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German Pages 772 [441] Year 1979
Wirtschaft und Staat in Deutschland Band 1
INSTITUT FÜR WIRTSCHAFTSGESCHICHTE DER AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN DER DDR
Wirtschaft und Staat in Deutschland Eine Wirtschaftsgeschichte des staatsmonopolistischen Kapitalismus in Deutschland vom Ende des 19. Jahrhunderts bis 1945 in drei Bänden Herausgegeben von Helga Nussbaum und Lotte Zumpe
Band 1 Dieter Baudis/Helga Nussbaum Wirtschaft und Staat in Deutschland vom Ende des 19. Jahrhunderts bis 1918/19
Dieter Baudis Helga Nussbaum
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Diese keineswegs systematisch und etwas b u n t zusammengestellten Vergleiche über G r ö ß e n o r d n u n g e n lassen doch einiges erahnen u n d es verständlich erscheinen, daß B R D Satiriker sich E n d e 1975 folgenden „Witz" ausdachten: Man stelle sich die „Multis" als starkes galoppierendes Pferd vor. Man stelle sich weiter vor, auf dem Rücken des Pferdes sitze eine Fliege, die mitreitet, u n d diese Fliege sei der Bundeskanzler. U n d worin bestehe n u n der Witz ? Die Fliege sei überzeugt, seiVergleich, der Jockey! oderVergleiche Wirklichkeit? Natürlich hinktsieder wieWitz so viele hinken. Die staatlich-politisch-militärische Gewalt in den imperialistischen Ländern ist n u n gewiß nicht als „Fliege" zu 7 8
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O - I l l l r
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Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25. 8, 1975, S. 9. Gündel, Rudi, Wissenschaftspolitik und -organisation der Chemiekonzerne in der BRD, in: IPW-Berichte, Nr. 8/1973, S. 56. Räuschel, Jürgen, Chemie-Gigant BASF. Anatomie eines multinationalen Konzerns, Berlin 1975, S. 107.
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Einleitung
bewerten. Lenin sprach vom staatsmonopolistischen Kapitalismus als von der „Vereinigung der Riesenmacht des Kapitalismus mit der Riesenmacht des Staates zu einem einzigen Mechanismus." Aber der Witz reißt in zugespitzter Form ein Problem an, das es bei der Analyse des gegenwärtigen Imperialismus wie des der vergangenen Jahrzehnte immer wieder zu erforschen gilt. Wie hat sich der Prozeß der Verflechtung und Kooperation von Staatsmacht und Monopolmacht vollzogen, woher kamen die Impulse und Zwänge, welches Ausmaß hatte die staatliche und die monopolistische Regulierung der sozialökonomischen und politischen Entwicklung, inwieweit wirkten sie zusammen oder waren verschmolzen, inwieweit und in welchem Grade eventuell gegenläufig? Um diesem Leitgedanken aller drei Bände nachgehen zu können, erscheint es beim gegenwärtigen Forschungsstand notwendig, in den folgenden Kapiteln des ersten Abschnitts sich die Aussagen der Klassiker des Marxismus-Leninismus zum Thema in Erinnerung zu rufen, den Stand der aktuellen wissenschafdichen Diskussion zu umreißen, dabei den eigenen Standpunkt zu erläutern und sich mit einigen grundlegenden Aspekten bürgerlicher Auffassungen auseinanderzusetzen.
KAPITEL 1
Marx, Engels und Lenin über den Zusammenhang zwischen Produktivkraftentwicklung, Konzentration, Monopol und staatsmonopolistischem Kapitalismus
Der Begriff staatsmonopolistischer Kapitalismus ist bekanntlich von Lenin im Jahre 1917 geprägt worden. Doch auch schon vor 1917 beschäftigte sich Lenin mit den Erscheinungen, die diesem Begriff zugrunde liegen. Er beschrieb und analysierte wesentliche von ihnen in seinem Werk „Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus" und entwickelte den theoretischen Ansatz von Marx und Engels über den Zusammenhang zwischen Produktivkraftentwicklung, Kapitalkonzentration und „Staatseinmischung" weiter. Bereits im dritten Band des „Kapitals" von Marx finden sich wichtige Bemerkungen über diesen Zusammenhang: „Bildung von Aktiengesellschaften. Hierdurch: 1. Ungeheure Ausdehnung der Stufenleiter der Produktion und Unternehmungen, die für Einzelkapitale unmöglich waren. Solche Unternehmungen zugleich, die früher Regierungsunternehmungen waren, werden gesellschaftliche. 2. Das Kapital, das an sich auf gesellschaftlicher Produktionsweise beruht und eine gesellschaftliche Konzentration von Produktionsmitteln und Arbeitskräften voraussetzt, erhält hier direkt die Form von Gesellschaftskapital (Kapital direkt assoziierter Individuen) im Gegensatz zum Privatkapital, und seine Unternehmungen treten auf als Gesellschaftsunternehmungen im Gegensatz zu Privatunternehmungen. Es ist die Aufhebung des Kapitals als Privateigentum innerhalb der Grenzen der kapitalistischen Produktionsweise selbst." i Im weiteren Kontext ist der gleiche Gedanke noch einmal anders formuliert: „Es ist dies die Aufhebung der kapitalistischen Produktionsweise innerhalb der kapitalistischen Produktionsweise selbst und daher ein sich selbst aufhebender Widerspruch, der prima facie als bloßer Übergangspunkt zu einer neuen Produktionsform sich darstellt. Als solcher Widerspruch stellt er sich dann auch in der Erscheinung dar. Er stellt in gewissen Sphären das Monopol her und fordert daher die Staatseinmischung heraus."2 (Meine Hervorhebung — H. N.) Marx sieht und formuliert hier den Zusammenhang zwischen Ausdehnung der Stufenleiter der Produktion, direkt gesellschaftlichen Produktions- und Kapitalsformen, Monopol und Staatseinmischung als notwendigen, allgemeinen, wiederholbaren, das heißt gesetzmäßigen Zusammenhang. Seine Formulierung enthält zugleich dadurch eine Prognose, denn in den Jahren vor 1883 waren Monopole als Erscheinungen des von Marx genannten Widerspruchs überall erst in Ansätzen vorhanden. Schon Anfang der neunziger Jahre aber konnte Engels in einer Zusatzbemerkung zu den hier zitierten Textstellen die Richtigkeit der Prognose hinsichtlich der Monopole bestätigen: „Seit Marx obiges schrieb, 1 Marx, Karl, Das Kapital, Bd. 3, in: MEW, Bd. 25, Berlin 1964, S. 452. Ebenda, S. 454.
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Was ist staatsmonopolistischer Kapitalismus?
haben sich bekanntlich neue Formen des Industriebetriebs entwickelt, die die zweite und dritte Potenz der Aktiengesellschaften darstellen . . .", das heißt die Kartelle und Trusts, die in einzelnen Zweigen bereits „die Konkurrenz durch das Monopol ersetzt und der künftigen Expropriation durch die Gesamtgesellschaft, die Nation, aufs erfreulichste vorgearbeitet" haben.3 Für uns bleibt wichtig, festzuhalten — im Hinblick auf Späteres —, daß Marx zwar eine gesetzmäßige Entwicklungslinie in der Ausdehnung des gesellschaftlichen Charakters der kapitalistischen Produktion sieht, die über Aktiengesellschaften zum Monopol und zur Staatseinmischung führt, daß er zwar feststellt, daß hier faktisch „eine Aufhebung det kapitalistischen Produktionsweise innerhalb der kapitalistischen Produktionsweise selbst" vor sich geht, daß er aber bei diesen Feststellungen zunächst das Kapital als „Produktionsfaktor" im Auge hatte, besser gesagt, die Produktionsweise des Kapitals. In bezug auf die Veränderungen in der Aneignung und der Verfügungsmacht schrieb er nämlich folgendes: Aktienwesen und Kredit bieten „dem einzelnen Kapitalisten oder dem, der für einen Kapitalisten gilt, eine innerhalb gewisser Schranken absolute Verfügung über fremdes Kapital und fremdes Eigentum und dadurch über fremde Arbeit. Verfügung über gesellschaftliches, nicht eignes Kapital gibt ihm Verfügung über gesellschaftliche Arbeit." 4 Und nach einem Hinweis darauf, daß die Expropriation aller einzelnen von den Produktionsmitteln, die wegen ihres zunehmend gesellschaftlichen Charakters nur noch gesellschaftliches Eigentum sein können, Ziel der kapitalistischen Produktionsweise ist, fährt er fort: „Diese Expropriation stellt sich aber innerhalb des kapitalistischen Systems selbst in gegensätzlicher Gestalt dar, als Aneignung des gesellschaftlichen Eigentums durch wenige ( . . . ) In dem Aktienwesen existiert schon Gegensatz gegen die alte Form, worin gesellschaftliches Produktionsmittel als individuelles Eigentum erscheint; aber die Verwandlung in die Form der Aktie bleibt selbst noch befangen in den kapitalistischen Schranken; statt daher den Gegensatz zwischen dem Charakter des Reichtums als gesellschaftlichen und als Privatreichtum zu überwinden, bildet sie ihn nur in neuer Gestalt aus." 5 (Meine Hervorhebung — H. N.) Marx stellt also mit aller Deutlichkeit heraus, daß alle Fortschritte in bezug auf den gesellschaftlichen Charakter der Produktion und der Kapitalorganisation, auch wenn sie so weit gehen, daß man von einer „Aufhebung der kapitalistischen Produktionsweise innerhalb der kapitalistischen Produktionsweise selbst" sprechen kann, die dem kapitalistischen System immanenten Widersprüche nicht abschwächen, sondern zuspitzen. Ähnliche Feststellungen traf Engels etwa zur gleichen Zeit, nämlich im III. Abschnitt des Antidühring, den er Anfang 1878 schrieb. Hier konstatiert er, mehr zugespitzt als Marx, wohl weil hauptsächlich im Hinblick auf deutsche Verhältnisse geschrieben, daß die Konsequenz der Vergesellschaftungstendenzen im Kapitalismus das „Staatseigentum an den Produktivkräften" sei. Anfang der neunziger Jahre fügte er in die betreffenden Ausführungen noch Hinweise auf die Trusts (hier in eckigen Klammern) ein: „[So oder so, mit oder ohne Trusts], muß schließlich der offizielle Repräsentant der kapitalistischen Gesellschaft, der Staat, ihre Leitung übernehmen . . . Aber weder die Verwandlung in Aktiengesellschaften [und Trusts], noch die in Staatseigentum, hebt die Kapitaleigenschaft der Produktivkräfte auf. Bei den Aktiengesellschaften [und Trusts] liegt dies auf der Hand. Und der moderne Staat ist wieder nur die Organisation, welche sich die bürgerliche Gesellschaft gibt, um die all3 Ebenda, S. 453f. * Ebenda, S. 454f. 5 Ebenda, S. 456.
Marx, Engels und Lenin
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gemeinen äußern Bedingungen der kapitalistischen Produktionsweise aufrechtzuerhalten gegen Übergriffe, sowohl der Arbeiter wie der einzelnen Kapitalisten. Der moderne Staat, was auch seine Form, ist eine wesentlich kapitalistische Maschine, Staat der Kapitalisten, der ideelle Gesamtkapitalist. Je mehr Produktivkräfte er in sein Eigentum übernimmt, desto mehr wird er wirklicher Gesamtkapitalist, desto mehr Staatsbürger beutet er aus. Die Arbeiter bleiben Lohnarbeiter, Proletarier. Das Kapitalverhältnis wird nicht aufgehoben, es wird vielmehr auf die Spitze getrieben. Aber auf der Spitze schlägt es um. Das Staatseigentum an den Produktivkräften ist nicht die Lösung des Konflikts, aber es birgt in sich das formelle Mittel, die Handhabe der Lösung. Diese Lösung kann nur darin liegen, daß die gesellschaftliche Natur der modernen Produktivkräfte tatsächlich anerkannt, daß also die Produktions-, Aneignungs- und Austauschweise in Einklang gesetzt wird mit dem gesellschaftlichen Charakter der Produktionsmittel." 6 Und in einer abschließenden, 1891 hinzugefügten Zusammenfassung des geschilderten Entwicklungsganges lesen wir: „Aneignung der großen Produktions- und Verkehrsorganismen zuerst durch Aktiengesellschaften, später durch Trusts, sodann durch den Staat."1 In dieser ebenfalls wieder weitgehend prognostischen Einschätzung kam es Engels besonders darauf an, diejenigen Tendenzen herauszuheben, die sich objektiv aus der Entwicklung der Produktivkräfte ergeben und die auf eine Wandlung des „modernen Staates" vom „ideellen Gesamtkapitalisten" zum „wirklichen Gesamtkapitalisten" drängen. Von möglichen Gegentendenzen wird hier noch abstrahiert, aber die Entwicklungsbedingungen für solche Gegentendenzen sind, wie schon erwähnt, bei Marx angedeutet: Die Expropriation der Bourgeoisie vollzieht sich in Form der Enteignung des gesellschaftlichen Eigentums durch wenige, deren Verfügungsmacht über gesellschaftliches Kapital und damit gesellschaftliche Arbeit wächst. Daraus ergibt sieb, daß die gesellschaftspolitische Macht dieser wenigen ebenfalls wachsen muß und damit die Möglichkeit, den Verlust ihrer Verfügungsmacht über das gesellschaftliche Eigentum zu verhindern und den „Druck der Produktivkräfte" in anderen Formen aufzufangen als durch deren Verwandlung in direktes Eigentum des kapitalistischen Staates. Hatten Marx und Engels die Widersprüche im Prozeß der direkten Vergesellschaftung des Kapitals und der Produktion noch vorwiegend anhand der Aktiengesellschaften studiert und daraus ihre Prognosen abgeleitet, so konnte Lenin in den Jahren vor dem ersten Weltkrieg die nun schon in hohem Maße ausgeprägten Formen der nächsten Entwicklungsstufe dieses Prozesses, die Monopole, beobachten und analysieren. In seinem im Frühjahr 1916 geschriebenen Werk „Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus" kam es ihm, wie er in der Einleitung bemerkt, vor allem darauf an, die grundlegenden ökonomischen Besonderheiten der neuen Entwicklungsetappe darzustellen: „Auf die nichtökonomische Seite der Frage werden wir nicht so eingehen können, wie sie es verdienen würde." 8 Auf diese Bemerkung muß ausdrücklich hingewiesen werden, weil sie konzeptionelle Bedeutung hat. Lenin hat nicht nur aus Zensurrücksichten die ökonomische Seite so in den Vordergrund gerückt. Die in der bürgerlichen Literatur Ende des 19. Jahrhunderts aufgekommene Betrachtungsweise des Phänomens Imperialismus hatte bekanntlich in starkem 6
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Engels, Friedrieb, Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft („Anti-Dühring"), in: Ebenda, Bd. 20, Berlin 1962, S. 259f., 617. Ebenda, S. 620. Lenin, W. I., Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus, in: Werke, Bd. 22, Berlin 1960, S. 200.
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W a s ist staatsmonopolistischer Kapitalismus?
Maße die Haltung opportunistischer Kreise in der Arbeiterbewegung beeinflußt. So hatte Kautsky behauptet: „Und nur eine Frage der Macht, nicht aber der ökonomischen Notwendigkeit ist der Imperialismus. Er ist nicht nur nicht notwendig für das kapitalistische Wirtschaftsleben, seine Bedeutung dafür wird vielmehr maßlos überschätzt."9 Lenin bezeichnete es als unrichtig und unmarxistisch, „daß Kautsky die Politik des Imperialismus von seiner Ökonomik trennt, indem er von Annexionen als der vom Finanzkapital 'bevorzugten' Politik spricht und ihr eine angeblich mögliche andere bürgerliche Politik auf derselben Basis des Finanzkapitals entgegenstellt. Es kommt so heraus, als ob die Monopole in der Wirtschaft vereinbar wären mit einem nicht monopolistischen, nicht gewalttätigen, nicht annexionistischen Vorgehen in der Politik. Als ob die territoriale Aufteilung der Welt, die gerade in der Epoche des Finanzkapitals beendet wurde und die die Grundlage für die Eigenart der jetzigen Formen des Wettkampfs zwischen den kapitalistischen Großstaaten bildet, vereinbar wäre mit einer nicht imperialistischen Politik." 10 Lenin konzentrierte sich also darauf, die ökonomischen Grundfragen herauszuarbeiten und nachzuweisen, daß es sich beim Imperialismus um eine neue Entwicklungsstufe des Kapitalismus handelt, die aus der Weiterentwicklung seiner Grundeigenschaften erwuchs, aber eindeutig neue ökonomische Merkmale aufweist; daß die Arbeiterbewegung ihre Strategie auf die neuen ökonomischen Gegebenheiten ausrichten muß und nicht lediglich für eine Änderung der imperialistischen Politik kämpfen dürfe. Lenin hat mit seiner Analyse die Deutung des Verhältnisses von Politik und Ökonomik im Imperialismus gewissermaßen vom Kopf auf die Füße gestellt. Eine grobe Vereinfachung aber wäre es, wollte man die fünf Merkmale, die Lenin zur Kennzeichnung der neuen Entwicklungsstufe der Ökonomik angibt, als ausreichend für dieKennzeichnung des Gesamtsystems einer imperialistischen Gesellschaft ansehen. Im Anschluß an seine bekannte Definition des Imperialismus weist Lenin ausdrücklich darauf hin, daß sie sich auf die „grundlegenden rein ökonomischen Begriffe" beschränkt. „Wir werden später sehen", schrieb er, „wie der Imperialismus anders definiert werden kann und muß, wenn man nicht nur die grundlegenden rein ökonomischen Begriffe (auf die sich die angeführte Definition beschränkt) im Auge hat, sondern auch den historischen Platz dieses Stadiums des Kapitalismus in bezug auf den Kapitalismus überhaupt oder das Verhältnis zwischen dem Imperialismus und den zwei Grundrichtungen innerhalb der Arbeiterbewegung." 11 So ergänzt Lenin die bekannten fünf Merkmale der „rein ökonomischen" Definition durch weitere wesentliche Merkmale wie: Übertragung monopolistischer Herrschaftsformen auf die Ebene der Politik, Oligarchie, Drang nach Herrschaft, statt nach Freiheit. Und so weist er auch immer wieder auf die neuen Wechselbeziehungen zwischen Ökonomik und Politik, zwischen ökonomischen und staatlich-politischen Bereichen hin und stellt fest, daß sie als notwendige Folge der Entwicklung in der ökonomischen Basis zu begreifen sind. Er erläutert zum Beispiel in den Abschnitten über den Kapitalexport und die Aufteilung der Welt, wie sich in den außenwirtschaftlichen und außenpolitischen Beziehungen „monopolistische Prinzipien" ausprägen, wie sich die Aktionen der Monopole und der staatlichen Institutionen immer enger verflechten. „ Wir sehen hier anschaulich", schrieb er Kautsky, Karl, Nationalstaat, imperialistischer M Lenin, W. I., a. a. O., S. 274. 9
» Ebenda, S. 2 7 1 .
Staat und Staatenbund, Nürnberg 1 9 1 5 , S. 22.
Marx, Engels und Lenin
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im Hinblick auf die Vorgänge um das Kalimonopol und das geplante Petroleummonopol in Deutschland, „wie sich in der Epoche des Finanzkapitals private und staatliche Monopole miteinander verflechten und die einen wie die anderen in Wirklichkeit bloß einzelne Glieder in der Kette des imperialistischen Kampfes wischen den größten Monopolisten um die Teilung der Welt sind,"12 (Meine Hervorhebung — H. N.) Ohne den Begriff staatsmonopolistischer Kapitalismus schon zu verwenden, beschreibt Lenin doch hier schon sein wesentlichstes Kennzeichen, und zwar abgeleitet aus Grundeigenschaften der „Epoche des Finanzkapitals" und darum auch als wesentliches Merkmal dieser Epoche zu verstehen. Er weist darauf hin, wie sich aus der wachsenden Rolle und dem wachsenden Umfang des Kapitalexports mit Notwendigkeit die gegenseitige Durchdringung „privat"monopolistischer und staatlicher Aktivitäten ergibt: „Die Monopole sind aber überall Träger monopolistischer Prinzipien: An Stelle der Konkurrenz auf offenem Markt tritt die Ausnutzung der 'Verbindungen' zum Zweck eines profitablen Geschäftes . . . Krupp in Deutschland, Schneider in Frankreich, Armstrong in England — das sind Musterbeispiele von Firmen, die mit den Riesenbanken und der Regierung in engster Verbindung stehen und beim Abschluß von Anleihen nicht so leicht 'umgangen' werden können." 13 (Meine Hervorhebung — H. N.) Als zweites der fünf wichtigsten Merkmale in der „rein ökonomischen" Imperialismusdefinition nennt Lenin: „Verschmelzung des Bankkapitals mit dem Industriekapital und Entstehung einer Finanzoligarchie auf der Basis dieses 'Finanzkapitals'." 14 Die Banken verwandeln sich aus bescheidenen Vermittlungsunternehmen in Monopolisten des Finanzkapitals, und das, so betont er, hat unvermeidliche Folgen für den politisch-staatlichen Bereich. „Ist das Monopol einmal zustande gekommen und schaltet und waltet es mit Milliarden, so durchdringt es mit absoluter Unvermeidlichkeit alle Gebiete des öffentlichen Lebens, ganz unabhängig von der politischen Struktur und beliebigen anderen 'Details'." 15 So ist es eine Tatsache, „daß sogar die bürgerliche Literatur über das deutsche Bankwesen fortwährend gezwungen ist, weit über die Behandlung reiner Bankoperationen hinauszugehen und beispielsweise aus Anlaß der sich häufenden Fälle des Übertritts von Regierungsbeamten in den Bankdienst von einem 'Zug zur Bank' zu schreiben." 16 Und an anderer Stelle bemerkt er: „Die 'Personalunion' der Banken mit der Industrie findet ihre Ergänzung in der 'Personalunion' der einen wie der anderen Gesellschaften mit der Regierung." 17 Von besonderem Interesse für unsere Thematik ist auch eine Bemerkung über die neue Qualität zwischenstaatlicher Beziehungen, wie sie besonders in der ökonomischen Abhängigkeit kleiner, politisch selbständiger Staaten von den großen imperialistischen Staaten zum Ausdruck kommt: „Derartige Beziehungen zwischen einzelnen großen und kleinen Staaten hat es immer gegeben, aber in der Epoche des kapitalistischen Imperialismus werden sie zum allgemeinen System, bilden sie einen Teil der Gesamtheit der Beziehungen bei der 'Aufteilung der Welt' und verwandeln sich in Kettenglieder der Operationen des Weltfinanzkapitals." 18 Was Lenin also schon in seinem Werk „Der Imperialismus als höchstes Stadium des « Ebenda, 13 Ebenda, K Ebenda, 15 Ebenda,
S. S. S. S.
255. 248. 271. 241.
16 Ebenda. « Ebenda, S. 225. 18 Ebenda, S. 268.
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Was ist staatsmonopolistischer Kapitalismus
Kapitalismus" herausgearbeitet hat, ist dies: Die Verschmelzung
der ökonomischen
Macht der
kapitalistischen Monopole mit der politischen Macht des Staates ergibt sieb mit Notwendigkeit aus den Wesens^ügen des Imperialismus, den Lenin als eine „ Übergangsordnung' charakterisiert, in der der „alte Kapitalismus" abstirbt,19 Ende 1916 und im Jahre 1917 ging Lenin wiederholt auf Entwicklungen ein, die sich seit Ausbruch des Krieges vollzogen hatten. 20 Ende 1916 stellte er fest: „Während des Krieges hat der Weltkapitalismus einen Schritt vorwärts gemacht nicht nur zur Konzentration überhaupt, sondern auch zum Übergang von den Monopolen schlechthin zum Staatskapitalismus in noch größeren Ausmaßen als früher. Ökonomische Reformen in dieser Richtung sind unvermeidlich." 21 Am 31. Januar 1917 schrieb er im „Sozialdemokrat": „Der Weltkapitalismus, der in den sechziger und siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts die progressive, die fortschrittliche Kraft der freien Konkurrenz war und der am Anfang des 20. Jahrhunderts in den monopolistischen Kapitalismus, d. h. in den Imperialismus hinübergewachsen ist, hat während des Krieges einen beachtlichen Schritt vorwärts getan nicht nur zu einer noch stärkeren Konzentration des Finanzkapitals, sondern auch zu seiner Umwandlung in den Staatskapitalismus."'1'1 Lenin verwendet hier den Ausdruck Staatskapitalismus im Sinne der oben zitierten Ausführungen von Engels als Ausdruck für ein System, in dem der Staat zum „wirklichen Gesamtkapitalisten" wird. Auf die konkreten Erscheinungsformen dieser Umwandlung und die Verschärfung der Widersprüche, die sich daraus ergeben, geht Lenin kurze Zeit später ein, wobei er einen neuen Begriff einführt. Am 29. April/12. Mai 1917 trug er auf der Siebenten Gesamtrussischen Konferenz der SDAPR(B) eine Resolution vor, in der es hieß: „Die objektiven Voraussetzungen für die sozialistische Revolution, die zweifellos in den am stärksten entwickelten fortgeschrittenen Ländern schon vor dem Kriege gegeben waren, sind noch mehr herangereift und entwickeln sich infolge des Krieges mit rasender Schnelligkeit weiter. Die Verdrängung und der Ruin der Klein- und Mittelbetriebe wird noch mehr beschleunigt. Die Konzentration und Internationalisierung des Kapitals wächst ins riesenhafte. Der monopolistische Kapitalismus verwandelt sich in staatsmonopolistischen Kapitalismus, eine Reihe von Ländern gehen unter dem Druck der Verhältnisse zur öffentlichen Regulierung der Produktion und der Verteilung über, einige von ihnen führen die allgemeine Arbeitspflicht ein." 2 3 (Meine Hervorhebung — H. N.) In der gleichen Resolution wird auf die Zuspitzung der Widersprüche hingewiesen, die sich aus der staatsmonopolistischen Entwicklung während des Krieges ergeben: „Bei Aufrechterhaltung des Privateigentums an den Produktionsmitteln gehen alle diese Schritte in Richtung einer größeren Monopolisierung und größeren Verstaatlichung der Produk19
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„Der alte Kapitalismus hat sich überlebt. Der neue ist der Übergang zu etwas anderem". (Ebenda, S.228). „In seinem imperialistischen Stadium führt der Kapitalismus bis dicht an die allseitige Vergesellschaftung der Produktion heran, er zieht die Kapitalisten gewissermaßen ohne ihr Wissen und gegen ihren Willen in eine Art neue Gesellschaftsordnung hinein, die den Übergang von der völlig freien Konkurrenz zur vollständigen Vergesellschaftung bildet." (Ebenda, S. 209). Siehe dazu ausführlich: Kuczynski, Jürgen, Die Geschichte der Lage der Arbeiter unter dem Kapitalismus, Bd. 14: Zur Frühgeschichte des deutschen Monopolkapitals und des staatsmonopolistischen Kapitalismus, Berlin 1962, S. 171-183. Lenin, W. /., Rohentwurf der Thesen für einen offenen Brief an die Internationale Kommission und an alle sozialistischen Parteien, in: Werke, Bd. 23, Berlin 1957, S. 218. Derselbe, Eine Wende in der Weltpolitik, in: ebenda, S. 279. Derselbe, Resolution über die gegenwärtige Lage, in: ebenda, Bd. 24, Berlin 1959, S. 302.
Marx, Engels und Lenin
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tion unweigerlich Hand in Hand mit einer immer stärkeren Ausbeutung der werktätigen Massen, mit der Verstärkung der Unterdrückung, der Erschwerung des Widerstandes gegen die Ausbeuter, dem Erstarken der Reaktion und des Militärdespotismus, und zugleich führen sie unweigerlich zu einem ungeheuren Anwachsen der Profite der Großkapitalisten auf Kosten aller übrigen Bevölkerungsschichten, zur Versklavung der werktätigen Massen auf viele Jahrzehnte durch Tribute, die sie in Form von Milliardenzinsen für die Anleihen den Kapitalisten entrichten müssen. Die gleichen Bedingungen aber bieten bei Aufhebung des Privateigentums an den Produktionsmitteln, bei vollständigem Übergang der Staatsmacht in die Hände des Proletariats die Gewähr für eine erfolgreiche Umgestaltung der Gesellschaft, die die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen aufhebt und den Wohlstand aller wie jedes einzelnen sichert." 24 In den folgenden Monaten verwendet Lenin neben dem neuen Begriff „staatsmonopolistischer Kapitalismus" auch noch den Begriff „Staatskapitalismus" für dieselbe Erscheinung, wobei er aber auch dann stets die Monopole als dessen Grundlage in den Gedankengang einbezieht: „Andererseits hat sich gegen diese hauptsächlich englisch-französische Gruppe eine andere, noch beutegierigere, noch räuberischere Gruppe in Bewegung gesetzt, eine Gruppe von Kapitalisten, die an den Tisch des kapitalistischen Schmauses herantraten, als die Plätze schon besetzt waren, dabei aber neue Verfahren zur Entwicklung der kapitalistischen Produktion, eine bessere Technik und eine unvergleichliche Organisation in den Kampf führten, die den alten Kapitalismus, den Kapitalismus der Epoche der freien Konkurrenz in den Kapitalismus der riesigen Trusts, der Syndikate und Kartelle verwandelte. Diese Gruppe entwickelte die Grundlagen für die Verstaatlichung der kapitalistischen Produktion, für die Vereinigung der Kiesenmacht des Kapitalismus mit der Kiesenmacht des Staates z.u einem einigen Mechanismus, der viele Millionen Menschen in einer einzigen Organisation des Staatskapitalismus erfaßt. Das eben ist die
Geschichte der Ökonomie, die Geschichte der Diplomatie während mehrerer Jahrzehnte, woran niemand vorbeigehen kann." 2 5 (Meine Hervorhebung — H. N.) Die Vorstellung von der Verschmelzung, die schon in dem Begriff „staatsmonopolistischer Kapitalismus" enthalten ist, wird hier noch näher erläutert. Lenin analysiert die konkreten Erscheinungsformen dessen, was Marx und Engels als höhere Stufe der Konzentrationstendenz, die letztlich durch den „Druck der Produktivkräfte" hervorgerufen wird, voraussagten: die „Staatseinmischung" bzw. die Übernahme der Produktivkräfte in Staatseigentum. Die Expropriation der Bourgeoisie, schrieb Marx, vollzieht sich in der Form der Aneignung des gesellschaftlichen Eigentums durch wenige. Die nächste Stufe
der Konzentration besteht nun nicht in einer Expropriation der wenigen zugunsten des Staatseigentums an den "Produktivkräften, sondern in einer Vereinigung ihrer Eigentums- und Verfügungsmacht mit der „Kiesenmacbt des Staates zu einem einzigen Mechanismus". In den ersten Äußerungen Lenins zu unserem Problem wird festgestellt, daß sich die Umwandlung des monopolistischen Kapitalismus zum Staatskapitalismus bzw. staatsmonopolistischen Kapitalismus hauptsächlich während des Krieges vollzogen habe. In der zuletzt zitierten Bemerkung ist erkennbar, daß Lenin nunmehr die Wurzeln dieses Entwicklungsprozesses, der erst während des Krieges so überaus deutlich sichtbar geworden war, weiter zurückverfolgte. Noch deutlicher wird dies in seiner im August 1917 verfaßten Schrift „Staat und Revolution", in der es im Vorwort heißt: „Die Frage des Staates gewinnt gegenwärtig besondere Bedeutung sowohl in theoretischer als auch in praktisch2* Ebenda, S. 302 f. Derselbe, Krieg und Revolution. Lektion am 14. (27.) Mai 1917, in: ebenda, S. 401.
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Was ist staatsmonopolistischer Kapitalismus
politischer Hinsicht. Der imperialistische Krieg hat den Prozeß der Umwandlung des monopolistischen Kapitalismus in staatsmonopolistischen Kapitalismus außerordentlich beschleunigt und verschärft."26 (Meine Hervorhebung — H. N.) In derselben Arbeit heißt es an anderer Stelle: „Insbesondere aber weist der Imperialismus, weist die Epoche des Bankkapitals, die Epoche der gigantischen kapitalistischen Monopole, die Epoche des Hinüberwachsens des monopolistischen Kapitalismus in den staatsmonopolistischen Kapitalismus, eine ungewöhnliche Stärkung der 'Staatsmaschinerie' auf, ein unerhörtes Anwachsen ihres Beamten- und Militärapparats in Verbindung mit verstärkten Repressalien gegen das Proletariat sowohl in den monarchistischen als auch in denfreiesten, republikanischen Ländern." 27 (Meine Hervorhebung — H. N.) Hier ist die Aussage noch weiter verallgemeinert, der Umwandlungsprozeß wird zeitlich nicht eingegrenzt, es wird festgestellt, daß dieser Umwandlungsprozeß ein Kennzeichen der imperialistischen Epoche ist. Derselbe, Staat und Revolution, in: ebenda, Bd. 25, Berlin 1960, S. 395. 2' Ebenda, S. 423.
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KAPITEL 2
Neuere Diskussionen zum historischen Platz des staatsmonopolistischen Kapitalismus und eigene Thesen
Lenin konnte lediglich die Anfänge der Rolle des Staates in der monopolkapitalistischen Ökonomik beobachten. Mit der Weiterentwicklung der staatsmonopolistischen Prozesse hat sich auch die marxistisch-leninistische Forschung zunehmend intensiver mit diesen Phänomenen befaßt. 1 Mit den wachsenden Kenntnissen und Erkenntnissen, die die konkrete Erforschung der staatsmonopolistischen Prozesse erbrachte, mußte sich aber auch immer erneut die Frage nach der theoretischen Einordnung dieser Erscheinungen stellen. So hat in der international wachsenden Zahl marxistischer Publikationen über Probleme des staatsmonopolistischen Kapitalismus in den letzten Jahren auch die Diskussion um seinen historischen Platz wieder zugenommen. Ein Überblick über die Haupttendenzen dieser Diskussion mag nützlich sein, um den Leser auf die theoretische Problematik einer Geschichte des staatsmonopolistischen Kapitalismus aufmerksam zu machen. In einer 1970 veröffentlichten Studie der Verfasserin zur Genesis des staatsmonopolistischen Kapitalismus in Deutschland 2 wurde einleitend festgestellt, daß der historische Platz des staatsmonopolistischen Kapitalismus in der gegenwärtigen marxistisch-leninistischen Literatur keine einheitliche Interpretation findet, und dazu bemerkt: „Die Unterschiedlichkeit der Ansichten ist eigentlich nicht verwunderlich, wenn man bedenkt, wie ungleichmäßig sich der Prozeß der 'Vereinigung der Riesenmacht des Kapitalismus mit der Riesenmacht des Staates zu einem einzigen Mechanismus' vollzog und vollzieht — ungleichmäßig sowohl innerhalb der einzelnen Länder als auch im internationalen Maßstab. Gibt es schon einen exakten Bewertungsmaßstab für den Umfang, die Intensität und die Auswirkungen dieses Vereinigungsprozesses in den jeweiligen Perioden oder Ländern?" 3 Dieser Arbeit lag die Auffassung zugrunde, daß es sich beim staatsmonopolistischen Kapitalismus um ein „Kennzeichen", „Merkmal" oder einen „Grundzug" des Imperialismus Einige interessante Entwicklungslinien schildert in seinem Aufsatz Kuc^jaski, Jürgen, Zur Geschichte der marxistisch-leninistischen Theorie des staatsmonopolistischen Kapitalismus bis zum zweiten Weltkrieg, in: Wirtschaft und Staat im Imperialismus. Beiträge zur Wirtschaftsgeschichte des staatsmonopolistischen Kapitalismus in Deutschland, hg. v. Lotte Zumpe, Berlin 1976, S. 1 f. = Forschungen zur Wirtschaftsgeschichte, hg. v. Jürgen Kuczynski u. Hans Mottek, Bd. 9. — Siehe ferner: Derselbe, Die Geschichte der Lage der Arbeiter unter dem Kapitalismus, Bd. 14: Zur Frühgeschichte des deutschen Monopolkapitals und des staatsmonopolistischen Kapitalismus, Berlin 1962. Alle Etappen der Erkenntnisfortschritte auf diesem Gebiet darzustellen, wäre Aufgabe einer gesonderten historiographischen Monographie. 2 Nussbaum, Helga, Zur Imperialismustheorie W. I. Lenins und zur Entwicklung staatsmonopolistischer Züge des deutschen Imperialismus bis 1914, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 1970, T. 4, S. 25—65. 3 Ebenda, S. 27. 1
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Was ist staatsmonopolistischer Kapitalismus?
handelt, der sich im Laufe der Entwicklung — ähnlich wie die anderen „Merkmale" — verstärkt, nicht aber um eine besondere Phase des Imperialismus, der eine andere, „privatmonopolistische" Phase vorausgegangen sei. Da es sich bei der genannten Studie um den Anfang eines umfassenderen Abrisses handelt 4 , wurde dort erst in diesen Gedankengang eingeführt. Etwas weitergeführt wurde er in den ebenfalls von der Verfasserin stammenden Schlußbemerkungen des Abrisses, die aber bisher, ebenso wie die anderen, von anderen Autoren verfaßten Kapitel des Abrisses, nicht veröffentlicht worden sind. Bevor weitere Überlegungen angestellt werden, soll der Extrakt jener Schlußbemerkungen hier dargelegt werden, um die eigene Position bzw. ihre Entwicklung zu verdeutlichen. In dem Abriß ist versucht worden, herauszuarbeiten, in welchen konkreten Erscheinungen sich die Herausbildung des staatsmonopolistischen Kapitalismus in Deutschland bis 1945 vollzog und welche allgemeinen, speziellen und situationsbedingten Triebkräfte wirksam waren. Es ist erörtert worden, daß die Entfaltung des Grundwiderspruchs der kapitalistischen Produktionsweise — des Widerspruchs zwischen dem wachsenden gesellschaftlichen Charakter der Produktivkräfte und den kapitalistischen Produktionsverhältnissen — die grundlegende Triebkraft der Entwicklung zum staatsmonopolistischen Kapitalismus darstellt; daß die Verschärfung des Grundwiderspruchs sich in der Verschärfung einer ganzen Reihe anderer Widersprüche äußert, die ihrerseits zu Triebkräften der Entwicklung des staatsmonopolistischen Kapitalismus werden; daß die monopolkapitalistische Gesellschaft nicht existieren kann, ohne daß — früher oder später — staatsmonopolistische Formen entwickelt werden, daß also staatsmonopolistischer Kapitalismus eine gesetzmäßige Erscheinung des imperialistischen Stadiums des Kapitalismus ist. Dabei ist ersichtlich geworden, wie sprunghaft und ungleichmäßig sich die Entwicklung des staatsmonopolistischen Kapitalismus in Deutschland vollzog, wie Perioden einer gewissermaßen „organischen" Entwicklung abgelöst wurden von Perioden hektischer Neubildungen, aber auch von Perioden, in denen die Entwicklung relativ ziel„bewußt" vorangetrieben wurde. Es ist ferner ersichtlich geworden, daß die Schwerpunkte der Entwicklung sich häufig verlagerten, daß die Weiterentwicklungen auf einem Gebiet durchaus von Rückentwicklungen auf einem anderen Gebiet begleitet sein konnten. Man wird den Gang der Geschichte niemals richtig deuten und verstehen können — und also keine Schlüsse für die Zukunft ziehen können —, wenn man die „Verschärfung der dem Kapitalismus immanenten Widersprüche" als einen stetig verlaufenden Prozeß betrachtet. Der Grundwiderspruch des Kapitalismus ist — solange letzterer existiert — ständig wirksam, aber er muß sich nicht stetig verschärfen. Allein schon seine ständige Wirksamkeit erzwingt eine Fortentwicklung der Verhältnisse. „Die wahre Schranke der kapitalistischen Produktion ist das Kapital selbst", schrieb Marx und fuhr fort: „Die Schranken, in denen sich die Erhaltung und Verwertung des Kapitalwerts, die auf der Enteignung und Verarmung der großen Masse der Produzenten beruht, allein bewegen kann, diese Schranken treten daher beständig in Widerspruch mit den Produktionsmethoden, die das Kapital zu seinem Zweck anwenden muß, und die auf unbeschränkte Vermehrung der Produktion, auf die Produktion als Selbstzweck, auf unbedingte Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkräfte der Arbeit lossteuern. Das Mittel — unbedingte Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkräfte — gerät in fortwährenden Konflikt mit dem beschränkten Zweck, der Verwertung des 4
Die Entwicklung des staatsmonopolistischen Kapitalismus in Deutschland bis 1945. Ein wirtschaftshistorischer Abriß, ausgearb. v. einem Kollektiv d. Abteilung Wirtschaftsgeschichte d. Imperialismus am Institut für Wirtschaftsgeschichte der AdW, Leitung Lotte Zumpe, Berlin 1970 (im folgenden Abriß).
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vorhandenen Kapitals. Wenn daher die kapitalistische Produktionsweise ein historisches Mittel ist, um die materielle Produktivkraft zu entwickeln und den ihr entsprechenden Weltmarkt zu schaffen, ist sie zugleich der beständige Widerspruch zwischen dieser ihrer historischen Aufgabe und den ihr entsprechenden gesellschaftlichen Produktionsverhältnissen." 5 Diese hier von Marx dargelegte Auffassung vom beständig wirkenden Widerspruch, vom fortwährenden Konflikt schließt die Möglichkeit — oder sogar die Notwendigkeit — von Teillösungen oder vorübergehenden Lösungen mit ein 6 ; gleichzeitig werden aber die grundlegenden Widersprüche ständig neu reproduziert: „Die kapitalistische Produktion", schrieb Marx im Zusammenhang mit dem eben Zitierten, „strebt beständig, diese ihr immanenten Schranken zu überwinden, aber sie überwindet sie nur durch Mittel, die ihr diese Schranken aufs neue und auf gewaltigerem Maßstab entgegenstellen." 7 In diesen knappen Sätzen ist das Wesen des Entwicklungsprozesses der staatsmonopolistischen Kapitalismus umrissen. Es ist ein Prozeß von fortwährenden Konflikten, ihrer teilweisen Überwindung und ständigen Neuerzeugung. Nicht jeder einzelne Widerspruch muß sich stetig, das heißt ununterbrochen verschärfen, aber die Tendenz, der Richtungssinn der Bewegung der Widersprüche ist die Verschärfung. „Wenn es einerseits unübersehbar ist (und von Marx durch zahlreiche Fakten bestätigt wurde), daß die Widersprüche der kapitalistischen Gesellschaft die Tendenz haben, sich partiell auszugleichen und durch relative Lösungen den Bewegungsprozeß der Grundverhältnisse zu ermöglichen, so ist es andererseits eine Tatsache, daß die bestimmenden Widersprüche der kapitalistischen Gesellschaft sich in der Form ihrer Verschärfung und Zuspitzung entwickeln. Beide Tendenzen stehen im Verhältnis eines dialektischen Widerspruchs." 8 Wenn „Verschärfung und Zuspitzung" die Tendenz, die Bewegungsrichtung der dem Kapitalismus immanenten Widersprüche ist, die Verschärfung selbst aber nicht stetig ist, so ist es klar, daß sich die aus dem widersprüchlichen Grundverhältnis ableitbaren Widersprüche ebenfalls weder stetig verschärfen noch alle gleichzeitig verschärfen, sondern daß sie in ihren Bewegungsphasen meist gegeneinander verschoben sein werden. Marx schrieb einmal in bezug auf die inneren Widersprüche des kapitalistischen Reproduktionsprozesses, die widerstreitenden Agentien „machen sich bald mehr nebeneinander im Raum, bald mehr nacheinander in der Zeit geltend." 9 Auch in der Widerspruchsentwicklung gibt es also ein Gesetz der Ungleichmäßigkeit; deshalb erfolgt auch die Herausbildung des staatsmonopolistischen Kapitalismus nicht in Form der „synchronen" oder „harmonischen" Entwicklung aller seiner Seiten, sondern sie erweist sich, wie es in „Imperialismus heute" formuliert ist, „als der Prozeß der Entfaltung seiner einzelnen Seiten, als die schrittweise Entwicklung von Teilbereichen . . ." 10 Die einzelnen Seiten des staatsmonopolistischen Kapitalismus entfalten sich ungleichmäßig, das heißt nicht alle gleichzeitig und 5 e
Marx, Karl, Das Kapital, Bd. 3, i n : M E W , Bd. 25, Berlin 1964, S. 260. - Hervorhebung v o n mir - H. N . Zur Problematik der Widerspruchsbewegung im Kapitalismus vgl. u. a.: Wagner, Hans, Neue Fragestellungen in der politischen Ökonomie des Imperialismus und ihre Beziehungen zur Wirtschaftshistorischen Forschung, i n : Jahrbuch f ü r Wirtschaftsgeschichte 1966, T. 4, S. 96—125; Imperialismus heute, Der staatsmonopolistische Kapitalismus in Westdeutschland, hg. v. Institut f ü r Gesellschaftswissenschaften beim Z K der S E D , Berlin 1965, Kap. 1 0 ; Stiehler, Gottfried, Die Marxsche Analyse der Widersprüche im „Kapital" und der staatsmonopolistische Kapitalismus, i n : Deutsche Zeitschrift f ü r Philosophie, Nr. 8/1967.
? Marx, Karl, a. a. O., S. 260. 8 Stiebler, Gottfried, a. a. O., S. 9 6 1 . 9 Marx, 10
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Karl, a. a. O., S. 259. Imperialismus heute, a. a. O., S. 13. Nussbaum, Wittschaft
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in gleichem Tempo in einem Lande, aber auch nicht alle gleich2eitig und in gleichem Tempo im Weltmaßstab. Unter „Entfaltung seiner einzelnen Seiten" und der „schrittweisen Entwicklung von Teilbereichen" sollte man aber nun nicht Prozesse verstehen, in denen es keinerlei Rückschritte gibt. Fassen wir als einen „Teilbereich" einen Augenblick lang die zentrale staatliche Steuerung der Produktion ins Auge. Sie war in Deutschland 1925 zweifellos weitaus schwächer ausgebildet als 1917, 1964 weitaus schwächer als 1944. Wollten wir eine solche Entwicklung graphisch abbilden, ergäbe sich etwa eine Zickzackkurve, deren Trend wahrscheinlich nicht aufwärtsweisend ist. Ein ähnliches Bild würde höchstwahrscheinlich eine genaue Vergleichung des Umfangs des staatlichen Eigentums 1925 und 1964 ergeben. Nehmen wir jedoch andere Teilbereiche, wie etwa die Methodik der Regelung des Reproduktionsprozesses mittels „ökonomischer Hebel", die Steuerung des wissenschaftlich-technischen Fortschritts oder auch den ganzen Komplex der geistigen Manipulierung der Gesellschaft, so können wir in der B R D — schon Mitte der sechziger Jahre — eine Höherentwicklung gegenüber allen früheren Phasen des staatsmonopolistischen Kapitalismus in Deutschland feststellen. Schrittweise Entwicklung der Teilbereiche kann durchaus Rückschritte in einzelnen dieser Teilgebiete mit einschließen und dennoch eine Weiterentwicklung des staatsmonopolistischen Kapitalismus insgesamt ergeben. Noch deutlicher wird dies, wenn man die internationale Entwicklung ins Auge faßt. So war der relative Umfang des staatlichen Eigentums in den zwanziger Jahren in Deutschland weitaus größer als in anderen imperialistischen Ländern, ragt aber heute nicht mehr aus dem allgemeinen Niveau heraus. „Ungleichmäßige Entfaltung der Teilbereiche innerhalb eines Landes — beruheftd auf der ungleichmäßigen Zuspitzung der Widersprüche — ungleichmäßige Entfaltung im Weltmaßstab —", so wurde zusammenfassend in jenen Schlußbemerkungen von 1970 formuliert, „dies ist offensichtlich der objektive Grund dafür, daß es bis jetzt in der marxistischen Literatur noch keine einhellige Meinung gibt über die Entwicklungsstadien des staatsmonopolistischen Kapitalismus, darüber, ob und wann qualitative Sprünge stattgefunden haben. Eine allgemeingültige Aussage darüber zu treffen, wann entscheidende qualitative Sprünge stattgefunden haben, setzt zumindest zweierlei voraus: Die Feststellung von Kriterien (welche Teilbereiche sind die entscheidenden); Die Erarbeitung von Maßstäben für den Entwicklungsstand dieser Kriterien (Teilbereiche). Erst diese Voraussetzungen würden einigermaßen exakte Vergleiche zwischen dem Entwicklungsstand staatsmonopolistischer Formen in verschiedenen geschichtlichen Perioden und verschiedenen Ländern ermöglichen. E s besteht kein Zweifel, daß es schwierig ist, diese Voraussetzungen zu erarbeiten. Obwohl die Diskussion darüber im Gange ist, bleibt noch viel zu tun übrig, so daß sich der zukünftigen Forschungsarbeit noch ein weites Feld bietet." " Abschließend wurde vom Kollektiv der Versuch einer etwas ausführlicheren Definition unternommen: „Staatsmonopolistischer Kapitalismus ist ein Grundzug des imperialistischen Stadiums des Kapitalismus. Er ist gekennzeichnet durch die Verschmelzung der zunächst vorwiegend ökonomischen Macht der kapitalistischen Monopole mit der zunächst vorwiegend politischen Macht des Staates. Die Verschmelzung der ökonomischen und staatlich-politischen Machtpositionen äußert sich funktionell, institutionell und in der Eigentumsstruktur. Sie erweist sich für die Aufrechterhaltung des monopolkapitalistischen Gesellschaftssystems als notwendig und unabdingbar, weil 11
Abriß, a. a. O., Schlußbemerkungen, S. 6f.
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1. der Prozeß der normalen, das heißt erweiterten Reproduktion des Kapitals unter den Bedingungen weitgehender Monopolisierung, das heißt bei Abschwächung des Regulierungsmechanismus der freien Konkurrenz nicht funktionieren kann ohne jegliche zentrale Koordinierung und Steuerung und 2. das Monopolkapital bestrebt sein muß, zu gewährleisten, daß die notwendigen regulierenden Staatseingriffe in der Richtung erfolgen, daß nicht nur die materielle Reproduktion, sondern auch die Reproduktion des Kapitalverhältnisses, das heißt des Ausbeutungsverhältnisses, gesichert wird. Diese notwendige Verschmelzung ökonomischer und staatlich-politischer Macht erzeugt deshalb mit ebensolcher Notwendigkeit die Tendenz zur Regulierung aller Sphären der Gesellschaft mit Hilfe von außerökonomischem Zwang und Manipulation. Die Verschmelzung der ökonomischen und staatlich-politischen Macht, die schon Lenin als notwendige Folge der Etablierung des Monopolkapitals betrachtete, gehört zu den Merkmalen der imperialistischen Epoche, durch die sie als 'Übergangsperiode' gekennzeichnet wird. 'Der Imperialismus erwuchs als Weiterentwicklung und direkte Fortsetzung der Grundeigenschaften des Kapitalismus überhaupt. Zum kapitalistischen Imperialismus aber wurde der Kapitalismus erst auf einer bestimmten, sehr hohen Entwicklungsstufe, als einige seiner Grundeigenschaften in ihr Gegenteil umzuschlagen begannen, als sich auf der ganzen Linie die Züge einer Übergangsperiode vom Kapitalismus zu einer höheren ökonomischen Gesellschaftsformation herausbildeten und sichtbar wurden. Ökonomisch ist das Grundlegende an diesem Prozeß die Ablösung der kapitalistischen freien Konkurrenz durch die kapitalistischen Monopole.'* Das Monopol aber fordert durch seine Existenz 'die Staatseinmischung heraus'**. Deshalb ist der grundlegende ökonomische Prozeß der Monopolisierung begleitet von einer Umwandlung der Rolle des Staates: Der Staat bildet zusätzlich zu seiner Funktion als ideeller Gesamtkapitalist die Funktion des realen Gesamtmonopolisten aus und wird zur ökonomischen Potenz im Reproduktionsprozeß. Dieser Umwandlungsprozeß, der nur in Form der oben genannten Verschmelzung vor sich gehen kann, beginnt daher mit der Herausbildung des Monopolkapitalismus. Letztlich beruht die Herausbildung des staatsmonopolistischen Kapitalismus auf der schnellen Entfaltung der Produktivkräfte und der dazu im Widerspruch stehenden Aufrechterhaltung der kapitalistischen Eigentumsverhältnisse. Die Zuspitzung des Grundwiderspruchs des Kapitalismus, das heißt des Widerspruchs zwischen der zunehmenden Vergesellschaftung des Produktionsprozesses und den kapitalistischen Aneignungsformen ist die grundlegende Ursache für die Herausbildung staatsmonopolistischer Formen. Sie stellen den Versuch dar, diesen Widerspruch im Rahmen der kapitalistischen Ordnung selbst zu lösen. Der staatsmonopolistische Kapitalismus führt jedoch nicht zu einer Lösung der ökonomischen und sozialen Widersprüche, sondern letztlich zu ihrer Vertiefung. Es ist die eigentümliche Dialektik des staatsmonopolistischen Kapitalismus, daß er einerseits unmittelbar die materiellen Voraussetzungen für den Sozialismus schafft, andererseits das aggressive und volksfeindliche Wesen des Kapitalismus aufs höchste ausbildet. In welchem Tempo sich in den einzelnen Ländern aus der anfänglichen Verschmelzung von Monopolmacht und Staatsmacht auf einzelnen Abschnitten ein System staatsmonopoli*
Lenin, W. /., Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus, in: Werke, B d . 22, Berlin 1960,
S. 269f. ** Marx, Karl, a. a. O., S. 454.
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W a s ist staatsmonopolistischer Kapitalismus?
stischer Formen entwickelt, das das gesamte wirtschaftliche und gesellschaftliche Leben bestimmt und mehr und mehr bewußt gestaltet wird, hängt davon ab, in welchem Maße sich die verschiedenen Widersprüche zuspitzen und in welchem Maße daher das Monopolkapital des betreffenden Landes eines solchen Systems im internationalen Konkurrenzkampf und im nationalen und internationalen Klassenkampf bedarf. Mit dem Fortschreiten der allgemeinen Krise des Kapitalismus wird der letztgenannte Faktor zu einem Hauptfaktor, der bewirkt, daß trotz Weiterbestehens der internationalen kapitalistischen Konkurrenz die staatsmonopolistische Verflechtung im Maßstab ganzer imperialistischer Staatengruppen einsetzt und voranschreitet." 12 Soviel zur etwas genaueren Kennzeichnung der damaligen „eigenen" Position, die durch weitere konkrete Forschungen und weitere Überlegungen bisher nicht wesentlich geändert, höchstens präzisiert worden ist. Ein grundlegender Qualitätsumschlag in der Entwicklung der Produktionsverhältnisse innerhalb des Monopolkapitalismus läßt sich meines Erachtens noch immer nicht beweisen, ein Qualitätsumschlag, der uns berechtigen könnte, von einer „privatmonopolistischen" und einer „staatsmonopolistischen" Phase des Imperialismus zu sprechen; die grundlegenden Produktionsverhältnisse des gegenwärtigen Kapitalismus sind noch immer „privatmonopolistisch". Dabei stellt die Bestimmung „noch immer" im Grunde genommen sogar eine Untertreibung dar, denn das „private" Monopolkapital ist in den vergangenen siebzig Jahren in seinem materiellen Umfang — und damit in seiner Macht — natürlich ungeheuer angewachsen; beherrschte es um 1900 wesentliche Kommandohöhen der Ökonomik, so durchdringt es nunmehr in zunehmendem Maße alle Bereiche der Ökonomik und des gesamten gesellschaftlichen Lebens, wobei selbst dieser Durchdringungsprozeß noch nicht abgeschlossen ist. Verflochten mit diesem Prozeß des Anwachsens und der Ausdehnung des Monopolkapitals entwickelte sich die „Kooperationsgemeinschaft" zwischen Staat und Monopolen. Ähnlich wie bei der Entwicklung des Monopolkapitals und dem Prozeß seines Eindringens in die verschiedenen Sphären der ökonomischen Basis im 20. Jahrhundert, der ebenfalls wellenförmig oder sprunghaft verlief, lassen sich bei der Entwicklung der Beziehungen zwischen Staat und Monopolen sprunghafte oder etappenweise Verstärkungen feststellen. Derartige Qualitätssprünge in der Entwicklung des staatsmonopolistischen „Grundzugs" wurden hervorgerufen durch: den ersten Weltkrieg und die Oktoberrevolution, ihre weltpolitischen und weltwirtschaftlichen Folgen; die Weltwirtschaftskrise 1929 bis 1933; den zweiten Weltkrieg, seine weltpolitischen und weltwirtschaftlichen Folgen und den Beginn der wissenschaftlich-technischen Revolution. An jeden dieser drei Zeit„punkte" wird nun von den verschiedenen Vertretern der Phasentheorie jeweils der ihrer Meinung nach grundlegende Qualitätsumschlag verlegt, also der Übergang von der Phase des privatmonopolistischen in die Phase des staatsmonopolistischen Kapitalismus. Auf diese Weise haben sich jetzt — zusammen mit der Auffassung vom „Grundzug" — vier Gruppen von Auffassungen über den historischen Platz des staatsmonopolistischen Kapitalismus herausgebildet. Hierbei ist zu beachten, daß das in den eingangs angeführten Darlegungen von 1970 angeschnittene Problem des Mangels an Kriterien noch immer besteht, wie kürzlich Borko konstatierte: „Die Entwicklung des staatsmonopolistischen Kapitalismus brachte viel Neues mit sich, und zwar nicht nur im Vergleich zum Kapitalismus des beginnenden 20. Jahrhunderts, sondern auch der dreißiger und vierziger Jahre. Darüber gibt es in der l 2 Ebenda, S. 7 f f .
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marxistischen Literatur keine Meinungsverschiedenheiten. Unterschiede bestehen hingegen in der Einschätzung des Ausmaßes und des Grades dieses Neuen. Die Diskussion über diese Frage währt nun schon einige Jahre, und sie hat die Erforschung des gegenwärtigen Kapitalismus zweifelsohne vorangebracht. Bei aller Fruchtbarkeit wies diese Diskussion indes auch einen Mangel auf: Es fehlen klar formulierte Kriterien, anhand deren sich der Charakter und der Grad der Wandlungen in der kapitalistischen Produktionsweise bestimmen ließen. Was soll als Maßstab für den Übergang des Kapitalismus von einem qualitativen Zustand in einen anderen gelten? Wo liegt die Grenze zwischen dem Anhäufen quantitativer Veränderungen in der kapitalistischen Produktionsweise und dem qualitativen Sprung in der Entwicklung dieser Produktionsweise?" 13 Betrachten wir einige der verwendeten Kriterien. In sehr prononcierter Form wird in der Kollektivarbeit französischer Marxisten „Der staatsmonopolistische Kapitalismus" die Phase des „einfachen Monopolkapitalismus" (bis zum zweiten Weltkrieg) der Phase des „staatsmonopolistischen Kapitalismus" (nach dem zweiten Weltkrieg) gegenübergestellt. Es wird aber dennoch nicht klar genug ausgedrückt, worin der entscheidende Unterschied der beiden Phasen bestehen soll. Einleitend wird der staatsmonopolistische Kapitalismus kurz definiert: „Er ist jenes Stadium des Imperialismus, in dem die monopolistischen Strukturen erweitert werden, und innerhalb dieses Stadiums wiederum die gegenwärtige Phase, in der sich das Eingreifen des Staates und eine wachsende Verflechtung zwischen den Monopolen und dem Staat entwickelt." 14 Später wird diese Definition erweitert: „Der staatsmonopolistische Kapitalismus zeigt sich also als eine organische Gesamtheit, die nicht nur ökonomische und soziale Elemente, sondern auch politische, ideologische, militärische und andere Aspekte umfaßt. So wie die staatliche Finanzierung, der öffentliche Sektor, der Staatsverbrauch und die monopolistische Planung Wesenszüge des staatsmonopolistischen Kapitalismus sind, wird er auch durch die Militarisierung der Wirtschaft, ideologischen und politischen Druck, den Zusammenschluß der reaktionären Kräfte und die Tendenzen %ur politischen Willkür gekennzeichnet. In diesem Sinne stellt er eindeutig eine besondere Phase innerhalb des Stadiums des Imperialismus dar; sie wird durch neue Bedingungen, die sich zwischen dem Staat und den Monopolen herausbilden, charakterisiert." 15 (Hervorhebungen im Original) Treffen denn aber die im Zitat von den Verfassern hervorgehobenen Kriterien nur auf die Zeit nach dem zweiten Weltkrieg zu ? Bilden sie Unterscheidungsmerkmale zur Zeit vorher? Meines Erachtens kann man dies nicht einmal dann sagen, wenn man ausschließlich Frankreich ins Auge faßt. Während das französische Kollektiv die „Finanzierung der monopolistischen Produktion aus den Mitteln des Staates" als Hauptmerkmal des staatsmonopolistischen Kapitalismus bezeichnetW, heißt es in „Der Imperialismus der BRD": „Das ökonomische HauptKapitalismus ist also die durch das Staatsmonopol potenzierte merkmal des staatsmonopolistischen Konzentration und Zentralisation des Kapitals in den Händen der Finanzoligarchie. Die Vereinigung der privaten Monopole mit dem Staatsmonopol stellt die volle Entfaltung der dem Wesen des Monopols entspringenden Tendenz zur absoluten Beherrschung des gesamten Wirtschaftslebens dar." 17 (Hervorhebung im Original) Borko, ]., Methodologische Fragen der Analyse des staatsmonopolistischen Kapitalismus, in: Sowjetwissenschaft, Gesellschaftswissenschaftliche Beiträge, Nr. 10/1973, S. 1089. 14 Der staatsmonopolistische Kapitalismus, Berlin 1972, S. 9. « Ebenda, S. 21. «5 Ebenda, S. 38. 17 Der Imperialismus der BRD, hg. v. Institut für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED, Berlin 1971, S. 102. 13
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Die Verfasser dieser Arbeit gehen stärker als das französische Kollektiv auf den langen Prozeß der Herausbildung des staatsmonopolistischen Kapitalismus ein und schreiben, daß er sich „in direktem Zusammenhang mit dem Übergang in das imperialistische Stadium" entwickelte. 18 Er habe jedoch „längere Zeit den Charakter einer Tendenz" getragen und sei nach dem zweiten Weltkrieg „zu einer Entwicklungsstufe des Imperialismus" geworden.19 Um zu kennzeichnen, daß es sich um eine Entwicklungsstufe innerhalb des Imperialismus handelt, wird festgestellt: „Das Hinüberwachsen zum staatsmonopolistischen Kapitalismus hat am Wesen des Imperialismus nichts verändert." 20 Was aber ist das Neue in dieser „Phase"? Dazu heißt es: „Um den Platz des staatsmonopolistischen Kapitalismus in der marxistisch-leninistischen Theorie richtig bestimmen zu können, muß man die Frage beantworten, welche qualitativ neuen Züge seine Herausbildung dem ökonomischen Wesen des Imperialismus hinzufügt. Das Neue besteht darin, daß die Aneignung von Monopolprofiten, die zunächst auf der Basis der Bildung privater Monopole begann, immer stärker durch die ökonomische Tätigkeit des Staates gestützt wird, der dabei die nur ihm zur Verfügung stehenden Mittel und Möglichkeiten einsetzt." 21 (Hervorhebung von mir — H. N.) Wenn man dies genauer überdenkt, so ist wohl mit dem so bezeichneten Neuen nicht ein Charakteristikum der „Phase", sondern auch das der „Tendenz" gemeint. Doch die Verfasser unternehmen noch einen ausführlicheren Versuch der Abgrenzung von „Phase" und „Tendenz". Wesentliche Kriterien für den staatsmonopolistischen Kapitalismus als Tendenz bestünden darin, „daß die früheren Formen der Einbeziehung des Staates in die Wirtschaft durch die Monopole oft nur zeitweilig angewandt wurden, daß sie meist nur bestimmte Bereiche erfaßten, noch stark administrative Züge trugen, sich auf den nationalen Rahmen beschränkten, auf einen mehr kurzfristigen Effekt berechnet waren und in der Regel als Reaktion auf bestimmte Widersprüche und Konflikte wirksam wurden." 22 In dem „voll herausgebildeten umfassenden System des staatsmonopolistischen Kapitalismus" hingegen sei die ökonomische Tätigkeit des Staates „umfassend und permanent", sei im Gegensatz zur früheren, mehr den Charakter außerökonomischen Zwangs tragenden „Einmischung" heute ein „organisches Element der ökonomischen Prozesse", sei „nicht mehr nur Ergänzung, sondern Bedingung der Reproduktion des Kapitals". 23 (Hervorhebung im Original) (Einige Seiten weiter wird letzteres übrigens wieder anders formuliert: „Die erweiterte Reproduktion des Monopolkapitals wird durch die Teilnahme des Staates an diesem Prozeß ergänzt, realisiert und dadurch den heutigen Bedingungen der wissenschaftlich-technischen Revolution 'angepaßt'". 24 [Hervorhebung von mir — H. N.]) Nun wird wohl niemand leugnen wollen, daß sich die ökonomische Tätigkeit des Staates in der Nachkriegszeit in den imperialistischen Ländern entwickelt und erweitert hat. Gegen die Kriterien für einen grundlegenden Qualitätsumschlag ist aber folgendes einzuwenden: 1. Die ökonomische Tätigkeit des Staates in der Zeit vor dem zweiten Weltkrieg wird »8 Ebenda, S. 92. » Ebenda, S. 94. 20 Ebenda, S. 103. 21 Ebenda, S. 101. 22 Ebenda, S. 94. 23 Ebenda, S. 94f. 2 4 Ebenda, S. 100. Ebenso: Tjulpanow, S. /., Scbeinis, des heutigen Kapitalismus, Berlin 1975, S. 24.
V. L., Aktuelle
Probleme der politischen Ökonomie
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u. E. unterbewertet, und im Verhältnis dazu diejenige nach dem zweiten Weltkrieg überbewertet. Die Schwergewichte im Mischungsverhältnis von „ökonomischen Hebeln" und „administrativen Zwängen" sind keineswegs so eindeutig verteilt wie behauptet. Auch in der Weimarer Republik und im Faschismus spielten zum Beispiel geld- und finanzpolitische Maßnahmen und die öffentlichen Investitionen eine beachtliche Rolle. 2. Sehr zweifelhaft erscheint, ob man die Art und Weise der subjektiven Einwirkung auf die kapitalistische Ökonomik als Kriterium für den Eintritt der kapitalistischen Ökonomik in eine neue Entwicklungsstufe verwenden kann. Dieses Kriterium spielt ja allgemein in der Diskussion um diese Fragen keine untergeordnete, sondern eine ziemlich große Rolle. Nicht mehr nur „nachträgliche Korrektur", sondern das Bemühen um vorausschauende Gestaltung des Reproduktionsprozesses durch den Staat kennzeichnet den Umschlag in die neue Phase. 25 Auch S. Tjulapanov verwendet als erstes Kriterium für die Kennzeichnung der neuen Phase den „Charakter, die Maßstäbe, de(n) Inhalt und die zeitlichen Rahmen der Aufgaben, die die herrschende Klasse bewußt formuliert und im Bereich der Ökonomie, der Politik und der sozialen Beziehungen zu realisieren bemüht ist." 26 Ähnlich argumentiert Thomas Kuczynski: „Das ganze Problem der Unterscheidung ist meines Erachtens auch gar nicht von diesem Standpunkt aus zu begreifen, vielmehr ist es — gerade weil der Staat eine mit bestimmten Zielen verbundene, auf bestimmte Ziele gerichtete Politik betreibt — aus der Zielsetzung der staatlichen Wirtschaftspolitik abzuleiten. In diesem Zusammenhang kommt der Unterscheidung staatlicher Wirtschaftspolitik als Ausdruck des Interventionismus oder der Planung eine besondere Bedeutung zu, wobei 'das Hauptgewicht für die Unterscheidung auf die ex-ante Sicht, für die die Planung kennzeichnend sei, wogegen die ex-post Korrektur den Interventionismus qualifiziere', zu legen ist."27
Wenn man nun mit Hilfe dieser Kriterien lediglich die Etappen der Wirtschaftspolitik kennzeichnen wollte, so wäre dagegen nicht das geringste einzuwenden. Aber kann man denn Etappen der Wirtschaftspolitik gleichsetzen mit Entwicklungsstadien der Ökonomik ? Wollte man dies konsequent durchführen, könnte man dann nicht dazu kommen, auch die ökonomische Entwicklung der letzten Jahrhunderte durch folgende „Phasen" zu kennzeichnen: Monetarismus, Merkantilismus, Liberalismus, Neomerkantilismus . . . und so fort? 3. Der dritte Einwand hängt mit dem zweiten zusammen. Es wird gewissermaßen unterstellt, daß die „ex-ante Sicht" auch den entsprechenden Effekt nach sich zieht; daß die zum erstrangigen Kriterium erhobene Wirtschaftspolitik auch zu grundlegenden Veränderungen in den Wirkungsbedingungen der ökonomischen Gesetze geführt hat. Damit wird doch aber die Macht der spontanen Prozesse unterschätzt. 28 Der Imperialismus in der BRD, a. a. O., S. 331. Tjulpanoiv, S., Der historische Platz des staatsmonopolistischen Kapitalismus, In: Sowjetwissenschaft, Nr. 10/1973, S. 1114. 27 Kuczjnskt, Thomas, Das Ende der Weltwirtschaftskrise in Deutschland 1929/1932, Diss. Hochschule f. Ökonomie Berlin 1972, S. 37. — Angeführt im Zitat wird der Ökonom Jürgensen. 2 8 Wenn sich die Macht der spontanen Prozesse in den letzten Jahren in wachsenden Schwierigkeiten in vielen Bereichen der kapitalistischen Reproduktion äußert, so wird diese Erscheinung von einigen französischen Ökonomen folgendermaßen in die Phasentheorie eingebaut: Es habe zwar eine umfassende Regulierung gegeben, aber jetzt sei eine „allumfassende Krise des staatsmonopolistischen Regulierungssystems" eingetreten, eine „Krise des staatsmonopolistischen Kapitalismus". (Vgl. Boccara, P., Über die Krise des staatsmonopolistischen Kapitalismus, in: Probleme des Friedens und des Sozialismus, Nr. 11/ 1972, S. 1562; siehe ferner die Stellungnahme v o n : Quin, C., in dem Tagungsbericht Der Imperialismus der 25
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Spe2iell v o r dieser Unterschätzung der spontanen Prozesse hat bekanntlich J ü r g e n K u czynsky häufig genug gewarnt. M . Dragilev, der in verschiedenen Veröffentlichungen der letzten Jahre die Phasentheorie angegriffen hat und ebenfalls die These v o m Grundzug vertritt 2 9 , schrieb in bezug auf die Zeit nach dem zweiten Weltkrieg unter anderem: „ D i e staatliche Wirtschaftsregulierung ist in keiner Weise vollständig. Sie ist mit den spontanen Prozessen verflochten, die fast immer über die Bemühungen des Staates, die Wirtschaft zu regulieren, die Oberhand gewinnen." 3 0 A u c h Gurevicev zum Beispiel betont im Unterschied zur These v o n der umfassenden Regulierung die objektiven ökonomischen Grenzen der Regulierung: „ W i e das kapitalistische Eigentum und seine Formen in den gegenwärtigen imperialistischen Ländern die organischen Grenzen der staatlichen Programmierung hervorbringen, so bedingen der kapitalistische Zyklus und seine Besonderheiten gegenwärtig die funktionellen Grenzen der staatlichen Programmierung der kapitalistischen Wirtschaft. Diese funktionellen Grenzen bedeuten die Unterordnung der staatlichen Programmierung unter den Verlauf des kapitalistischen Zyklus. Wie das kapitalistische Eigentum die Grundlage des Kapitalismus und die kapitalistische Konkurrenz die F o r m seiner Realisierung ist, so bestimmt auch der spontane Verlauf des kapitalistischen Z y k l u s die Bewegung des Prozesses der kapitalistischen Reproduktion, während die bewußt durchgeführte staatliche Programmierung sie e r g ä n z t . " 3 1 Natürlich spielt die Einschätzung der spontanen Prozesse und ihrer Wechselwirkung mit der staatsmonopolistischen Regulierung eine ganz besondere Rolle in der Diskussion um den Charakter der kapitalistischen Zyklen nach dem zweiten Weltkrieg. Diese Problematik kann hier nur angerissen und unmöglich in ihrer ganzen Komplexität erörtert werden. Angerissen werden aber soll sie deshalb, weil sie auch unsere Frage der Kriterien f ü r die Phasentheorie berührt. In den sechziger Jahren haben viele marxistische Ö k o n o m e n fast alle Besonderheiten der zyklischen Entwicklung der kapitalistischen Wirtschaft nach dem zweiten Weltkrieg auf die E i n w i r k u n g der Staatstätigkeit zurückgeführt — und auf die wissenschaftlich-technische Revolution. Das „ Z w i s c h e n g l i e d " , eventuelle Veränderungen in der Ökonomik des privaten Monopolkapitals, wurde weniger beachtet. D i e am häufigsten angeführten Besonderheiten der gegenwärtigen Z y k l e n sind: die vorwiegende Asynchronität im Weltmaßstab, die relative Kürze und Milde der Krisenphasen im V e r gleich zu früheren Krisen, die Asynchronität innerhalb der Volkswirtschaften (also nach Zweigen), kein rapider Rückgang in allen Z w e i g e n gleichzeitig, sondern Verlagerung auf Teil- und Zwischenkrisen, auch die Tatsache, daß sich manchmal die „ K r i s e " nicht im Rückgang der Gesamtproduktion äußerte, sondern nur in einer geringen Zuwachsrate, bedingt durch Überlagerung v o n Rückgang und Wachstum in den verschiedenen Z w e i g e n . Folglich diente diese Modifikation der gegenwärtigen Z y k l e n häufig ebenfalls als K r i 70er Jahre — Vertiefung der Krise. Theoretische Konferenz: Neue Züge des staatsmonopolistischen Kapitalismus und Klassenkampf in den entwickelten kapitalistischen Ländern, in: ebenda, Nr. 2/1973, S. 155—186.) 29 Dragilev, M., Leninskaja Charakteristika krizisa i sovremennost', in: Mirovaja ekonomika i mezdunarodnye otnosenija (im folgenden: MEMO), Nr. 3/1970, S. 5ff.; derselbe, Obscij krizis i gosudarstvenno-monopolisticeskij kapitalizma, in: ebenda,Nr. 7/1971, S. 94ff. (deutschin: Sowjetwissenschaft, Nr. 12/1971). — Vgl. auch die Definition des staatsmonopolistischen Kapitalismus in der unter Leitung von M. Dragilev entstandenen Kollektivarbeit: Gosudarstvenno-monopolisticeskij kapitalizm. Obscie certy i osobenosti, Moskau 1975, S. 11. 30 Derselbe, Obscij krizis . . ., a. a. O., S. 104. 31 Gurevicev, M. M., Gosudarstvenno-monopolisticeskoe regulirovanie ekonomiki. Kiev 1971. Kap. 6, S. 179-197.
