Dichter und Staat: Über Geist und Macht in Deutschland 9783110885613, 9783110132076


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German Pages 101 [112] Year 1991

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Keine Konföderation zwischen Tätern und Denkern?
Der Dichter und der Staat
»Die Gesetze des Geistigen und des Politischen sind doch sehr verschieden«
Geist und Macht
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Dichter und Staat: Über Geist und Macht in Deutschland
 9783110885613, 9783110132076

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Walter Jens / Wolfgang Graf Vitzthum DICHTER U N D STAAT

DICHTER UND STAAT Über Geist und Macht in Deutschland Eine Disputation zwischen Walter Jens und Wolfgang Graf Vitzthum

W DE G Walter deGruyter Berlin · New York 1991

Die beiden Studien sind überarbeitete, mit Nachweisen versehene Vorträge, die im Rahmen des Tübinger Studium Generale von Wolfgang Graf Vitzthum am 2 Juli und von Walter Jens am 9. Juli 1990 gehalten wurden.

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme DICHTER U N D STAAT: über Geist und Macht in Deutschland ; Disputation zwischen Walter Jens und Wolfgang Graf Vitzthum. Berlin ; New York : de Gruyter, 1991 ISBN 3-11-013207-9 NE: Jens, Walter; Vitzthum, Wolfgang Graf © Copyright 1991 by Walter de Gruyter & Co., D-1000 Berlin 30 Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Schrift: Gill Sans und Plantin Satz: Gleißberg & Wittstock, Berlin Druck: Arthur Collignon GmbH, Berlin Buchbinderische Verarbeitung: Lüderitz & Bauer GmbH, Berlin

Werner von Simson zugeeignet

INHALT WALTER J ENS Keine Konföderation zwischen Tätern und Denkern? 1

WOLFGANG GRAF VITZTHUM Der Dichter und der Staat 5 WOLFGANG GRAF VITZTHUM »Die Gesetze des Geistigen und des Politischen sind doch sehr verschieden« 51

WALTERJENS Geist und Macht 61

KEINE KONFÖDERATION ZWISCHEN TÄTERN UND DENKERN?

WALTER JENS

enn die Hörner des Stiers sich senken,hat der spanische Philosoph Ortega y Gasset gesagt, tut der Torero gut daran, einen Augenblick lang in den bergenden Schatten der Barriere zurückzutauchen. - Und so halten's denn auch die Autoren. Wo alle Welt von den Intellektuellen und der Macht im Zeitalter der Großen Wende spricht - sei's positiv, sei's negativ: Hüben Havel und Dinescu, drüben die Schriftsteller der DDR - suchen wir, fern aller erregten Aktualisierung, die Probleme >Der Schriftsteller und der Staats >Macht und Geist in Deutschland< historisch distanziert zu betrachten: darauf vertrauend, daß Hörer und Leser die Verbindungslinie zwischen dem von uns absichernd demonstrierten Gestern und dem zu Tage liegenden Heute markieren werden.

W

Geist und Macht, Literatur und Politik als GegenElemente: Dieser sehr deutschen Antinomie nachzudenken ist das Ziel von Überlegungen, die zunächst Wolfgang Graf Vitzthum und dann Walter Jens anstellen werden. 1

Walter Jens

Hüben das fritzische Potsdam und drüben Goethes Weimar: hier das Parlament, in dessen Bannkreis mit den Menschen als Subjekten »draußen im Land«, wie es so schön heißt (höchst undemokratisch und autoritär: so, als lebten die Politiker im Schloß und die Bürger kampierten im Garten) und dort die Dichterstube, in der Politiker eher als ein wenig geistesschlichte Macher erscheinen. »Pinscher«: sagen die einen und die anderen rufen: »Man bittet ergebenst, sich bei Verlautbarungen aus Bonn doch der Sprache Goethes und nicht eines Pidgin-German zu bedienen.« Ist, wollen wir fragen, die Antithese wirklich unrelativierbar? Brauchen die Politiker die Dichter: die Vorträumer und Erinnerungskünstler, so gar nicht? - jene also, deren Ziel es ist, res fictae, erfundene Tatbestände, so konkret, plastisch und visionär darzustellen, daß sie, vorgriffsartig zumindest, aber eben dadurch auch realitätsbestimmend, als res factae erscheinen? Und, auf der anderen Seite: Benötigen die Poeten nicht auch jenen umfassenden Disput mit den Politikern, die ihren großen Träumen unter den Himmeln die kleine, aber dominante Welt des Hierund Heute gegenüberstellen? Gibt es, dies vor allem, keine Verbindungen in angelsächsischer und romanischer Weise zwischen der politischen und der kulturellen Intelligenz, den Meistern der rostra und den Meistern im Kämmerlein? Hat denn die parlamentarische Tradition in unserem Land, die - von heute aus gesehen gewiß zurecht - als langweilig und verstaubt gilt, nicht in Wahrheit von den Verlautbarungen Robert Blums in der Paulskirche über Windthorst und Bebel im Kaiserreich bis 2

Keine Konföderation zwischen Tätern und Denkern?

hin zu Carlo Schmid Sternstunden gehabt, die auch literarisch hohem Anspruch genügen - und außerdem erheiternd, witzig und amüsant sind? (»Herr Kollege Schäfer, machen Sie bitte keine Zwischenrufe«, sagte einst Carlo Schmid, »sonst antworte ich Ihnen.«) Doch leider hat solche fruchtbare Unität, wie sie, im Gegensatz zu manchem seiner Antezedenten zwischen Lübke und Carstens, der Bundespräsident unseres Landes derzeit aufs schönste praktiziert, in der deutschen Geschichte bestenfalls Ausnahme-Charakter: Kein Dichter von Goethes, Hölderlins und Heines Rang hat dem Deutschen Reich Pate gestanden; kein Poet, mit Moralität und Verantwortlichkeit, je in einem deutschen Parlament, nach 1918 und auch nach 1945 nicht, eine >Rede an die Nation< gehalten: Grass im Bundestag? Peter Weiß vor der Volkskammer? - Undenkbar, der Gedanke. Aber warum? Darüber wird zu reden sein; Graf Vitzthum und ich haben die Frage zu erörtern, der eine eher vom Staatswesen, der andere mehr von der Poesie ausgehend, ob jene berühmten an Eckermann gerichteten Sätze Goethes tatsächlich stimmen, jetzt und in Zukunft, die da lauten: »Sowie ein Dichter politisch wirken will, muß er sich einer Partei hingeben; und sowie er dieses tut, ist er als Poet verloren; er muß seinem freien Geist [...] Lebewohl sagen und dagegen die Kappe der Borniertheit [...] über die Ohren ziehen.« Und kein Kompromiß? Keine Konföderationen zwischen Tätern und Denkern? Wir werden sehen. Graf Vitzthum hat das Wort.

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DER DICHTER UND DER STAAT Zum Aufeinander-Angewiesensein von Politik und Literatur in Deutschland

W o l f g a n g Graf Vitzthum

A

ls im Mai 1924 das Königreich Italien die Siebenhundertjahrfeier der Universität Neapel beging, einer Stiftung des Hohenstaufen Friedrich II., lag an des Kaisers Sarkophag im Dom zu Palermo ein Kranz mit der Inschrift: SEINEN KAISERN U N D HELDEN DAS GEHEIME DEUTSCHLAND«.

Diesen Vorfall wertete Ernst Kantorowicz, der Biograph Friedrichs II., als Zeichen, daß »eine Teilnahme für die großen deutschen Herrschergestalten sich zu regen beginne gerade in unkaiserlicher Zeit.«1 Den Kranz hatten Mitglieder des Kreises um den Dichter Stefan George niedergelegt: neben Kantorowicz selbst der Historiker Wolters, der Altphilologe Blumenthal sowie die Brüder Alexander und Berthold von Staufenberg 2 . Neun Jahre später erlag die »unkaiserliche« Weimarer Republik dem Ansturm ihrer inneren Feinde, darunter ihrer literarischen Gegner von links wie rechts. Hatte 5

Wolfgang Graf Vitzthum

George, hatte sein Gedichtband »Das Neue Reich« aus dem Jahre 1928 das Heraufkommen des »Dritten Reiches« gefördert? Wie paßte dies aber gegebenenfalls zusammen mit Claus von Stauffenbergs nicht zuletzt aus dem Geiste dieses Dichters geborenen Attentat am 20. Juli 1944 auf den »Widerchrist?«3 Und was besagt das alles für unser Thema »Geist versus Macht« in seiner besonderen deutschen Problematik, mit den Aporien dieses Jahrhunderts? Das »Geheime Deutschland« ist eine erste Antwort. Die Formel tauchte bereits im wilhelminischen Reich auf 4 . Im Jahre 1910 schrieb Karl Wolfskehl, einer der ältesten, unverbrüchlichsten Weggefährten Georges: »Denn was heute unter dem wüsten Oberflächenschorf noch halb im Traume sich zu regen beginnt, das geheime Deutschland, das einzig lebendige in dieser Zeit, das ist hier, nur hier zu Wort gekommen.« Mit »hier« meinte der deutsch-jüdische Schriftsteller die Zeitschrift »Blätter für die Kunst«, das literarische Hauptorgan des George-Kreises. Ebenfalls noch vor dem Ersten Weltkrieg entstand Stefan Georges Gedicht »Geheimes Deutschland« - ein hermetischer, magischer Text. Seine Schlußzeilen lauten: »Nur was im schützenden schlaf Wo noch kein taster es spürt Lang in tiefinnerstem Schacht Weihlicher erde noch ruht Wunder undeutbar für heut Geschick wird des kommenden tages.«

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Der Dichter und der Staat

Der Dichter verheißt hier den Freunden, den »Stützen« seines »Staates«, neue Lebensmöglichkeiten, Rettung »vom Geiste her«5. Das »Geheime Deutschland« ist demnach die poetische Vision eines »Neuen Reiches«. Es verkörpert eine »andere, eine innerliche Einheit« 6 . In diesem »Staat«7 einer »Staats«-Gründung innerhalb des realen Staates und an ihm vorbei - ist unter Führung des Dichters »grosses wiederum gross«, »Herr wiederum herr· zucht wiederum zucht«8. Diese Aussagen über das »Geheime«, das »Geistige«, das »Andere Deutschland« 9 sind allesamt, wie der Historiker Eckhart Grünewald jüngst hervorhob, »seltsam unkonkret«; ein »Reich« ä la George »ist nicht vorstellbar«10. Das Bild von einer auf Geist gegründeten, geist-bestimmten Herrschaft ist ganz zeit- und wirklichkeitsentrückt - und zugleich ganz deutsch. Wie ließe sich auch »Geist« - ein Schlüsselwort von Herder über Nietzsche und die Brüder Mann bis hin zum »Geist der Nationen«, zum »Zeitgeist«, zum »Geist des Grundgesetzes« - etwa ins Englische übersetzen: mit spirit, mit mind, gar mit ghost? Von Ausnahmen abgesehen: In Deutschland lassen sich Dichter weniger intensiv auf die staatliche Wirklichkeit ein als anderswo. Nirgendwo sonst ist die Kluft zwischen »Geist« und »Macht« so tief, die Antinomie von Literatur und Politik so scharf. Nicht das unvermeidlich glanzlose »Ach und Krach« der Einrichtungen und Verfahren des Staates ist schriftstellerische Agende bei uns11, sondern sein Gegenbild, das stets glanzvollere »Ganz Andere«12, die Poetik der Fremde, der Staatsferne13. Das ist ein Leitmotiv unseres

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Wolfgang Graf Vitzthum

Themas polis und poiesis. Chiffre dieses Sich-Nicht-Einlassens auf die politische Wirklichkeit, dieses Entstehens und Position-Beziehens von Dichtung gleichsam außerhalb des Staats ist das »Geheime Deutschland«. Diesen Staat in der Projektion der Dichter verdeutlicht ein Epigramm Friedrich Hebbels 14 . Unter dem Titel »Der verborgene Kaiser« lesen wir: »Ihre Könige kennen die Völker der Erde: sie rollen Stolz in Carrossen daher, Trommeln und Fahnen voran; Aber sie haben zugleich auch einen verborgenen Kaiser, Welcher am Brunnen vielleicht selber das Wasser sich schöpft, Und, sei dieser ein Künstler, ein Denker oder ein Weiser, Eh das Jahrhundert vergeht, trägt er die Krone allein.«

Auch Hebbels künftiger »Kaiser«, »ein Künstler, ein Denker oder ein Weiser«, läßt sich auf das Vorhandene nicht ein - so wenig wie das später der George-Kreis bezüglich der angeblich »ungeistigen« ersten deutschen Republik 15 tat; so wenig wie sich viel später viele Publizisten wirklich der angeblich ebenfalls »ungeistigen« Zweiten deutschen Republik annahmen 16 . Hier wie dort die Ersatzfunktion poetischer Utopien: eine »kaiserliche«, eine von einem einzigen mythischen oder ideologischen Punkt her definierte, idyllisch-innerliche, spiritualisierte Welt scheint auf; es ist eine schöne, universalistische, überzeitliche Gegenwelt zu der materialistischen, nationalistisch-engen, zeitverhafteten Welt der »Carossen«, der »Trommeln und Fahnen«. Angesichts imaginierter Einheit und Erneuerung trifft der Bannstrahl die real existierende (bzw. die so perzipierte) Erstarrung und Zerrissen-

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Der Dichter und der Staat

heit, einerlei ob diese nach- oder vorkaiserliche Wirklichkeit (bzw. ihr grell beleuchteter Ausschnitt) wilhelminisch, austromarxistisch, faschistisch oder demokratisch ist. Im Verzicht auf vertiefte empirische Befundnahme in Staatsdingen; im Fremd-Bleiben, Gegenüber-Stehen, im »NichtAnkoppeln« an die politische Realität; im Entwurf krasser Gegen-Bilder zur jeweiligen Gegenwart; in der Vision einer »Rettung durch Geist-Herrschaft« liegt, nicht erst im 20. Jahrhundert, eine Grundkonstante des Verhältnisses von Dichter und Staat in Deutschland. Diese Relation untersuchte ich nachfolgend in drei Schritten. Ich beginne mit dem Begriff und Problemfeld »Dichter«. Danach wende ich mich dem »Staat« und den staats- und verfassungsbezogenen Aussagen von Dichtern zu. Es folgt eine Erörterung des wechselseitigen »Sich-Brauchens« von Staat und Dichter. Meine Schlußbemerkung gilt der besonderen Rolle der Dichtung in einem zu Europa hin offenen, gesamtdeutschen Verfassungsstaat. Die Dichter, werden wir sehen, sind von großem Wert für den Staat; sie müssen daher sorgen, daß man auf sie hört. Das Umgekehrte gilt genauso. Der Dichter braucht den Staat: den Staat als Bedingung der Möglichkeit von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Staat und Dichter sind aufeinander angewiesen. Es geht nachfolgend deshalb vornehmlich um das gegenseitige Erkennen und Anerkennen von »Geist« und »Macht«, von Politik und Literatur. Mein erster Abschnitt soll, bezogen auf den Themenkreis »Dichter«, terminologische Klarheit bringen. Anzuschneiden sind dabei insbesondere Fragen der Definition und 9

Wolfgang Graf Vitzthum

der Rezeption sowie Aspekte der Elitenkonkurrenz und der Professionalisierung. »Dichter« meint, pragmatisch weit gefaßt, den Autor oder die Autorin - von sprachlich intensiv gestalteten Texten unterschiedlicher Arten und Genera: den Lyriker (den pohte oder poet also als den Verfertiger von Versen), den Dramatiker und den Romancier, aber auch den Stückeschreiber sowie den Liedermacher. Angesichts der hohen Bedeutung, die der Gattung des Essays nun auch in der deutschen modernen Literatur zukommt, ist jeweils das nicht-fiktionale Werk eingeschlossen. Die für unser Thema wichtigsten Autoren sind zugleich Romanschriftsteller und Essayisten: Thomas und Heinrich M a n n etwa, Broch, Musil, Döblin, Dürrenmatt und Frisch; häufig haben sie, wie die zwei Letztgenannten, zugleich für die Bühne geschrieben. Brecht war in erster Linie Stückeschreiber, Kafka Erzähler. Schriftstellernde Politiker und politisierende Schriftsteller wie Gustav Landauer oder Dieter Lattmann sind - seltene - Grenzfälle. Bei Kerr und Kraus, bei Golo M a n n und Adolf Muschg steht »das Dichterische« eher im Hintergrund; unsere Perspektive erfaßt sie deshalb nur am Rande. Durch »assoziative Kombinatorik« von Worten und Bildern weckt der Dichter, wie Günter Kunert sagt17, Vorstellungen und Empfindungen, die anders nicht mobilisierbar oder kreierbar wären. Das ist, für unseren Themenausschnitt, das Genuine der Dichtung. Auf das Form-Inhalt-Problem (und die besondere Wirkung der vom Inhalt ablösbaren Form) kommt es nachfolgend ebensowenig an wie auf den Umstand, daß die Poeten (wie die übrigen Künstler) in der

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Der Dichter und der Staat

Moderne mit Erfolg den Anspruch auf Autonomie ihrer Domäne, auf Unabhängigkeit von religiöser Fundierung und politischer Funktionalisierung erhoben haben. Auch dem »Geistigen« und »Dichterischen« als einer Qualität des Seins, des »Blicks«, der Gesinnung (konträr zum dominierenden Nützlichkeitsdenken, zum Würgegriff antihumaner Mechanismen, zur technokratischen Entzauberung der Welt) gehen wir nicht nach. Das, was die Dichter als Dichter zum Staat sagen, wird der Prüfung unterzogen. Nicht das Eigengewicht des Ästhetischen, nicht das formale Wie das materiale Was ist unser Thema. Auf den in Deutschland zeitweilig konstruierten Unterschied zwischen Dichter einerseits und Literat bzw. Schriftsteller andererseits lassen wir uns nicht ein, aus drei Gründen. - Erstens besitzen sie alle eine berufsspezifische Gemeinsamkeit: ihr Medium ist die (schöpferische) Sprache, das wirklichkeitsschaffende Wort. »Kein ding sei wo das wort gebricht«, dichtete die Neuromantik18. - Zweitens werden die Übergänge (wenn die Unterscheidung je legitim war) immer fließender. Im »Stande der verlorenen Unschuld und des deprimierenden Aufgeklärtseins« (Kunert) leugnet niemand die Gattungsgemeinschaft aller »Wortarbeiter«; auch die einst hohe Mauer zwischen poisie pure und literature engagee ist gefallen. - Drittens besitzt die Staatsrechtslehre in Sachen »Dichter-Staat« und »Staats-Dichter« keine spezifische Kompetenz; kein Kommentar deshalb zum aktuellen litera11

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turwissenschaftlichen Ansatz, der keine »Dichter« und »Schriftsteller« mehr kennt, sondern nur noch »Texter«19. Gleichwohl: Die formalen Gemeinsamkeiten können offenkundige Unterschiede im Gewicht, in der dichterischen Intensität, nicht verdecken. Der sich am Bonner Staat, so wie er ihn wahrnimmt, »kritisch arbeitende« Rolf Hochhuth etwa mag ein Polemiker und in seiner Kritik an der katholischen Kirche für breite Kreise interessant sein - ein Essayist ist er nicht. Die Staatsauffassungen eines Hermann Broch20 oder eines Ernst Jünger21 sind allemal spannender, ausgearbeiteter. Literatur- und deutschlandpolitische Gemeinsamkeiten besitzen etwa Grass und Walser nicht22. Der »Zauberer« hieß Thomas, nicht Heinrich Mann 23 . All das steht weitgehend außer Streit. Der Konsens der »Priester und Laien« kanonisiert24. Demnach interessieren uns Benn und Boll ebenso wie Brecht und Döblin, Hofmannsthal und George nicht weniger als Grass und Kafka, als Uwe Johnson, Anna Seghers, Martin Walser und Christa Wolf 25 - Alphabet und Zeitrahmen (20. Jahrhundert) diskriminieren. Allesamt sind sie - und andere - Dichter. Ihre - und der anderen - Bilder vom Staat sind wert, nachgezeichnet, interpretiert und, soweit möglich, entstehungsund einflußgeschichtlich analysiert zu werden. Ich beginne mit der für unser Thema zentralen Frage nach der Geschichte des Wirkens von Dichtung und nach der Indienstnahme des »Geistes«. Schon die Antike kannte und nutzte die Verführbarkeit der Dichter. Sie sprach zugleich von der Verantwortung der Poeten für die Rezeption ihrer Werke. Nicht erst die totalitä12

Der Dichter und der Staat

ren Staaten der Moderne haben uns gelehrt: Dichtung ist verfugbar, ist prinzipiell disponibel26. Dabei lassen sich Gedichte, einleitend wies ich bereits daraufhin, propagandistisch wohl am leichtesten instrumentalisieren. Das »neue reich«, 1894 erstmals von Wolfskehl evoziert, wurde 1933, »zeitgemäß aktualisiert«, zum Kristallisationspunkt eines »geistigen Faschismus«. Zu Unrecht, wie wir wissen. Stefan George war kein Prophet des Dritten Reiches. Für die willkürliche Auslegung, für den Mißbrauch seines Werkes haftet der Dichter nicht. Regimefreundliche Aufrufe unterzeichneten im Jahr der »Machtergreifung« Max Schmeling und Gerhart Hauptmann, nicht George, nicht Kahler oder Wolfskehl. In die Preußische Akademie der Künste, aus deren Sektion für Dichtkunst Heinrich Mann mit Hilfe Gottfried Benns gerade vertrieben worden war, ließ sich George nicht hineinziehen. Seinen Ablehnungsbrief übermittelte er dem Kultusminister im Mai 1933 durch Ernst Morwitz, einen Juden27. Paradigma staatlicher Vereinnahmung ist Heinrich Mann28. Frühzeitiger, hellsichtiger Empörer gegen Untertanengesinnung und Nationalismus, als Emigrant in Frankreich und Amerika dann Kämpfer gegen den Totalitarismus, in welchem Gewände auch immer er ihn antraf, akzeptierte ausgerechnet dieser humanistische Internationalist im Jahre 1949 den »Nationalpreis« der DDR. Zum ersten Präsidenten der neuentstehenden »Deutschen Akademie der Künste zu Berlin« (Ost) berufen - vor dem Amtsantritt bewahrte ihn die Gnade des frühen Todes - , »vollzog sich« 1961, wie es im damaligen SED-»Erbe«-Gestammel hieß, »der historische Vorgang der Rückkehr Heinrich Manns in seine sozialisti-

