerkschaften“ oder „Arbeiterschaften“ von „rein socialdemokratischer Natur“.35 33 Berliner Volks-Zeitung, 1868, Nr. 216, über die Berliner Arbeiterversammlung vom 12. 9. 1868. 34 Schulze-Delitzsch, Die arbeitenden Classen und das Associationswesen, bes. S. 66 f.; diese Fixierung überzeichnet die Konflikt- bzw. Kampfbereitschaft der Vereine, hebt aber diejenige Eigenschaft als bestimmend heraus, die ihren Gegner am bedrohlichsten erschienen; vgl. dazu Tenfelde/Volkmann, Streik, S. 20 f.: Im Gegensatz zur zeitgenössischen Ansicht seien die Gewerkschaften nicht „Streikvereine“, sondern vielmehr „Streikvermeidungsvereine“ gewesen. 35 Ludwig Bamberger, Die Arbeiterfrage unter dem Gesichtspunkt des Vereinsrechts, Stuttgart 1873, S. 92, 93; vgl. Dieter Dowe, Das Rheinland und Württemberg im Vergleich, in: Jürgen Kocka (Hg.), Europäische Arbeiterbewegungen im 19. Jahrhundert. Deutschland, Österreich, England und Frankreich im Vergleich, Göttingen 1983, S. 86 f.; zur Frage der Modernisierung des Arbeitskampfes bis zur Streikwelle von 1871/73 auch Klaus Tenfelde, Konflikt und Organisation in der Frühgeschichte der deutschen Gewerkschaftsbewegung, in: Wolfgang J. Mommsen/Hans-Gerhard Husung (Hg.), Auf dem Wege zur Massengewerkschaft. Die Entwicklung der Gewerkschaften in Deutschland und Großbritannien 1880–1914, Stuttgart 1984, S. 256– 276; zur maßgeblichen Rolle der Belegschaften bei der Streikauslösung vgl. Friedhelm Boll, Arbeitskampf und Region. Arbeitskämpfe, Tarifverträge und Streikwellen im regionalen Ver-

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Mit seiner Gleichsetzung von „Gewerkschaft“ und „Arbeiterschaft“ fasste Ludwig Bamberger den mentalitäts-, organisations- und ideengeschichtlichen Entwicklungsprozess zusammen, der sich im begriffsgeschichtlichen Übergang von den relativ unspezifischen Termini „Assoziation“, „Gesellschaft“, „Verein“, „Korporation“ zu „Gewerks-Genossenschaft“ und schließlich „Gewerkschaft“ niederschlägt. Zugleich verweist diese Äquivokation und die Tatsache, dass sie sich in der Sprache der Arbeiterbewegung, in der Rechtssprache und in der Sprache der bürgerlichen Sozialreformer nicht durchsetzte, auf die enge Beziehung, in der Handwerkergeschichte und Arbeiterbewegungsgeschichte in diesen Jahren noch standen. Die Kontinuität von Handwerkstradition und gewerkschaftlicher Arbeiterbewegung ist hier besonders deutlich zu fassen. Nicht der Begriff der „Arbeiterschaft“, der die Gemeinsamkeit von Arbeitserfahrung, Klassenlage und überberuflicher Solidarität emphatisch betonte, stand am Ende der vereinheitlichenden und normierenden Begriffsentwicklung, sondern eben der der „Gewerkschaft“ – ein Terminus, der die alteuropäisch-berufsständische Loyalitätsbindung und den zünftisch-handwerklichen Berufsstolz der Arbeiter-Handwerker immer noch deutlich, wenn auch gebrochen, anklingen ließ.36 Dieser Übergang vom Erbe handwerklich-korporativer Organisationsweise zur modernen Interessenwahrung von Lohnarbeitern vollzog sich nur zögernd. Die überlieferten Fixierungen auf das Einzelgewerbe, auf das meist zünftig reglementierte Brauchtum, den exklusiven Berufsstolz und die Neigung, sich gegenüber anderen Gewerben betont abzugrenzen, wurden zum Gegenstand ausdrücklicher Erörterung und bewusster sprachpolitischer Distanzierung gemacht. Dieser Prozess lässt sich besonders deutlich an den Diskussionen innerhalb des lassalleanischen Zweigs der Gewerkschaftsbewegung nachvollziehen. Ende September 1868 trafen sich