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terium dafür, daß nunmehr die Phase des staatsmonopolistischen die des privatmonopolistischen Kapitalismus abgelöst habe. Gegen diesen Ansatz sind wieder mehrere Einwände zu erheben. 1. Eine wesentliche methodische Schwäche ist darin zu sehen, daß die Zyklen nach dem zweiten Weltkrieg, speziell ihre jeweilige Krisenphase, stets nur mit der Krise von 1929 bis 1933 verglichen werden. Infolgedessen sind die festgestellten Besonderheiten der Nachkriegszyklen und -krisen im wesentlichen Besonderheiten gegenüber dieser großen Krise, nicht aber gegenüber kapitalistischen Krisen allgemein. Die Krise von 1929 bis 1933 hat ja bekanntlich sämtliche bis jetzt stattgefundenen Krisen des Kapitalismus an Universalität, Länge und Tiefe bei weitem übertroffen (auch diejenige von 1873—1879). 2. Bei der Beschränkung auf den Vergleich mit 1929 bis 1933 ist folgende Fragestellung ausschlaggebend: „Wie ist es möglich, daß sich der Grundwiderspruch verschärft hat, aber die Nachkriegskrisen weniger tief waren als die Weltwirtschaftskrise der Jahre 1929 bis 1933 ?" 32 Dieser Fragestellung liegt offensichtlich folgende Vorstellung zugrunde: „Eigentlich" hätte sich auf dem erreichten Niveau der Vergesellschaftung eine solche explosionsartige Kapitalvernichtung großen Ausmaßes nun im regelmäßigen Rhythmus von 7—8—10 Jahren wiederholen müssen. Daß das nicht geschehen ist, ist offensichtlich eine Abweichung von der „natürlichen" Gesetzmäßigkeit des Kapitalismus und daher nur mit speziellen Einwirkungen zu begründen. Dies ist natürlich ein durchaus mögliches Herangehen. Aber eine solche Hypothese kann nicht bewiesen werden. Man könnte ebensogut eine gegensätzliche Hypothese aufstellen, die sich natürlich auch nicht beweisen läßt, aber auch eine mögliche Art der Deutung darstellt: Die jetzigen Krisen sind die typischen Krisen des entwickelten Monopolkapitalismus, und die Krise von 1929 bis 1933 hatte ihnen gegenüber außergewöhnliche Besonderheiten. Warum diese Krise außergewöhnliche Ausmaße annahm, ist ja schließlich noch nicht geklärt. Möglicherweise handelte es sich hier um ein nicht durchschnittliches Zusammentreffen der Verschärfung aller Widersprüche der kapitalistischen Reproduktion. Obwohl die Bewegungsricbtuag der Widersprüche, besonders des Grundwiderspruchs, die Verschärfung ist, so müssen sie sich doch nicht stetig verschärfen, und sie müssen sich nicht alle gleichzeitig verschärfen. Es besteht also kein zwingender Grund für die Annahme, daß sich eine solche gleichzeitige Zuspitzung aller Widersprüche wie 1929 bis 1933 unbedingt in kürzeren Abständen wiederholen muß oder hätte wiederholen müssen. Wenn man auch diese beiden Hypothesen — zumindest vorläufig — nicht beweisen kann, so kann man wohl doch die These von der Exzeptionalität der Krisen nach dem zweiten Weltkrieg etwas erschüttern. So wies zum Beispiel G. M. Kumanin in einer Moskauer Diskussion auf folgendes hin: „. . . die Ansicht, daß die Asynchronität des Zyklus eine spezifische Erscheinung gerade der letzten Jahrzehnte darstelle, sei nicht ausreichend begründet. Die Geschichte der kapitalistischen Reproduktion biete genügend anschauliche Beispiele für eine solche Asynchronität in den verschiedensten Perioden. So seien seit Mitte des 19. Jahrhunderts (als der Zyklus Weltmaßstäbe annahm) bis zur Krise 1929—1933 neun Weltzyklen der kapitalistischen Reproduktion zu beobachten gewesen, und nur zwei von ihnen hätten mehr oder weniger gleichzeitig in allen Hauptländern begonnen. Mit anderen Worten, die Asynchronität des Zyklus nach dem zweiten Weltkrieg stelle nichts Außergewöhnliches dar." 3 3 32 Der Imperialismus der BRD, a. a. O., S. 283. 33 Die Besonderheiten des gegenwärtigen kapitalistischen Zyklus. Bericht über eine Tagung in Moskau im April 1973, in: Sowjetwissenschaft, Nr. 11/1973, S. 1180.
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Was ist staatsmonopolistischer Kapitalismus?
Dem ist hinzuzufügen, daß auch die zyklischen Schwankungen der Industrieproduktion in den Jahrzehnten nach dem zweiten Weltkrieg nichts Außergewöhnliches darstellen, wenn man sie nicht mit dem Zyklus Mitte der zwanziger Jahre bis 1933 vergleicht, sondern mit früheren Zyklen. Was die Länge und Tiefe der Produktionsrückgänge betrifft, so verliefen zum Beispiel die Krisen zwischen 1870 und 1913 in Deutschland unvergleichlich milder (oder flacher) als die Krise von 1929 bis 1933. 34 Manche äußerten sich sogar nur in niedrigen Wachstumsraten, ferner traten die gleichen Phänomene wie Teilkrisen, Zwischenkrisen, gegenläufige Tendenzen der Wachstumsraten in den verschiedenen Zweigen auf wie in den Jahrzehnten nach dem zweiten Weltkrieg. Im Produktionsverlauf ähnelten die Zyklen zwischen den achtziger Jahren und 1913 viel mehr denjenigen zwischen 1950 und 1970 in der B R D als dem Zyklus, der mit der Krise 1929 bis 1933 endete. Vergleicht man zum Beispiel die jährlichen Wachstumsraten der Industrieproduktion in Deutschland zwischen 1884 und 1908 mit denjenigen der BRD zwischen 1950 und 1974 so ergibt sich eine geradezu verblüffende Ähnlichkeit der Schwan-
7957 7955 7960 7365 %S5 « 87 W 83 SO 91 92 33 Ä 95 36 97 38 93 73001 Abb. 1: Jährliche Wacbstumsratcn der Industrieproduktion in Deutschland 1884 bis 1913 und in der BRD 1950 bis 1975 (in Prozent gegenüber dem Vorjahr). a BRD 1950 bis 1975. b Deutschland 1884 bis 1913 Negative Wachstumsraten: 1896: Bauindustrie Ledererzeugung Textilindustrie 1904: Holzindustrie Textilindustrie 1905: Bauindustrie Holzindustrie 1906: Nahrung/Genuß Bekleidung/Lederverarb. Textilindustrie Quellen: Siehe Tabelle 2, S. 29. 34
1908: Bauindustrie Bekleidung/Lederverarb. Textilindustrie Metallverarb. Metallerzeugung 1909: Bauindustrie Nahrung/Genuß 1910: Textilindustrie Bekleidung/Lederverarb.
Darstellung der einzelnen Krisen siehe bei: Kuc^ynski, Jürgen, Die Geschichte der Lage der Arbeiter unter dem Kapitalismus, Bd. 1 2 : Studien zur Geschichte der zyklischen Überproduktionskrisen in Deutschland 1873 bis 1914, Berlin 1961.
Neuere Diskussionen und eigene Thesen
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kungen (Abbildung 1 und dazugehörige Tabelle 2). In Tabelle 3 sind die unterschiedlichen Wachstumsraten der verschiedenen Industriezweige in Deutschland in den Krisenjahren 1892, 1901, 1908 (diese wird auch als Zwischenkrise bezeichnet), 1967 in der BRD und 1967 in den U S A aufgeführt. Auch hier ist eine starke Ähnlichkeit zu erkennen, oder wenn man will: es ist kein grundsätzlicher Unterschied zu erkennen. Nun handelt es sich bei beiden hier verglichenen Perioden — die neunziger Jahre bis 1913 und 1950 bis 1970 — um zwei Trendperioden der kapitalistischen Weltwirtschaft mit durchaus ähnlichem Charakter: die durchschnittlichen jährlichen Wachstumsraten der Tabelle 2 Wachstum der Industrieproduktion (in Prozent Vorjahr) Deutschland1 Jahr
¡n%
1884 1885 1886 1887 1888 1889 1890 1891 1892 1893 1894 1895 1896 1897 1898 1899 1900 1901 1902 1903 1904 1905 1906 1907 1908 1909 1910 1911 1912 1913
3,8 0,98 0,3 8,2 5,4 10,0 3,1 2,3 2,2 3,3 5,3 7,7 2,0 5,2 6,3 4,0 5,8 -4,4 2,5 7,6 4,2 3,7 4,3 7,8 -0,9 4,3 5,0 6,0 7,0 2,8
BRD 2 Jahr
in%
1951 1952 1953 1954 1955 1956 1957 1958 1959 1960 1961 1962 1963 1964 1965 1966 1967 1968 1969 1970 1971 1972 1973 1974 1975
18,0 6,8 10,0 11,8 14,9 7,9 5,2 3,1 7,6 11,0 5,7 4,9 3,9 9,2 5,8 2,0 -2,0 12,0 13,0 7,0 1,5 4,3 7,0 -1,4 -7,0
Ohne Bergbau. — Berechnet nach Hoff mann, Walther G., Das Wachstum der deutschen Wirtschaft seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, Berlin/Heidelberg/New York 1965, Tabelle 76. 2 1951-1970: Der Imperialismus der BRD, Berlin 1971, Abb. 15, S. 275; 1971-1974: Wirtschaft und Statistik, hg. v. Statistischen Bundesamt Wiesbaden, Nr. 2/1975, S. 120. 1975: MÉMO, 1976/4, S. 153. 1
Was ist staatsmonopolistischer Kapitalismus?
30 Tabelle 3
Wachstum der Produktion in den einzelnen Industriezweigen in Krisenjabren (gegenüber dem Vorjahr in Prozent) Deutschland1
BRD 2 1892
Gesamtindustrie (ohne Bergbau) Zweig Steine/Erden Metallerzeugung Metallverarbeitung Chemie Textil Ledererzeugung Bekleid./Lederverarbeitung Holz Nahrung/Genuß Gas/Wasser/ Elektrizität Bau Bergbau/Salinen
1901
1908
2,2
4,4
-0,9
6,3
7,5
5
0,9
-8,5
—3
-1,5 5,9
-4,5 1
1,2
1,6
-2,5 3 -3
— 1,5 - 1 1 , 5
2
-3 7,5
—3 8
0,2 13 2
1,5
5,2
USA 3
Gesamtindustrie Zweig Baumaterialien Schwarzmetallurgie Metallverarbeitung4 Chemie Textil Erdölverarbeitung Konfektion/ Schuhe Holzverarbeitung Nahrung/Genuß
-2
-6,1 4,9 -5,8 8,9 -7,5 4,8 -10 -3,5 3,2
Energetik 6
19 5
12,8 -1,5
-0,9 ± 0
2,8
3
1967
1967
5,4 Bau Bergbau Optik/Feinmechanik
-11,9 -5,4 -3
Gesamtindustrie Zweig Baumaterialien Metallurgie Metallverarbeitung5 Chemie Textil Erdölverarbeitung Konfektion Holzverarbeitung Nahrung Elektroenergie
0,9
— 1,4 -7,7 0,3 5,7 -0,7 4,7 -1,3 -2,5 2,3 6,6
—
Bergbau Lederindustrie
2,4 -4,5
Berechnet nach Hoff mann, Waltber G., Das Wachstum der deutschen Wirtschaft seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, Berlin/Heidelberg/New York 1965, Tabelle 76. — Bergbau: ebenda, Tabelle 66. 2 Ekonomiceskoepolo^enie kapitälisticeskicb i ra^vivajuscicbsja stran. Obzor za 1967 g. i nacalo 1968 g. Prilozenie k zurnalu Mirovaja ekonomika i mezdunarodnye otnosenija, Nr. 9/1968, S. 105. 3 Ebenda, S. 81. 4 Ungerichteter Durchschnitt aus: - 6 All. Maschinenbau — 6,6 Metallwaren Schiffbau Elektrotechnik — 0,7 ± 0 - 6,6 Ausrüstungen Autoproduktion —14,6 Ungerichteter Durchschnitt aus: TransportAllg. Maschinenbau 0,5 maschinen - 0,6 Elektromaschinen 1,6 Metallwaren - 0,6 1
Weltindustrieproduktion, des Welthandels, der weltwirtschaftlichen Arbeitsteilung sind in beiden hoch, verglichen mit den jeweils vorhergehenden, also 1873 bis 1893 und der Zwischenkriegszeit. 35 36
Vgl. die Berechnungen von: Kucs^ynski, Thomas, a. a. O., S. 21.
Neuere Diskussionen und eigene Thesen
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Die zyklischen Schwankungen spielten sich gewissermaßen auf dem Rücken längerfristiger Aufschwungsbewegung ab und nicht im Rahmen einer längerfristigen Stockungsphase wie die zyklische Krise 1929 bis 1933. Auch deshalb ist der hier vorgenommene Vergleich durchaus sinnvoll. Wenn man also auf diese Weise die Produktionsverläufe vergleicht, erkennt man, daß viele der „Besonderheiten" der Zyklen der letzten Jahrzehnte gar keine Besonderheiten sind, sondern eher das „Normale" oder den „Durchschnitt" kapitalistischer Zyklen repräsentieren. Wenn man nun aber zur Betrachtung der Wertkennziffern übergeht, werden die entscheidenden Unterschiede deutlich: Während die Produktionsrückgänge 1890 bis 1913 relativ milde verliefen, waren trotz allgemein ansteigenden Preisniveaus die Preisrückgänge viel stärker, was zu negativen Raten in der Entwicklung des Nettosozialprodukts, des Kapitaleinkommens und des Kapitalstocks führte (die aber alle längst nicht an die entsprechenden Einbrüche 1929 bis 1933 heranreichten).36 Dagegen traten in der Trendperiode 1950 bis 1970 die Preisrückgänge ganz und gar gegen die Produktionsrückgänge zurück. In den USA war die letzte Krise mit einem Rückgang des Preisniveaus diejenige von 1948/49.37 Schon während der Krise von 1957/58 stieg das Preisniveau an. Was nun etwas verwundert, ist, daß dieses Phänomen gar nicht so sehr im Vordergrund der Diskussion um die Besonderheiten des gegenwärtigen Zyklus steht.38 Es wird mehr unter dem Komplex Inflation und Währungskrisen abgehandelt und häufig nur als Folge oder Begleiterscheinung der staatlichen Inflationspolitik gesehen. Es ist natürlich eben unter den Bedingungen dieser Inflationspolitik schwierig, festzustellen, wie weitgehend hier dem monopolistischen Preisbildungsmechanismus immanente Faktoren einwirken. Von verschiedenen Autoren wird auf diese Faktoren ausdrücklich hingewiesen, und zwar mit unterschiedlicher Gewichtung. In „Der Imperialismus der BRD" wird die preiserhöhende Strategie der Monopole als weiter zurückreichende Tendenz dargestellt, aber: „Erst durch die enge Verflechtung der Macht der Monopole mit der Macht des Staates, wie sie in den fünfziger Jahren vollzogen wurde, beeinflussen die Monopole mit Hilfe der Macht des Staates die Preise und damit die Verwertungsbedingungen des Kapitals in neuer Weise mit völlig neuen Ergebnissen." 39 Etwas stärker wird die Rolle der Monopole in der französischen Kollektivarbeit betont, indem man feststellt, „daß es einen zweifachen, verflochtenen Ursprung für den Druck auf die Preise gibt: Monopole und Staat. Die staatlichen Preise verbinden sich mit denen der Monopole, um die Profitrate des Monopolkapitals zu steigern . . . Da nun die Monopole das wesentliche Element der Produktionsverhältnisse in den großen kapitalistischen Ländern sind, und da der Staat in bezug auf die Preise in ihrem Sinne eingreift, setzen sich die hohen Preise der Monopole in dieser sehr allgemeinen Art und Weise durch." 40 In der Kollektivarbeit des Moskauer Instituts für Weltwirtschaft 41 werden die Veränderun36
37
38 39 40 41
Vgl. Hoffmann, Waliber G., Das Wachstum der deutschen Wirtschaft seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, Berlin/Heidelberg/New York 1965, Tab. 148 (Nettosozialprodukt zu Marktpreisen), Tab. 122 (Nettosozialprodukt zu Faktorkosten), Tab. 34 (Kapitalstock im Gewerbe). Wagner, Hans, Die zyklischen Überproduktionskrisen der Industrieproduktion in den USA in den ersten beiden Etappen der allgemeinen Krise des Kapitalismus (1914 bis 1958), 1. Fortsetzung, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 1965, T. 1, S. 70f. Vgl. z. B. den Bericht, angeführt in Anmerkung 33 der vorliegenden Arbeit. Der Imperialismus der BRD, a. a. O., S. 305. Der staatsmonopolistische Kapitalismus, a. a. O., S. 328f. Politische Ökonomie des heutigen Monopolkapitalismus, hg v. Institut für Weltwirtschaft und internationale Beziehungen der Akademie der Wissenschaften der UdSSR, Berlin 1972 (Moskau 1970).
32
Was ist staatsmonopolistischer Kapitalismus?
gen im Mechanismus der Monopolpreisbildung und -realisierung in den letzten Jahrzehnten sehr ausführlich untersucht und die enorm gewachsene Macht der Monopole in der Preisfestsetzung zunächst einmal ganz unabhängig von staatlichen Einflüssen konstatiert. 42 Die Wechselwirkung zwischen Monopolpreispolitik und staatlicher Inflationspolitik wird dann später so erklärt: „Einerseits ruft die Erhöhung der Monopolpreise das Bedürfnis einer wachsenden Geldzirkulation hervor, und die Ausgabe neuen Papiergeldes verstärkt nachträglich den Preisanstieg. Andererseits führen die wachsenden Ausgaben des Staates zu einer Erhöhung der Nachfrage in Form neuer in Zirkulation gelangender Papiergeldmengen. Dadurch bietet sich den Monopolen die Möglichkeit, die Preise relativ leicht zu erhöhen. In Perioden krisenhaften Rückgangs erleichtert eine Inflation die Aufrechterhaltung der Monopolpreise." 43 Nach dieser Deutung wirkt also die staatliche Tätigkeit im Sinne einer Verstärkung des durch den heutigen Konkurrenzmechanismus des Monopolkapitals erzeugten Preisanstiegs. 44 Mit vorstehendem Exkurs über die Krisendiskussion sollte nur angedeutet werden, wie vorsichtig man sein muß und wieviel gründlicher Untersuchung es noch bedarf — die längerfristige historische Vergleiche mit einschließt —, ehe man aus dem heutigen Ablauf der kapitalistischen Zyklen auf einen vollzogenen Umschlag zum staatsmonopolistischen Kapitalismus schließen darf. Die schon eben zitierte Kollektivarbeit des Instituts für Weltwirtschaft in Moskau ist in der allgemeinen Anlage und Aussage nicht auf eine Phaseneinteilung des Imperialismus orientiert. Wenn auch vom Hinüberwachsen vom monopolistischen zum staatsmonopolistischen Kapitalismus gesprochen wird — dies wird in den einzelnen Kapiteln unterschiedlich verwendet —, so wird doch keine strenge zeitliche Abgrenzung vorgenommen, die historische Dynamik des Prozesses betont und den Veränderungen in der Sphäre des privaten Monopolkapitals größte Aufmerksamkeit gewidmet. 45 N. Inosemzev, einer der Leiter dieses Autorenkollektivs und Direktor des Instituts für Weltwirtschaft, vertritt in seiner (mehr überblicksartigen) Schrift „Der heutige Kapitalismus" faktisch die Auffassung vom Grundzug, wenn er schreibt: „Folglich machten sowohl die Monopole als auch der bürgerliche Staat in den letzten Jahrzehnten ihrer Entwicklung sehr bedeutende Veränderungen durch, ihr Klasseninhalt ist jedoch der gleiche geblieben. In beträchtlichem Maße haben sich auch die Formen des Zusammenwirkens, der Verschmelzung der Monopole mit dem bürgerlichen Staat verändert. Der Mechanismus des heutigen staatsmonopolistischen Kapitalismus unterscheidet sich daher maßgeblich von dem Mechanismus in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts." 4 6 Und ferner: „Es ist zutiefst gesetzmäßig, daß die Geschichte der Entwicklung des staatsmonopolistischen Kapitalismus mit den beiden Weltkriegen und der Krise von 1929 bis 1933 verknüpft ist, das heißt mit den größten sozialpolitischen Erschütterungen des Kapitalismus verbunden ist." 47 Andere sowjetische ö k o « Ebenda, S. 155-185. « Ebenda, S. 381. 44 Siehe dazu neuerdings auch : Dalin, S., in einer Rundtischdiskussion über den Charakter der Preisniveauerhöhung in den kapitalistischen Ländern in den letzten Jahrzehnten: Inflacija i sovremennyj kapitalizm, in: MÉMO, Nr. 3/1975, S. 62ff. 45 Auch rein quantitativ kommt dies zum Ausdruck: Das Kapitel „Haupttendenzen der Entwicklung der Wirtschaft des Monopolkapitalismus" umfaßt 260 Seiten, das Kapitel „Die Rolle des Staates in der Wirtschaft des Monopolkapitalismus" 120 Seiten. 46 Inosemzev, N. N., Der heutige Kapitalismus: Neue Erscheinungen und Widersprüche, Berlin 1973, S. 93. « Ebenda, S. 86.
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nomen wiederum, wie S. Tjulpanov, J. Borko und andere 48 , polemisieren gegen die seit Ende 1970 von Dragilev, auch — mit unterschiedlichen Nuancen — von Leont'ev, Zelezova und Perovic 49 vertretene Auffassung vom Grundzug. Begründungen für die entscheidende Rolle der Krise von 1929 bis 1933 für den Übergang zur Phase des staatsmonopolistischen Kapitalismus brachten Hans Mottek in einem vor dem Erscheinen des dritten Bandes der „Wirtschaftsgeschichte Deutschlands" 50 verfaßten Artikel 5 1 sowie Thomas Kuczynski. Beide sehen in den längerfristigen Aufschwungs- und Abschwungsphasen der kapitalistischen Weltwirtschaft und in dem jeweiligen Charakter der zyklischen Krisen wesentliche Indikatoren für die Funktionsfähigkeit der entsprechenden Stufe der kapitalistischen Produktionsverhältnisse. Die Krise 1873 bis 1879 markiere die Überlebtheit des vormonopolistischen Kapitalismus und den Umbruch zum Monopolkapitalismus. Die Aufschwungsphase 1893 bis 1913, in der die privatmonopolistische Regulierung sich weit stärker entwickelt habe als die staatliche 52 , sei durch die Krise von 1913 beendet worden, mit der sich ein Trendumbruch andeutete 53 , der nur durch den ersten Weltkrieg und seine Folgen verschoben worden sei, im Grunde bis zur Krise 1929 bis 1933. Diese Krise, die ohne Weltkrieg vermutlich schon 1913 ausgebrochen wäre, bedeute die Systemkrise des Monopolkapitalismus und den Umbruch zum staatsmonopolistischen Kapitalismus. Der Vorzug dieser Hypothese besteht darin, daß sie die staatsmonopolistische Entwicklung in die langfristigen Auf- und Abschwungsphasen der kapitalistischen Weltwirtschaft einbettet, und es wird hiermit ein Versuch unternommen, die Natur dieser Trendperioden, die ja noch ungeklärt ist — und deren Existenz machmal auch bestritten wird —, zu deuten. Neben dem schon weiter oben angeführten Einwand gegen die Benutzung des Kriteriums „Charakter der Wirtschaftspolitik" (also vor der Krise fördernd und interventionistisch, nach der Krise sichernd und planmäßig, wie es Thomas Kuczynski ausdrückt 54 ) ist der Haupteinwand ebenfalls schon weiter oben angedeutet: Er richtet sich gegen die Einschätzung der Krise von 1929 bis 1933 als der typischen Krise des Monopolkapitalismus. In dem dritten Band der „Wirtschaftsgeschichte Deutschlands" betont Hans Mottek nun aber viel stärker als in dem genannten Artikel die schon mit dem Übergang zum Imperialismus einsetzende Herausbildung staatsmonopolistischer Züge sowie ihre etappenweise Verstärkung, wobei jetzt die Phasenauffassung ganz in den Hintergrund zu treten scheint. Wenn Mottek aber davon spricht, daß man „den staatsmonopolistischen Kapitalismus & Borko, J., a. a. O.; Tjulpanow, S., a. a. O.; vgl. auch den Diskussionsbericht: Alexejema, H.¡Kostakmva, E„ Diskussion zu Problemen des gegenwärtigen Kapitalismus, in: Sowjetwissenschaft, Nr. 11/1973, S. 1218ff. 49 Leont'ev, L., Rol' gosudarstva v ekonomike sovremennogo kapitalizma, in: MEMO, Nr. 1/1974, S. 104ff.; Zele^ova, V., Obscij krizis kapitalizma i GMK, in: ebenda, Nr. 6/1972, S. 103ff.; Perovic, M. M., Gosudarstvenno-monopolisticeskij kapitalizm vo Francii, Kiev 1969. 50 Mottek, Hans/Becker, WalterjSchröter, Alfred, Wirtschaftsgeschichte Deutschlands. Ein Grundriß, Bd. 3: Von der Zeit der Bismarckschen Reichsgründung 1871 bis zur Niederlage des faschistischen deutschen Imperialismus 1945, Berlin 1974. 51 Mottek, Haas, Zur historischen Entwicklung der ökonomischen Rolle des bürgerlichen Staates bis zum ersten Weltkrieg, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 1974, T. 3, S. 65ff. 52 Ebenda. 63 Dies hatte früher auch Spiethoff angenommen, jetzt auch wieder Hoff mann, Waltber G., Wachstumsschwankungen in der deutschen Wirtschaft 1850—1967, in: Untersuchungen zum Wachstum der deutschen Wirtschaft, hg. v. Walther G. Hoffmann, Tübingen 1971, S. 92= Schriften zur angewandten Wirtschaftsforschung, 26. 54 Kuczynski, Thomas, a. a. O., S. 35, 41 f.
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Was ist staatsmonopolistischer Kapitalismus?
vom privatmonopolistischen Kapitalismus mit nur staatsmonopolistischen Zügen" 5 5 unterscheiden müsse, so bleibt doch unklar, wie er diese beiden nun eigentlich voneinander abgrenzt. Die dritte Variante der Phasentheorie — das Hinüberwachsen des monopolistischen in den staatsmonopolistischen Kapitalismus, also der grundlegende qualitative Umschlag, sei mit dem Beginn der allgemeinen Krise des Kapitalismus und hauptsächlich mit der Oktoberrevolution anzusetzen — ist heute unter Ökonomen weniger verbreitet, aber zum Beispiel unter Historikern der DDR anzutreffen (oder anzutreffen gewesen). Da diese Auffassung in den Publikationen kaum in expliziter Darstellung erscheint, sondern sich gewissermaßen als Hintergrundvorstellung in einzelnen Wendungen äußert, ist es schwierig, ein klares Bild zu gewinnen. Soviel scheint aber sicher zu sein, daß hier nicht wie bei der Phasentheorie der Ökonomen an eine Qualitätsveränderung der Produktionsverhältnisse gedacht wird, sondern mehr an einen grundsätzlichen Qualitätsumschlag in den Herrschaftsmethoden und -strukturen, wobei aber meist die Herausbildung der einzelnen staatsmonopolistischen Formen wieder als stufenweise verlaufender Prozeß beschrieben wird. 56 Als wesentliches Kriterium des Übergangs zum staatsmonopolistischen Kapitalismus als eines Systems neuer Herrschaftsmethoden wird ein Qualitätsumschlag in den Beziehungen zwischen Ökonomie und Politik gesehen: Die Oktoberrevolution habe eine zu allen vorhergehenden Epochen grundsätzliche Umkehrung dieses Wirkungsverhältnisses gebracht — so wurde in mehreren Diskussionen formuliert. Eine publizierte — etwas abgeschwächte — Version findet sich bei Wolfgang Rüge in einer Rezension des 1972 erschienenen Buches von Jürgen Kuczynski „Klassen und Klassenkämpfe im imperialistischen Deutschland und in der BRD", in dem Kuczynski den staatsmonopolistischen Kapitalismus als Wesensmerkmal des Imperialismus bezeichnet hatte: Der staatsmonopolistische Kapitalismus werde von Kuczynski „nicht als Erscheinungsform und Wesensmerkmal der allgemeinen Krise des Kapitalismus gekennzeichnet und nicht deutlich g e m a c h t . . ., daß seit der weltbewegenden Großen Sozialistischen Oktoberrevolution, nach der das Monopolkapital nicht mehr in erster Linie nach seinen (ökonomischen) Profit-, sondern nach seinen (politischen) Uberlebenschancen fragen muß, ein in mancher Weise qualitativ neues Verhältnis von Ökonomie und Politik entstanden ist." 57 Interessant erscheint mir, daß eine ähnliche Aussage über die Umkehrung des Wirkungsverhältnisses Ökonomik — Politik in der 1965 erschienenen ersten Auflage von „Imperialismus heute" anzutreffen war: „Diese Spezifik der Wechselbeziehungen zwischen Ökonomie und Politik in der untergehenden kapitalistischen Gesellschaftsordnung, die wachsende Rolle der Politik, also des Klassenkampfes, in bezug auf die Wirtschaft haben da^u
geführt, daß für die Finan^oligarchie ein Primat der Politik über die Wirtschaft entstanden ist, das ihre Vertreter und Ideologen heute o f f e n als ständiges gesellschaftliches Prinzip für die kapitalistische Ordnung verkünden. Durch diese gesamte 'Entwicklung wurde die Monopolboürgeoisie gezwungen, das Hauptinstrument ihrer Politik, den Staat, unmittelbar in das Wirtschaftsleben einzuschalten und ihm immer umfassendere ökonomische Funktionen zu übertragen." 5 8 In der weiterentwickelten Fassung dieser Arbeit, „Der Imperialismus der BRD", 65 56
57 68
Mottek, Hans/Becker, Walter)Schröter, Alfred, a. a. O., S. 111. Letzteres ist zum Beispiel deutlich bei: Gossweiler, Kurt, Großbanken — Industriemonopole — Staat, Berlin 1971, der seinem Buch aber den Untertitel gibt: „Ökonomie und Politik des staatsmonopolistischen Kapitalismus in Deutschland 1914—1932". Rage, Wolfgang, Rezension, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, Nr. 1/1973, S. 85. Imperialismus beule, a. a. O , S. 142f.
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wurde der hervorgehobene Teil des Zitats weggelassen. 59 Obwohl die starke und beschleunigende Wirkung der Oktoberrevolution auf die staatsmonopolistische Entwicklung außer Zweifel steht — sie wurde in den kurzen Darstellungen der eigenen Grundzugsauffassung weiter oben aufgeführt —, muß die These von der „Umkehrung" des Wirkungsverhältnisses Ökonomik — Politik abgelehnt werden. Was außerdem diese Variante der Phasentheorie schwer akzeptabel macht, ist der ihr immanente Schluß, der allerdings explizit nicht gezogen wird, daß sich die Phase des „privaten Monopolkapitalismus" auf einen so kurzen Zeitraum von 1900 bis 1917 begrenzt, also auf eine Periode, in der das Monopolkapital noch nicht einmal alle Bereiche der Industrieproduktion durchdrungen hatte, und in der sich zum Beispiel in Deutschland das Monopolkapital noch die politische Macht mit den Junkern teilen mußte. In dem Ende 1974 erschienenen Grundriß „Klassenkampf, Tradition, Sozialismus" 60 , der von einem umfangreichen Kollektiv von Historikern erarbeitet wurde, finden die eben skizzierten Auffassungen aber keinen Niederschlag mehr. In den knappen Bemerkungen zur Entwicklung des staatsmonopolistischen Kapitalismus 61 wird der Prozeßcharakter betont und offensichtlich keine Phaseneinteilung vorgenommen. Wurden bisher gewissermaßen im zeitlichen Rückwärtsgang die verschiedenen Gruppen der Phasentheorie kurz betrachtet, so soll abschließend noch eine interessante Version Jürgen Kuczynskis zur Grundzugsauffassung besprochen werden, die er in dem schon erwähnten Buch über Klassen und Klassenkämpfe darlegte. Im Zusammenhang mit der Analyse Leninscher Bemerkungen zum staatsmonopolistischen Kapitalismus schreibt er zunächst: „Man stellt bisweilen die Frage, ob es eine Herrschaft der Monopole ohne staatsmonopolistischen Kapitalismus geben könne. Ich würde so sagen: In der Geschichte des Kapitalismus ist mir keine Herrschaft der Monopole bekannt, in der der monopolistische Kapitalismus nicht bereits Züge des staatsmonopolistischen Kapitalismus trägt." 6 2 Später behandelt er die Rolle des Staates in den Ausbeutergesellschaften: „Der Staat hat in der Geschichte der Ausbeutergesellschaften eine recht verschieden große Rolle gespielt. Bisweilen, wie im europäischen Früh- und Hochfeudalismus, war die Rolle des Staates so gering, daß man sagen muß: Im großen und ganzen trat die Lokalgewalt an die Stelle der Staatsgewalt. Im niedergehenden Feudalismus und im frühen Kapitalismus spielte der Staat jedoch wieder eine ganz starke Rolle. Zur Blütezeit des Kapitalismus ging die Rolle des Staates erneut zurück, um nach dem Höhepunkt des Kapitalismus der freien Konkurrenz, zunächst sehr langsam, weiter anzusteigen. Die erneute Steigerung erkannten damals auch bürgerliche Ökonomen wie Adolph Wagner, die für die (erneut) wachsende Rolle des Staates eine gesetzmäßige Erklärung zu geben versuchten. Wenn wir von der Rolle des Staates in einer Ausbeutergesellschaft sprechen, müssen wir zunächst an seine Hauptaufgabe denken: der herrschenden Klasse als Instrument der Unterdrückung zur Sicherung der Ausbeutung zu dienen. Tun wir das, dann ist offenbar, daß der Staat in einer Phase des Verfalls einer Gesellschaftsordnung im allgemeinen eine größere Rolle spielt als zur Zeit ihrer Blüte, da die herrschende Klasse in der Verfallszeit Der Imperialismus der BRD, a. a. O., S. 92 f. Klassenkampf, Tradition, Sozialismus. Von den Anfängen der Geschichte des deutschen Volkes bis zur Gestaltung der entwickfeiten sozialistischen Gesellschaft in der Deutschen Demokratischen Republik. Grundriß, hg. v. Zentralinstitut für Geschichte der Akademie der Wissenschaften der DDR, Berlin 1974. " Ebenda, u. a. S. 364, 425, 436, 450ff„ 578. 62 Kuc^ynski, Jürgen, Klassen und Klassenkämpfe im imperialistischen Deutschland und in der BRD, Berlin 1972, S. 42.
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Nussbaum, Wirtschaft
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Was ist staatsmonopolistischer Kapitalismus?
stärker von den unterdrückten Klassen und Schichten bedroht ist als zur Zeit des Höhepunkts ihrer Herrscherkraft. Sodann, nach dieser Hauptaufgabe, hat der Staat zwei Aufgaben, bei denen es im Stadium des Imperialismus schwer (und auch nicht nötig) zu entscheiden ist, welches die wichtigere ist: Einmal muß der Staat als Instrument der äußeren Expansion der Herrschaft der Monopole dienen; und weiter soll der Staat durch aktive Eingriffe in die Wirtschaft das Profitstreben des Kapitals — im Imperialismus: der Monopole — fördern. Der Staat als Instrument der Expansion der Herrschaft der herrschenden Klasse ist fast so alt wie seine Geschichte überhaupt. Doch hatte er in dieser Eigenschaft nur zweimal, man möchte sagen, existentielle, absolute Bedeutung: einmal in der Sklavenhalterwirtschaft, da diese ohne Sklaven undenkbar war und Sklaven in der Hauptsache durch Kriege beschafft werden mußten — und sodann im Stadium des Imperialismus, des monopolistischen Kapitalismus, da Monopole für ihre Entwicklung auf Kriege angewiesen sind — eine Tatsache, die vor allem Lenin nachgewiesen hat. Die übrigen Funktionen des Staates hängen im allgemeinen mit seiner Hauptaufgabe sowie mit den beiden hier genannten Aufgaben zusammen. Sie sind Unterfunktionen, die unter Umständen sowohl der Hauptaufgabe wie auch den beiden Aufgaben gleichzeitig dienen können." 63 Kuczynski betrachtet hier die Rolle des Staates im Imperialismus unter dem sozusagen weitestmöglichen historischen Blickwinkel und weist damit darauf hin, wie wichtig es ist, daß wir uns einmal von dem angestrengten und grübelnden Starren auf das 20. Jahrhundert lösen und unseren Gegenstand gewissermaßen in größerem Abstand betrachten. Doch müßte man neben den Ähnlichkeiten, die sich in der Rolle des Staates in den Spätphasen der Gesellschaftsformationen ergeben, nicht auch die Unterschiede in das Bild einbeziehen? Ist es unwesentlich für die jeweilige Rolle des Staates, auf welchem Niveau der Vergesellschaftung der Produktion sich der jeweilige Niedergang einer Gesellschaftsformation vollzieht? Diese Fragen bedürfen noch weiterer Überlegungen. Einige solcher Überlegungen sollen in den folgenden Schlußthesen zum staatsmonopolistischen Kapitalismus noch einmal zusammengefaßt werden. Staatsmonopolistischer Kapitalismus ist ein Grundzug des imperialistischen Stadiums des Kapitalismus. Er bezeichnet die Verschmelzung der zunächst vorwiegend ökonomischen Macht der Monopole mit der zunächst vorwiegend politischen Macht des Staates. „Machtverschmelzung" ist hierbei nicht einfach als Synonym für institutionelle Verschmelzung aufzufassen, sondern bezeichnet abstrakt zusammenfassend einen Prozeß, der die vielfältigsten Formen annehmen kann, zum Beispiel gegenseitige Einflußnahme, arbeitsteilige Kooperation, eigentumsmäßige und institutionelle Verflechtung. Besteht die Hauptfunktion des Staates in allen Klassengesellschaften in der Sicherung der herrschenden Ausbeutungsverhältnisse durch Dämpfung der Klassenkonflikte 64 , so wird zunächst durch die staatsmonopolistische Machtverschmelzung diese „alte" Funktion des Staates aufgehoben (bewahrt) und auf eine neue Stufe gehoben; die diesen Klassengegensätzen zugrunde liegenden Widersprüche des Prozesses der materiellen Reproduktion zu dämpfen, ist eine weitere Funktion des Klassenstaates, die ebenfalls nicht „neu" zu nennen ist. Neu jedoch und von allen vorhergehenden Gesellschaftsformationen verschieden ist der 63 Ebenda, S. 45f. 64
Zur „Dämpfung der Klassenkonflikte" siehe:"Engels,Friedrich, Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats, i n : M E W , Bd. 21, Berlin 1962, S. 165.
Neuere Diskussionen und eigene Thesen
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Grad der Vergesellschaftung der Produktion, der mit dem Umschlag zum Monopolkapitalismus eine neue Qualität erreichte. Die Dämpfung der dadurch hervorgerufenen Widersprüche innerhalb des kapitalistischen Reproduktionsprozesses wird damit ebenfalls zur Hauptfunktion, aber nun zur Hauptfunktion der staatsmonopolistischen Machtverschmelzung. Als Mittel zur Dämpfung dieser Widersprüche der kapitalistischen Reproduktion entwickelt sich die arbeitsteilige staatsmonopolistische Regulierung. „Staatsmonopolistische Regulierung" ist nicht einfach als Synonym für „staatliche Regulierung" oder „staatliche Steuerung, die die spontanen Regelmechanismen ersetzt", aufzufassen. Staatsmonopolistische Regulierung bezeichnet einen Komplex von Vorgängen und Maßnahmen, die darauf gerichtet sind, die spontanen privatkapitalistischen Regelmechanismen zu stärken und ihre (begrenzte) Anpassung an die sich ständig erweiternde Stufenleiter der Vergesellschaftung der Produktion zu unterstützen. Als „arbeitsteilig" muß die Regulierung deshalb bezeichnet werden, weil sie eben nicht nur von der Seite des Staates ausgeht, also des „ideellen Gesamtmonopolisten". Das Monopolkapital als Hauptträger des Reproduktionsprozesses — oder besser: Hauptmachtträger, denn Hauptproduzent ist schließlich die Arbeiterklasse — entwickelt aus sich heraus, ebenso wie es auf Grund der ihm immanenten Gesetzmäßigkeiten die weitere Vergesellschaftung vorantreibt, Formen der Regulierung oder Selbstregulierung, der Anpassung an die neuen Zwänge der Reproduktion, die die Widersprüche zeitweilig dämpfen und (ebenso zeitweilig) eine solche Bewegung der Widersprüche ermöglichen, die die Entwicklung weiter vorantreibt. Gleichzeitig werden die grundlegenden Widersprüche ständig neu reproduziert. „Die kapitalistische Produktion strebt beständig, die(se) ihr immanenten Schranken zu überwinden, aber sie überwindet sie nur durch Mittel, die ihr diese Schranken aufs neue und auf gewaltigeren Maßstab entgegenstellen". 65 In diesem Prozeß von fortwährenden Konflikten, ihrer teilweisen Überwindung oder Dämpfung und ständigen Neuerzeugung entwickelt sich als ergänzendes Element, fördernd und/oder retardierend, die Staatseinwirkung auf den Reproduktionsprozeß. Daß der Staat als ökonomische Potenz auftritt, ist nicht an sich etwas Neues im monopolistischen Stadium; diese ökonomische Potenz gewinnt allein dadurch eine neue Qualität, daß die gesellschaftliche Stufenleiter der kapitalistischen Reproduktion eine neue Qualität gewonnen hat, deren kapitalistischer Ausdruck eben die zunehmende Monopolisierung der kapitalistischen Basis ist. Ist die staatsmonopolistische Verschmelzung die notwendige Voraussetzung zur angestrebten Dämpfung der Widersprüche und die Dämpfung der Widersprüche der „Zweck" oder die Funktion der staatsmonopolistischen Verschmelzung, so ist die arbeitsteitlige staatsmonopolistische Regulierung das Mittel zum Zweck oder zur Erfüllung der Funktion; „alte" und „neue" Funktionen sowohl des Staates als auch des ökonomischen Bereichs sind in diesem widerspruchsvollen Gefüge (oder Mechanismus) miteinander verschmolzen, wobei die inneren Gesetze der kapitalistischen Basis nach wie vor die letztendlich bestimmenden Triebkräfte der Entwicklung sind. Nimmt man diese verschmolzenen „alten" und „neuen" Funktionen zum Zwecke der Analyse wieder etwas auseinander, so kann man drei Bereiche oder drei Gruppen von Widersprüchen unterscheiden, deren Dämpfung zum Ziel der staatsmonopolistischen Verschmelzung und Regulierung wird (und zwar in den verschiedenen Zeitabschnitten und Ländern in unterschiedlicher Reihenfolge, Intensität, Wirksamkeit und Schwerpunktes Marx, Karl, a. a. O., S. 260. 4*
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Verteilung): Die Widersprüche in der materiellen Reproduktion des Kapitals, in der Reproduktion des YLapitiXverhältnisses und der „Reproduktion" der politischen Macht des Monopolkapitals. Nochmals erweitert formuliert: Zu Haupt fielen der staatsmonopolistischen Verschmelzung werden: 1. die Regulierung der materiellen erweiterten Reproduktion des Kapitals unter den Bedingungen des imperialistischen Stadiums, als welche zu verstehen sind: a) gewaltiges Anwachsen der gesellschaftlichen Produktivkraft bei gleichzeitiger Abschwächung der alten selbsttätigen Regelmechanismen der kapitalistischen Produktion, b) Anwachsen des Expansionsdranges der riesigen monopolistischen Kapitalassoziationen und damit sowohl der weltwirtschaftlichen Verflechtung als auch der weltwirtschaftlichen und weltpolitischen Konflikte; 2. Sicherung der erweiterten Reproduktion des Kupitziverhä/tnisses unter Bedingungen, die die Kapitalhülle der gesellschaftlichen Produktionsmittel fortwährend zu sprengen droht; Festigung des privatkapitalistischen Eigentums und Regulierung der Klassenbeziehungen ; 3. Aufrechterhaltung der politischen Macht der kapitalistischen Oligarchien unter dem revolutionären Druck in der imperialistischen Epoche, dieser welthistorischen Übergangsperiode vom Kapitalismus zum Sozialismus, in der seit der Existenz des sozialistischen Lagers die äußeren Einwirkungen auf das monopolistische System zusätzliches und immer stärker werdendes Gewicht erlangen. Wie bei allen Periodisierungsdiskussionen handelt es sich auch hier nicht um einen Streit um Worte, sondern um die Klärung und Einordnung ganz konkreter historischer Erscheinungen und Prozesse. Deshalb entwickeln sich solche Diskussionen auch immer wieder, wenn weitere solcher Erscheinungen und Prozesse erforscht werden. Und je komplexer der Gegenstand, desto größer wird im allgemeinen die Zahl der Deutungsversuche sein. Bei dem gegenwärtigen Stand der Forschung sehen wir die These vom Grundzug als diejenige an, die die historische Entwicklung des staatsmonopolistischen Kapitalismus am besten widerspiegelt und sie nicht in ein zu enges theoretisches „Korsett" zwingt.
KAPITEL 3
Zu einigen Auffassungen über Imperialismus und staatsmonopolistischen Kapitalismus in der BRD-Historiographie
In den letzten Jahren ist in der BRD-Historiographie neben einer umfänglichen Imperialismusdiskussion auch das Thema des staatsmonopolistischen Kapitalismus aufgegriffen worden.1 Bekannt ist, daß in der professionellen Wirtschaftshistoriographie der BRD sich die Forschungsschwerpunkte in der letzten Zeit auf das 19. und 20. Jahrhundert verlagert haben, daß verstärkt Industrialisierungs- und volkswirtschaftliche Wachstumsprozesse untersucht werden, und zwar zunehmend auch mit quantitativen Methoden. Untersuchungen monopolkapitalistischer Strukturen spielen kaum eine Rolle, etwas stärkeres Interesse dagegen finden historische Untersuchungen über die Beziehungen zwischen Wirtschaft und Staat, bedingt unter anderem durch die aktuellen Anstöße von Seiten der bürgerlichen Wirtschaftstheorie und Wirtschaftspolitik.2 Man geht aber wohl nicht fehl mit der Feststellung, daß in den meisten wirtschaftshistorischen Arbeiten über die Beziehungen zwischen Wirtschaft und Staat irgendwelche gesellschaftstheoretischen Erklärungsansätze dieser Beziehungen kaum enthalten sind.3 Gesellschaftstheoretische Erklärungsansätze findet man heute in der BRD eher bei den Historikern, bei denen im Prozeß der Abkehr vom Historismus nun neben der „strukturgeschichtlich" orientierten Strömung auch eine Strömung an Boden gewinnt, die „sozialökonomische" Geschichtsschreibung betreibt. Bekannt ist auch, daß die Industriegesellschaftskonzeption in der letzten Zeit immer stärker in alle Disziplinen der dortigen Sozialwissenschaften eingedrungen ist und gewis1
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Eine ausführlichere Analyse der Imperialismusauffassungen bringt: Gutscbe, Willibald, Zur ImperialismusApologie in der BRD. „Neue" Imperialismusdeutungen in der BRD-Historiographie zur deutschen Geschichte 1898 bis 1917, Berlin 1975= Zur Kritik der bürgerlichen Ideologie, hg. v. Manfred Buhr, 63. — Gutsches Arbeit und das hier vorliegende Kapitel 3 sind unabhängig voneinander entstanden, decken sich aber weitgehend in der Interpretation. Dennoch soll auf die folgenden Ausführungen zur Imperialismusdeutung nicht verzichtet werden, da einige Akzente anders gesetzt sind. Hingewiesen sei aber darauf, daß Gutsche die Nuancen zwischen den verschiedenen Strömungen ausführlicher behandelt und auch auf „Bürgerliche antiimperialistische Beiträge zur Imperialismusforschung", so von Fritz Fischer u. a., eingeht. (Ebenda, S. 57-64). Einige konzeptionelle Fragen sollen hier erörtert werden — eine Gesamtanalyse sämtlicher diesbezüglicher Tendenzen würde den hier gegebenen Rahmen sprengen. Vgl. dazu: Tendenzen der Wirtscbaftsgescbichtsscbreibung in: Unbewältigte Vergangenheit. Kritik der bürgerlichen Geschichtsschreibung in der BRD, hg. v. Gerhard Lozek [u. a.], 3. neu bearb. u. erw. Aufl., Berlin 1977, S. 463 f . Vgl. dazu z. B. die sonst informativen Arbeiten von: Viseber, Wolfram, Wirtschaft und Gesellschaft im Zeitalter der Industrialisierung. Aufsätze, Studien, Vorträge, Göttingen 1972= Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, 1.
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sermaßen als einigende Rahmenkonzeption fungiert. 4 Daß diese Auffassung sich so relativ rasch ausbreitete und als Erkenntnisrahmen akzeptiert wurde, liegt unter anderem sicher auch daran, daß ein starkes Bedürfnis nach einem solchen allgemeinen Erkenntnisrahmen bestand, der es gestattete, die Erforschung einzelner Prozesse und Erscheinungen nicht gänzlich ohne feste Bezugspunkte zu betreiben. Alle früheren Versuche, dem marxistischen Formationsgedanken andere Zustandsdefinitionen der modernen kapitalistischen Gesellschaft entgegenzustellen, hatten sich als zu schwächlich und einseitig erwiesen — denken wir nur an die „freie Verkehrswirtschaft", „Marktwirtschaft", „pluralistische Verbandsgesellschaft" u. ä. Im Paradigma der Industriegesellschaft sind diese engeren Auffassungen gewissermaßen „aufgehoben". Dieses Paradigma erlaubt es, die gesellschaftliche Entwicklung der letzten 150 Jahre so zu deuten: Alle gesellschaftlichen Veränderungen dieses Zeitraumes seien geprägt durch die zunehmende Industrialisierung (Wohlgemerkt: Industrialisierung, nicht: Entwicklung des ladnstnckapitalismus). Die der Industriegesellschaft gemäße politische Form sei die — bürgerlich-parlamentarische — Demokratie. Eine Verzögerung der Demokratisierung oder „Rückfälle" in autoritäre oder auch „faschistische Herrschaftsformen entstünden dadurch, daß sich reaktionäre, eigentlich „vorindustrielle" Herrschaftseliten oder -Oligarchien der Tendenz der industriellen Massengesellschaft zur Demokratie widersetzten, und hieraus entwickelten sich die stärksten sozialen Konflikte. Schließlich setze sich aber die der Industriegesellschaft gemäße Form des „demokratischen Wohlfahrtsstaates" durch. Das ist natürlich nur eine allgemeine Skizze, die nicht alle Nuancen abdeckt 5 , aber doch Wesentliches erfaßt. Diese Konzeption, so scheint es, hat den Blick vieler BRD-Historiker in letzter Zeit verstärkt auf die Analyse der Rolle der „vorindustriellen Herrschaftsoligarchien" gelenkt. Über die Zeit bis 1914 liegen diesbezüglich nicht uninteressante Ergebnisse vor. 6 Grotesk aber wird die Sache dann, wenn man versucht, auch die Herrschaft des deutschen Faschismus hauptsächlich mit der Rolle der „vorindustriellen Eliten" zu begründen. So schreibt z. B. Klaus Hildebrand, nachdem er die These aufgestellt hat, in Deutschland seien im Gegensatz zu Großbritannien wirtschaftlicher Besitz und politische Macht — „von den Jahren der Weimarer Republik einmal abgesehen" — zunehmend auseinandergefallen: „Konsequenz dieser Verwerfung im Gesellschafts- und Verfassungsgefüge Preußen-Deutschlands war nach den Erfahrungen der preußisch-deutschen Elite mit dem parlamentarischen Experiment der Weimarer Republik die Bereitschaft dieser vorindustriellen, besser gesagt: vorkapitalistisch orientierten Fäbrungsschicbten, sich noch einmal auf den Versuch einer autoritären Lösung der anstehenden Fragen einzulassen, ohne die damit verbundenen Unkosten der Außenpolitik einer 'verselbständigten Exekutive', also: die Folgen des Hitlerschen 'Programms' und seiner Strategie kalkulieren zu können." 7 (Hervorhebung von mir — 4 6
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5 Ausführlicher: Ebenda. Vgl. dazu: Unbewältigte Vergangenheit, a. a. O., S. 23 f. Siehe unter anderen besonders: Puble, Hans-Jürgen, Agrarische Interessenpolitik und preußischer Konservativismus im wilhelminischen Reich(1893—1914). Ein Beitrag zur Analyse des Nationalismus in Deutschland am Beispiel des Bundes der Landwirte und der Deutsch-Konservativen Partei, Hannover 1966= Schriftenreihe des Forschungsinstituts der Friedrich-Ebert-Stiftung. — Derselbe, Politische Agrarbewegungen in kapitalistischen Industriegesellschaften. Deutschfand, USA und Frankreich im 20. Jahrhundert, Göttingen 1975= Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, 16. Hildebrand, Klaus, Innenpolitische Antriebskräfte der nationalsozialistischen Außenpolitik, in: Sozialgeschichte heute. Festschrift für Hans Rosenberg zum 70. Geburtstag, hg. v. Hans-Ulrich Wehler, Göttingen 1974, S. 639= Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, 11.
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BRD-Historiographie
H. N.) Und hier wird dann besonders deutlich, worin das eigentlich Apologetische an dieser Konzeption besteht: entscheidende, konstitutive Elemente der kapitalistischen Gesellschaft werden einfach aus dem Blickfeld verdrängt. Die Rolle des Kapitaleigentums, des Monopolkapitals, die Rolle der Vinan^oligarcbie wird unterbewertet, sie werden entlastet, zum bequemen Sündenbock werden die „vorindustriellen Oligarchien". 8 Wie sich das im einzelnen auswirkt, soll im folgenden noch an einigen Beispielen der Imperialismusdeutung gezeigt werden. „Imperialismus" hat als Begriff und als Gegenstand der Forschung — oder zumindest der historisch-theoretischen Reflexion — erst im Laufe der sechziger Jahre stärker Eingang in die historischen Disziplinen der BRD gefunden. In Umkehrung früherer Verhältnisse wurde dieses Thema stärker von den professionellen Historikern als den professionellen Wirtschaftshistorikern aufgegriffen — ähnliches wurde hier schon anfangs kurz angedeutet. Dem früher in der bürgerlichen deutschen Geschichtsschreibung vorherrschendem Historismus war der Begriff Imperialismus eigentlich fremd, während in der deutschen Nationalökonomie, die ja längere Zeit engstens mit der Wirtschaftshistoriographie verflochten war, bis in die zwanziger Jahre, ja z. T. bis in die dreißiger Jahre hinein viele Aspekte zumindest des Monopolisierungsprozesses erforscht wurden. Und während das Interesse der BRDWirtschaftshistoriker an dieser Problematik nun fast völlig erloschen ist, war es offensichtlich die politische Aktualität des Imperialismusbegriffes, seine Bedeutung in den weltpolitischen Auseinandersetzungen der letzten Jahrzehnte, die die Historiker der mittleren und jüngeren Generation veranlaßt hat, ihn aufzugreifen. Den konkreten Anstoß lieferte darüber hinaus — oder damit im Zusammenhang — die scharfe Kritik Fritz Fischers an der traditionellen Deutung der deutschen Wirtschaftspolitik und der Ursachen des ersten Weltkrieges. Fritz Klein hat vor einiger Zeit in einem ausführlichen Literaturbericht die im Verlauf dieser langen Kontroversen erschienenen Publikationen und entsprechenden Standpunkte kritisiert. Unter anderem schrieb er über Wolfgang Mommsens 1969 erschienenes Buch „Das Zeitalter des Imperialismus", in dem Mommsen die europäische Geschichte von den achtziger Jahren bis 1918 darstellt, man vermisse hier „theoretisch belangvolle Äußerungen über das Problem des Imperialismus." 9 Ab 1969 sind nun eine ganze Reihe von Arbeiten erschienen, die sich hauptsächlich mit der Zeit bis 1914 oder 1918 befassen und in denen auch theoretische Deutungsversuche unternommen werden. 10 Allen in der BRD zur Zeit gängigen Imperialismusauffassungen ist zunächst eines ge-
meinsam: Inhalt und Umfang des Begriffs Imperialismus ist wesentlich enger, umfaßt nur einen Teilaspekt 8
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des marxistisch-leninistischen
B e g r i f f s Imperialismus.
Diese Begriffsunterschiede
Zur Rolle der „modernen", d. h. kapitalistischen Oligarchien in der faschistischen Herrschaft vgl. die Ausführungen in Band 2 und 3 der vorliegenden Arbeit. Klein, Fritz, Neuere Veröffentlichungen in der BRD zur Geschichte und Vorgeschichte des ersten Weltkrieges, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, Nr. 2/1972, S. 216. Weiter, Hans-Ulrich, Bismarck und der Imperialismus, Köln/(West-)Berlin 1969 (Rezension dazu: Nussbaum, Manfred, Politik und Kolonialpolitik. Bemerkungen zu Hans-Ulrich Wehler, Bismarck und der Imperialismus, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 1972, T. 3, S. 215ff.). Webler, Hans-Ulricb, Das Deutsche Kaiserreich 1871—1918, Göttingen 1973=Deutsche Geschichte, hg. v. Joachim Leuschner, Bd. 9. — Der moderne Imperialismus, hg. v. Wolfgang Mommsen, Stuttgart/Berlin (u. a.) 1971 (enthält Beiträge von Helmut Böhme, Wolfgang Mommsen, Karl Rohe, Wolfgang Schieder, Hans-Ulrich Wehler, Gilbert Ziebura); Schröder, Hans-Cbristopb, Sozialistische Imperialismusdeutung. Studien zu ihrer Geschichte, Göttingen 1973. — Weiteren Überblick siehe: Jtjtmpler, Helmut, Zum gegenwärtigen Stand der Imperialismusdebatte, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, Nr. 5/1974.
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müssen zuerst ganz klar herausgestellt werden, bevor man überhaupt in die Diskussion eintreten kann. Für die Marxisten-Leninisten ist Imperialismus gleich Monopolkapitalismus gleich Stufe einer historischen Gesellschaftsformation. Für die genannten Historiker ist Imperialismus nicht gleich Monopolkapitalismus, hat entweder überhaupt nichts oder zumindest sehr wenig mit Monopolkapitalismus zu tun, wird aber in keinem Fall als Gesellschaftsformation oder Stufe derselben betrachtet; die Gesellschaftsformation, oder zumindest ein Quasi-Begriff dafür, ist die Industriegesellschaft; während derer etwa 150jährigen Entwicklung trat zeitweise, aus sehr umstrittenen Ursachen, „Imperialismus" auf, und zwar bedeutet dieses Wort Imperialismus ausschließlich Expansionspolitik oder Herrschaft
über andere Völker. Als Beispiel sei hier die Imperialismusdefinition Hans-Ulrich Wehlers zitiert, die ganz auffällig derjenigen von Kautsky ähnelt, die Lenin bekanntlich schon heftig kritisiert hat. Kautsky schrieb: „Der Imperialismus ist ein Produkt des hochentwickelten industriellen Kapitalismus. Er besteht in dem Drange jeder industriellen kapitalistischen Nation, sich ein immer größeres agrarisches (Hervorhebung von Kautsky) Gebiet zu unterwerfen und anzugliedern, ohne Rücksicht darauf, von welchen Nationen es bewohnt wird." 1 1 Wehler schreibt: „Der okzidentale Imperialismus, unter dem hier diejenige direktformelle oder indirekt-informelle Herrschaft verstanden wird, die von Industrieländern auf Grund ihrer sozialökonomischen-technologisch-militärischen Überlegenheit in unterentwickelten Regionen ausgeübt wurde, ist ein komplexes Phänomen. Es setzt die universal-historische Zäsur der Industrialisierung voraus, die trotz aller unleugbaren Kontinuität den Imperialismus vom alteuropäischen Kolonialismus trennt . . ." 1 2 Bei Kautsky hieß es immerhin noch, Imperialismus sei ein Produkt des Kapitalismus, bestünde im Drang der industriellen kapitalistischen Nation, sich Agrargebiete anzugliedern. Bei Wehler aber ist sogar der Kapitalismus aus der Imperialismusdefinition verschwunden: Er spricht nur noch von der Herrschaft von Industrieländern in unentwickelten Regionen. Immerhin begreift er darunter sowohl direkt-formelle als auch indirekt-informelle Herrschaft, also Herrschaft mittels ökonomischer Durchdringung, was ihn wiederum von anderen Vertretern gegenwärtiger Imperialismusdeutung unterscheidet. Je nach der Intensität der Expansionspolitik und dem Ausmaß der Herrschaftsausübung werden dann weltgeschichtliche Phaseneinteilungen vorgenommen, von denen hier die von Wolfgang Mommsen vorgestellt sei 13 : 1. Die Ära des Freihandels und des „Informal Empire" 1776—1882. 2. Die Ära des klassischen Imperialismus 1882 bis 1918. 3. Die Ära des verschleierten Imperialismus 1919 bis 1945. 4. Die Ära des Nachimperialismus ab 1945. Die Ära des „Nachimperialismus" sei gekennzeichnet „durch Dekolonisation und die Reduzierung ehemals imperialistischer Beziehungen auf Abhängigkeitsverhältnisse marktkonformer oder äußerlich neutraler Art." 1 4 Es ist nicht zu übersehen, daß auf der Basis des eingeengten Begriffes „Imperialismus", der im Grunde aus der bürgerlichen Diskussion des 19. Jahrhunderts stammt, diese Phaseneinteilung zunächst plausibel erscheint. Wenn man ausschließlich die Formen und das Ausmaß der territorialen Expansion, das Ausmaß der formellen Herrschaft über „andere " Die Neue Zeit, Nr. 2/1914, v. 11. 9. 1914, S. 909. 12 Webler, Hans-Ulrich,
Das Deutsche Kaiserreich 1 8 7 1 - 1 9 1 8 , S. 171.
13 Der moderne Imperialismus, 14
Ebenda.
a. a. O., S. 14.
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Völker" in den Begriff einbezieht, so kann man sicherlich einige der von Mommsen und anderen genannten Phasen des sogenannten „Imperialismus" im Geschichtsablauf erkennen (wenn auch unbegreiflich bleibt, wieso die total unverschleierte Expansionspolitik der faschistischen Länder und Japans in den dreißiger und vierziger Jahren „verschleierten Imperialismus" darstellen soll). Würde es nicht also in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung genügen, wenn man die Begriffsunterschiede klarstellt und dann die Einzelergebnisse diskutiert, die auf der Basis des reduzierten Imperialismusbegriffes von den betreffenden Historikern dargeboten werden? Schließlich hat Lenin einmal geschrieben: „Es wäre natürlich unvernünftig, um Worte zu streiten. Den Gebrauch des Wortes 'Imperialismus' in diesem oder jenem Sinne zu verbieten ist unmöglich. Aber es ist notwendig, die Begriffe genau zu klären, wenn man diskutieren will." 1 5 In diesem Sinne könnte man zum Beispiel verfahren, indem man Helmut Böhmes Artikelüberschrift „Thesen zur Beurteilung der gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Ursachen des deutschen Imperialismus" gemäß dem Inhalt des Artikels in unsere Terminologie übersetzt: „Thesen zur Beurteilung . . . usw. . . . der deutschen Expansionspolitik bis 1914" und dann daran geht, sich konkret mit den von ihm dargestellten Ursachen für die Expansionspolitik auseinanderzusetzen, womit man wahrlich schon genug zu tun hätte. Böhme behauptet nämlich, daß der „deutsche Imperialismus", sprich Expansionspolitik, zu deuten sei „als vornehmlich den agrar-feudalen Interessen dienende Versuch, mit Hilfe manipulierter Weltmachtansprüche den sozialen status quo trotz Industrialisierung zu erhalten." 16 Es sei besonders festzuhalten, „daß die Träger der machtstaatlichen Expansionsideologie durchweg entweder nur indirekt Partizipanten oder sogar direkt 'Geschädigte' der zweiten industriellen Wachstumsphase waren . . ," 1 7 Hier haben wir eben das, was zuvor als gefährlichste Komponente der Industriegesellschaftskonzeption bezeichnet wurde: die Ablenkung von den Kapitaloligarchien, die völlige Verkennung des dem Kapital immanenten Expansionsdranges. Es versteht sich ja von selbst, daß sich dieser oft nur in sehr vermittelter Art in konkreten außenpolitischen Strategien niederschlägt, aber bei Böhme ist er überhaupt nicht in die Analyse einbezogen. Mommsen behauptet nur kurz: „Die ökonomischen Interessen der Eigentümerklasse einer kapitalistisch organisierten Gesellschaft sind als solche nicht notwendig imperialistisch" (sprich: auf Expansion gerichtet). Nur wenn diese Klasse im Innern zu sehr von sozialen Spannungen bedroht sei, könnten ihre Interessen zu einer Antriebskraft der äußeren Expansion werden. 18 „Allein in Verbindung mit der weit verbreiteten Vorstellung, daß die bestehenden sozialen politischen Strukturen sich nur unter den Bedingungen eines stetigen wirtschaftlichen Wachstums würden erhalten und die sozialdemokratische Gefahr bannen lassen, gewann der Ruf nach neuen Märkten und Rohstoffquellen in Übersee seine große Gewalt." 19 (Hervorhebung von mir — H. N.) Ein bißchen zugespitzt übersetzt hieße dies, die Sozialdemokratie sei die Ursache gewesen, daß die herrschenden Eliten sich auf den Expansionspfad hätten drängen lassen. Solcherart könnte man also sehr intensiv mit den betreffenden Autoren über die Ursachen der Expansionspolitik streiten, ohne sich zunächst um den Begriff Imperialismus 15 Lenin, W. I., Über eine Karikatur auf den Marxismus, in: Werke, Bd. 23, Berlin 1970, S. 33. 16 Der moderne Imperialismus, a. a. O., S. 54. " Ebenda, S. 55. 18 Ebenda, S. 20. « Ebenda, S. 19.
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zu streiten, um die Verwirrung nicht noch größer zu machen. Man übersetzt ihn zunächst einfach mit Expansionspolitik. Dennoch kann man es natürlich bei einer solchen gewissermaßen großzügigen Übersetzungskritik nicht bewenden lassen, wenn es um die Einschätzung historischer Entwicklungsstadien als Ganzes geht, um die Einschätzung des gegenwärtig im kapitalistischen Teil der Welt herrschenden Gesellschaftssystems des Monopolkapitalismus, das wir als Imperialismus bezeichnen. Und hier kommt nun der politische Akzent in die ganze Definitionsdiskussion und zeigt erst deutlich, daß es sich nicht um einen Streit um Worte handelt. Die Welt ist geprägt von antiimperialistischen Kämpfen, von antiimperialistischen Bewegungen verschiedener Zusammensetzung, die immer breitere Schichten umfassen. Bekanntlich verstärkt sich seit geraumer Zeit die Tendenz zur Verschmelzung der Kampfziele der verschiedenen antiimperialistischen Strömungen hin zum Kampf oder zumindest zur Opposition gegen das monopolkapitalistische oder imperialistische Gesellschaftssystem als Ganzem. Dies zeigt sich unter anderem auch in der in jüngster Zeit in der Öffentlichkeit der entwickelten kapitalistischen Länder wie der Entwicklungsländer hervortretende Unruhe und Diskussion über die Macht der multinationalen Monopole. In diesem Lichte gesehen tritt der apologetische Charakter des reduzierten Imperialismusbegriffs klar zutage. In welcher Zeit leben wir jetzt — nach Mommsen? In der der Ära des „Nachimperialismus"! Und wie verhält es sich mit den multinationalen Monopolen? Nun, Monopole spielen ja zum Glück überhaupt keine Rolle in seinen und ähnlichen (z. B. auch Böhmes) Imperialismustheorien, also braucht man auch dieses nicht neue, aber in der Gegenwart so auffällig gewordene Phänomen gar nicht in die Imperialismusauffassung einzuordnen. Man braucht gar nicht so weit zu gehen, subjektive apologetische Absichten zu unterstellen. Das kann sein, muß nicht sein, auf jeden Fall wäre es eine unfruchtbare Diskussion. Objektiv haben diese auf dem reduzierten Imperialismusbegriff aufgebauten welthistorischen Phaseneinteilungen und damit Entwicklungsdeutungen apologetischen Charakter. Übrigens scheint keiner der nicht-marxistischen BRD-Historiker, die sich mit der Imperialismusproblematik befassen, bisher auf den Gedanken gekommen zu sein, den gravierenden Unterschied zwischen ihrem Imperialismusbegriff und dem Leninschen auch nur zu konstatieren. Sie polemisieren ständig — direkt oder indirekt — gegen die „rein ökonomischen" Imperialismustheorien, zu denen diejenigen von Hobson, Luxemburg, Hilferding, vor allem aber die von Lenin gerechnet werden. Man unterstellt stillschweigend, Lenin hätte unter Imperialismus auch ausschließlich Expansionspolitik verstanden und unterstellt weiterhin, direkt oder indirekt, Lenin führe jede expansionistische Politik ausschließlich auf ökonomische Ursachen zurück. Gegen diese — unterstellte — These nun läßt sich natürlich vieles ins Feld führen. Der Haken besteht nur darin, daß es sich nicht um die Lenin'sche Theorie vom Imperialismus handelt, gegen die die Argumente ins Feld geführt werden, sondern um ein selbstgeschaffenes Phantom. Die Konfusion ist so heillos, daß man im Rahmen dieses Überblicks nicht daran gehen kann, sie vollständig zu entwirren. Betont werden soll hier lediglich, daß Lenin in seiner bekannten Kurzdefinition des Imperialismus als ein wesentliches Merkmal dieser neuen Entwicklungsstufe des Kapitalismus hervorgehoben hat: „5. Die territoriale Aufteilung der Erde unter die kapitalistischen Großmächte ist beendet."20 Es ist gerade diese Tatsache, 20
Lenin, W. /., Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus, in: Werke, Bd. 22, Berlin 1960, S. 271.
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aus der sich die besondere Schärfe der Konflikte bei der nunmehr auf die Tagesordnung rückende Neuaufteilung der Einflußgebiete ergibt. In einer zusammenfassenden Einschätzung der dabei wirkenden Wechselbeziehungen zwischen Ökonomik und (Außen-) Politik heißt es in „Politische Ökonomie des heutigen Monopolkapitalismus" 21 : „Eine sehr gedrängte Darstellung des Verhältnisses von Ökonomie und Außenpolitik in marxistischer Sicht ist die Formel, daß Politik konzentrierte Ökonomie ist. 'Beziehungen verschiedener Nationen untereinander hängen davon ab, wie weit jede von ihnen ihre Produktivkräfte, die Teilung der Arbeit und den inneren Verkehr entwickelt hat.'* Friedlich Engels unterstrich, daß 'die Politik und ihre Geschichte aus den ökonomischen Verhältnissen und ihrer Entwicklung zu erklären ist, nicht umgekehrt'.** W . I. Lenin bezeichnet als Grundlage der gesamten Weltanschauung der Marxisten, die durch die großen Erfahrungen von zwei russischen Revolutionen besonders nachdrücklich bekräftigt wurde, den Tatbestand, 'daß die tiefsten Wurzeln sowohl der inneren als auch der äußeren Politik . . . durch die ökonomischen Interessen, durch die ökonomische Stellung der herrschenden Klassen' im Staat bestimmt werden.*** Der Marxismus hat niemals die sehr komplizierte, lebendige Dialektik von Ökonomie und Politik, insbesondere der Außenpolitik, ignoriert. Er hat niemals Ökonomie und Politik irgendwie gleichgesetzt oder mechanisch miteinander gekoppelt. Und dennoch stoßen wir bei der Analyse der internationalen Beziehungen manchmal noch auf eine grobe Vulgarisierung, die mit dem marxistischen Denken nichts Gemeinsames hat. Das reale System der Wechselwirkung von Politik und Ökonomie wird mitunter als eine gewisse automatische Regulierung und Korrektur der internationalen Politik durch ökonomische Gesetzmäßigkeiten dargestellt. Die Außenpolitik ist kein fotografisches Abbild der ökonomischen Ordnung. Die ökonomischen Interessen, die ökonomische Stellung der herrschenden Klassen, das sind nach den Worten Lenins die 'tiefsten Wurzeln'. Sie bestimmen die Außenpolitik nur im Prinzip, in der ursprünglichen Form, in letzter Konsequenz und immer nur mittelbar. Sie beeinflussen das Entstehen und die Durchführung der Außenpolitik über ein ganzes System von sozialen, innenpolitischen, militärischen, ideologischen, sozialpsychologischen usw. Strukturen, die durch die Klassenverhältnisse bestimmt und eng miteinander verflochten sind. Diese Strukturen widerspiegeln und deformieren die im ökonomischen Bereich entstandenen Ausgangsigipulse ständig und überaus eigenartig nach den Gesetzen ihres eigenen Milieus. Sie übertragen ihren Einfluß unmittelbar auf das Gebiet der Außenpolitik, und zwar bereits in einer anderen, von der ursprünglichen Form unterschiedlichen Weise. Ebenso kompliziert und vielfältig ist aber auch der Rückkopplungsprozeß der Einwirkung der Außenpolitik auf das Wirtschaftsleben. Gerade deshalb besagt die marxistische Formulierung, daß die internationalen Beziehungen zur Kategorie der sekundären und tertiären, überhaupt abgeleiteten, übertragenen, nicht ursprünglichen Produktionsverhältnisse gehören.****" Worin sehen nun die BRD-Historiker, die auf diesem Gebiet arbeiten, die Ursachen oder Politische Ökonomie des heutigen Monopolkapitalismus, hg. v. Institut für Weltwirtschaft und Internationale Beziehungen der Akademie der Wissenschaften der UdSSR, Berlin 1972, S. 640f. * Karl Marx/Friedrich Engels: Die deutsche Ideologie. In: Marx/Engels: Werke, Bd. 3, S. 21. ** Friedrich Engels: Zur Geschichte des Bundes der Kommunisten. In: Ebenda, Bd. 21, S. 211/212. *** W. I. Lenin: Bericht über die Außenpolitik in der gemeinsamen Sitzung des Gesamtrussischen Zentralexekutivkomitees und des Moskauer Sowjets, 14. Mai 1918. In: Werke, Bd. 27, S. 358. **** Karl Marx: Einleitung zur Kritik der politischen Ökonomie. In: Marx/Engels: Werke, Bd. 13, S. 640. 21
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Was ist staatsmonopolistischer Kapitalismus?