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sehe Heimat. In der ersten Reihe des Trauerzuges, der seine Urne zum Dorotheenstädter Friedhof überführte, schritt Walter Ulbricht«. Heinrich Mann, seit 1932 als leidenschaftlicher Anwalt des »Übernationalen« hervorgetreten, drei Jahrzehnte später instrumentalisiert als - wie DDR-Kulturpolitiker formulierten - »Vorkämpfer unseres sozialistischen deutschen Nationalstaates«! Daß Heinrich Mann im Exil dem Vorstand des Weltkomitees gegen Krieg und Faschismus beitrat, daß er mit Gide und Malraux den ersten Kongreß (Juni 1935 in Paris) dieser Schriftstellervereinigung vorbereitete, an dem dann ζ. B. auch Brecht und Musil teilnahmen; daß er in seiner Kongreßrede die großen Traditionen der bürgerlichen Aufklärung beschwor - das alles, einschließlich all der weiteren eindeutigen Reden und Essays bewahrte ihn später so wenig vor Vereinnahmung durch SBZ und DDR wie Stefan George, drei Jahrzehnte zuvor, durch sein öffentliches Schweigen eine »Vernutzung« durch den Hiüer-Faschismus hatte vermeiden können. Hier wie dort wurden Dichter - Dichterreden und Dichterschweigen staatlicherseits gezielt zur Selbstdarstellung und Anmeldung neuer (oder zur Verteidigung alter) Ansprüche eingesetzt ein aktueller Aspekt des Verhältnisses von Politik und Literatur in Deutschland29. Der Staat braucht den Dichter, gewiß. Der Dichter kann den Mythos bringen, auf den es ankommt, das »Programm« entwerfen, auf dem vieles beruht. Der Dichter kann durch kritisch-fundamentales In-Frage-stellen ein Überdenken, Emanzipieren und Neubegründen einleiten30, das nicht weniger Gemeinsamkeit stiftet als das Wahrnehmen jener 14

Der Dichter und der Staat

mythopoietischen Funktion31. Aber die Linie zum Mißbrauch ist hier wie dort - bei der gründenden und bestätigenden wie bei der kritischen und aufklärerischen Rolle schnell überschritten32. Dazu tragen Dichter nicht selten selbst bei. Stefan George etwa ließ sich im Frühjahr 1933 die »Ahnherrschaft der neuen nationalen (nicht: nationalsozialistischen) Bewegung« zuordnen, Heinrich Mann in der Nachkriegszeit (schlecht informiert im fernen Exil) etwa Alexander Abuschs »sozialistischer Nation« DDR33. Welch ein Beispiel politischer Klarsicht und politischen Gewissens aus sozialistisch-humanistischer Gesinnung bietet demgegenüber Alfred Döblin,mit dem großen Roman »November 1918« als der Summe. Der Begriff Elitenkonkurrenz, dem wir uns nun zuwenden, bezeichnet einen weiteren - wichtigen - Aspekt des Dichter-Themas. Die öffentliche Wirkung von Dichtern, ihr Freiheits- und Führungsanspruch gegenüber Staat und Gesellschaft, konkurriert mit der Brillanz und Resonanz anderer Intellektueller. So schreibt Max Weber34: »Es gab eine Zeit, wo man lateinische Reden und griechische Verse zu dem Zwecke machen lernte,... politischer Denkschriftenverfasser eines Fürsten zu werden. Das war die Zeit der ersten Blüte der Humanistenschulen ...: bei uns eine schnell vorübergehende Epoche, die immerhin auf unser Schulwesen nachhaltig eingewirkt hat, politisch freilich keine tieferen Folgen hatte. Anders in Ostasien. Der chinesische Mandarin... war ursprünglich annähernd das, was der Humanist unserer Renaissancezeit war: ein

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humanistisch an den Sprachdenkmälern der fernen Vergangenheit geschulter und geprüfter Literat.«

Maßgeblich wurde bei uns, im Okzident, demgegenüber die Schicht der Juristen, unter Mitwirkung übrigens des eingangs erwähnten Staufers Friedrich II. Mit den Rechtsund Staatswissenschaftlern kam der mittlerweile weltweite Siegeszug des rationalen,bürokratischen Staates. Herrschaft wurde formal, nicht mehr material legitimiert. Dem Gefühl der Zusammengehörigkeit, auf das der Staat angewiesen ist, war dies nicht förderlich. Das rationale Gebäude, das Soziologie, Staatslehre und politische Wissenschaften an die Stelle vornehmlich mythisch-poetischer Vorstellungen setzen, muß seinerseits zum Mythos werden, zumindest zu einer allgemein akzeptierten haltgebenden Konvention, wenn es den Wechsel der Sachlagen und Ansichten überleben soll, die ihm einst verstandesmäßige Geltung verschafften35. Es geht im Staat auf Dauer nicht ohne den Halt eines unbezweifelten Grundgefüges; dieses »Unbezweifelte« (Werner von Simson) ist Grundbedingung des Überlebens der Freiheit in politischem Raum. Hier zeigt sich eine wichtige Rolle (nicht: »Aufgabe«) des Dichters. Er kann Gefühle und Einsichten poetisch oder sprichwortkräftig »haltgebend«, gemeinsamkeitsstiftend ausdrücken. Jenes Mehr der dichterischen Sprache, das über die Vermittlung und Analyse von Sachverhalten, über das Aufstellen von Regeln und das Statuieren von Meinungen hinausgeht, wirkt auch bezüglich und innerhalb der res publica. Platt-affirmative Staatsdichtung hat im Verfassungs-

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Der Dichter und der Staat

Staat keinen Ort. Der Wert der Dichter für den freiheitlichen demokratischen Staat besteht vornehmlich darin, die Lügen aufzudecken, auf die jeder angewiesen ist, der die Welt - oder sein Land - im Namen einer absoluten Wahrheit regieren will. Im »Staat im Recht« gibt es keine unbeweisbare Wahrheit außer der, daß es eine solche nicht gibt. Unhaltbar sind daher alle religiösen oder säkularen Staatsmythen, die Glauben an eine absolute Wahrheit verlangen. Ein erneuter Hinweis auf die Antike mag diesen Rezeptions- und Macht-Aspekt verdeuüichen. Glanz und Grenze jener staatserhaltender Mythen behandelte, beinahe 2500 Jahre vor Max Weber, Piaton - als Philosoph ein Konkurrent der Dichter, so wie später die Juristen Konkurrenten der Philosophen wurden. Ausgangspunkt der Dichterkritik Piatons war der hohe Rang der Dichtung bei den Griechen: der Dichter als Lehrer und Therapeut des Volkes, als Vater der Weisheit, als Seher und Ratgeber; der Vers, die Tragödie, das Epos als Instrument staatsbürgerlicher Erziehung, als Waffe im politischen Kampf; Homer als Patriot36. Galt des Dichters Wort den Griechen sohin als Norm, war der Philosoph (wie auch der Historiker) zur Normenkontrolle befugt (Werner Jaeger): Elitenkonkurrenz in der Antike. In Rom hielten ein Vergil und Horaz ohnehin auf Distanz zur Macht: Viktor Pöschl referiert ihr und unser Unbehagen gegenüber der »Identifikation des Dichters mit dem Staat«. »Götdiche« Diener der Musen; privilegierte Parmer der Macht; Abhängigkeit von staatlicher »Lizenz« und persönlicher Patronage: Bedingtheit aller Dichtung im Staat - nie 17

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schienen mir die antiken Topoi zu poiesis und polis aktueller als im »Stasi«-Staat der 70er und 80er Jahre. Kumpanei zwischen (ehrgeizigen) Dichtern und (ehrgeizigen) Fürsten schadet der Wahrheit und damit Dichtern wie Staat. Das »Bleibende aber«, meint im Ergebnis Piaton, auch im Hinblick auf seine eigenen, ontologisch fundierten Staatsentwürfe, »stiften die« - Philosophen; Hölderlin sagt das gleiche von den Dichtern. Für beide gilt: mächtig geworden solche Teilnahme korrumpiert - geht es affirmativen StaatsPhilosophen wie bornierten Staats-Dichtern, den »Schönheitschirurgen der Macht« (Mircea Dinescu), damals wie heute an die Macht. »Machüose« Dichter sind mächtiger. Von diesen Fragen zu trennen ist der Aspekt der Professionalisierung. Dichter, Philosophen, Juristen, Historiker, Nationalökonomen - sie alle bewegen sich, wenn sie vom Staat sprechen, auf einem fachlich »besetzten«, bereits terminologisch verminten Terrain. Dem müssen sie sich gewachsen zeigen; sonst hören die »Profis« weg, und »Amateure« sitzen Mißverständnissen auf. Gewiß, der Dichter, der staatsbezogene »Interdisziplinarität« wagt, muß nicht Mitglied im mitteleuropäischen Kardinalskollegium sein: was soll er in der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer (ihr gehören auch österreichische und helvetische Öffentlichrechtler an). Aber ohne ein gewisses Bild von den Paradigmen und Begriffen der Staatswissenschaften i.w. S. kommt der sich in politicis äußernde Dichter nicht weit. Dazu ein Beispiel. Der Dichter Hermann Broch - im Exil in Princeton dann ein Freund von Albert Einstein, Erich von Kahler, Ernst

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Der Dichter und der Staat

Rantorowicz und Thomas Mann - wandte sich Ende der zwanziger Jahre staatstheoretischen Fragen zu: mittelbar in seiner 1932 abgeschlossenen avantgardistischen Trilogie »Die Schlafwandler«, unmittelbar in fragmentarisch gebliebenen Essays. In ihnen verwarf er den Parlamentarismus als hoffnungslos überholte, weil weder wahrheitsfördernde noch wehrhafte »Maschinerie« (eine übrigens neuromantische Metapher). »Überlebte Einrichtungen«, hieß es dann 1945 in Brochs »Tod des Vergil« - einem der großen Texte zum Thema Dichter und Staat, Politik und Kunst - , »verkehren Wirklichkeit zu Scheinwirklichkeit, Freiheit zu Scheinfreiheit, und dies ist der beste Boden für alles Verbrechertum.« Brochs Gegenkonzept: eine »totalitäre Demokratie«, begrifflich -wie der Österreicher leichthin erläuterte - »auf dem Prinzip aufgebaut«: »Zwiebel ist gut, Schokolade ist gut, wie gut muß erst beides zusammen sein«. Brochs Antiparlamentarismus und sein - ausschließlich terminologischer - »Totalitarismus« gingen (auch) auf Carl Schmitt zurück, den damals geistreichsten, bis heute umstrittensten deutschen Staatsrechtslehrer. Des Linksliberalen Broch Suche nach »Werteinheit« endete in der Sackgasse der weitverbreiteten »rechtstotalitären« Liberalismuskritik Schmitts; vom »totalen Staat« sprachen damals ohnehin viele, etwa auch Forsthoff und Jünger. »Überlebt« ist der Parlamentarismus indes nur für den, der, wie Schmitt (bewußt oder unbewußt), von falschen - primär diskursutopischen - Prämissen ausgeht. »Überholt« erscheint das parlamentarische System auch denen, die, wie der insoweit resonanzlose Broch, über dem Engagement zugunsten einer 19

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neuen »Totalität« den Blick verlieren für Wesen und Wert parlamentarischer Verfahren: diese zielen auf Kompromiß, nicht auf »Werteinheit«37. Wer eine pointiert »antiparlamentarische Demokratie« propagiert, ruft die irrationalen, antimodernen »Brandstifter« ins demokratische Haus. Damit sind wir bereits beim zweiten Abschnitt unserer Skizze, dem Begriff des Staates und dem spezifischen Staatsproblem deutscher Dichter. Um welchen Staat geht es ? Die nächsüiegende Antwort, das evidente Thema sind in Deutschland seit jeher problematisch: der real existierende Staat. Unsere Dichter haben - wir sahen das bereits - häufig Schwierigkeiten mit dem Ansehen, »Aufheben« und gegebenenfalls Annehmen der staatlichen Wirklichkeit, egal welche Tönung sie aufweist. Vielen Schriftstellern geht es nicht um Staatsexistenz oder -substanz, sondern um Staatsersatz oder doch zumindest um »Europa«, ja den »Weltstaat« (Jünger, Broch). Imaginäre, »menschheidiche« Gebilde trösten über die Niederungen der realen nationalen Lage hinweg. Das hat, Josef Isensee wies darauf hin38, Tradition. Im Jahre 1808 - das Reich war bereits untergegangen beherrschten die Franzosen die terra firma, den Kontinent. Britannia ruled the waves. Da proklamierte der vom GeorgeKreis später vielgeliebte Jean Paul bitter-ironisch die Deutschen zu Herren der Lüfte. Seine elementare Metapher verortete das Reich der Deutschen - ein gleichsam körperloses Gebilde - in Ätherhöhen weltbürgerlicher Bildung, in visionärer Innerlichkeit ohne Bodenhaftung. Auf Ernst Moritz Arndts Frage »Was ist des Deutschen Vaterland?« lautete die häufigste Antwort: nicht der greifbare, der ver20

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wurzelte (wenn auch politisch wenig bedeutsame) deutsche Einzelstaat, nicht Pommernland, nicht Schwabenland, sondern das damals nur noch als Idee existierende ganze Deutschland; das »Reich« - zwar nicht mehr als Träger einer universalen Mission, wohl aber als Vehikel der kulturnationalen Idee - als Identifikationsobjekt der Deutschen. Außerhalb des realpolitischen Gefüges entstanden, blieb Dichtung neben dem Staat oder in Opposition zu ihm. Als das Reich unter Bismarck dann - kleindeutsch zwar, aber mit Thron, Altar und »Gott mit uns« - geeint war, wollte sich allenfalls ein philiströser Diederich Heßling, »Der Untertan«, im Erreichten einrichten und saturieren39. Heinrich Mann selbst, Stefan George, die Naturalisten, Sozialisten, viele Bildungsbürger, die organisierte Arbeiterschaft - sie alle hatten ganz andere, und jeweils meist ganz unterschiedliche, untereinander weitgehend inkompatible Bilder von Deutschland vor Augen. Von der literarischen Opposition mit »geistigen« Gewichten gewogen, wurde das Wilhelminische Reich als zu leicht befunden. Die Kluft zwischen Potsdam und Sanssouci erschien unüberbrückbar, eine Verbindung von Dichter und Staat undenkbar. »Verpestung des gesamten nationalen Lebens mit Politik« oder: »Sachlichkeit, Ordnung und Anstand« - so formulierte der junge Thomas Mann die Scheinalternative40. In seinen »Betrachtungen eines Unpolitischen« verfaßte er, als Letzter, das ästhetische Kursbuch dieses deutschen Sonderweges: den Gegensatz zwischen staatlich-politischer und poetisch-spiritueller Führerschaft41; das hohe Lied, wie Kahler42 später in der Katastrophe analysierte, der »Ent21

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Politisierung«: »Verständnislosigkeit für die Realitäten des politischen Lebens auf seiten des Bürgertums und der Intelligenz«. Oszillieren zwischen provinzieller Basis der Politik einerseits und »kompensierendem« Zugreifen auf universale Überbauten andererseits; geistiger Mondialismus versus realer Regionalismus; Globalisierung versus Entglobalisierung, Kant statt Hegel, Grass gegen Walser, Habermas versus Bubner - die Frontstellung in Deutschland hat sich nicht geändert. Die borussische Monarchie wurde schließlich durch die Weimarer Republik abgelöst. Verfassungspolitisch schloß Deutschland zur parlamentarischen Demokratie des Westens auf. Unter enormem äußeren Druck und innerem Rechtfertigungszwang stehend, ohne stützende Traditionen, Loyalitäten und Symbole brauchte der Staat die Dichter nun dringender denn je. Es fehlte am Gefühl der Zusammengehörigkeit, an einem Bewußtsein durchgehender Identität, an Entlastung durch haltgebende Konventionen. Viele Dichter nahmen die Erste deutsche Republik gleichwohl nicht an. Die Einberufung der Nationalversammlung in die Stadt Goethes und Schillers führte zu keiner legitimitätsvermehrenden, integrierenden Landnahme der Republik im »Geistigen«. Eine »Erdung« des »Reichs der Lüfte« gelang nicht. Die wahren oder angemaßten Beherrscher der deutschen Sprache gefielen sich vorwiegend darin, nahezu alles, was den Staat als ehrbar und achtenswert hätte ausweisen können, lächerlich zu machen. Kurt Tucholsky43, Karl Kraus, Alfred Kerr - die Intellektuellen der damaligen Zeit (die sich gren22

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zenlos haßten und befehdeten) konnten sich nicht genug tun, alles Vergangene der deutschen Geschichte herabzusetzen; mit Recht sicherlich in manchem, aber zum Schaden dessen, was nun einmal die Menschen, die diesem Vergangenen unsägliche Opfer gebracht hatten (Kriegshinterbliebene, Invaliden, Zeichner nun wertlos gewordener vaterländischer Anleihen, Arbeitslose), an den Staat in seinem und in ihrem Unglück band 44 . Jene Parodisten und Polemiker bewunderten nichts außer ihrem eigenen Witz. Im Kampf um rationalen Bewußtseinswandel und gesellschaftliche Veränderungen sah die linke Publizistik - sträflich blind gegenüber traditionellen Werten und seelischen Realitäten - nicht, daß der Staatsmythos, sei er nun überlebt oder nicht, doch wenigstens einem völlig hemmungslosen, fanatischen Wahnsinnsmythos im Wege stand. Wenn ein Volk an nichts mehr glaubt, ist es - das ist der wohl richtige Kern von Hermann Brochs pessimistischer »Massenwahntheorie«45 - offen für jede Verführung, die ein Besessener als Rettung vor dem Nichts anbietet. So erlag die deutsche Öffentlichkeit Alfred Rosenbergs »Mythus des 20. Jahrhunderts«. Sie fiel denen in die Hände, die zunächst ein nationalistisches Großdeutschland, dann ein germanisches Weltreich errichten wollten. Was half es den Schriftstellern, daß sie zu der Leere, die dieser Wahnsinn zu füllen vorgab, selbst beigetragen hatten? Daß die deutschen Dichter und Denker der rationalistischen und klassischen Periode - Lessing, Herder, Klopstock, Kant, Schiller - ihre Gedanken vornehmlich auf einen idealen Aspekt der Natur des Menschen richteten46; daß sich

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(jedenfalls seit dem 18. Jahrhundert) die Anwälte der Humanität auf die gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und rechtlichen Zustände ihres eigenen Volkes und Staates kaum einließen (und gerade durch dieses Gegenüberstehen wirken wollten und konnten) - dieses Leitmotiv des Verhältnisses von Dichter und Staat in Deutschland mündete nun, ausgangs der Weimarer Republik, in die Kakophonie haßerfüllter Nationalismen und Rassismen. »Tatenarmer« und »boden-loser« Universalismus im »Geistigen« schlug im Realen um in rabiaten Antihumanismus und primitiven Antiintellektualismus - Deutschland als Urtypus eines »überrationalisierten Irrationalismus«47. Die Individualität einer deutschen Staadichkeit ergibt sich indes nicht nur aus jenem »Reich der Lüfte« und »geheimdeutschen« Ideengut. Hinzu kommen vielmehr Besonderheiten der geopolitischen, ökonomischen, kulturellen und, wenn man so sagen darf, »heimat-radizierten« Lage. Vor 160 Jahren notierte ein kritischer Beobachter der damaligen deutschen Verfassungsbewegung48: »Das Volk lebt weder von Brot noch von Begriffen allein; es will durchaus etwas Positives zu lieben, zu sorgen und sich daran zu erfrischen, es will vor allem eine Heimat haben in vollem Sinne, d. i. seine eigentümliche Sphäre von einfachen Grundgedanken, Neigungen und Abneigungen, die alle seine Verhältnisse lebendig durchdringen und in keinem Kompendium registriert stehen.«

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Der preußische Ministerialbeamte, der solches »sinnliche« Erkenntnis- und Identifikationsbedürfnis der Bürger - eine notwendige Ergänzung der Abstraktheit der gesetzlichen Pflicht (Schillers Desiderat in den Briefen über die ästhetische Erziehung der Menschen) - ausmachte, war Joseph Freiherr von Eichendorff. Heute richtet sich das nach wie vor weitgehend heimatlose Identifikationspotential der Deutschen auf das Grundgesetz und seine Reformen 49 : »Verfassung als Staatssurrogat«, die »Verfassung als Vaterland« (Isensee). Gemeinsam ist allen das lutherische Alleinvertrauen auf das (Verfassungs-)Wort: das Operieren mit dem Schriftprinzip (sola scriptum); das Grundgesetz als Ersatzbibel; der Staatsrechtslehrer als säkularisierter Schriftgelehrter; Kirchen- und Juristentage, PEN-Club-Sitzungen und Akademie-Kongresse als weltliche Konzile. Ein katholisches Moment kommt hinzu: Im Streit um das wahre Wort entscheidet eine Instanz letztverbindlich - das Bundesverfassungsgericht 50 . Nicht Augstein, nicht Grass, nicht Kohl, nicht Beckenbauer Roman Herzog ist der praeceptor Germaniae. Die mittlerweile mehr als 80-bändige Entscheidungssammlung des Karlsruher Gerichts verkörpert - darin dem U. S. Supreme Court vergleichbar 51 - eine der großen einheitsstiftenden Leistungen des Landes, ein Stück Literatur. Kooperation also von Verfassungsgerichtsbarkeit, Staatslehre und Dichtung? Integration durch kritischen Freiheitsanspruch und Arbeit am »Unbezweifelbaren«, Gemeinsamkeitsstiftung durch Mythos und Logos? Christa Wolf schrieb den Vorspruch 52 des Verfassungsentwurfs des zentralen

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Runden Tisches der sterbenden DDR. Der Berner Schriftsteller Adolf Muschg formulierte für eine totalrevidierte Schweizer Bundesverfassung (1977) die Präambel53: Im Namen Gottes des Allmächtigen! Im Willen, den Bund der Eidgenossen zu erneuern; gewiß, dass frei nur bleibt, wer seine Freiheit gebraucht, und dass die Stärke des Volkes sich misst am Wohl des Schwachen; eingedenk der Grenzen aller staatlichen Macht und der Pflicht, mitzuwirken am Frieden der Welt, haben Volk und Kantone der Schweiz die folgende Verfassung beschlossen...«.