in Berlin 206 Delegierte als Vertreter von – so hieß es offiziell – 142.003 Arbeitern aus 56 „Gewerbszweigen“, um einen Zentralverband von überwiegend dem ADAV nahestehenden Arbeitern ins Leben zu rufen. Es handelte sich um den bis dahin größten Kongress in der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung.37 Die Berliner Veranstaltung war zudem der erste intergewerbliche Kongress mit dem ausdrücklichen Ziel, systematisch die Gründung von Gewerkschaften anzuregen. Dass hier der Wunsch, die neuen Interessenorganisationen auch sprachlich von der obsolet gewordenen Zunftverfassung abzusetzen, besonders stark war, liegt auf der Hand. Dabei geriet der Gewerkschaftsbegriff unter Beschuss, gerade wegen seiner Nähe zum alten „Gewerk“ bzw. zu „Zunft“ und „Innung“. Die Delegierten fühlten sich in ihrer überwiegenden Mehrheit durch den gleich 1871–1914, in: Gerhard A. Ritter (Hg.), Der Aufstieg der deutschen Arbeiterbewegung, München 1990, S. 386 f. 36 Zur Kontinuität und Diskontinuität von Handwerkstradition und Arbeiterbewegung zusammenfassend: Kocka, Traditionsbindung, besonders S. 25 ff.; vgl. dort auch die weitere, inzwischen sehr reichhaltige Literatur; vgl. Rudolf Boch, Zunfttradition und frühe Gewerkschaftsbewegung, in: Ulrich Wengenroth (Hg.), Prekäre Selbständigkeit, Stuttgart 1989, S. 37–69; zur Dominanz der herkömmlichen Arbeitertypen, besonders der Gesellen-Arbeiter (Engelhardt) und der abhängigen Kleinmeister gegenüber den eigentlichen Fabrikarbeitern in der frühen Arbeiterbewegung vgl. Kocka, Arbeitsverhältnisse, S. 568 ff. u.ö. 37 Dazu und zur Katalysator-Funktion des Kongresses für die weitere Entwicklung der Arbeiterbewegung vgl. Engelhardt, „Nur vereinigt sind wir stark“, S. 599 ff.

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Begriff „Gewerkschaft“ an die Exklusivität der hoch- und spätmittelalterlichen Zünfte erinnert.38 In einer bewussten sprachpolitischen Entscheidung votierten sie daher anstelle von „Gewerkschaft“ für „Arbeiterschaft“. Auch der vielfach vorgetragene Hinweis auf den Vorbildcharakter der englischen Trade-Unions, die mit „Gewerkschaften“ übersetzt wurden, überzeugte die Mehrzahl der Delegierten nicht.39 Es wurde daher argumentiert, unter dem Begriff „Gewerkschaften“ seien die „freien Arbeiter […] nicht mit einbegriffen“; man verstehe unter diesem Wort „nichts anderes als Handwerker usw.“.40 In dem Bewusstsein, dass es „auf den Namen […] bei vielen Arbeitern sehr ankomme“,41 entschied man sich unter den vorgeschlagenen Bezeichnungen auch nicht für „Genossenschaft“ oder „Arbeitergenossenschaft“, sondern im Interesse eines „möglichst allgemeinen Namens“ für „Arbeiterschaft“, weil damit „Handwerkern, Kaufleuten und Arbeitsleuten“ der Beitritt ermöglicht werde. Damit machte der Kongress den Versuch, jenseits der noch korporativ-beruflich geprägten Loyalitäten die Einheitlichkeit einer gemeinsamen Klassenlage und Klassenerfahrung zu postulieren. Tatsächlich nannten sich die dem ADAV nahestehenden Gewerkschaften von jetzt an ausdrücklich „Arbeiterschaften“. In der Konkurrenz mit den „Gewerks-Genossenschaften“ bzw. „Gewerkschaften“, die der SDAP nahestanden, konnten sie sich jedoch nicht behaupten. Schon vor dem Gothaer Einigungsparteitag lösten sie sich entweder auf, gingen an Mitgliederschwund ein oder schlossen sich den expandierenden Eisenacher Gewerkschaften an.42 Der Grund dafür liegt nicht zuletzt in dem klassenparteilichen Konzept des ADAV und in dem zentralistischen Dirigismus, den