Wurzeln des deutschen „Imperialismus", sprich: der Expansionspolitik? Gelegentlich sieht man zwar direkt ökonomische Ursachen für diese „Begleiterscheinung der 2. Phase der Industrialisierung" und spricht dann vom „Wirtschaftsimperialismus" 22 . Am meisten durchgesetzt zu haben aber scheint sich eine Auffassung, die von Wehler verkürzt „Sozialimperialismus" genannt wird, wobei „Sozial" hier nicht im Sinne von Sozialpolitik gemeint ist; Sozialimperialismus ist als Kurzformel für die Ursachendeutung gedacht: die
Expansionspolitik erfolge hauptsächlich %ur Ablenkung oder Ableiten innerer sozialer Spannungen nach außen. Eine entsprechende Deutung Mommsens ist vorhin schon erwähnt worden. Dieser im Grunde an Eckart Kehrs These vom „Primat der Innenpolitik" anknüpfende Deutung haben sich z. B. auch die Fischer-Schüler Stegmann, Wernecke und Witt angeschlossen, und gerade bei ihnen ist festzustellen, daß sie viel wertvolles Material über den — so würden wir sagen: Klassenkampf von oben, zutage gefördert haben. So existiert auf der Basis dieser These von Sozialimperialismus ein breites Spektrum von Meinungen, es gibt z. T. heftige Kontroversen über den Charakter und die Ursachen der sozialen Spannungen und die Hauptträger der Imperialismus (sprich: Expansions-)-Ideologie. Es läßt sich zweifellos auch einiges für die weitere Forschung verwerten, denn wer wollte wohl behaupten, daß das Motiv zur Ableitung sozialer Spannungen überhaupt keine Rolle gespielt habe bei diesen oder jenen außenpolitischen Entscheidungsprozessen. Dennoch bleibt, daß die hier besprochenen Theorien, die auf dem reduzierten Imperialismusbegriff aufbauen, abgesehen von ihrem apologetischen Kern, nicht eigentlich Gesellschaftstheorien sind, d. h. nicht eigentlich etwas aussagen über die historische Entwicklung der monopolkapitalistischen Gesellschaft. Sie befassen sich nur mit einem ihrer Aspekte, und dies weist unter dem verzerrenden Blickwinkel der Industriegesellschaftstheorie. Nun ist aber auch bei den BRD-Historikern das Theoriebedürfnis gewachsen (bzw. das Bedürfnis nach einer „brauchbaren" antimarxistischen Theorie), und auf der Suche nach gesamtgesellschaftlichen Erklärungsansätzen hat man Rudolf Hilferdings „Organisierten Kapitalismus" wiederentdeckt. Offensichtlich ist dieser Begriff etwa gleichzeitig 1969 von Wehler und Jürgen Kocka aufgebracht worden 23 . Für die Ende 1972 in Regensburg tagende BRD-Historikerversammlung sind dann von einer kleinen Gruppe von Historikern Referate vorbereitet und vorgetragen worden, die „Voraussetzungen und Anfänge des Organisierten Kapitalismus" in verschiedenen Ländern behandelten. 1974 sind diese Abhandlungen in einem Sammelband unter dem Titel „Organisierter Kapitalismus" erschienen. 24 Auch auf dem Bochumer Symposium von 1973 „Industrielles System und politische Entwicklung in der Weimarer Republik", dessen Ergebnisse ebenfalls 1974 veröffentlicht wurden, 25 spielt das Konzept des Organisierten Kapitalismus eine Rolle. Der zuerst ge22 23
24
25
So z. B. Henning, Friedrieb Wilhelm, Industrialisierung in Deutschland 1810 bis 1914, Paderborn 1973. Kocka, Jürgen, Unternehmensverwaltung und Angestelltenschaft am Beispiel Siemens 1847—1914. Zum Verhältnis von Kapitalismus und Bürokratie in der deutschen Industrialisierung, Stuttgart 1969, S. 316 = Industrielle Welt. Schriftenreihe des Arbeitskreises für moderne Sozialgeschichte, hg. v. Werner Conze, Bd. 11. — Webler, Hans-Ulricb, Theorieprobleme der modernen Wirtschaftsgeschichte, in: Entstehung und Wandel der modernen Gesellschaft. Festschrift für Hans Rosenberg zum 65. Geburtstag, hg. v. Gerhard A. Ritter, Berlin 1970, S. 66ff. (Kocka wies in der erstgenannten Arbeit schon auf Wehlers Konzeption in dem Artikel „Theorieprobleme" hin, die dann aber erst 1970 erschienen). Organisierter Kapitalismus. Voraussetzungen und Anfänge, hg v. Heinrich August Winkler, Göttingen 1974= Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, 9. Industrieltes System und politische Entwicklung in der Weimarer Republik. Verhandlungen des Internationalen
BRD-Historiographie
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nannte Sammelband — „Organisierter Kapitalismus" — enthält Aufsätze über Großbritannien 26 , Italien27, Frankreich 28 , die USA 29 , Deutschland 30 sowie einen mehr theoretischen Beitrag von Jürgen Kocka, der den programmatischen Titel trägt: „Organisierter Kapitalismus oder Staatsmonopolistischer Kapitalismus? Begriffliche Vorbemerkungen." 31 Kocka war es auch, der die Orientierungsthesen für die Vorbereitung dieser Referateserie ausgearbeitet hatte32, der das geschlossenste „Modell" vorlegte und der im übrigen die marxistische Literatur am meisten ausgewertet hat. Doch zunächst sei die Kurzdefinition des Begriffes „Organisierter Kapitalismus" von Heinrich August Winkler, in der Einleitung des Bandes gegeben, zitiert: „Gemeint ist mit diesem von Rudolf Hilferding geprägten Begriff in der Regel die Ablösung einer von Einzelunternehmern getragenen und gegen Staatseingriffe weitgehend abgeschirmten Wettbewerbswirtschaft durch eine hochgradig konzentrierte, innerlich bürokratisierte und verbandsmäßig organisierte Wirtschaftsordnung, deren Funktionsfähigkeit durch Staatsinterventionen unterschiedlichster Qualität gesichert wird." 33 Diese Definition ist zunächst noch etwas blaß, wenn man aber dann die Ausführungen von Kocka, auch von Hans Medick über die unter diesen Begriff subsumierten Erscheinungen liest, so umfaßt „Organisierter Kapitalismus" tatsächlich das meiste, was wir unter den staatsmonopolistischen Zügen des Monopolkapitalismus begreifen. Wehler betont, daß mit Hilfe dieses Begriffs nun die Möglichkeit gegeben sei, die „Totalität der Epoche" anzuvisieren.34 Einige der Referenten aber fühlen, daß sie damit eigentlich nichts anderes anvisieren als das, was die Marxisten als Monopolkapitalismus und staatsmonopolistischen Kapitalismus bezeichnen. Darum wird in dem ganzen Band immer wieder auf den Begriff des staatsmonopolistischen Kapitalismus Bezug genommen, auch von denen, die noch nicht so ganz glücklich sind mit dem Begriff „Organisierter Kapitalismus". So schreibt Gerald D. Feldman aus den USA: „Im Vergleich mit dem staatsmonopolistischen Kapitalismus stellt der Begriff des 'Organisierten Kapitalismus', da er flexibler und weniger tendenziös ist, immerhin einen Fortschritt dar . . . Allerdings kann der Ersatz eines zweifelhaften Begriffes durch einen weniger fragwürdigen kaum ein Symposiums in Bochum vom 12.—17. Juni 1973, hg. v. Hans Mommsen, Dietmar Petzina, Bernd Weisbrod, Düsseldorf 1974. (Rezension dazu: Steinbach, Hans-Jürgen, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, Nr. 2/1976, S. 225ff.) 26 Medick, Hans, Anfänge und Voraussetzungen des Organisierten Kapitalismus in Großbritannien 1873— 1914, in: Organisierter Kapitalismus, a. a. O., S. 58ff. — Wendt, Bernd-Jürgen, War Socialism — Erscheinungsform und Bedeutung des Organisierten Kapitalismus in England im Ersten Weltkrieg, in: ebenda, S. 1 1 7 f f . 27 Sellin, Volker, Kapitalismus und Organisation. Beobachtungen an der Industrialisierung Italiens, in: ebenda, S. 84ff. 28 Hardacb, Gerd, Französische Rüstungspolitik 1914—1918, in: ebenda, S. lOlff. 29 Puble, Hans-Jürgen, Der Übergang zum Organisierten Kapitalismus in den USA — Thesen zum Problem einer aufhaltsamen Entwicklung, in: ebenda, S. 172ff. 30 Feldman, GeraldD., Der deutsche organisierte Kapitalismus während der Kriegs- und Inflationsjahre 1914 bis 1923, in: ebenda, S. 150ff. — Maier, Charles S., Strukturen kapitalistischer Stabilität in den zwanziger Jahren: Errungenschaften und Defekte, in: ebenda, S. 195ff. — Webler, Hans-UIricb, Der Aufstieg des Organisierten Kapitalismus und Interventionsstaates in Deutschland, in: ebenda, S. 36ff. 31 Organisierter Kapitalismus, a. a. O., S. 19ff. 3 2 Ebenda, S. 29. 3 3 Ebenda, S. 7. M Ebenda, S. 51.
48
Was ist staatsmonopolistischer Kapitalismus?
Grund zur Euphorie sein." 35 Auch Winkler und Wehler weisen ausdrücklich auf die „rivalisierende" Theorie vom staatsmonopolistischen Kapitalismus hin, die Winkler als „inhaltlich partiell übereinstimmend" bezeichnet.36 Am ausführlichsten aber werden die beiden Konzeptionen von Kocka verglichen: „Wenn Maurice Dobb und andere Angelsachsen von 'corporation capitalism' oder 'corporate capitalism' sprechen, so meinen sie Aspekte des hier Skizzierten, jedoch unter charakteristischer Vernachlässigung der neuen Qualität des Verhältnisses von Ökonomie und Politik. Schumpeters Begriff des 'Neomerkantilistischen Kondratiefp lenkt den Blick andererseits allzu ausschließlich auf den neuen Staatsinterventionismus, zu wenig aber auf die vielfältigen Organisationstendenzen in anderen gesellschaftlichen Bereichen. Der Begriff des Organisierten Kapitalismus . . . scheint mir diesen Einseitigkeiten zu entgehen. Der Begriff des Staatsmonopolistischen Kapitalismus, der vor allem in der DDR eine wachsende Rolle nicht nur für die marxistisch-leninistische Analyse der Bundesrepublik, sondern auch für die Erforschung der deutschen Geschichte vor und nach dem Ersten Weltkrieg spielt, thematisiert dagegen die meisten der hier unter 'Organisierter Kapitalismus' subsumierten Veränderungen, insbesondere die Tendenzen zu Zentralisation und Konzentration von Produktion und Kapital, das Zusammenwachsen von Bank- und Industriekapital, die weitertreibenden Veränderungen der Produktivkräfte, das überproportionale Wachstum der 'neuen Industrien', die sprunghaft wachsende Rolle der Wissenschaft im Produktions- und Verwertungsprozeß, die zunehmende Organisation des Klassenkonflikts, den Imperialismus mit seinen ökonomischen Ursachen sowie die Verknüpfung und Durchdringung von Ökonomie und Politik, die durchaus unvollkommene Tendenz zur zentralen Lenkung ökonomischer Prozesse mit außerökonomischen Mitteln. Die Konzepte 'Organisierter Kapitalismus' und 'Staatsmonopolistischer Kapitalismus' zielen beide darauf ab, ökonomische, soziale, politische und ideologische Phänomene in ihrem Zusammenhang zu begreifen und dabei trotz Anerkennung komplexer Wechselwirkungsverhältnisse zwischen den einzelnen Wirklichkeitsfaktoren der sozialökonomischen Dimension eine gewisse Maßgeblichkeit einzuräumen; beide sind analytische Konzepte für eine sozialökonomische Interpretation eines Abschnitts Gesamtgeschichte, beide vollziehen methodisch die Entscheidung zugunsten des Primats der Innenpolitik, ohne doch die Wechselwirkungsbeziehungen zwischen außen- und innenpolitischen Faktoren zu vernachlässigen; beide Begriffe ermöglichen im Prinzip einen international vergleichenden Ansatz unter Beachtung von Ungleichzeitigkeitsphänomenen und unter Betonung der Rolle vorindustrieller Bedingungen der Industrialisierung; beide beziehen sich nur auf kapitalistische Wirtschafts- und Gesellschaftssysteme, sind also nicht breit genug, um der vergleichenden Untersuchung aller modernen Industriegesellschaften als Basis zu dienen.. .. Dank der Arbeit ostdeutscher Sozialwissenschaftler ist das Konzept des Staatsmonopolistischen Kapitalismus zur Zeit weit entfalteter als das des Organisierten Kapitalismus. Jenes hat zudem bereits in stärkerem Ausmaß wichtigen historisch-empirischen Arbeiten als Gerüst gedient, dieses dagegen kaum." 37 Kocka spricht sich dennoch gegen die Anwendung des „Konzepts vom Staatsmonopolistischen Kapitalismus" aus, wobei sich seine Ablehnung hauptsächlich auf zwei Einwände stützt: Der erste wesentliche Einwand richtet sich gegen unsere Verschmel^ungsihcse., gegen die 35 Ebenda, S. 152. 30 Ebenda, S. 18. 37 Ebenda, S. 24ff.
BRD-Historiographie
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Auffassung, der Staat sei ausschließlich „Herrschaftsinstrument der sozialökonomisch herrschenden Klasse zur Beherrschung und auf Kosten der Gesamtgesellschaft und insbesondere der arbeitenden Bevölkerung"38. Das erschwere „die Einsicht in die relative Eigenständigkeit des Staatsapparates bzw. einzelner seiner Teile."39 Was letzteres betrifft, so muß man feststellen, daß die vor allem in den fünfziger Jahren in manchen marxistischen Arbeiten vorhandene etwas starre und schematische Anwendung des Verschmelzungsbegriffs, die These von der absoluten Unterordnung des Staatsapparates unter die Monopole schon seit geraumer Zeit überwunden ist. Nun meint Kocka aber weiter, angemessener sei „eine Denkfigur, in der der Staat als relativ eigenständiger Faktor erscheinen kann. Freilich durchaus nicht im Sinne einer obrigkeitsstaatlichen Neutralitätsideologie"40 aber er sei doch häufig gezwungen, auch die Interessen anderer sozial dominierender Klassen, nicht nur die Kapital- und Unternehmerinteressen, so schwer sie auch wiegen mögen, zu berücksichtigen. Hier scheint mir ein grundlegendes Mißverständnis oder Unverständnis des Begriffs „Interesse" vorzuliegen, eine Verwechslung des umgangssprachlichen Wortes Interesse mit dem marxistischen Begriff „Klasseninteresse".41 Natürlich haben die Arbeiter Interesse an höheren Löhnen, besserer Sozialversicherung usw. Diese Art von Interessen kann der kapitalistische Staat berücksichtigen, muß sie sogar berücksichtigen, und zwar in dem Maße stärker berücksichtigen, in dem die Instabilität des monopolkapitalistischen Systems wächst. Er muß sie notfalls gegen den Widerstand von Kreisen des Monopolkapitals durchsetzen, um das Gesamtsystem zu stabilisieren — darin besteht ja gerade die Funktion der sozialdemokratischen Regierungen in der Gegenwart. Aber das grundlegende Klasseninteresse — die Abschaffung der Ausbeutung — kann der kapitalistische Staat natürlich nicht berücksichtigen, deshalb bleibt er ein Staat des Monopolkapitals, soviel Sozialpolitik er auch betreiben mag. Er ist in seiner Wirtschaftspolitik sämtlichen Zwängen der monopolkapitalistischen Ökonomik unterworfen, was sich zur Enttäuschung vieler SPD-Anhänger gerade in der jüngsten Krise so überdeudich gezeigt hat. Der zweite Haupteinwand Kockas lautet: „Von Lenin bis heute besteht der Begriff des Staatsmonopolistischen Kapitalismus darauf, daß die von ihm bezeichneten Veränderungen langfristig zur Aushöhlung liberal-demokratischer Traditionen und zur Stärkung autoritärer, tendenziell faschistischer Herrschaftselemente drängen, die allerdings nur unter bestimmten Bedingungen manifest werden."42 Dies verführe insbesondere zu einer Minimisierung der Unterschiede zwischen liberal-parlamentarischen und faschistischen Herrschaftsmethoden. Andererseits will Kocka nicht von vornherein ableugnen, daß es eine solche tendenzielle Bedrohung liberal-demokratischer Tendenzen gibt, und distanziert sich auch etwas von Hilferding: „Bei Hilferding, Naphtali u. a. diente 'Organisierter Kapitalismus' als reformistischer Zentralbegriff, der die Möglichkeit evolutionärer Transformation des Kapitalismus mit Hilfe staatlicher Kontrollen im Interesse sozialdemokratischer Zielsetzungen formulierte — allzu problemlos, wie es wohl den meisten heutigen Lesern erscheinen wird. Der Begriff 'Organisierter Kapitalismus', wie er hier für die historische 38 Ebenda, S. 26. 39 Ebenda. Ebenda, S. 27. 41 Dies kommt auch in anderen Veröffentlichungen Kockas zum Ausdruck, z. B. in: Kocka, Jürgen, Klassengesellschaft im Krieg. Deutsche Sozialgeschichte 1914—1918, Göttingen 1973, S. 3ff., 131ff.= Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Bd. 8. 42 Organisierter Kapitalismus, a. a. O., S. 28,
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W a s ist staatsmonopolistischer Kapitalismus?
Analyse vorgeschlagen wird, sollte sich von diesen harmonisierenden Funktionen und Beiklängen möglichst befreien." 43 Dennoch kommt es ihm sowohl als auch Wehler und Winkler ganz besonders darauf an — und das ist eigentlich der Angelpunkt ihrer Bemühungen — dieses Modell so zu formen, daß aus ihm eine Entwicklung der monopolkapitalistischen Gesellschaft hin zur „Demokratie" als Grundtendenz hervorgeht. Sie sehen, untersuchen und beschreiben zwar das Zusammenwirken von Staatsmacht und wirtschaftlichen Kommandohöhen in früheren Zeiträumen, aber sie möchten ja ein Epochenmodell entwerfen, und es ist ihnen zuwider, ihrenjetzigen Staat als Staat der Monopole aufzufassen. „Die Offenheit für demokratische Entwicklungen", schreibt Winkler, „hebt die Theorie des Organisierten Kapitalismus . . . positiv ab . . . von der leninistischen Theorie vom 'Staatsmonopolistischen Kapitalismus'." 44 Dazu bemerkt selbst einer der Autoren dieses Sammelbandes — Hans Medick, der sehr interessant über Anfänge und Voraussetzungen des Organisierten Kapitalismus in Großbritannien bis 1914 geschrieben hat — kritisch: Es wäre doch die Frage zu stellen, ob in dem Begriff auch nach Reinigung von Hilferdingschen Optimismen nicht noch genug vorweggenommene Wertungen stecken, die eigentlich erst bewiesen werden sollten. „Es ließe sich jedenfalls gegen die These von der 'politischen Polyvalenz' des Organisierten Kapitalismus einwenden, dieser liege die Vermutung zugrunde, er könne auf einer reformistischen Basis stabilisiert werden." 4 5 Und das ist nun wirklich der springende Punkt, und hierin liegt eben der apologetische Aspekt der Theorie vom Organisierten Kapitalismus, den man ganz deutlich herausstellen muß. Die konkreten historischen Untersuchungen, die mit Hilfe dieses „heuristischen Modells" vom Organisierten Kapitalismus bisher vorgelegt worden sind, beziehen sich auf den Zeitraum vom Ende des 19. Jahrhunderts bis zum Ende der Weimarer Republik. Sie unterscheiden sich eben dadurch positiv von früheren Geschichtsdarstellungen, indem nun solche entscheidenden Entwicklungsprozesse der sozialökonomischen Basis wie Konzentrations- und Monopolisierungsprozesse und ihre Wechselwirkung mit staatlich-politischen Bereichen als Gegenstand der historischen Analyse erscheinen. Gleichzeitig, und dies wurde versucht, deutlich zu machen, werden diese Erkenntnisse in eine im Kern reformistische Gesamttheorie eingebettet. Damit sei dieser kursorische Überblick abgeschlossen. Zur Diskussion über die meisten der hier berührten Grundfragen, vor allem aber zu der: Wie hat sich der Charakter der Kooperation zwischen Staats- und Monopolmacht seit dem Ende des 19. Jahrhunderts entwickelt? — werden in dem vorliegenden und den folgenden zwei Bänden weitere Gesichtspunkte gebracht werden. « Ebenda, S. 27. « Ebenda, S. 18. « Ebenda, S. 59.
ABSCHNITT II
Gesellschaftlicher Reproduktionsprozeß und Entwicklung staatsmonopolistischer Züge bis 1914 Von Helga Nussbaum
KAPITEL 4
Haupttendenzen der ökonomischen Entwicklung zwischen 1871 und 1914
1. Wirtschaftswachstum und Veränderungen der Produktionsstruktur Zwischen 1870/71 und 1914 entwickelte sich Deutschland von einem Agrar-Industriezu einem Industrie-Staat, die Industrieproduktion vervierfachte sich, wodurch sich das ökonomische Kräfteverhältnis zwischen den kapitalistischen Ländern, insbesondere Europas, erheblich veränderte. Im Anteil an der Weltindustrieproduktion rückte Deutschland an die zweite Stelle in der Welt vor (nach den USA), nachdem es England zwischen 1900 und 1910 überholt hatte. Noch in den achtziger Jahren wurde in der Landwirtschaft ein größerer Teil des Nationaleinkommens erzeugt als in der Industrie, dann aber änderten sich die Proportionen sehr rasch. (Vgl. Tabelle 4.) Tabelle 4 In Industrie und Landwirtschaft erzeugtes Nationaleinkommen im Deutseben Reich (in Mrd. Mark in Preisen von 1913) Fünfjahres-
Landwittschaft, Forst-
Industrie, Handwerk,
durchschnitt
Wirtschaft, Fischerei
Bergbau, Salinen
1880-1884
6,8
6,2
1885-1889
7,6
7,3
1890-1894
8,0
9,1
1900-1904
9,9
13,5
1910-1913
10,7
20,4
Quelle: Berechnet nach: Hoff mann, Waltber G., Das Wachstum der deutschen Wirtschaft seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, Berlin/Heidelberg/New York 1965, S. 33, 459f.
Weit langsamer veränderte sich die Proportion zwischen industriell und landwirtschaftlich tätiger Bevölkerung, da sich in der Landwirtschaft die mechanisierte Produktion nur langsam ausbreitete. (Vgl. Tabellen 5 u.6, S. 54.) In allen diesen Zahlenreihen aber spiegelt sich die große Dynamik der Industrialisierung wider: Das in der Industrie erzeugte Nationaleinkommen hat sich mehr als verdreifacht, die Zahl der industriell Beschäftigten verdoppelte sich, die städtische Bevölkerung wuchs um das Dreifache, ohne daß jedoch die Zahl der landwirtschaftlich tätigen Bevölkerung abnahm. Der gesamte Bevölkerungs^Äjrtfc&r verteilte sich auf die Städte, wobei überaus rasch besonders die Großstädte wuchsen. Die Hauptprozesse der Herausbildung des „Neuen" in der ökonomischen Basis, näm5*
54
ökonomische Entwicklung zwischen 1871 und 1914
Tabelle 5 Beschäftigte
in Industrie und
Landwirtschaft
(Millionen ) Fünfjahresdurchschnitt
Landwittschaft, ForstWirtschaft, Fischerei
Industrie, Handwerk, Bergbau, Salinen
1880-1884 1895-1899 1910-1913
9,6 9,7 10,6
5,95 8,7 11,5
Quelle: Berechnet nach: Hoff mann, Waltber G., Das Wachstum der deutschen Wirtschaft seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, Berlin/Heidelberg/New York 1965, S. 204f.
Tabelle 6 Wohnbevölkerung nach (Millionen )
Gemeindegrößenklassen
Jahr
bis unter 2000 Einwohner
über 10000 Einwohner
Gesamtbevölkerung
1880 1900 1910
26,7 25,89 25,83
7,6 16,3 22,3
45,095 56,046 64,568
Quelle: Berechnet nach: Hoff mann Walther G., Das Wachstum der deutschen Wirtschaft seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, Berlin/Heidelberg/New York 1965, S. 178.
lieh des Monopolkapitalismus, verliefen im nichtlandwirtschaftlichen Bereich. Die genannten Zahlen machen aber deutlich, daß trotz ständig sinkender relativer Bedeutung das Gewicht der Ländwirtschaft und besonders auch der ländlichen Bevölkerung beträchtlich war, was unter anderem bedeutende Auswirkungen auf die politischen Kräfteverhältnisse hatte. Aus der politisch wenig aufgeklärten Landbevölkerung wurden die Wahlstimmen für die konservativen Parteien gewonnen (oder gepreßt — wie in den Gutsbezirken des Ostens): für die Deutsch-Konservative, die Partei der preußischen Junker, und die Zentrumspartei, die Partei des politischen Katholizismus. Die bäuerliche Bevölkerung wurde als Gegengewicht gegen die anschwellende Arbeiterbewegung benutzt, als politische Stütze des deutschen Imperialismus und Militarismus. Galt das preußische Junkertum als Rückgrat der Armee, so die Armee als Rückgrat des deutschen Reiches und die Bauernschaft als wichtigstes Reservoir für „zuverlässige" Mannschaften in Heer und Polizei. (Noch in der Weimarer Republik stammte die Mehrheit der Berliner Schutzpolizisten vom Lande.1) Die Zahlen über die Entwicklung des Nationaleinkommens in Industrie und Landwirtschaft deuten aber außerdem schon an, daß der hohe Stellenwert, der im Kaiserreich der staatlichen Agrarpolitik zugemessen wurde, nicht allein aus den Konstellationen der politischen Kräfte zu erklären ist, also zum Beispiel aus dem großen politischen Einfluß des Junkertums. Der Anteil der Landwirtschaft am Nationaleinkommen betrug im Durch1
Siehe dazu Band 2, Abschnitt II, dieser Arbeit.
55
Wirtschaftswachstum und Produktionsstruktur
schnitt der Jahre 1900—1913 noch immer rund 26 Prozent. 2 Das ist ein recht hoher Prozentsatz, wenn man in Betracht zieht, daß in Großbritannien (ohne Irland) der entsprechende Anteil 1907 6 Prozent betrug 3 — und daß er gegenwärtig in den meisten entwickelten kapitalistischen Ländern zwischen 3 und 8 Prozent beträgt. 4 Der damals noch hohe Anteil der Landwirtschaft am Nationaleinkommen sowie vor allem das verglichen mit dem stürmischen Wachstum der Industrie nur schwache Wachstum des Agrarsektors deuten darauf hin, daß die gewisse Kopflastigkeit der damaligen Wirtschaftspolitik in bezug auf die Agrarpolitik auch eine reale ökonomische Basis hatte. In Hinblick auf die Industrieproduktion ist die Tatsache bemerkenswert, daß sich das Wachstumstempo in Deutschland von Wirtschaftszyklus zu Wirtschaftszyklus steigerte, und zwar auch dann noch, als die Hauptindustriezweige bereits von Monopolen beherrscht waren (Vgl. Tabelle 7). Tabelle 1 Wachstum der Industrieproduktion im Deutseben Reich und Großbritannien Großbritannien
Deutsches Reich Wirtschafts-
Index
Wachstum im
zyklus
(1913=100)
Zyklus in % 1865/74—1875/84
23,2
1860-1866
15
—
1870/79-1880/89
20,8
1867-1875
20
38
1875/84-1885/89
16,4
1876-1886
27
37
1887-1893
39
42
1880/89-1890/99 1885/94-1895/04
20,7
1893—1902
57
45
1902-1914
84
48
Quelle: Deutsches Reich: Kuczjnski, Jürgen, Die Geschichte
Dekade
Wachstum pro Dekade in %
1890/99-1900/09 1895/04-1905/14
17,4 17,9 18,0
der Lage der Arbeiter unter dem Kapitalismus
Bd. 4 : Darstellung der Lage der Arbeiter in Deutschland von 1900 bis 1917/18, Berlin 1967, S. 61. Großbritannien: Deane, PhyllislCole, W. A„ British Economic Growth 1 6 8 8 - 1 9 5 9 , 2. Aufl., Cambridge 1969, S. 297.
Die in der Tabelle 7 gegebenen Zahlen für Großbritannien sind zwar nicht ganz genau mit denen für Deutschland vergleichbar, da sich die einen auf wirtschaftliche Zyklen, die anderen auf gleitende Zehnjahresdurchschnitte beziehen, aber einen Grobvergleich ermöglichen sie und zeigen einen deutlichen Tempounterschied im Wachstum. Wachstumsraten der Industrieproduktion von 38 bis 48 Prozent traten in Großbritannien nur in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf, also in der Zeit des aufsteigenden Kapitalismus der freien Konkurrenz. 2
Vgl. Hoffmann, Waltber, G., Das Wachstum der deutschen Wirtschaft seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, Berlin/Heidelberg/New York 1965, S. 33. Der Prozentanteil ist hier bezogen auf das Nettoinlandsprodukt, das aber in diesen Jahren im Durchschnitt nur um 1 Prozent geringer war als das Nettosozialprodukt zu Faktorkosten.
3
Deane, Phjllis/Cole, W. A„ British Economic Growth 1 6 8 8 - 1 9 5 9 . Trends and Structure, 2. Aufl., Cambridge 1969, S. 299. — Ein Anteil von 25 Prozent war in Großbritannien um 1825 zu verzeichnen. (Ebenda, S. 291).
i
Politische Ökonomie des beutigen Monopolkapitalismus, hg. v. Institut für Weltwirtschaft und internationale Beziehungen der Akademie der Wissenschaften der UdSSR, Berlin 1972 (Moskau 1970), S. 283.
56
ökonomische Entwicklung zwischen 1871 und 1914
Mit dem schnell wachsenden Gewicht der Industrie innerhalb der Wirtschaft veränderte sich auch die Struktur der Industrieproduktion erheblich. Die wichtigste Veränderung betraf die Proportion zwischen Produktionsmittelindustrien und Konsumtionsmittelindustrien. Wie in anderen kapitalistischen Ländern hatten bekanntlich auch in Deutschland zu Beginn der industriellen Revolution die Konsumtionsmittelindustrien das absolute Übergewicht gehabt, und wie in diesen anderen Ländern wuchsen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Produktionsmittelindustrien erheblich schneller 5 . Dies spiegelt sich in der Beschäftigtenstatistik — wenn auch abgeschwächt — wider. Die Tabelle 8 bringt eine Grobübersicht. Eine detailliertere Übersicht (inklusive Bergbau) für 1895—1913 findet sich in der Anhangtabelle 1. Tabelle 8 Beschäftigte in den Zweigen von Industrie und Handwerk (in Prozent der insgesamt in Industrie und Handwerk Beschäftigten) Zweige 1 Textilindustrie, Bekleid. u. Lederverarb., Nahrungsu. Genußmittelind. 2 Bauwesen, Holzind., Steine und Erden 3 Metallerzeug., Metallverarb., Chemie
1846/61
1875
1882/90
1891/1900 1910/13
1925/34
1950/59
58,8
52,0
47,9
43,5
37,4
36,0
24,3
26,1
26,9
30,0
31,4
31,5
29,6
30,3
11,6
15,9
16,3
18,7
23,4
25,0
38,4
(Zahlen für jeweiliges Reichsgebiet; 1950/59: BRD) Quelle: Berechnet nach: Hoff mann, Walther G., Das Wachstum der deutschen Wirtschaft seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, Berlin/Heidelberg/New York 1965, S. 68f.
In der ersten Zeile der Tabelle 8 sind die ausgesprochenen Konsumtionsmittelzweige aufgeführt: Ihr Anteil sinkt laufend. Die zweite Zeile enthält Zweige, die jeweils etwa zur Hälfte den beiden großen Abteilungen zuzurechnen sind: Ihr Anteil bleibt von den achtziger Jahren ab ziemlich konstant, interessanterweise sogar bis in die neueste Zeit hinein. Die dritte Zeile enthält wichtige Produktionsmittelindustrien: Ihr Anteil steigt rasch, aber auch noch 1910/13 arbeiten hier weniger Menschen als in der ersten Gruppe (in der Zeit der Weimarer Republik veränderten sich dann diese Proportionen nur ganz geringfügig, aber in den fünfziger Jahren in der BRD haben sich die Proportionen umgekehrt). Diese Aufstellung sagt für sich genommen noch nichts über das volkswirtschaftliche Gewicht dieser Zweige aus — das heißt über ihren Anteil am Gesamtprodukt der Industrie und an der Kapitalmenge, da die Produktions- und Kapitalkonzentration hier nicht zum Ausdruck kommt. In den Zweigen Bekleidung und Lederverarbeitung, Nahrungs- und Genußmittelindustrie und auch im Bauwesen war zum Beispiel die handwerklich-kleinbetriebliche Produktion noch sehr verbreitet, wohingegen in der Elektrizitätserzeugung nur wenige Arbeitskräfte beschäftigt waren, aber ein sehr hohes fixes konstantes Kapital angelegt war. Es müßte noch der entsprechende Anteil an der Gesamtmasse des konstanten oder fixen konstanten Kapitals dargestellt werden, wofür es aber keine Unterlagen 5
Wagenführ, Rolf, Die Industriewirtschaft. Entwicklungstendenzen der deutschen und internationalen Industrieproduktion 1860 bis 1932, in: Vierteljahreshefte zur Konjunkturforschung, Sonderheft 31, Berlin 1933, S. 16.
Wirtschaftswachstum und Produktionsstruktur
57
gibt. Als Ersatzmaßstab für diesen Kapitalanteil kann man aber die Anzahl und den Anteil der installierten PS ansehen (Tabelle 9). In den ersten sieben der in Tabelle 9 angeführten Zweige waren 1895 76,3 Prozent aller PS des industriellen Bereichs (Industrie, Handwerk, Bergbau, Salinen) installiert, und hier arbeiteten 61 Prozent aller Beschäftigten (Anhangtabelle 1). Tabelle 9 Anteil der Industriezweige (in Prozent)
an den installierten
1895
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14
PS
1907
Z weig
/o
Zweig
0/ /o
Nahrung/Genuß Bergbau/Salinen Textil Metallerzeugung Metallverarbeitung Holz/Schnitzstoffe Steine/Erden Papiererz. u. -verarb. Chemie Gas/Wasser/Elektrizität Bau Ledererzeugung Bekleid. u. Lederverarb. Graph. Gewerbe
20,7 16,3 15,5 14,6 7,2 6,1 5,9 5,9 3,0 1,8 1,4 0,6 0,5 0,5
Bergbau/Salinen Nahrung/Genuß Gas/Wasser/Elektrizität Metallerzeugung Textil Metallverarbeitung Steine/Erden Holz/Schnitzstoffe Papiererz. u. -verarb. Chemie Bau Ledererzeugung Bekleid. u. Lederverarb. Graph. Gewerbe
16,9 13,6 13,1 12,7 11,0 8,8 6,3 5,5 5,1 3,1 2,0 0,7 0,6 0,4
Quelle: Hoff mann, Waltber C., Das Wachstum der deutschen Wirtschaft seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, Berlin/Heidelberg/New York 1965, S. 79.
Schon in der Tabelle 8 wurde deutlich, daß der Arbeitskräfteanteil der Zweige der Abteilung I der Produktion von den neunziger Jahren bis 1913 besonders rasch zunahm. Vergleicht man damit die Tabelle 10, in der die Zweige nach dem Grad des Produktionswachstums aufgeführt sind, werden die Verschiebungen noch deutlicher sichtbar. Es zeigt sich, daß die meisten Konsumtionsmittelzweige ein unterdurchschnittliches Produktionswachstum aufwiesen, die meisten Produktionsmittelzweige dagegen ein überdurchschnittliches. (Vgl. Tabelle 10, S. 58.) So erreichte der Wert des Produktionsausstoßes der Produktionsmittelindustrien bald denjenigen der Konsumtionsmittelindustrien: Nach einer Schätzung von Wagenführ war dies um 1905 der Fall.6 Diese Gewichtsverschiebungen traten auch in anderen kapitalistischen Ländern auf, was man zum Beispiel aus der Anhangtabelle 3 ersehen kann: Die Anteilsveränderungen der metallverarbeitenden Industrie, der chemischen, Textil- und Nahrungs- und Genußmittelindustrie zwischen 1901 und 1913 verliefen in den sechs ausgewählten kapitalistischen Ländern in der gleichen Richtung. 7 Diese Fakten lassen erkennen, daß es sich hier 6 7
Ebenda. Eine Ausnahme bildet in dieser Zusammenstellung nur die Textilindustrie Großbritanniens, deren Anteil noch %unabm. Dies ist keine isolierte, zufällige Erscheinung oder ein statistischer Irrtum, sondern
58
ökonomische Entwicklung zwischen 1871 und 1914
Tabelle 10 Index des Produktionswachstums der Industriezweige (1900=100)
1. 2. 3. 4. 5. 6.
Zweig
1913
Gas/Wasser/Elektrizität Metallerzeugung Chemie Metallverarbeitung Bergbau/Salinen Holz/Schnitzstoffe
459 236 236 211 182 174
Industrie und Handwerk insges. (ohne Bergbau), gewogener Index:
Zweig 7. 8. 9. 10. 11. 12.
Bau Ledererzeugung Steine/Erden Bekleid./Lederverarb. Nahrung/Genuß Textil
1913 164 153 143 140 134 118 (1899=100)
163
Quelle: Berechnet nach: Hoff mann, Waltber C., Das Wachstum der deutschen Wirtschaft seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, Berlin/Heidelberg/New York 1965, S. 341f„ 392f. um einen Prozeß handelt, der durch Entwicklungen im Bereich der Produktivkräfte bedingt war. Als Kernprozesse dieser Umwälzung sind bekanntlich die Entwicklung der Elektrotechnik, insbesondere der Starkstromerzeugungs- und -fortleitungstechnik, die Entwicklung der Chemie und des Verbrennungsmotors anzusehen. 8 Diese Entwicklungen bewirkten aber nicht allein den Aufbau neuer Industriezweige — obwohl schon dieser Effekt bedeutend war (1896 betrug das Kapital aller Aktiengesellschaften in der Elektrotechnik und Elektrizitätserzeugung rund 240 Millionen Mark, 1907 aber bereits rund 1186 Millionen Mark; damit stellte dieser „neue" Zweig die drittgrößte Kapitalgruppe nach den Banken — rund 3560 Millionen Mark — und der Schwerindustrie — rund 2674 Millionen Mark 9 ). Der Aufbau dieser neuen Industrien förderte auch nicht nur das Wachstum traditioneller Zweige durch erhöhte Nachfrage, sondern bewirkte v o r allem auch eine Umwälzung der Produktionsgrundlagen in vielen dieser Zweige und führte zu einer engen gegenseitigen Verflechtung der technischen Entwicklung, was hier nur angedeutet werden kann. (Auswirkungen der Entwicklung von Chemie und Elektrotechnik auf die Schwarzmetallurgie: Stahlgewinnung durch das Thomas- und das Siemens-Martin-Verfahren, später superharte Stähle durch chemisch reine Legierungsstoffe, das hatte nicht nur für Kriegsrüstung, sondern auch für Werkzeugmaschinen- und Fahrzeugbau bedeutende ein typischer Ausdruck für die in dieser Zeit auftretende Stagnation in der strukturellen Entwicklung der britischen Ökonomik, die längerzeitige negative Folgen hatte und sich u. a. auch in den Außenhandelsziffern spiegelte. (Vgl. dazu u. a. Nussbaum, Helga, Außenhandelsverflechtung europäischer Länder und imperialistische deutsche Mitteleuropapläne 1899 bis 1914, in: Jahrbuch für Geschichte Bd. 15, Berlin 1977, S. 31f.) 8 Siehe ausführlich: Mottek, Hans/Becker, Walter/Schröter, Alfred, Wirtschaftsgeschichte Deutschlands. Ein Grundriß, Bd. 3: Von der Zeit der Bismarckschen Reichsgründung 1871 bis zur Niederlage des faschistischen deutschen Imperialismus 1945, Berlin 1974, Kap. 1. — Jürgen Kuczynski bezeichnet diesen Prozeß sogar als „dritte Industrielle Revolution". Vgl. auch die Ausführungen von Jonas, Wolfgang, dazu in: Kuczynski, Jürgen, Vier Revolutionen der Produktivkräfte. Theorie und Vergleiche. Mit kritischen Bemerkungen und Ergänzungen von Wolfgang Jonas, Berlin 1975. 9 Man kann die Zahlen über den Umfang des Aktienkapitals hier als Gradmesser für Größenordnungen benutzen, weil das nicht in Aktiengesellschaften organisierte Kapital in diesen Zweigen nur geringen Umfang hatte.
Wirtschaftswachstum und Produktionsstruktur
59
Auswirkungen; Anforderungen der Stahl- und Elektroindustrie [Chrom, Nickel, Kupfer] erhöhten die Rolle der Buntmetallurgie — hier ergaben sich Fortschritte durch die Elektrochemie und die Elektrometallurgie —, dadurch erfolgte die Entwicklung der Leichtmetalle, mit Auswirkungen unter anderem auf den Fahrzeugbau; die Elektrochemie und die Elektroenergieerzeugung entwickelten den Braunkohlenbergbau; die Sprengstoffchemie und die Elektrifizierung der Förderung wandelten den Steinkohlenbergbau; die Verwertung der Kokereiabgase verbreiterte die Rohstoffgrundlage der Chemieindustrie; die Gummiund Kunststoffchemie trug zur Entwicklung der Elektrotechnik bei . . . usw. usf.) Wie gesagt, vollzogen sich solche Prozesse in dem hier betrachteten Zeitraum in allen kapitalistischen Ländern; sie bringen zum Ausdruck, in welchem Maße der gesellschaftliche Charakter der Produktion wuchs. Diese technische Verflechtung der Zweige ist zweifellos eine der Grundlagen der Verflechtung der Kapitale zum Finanzkapital. In Deutschland wuchsen diese neuen Zweige und ihre technische Verflechtung mit den alten Zweigen besonders rasch. Die deutsche Chemieindustrie überholte nach 1880 die englische und wurde technisch führend. Die deutsche Elektroindustrie lag in technischer Hinsicht zusammen mit der amerikanischen an der Weltspitze. Krupp erzeugte 1893 mit Hilfe der Chemie die härteste Panzerplatte der Welt. Im durchschnittlichen jährlichen Wachstum der Arbeitsproduktivität wurde Deutschland zwischen 1870 und 1913 nur von den USA und Japan übertroffen.io Diese ökonomische Gewichtsverschiebung in Richtung Produktionsmittelsektor wirkte sich aber natürlich auf das politische Kräfteverhältnis der Gruppen innerhalb der Bourgeoisie aus, wobei dieser Effekt noch wesentlich durch die Konzentrations- und Monopolisierungsprozesse, auf die noch einzugehen sein wird, verstärkt wurde. Beispielsweise bildeten im Zentralverband Deutscher Industrieller, dem einflußreichsten Unternehmerverein des kaiserlichen Deutschlands, in der ersten Zeit nach der Gründung (1876) die Textilindustriellen die stärkste Gruppe. An der Wende des Jahrhunderts aber nahm die Schwerindustrie, insbesondere die rheinisch-westfälische, die entscheidenden Führungspositionen ein und bestimmte die Politik des Verbandes, die nun ganz offen imperialistisch und extrem arbeiter- und gewerkschaftsfeindlich war. 1 1 Mit der industriellen Zweigstruktur änderte sich auch die „vertikale" Struktur der Beschäftigten, insbesondere der Arbeiterklasse. 12 Zwischen 1895 und 1913 hat sich die Zahl der Beschäftigten in der metallverarbeitenden Industrie fast verdoppelt (Anhangtabelle 1) und wurde somit zur stärksten „Zweiggruppe" in der Industrie (16,2 Prozent der in « Lloyd's Bank Review, Nr. 79, 1966, S. 2, 4. 11 Vgl. u.a.: Nussbaum, Helga, Artikel: „Zentralverband Deutscher Industrieller (ZDI) 1876—1919", in: Die bürgerlichen Parteien in Deutschland. Handbuch der Geschichte der bürgerlichen Parteien und anderer bürgerlicher Interessenorganisationen vom Vormärz bis zum Jahre 1945, Bd. 2, Leipzig 1970. 12 Hierzu sei ausdrücklich verwiesen auf die als Ergänzung zur vorliegenden Überblicksdarstellung erararbeitete Studie von Handke, Horst, Strukturwandlungen der Arbeiterklasse und staatsmonopolistische Regulierungen der Klassenbeziehungen. Zu einigen Problemen der sozialen und politischen Entwicklung in Deutschland von den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts bis zum ersten Weltkrieg, in: Wirtschaft und Staat im Imperialismus. Beiträge zur Wirtschaftsgeschichte des staatsmonopolistischen Kapitalismus in Deutschland, hg. v. Lotte Zumpe, Berlin 1976, S. 111—143= Forschungen zur Wirtschaftsgeschichte, hg. v. Jürgen Kuczynski u. Hans Mottek, Bd. 9. — Zu den Veränderungen in der vertikalen und horizontalen Struktur siehe außerdem: Derselbe, Einige Probleme der Sozialstruktur im imperialistischen Deutschland vor 1914, in: Jahrbuch für Geschichte, Bd. 15, Berlin 1977, S. 261f.; Derselbe, Einige Probleme der inneren Struktur der herrschenden Klasse in Deutschland vom Ende des 19. Jahrhunderts bis zum 1. Weltkrieg, in: Studien zum deutschen Imperialismus vor 1914, hg. v. Fritz Klein, Berlin 1976, S. 85f.
60
ökonomische Entwicklung zwischen 1871 und 1914
Industrie und Bergbau Beschäftigten). Der Metallarbeiterverband entwickelte sich zum mitgliederstärksten Verband innerhalb der Freien Gewerkschaften ( 1 9 1 0 20,6 Prozent der Gewerkschaftsmitglieder 13 ) und spielte eine hervorragende Rolle in den Klassenkämpfen jener Zeit. Diese Gewichtsverschiebung zwischen den beiden Hauptabteilungen der Produktion, die dem internationalen Trend entsprach, erhielt in Deutschland zusätzliche Bedeutung dadurch, daß sich hier die industriellen Monopole zuerst im Bereich der Produktionsmittelerzeugung bildeten und vor allem in diesem sehr schnell wachsenden Bereich volkswirtschaftliche Bedeutung erlangten. Auch an den Exportziffern ist abzulesen, wie die Bedeutung des Produktionsmittelbereichs zunahm (Vgl. Tabelle 11). Tabelle 11 Export ausgewählter Erzeugnisse (in Millionen Mark in laufenden Preisen) Jahr
1880 1900 1913 1
Metallwaren 1
Kohle, Koks, Eisen, Eisenhalbw.
Chemikalien
Summe 1—3
Gewebe und Kleidung
1
2
3
4
5
164,8 738,3 2159,7
184,6 469,7 1425,0
245,2 400,6 1042,0
594,6 1608,6 4626,7
647,9 790,8 1149,7
einschließlich Maschinen und elektrotechnische Erzeugnisse, ohne feinmechanisch-optische
Quelle: Zusammengestellt und berechnet nach: Hoff mann, Waltber G., Das Wachstum der deutschen Wirtschaft seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, Berlin/Heidelberg/New York 1965, S. 522. Tabelle 11 Wachstum der Exporte von 12 Ländern1 nach Warengruppen 1899 bis 1913 (1899= 100, auf der Basis der Preise von 1913) Gesamtexport Industriewarenexport2
160
insgesamt
Transportmittel u. ausrüst.
Maschinen
Metalle
Chemikalien
Textilien und Bekleidung
177
355
246
235
217
132
Belgien/Luxemburg, Deutsches Reich, Frankreich, Großbritannien, Italien, Japan, Kanada, Niederlande, Norwegen, Schweden, Schweiz, USA ohne Erzeugnisse des Bergbaus und der Nahrungs- und Genußmittelindustrie "
1
2
Quelle: Berechnet nach: Maitis, Alfred, Industrial Growth and World Trade, Cambridge 1965, S. 428f„ 452f., 488f„ 490f., 492f„ 496f„ 498f. 3
Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich 1911, S. 458f.
Wirtschaftswachstum und Produktionsstruktur
61
Dabei sind die Veränderungen der Exportstruktur, der rasch ansteigende Anteil der Produktionsmittelexporte, nicht einfach nur als Folge oder Auswirkung der „inneren" Produktionsstrukturänderungen aufzufassen. Vielmehr beeinflußte die Nachfrageveränderung auf dem Weltmarkt zweifellos nachhaltig die Entwicklung der „inneren" Produktionsstruktur. Für das Ausmaß, in dem sich die Absatzmöglichkeiten für Produktionsmittel auf dem Weltmarkt vergrößerten, gibt Tabelle 12 Anhaltspunkte. Für das Ausmaß der Wirkungen wiederum, die von den Weltmarktverhältnissen auf die binnenwirtschaftlichen Strukturen ausgehen konnten, mag eine einzige Zahl Vorstellung geben: Der Wert des Außenhandelsumsatzes des Deutschen Reiches betrug 1913 rund 40 Prozent des Nettosozialprodukts.14 Die schnelle Entwicklung der Industrieproduktion vor dem ersten Weltkrieg war natürlich nicht kontinuierlich, weil es sich um das Wachstum einer kapitalistischen Wirtschaft handelt, das spontan und anarchisch vor sich geht, ungeplant, gelenkt nur von den anonym wirkenden Gesetzen des Marktes, und das gesetzmäßig zyklische Überproduktionskrisen hervorbringt, die zu Produktionsrückgang, Arbeitslosigkeit und Kurzarbeit führen. Nach der sehr schweren und langen Krise der siebziger Jahre 15 kam es nach kurzem Aufschwung erneut 1883—86 zur Krise, die nächsten folgten 1891—94 und (Ende) 1900-1902. Nach einer leichteren Zwischenkrise 1907/08 und Hochkonjunktur 1912/13 begann Anfang 1914 ein erneuter Rückgang, der vom Ausbruch des Weltkrieges dann überdeckt wurde. Schon im Kapitel 2 wurde auf den Charakter der zyklischen Krisen vor dem ersten Weltkrieg Bezug genommen. Hieran muß noch einmal angeknüpft werden; denn um die Entwicklung der gesamten staatlichen und monopolistischen Regulierungsaktivitäten über einen längeren Zeitraum hin richtig deuten zu können, ist die Beurteilung des Charakters der zyklischen Krisen und der längerfristigen Konjunkturschwankungen außerordentlich wichtig. Wenn also weiter oben von dem relativ milden Charakter der zyklischen Krisen zwischen etwa 1890 und 1913 hingewiesen wurde, so ist das im Vergleich mit den sehr schweren Krisen der 1870er und der 1930er Jahre zu verstehen. Diese Feststellung sagt etwas aus darüber, daß die Gesamtentwicklung der materiellen Reproduktion nicht derartigen schweren Erschütterungen ausgesetzt war wie dann später in der Zeit zwischen dem ersten Weltkrieg und den dreißiger Jahren. Abbildung 2 (S. 62) zeigt zum Beispiel die Indexkurve des Kapitaleinkommens. Hieraus ist deutlich zu ersehen, daß zwar die Rückgänge 1890ff., 1900ff. und 1907ff. nicht unbedeutend waren, aber eben nur relativ kurzzeitige Einbrüche im Rahmen eines sehr steilen Aufwärtstrends darstellten. Ähnlich aufschlußreich ist ein Vergleich der Arbeitslosigkeit vor dem ersten Weltkrieg und nach dem ersten Weltkrieg. Die Arbeitslosigkeit schwankte im Durchschnitt der Wirtschaftszyklen zwischen 1887 und 1914 nur wenig um 3 Prozent.16 Anhangtabelle 4 bringt eine detaillierte Aufstellung der Prozentsätze der Arbeitslosen zwischen 1887 und 1933. Hieraus ist zu ersehen, daß zwi« Berechnet nach: Hoffmann, Walther G„ a. a. O., S. 817, 825f. (NSP zu Marktpreisen 52, 44 Mrd. Mark, Außenhandelsumsatz 20,867 Mrd. Mark). 15 Darstellung und Analyse der wirtschaftlichen Zyklen siehe Kucs^ynski, Jürgen, Die Geschichte der Lage der Arbeiter unter dem Kapitalismus (im folgenden: Lage der Arbeiter), Bd. 12: Studien zur Geschichte der zyklischen Überproduktionskrisen in Deutschland 1873 bis 1914, Berlin 1961; Mottek, Hans/Becker, Walter/Schröter, Alfred, a. a. O. 16 Kuc^ynski, Jürgen, Lage der Arbeiter, Bd. 4: Darstellung der Lage der Arbeiter in Deutschland von 1900 bis 1917/18, Berlin 1967, S. 316.
62
Ökonomische Entwicklung zwischen 1871 und 1914
1860 bis 1913.
(1913=100).
a Preisindex für Industriestoffe b Index der Industrieproduktion c Index des „Kapitaleinkommens" im Gewerbe Quellen: a: Indexziffern nach Jacobs, AJfredjKicbter, Haas, Die Großhandelspreise in Deutschland von 1792 bis 1934, in: Vierteljahreshefte zur Konjunkturforschung, Sonderheft 37, Berlin 1935, S. 82 f. b : Indexziffern nach Wagenfübr, R o l f , Die Industriewirtschaft. Entwicklungstendenzen der deutschen und internationalen Industrieproduktion 1860 bis 1932, in: Ebenda, Sonderheft 31, Berlin 1933, S. 58. c: Indexziffern berechnet nach Hoff mann, Waltber Gustav, Das Wachstum der deutschen Wirtschaft seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, Berlin/Heidelberg/New York 1965, S. 506ff. („Kapitaleinkommen" im Gewerbe in laufenden Preisen).
sehen 1903 und 1913 die Arbeitslosigkeit nie die Drei-Prozent-Grenze überschritt. Bis 1903 liegen nur Schätzungen vor. Die höchsten Prozentsätze, die nach Kuczynskis Schätzungen in der Zeit vor 1903 erreicht wurden, waren 6 Prozent 1892 und 7,2 Prozent 1901. Dagegen betrug in den Zeiten der „relativen Stabilisierung" 1924 bis 1928 der niedrigste Arbeitslosenanteil 8,3 Prozent (1925) der höchste 17,9 Prozent (1926). In der Großen Krise stieg der Prozentsatz der Arbeitslosen dann auf 44,4. Schon diese wenigen Zahlen sind geeignet, ein Schlaglicht auf den unterschiedlichen Schweregrad der Erschütterungen des kapitalistischen Systems in beiden Perioden zu werfen. Besondere Beachtung im Rahmen unserer Thematik verdienen nun im Zusammenhang mit dem soeben Festgestellten die längerfristigen Konjunkturschwankungen der Weltwirtschaft, meist „lange Wellen" genannt. Da diese langen Wellen, deren Ursache nicht völlig geklärt ist, statistisch zunächst nur bis 1914 nachweisbar waren, wurde besonders
63
Wirtschaftswachstum und Produktionsstruktur
nach der Krise 1929—33 häufig bestritten, daß der langwellige Rhythmus ein allgemeines Entwicklungsphänomen der kapitalistischen Weltwirtschaft sei. In der neueren Zeit sind die „langen Wellen" jedoch wieder stärker beachtet worden, und besonders der Trendumbruch der kapitalistischen Weltwirtschaft um 1970 ließ die alte These im neuen Lichte erscheinen. So weisen zum Beispiel Thomas Kuczynski und Hans Mottek darauf hin, daß vieles dafür spricht, daß der langwellige Rhythmus durch die Weltkriege lediglich unterbrochen oder verschoben, nicht aber grundsätzlich gebrochen worden sei.17 Die Berechnungen von Thomas Kuczynski zeigen folgendes Bild: Tabelle 13 ]äbrlicbe
Wachstumsraten Etappen
1.1. 1.2. 2.1. 2.2. 3.1.1 3.1. 3.1. 3.2.» 3.2.
1825—1848 1848-1873 1873-1893 1893-1913 1913-1929 1929-1954 1913-1954 1954-19652 1954-19702
der kapitalistischen
Weltwirtschaft
in
Prozent
WeltindustrieProduktion 1
Welthandel 1
—
2,5 5,7 2,9 3,5 1,7 1,3 1,4 6,6 7,5
3,8 2,9 4,6 2,4 2,6 2,5 5,9 5,7
Industrieproduktion
(4)
(1)
(2)
(3)5
9,0* 5,3 6,6 4,6 2,6 3,3
3,3 3,1 1,1 2,5 0,3 2,3 1,5
4,53 2,5 4,3 1,2 0,8 1,0
4,5« 2,0 3,7 2,1 0,7 1,2
—
—
—
—
3,6
3,6
6,9
6,5
—
Ab 1917 ohne Sowjetunion, ab 1945 ohne Sowjetunion und sozialistische Länder. Unvollständige Etappen. 3 Erst ab 1850. « Erst ab 1859. 5 Produktion auf nichtidentischem Territorium; ab 1945 nur BRD o (1) USA (2) Großbritannien (3) Deutschland/BRD (4) Frankreich. 1
2
Quelle: Kuczynski, Thomas, Das Ende der Weltwirtschaftskrise in Deutschland 1932/33, Diss. Hochschule f. Ökonomie Berlin 1972, S. 21.
Wenn man nun die langfristigen Wachstumsschwankungen zwischen 1873 und 1913 betrachtet, die sich in zwei Trendperioden gliedern, sieht man, daß diese Trendperioden mit den beiden Etappen der sozialökonomischen, ja sogar der weltpolitischen Entwicklung dieser Zeit nahezu zusammenfallen. Die Periode des Übergangs vom Kapitalismus der freien Konkurrenz zum Monopolkapitalismus ist nahezu identisch mit einer Phase der weltwirtschaftlichen Entwicklung — 1873 bis 1893 —, in der die Wachstumsraten niedriger sind als in der vorhergehenden Phase. Der Eintritt der entwickelten kapitalistischen Länder in das Stadium des Monopolkapitalismus fällt in die Periode nun wieder ansteigender Wachstumsraten der Weltindustrieproduktion, des Welthandels und der weltwirtschaftlichen Arbeitsteilung. Inwieweit die beiden Entwicklungsreihen — die Abschwungsund die Aufschwungsphase der Weltwirtschaft — und der Monopolisierungsprozeß ur17
Kuczynski, Thomas, Das Ende der Weltwirtschaftskrise in Deutschland 1932/33, Diss. Hochsch. f. Ökonomie Berlin 1972, S. 18ff. — Mottek, Hans, Zur historischen Entwicklung der ökonomischen Rolle des bürgerlichen Staates bis zum ersten Weltkrieg, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 1974, T. 3, S. 65—71.
64
ökonomische Entwicklung zwischen 1871 und 1914
sächlich miteinander verkettet sind — direkt oder über Zwischenglieder — ist bisher noch nicht ausreichend erforscht. Viele Tatsachen deuten aber darauf hin, daß eine solche Verkettung besteht und daß auch die ökonomischen Aktivitäten „des Staates" hiermit in Zusammenhang stehend zu sehen sind. Folgendes ist dabei zunächst zu beachten: Die Wachstumsraten von Industrieproduktion und Handel kennzeichnen noch nicht in vollem Maße den Unterschied zwischen den beiden Phasen, das heißt den quantitativen Aspekt der beiden Phasen. Die Industrieproduktion wuchs auch zwischen 1873 und 1893 erheblich, wenn auch langsamer als zuvor und danach. Weshalb man diese Phase als Abschwungsphase — häufig auch „große Depression" genannt — ansehen kann, wird erst bei der Betrachtung der Wertkennziffern deutlich. In Abbildung 2 sind die Indexkurven der Industrieproduktion, der Großhandelspreise für Industriestoffe und des gesamten „Kapitaleinkommens" im Gewerbe in Deutschland aufgetragen. Bei den Preisen zeigt sich die Abschwungswelle und die Aufschwungswelle — unterbrochen nur von den Spitzen und Tiefpunkten der „normalen", d. h. sechs- bis zehnjährigen Wirtschaftszyklen — ganz deutlich. Die Indexkurve der von Hoffmann geschätzten „Kapitaleinkommen" im Gewerbe ergibt ein ähnliches Bild. Die Entwicklung der „Kapitaleinkommen" kann als ungefährer Gradmesser für die Entwicklung der Gesamtprofitmasse dienen. Wie sich zeigt, erreichte das Kapitaleinkommen im Gewerbe erst 1887/88 wieder den Stand von 1873 (siehe auch Abbildung 4), während die Produktion um 60 Prozent gestiegen warl Zwischen 1873 und 1890 (jeweils zyklische Höhepunkte) war die Produktion um 80 Prozent gestiegen, das Kapitaleinkommen aber nur um 40 Prozent. Ab 1892 etwa stieg das Kapitaleinkommen schneller als die Industrieproduktion. Kennzeich-
Abb. i: Diskontsätze der deutseben Reicbsbank und der bank von England 1871 bis 1913. a Reichsbank b Bank von England Quelle: Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich, 1903 ff.
Wirtschaftswachstum und Produktionsstruktur
Abb. 4: „ Kapitaleinkommen" Quelle: Hoffmann,
im Geverbe 1860 bis 1913 (Mrd. Mark in laufenden
65
Preisen).
Waltber Gustav, a. a. O., S. 506ff.
nend für die ökonomische Großwetterlage ist weiterhin die Entwicklung der Diskontsätze der Deutschen Reichsbank und der Bank von England 18 (siehe Abbildung 3). Hans Mottek veröffentlichte 1974 folgende Modellvorstellungen 19 über die Entwicklung der ökonomischen Rolle des Staates und der Monopole in den Perioden vor 1914: Auch in der Blüte des „liberalen" Kapitalismus sei in allen Ländern die ökonomische Rolle des Staates keineswegs gering gewesen, sie sei aber während dieser Zeit nicht im Zunehmen begriffen gewesen. „Eine eindeutige Tendenz zur Verstärkung der ökonomischen Rolle des Klassenstaates setzte sich aber nach der Krise von 1873 im Zuge der ihr folgenden 'großen Depression' durch . . . Bemerkenswert ist aber, daß sich, während zunächst, das heißt am Ende der siebziger Jahre, der Wirkungsgrad der erweiterten ökonomischen Aktivität des bourgeois-junkerlichen Staates größer war als der des anfänglich wenig stabilen Kartells, dieses Verhältnis später, das heißt Mitte der 80er und vor allem Anfang der 90er Jahre, umkehrte. Daran änderte auch die Tatsache nichts, daß um die Jahrhundertwende die jetzt endlich herausgebildete Monopolbourgeoisie immer mehr zur entscheidenden politischen und ökonomischen Macht und damit die staatliche Beeinflussung des Produktions- und Zirkulationsprozesses, der Verteilung der gesellschafdichen Gesamtarbeit, zur staatsmonopolistischen Regulierung wurde und damit zumindest Elemente des staatsmonopolistischen Kapitalismus entstanden*. Auch zwischen 1900 und 1914 schritt die Zurückdrängung der freien Konkurrenz durch den weiteren Vormarsch des privaten Monopols weit schneller voran als die Entfaltung der Elemente des staatsmonopolistischen Kapitalismus, der staatsmonopolistischen Regulierung. Deshalb kann man auch vor 1914 Die Entwicklung der Diskontsätze verlief bei den Zentralbanken anderer Länder ganz analog (vgl. Statistische Jabrbicber des Deutseben Reiches, lfd.). 19 Mottek, Hans, Zur historischen Entwicklung . . ., a. a. O. * Solche Elemente nimmt Helga Nussbaum mit Recht an, wobei sie aber die Zeit vor 1900 vernachlässigt (vgl. Nussbaum, Helga, Zur Imperialismustheorie W. I. Lenins und zur Entwicklung staatsmonopolistischer Züge des deutschen Imperialismus bis 1914, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 1970, T. 4, besonders S. 32f.). 18
66
ö k o n o m i s c h e Entwicklung zwischen 1 8 7 1 und 1 9 1 4
nicht davon sprechen, daß etwa schon der staatsmonopolistische Kapitalismus geherrscht hätte. Der Produktions- und Zirkulationsprozeß, Preis und Profit wurden noch unvergleichlich stärker durch privatmonopolistische als durch staatsmonopolistische Regulierungen beeinflußt. Der Imperialismus vor dem ersten Weltkrieg war vielmehr ein privatmonopolistischer, nur — um einen Ausdruck von Helga Nussbaum zu gebrauchen — 'mit staatsmonopolistischen Zügen'**." 20 Die Diskussion darüber, ob der Imperialismus vor 1914 als „privatmonopolistischer" zu charakterisieren ist oder nicht, wurde schon in einem früheren Kapitel angeschnitten, und es wird später noch darauf zurückzukommen sein; bei dem jetzt zu erörternden Sachzusammenhang sei diese Diskussion zunächst zurückgestellt. Motteks Modell, in dem die „langen Wellen" als Hintergrundsvorstellung zu erkennen sind, ohne daß sehr ausführlich darauf eingegangen wird, enthält kurz zusammengefaßt folgendes: verstärkte ökonomische Aktivität des Staates in der Abschwungs,, welle", stärkere Regulierungsiwr&wg als die der aufkommenden Monopole; in der Aufschwungs„welle" dagegen stärkeres Wachstum der Regulierungstätigkeit der Monopole als der des Staates. Mottek gibt nicht an, wie und mit Hilfe welcher Kriterien man etwa messen könnte, welche Regulierungstätigkeit oder -Wirkung jeweils die stärkere gewesen sei. Dies ist bekanntlich außerordentlich schwierig. Aber eine solche Angabe ist auch für einen Modellvorschlag zunächst nicht unbedingt nötig. Motteks These ist sehr interessant, und wir werden im Verlauf der konkreten Untersuchungen zu prüfen haben, inwieweit sie der Wirklichkeit entspricht und man sich ihr anschließen kann oder sie präzisieren muß. Seine These ist nur deshalb schon an dieser Stelle angeführt worden, um verständlich zu machen, warum hier überhaupt das Problem der „langen Wellen" etwas ausführlicher gestreift wird. Einige Überlegungen zu den möglichen Ursachen der „Trendumbrüche" seien noch angeführt. In einer früheren Arbeit über „Stagnation und Wachstum in der Wirtschaftsgeschichte" 21 hatte Mottek daraufhingewiesen, daß seit den siebziger Jahren „der Wachstumseffekt der Eisenbahnen im zentralen Westeuropa — wenn auch noch nicht in den USA — geringer geworden war", daß ein entscheidender Sprung im Aufwand für die wissenschaftliche Forschung, für die Verbindung zwischen Forschung und Produktionsprozeß erforderlich geworden war, und dieser entscheidende Sprung ging in der Elektro- und Chemieindustrie vor sich. „Auf dieser Grundlage entstanden neue Wachstumsfaktoren, welche die zyklische Aufwärtsbewegung seit Mitte der 90er Jahre beschleunigten." 22 Ähnlich sieht Thomas Kuczynski die letztendlichen Ursachen für die Trendumbrüche in den aus bedeutenden Sprüngen in der Produktivkraftentwicklung sich ergebenden Investitionswellen und in der jeweiligen Erweiterung des Weltmarktes, wobei er etwas zugespitzter formuliert als Mottek. So sei die Aufschwungsphase seit 1848 aus der internationalen Welle der Eisenbahninvestitionen zu erklären, die begleitet war vom Ausbau einer wirklichen kapitalistischen Weltwirtschaft. „Mitte der 90er Jahre des 19. Jahrhunderts beginnt im Weltmaßstab die Elektrifizierung und Chemisierung der Wirtschaft. Zugleich finden wir einen ganz starken Aufschwung des Kapitalexports, der den kapitalistischen Weltmarkt auf eine qualitativ neue Stufe hob. Mitte der 50er Jahre des 20. Jahrhunderts beginnt in den kapitalistischen Hauptländern die Automatisierung. Die Internationalisierung des Wirtschafts** V g l . ebenda, S. 62, auch S. 3 5 - 4 0 sowie 5 8 - 6 5 . 20 Ebenda, S. 68.
Derselbe, Zum Problem Stagnation und Wachstum in der Wirtschaftsgeschichte, i n : Jahrbuch f ü r W i t t schaftsgeschichte 1969, T. 3, S. 1 5 1 f f . 22 Ebenda, S. 1 6 5 . 21
67
Wirtschaftswachstum und Produktionsstruktut
lebens schreitet soweit voran, daß Wirtschaftsgemeinschaften und Freihandelszonen in größerer Anzahl entstehen." 23 Jürgen Kuczynski bezeichnet die Ende des 19. Jahrhunderts einsetzende Entwicklung auf dem Gebiet der Elektrotechnik sogar als die „dritte industrielle Revolution" 24 . Die Kurven über die Häufigkeit von Basisinnovationen (also der Einführung grundlegender Erfindungen und Entdeckungen in die Produktion), auf dem Gebiet der Chemie- und Elektroindustrie, die Wolfgang Jonas wiedergegeben hat 25 , zeigen nun auch eine so ausgeprägte Amplitude Ende der achtziger Jahre, daß es geradezu verführerisch wirkt, dies, so wie Mottek es angedeutet und Thomas Kuczynski es zugespitzt formuliert hat, als letztendlichen Anstoß für die folgende lange Aufschwungswelle anzunehmen. Es fragt sich nur, ob diesem Innovationshöhepunkt, der die Herausbildung der „jungen Zweige" einleitete oder beschleunigte, wirklich eine Investitionswelle solchen Ausmaßes folgte, die bestimmend auf die weltwirtschaftliche Entwicklung gewirkt hat. Wolfgang Jonas weist darauf hin, daß der eigentliche Diffusionspro^eß, das heißt die mit massenhaften Investitionen einhergehende Ausbreitung der Innovationen in der Chemie- und Elektroindustrie als auch hinsichtlich der Motorisierung doch erst in den 1920er Jahren ernsthaft einsetzte. 26 Die Aufschwungsphase 1848 bis 1873 und die Abschwungsphase 1873 bis 1893 mit der an- und abschwellenden Welle der Eisenbahninvestitionen in Verbindung zu bringen, leuchtet durchaus ein, wenn man die Statistik der Eisenbahninvestitionen betrachtet. So betrug zum Beispiel in Deutschland der Anteil der Eisenbahninvestitionen an der Summe der Investitionen in Eisenbahn und Gewerbe: Tabelle 14 Anteil der Eisenbabninvestitionen an den Zebnjabressummen der in Eisenbahnen und Gewerbe im Deutseben Reich (in Prozent)
Cesamtinveslitionen
1851-59
1860-69
1870-79
1880-89
1890—99
1900-09
50
50
60
17,7
11,9
17,5
Quelle: Berechnet nach: Hoff mann, Waltber C., Das Wachstum der deutschen Wirtschaft seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, Berlin/Heidelberg/New York 1965, S. 257f.
In Großbritannien betrug der Anteil des in Eisenbahnen angelegten Kapitals 27 1865 12, 1885 14, 1913 9 Prozent, und die jährlich fertiggestellte Länge von Eisenbahnlinien betrug schon im Jahrzehnt 1870—79 nur noch knapp die Hälfte von der 1860—Ö9.28 Aber sinkende Bedeutung der Eisenbahninvestitionen in den industriell fortgeschritteneren kapitalistischen Ländern Europas muß noch nicht heißen, daß die Bedeutung der Eisenbahninvestitionen im Maßstab der Weltwirtschaft sank. Schon Lenin wies auf die enorme Ausdehnung des Welteisenbahnnetzes zwischen 1890 und 1913 vor allem in den „Kolonien, selbständigen und halbselbständigen Staaten Asiens und Amerikas" hin. 29 Gliedert Kuczynski, Thomas, a. a. O., S. 23. Kuczynski, Jürgen, Vier Revolutionen . . ., a. a. O., S. 97ff. 25 Siehe ebenda, S. 156. 26 Ebenda, S. 178. 27 In Prozent des gesamten Kapitals (ausschließlich Boden), Deane, PhyllisfCole, W. A„ a. a. O., S. 306. 28 Ebenda, S. 233. 29 Lenin, W. /., Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus, in: Werke, Bd. 22, Berlin 1960, S. 279f.
23
24
6
Nussbaum, Wirtschaft
68
ökonomische Entwicklung zwischen 1871 und 1914
man aus dem von Lenin benutzten statistischen Material (die statistischem Jahrbücher des Deutschen Reiches) die schon relativ früh durch Eisenbahnen erschlossenen europäischen Länder aus (Großbritannien, Frankreich, Deutschland, Belgien, Niederlande, Luxemburg, Schweiz), so sieht man, daß eigentlich nur in ihnen die Schienenlänge zwischen 1890 und 1912 relativ langsam wuchs, und zwar von 123574 km auf 167841 km, das heißt um 36 Prozent. Außerhalb dieser Länder wuchs in Europa die Schienenlänge um 75 Prozent (von rund 100000 auf rund 175000 km), in der gesamten Welt außerhalb dieser europäischen Länder und den U S A um 127 Prozent (von rund 225000 auf rund 511000 km). Die gesamte Schienenlänge auf der Welt wuchs zwischen 1890 und 1912 von 617285 auf 1081488 km, das heißt um rund 464000 km oder um 75 Prozent. 30 Der Gesamtzuwachs allein betrug fast das Vierfache der 1890 bestehenden Eisenbahnnetze der genannten sechs europäischen Länder. Um einen groben Überblick über die dafür benötigte Investitionssumme zu erhalten, kann man folgende Rechnung vornehmen: In Deutschland wurde zwischen 1890 und 1912 das Schienennetz um rund 20000 km erweitert. 31 Die geschätzten Investitionen im Eisenbahnwesen betrugen in diesem Zeitraum insgesamt rund 9,5 Milliarden Mark (in Preisen von 1913). 32 Umgerechnet auf die 464000 km Gesamtzuwachs in der Welt würde das eine Investitionssumme von rund 220 Milliarden Mark ergeben. Man kann getrost von dieser Schätzung noch einen Teil abziehen — wegen der niedrigen Löhne in den Kolonien und anderen schwach entwickelten Ländern —, es bleibt immer noch eine riesige Summe. Nur um Größenordnungen zu vergleichen, sei angeführt, daß das Nationaleinkommen von Großbritannien, Frankreich und Deutschland zusammen 1898 rund 83 Milliarden Mark betrug. 33 Diese Überschlagsrechnungen lassen zumindest eines erkennen: Der Einfluß der Eisenbahninvestitionen auf die weltwirtschaftliche Entwicklung muß auch in der Phase 1893 bis 1913 groß gewesen sein — und sicherlich wesentlich größer als derjenige der Investitionen in den „jungen" Zweigen Elektro- und Chemieindustrie. Diese wuchsen zwar — wenn auch unterschiedlich in den einzelnen Ländern — sehr schnell, aber ihrem absoluten Gewicht nach waren sie noch nicht so bedeutend wie in späteren Jahrzehnten. Als Anhaltspunkte seien einige Vergleichszahlen für das Wachstum des Aktienkapitals in Deutschland gegeben, da Investitionszahlen nicht zur Verfügung stehen (Tabelle 15). Der absolute Zuwachs — wenn auch nicht der prozentuale — war also in der Schwerindustrie größer als in den jungen Zweigen. Ein kurzer Rückblick auf Tabelle 12 (Veränderungen der internationalen Exportstrukturen 1899—1913) zeigt ebenfalls ein enormes Wachstum von Transportmitteln und von Ausrüstungen und Metallen. Ähnliche Überlegungen und Berechnungen mögen vielleicht Hans Mottek veranlaßt haben, in seinem Aufsatz von 1974 (der thesenartig angelegt ist und daher keine konkreten Ableitungen bringt) die Akzente anders zu setzen als in dem zitierten Aufsatz von 1969, indem nun die Elektrifizierung als „nicht zuletzt" wirkender Faktor eingeschätzt wird: „Mitte der 90er Jahre hatte ein außerordentlich starker und lang anhaltender zyklischer Aufschwung der 'großen Depression' ein Ende gesetzt. Bei diesem Aufschwung erwies sich 30 Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich 1914, S. 42*f. 31
Ebenda.
32 Vgl. Hoffmann, Waltber G„ a. a. O., S. 257f. 33 Großbritannien: 1,61 Mrd. £ = 3 2 , 2 Mrd. Mark (NSP zu Faktorkosten lfd. Preise, Deane,
Phyllis/Cole,
W . A., a. a. O., S. 330); Frankreich: 30,2 Mrd. Frcs. = 21,16 Mrd. Mark (NSP, Cameron, Rondo F . , France and the Development of Europe 1 8 0 0 - 1 9 1 4 , Princeton 1961, S. 517); Deutsches Reich: 26,5 Mrd. Mark (NSP zu Faktorkosten, lfd. Preise, Hoffmann, Waltber, G., a. a. O., S. 509).