Das ist ein erfrischend unbarock formulierter Versuch, die moderne Schweiz bekenntnishaft in ihrer Basis und Bedingtheit zu situieren. Niemand wird hier zum Grundrechtsvollzug vergattert; ganz im Sinne Goethes stattdessen ein pragmatisches Konzept der Freiheit: Man kann dieses Erbe nur besitzen, indem man es immer neu erwirbt54. Pathetische Menschheitsbelehrung, volkspädagogische Signale, zivilreligiöse Erbaulichkeit und zivilgesellschaftliche Angestrengtheit finden sich nicht - dieser Dichter flieht nicht »aus« dem Staat, und er kennt die Grenzen der »Verfaßbarkeit«55. Also scheut er unverbindliche politische Programmatik - Helvetia, du hast es besser. Wie selbstentlarvend dagegen etwa Rolf Hochhuths Wort vom Bundestag, der »von sieben reaktionären Sklerotikern in Karlsruhe entmündigt« wird56; seit Jahrzehnten 26

Der Dichter und der Staat

besteht das Bundesverfassungsgericht aus zwei Senaten ä acht Richtern (anfangs war die Zahl der Richter sogar noch höher). Ist es Hochmut, Hochhuth zu übergehen und sich sogleich dem dritten und letzten Abschnitt zuzuwenden, dem wechselseitigen Aufeinander-Angewiesensein von Dichter und Staat? Ich hatte bereits betont: Der Staat braucht die Dichter. Ihr Wert für den Staat besteht zunächst darin, daß sie dem unbewußten Gefühl der Zusammengehörigkeit, auf das der Staat angewiesen ist, Ausdruck, Form und dauernde Verständlichkeit geben. Poetische oder sprichwortkräftige Sätze werden zum Bestandteil des allgemeinen Konsenses und damit zugleich zu einer Basis der individuellen Folgebereitschaft und Zuneigung. Auf diese Weise vermittelt der Dichter ein Bewußtsein durchgehender Identität in allem Wandel 57 . Das Attribut des Staates als einer von anderen unterschiedlichen Persönlichkeit entsteht aus einem oftmals ganz unartikulierten Mythos, der, wie schon das griechische Wort verrät, einer wördichen Aussage bedarf und erst in ihr Gestalt gewinnt. Der Staat lebt in dieser Gestalt, die ihm nicht zuletzt der Dichter verliehen hat. Es waren die Dichter, die Polens nationale Identität über alle Teilungen hinweg bewahrt haben. Es war der Roman, sagt Heinrich Mann, der »das französische Volk zur Demokratie erzogen« hat: »(Balzac und Zola) haben das Glück gekannt,... auf eine Tribüne gehoben zu werden, ihr Volk die Dinge bewegen, den Geist in Welt und Tat verhandelt zu sehen ...«. Oberflächliche Betrachter neigen dazu, das Vorhandensein und die Notwendigkeit staatsbildender und staatserhal-

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tender Mythen zu leugnen. Aber auch der Verfassungsstaat bedarf der Sinngebung des Gemeinsamen, der gemeinsamkeitstiftenden Dichtung, ihrer Mitarbeit an der Einheitspflege durch Recht, also mittels der Sprache58. Gewiß, in einem freien Gemeinwesen kennen wir keine absolute Wahrheit. Die einzige Wahrheit des Verfassungsstaats besteht - unter Verzicht auf eine ausformulierte, gar prophetisch verkündete Doktrin - im Geltenlassen vieler Wahrheiten, in einem »System zur gemeinschaftlichen Wahrheitsfindung« (von Simson). Trotzdem geht es nicht ohne ein unbezweifeltes Grundgefüge, auf dem der Staat beruht. Hier ist - wie ich wiederhole - eine wichtige Rolle des Dichters zu sehen. Er bringt den unentbehrlichen Mythos: unbestimmt in allem einzelnen und dennoch verstanden und anerkannt als das, was dem Staat in allen seinen Schicksalen gemeinsam ist, begriffen auch als das, was ihn charakterisiert und was ihn dem Bürger vor anderen lieb oder zumindest akzeptabel macht. In der heutigen geistigen Situation des Westens glaubt niemand mehr an das Unverstandene, es sei denn in götdichen Dingen. So ist ein Staatsmythos nicht länger haltbar, wenn man dabei an eine Wahrheit glauben soll, die keiner anzweifeln darf. Statt dessen nimmt man den Mythos des Staates nicht als eine Wahrheit, sondern als eine nützliche Konvention. Läßt man sie gelten, so integriert sie den Staat, indem sie viele Fragen und mögliche Meinungsverschiedenheiten ausklammert und ungelöst in der Schwebe hält. So läßt sich ein gemeinsames Leben herstellen, das nicht immer wieder und bei jeder Gelegenheit durch Streit und 28

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Zweifel erschüttert wird. Auf über jede Diskussion erhabene, weil von deren Resultat ganz unabhängige, von allen akzeptierte Institutionen und Traditionen kann auch der Verfassungsstaat nicht verzichten. Die haltgebende Konvention bedarf des poetischen Ausdrucks, um in all ihrer Unbestimmtheit verstanden und befolgt zu werden - fast wie in archaischen Zeiten, als die Verkündigung von Gesetzen (Solon war Dichter und Gesetzgeber) über die inhaldiche Kundgabe hinaus kraft der mythischen und magischen Potenz der Sprache auf den Menschen in seiner sinnlichgeistigen Ganzheit zu wirken vermochte. Vieles von dem, was heute staatsethisch und staatsintegrierend wirksam ist, hat dichterischen Ursprung. Ein Beispiel mag dies belegen. Die regionalen und sprachlich-kulturellen Verschiedenheiten in der Schweiz sind so groß, daß sie in rationaler Wahrheitsfindung kaum je hätten auf eine gemeinsame Formel gebracht werden können. Ein dichterischer Gedanke aber leistet diesen Dienst. Längst wissen wir, daß ein Wilhelm Teil nie gelebt hat; auch ein Rütlischwur ist geschichtlich nicht recht nachzuweisen. Aber Schiller hat die dramatische Kraft dieser Sage erkannt als die Form, in der sich das Eigengefühl der Schweizer zeigen und allgemein bewußt machen ließ. Von jener erdichteten Wahrheit lebt dieses Gefühl noch heute - trotz ihrer Trivialisierung durch Max Frischs »Wilhelm Teil für die Schule« (1971); trotz ihrer bitteren Parodie in Dürrenmatts »Besuch der alten Dame« (1956), in der die Lands - und die Bürgergemeinde als Henker- und Mördergemeinde erscheinen59. Schillers Teil- und SchweizMythos gibt dem Staat nach wie vor, was er braucht, um sich

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als solcher zu fühlen und als solcher aufzutreten. »Im Willen, den Bund der Eidgenossen zu erneuern; gewiß, dass frei nur bleibt, wer seine Freiheit gebraucht...; eingedenk der Grenzen aller staadichen Macht...« - der Verfassungsentwurf von 1977 beruft sich, wie gesagt, in der Präambel aus der Feder von Muschg gerade auf diesen Gründungsmythos. Diese Wirkung des Dichters hängt manchmal gar nicht davon ab, was dieser zum Staat im einzelnen sagt. Die Existenz des Dichters allein, die Gewalt, die er der heimaüichen Sprache verliehen hat, sein Ansehen in der Welt genügen gelegendich schon, um den Effekt, von dem wir reden, hervorzubringen. Goethe war ein Patriot der Welt, nicht seines Landes; aber seine Gestalt und sein Ansehen gaben dem zerrissenen Deutschland seiner Zeit ein Gefühl des gemeinsam Verstandenen und als Eigentum Geliebten; für die Späteren konnte das zur Staatsgründung nicht ohne Bedeutung sein. Im Land der »Dichter und Denker« ist seitdem so viel Entsetzliches gedichtet und gedacht worden, daß dieser Formel kein positiver Sinn mehr zu entnehmen ist. Zu einer Zeit, in der wenig anderes über Deutschland und die Deutschen zu sagen war, kam diesem Ausdruck dennoch eine für Staat und (bürgerliche) Gesellschaft fast unentbehrliche Bedeutung zu. Am Beispiel der Weimarer Republik habe ich bereits auf zwei Gefahren hingewiesen. Dichter können - ich erwähnte den Fall Tucholsky - dadurch schaden, daß sie (und sei es aus einer Art unglücklicher Liebe zu ihrem Gemeinwesen) den »dichterischen Inhalt des Staates« auflösen (wenn auch die Trennlinie zwischen kritisch-emanzipierendem In30

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Frage-Stellen und radikalem, revolutionärem Fundamentalwiderstand jeweils schwer zu ziehen ist). Dichter können zudem - das ist noch gefahrlicher - einen schädlichen Mythos ins Leben rufen und dem Staatsgefühl hybride Züge verleihen. Man braucht nur an Kleists »Germania an ihre Kinder« oder an sonstige patriotische Extravaganzen des 19. Jahrhunderts zu denken, um diese Gefahr zu erkennen. Der Staat braucht den Dichter, gewiß; aber das Umgekehrte trifft nicht weniger zu: der Dichter ist auf den Staat angewiesen, auf den Staat als Friedens- und Handlungseinheit. Der Verfassungsstaat ist Voraussetzung und Wirklichkeit der Freiheit. Die Lehrer des Deutschen Staatsrechts, bei denen der Staat - im Unterschied zur Verfassung - bisher nicht gerade im Mittelpunkt des Interesses steht60, haben hier eine Bringschuld. Die Wissenschaften vom Staat müssen seine geistig-moralische und sachliche Unentbehrlichkeit verdeuüichen. Der Verfassungsstaat ist gleichermaßen Pflichtsubjekt der Freiheits- und Gleichheitsansprüche seiner Bürger wie Adressat ihrer Schutz- und Leistungsansprüche (etwa bezüglich des Schutzes einer Veranstaltung vor gewaltsamer Störung durch Andersgesinnte). Die Epoche der Staatlichkeit in diesem gleichheits- und freiheitssichernden Sinne ist noch nicht zu Ende61. Staatsrechtslehre wie Dichtung stehen vielmehr, wie mir scheint, vor einer Renaissance dieses Staatsbegriffes. Dazu bedarf es - für beide übrigens, für Dichter wie für Verfassungsrechtler der Lebensnähe, des Sich-Einlassens auf die Realität, einschließlich ihrer bodenständigen Entwicklungen und

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historischen Verwerfungen, ihrer unverfiigbaren Daten, ihrer immanenten Grenzen. Die Bedingtheit des Staates, seine konkrete Identität, seine »Lage« ist zu erfassen und mit zu verfassen, ständig und unerbittlich geprüft an den geschichdichen Tatsachen: so findet die Dichtung zum Staat und der Staat zur Dichtung. Vom Staat darf nicht das Unmögliche verlangt und dafür das Mögliche preisgegeben werden. Dichter, Staatswissenschaftler und sonstige Intellektuelle laufen in Deutschland leicht Gefahr, um der Verfolgung des Vollkommenen willen - einer universalistischen Reichsidee, eines »geheimen Deutschland«, einer umfassenden »Legitimität« - alles notwendigerweise Unvollkommene (aber praktisch und rechdich Mögliche) zu opfern: Parlamentarismus, Legalität, verfassungsstaatliche Zivilität62. »Legitimität« gegen »Legalität« auszuspielen hat hierzulande eine besonders üble Tradition. Das Aufeinander-Angewiesensein von Dichter und Staat bedeutet keineswegs, daß preisende Staats-Dichtung erwünscht oder sinnvoll wäre. Staatslob ist nicht der Preis für staatiich verfaßte und geschützte Freiheit. Dichter bleiben gerade dort wichtig, wo sie über die Konventions- und Mythosbildung hinaus (oder an ihrer Stelle) Warner, Kritiker, Oppositionelle sind. Im Verfassungsstaat umschließt die Integration auch das Rationale63. Die Arbeit an der Sinngebung und Hege des Gemeinsamen geht über den Schutz der Staatssymbole und das Verleihen von Landesverdienstmedaillen weit hinaus. Expressionistisch und revolutionsversessen überspitzt, im Kern aber treffend formulierte der 32

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spätere Räterepublikaner Gustav Landauer diese Aufgabe »aufgeklärter Integration« so: »Der Dichter . . . ist im öffentlichen Leben, d. h. aber für gewöhnlich im Land der Philister, der geborene Widerspruchsgeist . . . Wo Stockung und Starrheit gekommen ist, w o die Gelenkigkeit eingerostet ist, und wieder Ungeist, Unrecht und Schlendrian sich breitmacht, da ist er, der immer die Sache des Lebens führt, der Befreier. Wir brauchen die immer wiederkehrende Erneuerung, wir brauchen den Frühling, den Wahn und den Rausch und die Tollheit, wir brauchen - wieder und wieder - die Revolution, wir brauchen den Dichter!«

Nicht »Rausch«, nicht »Tollheit«, nicht »Revolution«, wohl aber »Widerspruch«, »Befreiung«, »Erneuerung« - diese Rolle des Dichters im Raum eines demokratisch-parlamentarischen Gemeinwesens sichtbar zu machen und zu schützen; den Dichter auch im übrigen aus staatlich-gesellschaftlicher Ferne, ja Fremde herauszuführen und dem Staat, seinen Institutionen, Verfahren und Dienern »auszusetzen«; in diesem Sinne den Dichter zusammen mit dem Staatsrechtslehrer zum (weiteren) Hüter des Verfassungsstaates zu machen 64 - auch dies gehört zum komplexen, komplizierten Verhältnis von Dichter und Staat, und zwar in doppelter Hinsicht: - Dichtung kann erstens helfen, das Modell eines aufgeklärten, wertgebundenen Positivismus mit Leben zu erfüllen. Formale Verfahren bedürfen materialer Orientierung. Angesichts einer pluralistischen Gesellschaft sind die staat-

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lichen Grundwerte »interpretationsoffen«; an ihrer Deutung und Entwicklung wirkt Dichtung mit. - Dichtung kann zweitens ihrerseits, wegen ihrer ästhetischen Mehrdeutigkeit sogar zugleich, Ausdruck von Ideologien sein. Nicht nur die Klassikerlassen sich, wie die Theater in der DDR gezeigt haben, sowohl systemkonform als auch systemkritisch inszenieren. Zur Aufklärung trägt die Dichtung auch durch den kritischen Umgang mit ihr bei. Meine Bemerkung zum Schluß unterstreicht den europäischen Kontext unseres Themas. Über die bloße binnenund gesamtdeutsche Sicht hinaus gewinnt das Verhältnis von Geist und Macht in Deutschland wegen des europäischen Einigungswerkes eine neue Perspektive. »Ein einzelnes Land«, sagte Heinrich Mann bereits in der Zwischenkriegszeit, »ist in Europa nicht mehr lebensfähig, weder wirtschaftlich noch politisch und erst recht nicht sittlich; mehrere, übernational Verbundene, haben Aussicht, ihre Menschen besser und glücklicher zu machen.« In der Tat: Diese überstaadiche Bedingtheit, etwa beim Menschenrechts- und Umweltschutz, ist eine heute nicht mehr fortzudenkende Lebensvoraussetzung und wesensprägende Eigenschaft der westlichen Staaten. Rechtlichkeit und Freiheidichkeit, .einschließlich einer über die nationalen Grenzen hinausreichenden, immer dichter werdenden Rechtspflege in Straßburg und Luxemburg, sind die entscheidenden Leistungen; sie sind das, was den Staat auch und gerade in seiner Verschränkung mit anderen Staaten - erst rechtfertigt. Mein Lehrer und Freund Werner von Simson hat frühzeitig und immer wieder auf diese staats34

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übergreifende Bedingtheit der Staatlichkeit und damit der Freiheit hingewiesen65. Von dem Europa der Hopfenanbausubventionen, der Gen-Richdinien und der Kohlepreise, von dem Europa, das den ökologischen Schutz seiner Randmeere so wenig schafft wie das Abschmelzen seiner Butterberge, ist fraglich, wie es eine Festigung - in unbewußter Folgsamkeit und in dichterischen Bildern - erreichen kann. Ohne diesen vorerst nur in den Mitgliedstaaten vorhandenen Halt aber wird Europa den zentrifugalen Kräften, die im Transformations- und Integrationsprozeß nach 1992 noch verstärkt auftreten dürften, kaum auf Dauer widerstehen. Was kann der Dichter dazu beitragen, daß der Traum eines vereinigten freiheitlichen Europa - Annette Kolb, Heinrich, Thomas und Klaus Mann, Hugo von Hofmannsthal, Hermann Hesse, Stefan Zweig haben ihn in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts intensiv geträumt66 - ausgangs der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts bildhaften, symbolischen Charakter gewinnt und daß die europäischen Staaten ihr Selbstverständnis künftig entscheidend aus der Zugehörigkeit zum europäischen Zusammenschluß beziehen? Oder, wo das nicht gelingt, was kann, was muß ein einiges Europa unberührt bestehen lassen, um das zu erhalten, was sich nur in einzelnen Lebensformen bewahren läßt? De Gaulle, ein Meister des Wortes, wußte um dieses Problem. Er schlug ein Europa der Vaterländer vor, nicht einen profillosen Organismus, in dem keine Vaterschaft mehr eine Rolle spielte. Erst wenn man sich der Rolle des Dichterischen im Leben der Völker, der Staaten und Europas insgesamt bewußt ist, kann man die Wichtigkeit dieser Frage ermessen.

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Anmerkungen 1. Ernst Kantorowicz, Kaiser Friedrich der Zweite, Berlin 1927, Vorbemerkung zum Textband. 2. Vgl. Eckhart Grünewald, Ernst Kantorowicz und Stefan George, Wiesbaden 1982, S. 75. 3. So nannte Stauffenberg Hitler in unmittelbarem Bezug auf ein so betiteltes Gedicht Georges aus dem »Siebenten Ring«. Zu Stauffenberg im Kontext Georges Nachweise etwa bei Grünewald (FN 2), S. 109; Karl Josef Partsch, Stauffenberg - Das Bild des Täters, Europa-Archiv 1950, S. 3196 ff. (3198 f.); Klaus Landfried, Politik und Utopie - Stefan George und sein Kreis in der Weimarer Republik, in: Werner Link (Hrsg.), Schriftsteller und Politik in Deutschland, Düsseldorf 1979, S. 62 ff. (75 ff.). 4. Hierzu und zum folgenden Grünewald (FN 2), S. 74 ff.; Karlhans Kluncker, »Das geheime Deutschland«. Über Stefan George und seinen Kreis, Bonn 1985. 5. Vgl. Friedrich Franz von Unruh, Stefan George und der deutsche Nationalismus, Die Neue Rundschau 43 (1932), S. 478 ff. (480). George vertrat die Auffassung, »daß in der dichtung eines volkes sich seine letzten schicksale enthüllen«; Nachweis bei Kluncker (FN 4), S. 27, der seinerseits fortfahrt: George habe »Dichtung geradezu als Medium angesehen, gesellschaftliche Veränderungen zu bewirken«. Vgl. auch Landfried (FN 3), S. 77 ff. 6. George erklärte gegenüber seinem holländischen Dichterfreund Albert Verwey: Sein Weg sei »nicht der geliebte, der moderne der jetzigen Zivilisation. Ich will eine andere, eine innerliche Einheit. Damit bin ich an unsere Welt herangetreten«; Nachweis bei Grünewald (FN 2), S. 75 f. Und in der Tat: George hat 1890 Blätter für die Kunst, nicht ζ. B. Blätter für die Logik, die Politik oder die Geschichte gegründet. 7. Der Begriff wurde - ebenso wie der vom geheimen Deutschland - synonym gebraucht für den George-Kreis (»von seinen

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Mitgliedern«, zuerst wohl von Wolters, »in Anlehnung an Schiller«, Kluncker [FN 4], S. 22). - Insgesamt erscheint der Dichter hier als Gründer einer neuen »ewe«, als Verkünder neuer Gesetze. Näheres etwa bei Erich von Kahler, Stefan George, Größe und Tragik, Pfullingen 1964. Der Historiker Walter Elze - über Wolters in den Kreis des Dichters gelangt sieht gar »eine Weltregierung des Dichters«, »die Weltherrschaft derOrakel«,»die Herrschaft des Dichters.. .und seine so völlig neue Weltordnung« (Privatbrief, 1923). Zitiert aus Georges Gedicht »Der Dichter in Zeiten der Wirren«, einem Schlüsseltext des Bandes »Das Neue Reich«. »Das andere Deutschland« (i. S.v. das bessere Deutschland) war u.a. auch ein SPD-Slogan im letzten Bundestagswahlkampf. Vgl. auch Günter Grass, Treffen in Teltge, 1979, S. 92: »Einzig die Dichter, das sagt der (Friedens-)Aufruf (gegen Ende des 30jährigen Krieges), wüßten noch, was deutsch zu nennen sich lohne. Sie hätten ... die deutsche Sprache als letztes Band geknüpft. Sie seien das andere, das wahrhaftige Deutschland.« Grünewald (FN 2), S. 77. Die pragmatische »Ach und Krach«-Formel stammt von Rudolf Smend, dem großen Weimarer Staatsrechtler, dessen Lehren und die seines Schülers Konrad Hesse die Verfassungsordnung der Bundesrepublik Deutschland, insbesondere die Rechtssprechung des Bundesverfassungsgerichts, nachhaltig beeinflußten. Zur »Glanzlosigkeit« der Weimarer Republik und zur Gemeinsamkeitsstiftung durch Verfassungsrecht vgl. etwa Günther Dürig, Grundgesetz. Textausgabe, 26. Aufl. München 1990, Einführung, S. 7 ff. Nachweise bei Grünewald (FN 2), S. 77. Von Georges »persönlicher Erziehung einzelner junger Menschen - gegen Staat und Gesellschaft« spricht Kluncker (FN 4), S. 22 ff., ebenso von einer »Verselbständigung der Gesellschaftskritik und der Poetologie« sowie der »Kritik an den deutschen Zuständen«.