bereits Lassalle seiner Parteigründung aufgezwungen hatte und den Johann Baptist von Schweitzer noch einmal verschärfte. In der realen Arbeitswelt um 1870 mit ihrem noch vorrangig handwerklich-kleinbetrieblich-heimgewerblichen Charakter entsprach die Konzeption der „Arbeiterschaften“ mit ihrem sehr weit gefassten überbetrieblichen Zuschnitt und der geplanten strikten Zentralisation sehr viel weniger der tatsächlichen Arbeitssituation, Erfahrungswelt und Bedürfnislage der Handwerker-Arbeiter als die sich an die handwerklich-zünftische Berufstradition anschließenden „Gewerks-Genossenschaften“, denen die Parteiführung der SDAP zudem einen vergleichsweise großen eigenen Bewegungsspielraum zugestand. Das forciert klassenpolitisch konzipierte Gründungsunternehmen des Berliner Kongresses ist daher nach einigen Anfangserfolgen gescheitert. Die Interessen der Handwerker-Arbeiter ließen sich nicht so umstandslos den Zielen einer zentralistisch gesteuerten politischen Partei unterordnen wie Schweitzer und Carl Wilhelm Toelcke das beabsichtigt hatten. Nachdem bis zum Mai 1871 die Zahl der dem ADAV nahestehenden Gewerkschafter dramatisch gesunken war, machte die Führung des am 1. 7. 1870 gegründeten „Allgemeinen Deutschen Arbeiter-Unterstützungsverbandes“ noch einen Rettungsversuch, indem sie auf das Modell berufsspezifischer Organisation zurückgriff. Sie bot den „Arbeitern ein und desselben 38 39 40 41 42

Social-Demokrat, Nr. 115, 2. 10. 1868. Ebd. Ebd. Ebd.; vgl. auch Engelhardt, „Nur vereinigt sind wir stark“, S. 633. Vgl. dazu Engelhardt, „Nur vereinigt sind wir stark“, S. 820–865, 1036–1070.

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Gewerks“ an, sich zusammenzuschließen. Den Sieg der Eisenacher „Gewerkschaften“ konnte sie damit aber nicht mehr abwenden.43 V In den späten 1860er Jahren, der Phase der endgültigen Trennung von Liberal- und Sozialdemokratie, entstanden schließlich neben den „Gewerkschaften“, die sich der Bebel-Liebknecht’schen Richtung anschlossen, und den lassalleanischen „Arbeiterschaften“ auch die „Gewerkvereine“. Noch während des Berliner Gewerkschaftskongresses vom September 1868 findet sich bis zur sprachpolitischen Entscheidung für die „Arbeiterschaften“ keine prägnante Differenz zwischen sozialdemokratischer „Gewerkschaft“ und sozialliberalem „Gewerkverein“. Unter der Leitung von Max Hirsch nahmen noch zwölf sozialliberale Deputierte am Berliner Kongress teil, die dort allerdings in der Minderheit blieben. Nachdem sie aus dem Kongress ausgeschieden waren, sprachen sie in einer Protestresolution davon, nun ihrerseits in „praktischer wahrhaft demokratischer Weise die große Sache der Gewerkschaften“ in die Hand nehmen zu wollen.44 Umgekehrt wurden die dem ADAV nahe stehenden Gewerkschaften als „sozialistisch verbitterte und cäsaristisch organisierte und zentralisierte Gewerksvereine“ bezeichnet.45 Gleichwohl ist nicht zu übersehen, dass sich in der definitiven Auseinandersetzung zwischen der lassalleanischen bzw. der Bebel-Liebknecht’schen Richtung der Arbeiterbewegung einerseits und den Sozialliberalen um Max Hirsch und Franz Duncker andererseits auch die Zuordnung bestimmter Inhalte zu abgrenzenden und identitätsverbürgenden Begriffen abzeichnet. Dabei wird deutlich, dass hinter den gewerkschaftlichen Aktivitäten des linken Flügels der Fortschrittspartei wesentlich die Sorge stand, dass ein rasch wachsender Teil der Arbeiter-Handwerkerschaft aus dem Rekrutierungsfeld der Fortschrittspartei