Konzentrationsprozeß im nichtlandwirtschaftlichen Betrieb
69
Tabelle 15 Eingezahltes Aktienkapital im Deutschen Reich (Mrd.
in verschiedenen Mark)
Industriezweigen
Jahr
Bergbau und Metallerzeugung
Chemische Industrie Elektroindustrie Elektrizitätserzeugung.
1893 1913
0,907 2,595
0,275 1,776
Zuwachs
1,688
1,501
Quelle: Berechnet nach: Hoff mann, Walther G., Das Wachstum der deutschen Wirtschaft seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, Berlin/Heidelberg/New York 1965, S. 772f.
die endgültige Formierung des Imperialismus, der Vorherrschaft des Monopols, als wesentlicher Faktor. Die sich festigenden Monopole, insbesondere die der Schwerindustrie, lockten mit ihren gesicherten Monopolpreisen Kapitalströme an, regten eine sprunghafte Erweiterung des fixen Kapitals als der materiellen Grundlage für einen zyklischen Aufschwung an. In derselben Richtung wirkte der Kapitalexport in Form der Anlagenausfuhr zum Bau von Eisenbahnen in Lateinamerika und Rußland sowie die durch das Vordringen der Bankkonzerne, aber auch durch das plötzliche Ansteigen der Goldpreise begünstigte Kreditexpansion. Hinzu kam nicht zuletzt die Durchsetzung einer neuen Stufe der materielltechnischen Produktivkräfte, welche durch die erst jetzt mit voller Stärke einsetzende Elektrifizierung verkörpert wurde." 3 4 Dieser Exkurs über mögliche Ursachen der weltwirtschaftlichen Aufschwungsphase 1893 bis 1913 sollte nicht die These von den produktivkräftebedingten Investitionswellen widerlegen, sondern nur Anregungen zu ihrer Präzisierung liefern. Bei der Analyse der Wechselbeziehungen zwischen Staat und kapitalistischer Wirtschaft bzw. Monopol in Deutschland in dieser Zeit ist jene Tatsache zu beachten.
2. Der Konzentrationsprozeß im nichtlandwirtschaftlichen Bereich Lenin schrieb, daß „die Konzentration auf einer bestimmten Stufe ihrer Entwicklung sozusagen von selbst dicht an das Monopol heranführt. Denn einigen Dutzenden Riesenbetrieben fällt es leicht, sich untereinander zu verständigen, während andererseits gerade durch das Riesenausmaß der Betriebe die Konkurrenz erschwert und die Tendenz zum Monopol erzeugt wird. Diese Verwandlung der Konkurrenz in das Monopol ist eine der wichtigsten Erscheinungen — wenn nicht die wichtigste — in der Ökonomik des modernen Kapitalismus", und wir müssen deshalb ausführlicher darauf eingehen. 35 Der Grad der Konzentration von Produktion und Kapital war höchst unterschiedlich in den einzelnen Wirtschaftsbereichen. Da es weder statistisches Material für den Produktionsausstoß pro Unternehmung oder Betrieb noch für die Kapitalgröße pro Unternehmung oder Betrieb gibt, muß die Zahl der Arbeitskräfte als Maßstab für die Konzentration dienen. 34
Mottek, Hans, Zur historischen Entwicklung . . . , a. a. O., S. 70.
35
Lenin, W. /., Der Imperialismus als . .., a. a. O., S. 201 f.
6*
70
ökonomische Entwicklung zwischen 1871 und 1914
Berechnet man einen durchschnittlichen oder allgemeinen Konzentrationsgrad im nichtlandwirtschafdichen Bereich, kommt man zu recht niedrigen Werten. In Industrie, Handel und Verkehr waren pro Betrieb beschäftigt 36 1875 1895 1905
2,0 Personen 2,8 Personen 3,6 Personen
Wie Kuczynski bemerkt, kann „der allgemeine Konzentrationsgrad nur einen ganz schwachen Eindruck von dem Tempo der Konzentration geben". 37 Andererseits kann aber das Gewicht der höchstkonzentrierten Zweige erst beim Vergleich mit dem allgemeinen Konzentrationsgrad voll ermessen werden. Einen Eindruck vom Grad der Konzentration im Komplex Industrie und Handwerk (ausschließlich Bergbau) und im Zweig Bergbau und Salinen vermittelt Tabelle 16. Tabelle 16 Anteil der Beschäftigten in den verschiedenen Betriebsgrößenklassen in IndustriejHandwerk und Bergbau/Salinen (in Prozent) In B e t r i e b e n mit Jahr
1-5
6-10
11-50
51-200
201-1000
1000 u. mehr Beschäftigten
arbeiteten . . . % aller Beschäftigten Industrie und Handwerk 1882
59,8
4,4
13,0
11,8
7,4
17,3
17,4
64,2 1895
41,8 31,2
1,9
12,8
3,3
33,5
49,2 1907
9,1 22,8
7,0
19,4
20,8
38,2
16,7
4,9
42,4
Bergbau und Salinen 1882
0,8
1,7
5,9
14,6
2,5 1895
0,8
0,6
4,0
11,2
0,3
0,7
33,0
36,8
46,6
94,6
1,4 1907
44,0 91,6
2,5
1,0
9,6
28,7
58,2
96,5
Quelle: Hoff mann, Walther G., Das Wachstum der deutschen Wirtschaft seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, Berlin/Heidelberg/New York 1965, S. 212.
Im Komplex Industrie und Handwerk waren also noch 1895 mehr Personen in den hauptsächlich handwerklichen Betrieben (mit bis zu 10 Arbeitskräften) tätig als in den Betrieben mit mehr als 50 Beschäftigten. Letztere wurden in der damaligen Statistik als „Großbe36
Kuczynski, Jürgen, Lage der Arbeiter, Bd. 14: Zur Frühgeschichte des deutschen Monopolkapitals und des staatsmonopolistischen Kapitalismus, Berlin 1962, S. 10.
37
Ebenda.
Konzentrationsprozeß im nichtlandwirtschaftlichen Betrieb
71
triebe" bezeichnet, was aber aus heutiger Sicht mehr als Unterscheidung zum Handwerksbetrieb aufzufassen ist. Wir würden heute, da ja groß und klein immer relativ ist und es auch schon damals zahlreiche Betriebe mit mehreren tausend Beschäftigten gab, die Betriebsgrößenklassen ab 50 Beschäftigte für die damalige Zeit vielleicht als „die Industrie" oder „die eigentliche Industrie" bezeichnen. 1907 aber hatten sich die Proportionen nun deutlich geändert, wie der Auszug aus Tabelle 16 zeigt: Jahr
1-10 Beschäftigte
ab 50 Beschäftigte
1895 1907
49,2% 38,2%
33,5% 42,4%
In der „eigentlichen Industrie" arbeiteten nun schon mehr Personen als in den handwerklichen Betrieben. Auffällig gegenüber dem Aggregat Industrie und Handwerk ist der Konzentrationsgrad schon 1882 im Zweig Bergbau, wo ein Drittel aller Beschäftigten in Betrieben mit über 1000 Arbeitskräften arbeitete. Bis 1907 wuchs dieser Anteil dann auf 60 Prozent. Die Konzentrationstendenzen in Industrie und Handwerk werden noch etwas deutlicher sichtbar, wenn man die Zunahme der Beschäftigtenzahlen in den einzelnen Betriebsgrößenklassen berechnet. Die Zahl der insgesamt in Kleinbetrieben (1—5 Arbeitskräfte) BeschäfTatelle 17 Index der Bescbäftiglen^abl Betriebsgrößenklasse
1—5
in den einzelnen Betriebsgrößenklassen 6—10
11-50
Index der Beschäftigtenzahl
in Industrie und Handwerk
51-200
201-1000
1000 u. mehr
Beschäftigte Ind/Ha insg.
200
167
135
168
196
134
1882=100
1895
95
224
180
1907
99,5
132
150
200 1895 = 100 160
Quelle: Berechnet nach: Hoffmann, Waltber, G., Das Wachstum der deutschen Wirtschaft seit der Mitte de 19. Jahrhunderts, Berlin/Heidelberg/New York 1965, S. 204f., 212.
tigten nahm in beiden Zählungsperioden absolut ab. In der „eigentlichen Industrie" wuchs zwischen 1882 und 1895 die Zahl der Beschäftigten am stärksten in den Betriebsgrößenklassen mit 50 bis 1000 Beschäftigten. In der Zählungsperiode 1895 bis 1907 aber finden wir nun eine ganz gleichmäßige Verteilung der Zunahme. Sie steigt von Größenklasse zu Größenklasse und ist am stärksten bei den Größtbetrieben. Hier hat sich die Beschäftigtenzahl fast verdoppelt und beträgt nun 1907 knapp eine halbe Million Menschen. Die Beschleunigung des Konzentrationstempos seit 1895 ist nicht zu verkennen. Eine weitere Aufgliederung des Aggregats Industrie und Handwerk in Anhangtabelle 5, in die auch Bergbau und privates Verkehrsgewerbe einbezogen ist, zeigt noch genauer die Konzentrationsentwicklung zwischen 1895 und 1907. Die Zweige Bergbau/Hütten/
72
ökonomische Entwicklung zwischen 1871 und 1914
Salinen, Maschinen/Instrumente/Apparate (inclusive elektrotechnische Industrie) und die chemische Industrie lagen mit weitem Vorsprung vor den anderen Zweigen an der Spitze — und zwar sowohl schon 1895 als auch dann 1907. Das Herausragen dieser Zweige aus dem allgemeinen Konzentrationsniveau ist deutlich sichtbar. Besonders hoch war der Konzentrationsgrad im Bergbau und innerhalb dieses Zweiges wiederum im Steinkohlenbergbau. Allein die Hälfte aller im Deutschen Reich in Größtbetrieben beschäftigten Personen arbeitete 1895 im Zweig Bergbau/Hütten/Salinen (Anhangtabelle 6). In den drei höchstkonzentrierten Zweigen zusammengenommen arbeiteten über 70 Prozent aller in Größtbetrieben beschäftigten Personen. Vergleicht man dies mit den weiter oben getroffenen Feststellungen über die Zweigstruktur der Industrie, so fällt folgendes ins Auge: Von den drei höchstkonzentrierten Zweigen gehören die beiden ersten, also Bergbau/Hütten/Salinen und Maschinen/Instrumente/Apparate auch zu denjenigen, die in puncto Beschäftigtenzahl und installierten PS die führenden Zweige bildeten, also ein hohes Gewicht im Rahmen der Gesamtwirtschaft hatten. Die chemische Industrie hingegen stellte 1895 mit knapp 2 Prozent der industriell Beschäftigten, 3 Prozent der installierten PS und (1901) 5 Prozent Anteil an der gesamten Industrieproduktion (Anhangtabellen 1, 3 und Texttabelle 9, S. 57) keinen besonders „großen" Sektor der Industrie dar, zumindest quantitativ betrachtet. Um ihre Bedeutung insgesamt abzuwägen, müssen natürlich qualitative Faktoren in Betracht gezogen werden, so die Rolle, die sie für die Entwicklung der Produktivkräfte insgesamt spielte. Quantitativ gesehen hatte jedoch die Textilindustrie damals noch ein größeres Gewicht. In der Textilindustrie waren 1895 auch insgesamt dreimal soviel Beschäftigte in Größtbetrieben tätig wie in der chemischen Industrie (Anhangtabelle 6), 1907 noch anderthalbmar soviel. Aber der Konzentrationsgrad war eben in der chemischen Industrie weitaus höhel als in der Textilindustrie, und der Vorsprung der Chemieindustrie vergrößerte sich noch bis 1907. Auch gehörte die chemische Industrie ebenso wie die beiden anderen höchstkonzentrierten Zweige zu den Zweigen mit dem größten Produktionswachstum (Texttabelle 10, S. 58) und hatte außerdem eine hohe Exportquote. Die Konzentration im Handelsgewerbe ist schwer mit derjenigen in der Industrie zu vergleichen, wenn man nur die Arbeitskräfte als Maßstab hat. Im Geld- und Kredithandel, in Spedition und Kommission, im Handel mit Metallen und Brennstoffen wurden bei der Zählung 1895 schon viele Betriebe mit nur 3—5 Beschäftigten als „großkapitalistische" Betriebe gewertet. 38 Auch hier wieder wird man die Bezeichnung „großkapitalistisch" mehr als Synonym für „kapitalistisch" sehen müssen, also als Abhebung vom Kleingewerbe. Im gesamten Handelsgewerbe waren 1895 jedenfalls 95 Prozent aller Betriebe solche mit 1—5 Beschäftigten. In Anhangtabelle 7 sind nun diejenigen Gewerbearten der Gewerbegruppe Handel aufgeführt, in denen mehr als 20 Prozent aller Beschäftigten in Betrieben mit über 50 Personen tätig waren. Die gewichtigste Gruppe bildet hier der Geld- und Kredithandel, also das Bankwesen. Natürlich kann das Gewicht gerade des Bankwesens in einer Arbeitskräftestatistik nicht richtig zum Ausdruck kommen. Aber die Entwicklung innerhalb des Bankwesens wird immerhin angedeutet. Wie Anhangtabelle 7 zeigt, war die Zunahme der Konzentration zwischen 1895 und 1907 beträchtlich, verbunden mit einer Beschäftigungsexpansion, die weit über dem Durchschnitt des Bereichs Handel, Banken, Versicherung, Gaststätten lag. 3 9 Sombart schrieb 1913: „Aus den Angaben, die manche der 38 39
Statistik des Deutseben Reiches, Bd. 119, S. 47. Vgl. Hoffmann, Walther G., a. a. O., S. 204f.
Konzentrationsprozeß im nichtlandwirtschaftlichen Betrieb
73
Aktienbanken über die Zahl ihrer Angestellten machen, ist die rapide Steigerung während des letzten Jahrzehnts, in dem sich 50 Jahre wirtschaftlicher Entwicklung zusammendrängen, ersichtlich. So stieg beispielsweise die Zahl der Angestellten der Deutschen Bank von 1625 im Jahre 1895 auf 2063 (1900), auf 5816 (1910). Die Dresdner Bank hatte 1901 1346 Angestellte, 1910 4008 usw." 4 0 Im eigentlichen Warenhandel war der Konzentrationsgrad 1895 sehr gering: Nur 2,9 Prozent aller Beschäftigten, das waren 12976 Personen, arbeiteten in Betrieben mit über 50 Beschäftigten. 41 Er erhöhte sich jedoch bis 1907 nicht unerheblich: Jetzt waren es schon 6,8 Prozent aller Beschäftigten oder 116000 Personen, die in größeren Betrieben arbeiteten. 42 Auf dem Gebiet des Einzelhandels waren zum Beispiel die großen Warenhäuser besondere Konzentrationsschwerpunkte. Im privaten Verkehrsgewerbe ragte schon 1895 die Seeschiffahrt durch ihren besonderen Konzentrationsgrad hervor. So beschäftigten vier große Dampfschiffahrtsgesellschaften — zwei in Hamburg und zwei in Bremen — zusammen 12176 Personen. 43 Die besonders rasche Zunahme des Konzentrationsgrades im Verkehrsgewerbe bis 1907 zeigt auch Anhangtabelle 5. Die Konzentration von Arbeitskräften, die bisher dargestellt wurde, ist ein Ausdruck für die Konzentration der Produktion, aber nicht für die Konzentration des Kapitals. Letztere ist für unsere Periode statistisch nicht meßbar. Einige vorsichtige Schlüsse lassen sich aus der Statistik der Aktiengesellschaften ziehen, die aber nur einen Teil des Gesamtkapitals darstellen. In Anhangtabelle 8 ist das Kapital der Aktiengesellschaften der wichtigsten Zweige — einschließlich Bankwesen und Verkehr — für 1896 und 1907 aufgeführt. Hierbei ist zu beachten, daß der Umfang bestimmter Zweige bei den Erhebungen von 1896 und 1907 nicht völlig identisch, ein Vergleich also nur als Grobvergleich möglich ist. Dieses berücksichtigend, scheinen sich dennoch gewisse Aufschlüsse zu ergeben, wenn man aus den Daten der Anhangtabelle 8 das durchschnittliche Aktienkapital pro Gesellschaft in den beiden Erhebungsjahren berechnet (Anhangtabelle 9). Hier zeigen sich nämlich charakteristische Unterschiede der Zweige. Der absoluten Größe nach stand das Aktienkapital im Bankwesen in beiden Jahren an der Spitze (Anhangtabelle 8). Im durchschnittlichen Aktienkapital pro Gesellschaft aber wurde das Bankwesen 1907 von der Schwerindustrie und der Elektrotechnik/Elektrizitätserzeugung übertroffen. Ferner bringen die Zahlen der Anhangtabelle 9 einen Sachverhalt zum Ausdruck, der für das Verständnis der Monopolstrukturen wichtig ist: den relativ geringen Konzentrationsgrad im Allgemeinen Maschinenbau. In den Tabellen zur Konzentration der Arbeitskräfte (Anhangtabellen 5 und 6) ist die Elektrotechnik und der Schwermaschinenbau in die Position Maschinen/Instrumente/Apparate einbezogen. Infolgedessen ergibt sich ein hoher Konzentrationsgrad für dieses Aggregat. In der Aktienkapitalstatistik (Anhangtabellen 8 und 9) dagegen sind Elektrotechnik und Schwermaschinenbau aus dem sonstigen Maschinenbau ausgegliedert, und es zeigt sich, daß in diesem der Konzentrationsgrad 1896 niedriger ist als in der Textilindustrie, 1907 nur wenig höher als in der Textilindustrie. Diese noch relativ große Zersplitterung trug mit zum geringeren Monopolisierungsgrad im Maschinenbau bei und wirkte sich auf die technische Entwicklung des Zweiges aus (Zurückbleiben hinter der Entwicklung des Maschinenbaues in den USA). Sombart, Werner, Die deutsche Volkswirtschaft im 19. Jahrhundert, 3. Aufl., Berlin 1913, S. 178f. Statistik des Deutseben Reiches, Bd. 119, S. 26* f. « Ebenda, Bd. 213, S. 39f., 60f. « Ebenda, Bd. 119, S. 28*f. 41
74
ökonomische Entwicklung zwischen 1871 und 1914
Aus den verschiedenen Aspekten der Konzentrationsentwicklung, die bisher dargestellt wurde, läßt sich zusammenfassend folgendes feststellen: Die Zweige, die bereits beim Eintritt in das imperialistische Stadium den höchsten Grad der Konzentration von Produktion und Kapital aufzuweisen hatten, waren Steinkohlenbergbau, Hüttenwesen sowie mit Bergbau und Hüttenwesen verbundener Maschinenbau, Elektroindustrie, chemische Industrie, Bankwesen und Seeschiffahrt. Von den höchstkonzentrierten Zweigen deutlich abgehoben waren Zweige mit relativ hohem Gewicht und mittlerem Konzentrationsgrad, wie Allgemeiner Maschinenbau und Textilindustrie. Zweige mit ebenfalls relativ hohem Gewicht, aber niedrigem Konzentrationsgrad waren die Nahrungs- und Genußmittelindustrie, Industrie der Holz- und Schnitzstoffe, Industrie der Steine und Erden und das Bauwesen. Nun ist natürlich folgendes zu beachten: Auch bei Aufgliederung verschiedener Zweigaggregate in Untergruppen (wie zum Beispiel beim Maschinenbau) ergeben sich doch immer noch Durchschnittszahlen, die noch nichts aussagen über das Gewicht einzelner Riesenunternehmungen und -betriebe. Aber diese Durchschnittszahlen sind notwendig, um sich ein Bild von der Gesamtstruktur zu machen. Andererseits ergeben diese Durchschnittszahlen kein vollständiges Bild vom Grad der Vergesellschaftung der Produktion, der in den größten Unternehmungen der höchstkonzentrierten Zweige zum Ausdruck kam, von der ökonomischen Macht dieser Unternehmungen und Unternehmer, die sich wiederum in politisches Gewicht umsetzte. Interessanterweise hat das Kaiserliche Statistische Amt 1899 eine spezielle Zusammenstellung über einzelne Unternehmungen veröffentlicht, und zwar über die jeweils größten Unternehmungen verschiedener Zweige zu dem ausgesprochenen Zweck, den Grad der Vergesellschaftung zu verdeutlichen. Die Begründung ist, obwohl in bürgerlicher Terminologie gehalten, doch sehr plastisch, weil sie den gesellschaftlichen Charakter der Produktion in zeitgenössischer Sicht hervorhebt: „Diese modernen Gebilde unserer volkswirtschaftlichen Organisation, in denen Tausende von Menschenhänden nebeneinander arbeiten und in ihrer Tätigkeit von gewaltigen Motoren und technisch sehr vervollkommneten Arbeitsmaschinen unterstützt werden, sind gemäß ihrer Verfassung, Ausdehnung und Produktivkraft von so weittragendem Einfluß auf die Volkswirtschaft, daß private und öffentliche Interessen in ihnen aufs engste verbunden erscheinen. Die sozial verschiedensten Klassen von Familien sind in ihrer wirtschaftlichen Existenz von ihnen abhängig, zunächst die leitenden Persönlichkeiten, die Aktionäre, stillen Teilhaber, sonstige Kapitalinteressenten, die Gläubiger, die Werkmeister und Arbeiter. Daneben verfolgten Hunderte und Tausende von Kunden aus nah und fern das Geschäft; zahlreiche Händler, Lieferanten, Konkurrenten, endlich die Nachbarn, die ganze Stadt, der Kreis, die Provinz haben Interesse am Auf- und Niedergang der betreffenden Unternehmung. Die Lage, die baulichen Einrichtungen, die guten oder schlechten Verkehrsbeziehungen des Großbetriebes werden zu einer Gemeinde- und Bezirksangelegenheit; von dem Betrieb werden Schulwesen, Steuerkraft, Bevölkerungszu-oder-abnahme, Wohlstand oder Verarmung der ganzen Gegend, Art der Siedlung und Grundeigentumsverteilung beeinflußt. Diese volkswirtschaftliche Bedeutung kommt mehr oder minder allen größeren Unternehmungen zu, insonderheit aber den erwähnten Riesenunternehmungen (den mit 1000 und mehr Beschäftigten — H. N.), bei ihnen tritt der öffentliche gemeindeähnliche Charakter ganz besonders deutlich hervor . . . Um deswillen sollen einige Riesenunternehmungen einzeln vorgeführt werden; zugleich wird an ihnen auf Grund eigens im Laufe der Monate September und Oktober 1899 über ihren neuesten Stand
75
Monopolisierung
erholten Nachweise gezeigt, wie deutsche Riesenunternehmungen jetzt an der Wende des Jahrhunderts aussehen." 44 Es folgen dann ausführliche Angaben über 1. die Werke und Anlagen der Firma Friedrich Krupp (44087 Beschäftigte) 2. Stettiner Maschinenbau-Aktien-Gesellschaft Vulkan (7208 Beschäftigte) 3. Badische Anilin- und Sodafabrik in Ludwigshafen am Rhein (6341 Beschäftigte) 4. Weberei von Hermann Wünsche's Erben in Ebersbach in Sachsen (ca. 3000 Beschäftigte) 5. Schultheiß-Brauerei Aktiengesellschaft in Berlin (1837 Beschäftigte) 6. Warenhaus A. Wertheim in Berlin (ca. 4670 Beschäftigte) 7. Berliner Elektrizitätswerke (431 Beschäftigte) 8. Großberliner Straßenbahn (ca. 5500 Beschäftigte) 9. Hamburg-Amerika-Linie in Hamburg (14643 Beschäftigte) 10. Deutsche Bank in Berlin (1625 Beschäftigte). Ganz zutreffend wurde also hier konstatiert, daß solche „modernen Gebilde unserer volkswirtschaftlichen Organisation . . . von so weittragendem Einfluß auf die Volkswirt-
schaft (sind), daß private und öffentliche Interessen in ihnen aufs engste verbunden scheinen."
So führt also „die Konzentration auf einer bestimmten Stufe ihrer Entwicklung" nicht allein, wie Lenin schrieb, „sozusagen von selbst dicht an das Monopol heran", sondern sie führt darüber hinaus auch „sozusagen von selbst" die Notwendigkeit „öffentlicher" Regulierungen herbei. 45
3. Die Monopolisierung Der Prozeß der Konzentration, der Monopolisierung und der Herausbildung des Finanzkapitals vollzog sich nach einer längeren Übergangszeit seit 1890 mit erhöhtem Tempo, so daß um 1900 das Monopolkapital dominierendes Gewicht erlangte. Hatte die Monopolisierung bis 1914 bedeutende Bereiche der Ökonomik erfaßt, so doch längst nicht alle Bereiche, und die ökonomischen Auswirkungen des Monopols — zumindest in bezug auf den binnenwirtschaftlichen Reproduktionsprozeß — waren noch nicht so tiefgehend wie in späteren Jahrzehnten. Jedoch verstärkte die Erzielung von Monopolprofit nun die Ungleichmäßigkeit der Entwicklung. Die Erzielung von Monopolprofit förderte die Entwicklung der Produktivkräfte und das Wirtschaftswachstum in den monopolistisch organisierten Bereichen und bewirkte sprunghafte Veränderungen im Kräfteverhältnis der einzelnen Monopolkapitale und Kapitalgruppen. Die Zunahme der „Planmäßigkeit" innerhalb der monopolistisch beherrschten Bereiche, die wachsende Möglichkeit von Preis-, Produktions- und Investitionsstrategien verschärften den intermonopolistischen Konkurrenzkampf ebenso wie die Anarchie im volkswirtschaftlichen Reproduktionsprozeß. Die Erzielung von Monopolprofiten, die dadurch bewirkte Kapitalballung größten Ausmaßes, die durch die Monopolisierung gewonnene Möglichkeit strategischen Verhaltens führten zur wachsenden Anwendung von Terror, Gewalt und außerökonomischen Druckmitteln nicht nur gegenüber der Arbeiterklasse, sondern auch gegenüber Konkurrenten, Monopolaußenseitern, Lieferanten und Abnehmern. Die Ungleichmäßigkeit der Konzentration ** Ebenda, S. 158f. « Vgl. z. B. 25 Jabre Emscbergenossenscbaft
1900-1925, Essen o. J. (1925).
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ökonomische Entwicklung zwischen 1871 und 1914
und Monopolisierung verstärkte die Differenzierung innerhalb der Bourgeoisie und schuf ein stärkeres Gefälle der Macht und politischen Einflußmöglichkeiten, was unter anderem dazu führte, daß der Kampf um „Einflußsphären" in den staatlichen Apparaten sich verstärkte. Der allgemeine Verlauf des Monopolisierungsprozesses in Deutschland bis 1914 ist in seinen Grundzügen bekannt und ausführlich dargestellt worden. 46 Die Hauptlinien müssen hier dennoch skizziert werden, sonst stünden weitere Erörterungen über die volkswirtschaftlichen Regulierungseffekte der Monopole und/oder des Staates gewissermaßen im leeren Raum. Der Monopolisierungsprozeß verlief ähnlich unterschiedlich in den einzelnen Zweigen wie der Konzentrationsprozeß und im großen und ganzen — aber nicht völlig I — diesem analog. Letzteres ist so zu verstehen: Wenn sich auch nur in den höchstkonzentrierten Zweigen schließlich Monopolgebilde entwickelten, deren ökonomisches Potential in seiner Größenordnung, verglichen mit dem Gesamtpotential der Volkswirtschaft, erheblich war, so kam es dennoch auch in Zweigen mit geringerem Konzentrationsgrad zu Monopolbildungen. Und dies konnte vor allem deshalb geschehen, weil in der „Frühzeit" des Monopolkapitalismus die Kartellform des Monopols eine bedeutende Rolle spielte. Im Unterschied zu den Ländern angelsächsischen Rechts, wo der Kartelltyp des Monopols strafrechtlich verfolgt werden konnte, 47 entwickelte sich in Kontinentaleuropa und besonders auch im kapitalistischen Deutschland die Kartell- und Syndikatsform, in Deutschland sogar noch unterstützt von der Rechtsprechung (Grundsatzentscheidung des Reichsgerichts 1897), zu erheblicher Bedeutung. Durch zivilrechtlichen Vertrag, ohne daß einschneidende Eigentumsveränderungen vor sich gehen mußten, ermöglichte das Kartell eine Regulierung der Preise und der Produktion, das Syndikat darüber hinaus eine Zentralisierung des Absatzes. Das Kartell und das Syndikat stellten somit die schnellste und „billigste" Form der Monopolerrichtung dar. Von ihr konnten auch Unternehmer in Branchen Gebrauch machen, in denen es keine Riesenbetriebe gab — wenn nur die Anzahl der Betriebe nicht zu groß war. So gab es unter den einigen hundert Kartellen Ende der neunziger Jahre — Liefmann schätzte für 1897 230 bis 250 48 , in der Kartellenquete des Reichsamts des Innern wurden 1905 385 Kartelle festgestellt 49 — zahlreiche „Minimonopole" (Kuczynski). Die Kartellenquete zählte zum Beispiel allein in der Ziegeleiindustrie 132 Kartelle. Entsprechend dem relativ kleinen Radius, innerhalb dessen sich der Transport von Siehe an zusammenfassenden Arbeiten: Kuczynski, Jürgen, Lage der Arbeiter, Bd. 3: Darstellung der Lage der Arbeiter in Deutschland von 1871 bis 1900, Berlin 1962, Bd. 4 u. 14: a. a. O.; Derselbe, Studien zur Geschichte des deutschen Imperialismus, Bd. 1: Monopole und Unternehmerverbände, Berlin 1948 (Siehe auch die darin enthaltene umfangreiche Bibliographie der älteren Monopolliteratur, ebenda, S. 323—273.); Mottek, Hans/Becker, WalterjSchröter, Alfred, a. a. O. — Monographien: Sonnemann, Rolf, Die Auswirkungen des Schutzzolls auf die Monopolisierung der deutschen Eisen- und Stahlindustrie 1879—1892, Berlin 1960. — Nussbaum, Helga, Unternehmer gegen Monopole. Über Struktur und Aktionen antimonopolistischer bürgerlicher Gruppen zu Beginn des 20. Jahrhunderts, Berlin 1966. 47 Vgl. Nussbaum, Helga, Bürgerliche Monopolgegnerschaft, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 1962, T. 2, S. 73ff. 48 Uefmann, Robert, Die Unternehmerverbände (Konventionen, Kartelle), ihr Wesen und ihre Wirkungen, Freiburg i. Br. 1897, S. 141. 49 Derselbe, Kartelle und Trusts und die Weiterbildung der volkswirtschaftlichen Organisation, 3. erw. Aufl., Stuttgart 1918, S. 36. 46
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Monopolisierung
Ziegeln lohnt, trugen diese Kartelle den Charakter von — meist eng begrenzten — Territorialmonopolen. Angaben über die Zahl der Kartelle in verschiedenen Perioden sagen zwar etwas aus über die Stärke der Monopolisierungsbewegung, aber noch nichts über die tatsächliche gesellschaftliche Macht des Monopolkapitals des betreffenden Zweiges. Die Stärke des Monopolkapitals und die Macht der Monopolisten waren im Zweig Elektroindustrie, wo es nur ganz verschwindend wenig Kartellvereinbarungen gab, unvergleichlich größer als im Zweig Ziegeleiindustrie mit seinen 132 Kartellen. Aber: Wenn man die Sache einmal nicht unter dem Blickwinkel der gesellschaftspolitischen Rolle, des politischen Gewichts und der Einflußmöglichkeiten der verschiedenen Gruppen von Monopolisten betrachtet, sondern die Frage nach dem Kegulierungseffekt der verschiedenen Kartelle und anderer Monopolarten innerhalb der jeweiligen Branche stellt, so könnte sich das Bild schon wieder etwas verschieben. Es ist bekannt, daß einige der sogenannten kleinen Monopole — oder auch Monopole in kleinen Branchen — einen viel größeren Einfluß auf Konkurrenz und Produktionsbedingungen in ihrem Zweig ausüben konnten als zum Beispiel die beiden Riesenkonzerne AEG und Siemens etwa auf dem Glühlampenmarkt.In der deutschen Seidenwebereiindustrie zum Beispiel, in der nach der Jahrhundertwende die Kartellierung begann, war die Zahl der Außenseiter um 1911 außerordentlich gering. Beckerath bemerkt dazu: „Die Lage eines Fabrikanten, der eine Sammetfabrik neu etablieren will, ist nunmehr die: Bleibt er außerhalb des Verbandes, so fehlen ihm die notwendigsten und wichtigsten Kundengruppen, tritt er bei, so kann er, wenn er keine gelernte Arbeit zur Verfügung hat, das minderwertige Produkt schlecht gelernter Arbeiter zu den Konventionspreisen nicht absetzen. Gelernte Arbeiter durch höhere Löhne an sich heranzuziehen, ist ihm aber unmöglich, weil die Löhne tarifmäßig festliegen und weil Arbeitgeberverband und Kartell in Personalunion sich in die Hände arbeiten. Eine Stärke in der Marktbeherrschung, die selbst in der schweren Industrie, die als so hervorragend geeignet zur Kartellierung gilt, kaum ihresgleichen hat." 50 Nun bildete zwar innerhalb der Textilindustrie ein solcher Fall damals die Ausnahme. 51 Es sollte mit diesem Beispiel nur angedeutet werden, daß bei einer eventuellen „Messung" des Regulierungseffekts eines Kartells oder einer anderen Monopolform in bezug auf die Preis- und Produktionsbedingungen der betreffenden Branche und die Stabilisierung des Profits nicht immer der Umstand entscheidend ist, ob es sich um ein „großes" oder „kleines" Monopolgebilde handelt. Auch in „kleinen" Branchen oder durch „kleine" Monopole konnte durchaus ein starker innerzweiglicher Regulierungseffekt erzielt werden. Auf dieses Problem wird noch zurückzukommen sein. Bleiben wir zunächst noch bei der Grobskizze des Ablaufs der Monopolisierung. Daß die Monopolisierung als „Massenprozeß" erst in der Abschwungsphase seit 1873, der großen Depression, einsetzte, ist bekannt und hier auch schon erwähnt worden. Der tendenzielle Preisfalle, Rückgang und Stagnation der Profite (siehe Abbildungen 2, 3 und 4 S. 62—65) bildeten die Hauptstimuli für monopolistische Zusammenschlüsse — vor allem in den „alten" Zweigen, und hier vor allem in der Montanindustrie. Die Wechselbeziehungen zwischen staatlicher und monopolistischer Regulierung im Bergbau, ihr Miteinander und Gegeneinander, soll in einem späteren Kapitel ausführlich behandelt werden. In den Preis- und Produktionsindexkurven für Steinkohle (siehe Abb. 9, S. 122) zeigt sich der tiefe Preiseinbruch zwischen 1873 und 1888 noch schärfer und deutlicher ausgeprägt als 50 51
Beckeratb, Herbert von, Die Kartelle der deutschen Vgl. dazu: Nussbaum, Helga, Unternehmer gegen
Seidenwebereiindustrie, Karlsruhe 1911, S. 77. Monopole, a. a. O., S. 109—123.
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ökonomische Entwicklung zwischen 1871 und 1914
in den allgemeinen Kurven in Abb. 2 (S. 62). Trotzdem hatte sich in dieser Zeitspanne die Produktion von Steinkohle verdoppelt, denn die „normale" Reaktion der Unternehmer bei freier Konkurrenz, zumal in solchen Zweigen, in denen der Anteil des konstanten fixen Kapitals besonders hoch, seine Umschlagszeit besonders lang und Kapitalverlagerung in andere Produktionsbereiche schwierig ist, bestand eben zunächst darin, die Produktion zu konzentrieren, zu rationalisieren und — auszudehnen, um durch Kostendegression bei erhöhtem Produktionsausstoß die Profitmasse trotz sinkender Preise zu halten oder zu erhöhen. Dadurch mußte aber die Überproduktion verschärft werden, falls es nicht gelang, einen Teil der Unternehmen auszukonkurrieren. Nun können durch Preisunterbietungen zwar schwächere Firmen vom Markt verdrängt werden, aber gleichrangige Konkurrenten können diese Strategie meist ebenso lange oder länger durchstehen als der oder die Unterbieter selbst. Stehen sich eine nicht zu große Anzahl etwa gleichstarker Großunternehmen gegenüber, so führt ein Preiskampf meist zu Verlusten für alle, während keines Profit erzielt, aber auch keines zum Ausscheiden gezwungen werden kann. Das einzige Mittel, weiterhin Profite zu erzielen, ist unter diesen Bedingungen der monopolistische Zusammenschluß — oder, wie in neuester Zeit allgemein verbreitet, die informelle, durch Verhaltensanpassung erzielte Übereinkunft zum Verzicht auf den Preiskampf im „Gruppenmonopol". Aber zwischen diesem heute auf den wichtigsten Märkten herrschenden Zustand, daß einige wenige Riesenkonzerne durch aufeinander abgestimmte, von spieltheoretischen Erwägungen unterstützte Verhaltensstrategien gemeinsam die Preise hochhalten und Monopolprofite erzielen, und der Bildung der ersten neuzeitlichen Kartelle liegt nun schon eine Zeitspanne von 100 Jahren. Es bedurfte auf der subjektiven Seite eines intensiven „Lernprozesses" der Unternehmer, um erstens überhaupt zu monopolistischem Verhalten überzugehen und zweitens die WionopoXformen ständig weiterzuentwickeln. Erzwungen wurde dieser Lernprozeß durch die objektiven Bedingungen der weltwirtschaftlichen Entwicklungen, durch Krisenkatastrophen und Kriege, und nicht selten hatte „der Staat" einzugreifen, um diesen „Lernprozeß" voranzutreiben — wie in den 1880er Jahren in Deutschland 52 oder in den 1920er Jahren in Großbritannien 53 — oder gar monopolistische Zusammenschlüsse zu erzwingen, wie 1910 schon in Deutschland im Falle des Kalisyndikats oder in sehr vielen Ländern während und nach der Krise von 1929 bis 1933. Im Steinkohlenbergbau begann die Monopolisierung in der langanhaltenden Krise der siebziger Jahre mit einer Reihe von Kartellversuchen, die sich in den achtziger Jahren verstärkten, zunächst wenig reale Erfolge hatten, aber bereits 1893 in der Gründung des Rheinisch-Westfälischen Kohlensyndikats gipfelten, einem Monopolgebilde, das schließlich im imperialistischen Deutschland der Kaiserzeit mit die stärksten wirtschaftlichen Monopolwirkungen ausübte. Die gesamte Schwerindustrie bildete um 1900 einen relativ straff durchmonopolisierten Block, wodurch sich die ökonomische und auch politische Macht dieser Gruppe der Bourgeoisie noch weit über das Gewicht der gleichen Zweige im Reproduktionsprozeß hinaus erhöhte. Der Monopolisierungsprozeß vollzog sich in der hier betrachteten Periode sehr ungleichmäßig und konnte sich bis zum ersten Weltkrieg nicht in allen Zweigen voll durchsetzen, beispielsweise nicht im Maschinenbau, in vielen Zweigen der Konsumtionsmittelindustrie (zum Beispiel in der Webereiindustrie), in den meisten Zweigen des Handelsgewerbes. Diese Vorgänge schildert sehr anschaulich Kuc^jnski, Jürgen, Lage der Arbeiter, Bd. 14: a. a. O., Teil II, Kap. 1. 53 Vgl. dazu: Pollard, Sidney, The Development of the British Economy 1914-1950, London (1962), Kap. 3, 4, 5.
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Monopolisierung
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Die Tatsache im Auge zu behalten, daß mit dem Eintritt in das imperialistische Stadium zwar das Monopolkapital dorrlinierendes Gewicht erlangt, aber längst nicht alle Bereiche der Ökonomik erfaßt hatte, ist für unsere Problematik außerordentlich wichtig. Die Monopolisierung erfolgte in den meisten Ländern in mehreren großen Wellen, die jedesmal einen größeren Bereich der Volkswirtschaft erfaßten, aber noch immer nicht zum endgültigen Abschluß dieses Prozesses geführt haben. In den USA und im imperialistischen Deutschland ragen als besondere „Wellenkämme" die Jahre vor und nach der Jahrhundertwende, die zwanziger Jahre und die jüngste Zeit seit Beginn der sechziger Jahre hervor. Ganze volkswirtschaftliche Bereiche, wie Handel, Dienstleistungen und Landwirtschaft, sind zum Beispiel in der BRD erst in dieser jüngsten Zeit von der Monopolisierungswelle in stärkerem Maße erfaßt worden. Unter diesem Blickwinkel müssen wir die Zeit zwischen Ende der neunziger Jahre und 1914 tatsächlich als Anfangsetappe oder Entfaltungsetappe — oder wie man es sonst bezeichnen will — des Monopolkapitalismus sehen. Dies wäre nun aber wiederum nicht als Abschwächung des Charakters dieser Periode aufzufassen. Gerade der Aufbau monopolistischer Positionen in einigen, aber hochkonzentrierten und wichtigen Bereichen erzeugte, ja besondere Macht- und Abhängigkeitsverhältnisse, ermöglichte die Ausübung von Macht über andere Bereiche, was sich sowohl im Reproduktionsprozeß im engeren Sinne als auch in der sozialen und politischen Struktur auswirkte und in den Kämpfen um die Ausrichtung der staatlichen Politik reflektierte. Die Monopolisierung vollzog sich in Abhängigkeit von den produktionstechnischenund Marktbedingungen der einzelnen Zweige, dem erreichten Grad der Konzentration, in verschiedenen Typen. Charakteristisch für den allgemeinen Stand der Monopolisierung in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre waren zahlreiche Neugründungen und Auflösungen von Kartellen, zunehmende Verklammerung von Konzernen durch Kartellverträge, heftiger Konkurrenzkampf zwischen großen Konzernen. Diese allgemeinen Charakteristika waren nun wieder in den verschiedenen Zweigen unterschiedlich stark ausgeprägt. Überall dort, wo Massengüter mit für längere Zeit festlegbaren Eigenschaften produziert wurden (Kohle, Kali, Roheisen, Stahlsorten, Halbzeuge aus Stahl und Eisen, chemische Verbindungen, Baumwollgarn und ähnliches), erfolgte der Umschlag vom Großunternehmen zum Monopol zunächst in der Kartell- und Syndikatsform. Die Elektroindustrie aber entwickelte sich auf der Grundlage „natürlicher" technischer Monopole (Schwachstromindustrie: Siemens) oder Patentmonopole (Starkstromindustrie: AEG und Siemens) zunächst in Form monopolistischer Konzerne, deren Monopolstellung aber dann wieder infolge der überstürzten technischen Entwicklung und des Wegfalls der ehemaligen Patentmonopole (Edisonpatente) untergraben wurde, und erst nach einer Periode heftigen Konkurrenzkampfes (neunziger Jahre) und daraus resultierender Kapitalkonzentrationen und -fusionen im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts auf erhöhter Stufenleiter wieder hergestellt werden konnte. In der chemischen Industrie reichten die relativ leicht herzustellenden Kartellverträge für einzelne Produkte nicht aus, um die Stellung der Unternehmen im Konkurrenzkampf zu sichern (Anfall zahlreicher Vor-, Hilfs-, Nebenprodukte, breites Produktionssortiment jedes größeren Unternehmens). Die Monopolisierung auf dem Wege der Konzernbildung erlangte hier größere Bedeutung. In Deutschland wurde darüber hinaus die Konzernbildung in der chemischen Industrie durch das deutsche Patentrecht gefördert, das nicht wie das englische den Stoff, sondern das Verfahren schützt. 54 54
Siehe dazu: Sonnemann, Rolf ¡Etzold,
Heike, Patent und Monopol. Eine Studie zur Herausbildung von
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ökonomische Entwicklung zwischen 1871 und 1914
Dadurch wurde die rasche Entwicklung immer neuer Verfahren für das gleiche Endprodukt angeregt; rasche Entwertung vorhandener Patente, Preisunterbietung durch Kartellaußenseiter, Instabilität der Kartelle waren die Folge, verstärkte Konzernbildung der Ausweg. Auf dem Wege der Konzernbildung dauert die Errichtung eines wirksamen Monopols, oder anders ausgedrückt, die Errichtung eines absoluten Monopols durch einen einzigen Konzern im allgemeinen länger — sofern nicht ein absolutes Patentmonopol besteht — als durch Kartell (oder T r u s t e - B i l d u n g . Hierbei kam es meist — wie im Falle der Chemieund Elektroindustrie — zum längeren Nebeneinanderbestehen mehrerer größerer Gesellschaften, die, indem sie bei einzelnen ihrer Erzeugnisse den Markt bereits monopolistisch beherrschten, in bezug auf andere ihrer Erzeugnisse miteinander in heftigem Konkurrenzkampf lagen. Häufig waren diese Konzerne auch durch Kartellverträge für bestimmte ihrer Erzeugnisse miteinander verklammert. Im Verlauf der jahrzehntelangen Entwicklung des Monopolkapitalismus hat es sich nun erwiesen, daß die Konzerne sich zur bestimmenden und herrschenden Form der Monopole entwickelt haben, während die Kartelle nur noch ergänzende Funktionen haben 5 6 ; ebenso hat es sich gezeigt, daß die Alleinherrschaft eines Konzerns in einem Zweig relativ selten zustande kommt, in den meisten Fällen mindestens zwei, oft aber mehrere Konzerne einen Zweig oder aber die Märkte für ein bestimmtes Produkt beherrschen 57 und trotzdem gemeinsam Monopolprofite erzielen. Sowjetische Ökonomen nennen diese heute verbreitetste Monopolform „Gruppenmonopol", während bürgerliche Ökonomen sie bekanntlich als „Oligopol" bezeichnen. Wenn wir die Entwicklung der Chemie- und Elektroindustrie vor dem ersten Weltkrieg betrachten, so zeigt sich, daß die monopolistischen Organisationsformen, die sich in diesen damals „modernen" Zweigen herausbildeten, bereits denjenigen ähneln, die sich in der neuesten Zeit als die üblichen entwickelt haben — ohne daß allerdings, soweit man das übersehen kann, die gruppenmonopolistischen Strategien der gegenseitigen Anpassung im Preiskampf schon irgendwie bedeutend entwickelt waren. Die Krise von 1900ff. stimulierte den Prozeß der Monopolisierung, wenn auch in unterschiedlichem Maße in den einzelnen Zweigen, und zwar offensichtlich in gewisser Abhängigkeit von der Stärke des Krisenrückschlages in den jeweiligen Zweigen 58 . In der Monopolen unter dem Einfluß der Patentgesetzgebung, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 1965, T. 1, S. 121—159. — Kuczynskt, Thomas, Die Stellung der deutschen Teerfarbenindustrie zum Stoff- und Verfahrenspatent in der Zeit bis zum zweiten deutschen Patentgesetz von 1891, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 1970, T. 4, S. 1 1 5 - 1 4 0 . 55
Gemeint sind hier die ursprünglichen Trusts in den USA im 19. Jahrhundert; Kartellbildung war dort nach dem noch geltenden älteren englischen Recht nicht erlaubt. Es gab jedoch die Rechtsform des Trust: Die Übertragung von Eigentum auf einen anderen zur Verwendung und beliebigen Verfügung desjenigen, der „in trust" gibt. So gaben die Unternehmungen, die einen Monopolverband bilden wollten, ihre Aktien einem meist aus mehreren Personen bestehenden board of trustees, also einem „Treuhänderkollegium", „in trust", also in „Treuhandverwaltung". Diese „Treuhänder" hatten nun durch die Rechtsform des trust die Möglichkeit, die Unternehmen zentral zu verwalten und zu leiten. (Weiteres siehe: Nussbaum, Helga, Bürgerliche Monopolgegnerschaft, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 1962, T. 3, S. 7 3 - 1 2 8 . )
56 57
Siehe dazu: Politische Ökonomie des beutigen Monopolkapitalismus, a. a. O., bes. Kap. VI. Siehe Ebenda. Beispiele ferner. Koncentracija proi^vodstva v kapitalisticeskom mire, in: Mirovaja ekonomika i mezdunarodnye otnosenija, Nr. 11/1975, S. 152—156 (Statistischer Anhang); Hilke, Wolfgang, Statistische und dynamische Oligopolmodelle, Wiesbaden 1973, S. 17—19.
Monopolisierun g
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Elektroindustrie zum Beispiel war der Produktionsrückgang beträchtlich (in der Tabelle 3, S. 30 unter Metallverarbeitung erfaßt), da in der Hochkonjunktur infolge des heftigen, Konkurrenzkampfes der Konzerne die Produktion enorm ausgedehnt worden war, die Verluste infolgedessen groß waren, so daß hier eine Reihe von Zahlungsunfähigkeiten und Fusionen unmittelbar folgte. Die Siemens-Gruppe (Siemens & Halske und Siemens-Schuckerwerke) und die AEG-Gruppe erzeugten danach nach einer Schätzung aus dem Jahre 1907 75 Prozent der elektrotechnischen Produktion. Die beiden noch selbständig gebliebenen schwächeren Konzerne wurden den beiden Riesenkonzernen später noch angegliedert (die Bergmann-Elektrizitätswerke AG 1912 dem Siemens-Konzern, der Feiten Guilleaume-Lahmeyer-Konzern 1910 der AEG), so daß auf dem Felde der großen elektrotechnischen Objekte — Bahnen, Elektrizitätswerke, große Turbogeneratoren — die beiden Großkonzerne herrschend waren, wobei sie teils zusammenarbeiteten und teils noch konkurrierten. Darüber, wie diese Zusammenarbeit funktionierte, hat Kocka aus den Siemens-Archiv-Akten interessantes Material veröffentlicht. 59 Da Preiskartelle wegen der Vielfältigkeit und raschen technischen Weiterentwicklung der einzelnen Produkte nicht zustande kommen konnten bzw. nur ganz kurzlebig waren, ging diese Zusammenarbeit hauptsächlich in Form von Submissionsabkommen bei größeren Projekten oder direkten Absprachen bei einzelnen Geschäften vor sich. Von einem geheimen Submissionskartell der „Großen" für Starkstromprojekte, auch „Geheimkartell" oder „V. C." genannt, war um 1908 gerüchtweise etwas an die Öffentlichkeit gedrungen und erregte starke Proteste, besonders von seiten der kleinen Firmen. 60 Kocka fand einen gedruckten Vertragstext von 1904 bzw. 1905, der über das bekannt gewordene hinaus vorsah, daß auch die Gewinne gemeinsam verteilt werden sollten. Es war nicht zu ermitteln, inwieweit das letztere Vorhaben verwirklicht worden ist. Teilnehmer dieses Geheimkartells, von dem die anderen damals noch existierenden selbständigen Firmen ausgeschlossen waren, waren die AEG, der Siemens-Konzern und der Feiten & Guilleaume-Lahmeyer-Konzern. Am 9. Februar 1909 berichtete der Vorsitzende Direktor der Siemens-Schuckertwerke dem Aufsichtsrat, die Behörden hätten nach Bekanntwerden des „V. C." ihre Aufträge zunehmend an kleinere Firmen vergeben. Dadurch seien die durch das „V. C." teilweise stabilisierten Preise gesunken. Am 22. Oktober 1910 erklärte er an derselben Stelle, das Abkommen sei „infolge seiner Behandlung durch die Zeitungen fast gänzlich lahmgelegt." 6 1 Kocka schreibt weiter 6 2 : „1905.gelang es Wilhelm von Siemens außerdem, ein Zusatzabkommen mit ungefähr der gleichen Quotenverteilung über das bisher nicht erfaßte Bahnengeschäft mit der AEG abzuschließen. Außerhalb solcher formeller, auf höchster Ebene verhandelten 'Bündnisse' entwickelte sich eine gewisse Kooperation der mittleren Ränge in Einzelfragen. Schon gegen Ende des 19. Jahrhunderts verständigte man sich über einige Ansätze gemeinsamer Arbeiterpolitik und hatte sich 1901 'längst daran gewöhnt . . ., einander gegenseitig Vorzugsartikel abzugeben', d. h. dem 'Gegner' Produkte zu Vorzugspreisen zum Weiterverkauf zu liefern unter der Abmachung, daß dieser während einer bestimmten Periode nicht selbst dieses Gebiet bearbeiten würde. Die Beispiele, die sich noch 58 Vgl. dazu Tabelle 3, S. 30. 59 Kocka, Jürgen, Unternehmensverwaltung und Angestelltenschaft am Beispiel Siemens 1847—1914. Zum Verhältnis von Kapitalismus und Bürokratie in der deutschen Industrialisierung, Stuttgart 1969, besonders Abschnitt „Monopolistische Tendenzen vor 1914", S. 327ff. 60 Dazu: Nussbaum, Helga, Unternehmer gegen Monopole, a. a. O., S. 97ff. 61 Kocka, Jürgen, Unternehmensverwaltung . . . , a. a. O., S. 331. 62 Die sehr umfangreichen Anmerkungen sind beim folgenden Zitat fortgelassen worden.
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ökonomische Entwicklung zwischen 1871 und 1914
vermehren und vor allem auf das Finanzierungsgeschäft ausweiten ließen, weisen darauf hin, daß sich die Konkurrenz in den Jahren vor 1914 teilweise selbst aufhob bzw. sich auf einzelne noch oder gerade nicht durch Absprachen geregelte Gebiete oder auf das nicht notwendig in die Abkommen einbezogene Ausland beschränkte. Auch geschah es häufig, daß die Außenvertreter sich nicht an die Absprachen ihrer Stammfirmen hielten, die ihnen die Chance auf Profit reduzierte. . . . Mit wechselnden Erfolgen charakterisierte diese 'Bündnispolitik' das Marktverhalten der Firmen seit der Krise der Jahre 1900—1903. Nach der Lähmung des bekanntgewordenen V. C.-Abkommens scheint die Wirksamkeit der verschiedenen Absprachen nach 1910 leicht nachgelassen zu haben. Als einen 'Zustand der teilweisen Verständigungen', der weder 'schön noch haltbar' sei, charakterisierte Carl Friedrich von Siemens (1912) das Verhältnis seiner Firma zur AEG. Unmittelbar vor Kriegsbeginn trieben AEG und Siemens jedoch wieder eine aufeinander abgestimmte, funktionierende Preisstützungspolitik und beschäftigten sich ernsthaft mit der Gründung eines sogenannten 'Elektrobundes', mit oder ohne Einschluß der übriggebliebenen kleineren Firmen, der nach Art der Vereinigung deutscher Elektrizitätsfirmen, jedoch erfolgreicher als diese die Konkurrenz reduzierende Organisation des Marktes vorantreiben oder vollenden sollte. Diese weit fortgeschrittenen Tendenzen zur Aufhebung der Konkurrenz mündeten bruchlos in die mit Staatshilfe zentral durchgeführte Planung und Bewirtschaftung der Kriegszeit ein, die auch hier keineswegs völlige Umwälzung, sondern rapide Verwirklichung vorhandener Ansätze bedeutete." 63 In der chemischen Industrie, zumindest in der Farbenindustrie, scheint die Krise nicht in dem Maße konzentrationsfördernd gewirkt zu haben, hier gab es auch keinen Produktionsrückgang, und von den drei größten Konzernen, den Kerngesellschaften der späteren IG Farben hatte nur eine einen Rückgang der überdurchschnittlich hohen Dividende zu verzeichnen. (Siehe Tabelle 18) Hier waren es mehr die ständig wirkenden Bedingungen des harten Konkurrenzkampfes zwischen starken Konzernen, von denen keiner den anderen niederkonkurrieren konnte und die auf einem Gebiet produzierten, wo das Tempo des wissenschaftlichen Fortschritts entscheidend war für die Konkurrenzposition, die Forschungskosten hoch waren und die für die Profiterzielung optimale Größe noch längst nicht erreicht war. Wie Emil Kirdorf zuvor im Kohlenbergbau 64 , so wurde Carl Duisberg, Chemiker und Vorstandsmitglied (später Generaldirektor) der Farbenfabriken vorm. Friedrich-Bayer &Co. in Eberfeld, zum Motor der weiteren Monopolisierung in der chemischen Industrie. 1904 verfaßte er eine interne Denkschrift, in der er nach einer genauen Analyse der technischen und ökonomischen Bedingungen die Vereinigung aller Farbenfabriken vorschlug, und zwar sollte dies möglichst in einer Zeit guter Konjunktur geschehen, weil dann die Preise ohnehin hoch seien und die Öffentlichkeit es weniger merke, wenn die Preise danach ständig hochgehalten würden 65 . Von verschiedenen Autoren wird übereinstimmend hervorgehoben, daß Duis63 64 65
Kocka, Jürgen, Unternehmensverwaltung . . a. a. O., S. 331 ff. Vgl. Kuc^ynski, Jürgen, Lage der Arbeiter, Bd. 14; a. a. O., Teil I. Duisberg, Carl, Die Vereinigung der deutschen Farbenfabriken, abgedr. in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 1966, T. 3., S. 238—270 (zitiert hier S. 239). Einleitung und Kommentar dazu: Rotb, Hermann, Die Duisberg-Denkschrift aus dem Jahre 1915, in: ebenda, S. 236f. (Die Denkschrift aus dem Jahre 1915 ist eine erweiterte und veränderte Fassung derjenigen aus dem Jahre 1904. Die Veränderungen sind von Hermann Roth kenntlich gemacht, so daß aus diesem Abdruck auch die Fassung von 1904 zu entnehmen ist.) Vgl. ferner: Sonnemann, Rolf, Die Duisberg-Denkschrift zur Vereinigung der deutschen Farbenfabriken aus dem Jahre 1915, in: ebenda, S. 119—145.
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Monopolisierung
berg zuvor die amerikanische Trustorganisation studiert hatte. In BRD-Firmenfestschriftstil nimmt sich das so aus: „Er absolvierte im Jahre 1903 eine Amerika-Reise, um die Möglichkeiten für ein stärkeres Engagement seiner Firma auf diesem Kontinent zu überprüfen. Tabelle 18 Betriebskapital
und Dividende der sechs größten
Aktiengesellschaft
Badische Anilin- und Sodafabrik Ludwigshafen Farbwerke vorm. Meister, Lucius&Brüning, Hoechst Farbenfabriken vorm. Friedrich Bayer & Co., Elberfeld Aktiengesellschaft für Anilinfarbenfabrikation, Berlin Chemische Fabriken vorm. Weiler ter Meer Farbwerk Mühlheim vorm. A. Leonhardt & Co.
Konzerne der Teerfarbencbemie
1898—1902
Gesamtbetriebskapital 1902 Millionen Mark
Dividende (Prozent) 1898 1899 1900
51,811
24
24
35,752
26
28,059
1901
1902
24
24
26
26
20
20
20
18
18
18
20
22
17,933
15
15
15
15
16
7,481
14
14
9
9
10
3,519
3
5
0
0
4
Quelle: Aus der Denkschrift von Carl Duisberg „Die Vereinigung der deutschen Farbenfabriken" von 1904, in: Bäumler, Ernst, Ein Jahrhundert Chemie, Düsseldorf 1963.
Duisberg hatte schon ein paar Jahre früher die Vereinigten Staaten besucht. Damals war er über alle Maßen impressioniert zurückgekehrt. Diesmal war sein Blick kühler und kritischer. Er notierte viele Schwächen, die sich nur ein Land zu leisten vermochte, das aus dem Vollen schöpfen konnte. Das enge Bündnis zwischen Wissenschaft und Industrie, bei dem die deutsche Rohstoffnot Pate gestanden hatte, schien den Vereinigten Staaten fremd. Duisberg sah aber auch die gewaltigen Leistungen, die in Amerika eine gründlich mechanisierte, rationalisierte und eng verflochtene Wirtschaft ermöglicht hatten. Er erkannte, welch industrielle Kraft hier heranwuchs — und wie wenig dem Deutschland entgegenzusetzen hatte." 66 Etzold faßt die Entwicklung so zusammen: „Der erbitterte Konkurrenzkampf zwischen den sechs bedeutenden Werken der Teerfarbenindustrie, der um die Jahrhundertwende seinen Höhepunkt erreicht hatte, ließ Duisberg zu der Erkenntnis kommen, daß nur durch den vollkommenen Zusammenschluß der Werke das 'große Geschäft' ein für allemal gesichert werden konnte. Auf einer Amerika-Reise im Frühjahr 1903, auf der er sich besonders für die Entwicklung der amerikanischen Trusts, 'diese äußerst wichtige und in Europa überall Aufsehen erregende volkswirtschaftliche Frage', interessierte, nahm er sich vor, 'bei Rückkehr nach Hause eine Denkschrift über diese Trusts in Beziehung auf die deutsche Farbenindustrie zu schreiben' . . . In dieser Denkschrift schlug er vor: Durch die richtige Organisation der Produktion im Rahmen einer Generalkonvention die 'jetzt 66
7
Bäumler, Ernst, Ein Jahrhundert Chemie, Düsseldorf 1963, S. 74. Nussbaum, Wirtschaft
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bestehende Herrschaft der deutschen chemischen Industrie — speziell der Farbenindustrie — über die ganze Welt' zu sichern . . . Die von Duisberg geplante vollkommene Zusammenfassung der deutschen Farbenfabriken scheiterte jedoch zunächst noch an den Sonderinteressen der einzelnen Firmen, die noch nicht bereit waren, durch die Aufgabe ihrer Selbständigkeit den Profit auf allen Gebieten mit anderen Werken zu teilen." 67 Dulsbergs durchdachter Plan, der 1915 zunächst in der sogenannten Kleinen IG und schließlich 1925 in der IG Farben verwirklicht wurde, fand damals bei den beiden stärksten Konzernen keinen Anklang, offensichtlich deshalb, weil er von den schwächsten der Großen Drei ausging (Bayer — Elberfeld), der von diesen Großen Drei die geringste Dividende ausschüttete (vgl. Tabelle 18). Hoechst versuchte sich zunächst auf eigene Faust zu vergrößern, indem es noch 1904 einen Interessengemeinschaftsvertrag mit einer großen Privatfirma einging (Zweiverband). Daraufhin sah sich der größte Konzern, die Badische Anilinund Sodafabrik, veranlaßt, nun doch mit Bayer eine Interessengemeinschaft abzuschließen, der auch die A g f a Berlin beitrat (Dreibund). Nun schloß sich dem Hoechster Zweiverband 1906 eine weitere große Firma an, so daß sich von nun an „Dreibund" und „Dreiverband" gegenüberstanden. Diese teilweise Minderung des Konkurrenzkampfes führte bei allen Großfirmen zu einer enormen Akkumulation, wobei aber offensichtlich Dulsbergs Konzern der Hauptgewinner war, denn er stand 1914 im Gesamtbetriebskapital an der Spitze. Tabelle 19 Betriebskapital und Dividende der vier größten Konzerne der Teerfarbenchemie 1910—1914 Aktiengesellschaften
1. Farbenfabriken vorm. Friedrich Bayer & Co, Leverkusen 2. Badische Anilin- und Sodafabrik, Ludwigshafen 3. Farbwerke, vorm. Meister, Lucius & Brüning, Hoechst 4. Aktiengesellschaft für Anilinfarbenfabrikation, Berlin
Gesamtbetriebskapital 1914 Mill. Mark
Dividende (Prozent) 1910 1911 1912
113,961
25
25
106,498
25
81,736
41,260
1913
1914
28
28
19
25
28
28
19
27
30
30
30
20
20
20
23
23
16
Quelle: Aus der Duisberg-Denkschrift vom Jahre 1915, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 1966 T. 3, S. 238—270, Tabellenanhang (Dort folgen noch fünf weitere Aktiengesellschaften, die hier ausgelassen wurden).
Hier sehen wir ein konkretes Beispiel für den raschen Wechsel des ökonomischen Kräfteverhältnisses, der im Monopolkapitalismus so stark ausgeprägt ist. Duisberg, ein fähiger Wissenschaftler und Organisator, gelangte in die Führungsspitze des deutschen Monopolkapitals, in der er in der Folgezeit die bekannte reaktionäre Rolle spielte. Die Konzentrationspläne Carl Dulsbergs, die sich vor dem ersten Weltkrieg noch nicht durchsetzen konnten, sind immerhin als monopolstrategische Überlegungen jener Zeit 67
Etzold, Heike, Carl Duisberg — vom stellungssuchenden Chemiker an die Spitze der IG Farbenindustrie A G , in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 1966, T. 3, S. 207.
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interessant. Betrieb Dulsberg auch den Zusammenschluß aller Farbenunternehmungen zwecks Ausschaltung des ruinösen Konkurrenzkampfes und für eine „im Interesse der heimischen Verhältnisse liegende Beherrschung des Weltmarktes" 68 , sah er einen Hauptvorteil auch in der Vermeidung von Doppel- und Mehrfachinvestitionen, so war er doch der Ansicht, „die großen Artikel sollen immer in zwei Fabriken gemacht werden" 69 , um „die Individualität, die Idealkonkurrenz und den Ehrgeiz der einzelnen Werke und der darin tätigen Personen als Haupttriebfeder einzuspannen" 70 . Ferner zeigt sein Vorschlag, der monopolistische Zusammenschluß solle in Zeiten guter Konjunktur stattfinden, weil dann die Öffentlichkeit weniger vom monopolistischen Charakter der Preise merke, den Fortschritt im „Lernprozeß" der Unternehmer. Liefmann faßte seine Beobachtungen dieses Prozesses 1918 so zusammen (er bezieht sich auf Kartelle, aber ebensogut kann man seine Beobachtungen auf andere monopolistische Zusammenschlüsse anwenden): „Überhaupt zeigt es sich bei der weiteren Entwicklung immer mehr, daß es den Unternehmern durch Vereinigungen auch möglich gemacht ist, ungünstigen wirtschaftlichen Verhältnissen zuvorzukommen. Sobald das Kartellwesen einmal größere Ausbildung erlangt hatte, das Vorbild mehrerer schon länger kartellierter Industriezweige vorhanden war, ließen es die Unternehmer in ungünstigen Zeiten nicht erst zum Äußersten kommen, sondern suchten den Konkurrenzkampf, ungünstige Lage und Krisen nach Möglichkeit zu verhüten . . . Aber man ging noch weiter. Man erkannte bald, daß auch bei günstiger Konjunktur Kartelle den Unternehmern von großem Nutzen sein können. Im Zustande der freien Konkurrenz scheut sich der einzelne Unternehmer auch in günstigen Zeiten oft, seine Verkaufspreise entsprechend der gesteigerten Nachfrage zu erhöhen, aus Furcht, die Konkurrenten möchten nicht folgen und er könnte dadurch seinen Absatz verlieren. Kartelle ermöglichen es dagegen den Unternehmern, ihre Preise sofort der gestiegenen Nachfrage anzupassen, und infolgedessen ist nicht nur in ungünstigen Zeiten, sondern auch bei günsriger Konjunktur die Tendenz zur Kartellbildung außerordentlich stark. Dies zeigte sich in den Jahren des Aufschwungs 1888 bis 1890, in der Hochkonjunktur von 1895 bis 1900 und ebenso in den günstigen Konjunkturen der Jahre 1904 bis 1907 und 1910 bis 1913." (Hervorhebungen im Original - H. N.) 7 1 Im Bergbau und in der Eisen- und Stahlindustrie führte die Krise von 1900ff. zur Festigung und zum weiteren Ausbau zunächst der horizontalen Monopolisierung (1903 Erneuerung des Syndikatsvertrages des Rheinisch-Westfälischen Kohlensyndikats mit erweiterter Beteiligung, 1904 Gründung des Stahlwerksverbandes). Im Steinkohlenbergbau hatte sich die Syndikatsorganisation in der Krise insofern „bewährt", als sie die Kapitalverluste dieses Zweiges offenbar begrenzt hat. Das Syndikat schränkte die Produktion stark ein, so daß nur ein Preisfall von 8 Prozent eintrat — gegenüber 21 Prozent in der vorhergehenden Krise —, exportierte große Mengen zu Dumpingpreisen ins Ausland, war im ersten Krisenjahr sogar noch in der Lage, die Preise zu steigern, so daß es einen erheblichen Teil der Krisenverluste auf die Abnehmerindustrien und die Haushaltsverbraucher abwälzen konnte, mußte dann aber schließlich 1902 doch mit den Preisen heruntergehen. Ähnlich war es in der Eisen- und Stahlindustrie, bei der aber der schließlich einsetzende Preisfall im Jahre 1902 so stark war, daß er den Preisfall der vorhergehenden Krise übertraf. Zusammenfassend schreibt Kuczy nski: „Das heißt, die Monopole waren im allgemeinen Dulsberg, Carl, a. a. O., S. 239. Ebenda, S. 264. '0 Ebenda.
68
69
71 7*
Ltefmann, Robert, Kartelle und Trusts . . ., a. a. O., S. 34f.
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nicht stark genug, ihre Preispolitik durchzuhalten! Das heißt, wir können gewisse Krisenerschwerungen durch die Existenz von Monopolen feststellen, aber ihre Bedeutung war noch keineswegs groß genug, ihre Macht noch nicht stark genug, um einen ernsteren, etwa deformierenden oder durch ihre Preispolitik enorm verschärfenden (wie etwa 1929/32) Einfluß auf die Krise zu haben." 72 Dennoch muß man sehen, daß der Teilerfolg, den das Monopolkapital erzielt hatte, zur Festigung der Monopolorganisationen in den folgenden Konjunkturaufschwung führte. Ein Stimulus für die weitere Unternehmenskonzentration in diesen Zweigen war die horizontale Organisation, das heißt die Kartell- und Syndikatsorganisation selbst. Die wachsende Arbeitsteilung in der Industrie hatte während des Vorherrschens der freien Konkurrenz dazu geführt, daß jede Stufe im Produktionsprozeß eines Produktes praktisch zum Gegenstand eines selbständigen Industriezweiges wurde. Bei freier Konkurrenz war diese Aufspaltung vorteilhaft, sie verminderte den Kapitalaufwand für jedes einzelne Unternehmen. Das Unternehmen war aber auf Gedeih und Verderb abhängig von den jeweils vorhergehenden und folgenden Produktionsstufen, zum Beispiel in der Reihenfolge: Kohlenzeche, Kokserzeuger, Hüttenwerk, Stahlwerk bzw. Gießerei, Walzwerk, Maschinenfabrik. Bei horizontaler Monopolisierung, in der in jeder dieser Produktionsstufen bis hin zu den Walzwerken ein Kartell oder Syndikat besteht — und dies war die Situation um die Jahrhundertwende —, konnte die Ausdehnung von Unternehmen durch die Kartelle der anderen Produktionsstufen — anders als bei freier Konkurrenz — absichtlich verhindert werden. Deshalb gingen alle großen Unternehmungen imBergbau und in der Eisen- und Stahlindustrie, besonders rasch nach der Jahrhundertwende, dazu über, sich Unternehmen der vorhergehenden oder nachfolgenden Produktionsstufen anzugliedern. Es entwickelte sich immer stärker die vertikale Konzentration, die vertikale Kombination der Produktionsstufen in großen Konzernen. Die Hüttenwerke kauften Kohlezechen auf, die Bergbauunternehmen gliederten sich Stahlwerke an, Stahlwerke erwarben Hüttenwerke, Eisenerzgruben und Maschinenfabriken. In der Firmengeschichte von Hoesch wird dieser Prozeß aus Unternehmersicht so geschildert (Hoesch war zunächst ein „reines" Stahlwerksunternehmen): „1893/94 hatten die Konverter von Hoesch 200000 t Roheisen verarbeitet. Diese Mengen lieferte der Roheisenverband, eine Vereinigung von Werken, die zum Teil ihr Roheisen in eigenen Stahl- und Walzwerken verarbeiteten, und deshalb — um den Wettbewerb solcher Unternehmen zu erschweren, die nur Stahl herstellten — alles daran setzten, den Roheisenpreis hochzuhalten. Immer schwieriger wurde es deshalb für Hoesch, leistungsfähig zu bleiben, immer schwieriger gestalteten sich die Verhandlungen, bis es keinen anderen Ausweg mehr gab, als sich entweder direkt mit einem Hochofenwerk zu vereinigen, das die erforderliche Menge Roheisen zu liefern in der Lage war und das dem Verband nicht angehörte, oder selbst eine Hochofenanlage zu bauen . . .", was dann auch geschah. „Da man sich aber nun schon für den Bau der Hochöfen entschlossen hatte, geht man gleich noch einen Schritt weiter und b a u t . . . in einem Zuge eine eigene Kokerei dazu, um auch in der Versorgung mit Koks unabhängig zu sein . . . Nun galt es, diese Hochöfen in Glut zu halten und ihre Beschickung zu sichern. Beschickt aber wurden sie einmal mit Erz und zum anderen mit Koks, und da waren nun ebenfalls Schwierigkeiten aufgetreten." Zur Koksherstellung benötigte man ja Kohle. „Die Brennstoffversorgung wollte nicht mehr klappen. Auch hier war man — wie früher einmal vom Roheisenverband — von einem Syndikat abhängig und damit von 'Bedingungen'. Das Werk aber hatte nunmehr
72
Kuc^jnski,
Jürgen, Lage der Arbeiter, Bd. 12: a. a. O., S. 114.
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eine Größe erreicht, die es ihm erlaubte, nicht mehr auf jede Bedingung eingehen zu müssen. Wie weise der Entschluß war, den Kauf eigener Kohlenzechen einzuleiten und sich auch im Kohlenbezug unabhängig zu machen, zeigte bereits der Winter 1898/99, als man gezwungen war, die Hochöfen zu dämpfen — die Kohle war knapp geworden. 1899 beschloß deshalb der Aufsichtsrat, die Gewerkschaft 'Vereinigte Westphalia' mit den beiden Zechen Kaiserstuhl I und II zu erwerben." . . .„Springorum wird 1905 Generaldirektor des Konzerns. Die ersten Schritte zum Verbundunternehmen, die Errichtung von Hochöfen und der Erwerb eigener Kohlenzechen, sind getan, die Rohstoffbelieferung ist weiter ausgebaut worden. Man hat 1896 Anteile an der Eisenstein-Konzession 'Reichsland' bei Bollingen bei Lothringen erworben und beteiligt sich 1906 an der Erzbergbaugesellschaft Jarny bei Longwy, wodurch der Bezug von Minette-Erzen gesichert ist. Später, 1914, wird noch die Gewerkschaft 'Eisenzecher-Zug' hinzuerworben . . . Etwa zur selben Zeit wurden auch Beteiligungen an Erzvorkommen in Brasilien und Schweden übernommen. Mit der Hüttenkokerei hat man schon 1896 die Erzeugung von Teer, Ammoniak und Benzol aufgenommen. Die Benzolfabrik von Hoesch war die erste der Welt. Aber ist man wirklich krisenfest? Es fehlt an Verarbeitungsbetrieben. Nicht, daß man sie aus dem Auge verloren hätte: Der Sicherung der Rohstoffbasen hatte bisher alle Kraft gedient. Jetzt aber ist der nächste Schritt zum Verbundunternehmen zu tun." Und so gliedert sich Hoesch 1907 ein Puddel- und Walzwerk, die „Limburger Fabrik- und Hüttenverein AG" an, kauft 1911 die Maschinenfabrik „Deutschland" und 1912 ein weiteres Werk, das Kleineisenzeug herstellt, später noch mehrere Verarbeitungsbetriebe derselben Branche (darunter einen „der größten Nietenhersteller Europas") und gründet mit der Dortmunder Eisenhandlung GmbH eine eigene Vertriebsorganisation. 73 Ganz ähnlich verlief der Prozeß der vertikalen Konzentration in der gesamten Schwerindustrie. Diese vertikalen Konzerne aber waren nun, soweit sie Kohlen, Roheisen, Stahl usw. über den Eigenverbrauch hinaus erzeugten und auf dem Markt absetzten, gleichzeitig Mitglieder der horizontalen Kartelle und Syndikate für diese Produkte. Die heftigen Quotenkämpfe innerhalb der Kartelle, bedingt durch den raschen Wechsel der Kräfteverhältnisse zwischen den sich in unterschiedlichem Tempo vergrößernden Konzernen änderten nichts an der Tatsache, daß die Kartelle und Syndikate dennoch zu einer engen Verklammerung der riesigen Montankonzerne beitrugen, die durch zahlreiche Fälle von Personalunion noch zusätzlich verstärkt wurde. Es bildete sich so ein enormer Machtblock, beherrscht von einer eng verflochtenen Dynastengruppe von Großindustriellen, die gemeinsam das Monopol der Schwer- und Rüstungsindustrie innehatten und in der Personen wie Emil und Adolf Kirdorf, Friedrich Alfred Krupp, Gustav Krupp von Bohlen und Halbach, Hugo Stinnes, August Thyssen, Friedrich Springorum führende Positionen einnahmen. Einerseits führte der Rohstoffhunger der Montankonzerne diese mächtige Gruppe auf eine besonders aggressive und annektionistisch orientierte politische Linie, andererseits war die Mehrzahl von ihnen traditionell einem besonders harten „Herr-im-Hause-Standpunkt" gegenüber den Arbeitern zugeneigt, und schließlich waren sie auch durch den hohen Anteil an Rüstungsproduktion auf besondere Weise mit dem preußisch-deutschen Militarismus verknüpft. Damit sind die Hauptlinien des Monopolisierungsprozesses in den wichtigsten Zweigen der Industrie vor 1914 umrissen. Nochmals sei betont, daß trotz des raschen Fortschritts der Monopolisierung in dieser Zeit ein starker nichtmonopolistischer Sektor in der Wirt73
Mönnicb, Horst, Aufbruch ins Revier — Aufbruch nach Europa. Hoesch 1871—1971, München S. 145f„ 195 ff.