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Nach Friedrich Wolters, Stefan George und die Blätter für die Kunst, Berlin 1930, S. 547, blieb George »Gegner der bestehenden Gesellschaft um einer höheren Ordnung, Gegner des bürgerlichen Staates um einer höheren Form, Gegner... des Massenmenschen um des vollkommenen staatlichen Menschen willen.« - Unbestreitbar ist die Faszination der Utopie und der individuellen Trägerschaft dieser Dichtung, die freilich mit einem partiellen Verzicht auf die reale Durchdringung der Komplexität von Staat und Gesellschaft erkauft wird. 13. Der Geist blüht, wenn der Staat welkt: »indem das politische Reich wankt«, heißt es bei Schiller (Entwurf für das Gedicht »Deutsche Größe«, 1797) »hat sich das Geistige immer fester und vollkommener gebildet«. - Vgl. auch Kluncker (FN 4), S. 19: »In die Tradition Nietzsche-Benn eingefügt, sehen auch die Blätterfür die Kunst Dichtung, d. h. konkret ihre eigene Dichtung als Gegen-Welt zu Staat und Gesellschaft an«. Ebd., S. 22 ist von den »Blättern« und dem »Kreis« als einem »kulturpädagogischen Gegenmodell« die Rede: »Das Georgesche Gedicht war im besten Fall immer Gegengedicht für den Zeitraum vom Naturalismus bis zum beginnenden Nationalsozialismus .. .«.Von der »Rolle des Dichters als Richterund Führer seiner Zeit«ist ebd., S.30 f.die Rede, ebenso von der»Hoffnung auf einen besseren deutschen Nationalstaat.« - Natürlich ermöglichte dieses Gegenüber-Stehen, um nur diesen einen Punkt hervorzuheben, eine eigenständige, eine etwa vom zeitweilig »hurrapatriotischen« Zeitgeist, der auch manchen seiner Anhänger infizierte, ganz abgesetzte Position Georges im Hinblick auf den Ersten Weltkrieg (»die leichenfelder ungepflügter toten«). 14. Nachweis und Erläuterung bei Grünewald (FN 2), S. 79 f. 15. Zum hier nicht zu vertiefenden Verhältnis zwischen George und Georgekreis einerseits und Staat (Kaiserreich, Weimarer Republik, Drittes Reich), insbesondere dann im Jahr 1933,

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andererseits vgl. u. a. Gottfried Kliesch, Der Dichter und die Usurpatoren, in: Stefan George-Gymnasium Bingen (Hrsg.), Stefan George, Bingen 1968; Klaus Landfried, Stefan George. Politik des Unpolitischen, Heidelberg 1975; Kluncker (FN 4), S.27 ff.; Grünewald (FN 2),S. 118 ff.; Michael Landmann,Stefan George, in: Castrum Peregrini 141/142 (1980), S. 47 ff.; von Unruh (FN 5), S. 482 ff.; von Kahler (FN 7), S. 23 ff. 16. Z.T. erschreckende (nämlich Ignoranz und Indolenz aufdekkende) Nachweise etwa bei Peter Häberle, Das Grundgesetz der Literaten, Baden-Baden 1983. 17. F.A.Z. vom 23.6.1990. - In seinem »Laokoon« (»Handlungen« seien »der eigentliche Gegenstand der Poesie«) ging Lessing bekanntlich noch davon aus (was auch schon Johann Gottfried Herder kritisierte), daß Dichtung »malt«, daß die Bilder der Poesie Wahrnehmungen nachahmen (idealistische Anschauungsästhetik). - Das Wort »Dichter« ist höchst »wertbesetzt«, und es ist begrifflich vage. Wesentliche Kriterien sind traditionellerweise das »Schöpferische«, das »Ursprüngliche«; sie können sich in Vers-, aber auch in Prosadichtungen manifestieren. Hinzu kommt, wie uns insbesondere Paul Hoffmann lehrt (vgl. etwa ders., Symbolismus, München 1987), das Merkmal eines »lyrischen Elements«; es ist konstitutiv für eine repräsentative deutsche Spezies des Romans, durch seine Konzentration auf einen individuellen Helden, auf Subjektivität und »Innerlichkeit« - lange Zeit wurde das als gleichermaßen »dichterisch« und »deutsch« empfunden (von Goethe bis Hermann Hesse), im Kontrast zum westlichen Gesellschaftsroman. Der so konzipierten Vorstellung vom »originären« Dichter wurde (in Deutschland) zeitweilig der bloß »derivative« Schriftsteller als Produzent von »Literatur« entgegengestellt - bis zur geläufigen Invektive (in Verbindung mit »Asphalt-« und »wurzellos«) der NS-Polemik. Die Nachkriegszeit brachte zunächst eine Umwertung des Wortgebrauchs. Mit der Neubesinnung auf die kritische und gesell-

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schaftliche Funktion von Literatur in der unverzichtbaren Tradition der europäischen Aufklärung kam der »Literat« zu neuen Ehren. Das überanstrengte, mißbrauchte Wort »Dichter« bereitete demgegenüber eher Verlegenheit; es war jetzt merklich weniger im Kurs und wurde (wie bei den Nachbarn) auf die Lyrik beschränkt; deren Verfasser nannten sich auch meistens Lyriker (oder »Liedermacher«). In den letzten Jahren ist es nun auch hier zu einer neuerlichen Wende gekommen. »Dichter« wird wieder häufiger, unbefangener gebraucht. Das Wort empfiehlt sich im dialektischen Bezug zum »Staat«: als genügend würdig und gewichtig auf der anderen Seite des »und« im Waagebalken des Titels der Disputation. 18. Schlußzeile von Stefan Georges Gedicht »Das Wort«. Für ihn und seinen Kreis bleibt das Kriterium der schöpferischen Sprache unvermindert im Blick; aus dieser Perspektive wurden nur wenige des Prädikats »Dichter« teilhaftig (und selbst dabei traten noch »Irrtümer« auf). 19. Vgl. z.B. Hans-Jost Frey, Der unendliche Text, Frankfurt/M. 1990; Peter Wapnewski, Zumutungen. Essays zur Literatur des 20. Jahrhunderts, München 1982, S. 14 ff. 20. Dazu u. a. Wolfgang Graf Vitzthum, Die demokratie- und völkerbundtheoretischen Schriften, in: Peter Michael Lützeler (Hrsg.), Hermann Broch, Frankfurt/M. 1986, S. 281 ff.; ders., Hermann Broch und Carl Schmitt,in: Jürgen Heideking/Frank Knipping (Hrsg.), Wege in die Zeitgeschichte. Festschrift für Gerhard Schulz, Berlin 1989, S. 69 ff. 21. Zu ihm u.a. Christian Graf von Krockow, Die Entscheidung. Eine Untersuchung über Ernst Jünger, Carl Schmitt, Martin Heidegger, Stuttgart 1958; Karl Heinz Bohrer, Die Ästhetik des Schreckens, München/Wien 1978. 22. Zu letzterem vgl. RudolfAugstein/Günter Grass, Deutschland, einig Vaterland? Ein Streitgespräch, Göttingen 1990 (mit der These von Grass, Auschwitz schlösse moralisch-politisch einen deutschen Einheitsstaat aus, und mit seinem über-

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kommenen Plädoyer für eine »Konföderation der beiden Staaten, mit Währungseinheit, Wirtschaftseinheit« sowie für »eine neue Verfassung«, zu erarbeiten von den Ländern in beiden deutschen Staaten). 23. Verbrannt aber wurden die Bücher des Älteren, nicht die des Nobelpreisträgers. 24. Vgl. Peter Schneider,»... ein einzig Volk von Brüdern«. Recht und Staat in der Literatur, Frankfurt/M. 1987, S. 15. 25. Vgl. etwa Alfred Döblin, November 1918. Eine deutsche Revolution, Bde. I-III, München 1948-50 (eine mit der Chronik der offiziellen Geschehnisse verwobene Bekehrungsgeschichte); Jürgen Schröder, Gottfried Benn. Poesie und Sozialisation, Stuttgart 1978; Schneider (FN 24), S. 275 ff. (»Anna Seghers: Utopie und Genossenschaft«); Martin Walser, Über Deutschland reden, Frankfurt/M. 1989; Christa Wolf, Im Dialog. Aktuelle Texte, Frankfurt/M. 1990. 26. Hierzu und zum Folgenden Manfred Fuhrmann, Literatur unter Augustus, in: Kaiser Augustus und die verlorene Republik (Katalog), Berlin 1988, S. 607 ff.; Viktor Pöschl, Vergü und Augustus, in: Hildegard Temporini/Wolfgang Haase (Hrsg.), Aufstieg und Niedergang der römischen Welt, Teil II, Band 31/2,Berlin/New Yorkl981,S.710ff.; Joachim Dalfen,Polis und Poiesis. Die Auseinandersetzung mit der Dichtung bei Piaton und seinen Zeitgenossen, München 1974, S. 13 ff. 27. Nachweis ζ. B. bei Grünewald (FN 2), S. 115 f., 130; Inge Jens, Dichter zwischen rechts und links. Die Geschichte der Sektion für Dichtkunst der Preußischen Akademie der Künste, München 1971, S. 206 f. 28. Vgl. dazu Friedrich Albrecht, Deutsche Schriftsteller in der Entscheidung, Wege zur Arbeiterklasse, Berlin/Weimar 1970. Thomas Mann hat zwar den Goethepreis der Stadt Weimar angenommen sowie die Ehrenbürgerschaft; er hatte aber auch hier stets beide Seiten im Blick, erwies sich insofern als der »klügere« Bruder.

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29. Die Aspekte »Literatur in der DDR« und »Die Rolle der Schriftsteller bei der Vereinigung Deutschlands« sollen hier nicht vertieft werden. Christa Wolfs (FN 25, S. 10) Dictum » Wir sind das Volk - ein kurzer geschichtlicher Augenblick, in dem das Volk, seiner Identität anscheinend gewiß, Souveränität und Subjekt seiner eigenen Geschichte war. Wir sind ein Volk!wäre das wirklich die Steigerungsform?« - ist jedenfalls nicht die repräsentativste Position. Vgl. etwa Hans Mayer, Der Turm von Babel. Erinnerungen an eine Deutsche Demokratische Republik, Frankfurt/M. 1991, S. 188 ff., 208 ff., 248 ff.; Michael Naumann (Hrsg.), Die Geschichte ist offen. DDR 1990: Hoffnung auf eine neue Republik, Reinbek 1990. 30. Ein Staat ohne kritisch-distanzierte Autoren hat auf Dauer sicher einen schwereren Stand als ein Gemeinwesen ohne mythenstiftende Dichter. Man erinnere sich an Martin Walsers (FN 25, S. 88 ff.) »Behauptungsarbeit« - und auch an die Uwe Johnsons - für die Überwindung der Trennung der »beiden Deutschländer« (seit Beginn der 70er Jahre): »Ich weigere mich, an der Liquidierung von Geschichte teilzunehmen ... Wir müssen die Wunde namens Deutschland offenhalten ... Das Wort (Verfassungspatnotismus) riecht nach dem Abfindungslabor, aus dem es stammt.« Auch »Kulturnation« erscheint Walser als bloße »Abfindungsform« (ebd., S. 98 f.): »Die Nation ist im Menschenmaß das mächtigste geschichtliche Vorkommen, bis jetzt. Mächtig im geologischen, nicht im politischen Sinn. Die Nation wird sich sicher auflösen irgendwann. Aber doch nicht durch eine Teilung«. - Zur inkriminierten Begrifflichkeit Dolf Sternberger, Verfassungspatriotismus, Frankfurt/M. 1990. 31. Zu dieser kritisch-emanzipatorischen Funktion etwa Hans Robert Jauß, Das kritische Potential ästhetischer Bildung, in: Jörn Rüsen/Eberhard Lämmert/Peter Glotz (Hrsg.), Die Zukunft der Aufklärung, Frankfurt/M. 1988. - Die Rolle der Literaten im Staat und ihre - soziologische, nicht normative -

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Bedeutung für den Staat ist auch verbunden mit der »Struktur der Öffentlichkeit«. Weniger das kulturräsonnierende als das kulturkonsumierende Publikum ist prägend für die »öffentliche Meinung« im modernen Medienstaat. Meinungsumfragen können schwerlich »Publizität als Prinzip der Vermittlung von Politik und Moral« herstellen; vgl. Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, 13. Aufl. Darmstadt u. a. 1982, S. 69 ff., 127 ff., 217 ff. 32. Vgl. bes. Rainer Kunze, Deckname »Lyrik«, Eine Dokumentation, Frankfurt/M. 1990; Erich Loest, Der Zorn des Schafes: Aus meinem Tagebuch, Künzelsau/Leipzig 1990. Vgl. aber auch Walsers (FN 25, S. 94 ff.) Hinweis auf den DDR-LyrikerWulf Kirsten. Im Unterschied zur Tendenz westdeutscher Autoren, schnell mit Urteilen zur Hand zu sein, äußerten Kirstens Gedichte nicht Meinung, sondern nennten die Dinge beim Namen: »Mir ist im Westen noch kein Intellektueller begegnet, bei dem der Anspruch auf Demokratie die ganze Sensibilität ausmacht, beherrscht. In den Kirsten-Sätzen kann man politische und dichterliche Empfindungsfahigkeit überhaupt nicht mehr trennen.« 33. Heinrich Manns Option für die DDR war wohl motiviert durch den Glauben, daß dort etwas Neues entstehen würde, das er bejahen könne in Übereinstimmung mit einer lebenslangen Überzeugung und Hoffnung im Geist der Aufklärung und der Ideen der Französischen Revolution, während auf der anderen Seite - so mochte es ihm aus transatlantischer Ferne scheinen die alten Mechanismen ungebrochen weiter am Werk wären, die Mechanik des Kapitalismus, die ihm inhuman und perspektivlos erschien. Wir wissen, daß dies ein fataler Irrglaube war, wissen es aus katastrophaler Evidenz, nachdem sich schon längst die wachsende Kluft von Realität und Utopie im allgemeinen Bewußtsein aufgetan hatte. Aber damals, vor45 Jahren, nach dem Ende des Kriegs und dem totalen Zusammenbruch Deutschlands, hatte dieser Glaube bei manchem noch Kraft.

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Gewiß hätte es für Heinrich Mann und die ja nicht unbedeutende Reihe anderer »linksintellektueller« Emigranten, die die gleiche subjektive Entscheidung trafen, genügend Gründe gegeben, mißtrauisch zu sein. Aber objektiv muß zum Thema Remigration wohl auch gesagt werden, daß aus der Bundesrepublik Deutschland, im Gegensatz zur damaligen SBZ (wofür es bei dieser natürlich wiederum - keineswegs nur edle Gründe gab), Emigranten nicht ausdrücklich zur Rückkehr eingeladen wurden. Zu Heinrich Manns (französischem) Exil Andre Banuls, Vom süßen Exil zur Arche Noah, in: Manfred Durzak (Hrsg.), Die deutsche Exilliteratur 1933 - 1945, Stuttgart 1973, S. 199 ff. Zu einem anderen Remigranten vgl. Walter Zadek, Der »verstaatlichte« Dichter. Hatte der Schriftsteller Arnold Zweig Angst in der DDR?, Tribüne 30 (1991), S. 144 ff. Staatssoziologie, 2. Aufl. Berlin 1966 (hrsg. von Johannes Winckelmann), S. 36. Der reizvollen Frage nach dem Verhältnis dieser These zu den staatstheoretischen Integrationslehren kann hier nicht nachgegangen werden. Zu letzteren vgl. Rudolf Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, Berlin 1928; Manfred Mols, Integrationslehre und politische Theorie, in: Archiv des öffendichen Rechts 94 (1969), S. 511 ff. S. o. Fn. 26, insbesondere Dalfen. Zum Sinn des parlamentarischen Verfahrens vgl. etwa Wolfgang Graf Vitzthum, Parlament und Planung, Baden-Baden 1978,S.232 ff.-Parlamentskritik war damals indes weitverbreitet. Vgl. etwa Weber (FN 34), S. 14 f., 81 ff. Isensee, Die Verfassung als Vaterland. Zur Staatsverdrängung der Deutschen, in: Armin Möhler (Hrsg.), Wirklichkeit als Tabu, München 1986, S. 11 ff. Auch hierzu Isensee (FN 38), S. 12 f. Nachweise etwa bei Frank Fechner, Thomas Mann und die Demokratie, Berlin 1990. Isensee (FN 38), S. 13; Fechner (FN 40), S. 42 ff. (78 ff.).

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42. Die Verantwortung des Geistes, Frankfurt/M. 1952, S. 92 ff. (100). Nach Kahler beruhte »das Problem Deutschland« u. a. auf der »vorzeitigen Verknüpfung« des Landes »mit einer universalen Idee, dem römischen, später Heiligen Römischen R e i c h . . . (Deutschland war damit) von allem Anfang an in ein Gerüst von universalem Ausmaß eingespannt... (Ihm fehlte jegliche Vorbereitung) für die gigantische Aufgabe, eine unmittelbare menschheiüiche Idee zu vertreten« (S. 97 f.); mit diesem Grundproblem sei zugleich auch der Gegensatz angelegt »zwischen politischer und geistiger Führerschaft. Hier entspringt die tief eingewurzelte Geistfeindlichkeit der herrschenden Klassen...« (S. 100). 43. Vgl. nur Kurt Tucholsky, Deutschland, Deutschland über alles, Berlin 1929, S. 230: zur schmerz- und scherzhaften Titelwahl; S. 33 ff.: gegen Ebert, für die Revolution; S. 42: gegen SPD und Gewerkschaften; S. 45 ff.: gegen Hohenzollern, Reichswehr, Polizei, »Kirche«, Beamte, »Monarchisten«, »Deutsche Bank«, preußischer Staat - ein polemischer, parodistischer Rundumschlag. Die Irrtümer zugegeben - es ging Tucholsky, Kerr (im Ersten Weltkrieg hatte er Durchhaltegedichte veröffenüicht) und Kraus im Kern aber um die Sache; nur verdeckten das Verletzende des Tons und die Eitelkeit des Metiers die Überzeugung. - Das etwa auch von Kurt Sontheimer und Walter Laqueur kritisierte Tucholsky-Buch sowie Tucholskys Erbitterung über die »Unversehrtheit« der alten ökonomischen und gesellschaftlichen Zustände behandelt einfühlsam Alexander von Bormann, Weimarer Republik, in: Walter Hinderer (Hrsg.), Geschichte der politischen Lyrik in Deutschland, Stuttgart 1978, S. 261 ff. (263,280 ff.). 44. Vgl.Tucholsky (FN 43), S. 62: der Staat stelle im Leben der Heutigen das dar, »was die Religion im Leben der Urgroßeltern gewesen ist: eine dunkle, mysteriöse, aber auf alle Fälle anzubetende Sache«; S. 71: »Man wird mich gewiß keiner zärtlichen Liebe für diese Republik zeihen -«; S. 78: »Wir überlegen:

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wofür wird da (im Krieg) gestorben? Für gar nichts. Für die Interessen der andern«, S. 91: »Der Strom, der die kleinen Steuerzahler vom Staat trennt, ist breit - hundertmal breiter als die Elbe«; S. 95: »Viele Beamte sind des Steuerzahlers Tod«; S. 138 f.: Antiparlamentarisches, Demokratieskeptisches; S. 195: »Der Staat? Laß dich nicht auslachen. Kargpreußisch, schlicht und sauber sehen diese Küchenhäuser der Politik aus; aber es wird darinnen mit schlechtem Fett gekocht, und der Koch darf gar nicht allein kochen. Es spucken ihm viele in die Suppe«; S. 208: Reichstagspräsident Löbe sei »von rührender Ahnungslosigkeit in geistigen Dingen; allemal dabei, wenn es eine patriotische Dummheit zu machen gilt« - wie heißt es doch bei Bert Brecht: »Auch der Haß gegen die Niedrigkeit verzerrt die Züge.« Tucholsky versucht dann die - diffizile, konstruiert wirkende - eigene Position (Internationalismus und Heimatliebe) auf S. 226 ff. zu skizzieren: »Nun haben wir auf225 Seiten Nein gesagt, Nein aus Mideid und Nein aus Liebe,Nein aus Haß und Nein aus Leidenschaft - und nun wollen wir auch einmal Ja sagen. Ja - : zu der Landschaft und zu dem Land Deutschland... es gibt ein Gefühl jenseits aller Politik, und aus diesem Gefühl heraus lieben wir dieses L a n d . . . Im Patriotismus lassen wir uns von jedem übertreffen - wir fühlen international. In der Heimaüiebe von niemand.. .Wir pfeifen auf die Fahnen - aber wir lieben dieses Land ... (Wir), die wir besser deutsch schreiben und sprechen als die Mehrzahl der nationalen Esel... Wir haben das Recht, Deutschland zu hassen - weil wir es lieben ... (Wir) Kommunisten, junge Sozialisten, Pazifisten, Freiheitsliebende aller Grade...«. 45. Nachweise s.o.FN20. Auch Weber (FN34),S.96 f. fürchtete die zerstörende Gewalt der politischen Emotionalität: »die unorganisierte Masse: Die Demokratie der Straße«. 46. Hierzu und zum Folgenden Kahler (FN 42), S. 102. 47. Kahler (FN 42), S. 104. Für die Zukunft wünschte er einen »neuen Geist universaler Gesinnung und menschlicher Brü-

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derlichkeit, der eine lange Ahnenschaft in Deutschland hat« (S.115). Nachweise hierzu und zum Folgenden bei Isensee (FN 38), S.31. Die Ablösung oder plebiszitäre Neulegitimation des Grundgesetzes, sein »Ersetzen« durch eine Verfassung (über Art. 146 neu GG), ist ein aktuelles, verfassungsrechtlich harziges Thema, das hier - trotz des einschlägigen Engagements zahlreicher Schriftsteller und Staatsrechtslehrer - nicht behandelt werden kann. Zum Problem vgl. nur Dürig (FN 11), S. 9,18. Isensee (FN 38), S. 18 f., 27 f. Vgl. Richard A. Posner, Law and Literature. A Misunderstood Relation, Cambridge/Mass, und London 1988, S. 268 ff. (281 ff.). Zur (alten) Präambel der DDR-Verfassung von 1968 s. Hanno Helbing, Der Sinn einer Präambel, in: NZZ (Hrsg.), Der Entwurf für eine neue Bundesverfassung, Zürich 1979, S. 13 ff. (sie kündige »eine eigentliche Kampfverfassung des sozialistischen Staates deutscher Nation«, an). Expertenkommission für die Vorbereitung einer Totalrevision der Bundesverfassung (Hrsg.), Verfassungsentwurf, Bern 1977, S. 1. Im entsprechenden »Bericht« der Kommission (Bern 1977), S. 19 findet sich der Hinweis auf den Zusammenhang zwischen Präambeltext und »langen Diskussionen um Sinn, Ziele und Aufgaben des Staates an sich, sowie um das Unterfangen der Totalrevision«. Expertenkommission, Bericht (FN 53), S. 19. Nicht zu übersehen sind bei uns auch Tendenzen einer Totalitarisierung der Verfassung. Isensee (FN 38, S. 20 f.) hat auch diese Entwicklung - kritisch - auf den Punkt gebracht: vom thematisch beschränkten obersten Rechtssatz wird das Grundgesetz immer mehr zum allumfassenden Integrationsprogramm. Das Bild einer Totalverfassung, einer Gesetzgebung als bloßem Verfassungsvollzug, hatte bereits Novalis

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gezeichnet: »Eine vollkommene Konstitution - Bestimmung des Staatskörpers, der Staatsseele, des Staatsgeistes - macht alle ausdrücklichen Gesetze überflüssig. Sind die Glieder genau bestimmt, so verstehen sich die Gesetze von selbst«. »Verfassungs-Totalität« (Isensee) aber subalternisiert den Gesetzgeber! Das einzig direktdemokratisch legitimierte Staatsorgan wird präjudiziert, ja stranguliert. Das Überfrachten der Verfassung mit Gesetzgebungsaufträgen, Staatszielbestimmungen und sozialen Grundrechten ist zwar eine Lieblingsbeschäftigung von Parteien, Poeten und Pastoren; die Totalisierung der Verfassung paßt aber nicht zur gemeinsamen antitotalitären Basis von grundgesetzlicher Demokratie, freier Kirche und (Emanzipations- und Freiheitsansprüche realisierender) Dichtung. 56. Juristen. Drei Akte für sieben Spieler, 1979, S. 87. 57. Werner von Simson, Der Staat der Industriegesellschaft, in: Der Staat 11 (1972), S. 51 ff. (57 f.) konstatiert: »Es fehlt das wesentliche Identitätsbewußtsein des einzelnen mit gerade diesem westdeutschen Staat. Es fehlt auch das Bewußtsein, daß unser Staat ein identischer Gegenstand ist, der nacheinander verschiedene, sich höher entwickelnde Zustände annimmt. In diesem Sinne hat Deutschland sich nach dem letzten Kriege nicht wieder gefunden, und es ist sehr zu fragen, ob diese Situation nicht, soweit wir sehen, unabänderlich ist. Das Irrationale am Staat, ohne das er nie zur moralisch-geistigen Erscheinung wird, läßt sich, einmal verloren, nicht wieder herstellen ... Der Staat als Personifizierung des Allgemeinen wird, jedenfalls wo er einmal als geistig-sittliche Kategorie aufgehoben war - und das traf bei uns zu - spontan... (nur noch) von einer Minderheit akzeptiert... Die Bundesrepublik hat etwas verloren und kann es nicht wiedergewinnen, etwas, das anderen Staaten erhalten geblieben ist: den Glauben an eine im Staat bewahrte unbedingt zu erhaltende Lebensform.« 58. Vgl. auch Häberle (FN 16), S. 84 ff., 105.