ausscheiden würde. Max Hirsch begründete seine plötzliche Agitation ganz situationsgebunden mit dem Aufschwung der Sozialdemokratie gegenüber den liberal-demokratischen Kräften in der Gewerkschaftsbewegung. Er wolle die „Gewerkvereine“ vor der „Diktatur“ Schweitzers bewahren, umgekehrt aber selbst die „deutschen Arbeiter nach ihren Berufs-Hauptzweigen einheitlich organisieren“; dadurch werde auf dem „sozialen“ und auf dem „politischen Gebiete ein ungeheurer Fortschritt“ ermöglicht, die „Belebung und Kraftentwicklung der Massen“.46 Hirsch trug damit der Tatsache Rechnung, dass sich bei allem Fortbestand berufsspezifischer Arbeits- und Lohnverhältnisse, Gewohnheiten, Denk- und Empfindungsweisen die Lebensbedingungen der unselbständig Beschäftigten unter dem Druck der Industrialisierungsprozesse einander annäherten und dass damit auch

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Ebd. S. 1046 ff., bes. S. 1058. Volkszeitung, Nr. 227, 27. 9. 1868. Zit. nach Engelhardt, „Nur vereinigt sind wir stark“, S. 588. Brief an A. Lange, 4. 1. 1868, in: Friedrich Albert Lange, Über Politik und Philosophie. Briefe und Leitartikel 1862–1875, hg. u. bearb. v. G. Eckert, Duisburg 1968, S. 110.

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eine gemeinsame politische Orientierung der immer größer werdenden Gruppe der Lohnarbeiterschaft abzusehen war. In diesem Kampf um die politische Orientierung der Arbeiterschaft am Ende der Durchbruchsphase der Industriellen Revolution in Deutschland ergab sich im Übrigen eine Konstellation, die mit der gegenseitigen Abgrenzung der politischen Strömungen in der Frühphase der Industriellen Revolution, Mitte der 1840er Jahre, durchaus vergleichbar ist. Ganz ähnlich wie Max Hirsch 1868 hatte Gustav Mevissen, der engagierteste Sozialliberale unter den frühliberalen rheinischen Industriellen, 1845 in den „Massen“ nicht eo ipso etwas Furchterregendes und Feindliches gesehen. Er hatte sie vielmehr für durchaus bildungsfähig und in die wirtschaftsbürgerlich-liberale, auf den industriellen Fortschritt setzende Perspektive der Gesellschaftsentwicklung integrierbar gehalten. Sein Projekt eines „Allgemeinen Hilfs- und Bildungsvereines“ ging aus von der „Idee der Gleichheit“ als Grundlage für die anzustrebende politisch-soziale Ordnung.47 Sie könne verwirklicht werden, indem die Massen durch Bildung ein „klares Bewußtsein“ ihrer Ziele entwickeln und zur selbständigen Mitwirkung an der Reform bewegt werden.48 So wie Max Hirschs Hoffnung auf die politische Integration der Arbeiterschaft in die liberale Programmatik im Gesamtspektrum des Liberalismus eine Minderheitenposition blieb, so war Mevissens Projekt von patriarchalisch orientierten, wenngleich für die soziale Konfliktsituation sensibilisierten frühliberalen Unternehmern wie Ludolf Camphausen eindeutig abgelehnt worden.49 Semantisch lässt sich diese Trennlinie im Liberalismus der 1840er wie der folgenden Jahrzehnte bis über die Reichsgründung hinaus an der Positiv- oder Negativbewertung des Begriffs „Massen“ ablesen.50 So pragmatisch und parteipolitisch-“egoistisch“ die Vorgehens- und Argumentationsweise Hirschs auch war, sie unterschied sich in der Instrumentalisierung der unmittelbaren Solidarisierungs- und Gesellungsinteressen der Arbeiter nicht substantiell von der der sozialdemokratisch-sozialistischen Parteiführer. Wie die lassalleanischen „Arbeiterschaften“ und die zu Bebel und Liebknecht tendierenden „Gewerkschaften“ bzw. „Gewerksgenossenschaften“, zogen die zu gründenden liberalen Gewerkvereine die Aufmerksamkeit weniger wegen ihrer originären sozialen und ökonomischen Forderungen auf sich, als wegen ihrer politischen Nutzbarkeit. 