1971,
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ökonomische Entwicklung zwischen 1871 und 1914
Schaft erhalten blieb 74 , der nicht nur die Kleinproduzenten in Landwirtschaft und Industrie/Handwerk und die Kleingewerbetreibenden in den Dienstleistungsbereichen umfaßte, sondern auch kapitalistische Unternehmen vieler Zweige. Sowohl die Kleinproduktion als auch der kapitalistische nichtmonopolistische Sektor sind in den monopolkapitalistischen Ländern bis heute nicht verschwunden 75 — jedenfalls als Eigentums- und Produktionsformen gesehen. Das Fortexistieren dieser Sektoren ist aber das Ergebnis einer Vielzahl von in sich gegenläufigen Untergangs- und Neubildungsvorgängen. Einige Überlegungen wären noch an die Tatsache zu knüpfen, daß die Kartellform des Monopols, die ihre größte Bedeutung in der Frühzeit des Monopolkapitalismus besaß, in Deutschland wie auch im übrigen Kontinentaleuropa besondere Verbreitung fand. 1. Da die Kartellform unter bestimmten Bedingungen die Monopolerrichtung auch in einigen kleineren, weniger konzentrierten Branchen ermöglichte, band sie auch entsprechende Gruppen von mittleren Unternehmern an das große Monopolkapital, bzw. ließ diese Unternehmer am Monopolprofit teilhaben. Zwar war diese Art von Kartellen häufig noch sehr unstabil, Monopolprofit nur vorübergehend zu realisieren, aber die Hoffnung, aus „der großen Kartellschüssel mitessen zu können", war doch stark ausgeprägt. 2. Das Preis- und Produktionskartell ist diejenige Monopolform, in der sich die Tendenz zur Hemmung der Produktivkräfte am stärksten geltend machen kann: Unrentable Unternehmen und Produktionsformen können vor dem „Auskonkurrieren" bewahrt bleiben. Allerdings muß das nicht für alle Kartellformen gelten, zum Beispiel nicht für die nach dem zweiten Weltkrieg entwickelten „Rationalisierungskartelle". J . B. Kotschevrin und W. B. Ramses führen nun das strukturelle Zurückbleiben der europäischen monopolkapitalistischen Ökonomik gegenüber den USA sehr stark auf die hier lange Zeit vorherrschende Kartellform zurück. „In Europa begünstigten die meisten Staaten vor dem zweiten Weltkrieg die verschiedenen Kartellvereinigungen. Diese Form der Monopolisierung, die den Anschein erweckt, als würden die kleine und mittlere Produktion vor dem Angriff der Monopole geschützt, hemmte für lange Zeit den technischen Fortschritt und verstärkte die strukturelle Rückständigkeit der europäischen Wirtschaft. Nicht von ungefähr ging Ende der fünfziger und Anfang der sechziger Jahre die neue Gesetzgebung in einigen westeuropäischen Ländern (England, BRD) dazu über, Kartellabkommen und verschiedene Formen von Absprachen, die den technischen Fortschritt blockierten, zu verbieten." 76 Diese Einschätzung ist vielleicht etwas zu pauschal — die Motive für den Erlaß von Antikartellgesetzen war sehr viel komplexerer Natur, und politische Erwägungen hatten hierbei starkes Gewicht. 77 Aber es ist nicht zu übersehen, daß die US-amerikanische Frühform der Zweigmonopolisierung, die Trustbildung — aus der sich sehr viel schneller und organischer die neuzeitlichen Konzerne entwickeln konnten —, schlagartig Kapitalballungen größten Ausmaßes schuf, die diejenigen im imperialistischen Deutschland weit übertreffen und die Konzentration und Rationalisierung der Produktion schneller vorantreiben konnten als etwa die deutschen Montankartelle. So betrug das Kapital des „Stahltrusts", der United States Steel Corporation, vor dem ersten Weltkrieg rund 6 Milliarden Mark und die höchste Arbeiterzahl in den Jahren zwischen 1909 bis 1915 74 75 76 77
Vgl. Nussbaum, Helga, Unternehmer gegen Monopole, a. a. O. Vgl. Politische Ökonomie des beutigen Monopolkapitalismus, a. a. O., Kap. XI. Ebenda, S. 266. Vgl. Nussbaum, Helga, Bürgerliche Monopolgegnerschaft, a. a. O.; Roth, Hermann, Die Kartellverordnung vom November 1923 und ihre Bonner Variante, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 1962, T. 4, S. 11 ff.
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280000. 78 Das größte Unternehmen der deutschen Montanindustrie, die Friedrich Krupp AG, hatte dagegen 1912 rund 70000 Beschäftigte, die Gelsenkirchener Bergwerksgesellschaft rund 50000. 79 Dennoch wäre es sicherlich auch wieder falsch, die Kartelle, besonders in der Zeit vor 1914, zu einseitig als Bremsfaktoren für die Konzentration zu sehen. Es ist hier gerade in bezug auf die deutsche Montanindustrie nachgewiesen worden, in welchem Maße die Kartelle die vertikale Kombination provoziert und gefördert haben und damit nicht zum Hemmnis, sondern zum Promotor der strukturellen Weiterentwicklung wurden. Infolge der relativ frühen und auch festen Kartellorganisation wurde es der deutschen Schwerindustrie möglich, teilweise durch Schutzzölle wirksam unterstützt (Eisen und Stahl, nicht Kohle), mit Hilfe des Dumpings weit auf den europäischen Märkten einschließlich Großbritanniens vorzudringen und zum Beispiel den britischen Kohlenbergbau nach dem ersten Weltkrieg in schwere Bedrängnis zu bringen. Von den neunziger Jahren ab verstärkte sich nun auch die Verschmelzung von industriellem Kapital und Bankkapital zum Finanzkapital, die schon in der Übergangsperiode zum Monopolkapitalismus begonnen hatte. Begünstigt und beschleunigt wurde dieser Prozeß durch die Spezifik des deutschen Bankwesens. Die nach dem Vorbild des französischen „credit mobilier" gegründeten deutschen Universalbanken betrieben alle traditionellen Bankgeschäfte und darüber hinaus Industriefinanzierung durch langfristige Kredite und Beteiligungen. In Frankreich gab es nach schweren Krisen in den siebziger und achtziger Jahren eine Rückentwicklung dieses Banktyps: Die meisten großen Aktienbanken stellten sich auf das reine Geldmarktgeschäft um und betrieben keine Industriefinanzierung mehr. 80 Die Aktienbanken in England, die „joint stock banks", „beschränkten ihre Aktivgeschäfte auf Wechseldiskontierungen, Gewährung von kurzfristigen Krediten, Lombardierungen und auf den Ankauf bester fest verzinslicher Wertpapiere: Langfristige Kredite wurden nicht gewährt." 8 1 Die Struktur des englischen — also im wesentlichen des Londoner — Bankwesens entsprach sicher der Rolle Londons als Welthandels- und Bankplatz, indem es der internationalen Kundschaft größte Sicherheit garantierte. Für die englische Industrie aber war es schwierig, langfristige Kredite zu bekommen, weshalb sie stärker auf Selbstfinanzierung angewiesen war als die deutsche (was möglicherweise auch zur Verlangsamung des industriellen Wachstums des englischen Imperialismus beigetragen hat). Umgekehrt entsprach die Universalbank in Deutschland, die zum Beispiel die kurzfristigen Einlagen der Depositenkundschaft in langfristige Kredite und Beteiligungen für die Industrie „verwandelte", was größeres Risiko für die Kundschaft und sinkende Liquidität der Banken zur Folge hatte, sicherlich mehr den Bedürfnissen des deutschen Kapitalismus als Spätkömmling, indem sämtliches potentielle Kapital mobilisiert und zentralisiert wurde, und zwar hauptsächlich für die Entwicklung der Industrie. Hierdurch wurde aber — neben dem das industrielle Wachstum fördernden Effekt — vor allem die enge Verflechtung, ja Verschmelzung von Industrie- und Bankkapital zum Finanzkapital beschleunigt. Durch die enge Verflechtung beider Bereiche kam es zu einer wechselseitigen Stimulierung der Konzentration und der Monopolisierung, wobei andererseits wiederum durch den auf höherer Stufenleiter fortdauernden Konkurrenzkampf (Konkurrenzkampf großer Konzerne) die finanzkapitalistische Verschmelzung gefördert wurde: Die IndustrieLiefmann, Robert, Kartelle und Trusts . . ., a. a. O., S. 175. Ebenda, S. 176. 80 Krasensky, Hans, Kurzgefaßte Bankgeschichte, Stuttgart 1968, S. 51 f. = Sammlung Poeschel. Betriebswirtschaftliche Studienbücher. Reihe III, Betriebslehren. 81 Ebenda, S. 89. 78
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konzerne konkurrierten um Bankverbindungen, die Bankkonzerne um Kapitalanlagemöglichkeiten. Die Verschmelzung ging aber nicht so vor sich, daß sich ein Industriekonzern nur mit einer Bank verband oder daß eine Bank ihr Finanzierungsgeschäft auf einen Industriekonzern konzentrierte. Die Banken waren aus Gründen der Risikoverteilung bestrebt, ihre Industrieverbindungen weit zu fächern, während die Industriekonzerne bestrebt waren, mit mehreren Banken Verbindungen zu unterhalten, um die Abhängigkeit nicht zu stark werden zu lassen. So hatte zum Beispiel die Siemens & Halske AG 1900 zu folgenden Banken und privaten Bankhäusern Verbindungen 8 2 : 1. Deutsche Bank 2. Bank für Handel und Industrie 3. Berliner Handelsgesellschaft 4. Direktion der Discontogesellschaft 5. Dresdner Bank 6. Mitteldeutsche Kreditbank 7. S. Bleichröder 8. Delbrück, Leo & Co. 9. Jakob S. H. Stern, Frankfurt a. M. 10. L. Speyer-Ellissen, Frankfurt a. M. 11. Bergisch-Märkische Bank. Die AEG hatte zur gleichen Zeit folgende Verbindungen : 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.
Berliner Handelsgesellschaft Deutsche Bank Nationalbank für Deutschland Delbrück, Leo & Co. Hardy & Co. Gebr. Sulzbach, Frankfurt a. M. E. Heimann, Breslau Rheinische Disconto-Gesellschaft.
Ähnlich wie das Kartellwesen in der Schwerindustrie die konkurrierenden Konzerne eines Industriebereichs miteinander verklammerte, so verklammerten die netzartigen Bankverflechtungen die gesamte Industrie — und insbesondere die konzernierte Großindustrie, weil hier die Bankbeteiligungen am höchsten waren. Der Konzentrationsprozeß im Bankwesen ging in folgenden Etappen vor sich. Bis 1895 bauten die großen Aktienbanken ihre Position in Berlin voll aus, einige Großbanken aus der „Provinz" korinten noch in Berlin Fuß fassen. Dann begann die Expansion der Großbanken in die „Provinz", die sich auf dem Wege der Filialen- und Depositenkasseneröffnung, des Aufkaufs kleinerer Bankhäuser, der Beteiligung an mittleren Provinzaktienbanken oder — seltener — deren Angliederung vollzog. Gleichzeitig verstärkte sich die auf ähnliche Art vonstatten gehende Expansion der mittleren und größeren Provinzaktienbanken. Die Zahl der Filialen der Berliner Großbanken stieg also erst nach 1895 an, und zwar bis 1900 noch langsam, dann aber in steigendem Tempo. Die Zahlen der Spalte „Ständige Beteiligung an deutschen Aktienbanken" sind ein Gradmesser für das Ausmaß der Konzern82
Rießer, Jacob, Zur Entwicklungsgeschichte der deutschen Großbanken mit besonderer Rücksicht auf die Konzentrationsbestrebungen, 2. Aufl., Jena 1906, S. 84.
91
Monopolisierung
Tabelle 10 Filialen und Beteiligungen Berliner Großbanken Die 8 Berliner G r o ß b a n k e n 1 hatten: Ende des
Niederlassungen
Depositen- und
Ständige Beteiligungen an
Jahres
(Sitz und Filialen)
Wechselkassen
deutschen Aktienbanken 2
im Deutschen Reich
im Deutschen Reich
1895
1886
16 18
23
1900
25
53
9
1905
46
149
34
1908
69
264
97
1
2
Darmstädter Bank, Berliner Handelsgesellschaft, Commerz- und Discontobank, Deutsche Bank, Direktion der Disconto-Gesellschaft, Dresdner Bank, Nationalbank f ü r Deutschland, A . Schaafhausen'scher Bankverein.
2
Die deutschen überseeischen Banken und die Hypotheken- und Maklerbanken sind nicht berücksichtigt.
Quelle: Rießer,
Jacob,
Die deutschen Großbanken und ihre Konzentration, 3. A u f l . , Jena 1 9 1 0 , S. 693.
bildung der Großbanken innerhalb des Bankwesens. Wir sehen, daß diese erst nach 1900 stärker einsetzte, dann aber rasch fortschritt. Durch die Spezifik des vom deutschen Kapitalismus entwickelten Bankwesens wurde auch, und zwar von der Finanzseite her, die Verflechtung von Industriemonopolen und Staat gefördert. Außerdem mußten die eng mit der Industrie verflochtenen Großbanken ein Interesse daran haben — ein über das reine Geschäftsinteresse als Bank hinausgehendes —, auch den Kapitalexport in Form von Industrieanlagen, Gründung von Tochtergesellschaften im Ausland usw. zu fördern. Mehr noch, sie mußten sogar ein Interesse daran haben, den Warenexport der deutschen Industriemonopole zu fördern. Die Möglichkeiten zur Koordinierung in der Ausweitung des Warenexports und des Kapitalexports und staatlicher Maßnahmen verliehen dem Expansionsdrang des deutschen Imperialismus eine besondere Stoßkraft. Diese besondere „Organisiertheit" des deutschen Monopolkapitalismus ist zweifellos als eine der Komponenten seiner besonderen Aggressivität zu betrachten. Natürlich darf man andererseits nicht übersehen, daß der verstärkte Drang zur ökonomischen Expansion kein Spezifikum des deutschen Imperialismus war oder ist, sondern eine allgemeine Gesetzmäßigkeit des Monopolkapitalismus. Durch die Verschärfung der monopolistischen Konkurrenz wirkte auch der ständige Zwang zu erweiterter Reproduktion mit verstärkter Kraft. Die erweiterte Reproduktion der riesigen Kapitalassoziationen vollzog sich auf einer viel höheren Stufenleiter als die der einzelnen Privatkapitale, wodurch der dem Kapital überhaupt innewohnende Expansionsdrang neue Ausmaße, stärkere Stoßkraft und einen neuen Inhalt (zum Beispiel Kapitalexport in Form von Direktinvestitionen) erhielt. Das auf dem Weltmarkt zusammentreffende verstärkte Expansionsstreben der „nationalen" Monopolkapitale muß zur Bildung multinationaler Monopole führen. Dieser sehr langwierige Prozeß begann vor 1914, konnte aber die Struktur der Weltwirtschaftsbeziehungen damals noch nicht entscheidend prägen, da die Zerfallstendenzen bei multinationalen Monopolen zunächst noch stärker waren als bei „nationalen". War dieses „privatmonopolistische" Mittel zur Regulierung des Konkurrenzkampfes auf dem Weltmarkt, die monopolistische Vereinigung mit dem fremden Konkurrenten, vorerst nur
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ökonomische Entwicklung zwischen 1871 und 1914
unter besonders günstigen Umständen realisierbar, so blieb als Alternative die stärkere Einschaltung und Ausnutzung der „eigenen" Staatsmacht zum Schutz und zur Förderung zur eigenen Expansion und zur Schwächung der fremden monopolistischen Konkurrenten. Der Umschlag der freien Konkurrenz zum Monopol zeigte sich daher auf dem Gebiet der internationalen Wirtschaftsbeziehungen zunächst nicht vorwiegend in der Bildung multinationaler Monopole, sondern hauptsächlich in der zunehmenden monopolistischen Abschließung der einzelnen Volkswirtschaften, in der Ausbildung „monopolistischer Prinzipien" in der Außenwirtschafts- und Außenpolitik, wie Lenin es formulierte, mit gleichlaufender, zunehmender Kooperation der Monopol- und Staatsmacht.
KAPITEL 5
Zur Rolle des Staates in der Ökonomik
In der bisherigen Darstellung der Haupttendenzen der ökonomischen Entwicklung ist zwar auf die Problematik der Staatstätigkeit gelegentlich hingewiesen, im großen und ganzen jedoch sind mehr die spontanen Züge der Entwicklung in den Vordergrund gerückt worden. Die reale Entwicklung, die sich aus zahllosen Wechselwirkungen, eben auch solchen zwischen spontanen ökonomischen Tendenzen und staatlichen Lenkungsmaßnahmen zusammensetzt, mußte zum Zwecke der Analyse zunächst einmal „auseinandergenommen" werden. Dies Vorgehen hat gewiß seine Nachteile, weil der Wechselwirkungsprozeß nicht Schritt für Schritt verfolgt werden kann — zumindest nicht für die Gesamtvolkswirtschaft, für einzelne Sektoren soll dies noch geschehen — läßt sich aber bei der Behandlung eines so relativ langen Zeitraumes schwerlich umgehen. Außerdem muß hier gleich anfangs deutlich betont werden, daß es außerordentlich schwierig ist, das Ausmaß der Wechselwirkung zwischen spontanen ökonomischen Prozessen und staatlichen wirtschaftspolitischen Maßnahmen exakt zu bestimmen, bzw. zu erkennen, welche Maßnahmen welche Folgen hatten oder welche Folgen auf welche Ursachen zurückzuführen sind. Da die Prozesse und Erscheinungen der Wirklichkeit durch ein mehrdimensionales Netz dialektischer Wechselwirkungen verknüpft sind — ebensogut könnte man sagen, durch ein mehrdimensionales Netz von Widersprüchen —, ist es schon theoretisch sehr schwierig, „Ursache" und „Folge" klar voneinander zu trennen, und in der empirischen Erforschung gesellschaftlicher Massenprozesse der Vergangenheit ist das ganz besonders schwierig. Das mehrdimensionale Wechselwirkungsnetz, das zu einem bestimmten Zeitpunkt bestanden hat, läßt sich in den seltensten Fällen vollständig rekonstruieren, meist können nur bestimmte Ausschnitte erfaßt werden. In der BRD sind in den letzten Jahren von W. G. Hoffman und seinen Schülern mehrere Arbeiten erschienen, die auf der Grundlage umfangreichen statistischen Materials historische Wachstumsprozesse mathematisch zu analysieren versuchen, mit dem erklärten Ziel, zur Herausbildung langfristiger Perspektiven für die Wirtschaftspolitik der BRD beizutragen.1 Bevorzugt wurde für die Analyse der Zeitraum 1850 bzw. 1870 bis 1913, und zwar deshalb, weil sich hier die Wachstumsprozesse relativ ungestört durch außerökonomische Faktoren vollzogen hätten! Eine solche Vorstellung ist natürlich eine Fiktion. Sie 1
Untersuchungen %um Wachstum der deutseben Wirtschaft, hg. v. Walther G. Hoffmann, Tübingen 1971 = Schriften zur angewandten Wirtschaftsforschung, 26. (Siehe auch: Gahlen, Bernhard, Die Uberprüfung wachstumstheoretischer Hypothesen für Deutschland (1850—1913), Tübingen 1968=Schriften zur angewandten Wirtschaftsforschung, hg. v. Walther G. Hoffmann, 19. — Knorring, Ekkehard von, Die Berechnung makroökonomischer Konsumfunktionen für Deutschland 1851—1913, Tübingen 1970= Schriften zur angewandten Wirtschaftsforschung, hg. v. Walther G. Hoffmann, 29.)
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Zur Rolle des Staates in der Ökonomik
weist aber darauf hin, wie wenig vielerorts über das eigentliche Funktionieren, die inneren und äußeren Mechanismen des Reproduktionsprozesses im damaligen Zeitraum bekannt ist. Die wirtschaftliche Tätigkeit des Staates hat im hier behandelten Zeitraum in den politischen Kämpfen und publizistischen und wissenschaftlichen Diskussionen eine so große Rolle gespielt, daß es einem schwer fällt zu beurteilen, ob sich diese Rolle in den folgenden Perioden der Geschichte des imperialistischen Deutschlands sich verstärkt hat. Selbstverständlich haben sich die Schwerpunkte des Kampfes und der Diskussion verschoben — und selbstverständlich ist das Ausmaß des Kampfes und der Diskussion kein Gradmesser für das Ausmaß des staatlichen Einflusses auf den Reproduktionsprozeß. Es sei gestattet, die Meinung eines „unparteiischen" zeitgenössischen Wissenschaftlers hier etwas ausführlicher (wenn auch nur auszugsweise) widerzugeben, und zwar die des Geheimen Oberregierungsrats Prof. Dr. W. Lexis, die aus der 3. Auflage von 1911 eines damals bekannten Standardwerkes, des „Wörterbuchs der Volkswirtschaft", stammt: „Im ganzen macht die aktive Wirtschaftspolitik der modernen Staaten den Eindruck des Experimentierens; es erklärt sich dies schon aus dem Widerstreit der Interessen, von denen bald diese, bald jene das Übergewicht erlangen, aber wohl auch aus der Natur der Sache, da abstrakte Prinzipien für die praktische Volkswirtschaft überhaupt nicht entscheidend sein können, sondern ein nach den wechselnden Umständen und Bedingungen der allgemeinen wirtschaftlichen Lage sich richtender Opportunismus stets zu empfehlen sein wird. Das Ziel wäre, die staatlichen Maßregeln stets so einzurichten, daß sie unter allen Umständen die größtmögliche Förderung der Interessen der Gesamtheit bewirken. Aber die Ausführung dieses Programms stößt auf außerordentliche Schwierigkeiten, denn bei der unübersehbaren Verwickelung der Wirkungen und Gegenwirkungen in der Volkswirtschaft läßt sich der wirkliche Einfluß irgendeines staatlichen Eingreifens nie mit Sicherheit feststellen, und ein Fehlgriff ist um so leichter möglich, je mehr ein Einzelinteresse, das sich mit lauter Stimme für identisch mit dem Gesamtinteresse erklärt, seine Macht geltend zu machen weiß." (Der Professor fährt unmittelbar anschließend fort: „Der Wissenschaft fällt die Aufgabe zu, in diesem Kampfe der wirtschaftlichen Parteien die Sache des Gesamtinteresses zu vertreten, und sie darf sich dabei nicht irre machen lassen, wenn sie bei keiner Partei Dank, sondern nur Verkennung und Anfeindung findet.") 2 Wenn Lexis feststellte, die Wirtschaftspolitik der „modernen Staaten" mache den Eindruck des Experimentierens, so kann man vom heutigen Gesichtspunkt aus sicher sagen, daß dieses Stadium des Experimentierens in den imperialistischen Ländern heute keineswegs beendet ist, und nicht beendet sein kann, auch wenn für bestimmte Teilprozesse Regelungslösungen gefunden worden sind. Bevor nun die Rolle des Staates in der Ökonomik jenes Zeitraumes in einigen Sektoren konkret untersucht wird, sind noch einige allgemeine Bemerkungen vorauszuschicken. 2
Lexis, W., Artikel:
„Staat (in volkswirtschaftlicher Beziehung)", in: Wörterbuch der Volkswirtschaft in zwei Bänden, hg. v. Ludwig Elster, 3., völlig umgearb. Aufl., Bd. 2, Jena 1911, S. 914.
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Staatliche Struktur zwischen 1871 und 1914
1. Allgemeine Entwicklungstendenzen der staatlichen Struktur zwischen 1870/71 u n d 1914 und der Rolle des Staates in der Ö k o n o m i k In Deutschland erfolgte die weitgehende Freisetzung der ökonomischen Haupttriebkraft des Kapitalismus, der freien Konkurrenz, relativ spät. Sie begann sich zu einer Zeit zu entfalten, die durch qualitative Sprünge in der internationalen Entwicklung der Produktivkräfte sowie dadurch gekennzeichnet war, daß sich der kapitalistische Weltmarkt voll herausgebildet hatte, der durch Entfaltung der internationalen Arbeitsteilung und Konkurrenz zusätzlich Stimuli schuf. Des weiteren spielten außerökonomische Faktoren eine große Rolle. Der qualitative Sprung in der staatlichen Entwicklung Deutschlands, die Bildung des Deutschen Reiches, wirkte nicht nur deshalb stimulierend, weil nunmehr die staatliche Einheit erreicht war, die sich auch in den außenwirtschaftlichen Beziehungen auswirkte, sondern gerade auch dadurch, daß er einen Umschlag in der ökonomischen Funktion „des Staates" beinhaltete. Die staatliche Reglementierung des kapitalistischen Reproduktionsprozesses, die zum Beispiel die preußische Wirtschaftspolitik mit ihrer eigenartigen Mischung aus Gewerbeförderung und — zum Beispiel im "Bankwesen — Akkumulationshemmung kennzeichnete, wurde ersetzt — wenn auch nicht vollkommen, und wenn auch nicht für allzu lange Zeit — durch die Schaffung und Garantie günstiger „Rahmenbedingungen" für die kapitalistische Produktion durch den Staat: Vereinheitlichung des Gewerberechts, das heißt durchgängige Gewerbefreiheit in allen deutschen Territorien, Freizügigkeit der Arbeitskräfte, Wegfall des Konzessionszwanges für Aktiengesellschaften, Herstellung günstiger Bedingungen für die Ausweitung des kapitalistischen Kreditsystems, Gründung der Reichsbank. Welchen Einfluß die Entfaltung des kapitalistischen Kredit- und Aktienwesens auf die Produktionsausdehnung und -konzentration ausübt, hat Marx nachgewiesen. Als Gradmesser der Entfaltung dieser Triebkraft nach 1870 kann der Index dienen, den Hoffmann für die Tätigkeit („Produktion") der Kreditbanken errechnet hat. Tabelle 11 „Produktion" 1850 1870
der Kreditbanken 0,8 2,3
1850 bis 1910 1890 1910
(1913=100) 15,5 86,8
Quelle: Hoff mann, Wallber G., Das Wachstum der deutschen Wirtschaft seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, Berlin/Heidelberg/New York 1965, S. 437.
Während sich also die „Produktion" der Kreditbanken in den zwanzig Jahren vor 1870 verdreifachte, versiebenfachte sie sich zwischen 1870 und 1890. Zu der „Schaffung günstiger Rahmenbedingungen" müßten aber unter anderem auch die staatlichen Bildungsausgaben gerechnet werden. Es kann hier zwar kein Vergleich mit entsprechenden staatlichen Leistungen in den anderen kapitalistischen Ländern angestellt werden 3 , wohl aber ein Ver3
Zur Illustration nur ein Einzelvergleich: In England gab es 1865 bei einer Bevölkerung von 20 Millionen ungefähr 3500 Studenten, in Preußen bei einer Bevölkerung von 18,5 Millionen 6362 Studenten ( M u s g r a v e , P. W., Technical Change, the Labour Force and Education. A study of the British and German iron/steel industries 1860-1964, Oxford [usw.] 1967, S. 33).
96
Zur Rolle des Staates in det Ökonomik
gleich mit denjenigen während späterer Zeiträume im kapitalistischen Deutschland. (Siehe Tabelle 22) Tabelle 11 Öffentliche
Ausgaben für Schulen und Hochschulen in laufenden Preisen 1860 bis 19591 Prozentanteil an den: Ausgaben für Verwaltung und öffentl. Gebäude
gesamtstaatl. Ausgaben
am Volkseinkommen2
1860/64 1865/69 1870/74 1875/79 1880/84 1885/89 1890/94 1895/99 1900/04 1905/09 1910/13
27,6 29,6 28,8 31,2 34,3 34,9 34,5 34,4 37,0 34,9 37,3
18,1 15,4 13,1 17,6 20,8 19,9 18,9 21,0 23,1 21,8 23,6
1,1 1,1 1,1 1,4 1,7 1,7 1,7 1,8 2,2 2,2 2,6
1925/29 1930/34 1935/39
27,5 24,8 24,8
23,9 22,1 9,2
3,3 3,6
1950/54 1955/59
25,1 27,7
16,6 20,3
3,5 2,8
Periode
-
l Ab 1950: BRD öffentliche Ausgaben für Schul- und Forschungszwecke; Volkseinkommen hier: Nettosozialprodukt zu Marktpreisen.
2
Quelle: Hoffmann, Walther G., Das Wachstum der deutschen Wirtschaft seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, Berlin/Heidelberg/New York 1965, S. 29, 149.
Wie sich zeigt, war der Anteil der Bildungsausgaben an den gesamtstaadichen Ausgaben (in die auch die Ausgaben für militärische Zwecke einbegriffen sind) im wilhelminischen Deutschland höher als in der BRD der Jahre 1950 bis 1959. Die staatlichen Bildungsausgaben wuchsen vor 1913 schneller (jährlich durchschnittlich 3,8 Prozent) als das Volkseinkommen (jährlich durchschnittlich 3,2 Prozent), während es in der BRD 1950 bis 1959 umgekehrt war. Die staatliche Einheit wiederum schuf günstige Bedingungen für den Außenhandel, was besondere Bedeutung erhielt angesichts der Tatsache, daß im Prozeß der Herausbildung des kapitalistischen Weltmarktes die zwischenstaatlichen Handelsverträge seit der Mitte des 19. Jahrhunderts immer größeres Gewicht erlangten. Kam es so mit Hilfe des staatlichen Überbaus zu einer weitgehenden Freisetzung der inneren Triebkräfte des Kapitalismus, so wurde die Entfaltung dieser Triebkraft durch weitere spezielle, durch „außerökonomischem Zwang" erzeugte Stimuli gefördert: plötzlicher starker Kapitalzufluß in Form der französischen Kriegskontributionen und Einverleibung der bedeutenden Eisenerzlager Lothringens in das Deutsche Reich. Schon vor der Reichsgründung hatte die Bourgeoisie dafür gekämpft, die Funktionen des Staates auf die Sicherung der Rahmenbedingungen für die kapitalistische Produktion
97
Staatliche Struktur zwischen 1871 und 1 9 1 4
zu beschränken, und dabei Teilerfolge erzielt. Ein gewisser Qualitätssprung wurde in dieser Beziehung mit der Reichsgründung erreicht. Jedoch erfolgte die Reduzierung der ökonomischen Funktionen des Staates doch in Grenzen, es gab entgegenwirkende Faktoren, die größtenteils in der Klassenstruktur begründet waren, sich aber besonders in der staatlichen Struktur auswirkten; ferner wurden diesen Reduzierungsbestrebungen der Bourgeoisie bald neue Tendenzen überlagert, die auf erneute Staatseingriffe in den Reproduktionsprozeß hinzielten. Solche entgegenwirkenden Faktoren bestanden zum Beispiel in folgendem: Der Klassenkompromiß zwischen Junkern und Bourgeoisie, auf dem das Deutsche Reich aufgebaut war und der durch das bonapartistische Regierungssystem Bismarcks ausbalanciert wurde, ließ einerseits die Bourgeoisie nicht voll zum Zuge kommen, erhöhte andererseits die Rolle der preußischen Junker in ganz Deutschland („Verpreußung Deutschlands"). Institutionell, also im Staatsapparat, wirkte sich das zum Beispiel so aus, daß die Ministerien für Handel und Gewerbe schließlich in den meisten Bundesstaaten aufgelöst wurden, das betreffende preußische Ministerium aber bestehen blieb und zu einer recht effektiven Wirtschaftszentralbehörde ausgebaut wurde, gegen die aufzukommen zum Beispiel dem Reichsamt des Innern häufig nicht möglich war. Der Einfluß der Junker aber in den preußischen Apparaten wurde nicht gebrochen, sondern sogar nach einer vorübergehenden liberalen Periode (siebziger Jahre) in den achtziger Jahren wieder verstärkt (Maßnahmen Puttkamers). Ein weiterer Faktor, der dem Abbau reglementierender Staatseingriffe entgegenstand, war das ausgedehnte Staatseigentum an Produktionsmitteln. Zum Teil war es, wie die meisten Bergwerke, die Domänen und Forsten, aus der feudalabsolutistischen Periode übernommen, zum Teil war es, wie Post, Telegraphenwesen und Eisenbahnen, später geschaffen worden. Allein aus der 'Existenz dieses staatlichen Eigentums ergab sich, daß der Staatsapparat die notwendigen Beziehungen zur übrigen Wirtschaft organisieren, also regulierende Funktionen ausüben mußte. Indem der Staat als Wirtschaftsunternehmer die Beziehungen seiner Betriebe zu der sich allmählich monopolistisch organisierenden Industrie regulierte, wurden diese Betriebe allmählich organische Bestandteile der monopolkapitalistischen Wirtschaft, der Staat als Unternehmer wurde zum Monopolunternehmer; die Tendenz zur Verflechtung und Kooperation von Staats- und Monopolmacht wurde durch das bloße Vorhandensein von wirtschaftlichem Staatseigentum gefördert. 4 Die neu entstehenden Tendenzen in der Bourgeoisie ergaben sich aus den schon in früheren Abschnitten angeführten binnen- und außenwirtschaftlichen Bedingungen der Monopolisierung, der Abschwächung der selbsttätigen Regelmechanismen, der Zuspitzung der Klassenwidersprüche. Sie setzten schon früh ein und überlagerten bald den Kampf bestimmter Teile der Bourgeoisie um die Reduzierung der ökonomischen Rolle des Staates. Institutionell drückte sich das in dem Ausbau der Wirtschaftsbehörden aus, zum Beispiel dem Anwachsen der wirtschafts- und sozialpolitischen Abteilungen im Reichsamt des Innern, im forcierten Ausbau des Konsularnetzes des Auswärtigen Amtes usw. Begünstigt wurden diese Tendenzen weiterhin durch eine gewisse „Eigenbewegung" im Staatsapparat selbst. Wegen der Wichtigkeit dieser Eigenbewegung für die deutsche 4
Vgl. dazu: Mottek, Hans/Becker, Walter)'Schröter, Alfred,
Wirtschaftsgeschichte Deutschlands. Ein Grund-
riß, Bd. 3 : V o n der Zeit der Bismarckschen Reichsgründung 1871 bis zur Niederlage des faschistischen deutschen Imperialismus 1945, Berlin 1974, Kap. III, Abschn. 2 : „Die verstärkte Beeinflussung des Produktions- und Zirkulationsprozesses durch Ausdehnung des staatlichen Sektors der Wirtschaft", in dem Hans Mottek sehr ausführlich gerade die entsprechenden Prozesse v o r 1 9 1 4 behandelt.
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Zur Rolle des Staates in der Ökonomik
Variante der staatsmonopolistischen Entwicklung sei ein ausführliches Zitat gestattet. Engelberg schreibt: „Ohne formelle Struktur- und mit relativ geringen Personalveränderungen führte der Zusammenbruch des bonapartistischen Systems Bismarcks zu Verlagerungen des politischen Gewichts innerhalb der obersten Staatsorgane, zu Änderungen in Form und teilweise auch Inhalt ihrer Führungstätigkeit. Das betraf das Verhältnis zwischen Kaiser und dem Reichskanzler, der zugleich preußischer Ministerpräsident war; das Verhältnis zwischen Reichskanzler/Ministerpräsident und seinen Ministern und Staatssekretären ; zwischen Staatssekretären und der höheren Bürokratie . . .; zwischen der Regierung und den Nebenregierungen, wie Zivil-, Militärkabinett, Hof-, Militär- und Zivilkamarilla ('Pluti* Eulenburg, 'Freund' Krupp, Stumm usw.) . . . Die preußischen Minister, unter Bismarck lediglich Verwaltungsbeamte, ausführende Organe des Ministerpräsidenten, erlangten unter Caprivi größere Selbständigkeit und bedeutende Möglichkeiten der Initiative. Das führte dazu, daß der Einfluß der einzelnen Fraktionen der herrschenden Klassen auf die direkte Staatsführung vielfach anarchistischen Charakter annahm. Die sachlichen und persönlichen Gegensätze, vor allem im preußischen Staatsministerium, die sich durchkreuzenden Ressortinteressen und divergierenden Bestrebungen der Minister wurden Ausdruck des Tauziehens innerhalb der herrschenden Klassen. Das politische Gewicht in der preußischen Regierung verlagerte sich einerseits auf Wilhelm II., andererseits vom Ministerpräsidenten auf die Staatsminister . . . Auch in der obersten Reich shehötde. setzte sich die gleiche Tendenz wie im preußischen Staatsministerium durch. Nach wie vor war zwar der Reichskanzler der im Reichsmaßstab einzige verantwortliche (dem Kaiser, nicht dem Parlament verantwortliche) 'Minister'. Die Staatssekretäre — unter Bismarck weit mehr noch als die preußischen Minister bloße Verwaltungsbeamte — gewannen jedoch an Verantwortung und Selbständigkeit . . . Mit dem Zusammenbruch des Bonapartismus erhielten die einzelnen Glieder des Staatsapparates größeren Spielraum. Bei dem Dualismus innerhalb der politischen Führung gewannen die Nebenregierungen aller Art bedeutenden Einfluß auf die Gesamtpolitik, besonders die militärischen Kräfte . . . Hinzu kam der sich unmittelbar nach Bismarcks Sturz herausbildende Gegensatz von preußischer und Reichspolitik, wobei die preußische Staatsregierung vor allem seit 1892 immer offener die staatlich-politische Verkörperung und Interessenvertretung der reaktionärsten Kräfte darstellte. Bismarck, der Tyrann über Junker und Bourgeoisie, konnte jetzt nicht mehr die Gegensätze zwischen den verschiedenen besitzenden Klassen meistern. Diese mußten gleichsam nach dem freien Spiel der Kräfte ausgetragen werden — wobei natürlich diejenigen, die schon feste Positionen im Staatsapparat hatten, wie die Junker, und die ökonomisch Stärksten, also die Großkapitalisten, in den entscheidenden politischen Fragen den Sieg davontrugen." 5 Die Zersplitterung und Konkurrenz der Apparate förderte also einmal aus sich heraus die Verflechtung von Monopol- und Staatsmacht, weil sie die Konkurrenz um die „Einflußsphären" hervorrief, erleichterte zum anderen die Einflußnahme, zu der die Bourgeoisie und insbesondere das sich formierende Monopolkapital ohnehin drängten. Diese Tendenzen, die die Verschmelzung und Kooperation von Teilen der Bourgeoisie mit Teilen der Staatsapparate begünstigten, wurden jedoch gleichzeitig wieder von anderen Entwicklungen überlagert. Der Differenzierungsprozeß innerhalb der Bourgeoisie machte ja besonders im Zusammenhang mit der Monopolisierung gerade in den neunziger Jahren 5 Engelberg, Emst, Deutschland von 1871 bis 1897, Berlin 1965, S. 298ff.=Lehrbuch der deutschen Geschichte (Beiträge).
Staat und Ökonomik vor dem ersten Weltkrieg
99
rasche Fortschritte. Infolgedessen nahmen auch „Konkurrenz und Zersplitterung" auf der Seite der Bourgeoisie zu, und als Resultante ergab sich, daß „dem Staat" schließlich doch eine relativ selbständige Politik ermöglicht wurde. Gutsche macht auf diesen wichtigen Zug aufmerksam: „Neben Junkern und Monopolbourgeoisie sahen auch die nichtmonopolisierte Großbourgeoisie sowie mittlere und kleinere Kapitalisten ihre unterschiedlichen spezifischen ökonomischen und politischen Sonderinteressen oft nicht in gleichem Maße durch den Staat vertreten. Daraus ergaben sich innerhalb der herrschenden Klasse immer wieder Auseinandersetzungen, die sich auch in unterschiedlichen Auffassungen über das Verhältnis von Wirtschaft und Staat äußerten und dieses Verhältnis — vor allem in Hinblick auf den Funktionsmechanismus zwischen Monopolkapital und Staat — modifizierten. Zum einen zwangen die in diesen Jahren noch relativ großen Widersprüche innerhalb der herrschenden Klasse den Staat zu einer Politik des Lavierens zwischen den einflußreichsten Schichten und Strömungen. Zum anderen ermöglichten diese Widersprüche dem Staat eine relativ selbständige, oft von den Sonderinteressen einzelner Gruppen abweichende, von gesamtimperialistischen und konservativ-bürokratischen Erwägungen bestimmte Politik. Im Zuge der fortschreitenden Monopolisierung verringerte sich dieser Spielraum, wobei die Interessen der erstarkenden Monopolbourgeoisie in zunehmendem Maße die staatlichen Entscheidungen beeinflußten." 6 2. Formen der Beziehungen zwischen Staat und Ö k o n o m i k in Deutschland v o r dem ersten W e l t k r i e g Im Unterschied zu England, Frankreich und den USA bestand in Deutschland schon vor 1914 ein umfangreiches Eigentum der „öffentlichen Hand" 7 an Produktionsmitteln. Das Post- und Fernmeldewesen wurde vom Reich betrieben, 93 Prozent aller VollspurEisenbahnen waren Eigentum der Bundesstaaten und des Reiches. 8 Der preußische Fiskus besaß außer recht umfangreichen Domänen und Forsten zahlreiche Bergwerke und war der größte Steinkohlenproduzent Deutschlands. Der Anteil der kommunalen Elektrizitätswerke am Gesamtanschlußwert aller Kraftwerke der Allgemeinversorgung betrug 1911 41 Prozent. 9 Die Unternehmen der öffentlichen Hand waren bereits in vieler Beziehung, wenn auch in unterschiedlichem Maße, mit dem nichtstaatlichen Monopolkapital verflochten. Der preußische Fiskus war (neben dem anhaltischen) Gründer und Mitglied des seit den achtziger Jahren bestehenden Kalisyndikats, das, nachdem seine Monopolstellung durch neu entstandene Außenseiter zu Beginn des 20. Jahrhunderts erschüttert worden, durch 6
7
8 9
8
Gutsche, Willibald, Probleme des Verhältnisses zwischen Monopolkapital und Staat in Deutschland vom Ende des 19. Jahrhunderts bis zum Vorabend des ersten Weltkrieges, in: Studien zum deutschen Imperialismus, hg. v. Fritz Klein, Berlin 1976, S. 36. — Dieser inhaltsreiche Beitrag erschien erst kurz vor Drucklegung der vorliegenden Arbeit und konnte daher bei der Ausarbeitung der folgenden Probleme noch nicht voll berücksichtigt werden. Der Begriff wird benutzt zur zusammenfassenden Kennzeichnung von Reich, Bundesstaaten und Kommunen. Zum Eisenbahnwesen siehe besonders Mottek, wie Anmerkung 4. Siehe dazu: Nussbaum, Helga, Versuche zur reichsgesetzlichen Regelung der deutschen Elektrizitätswirtschaft und zu ihrer Überführung in Reichseigentum 1909 bis 1914 (im folgenden: Elektrizitätswirtschaft), in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 1968, T. 2, S. 117-203. Nussbaum, Wirtschaft
100
Zu r Rolle des Staates in der Ökonomik
Reichsgesetz 1 9 1 0 als Zwangssyndikat neu gebildet worden war* 0 und seitdem der A u f sicht des Reiches unterstand, zu welchem Zweck im Reichsamt des Innern 1912 eine spezielle Unterabteilung (IV K , Kaliangelegenheiten) gebildet wurde. Die staatlichen Steinkohlengruben in Oberschlesien ließen ihre Produktion durch große Berliner Handelsfirmen vertreiben, die den gesamten Kohlenabsatz des oberschlesischen Reviers monopolisiert hatten. Der Versuch des preußischen Fiskus, durch Ankauf der Aktien der Bergwerksgesellschaft Hibernia Mitglied des Rheinisch-Westfälischen Kohlensyndikats zu werden, war zwar 1904
Abb. 5: Staatsausgaben und Anteil der Staatsausgaben am Nettoso^ialprodukt 1860 bis 1913. a Staatsausgaben in Mrd Mark in laufenden Preisen b Anteil der Staatsausgaben am Nettosozialprodukt zu Marktpreisen in Prozent c Anteil von Staatsausgaben und staatlichen Transferzahlungen am Nettosozialprodukt zu Marktpreise in Prozent. Quelle: a und b : Jährliche Daten nach Hoffmann errechnet von: Lebmann, Karin, Einige neue Züge in den Funktionen der öffentlichen Haushalte im Deutschen Reich bis 1914 unter den Bedingungen des Übergangs zum Monopolkapitalismus und der Herausbildung des staatsmonopolistischen Kapitalismus, unveröff. Manuskript, Anhangtabellen. Staatsausgaben: öffentlicher Verbrauch plus öffentliche Investitionen (Ohne Post und Eisenbahn), c: Zahlen bei Lebmann, Karin, Einige Überlegungen zur quantitativen Erfassung der Umverteilung des Nationaleinkommens durch den Staatshaushalt im Imperialismus, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte, 1975, T. 4, S. 46. Transfer^ablungen: Pensionen, Unterstützungszahlungen usw., Subventionen, Zinsen auf öffentliche Schulden, Transfer mit dem Ausland. 10
Siehe dazu das spätere Kapitel über Bergbau sowie: Nussbaum, Helga, Zur Investitionsstrategie staatlicher und privater Unternehmen unter den Bedingungen eines gesetzlichen Zwangssyndikats (Deutsche Kaliindustrie bis 1914), in: Wirtschaft und Staat im Imperialismus. Beiträge zur Wirtschaftsgeschichte des staatsmonopolistischen Kapitalismus in Deutschland, hg. v. Lotte Zumpe, Berlin 1976, S. 53—83= Forschungen zur Wirtschaftsgeschichte, hg. v. Jürgen Kuczynski und Hans Mottek, Bd. 9.
Abb, 6: öffentlicher Verbrauch pro Kopf der Bevölkerung 1860 bis 1913 in laufenden Preisen (Mark). a: öffentlicher Verbrauch pro Kopf der Bevölkerung b: Verwaltungsausgaben pro Kopf der Bevölkerung c: Ausgaben für militärische Zwecke pro Kopf der Bevölkerung Quelle: Wie Abbildung 5, a und b.
Abb. 7: Finanzierung der Nettoinvestilionen durch die Banken und den öffentlichen Sektor 1851/55 bis 1911/13 (Millionen Mark; Fänfjahresdurcbscbnitte) a Nettoinvestitionen insgesamt; b Durch Banken finanzierte Nettoinvestitionen c Durch den öffentlichen Sektor finanzierte Nettoinvestitionen. Quelle: Eistert, Ekkehard/Riegel, Johannes, Die Finanzierung des wirtschaftlichen Wachstums durch die Banken, in: Untersuchungen zum Wachstum der deutschen Wirtschaft, hg. v. Walther Gustav Hoffmann, Tübingen 1971, S. 101 = Schriften zur angewandten Wirtschaftsforschung, 26. 8»
102
Zur Rolle des Staates in der Ökonomik
40 38 36 34 32 30 28 26
21 22 20 78 76 • n 72 • 70 8 • 6 -
«2 0
7857/55
56/50 67/65 65/70 77/75 76/80 87/85 86/90 97/35 SS/7300 07/05 06/70.
Abb. 8: Pro^entantei! der Banken und des öffentlichen bis 1911/li (Fünfjabresdurcbscbnitte). a Anteil der Banken b Anteil des öffentlichen Sektors Quelle: Eistert, Ekkehard]Riegel,
Sektors an der Finanzierung
77/73
der Nettoinvestitionen
1851/55
Jobannes, a. a. O., S. 103.
mißglückt, weil es infolge des Widerstandes des Monopolkapitals nicht gelang, die Aktienmajorität zu erwerben, aber der Staat fungierte dort nun als Großaktionär und erwarb große Steinkohlenfelder im Ruhrrevier, bis er 1916 nach vollem Erwerb der Hibernia schließlich Mitglied des Syndikats wurde. 1 1 Die Tatsache, daß die staatlichen Eisenbahnverwaltungen faktisch die einzigen Abnehmer für Schienen und rollendes Eisenbahnmaterial, also wichtige Abnehmer der Stahl- und Walzwerke und Hauptabnehmer der Lokomotiv- und Waggonbauunternehmen waren, förderte in diesen Zweigen die Kartellbildung und führte zu recht intensiver Einflußnahme der betreffenden Monopolorganisationen auf diese Teile des Staatsapparates. In den letzten Jahren vor dem ersten Weltkrieg bildeten sich in zunehmendem Maße „gemischtwirtschaftliche" Unternehmen in der Elektroenergieerzeugung. Überragende Bedeutung als zentraler Regulator der Währungsverhältnisse und des Kreditwesens hatte die Reichsbank, die ebenfalls ein gemischtwirtschaftliches Unternehmen darstellte: Während das Grundkapital sich in Händen privater Anteilseigner befand, die im „Zentralausschuß" ihren Einfluß geltend machen konnten, wurde die Verwaltung vom Reichsbankdirektorium ausgeübt, dessen Mitglieder vom Kaiser ernannte Reichsbeamte waren. Der Anteil der Staatsausgaben am Nettosozialprodukt wies seit etwa 1900 eine deutlich steigende Tendenz auf (Abb. 5), die Staatsausgaben pro Kopf der Bevölkerung schon seit etwa 1890 (Abb. 6). Die Nettoinvestitionen der öffentlichen Hand hatten eine schwach 11
Siehe dazu das spätere Kapitel über Bergbau.
Staat und Ökonomik v o r dem ersten Weltkrieg
103
steigende Tendenz (Abb. 7). Den höchsten Prozentanteil an den Gesamtinvestitionen — 40 Prozent! — erreichten sie in den achtziger Jahren — also in der Zeit der Abschwungswelle, als die privaten Investitionen niedrig waren (Abb. 8). In den 1880er Jahren war also der Anteil der Staatsinvestitionen schon einmal fast ebenso hoch wie dann in den 1920er Jahren. Der Prozentanteil der öffentlichen Investitionen sank dann in der Aufschwungswelle, als die privaten Investitionen enorm zu steigen begannen, ab, betrug aber 1913 immerhin noch 17 Prozent. Der Anteil der Staatseinnahmen aus Unternehmer- und Vermögenseinkommen erreichte in den achtziger und neunziger Jahren Höchstsätze von 30 bis 31 Prozent, um danach bis 1913 langsam auf 21 Prozent zu fallen 12 (und in der Zwischenkriegszeit ganz geringe Werte zu erreichen; letzteres ist aber daraus zu erklären, daß in den zwanziger Jahren gerade die größten Staatsunternehmen aus der Budgetfinanzierung herausgenommen wurden). Das Sinken des Prozentanteils der Erwerbseinkünfte bis 1913 erklärt sich aus dem besonders schnellen Wachstum des Steueranteils aus den Gemeinden und Gemeindeverbänden. Seit den neunziger Jahren wuchsen diese Steuereinnahmen bedeutend schneller als die Steuereinnahmen von Reich und Bundesstaaten.13 In Preußen waren durch das Kommunalabgabengesetz vom 14. Juni 1893 die Grund- und Gebäudesteuern sowie die Gewerbesteuern vom Staat auf die Gemeinden übergegangen, und diese waren ferner berechtigt worden, spezielle Gemeindesteuerordnungen zu erlassen, die weitere Gewerbeabgaben enthalten konnten. Diese Möglichkeit erwies sich als besonders wichtig für die Großkommunen, z. B. des Ruhrgebiets, die die rasch zunehmenden Arbeitermassen der schwerindustriellen Riesenbetriebe mit „Infrastruktur" zu versorgen hatten. Die Versuche dieser Gemeinden, zur Deckung dieser Kosten die Unternehmungen stärker heranzuziehen, stießen auf den hartnäckigen Widerstand der Indùstrie. Der vielschreibende Verbandsfunktionär der Schwerindustrie Alexander Tille zitiert in einer seiner Kampfschriften 14 , in der er enorm überhöhte Zahlen über die Abgabenbelastung der Schwerindustriekonzerne zusammenstellte (er rechnete z. B. auch die Sozialversicherungsbeiträge der Arbeiter zu die „Belastungen" der Unternehmer) die Bergbauzeitschrift „Glückauf", Essen: „Die Höhe der Gewerbesteuer ist von der finanziellen Lage der Gemeinden abhängig. Diesen ist sowohl in der Wahl der Bemessungsgrundlage als auch in der Höhe der Einheitssätze völlige Freiheit gegeben. Hiermit ist die Gewerbebesteuerung einer Machtfrage in den Stadt- und Gemeindevertretungen geworden . . . Hieraus folgt die Wichtigkeit einflußreicher Vertreter der Industrie in den Gemeindevertretungen . . ," 15 (Hervorhebung von mir — H. N.) Im „Handwörterbuch der Preußischen Verwaltung" von 1928 heißt es denn auch rückblickend: „Es zeigte sich, daß die Gemeinden doch nicht in dem erwarteten Umfange besondere Gewerbesteuerordnungen einführten, sei es, daß sie die mit einer solchen Einführung verbundenen politischen Kämpfe oder die Kosten einer besonderen Veranlagung scheuten . . . In der Schrift des früheren Oberbürgermeisters der Stadt Düsseldorf, Dr. 12
Lebmann, Karin, Der Funktionswandel der öffentlichen Haushalte im Deutschen Reich v o r dem ersten Weltkrieg, i n : Wirtschaft und Staat im Imperialismus, a. a. O., S. 92. In dieser als Ergänzung zur vorliegenden Überblicksdarstellung erarbeiteten Spezialstudie gibt Lehmann einen ausführlicheren quantitativen Überblick über die Entwicklung der einzelnen Elemente des Staatshaushalts, auf den ausdrücklich verwiesen sei. Im folgenden werden noch einige zusätzliche Aspekte erörtert.
13
Berechnet nach : Hoff mann, Walther G., Das Wachstum der deutschen Wirtschaft seit der Mitte des 19. Jahr-
14
Tille, Alexander, Die Steuerbelastung der Industrie in Reich, Bundesstaat und Gemeinde, Saarbrücken 1 9 1 1 = Südwestdeutsche Flugschriften, hg. v. Alexander Tille, H. 15.
15
Ebenda, S. 43.
hunderts, Berlin/Heidelberg/New Y o r k 1965, S. 8 0 0 f f .
104
Zur Rolle des Staates in der Ökonomik
Oehler, Die besonderen Gewerbesteuern des rheinisch-westfälischen Industriegebiets, 1922, Gustav Fischer, Jena, ist festgestellt, daß im Jahre 1921 von 59 Gemeinden, auf die sich die Untersuchung erstreckte, nur 31 besondere Gewerbesteuern hatten, 28 dagegen, also nahezu die Hälfte, sich zu einer solchen noch nicht hatten entschließen können." 16 Wenn auch relativ der Anteil der Erwerbseinkünfte an den Staatseinnahmen gesunken waren, so waren aber absolut gesehen die Nettoeinnahmen aus Erwerbseinkünften laufend gestiegen, und zwar von jährlich 346 Millionen Mark im Durchschnitt der Jahre 1870/79 auf jährlich 1530,2 Millionen Mark im Durchschnitt der Jahre 1910/13.17 In Preußen, dessen Gesamtetat vor dem ersten Weltkrieg stets größer war als der des Reiches, spielten die Erwerbseinkünfte im Staatshaushalt eine erstaunlich große Rolle. Tabelle 23 Ordentliche Einnahmen und Ausgaben im preußischen der Etatsjabre 1908/12 (in Millionen Mark)
1 Insgesamt 2 „aus" und „auf" Erwerbseinkünfte(n) 3 Nettoeinnahmen aus Erwerbseinkünften 4 Ausgaben ohne Ausgaben auf Erwerbseinkünfte 5 Steuern 6 Sonstige Einnahmen 7 Einnahmen ohne Einnahmen aus Erwerbseinkünften
Etat imjährlichen
Durchschnitt
Ordentliche Einnahmen
Ordentliche Ausgaben
3755
3790
2789
2180
609 1610
456 510 966
Quelle: Berechnet aus: Statistisches
Jahrbuch für den Preußischen
Staat 1914, S. 525f.
Betrachtet man diese Zahlen genauer, so ergibt sich: Die Nettoeinnahmen aus Erwerbseinkünften machten 63 Prozent der übrigen Staatseinkünfte aus (Zeile 3 zu Zeile 7). Diese Nettoeinnnahmen waren höher als die Steuereinnahmen; die Nettoeinnahmen aus Erwerbseinkünften vermochten 1908/12 im Durchschnitt 37,8 aller übrigen Staatsausgaben (Zeile 4) zu decken, im Jahre 1913 dann 40 Prozent. Betrachtet man nun aber die Zusammensetzung der Erwerbseinkünfte, so zeigt sich, daß rund 80 Prozent der Nettoeinkünfte von den Staatseisenbahnen stammten. Vergleicht man Tabelle 24 noch einmal mit Tabelle 23, so sieht man, daß die Nettoeinnahmen des preußischen Staates aus den Eisenbahnen höher waren als die Steuereinkünfte. v. Bitter — Handwörterbuch der Preußischen Verwaltung, hg. v. Bill Drews u. Franz Hoffmann, 3., völlig umgearb. Aufl., Bd. 1, Berlin/Leipzig 1928, S. 730. — Zur Finanzpolitik allgemein siehe ferner: Witt, Peter Christian, Die Finanzpolitik des Deutschen Reiches von 1903 bis 1913, Lübeck/Hamburg 1970= Historische Studien, H. 145. » Berechnet nach: Hoff mann, Waltber G„ a. a. O., S. 800f. 16
105
Staat und Ökonomik vor dem ersten Weltkrieg
Tabelle 14 Zusammensetzung der staatlichen Erwerbseinkünfte in Preußen im jährlichen Durchschnitt der Etatsjabre 1908/12 (in Millionen Mark) Einkünfte aus
Bruttoeinnahmen
Nettoeinnahmen
1 2 3 4 5
31,69 143,10 293,00 2169,42 152,31
12,84 68,15 19,9 490,90 17,37
2789,52
609,25
Domänen Forsten Bergwerke, Hütten, Salinen Staatseisenbahnen Sonstige Betriebe (Lotterie, Seehandlung, Porzellanmanufaktur u. andere)
Quelle: Wie Tabelle 22.
Durch die Verstaatlichung der preußischen Bahnen, schreibt Mottek, wurde „der staatliche Sektor der Wirtschaft in einem solchen Ausmaße vergrößert, wie es im imperialistischen Deutschland auch später zu keinem Zeitpunkt übertroffen wurde." 1 8 In einer früheren Arbeit der Verfasserin heißt es, speziell in bezug auf Telegraphenwesen und Eisenbahnen: „Dieses Staatseigentum war keine zum Funktionieren der damaligen kapitalistischen Wirtschaft notwendige Einrichtung (vergleiche etwa USA)", und es sei hauptsächlich aus politisch-militärischen Erwägungen geschaffen worden. 1 9 Es fragt sich jedoch, ob man den ersten Teil dieser Feststellung so pauschal und undifferenziert aufrechterhalten kann. Natürlich ist den militär-strategischen Erwägungen eine große Bedeutung bei der Schaffung dieses Teils des staatlichen Sektors beizumessen. Das zeigt sich z. B. allein schon darin, daß in den meisten kontinentaleuropäiscben Ländern von etwa 1870 ab der Staat (erstmals oder erneut) in zunehmendem Maße auf das Eisenbahnwesen Einfluß nahm, wenn auch die Art der Einflußnahme differenziert war und von starken staatlichen Veto- und Aufsichtsrechten wie in Frankreich bis zum vollkommenen Staatsbahnsystem wie in Preußen reichte. 20 Vollkommenes Privateigentum an Eisenbahnen finden wir zu der Zeit nur in denjenigen Ländern, in denen die militärstrategische Bedeutung der Eisenbahnen damals weniger groß war, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen: in Großbritannien und den USA. Wenn also auf dem Kontinent außerökonomische Faktoren zur Entstehung dieses wichtigen Elements des staatlichen Wirtschaftssektors beitrugen, so bildeten diese außerökonomischen Faktoren doch einen immanenten Bestandteil des sich entwickelnden Imperialismus, und insofern müßte man den staatlichen Eisenbahnsektor eben doch als notwendigen Bestandteil des sich herausbildenden monopolkapitalistischen Systems in den kontinentaleuropäischen Ländern rechnen. In Großbritannien nahm stattdessen vor 1914 schon der staatliche Einfluß auf das Schiffahrtswesen zu. 2 1 18
Mottek, Hans/Becker, WalterlSchröter, Alfred, a. a. O., S. 120.
19
Nussbaum, Helga, Zur Imperialismustheorie W . I. Lenins und zur Entwicklung staatsmonopolistischer Züge des deutschen Imperialismus bis 1914, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 1970, T. 4, S. 63. Zu den entsprechenden Verhältnissen in den verschiedenen Ländern siehe: Borgbt, Robert van der, Artikel: „Eisenbahnen", in: Wörterbuch der Volkswirtschaft, Bd. 1, a. a. O., S. 757—779. Medick, Hans, Anfänge und Voraussetzungen des organisierten Kapitalismus in Großbritannien 1873— 1914, in: Organisierter Kapitalismus. Voraussetzungen und Anfänge, hg. v. Heinrich August Winkler, Göttingen 1974, S. 6 9 = Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, 9.
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Zur Rolle des Staates in der Ökonomik
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Außerdem ist noch folgendes zu beachten: Bei Betrieben, die sich netzartig über bestimmte Territorien erstrecken, also Flächennetzbetrieben — wie Eisenbahn und Elektrizitätserzeugung und -Verteilung —, bei denen die Errichtung der Netze mit hohen Investitionskosten verbunden ist, ist eine gegenseitige Verflechtung der Netze die unrentabelste Betriebsweise, die sich denken läßt. Eine solche gegenseitige Durchflechtung der Streckennetze hat sich aber in den Privatbahnsystemen regelmäßig herausgebildet. Dies führte z. B. in Großbritannien dazu, daß sich schließlich doch der Staat einschalten mußte. Bei Kriegsausbruch wurden die britischen Eisenbahnen in Regierungsverwaltung übernommen und zum Zentralbetrieb umgebildet, was zahlreiche Einsparungen (Wagenumlauf, Rationalisierung der Dienstleistungen) ermöglichte. Um nach der Reprivatisierung die ökonomischen Vorteile nicht wieder hinfällig werden zu lassen und den Eisenbahnen eine bessere Rentabilität zu ermöglichen, wurden durch Gesetz 1921 TerritorialMonopolgesellschaften geschaffen, gewissermaßen Zwangsmonopole (ähnlich wie im deutschen Kaligesetz 1910) mit strikten Regierungsauflagen. 22 In den USA wiederum, wo die Durchflechtung der Netze mittels heftigsten, verlustreichen Monopolkampfes nur teilweise bereinigt wurde, sind schließlich die Eisenbahnen durch den Straßenkraftverkehr total auskonkurriert worden. Es fragt sich also, ob nicht schon Ausgangs des 19. Jahrhunderts das Staatsbahnsystem eigentlich das ökonomisch „fortschrittlichere" war. Auf jeden Fall aber ist ein staatlicher Sektor im Eisenbahnwesen in dem hier von uns zu untersuchenden Zeitraum keineswegs als eine Besonderheit des deutschen Kapitalismus aufzufassen. „Der Staat" 23 verfügte bereits vor 1914 über einen recht umfangreichen Apparat für Wirtschaftsverwaltung und Regelung wirtschaftlicher Fragen, der allerdings noch nicht straff zentralisiert, sondern in verschiedene Reichs- und bundesstaatliche Behörden zersplittert war. Auf Reichsebene fungierte das Reichsamt des Innern als zentrale Behörde für wirtschaftliche Fragen. Von seinen seit 1900 bestehenden vier Abteilungen waren drei ausschließlich für wirtschaftliche und soziale Probleme zuständig. 24 An zentralen Ministerien existierten außerdem das Reichsschatzamt, das Reichskolonialamt, die Reichspostverwaltung. In Fragen der Außenwirtschaftspolitik, die noch unter Bismarck vorwiegend vom Auswärtigen Amt bearbeitet wurden, hatte sich zunehmend das Reichsamt des Innern eingeschaltet. Ihm wurden Teile der wirtschaftlichen Berichterstattung des dichten deut22 Pollard, Sidney, The Development of the British Economy 1914-1950, London (1962), S. 61, 145f. 23 Der Begriff „der Staat" soll hier als abstrahierende Zusammenfassung für reichs- und bundesstaatliche Apparate dienen. 24 Aufgabenverteilung der Abteilungen II—IV im Jahre 1913: Abt. II: Fürsorge für die arbeitenden Klassen (Kranken-, Unfall-, Invaliden- und Hinterbliebenenversicherung, Arbeiterschutz, Sonntagsruhe usw.), Wohlfahrtseinrichtungen, Angestelltenversicherung, Arbeitsmarkt, sonstige Sozialpolitik, Gewerbe, Versicherungswesen, Genossenschaftswesen, Hypothekenbankwesen, Prüfung der Handfeuerwaffen. Abt. III: See- und Binnenschiffahrt, Postdampferverbindungen, Verwaltung des Kaiser-WilhelmKanals, Auswanderungswesen, See- und Binnenfischerei, geistiges Eigentum, gewerblicher Rechtsschutz, Maß und Gewicht, Medizinal- und Veterinärwesen, land- und forstwirtschaftliche Biologie (seit 1907). Abt. IV: Handel, Handelspolitik, Handelsverträge, wirtschaftliche Fragen der Landwirtschaft und der Industrie, wirtschaftliche Seiten des Zoll- und Steuerwesens, Produktionsverhältnisse des In- und Auslandes, allgemeine Statistik, Statistik des Warenverkehrs mit dem Ausland, Bank- und Börsenwesen. Unterabteilung IV K: Kaliangelegenheiten. (Facius, Friedrieb, Wirtschaft und Staat. Die Entwicklung der staatlichen Wirtschaftsverwaltung in Deutschland vom 17. Jahrhundert bis 1945. Boppard am Rhein 1959, S. 238 f. = Schriften des Bundesarchivs, 6.)
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sehen Konsularnetzes vom Auswärtigen Amt zur Verfügung gestellt, die dann in den amtlichen Informationsorganen „Handelsarchiv" und „Nachrichten für Handel, Industrie und Landwirtschaft" (seit 1899) veröffentlicht wurden. Wenn auch der gesamte Außenhandel durch die „Privatwirtschaft" getätigt wurde und im Unterschied zu früheren Perioden keine Aus- und Einfuhrverbote, zu späteren Perioden keine Devisenbeschränkungen, Kontingentierungen usw. bestanden, so war es dennoch seit den 1870er Jahren zu einer immer stärkeren handelspolitischen Aktivität des Staates gekommen. 25 Indem im Laufe der großen Abschwungswelle zugleich mit dem Deutschen Reich auch die meisten seiner Handelspartnerstaaten schrittweise die Schutzzölle erhöhten, das Zolltarifsystem verfeinerten und ausbauten, setzte nach der relativ kurzen Periode mit freihändlerischen Tendenzen eine Zeit verschärfter handelspolitischer Konflikte ein (z. B. Zollkriege Deutschlands mit Rußland Anfang der neunziger Jahre, Frankreichs mit der Schweiz 1892—95, mit Italien 1892—98). In den beiden großen Runden des Abschlusses neuer bilateraler Handelsverträge 1891/92-1895 und 1905-08, die aber in vieler Beziehung multilateral verknüpft waren und bei denen die relativ neue Form von „General"- oder „Maximaltarifen" (für den Handel mit Staaten ohne Vertragszustand) und „Vertrags"- oder „Minimaltarifen" zunehmend angewandt wurde, spielte nun die Aushandlung des jeweiligen Vertragszolls für die einzelnen Waren und der jeweiligen Kompensationen eine große Rolle. Infolgedessen wurde die zunehmende Kooperation von Staat und „Privatwirtschaft" auf diesem Gebiet zur zwingenden Notwendigkeit. Der Kampf um den Einfluß auf die staatlichen Apparate nahm also schärfere Formen an, wobei sich die ökonomisch und politisch stärksten Kräfte am besten durchsetzen konnten, und das waren im Deutschen Reich um die Jahrhundertwende die Schwerindustriemonopole im Bündnis mit den Junkern. Wenn auch schon 1879 und in der Caprivi-Aera eine inoffizielle bis halboffizielle Zusammenarbeit zwischen Reichsbehörden und Zentralverband Deutscher Industrieller bei der Ausarbeitung der Zollsätze bestanden hatte, so war schließlich die Bildung des offiziellen „Ausschusses zur Vorbereitung und Begutachtung handelspolitischer Maßnahmen" beim Reichsamt des Innern 1898 ein Markstein der kooperativen Verflechtung von Staat und Wirtschaft auf handelspolitischem Gebiet, wobei im Kampf um die Zusammensetzung dieses Gremiums die Monopole entscheidende Erfolge erzielten. 26 Auch die Kooperation zwischen Staat und Bank- bzw. entstehendem Finanzkapital vertiefte sich. Die deutschen Großbanken betrieben zu Beginn des 20. Jahrhunderts das Geschäft mit Auslandsanleihen, insbesondere dasjenige der (privaten) Anleihen an fremde Regierungen, wie auch in den achtziger Jahren in Zusammenarbeit mit der Reichsleitung, nur im größeren Umfang und mit ausgeprägt imperialistischer Zielsetzung, was notwendigerweise die Zusammenarbeit vertiefen mußte. Jürgen Kuczynski zitiert in diesem Zusammenhang eine Tagebucheintragung von Kiderlen-Wächter, Staatssekretär des Auswärtigen Amtes, vom 25. September 1910: „Gestern war wieder ein netter Tag: von 3 bis 1/28 Uhr war ich nicht eine Minute allein. 3 Uhr der bulgarische Geschäftsträger, der das Agrément für Geschoff nachsuchte ; dann Scbwabach: ungarische Anleihe; dann der Reichskanzler: Zarenbesuch! 5 Uhr Gwinner
und Helffericb:
Petroleum, türkische Anleihe, Nachfolger für Testa, der sehr krank sein soll.
Eine Monographie, in der diese Problematik ausführlicher untersucht wird, befindet sich in Vorbereitung: Pucbert, Bertbold, Die Entwicklung der deutschen Außenwirtschaft vom Übergang zum Imperialismus bis 1945 unter dem besonderen Aspekt ihrer staatsmonopolistischen Regulierung. 26 Kautiscb, Baldiir, Die Bildung des „Wirtschaftlichen Ausschusses zur Vorbereitung und Begutachtung handelspolitischer Maßnahmen" im Jahre 1897. Ein Beitrag zum Problem der „Sammlungspolitik" beim Übergang zum Imperialismus, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 1973, T. 3, S. 115—142.
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Dann noch verschiedene Vorträge und um 7 Uhr Salomonsobn über dieselben Sachen wie Cmnner, nur genau im entgegengesetzten Sinne.'"11 Die gleichen Großbanken aber, die hier Kapitalexport in Form von Auslandsanleihen organisierten, waren nun eng mit der Industrie verflochten und mußten ein Interesse daran haben — ein über das reine Geschäftsinteresse als Bank hinausgehendes —, auch den Kapitalexport in Form von Industrieanlagen, Gründung von Tochtergesellschaften im Ausland usw. zu fördern. Mehr noch, sie mußten sogar ein Interesse daran haben, den Warenexport der deutschen Industrie, insbesondere aber der mit ihnen eng verflochtenen Industriekonzerne, zu fördern. So gingen z. B. die seit 1900 zunehmenden Instruktionen an die deutschen Konsuln, alle Möglichkeiten der Exportförderung auszuschöpfen. ^ auch deutsche Ingenieure für die Tätigkeit in ausländischen Unternehmen anzuwerben! —, auf direkte Vorstellungen der Deutschen und der Dresdner Bank beim Reichskanzler Bernhard von Bülow zurück. 28 Als Wirtschaftszentralbehörde Preußens, des größten Bundesstaates, auf dessen Territorium alle Schwerindustriezentren lagen, fungierte das Ministerium für Handel und Gewerbe, das unter anderem die Bergbauangelegenheiten verwaltete, für das Börsenwesen zuständig war, aber auch zum Beispiel den Ausbau des Gewerbeschulwesensund die Errichtung von Handelshochschulen organisierte und das innerhalb der gesamten Behördenstruktur ein bedeutendes Gewicht besaß. Mit wirtschaftlichen Fragen befaßt waren unter den preußischen Ministerien ferner das Ministerium der öffentlichen Arbeiten, das die Kanal- und Eisenbahnbauten leitete, das Ministerium für Landwirtschaft, Domänen und Forsten und das Finanzministerium. Die Zentralbehörden der Bundesstaaten waren durch ihren Verwaltungsunterbau enger mit der ökonomischen „Basis" verbunden als die Reichsbehörden — und wohl auch enger mit ihr verflochten. Sie konnten sich außerdem auf ein umfangreiches Netz von Handelskammern, Landwirtschaftskammern, Eisenbahnräten und ähnliches stützen, die, halb Unternehmerinteressenvertretung und halb staatliche Institutionen, die wechselseitige Beeinflussung von Unternehmerschaft und Staatsorganen förderten. Der im vorigen Abschnitt genannte, „sich unmittelbar nach Bismarcks Sturz herausbildende Gegensatz von preußischer und Reichspolitik, wobei die preußische Staatsregierung vor allem seit 1892 immer offener die staatlich-politische Verkörperung und Interessenvertretung der reaktionärsten Kräfte darstellte . . machte sich auch und gerade in der Wirtschaftspolitik bemerkbar. Gerade die wirtschaftsleitenden Ministerien Preußens stellten eine Kraft dar, die es sich häufig genug erlauben konnte, (wie aus den Aktenvorgängen zu den verschiedensten Fragen immer wieder zu ersehen ist), gegen geplante Maßnahmen des Reichsamts des Innern oder gar des Reichskanzlers eine zähe und hinhaltende Obstruktionspolitik zu betreiben. Ausführlich geschildert worden ist das z. B. im Zusammenhang um die Vorgänge der geplanten Verstaatlichung der Elektrizitätsetzeugung. 29 Während der Reichskanzler Bethman Hollweg zu dieser Idee von Walther Rathenau inspiriert worden war und sie mit allem Nachdruck durchzusetzen suchte, wandten sich die 27
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Kuc^jnski, Jürgen, Die Geschichte der Lage der Arbeiter unter dem Kapitalismus, Bd. 4: Darstellung der Lage der Arbeiter in Deutschland von 1900 bis 1917/18, Berlin 1967, S. 99f. (Hervorhebung von J. K.) Weinherger, Gerda, Die deutschen Konsuln. Ihre Rolle in der ökonomischen Expansion des deutschen Imperialismus vor dem ersten Weltkrieg, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 1969, T. 2, S. 221f. — Zur Zusammenarbeit Finanzkapital — Staat bei Direktinvestitionen im britischen Einflußbereich: Dieselbe, Das Victoria-Falls-Power-Projekt der AEG und die deutsche Kapitaloffensive in Südafrika vor dem ersten Weltkrieg. Zur Rolle von Industrie- und Bankkapital in der ökonomischen Expansion und der Entwicklung staatsmonopolistischer Formen, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 1971, T. 4, S. 57ff. Nussbaum, Helga, Elektrizitätswirtschaft, a. a. O.