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59. Vgl. Schneider (FN 24), S. 102, S. 109 ff. zu Identität, Volk, Bund, zum »Mythos vom Ursprung und der Einheit der drei Völker« (S. 112), zum »Mythos der Herkunft« (S. 120). 60. Vgl. jetzt aber Josef Isensee, Staat und Verfassung, in: ders./ Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, Heidelberg 1987, S. 591 ff. (595 f., 702 ff., 608 ff., 648 Anm. 230 [Böckenförde: »Staatsrecht ohne Staat«]). 61. Vom Ende der Epoche der Staadichkeit sprach Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen,Vorwort (zur Ausgabe 1963),Berlin 1963, S. 10. 62. Vgl.Isensee (FN38),S.31.-Auf einem anderen Blatt steht etwa Heinrich Heines scharfe Kritik des reaktionär-despotisch vormärzlichen Deutschlands und seines trostlosen Zustandes nach der gescheiterten Revolution von 1848/49. Die Metapher vom Reich der Lüfte findet sich auch bei Heine. 63. Dazu z.B. Jauß (FN 31), S. 223 ff. sowie - zum Begriff der Aufklärung (»Aufklärung ist totalitär«) - Max Horkheimer/ Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, Frankfurt/M. 1978, S. 7 ff (S. 20 f.: das Kunstwerk als »Erscheinung des Ganzen im Besonderen«. »Als Ausdruck der Totalität beansprucht Kunst die Würde des Absoluten«). 64. Vgl. Häberle (FN 16), S. 106 ff. 65. Die Souveränität im rechtlichen Verständnis der Gegenwart, Berlin 1965, S. 186 ff.; ders. (FN 57), S. 58 ff. 66. Nachweise bei Paul Michael Lützeler (Hrsg.), Plädoyers für Europa. Stellungnahmen deutschsprachiger Schriftsteller 1915 -1949, Frankfurt/M. 1987, S. 7 ff. Natürlich ist der »EuropaEssay als Unterkategorie« (Lützeler) weit älter; er geht bis in die Romantik zurück (Novalis, die Brüder Schlegel).

»DIE GESETZE DES GEISTIGEN U N D DES POLITISCHEN SIND DOCH SEHR VERSCHIEDEN« W O L F G A N G GRAF VITZTHUM

elch eine Begeisterung ... als (der Dichter),... in Tübingen, die Adresse... entwarf: Ausbildung der Gesamt-Verfassung Deutschlands im Sinne eines Bundesstaates mit Volksvertretung durch ein deutsches Parlament im Bundestag, Pressefreiheit im vollen Umfang, Aufhebung der Vereins- und Versammlungsbeschränkungen! Welch ein revolutionärer Elan...: eintausendzweihundert Unterschriften, die Studentenschaft bringt (dem Dichter) ein Ständchen ...! Und wenige Monate später dann der Eklat«, fährt Walter Jens in seiner Beschreibung des Revolutionsjahres 1848 fort: »Das Stuttgarter Rumpfparlament... verjagt...; Uhland als einziger Aufrechter, ein alter Mann, der an der Spitze der Opposition, von Bajonetten bedroht, durch die Straßen der Hauptstadt marschiert; die Professorenschaft gedemütigt ...«'. Uhland, Laube, Ernst Moritz Arndt - insgesamt 10 Dichter, dazu 18 Geistliche in der Paulskirche: Gelingen und Scheitern eines deutschen Versuches, »Geist und Macht« - revolutionär und verfassungsgebend - zu verbinden.

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Beide, »der Dichter und der Staat«, ich erläuterte es unter diesem Titel in der Eingangsveranstaltung unserer Disputation, brauchen einander. Dies ist der erste Aspekt, den ich in Erinnerung rufe. Ohne kritisch-distanzierte und ohne mythenstiftende Dichter (zwei gegensätzliche Haltungen!) hat ein Staat auf Dauer keinen Bestand; für Dichtung ist der konstitutionelle bürgerliche Rechtsstaat, ist der »Staat im Recht«, Bedingung der Möglichkeit von Freiheit. Nie war indes - Walter Jens beleuchtet dies heute - in Deutschland das Verhältnis zur »Macht« auf der Seite des »Geistes« (und umgekehrt) unverkrampft, nicht nur in Zeiten der Bücherverbrennung, der Wiederbewaffnung, der Notstandsgesetzgebung oder der Wiedervereinigung. Die Chiffre vom Staat als Friedensordnung bleibt blaß gegenüber der Chiffre vom Gemeinwesen als Obrigkeitsstaat (mit dem Monopol legaler Gewaltausübung). Symptome eines absoluten Staates gar sind allemal schnell ausgemacht; der Innenminister als Gessler, als Polizei-, nicht als Verfassungsminister - deutsche Normalität. Dafür gibt es mannigfache Gründe, nicht zuletzt deutsche Traumata des historischen Mißbrauchs von Staatsidee und Staatsgewalt. »Der Begriff der Legalität«, befand Heinrich Boll, »ist hierzulande vom Hauch des Ominösen umgeben.« 2 Deswegen eine Vorliebe für das fundamentale In-Frage-Stellen, für das permanente Überprüfen der Legitimität der Macht; zu Recht insofern, als nur legitimierte Macht die Chance für Legalität und Liberalität aufrecht erhält; zu Unrecht insofern, als die Legalität des Verfassungs- und Rechtsstaats seine Legitimität ist.

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»... alles staatliche und gesellschaftliche ausscheidend«, fernab von »Weltverbesserungen und Allbeglückungsträumen« - mit diesem Programm leitete ein halbes Jahrhundert nach der Paulskirche Stefan George seine »Blätter für die Kunst« ein 3 . Ein apolitisch scheinendes, außer- oder antistaatliches Fanal, gewiß. Der Kreis von Freunden und Schülern, der sich um den Dichter scharte, nannte sich bald selbst »der Staat« - weniger ein »Staat im Staat« als ein Gegenüber, als etwas Staats-Fremdes. Ausgangs des Ersten Weltkrieges, in »Zeiten der Wirren«, maß George dem Dichter dann doch ein besonderes - öffentliches - Amt zu: die Rettung Deutschlands vom »Geiste« her 4 . Politik, Parteien, Zeitgeschehen waren nicht sein Thema; »die Gesetze des Geistigen und des Politischen«, befand der Dichter, seien »doch sehr verschieden« 5 . Dies, sahen wir, ist der zweite Aspekt des besonderen deutschen Verhältnisses von »Geist und Macht«: Dichter als Sänger einer Widerwelt. Anders als beim eingangs erwähnten Uhland deswegen kein Engagement Stefan Georges in politicis, erst recht kein Mitarbeiten an Verfassungsmodellen. Kein Sich-Einlassen also auf die angeblich »glanzlose«, »parteiische«, »betrügerische« staatliche Wirklichkeit, statt dessen Orientierung am »Geist«, an der Bildung, an Jean Pauls »Reich der Lüfte«. Hier läßt sich in Deutschland eine Linie ziehen von Schiller über Hölderlin, Thomas und Heinrich Mann bis hin zu - Hindenburg. Nach Schiller wohnt die »Deutsche Größe« »... in der Kultur und im Charakter der Nation, der von ihren politischen Schicksalen unabhängig ist.«6 Der

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Nationbegriff der Deutschen ist kultur-, der etwa der Franzosen staatsbezogen: Bildung und Kultur bei uns als Staatsersatz, Revolutionsdramen statt Revolutionsrealität, Verse als Vaterland. »Geist und Macht«, Kultur- und Staatsnation zur Deckung zu bringen, verheißt dann Thomas Mann. Er wirbt - im Jahr 1922 - für das reale Gemeinwesen von Weimar in seiner Bekehrungs- und Bekenntnisrede »Von Deutscher Republik«: Verheißen wird »das volkstümliche Glück der Einheit von Staat und Kultur«, die Versöhnung von Politik und deutscher Literatur7. Mit poetischer Nonchalance gegenüber geschichtlichen und staatsrechüichen Zusammenhängen beschwört Thomas Mann Erfahrung und Dichtung, Romantik und Demokratie, um darzutun, daß mit der Republik das ästhetische Idealreich angebrochen sei8. In einem vertrackt-deutschen Sinne findet sich dann bei Hindenburg, wie angedeutet, Analoges: zum einen die verhängnisvolle Gleichung von »Politik«, »Machtausübung« und »Parteien« mit »Zerrissenheit«, »bloße Interessenwahrnehmung« und »Klüngelwirtschaft«, zum anderen das nicht weniger schematische Gleichsetzen von Staat, Nation, Vaterland mit hehrem Gemeinwohl und prästabilierter Harmonie - jenen schiefen Ausspruch meine ich, den ifian im Gedenken an Hindenburgs Wahl zum Reichspräsidenten einer Münze einprägte: »Für das Vaterland beide Hände, aber nichts für die Parteien«. »Geist und Macht« in Deutschland? »Wir aber sitzen in Europa herum, meistens zurückgelehnt... Idealisten ohne Ideale Wir wärmen uns an Ohnmacht. Jeder ein Tänzer. Unangewandt. Absolut wie Hölderlin... Wenn wir aber 54

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nichts beizusteuern vermögen als dieses rührende deutsche Nein mit Gitarrenbegleitung, den simplen Non-Konformismus, wenn wir, ohne die Möglichkeit benützt zu haben, danach drängen, Nachwuchs-Emigranten zu werden, wozu uns heute kein Mensch zwingt, dann sollten wir wenigstens zynisch genug sein, die Kanzlerdemokratie nicht bloß zu verachten, sondern ihr auch ein bißchen dankbar zu sein, daß sie es uns so leicht macht, ein edelverbittertes Gesicht zu wahren, und uns sogar noch die Möglichkeit gibt,... uns in ein inneres oder äußeres Exil zu versetzen und eine bedeutende Figur zu machen, wenigstens vor uns selbst und unseresgleichen. In welche Verlegenheit brächten uns ein Staat, eine Gesellschaft, die uns zur Mitarbeit einlüde! Die derzeitige Demokratie bedürfte zwar mehr als jede andere unserer Mitarbeit, aber da sie uns weder will, noch nicht will, erlaubt sie uns doch zu kaschieren, daß jeder von uns nicht mehr will als sich selbst.« Soweit Martin Walser über deutsche Dichter in ihrem Verhältnis zum Adenauer-Staat ausgangs der 50er Jahre - ein Jahrhundert also nach Uhlands aktiver Suche nach einer Art Personalunion von »Geist und Macht«; ein gutes halbes Jahrhundert nach Stefan Georges Gegen-Losung, »alles staatliche und gesellschaftliche ausscheidend.« Ist es Zufall, daß diese programmatische und jene von Walser parodierte Staatsferne - der dritte Aspekt unseres Themas - umschlugen in »staatsedukatorisches« bzw. deutschlandpolitisches Engagement? Dieses frühe SichNicht-Abfinden Walsers mit der Trennung der »beiden Deutschländer« war in seiner Konkretheit, in seinem Wirk55

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lichkeitsgehalt weniger »deutsch« (dafür aber »erfolgreicher«) als in den zwanziger Jahren Georges Vision und »Erziehungsziel« eines »Geheimen Deutschland«. In jenen »Goldenen Zwanziger Jahren« hieß es, das beste am Berliner Theaterleben sei die Kritik mit ihrer inspirierenden Wirkung für die Bühnen gewesen. Mit dem Verhältnis von »Geist und Macht« - Walter Jens' Thema ist es ähnlich. Der Dichter bleibt - unser vierter Aspekt gerade dort für den Staat wichtig, wo er Wächter, Warner, ja Empörer ist. Als Stützpunkt realer Freiheit trägt Dichtung mit ihrem umfassenden Freiheitsanspruch zur Aufklärung, zur Emanzipation bei. Ich erinnere an Adornos Wort von der Kunst als »Platzhalter der Utopie«. Der »Geist« bringt die ständige Erinnerung an die Arroganz und Anfälligkeit der Macht. Gerade darin, daß der Dichter, wie Thomas Mann formuliert, dem Staat ein »aufsässig gesinnter Kumpan« ist, wird er ihm ein hilfreicher, ja unentbehrlicher Partner. Und Tucholsky? Darf ich den offenbar in meinem Vortrag besonders irritierenden Faden noch einmal aufnehmen, ohne befürchten zu müssen, Freunde zu verlieren? Tucholsky, ja das war Polemik, Eitelkeit und Parodie, sicher auch eine verquälte, wehmütige, unerwiderte Liebe zu Deutschland: »Die Zahl der Deutschen Kriegerdenkmäler zur Zahl der Deutschen Heine-Denkmäler verhält sich hierzulande wie die Macht zum Geist«9. Aber es blieb bei dem zornigen Moralisten und radikalen Linksdemokraten in politicis doch vor allem die Enttäuschung über die, wie er meinte, unvollendete Revolution 1918/19. Seine Trauer und Verzweiflung entiud sich dann über der unglücklichen (ihn

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allerdings auch schmählich behandelnden) Ersten deutschen Republik: »Fritz Ebert« sei es darum gegangen, »eine Ordnung zu retten, auf deren Beseitigung es gerade ankam... Das Blut der im Kriege Gefallenen ist umsonst geflossen - für nichts sind sie gefallen. Das Blut der Revolutionäre soll nicht umsonst geflossen sein. Sie sind für eine Sache gefallen. Laßt sie keimen.«10 Zu Hindenburg oder Schleicher fiel Tucholsky (im Unterschied zu Heinrich Mann, der mit seinem Buch »Der Haß. Deutsche Zeitgeschichte« zeitgerecht und als »Empörer vom Geist her« wenn auch inhaldich nicht sonderlich konkret - ins Zentrum traf) mehr ein als zu Göring und Hitler: »Ich kann nicht schreiben«, schrieb er, »wo ich nur noch verachte.« Tucholsky und die anderen verletzenden Kritiker von links, die die Republik »bessern« wollten (während die Kritiker von ganz rechts das Weimarer »System« auch in seinen Grundlagen in Frage stellten), verstanden einfach nicht, daß die Republik erst Wurzeln fassen mußte in fremdem Boden. Ohne Staatsbewußtsein, ohne Empfindungen - das ist der fünfte Aspekt unseres Themas - hält kein Staat die inneren Spannungen und die Schubkraft der Geschichte aus. In den Worten Werner von Simsons: »Das Gedachte genügt nicht, es bedarf des Geliebten.« »Geist und Macht« in Deutschland - nicht um künstliches Konvergieren geht es mir, wohl aber um das Bewußtmachen eines klassischen Defizits: Im allgemeinen kennt der »Geist« nur das Reich der Freiheit, nicht das der Notwendigkeit. Mit den Verbindungen zwischen beiden, mit den konkreten, auch außen- und sicherheits-, finanz- und

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wirtschaftspolitischen Bedingungen der Verwirklichung ihrer Ziele und Entwürfe befassen sich Dichter zu selten. Das Initiieren von Ideen, das Entwerfen von Modellen in einem unbedingten Sinne geht dort, wo sie auf bedingte Sachverhalte anzuwenden sind, ins Leere: der sechste Aspekt des Themas. Gerade in Deutschland hat es an Plänen, Visionen, an faustischem In-die-Ferne-Schweifen nie gefehlt. Mangelhaft blieb der Wille zum Detail, zur klaren Begrifflichkeit, die Kenntnis der stützenden Formen, Institutionen und Konventionen, die Bewältigung konkreter Lagen. Weniger die Demokratie als solche ist zu »singen«; zu ringen ist vielmehr mit ihren Voraussetzungen, mit der tausendfachen Bedingtheit unserer Epoche, unserer Krisen, Konventionen und Einrichtungen. Wer vollendete Staats- und Regierungsformen postuliert - die »vollkommene Demokratie«, die Idealrepublik, die »Totaldemokratie«, die »Vereinigten Staaten von Europa«, die »Weltrepublik« oder die »Weltdemokratie« (Broch) - , sie zugleich aber ihrer unentbehrlichen Institutionen, etwa des Parlaments, beraubt, öffnet Leviathan die Hintertür. »Republik«, definierte Karl Kraus bitter-sarkastisch, »ist, wenn halt nicht Monarchie ist«. Studium generale in Tübingen ist - damit schließe ich - , wenn nicht ich oder andere poetae minores sprechen, sondern wenn Walter Jens das Wort ergreift. Für das Zusammenhalten der verschiedenen Kulturen in der Universität, für das Vertrautbleiben von Hoher Schule und Stadt, für die Integration von Lehrenden und Lernenden über Fakultätsgrenzen hinweg,für das geistige Leben der Region insgesamt sind die von Walter Jens so geprägten Veranstaltungen11 unentbehrlich. Es gab jeweils viel Beifall, auch manche Kritik. Es sind

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diese Dissonanzen und Paradoxien, von denen wir leben: die concordia discors, die »Einheit im Widerspruch«12. »Wir irrten uns aneinander; es war eine schöne Zeit.«13 Anmerkungen 1. Walter Jens, Eine deutsche Universität. 500 Jahre Tübinger Gelehrtenrepublik, 4. Aufl. München 1977, S. 271. 2. Radikale für Demokratie, in: Text und Kritik 33 (1972), S. 21. 3. Nachweise bei Karlhans Kluncker, „Das geheime Deutschland". Über Stefan George und seinen Kreis, Bonn 1985, S. 25 ff. 4. Friedrich Franz von Unruh, Stefan George und der deutsche Nationalismus, Neue Rundschau 43 (1932), S. 478 ff. 5. Nachweis u. a. bei Eckhart Grünewald, Ernst Kantorowicz und Stefan George, Wiesbaden 1982, S. 130. 6. Zitiert nach Friedrich Meinecke, Weltbürgertum und Nationalstaat, 7. Aufl. 1928, S. 57 f. 7. Nachweise etwa bei Frank Fechner, Thomas Mann und die Demokratie, Berlin 1990; Josef Isensee, Republik - Sinnpotential eines Begriffs juristenzeitung 1981, S. 1 ff. (7). 8. Vgl. auch Josef Isensee, Die Verfassung als Vaterland. Zur Staatsverdrängung der Deutschen, in: Armin Möhler (Hrsg.), Wirklichkeit als Tabu, München 1986, S. 11 ff. 9. Kurt Tucholsky, Deutschland, Deutschland über alles, Berlin 1929, S. 16. 10. Tucholsky (FN 9), S. 33,35. 11. Vgl. nur Walter Jens/Hans Küng, Dichtung und Religion, München 1985. 12. Jens (FN 1), S. 351 f. 13. Johann Wolfgang von Goethe, Gedenkausgabe (Werke,Briefe, Gespräche), hrsg. von Beuder, Zürich 1949 ff., Bd. II, S. 172. 59

GEIST U N D MACHT Aspekte eines deutschen Problems

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eginnen wir, dem Verhältnis zwischen Geist und Macht

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in Deutschland nachdenkend, mit dem August 1914...

beginnen wir mit der Kapitulation der Literatur vor der Politik, dem unconditional surrender der Poesie im Zeichen einer Macht, für die - wie bald! - der Tod »ein Meister aus Deutschland« sein sollte. Beginnen wir mit dem «großen

Aufbruch« von 1914, der in Wahrheit gleichbedeutend mit der Zurücknahme von Postulaten war, die jenen »Menschheitsfrühling« von 1789 bestimmten, der auf der Unität von Politik und Moral beruhte und sich durch die Herrschaft der »Literatur« auf allen gesellschaftlichen Gebieten akzentuiert sah. »Wie nie fühlten [damals, im August 1914] die tausende und hunderttausende Menschen, was sie besser hätten im Frieden fühlen sollen: daß sie zusammengehörten, [...] daß sie einen nie wiederkehrenden Augenblick miterlebten und daß jeder aufgerufen war, sein winziges Ich in diese glühende Masse zu schleudern, um sich dort von aller 61