1873 beschrieb Ludwig Bamberger den ganzen Vorgang; er legte dabei besonderen Wert auf den Namen „Gewerkverein“, der jetzt offenbar bereits eine unverwechselbare Unterscheidung von liberalen Gewerkvereinen und sozialdemokratischen Gewerkschaften nahelegte. In das Verhalten der Fortschrittspolitiker gegenüber den 47 Über den „Allgemeinen Hülfs- u. Bildungsverein“, 15. 3. 1845, abgedruckt in: Joseph Hansen, Gustav Mevissen – Ein rheinisches Lebensbild 1815–1899, 2 Bde., Berlin 1906, S. 129–137, hier S. 131. 48 Ebd., S. 132. 49 Vgl. ebd., S. 680. 50 Vgl. dazu auch Wolfgang Hardtwig, Von Preußens Aufgabe in Deutschland zu Deutschlands Aufgabe in der Welt. Liberalismus und borussianisches Geschichtsbild zwischen Revolution und Imperialismus, in: ders., Geschichtskultur und Wissenschaft, München 1990, S. 103–160, hier S. 145.

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Arbeitern sei selbstverständlich eine „stillschweigende Berechnung auf Gegenseitigkeit“ eingeflossen. „Politiker“ und „Arbeiter“ wollten jeweils – natürlicher- und erlaubtermaßen – beieinander „Bundesgenossen“ finden. Auf der Suche nach Einrichtungen, die „zu politischen Anfängen dienen konnten, sei man, wie beinahe immer, auf das englische Vorbild verfallen und habe den Plan entworfen, die eben erst unter dem Namen Trade-Unions vielbesprochenen Arbeiterverbindungen Großbritanniens in einem Versuch auf deutsche, berliner Erde zu übersetzen“. Dieser Einrichtung habe man den „sehr gelungenen Namen Gewerkverein“ gegeben.51 Umgekehrt hatte bereits kurz nach der Formierung der drei Gewerkschaftsrichtungen im Herbst 1868 der „Sozial-Demokrat“ die „Gewerkvereine der Fortschrittspartei“ von den „Sonder-Gewerkschaften der Bebel-Liebknecht-Richtung“ unterschieden.52 Die Gewerkvereine blieben den bürgerlich-fortschrittlichen Zielen und einer historisch-politischen Entwicklungserwartung verpflichtet, die auf Arbeitskampfmaßnahmen verzichten sollte und damit auf die volle soziale und politische Integration der Arbeiterschaft in die bürgerliche Gesellschaft abzielte. So war der 1866 gegründete „Verein der Berliner Maschinenbauer“, aus dem 1868 der erste Gewerkverein hervorging, bewusst als branchenspezifische Ergänzung des liberalen Bildungsprogramms konzipiert. Bei der Agitation für die Gründung des Berliner Gewerkvereins schob Hirsch in ostentativer Frontstellung besonders gegen die Lassalleaner die Selbsthilfe in den Vordergrund. Auf seinen Antrag hin machte sich die Versammlung von Maschinenbauarbeitern die Meinung zu eigen, dass die „Gewerksvereine nach englischem Muster“ die „neue Anwendung der Selbsthilfe“ seien.53 Im Einklang damit betonte Schulze-Delitzsch die direkte Kontinuität liberal geprägter Arbeitervereinigungen: Die deutsche Arbeitervereinsbewegung habe, anders als in England, mit der Gründung von „Bildungsvereinen“ ihren Anfang genommen, habe sich dann auf die „wirtschaftlichen und Erwerbsgenossenschaften“ ausgedehnt und sei schließlich zu den „Gewerkvereinen“ gelangt.54 Die liberal-demokratische Orientierung der Gewerkvereine war sozial in einer Mitgliedschaft (wie den Berliner Maschinenbauarbeitern) verankert, die in die Gründungssituation von 1868/69 noch handwerklichen Stolz und quasi-zünftisches Berufsethos hineintrug und mit einer relativ hohen Entlohnung