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preußischen Ministerien um Gutachten und Unterstützung an die rheinisch-westfälische Industrie und vertraten in ihren offiziellen Stellungnahmen dann übereinstimmend die Interessen der „privaten Industrie". Als Anfang 1898 im Reichsamt des Innern damit begonnen wurde, Akten „betr. wirtschaftliche Kartelle" anzulegen und der Reichskanzler 1899 kommissarische Beratungen der Ministerien über die Auswirkungen des Kartellwesens forderte, war es der preußische Minister der öffentlichen Arbeiten, K. von Thielen, der sich ausdrücklich dagegen wandte. Er habe Zweifel, ob derartige Erörterungen zu praktischen Ergebnissen führen würden, schrieb er. 30 Die großen Schwerindustriesyndikate seien der Eisenbahnverwaltung wohlbekannt, die staatlichen Verhandlungen seien für die Preisfestsetzung der Syndikate von großer, manchmal ausschlaggebender Bedeutung. Eine besondere Kontrolle sei überflüssig, das gute Verhältnis würde leiden. Er sehe auch keinen Anlaß für eine Staatsaufsicht. Als dann 1902 endlich die Vorbereitungen für die „Kontradiktorischen Verhandlungen über Deutsche Kartelle" begannen, verstand es das Ministerium der öffentlichen Arbeiten wiederum, die Angelegenheit hinauszuzögern, indem es seinen Kommissar erst vier Monate später als alle anderen Ministerien benannte. 31 Dies sind nur ganz wenige Beispiele, die sich beliebig vermehren ließen und illustrieren, wie die „Zersplitterung und Konkurrenz der staatlichen Apparate" einerseits die Verflechtung von Teilen des Apparats mit bestimmten Monopolgruppen förderte, — was andererseits nicht selten dazu führte, daß zentrale Entscheidungen verhindert wurden, die an sich im Interesse des Gesamtmonopolkapitals gelegen hätten. Es war sicher nicht zuletzt der engere Kontakt der Schwerindustriemonopole zu den preußischen Ministerien, der ihnen zu wichtigen Positionen auch in den zentralen Beiräten verhalf. Der Zentralverband Deutscher Industrieller, der seit den neunziger Jahren hauptsächlich von den Schwerindustriemonopolen beherrscht wurde, fungierte als „Beirat der Regierung im weitesten Sinne: Er benannte nicht nur die Mitglieder des 'Ausschusses für Verkehrsinteressenten der deutschen Eisenbahnen' und den Beirat für Zollfragen, den 'Wirtschaftlichen Ausschuß zur Vorbereitung und Begutachtung handelspolitischer Maßnahmen' beim Reichsamt des Innern, er wurde auch von den verschiedenen Reichsämtern und preußischen Ministerien um Gutachten gebeten und machte auf ihr Ersuchen hin Umfragen bei seinen Mitgliedsverbänden. Der Geschäftsführer konnte feststellen, daß 'wir in dem ganzen Deutschen Reich überall konsultiert werden.'" 3 2 Beim Reichsamt des Innern existierte außerdem von 1912 bis zum Kriegsausbruch eine „Ständige Kommission für Mobilmachungsfragen", in der führende Monopolvertreter saßen. 33 Außer diesen offiziellen Kontakteinrichtungen (oder „Verschmelzungserscheinungen") gab es natürlich eine große Anzahl inoffizieller Kontakte, inoffizieller Kooperation von Vertretern des Finanzkapitals mit Staatsorganen oder einzelnen Staatsbeamten auf allen Ebenen. Diese Form der „Vereinigung der Riesenmacht des Kapitalismus mit der 30
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Zentrales Staatsarchiv (im folgenden: ZStA) Potsdam, RA/RM d. Innern, Kartellwesen im allgemeinen, Nr. 7153, Bl. 45. Ebenda, Nr. 7154, Bl. 26. Kaelble, Hartmut, Industrielle Interessenpolitik in der wilhelminischen Gesellschaft. Centraiverband Deutscher Industrieller 1895—1914, Berlin 1967, S. 5=Veröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin beim Friedrich Meinecke-Institut der Freien Universität zu Berlin, Bd. 27. Dazu neuerdings die Dokumentation: Zilcb, Reinbold, Zur wirtschaftlichen Vorbereitung des deutschen Imperialismus auf den ersten Weltkrieg. Das Protokoll der Sitzung des „Wirtschaftlichen Ausschusses" bei der „Ständigen Kommission für Mobilmachungsangelegenheiten" vom Mai 1914, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, Nr. 2/1976, S. 202-215.
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Riesenmacht des Staates" wird oft an erster Stelle genannt, wenn auf Erscheinungen des staatsmonopolistischen Kapitalismus hingewiesen wird. Diesen Verbindungen kommt zweifellos allergrößte Bedeutung zu. Wir nennen sie nur deshalb hier erst an dieser Stelle, weil ihre Bedeutung, wenn man den wirtschaftshistorischen Aspekt der Entwicklung untersucht, eigentlich erst vor dem Hintergrund der „offiziellen" Struktur der Wechselbeziehungen zwischen Staat und Wirtschaft voll sichtbar wird. Anders ausgedrückt: Wenn „der Staat" in dem Maße in wirtschaftlichen Dingen aktiv ist, wie er es im Deutschen Reich in den letzten Jahrzehnten vor dem ersten Weltkrieg war, erhält die inoffizielle Einflußnahme führender Monopolvertreter auf Teile des Staatsapparates besonderes Gewicht. Hier an dieser Stelle können nur die wichtigsten Verflechtungen genannt werden. Besonders schwerwiegend und folgenreich war der Einfluß der Firma Krupp auf den Kaiser und entscheidende Teile des Staatsapparats. „Ein ganzer staatlicher Beamtenapparat von Ministern und Botschaftern bis herunter zum kleinsten Beamten, der mit ein paar Mark bestochen wird, steht ihnen (den Krupps) zur Verfügung" 3 4 schreibt Kuczynski und stellt vergleichend fest: „Selbstverständlich rüsteten alle imperialistischen Länder auf, zum Teil stärker pro Kopf der Bevölkerung als Deutschland. Aber in keinem anderen imperialistischen Lande hatten die Rüstungsmonopole eine so starke Position wie in Deutschland. In anderen Ländern standen ihnen andere raubgierige Monopole ebenbürtig zur Seite. Nicht so in Deutschland. Nirgends war auch die Verschmelzung von Staat und Rüstungsindustrie so weit vorangeschritten wie in Deutschland." 35 Aber auch innerhalb Deutschlands war die persönliche Verflechtung nirgends so weit vorangeschritten wie im Fall der Rüstungsindustrie, wie Karl Liebknecht schon 1913 feststellen konnte. 36 Als besonders folgenreich wären außerdem die engen Beziehungen führender Vertreter des Finanzkapitals zum Auswärtigen Amt herauszuheben — von denen nur ein Beispiel weiter oben geschildert wurde —, die sich zwar noch nicht bis zu dem Grad der „Versippung" gesteigert hatten wie im Falle der Rüstungsindustrie, die aber dennoch für die gesamte Außen- und Außenwirtschaftspolitik des Deutschen Reiches nicht weniger bedeutungsvoll, vielleicht sogar entscheidender waren. 37 Von Bedeutung war ferner auch der Einfluß, den sich Walther Rathenau schon vor dem ersten Weltkrieg insbesondere beim Reichskanzler von Bethmann Hollweg zu schaffen verstand, womit sich die Forschung in den letzten Jahren eingehender beschäftigt hat. 38 Man kann diese kurze Bestandsaufnahme nicht abschließen, ohne wenigstens die Frage aufzuwerfen, in welchem Umfang nun im Rahmen des geschilderten Beziehungssystems zwischen Staat und Wirtschaft bereits Regulierungen gesamtwirtschaftlicher und sozialer Kuczynski, Jürgen, Bd. 4 : a. a. O., S. 94. 35 Ebenda, S. 92. 36 Liebknecht, Karl, Ausgewählte Reden, Briefe und Aufsätze, Berlin 1952, S. 218. 3 7 Siehe dazu die zahlreichen Arbeiten, die in der DDR über die Expansionspolitik des deutschen Imperialismus erschienen sind, u. a. von Werner Basler, Horst Drechsler, Friedrich Katz, Fritz Klein, Jürgen Kuczynski (Bd. 4: a. a. O.), Lothar Rathmann, Helmut Stoecker. Vgl. ferner: Fischer, Fritz, Griff nach der Weltmacht, Düsseldorf 1964; Hallgarten, George W.F., Imperialismus vor 1914, 2 Bde, 2. veränd. Aufl., München 1963. 38 Siehe z. B.: Gutsche, Willibald, Aufstieg und Fall eines kaiserlichen Reichskanzlers. Theobald von Bethmann Hollweg 1856—1921. Ein politisches Lebensbild, Berlin 1973; Mader, Ursula, Walther Rathenau als Funktionär des Finanzkapitals. Beiträge zu einer politischen Biographie (1887—1917), phil. Diss. Humboldt-Universität Berlin 1974. Auch: Stegmann, Dirk, Die Erben Bismarcks. Parteien und Verbände in der Spätphase des wilhelminischen Deutschlands, Köln 1970. 34
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Staat und Ökonomik vor dem ersten Weltkrieg
Prozesse stattgefunden haben bzw. versucht wurden. In späteren Abschnitten — so z. B. über den Bergbau und die Landwirtschaft — soll darauf* noch etwas genauer eingegangen werden. Wenn man noch einmal Abbildung 8 (S. 102) betrachtet und sieht, wie hoch der Anteil der öffentlichen Investitionen an den Gesamtinvestitionen in den 1880er Jahren war, so wird man nicht umhin können, zu schließen, daß das von erheblichem Einfluß auf den gesamtvolkswirtschaftlichen Reproduktionsprozeß gewesen sein muß. Von den bewußten Regulierungsversuchen muß man an erster Stelle das Zollsystem nennen. Obwohl die Zölle auch als Einnahmequelle für den Reichshaushalt noch immer wesentlich waren, überwog doch allmählich die wirtschaftspolitische Bedeutung die fiskalische bei weitem. Zwar hatte diese Entwicklung schon früh eingesetzt, aber seit den neunziger Jahren war das Zollsystem als Regulierungsinstrument bedeutend verfeinert und ausgebaut worden. Besonders die Agrarzölle wurden bewußt als Mittel zur Aufrechterhaltung der ländlichen Sozialstruktur angewendet. 39 Institutionell hatte sich diese erhöhte Bedeutung des Zolls als Regulierungsinstrument in der Weise niedergeschlagen, daß seit 1899 im Reichsamt des Innern ein spezielles Referat für die „Wirtschaftliche Seite des Zoll- und Steuerwesens" bestand. Die Steuern wurden jedoch noch kaum zu Versuchen der Steuerung des Reproduktionsprozesses eingesetzt, obwohl es gewisse Ausnahmen gab; so diente z. B. die Branntweinsteuer, die älteren Datums war, aber 1909 im Zuge der Finanzreform gesetzlich neu geregelt wurde, ausgesprochen der Produktionsregulierung, und zwar hauptsächlich zugunsten der ostelbischen Gutswirtschaften und des Spiritussyndikats. Direkte staatliche Subventionen spielten zum Beispiel in der Seeschiffahrt und in der Kolonialwirtschaft eine Rolle, waren aber, am Maßstab der gesamten Wirtschaft gemessen, gering, zumindest wenn man die Betrachtung der direkt ausgewiesenen Subventionen zugrundelegt. Tabelle 25 zeigt den Unterschied der Größenordnungen zur Zeit nach dem ersten Weltkrieg. Es wäre aber eine Frage, ob man nicht auch die Ausfuhrprämien zu den Subventionen rechnen sollte. Bei verschiedenen Erzeugnissen, z. B. Zucker, hatte sich das Ausfuhrprämiensystem nur vorübergehend halten können und wurde durch eine Konvention der zuckerexportierenden Länder (ß rüsseler Konvention vom 5. März 1902, erneuert 1908) beendet. In bezug auf die Roggenausfuhr aber vergrößerte sich die Summe der Ausfuhrstützungen seit 1894 — seit der Aufhebung des sogenannten Identitätsnachweises für Tabelle 25 Subventionen
der öffentlichen
Hand1 ( l f d . Preise)
Durchschnittlich jährlich
Mill. Mark
Durchschnittlich jährlich
Mill. Mark
1870/79 1880/89 1890/99 1900/09 1910/13
9,2 5,1 4,5 5,8 7,75
1925/29 1930/35 1935/38
154,8 316,2 336,6
1
Ab 1925 einschließlich Darlehen zur Wirtschaftsförderung
Quelle: Berechnet nach Hoff mann, Waltber G., Das Wachstum der deutschen Wirtschaft seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, Berlin/Heidelberg/New York 1965, S. 802f. 39
Siehe dazu Kapitel 7.
112
Zur Rolle des Staates in der Ö k o n o m i k
Getreide — von jährlich 6,76 Millionen Mark auf 126,5 Millionen Mark im Jahre 1912! Man vergleiche diese Summe mit den in Tabelle 25 angeführten Summen der „direkten" Subventionen. Der „Rohertrag der Zölle abzüglich der Ausfuhrvergütungen und des Betrages der in Anrechnung genommenen Einfuhrgutscheine" war 1912 rund 775 Millionen Mark, der „Betrag der in Anrechnung genommenen Einfuhrgutscheine" aber rund 126,5 Millionen Mark. 40 Diesen Betrag ließ sich also der Reichshaushalt entgehen, um ihn hauptsächlich den nordostdeutschen Junkerwirtschaften zuzuwenden, damit diese weiterhin Roggen anbauen und exportieren konnten (vgl. die große Zunahme der Roggenanbaufläche und der Roggenernteerträge seit 1894 in den Abbildungen 12 und 15), mit dem Erfolg, daß der Roggenexport den -import schließlich übertraf. (Als eine der Spätfolgen dieser Subventionen ist es sicherlich anzusehen, daß dann Ende der zwanziger Jahre der Binnenmarkt in Roggen förmlich erstickte und der Staat wiederum Stützungsmaßnahmen ergreifen mußte. 41 ) Zu den Versuchen der gesamtwirtschaftlichen Regulierung sollte man auch die Projekte zählen, die in verschiedenen staatlichen Apparaten, z. B. in Bayern und im Reich, liefen und eine zentrale Steuerung der Elektroenergieerzeugung bezweckten. Im März 1914 war im Reichsamt des Innern ein detaillierter, 62 Paragraphen umfassender Gesetzentwurf fertiggestellt, der einen planmäßigen, koordinierten Ausbau einer rationellen Elektrizitätsversorgung des ganzen Reichsgebietes sichern sollte und der unter maßgeblicher Mitwirkung Walther Rathenaus zustande gekommen war. Vorgesehen war ein riesiges gemischtwirtschaftliches Unternehmen mit dezentralisierter Struktur, in dem die Investitionstätigkeit zentral gesteuert, die operative Betriebsführung aber den Teilunternehmen überlassen werden sollte. 42 Die staatlichen Positionen waren in diesem im Entwurf vorgesehenen gemischtwirtschaftlichen Unternehmen aber im Unterschied zu den ursprünglichen Ideen Walther Rathenaus sehr stark ausgebaut. Die preußischen Ressorts leisteten hinhaltenden Widerstand; nach Kriegsausbruch ließ sich der Reichskanzler die Akten noch alle drei Monate vorlegen, bis er schließlich am 23. Januar 1916 denVermerk anbrachte: „Die Angelegenheit ist infolge des Krieges erledigt." 43 Man wird indessen kaum sagen können, daß das Reichselektrizitätsmonopol lediglich infolge des Kriegsausbruches gescheitert ist. Alle Umstände deuten darauf hin, daß das Projekt wegen der starken Interessengegensätze ohnehin zum damaligen Zeitpunkt nicht zu verwirklichen gewesen wäre, zumindest nicht in der vorgesehenen Form. Reichskanzler und Reichsschatzamt erwiesen sich als nicht stark genug, die Gegenkräfte zu überwinden. Das zur Verfügung stehende Material läßt einige Schlüsse darüber zu, aus welcher Richtung diese Gegenkräfte erwuchsen. Zunächst hat der in allgemein-politischen Motiven begründete föderalistische Standpunkt Preußens eine wichtige Rolle gespielt. Aber darüber hinaus gab es zweifellos speziellere Hintergründe für die preußische Haltung in dieser Frage. Die großen Schwerindustrieunternehmen beispielsweise, insbesondere diejenigen des Ruhrreviers, die größtenteils selbst Elektroenergie produzierten — 1913 waren 80 Prozent der Erzeugungskapazität in industriellen Eigenanlagen installiert! — oder an regional bedeutenden Elektrizitätswerken beteiligt waren, konnten damals schwerlich Interesse an einer zentralgesteuerten Elektrizitätswirtschaft mit starker reichsbehördlicher Kontrolle haben. Im Unterschied zur A E G , die zum Beispiel, wollte sie ihre Elektrizitätserzeugungsunternehmen ausdehnen, mit zahl40
Statistisches ]abrbucb für das Deutsche Reich 1914, S. 361.
41
V g l . dazu Band 2, Abschnitt II, dieser Arbeit.
42
Ausführlicher : Nussbaum,
Helga, Elektrizitätswirtschaft, a. a. O .
« Z S t A Potsdam, Reichskanzlei, N r . 599, Bl. 237/237 v.
Staat und Ökonomik vor dem etsten Weltkrieg
113
reichen kommunalen und regionalen Behörden verschiedener Bundesstaaten schwierige Verhandlungen zu führen hatte {gab es doch überaus zahlreiche, zum Teil kleine und teuer produzierende kommunale Elektrizitätswerke, die man nicht einfach aufkaufen konnte), waren die elektrizitätswirtschaftlichen Interessen der Ruhrindustriellen tatsächlich regional begrenzt und konnten durch Einflußnahme auf die Regionalbehörden ausreichend gesichert werden — vor allem auch gegen Enteignungen etc.! Das Reichselektrizitätsmonopol ist ein bloßes Projekt geblieben. Die betreffenden Vorgänge lassen jedoch erkennen, wie auf bestimmten Gebieten schon vor dem ersten Weltkrieg von der Seite der Produktivkräfte her, genauer: aus dem Zwang zur rationellen Organisation der Produktivkräfte der Zwang zur Entwicklung „moderner" staatsmonopolistischer Organisationsformen, Formen der Kooperation und Verschmelzung von Staats- und Monopolmacht zum Zwecke der Regulierung der Produktion, wirksam wurde; wie diese Tendenz gefördert wurde durch das Bestreben der Reichsbehörden, neue Finanzierungsquellen für die Aufrüstung zu erschließen, ein Bestreben, das im Interesse des Gesamtmonopolkapitals lag; wie diese Tendenz gehemmt wurde durch die föderative Reichsstruktur und durch die Interessen einzelner Monopolgruppen, die der föderativen Struktur zusätzliches Gewicht verliehen. In ihrem inhalts- und umfangreichen Beitrag zu einer Rathenau-Biographie hat Ursula Mader geschrieben, das Projekt des Reichselektrizitätsmonopols sei hauptsächlich deshalb gescheitert, weil es unrealistisch die Herrschaft der AEG über die anderen Monopolgruppen habe aufrichten wollen. 44 Bei dieser Einschätzung tritt aber die Tatsache etwas zu sehr in den Hintergrund, daß der von der Reichsleitung schließlich ausgearbeitete Gesetzentwurf doch entschieden anders aussah als das ursprüngliche Projekt von Rathenau. 45 Bei den auf örtlicher und regionaler Ebene in den Jahren vor dem ersten Weltkrieg zahlreich entstandenen gemischtwirtschaftlichen Unternehmen war regelmäßig, wie ein damaliger Kritiker bemerkte, das Bestreben von Seiten des Privatkapitals aufgetreten, die „Übermacht und Kontrolle der fiskalischen Gruppe" zu paralysieren, indem es sich das Recht der Vorstandsbesetzung gesichert hatte. 46 Im Gesetzentwurf sollten nun dem Verwaltungsrat gegenüber dem Vorstand besondere Rechte eingeräumt werden (§§ 5 bis 12 des Entwurfs), wobei ein Abstimmungsmodus innerhalb des Verwaltungsrates Anwendung finden sollte, der den Einfluß der privaten Gruppe auf ein Minimum begrenzte. Es sollte also hier bewußt die „Übermacht und Kontrolle der fiskalischen Gruppe" gesichert werden, und das ist es wohl, was man an diesem Projekt als unrealistisch bezeichnen kann: es garantierte keine „echte" Kooperation zwischen Staat und privatem Monopolkapital. Wenn zuvor bemerkt wurde, daß sich auf bestimmten Gebieten schon früh aus dem Zwang zur rationellen Organisation der Produktivkräfte eine Triebkraft zu staatsmonopolistischen Formen entwickelte, so sollte damit auf die schon früher erwähnte gewisse Ähnlichkeit der Elektrizitätserzeugung und -Verteilung mit dem Eisenbahnwesen Bezug genommen werden. Es waren eben diese Bereiche, die man heute mit anderen in dem Begriff „Infrastruktur" zusammenfaßt, in denen sich diese Triebkraft früh herausbildete, und in denen auch heute in den monopolkapitalistischen Ländern — neben dem Rüstungssektor — staatsmonopolistische Formen am stärksten ausgeprägt sind. Mader, Ursula, a. a. O., Kap. III. Gesetzentwurf: ZStA Potsdam, Reichskanzlei, Nr. 599, Bl. 12—157. Denkschrift Rathenaus abgedruckt bei: Nussbaum, Helga, Elektrizitätswirtschaft, a. a. O., S. 192—203. 46 Friedrich Fasolt, Generalsekretär der Vereinigung elektrotechnischer Spezialfabriken, in einer Eingabe „Betr. öffentliche Elektrizitätsversorgung" an das preußische Staatsministerium, (ZStA Merseburg, Rep. 77, Tit. 1375, Nr. 3, Bd. 1, Bl. 273 v.)
44
45
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Zur Rolle des Staates in der Ökonomik
Zu den Regulierungsmaßnahmen muß man auch den ganzen Komplex der sozialpolitischen Maßnahmen und Einrichtungen rechnen, die Kranken-, Unfall-, Invaliden- und Altersversicherung, die in keinem kapitalistischen Land der Welt bis Beginn des 20. Jahrhunderts so stark ausgebaut waren wie in Deutschland — noch vor dem ersten Weltkrieg begannen dann viele europäische Länder stark „nachzuziehen", darunter auch Großbritannien zwischen 1905 und 1911, in dem sogar eine Arbeitslosenzwangsversicherung für rund ein Sechstel der Arbeiter eingeführt wurde 4 7 — und den offen ausgesprochenen Zweck verfolgte, die Arbeiterklasse zu „manipulieren".
3. Zur Einschätzung des Charakters der ökonomischen Tätigkeit des Staates in der Zeit zwischen 1871 und 1914 Überblicken wir den im vorhergehenden Abschnitt dargelegten Komplex von Formen der Kooperation und Verschmelzung von Staat und wirtschaftlichen Kommandohöhen, so ergeben sich verschiedene Fragen. Soll man nun alle dieser Erscheinungen als staatsmonopolistische Formen ansehen, als Ausdruck einer neuen Qualität der Verflechtung von Staat und Ökonomik? Inwieweit war die Verflechtung, war die Rolle des Staates im Reproduktionsprozeß durch dessen monopolistische Struktur bedingt? Inwieweit sind jene Erscheinungen eventuell auf ganz spezielle, nur in Deutschland vorhandene Umstände zurückzuführen? Inwieweit sind sie mit Relikten früherer Entwicklungsstufen des Kapitalismus verknüpft? Was Cistozvonov in bezug auf die Genesis des Kapitalismus schrieb, könnte fast als Motto für die hier aufgeworfene Problematik dienen: „Bei der Erforschung beliebiger, besonders aber bei der Erforschung großer historischer Ereignisse oder Erscheinungen, ist es besonders wichtig, immer die Ursachen und Voraussetzungen für ihre Entstehung zu untersuchen und zu erkennen, den Prozeß ihrer Genesis und ihrer Entfaltung eingehend zu analysieren. Davon hängt in entscheidendem Maße die Richtigkeit der aus der Untersuchung gezogenen Schlußfolgerungen ab, die Klärung der Perspektiven und des Charakters der weiteren Entwicklung einer gegebenen Erscheinung. Ein richtiges Urteil über das Wesen neu entstehender Faktoren und Kategorien abzugeben, die in der Regel als buntes Chaos von Übergangs- und Zwischenformen auftreten, ist bei weitem schwieriger, als über schon entstandene und entwickelte Kategorien zu urteilen. Deshalb ergeben sich die heftigsten Dis-
kussionen gerade aus den verschiedenen Meinungen bei der Beurteilung der genetischen
Kategorien."48
(Hervorhebung von mir — H. N.) 47
48
Vgl. Übersicht: „Die Sozialversicherung in Europa", Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich 1919, S. 32*—58*; Vollard, Sidney, a. a. O., S. 34ff. — Handke, Horst, Strukturwandlungen der Arbeiterklasse und staatsmonopolistische Regulierungen der Klassenbeziehungen. Zu einigen Problemen der sozialen und politischen Entwicklung in Deutschland von den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts bis zum ersten Weltkrieg, in: Wirtschaft und Staat im Imperialismus. Beiträge zur Entwicklungsgeschichte des staatsmonopolistischen Kapitalismus in Deutschland, hg. V. Lotte Zumpe, Berlin 1976, S. l l l f f . Cistozvonov, A. N., Über die Arbeit der Sektion „Genesis des Kapitalismus" des wissenschaftlichen Komplexrates „Gesetzmäßigkeiten der historischen Entwicklung der Gesellschaft und des Übergangs von einer sozialökonomischen Formation zu einer anderen" in Moskau. (Tätigkeitsformen, Ergebnisse, Perspektiven), in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 1973, T. 3, S. 227.
Der Charakter der ökonomischen Tätigkeit des Staates
115
Erweckt nicht in der Tat der Überblick in den vorhergehenden Abschnitten den Eindruck, daß man es in bezug auf die Beziehung zwischen Staat und Ökonomik mit einem „bunten Chaos von Übergangs- und Zwischenformen" zu tun hat? Wir sehen engste Zusammenarbeit zwischen Großbanken und Reichsleitung in bezug auf Kapitalexport — aber der Einfluß der Riesenkonzerne der Elektroindustrie und auch der Chemieindustrie auf die staatlichen Apparate blieb bis zu den letzten Jahren vor dem ersten Weltkrieg relativ gering, vor allem im Vergleich zu dem junkerlichen Einfluß. Die Industrie erhielt nur minimale staatliche Subventionen, die Landwirtschaft aber beträchtliche Zuwendungen. Der Eintritt in das imperialistische Stadium wurde begleitet von einem Sieg der agrarischen Kräfte in der so wichtigen Lebensmittelzollfrage. Der Anteil der öffentlichen Investitionen betrug in den 1880er Jahren rund 40 Prozent der Gesamtinvestitionen — sank dann aber ab. Die Einnahmen der öffentlichen Haushalte aus Unternehmertätigkeit waren sehr hoch. Die Kriegsrüstung und Militarisierung des öffentlichen Lebens nahm zu, und mit ihr die Verflechtung der Schwerindustriemonopole mit der Reichsspitze — es bildete sich bereits ein ausgeprägter „Militär-Industrie-Komplex" — aber die staatlichen Verwaltungsausgaben pro Kopf der Bevölkerung stiegen rascher an als die entsprechenden Militärausgaben. Es wurde auf die immer enger werdende Kooperation zwischen „Privatwirtschaft" und Staat in bezug auf den Außenhandel hingewiesen und auf die Rolle, die die Monopole innerhalb dieser Kooperation zu erringen wußten, aber es wäre andererseits auch ganz falsch zu behaupten, es wären ausschließlich die Interessen der Monopole in den Zolltarifaushandlungen berücksichtigt worden. War die Kartellbildung in der Schwerindustrie von staatlicher Seite unterstützt und die Kartellierung überhaupt durch den Reichsgerichtsentscheid von 1897 grundsätzlich gefördert worden, so unternahm andererseits die preußische Regierung 1904 den ernsthaften Versuch, die Monopolstellung des Rheinisch-Westfälischen Kohlensyndikats zu brechen. Dies nur als kurze Rückblende — die Herzählung der Widersprüchlichkeiten in den Erscheinungen könnte beliebig fortgesetzt werden. Um nun etwas Ordnung in dieses „bunte Chaos" der Erscheinungen zu bringen, müssen wir bei unseren Überlegungen etwas weiter ausholen. Im Kapitel 2 wurde die These Jürgen Kuczynskis zitiert, daß der Staat immer in den Spätstadien der Gesellschaftsordnungen eine stärkere Rolle in der Ökonomik gespielt habe — also etwa im Spätfeudalismus und dann im Imperialismus — und es wurde dem bereits entgegengehalten, daß man dabei nicht den unterschiedlichen Grad der Vergesellschaftung der Produktion außer acht lassen dürfte. Einige zusätzliche Gesichtspunkte wären jetzt aber noch zu erörtern. Wie verhält es sich denn z. B. mit der ökonomischen Rolle des Staates im Frühstadium des Kapitalismus? Kann man etwa generell behaupten, daß in allen Ländern der Staat im jeweiligen Anfangsstadium des Kapitalismus eine geringe Rolle in der Ökonomik spielte? Trifft dies nicht eigentlich nur für ganz wenige Länder oder gar nur für Großbritannien zu? Beobachten wir nicht in Ländern, die später in das Stadium des Kapitalismus eintraten, zum Teil stärkste staatliche Förderung oder Initiierung der kapitalistischen ökonomischen Entwicklung von Anbeginn — wie etwa in Italien, Japan, Ungarn?® Es fragt sich, wenn man die internationale Entwicklung betrachtet, ob nicht die Mehrzahl der Länder mehr oder weniger zum letztgenannten Typ zu rechnen sind. Das im 49
Zur entsprechenden Entwicklung in „Ostmitteleuropa" siehe: Beread, lvän T.JBJnki, György, Economic Development in East-Central Europe in the 190th and 20th Centuries, New York/London 1974; dieselben, Hungary. A Century of Economic Development, Newton Abbot/New York 1974.
9 Nussbaum, Wirtschaft:
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Zur Rolle des Staates in der Ökonomik
Weltmaßstab verbreitetste Modell (wenn auch nicht das „klassische") des Verhaltens des Staates zur kapitalistischen Ökonomik wäre wohl folgendermaßen zu beschreiben: Auf die Beine helfen Laufen lassen („laisser aller") Krücken liefern bei Erlahmung der Regelmechanismen der kapitalistischen Marktgesetze (— infolge Monopolisierung und wachsendem Vergesellschaftungsgrad der Produktion — wobei Krükkenlieferung in dieser Phase nur bei wachsender Kooperation und Verflechtung von Staatsund Monopolmacht möglich ist). Dabei kann sowohl die mittlere Phase vollkommen fehlen oder es können auch alle Phasen ineinander übergehen oder miteinander verschmelzen. Und was nun sehr wichtig ist zu beachten: diese Phasen müssen in einem bestimmten Land durchaus nicht übereinstimmen mit dem jeweiligen Weltentwicklungsstadium des Kapitalismus! Mit anderen Worten : Wir werden, wenn wir ein konkretes Land untersuchen, nicht schlechthin davon ausgehen können, daß die ökonomische Tätigkeit des Staates sich etwa nach einem starren zeitlichen Schema gliedern oder einschätzen läßt: Frühstadium des Industriekapitalismus und entwickelter Kapitalismus der freien Konkurrenz, d.h. 1760 bis 1870: vorhandene, aber geringe und nicht wachsende ökonomische Aktivität des Staates; Übergang zum Monopolkapitalismus ab 1870 und Monopolkapitalismus ab 1900: wachsende ökonomische Aktivität des Staates, zunehmende Verflechtung zwischen Staats- und Monopolmacht. Bekannt ist die These von Gerschenkron, die er auf Grund empirischer Untersuchungen der „Industrialisierung" europäischer Länder des 19. Jahrhunderts aufstellte: Je rückständiger ein Land, desto stärker die Rolle von Institutionen, die die Kapitalbildung und Unternehmensführung leiten — Banken in Mitteleuropa, der Staat in Osteuropa.50 Diese Betrachtungsweise ist aber noch zu einseitig. Viel fruchtbarer ist der marxistisch-leninistische Ansatz von Cistozvonov, der bei der Erklärung der Genesis des Kapitalismus in den verschiedenen Ländern die „stadial-regionale" Methode anwendet. Dieser Ansatz läßt sich ohne weiteres auf unsere Problematik übertragen. Er beinhaltet, kurz zusammengefaßt, die These: Die „stadialen Systemfaktoren", also diejenigen Faktoren, die vom Weltsystem des Kapitalismus ausgehen, beeinflussen und „deformieren" um so stärker die Entwicklungsprozesse in denjenigen Ländern, in denen die Genesis des Kapitalismus erst später als etwa in Großbritannien erfolgte, je höher jeweils der Reifegrad des kapitalistischen Weltsystems zu der Zeit ist, in der in diesen Ländern die kapitalistische Entwicklung beginnt. Nach diesem Ansatz wäre die Deformierung, Verzerrung oder Abweichung vom „klassischen" Entwicklungsweg des Kapitalismus etwa in Deutschland, in dem die Industrielle Revolution etwa 60—70 Jahre später einsetzte als in Großbritannien als geringer zu betrachten als etwa in Japan, wo um 1870 die Genesis des Kapitalismus einsetzte. Um diese Zeit war die kapitalistische Weltwirtschaft schon beträchtlich entwickelt, die Kommunikation bedeutend, die Handelskonkurrenz groß, die Aufteilung der Welt unter die Großmächte trat in ein entscheidendes Stadium. Unter diesen Bedingungen spielte also in Japan das staatliche „Auf die Beine helfen" die entscheidende Rolle, die „laisser aller"-Phase fiel aus, und den regionalen Besonderheiten im Zusammenwirken mit den stadialen Faktoren wäre es zuzuschreiben, daß hier von Staatsseite sofort große Monopolgebilde geschaffen wurden, der Kapitalismus also gewissermaßen als staatsmonopolistischer Kapitalismus auf die 50 Gerscbenkron, Alexander, Economic Backwardness in Historical Perspective, Cambridge Mass. 1962.
Der Charakter der ökonomischen Tätigkeit des Staates
117
Welt kam. Wieder anders und noch wesentlich „deformierter" vollzog sich die Entwicklung des Kapitalismus in den ehemals kolonialen Ländern im 20. Jahrhundert unter den Bedingungen des entwickelten monopolkapitalistischen Weltwirtschaftssystems und des Bestehens des sozialistischen Weltwirtschaftssystems. Die Rolle „des Staates" ist in diesen Ländergruppen bei der Genesis des Kapitalismus womöglich noch größer. Der Charakter der Staatstätigkeit wäre wiederum anders einzuschätzen als bei denjenigen Ländern, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts den Weg des Kapitalismus beschritten. Deutschland ist in diesem Bezugssystem als ein Fall anzusehen, der eine Mittelstellung einnimmt etwa zwischen Großbritannien und Japan. Die Phasen des „Auf die Beine helfen", des „Laufen lassen" und des „Krücken liefern" sind nicht völlig miteinander verschmolzen, aber auch nicht klar voneinander abgehoben, sondern sie sind reichlich verwischt und gehen ineinander über. Deutschland war im Begriff, in die Phase des „Laufen lassen" einzutreten, als die große Abschwungswelle begann, die Weltmarktkonkurrenz sich enorm zuspitzte, ein erneutes koloniales Wettrennen einsetzte, und die Monopolbildung begann. E s ist also kein Wunder, wenn die Phase des „Laufen lassen" sich rasch mit der Phase des „Krücken liefern" durchmischte, kein Wunder, daß bereits bald nach 1870 neue Tendenzen in der Bourgeoisie entstanden, die auf erneute Staatseingriffe in den Reproduktionsprozeß abzielten. Wenn vorhin allgemein gesagt wurde, der jeweilige Reifegrad des kapitalistischen Weltsystems wirke „deformierend" auf die kapitalistische Entwicklung bestimmter Länder ein, so haben wir diese Überlegungen nun in bezug auf die Staatstätigkeit noch etwas zu konkretisieren. Wir haben im Kapitel 2 drei Gruppen von Widersprüchen genannt, die im Monopolkapitalismus die Verflechtung von Staats- und Monopolmacht hervorrufen und vorantreiben: diejenigen, die sich aus der zunehmenden Vergesellschaftung der Produktion ergeben (wovon die Monopolisierung gewissermaßen nur der „organisatorische" Ausdruck ist); diejenigen, die sich aus der Zuspitzung der Klassenwidersprüche ergeben; und, alles umfassend, diejenigen, die sich aus den politischen Bedingungen ergeben, nämlich unter dem revolutionären Druck der Epoche des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus das monopolkapitalistische Gesamtsystem zu stabilisieren. Die Gruppen von Widersprüchen beinhalten in bezug auf die Entwicklung eines einzelnen Landes sowohl innere als auch äußere Faktoren und machen sich bei der Ungleichmäßigkeit der Entwicklung der Länder im Weltmaßstab — siehe das eben zuvor entwickelte — zu unterschiedlichen Zeiten, in unterschiedlicher Reihenfolge und in unterschiedlichem Schweregrad bemerkbar. Man muß nun in diese Gruppen von Widersprüchen auch diejenigen einbeziehen, die sich aus der jeweiligen Position eines beliebigen Landes innerhalb des kapitalistischen Weltsystems ergeben. In Hinblick auf das kapitalistische Weltsystem wären das wiederum „innere" Faktoren, in bezug auf ein einzelnes kapitalistisches Land aber „äußere". A u s dem Nebeneinanderbestehen von Ländern mit unterschiedlichem Reifegrad der kapitalistischen Entwicklung im kapitalistischen Weltwirtschaftssystem ergibt sich, seit letzteres existiert und besonders seit es monopolkapitalistischen Charakter angenommen hat: J e schwächer zu einem gegebenen Zeitpunkt das kapitalistische ökonomische System eines Landes, je schwächer seine Position im Rahmen der kapitalistischen Weltwirtschaft, um so stärker werden die Staatseingriffe in den Reproduktionsprozeß sein. Umgekehrt — umgekehrt. Was Deutschland am Ende des 19. Jahrhunderts angeht, so war es, was seine innere ökonomische Struktur angeht, keineswegs „schwach", sondern diese hatte bereits den Reifegrad erreicht, (z. T . eben durch „Schutz" und mit Hilfe des Staates), daß die dem Mo9*
118
Zur Rolle des Staates in der Ökonomik
nopolkapital innewohnenden Expansionskräfte gewaltig nach außen drängten. Aber seine weltwirtschaftliche Position war eben noch schwächer als diejenige Englands, in bezug auf den Kapitalexport auch als diejenige Frankreichs. Diese verhältnismäßige Schwäche setzte sich dann in besondere Aggressivität um und verursachte stärkere Verflechtung von Ökonomik und Staat. In Großbritannien, dessen beherrschende Stellung in der kapitalistischen Weltwirtschaft noch bis zum ersten Weltkrieg andauerte, hielt sich die laisser aller-Periode am längsten. In den USA, die nach dem ersten Weltkrieg das Erbe Großbritanniens im kapitalistischen Weltwirtschaftssystem anzutreten begannen und wo sich das stärkste monopolkapitalistische Volkswirtschaftssystem entwickelte, haben seitdem 51 staatlicher Sektor und Staatseingriffe in den Reproduktionsprozeß bis heute nicht das Ausmaß erreicht wie in den schwächeren westeuropäischen imperialistischen Ländern — was wiederum nicht heißt, daß in den USA die Verflechtung von Staats- und Monopolmacht nicht enorm wäre. Es sind also diese zusätzlichen Faktoren, die von den Konstellationen innerhalb des kapitalistischen Weltsystems ausgehen, die wesentlich dazu beitragen, das Bild der ökonomischen Staatstätigkeit in den einzelnen Ländern so bunt und ungleichmäßig erscheinen zu lassen, die zu dem Auf und Ab der Tendenzen beitragen, das zunächst verwirrt. Was nun bisher über den Einfluß der relativen „Schwäche" und „Stärke" der einzelnen kapitalistischen Volkswirtschaften im Rahmen der kapitalistischen Weltwirtschaft gesagt wurde, kann man ganz ähnlich, wenn auch nicht in voller Analogie, auf die Verhältnisse innerhalb einer kapitalistischen Volkswirtschaft übertragen. Je mehr die Monopole zu beherrschenden Mächten in Ökonomik und Politik werden, desto mehr werden sie es im allgemeinen verstehen, die ökonomische Staatstätigkeit in die Richtung zu lenken, die ihnen genehm ist (im Deutschland vor 1914 war letzteres nicht immer der Fall). Das ist aber nur als allgemeinste Tendenz zu verstehen. Die Geschichte zeigt, daß das Monopolkapital Versuchen zur staatlichen Regulierung des Reproduktionsprozesses immer erneut — und zwar bis heute — Widerstand entgegensetzte. Bedeutet doch Produktionsregulierung durch den Staat immer auch Profitregulierung, und dies steht eben im Widerspruch zum Prinzip der Profitmaximierung, das dem Kapital innewohnt. Bestrebungen zur Produktionsregulierung von Seiten des Staates fördern daher im allgemeinen Bestrebungen des Monopolkapitals, Einfluß auf den Staatsapparat zu gewinnen, und zwar auch um Regulierungen zu verhindern oder nur solche Regulierungen zuzulassen, die für das Monopolkapital im ganzen oder für einzelne seiner Gruppen günstig sind. Etwas zugespitzt formuliert: Der Grad der Verschmelzung oder Kooperation zwischen Staat und Monopolen und das Ausmaß der staatlichen Regulierung des Reproduktionsprozesses müssen sich nicht gleichläufig entwickeln, sondern ihre Entwicklung kann unter Umständen direkt entgegengesetzt sein. Gerade dieser Umstand macht es so schwer, den Grad der staatsmonopolistischen Entwicklung im konkreten Falle in einem Land zu bestimmen. Wenn also die These formuliert wurde, das Monopol fordere mit seinem Entstehen die Staatseinmischung heraus, so muß man nun diese These erweitern: Versuche der Staatseinmischung fordern die Einwirkung der Monopolvertreter auf die Staatstätigkeit heraus. Die Verflechtung von Staat und Ökonomik erhält mit dem Entstehen des Monopolkapitals eine neue Qualität, aber diese neue Qualität muß sich nicht immer und überall und sofort in stärkerer staatlicher Regulierung des Reproduktionsprozesses zeigen, sondern kann sich auch im Unterbleiben objektiv notwendig gewordener Regulierungen äußern. 61
Aber erst seitdem, denn im 19. Jahrhundert hat auch dort der Staat auf dem Gebiet der Handelspolitik hohem Maße protektionistisch gewirkt.
in
Der Charakter der ökonomischen Tätigkeit des Staates
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Es liegt auf der Hand, daß sich auch aus dieser Sachlage eine große Mannigfaltigkeit der Formen von Kooperation von Wirtschaft und Staat und staatsmonopolistischer Verschmelzung und ihrer Auswirkungen ergeben muß. Das Kräfteverhältnis zwischen Staatsapparaten und Monopolbourgeoisie oder Gruppen derselben spielt hier eine Rolle — die relative Eigenständigkeit der Staatsmacht erlaubt es durchaus, hier von Kräfteverhältnissen zu sprechen —, die Staatsform, die Struktur der Staatsmaschinerie, ebenso wie das politische Gewicht der monopolistischen Gruppen, der Grad ihres Einflusses in den politischen Parteien, in Parlamenten, der Presse usw. Die historisch erwachsenen Formen der Machtausübung der herrschenden Klasse in den verschiedenen Ländern, die Staatsform, die jeweils beim Eintritt oder beim Übergang in das imperialistische Stadium existierte, spielen gewiß eine nicht zu unterschätzende Rolle für die Art und Weise, in der sich die Beziehungen zwischen Staat und Ökonomik in den jeweiligen Ländern entwickelten. So weist Mottek mit Recht auf folgendes hin: „Die Erschütterung des ökonomischen Liberalismus wurde in Deutschland durch die im Vergleich etwa zu Großbritannien bestehende Schwäche des Liberalismus, vor allem des politischen Liberalismus, erleichtert. Die Macht des Junkertums, der Hohenzollernschen Monarchie, wies in dieselbe Richtung. Es war das im Bismarckschen Reiche immer noch mächtige Junkertum, das die entscheidende Wendung in der Wirtschaftspolitik erst möglich machte, die Ende der siebziger Jahre einsetzte, da die in der Großbourgeoisie dafür eintretenden Kräfte noch zu schwach waren." 52 In dieser ganzen verwickelten Dialektik des Geschichtsverlaufs zeigt es sich u. E. deutlich, daß man nicht etwa so an die Dinge herangehen kann: Eine ökonomische Maßnahme des Staates ist dann und nur dann als staatsmonopolistisch zu klassifizieren, wenn sie entweder direkt von Monopolen gefordert oder unterstützt wurde oder wird und/oder direkt bestimmten Monopolen oder Monopolgruppen zugutekommt. Je mehr die Monopole im Laufe der Entwicklung die kapitalistische Ökonomik durchdringen, je mehr gewinnt jede ökonomische Tätigkeit des Staates, auch wenn sie sich beispielsweise mit Maßnahmen zur Stützung des Mittelstandes befaßt, staatsmonopolistischen Charakter, indem sie das Gesamtsystem zu stabilisieren sucht. In solchen Übergangszeiten aber, mit denen wir es hier in unserem Zeitabschnitt zu tun haben, ist es vielleicht besser, Klassifizierungen überhaupt zu unterlassen. Wenn man die Entwicklung über längere Zeiträume beobachtet, zeigt sich doch folgendes: die monopolistisch organisierten Bereiche wissen sich allmählich den stärksten Einfluß auf die Staatstätigkeit zu verschaffen und versuchen zu erreichen oder erreichen es, in ihrem Interesse „herauszuholen", was herauszuholen geht. Andererseits verfügen gerade die monopolistisch organisierten Bereiche über die stärksten Fähigkeiten zur „Selbstregeneration". Wenn ihnen der Staat einmal in Notsituationen „Krücken" geliefert hat, so können sie sich meist durch Weiterentwicklung ihrer inneren ökonomischen Organisation, Konzentration, raffinierteste Managementmethoden, Zunahme der Planmäßigkeit innerhalb der Monopolorganisation an neue Situationen anpassen und „allein" weiterwachsen. Daraus erwächst dann das dauernde Wechselspiel von Forderung nach Staatshilfe und heftigstem Kampf gegen Staatseinmischung — wie z. B. in der Gegenwart die heftige Ablehnung jeglicher Forderung nach Investitionslenkung in der BRD durch die CDU/CSU. Einer der wesentlichsten Widersprüche der kapitalistischen Reproduktion überhaupt — der zwischen Planmäßigkeit innerhalb des kapitalistischen Unternehmens und Anarchie in der Gesamtvolkswirtschaft — wird aber gerade durch diese ständige 52 Mottek,
Hans/Becker,
Walter ¡Schröter,
Alfred,
a. a. O., S. 109.
120
Zur Rolle des Staates in der Ökonomik
„Regeneration" in den monopolistischen Bereichen, innerhalb deren die Planmäßigkeit nach jeder Krisensituation wächst, weiter zugespitzt. Selbstregulierung bedeutet Erhaltung und Vergrößerung des Monopolprofits, d. h. Zunahme der Umverteilung der Profitmasse zuungunsten der übrigen volkswirtschaftlichen Bereiche, besonders der nichtmonopolistischen Bereiche. Diese nichtmonopolistischen Bereiche (z. B. bis in die neueste Zeit hinein die Landwirtschaft — aber auch solche in der Industrie, die auch im Zuge der starken Zunahme der Monopolisierung nicht verschwinden) erweisen diese Fähigkeit zur Selbstregulierung aber nicht in dem Maße wie die Monopole, sie sind im weit stärkeren Maße als diese dem Wirken der spontanen Marktgesetze unterworfen, die durch die Monopolstrategien zunehmend verzerrt werden. Mit anderen Worten: Nach Maßgabe der Wichtigkeit für die Stabilität des monopolkapitalistischen Gesamtsystems, vor allem dessen politische Stabilität, werden im allgemeinen die Staatseingriffe in diesen „gefährdeten" Bereichen zunehmen. So sind in den meisten monopolkapitalistischen Ländern die regierenden Fraktionen der herrschenden Klasse gezwungen, der Lage der kleinen und mittleren Agrarproduzenten starke Aufmerksamkeit zu widmen, um, wenn nicht ihre Erhaltung zu sichern, so doch mindestens die notwendigen Konzentrationsprozesse mittels staatlicher Stützungen ohne allzu große soziale Konflikte ablaufen zu lassen. Staatliche Maßnahmen zugunsten der Mittelschichten sind also heute integrierender Bestandteil der staatsmonopolistischen Politik. Wie sind aber nun entsprechende Maßnahmen zu Beginn unseres Jahrhunderts zu werten — zum Beispiel in Deutschland, wo sie meist mit Unterstützung oder auf Initiative der konservativen Parteien, besonders auch der Junker, zustande kamen? Nach all dem bisher ausgeführten erscheint aber ein Streit darüber, ob solche Maßnahmen — z. B. in bezug auf die Landwirtschaft, damals schon staatsmonopolistisch waren oder noch nicht, wenig sinnvoll. Wesentlicher ist es wohl, einmal genauer dem Problem nachzugehen, auf welche Weise sich das Wechselverhältnis zwischen Staat und Ökonomik in den monopolistischen Bereichen und in den nichtmonopolistischen Bereichen entwickelte. Wenn wir aber die Entwicklung der Kooperation zwischen Staat und Monopolen untersuchen, können wir nicht ausschließlich die staatliche Seite dieses Kooperationsverhältnisses betrachten. Ebenso wichtig wäre eine genaue Untersuchung der Entwicklung der monopolistischen Regulierungsformen. Welchen Einfluß haben sie auf den Reproduktionsprozeß als ganzem, und wie verwebt sich dieser mit der staatlichen Regulierungstätigkeit. Diese Aufgabe ist natürlich außerordentlich schwierig. Zu wenige Forschungsarbeiten haben sich mit diesem Aspekt der historischen Entwicklung des staatsmonopolistischen Kapitalismus beschäftigt. In den folgenden Kapiteln dieses Abschnitts kann diese Aufgabenstellung — was die Zeit vor 1914 betrifft — auch nur in bescheidenem Umfang in Angriff genommen werden. Es soll versucht werden, das Wechselverhältnis zwischen staatlicher Regulierung und „Selbstregulierung" in einem Bereich zu betrachten, der sich schließlich stark monopolisierte, dem Bergbau, und außerdem in einem Bereich, den man mit gutem Recht als nichtmonopolistischen Bereich ansehen kann, auch wenn ein paar Kartelle einen Bruchteil seiner Produktion erfaßten — der Landwirtschaft.
KAPITEL 6
Bergbau - staatliche Regulierung und Selbstregulierung in einem hochmonopolisierten Bereich
Mehr als die Entwicklung manch anderen Bereichs der materiellen Produktion ist diejenige des Bergbaus in Deutschland seit Beginn der Periode der freien Konkurrenz mit dem staatlichen Sektor und der staatlichen Gesetzgebung verbunden gewesen. Für den Bergbau — insbesondere den Steinkohlen- und den Kalibergbau — war ferner eine starke und frühe Monopolisierung charakteristisch. In welcher Weise haben nun diese Momente aufeinander eingewirkt, sich gegenseitig verstärkt oder gehemmt, welche Regulierungseffekte haben sich ergeben? Über die Stellung des Bergbaus in der Volkswirtschaft, den Konzentrationsgrad usw. ist im Kapitel 4 schon Näheres ausgeführt worden. Innerhalb des Bergbaus nun spielte der Steinkohlenbergbau die dominierende Rolle. Die Produktionsgewichtung innerhalb des Bergbaus, die Hoffmann auf der Basis der Beschäftigtenzahlen vorgenommen hat, zeigt Tabelle 26. Tabelle 26 Produktionsgewichtung
innerhalb des Bergbaus
Jahr
Steinkohlen
Braunkohlen
Eisenerz
Kalisalze
1861 1882 1908 1933
60,20 67,79 76,13 57,1
10,93 7,34 6,21 15,4
12,67 10,99 4,55 1,9
0,0033 1,65 2,57 6,0
Quelle: Hoff mann, W. G., a. a. O., S. 338f.
Nun lagen die Hauptstandorte der Bergbauproduktion auf dem Territorium des Königreichs Preußen. Rund 92 Prozent aller im Bergbau und in Salinen Beschäftigten arbeiteten 1913 in Preußen. Im Steinkohlenbergbau betrug der entsprechende Anteil 98 Prozent 1 ! Wenn wir also die Problematik der Wechselwirkung von Staatsregulierung und Selbstregulierung im Bergbau in Deutschland untersuchen wollen, so werden wir, was die StaatsBeschäftigte im
1
Bergbau insges.
Steinkohlenbergbau
a. Reich 1913
863000
654000
b. Preußen 1913
795000
639000
(a: Hoff mann, W. G., a. a. O., S. 195. b: Statistisches Jahrbuch für den Preußischen Staat, 1914, S. 160f.)
122
Bergbau
seite betrifft, uns hauptsächlich mit der Einwirkung des preußischen Staates zu befassen haben. Hier den Blick etwas weiter rückwärts zu wenden, scheint unerläßlich, wenn man die Ursachen der Eigentumskonzentration im deutschen Bergbau voll erfassen will. 1. Wirkungen des „Allgemeinen Berggesetzes für die preußischen Staaten" vom 24. Juni 1865 (ABG) Der Erlaß dieses Gesetzes bildete bekanntlich den Höhepunkt und vorläufigen Schlußakt einer Rechtsreform für den Bergbau, die in Preußen schon seit 1826 zur Debatte gestanden hatte, aber erst 1851 mit der ersten einer Reihe von Gesetzesnovellen eingeleitet worden war. Gerade in dem Jahrzehnt vor der Reform hatte der Steinkohlenbedarf rapide zu steigen begonnen, verursacht hauptsächlich durch den Eisenbahnbau und die beginnende Umstellung der Hochofenproduktion von Holzkohle auf Steinkohle und ablesbar an den Importzahlen. Während die Steinkohlenförderung in Deutschland zwischen 1840 und 1850 nur auf 125 Prozent stieg, wuchs der Import auf 260 Prozent und machte 1850 rund 15 Pro-
Abb. 9: Preis-, Produktions- und lmportvolumenindices a b c d
für Steinkohle 1850 bis 1913 (1913= 100).
Produktionsindex für Steinkohle Importvolumenindex für Kohle (bis 1879 nur Steinkohle) Preisindex für Essener Fettkohle Preisindex für englische Importsteinkohle
Quelle: Daten entnommen bei: a Hoffmann, Waltber Gustav, a. a. O., S. 338f. b Ebenda, S. 541 ff. c Jacobs, Alfred/Richter, Hans, a. a. O., S. 62f. d Ebenda.
.Allgemeines Berggesetz für die preußischen Staaten"
123
zent der Förderung aus. Zwischen 1850 und 1860 dagegen stieg die Förderung auf 260 Prozent, der Import nur auf rund 160 Prozent. 2 Vergleicht man die wirtschaftlichen und rechtlichen Zustände im Bergbau vor der Reform und nach der Reform, analysiert man den Inhalt und verfolgt die Auswirkungen der wesentlichen Bestimmungen des ABG, so muß man sich tatsächlich die Frage stellen, ob es in der deutschen Gewerbegesetzgebung des 19. Jahrhunderts irgendein anderes Gesetz gegeben hat, das in einem solchen Ausmaß die Kapitalakkumulation und -konzentration gefördert hat. Bei oberflächlicher Betrachtung könnte es scheinen, als handelte es sich bei dieser Bergrechtsreform lediglich um eine — recht verspätete — Gleichstellung des Bergbaus mit den anderen Gewerbezweigen, für die die Gewerbefreiheit ja schon ab 1810 gegolten hatte, lediglich um die Freisetzung der Unternehmerinitiative von staatlicher Bevormundung, welche ja im „Direktionsprinzip" des preußischen Bergbaus so besonders ausgeprägt gewesen war. So schreibt Wilhelm Treue: „Die Freiheit, ein Grundrecht der Revolution, wurde unter Verzicht auf zentrale staatliche Planung des Ausbaues, der Kapitallenkung, der städtebaulichen und sozialen Raumordnung sowie auf technische Einflüsse und Impulse auch Regulativ des Bergbaus und änderte grundlegend das Verhältnis von Individuum und S t a a t . . ." 3 Um aber die tatsächliche Wirkung der Bergrechtsreform zu verstehen, die eben nicht allein auf die Freisetzung der Unternehmerinitiative zu reduzieren war, muß man die Bergrechtsprobleme etwas eingehender erörtern und die spezifische Form analysieren, in der in Preußen auf diesem Sektor feudales Recht in bürgerliches umgewandelt wurde. Daß es sich bei den bis in die 1850er Jahre geltenden Bergrechtsnormen in den deutschen Territorialstaaten um feudales Recht handelte, ergänzt in manchen von ihnen, so in weiten Teilen Preußens, durch feudal-absolutistische Prinzipien (Direktionsprinzip), steht außer Zweifel.Neben der feudalen Bindung der Arbeitskräfte bildeten das Bergregal und die Bergbaufreiheit seine Hauptpfeiler. Das Wort Bergbaufreiheit mag zu semantischer Verwirrung Anlaß geben: Wieso ist — oder vielmehr war — Betgb&ufreibeit ein feudales Prinzip? Verständlich wird dies nur, wenn man es im Zusammenhang mit dem Bergregal betrachtet: Dem Landesherrn stand das volle Verfügungsrecht über die damals bekannten Mineralien, vor allem Erz und Salz, zu. Er konnte das Recht zur Ausnutzung der Mineralien aber verleihen (ähnlich wie ursprünglich auch der Grund und Boden „zu Lehen" gegeben worden war). Die so Beliehenen hatten den Bergwerkszehnten zu entrichten. Bergbaufreiheit aber bedeutete, daß der Bergbautreibende — sei es der Landesherr selbst oder die von ihm Beliehenen — das größere Recht gegenüber dem Grundbesitzer (oder ursprünglich mit Grund und Boden Beliehenen) hatten. Letzterer war verpflichtet, den Bergbau auf seinem Grundstück zu dulden, hatte nur Anspruch auf Ersatz des eventuell entstehenden Schadens, aber keinen Rechtsanspruch auf die in der Erde liegenden Bodenschätze. Bergbaufreiheit bedeutete also Freiheit gegenüber dem Grundeigentümer (oder entsprechenden feudalen Formen des Grundbesitzes), und diese „Freiheit" ergab sich aus dem stärkeren Recht des Landesherrn. In England und Frankreich hatte sich diese Institution der Bergbaufreiheit nicht entErrechnet aus den Indices für Steinkohlenförderung und Importvolumen bei Hoffmann, W. G., a. a. O., S. 338f. und 541 ff. 3 Treue, Wilhelm, Wirtschaftsgeschichte der Neuzeit 1700-1965, 2. Aufl. 1966, S. 532. Siehe ähnlich auch, wenngleich differenzierter, Fiscber, Wolfram, Wirtschaft und Gesellschaft im Zeitalter der Industrialisierung. Aufsätze, Studien, Vorträge, Söllingen 1972, S. 139 ff. 2
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Bergbau
wickelt, in England — und dann auch in den USA, aber zum Beispiel auch in Hannover — erstreckte sich das Recht des Grundeigentümers nicht nur auf die Erdoberfläche, sondern auch auf alles Darunterliegende bis zur unbegrenzten Tiefe. In diesen Gebieten des sogenannten Grundeigentümerbergbaus hatte also der Bergbautreibende, der eine Minerallagerstätte ausbeuten wollte, sämtlichen Grund und Boden, der über dem Flöz lag, zu kaufen oder zu pachten. Et hatte also Grundrente zu zahlen bzw. ein höheres Anfangskapital zu investieren. Auf den in den deutschen Territorien mit Bergregal und Bergbaufreiheit bestehenden „verliehenen" Bergwerken lag vor den Bergreformen die Feudalrente. Ob die Rentenbelastung hier — etwa im 18. Jahrhundert — höher oder geringer war als beim Grundeigentümerbergbau, liegt nicht im Rahmen der hier zu untersuchenden Fragen. Auf jeden Fall war bis zur preußischen Bergrechtsreform die Lage in beiden Rechtsgebieten insofern ähnlich, als die Bergbautreibenden feudale oder kapitalistische Grundrente zu zahlen hatten. Für große Teile Preußens — nicht für alle, wie noch zu zeigen sein wird — brachte das ABG nun eine radikale Änderung: Indem das landesherrliche Bergregal aufgehoben, das Prinzip des stärkeren Rechts des Bergb autreibenden gegenüber dem Grundeigentümer aber beibehalten wurde, wurde die feudale Bergbau„freiheit" in eine wirkliche bürgerliche Freiheit verwandelt und eine Umverteilung der Grundrente zugunsten der Bergbauunternehmer erzielt. Diese totale und radikale Befreiung führte innerhalb weniger Jahrzehnte im Bergbau, insbesondere im Steinkohlenbergbau, zu einem Grad der Monopolisierung, der in keinem anderen Industriezweig zu der Zeit erzielt werden konnte. Um 1907 war die Aufteilung des Bergeigentums an Steinkohle im wesentlichen abgeschlossen, es hatte sich bei relativ wenigen Riesenunternehmen (darunter auch der preußische Fiskus) konzentriert. „Die Bergbaufreiheit hat so energisch gewirkt, daß sie sich selber aufhebt", bemerkte Eberhard Gothein 1905.4 Nun entspricht das natürlich genau dem Wirken der ökonomischen Gesetze der freien Konkurrenz, die früher oder später allerorts gesetzmäßig in ihr Gegenteil, das Monopol, umschlägt. Es handelt sich bei unseren Erörterungen deshalb nicht darum, zu unterstellen, daß ein juridisches Gesetz, das ABG, „schuld" gewesen sei an der Monopolisierung des Kohlenbergbaus, wie das manche Zeitgenossen aus dem liberalen Lager Anfang des 20. Jahrhunderts zu sehen geneigt waren. Es handelt sich vielmehr um das „Früher oder Später", um die Frage, ob und inwieweit das ABG die rasche Konzentration und die frühe Monopolisierung gefördert hat. In England, wo der Grundeigentümerbergbau herrschte, war zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Eigentumszersplitterung im Kohlenbergbau noch sehr groß 5 , und auch in den USA hat die Monopolisierung bekanntlich nicht im Bergbau begonnen. Wenn man allerdings diesen Vergleich heranzieht, muß man natürlich auch die Unterschiede in den Lagerstätten beachten: In Deutschland waren die wesentlichen Steinkohlenlagerstätten in drei großen, in sich geschlossenen Komplexen konzentriert, in England dagegen waren schon die Lagerstätten weit mehr zersplittert. Jedoch kann dies allein nicht zur Erklärung der Unterschiede in der Eigentumskonzentration ausreichen. Auch im Ruhrgebiet waren zersplitterte Eigentumsverhältnisse in den ältesten Abbaugebieten, im südlichen Teil des Reviers, dort nämlich, wo schon vor der Bergrechtsreform Zechenbetriebe waren, charakteristisch. Die Rechtsverhältnisse und ihr Umschwung müssen deshalb etwas genauer betrachtet werden. Das ABG für die Preußischen Staaten vom 24. Juni 1865 beginnt, ohne das staat4
5
Gothein, Eberhard, Die Konzentration im Kohlenbergbau und das preußische Berggesetz, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, N. F. Bd. 3, Tübingen 1905, S. 461. Siehe dazu Ausführungen weiter unten.
„Allgemeines Berggesetz f ü r die preußischen Staaten"
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liehe Bergregal oder seine Abschaffung zu erwähnen, mit der Definition der Bergbaufreiheit 6 : „§ 1. Die nachstehend bezeichneten Mineralien sind von dem Verfügungsrecht des Grundeigentümers ausgeschlossen. Die Aufsuchung und die Gewinnung derselben unterliegt den Vorschriften des gegenwärtigen Gesetzes. Diese Mineralien sind: . . J §2. Der Erwerb und Betrieb von Bergwerken für Rechnung des Staates ist den Bestimmungen des gegenwärtigen Gesetzes ebenfalls unterworfen . . . § 3. Die Aufsuchung der im § 1 bezeichneten Mineralien auf ihren natürlichen Ablagerungen — das Schürfen — ist unter Befolgung der nachstehenden Vorschriften einem Jeden gestattet." (Hervorhebung von mir — H. N.) Der § 4 schreibt vor, wo nicht geschürft werden darf: auf öffentlichen Plätzen, Straßen, Eisenbahnen, Friedhöfen; unter Gebäuden, in Gärten usw. dann nicht, wenn der Grundeigentümer es nicht ausdrücklich bewilligt. § 5 besagt: „Wer zur Ausführung von Schürfarbeiten fremden Grund und Boden benutzen will, hat hierzu um die Erlaubnis des Grundbesitzers nachzusuchen. Mit Ausnahme der in § 4 bezeichneten Fälle muß der Grundbesitzer, er sei Eigentümer oder Nutzungsberechtigter, das Schürfen auf seinem Grund und Boden gestatten." (Hervorhebung von mir — H. N.) Bei Streitigkeiten entscheidet das Oberbergamt. Dazu heißt es im § 8: „Das Oberbergamt darf die Ermächtigung (zum Schürfen — H. N.) nur in den Fällen des § 4 versagen." Der Schürfer hat dem Grundbesitzer nur für die entzogene Nutzung während des Schürfens und eventuelle Wertminderung Entschädigung zu zahlen und das Grundstück anschließend zurückzugeben (§ 6). Hat der Schürfer das Mineral gefunden, so kann er „Mutung" einlegen: „Das Gesuch um Verleihung des Bergwerkseigentums in einem gewissen Felde — die Mutung — muß bei dem Oberbergamte eingebracht werden" (§ 12). Voraussetzung für die Gültigkeit der Mutung ist, „daß das in derselben bezeichnete Mineral auf seiner natürlichen Ablagerung vor Einlegung der Mutung entdeckt worden ist und bei der amtlichen Untersuchung nachgewiesen wird" (§ 15, Hervorhebung von mir — H. N.). Zum Nachweis ist nicht mehr wie zuvor die Freilegung der Lagerstätte „auf den Augenschein" nötig, was häufig einen regelrechten Schachtbau erfordert und höhere Kosten und höheres Risiko eingeschlossen hatte. Mit dem Zeitpunkt der Präsentation der Mutung ist das begehrte Feld einer Mutung für die Dauer ihrer Gültigkeit gegen Mutungen Dritter geschlossen (§ 19). Im § 22 heißt es: „Die den gesetzlichen Erfordernissen entsprechende Mutung begründet einen Anspruch auf Verleihung des Bergwerkseigentums" in einem Feld von maximal 2,189 km 2 . 8 (Hervorhebung von mir — H. N.) Nach einer bestimmten kurzen Frist für eventuelle Einsprüche Dritter muß das Bergwerkseigentum am begehrten Feld dem Muter verliehen werden. § 38 besagt, daß die Kosten des Verleihungsverfahrens der Muter zu tragen hat. Die „Kosten des Verleihungsverfahrens" aber waren, wie der Kommentar ausdrücklich besagt, lediglich die Verwaltungskosten, die den Behörden durch die Bearbeitung der 6
D e r Gesetzestext ist im folgenden zitiert nach der v o n Brassert (dem „Schöpfer" des Berggesetzes) herausgegebenen und ausführlich kommentierten Ausgabe: Brassert, Hermann, Allgemeines Berggesetz f ü r die Preußischen Staaten v o m 24. Juni 1865. Mit Einführungsgesetz und Kommentar, Bonn 1888. — Gesetzestext dort S. 3—48.
7
Aufzählung der Mineralien: „Gold, Silber, Quecksilber, Eisen mit Ausnahme der Raseneisenerze, Blei, K u p f e r , Zinn,
Zink, Kobalt, Nickel, Arsenik, Mangan, A n t i m o n und Schwefel, gediegen und als Erze,
A l a u n - und Vitriolerze, Steinkohle, Braunkohle und Graphit, Steinsalz neben den mit denselben auf der nämlichen Lagerstätte vorkommenden Saltzen und Soolquellen." 8
Das sind 5 0 0 0 0 0 Quadratlachter, was im Gesetz als Maß angegeben ist.
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Bergbau
Papiere entstanden.9 „Für ganze anderthalb Mark Stempelkosten", wie ein späterer Autor sich ausdrückte10, konnte also das Bergwerkseigentum unter einem Oberflächengebiet von über 2 km2 „bis zur unbegrenzten Teufe" erworben werden. Mit anderen Worten: Der erste Muter erhielt das Bergwerkseigentum praktisch geschenkt. Der Erwerb von Bergeigentum war für diesen mit keinem anderen Risiko belastet als den Bohrkosten. Die Bohrkosten erhöhten sich zwar im Laufe der Jahrzehnte, besonders im Steinkohlenbergbau, als Lagerstätten in größerer Tiefe (zum Beispiel im Norden' des Ruhrreviers) erschlossen wurden; dies trug mit dazu bei, daß die Bohrungen und Mutungen sich bei den größten Gesellschaften konzentrierten — aber ein weiteres Risiko oder weitere Belastungen, die die Aneignung von immer mehr Feldern in ökonomischer Hinsicht hätten begrenzen können, waren nicht vorhanden. Beim Grundeigentümerbergbau übt ja die Notwendigkeit, den Grund und Boden erwerben oder pachten zu müssen, einen gewissen ökonomischen Zwang aus: Die Kosten für Felder, die man noch gar nicht abzubauen gedenkt, belasten ja die Rentabilität des Unternehmens. Im französischen Bergrecht (dem seit 1810 geltenden, und zwar auch auf dem deutschen linksrheinischen Gebiet) gab es außer der Steuer vom Reinertrag eine feste Feldessteuer (revedance fixe), die in der gleichen Richtung wirken mußte und die man mit Vorbedacht nicht in das preußische Berggesetz übernommen hatte. 11 Den gleichen „ökonomischen Hebel", der übrigens auch in den älteren deutschen Bergordnungen wirksam war, findet man im sächsischen Berggesetz12 von 1868 in Form der Grubenfeldsteuer. Ob diese Art von „ökonomischen Hebeln", wie sie zuletzt in bezug auf das französische und sächsische Bergrecht genannt wurden, tatsächlich in stärkerem Maße begrenzend gewirkt haben, ist allerdings eine andere Frage; 1852 half man in Frankreich mit administrativem Zwang nach, indem ein Dekret jedem, der bereits Bergwerkseigentümer war, die Erwerbung einer neuen Konzession, sogar durch Erbschaft, verbot sowie die Bildung von Gesellschaften zu gleichem Zweck. 13 Was den englischen Grundeigentümerbergbau angeht, so ist die expansions- und konzentrationshemmende Wirkung der Abgaben an die Grundeigentümer jedoch erwiesen, worauf noch zurückzukommen ist. Wichtig und festzuhalten ist jedenfall, daß nach der preußischen Bergrechtsreform außer den Bohrkosten keinerlei Belastungen oder Risiken die Erstaneignung von Bergeigentum irgendwie in ihrem Ausmaß begrenzten. Das Eigentum an einem Grubenfeld wurde, obwohl im Gesetz als vom Staat „verliehen" und im praktischen Sprachgebrauch als „Berechtsame" bezeichnet, faktisch zum Privateigentum, das beliebig weiterverkauft werden konnte. Diese Möglichkeit setzte sogar das Risiko, das in der Aufwendung der Schürfkosten lag, noch weiter herab 14 und begünstigte die Hemmungslosigkeit von Mutungen. In den Motiven zur Berggesetznovelle von 1907, in der schließlich Brassert, Hermann, a. a. O., S. 144 und 491. Goldscbmidt, Curt, Über die Konzentration im deutschen Kohlenbergbau, Karlsruhe 1912, S. 81 = Volkswirtschaftliche Abhandlungen der badischen Hochschulen, N. F., H. 5. 11 Brassert, Hermann, a. a. O., S. 600. 12 ABG für das Königreich Sachsen v. 16. 6. 1868; vgl. auch Cotbein, Eberhard, a. a. O., S. 471. « Ebenda, S. 429. 14 Zum Beispiel verkaufte die bekannte, vom Schaafhausen'sehen Bankverein mit Kapital ausgestattete „Internationale Bohrgesellschaft zu Erkelenz" um 1900 275 der ihr verliehenen Steinkohlen-Normalfelder für 36780 000 Mark, was einen Reingewinn von etwa 28 Millionen Mark bedeutete (Giebel, H. A., Die Finanzierung der Kaliindustrie, Karlsruhe 1912, S. 30f. = Volkswirtschaftliche Abhandlungen der badischen Hochschulen, N. F. H. 4). Der Verkaufspreis pro Normalfeld betrug also rund 133000 Mark, der Reingewinn etwa 100000 Mark pro Normalfeld. 9
10
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„Allgemeines Berggesetz f ü r die preußischen Staaten"
der Staatsvorbehalt für Mutungen eingeführt wurde, heißt es, daß schon im ersten Jahrzehnt nach Erlaß des ABG ein einzelnes Konsortium im Oberbergamtsbezirk Halle Braunkohlenfelder mit einem Gesamtflächeninhalt von über 16 Quadratmeilen 15 erworben hätte; einzelne Schürfer hätten im Oberbergamtsbezirk Breslau ganze landrätliche Kreise mit Braunkohlenmutungen, im Oberbergamtsbezirk Bonn ein Hüttenwerk den ganzen Westerwald in der Ausdehnung von über 24 Quadratmeilen 16 mit Eisenmutungen überdeckt. 17 Über die Rechtsnatur des Bergeigentums haben sich die Gelehrten Jahrzehnte nach dem Erlaß des ABG noch ebenso gestritten wie vor dem Erlaß: Sind die Mineralien nach Aufhebung des Bergregals „res nullius", herrenlose Sache, „pars fundi", Teil des Bodens, sind sie Privateigentum oder nicht. 18 Noch in den Motiven zum Vorläufigen Entwurf des ABG ist die Auffassung enthalten, daß die noch ungewonnenen Mineralien nicht herrenlose Sache, sondern „pars fundi" seien 19 , was ja eigentlich nicht erstaunlich ist. Viel erstaunlicher ist es, daß sich diese Auffassung schließlich nicht durchgesetzt hat. Die Motive zum definitiven Entwurf setzten sich über den Rechtsstreit hinweg und betonten die „wirtschaftlichen Bedürfnisse des Bergbaus" und die Notwendigkeiten des „praktischen Lebens". Wie Brassert in seinem Kommentar betonte, lag das Bedürfnis vor, „durch zweckmäßige Vorschriften zu neuen bergbaulichen Unternehmungen zu ermuntern" 20 . In diesem Zusammenhang ist der folgende Passus aus den Motiven zum definitiven Entwurf recht interessant: „Denn lediglich der wissenschaftlichen Tätigkeit muß überlassen bleiben, die den Vorschriften des Berggesetzes zum Grunde liegenden Theorien zu entwickeln, die Begriffe und das System aus diesen Vorschriften zu konstruieren. Das Berggesetz selbst hat um so weniger Veranlassung, sich auf das Gebiet theoretischer Erörterungen zu begeben, als gerade hier sich die Meinungen noch nicht geeinigt haben und namentlich darüber auseinandergehen, wie der Akt des Erwerbs des Bergwerkseigentums und letzteres selbst rechtlich aufzufassen und ob davon auszugehen sei, daß die dem Berggesetze unterworfenen Mineralien als herrenlose Sachen oder, solange sie sich noch ungewonnen auf ihren natürlichen Lagerstätten befinden, als Bestandteile des Grund und Bodens angesehen werden müssen. Das Berggesetz als solches hat keine von den sich widerstreitenden wissenschaftlichen Ansichten zu vertreten; vom Standpunkte desselben genügt es
vielmehr, daß die erteilenden positiven Vorschriften einesteils ihre auf den rechtlichen und wirtschaftlichen Bedürfnissen des Bergbaues beruhende Berechtigung in sich tragen und anderenteils so abgefaßt
sind, daß den theoretischen Erörterungen zwar freier Spielraum gelassen, jedoch
hierdurch keine Rechtsunsicberheit und sonstige Nachteile für das praktische Leben hervorgerufen werden."