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Eigensucht zu läutern. Alle Unterschiede der Stände, der Sprachen, der Klassen, der Religionen waren überflutet von dem strömenden Gefühl der Brüderlichkeit [...]. Jeder einzelne erlebte eine Steigerung seines Ichs, er war nicht mehr der isolierte Mensch von früher, er war eingetaucht in eine Masse, er war Volk, [...] seine sonst unbeachtete Person hatte einen Sinn bekommen [...] er konnte Held werden, und jeden, der eine Uniform trug, feierten schon die Frauen, grüßten ehrfürchtig die Zurückgebliebenen im voraus mit diesem romantischen Namen.« Das sind Sätze aus der »Welt von Gestern«, den Erinnerungen Stefan Zweigs1, geschrieben in einer Sprache, die, im Augenblick einer nahezu entzückten Vergegenwärtigung, den Abstand der dreißig Jahre aufhebt und, mit Hilfe enthusiastischer, das Einst ins Jetzt verwandelnder Rede, den »wilden und fast hinreißenden Schwung« des August 1914 beschwört. »Trotz allem Haß und Abscheu gegen den Krieg«, lautet - formuliert von einem Pazifisten und Europäer wohlgemerkt! - das Fazit, »möchte ich die Erinnerung an diese ersten [August-]Tage in meinem Leben nicht missen.«2 Und Stefan Zweig stand nicht allein, als er die Nachtseite dieses Augusts - den verwegenen Willen, aus der geordneten Welt auszubrechen und »uralte Blutinstinkte« auszutoben - mit der Tagseite konfrontierte: daß Menschen glauben konnten, im Kollektiv geborgen und zugleich »Ich« sein zu dürfen. Auch Thomas Mann erinnerte sich, in der Maske seines alten Serenus Zeitblom, um die gleiche Zeit wie Stefan Zweig, einer Kriegssituation, »die als Erhebung wirkte, in Deutschland, historisches Hochgefühl, Aufbruchsfreude, 62

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Abwerfen des Alltags, [...] als Zukunftsbegeisterung und [...] heroische Festivität.«3 Entzückte Rede auch hier - Rede, in der die Begeisterung nachhallt, mit der Thomas Mann, Autor der »Gedanken im Kriege« und des (den Angriffskrieg historisch absichernden) Traktats »Friedrich und die große Koalition«, sich, anno 1914, dem Gebot der Stunde unterwarf: Der Zeitblom'sche Satz »Überhaupt will ich nicht leugnen, daß ich vollauf teilhatte an den volkstümlichen Hochgefühlen der ersten glühenden Augusttage« mutet, vergleicht man den »Faustus« mit den Kriegstraktaten Thomas Manns, eher wie eine euphemistische Umschreibung chauvinistischer Verlautbarungen an: von den »Herzen der Dichter, die sogleich in Flammen standen, als jetzt Krieg wurde« bis hin zu der Apotheose des martialischen Geschehens als »Reinigung« und »Befreiung«. »Was die Dichter begeisterte«, so die »Gedanken im Kriege«, »war der Krieg an sich, als Heimsuchung, als sittliche Not. Es war der nie erhörte, der gewaltige und schwärmerische Zusammenschluß der Nation in der Bereitschaft zu tiefster Prüfung - einer Bereitschaft, einem Radikalismus der Entschlossenheit, wie die Geschichte der Völker sie vielleicht bisher nicht kannte.«4 Das sind Worte, die Stellvertretungscharakter beanspruchen dürfen: einerlei, ob der Dichter der Nation, Gerhart Hauptmann, sich zu Reimen hinreißen ließ: »Diesen Leib, den halt ich hin/ Flintenkugeln und Granaten/ eh ich nicht durchlöchert bin/ kann der Feldzug nicht geraten« 5 ... einerlei, ob Hofmannsthal, im Appell an die oberen Stände, die »schöne Berauschung« als »das Kind des hohen Augen-

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blicks« feierte (mit der festlichen Evokation von Strömen, die das »Blut von braven Männern« 6 tränken), einerlei, ob Rilke - »Heil mir, daß ich Ergriffene sehe« - den Geist des Krieges besang - »endlich ein Gott«7, einerlei, ob selbst ein friedlich-bedachtsamer Mann wie Hermann Hesse die These vertrat: »Das gefällt mir [...] an diesem phantastischen Krieg, daß er gar keinen >Sinn< zu haben scheint, daß es nicht um irgendeine Wurst geht, sondern daß er die Erschütterung ist, von der ein Wechsel in der Atmosphäre begleitet wird« 8 ... einerlei, einerlei: Hier redet - von Ausnahmen werden wir hören - die Intelligenz eines Volkes mit einer einzigen Stimme, reden die Dichter nicht anders als die Professoren, die - man denke an die vielfaltigen Kriegsaufrufe - mit nimmermüdem Elan jene »läuternde Kraft des Krieges« beschworen, die ein metaphysisches Erwachen und eine Neubesinnung auf geistige Werte verbürge9: eine These, die, nach den Poeten und den Professoren, die dritte - und verwegenste - Gruppe der Kriegsanwälte, die Pastoren nämlich, unter heilsgeschichtlichen Aspekten variierten: Der August 1914 als Mobilmachung des Herzens begriffen - »nie wieder«, rief damals Otto Dibelius aus, »wird Gott zu dir so gewaltig reden wie in diesen Monaten«10; der Aufbruch des August einmal als Weihnachtsfest, ein andermal als Pfingstwunder apostrophiert; das große Gemeinschaftserlebnis des Kriegsbeginns als Selbstoffenbarung des dreieinigen Gottes gedeutet; der nationale Aufbruch als Ausdruck himmlischer Gnade verstanden, die sich im Hier und Heute manifestiere - darauf verweisend, daß die Sache Deutschlands und die Sache Gottes Synonyma seien. 64

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Die Zeugnisse sprechen für sich. Krieg bedeutete für den Großteil der Intelligenz11, vor allem der Literaten, anno 1914: die Randexistenz der Bürgerwelt so gut wie den Elfenbeinturm der Kunst zu verlassen und, eingemeindet im Volk, als dessen legitimer Sprecher eine neue soziale Funktion zu gewinnen. Krieg bedeutete (deshalb die Zitate): Aufhebung der Kluft zwischen Geist und Macht - durch die freiwillige Subordination der Kultur unter die Interessen imperialistischer Politik. Krieg bedeutete: Der Paria und Outcast unter den Bourgeois sieht sich inthronisiert als geistiger Führer eines im Krieg geläuterten, ans Vermächtnis des deutschen Idealismus anknüpfenden Volks. Der Poet als Anwalt der nationalen Revolution: »Dichtung«, so Robert Musil in seinem Essay über »Europäertum, Krieg, Deutschtum«, »ist im Innersten der Kampf um eine höhere menschliche Artung [...] [darum war] unsere Dichtung eine Kehrseitendichtung, eine Dichtung der Ausnahmen von der Regel und oft schon der Ausnahmen von den Ausnahmen. In ihren stärksten Vertretern. Und sie war gerade dadurch in ihrer Art von dem gleichen kriegerischen und erobernden Geist belebt, den wir heute in seiner Urart verwundert und beglückt in uns und um uns fühlen.«12 Und so akklamierten die Poeten anno 1914 einem Krieg, der, in der Folge des pfingstlichen August-Wunders, aus einer Erwerbsgesellschaft scheinbar wieder die alte Kulturgemeinschaft gemacht hatte: ein gemeinsamen Werten verpflichtetes Volk, das seinen Dichtern den ihnen gebührenden Rang gab. Volk als »lebendige Lebensmacht« (Troeltsch), Volk als Garant, daß Kunst nicht länger echolos

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sei. Volk als Zufluchtsort der Isolierten, die auf der Suche nach neuerund verbindlicher Identifikation, nach Dabeisein und Annahme, eine Gemeinschaft von Schicksalsverschworenen erfanden, denen anzugehören und deren Los verbindlich zu artikulieren Ende des Outcast-Daseins und Neugewinnung gesellschaftlicher Privilegien bedeute: »ein hauch des unbekannten eingefühls durchwehte / Von schicht zu schicht und ein verworrnes ahnen / Was nun beginnt für einen augenblick / Ergriffen von dem welthaft hohen schauer / Vergaß der feigen jähre wust und tand / Das volk und sah sich groß in seiner not.«13 Ergriffen von dem welthaft hohen Schauer: unter dieser Devise Stefan Georges - formuliert 1917 im Gedicht »Der Krieg« - suchten die Schriftsteller, in ihrer überwältigenden Mehrheit, eine neue Verbindung zwischen intellektueller Elite und Volk, zwischen Geist und der Politik herzustellen: beide, Künstler und Masse, in einer Art von nationaler unio mystica, im Bann des gleichen Erlebens, beide, im gemeinschaftsstiftenden Kollektiv des Krieges geborgen - eines Krieges, der für den Künstler die Vernichtung des »verhaßten Ich« bedeutete, Aufhebung des Andersseins... eines Krieges, der, mit Rilke zu sprechen, jedem Einzelnen anzeigte, daß eine »eigenmächtige Existenz in diesen Tagen durchaus im Unrecht« sei, und daß allein die Intensität des Gemeinschaftserlebnisses über Rang und Würde der Künstler, als der ins Volk zurückgekehrten Einzelnen befände: »Wir waren nicht mehr, was wir so lange waren:« heißt es in Max Schelers Traktat »Der Genius des Kriegs«, »allein! Der zerrissene Lebenskontakt zwischen den Reihen: Indivi66

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duum - Volk - Nation - Welt - Gott - wurde mit einem Male wieder geschlossen - und reicher wogten die Kräfte hin und her als es alle Dichtung, alle Philosophie, alles Gebet und aller Kult vorher je zur Empfindung bringen konnten.«14 August 1914: Das hieß für die Künstler und Intellektuellen, das Gefühl einer »betäubenden Zugehörigkeit« (Musil) zu empfinden. Von einem Tag zum anderen, dies bezeugt das Unisono der Verlautbarungen, schien die Trennung zwischen Macht und Geist, Staat und Kunst, überwunden zu sein. Und sie war überwunden, die Kluft, im August 1914, »überwunden« durch die uneingeschränkte Bereitschaft des Geistes, sich der Macht bei der Durchsetzung der von ihr vertretenen Ziele zur Verfügung zu stellen. Ein trauriges Bild in der Tat - dieses Gemälde »Die Intellektuellen, der Krieg und die Nation im August 1914« - ein trauriges und, ließen wir es bei einer solchen Zeichnung bewenden, ein ungerechtes: Schießlich gab es auch einen Karl Kraus - einen Schriftsteller, der, als ein einzelner, in seiner »Fackel« dem Krieg den Krieg erklärte, gab es Leonhard Frank und Ricarda Huch, Schnitzler und Werfel, gab die Autoren zwischen den Fronten, Rene Schickele und Annette Kolb, gab, dies vor allem, Franz Pfemfert und die »Aktion« ... eine Zeitschrift, in der seit der Gründung im Jahr 1911 mit Courage und Vernunft gegen den Krieg gekämpft wurde: gekämpft mit Hilfe unermüdlicher Appelle an eine Partei, die Sozialdemokratie, von der abzusehen sei, daß sie über kurz oder lang dem Geist, der ihre Ehre und Stärke ausmachte, dem Geist des plebejischen Internationalismus und des grenzensprengenden Republikanertums valet sagen

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würde. »Wo« hieß es schon 1911, »bleibt die Aktion des [...] Proletariats, jetzt, da man seine Brüder zur Schlachtbank führt?« Erschütternd - und lehrreich dazu! - ist es (gerade heute: angesichts steigender Ausbeutung der dritten Welt und der im Golfkrieg kulminierenden Vernichtung der Umwelt - trotz Glasnost immer noch Waffenexporte, Umrüstungen und profitable Geschäfte auf Kosten der Armen, der 40.000 Kinder voran, die - um der Raketen willen - täglich sterben),... erschütternd und lehrreich ist es, den am 1. August 1914 in der »Aktion« publizierten, aber bereits am 27. Juli in Druck gegebenen Leitartikel Franz Pfemferts zu lesen - Überschrift »Die Besessenen« -, der, die Taten der großen Mörder in diesem Jahrhundert antizipierend, mit den Sätzen beginnt: »Das also ist die Kulturhöhe, die wir erreichten: Hunderttausende [...] zittern, daß ein Ungefähr, ein Wink der Regierer Europas, eine Böswilligkeit oder eine sadistische Laune, ein Caesarenwahn oder eine Geschäftsspekulation, ein hohles Wort oder ein vager Ehrbegriff, sie morgen aus ihrem Heim jagt, hinweg von Weib und Kind, hinweg von Vater und Mutter, hinweg von allem mühselig Aufgebauten, in den Tod.« Und dann folgt ein Absatz, und danach spricht nur noch die bare Verzweiflung: Kassandra, die zu schreien beginnt und doch weiß, daß niemand sie hören, geschweige denn ihr folgen wird. »Wenn die internationale Sozialdemokratie jetzt phrasentoll die »Schmach des Krieges« brandmarkt, wo die Genossen sich vielleicht schon zum Marschieren rüsten, sollte man die Führer auslachen oder auspeitschen. [...] Wäre die bombastisch quasselnde

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Viermillionenpartei nicht jahrzehntelang nationalistisch gedrillt worden, wir könnten heute jedes Kriegsgeheul heiter hinnehmen.«15 Erschienen, wie gesagt, am 1. August 1914; vierzehn Tage später hieß es, im Zeichen der Kriegszensur, ebenso lapidar wie bewegend: »Die Aktion wird in den nächsten Wochen nur Literatur und Kunst enthalten. Soweit es von meinem Wollen abhängt, wird unsere Zeitung ohne Unterbrechung weitererscheinen. Franz Pfemfert.«.. .'6 und sie erschien weiter, »Die Aktion«, und brachte vom Jahre 1915 an, unter der Rubrik »ich schneide die Zeit aus« Zitate, deren Vorführung in Anfuhrungszeichen die ingrimmigste Anklage gegen den Krieg enthält - und wirksam durch die Verfremdung dazu! - , die, sieht man von der »Fackel« (später auch den »Weißen Blättern«) ab, in jenen Jahren publiziert worden ist. Franz Pfemfert und »Die Aktion«: Das Beispiel zeigt, daß ohne Tuchfühlung mit einer aufÄnderung der bestehenden Verhältnisse abzielenden demokratischen Gruppierung kein Realitätsbezug erreicht werden konnte. Aber diese Konföderation zwischen den Schriftstellern und einer politischen Fraktion gab es in Deutschland, anders als in England und Frankreich, nie. Zu keinem Augenblick kam es zu einem Kondominium von Politik und Poesie, Sanssouci und Weimar waren weit voneinander entfernt; die nationale Kunst blieb, mit Schiller zu sprechen »ungeehrt vor des großen Friedrich Throne«; Poeten waren arme Schlucker und Parias, die (sofern sie nicht als Minister, wie Exzellenz von Goethe, amtierten) in der höfischen Rangordnung nicht viel mehr als Domestiken-Rang einnahmen: undenkbar, daß ein

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deutscher Fürst - wie Ludwig XIV. (angeblich, nicht ganz verbürgt) im Fall Molieres! - einen Schriftsteller auf den Ehrenplatz, zu seiner Seite, piaziert und ihm, während des Festmahls, das Geflügel zerteilt hätte. Deutsche Poeten - das waren, Ausnahmen bestätigen die Regel, entweder Habenichtse oder Catilinarische Existenzen: Kaum vorstellbar, in der Tat, daß Bismarck einen Mann, der nur von Haus zu Haus hätte kommen müssen Theodor Fontane - zum Souper gebeten hätte. Ein Staatssekretär Heine, der es Addison gleichgetan hätte? Ein Börne, dem, ä la John Locke, das Amt eines Kommissärs des Appellationsgerichts offeriert worden wäre? Ein Lessing gar, den sein Landesherr mit politischen Missionen betraut hätte, so, als hieße er Defoe? Absurder Gedanke! »Nie und nirgends sind so viele Schriftsteller«, heißt es in Arnold Hausers »Sozialgeschichte der Kunst und Literatur«17, »mit so hohen Ämtern und Würden ausgezeichnet worden wie in England am Anfang des 18. Jahrhunderts.« Und in Deutschland? Der eine Goethe - nun gut. Aber auch der verharrte bekanndich vor Napoleon in der Rolle eines Untertanen, dem man mitzuteilen geruhte, er sei eine stattliche Erscheinung, habe sich im »Weither« gelegendich vergaloppiert und täte, um der Stoff-Anreicherung willen, gut daran, nach Paris zu kommen. Hüben der Herr und drüben der Kerl, hier der Kaiser aus Frankreich und dort der deutsche Poet: Wie groß der Abstand war, gemessen an der bescheidenen Distanz zwischen dem Sonnenkönig und seinem Racine, das macht Goethes Schreiben an Cotta, 2. Dezember 1818, mit gebote70

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ner Eindringlichkeit deutlich: »Ich will gerne gestehen, daß mir in meinem Leben nichts Höheres und Erfreulicheres begegnen konnte, als vor dem französischen Kaiser [...] zu stehen. [Ja, ich darf sagen], daß mich noch niemals ein Höherer dergestalt aufgenommen, indem er mit besonderem Zutrauen mich, wenn ich mich des Ausdrucks bedienen darf, gleichsam gelten ließ, und nicht undeudich ausdrückte, daß mein Wesen ihm gemäß sei.«18 Nein, Souveränität haben Deutschlands Dichter selten an den Tag gelegt, wenn sie den Großen dieser Welt begegneten: von Lessing, der - ein Protestant! - nur mit Mühe daran gehindert werden konnte, die Füße des Heiligen Vaters zu küssen, bis hin zu Thomas Mann, der seine Lippen mit Inbrunst auf den Fischerring drückte, als es ihm endlich gelungen war, eine Audienz bei Pius XII. zu erwirken... Thomas Mann, für den der »Ernährer« Franklin Delano Roosevelt die Funktion eines Über-Vaters erfüllte (Tolstoi, könnte man denken, sei im »Weißen Haus« eingekehrt), von Kleist, der betteln mußte, bis zu Fontane, der, zu seinem Leidwesen, zwar die neureichen Cohns, nicht aber die altmärkischen Grafen, die Abrahams, Isaaks und Israel, aber nicht die Ribbecks und Kattes, Arnims und Itzenplitz empfangen durfte, als er fünfundsiebzig Jahre alt wurde. »Unser Aschenbrödeltum ist unzweifelhaft, ist eine Tatsache«, so Fontanes Streitschrift - ein auch heute noch gültiges Plädoyer! - über die gesellschaftliche Stellung des Schriftstellers, die mit den Sätzen beginnt: »Wie ist die Stellung des Schriftstellers? - Ich glaube, es herrscht in dieser Frage bei denen, die sie zunächst angeht, eine seltene Ein71

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mütigkeit. Die Berühmten und die Unberühmten, Freien und Unfreien, die Romane- und Stückeschreiber, die Journalisten und Essayisten - der armen Lyriker ganz zu schweigen - alle sind meines Wissens einig darüber: die Stellung eines Schriftstellers ist miserabel.«19 So betrachtet ist es kein Wunder, daß die verachteten, von gesellschaftlicher Verantwortung oder gar Teilhabe an der Macht ausgeschlossenen Poeten, vom 18. bis ins 20. Jahrhundert hinein, vom siebenjährigen bis zum ersten Weltkrieg, aus ihrer Not eine Tugend zu machen versuchten und die soziale Entwürdigung durch absolute, von keinem Realitätsbezug relativierte Entwürfe im Reich des Geistes und der Phantasie zu kompensieren suchten: Revolution unter den Himmeln statt Revolution auf der Erde! Erschaffung eines spirituellen Gemeinwesens von utopischer Konsequenz, der die Politiker, wenn's ihnen gefiele, nachkommen könnten. Im Wolkenkuckucksheim der deutschen Poesie wurden, während Franzosen und Briten zur Aktion schritten (so, wie Heinrich Heine es beschrieben hat), die großen Träume geträumt - und zwar guten Gewissens, da, ließ sich trefflich argumentieren, eine Verwandlung der Gesellschaft im hic et nunc nicht ohne den Vor-Entwurf der »Gedankenmänner« hätte gelingen können: kein Robespierre ohne Rousseau! Der geistigen Revolution galt der Gedanken-Entwurf einzelner, in Provinzen zerstreuter, jämmerlich bezahlter, auf praxisferne Zirkel, Salons, Logen und Debattier-Clubs verwiesener Schriftsteller, galt eine ebenso bewegende wie staats- und praxisferne Vision - eine Konzeption, die auf jener strikten Trennung zwischen politischem und

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aesthetischem Reich beruhte, die in der Kunst-Theorie der Weimarer Klassik auf den Begriff gebracht wurde: Nur die Freiheit von staatlicher Bevormundung und der Anbindung an politischer Zwecke und Zwänge garantiere dem auf strikte Neutralität bedachten Künstler - so die Generalthese der Dioskuren Goethe und Schiller - jene Richt-Macht der Poesie, die sich nicht in den Dienst der Politik stellen lasse, sondern, den Tag und die Stunde transzendierend, das rein Menschliche in seine Rechte setze. In einem Augenblick, da die »Regeneration im Politischen« gescheitert und die Neue Zeit in Blut und Tränen erstickt sei, während des Terreur-Regiments der Revolution, bleibe es, so die Botschaft von Weimar, Aufgabe der Kunst, jenes Erziehungs-Werk zu inszenieren, in dessen Zeichen die große Umwälzung begann, bevor sie sich in ihr Gegenteil verkehrt habe. Also: Transzendierung, aber auch Rettung einer Politik, die auf Vergrößerung des Humanitätspotentials unter den Menschen hinwirken wollte. Literatur als Meta-Politik: Nur die Poesie, nicht staatliche Politik - so Schillers These könne die Entfremdung menschlicher Existenz überwinden und die Trennung zwischen dem Ich und jener brutalen Asozialität der Gesellschaft aufheben, die den Menschen von der Sinnmitte eines vernünftigen Allgemeinen abtrenne: »Ewig nur an ein einzelnes kleines Bruchstück des Ganzen gefesselt, bildet sich der Mensch nur als Bruchstück aus, ewig nur das eintönige Geräusch des Rades, das er umtreibt, im Ohre, entwickelt er nie die Harmonie seines Wesens, und