ökonomisch privilegiert war. Nur so ist auch zu erklären, dass in der Fortschrittspublizistik die Gewerkvereine als direkte Fortsetzung zünftischer Einrichtungen dargestellt werden konnten. So meinte A. Held in seinem Überblick über die deutsche Arbeiterpresse, man könne die noch spärlichen deutschen Gewerkvereine „Arbeitergilden der Gegenwart“ nennen. Sie seien aus dem Organisationsbedürfnis der industriellen Stände hervorgegangen. Die neue Organisation des Arbeitsstandes folge unmittelbar auf die „alte Organisation des Handwerks“. Held fand in den Gewerkvereinen Gesellungen, die der Vereinzelung in der liberal-kapitalistischen Gesellschaft ent51 52 53 54

Bamberger, Die Arbeiterfrage, S. 75. Social-Demokrat, Nr. 11, 24. 1. 1869. Zit. nach Engelhardt, „Nur vereinigt sind wir stark“, S. 580. Hermann Schultze-Delitzsch, Schriften und Reden, hg. Von F. Thorwart, 5 Bde., Berlin 1909– 1913, Bd. II, S. 365 f.

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gegenwirken könnten, ohne deren Eigentumsordnung zu bekämpfen. Hier klingen die Untertöne einer korporativen Theorie an, die allerdings mit der Systemkonformität nicht recht zusammenpassen. Daher wird auf einen Naturtrieb zur Gemeinschaftsbildung rekurriert – eine Argumentation, die es erlaubt, die konkrete Motivation der Interessenorganisation in der sozioökonomischen Lage und damit die historischen Ursachen des Mentalitäts- und Bewusstseinswandels zu vernachlässigen. Das „natürliche Bedürfnis“ zur Vereinsbildung bei denjenigen, die „gleiche Interessen“ haben, könne durch „keine Theorie von Auflösung der Gesellschaft in selbständige Individuen auch nur momentan vollständig unterdrückt“ werden.55 Rückt hier der Gewerkverein geradezu in ein sozialkonservatives Licht, so dominiert in der Agitation doch das spezifisch liberale Argument, die Gewerkvereine seien Teil des geschichtlichen Fortschritts zur individuellen Selbstbestimmung. Auf diese Weise lässt sich der „bürgerliche“ Zweig der Arbeiterbewegung in das liberale Geschichtsbild einfügen: Die „Gewerkvereine“ haben die „gesamte Culturentwicklung der Menschheit“ im Rücken. Wer sie gründlich und auf Dauer beseitigen wolle, müsse die „Coalitionsfreiheit, die Gewerbefreiheit und Freizügigkeit, den Constitutionalismus, die Pressefreiheit“, die „Aufhebung der Hörigkeit, die allgemeine Wehr- und Schulpflicht, die Reformation“ und schließlich das ganze „Christentum […] aus der Weltgeschichte streichen“. Dieser Rekurs auf die Errungenschaften der Geschichte individueller Freiheitsrechte enthüllt allerdings auch die Defizienz dieser Ideenwelt, welche die Gewerkvereine trotz ihres partiellen Erfolges hemmte: die mangelnde Einsicht, dass sich das individuelle Freiheitspostulat in der Klassenkonflikt-Situation der hochindustriellen Gesellschaft in kollektives organisiertes und konfliktorientiertes Handeln umsetzen müsse. Die Überzeugung: „alle rechtmäßigen Interessen sind harmonisch“, aus welcher sich die Hoffnung herleitete, dass die „Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereine […] eines der wesentlichsten Förderungsmittel des socialen Friedens […]“ sein könnten, verurteilte die liberalen Gewerkschaften zunehmend zu einer Nebenrolle innerhalb der Gewerkschaftsbewegung.56 Der Ideenhorizont, der sich mit dem spezifisch liberalen Vereinsbegriff verbunden hatte, bot in den klassenpolitisch zugespitzten Auseinandersetzungen der Hochindustrialisierungsphase nur mehr sehr begrenzte praktische Wirkungsmöglichkeiten.