21
(Hervorhebung von mir — H. N.)
Es mag erstaunlich erscheinen, daß im preußischen Landtag des Jahres 1865 ein Gesetz durchkommen konnte, das das Kapital gegenüber dem Grundeigentum so enorm begünstigte. 22 Zwar war ja rein formell die Rechtslage des Grundeigentümers gegenüber dem is Das sind rund 884 km 2 oder 8 8 4 0 0 ha. 17 18
16
Das sind rund 1 3 2 6 km? oder 1 3 2 6 0 0 ha.
M o t i v e zum Gesetzentwurf v o m 2 1 . Juni 1907. V g l . dazu den Überblick über den Streit der Schulen bei Petrascbak, Karl Otto, Die rechtliche Natur des Bergwerkseigentums nach österreichischem Rechte unter Berücksichtigung der deutschen und französischen Gesetzgebung, W i e n 1905.
19
V g l . Petrascbak, Karl Otto, a. a. O., S. 22.
21
Zitiert bei Brassert, Hermann, a. a. O., S. 5 3 f .
22
2° Brassert, Hermann, a. a. O., S. 67.
Das mitunterzeichnende Staatsministerium setzte sich wie folgt zusammen: „v.Bismarck-Schönhausen, v . Bodelschwingh, v . Roon, Graf v o n Itzenplitz, v . Mühler, Graf zur Lippe, v . Selchow, Graf zu Eulenburg." Vgl. Gesetzestext, Brassert, Hermann, a. a. O., S. 47.
128
Bergbau
Bergeigentümer nicht verändert worden, aber: Der oder die Bergeigentümer waren ja nun andere. Kann man die Rechtslage vor der Reform, als der Landesherr oberster Bergeigentümer war, kurz gefaßt so kennzeichnen: „Landesherrliches Recht geht vor Grundbesitzerrecht", so diejenige nach der Reform: „Recht des Privatkapitals (oder 'Jedermanns', wie es im Gesetz hieß) geht vor Grundbesitzerrecht!" Sollte man etwa sagen dürfen, daß der Ausdruck „Bergrechtsreform" eine Untertreibung darstellt, daß es sich hier um eine revolutionierende Veränderung im bürgerlichen Sinne handelte? Zu einer solchen Einschätzung könnte man zweifellos kommen, wenn man nicht die bedeutende Einschränkung betrachtet, die die Wirkung des Berggesetzes erfuhr. Es galt nämlich faktisch nicht für alle Landesteile Preußens, das heißt nicht für die Territorien der ehemaligen reichsunmittelbaren Standesherren, die selbst Inhaber von Bergregalen waren. Und hiermit stoßen wir auf einen Sachverhalt, der zur Erklärung der genannten Erstaunlichkeit beitragen kann. Der berühmte kleine Schlußparagraph des A B G (§ 250) lautete: „An den Rechten der früher reichsunmittelbaren Standesherren, sowie derjenigen, welchen auf Grund besonderer Rechtstitel das Bergregal in gewissen Bezirken allgemein oder für einzelne Mineralien zusteht, wird durch das gegenwärtige Gesetz nichts geändert." 23 Zu diesen Standesherren mit „Privatregal" aber gehörten sowohl die schlesischen Magnaten im Osten als auch zahlreiche Fürsten und Grafen im Westen der Monarchie, auf (oder besser unter) deren Territorien bedeutende Mineralvorkommen, vor allem auch Steinkohle, lagen. Mit anderen Worten: Gerade die größten Grundeigentümer bzw. Grundherren waren von den radikalen Bestimmungen des A B G ausgenommen. Brassert zählt in seinem Kommentar sämtliche Privatregale auf. 24 In elf Territorien (hauptächlich in den mittleren und westlichen Landesteilen) hatte die preußische Staatsregierung vor und nach dem Erlaß des Berggesetzes die Privatregale durch Verhandlungen abgelöst, und zwar in fünf Fällen unentgeltlich und in den übrigen Fällen gegen Entschädigung. Weiterhin bestehen blieben in den mittleren und westlichen Landesteilen dreizehn Privatregale, davon sieben allein in Westfalen, wovon zum Beispiel der Herzog von Arenberg in der Grafschaft Recklinghausen einer der bedeutendsten Inhaber war. Über die schlesischen Standesherren schreibtBrassert: „Von besonderer Wichtigkeit ist dasv. Thiele-Winkler'sche Privatbergregal in der Herrschaft Myslowitz-Kattowitz nebst den Dominien Zalanze, Schlupna, Brzezinka, Dziedzkowitz und Brussowa — einem Bezirke, welcher mehr als zwei Quadratmeilen 2 5 umfaßt und einen beträchtlichen Teil des oberschlesischen Steinkohlenbeckens in sich schließt. Zur Verwaltung dieses Bergregals, einschließlich der Ausübung der Bergpolizei, besteht die von der Regalinhaberin eingesetzte 'herrschaftlich Myslowitz-Kattowitzer Bergwerksdirektion' zu Kattowitz . . . Außerdem sind noch als bestehend anzuführen: Das Recht des Grafen Henckel von Donnersmarck-Neudeck auf den Zwanzigsten von dem Blei- und Silbererzbergbau in der Standesherrschaft Beuthen-Tarnowitz und der Broicher Kohlenzehnte von dem Steinkohlenbergbau in der vorm. bergischen Unterherrschaft Broich (Kirchspiel Mühlheim an der Ruhr) . . . Desgleichen kommen noch in Betracht: Das Vorzugs- und Ausschließungsrecht (jus excludendi alios) des Fürsten Pleß, und des Grafen Henckel von Donnersmarck-Neudeck für Galmeierze und Steinkohlen in der Standesherrschaft Beuthen-Tarnowitz, sowie das Vorzugsrecht zum Muten, welches dem Herzog 23
Brassert, Hermann, a. a. O., S. 46.
24 Ebenda, S. 6 1 0 - 1 3 . 25 Das sind rund 110 k m 2 oder 11000 ha.
.Allgemeines Berggesetz für die preußischen Staaten"
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von Ratibor im Herzogtum Ratibor und den sog. Waldenburger Rittergütern bei Waldenburg zusteht." 26 Und hier wird nun der Pferdefuß der preußischen Bergrechtsreform deutlich sichtbar: Erhaltung bestimmter feudaler Vorrechte bei gleichzeitiger starker Förderung des Kapitals. Damit weist die Bergrechtsreform die typischen Merkmale der preußisch-deutschen „Revolution von oben" auf und ist als einer der wesentlichen Teilprozesse derselben zu werten. Die Bergrechtsreform wirkte also teilweise revolutionierend und teilweise konservierend auf die Eigentumsverhältnisse im Bergbau. Dabei ist zu beachten, daß — diese beiden verschiedenen Wirkungsrichtungen sich schwerpunktmäßig auf verschiedene Territorien erstreckten; — der ökonomische Endeffekt, nämlich: hochkonzentriertes Bergeigentum in beiden Fällen der gleiche war; — der soziale Endeffekt zu der typisch deutschen Ausprägung des Imperialismus als „junkerlich-bürgerlichen" Imperialismus beitrug. Dies ist in keinem Industriezweig so deutlich wie in der Schwerindustrie, welche herauswuchs aus dem Bergbau in Schlesien und im Ruhrgebiet. Diese Feststellungen müssen nun teilweise noch etwas eingehender erörtert werden. Denn zum Beispiel aus der Behauptung, der ökonomische Endeffekt wäre in beiden Fällen der gleiche gewesen, könnte man möglicherweise ebenso gut herauslesen, daß die starke Konzentration im Bergbau ohne Beeinflussung durch die Rechtsverhältnisse entstanden sei. Bevor deshalb die unterschiedlichen, durch die Rechtslage bedingten Wege der Konzentration im Ruhrgebiet und in Oberschlesien verfolgt werden, vergleichen wir zunächst die Ergebnisse der Konzentrationsentwicklung im Steinkohlenbergbau im Deutschen Reich insgesamt mit derjenigen in europäischen Ländern mit anderen Rechtsverhältnissen, wie sie sich zu Beginn und in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts darstellt (Vgl. Tab. 27). Zu den bekannten Schwierigkeiten, Unternehmens- und Kapitalkonzentration zu messen und international zu vergleichen, kommt im Bergbau — im stärkeren Maße vielleicht als in anderen Zweigen — noch die Unsicherheit der amtlichen Zahlen für die ße/wi/konzentration hinzu. 27 Deshalb werden hier auch die Berechnungen und Schätzungen einiger Autoren zugrunde gelegt, die sich gründlicher mit dieser Problematik beschäftigt haben. Die von der amtlichen Statistik angegebene Zahl der Bergwerke in Deutschland — 324 — ist aus den schon genannten Gründen wahrscheinlich zu niedrig. Goldschmidt hat bei seinen Untersuchungen allein für das Ruhrrevier 1909 statt der amtlich angegebenen 162 Bergwerke 366 Betriebe festgestellt, das heißt technisch selbständige Bergwerkseinheiten mit durchschnittlich 229000 t Jahresförderung und durchschnittlich 915 Beschäftigten. 28 Jüngst kommt bei einer Zählung der „fördernden Schachtanlagen" zu ähnlichen Zahlen für das Ruhrgebiet 1909: 373 mit durchschnittlich 221994 t Jahresförderung und 913 Arbeitern.^ Selbst bei Annahme einer größeren Zahl von Produktionseinheiten für ganz Deutschland als in der amtlichen Statistik dargestellt und in Tabelle 27 angegeben, würde sich aber noch immer ein wesentlich höherer Grad der Produktionskonzentration ergeben als in den Brassert, Hermann, a. a. O., S. 612. Vgl. Kuc-^ynski, Jürgen, Bd. 14, S. 14ff.; Goldscbmidt, Curt, a. a. O., S. 34ff. Letzterer belegt an Beispielen, daß einerseits mehrere getrennte Schachtanlagen als ein „Bergwerk" gezählt wurden, andererseits bei anderen Unternehmen ähnliche Schachtanlagen als je ein „Bergwerk". 28 Goldschmidt, Curt, a. a. O. 29 Jüngst, Ernst, Entwicklungstendenzen im Ruhrbergbau, Essen 1910, S. 7. = Verein für die bergbaulichen Interessen im Oberbergamtsbezirk Dortmund. 28
27
130
Bergbau
Tabelle 21 Produktionskon^entration
im Steinkohlenbergbau verschiedener europäischer Länder 1904 Deutsches Reich 120,8151
Gesamtförderung Mill, t Geschätztes Anlagekap. in Mill. Mark Zahl der „Bergwerke" Förderung pro „Bergwerk" in t
2 6404
3241
31995
15156
Steigerung der Gesamtförderung? 1891-1913 um
236,1582
1884 3 372000
Mittlere Belegschaft pro „Bergwerk"
Großbritannien
Frankreich
22,8 1
33,51
1225
73814
2775
186569
120947
11365
2655
158%
Belgien
55%
6085
58%
16%
Quellen: 1. Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich 1911, S. 90 u. 26*. 2. Statistical Abstract for the United Kingdom, Nr. 62, 1900—1914, S. 336 (umgerechnet aus: 232,428 mill long tons). 3. Ubde, Kurt, Die Produktionsbedingungen des deutschen und englischen Steinkohlenbergbaues, Jena 1907, S. 136. (Aus dem errechneten Durchschnittssatz „Anlagekapital pro t Förderung" 1901—1904 für das Ruhrgebiet von 15,60 Mark.) 4. Ebenda, S. 140. (Aus dem von der Mining Association of Great Britain 1901 angegebenen Satz von 11 shilling Anlagekapital pro t Förderung.) 5. Jüngst, Ernst, Entwicklungstendenzen im Ruhrbergbau, Essen 1910, S. 5. 6. Vgl. die aus den amtlichen Zahlen zusammengestellten Tabellen für 1875—1930 bei Müller, Ludwig Wilhelm, Die Betriebskonzentration im deutschen Steinkohlenbergbau, Rechts- u. staatsw. Diss. HalleWittenberg, Anhang, Tafel V. 7. Berechnet aus: Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich 1903, S. 8*; 1919, S. 17*.
Tabelle 28 Steinkohlenforderung und Arbeiter^ablpro Oberbergamtsbezirk Dortmund
Schacht im Ruhrrevier, 'Belgien und Frankreich Belgien
Frankreich
Jahr
Zahl der Schächte
Förderung pro Schacht t
Zahl der Arbeiter pro Schacht
Zahl Fördeder rung Schächte pro Schacht t
Zahl Zahl der der Arbeiter Schächte pro Schacht
Förderung pro Schacht t
Zahl der Arbeiter pro Schacht
1895 1900 1904 1907
249 287 335 346
165244 207731 201593 231742
621 791 807 876
264 265 273 280
451 501 508 510
66465 78658 76665 82167
324 381 385 411
77491 88539 83375 84661
415 416 437 438
Quelle: Jüngst, Ernst, Entwicklungstendenzen im Ruhrbergbau, Essen 1910, S. 7.
„Allgemeines Berggesetz für die preußischen Staaten"
131
anderen in Tabelle 27 angeführten Ländern. Dies bestätigen Berechnungen von E. Jüngst, der die Entwicklung der durchschnittlichen Fördermenge und Beschäftigtenzahl pro „fördernder Schachtanlage" auch für Belgien und Frankreich zusammengestellt hat (Vgl. Tabelle 28). Jüngst schreibt zu diesen Berechnungen: „Als Ergebnis leiten wir auch aus dieser Zusammenstellung die Tatsache ab, daß der Ruhrbergbau den belgischen und französischen Steinkohlenbergbau in der Betriebsgröße bei weitem übertrifft, woraus sich auch zum Teil seine wirtschaftliche Überlegenheit erklären dürfte." 3 0 Aus der Tabelle 27 läßt sich also entnehmen, daß in Großbritannien, dem Land mit der größten Steinkohlenproduktion Europas, die" Produktionskonzentration am geringsten, während sie in Deutschland am größten war (und auch am schnellsten wuchs 3 1 ) und Frankreich und Belgien eine Mittelstellung einnahmen. Noch wichtiger ist ein Vergleich der Unternehmenskonzentration, der aber auch noch schwieriger ist, besonders wegen der Eigentumsverschachtelungen. Werfen wir zunächst einen Blick auf die beiden Extreme in der Produktionskonzentration, Deutschland und Großbritannien. Wenn auch ganz exakte Vergleiche nicht möglich sind, so kann man doch soviel sagen, daß die Unternehmenskonzentration im Steinkohlenbergbau zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Deutschland gegenüber Großbritannien wesentlich weiter fortgeschritten war als die Produktionskonzentration. Eine einfache und eindeutige Angabe für die Zahl der Unternehmungen im deutschen Steinkohlenbergbau in dieser Zeit läßt sich kaum treffen. Da die vertikale Unternehmenskonzentration schon recht fortgeschritten war — besonders im Vergleich zu England — zählt zum Beispiel die amtliche Statistik der deutschen Aktiengesellschaften für 1907 als eine statistische Gesamtheit die 212 Gesellschaften in „Kohlenbergbau, Erzgewinnung, Hüttenbetrieb sowie Bergbau, Hüttenbetrieb, Metall- und Maschinenbauindustrie miteinander verbunden". 32 Man muß sich also auf eine Kurzbeschreibung der Eigentumskonzentration in den Hauptrevieren beschränken. Uhde kommt für Oberschlesien 1904 (21 Prozent der Steinkohlenförderung Deutschlands 1904) zu folgendem Ergebnis 33 : Zahl der Unternehmungen davon: Preußischer Fiskus Hütten mit Zechenbesitz Privatbesitz Gewerkschaften Aktiengesellschaften
27 1 7 11 6 2
Dabei sind aber die Hüttenzechen und Gewerkschaften größtenteils ebenfalls Gründungen der Privatregalinhaber, so daß sich eigentlich 16 Magnaten und der preußische Fiskus den Besitz der oberschlesischen Bergwerke teilen. Im Ruhrgebiet (1904 57 Prozent, 1909 58 Prozent der deutschen Förderung) war die Zahl der Unternehmen größer. 30 Ebenda, S. 6. 31 Die Förderung pro Schacht wuchs zwischen 1900 und 1907 (jeweils Hochkonjunkturjahre) in Deutschland um 11,5 Prozent, in Frankreich um 4,5 Prozent und sank in Belgien um 4,5 Prozent (berechnet aus Tabelle 28). 32 Vierteljabresbefte zur Statistik des Deutschen Reiches, Jg. 18, 1909, Erg. Heft zu H. 2, S. 18ff. 33 Ubde, Kurt, Die Produktionsbedingungen des deutschen und englischen Steinkohlenbergbaues, Jena 1907, S. 92=Thünen Archiv. Organ für exakte Wirtschaftsforschung, hg. v. Richard Ehrenberg, 2. Erg. Heft. 10
Nussbium, Wirtschaft
132
Bergbau
Nach Uhde betrug sie 1885 114, 1904 91 (darunter nur 7 „Alleinbesitzer" mit 9,8 Prozent Förderung), 34 Goldschmidt zählt 1909/10 5S. 35 Dabei ist aber nun die Konzernverflechtung so rapide fortgeschritten, daß jetzt 9 Konzerne 66,9 Prozent der Kohlenproduktion des Ruhrreviers beherrschen (gleichzeitig 48 Prozent der Produktion des Stahlwerksverbandes). 36 Im Felderbesitz kommt der Grad der Konzentration womöglich noch deutlicher zum Ausdruck (Vgl. Tabelle 29). Tabelle 29 ] abresförderung und Felderbesilz Bergwerksunternehmen
1909/10 Förderung in Mill. t
Berechtsame in km 2
werks A G
8,2
254,3
Harpener Bergbau A G
6,71
171,2
5,08
101,9
3,8
267
Gelsenkirchener Berg-
Bergwerksgesellschaft Hibernia Gewerkschaft Deutscher Kaiser (Thyssen) Quelle: Goldscbmidt, Curt,
Über die Konzentration im deutschen Kohlenbergbau, Karlsruhe 1 9 1 2 , S. 6 7 u.
8 2 = V o l k s w i r t s c h . A b h . der bad. Hochschulen, NF, H. 5.
In bezug auf den Besitz an Grubenfeldern zeigten sich bis 1933 keine grundsätzlichen Änderungen, nur einige Verschiebungen in der Reihenfolge der Konzerne. Elf Konzerne und der preußische Fiskus verfügten dann 1933 über rund 72 Prozent der Grubenfelder im Ruhrgebiet, der preußische Fiskus besaß allein über 17 Prozent aller Felder. 39 Gesellschaften (einschließlich Fiskus) besaßen über 95 Prozent der Felder. 37 Im Saarrevier (10,6 Prozent der deutschen Förderung 1904), dessen Lagerstätten rund 450 km 2 umfassen, und das zur Hauptsache zu Preußen, zu wesentlich kleineren Teilen zu Bayern und ElsaßLothringen gehörte, verfügte der preußische Fiskus allein über rund 178 km 2 Berechtsame und war der größte Produzent, nfcben dem noch einige private Unternehmungen existierten. Auch hier war also der Konzentrationsgrad hoch. Die sehr hohe Zahl der britischen Bergwerke — also Produktionseinheiten — zu dieser Zeit (siehe Tabelle 27, S. 130) sagt für sich genommen noch nichts aus über den Grad der Eigentumskonzentration. Doch erweist sich, daß auch die Eigentumszersplitterung groß war und noch bis in die zwanziger und dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts hinein groß blieb, was mit zu den Schwierigkeiten beigetragen hat, in die der britische Kohlenbergbau dann geraten sollte. Über die Zeit vor 1914 schreibt Pollard, daß die Kohlenfelder in „innumerable holdings by companies" zersplittert waren, viele von ihnen klein nach kontinentalem oder nordamerikanischem Standard. 38 Noch 1924 gehörten die dann noch existierenden 2481 Bergwerke 1400 Unternehmungen, wie eine 1925 eingesetzte Königliche Kommission feststellte, und 1944 gehörten 1630 Gruben zu 740 Unternehmungen. 39 34 Ubde, Kurt, a. a. O., S. 8 1 . 35 Goldscbmidt, Curt, a. a. O., S. 66. 36 Ebenda, S. 69.
Bergmann, Kurt, D i e wirtschaftsgeschichtliche Entwicklung des Ruhrbergbaues seit A n f a n g des 19. Jahrhunderts, wirtsch. und sozialw. Dissertation, K ö l n 1937, S. 1 4 4 . 38 Pollard, Sidney, a. a. O., S. 5. 39 Allen, G. C., British Industries and their Organization, 4. A u f l . London/Toronto/New Y o r k 1959, S. 67 _ 37
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Obwohl dann schließlich — 1944! — 83 Prozent der Produktion auf 538 Gruben mit mehr als 500 Arbeitern entfielen, 50 Prozent der Gruben mehr als 1000 Arbeiter beschäftigten, und es große Gesellschaften gab — wie die Powell-Dyffryn-Associated Colleries mit 93 Gruben und 38000 Arbeitern — existierten noch immer sehr kleine Gruben mit etwa einem Dutzend Arbeitern. Über die zwanziger Jahre, als die großen Absatzschwierigkeiten für die britische Steinkohle begannen, schreibt Pollard: „Das typische britische Bergwerk war zu klein, um rentabel zu sein, und es gab zu viele unabhängige und konkurrierende Firmen, als daß freiwillige Verbände zustande kommen konnten, die es mit dem deutschen Kohlenkartell oder ähnlichen ausländischen Organisationen aufnehmen konnten."40 Die schwache oder besser fehlende Ausbildung von Kartellen im Bergbau in Großbritannien ist wohl eines der wesentlichen Unterscheidungsmerkmale des dortigen Monopolisierungsprozesses von dem in Deutschland. Während bis 1914 die Monopolisierung in Großbritannien zwar etwas schwächer ausgeprägt war und langsamer verlief als in Deutschland, waren doch bestimmte allgemeine Tendenzen sehr ähnlich: Kartellbildung vor allem bei der Erzeugung homogener Massengüter, zum Beispiel in der Eisen- und Stahlindustrie (hier gab es allein 20 Prozent aller in Großbritannien existierenden Kartelle), in der Garnproduktion und in der Produktion einzelner Elektroartikel usw; kurzlebige Kartellversuche in der Fertigwarenindustrie, Beginn der Konditionen- und Rabattkartelle in diesen Branchen; vertikale Vertrustung in der Rüstungsindustrie, in der allerdings in Großbritannien der Schiffsbau den größeren Anteil hatte.4! Auffällige Unterschiede zu Deutschland (und zum Teil auch zu den USA) bestanden darin, daß der Kohlenbergbau weitaus geringer in die vertikale Konzernierung der Schwerindustrie einbezogen war und eben der fehlenden Kartellierung im Bergbau. Als nach dem ersten Weltkrieg die Position der britischen Kohle auf dem Weltmarkt zu schwinden begann, geriet der britische Steinkohlenbergbau gegenüber den stark monopolisierten kontinentalen Konkurrenten ins Hintertreffen. Der Mining Industry Act von 1926 versuchte, den Zusammenschluß benachbarter Bergwerke zu fördern, hatte aber keinen durchschlagenden Erfolg. Bis 1928 hatten sich 14 Zusammenschlüsse herausgebildet, die 172 Schächte mit rund 126000 Arbeitern umfaßten. Im Rahmen dieser Fusionen entwickelten sich 6 Großunternehmen mit Jahresförderungen von 2 - 9 Millionen t. 42 Auch einige regionale Kartelle kamen nach 1926 zustande, scheinen aber nur bis zum Beginn der Krise effektiv gewesen zu sein. Der Coal Mines Act von 1930 verfügte schließlich die Zwangskartellisierung, konnte aber auch nicht die erbitterte Preiskonkurrenz zwischen den Revieren verhindern, bis auf offiziellen Druck hin 1936 schließlich generelle Verkaufspreisabsprachen durchgesetzt wurden. Da in dem Zwangskartellsystem die Quotenübertragung erlaubt war, führten die Maßnahmen der dreißiger Jahre schließlich zu etwas stärkerer Konzentration.43 *» Pollard, Sidnej, a. a. O., S. 111. 4 1 Zum Monopolisierungsprozeß in Großbritannien siehe: Clapbam, Jobn Harold, An Economic History of Modern Britain, Bd. 3: Machines and National Rivalries (1887—1914). With an Epilogue (1914-1929), Cambridge 1938, S. 301ff. — Clapham hat die unveröffentlichten Unterlagen des Committee on Trusts (1919) ausgewertet. Siehe auch: Medick, Hans, Organisierter Kapitalismus in Großbritannien 1873—1914, in: Organisierter Kapitalismus. Voraussetzungen und Anfänge, hg. v. Heinrich August Winkler, Göttingen 1974, S. 58—84= Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft. 9. 42 Fuhr, Werner, Die Organisation der britischen Kohlenwirtschaft, Berlin 1934, S. 45ff., nach den Jahresberichten des Mines Department. « Pol/ard, Sidney, a. a. O., S. 112f. 10*
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Bergbau
Dieser Ausblick auf die britische Entwicklung im 20. Jahrhundert scheint geeignet, die Konzentrationsentwicklung im deutschen Kohlenbergbau, die ja im Grunde bekannt ist, aber oft als etwas Selbstverständliches oder „Normales" betrachtet wird, einmal mit etwas „neugierigen" Augen zu sehen. Auf den in unserem Zusammenhang besonders interessierenden Einfluß der Rechtsverhältnisse auf die Konzentrationsentwicklung weist auch Allen ausdrücklich hin: Die Ausdehnung des Grundeigentums und die von den Bergwerksbesitzern zu zahlenden Abgaben an die Grundeigentümer, die „coal royalties", (also die absolute Grundrente) hätten die Herausbildung einer wirtschaftlichen Struktur im Gegensatz zu Deutschland negativ beeinflußt. 44 Nach dem Bericht der Königlichen Kommission von 1925 (Samuel-Kommission) wurden nur 12 Prozent der Förderung von den Grundeigentümern selbst betrieben. 45 Von den übrigen Bergwerksbesitzern mußten also an etwa 3800 „royalty owners" jährlich umgerechnet ca. 120—200 Millionen Mark gezahlt werden. 46 Als die coal royalties schließlich zwischen 1938 und 1942 nationalisiert wurden, kostete das den Staatshaushalt umgerechnet rund 1,3 Milliarden Mark ! 4 7 Abgesehen von der beträchtlichen Höhe der finanziellen Belastung der Bergbauunternehmer — bei dem weitgehenden Fehlen von Monopolverbänden und dem ausländischen Konkurrenzdruck konnten die royalties nicht immer auf die Preise abgewälzt werden —, wirkte sich auch die Langfristigkeit der Pachtverträge sehr ungünstig aus. 1925 waren nach dem Bericht der Samuel-Kommission 60 Prozent der Förderung durch Abkommen von mehr als 25jähriger Dauer gebunden. 48 Dies erschwerte sowohl die Ausdehnung als auch die Stillegung von Bergwerken. In Preußen — außerhalb der Privatregalgebiete — hatte die Bergrechtsreform dazu geführt, daß letztendlich absolute Grundrente von den Bergbauindustrieellen selbst abgeschöpft wurde, was nicht unwesentlich zur schnellen Kapitalakkumulation in diesem Zweig beigetragen haben dürfte. Diese Behauptung muß noch näher erörtert werden. Das eigentliche Regulierungsmotiv, das der Berggesetzgebung zugrunde lag, war, genügend privates Kapital in den Bergbau zu lenken. So schrieb Brassert in seinem Kommentar: „Aus überwiegend volkswirtschaftlichen Gründen . . . hält das Berggesetz den Grundsatz der Trennung des Bergbaues von dem Grundeigentum, sowie den ferneren Grundsatz fest, daß die von dem Verfügungsrechte des Grundeigentümers ausgeschlossenen
Mineralien für den freien Verkehr bestimmt sind, um auf diese Weise einer kräftigen Fortentwicklung des vaterländischen Bergbaues als Grundlage dienen,"49 (Hervorhebung von mir — H. N.) Der Förderung des Kapitalzustromes hatte schon zwischen 1851 und 1865 die sukzessive Herabsetzung der Regalabgaben (des Bergwerkszehnten und anderer Abgaben) gedient. (Siehe Abb. 10) Bis 1861 war der Gesamtertrag der herabgesetzten Abgaben wieder auf das Zweieinhalbfache angestiegen, so daß eine weitere Herabsetzung auf eine Steuer von 2 Prozent vom Bruttoertrag erfolgte, deren Gesamtertrag bis 1893, als sie „außer Hebung" gesetzt wurde, wiederum auf das Fünfeinhalbfache gestiegen war. 50 Im Rahmen dieser — nebenher auch für den Fiskus erfolgreichen — Kapitallenkungspolitik sollte nun ebenfalls eine „Befreiung von der Grundrente" erAllen, G. C., a. a. O., S.68 Report of tbe Royal Commission on the Coal Industrj (1925), London 1926, S. 74. « LubinlEverell, The British Coal Dilemma, New York 1929, S. 79. « Pollard, Sidnej, a. a. O., S. 113. 48 Report of tbe Royal Commission . . ., a. a. O., S. 82. 49 Brassert, Hermann, a. a. O., S. 51. 50 Coldscbmidt, Curt, a. a. O., S. 84. 44
45
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%
n 12 10
8 6
k Z 781650
60
70
80
90
351913
Abb. 10: Durchschnittliche Belastung der Kubrkohlen^echen mit Bergwerksahgaben und Steuern 1876 bis 1913 (in Prozent vom Absat^wert der Kohle). Quelle: Holt]'rerieb, Carl-Ludwig, Quantitative Wirtschaftsgeschichte des Ruhrkohlenbergbaus im 19. Jahrhundert, Dortmund 1973, Schaubild S. 41 und Tabelle S. 40.
folgen. Brassert schrieb: „Die Bergbaufreiheit ist demnach durch das Berggesetz, unbeschadet der wohlerworbenen Rechte der Privatregalinhaber (§ 250), von demBergregal und dessen Ausflüssen ebenso befreit, wie andererseits von der Abscbwäcbung, welche sie linksrheinisch nach dem französischen Berggesetz vom 21. April 1810 durch die dem Grundeigentümer zustehende Grundrente erlitten hatte."51 (Hervorhebung von mir — H. N.) Diese geplante, mittels Gesetzesvorschrift fixierte „Befreiung von der Grundrente" hatte aber nun etwas verwickelte ökonomische Folgen. Einerseits entfiel zweifellos für die Bergbauunternehmer die für das Eigentum an der Erdoberfläche zu entrichtende Grundrente und damit eine nicht unerhebliche Belastung der Bergbauunternehmen. Andererseits bildete sich eine Form — oder ein Teil — der absoluten Grundrente wieder heraus, nämlich die, die für das Eigentum an Mineralien unter der Erdoberfläche (also an der „unbegrenzten Teufe") zu zahlen war. Die Berechtsame, also das faktisch umsonst angeeignete Bergeigentum, wurden geund verkauft und erhielten einen Preis. Folglich wurde der Preis der Berechtsame nicht nur von denjenigen Unternehmen, die sie käuflich von den Erstbeliehenen erworben hatten, sondern auch von diesen erstbeliehenen Unternehmen, die nichts für dieses „Eigentum" gezahlt hatten, als Anlagekapital gewertet, auf das regelmäßig Abschreibungen vorgenommen wurden. Diese Abschreibungen gingen also in den Preis der Bergbauprodukte mit ein. In dem Gutachten einer vom Reichswirtschaftsministerium erstellten Kommission zur Lage des rheinisch-westfälischen Steinkohlenbergbaues von 1928 wurden sie in der Höhe von 9 Pfennig pro Tonne Steinkohle akzeptiert.52 (Dem war Anfang der zwanziger Jahre eine umfangreiche Berechnung des „Werts" der Berechtsamen vorausgegangen. Man konnte diesen „Wert" nur feststellen, indem man sämtliche Verkäufe von aufgeschlossenen Grubenfeldern zwischen 1900 und 1920 prüfte und von den tatsächlich erzielten Kaufpreisen die Werte der Grundstücke, Gebäude, Anlagen usw. subtrahierte.53) 51 52
Brassert, Hermann, a. a. O., S. 51. Gutachten über die gegenwärtige Lage des BJjeinisch- Westfälischen Steinkohlenbergbaus,
dem Reichswirtschafts-
ministerium erstattet durch Prof. Dr. Schmalenbach, Dr. Baade, Dr. Lufft, Dr. Ing. Springorum, Bergassessor Stein, Berlin 1928, S. 26ff. 53
Ebenda.
136
Bergbau
Wenn aber der Preis der Berechtsame über die Abschreibungen in den Preis der Bergbauprodukte mit eingeht, so bedeutet das: 1. Diejenigen Unternehmen, die die Berechtsame gekauft hatten, erhielten den Kaufpreis, also die Grundrente für das Bergeigentum, vom Kohlenverbraucher ersetzt. 2. Diejenigen Unternehmen, denen das Bergeigentum unentgeltlich durch Verleihung übereignet worden war, zogen über den Preis der Bergbauprodukte ebenfalls vom Kohlenverbraucher Grundrente ein, sie waren also Gt\inAtentenempfänger — und nicht Grundrentenfahler, wie die Bergwerksunternehmer in Großbritannien — und konnten die empfangene Grundrente als zusätzliches Kapital verwenden. Was bedeutet das im Hinblick auf die ökonomische Wirkung des Berggesetzes? 1. Durch die juristische Konstruktion einer Trennung von Oberflächeneigentum an Grund und Boden und Tiefeneigentum ist nicht etwa die Volkswirtschaft von der Grundrente für das Tiefeneigentum entlastet worden. Da es sich auch bei Tiefen- oder Bergeigentum um nichtvermehrbares, also Monopolgut handelt, ist, sobald dieses Monopolgut zum Privateigentum wird, die Zahlung von absoluter Rente eine zwangsläufige Folge. 2. Durch die juristische Trennung von Oberflächen- und Tiefeneigentum an Grund und Boden erfolgte aber eine Aufspaltung der absoluten Grundrente, von der ein Teil nun den Bergeigentümern zufloß 54 , der, ebenso wie die Rente für die Bodenoberfläche, einen Abzug vom Mehrwert, der in anderen Zweigen erzeugt wurde, und vom Arbeitslohn darstellte. Es handelt sich also um eine Umverteilung des Nationaleinkommens zugunsten der Bergbauunternehmer, die von den Gesetzgebern bezweckt war — jedenfalls im Prinzip, wenn auch vielleicht nicht von vornherein in der Art, wie sie sich dann entwickelt hat. Kommen wir nun noch einmal auf die Verhältnisse im oberschlesischen Revier, das zum großen Teil zum Gebiet der Privatregalinhaber gehörte, zurück. Wie aus der weiter oben wiedergegebenen Brassertschen Aufzählung hervorgeht, waren die „wohlerworbenen Rechte", die das Berggesetz nicht antastete, unterschiedlicher Natur. Einige der Regalien beinhalteten lediglich das Recht auf den „Zehnten" oder „Zwanzigsten", andere das Vorzugs- und Ausschließungsrecht des Inhabers beim Muten. Im letztgenannten Fall hatte der Regalinhaber das Recht, jeden Bergbau außer den von ihm selbst betriebenen zu verhindern. Dieses aus dem Feudalrecht gewonnene Monopol war also nun auch durch das neue Berggesetz sanktioniert, festigte die schon bestehenden „Eigenbetriebe" der schlesischen Magnaten und sicherte die Expansion dieser Unternehmen. Neben anderen besaß auch, wie schon erwähnt, der Graf Henckel von Donnersmarck-Neudeck dieses Vorzugs- und Ausschließungsrecht „für Galmeierze und Steinkohlen in der Standesherrschaft BeuthenTarnowitz". In seinen Gruben wurden schließlich 1913 2,5 Millionen t Kohle gefördert. Henckel von Donnersmarck, der im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert über nicht unerheblichen politischen Einfluß in der Reichsspitze verfügte, versteuerte 1908 nach Krupp das zweitgrößte Vermögen Deutschlands: 177 Millionen Mark. 55 Bei dem Regalrecht der erstgenannten Art, also bei dem Recht auf den „Zehnten" oder „Zwanzigsten" (das, um Der Ausdruck „Bergwerksrente" bezieht sich bei Marx eigentlich nur auf die Differentialrente (Marx, Karl, Das Kapital Bd. 3, Marx/Engels Werke Bd. 25, S. 781 ff.), wahrscheinlich deshalb, weil es für England selbstverständlich war, daß die absolute Rente an den Grundeigentümer ging. Differentialrente ist natürlich in dem hier behandelten Begriff der Rente des Bergeigentums ebenfalls enthalten, aber diese Rente reduziert sich nicht auf die Differentialrente. Deshalb ist der Marx'sehe Begriff der „Berg wer ksrente" hier nicht verwendet worden. 55 Vgl. Biographisches Lexikon ?ur deutschen Geschichte, 1. Aufl., Berlin 1967, S. 205 f.
54
.Allgemeines Berggesetz für die preußischen Staaten"
137
noch einmal auf das eben angeführte Beispiel zurückzukommen, auch Henckel von Donnersmarck-Neudeck für einen Teil seiner Standesherrschaft zustand), bestand theoretisch die alte Bergbaufreiheit fort, das heißt Interessierte konnten beim Regalherrn Mutung einlegen und ein Bergwerk errichten, aber sie hatten eben die feudale Rente zu zahlen. Welche Auswirkungen dies unter den nun durch die Bergreform allgemein veränderten Bedingungen hatte, schildert Gothein an einem Fall aus dem Jahre 1865: „Die Steinkohlenbergwerke in der Thiele-Winklerschen Standesherrschaft Myslowitz-Kattowitz stellten beim Landtag vor: Früher sei das Regal von der Regierung ausgeübt worden, alsdann an die Standesherrschaft übergegangen, der es auch trotz nachträglicher Anfechtungen verblieben sei. Die Herrschaft erhob nun die alte Bergwerksabgabe, den vollen Zwanzigsten, also 5 Prozent vom Rohertrag; die Möglichkeit der Konkurrenz mit den anderen Zechen, die jetzt nur noch mit 1 Prozent belastet waren, vollends mit denen des Regalherrn, die gar keine Abgaben zu entrichten hatten, war ausgeschlossen. Die Petenten hatten freilich recht damit, daß es ein Widerspruch zum Geist der Zeit und der Verfassung sei, wenn in einem ansehnlichen Landesteile der Bergbau der Polizei- und Exekutivgewalt eines Privaten unterworfen sei, allein, nachdem eben erst im Berggesetz das Privatregal anerkannt war, erklärte der Landtag, nichts für sie tun zu können. So sind denn diese kleinen Privatzechen wie isolierte Bauerngüter von einem sie umschließenden Großgrundbesitz aufgesogen worden. Man kann hier von Zechenlegung wie von einer Bauernlegung reden: Ausnützung von Hoheitsrechten zum Zwecke der Erweiterung eines großkapitalistischen Betriebes." 56 Es ist klar ersichtlich, daß erst die eigenartige im Berggesetz enthaltene Kombination von Förderung und Entlastung der Mehrheit der Bergbauunternehmen auf der einen Seite und von Aufrechterhaltung der Privatregale auf der anderen Seite den nicht-standesherrschaftlichen Bergbau in Oberschlesien unmöglich gemacht hat und so dort sehr früh — noch früher und genereller als im Ruhrrevier — zu einem hohen Konzentrationsgrad der Unternehmen geführt hat. Wenn hiermit der gedrängte Exkurs über die Voraussetzungen, die die Preußische Bergrechtsreform für die Konzentrationsentwicklung schuf, abgeschlossen wird, so muß betont werden, daß nicht alle Aspekte dieser Reform hier angeschnitten oder gar abgehandelt werden können — wie etwa die Änderungen in bezug auf die bergrechtlichen Gewerkschaften und die arbeitsrechdichen Bedingungen der Bergarbeiter. So wichtig dies einerseits auch wäre, so ist doch andererseits eine ziemlich strikte Beschränkung auf einige Grundlinien notwendig, wenn man die Entwicklung des Verhältnisses von staatlicher Regulierung und privatkapitalistischer bzw. monopolistischer Regulierung in der Volkswirtschaft herausarbeiten will. Wenn hier der Bergbau als erstes Untersuchungsobjekt gewählt wurde, so zunächst aus dem schon angeführten Grunde, daß der Montan-Schwerindustrie-Komplex in der ökonomischen, sozialen und politischen Entwicklung des deutschen Monopolkapitalismus bis in die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts hinein eine so bedeutende Rolle spielte; aber auch deshalb, weil hier die Aufeinanderfolge von: Endphase absolutistisch-merkantilistischer staatlicher Gewerbeförderung und -bevormundung, kapitalistischer freier Konkurrenz, Monopolisierung und erneuter Staatsregulierung sich in einem so relativ kurzen Zeitraum von etwa 50 Jahren abspielte. Der spezifische Zug der allgemeinen ökonomischen Entwicklung in Deutschland — (wenn auch „spezifisch" vielleicht nur im Vergleich mit England, Frankreich und den U S A ) : 66
Gotbein, Eberhard, a. a. O., S. 437.
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Bergbau
später Beginn der Periode des Kapitalismus der freien Konkurrenz und frühes „Ende" derselben — ist, zumindest unter den „alten" Industriezweigen, im Bergbau vielleicht am allerstärksten ausgeprägt. Diese schnelle Abfolge der Entwicklungsstufen macht es im gewissen Sinne leichter, einige grundlegende Züge im Wechselspiel der staatlichen Regulierung und der „inneren" Regulierungskräfte der kapitalistischen Ökonomik zu beobachten. Dabei hat man sich natürlich vor allzu starker Verallgemeinerung zu hüten, aber das Beispiel kann immerhin helfen, Beobachtungsansätze auch für andere Zweige zu finden. Die Bergrechtsreform leitete die Freisetzung der inneren Kräfte des Kapitalismus zu einer Zeit ein, als gerade entsprechend der Phase der industriellen Revolution, in der sich die Ökonomik befand, ein starker Aufschwung der Schwerindustrie einsetzte. 57 Die Bergrechtsreform war natürlich nicht die Ursache für diesen Aufschwung, aber sie ermöglichte ihn. Sie ermöglichte ihn einerseits durch Rücknahme staatlicher Regulierung in der Form direkter Produktionsleitung und -kontrolle und in der Rücknahme finanzieller Belastungen. Sie ermöglichte ihn andererseits durch eine andere Form der staatlichen Regulierung, nämlich durch die starke Begünstigung der Bergbauunternehmer in der Profitaneignung, besonders in der Aneignung der Produktionsgegenstände. Die gesetzliche Fixierung dieser, man muß schon sagen, „Vorzugsrechte" der Bergbauunternehmer ist sehr wohl als ein Akt der „direkten Regulierung" durch den Staat anzusehen, dessen Wirkung sich nun mit der Wirkung der Gesetze der freien Konkurrenz verquickte. Ebensowenig wie es sich um einen staatlichen Regulierungsakt handelt, der nur „ex-post", also im „nachhinein", in Szene gesetzt wurde, sondern um einen Akt, der auf eine lange Wirkungsdauer „im vorhinein" berechnet war, ebensowenig kann man ihn als „punktuellen" Regulierungsakt beurteilen. Er beeinflußte tatsächlich die Reproduktionsbedingungen eines ganzen Zweiges für viele Jahrzehnte.
2. Monopolistische Regulierung Die Steinkohlenförderung im Deutschen Reich wuchs zwischen Mitte der 1870er Jahre und 1893 langsamer als vor und nach diesem Zeitraum (Vgl. Abbildung 9, S. 122). Die Verlangsamung der Wachstumsraten ist auch aus Abb. 11 zu ersehen, welche allerdings nur für das Ruhrrevier gilt. Aber besonders in Abbildung 11 springt ins Auge: Auch die stärksten negativen Preisveränderungsraten führten nicht zu einem Sinken der Förderung jeweils gegenüber dem Vorjahr. Auch in den Jahren des größten Preissturzes — 1873 bis 1876 — wuchs die Förderung. Bei der Gelsenkirchener Bergwerksaktiengesellschaft (im folgenden: Gelsenkirchen) zum Beispiel hatte sie sich in dieser Zeit mehr als verdoppelt. Gleichzeitig wurde die Arbeiterzahl vermindert, die Förderung rationalisiert, die Arbeitsintensität erhöht. Die Löhne pro Mann und Schicht sanken in diesen Jahren bei Gelsenkirchen um 32 Prozent! So konnten bei erhöhter Ausbeutung der Arbeiter die Selbstkosten gesenkt werden (Vgl. Tabelle 30). Dazu kamen noch bei der Gelsenkirchener Bergwerksaktiengesellschaft besonders günstige Flözverhältnisse 58 , so daß diese Gesellschaft mit ihren drastisch gesenkten Selbstkosten viele Konkurrenten aus dem Felde schlagen und trotz der gesunkenen Preise noch 67 68
Mottek, Hans, Wirtschaftsgeschichte Deutschlands, Bd. 2, Berlin 1969, Kap. 7, 8, 9. Stillicb, Oskar, Steinkohlenindustrie, Leipzig 1906, S. 148=Nationalökonomische Forschungen auf dem Gebiete der großindustriellen Unternehmung, Bd. 2.
139
Monopolistische Regulierung
Abb. 11: Entwicklung der Preisveränderungsraten (jeweils gleitende Dreijabresdurcbscbnitte). a Wachstumsraten b Preisveränderungsraten Quelle: Holtfrericb,
Carl-Ludwig,
und der Wacbstumsraten
der Kubrkoblenproduktion
1852 bis 1891
a. a. O., Schaubild S. 127 und Tabellen S. 16ff. und 22ff.
Tabelle 30 Förderung, Löbne, Selbsthosten,
Verkaufserlöse
bei der GelsenkircbenerBergwerksaktiengesellscbaft
1873—1879
Jahr
Arbeitskräfte
Förderung in t
Lohn pro Mann und Schicht M
Selbstkosten pro t M
Verkaufserlös pro t M
1873 1874 1875 1876 1877 1878 1879
1580 1630 1975 2020 1969 1972 1965
362707 496269 576614 606300 668743 726029 763511
4,41 4,17 3,67 3,49 3,24 3,18 3,03
6,74 6,17 5,55 5,42 4,52 3,97 3,81
15,19 13,30 9,55 8,15 6,33 5,78 5,90
Quelle: Stillicb, Oskar, Steinkohlenindustrie, Leipzig 1906, S. 147 = Nationalökonomische Forschun gen auf dem Gebiet der großindustriellen Unternehmung, Bd. 2.
Gewinn, wenn auch reduzierten, realisieren konnte. Wenn auch nicht viele Unternehmen in den Krisen- und Depressionsjahren ein solches Resultat erreichen konnten, so unterlagen doch alle dem gleichen Zwang, der letztendlich durch den hohen Anteil an fixem ko nstantem Kapital hervorgerufen wurde und den Stillich so beschreibt: „Die einzelne Zeche konnte durch ihre Produktionseinschränkung keinen Einfluß auf die Preisbildung ausüben, während die Selbstkosten dadurch erhöht wurden. Es handelte sich also für jede Zeche darum, bei unverminderter Produktion den Absatz zu finden. Demzufolge blieben Überproduktion und Preisrückgang konstant. Immer von neuem unterbot eine absatzbedürftige Zeche auch den bis dahin niedrigsten Preis, um nicht zu der Einschränkung der Förderung gezwungen zu sein und dadurch noch mehr zu verlieren." 59 Diese Situation, 59 Ebenda, S. 147f.
140
Bergbau
die faktisch bis zu dem erneuten Boom ab 1888 anhielt, ließ nun Bestrebungen zum monopolistischen Zusammenschluß stärker werden, die schon seit 1878 mit der Bildung von Preisvereinigungen und Förderkonventionen für einzelne Kohlensorten èingesetzt hatten. 60 Stillich schreibt: „Aber alle diese Konventionen, die geschlossen wurden, blieben machtlose Gebilde und zerfielen. Der Grund, warum sie keine Änderung auf dem Kohlenmarkt herbeizuführen vermochten, lag aber in letzter Linie in der Zersplitterung des Bergwerksbesitzes." 61 Nun schuf aber gerade die lange Abschwungswelle die Bedingungen für eine raschere Zunahme der Konzentration und der Zentralisation des Kapitals. Diejenigen Unternehmen, die, wie Gelsenkirchen, die krisenhaften Jahre am besten überstanden hatten, konnten schlechter rentierende Unternehmen günstig aufkaufen und ihren Felderbesitz erweitern. Bei manchen der Gesellschaften begann die Expansion nach dem Preistief von 1887 und zu Beginn des nachfolgenden Aufschwungs. Die Bergwerksgesellschaft Hibernia (im folgenden: Hibernia) erweiterte ihren Besitz an Grubenfeldern 1887 und 1889 durch Aufkauf einer Gewerkschaft sowie von noch unverritzten Feldern von 826 ha auf rund 2106 ha. 62 1909/10 umfaßte die Berechtsame von Hibernia dann 10 190 ha oder 101,9km2. Die Harpener Bergbau-AG (im folgenden: Harpen) kaufte von 1889 bis 1891 10 Zechen auf. 63 Am frühesten begann die Expansion bei Gelsenkirchen, die schon 1882 durch Erwerb der Zechen Stein und Hardenberg ihre Berechtsame, die bis dahin 761 ha betragen hatte, um 2458 ha vergrößerte. Bis 1892 war dann die Berechtsame durch Aufsaugung weiterer Unternehmen auf 15820 ha angewachsen, bis 1905 auf 23639 ha oder 236 km 2 : In diesem Jahr betrug die Fläche der Stadt Berlin 63 km 2 . 64 Zur gleichen Zeit, als von .Gelsenkirchen unter maßgeblicher Führung von Direktor (ab 1892 Generaldirektor) Emil Kirdorf die Expansion so zielbewußt forciert wurde, betrieb der gleiche Kirdorf mit zähem Nachdruck die Bildung eines umfassenden Kohlenmonopols 65 , die auf viele — besonders auch subjektive — Schwierigkeiten stieß (Vgl. S. 77ff.). Im Kalibergbau war schon 1889 — nach einigen Vorstufen, d. h. Kartellen für Einzelprodukte ab 1879 — ein Syndikat zustande gekommen, das sich als dauerhaft erweisen sollte. Hier lagen aber die Verhältnisse insofern anders, als die Zahl der in Frage kommenden Bergbau- und Verarbeitungsbetriebe damals noch nicht groß war, daß die Unternehmen des preußischen und anhaltischen Fiskus führende Positionen in diesem Zweig einnahmen und die Bildung des Monopols durchsetzen konnten. 66 Außerdem war schon rein quantitativ gesehen das Gewicht des Kalibergbaus weitaus geringer als das des Steinkohlenbergbaues (Vgl. Tabelle 26, S. 121). Kuczynski, Jürgen, Die Lage der Arbeiter . .., Bd. 14, Zur Frühgeschichte des deutschen Monopolkapitals und des staatsmonopolistischen Kapitalismus, Berlin 1962, S. 69ff. 61 Stillicb, Oskar, a. a. O., S. 151 — Kuczynski hebt hervor, daß im Unterschied zu den großen Schwierigkeiten der Monopolisierung des Binnenmarktes die Syndizierung des Exports früh einsetzte (Kohlenausfuhrverein 1877) und stabil blieb, bis 1894 die Funktionendes Ausfuhrvereins organisch im RheinischWestfälischen Kohlensyndikat aufgingen (Kuczynski, Jürgen, a. a. O., Bd. 14, S. 70f.) Vergleiche dazu Kap. 7.4 des vorliegenden Bandes — Exportkartelle und Schwierigkeiten der Binnenmarktmonopolisierung in der Landwirtschaft. 62 Stillicb, Oskar, S. 7f. 63 Goldscbmidt, Curi, a. a. O., S. 59f. M Stillicb, Oskar, a. a. O., S. 155f. 65 Zur Rolle Kirdorfs: Kuczynski, Jürgen, a. a. O., Bd. 14, S. 88ff. 66 Nussbaum, Helga, Kaliindustrie, a. a. O.
60
Monopolistische Regulierung
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Den Schwerpunkt der folgenden Darstellung wird die Entwicklung im Steinkohlenbergbau des Ruhrreviers, das heißt: des Rheinisch-Westfälischen Kohlensyndikats (im folgenden: RWKS) bilden. Dies deshalb, weil die Gesamtförderung aller Syndikatszechen schließlich nach 1905 stets mehr als die Hälfte der Gesamtsteinkohlenförderung des Deutschen Reiches ausmachte (1907: 55,98 Prozent). 67 Die wirtschaftliche Machtposition dieses Syndikats war also höchst bedeutend, und aus diesem Grunde sind auch die Beziehungen, die sich zwischen ihm und „dem Staat" entwickelten, besonders aufschlußreich. Auch in anderen Steinkohlenrevieren außer im Saarrevier, wo die fiskalischen Grubenunternehmen vorherrschten, bildeten sich in den 1890er Jahren monopolistische Vereinigungen, desgleichen im Braunkohlenbergbau. 68 Besondere Bedeutung erlangte im Steinkohlenbergbau noch die „Oberschlesische Kohlenkonvention", die — wiederum über mehrere Vorstufen — 1895 gegründet wurde. Sie errang aber auf dem deutschen Markt nie die Machtstellung wie das RWKS, da erstens die Förderung des gesamten oberschlesischen Reviers in den Jahren vor 1914 nur 21 bis 23 Prozent der Förderung im Reich betrug 69 , zweitens von dieser Fördermenge hohe Prozentsätze exportiert wurden (1913: 40 Prozent) 70 , und drittens nur eine Preis- und Produktionsabsprache, nicht aber eine gemeinsame Absatzorganisation bestand. In gewissem Sinne entwickelten sich hier die Beziehungen zwischen Staat und privaten Großunternehmen ähnlich wie im Falle des Kalisyndikats. Der preußische Fiskus besaß im oberschlesischen Steinkohlenbergbau eine bedeutende Position, ihm gehörten 17 Prozent der Berechtsame des Reviers und in der gleichen Höhe lag sein Produktionsanteil; die Anzahl der privaten Unternehmen war infolge der schon früh vollzogenen Konzentration nicht sehr groß, aber der Anteil des Fiskus überragte doch diejenigen der einzelnen Privatunternehmen. Der Fiskus trat der Konvention 1905 bei, wobei ihm einige bedeutende Vorzugsrechte eingeräumt werden mußten. Er hatte statutenmäßig Sitz und Stimme im Vorstand und seine Quote mußte stets auf 17,1 Prozent der Gesamtfördermenge gehalten werden. 7 ^ Im Ruhrrevier jedoch war die Lage anders, hier gab es zunächst keine staatlichen Gruben — jedenfalls nicht direkt im Revier —, und hier entwickelte sich das „Privatmonopol" in reiner Form. Wie und über welche Vorstufen das RWKS schließlich zustande kam, soll hier nicht weiter erörtert werden 72 , da das Hauptaugenmerk nun auf die Funktionsweise und die Wirkung des Monopols gerichtet werden muß. Hier sei nur noch eine Selbstdarstellung von Gelsenkirchen über die Expansionspolitik seit Anfang der achtziger Jahre zitiert: „Die technischen Vorteile des bergbaulichen Großbetriebes liegen auf der Hand; derselbe ermöglicht billigere Selbstkosten, Austausch bewährter Einrichtungen und Erfahrungen, Erprobung von Neuheiten an geeignetster Stelle, vor allem aber Verteilung des bergbaulichen Risikos auf eine größere Anzahl von Schächten, deren im ganzen gesicherter Betrieb trotz Unterbrechungen im einzelnen dem Gesamtunternehmen eine gleichmäßige Rente und damit dessen Werten einen stetigen Charakter verbürgt. Nach der wirtschaftlichen 67
Lütbgen, Helmut, Das
Rheinisch-Westfälische Kohlensyndikat in der Vorkriegs-, Kriegs- und Nachkriegszeit und seine Hauptprobleme, rechts- und staatsw. Diss. Würzburg 1926, S. 206f. 6 8 Siehe Verzeichnis: „Monopolartige Einrichtungen im deutschen Kohlenbergbau vor 1900" bei: Kuc^ynski, Jürgen, a. a. O., Bd. 14, S. 1 0 7 f f . Lütbgen, Helmut, a. a. O., S. 206f. 70 Storm, Ernst, Geschichte der deutschen Kohlenwirtschaft von 1 9 1 3 - 1 9 2 6 , Berlin (1926), S. 6. 7 1 Ebenda, S. 8 f f . / " Ausführlich: Kuczynski, Jürgen, a. a. O., Bd. 14, S. 6 3 f f . und 1 5 5 f f .
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Bergbau
Seite lehrte die Erfahrung der ungünstigen Jahre, daß die Zersplitterung des rheinischwestfälischen Grubenbesitzes und seiner Verwaltung allein oder doch in allererster Linie die Schuld trug an dem Mißverhältnis, in welchem während dieser Zeit der Verbrauch zur Förderung, die Verkaufspreise zu den Selbstkosten standen. Diesem Übelstande abzuhelfen und neben den durch die Konsolidation zu erreichenden technischen Vorteilen auch die äußere Machtstellung zu erlangen, um führend für eine Einigung des rheinischwestfälischen Bergbaues auf dem Verkaufsgebiet wirken zu können, war der Zweck und der Grundgedanke der mit dem Jahre 1882 beginnenden Vergrößerung der Gesellschaft." 73 Als das RWKS im Februar 1893 gegründet wurde, hatte denn auch Gelsenkirchen die zweitgrößte Beteiligungsziffer, 1900 schon die größte, die sie auch weiterhin hielt. 74 Von den sechs Syndikatsmitgliedern, die 1893 eine Beteiligungsziffer von über 1 Million t erhielten, hielten Gelsenkirchen und Harpen mit weitem Abstand die Spitze; an dritter Stelle lagHibernia. Diese drei Gesellschaften hatten auch noch 1912, als unter den 67 Syndikatsmitgliedern schon 24 mit über 1 Million t beteiligt waren, die Führung (Vgl. Tabelle 31). Tabelle 31 Koblenbeleiligungs^iffern der drei größten Gesellschaften (in Millionen t, abgerundet) Gesellschaft
Bei der Gründung
im RIVKS 1893—1912
Am 31. 12. 1900
Am 1.1.1904
Am 1.1.1912
1 Bergwerksges. Hibernia 2 Harpener Bergbau A G 3 Gelsenkirchener Bergwerks AG
1,603 2,992
3,550 5,450
4,030 6,650
5,417 7,240
2,872
5,689
6,754
8,698
4 Rechnungsmäßige Gesamtbeteiligung aller Syndikatsmitglieder
35,372
54,445
73,367
79,505
Quelle: Zeile 1—3: Wiedenfeld, Kurt, Das Rheinisch-Westfälische Kohlensyndikat, Bonn 1912, Auszug aus Anhangstabelle IV, S. 164f. = Moderne Wirtschaftsgestaltungen, H. 1. Zeile 4 :Bartz, Otto, Aufbau und Tätigkeit des Rheinisch-Westfälischen Kohlensyndikats in ihrer Entwicklung von 1893 bis 1912, phil. Diss. Erlangen 1913, Tabelle II nach S. 44.
Wie wurden nun durch das RWKS die Produktion, die Preise und der Absatz reguliert, und welchen Einfluß übte es auf die Investitionen aus? Tabelle 32 gibt eine Übersicht über die verschiedenen Stufen des Syndikatsvertrages bis 1916. Der mit dem ersten Vertrag festgelegte, aus den Erfahrungen der Vorläufervereinigungen abgeleitete organisatorische Aufbau blieb trotz einiger Abänderungen in seinen Grundzügen erhalten. Die ziemlich komplizierte Form der Vereinigung war also offensichtlich ihrem — schließlich erreichten — Ziel, der straffen Monopolisierung, dienlich. 73
74
Aus einer Ausstellungsfestschrift der Gelsenkirchener Bergwerks AG von 1902 zitiert bei: Jüngst, Ernst, a. a. O., S. 18. Wenn nicht anders angemerkt, sind die Sachangaben zu den Regelungen innerhalb des Syndikats der ausführlichen Darstellung des Juristen Otto Bartz entnommen: Dr. Jur.Bart^, Otto, Aufbau und Tätigkeit des Rheinisch-Westfäliscjien Kohlensyndikats in ihrer Entwicklung von 1893 bis 1912, phil. Diss. Erlangen 1913.
143
Monopolistische Regulierung Tabelle 32 Übersicht über die Syndikatsverträge
(RWKS)
Lfd. Nr.
Datum
Jahr
vorgesehene Geltungsdauer
tatsächliche Geltungsdauer
1 2 3 4 5 6
16.2./19.2. 31. 7./19. 2. 15. 9./1. 10. 5.8. 14.9. 14. 10.
1893 1895 1903 1909 1 19152 19163
bis 31. 12. 1898 31.12.1905 31.12. 1915 31.12.1915 31. 3. 1917 31. 3.1922
bis 1. 1. 1896 30. 9.1903 31.12. 1915 31.12.1915 31. 3.1917 30. 4. 1922
1 2 3
1893-1916
Abänderung in der Hüttenzechenfrage Sogenanntes „Übergangssyndikat" Sogenanntes „Dauersyndikat", durch Verordnung verlängert.
Quelle: Lütbgen, Helmut, Das Rheinisch-Westfälische Kohlensyndikat in der Vorkriegs-, Kriegs- und Nachkriegszeit und seine Hauptprobleme, rechts- und staatsw. Diss. Würzburg 1926, S. 208.
Das R W K S wurde als Aktiengesellschaft mit geringem Kapital (bis 1904 900000 M, ab 1904 2,4 Millionen M) gegründet, ausschließliche Aktionäre waren die zum Vertrag zusammengetretenen Zechenbesitzer, die Aktien waren Namensaktien und konnten daher nicht ohne Zustimmung der Generalversammlung und des Aufsichtsrates veräußert werden. Zwischen der Aktiengesellschaft und der gleichzeitig gegründeten „Vereinigung der Zechenbesitzer", einer Gesellschaft bürgerlichen Rechts, die ihrerseits das Kartell der — rechtlich selbständig bleibenden — Zechenunternehmen darstellte, wurde ein Vertrag geschlossen, bei dem sich die Vereinigung verpflichtete, die von den Zechen geförderte Kohle ausschließlich durch die Aktiengesellschaft RWKS verkaufen zu lassen. Die Regulierung der Produktion und der Preise oblag der „Vereinigung der Zechenbesitzer" bzw. ihren Organen (Generalversammlung, Beirat, Kommission „C" zur Festseztung der Beteiligungsziffern, ab 1904 Schiedsgericht), die Regulierung des Absatzes der AG RWKS. Diese einzelnen Teile oder Gremien des Gesamtgebildes waren aber weder personell streng geschieden — Emil Kirdorf war z. B. gleichzeitig Vorsitzender des Beirates der Zechenbesitzervereinigung und Aufsichtsratsvorsitzender der AG RWKS —, noch ließ das Ziel der Gesamtregulierung eine strenge sachliche Scheidung zu, war doch die Fördermenge bei dem Bestehen von Überkapazitäten in erster Linie von der Absatzregulierung abhängig. Deshalb kann man ohne weiteres das Gesamtgebilde als RWKS bezeichnen. Von den Organen der Zechenbesitzervereinigung wurde für die einzelnen Unternehmen eine Beteiligungsziffer oder Quote festgelegt, die — jedenfalls bis 1904 — in etwa der jeweiligen Förderkapazität entsprach. Die Summe dieser Mengen bildete die Kennziffer „Rechnungsmäßige Gesamtbeteiligung". In engster Zusammenarbeit mit der Verkaufsabteilung und der allmählich ausgebauten Statistischen Abteilung der AG RWKS wurden dann jeweils monatlich oder quartalsweise die voraussichtlichen Absatzmengen geschätzt, danach entsprechend dem Ausfall der Schätzung eine Reduzierung der „Gesamtbeteiligung" vorgenommen und die rechnungsmäßigen Quoten der einzelnen Unternehmen gleichmäßig prozentual gekürzt (Bei den Vorvereinigungen waren diese Maßnahmen nicht für so kurze Zeiträume, sondern für ein ganzes Jahr vorgenommen worden). Die stärksten Kürzungen bis zum Ende des zweiten Vertrages erfolgten in den Monaten April bis
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Bergbau
Dezember des Jahren 1902 mit 24 Prozent. 75 Der geschätzte Absatz war bis 1903 fast immer niedriger als die „Rechnungsmäßige Gesamtbeteiligung", also niedriger als die Förderkapazität (mit Ausnahme von 1900), der tatsächliche Absatz war stets niedriger. Aus Tabelle 33 ist ersichtlich, in welchem Maße der tatsächliche Absatz vom veranschlagten abwich. Tabelle 33 Förderkapazität, veranschlagter (in Mill t, abgerundet) Jahr
1893 1894 1895 1896 1897 1898 1899 1900 1901 1902 1903
und tatsächlicher
Steinkohlenabsat% der Zechen des RWKS 1893—1912.
Rechnungsmäßige Veranschlagter Gesamtbeteiligung Absatz
Tatsächlicher Absatz
1
3
Es wurden mehr oder weniger abgesetzt als veranschlagt Prozent 4
14,7881 35,138 35,354 38,917 42,152 44,891 48,015 52,099 50,221 48,737 52,869
+ 12 + 7,7 + 2 + 4,8 - 5,4 + 1,2 — 2,7 - 4,3 + 2 + 4,8 + 2,8
35,372 36,979 39,481 42,753 46,106 49,688 52,398 54,444 57,173 60,452 63,836
2 13,219' 32,614 34,706 37,138 44,559 44,341 49,359 54,444 49,241 46,517 51,406
1 Für die Monate August bis Dezember Quelle: Bart%, Otto, a. a. O., Tabelle VIII nach S. 44 (Spalte 1-3). Spalte 4 berechnet nach Spalten 2 und 3.
Zwar gelang es dem Syndikat nicht, während der zyklischen Krisen Preissenkungen zu vermeiden, aber der Preisfall konnte durch die starken Föxdereinschränkungen gering gehalten werden im Vergleich zum Preisfall der britischen Kohle (Abb. 9, S. 122). Die Preise der britischen Kohle sanken von von Die von von
1900 bis 1904 um 27 Prozent, 1907 bis 1910 um 35 Prozent. Preise der Essener Fettkohle sanken 1901 bis 1903 um 8,5 Prozent, 1908 bis 1910 um 4 Prozent.
Hier zeigte sich aber zum ersten Mal jenes Phänomen, das sich dann in der Krise von 1929 bis 1933 schon deutlicher ausprägte und in den Krisen nach 1950 allmählich vorherrschend wurde: Auch während der Krise wurden und werden die Monopolpreise hochgehalten. Damals gelang das dem R W K S nur teilweise. Die Preise für Fettkohle konnten nur im jeweils ersten Krisenjahr — 1901 und 1908 — gehalten werden. Die Preise für manche Kohlensorten wurden später oder gar nicht gesenkt, so z. B. die für Magernußkohle und Gas75 Ebenda, Tabelle VI und VII nach S. 44.
Monopolistische Regulierung
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flammstückkohle erst 1903, in der Krise 1907ff. überhaupt nicht. 76 Wenn man bedenkt, daß die Preise für Industriestoffe (Abb. 2, S. 62) 77 1901 gegen 1900 bereits um 11 Prozent gesunken waren (1908 gegen 1907 um 12 Prozent), die Kohlenpreise aber 1901 auf der gleichen Höhe blieben wie 1900, 1908 gegen 1907 teilweise sogar noch stiegen, wird klar, wie verschärfend die Preispolitik des RWKS auf die Lage der kohleverbrauchenden Industrien gewirkt haben muß. Diese Preispolitik rief denn auch so heftige Proteste der Abnehmer hervor, daß die Reichsleitung sich genötigt sah, die bekannte Kartellenquete in die Wege zu leiten. 78 Die Möglichkeiten für rigorose Praktiken bei der Absatzregulierung, auf die noch eingegangen werden muß, ergaben sich zunächst aus der Tatsache, daß die deutschen Kohlenreviere relativ weit voneinander entfernt lagen, jedes Revier also ein „unbestrittenes" oder „natürliches" Absatzgebiet besaß, für dessen Ausdehnung außer dem Grubenpreis der Kohle die Frachtkosten entscheidend waren. Zwischen den „unbestrittenen" Gebieten (das Hinterland der Nord- und Ostseehäfen bildete bis zu einer gewissen Ausdehnung das „unbestrittene" Gebiet der britischen Kohle) lagen die „bestrittenen" Regionen, in denen die Reviere bzw. Kohlenimporteure konkurrierten. 79 Im unbestrittenen Gebiet des RWKS, also in großen Teilen West- und Süddeutschlands, hatte dieses ein fast absolutes Monopol. Dadurch wurden zunächst die Kohlenhändler vom Syndikat abhängig gemacht und dann schrittweise der gesamte Kohlenhandel in einer Art von „Tochtersyndikaten" organisiert, die allmählich dem R W K S faktisch angegliedert wurden. 80 Zunächst wurde nach der Gründung des RWKS das gesamte Absatzgebiet in 29 Reviere aufgeteilt. In jedem Revier wurden in der Regel nur einem einzigen Großhändler die Marken bzw. Sorten einer oder mehrerer Zechen zugeteilt. Das Syndikat schloß mit den Händlern Lieferungsverträge für ein ganzes Jahr zu festen Jahrespreisen (!), wobei folgende Bedingungen vom Syndikat festgelegt wurden: 8 1 1. Der Händler muß sich verpflichten, ausschließlich vom Syndikat zu kaufen, widrigenfalls die Preise für sämtliche während der Vertragszeit abzunehmende Kohlen um 0,50 M pro t erhöht werden. 2. Die Belieferung der Eisen- und Stahlwerke, Eisenbahnen, Brikettfabriken, Kokereien und Gasanstalten (also den Großverbrauchern) ist ausschließlich dem Syndikat vorbehalten. 3. Lieferungen erfolgen hauptsächlich in großen Wagen; Lieferungen an bestimmten Tagen können nicht garantiert werden. 4. Bleibt der Händler während der Monate April bis August mit der Abnahme im Rückstand, ist das Syndikat berechtigt, die Liefermengen während der Monate September bis Februar in demselben Verhältnis zu kürzen. 5. Das Syndikat liefert bestimmte Sorten nur dann, wenn auch die anderen im Vertrag festgelegten Sorten abgenommen worden sind. Wiedenfeld, Kurt, Das Rheinisch-Westfälische Kohlensyndikat, Bonn 1912, S. 162 = Moderne Wirtschaftsgestaltungen, H. 1. 77 In diesem Sammelindex der Abb. 2 sind Kohlen mit enthalten. 78 Nussbaum, Helga, Unternehmer gegen Monopole, a. a. O., S. 56ff. und 179ff. 79 In Berlin z. B. wurden zum größeren Teil schlesische und britische, zum kleineren Teil rheinisch-westfälische Kohlen verbraucht. (Kohle und Eisen im Kubrbergkoblenbecken, in Preußen, Deutschland und auf der Erde in den letzten 10 Jabren und früher, Esen 1910, S. 35). 80 Ausführlich: Bartz, Otto, a. a. O., S. 68ff. 8 1 Vertragsmuster abgedruckt bei Bart%, Otto, a. a. O., S. 78ff. Die wesentlichen Punkte sind hier zusammengefaßt. 76
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Bergbau
6. Falls der Händler beim Wiederverkauf die Preise so hoch stellt, daß die Höhe seines Gewinns im Mißverhältnis steht zu seiner Tätigkeit und seinem Risiko, muß er für jede Tonne Kohle, die er zu überhöhtem Preis verkauft hat, 10 Mark Strafe an das Syndikat zahlen (Dies auch in dem Fall, daß die „Nachmänner" des Händlers zu überhöhten Preisen weiterverkaufen). Außerdem ist das Syndikat berechtigt, ohne weiteres von allen Verträgen zurückzutreten. 7. Die gelieferten Mengen dürfen nur in dem vom Syndikat festgelegten Revier verkauft werden. 8. Die Zahlung hat am 15. des auf die Lieferung folgenden Monats in bar zu erfolgen. 9. Der Händler hat im voraus eine Kaution in Höhe von 10 Prozent des Wertes der im Jahresvertrag festgelegten Mengen beim Syndikat zu stellen. Es ist deutlich erkennbar, daß diese für die Mehrheit der Händler sehr drückenden Bestimmungen, von denen das Syndikat trotz aller Proteste nicht abging, den Zechen eine gleichmäßigere saisonale Auslastung ihrer Kapazitäten sicherte und — durch die Festlelegung für ein ganzes Jahr — die Absatzplanung des Syndikats erleichterte. Die strikte Preisstellung im unbestrittenen Gebiet ermöglichte dem Syndikat nun das Dumping sowohl im bestrittenen Gebiet des Inlands als auch im Ausland. In diesen Gebieten durften die Verkaufsabteilungen des Syndikats in der Preisstellung von den Jahresrichtpreisen, die von der Zechenbesitzervereinigung festgelegt waren, abweichen. So konnte das Syndikat zwischen 1904 und 1910, als die Förderung der Syndikatszechen auf 124 Prozent stieg, seinen Absatz im Ausland auf 143 Prozent, den im bestrittenen Gebiet des Inlands auf 145 Prozent erhöhen. 82 Als die Proteste von Seiten der inländischen Exportindustrien, die durch das Dumping (das auch die Eisen- und Stahlkartelle betrieben) höhere Produktionskosten hatten als ihre Konkurrenten in den Nachbarländern, immer mehr anschwollen, begann das RWKS in Zusammenarbeit mit dem Roheisen- und Halbzeugverband „Ausfuhrvergütungen" bei solchen Lieferungen anzurechnen, die nachweislich zur Produktion von Exportwaren bestimmt waren. 1902 wurde in Düsseldorf zu diesem Zweck eine „Abrechnungsstelle für die Ausfuhr" gebildet. Bezeichnenderweise ging man schnell dazu über, Ausfuhrvergütungen nur kartellierten Produktionszweigen, vor allem der Eisenindustrie, zu gewähren. 83 Da die meisten Branchen der eisenverarbeitenden Industrie aber nicht kartelliert waren, beschränkten sich die Ausfuhrvergütungen im wesentlichen auf die Eisenschwerindustrie, mit der viele Mitgliedsunternehmen des RWKS ohnehin allmählich eng verflochten waren. Welcher Regulierungseffekt zeigte sich nun hinsichtlich der Produktionskapazitäten? Anders als bei Konzernen besteht ja bei Kartellen und Syndikaten der Konkurrenzkampf innerhalb des Monopols weiter, und zwar erstreckt er sich vor allem auf den Kampf um die Expansionsmöglichkeiten der einzelnen Unternehmen, was sich besonders im Kampf um die Höhe der Beteiligungsziffer oder Quote ausdrückt. Daher sind die Modalitäten bei der Festlegung der Quoten entscheidend dafür, ob innerhalb des Monopols die Schaffung von Überkapazitäten angereizt oder gebremst wird. Ein ständiges Problem für Kartelle und Syndikate ist außerdem der Anreiz, der durch die hohen Monopolpreise auf die Produktion und die Investitionen von Außenseitern ausgeübt wird. Die Außenseiter brauchen die Monopolpreise nur um ein geringes zu unterbieten, können trotzdem hohe Gewinne erzielen, können ihren Absatz erweitern und sind keinen Produktionseinschränkungen unter82 Berechnet nach: Wiedenfeld, Kurt, a. a. O., S. 101. 83 Bartz, Otto, a. a. O., S. 60f.