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anstatt die Menschheit in seiner Natur auszuprägen, wird er bloß zu einem Abdruck seines Geschäfts.«20 Man sieht, so weltfern und so zeitenthoben die aesthetischen Träume auch waren: in Dichterklausen und Redaktionsstuben, aber nicht bei Hofe und auf dem Markt vorgetragen ... sie rücken gleichwohl, vorscheinartig und verfremdet, die Unmenschlichkeit des realen »Ist« am Beispiel des aesthetischen Entwurfs eines humanen »anders wär's besser« ins Blickfeld. Nicht die Neutralität in politicis, nicht das Absehen von staaüicher Realität, auf der das Erziehungsprogramm der deutschen Klassik beruhte, sondern die Verherrlichung dieser Neutralität mit dem Ziel, sich ein gutes Gewissen zu verschaffen und die Verwandlung des - eines Tags einzulösenden - Vortraums in ein eiapopeia, mit dessen Hilfe es sich aus der tristen Wirklichkeit herausstehlen ließe, hat jene verhängnisvolle Geist-Macht-Antithese in Deutschland geprägt, die, was einmal aesthetische Utopie war, zu einem undifferenzierten politischen Quietismus machte, der, um die beiden Extreme zu benennen, weder die Schiller'sche Frage nach der Befreiung des Menschen durch die Kunst noch die Büchner'sche und Heine'sche »Suppenfrage« stellte und sich statt dessen, zum Nutzen der regierenden Staatsmacht, mit selbstzufriedenem Idyllisieren unter Levkojen und Nachtigallen und bei viel schöner Lektüre darauf beschränkte, das höhere Ich herauszukehren: den Bruder Innerlich. In der Tat, nach dem Scheitern der letzten bürgerlichen Revolution, anno 1848, war es unter der Aegide des borussischen Machtstaats endgültig vorbei mit den Gegenentwür74

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fen der Poesie. Wie zaghaft immer sie auch gewesen sein mochten - Preußens Triumph bedeutete: Rücknahme der weltbürgerlich orientierten Aufklärung (einer Buch-Aufklärung zwar nur, doch immerhin...); Potsdams Sieg über Weimar hieß: Revokation des dezidierten Kosmopolitismus Goethes Amerika-Vision am Ende des »Wilhelm Meister«; borussische Herrschaft hieß: Verpflichtung der Nation auf autoritäre Strukturen und hieß vor allem: Durchsetzen eines Nationalismus, der nichts als das war: also, anders als in England, Frankreich und Amerika, keiner der Universalität verpflichteten Idee verbunden war, einerlei, ob sie nun humanite hieß, reason oder freedom and democracy. Der Triumph Preußens war der Triumph des MilitärStaats über ein Stück Klein-Europa, der Triumph der Macht über eine weltoffene Literatur, die zurecht selbst angesichts eines Mannes, der nicht nur Kanzler, sondern auch vortrefflicher Schriftsteller war, eher Beklommenheit empfand: Zuviel Caesar, Herr von Bismarck, zu wenig Goethe! »Diese Mischung von Übermensch und Schlauberger, von Staatengründer und Steuerverweigerer« - Fontane am achtzigsten Geburtstag des Fürsten Bismarck - »von Heros und Heulhuber, der nie ein Wässerchen getrübt hat, erfüllt mich mit gemischten Gefühlen.« Wirksame Literatur im Bismarck-Reich: Das war nicht Belletristik, sondern - glänzend formuliert übrigens - borussische Apologetik ä la Heinrich von Treitschke, die der Verherrlichung eines geschichtslosen »Kunstprodukts« namens »Deutsches Reich« galt, das einerseits auf militärischem Hierarchie-Denken und andererseits auf kapitalisti-

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scher Wirtschaftsmacht beruhte21 - eines Kunstprodukts, dessen »deutsche Ideologie«, um lebendige Wirklichkeit zu werden, jenes Krieges bedurfte, in dem, wie wir gesehen haben, nach den Politikern auch die Literaten ihre Unschuld verloren. Preisgegeben die Visionen von 1789, preisgegeben, über dem deutschen August, die Erinnerung an den anderen, den Menschheits-August des Jahres 1789! Preisgegeben die Trinität der Revolution, die, begleitet von einer winzigen Schar unbeugsamer Demokraten, einzig der eine Heinrich Mann verteidigte, als er, Citoyen vom Schlage der Achtundvierziger, die »Poesie der Demokratie« beschwor - also die Dichtung im Bund mit der Republik als einer menschlichen, geselligen, unautoritären, von der Poesie und nicht vom Bajonett bestimmten Staatsform, die in Geltung zu setzen für Heinrich Mann, im Hinblick auf die unverzichtbare Trias der großen bürgerlichen Umwälzung, bedeutete, sich konsequent und couragiert auf die Seite der Opfer zu stellen und damit jene »Poesie der Demokratie« zu schreiben, die nicht nur humaner, sondern auch »üppiger und hinreißender« als jede andere sei. Aber er war isoliert, Heinrich Mann, isoliert im Kaiserreich und isoliert in der Republik, isoliert wie jene linken Bürger, die sich zu der Republik bekannten, auch wenn diese Republik mit ihren kaisertreuen Juristen, Professoren und Offizieren eher wie eine Monarchie erschien, deren Oberhaupt, mit Tucholsky zu sprechen, »gerade einmal ausgetreten war.«

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Nein, die linken Bürger von Döblin bis zu den Brüdern Mann, von Ossietzky bis Ricarda Huch hatten wenig Gefolgschaft zwischen 1918 und 1933 in Deutschland: »Niemals«, so Heinrich Mann anno 1932 in der »Neuen Rundschau«, »haben die Republikaner sich sicher gefühlt in ihrem eigenen Staat.«22 In der Tat, sie waren allein, die bürgerlichen Demokraten und unabhängigen Linken, die - der radikale Demokrat Kurt Tucholsky voran - einer Republik den Spiegel vorhielten, die weder im Innern noch im Äußern ihrer Pflicht gerecht geworden sei, Menschen und Völker, aber auch das von obsoleten Zwängen befreite Individuum mit einem neuen, liberalen westlichen Mustern folgenden Gemeinwesen zu versöhnen - einem Gemeinwesen, wohlgemerkt, und keinem Staat, dessen autoritäre Strukturen, garantiert durch Altregierende, einen bruchlosen Übergang von wilhelminischem Gestern ins quasi-demokratische Hier und Jetzt jener Republik ermöglichten, deren Verfassungsnorm in eklatantem Widerspruch zu ihrer VerfassungsWirklichkeit stand: Deshalb das »Nein« der zwischen Deutschnationalen und moskautreuen Kommunisten zerriebenen radikaldemokratischen Fronde! »Nein« im Zeichen eines republikanischen Ideals, das von den »Geistigen« im Alltäglichen sedimentiert werden müsse,im dialektischen Wechselspiel von großer Vision und bescheidener - aber unverzichtbarer - Realisierung des Traums. »Wir wissen wohl«, so Kurt Tucholsky, »daß man Ideale nicht verwirklichen kann, aber wir wissen auch, daß nichts auf der Welt ohne die Flamme des Ideals geschehen 77

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ist, geändert ist, gewirkt wurde. Und [...] wir glauben nicht, daß die Flamme des Ideals nur dekorativ am Sternenhimmel zu leuchten hat, sondern sie muß hinieden brennen: brennen in den Kellerwinkeln, wo die Asseln hausen, und brennen auf den Palastdächern der Reichen, brennen in den Kirchen, wo man die alten Wunder rationalistisch verrät, und brennen bei den Wechslern, die aus ihrer Bude einen Tempel gemacht haben.«23 Worte, die wirkungslos blieben: Sie waren allein, trotz allen Ruhms und aller internationalen Geltung, die Republikaner vom Schlage eines Thomas Mann, der 1930 die These vertrat, der Platz des gebildeten deutschen Bürgertums könne, im Zeichen der politischen Wende nach rechts, nur an der Seite der Sozialdemokratie sein. Sie waren isoliert in einem Gemeinwesen, dessen Studentenschaft um 1930 zur Hälfte nationalsozialistisch votierte, dessen Hochschulen seit 1927 in fesüichem Aufzug den Langemarcktag begingen, dessen Bürokratie auf Drängen der Deutschnationalen den nach Erich Maria Remarques Buch gedrehten Film »Im Westen nichts Neues« in den deutschen Ländern mit Ausnahme des demokratischen Preußen verboten, und dessen rechte Kampfpresse in aller Offenheit die Ausmerzung republikanischen Literatentums forderte, vor allem die Vernichtung der jüdischen Großstadtjournaille, der, in strahlendem Glanz, die Dichter deutscher Art und Bewahrer des völkischen Brauchtums gegenübergestellt wurden. Hüben die Deutschen aus allen Gauen, drüben die Asphaltliteraten; hüben die Wahrer von Sitte und Brauch78

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tum, drüben die wurzellose Kulturinternationale; hüben das volkstümliche Leben aus der Landschaft, drüben, als »Provinz des Auslands«, die Betriebsamkeit der Metropole; hüben gesundes Volksempfinden und Opferbereitschaft im Dienst der Nation, drüben zersetzende Beliebigkeit und standpunktlose Liberalität: Die Kampagne von seiten der Deutschnationalen gegen jede Form ziviler Weitläufigkeit in der Kunst war ebenso borniert wie vernichtungsbereit. Vergessen wir nicht: schon in der Republik, nicht erst seit 1933, wurde im »Völkischen Beobachter« eine Liste publiziert, auf denen die Namen jener Schriftsteller standen, die Namen des »schreibenden Gesindels«, denen unmittelbar nach der Machtübernahme das Scheibverbot drohte: Klaus Mann und Bert Brecht, Carl Zuckmayer und Stefan Zweig - auch die Toten, derer nie mehr gedacht werden sollte, waren längst vorgemerkt: Schluß mit Hofmannsthal, und keine Zeile mehr von Frank Wedekind. Die Bücherverbrennung, dies will mit Nachdruck betont sein, kam nicht von heute auf morgen24 - sie wurde, mitten in der Republik, inszeniert - zu einer Zeit, als die Ideen des August 1914, »Weltenwende«, »Neubeginn«, das »Absolute« in der Literatur fröhliche Urstände feierten - in der politischen Theologie Carl Schmitts so gut wie im Geschichtsentwurf Oswald Spenglers oder im Führerkult des GeorgeKreises. Feindschaft gegen die Aufklärung hieß die Devise, Ablehnung rational strukturierter Gesellschafts-Interpretation; Preis des Lebens als des obersten Gesetzes, das sich nicht zu rechtfertigen brauche; Apotheose der Weltenwende, die, jenseits aller historischen Bedingtheit, iden-

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tisch mit dem schicksalhaft eintretenden kairös: der Stunde des kommenden Weltherrschers, jenes germanischen Caesaren sei, der den Deutschen ihr drittes Reich bringen werde. Damit aber all diese, in einem verwegenen Synkretismus gebündelten Ideen politisch relevant werden konnten, bedurfte es eines neue Gemeinschaft und neue Ordnung verbürgenden Erlebnisses - und dieses Erlebnis, das der nationalen Ideologie Verbindlichkeit im Hier und Heute gab, war die Erfahrung der Front: Im Krieg, so schien es, hatte sich alles von Grund auf verändert. Neue und irreversible Umgangsformen gewannen Gestalt, aus der Masse war das hierarchisch geordnete, straff autoritär formierte Heer geworden; ein neuer Menschentyp erhielt, in den militanten Visionen der jungen Nationalisten, Profil - jener Frontkämpfer, der auf verlorenem Posten ausharrt... jederzeit zum Angriff bereit: zum Angriff, in dem derjenige, der den Archetypus des ewigen Frontsoldaten 1932 in seinem Buch »Der Arbeiter« beschwor, Ernst Jünger, die Rechtfertigung des heroischen Aufbruchs der Deutschen sah.25 Unter solchen Aspekten konnten sich die Nationalisten (unterschiedlicher Couleur) in der Republik von Weimar nicht genug belustigen über jene, die, statt zu handeln, dachten, und, statt einem normativen Nichts anheimgegeben, die Entschiedenheit als solche nicht für der Weisheit letzten Schluß hielten, sondern nach Sinn und Ziel solcher Entscheidungen fragten, ihrem cui bono. Hohn über die politisierenden Aufklärer und Zivilisationsliteraten; Hohn über

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jene »Parlamentskrämer«, mit denen verglichen, wie Spengler schrieb, die Achtundvierziger immerhin ehrliche Leute gewesen seien, weltfremd freilich bis zum Komischen, Jean-Paul-Figuren. Und so lachte man dann über die Revolte von Berlin-W., wie man sie nannte, feixte über die Revolution der linken Intelligenz, die durch die wahre, aus dem Frontgeist geborene Revolution ad absurdum geführt werden müsse... und wartete auf den Führer, den Messias, dessen Stunde in Deutschlands tiefster Not gekommen zu sein schien und für den es sich lohne, geopfert zu werden, während man sich für einen Stresemann nicht totschießen lasse: Das Erscheinen dieses Führers, noch einmal Ernst Jünger, »entspricht einem Naturereignis, es ist nicht vorauszusehen und läßt sich nicht beeinflussen. Ihm jedoch die Wege zu bahnen, ist die höchste Aufgabe des Frontsoldatentums.«26 Erwartung des künftigen Retters, der derZeit das Gesetz geben werde: Ein romantischer vorzivilisatorischer Chiliasmus war es (Ernst Bloch hat ihn unter dem Stichwort »Ungleichzeitigkeit« in der »Erbschaft dieser Zeit« beschrieben), ein wilder Traum aus ständestaatlicher Zeit, hinübergerettet ins Massenzeitalter der Technik, der die konservativen Gruppen, von den Nationalkommunisten bis hin zu den Jüngern Georges vereinte. Auch im George-Kreis dominierte die Ablehnung Weimars und seiner vermeinüich die Herrschaft der Masse und die Eliminierung der Elite befördernden Demokratie (Elite in Nietzsches Sinn: der spirituellen Herren-Gemeinschaft)... auch im George-Kreis galt wie in den nationalen Elite-Zirkeln der Universitäten die Absage 81

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an Weimar, die entschiedene Distanz zur Demokratie als Gebot der Stunde. Feindschaft gegen Weimar also auch in jenem Kreis, der, wie kaum ein zweiter, die literarisch interessierte Intelligenz beeinflußte; Feindschaft gegen das vom Ungeist des »Machens« bestimmte, den Geist des »Werdens« außer Kraft setzende Wissenschafts-Jahrhundert, Kampfansage einer sich elitär gebenden kleinen Ordensgemeinschaft, eingeschworen auf den Herrscherkult, die Mythisierung der Geschichte (unter Ausschluß aller sozialen Determinanten) und das soldatische Kaderprinzip. Kurzum, nationale Romantiker aller Schattierungen sind es gewesen, die dem Nationalsozialismus vorarbeiteten und ihm geistig beistanden, ohne dabei selber Nationalsozialisten im Sinne von Parteisympathisanten zu sein: Ganz im Gegenteil, man verachtete die SA-Kolonnen wegen ihrer plebejischen Grobschlächtigkeit, nannte die Ideologie Rosenbergs geisdos und undifferenziert, man verachtete (und mußte für solche Verachtung zwischen 33 und 45 nicht selten mit dem Tode bezahlen)... man verachtete jene, die sich des Knüppels statt des Rapieres (oder zumindest der Mauser) bedienten, man verachtete sie, die Nationalsozialisten, in Weimar und machte sie, unbekümmert um die Konsequenzen eigener totalitärer Weltentwürfe, doch diskussionswürdig, sah sich, bei der Kritik am liberalen Verfassungsstaat, in ihrer Nähe, stimmte, was den Volksbegriff anging, mit ihnen überein, war vom gleichen Geist des Kulturpessimismus getragen: der gleichen ideologischen Zivilisationsfeindlichkeit, fand einander in der Sehnsucht nach neuer, nationale Hoheit verbürgender staaüicher Autorität und war 82

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sich schließlich, trotz unterschiedlicher Bewertung des Rasse-Gedankens, einig in der Gegenüberstellung von Artgleichheit und Artfremdheit im Sinne Carl Schmitts. Ungeachtet des wirtschaftlichen Aufschwungs, nach dem Ende der Inflation, ungeachtet außenpolitischer Normalisierung blieb die Demokratie die Erblast - und nicht, wie's Heinrich Mann formulierte, »das Geschenk der Niederlage« - und damit waren zumal jene linksbürgerlichen Autoren isoliert, die parteipolitisch zwischen der Deutschen Demokratischen Partei und dem linken Flügel der SPD anzusiedeln waren... all jene, die sich expressis verbis zur Demokratie von Weimar bekannten und auf eine Versöhnung zwischen dem fortschrittlichen - nicht verjunkerten Bürgertum und der Arbeiterschaft abzielten. Versöhnung von Kultur und Sozialismus hieß die Devise der nichtmarxistischen Linksliberalen: wobei »Sozialismus« als Inbegriff sinnerfüllter Existenz für jedermann erschien - als Ausdruck für die Teilhabe aller Menschen an Kunst und Kultur. Was Heinrich Mann - neben Franz Pfemfert, dem Herausgeber der »Aktion« - als einziger bereits 1914 postulierte: die »Verwestlichung«, sprich Liberalisierung der Gesellschaft unter Mitwirkung, ja maßgebender Bestimmung durch eine fortschrittliche, internationalistisch gesinnte Intelligenz - das wurde nach der »Erziehung vor Verdun« zur Parole einer breiten, die Postulate der Aufklärung einklagenden Schicht aus dem Kreis der literarischen Avantgarde. Mit Kriegsende und Revolution (die keine war) betrat ein Literaten-Typ die Bühne und wurde, binnen kurzem, zum Protagonisten, den Thomas Mann, auf dem Höhe- und Endpunkt

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seiner konservativen Phase, als »Zivilisations-Literaten« und »Rhetor-Bourgeois«, als »westlichen, von lateinischem Fortschrittsglauben bestimmten Aufklärer«, als gefahrlichradikalen homme de lettres und welschen Tugendbold charakterisiert hatte - den Advokaten der Vernunft. Literatur als Vehikel seichter Aufklärung also und als Todfeindin jener deutschen Kultur, die auf der Verneinung des Politischen, in Sonderheit der Absage an jede Form von Gleichmacherei beruhe, kurzum der Absage an die Demokratie: Was Thomas Mann, bis 1920, der Literatur vorwarf ihr aufklärerisches Pathos, ihren erzieherischen Duktus, ihre Rationalität, ihr dezidiertes Ziel, der poetischen Unterweisung von Deklassierten und nicht - oder zumindest nicht nur - der Erbauung bildungsbürgerlicher Kreise zu dienen: all das, was ex negativo, im ersten Weltkrieg für Thomas Mann den poeta politicus auszeichnete, wurde nach der Wende um 1920, ex positivo, zum - auch und gerade von Thomas Mann - akzeptierten Charakteristikum des republikanischen Schriftstellers in Deutschland... zum Charakteristikum eines Autorentyps, der sich als politischen Moralisten verstand: als ätoyen, der - mit idealistischem, aber gleichwohl (zumindest ansatzweise) gesellschaftsbezogenem Ansatz - im Alltag von Weimar jene Utopien wachzuhalten suchte, die nach Kriegsende, im »Rat geistiger Arbeiter« während der Münchener Räterepublik, bei der Proklamation der radikalen Vernunft zur Verwirklichung anstand27. (Vergebens - wie wir wissen) »Wir Negativen« hat Tucholsky seine Partei, die keine war, genannt - die Koalition der Vernunft und der Aufklä84

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rung, der Kritik, des konsequenten Pazifismus, des Kampfes gegen die Klassenjustiz, des Plädoyers fur den einzigen Freund, den die Republik hatte: den Arbeiter - die Partei, die gegen jene bornierten Funktionäre in beiden Linksparteien zu Felde zog, der SPD und KPD, die von Intellektuellen-Phobie geprägt waren und sich jeden BündnisAngeboten von sehen der literarischen Avantgarde verweigerten, der Nachfahren der Eisner und Landauer: »Ich« hat Tucholsky in einem seiner politisch wichtigsten Artikel »Gebrauchslyrik« von 1928 geschrieben »Ich halte einen Zusammenschluß der radikalen Intellektuellen mit der KPD für einen Segen und für ein Glück. Dazu gehört: auf unserer Seite der Sinn für Disziplin, für das stetige Arbeiten im Alltag und für politisch gesunde Vernunft; dazu gehören auf der Parteiseite guter Wille, Einsicht in die Struktur dieses Landes, das nun einmal nicht Rußland heißt, und die Entfernung von Funktionären, die den Bodensatz dessen darstellen, was wir sind.«28 Geschrieben, wie gesagt, 1928; ein Appell in letzter Stunde, der von der anderen Seite nicht aufgenommen wurde - und hätte man ihn aufgenommen, gewiß nicht von Dauer gewesen wäre: Dazu waren, am Ende der Weimarer Republik, die Desillusionen über den - jede Schwankung im zentralen Polit-Büro imitierenden - Moskau-Kurs der Kommunistischen Partei Deutschlands zu groß; zu groß die Enttäuschung über die Stalinistische Doktrin des »Sozialfaschismus«, der zufolge der Hauptfeind die reformistische Sozialdemokratie sei, und zu entschieden die Überzeugung, daß die Sowjetunion nicht mehr kommunistisch sei, son-

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dem autoritär und territoristisch regiert werde: unfähig, den westeuropäischen Bruderparteien einen eigenständigen Weg zum Sozialismus zu ermöglichen, erpicht auf Maßregelung aller Dissidenten im Innern und Äußeren, der Staatsraison, aber nicht demokratischer Willensbildung vertrauend und das vor allem - die Freiheit des Individuums verhöhnend. Und so sind es am Ende denn die Schriftsteller zwischen den Fronten, undogmatische Marxisten, mit expressionistischen und dadaistischen Formen operierende Sozialrevolutionäre, Bürger, die gegen das Bürgertum opponierten, Republikaner, die die Partei maßregelte... so sind es Einzelgänger gewesen, Frauen und Männer zwischen allen Fronten, die als konsequente Verteidiger der verhöhnten Republik anno 1933 erfahren mußten: Je demokratischer - hier plebejisch, dort bürgerlich-liberal - die Konzeption, desto gewisser der Weg ins Abseits, desto unausweichlicher die Alternative: Tod oder Emigration. (Eine einzige Ausnahme gab es: Ricarda Huch, eine Frau, die im Januar 1919 für den Sozialismus plädierte, 1933 sich als einzige der nationalsozialistischen Umfunktionierung einer Dichtersektion in der Preußischen Akademie widersetzte und dennoch, freilich zumeist in der Schweiz publizierend, im Land bleiben konnte.) Der Einigungs-Appell der letzten Stunde-wo anders als in der »Weltbühne« hätte er artikuliert werden können? scheiterte kläglich: Umsonst Ossietzkys beschwörende Warnung, formuliert am 3. Mai 1932: »Die Sozialdemokratie ist mit ihren opportunistischen Kniffen ebenso mit ihrem Latein am Ende wie die KPD mit ihrem Treiben in die Welt86