55 Adolf Held, Die deutsche Arbeiterpresse der Gegenwart, Leipzig 1873, S. 110. 56 Carl Walcker, Die Arbeiterfrage mit besonderer Berücksichtigung der Deutschen Gewerkvereine (Hirsch-Duncker), Eisenach 1881.

VERZEICHNIS DER ERSTEN DRUCKORTE 1. Stark erweiterte Fassung von: Korporation und Sozietät, in: Stephan Wendehorst u. Siegried Westphal (Hg.), Lesebuch „Altes Reich“ (Oldenbourg-Verlag), München 2006, S. 154–160. 2. Zuerst unter dem Titel: Sozialverhalten und Mentalitätswandel der jugendlichen Bildungsschicht im Übergang zur bürgerlichen Gesellschaft (17.–19. Jahrhundert), in: Vierteljahrsschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 73 (1986), S. 305–335. 3. Zuerst unter dem Titel: Auf dem Weg zum Bildungsbürgertum. Die Lebensführungsart der jugendlichen Bildungsschicht 1750 bis 1819, in: Mario Rainer Lepsius (Hg.): Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert, Teil III: Lebensführung und ständische Vergesellschaftung, Stuttgart 1992, S. 19–41. 4. Eliteanspruch und Geheimnis in den Geheimgesellschaften des 18. Jahrhunderts, in: Helmut Reinalter (Hg.): Aufklärung und Geheimgesellschaften, München 1989, S. 63–86. 5. Die Lebensbilanz eines verhinderten Umstürzlers: Adolph Freiherr von Knigges Werk „Über den Umgang mit Menschen“, zuerst in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 300, 24. 12. 1988, Beilage Bilder und Zeiten, S. 4. 6. Zuerst unter dem Titel: Protestformen und Organisationsstrukturen der deutschen Burschenschaft 1815–1833, in: Helmut Reinalter (Hg.): Demokratische und soziale Bewegungen zur Zeit der Restauration und im Vormärz in Mitteleuropa, Frankfurt am Main 1986, S. 37–76. 7. Art. „Verein, Geheimgesellschaft, Assoziation, Genossenschaft, Gewerkschaft“, in: Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 6, Stuttgart 1990, S. 789–829. 8. Strukturmerkmale und Entwicklungstendenzen des Vereinswesens in Deutschland 1789-1848, in: Otto Dann (Hg.): Vereinswesen und bürgerliche Gesellschaft in Deutschland (HZ, Beiheft 9), München 1984, S. 11–53. 9. ‚Arbeiterschaft‘ – ‚Genossenschaft‘ – ‚Gewerksverein‘ oder ‚Gewerkschaft‘. Zur Begriffsgeschichte der deutschen Gewerkschaftsbewegung 1862–1877, in: Jürgen Kocka / Hans-Jürgen Puhle / Klaus Tenfelde (Hg.): Von der Arbeiterbewegung zum modernen Sozialstaat. Festschrift für G.A. Ritter, München 1994, S. 9–24.