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revolution. Primgeiger ist der Faschismus. Die revolutionäre Gärung in Deutschland rührt nicht von einer um Aufstieg kämpfenden Arbeiterschaft her sondern von einem Bürgertum, das sich gegen sein Versinken krampfhaft zur Wehr setzt [...] Ich frage euch, Sozialdemokraten und Kommunisten: Werdet ihr morgen überhaupt noch Gelegenheit zur Aussprache haben? Wird man euch das morgen noch erlauben?« 29 Umsonst, wie gesagt, diese Warnung; Kassandra, das zeigt das Schicksal Heinrich Manns, Ossietzkys oder Piscators, der, isoliert, am Ende proletarisches Theater in bürgerlichem Ambiente machen mußte (großes Theater, wie er ursprünglich wollte, zirzensische Demonstration zur Belehrung der eigenen: unmöglich) - Kassandra war, wie immer, einflußlos. Das Resultat ist bekannt: Vernichtung oder Folter oder Emigration. Elend und Martyrium für die Schriftsteller Deutschlands - für neun Zehntel der Poeten, die im Bereich der Kultur Weltgeltung ihres Landes verbürgten - , aber auch Bewahrung der Würde. Neben Teilen der organisierten Arbeiterschaft waren - Ehre für die Verfolgten, Verpflichtung für uns, ihre Nachfahrn - die Schriftsteller die einzigen, die, von wenigen Ausnahmen abgesehen, Gottfried Benn und Gerhart Hauptmann voran, den Nationalsozialisten gegenüber in toto das Erbe von Aufklärung, Klassik und Humanitätszeitalter bewahrten. Hüben politisch wache Arbeiter und drüben, von Linksbürgern, libertären Sozialisten und Radikaldemokraten bestimmt, die Phalanx von Schriftstellern, die für würdig

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befunden wurde, den Nationalsozialisten als nur durch Scheiterhaufen und Feuer zu besiegende Feinde zu gelten: Da wird, im Zeichen der Niederlage, noch einmal jene Verbindung zwischen den beiden Lagern der republikanischen Avantgarde sichtbar, die vor allem Heinrich und - später! Thomas Mann wieder und wieder beschworen. »Die deutschen Schriftsteller«, so, zu Recht, das Resume Klaus Manns, »haben sich im Jahr 1933 besser bewährt als irgendeine Berufsklasse [...]. Die weitaus meisten Autoren von literarischem Rang stellten sich sofort und aufs entschiedenste gegen eine Diktatur, an deren zutiefst geistfeindlichem Charakter für keinen Klarsichtigen der geringste Zweifel bestehen konnte. Ein Massenexodus der Dichter setzte ein; noch nie zuvor in der Geschichte hat eine Nation innerhalb weniger Monate so viele ihrer literarischen Repräsentanten eingebüßt.«30 Im Jahre 1933 begann, in der Tat, eine Zeit - einzigartig in der deutschen Geschichte - , in der nahezu jede Form produktiver Kultur unrealisierbar war... die Epoche, da für die Literaten, im Zeichen umfassender Reglementierung von seiten der Macht, nur zwei Wege offenstanden: Der Rückzug im eigenen Land - und das hieß: Verzicht auf umfassende Wirkung, wenn einer sich treu bleiben wollte - oder Flucht und Exil... eine Emigration, die künstlerisch im bescheidenen Rahmen Selbst-Bestimmung gewährte, existenziell hingegen von der Gefahr für Leib und Leben bestimmt war, von Heimatlosigkeit und politischer Resignation. Macht und Geist: Das war dreizehn Jahre lang gleichbedeutend mit brutalem Banausentum und Zurücknahme der 88

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lebendigen, also zum Weiterwirken fähigen Kultur-Tradition in Deutschland. Deutsche Literatur zwischen 1933 und 1945 (Literatur, die solchen Namen verdient): das ist Literatur, die im Exil geschrieben wurde, unter elendsten Bedingungen, und das sind einige wenige Werke der Zurückgebliebenen Eugen Gottlob Winkler, Friedo Lampe, Horst Lange - , aber das ist nicht die volkhafte, die heldische, die Weihepoesie des Dritten Reichs, die Pseudo-Dichtung der Macht, von der nichts überdauert hat. Wenn die Autoren, die nach 1945 zu schreiben begannen, irgendwo anknüpfen wollten, wenn Kontinuitäten verbürgt werden sollten: dann allein durch ein In-die-Schule-Gehen bei Anna Seghers oder beim späten Thomas Mann, bei Broch, Brecht oder Döblin - also bei der Literatur des Exils. Sicherlich gab es Übergänge, Verbindungen, Fortsetzung von Begonnenem - nicht mehr in der Sklavensprache, sondern in offener Benennung; sicherlich konnte der nichtfaschistische Klassizismus, vor allem konfessioneller Ausprägung, nach 1945 scheinbar bruchlos ans unter Hiüer Geschriebene anknüpfen; sicherlich haben Kaschnitz und Koeppen, Eich und Hüchel nicht, anno 45, ein zweites Schriftstellerleben begonnen; sicherlich - dies das Fazit gab es keine Stunde Null. Und doch - und doch! - schafft der Verweis auf offene und geheime Kontinuitäten die Tatsache nicht aus der Welt, daß die Zäsur von 45 - vor allem für diejenigen, die in jenen Jahren begannen, aber nicht nur für sie - so dramatisch wie der Einschnitt von 1933 war. Stunde Null: nein. Aber Chance eines radikalen Neubeginns für eine Literatur, deren Vertreter mit Lenin sagen 89

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durften: »Schluß mit der verfluchten Sklavensprache!«: sehr wohl! Vorbei die Zeit der Kolbenheyer und Griese, der Barden und Antisemiten; der Horizont erweiterte sich: anfangs ungehemmt, später, aus politischen Gründen, der damaligen sowjetischen Besatzungszone reicher zufließend als den Westzonen, konnte zurückströmen, was Exilliteratur war. Die Werke jener Emigranten, die im Westen, sofern sie links waren, nach wie vor als Unpersonen galten, wurden zu Lehrmeistern von jungen, damals um die Zeitschrift »Der Ruf« gescharten Autoren, die von einem sozialistischen Europa träumten und an eine Verschwisterung von Sozialismus und Demokratie glaubten. Nun, sie wurden enttäuscht - enttäuscht auch in ihrer Vision von einem Kulturstaat Deutschland, dessen Würde auf der Verpflichtung beruhe, gemeinsame Trauerarbeit zu leisten, Schuld aufzuarbeiten und sich zu besinnen auf die in der »Weltbühne« oder in der Essayistik Heinrich Manns beschworene Aufgabe, die Vorträume deutscher Republikaner im Hier und Jetzt zu realisieren. Es ist anders gekommen: die Männer und Frauen zwischen den Fronten, die undogmatischen Republikaner und Sozialisten, deren spätes Hohelied Peter Weiß in der »Ästhetik des Widerstands« gesungen hat, blieben - so scheint es folgenlos... zumindest auf den ersten Blick. Folgenlos wie die Träume der Eugen Kogon und Walter Dirks von einer großen demokratischen Koalition zwischen den Christen und der Arbeiterschaft - nachzulesen in den »Frankfurter Heften«. Folgenlos wie die Beschreibungen jenes »Dritten 90

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Wegs«, an dessen Konstruktion sich auch Liberale, ja aufgeklärte Konservative beteiligten, weil sie erkannt hatten, daß der Nationalsozialismus erst dann endgültig erledigt sei, wenn das ökonomische Substrat verschwände, auf dessen Basis er florierte. (Deshalb der erste Satz des Ahlener Programms der CDU: »Kapitalistisches Macht- und Gewinn-Streben kann nicht Inhalt und Ziel der staadichen Neuordnung in Deutschland sein.«) Folgenlos, wirklich? Folgenlos die mit Trauerarbeit und moralischem Engagement verbundene Vor-Zeichnung jenes Deutschland, von dem Thomas Mann sagte, in seiner Rede »Deutschland und die Deutschen«, unmittelbar nach der Befreiung unseres Landes, es sei undenkbar, daß der über die bürgerliche Demokratie hinausgehende soziale Humanismus, um den vor allem das große Ringen gehe nach der Liquidierung des Nazismus, dem deutschen Wesen fremd und zuwider sei - im Gegenteil, erst jetzt sei die Stunde gekommen, in der die Deutschen, mit Goethe zu sprechen, sich in der Lage sähen, »die Masse des Guten, die in ihnen liegt, ganz und zum Heile der Nation zu entwickeln«.31 Folgenlos, vergessen, vorbei? - Da stocke ich doch und sage mit Bertolt Brecht: »Das letzte Wort ist noch nicht gesprochen«... gerade in diesem Augenblick nicht. Wäre es nicht möglich, daß die während der ersten Nachkriegsjahre, zwischen 1945 und 1950, in Ost und West unternommenen Versuche, durch eine Besinnung auf das andere, republikanische, von Humanität und universaler Offenheit geprägte Deutschland im Zeichen der Vereinigung neue identitätsstiftende Bedeutung gewönnen: Versuche, jenseits des Holo-

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caust geheime Entwürfe sichtbar zu machen, ohne deren Verwirklichung ein Überleben unmöglich ist? Wäre es nicht möglich, frage ich, daß anno 1990 jene Entwürfe, die - entwickelt schon im kalifornischen Exil - ein humanes, in die Völkerfamilie heimkehrendes Deutschland imaginierten als eine europäische Kulturnation, in derMoralität sich im Sinn von Lessings Ringparabel manifestiert »Nathan, der Weise«: das meistgespielte Stück nach 1945! - . . . wäre es nicht möglich, daß diese Entwürfe heute wieder praktikabel im politischen Alltag würden? Wäre es nicht möglich, daß zumal die im Zeichen des antifaschistischdemokratischen Erneuerungswillens entwickelten Visionen, die - wie bald! - der großen Abgrenzung des kalten Krieges weichen mußten, heute neu bedacht würden ... Entwürfe der ersten Stunde, die der Re-Integration einer Kultur-Nation galten, die in Buchenwald vernichtete, was in Weimar entworfen war, und die sich in Auschwitz selbst liquidierte? (Denn Deutschland, wie es war, kann es nach der Ermordung der Juden, ohne die unser geistiges Leben so wenig denkbar ist wie unsere kulturelle Tradition, nicht mehr geben). Wäre es, frage ich zum letzten Mal, nicht möglich - weil unabdingbar -, daß diese Versuche, Visionen und Entwürfe heute, 1990, im Vorblick auf die europäische Republik Deutschland plötzlich wieder Aktualität gewinnen und sich, dank der bereits in der Emigration vorgetragenen Analyse eines Landes an der Grenze von Provinzialität und Weltbürgerlichkeit, als gegenwärtig erweisen? Ließe sich denken, daß im europäischen Haus die unheilvolle Diskrepanz zwi92

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sehen Geist und Macht, Weimar und Sanssouci, dem Tübinger Stift und der Siegesallee zu transzendieren ist, die im Xenion »Deutschland, aber wo liegt es?« auf den Begriff gebracht wurde: »Ich weiß das Land nicht zu finden / Wo das Gelehrte beginnt, hört das Politische auf.«?32 Ich denke, es wird nicht zuletzt Aufgabe der Intellektuellen im größeren Deutschland sein, mit Hilfe eines humanen, von Behutsamkeit und Courage bestimmten Dialogs die Annäherung von Kultur und Politik zu befördern, um derart, belehrt durch eine Geschichte, die gezeigt hat, wohin Herrschaft entarten kann, die, unbegleitet vom Korrektiv des Geistes, nichts als sie selbst ist... um derart Goethes und Schillers Diktum zu widerlegen. Vergessen wir dabei am Ende nicht, daß es eine kurze, aber unverzichtbare Epoche gab, in der die getrennten Bereiche vereint waren: Damals, als ein deutscher Kanzler im Warschauer Ghetto kniete - in einer Demuts-Haltung, die ihn höher stehen ließ, als alle Potentaten und Generäle zu Roß - und damit für jenes friedfertige, seiner Schuld, Verantwortung und Würde bewußte Land sprach, das, nach 1945, auch die Schriftsteller, aus dem Kreis der Gruppe 47 vor allem, in Geltung zu setzen versuchten. Das heißt: Nicht nur der Alte Fritz und die Dioskuren von Weimar, in ihrem (fortwirkenden!) Gegeneinander auch die entente cordial zwischen Willy Brandt und Heinrich Boll, dem Friedens - und dem Literatur-Nobelpreisträger, will genannt sein, wo es gilt, dem europäischen Deutschland statt der dissonanten die leisere, aber verläßlichere: von Trauerarbeit zeugende und auf eine humane und

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umfassende Friedens-Utopie verpflichtete Melodie vorzuspielen ...die Melodie der Brecht'schen »Kinderhymne« zum Beispiel: einerlei, ob sie nun von Joseph Haydn, Ludwig van Beethoven (»Freude, schöner Götterfunken«) oder Hanns Eisler intoniert wird. Drei passende, dem Rhythmus des Gedichts entsprechende Weisen - und ein stimmiges Poem für das europäische, den hungernden Kindern in der dritten Welt, und nicht den alten Potentaten in der ersten verpflichtete Deutschland: Anmut sparet nicht noch Mühe Leidenschaft nicht noch Verstand Daß ein gutes Deutschland blühe Wie ein andres gutes Land. Daß die Völker nicht erbleichen wie vor einer Räuberin Sondern ihre Hände reichen Uns wie andern Völkern hin. Und nicht über und nicht unter Andern Völkern wolln wir sein Von der See bis zu den Alpen Von der Oder bis zum Rhein. Und weil wir dies Land verbessern Lieben und beschirmen wir's Und das liebste mag's uns scheinen So wie andern Völkern ihrs.33

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Hymne eines Landes, das gelernt hat, die Welt aus der Sicht der Opfer und nicht der Sieger zu betrachten. Hymne eines Gemeinwesens, das den liberalen in den sozialen Rechtsstaat verwandelt und derart die Vorträume der Dichter von einem demokratischen und kosmopolitischen Deutschland ins Hier und Heute überträgt. Eine Utopie? Vielleicht. Nur eine Utopie? Ich denke: nein... sofern wir, die Kluft zwischen Geist und Macht transzendierend, uns entschließen, das kulturelle Erbe der Aufklärer endlich als sinngebendes Strukturelement deutscher Politik zu verstehen. Anmerkungen 1. Stefan Zweig, Die Welt von Gestern, Erinnerungen eines Europäers, Stockholm 1947, S. 258 f. Zum Problem »Dichter, Nation und Krieg« vgl. die zusammenfassende Darstellung von Eckart Koester, Literatur und Weltkriegsideologie, Positionen und Begründungszusammenhänge des publizistischen Engagements deutscher Schriftsteller im ersten Weltkrieg, Kronberg 1977. Ansätze zu einer vergleichenden Darstellung des Themas »Die Intellektuellen und der erste Weltkrieg«: Klaus Vondung (Hsg.), Kriegserlebnis. Der erste Weltkrieg in der literarischen Gestaltung und symbolischen Deutung der Nationen, Göttingen 1980. 2. Stefan Zweig, a.a.O., S. 258. Der Titel des Kapitels heißt »Die ersten Stunden des Kriegs von 1914«. 3. Thomas Mann, Doktor Faustus. Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn erzählt von einem Freunde, in: Gesammelte Werke VI, Frankfurt/M. 1960, S. 399. In diesem Zusammenhang zitiert Zeitblom den Zentral-Topos: Krieg befördert die Annäherung von Staat und Kultur. »Die Kultur

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war frei gewesen, sie hatte auf ansehnlicher Höhe gestanden, und war sie von langer Hand an ihre völlige Beziehungslosigkeit zur Staatsmacht gewöhnt, so mochten ihre jugendlichen Träger gerade in einem großen Volkskrieg, wie ernun ausbrach, das Mittel sehen zum Durchbruch in eine Lebensform, in der Staat und Kultur eines sein würden« (a.a.O.). Thomas Mann, Gedanken im Kriege, in : Gesammelte Werke XIII, Frankfurt 1974, S. 527 ff. Vgl. dazu Kurt Sontheimer, Thomas Mann und die Deutschen,München 1961, S. 19 f. (Kapitel: »Gedanken des Krieges«). Zitiert nach Friedrich Albrecht, Deutsche Schriftsteller in der Entscheidung, Berlin und Weimar 1970, S. 36. (Quelle: Das Forum, 1. Hg., Nr. 7, Oktober 1914, S. 319.) Dem Kapitel »Politisches Engagement unter nationalistischem Vorzeichen - die Haltung deutscher Schriftsteller zum Beginn des ersten Weltkrieges« im Albrecht'schen Buch, a.a.O., S.26 ff., verdanke ich eine Fülle von Belegen. Eine große, oft überraschende Materialflut auch in dem - durch ein wichtiges Nachwort abgeschlossenen - Band: Die Dichter und der Krieg. Deutsche Lyrik 1914-1918, herausgegeben von Thomas Anz und Joseph Vogl, München 1982. Hugo von Hofmannsthal, Gesammelte Werke in Einzelausgaben, Prosa III, Frankfurt/M. 1952, Appell an die oberen Stände, S. 176-181. Auch hier, wie bei Stefan Zweig, die Apotheose der Krieger als der herausgehobenen »Anderen«, denen voll Devotion zu begegnen Aufgabe derDaheimgebliebenen sei: »Schön ist der scheue, ehrfürchtige Blick, mit dem Frauen und Kinder dem Verwundeten folgen, einem der unseren, wenn sie ihn vorbeifahren sehen...« Rainer Maria Rilke, Fünf Gesänge. August 1914, in: Sämtliche Werke in zwölf Bänden, Band 3, Frankfurt 1957. Die kriegerische Emphase war, im Fall Rilke, freilich sehr kurz. Dem bellizistischen Hymnus folgte, rascher als bei anderen Schriftstellern, leidenschaftliche Umkehr. »Warum gibt es nicht ein paar,

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drei, fünf, zehn«, Brief an Ellen Delp vom 10. Oktober 1915, »die zusammenstehen und auf den Plätzen schreien: Genug! und erschossen werden und wenigstens ihr Leben dafür gegeben haben, daß es genug sei, während die draußen jetzt nur noch untergehn, damit das Entsetzliche währe und währe und des Unterganges kein Absehen sei. Warum gibt es nicht Einen, der's nicht mehr erträgt, nicht mehr ertragen mag, schrie er nur eine Nacht lang mitten in der unwahren, mit Fahnen verhängten Stadt...« (in: Briefe aus den Jahren 1914 bis 1931, Leipzig 1938, S. 77 f.). 8. Hermann Hesse, Brief an Volkmar Andreä vom 16. Dezember 1914, in: Gesammelte Briefe, in Zusammenarbeit mit Heiner Hesse herausgegeben von Ursula und Volker Michels, Band 1, Frankfurt/M. 1973, S. 256. Zu den - gern geleugneten - Nebentönen des dominanten Hesse'schen Pazifismus vgl. Marcel Reich-Ranicki, Hermann Hesse,Unser lieber Steppenwolf, ein Beitrag zur deutschen Sentimentalität, in: Nachprüfung, Aufsätze über deutsche Schriftsteller von gestern, Stuttgart 1980, S. 135 ff., mit nachdrücklichem Hinweis auf die - gleichfalls im Brief an Volkmar Andreä vertretene - These: »Die moralischen Werte des Krieges schätze ich im ganzen sehr hoch ein. Aus dem blöden Kapitalistenfrieden herausgerissen zu werden tat vielen gut, gerade auch in Deutschland, und für einen echten Künsüer, scheint mir, wird ein Volk von Männern wertvoller, das dem Tod gegenübergestanden und die Unmittelbarkeit und Frische des Lagerlebens kennt.« Vgl. ferner Walter Jens, Rebellion gegen den Sonntagsgott: Hermann Hesse, in : Walterjens, Hans Küng, Anwälte der Humanität, Thomas Mann, Hermann Hesse, Heinrich Boll, München 1989, S. 39-59. 9. Vgl. Klaus Schwabe, Wissenschaft und Kriegsmoral. Die deutschen Hochschullehrer und die politischen Grundfragen des Ersten Weltkriegs, Göttingen 1969. Zum Aufruf deutscher Intellektueller an die Kulturwelt, der nicht nur von Erzkonservativen, sondern auch von Männern wie Röntgen und Paul

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Ehrlich unterschrieben wurde und dem - von Einstein mitunterzeichneten (er war einer von dreien!) - »Aufruf an die Europäer«, einem couragierten Gegenmanifest (Verfasser: der Arzt und Pazifist Georg Friedrich Nicolai), vgl. Albert Einstein über den Frieden. Weltordnung oder Weltuntergang, herausgegeben von Otto Nathan und Heinz Norden, Vorwort von Bertrand Russell, deutsche Ausgabe Bern 1975, S. 20 ff. Otto Dibelius, Gottes Ruf in Deutschlands Schicksalsstunde Fünf Predigten, Berlin 1915, S. 14. »Nie wieder werden Gottes Engel dich so mit Adlersfittichen zu dieser geöffneten Tür emportragen wie in dieser Zeit.« Vgl. zur kritischen Analyse der »Ideen von 1914« (so der Titel des berühmten, im Band »Deutscher Geist und Westeuropa« publizierten Essays Ernst Troeltschs) vor allem Hermann Lübbe, Politische Philosophie in Deutschland,Studien zu ihrer Geschichte (Kapitel: »Die philosophischen Ideen von 1914«), Basel, Stuttgart 1963. Robert Musil, Europäertum, Krieg und Deutschtum, in : Neue Rundschau 1914, H. 9, S. 1475 f. Jetzt in: Robert Musil, Gesammelte Werke, herausgegeben von Adolf Frise, Reinbek bei Hamburg, Sonderausgabe 1983, II, S. 1020-1022. Dazu die Verweise Frises S. 1806 mit dem Hinweis auf Parallelen in den Tagebüchern: »Das