Monopolistische Regulierung
147
worfen. Je höher die Monopolpreise, um so mehr Außenseiter werden herangezüchtet, wodurch die Existenz der Kartelle periodisch gefährdet wird und periodisch Erneuerungsverhandlungen erforderlich werden. Im Falle der Kaliindustrie konnte die Syndikatserneuerung 1910 nur durch reichsgesetzliche Zwangssyndizierung erreicht werden, im Steinkohlenbergbau wurde schließlich 1915 durch Bundesratsverordnung die Zwangssyndizierung verfügt. Darauf ist noch zurückzukommen — betrachten wir zunächst, wie die Bedingungen für die Festlegung der Quoten im RWKS entwickelt wurden. Im ersten Syndikatsvertrag mußte für „alte", d. h. in voller Förderung stehende Schachtanlagen eine Erhöhung der Quote von der Kommission C bzw. vom Beirat genehmigt werden, die solche Genehmigungen nur erteilten, wenn die „Gesamtbeteiligung" sich dadurch nicht zu stark erhöhte. Neuen und im Bau befindlichen Schächten dagegen wurde nach Ablauf einer dreimonatigen Anmeldefrist gestattet, arbeitstäglich bis zu 400 t zu fördern, ohne daß diese Beteiligungserhöhung näher geprüft wurde. 84 Diese Bestimmung führte dazu, daß, ähnlich wie es für das Kalisyndikat ab 1910 beschrieben wurde 8 5 , eine größere Anzahl neuer Schächte abgeteuft wurde; oft wurden sie endgültig dann nur als Wetterschächte benutzt, oder es wurden auch alte Wetterschächte zu „neuen" Förderschächten „umgebaut", und so erhielten die großen Unternehmen „vielfach mit Hilfe einer alten Fördermaschine für sämtliche Wetterschächte eine Beteiligungsziffer." 8 6 Da nämlich — im Unterschied zum Kalisyndikat bis 1910 — die Quoten für die einzelnen Schachtanlagen innerhalb eines Unternehmens beliebig übertragen werden durften, benutzte man die Quoten der Scheinförderschächte, für die der Name „Syndikatsschächte" aufkam, zur besseren Auslastung der alten Schächte. Da sich aber die Großunternehmen mehr solcher Schachtmanipulationen leisten konnten als die kleineren, wuchsen die Quoten der ersteren schneller als die der letzteren. 87 Mit jeder Vergrößerung der Beteiligungsziffer aber wuchs auch das Stimmrecht der „Großen": Laut Statut berechtigten je 10000 t der Beteiligungsziffer zu einer Stimme in der Generalversammlung der Zechenbesitzervereinigung; wichtiger noch: je eine volle Million t Beteiligung berechtigte ein Unternehmen — oder eine Gruppe von Unternehmen 88 — ein Beiratsmitglied zu ernennen. Durch die „Syndikatsschächte" wuchs aber nun die „Rechnungsmäßige Gesamtbeteiligung" bis 1895 rasch an, während der Absatz sich nicht in gleichem Maße erhöhte (Vgl. Tabelle 33, S. 144) und infolgedessen 1895 ziemlich starke Quotenreduzierungen erfolgen mußten (10—15 Prozent) 89 . Da die Einschränkungen prozentual gleichmäßig für alle Mitgliedsunternehmen vorgenommen wurden, hatten diejenigen Unternehmen, die keine oder nur wenig „neue" Schächte niedergebracht hatten, verhältnismäßig am stärksten unter der Fördereinschränkung zu leiden. Da wiederum die „Großen" insofern auf die „Kleineren" angewiesen waren, als ohne sie die Weiterexistenz des Syndikats nicht möglich war, kam es 1895 zu einer Erneuerung des Syndikatsvertrages mit einem Kompromiß hinsichtlich der „neuen" Schächte. Im zweiten Syndikat erhielt nur diejenige neue Schachtanlage eine Quote, die wirklich förderfähig war, und die Quote mußte nun ebenso wie bei den alten Schäch84
85 86 87 88
89
11
Liefering, Max, Das Rheinisch-Westfälische Kohlensyndikat und sein Einfluß auf die Kohlenpreise und die Lage der Bergarbeiter, staatsw. Diss. Tübingen 1910, S. 19. — BarlOtto, S. 25f. Nussbaum, Helga, Kaliindustrie, a. a. O., S. 62ff. Liefering, Max, a. a. O. Wiedenfeld, Kurt, a. a. O., Anhangstafel IV. Lülbgen, Helmut, a. a. O., S. 14. — 1906 bestanden 24 Gruppen kleinerer Unternehmen, die jeweils ein Beiratsmitglied hatten. Bartz, Otto, a. a. O., Tabelle VI nach S. 44. Nussbaum, Wirtschaft
148
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ten genehmigt werden. Damit war in gewisser Weise der manipulierten Erhöhung der Quoten vorgebeugt, aber noch nicht einer weiteren tatsächlichen Expansion der Förderkapazitäten. Letztere wurde durch die Bestimmungen des zweiten Vertrages eher angereizt. 1903 beliefen sich schließlich die noch unerledigt gebliebenen Anträge auf Erhöhung der Beteiligung auf 15 Mill t 90 — bei der damaligen Rechnungsmäßigen Gesamtbeteiligung von 63,84 Mill t! In den letzten Monaten des Jahres 1902 wurden die Quoten um 24 Prozent gekürzt, 1903 um 20 Prozent.91 Unter dem Druck der Krise kam der — ab 1. 1. 1904 gültige — dritte Vertrag zustande, der die meisten bisherigen Außenseiter mit umfaßte und im Zusammenhang damit auch die „Hüttenzechenfrage" regelte, was noch zu streifen sein wird, und der die Bedingungen für eine Quotenerhöhung nun grundlegend revidierte. Von jetzt ab gab es keine Erhöhungen für einzelne Schachtanlagen mehr, weder für neue noch für alte. Nur wenn der Fall eintritt, daß der Kohlenbedarf die Höhe der rechnungsmäßigen Gesamtbeteiligung übersteigt, sollte das veranschlagte Mehrquantum prozentual gleichmäßig unter allen Mitgliedern aufgeteilt werden. Wenn in einem solchen Falle eine Zeche die zugeteilten Mehrmengen während sechs aufeinanderfolgender Monate an das Syndikat geliefert hat, sollten diese Mehrmengen zu einer dauernden Mehrbeteiligung werden.92 Diese Situation trat dann 1907 ein. Die neuen Bestimmungen wirkten zunächst in folgender Weise konzentrationsfördernd: Da es ungewiß war, ob oder wann die Bedingungen für eine Quotenerhöhung eintreten würden, da es ferner nicht garantiert war, daß die gegebenenfalls möglichen Quotenerhöhungen einen Ausbau der eigenen Position zulassen würden, da sie ja gleichmäßig verteilt werden sollten, sicherten sich einige der „Großen" unter den Syndikatsmitgliedern durch eine „Sofortaktion" einen Zuwachs ihrer Quoten. Sie kauften kleinere Zechen auf, legten sie still und verwendeten die so erworbenen Quoten zur besseren Auslastung ihrer Schächte. (Im Laufe des Jahres 1904 nahm die Fördereinschränkung von 20 auf 25 Prozent zu). 1904 wurden 8 Zechen stillgelegt, (später noch weitere), die zusammen 1893 eine Beteiligungsziffer von rund 1 Million t gehabt und diese bis 1904 z. T. wesentlich erhöht hatten.93 Ende 1904 wurden deswegen im Ruhrgebiet 7000 Arbeiter entlassen.94 Insgesamt hat die Neuregelung der Quoten — im Verein mit der Regelung des Hüttenzechenproblems — solche enormen Überinvestitionen und Überkapazitäten, wie sie durch das Kalisyndikat stimuliert wurden, verhindert, die Konzentration gefördert und damit die innerzweiglichen Reproduktionsbedingungen des Kapitals verbessert. Die ersten beiden Spalten der Tabelle 34 zeigen, daß ab 1904 die Aufblähung der Gesambeteiligung aufhörte, von nun an stieg die Förderung mehr als die Gesamtbeteiligung. Jedoch verlangsamte sich nun das Wachstum der Gesamtförderung gegenüber der Zeit des so Ebenda, S. 29. 91 Ebenda, Tabelle VI nach S. 44. 92 jüngst, Ernst, a. a. O., S. 23. - Bart^, Otto, a. a. O., S. 28. 93 Stillgelegte Zechen: Jüngst, Ernst, a. a. O., Anhangstafel 5; Beteiligungsziffern: Bartz, Otto, Tafel I nach S. 152; Lage in den betroffenen Gemeinden bis Mitte 1904: Denkschrift, betreffend die Stillegung verschiedener Steinkoblen%ecben des Ruhr-Reviers, Berlin (1904). (Ergebnis der Untersuchungen, die eine vom preußischen Ministerium für Handel und Gewerbe auf Grund von Interpellationen im Abgeordnetenhaus und im Reichstag eingesetzte Kommission angestellt hat). 94 Fricke, Dieter, Der Ruhrbergarbeiterstreik von 1905, Berlin (1955), S. 23. — Im Oberbergamtsbezirk Dortmund sank im Gegensatz zu allen anderen preußischen Oberbergamtsbezirken die Zahl der im Steinkohlenbergbau beschäftigten Arbeiter 1905 gegen 1904 (Statistisches Jahrbuch für den Preußischen Staat, 1906, S. 90f.)
Monopolistische Regulierung
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Tabelle 34 Entwicklung einiger Kennziffern während des zweiten und des dritten Syndikatsvertrages Zeitraum
1895-1903 1904-1912
(1895—1903 und 1904—1912)
Zunahme der Rechnungsmäß. Gesamtbeteiligung
Gesamtförderung (Syndikat)
SteinkohlenPreise für förderung Essener Deutsches Reich Fettkohle
Auf ein Syndikatsmitglied entfallende Förderung
1 Prozent
2 Prozent
3 Prozent
4 Prozent
5 Prozent
61 8,5
52 39,5
45 47
17 26
58 100
Quelle: Spalte 1, 2, 5: Berechnet nach Bartz, Otto, a. a. O., Tabelle III nach S. 128. Spalte 3, 4: Abbildung 9.
zweiten Syndikats, was besonders auffällt, wenn man sieht, daß sich im Deutschen Reich insgesamt die Steinkohlenförderung ab 1904 beschleunigte. Vergleicht man nun Spalte 2
und 4, so zeigt sich, daß die Verlangsamung der Syndikats förderung ab 1904 mit einer Beschleunigung des 'Preiswachstums für Syndikatskohle korrespondiert. Die Spalte 5 schließlich ist ein Gradmesser für die Unternehmenskonzentration innerhalb des Syndikats, die ab 1904 bedeutend stieg. Diese erfolgreiche monopolistische Regulierung — erfolgreich für die Monopolteilnehmer — hatte nun bedeutende Auswirkungen auf die übrige Wirtschaft und die Gesellschaft. Daß das Hochhalten der Preise in der Krise die Lage der Abnehmerindustrien verschärft hat, wurde schon festgestellt. Aber auch in den Hochkonjunkturjahren verursachte das Syndikat Störungen im Gesamtreproduktionsprozeß. Es war nicht imstande, die erhöhte Nachfrage in den Jahren 1900 (teilweise auch schon 1899) und 1907 zu befriedigen. In diesen Jahren der „Kohlennot", als manche Fabrik still stehen mußte 95 , wurde oft hauptsächlich die Ausfuhrpolitik des Syndikats dafür verantwortlich gemacht, daß für den Binnenmarkt nicht genügend Kohlen zur Verfügung standen. 96 Betrachtet man aber das vorhandene Zahlenmaterial genauer, so ergibt sich folgendes. Es betrugen 9 7 :
1898 1899 1900 1906 1907 93
die Gesamtförderung der Syndikatsmitglieder 44,9 Mill t 48,0 „ 52,1 „ 76,6 „ 80,2 „
die Ausfuhr des Syndikats 5,64 Mill t 5,65 „ 5,86 „ 9,22 „ 8,02 „
Der nationalliberale Abgeordnete Münch-Ferber aus Hof berichtete im Februar 1900 im Reichstag: „In meiner Heimat Oberfranken muß die Industrie, um überhaupt arbeiten zu können, zum Konsum von englischer Kohle schreiten. Die englische Kohle kostet aber heute ab Swinemünde 245 Mark, die Fracht von Swinemünde nach Hof 130 Mark, also der Waggon in Hof 375 Mark. Es liegt klar, daß das nur große, reiche, finanziell gut fundierte Etablissements aushalten können; denn das bedeutet einen Verlust von 400—500 Mark täglich. Die kleinen Fabriken müssen einfach still stehen." (Keicbstagsbericbte, Bd. 169, 96 Nussbaum, Helga, Unternehmer gegen Monopole, a. a. O., S. 181 ff. S. 4169f.) Bartz, Otto, a. a. O., Tabelle II nach S. 98.
11*
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1900 stieg also zwar die Ausfuhr noch ein wenig gegenüber 1899, aber der Produktionszuwachs war um ein vielfaches höher als die Mehrausfuhr. 1907 reduzierte das Syndikat sogar die Ausfuhr. Von Oktober 1899 bis Dezember 1900 und von Januar bis Dezember 1907 entfiel jede Quotenreduzierung, die Förderung wurde freigegeben, und für 1900 waren Absatz und Förderung entsprechend der vollen Rechnungsmäßigen Gesamtbeteiligung veranschlagt: also auf 54,445 Mill t (Tabelle 33, S. 144), 2,3 Mill t mehr als schließlich gefördert und abgesetzt wurden. Die Zechen waren garn^ offensichtlich nicht in der Lage, sich
diesem raseben Bedarfsanstieg mit ihrer Förderung anzupassen. 1907, als die Kalamitäten noch größer waren als 1900, ging das RWKS sogar dazu über, englische Kohle anzukaufen und abzusetzen 98 , um seinen in Höhe der vollen Gesamtbeteiligung abgeschlossenen Lieferungsverträgen etwas besser nachkommen zu können und nicht zu viele Konkurrenten in das „unbestrittene" Gebiet eindringen zu lassen. Ganz offensichtlich hatte man zu spät begonnen, die Quoteneinschränkungen aufzuheben — noch 1899 und 1906 wurde nach reduzierten Quoten gefördert. Die Situation 1907 wurde noch dadurch verschärft, daß die meisten „Hüttenzechen", also die Hütten- und Stahlwerke, die auch Kohlenzechen besaßen, nun Mitglieder des Syndikats waren. Ihnen, von denen die meisten bis 1903 Außenseiter geblieben waren, mußte, um ihren Beitritt zu erreichen, zugebilligt werden, daß der „Hüttenselbstverbrauch", also derjenige Teil ihrer Förderung, den sie für die Eisen- und Stahlproduktion benötigten, nicht auf die Beteiligungsziffer angerechnet wurde. Letztere bezog sich nur auf den Teil, der — über das Syndikat — „vermarktet" werden sollte. Für den „Selbstverbrauch" konnte also bis 1909, wo er kontingentiert wurde, unbegrenzt Kohle gefördert werden, was die Auslastung der Zechen verbesserte. Diese Bestimmung entwickelte sich zu einem zusätzlichen starken Anreiz zur vertikalen Konzentration: Auch mehr und mehr „reine" Zechenunternehmen fusionierten mit großen Hüttenunternehmen, kauften kleinere auf, errichteten neue Eisenhütten und Stahlwerke und wurden ebenso zu „gemischten" KohleEisen-Stahl-Konzernen wie die „Hüttenzechen". Betrug der Anteil der „reinen" Zechenunternehmen bzw. -konzerne am Syndikat 1904 noch 82,2 Prozent, so 1912 nur noch 65,4 Prozent". Auch Gelsenkirchen wurde 1905 durch Interessengemeinschaftsvertrag (und 1906 Fusion) mit dem Aachener Hüttenaktienverein Rothe Erde (geleitet von Emil Kirdorfs Bruder Adolf Kirdorf) und dem Schalker Gruben- und Hüttenverein 100 zum „gemischten" Konzern und damit auch Mitglied des Stahlwerksverbandes und anderer Eisen- und Stahlkartelle. Der Weg eines ursprünglich reinen Stahlwerksunternehmens, der Hoesch AG, zum „gemischten" Konzern, (der 1904 auch dem RWKS beitrat) wurde im Kapitel 4 skizziert. In den Konjunkturjahren steigerten die Hüttenwerke natürlich ebenfalls ihre Produktion, verbrauchten mehr Kohle, ihr „Selbstverbrauch" wuchs, und zwar so stark, daß viele ihre Lieferungen für den Marktabsatz des Syndikats entweder nicht einhielten 101 oder aber zwar formal ihren Anteil „lieferten", aber große Mengen wieder vom Syndikat zurückkauften 102 . So entwickelten sich zwischen 1904 und 1907 folgende Proportionen 103 : Liefering, Max, a. a. O., S. 51 f. Bergmann, Kurt, a. a. O., S. 91. "0 Ebenda, S. 52. 101 Laut Statut war zwar für Nichteinhaltung der Lieferungen eine Strafe zu zahlen, aber „höhere Gewalt" entband von der Strafe, als höhere Gewalt wurde Arbeitermangel anerkannt, also wurde dies als Grund angegeben. (Litbgen, Helmut, a. a. O., S. 19). 102 Bartz, Otto, a. a. O., S. 91. 103 Berechnet nach Bart^, Otto, a. a. O., Tabelle II nach S. 94. 98
99
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Die Gesamtförderung erhöhte sich um 12,9 Mill t oderl9 Prozent, der Werkselbstverbrauch „ „ 9,1 „ 40 Prozent, der Marktabsatz des Syndikats „ „ 3,8 „ 8,5 Prozent. Durch die Knappheitsstrategie des Syndikats wurde also der übrigen Industrie ihr „Brot" verkürzt, während die in das Kohlenmonopol einbezogene und durch vielfache andere Kartellbeziehungen vernetzte Eisen- und Stahlindustrie sich selbst ein beliebig großes Stück vom „Brot der Industrie" zuteilen konnte. Das Streben nach durchschnittlich guter Auslastung der Kapazitäten, nach Vermeidung von Überkapazitäten, was auf lange Sicht die Rentabilität innerhalb des Zweiges erhöhte, wirkte sich — bei fehlender Zentralsteuerung — volkswirtschaftlich schädlich aus, verminderte die Rentabilität der nicht in das Monopol einbezogenen industriellen Abnehmer sowohl in der Krise als auch in der Hochkonjunktur — kurz: führte zur Umverteilung der Profitmasse zugunsten des Monopols. Die Opposition gegen das RWKS umfaßte die verschiedensten sozialen Gruppen: Industrielle, Händler, Mitglieder landwirtschaftlicher Bezugsgenossenschaften; die bei den Stillegungen entlassenen Arbeiter, die über 200000 Ruhrbergarbeiter, die 1905 streikten, sowie als Haushaltsverbraucher wiederum die Arbeiter, aber auch Angestellte und Beamte. In ihrer heftigen Ablehnung der Syndikatspraktiken waren sie sich einig, wenn auch natürlich die Motive, die Vorstellungen über Kampfmethoden und Ziele differierten. Das RWKS wurde zum meistgehaßten Monopol in der Zeit bis 1914. Es hatte die „Herr im Hause"Politik, die Politik der harten Hand, die einst ausschließlich gegen die Arbeiter gerichtet war, nun auch auf Teile der Bourgeoisie und der Kleiribourgeoisie ausgedehnt, während gleichzeitig der Druck auf die Arbeiter von den Syndikatsmitgliedern noch verschärft wurde.104 Kurt Wiedenfeld, Bewunderer und Verteidiger des Kohlensyndikats, wies 1912 auf den wesentlichen Vorteil hin, den ein Monopol im Kampf gegen die Arbeiter bietet, da „die hohe Gewinnsicherheit, die aus der Gemeinschaft folgt, dem Unternehmertum es erleichtert, es gelegentlich selbst auf einen akuten Kampf einmal ankommen zu lassen: ganz anders bestimmt, als bei nicht organisierten Industriezweigen, kann hier daraus gerechnet werden, daß die Preis- und Produktionspolitik des Syndikats später die Wunden wieder heile, die der Streik den Unternehmungen etwa geschlagen hat. Die Position ist um so fester, als die zusammengeschlossenen Werke gerade dank ihrem Zusammenschluß in der überwiegenden Zahl zu einer so starken Kapitalbasis sich ausgebaut haben, daß sie längst nicht mehr, wie früher, von der Hand in den Mund leben, eine vorübergehende Störung des Betriebes also — mag sie nun aus natürlichen Ereignissen oder aus Arbeiterbewegungen hervorgehen — leichter zu ertragen vermögen." 105 Wiedenfeld sieht dies ganz richtig, und so ist es denn auch keineswegs nur auf in früherer Zeit entstandene Traditionen zurückzuführen, daß gerade die Vertreter der Schwerindustriemonopole, an führender Stelle immer Emil Kirdorf, schon vor 1914 zu den schärfsten, Verhandlungen und Kompromissen am meisten abgeneigten sozialpolitischen Reaktionären gehörten - Druck, Härte, Rücksichtslosigkeit, „mangelnde Kulanz" zeichnete ja das Geschäftsgebaren der Syndikate besonders aus, hierauf basierten sie, anders konnten sie nicht existieren. Kuczynski urteilt zusammenfassend: „Es ist nicht historisch zufällig, daß der Mann, der als Einzelner den stärksten Anteil an der Herausbildung des RheinischW' Über den Verlauf, die Vor- und Nachgeschichte des Ruhrbergarbeiterstreiks von 1905, über die Methoden, mit denen Arbeitszeitverlängerungen und Lohnsenkungen erzwungen werden sollten, die Zunahme der Aussperrungen und Maßregelung von Streikenden siehe ausführlich: Fricke, Dieter, a. a. O. 105 Wiedenfeld, Kurt, a. a. O., S. 148.
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Westfälischen Syndikats hatte, Emil Kirdorf, Krupp in seiner Rolle als offizieller Führer der Reaktion mehr und mehr ablöste und diese Funktion so lange ausübte, bis er vierzig Jahre nach der Gründung des Rheinisch-Westfälischen Kohlensyndikats Führer der reaktionärsten Gruppe des Kapitals war, die Hitler an die Macht brachte." 106 Wie die enorme Machtposition der durch Syndikate und Kartelle verklammerten gemischten Konzerne nun die Möglichkeit strategischen Vorgehens gerade auch in der „äußeren" Expansion schuf, zeigen besonders plastisch jüngst von Gutsche veröffentlichte und kommentierte Dokumente. 107 Das Hauptziel dieser Strategie bestand darin, die französischen Erzvorkommen ganz oder durch Mehrheitsbeteiligungen in den Besitz der deutschen Montankonzerne zu bringen und gleichzeitig die französische Eisenindustrie zu verdrängen bzw. aufzusaugen. Über den Erwerb von Erzfeldern schreibt Gutsche in der Analyse der Dokumente: „Im ersten Jahrzehnt des 20. Jh. gelang es den deutschen Montanmonopolen in enger Zusammenarbeit mit deutschen Großbanken, beträchtlichen Einfluß auf die französische Montanindustrie zu erlangen. Nach amtlichen Ermittlungen waren bis Anfang 1911 im Erzgebiet von Longwy-Briey von der verliehenen Gesamtfläche (40000 ha) der Erzfelder bereits 15000 ha unter vollständigen oder indirekten deutschen Einfluß gelangt. Im Departement Meurthe et Moselle betrug der deutsche Anteil sogar über 50 Prozent. An der 'friedlichen' Eroberung Longwy-Brieys waren vor allem beteiligt: die Gelsenkirchener Bergwerks AG (Adolf und Emil Kirdorf), die Gewerkschaft Deutscher Kaiser, Hamborn (August und Fritz Thyssen), die Phönix AG für Bergbau und Hüttenbetrieb, Hörde (Wilhelm Beuckenberg und Walter Fahrenhorst), das Eisen- und Stahlwerk Hoesch AG, Dortmund (Friedrich Springorum), die Roechlingschen Eisenund Stahlwerke, Völklingen (Louis Roechling), der Lothringische Hüttenverein AumetzFriede, Kneuttingen (Peter Klöckner) und die Deutsch-Luxemburgische Bergwerks AG, Differdingen (Hugo Stinnes) sowie die mit diesen Unternehmen eng verflochtenen, von deutschem Kapital beherrschten Großbanken Internationalbank, Luxemburg, A. Schaaffhausenscher Bankverein und Disconto-Gesellschaft, die zur Verwirklichung der pénétration pacifique ähnlich den Industriemonopolen französische, belgische und luxemburgische Geheimfilialen begründet hatten. 1907 begann die ökonomische Expansion des deutschen Imperialismus auch auf das zweitwichtigste französische Erzgebiet, die Normandie, überzugreifen." 108 Dort ging die Gewerkschaft Deutscher Kaiser (Thyssen) voran, während andere Konzerne, wie die Deutsch-Luxemburgische Bergwerks AG, die Hoesch AG und die Krupp AG folgten. Gleichzeitig wurde die französische Eisenindustrie durch die genannten Geheimfilialen der mit der deutschen Schwerindustrie verflochtenen Großbanken mittels Gewährung günstiger Kredite — die Pariser Großbanken waren in dieser Beziehung zurückhaltend — abhängig gemacht. Außerdem war die Eisenindustrie in Französisch-Lothringen (Longwy und Briey) im Koksbezug völlig von deutschen Lieferungen abhängig 106 Knc^ynski,
Jürgen, a. a. O., Bd. 14, S. 96. Gutscbe, Willibald, Die Deutschen Montanmonopole
107
und Großbanken und die französischen Erzfelder vor dem ersten Weltkrieg. Zum Zusammenhang von ökonomischer Expansion und Kriegszielpolitik des deutschen Imperialismus, in: ZfG, Nr. 6/1976, S. 681 f f . — Das veröffentlichte Aktenmaterial des Auswärtigen Amtes enthält Vorgänge über diplomatische Interventionen zugunsten ungehinderten Ausbaus von Tochterunternehmen der Montankonzerne, insbesondere von Gelsenkirchen und der Thyssenschen Unternehmen sowie über weitere Kooperation zwischen Reichsleitung und Montanmonopolen bei der ökonomischen Expansion.
108
Ebenda, S. 683f. (Anmerkungen im Zitat sind weggelassen).
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geworden. Das R W K S hatte die Preise stets so gestellt, daß die englische Kohle konkurrenzunfähig und daher verdrängt worden war, und die nordfranzösischen Kohlenzechen lieferten Koks nach Französisch-Lothringen stets nur zum Preise des RWKS. 1 0 9 Als nun ab 1909/10 der Expansion der Montankonzerne von französischer Seite zunehmend Schwierigkeiten erwuchsen — u. a. wurden 1910 erstmals der Gelsenkirchener Bergwerks AG der Erwerb neuer Erzkonzessionen im Gebiet Longwy-Briey nicht bewilligt — nutzte man die Abhängigkeit der ostfranzösischen Eisenindustrie von Kokslieferungen aus Deutschland zur Erpressung aus. Aus der von Gutsche veröffentlichten Aufzeichnung des Auswärtigen Amtes vom 23. 11. 1912 geht hervor, wie dieses in Absprache mit Emil Kirdorf und Fritz Thyssen die vom RWKS und vom preußischen Bergfiskus 1 1 0 zu ergreifenden Maßnahmen koordinierte. Zwischen den Vertretern des RWKS und des Bergfiskus wurde auf einer Zusammenkunft im Auswärtigen Amt verabredet, „daß das Kohlensyndikat schon jetzt französischen Anfragen nach Kokslieferungen gegenüber sich äußerste Zurückhaltung auferlegen sollte und später seine Preise für Koks nach Frankreich stets so hoch halten sollte, daß sie sich nur ganz wenig unter dem wesentlich höheren Preis für englischen Koks halten würden. Der preußische Bergfiskus sollte andererseits vom 1. April 1913 ab an einzelne, noch näher zu bezeichnende französische Eisenwerke, die auf den Bezug von deutschen Kohlen speziell angewiesen sind, überhaupt keine Kohlen mehr liefern. Bei den weiteren Maßnahmen zur Erschwerung des Koksbezuges seitens der französischen Werke wollen Bergfiskus und Kohlensyndikat gemeinsam vorgehen." 1 1 1 Ein Vierteljahr später allerdings signalisierte das RWKS dem Auswärtigen Amt, daß „Erfolg höherer Preisgebote ausgeblieben" sei und das RWKS die Preise wieder senken wolle. Daraufhin wies das AA die deutsche Botschaft in Paris an, für das „Entgegenkommen" des Syndikats wenigstens noch ein französisches Zugeständnis in Zollfragen zu erlangen. 1 ^ Höchstwahrscheinlich ist diese koordinierte Erpressungsstrategie lediglich durch die Konjunkturentwicklung durchkreuzt worden. Während 1912 in allen Bereichen Hochkonjunktur herrschte, zeigten sich schon 1913 auf einigen Gebieten Rückschläge. 113 Auffällig ist, daß der Koksexport des Deutschen Reiches nach Frankreich, der von 1909 bis 1912 jährlich um durchschnittlich 300000 t gestiegen war, von 1912 auf 1913 nur noch um 100000 t wuchs. 114 Diese Verlangsamung des Exportzuwachses wird sich dem R W K S bei seiner genauen Marktbeobachtung schon in den ersten Monaten des Jahres gezeigt haben. Auf Grund dieser Tatsache entstand, wie der gutinformierte Attaché der deutschen Botschaft in Paris, Dr. Otto Weber, aus dessen Denkschrift Gutsche Auszüge veröffentlicht, mitteilte, die Auffassung, daß eine Geheimabsprache zwischen dem RWKS und den nordfranzösischen Kohlenzechen bestanden haben müsse. (Ebenda, S. 700). Dies ist durchaus nicht unwahrscheinlich, jedoch kann ein solcher Zustand auch ohne formelle Absprache, einfach auf Grund der Marktmacht des RWKS, in dessen „Windschatten" auch Außenseiter hohe Preise erzielen konnten, eingetreten sein. Die nordfranzösischen Zechenunternehmen konnten nur den geringeren Teil des ostfranzösischen Koksbedarfs decken, dem RWKS fiel als größtem Lieferanten die Preisführerschaft zu, woraus z. B. auch die preußisch-fiskalischen Zechen des Saarreviers, die ebenfalls lothringische Eisen- und Stahlunternehmen belieferten, ihren Nutzen zogen. HO Der zunächst eine Preiserhöhung abgelehnt hatte (Ebenda, S. 705). «I Ebenda. «2 Ebenda, S. 706.
109
113
114
Mottek, HansjBecker, Walter}Schröter, Alfred, Wirtschaftsgeschichte Deutschlands, Ein Grundriß, Bd. 3, 2. Aufl. Berlin 1975, S. 191f. Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich, lfd.
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Bei absteigender Konjunktur oder auch schon bei verlangsamtem Wachstum aber war natürlich die Fortführung der Erpressungsstrategie, deren Voraussetzung ja eine starke Nachfrage von Seiten der französischen Abnehmer war, ohnehin wenig sinnvoll. Gutsche kommt bei der Analyse der gesamten Vorgänge, von denen nur einige Aspekte hier erörtert wurden, zu dem Schluß: „Angesichts des wachsenden französischen Widerstandes gegen eine weitere deutsche Expansion nahmen auf deutscher Seite Erwägungen über eine gewaltsame, endgültige Lösung der deutschen Vorherrschaft über die französischen Erzfelder innerhalb der Reichsleitung zu." 1 1 5 Die Entwicklung des R W K S und der monopolistischen Regulierung macht deutlich, welcher Qualitätssprung sich mit der Monopolisierung in bezug auf die Vergesellschaftung der Produktion vollzogen hat, ein Qualitätssprung, den Marx voraussah als „Aufhebung der kapitalistischen Produktionsweise innerhalb der kapitalistischen Produktionsweise selbst." 116 Diese einen Widerspruch in sich bildende, kapitalistische Form der Vergesellschaftung, die sich innerhalb des kapitalistischen Systems als „Aneignung des gesellschaftlichen Eigentums durch wenige" 1 1 7 darstellt, bringt eine zentrale Steuerung der Produktion und der Distribution innerhalb eines ganzen Produktionsbereiches hervor, wobei der Umfang solcher zentralgesteuerter — monopolistischer — Bereiche im Laufe der Entwicklung des Monopolkapitalismus enorm anwächst. Die in diesem Abschnitt dargestellten Vorgänge machen weiterhin deutlich, wie die monopolkapitalistische Expansion die Kooperation mit der staatlich-politischen Macht zur zwingenden Notwendigkeit macht, und ferner, wie sehr ein starkes Monopol die binnenwirtschaftlichen Reproduktionsbedingungen des Gesamtkapitals zu stören imstande ist, so daß es von dieser Seite her die Staatseinmischung herausfordert. Der zuletzt genannte Aspekt der Beziehungen zwischen Monopolkapital und Staat wird am Beispiel der Beziehungen zwischen dem R W K S und dem preußischen Staat im nächsten Abschnitt erörtert.
3. M o n o p o l u n d Staat — K o n f l i k t e u n d Partnerschaft Wie sich der Charakter der Beziehungen zwischen „dem Staat", d. h. den Apparaten der Reichs- und Bundesstaaten, und der Ökonomik ganz allgemein seit der Reichsgründung entwickelte, ist in Kapitel 5 erörtert worden. Die Tendenz zu Wirtschaftsregulierenden Staatsmaßnahmen wuchs an, der staatliche Wirtschaftssektor wurde erweitert, die sich zur Monopolbourgeoisie formierende industrielle Großbourgeoisie forderte zum Teil staatliche Regulierungsmaßnahmen, teils lehnte sie sie ab; die spezifische Kräftekonstellation der Klassen und Schichten ermöglichte der Staatsmacht eine relative Eigenständigkeit, wobei gleichzeitig die Zersplitterung und Konkurrenz der Apparate der Verflechtung von Teilen der Staatsapparate mit Teilen der Groß- und Monopolbourgeoisie förderlich war. Widersprüchlich und auf den ersten Blick eigenartig entwickelten sich auch die Beziehungen zwischen „dem Staat", in erster Linie dem preußischen Staat, und den Schwerindustriemonopolen, besonders dem R W K S . Gutscbe, Willibald, Die deutschen Montanmonopole und Großbanken und die französischen Erzfelder vor dem ersten Weltkrieg, a. a. O., S. 686. "8 Marx, Karl, Das Kapital, Bd. 3, in: Marx/Engels, Werke, Bd. 25,Berlin 1964, S. 454. - Vgl. dazu Kapitel 1 des vorliegenden Bandes. «7 Ebenda, S. 456. 115
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Weder die Reichs- noch die preußischen Behörden standen im allgemeinen, besonders in den Jahren der Herausbildung der Monopole, diesen ablehnend gegenüber, im Gegenteil: wie schon angedeutet, wurde die Monopolbildung zunächst unterstützt. Der preußische Bergfiskus als Begründer und Vorsitzender des Kalisyndikats war selbst mit „gutem" Beispiel vorangegangen. In den Depressionszeiten der 1880er Jahre forderten die Industriellen des Steinkohlenbergbaus vor allem eine Ermäßigung der Eisenbahnfrachttarife, welchen Forderungen sukzessiv entsprochen wurde. 118 Schon in den achtziger Jahren gewährte die preußische Eisenbahnverwaltung für Ruhrkohle ermäßigte Tarife für die Kohlenausfuhr nach Italien und der Schweiz und frachtgünstige „Kontrakt"züge zur Kohlenausfuhr nach Holland und Belgien. 1889 wurden die Frachtsätze für Ruhrkohle zum Transport nach Bremen, Lübeck und Hamburg ermäßigt, um dort die Konkurrenz mit der britischen Kohle zu erleichtern. Der 1890 eingeführte Ausnahmetarif 6 (AT 6) für Rohstoffe wurde ab 1897 auch auf Brennstoffe angewandt. Nach dem A T 6 ermäßigte sich der Frachttarif, der zuvor 2,2 Pfennig pro Tonnenkilometer betragen hatte, für Entfernungen über 350 km auf 1,4 Pfennig. Danach verringerte sich die Eisenbahnfracht für 10 t Kohle von Essen nach München um 32 Mark, nach Greifswald um 30 Mark, nach Leipzig um 10 Mark. Eine weitere Ermäßigung des A T 6 galt ab 1898 für den Transport oberschlesischer Kohle nach bestimmten Seehäfen. Diese Frachtermäßigungen haben für die Ausdehnung des Absatzgebiets der Reviere — das bedeutet für die zweite Hälfte der neunziger Jahre bereits: der Kohlenmonopole — und für die Zurückdrängung der britischen Kohle eine große Bedeutung gehabt. 119 Bereits 1883 hatte der Westfälische Kohlenausfuhrverein beim preußischen Ministerium für Handel und Gewerbe um Unterstützung beim Absatz von Ruhrkohle nachgesucht, insbesondere auch darum, das Ministerium möge darauf hinwirken, daß die deutsche Marine nicht mehr britische, sondern möglichst Ruhrkohle bezieht. 120 Ab 1893 kaufte die Reichsmarineverwaltung dann die Kesselkohle vom RWKS. 1 2 1 Bei den sozial-, wirtschafts-, innen- und außenpolitischen Bestrebungen und Entscheidungen in den Jahren um 1900 standen die Vertreter der monopolistischen Schwerindustrie bekanntlich in den meisten Fragen in gutem Einvernehmen mit der Reichsleitung, forderten und unterstützten die „Weltpolitik", die Flottenrüstung, höhere Agrarzölle, auch die 1899 von der Mehrheit des Reichstages, auch von der Mehrheit der bürgerlichen Fraktionen abgelehnte Zuchthausvorlage, die gegen streikende Arbeiter gerichtet war. 122 Im Kapitel 5 wurde u. a. darauf verwiesen, daß auch der preußische Minister für öffentliche Arbeiten in dieser Zeit die gute Zusammenarbeit mit den Schwerindustriekartellen hervorgehoben hat. Jedoch entwickelte sich zwischen dem RWKS und den preußischen Behörden nach 1900 ein eigenartiges Verhältnis, eine ausgesprochene Kontraposition, die zwar Kooperation Zu den Eisenbahntarifen siehe: Stillicb, Oskar, a. a. O., S. 108f.; Storni, Ernst, a. a. O., S. 50ff.; Bergmann, Kurt, S. 104f. l » Stillicb, Oskar, a. a. O., S. 109. 120 Sonnemann, Rolf/Ricbler, Siegfried, Zur Rolle des Staates beim Übergang vom vormonopolistischen Kapitalismus zum Imperialismus in Deutschland, in: JWG, 1964 T. 2/3, S. 249. 121 Liefering, Max, a. a. O., S. 20. 122 Klein, Fritz, Deutschland 1897/98-1917, 3. Aufl., Berlin 1969, Kap. II.=Lehrbuch der deutschen Geschichte (Beiträge). Stegmann, Dirk, Die Erben Bismarks. Parteien und Verbände in der Spätphase des Wilhelminischen Deutschlands. Sammlungspolitik 1897-1918, Köln (Westberlin 1970, Kap. II und III. 118
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in bestimmten Fragen nicht ausschloß, aber sich doch zuweilen stark zuspitzte, und zwar besonders während der Amtszeit des Handelsministers Theodor Möller (Mai 1901 bis Oktober 1905). In den folgenden Jahren bis zum ersten Weltkrieg schwächten sich die Konflikte dann allmählich ab, ohne ganz aufzuhören, bis 1915/16 der preußische Fiskus schließlich und endgültig Mitglied des RWKS wurde. Die Kohlennot im Jahre 1900 und das Hochhalten der Kohlenpreise in der Krise hatte erstmals in diesem Ausmaß die enorme volkswirtschaftliche Bedeutung der ökonomischen Macht eines Rohstoffmonopols offenbar werden lassen. Der preußische Staat befand sich nun gegenüber dem RWKS gleichzeitig sowohl in der Position des Großabnehmers (Eisenbahnkohle), des Konkurrenten (z. B. bei der Belieferung der lothringischen Hütten mit Koks vom Saarrevier aus), des die Kartellierung im Prinzip begrüßenden Syndikatsteilnehmers (Kalisyndikat), als auch natürlich in der Position des „Hüters des Allgemeinwohls", sprich: des Gesamtinteresses der herrschenden Klassen. Die preußischen Maßnahmen der Zeit zwischen 1902 und dem ersten Weltkrieg sind als Versuche zu werten, die staatliche Position oder Funktion als Vertreter des kapitalistischen Gesamtinteresses zu wahren, ohne die staatliche Unternehmerposition zu schädigen — vielmehr mittels ihrer Stärkung — und ohne den Monopolisierungsprozeß in der Gesamtvolkswirtschaft zu hemmen. Die Aktivitäten des preußischen Staates im Ruhrrevier setzten Anfang 1902 mit dem Ankauf von 212 km 2 Steinkohlenfeldern ein. Dies geschah knapp ein Jahr nach der Amtsübernahme durch Theodor Möller. Dieser war seit den Zeiten von der Heydts bis 1918 der einzige Industrielle im preußischen Staatsministerium. Möller nun, Unternehmer in Westfalen, nicht zu den Mächtigen des Ruhrreviers zählend, aber ihnen als Funktionär des „Langnamvereins" und des Zentralverbands Deutscher Industrieller, als Landtags- und Reichstagsabgeordneter (er stimmte im rechten Flügel der Nationalliberalen für die Zuchthausvorlage), als Mitglied des „Wirtschaftlichen Ausschusses zur Vorbereitung und Begutachtung handelspolitischer Maßnahmen" wertvollste Dienste leistend, galt bei seiner Amtsübernahme als Exponent der rheinisch-westfälischen Schwerindustrie.123 Die Maßnahmen aber, die unter seiner Amtsführung eingeleitet wurden, liefen darauf hinaus, den weiteren Ausbau der ökonomischen Machtposition des RWKS einzuschränken. Dabei wurde zunächst versucht, nicht die gesetzgeberischen, sondern die ökonomischen Machtmittel des Staates einzusetzen. Vorgänge aus den ersten Monaten von Möllers Amtszeit zeigen, daß er im Prinzip gegen eine Bremsung des Monopolisierungsprozesses war. Als 1900 und 1901 die Wogen der Empörung über Kartelle im allgemeinen und das RWKS im besonderen hoch schlugen und die Forderungen nach Kartellkontrolle anwuchsen, bemühte sich das Reichsamt des Innern, mehr Material über Kartelle zu erhalten, wobei es auf den Verwaltungsunterbau der 123
Zur politischen Entwicklung und den Familien- und Unternehmerbeziehungen Theodor Möllers: Wallher, Heidrun, Theodor Adolf von Möller 1840—1925. Lebensbild eines westfälischen Industriellen, Neustadt a. d. Aisch, 1958=Bibliothek familiengeschichtlicher Arbeiten, Bd. 25. Nusshaum, Helga, Ein neuer Hintergrund der Hibernia-Affäre, (im folgenden: Hibernia) in: JWG, 1963 T. 3, S. 2 26ff. Möller besaß eine Maschinenfabrik in Brackwede, war Aufsichtsratsvorsitzender (bzw. stellv. Vorsitzender) von zwei Bielefelder Textilunternehmen und der Westfälischen Bank zu Bielefeld und war verwandt mit der Familie Woermann in Hamburg. Er hatte 1881 gemeinsam mit dem Ingenieur Albert Hüssener die Aktiengesellschaft für Kohlendestillation in Bulmke bei Gelsenkirchen (im folgenden: Kohlendestillation) gegründet, die die von Hüssener entwickelten modernen Nebenproduktöfen zur Gewinnung von Steinkohlenteer, Benzol usw. einführte. Von den Großunternehmen wurde die Nebenproduktgewinnung erst nach der Gründung des RWKS aufgenommen.
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bundesstaatlichen Behörden angewiesen war. In den preußischen Ressorts war die Bereitschaft zur aktiven Mitarbeit nicht allzu stark ausgeprägt, vom Ministerium der öffentlichen Arbeiten waren die Bemühungen des Reichsamts quasi sabotiert worden. 12 * Jedoch hatte der bis Mai 1901 amtierende Handelsminister Brefeld Interesse und Entgegenkommen gezeigt und eine Anzeigepflicht für Kartelle erwogen, weil dadurch, wie er meinte, die Gefahr einer gemeinschädlichen Ausnutzung der den Kartellen zufallenden Macht voraussichtlich gemindert werden würde. Sein Amtsnachfolger Theodor Möller aber verfolgte die Linie: Größte Vorsicht gegenüber den Kartellen! Sie hätten auch recht günstige Wirkungen, man möge nur nichts übereilen. 125 Als das Reichsamt des Innern, gedrängt von antimonopolistischen Anträgen in der Zolltarifkommission des Reichstags, Anfang 1902 die Bundesregierungen dringend ersuchte, über einen Komplex von 25 Fragen betreffs Kartelle vertraulich und unter der Hand Informationen einzuholen, ohne die „Interessenten" zu befragen, um diese nicht in der Situation der Zollkämpfe zusätzlich zu beunruhigen, verschickte Möller dieses Rundschreiben fast unverändert samt Fragenliste an die Regierungs- und Polizeipräsidenten, auch an die meist kartellfreundlichen der Rheinprovinz und Westfalens, wodurch die „Interessenten" sofort aufs höchste alarmiert wurden. Das Reichsamt des Innern reagierte ungehalten, die nationalliberale „Nationalzeitung" veröffentlichte schon reichlich zwei Wochen nach der Verschickung des Rundschreibens und der Fragenliste die Texte im Wortlaut, und wiederum reichlich zwei Wochen später berief der Zentralverband Deutscher Industrieller eine Versammlung von Vertretern der größten Kartelle ein und gründete dann eine Art Anti-anti-Kartelkommission mit der Aufgabe, die Tendenzen in Gesetzgebung und Rechtsprechung genau zu verfolgen, etwa notwendige Änderungen anzustreben und Öffentlichkeitsarbeit zu leisten. 126 Möllers Haltung in diesen Fragen läßt erkennen, daß er nicht gesonnen war, Bestrebungen nach allgemeinen gesetzlichen Maßnahmen gegen Kartelle zu unterstützen. Am 13. Februar 1903 sagte er in einer Rede vor Bremer Kaufleuten: „Ich will nicht ein Lobredner sein der Kartelle, Syndikate und Trusts, doch sage ich, sie sind eine Notwendigkeit. Worauf es ankommt, ist nur, daß die öffentliche Meinung diese Institutionen zwingt, verständig und vernünftig zu sein." 127 Nussbaum, Helga, Unternehmer gegen Monopole, a. a. O., S. 187ff. Möllers Kohlendestillation hatte nach vielen Schwierigkeiten ab 1890 hohe Gewinne erzielt und konnte expandieren. Als aber auch die Großunternehmen Destillationsanlagen errichteten, verschärfte sich die Lage auf dem Markt für Nebenprodukte, und Ende der neunziger Jahre entstanden auch hierfür Kartelle, z.B. die „Westdeutsche Benzolverkaufsvereinigung"; Kohlendestillations-Direktor Hüssener gehörte zu den maßgeblichen Gründern dieses Kartells (Nussbaum, Helga, Hibernia, a. a. O., S. 235ff.) 126 Nussbaum, Helga, Unternehmer gegen Monopole, a. a. O., S. 174f. 127 Handel und Gewerbe. Zeitschrift für die zur Vertretung von Handel und Gewerbe gesetzlich berufenen Körperschaften. Im Auftrage des Deutschen Handelstages herausgegeben von H. Soetbeer, Jg. 10, Nr. 20, S. 352. — Möller schreibt über die Lage seiner Kohlendestillation Ende der neunziger Jahre: „. . . wir würden versucht haben, uns in Deutschland erheblich auszubauen, wenn es nicht inzwischen dem Kohlensyndikat unbequem geworden wäre, einen Outsider in der Koksherstellung zu haben, der durch die Verträge mit den Zechen nicht mit gebunden war." (Theodor Adolf v. Möller. Bin Lebensbild, hg. v. Heidrun Walther, Neustadt a. d. Aisch 1958, S. 89f.=Bibliothek familiengeschichtlicher Arbeiten, Bd. 24) Nach vielen Reibungen mit dem RWKS erwogen Möller und andere Aufsichtsratsmitglieder zwischen Dezember 1900 und Februar 1901, die ganze Aktiengesellschaft an das RWKS oder an die benachbarten „Großen", Hibernia oder Gelsenkirchen, zu verkaufen, um dem Kriegszustand mit dem RWKS ein Ende zu machen. Der Plan wurde aber wieder fallen gelassen. Unmittelbar nach Möllers Verabschiedung als Handelsminister kam dann der Verkaufsvertrag zustande. 124
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Schon um die Jahrhundertwende, als sich die Mißstände in der Kohlenversorgung zeigten, mußte es kundigen Beobachtern klar sein, daß die Konzentration und die monopolistische Anhäufung von neuem Felderbesitz im Steinkohlenbergbau in scharfem Tempo weiterging und es sich bereits abzeichnete, daß in kurzer Zeit sämtliche noch unverliehenen Felder in die Verfügungsgewalt der wenigen Großen geraten mußten. Hatte das preußische Berggesetz insgesamt diese Entwicklung begünstigt, so hatten die großen Unternehmen zusätzlich gewisse „Schwachstellen" im Berggesetz zu weiterer rigoroser Einschränkung der Konkurrenz ausnutzen können. Bergrat a. D. Georg Gothein schilderte diese Praxis: „Wie wir oben dargelegt, kommen die neuen Mutungen meist wieder in den Besitz der bisherigen Bergwerkseigentümer, deren Monopol dadurch gefestigt wird. Da der frühere Finder ein Vorrecht vor dem späteren besitzt, die Feldesstreckung aber erst mit sechswöchiger Frist zu erfolgen hat, so ist der erste Finder in der Lage, innerhalb dieser Zeit mit seinem beantragten Feld jeden Finder aus dem Felde zu schlagen, der innerhalb eines Kreises von 4184,8 m fündig wird. Nun hat sich die Praxis eingebürgert und ist durch höchstinstanzliche Urteile für rechtlich zulässig erklärt worden, daß in einem und demselben Briefumschlag die Mutung zurückgezogen und neue Mutung auf denselben Fund eingelegt werden kann. Dadurch gewinnt der Muter weitere 6 Wochen für die Feldesstreckung, nach deren Ablauf er wieder die Mutung zurückziehen und neue einlegen kann usw. in infinitum. Das nutzt er nun aus, um innerhalb des obengenannten Kreises weitere Bohrlöcher zu stoßen, und, wenn er mit diesen fündig geworden ist, das gleiche Spiel zu beginnen, wie mit dem ersten. Zur definitiven Feldesstreckung schreitet er erst, wenn ein Konkurrent fündig geworden ist, den er nunmehr mit Überdeckung mit seinem endgültig gestreckten Felde aus dem Feld schlägt. Mittels dieses Verfahrens ist ein kapitalkräftiger mit den neuesten Errungenschaften der Bohrtechnik ausgerüsteter Unternehmer in der Lage, sich ganz große Gebiete zu sichern, d. h. binnen kurzer Zeit einen Komplex von 50 Grubenfeldern und mehr zusammen zu muten und jeden Wettbewerb dabei auszuschließen." 128 Von den neunziger Jahren ab, besonders seit deren zweiter Hälfte, ermöglichte es die bergbautechnische Entwicklung (Tiefbohrung, Wasserhaltung), das Kohlengebirge, das sich anschließend an das eigentliche Ruhrbecken weit nach Norden erstreckt, aber dort in immer größere Tiefen abfällt, zu erschließen. Bis 1903 war bereits fast das gesamte Areal zwischen Emscher und Lippe verliehen, in den unmittelbar folgenden Jahren kamen noch große Gebiete nördlich der Lippe hinzu. Felderkarten des Steinkohlengebiets verdeutlichen die gewaltige Besitzanhäufung, die u. a. auch mittels der von Gothein geschilderten Manipulationen erreicht wurde: je weiter im Norden gelegen, also je später gemutet, desto riesiger waren die zusammenhängenden Berechtsamen, die Harpen, Hibernia, Gelsenkirchen, Thyssen's Gewerkschaft Deutscher Kaiser usw. gehörten. 129 Dabei waren 1902/03 große Teile dieser verliehenen Areale, vor allem die an die Lippe grenzenden, noch unverritzt. In dieser Situation nun kaufte der preußische Fiskus Anfang 1902 von Thyssen 96 Normalfelder (212 km 2 ) am nördlichen Saum des verliehenen Areals zum Preis von 58 Millionen Mark. Damit war der Staat nach Gelsenkirchen zum zweitgrößten Besitzer von Steinkohlenfeldern im Ruhrrevier geworden. Zu dem erworbenen Besitz gehörten die Gotbein, Georg, Die preußischen Berggesetznovellen, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, NF., Bd. 3, Tübingen 1905, S. 177f. 129 Jüngst, Ernst, a. a. O., Anhangtafeln.
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schon fördernden Schachtanlagen der Zeche Gladbeck, während der übergroße Teil der Felder noch unverritzt war. In der Begründung zum Entwurf des Gesetzes, das die Finanzierung sichern sollte (verabschiedet am 21. März 1902), wird zunächst auf den großen Bedarf von Eisenbahn und Flotte an westfälischer Kohle hingewiesen. Im Jahre 1900 habe die preußische Eisenbahnverwaltung rund 2,7 Millionen t Kohle aus Westfalen bezogen, und es sei vorteilhaft, wenigstens einen Teil davon auf eigenen Werken zu fördern. „Als Besitzer und Betreiber eigener Bergwerke in Westfalen würde es dem Fiskus ferner ermöglicht werden, einen gewissen Einfluß auf die dortige Preisbildung auszuüben, was sowohl ihm selbst als Verbraucher wie auch der Allgemeinheit zugute kommen würde." 1 3 0 Vorerst aber war ein Einfluß auf die Preisbildung, selbst wenn er emsthaft gewollt worden wäre, objektiv gar nicht möglich. Obwohl auf den fiskalischen Feldern bald neue Schächte abgeteuft wurden und die fiskalische Steinkohlenförderung im Ruhrrevier sich von 1903 bis 1914 verzehnfachte, betrug sie doch 1903 erst 449842 t oder 0,69 Prozent der Gesamtförderung des Reviers. 131 Als bei den Erneuerungsverhandlungen des Syndikatsvertrages 1903 das R W K S dem Fiskus den Eintritt ins Syndikat anbot, lehnte dieser ab 132 , da bei dem noch geringen Förderanteil sein Stimmrecht zu gering gewesen wäre und vor allem, da das Syndikat seine Ausdehnungsbestrebungen nur hätte hemmen können. Die fiskalischen Steinkohlenbergwerke bauten im Ruhrrevier in den folgenden Jahren erfolgreich ihre Außenseiterposition aus, ohne indessen zunächst als Außenseiter die Syndikatsposition irgendwie zu gefährden. Die Ereignisse der Jahre 1904 und 1905 muten einerseits wie ein regelrechter Schlagabtausch zwischen Staat und Kohlensyndikat an, zeigen andererseits, wie sehr sich auf der erreichten Stufe der Vergesellschaftung, der Monopolisierung und der ökonomischen Staatstätigkeit ökonomische, soziale und politische Probleme immer unmittelbarer miteinander verflochten. Es folgt zunächst ein chronologischer Überblick in Stichworten: April—Mai 1904
Eine auf Grund von Reichstags- und Landtagsinterpellationen gebildete preußische Ministerialkommission untersucht die Auswirkungen der Zechenstillegungen und erhält u. a. Einblicke in die Geschäftspolitik verschiedener Zechenunternehmen 16. Juni 1904 Handelsminister Möller beauftragt die Dresdner Bank, die zum vollständigen Erwerb der Bergwerksgesellschaft Hibernia nötige Aktienmehrheit für den Fiskus aufzukaufen. August bis Dezem- RWKS und Großbanken verhindern Verstaatlichung der Hiber 1904 bernia Dezember 1904 Beginn von Streikaktionen auf der Stinnes-Zeche Bruchstraße. Anlaß: Zechenverwaltung dekretiert Verlängerung der Arbeitszeit im Zusammenhang mit Stillegung der benachbarten Zeche Louise Tiefbau und Konzentrierung der Förderung und der Arbeiter auf Bruchstraße. 130 Sammlung der Drucksachen des Hauses der Abgeordneten,
19. Legislaturperiode, 1902, Nr. 78,
Lütbgen, Helmut, a. a. O., S. 209. 132 Bartz, Otto, a. a. O., S. 142. — Tboenes, Walter, Die Zwangssyndikate im Kohlenbergbau und ihre Vorgeschichte, Jena 1921, S. 28 — Beiträge zur Lehre von den industriellen Handels- und Verkehrsunternehmungen, hg. v. Richard Passow, H. 4 131
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Anfang Januar bis Der Streik weitet sich — zunächst spontan — auf das ganze Revier aus. Mitte Februar 1905: Zwischen 18. Januar und 9. Februar streiken mehr als 200000 Bergarbeiter gegen Arbeitszeitverlängerung und Lohnraub, für Achtstundentag, Verbesserung der Arbeitsbedingungen und Anerkennung der Gewerkschaften. 14. Januar 1905 Ablehnung sämtlicher Streikforderungen durch Ruhrunternehmerverband. Vermittlungsversuche der Regierung scheitern. 22. Januar 1905 Blutsonntag in Sankt Petersburg, Ausweitung von politischen Massenstreiks in Rußland. 20. Januar ff. Reichstagsdebatten um Streik, Kartellgesetz, Verstaatlichung Sozialdemokratischer Antrag im Reichstag fordert Novelle zur Ge26. Januar 1905 werbeordnung betr. Regelung von Arbeitsbedingungen im Bergbau. 26. Januar 1905 Preußisches Staatsministerium beschließt, Berggesetznovelle betr. Arbeitsbedingungen im Bergbau vorzulegen. 9. Februar 1905 Streik wird von den Gewerkschaftsleitungen abgebrochen. März 1905 Zentrumsresolution im Reichstag: Reichskanzler möge Denkschrift über Kartelle vorlegen. Antrag Freiherr v. Gamp im preußischen Abgeordnetenhaus: Mutungen auf Steinkohle und Kali sollen dem Staate vorbehalten werden.
6. 7. 1905
14. 7. 1905 September 1905: Oktober 1905:
Berggesetznovelle: Mutungssperre für Steinkohle und Kali für 2 Jahre bis zur Ausarbeitung eines Gesetzes, das dem Staat die Mutungen vorbehält. Berggesetznovelle betr. Arbeitsbedingungen im Bergbau. RWKS gründet „Rheinisch-Westfälische Bergwerksgesellschaft" zum Erwerb von 602 km 2 noch unverritzter Kohlenfelder. Möller muß auf Druck der Schwerindustrie zurücktreten.
Betrachten wir diese Kette eng miteinander verknüpfter Vorgänge und Ereignisse noch etwas genauer. Am 21. April 1904 wurde von Sozialdemokraten folgende Resolution im Reichstag eingebracht: „Welche Maßnahmen gedenkt der Herr Reichskanzler zu ergreifen, um die durch Bergwerksgesellschaften, Mitglieder des Kohlensyndikats, im Ruhrrevier veranlaßte Außerbetriebsetzung von Kohlengruben und die dadurch hervorgerufene Arbeitslosigkeit unter den Bergarbeitern zu beseitigen, sowie die damit verknüpfte Existenzvernichtung von Bauern, Handwerkern und Geschäftsleuten jener Gegend zu verhindern?" 1 3 3 Die Beantwortung wurde abgelehnt, die Besprechung abgebrochen und vertagt. 134 Im preußischen Abgeordnetenhaus, in dem die Sozialdemokraten bis 1908 nicht vertreten waren, hatten die Zentrumsabgeordneten Stötzel und Brust — August Brust war Vorsitzender der christlichen Bergarbeitergewerkschaft — am 16. April eine ähnlich lautende Interpellation eingebracht, in deren Begründung besonders mit Hinblick auf den § 65 des ABG Abhilfe Reicbstagsbericbte, Bd. 207, Drucksache Nr. 335. m Ebenda, Bd. 199, S. 2288ff. 133
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von der Staatsregierung gefordert wurde. Dieser § 65 ABG lautete: „(1) Der Bergwerksbesitzer ist verpflichtet, das Bergwerk zu betreiben, wenn die Unterlassung oder Einstellung des Betriebes nach der Entscheidung des Oberbergamtes überwiegende Gründe des öffentlichen Interesses entgegenstehen." 135 Weiter heißt es im Abs. 2, die Nichtbefolgung einer diesbezüglichen Auflage des Oberbergamtes habe Entziehung des Bergwerkseigentums zur Folge. Diese Bestimmung, die sich logisch aus der dem Berggesetz zugrunde liegenden Auffassung ergeben hatte, daß das Bergwerkseigentum „verliehen" und nicht Privateigentum war, war bis dato — und ist auch später — nie angewendet worden. Wie schon im Kapitelabschnitt 6.1. erörtert, hatte sich ja das Bergwerkseigentum zum vollen Privateigentum entwickelt. Erst das „Gesetz zur Erschließung von Bodenschätzen" 136 vom 1. Dezember 1936 bestimmte im § 2: „Der Berechtigte darf den nach § 1 angeordneten Betrieb nur mit Genehmigung der Bergbehörde, die ihn angeordnet hat, ganz oder teilweise einstellen; die Genehmigung ist jederzeit widerruflich." Die Apellation vom April 1904 hatte nun aber die Diskussion des § 65 wieder auf die Tagesordnung gesetzt, und ein Jahr später versuchte die preußische Regierung, die gesetzlichen Bestimmungen über den Betriebszwang zu verschärfen, ohne jedoch damit im Abgeordnetenhaus durchzukommen. Übrigens war bei der Reichstagsdebatte um die Stillegungen am 21. 4. 1904 auch wieder ein Reichskartellgesetz und Staatsaufsicht über die Kartelle gefordert worden, und zwar vom Zentrumsabgeordneten Dr. Bachem. 137 Bei der Beantwortung der Stillegungsinterpellation im Abgeordnetenhaus stellte Möller im Einverständnis mit dem Innenminister die Entsendung einer Ministerialkommission in den Oberbergamtsbezirk Dortmund in Aussicht. Diese Kommission wurde geleitet vom Direktor der Bergbauabteilung des Handelsministeriums, Oberberghauptmann von Velsen, und tagte bereits am 28. April in Dortmund gemeinsam mit den zuständigen Oberund Regierungspräsidenten, Beamten des Oberbergamts, sieben Landräten, Vertretern des RWKS, des Vereins für die bergbaulichen Interessen des Oberbergamtsbezirk Dortmund und der beteiligten Zechenunternehmen. 138 In den folgenden Tagen wurden eine Reihe der zur Diskussion stehenden Zechen besichtigt, die Unterlagen eingesehen, mit Gemeindevertretern verhandelt. Zusammen mit amtlichem Material der Bergbehörden wurden die Ergebnisse im Handelsministerium zu der schon erwähnten Denkschrift verarbeitet. Darin wurde kritiklos festgestellt, daß sämtliche Zechen nicht wegen Erschöpfung der Kohlenlager stillgelegt würden, sondern wegen zu geringer Rentabilität der Förderung. 139 Die Auswirkungen auf die Arbeiter wurden stark bagatellisiert, schädigende Auswirkungen auf die Gemeinden aber zum Teil anerkannt. Abschließend heißt es: „Die zum Teil schon erfolgte, zum Teil mehr oder minder nahe bevorstehende Stillegung der zur Erörterung gezogenen Zechen bedeutet hiernach bei einer Reihe von Gemeinden, wie schon jetzt mit Sicherheit behauptet werden kann, eine nicht unerhebliche finanzielle Schädigung der Gemeinden und ihrer Angehörigen, insbesondere der Gewerbetreibenden und Hausbesitzer. Demgegenüber treten die Schädigungen der Arbeiter insofern zurück, als bei weitem die meisten auf benachbarten Zechen, zum Teil unter Beibehaltung ihres bisherigen Wohnsitzes, Arbeit gefunden haben oder voraussichtlich finden werden. Sollten indessen außer den Brassert, Hermann, a. a. O., (Vgl. Anm. 6 S. 125) Reicbsgeset^blatt (im folgenden: RGBl), 1936, S. 999. 13' Reicbstagsbericbte, Bd. 199, S. 2302. 138 Denkschrift, betreffend die Stillegung verschiedener Steinkoblen^ecben des Kubr-Reviers, Berlin (1904), Anlage: Stenogramm der Kommissionsverhandlungen in Dortmund, betreffend Stillegen von Ruhrzechen. 139 Ebenda, S. 41. 135 136
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genannten Zechen noch andere in derselben Gegend stillgelegt werden, so würden sich auch die Verhältnisse für die Arbeiter wesentlich ungünstiger gestalten und die Schädigungen der Gemeinden und ihrer Angehörigen einen erheblich weiteren Umfang annehmen." 140 Irgendwelche Schlußfolgerungen über zu ergreifende Maßnahmen wurden nicht gezogen. Bevor jedoch der Kommissionsbericht noch fertig war, schrieb Möller am 16. Juni 1904 der Dresdner Bank folgendes: „In Bestätigung unserer gestrigen mündlichen Abrede verpflichte ich mich im Einverständnis mit dem Herrn Ministerpräsidenten und dem Herrn Finanzminister, den gesetzgebenden Faktoren eine Gesetzesvorlage zur Genehmigung vorzulegen, welche die Kgl. Staatsregierung ermächtigt, die Aktien der Bergwerksgesellschaft Hibernia im Betrage von 51000000 Mark, geschrieben Einundfünfzig Millionen Mark, gegen eine Rente von 8 Prozent, geschrieben acht Prozent, in 3%igen Konsols für den Kgl. Preußischen Fiskus zu erwerben. Ich halte mich an dieses Angebot bis zum 31. Dezember ds. Js. gebunden, sofern Sie mir bis dahin den Nachweis erbringen, daß Sie, bezüglich die Dresdner Bank und das von Ihnen demnächst zu bildende Konsortium, imstande sind und sich stark dafür machen, mir bzw. meinem Amtsnachfolger den für die Durchführung des Erwerbes des gesamten Unternehmens erforderlichen Betrag des Aktienkapitals zur Verfügung zu stellen. Eine schriftliche Bestätigung der Ihrerseits mündlich gemachten Zusage wird erbeten." 141 Wie schon erwähnt, war die Bergwerksgesellschaft Hibernia der drittgrößte Zechenkonzern des Ruhrgebiets. Der Hauptteil seiner rund 100 km 2 umfassenden Berechtsame um Recklinghausen trennte — oder verband — die beiden 1902 erworbenen Felderkomplexe des Staates. Für die damals mehrfach geäußerte Vermutung, es müsse in der Hibernia-Angelegenheit irgendwelche „Hintermänner" Möllers geben, fand Mottek in den Akten keinerlei Beweise. Die Akten deuten, wie Mottek schreibt, auf Möller als Initiator des HiberniaKaufs hin. Er habe den Reichskanzler informiert und dieser den Kaiser, während es im preußischen Staatsministerium überhaupt nicht zu einer Diskussion kam und in einer späteren Sitzung desselben darüber Beschwerde geführt wurde. 142 Wegen der nun folgenden umfangreichen Käufe von Hibernia-Aktien durch die Dresdner Bank stiegen die Kurse für Hibernia-Aktien, die zuvor bei 190 Prozent gelegen hatten, im Laufe des Juli auf 247 Prozent. 143 Da niemand wußte, in wessen Auftrag die Käufe getätigt wurden, beschloß der Aufsichtsrat der Hibernia gegen Ende Juli, für 6,5 Millionen Mark neue Vorzugsaktien, also „Schutzaktien", auszugeben. Daraufhin veröffentlichte nun die Staatsregierung am 29. Juli eine Kaufofferte: Sie bot den Hibernia-Aktionären Staatsschuldverschreibungen in einer Höhe an, die 240 Prozent des Aktienkapitals entsprach. Der Aufsichtsrat der Hibernia lehnte am 1. August 1904, die Generalversammlung am 27. August gegen eine Stimmenminderheit die Kaufofferte des Staates ab. In dieser 140 141
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Ebenda, S. 46. Aus dem Geschäftsbericht der Dresdner Bank für 1904 zitiert bei: Stillich, Oskar, a. a. O., S. 124f. — Aufsichtsratsvorsitzender der Kohlendestillation war, da Möller während seiner Amtszeit ausscheiden mußte und nur sein Geld drin lassen durfte, ab 1904 Eduard Arnhold, Berlin, Inhaber der Firma Cäsar Wollheim in Kattowitz, einer der beiden Firmen, die den Absatz der Oberschlesischen Kohlenkonvention tätigten, wobei die Firma Wollheim besonders den Verkauf der Förderung der Staatszechen besorgte. Arnhold, der mit Möller befreundet war, war auch Aufsichtsratsmitglied der Dresdner Bank und hatte Möllers Beziehung zu ihr vermittelt. (Nussbaum, Helga, Hibernia, a. a. O., S. 236f.) Mottek, Hans, Zur Verstaatlichung im Kapitalismus — der Fall Hibernia, in: JWG, 1968 T. 4, S. 13. Stillicb, Oskar, a. a. O., S. 123f.
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Generalversammlung wurde gleichzeitig das Aktienkapital von 53,5 auf 60 Millionen Mark heraufgesetzt, so daß die bereits von der Dresdner Bank erworbenen Aktien im Nominalwert von 27,552 Millionen Mark nunmehr die Minderheit bildeten. Das Bezugsrecht der bisherigen Aktionäre wurde ausgeschlossen — damit auch das der Dresdner Bank — und Aufsichtsrat und Vorstand ermächtigt, die Offerten von Personen und Instituten abzulehnen, von denen anzunehmen wäre, daß sie den Besitz der neuen Aktien benutzen würden, um den Fortbestand der Gesellschaft zu gefährden. 144 Bei der nächsten Generalversammlung am 22. Oktober 1904 wurde der Antrag der Dresdner Bank auf Aufhebung des Beschlusses über die Kapitalserhöhung ebenfalls abgelehnt, auch ein von der Bank angestrengter Prozeß hatte keinen Erfolg. Ende Oktober wurden die Hibernia-Aktien von der Kursnotierung an den Börsen gestrichen und nicht mehr gehandelt. Fünf Berliner Großbanken und dem RWKS gelang es, die nicht für den Staat erworbenen Aktien aufzukaufen und in eine Anfang Dezember 1904 gegründete Holdinggesellschaft, die „Vereinigung von Hibernia-Aktionären Herne GmbH" einzubringen, sie also dem Aktienmarkt ganz zu entziehen. Die Hälfte des 36 Millionen Mark betragenden Stammkapitals der Herne GmbH übernahm das RWKS, je ein Zehntel die fünf Großbanken. 145 Am 17. und 29. August waren in den „Berliner Politischen Nachrichten" zwei offiziöse Artikel erschienen, die die Schwerindustriellen mit dem Hinweis auf die doch prinzipiell kartellfreundliche Haltung der Regierung warnend zu überreden versuchten und ihnen einen Staatsanteil am Ruhrzechenbesitz als „Sicherheitsventil gegen die Dränger nach einem Syndikatsgesetz" empfahlen. Im Artikel vom 29. August hieß es, man „macht es sogar der Regierung zum Vorwurf, daß sie nicht alsbald, statt zu versuchen, auf dem Wege der Verstaatlichung der Hibernia ihr Ziel zu erreichen, mit einem Syndikatsgesetze vorgegangen sei. Die Gründe, aus denen die Staatsregierung dem Eintritt in das Kohlensyndikat den Vorzug gibt, sind unschwer zu erkennen. Die Formulierung und der Vollzug eines Syndikatsgesetzes würde die Regierung nicht nur vor eine überaus schwere Aufgabe stellen, eine Ordnung der Sache durch Rechtssätze schließt, auch wenn sie nicht über das Ziel hinausschießt, ihrer Natur nach die Möglichkeit aus, die Tätigkeit der Kartelle mit solcher Elastizität und Bewegungsfreiheit den jeweiligen national-und privatwirtschaftlichen Verhältnissen und Bedürfnissen anzupassen, wie dies nach den Erfahrungen bei dem Kalisyndikat durch Beteiligung des Staates an demselben geschehen kann. Daß aber, wenn die Klinke der Gesetzgebung in Richtung einer starken populären Strömung ergriffen wird, die Gefahr einer Übertreibung des gesetzgeberischen Eingriffs nicht ausgeschlossen ist, stellen die Vorgänge bei Beratung des Börsengesetzes außer Zweifel. Das Schicksal der Börse dient also auch den kartellierten Industrien zur Warnung. In deren Interesse liegt es vor allem, daß durch die wirksame Beteiligung des Staates an dem Kohlensyndikate ein Sicherheitsventil gegen die Dränger nach einem Syndikatsgesetz geschaffen wird. Daß, wenn dem Staate ein solches dauernd versagt würde, aber kaum eine andere Wahl bliebe, als der Weg der Gesetzgebung, bedarf der näheren Darlegung nicht." Der Hinweis auf das Kalisyndikat läßt erkennen, daß es sich bei diesen Ausführungen nicht in erster Linie um ein taktisches Manöver handelte, sondern daß eine Konzeption dahinter stand, eine Konzeption staatsmonopolistischer Regulierungsmöglichkeiten. Im Kalisyndikat hatte es ja der starke fiskalische Anteil ermöglicht, Bedingungen durchzu«« Ebenda, S. 128f. Bart%, Otto, a. a. O., S. 103. — Beteiligte Banken: Bankhaus S. Bleichröder, Berliner Handelsgesellschaft,
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Bank für Handel und Industrie, Deutsche Bank, Direction der Discontogesellschaft. 12 Nussbaum, Wirtschaft
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setzen, die von staatlicher Seite als wichtig für die gesamtvolkswirtschafdiche Entwicklung angesehen wurden. Der preußische Handelsminister besaß hier das Veto in bezug auf Preisfestsetzungen, achtete besonders darauf, daß die Landwirtschaft (!) günstig beliefert wurde, und allgemein wurde an dem Grundsatz, im Ausland teurer zu verkaufen als im Inland, strikt festgehalten. Die fiskalischen Bestrebungen liefen nicht etwa darauf hinaus, die Gewinnspannen besonders niedrig zu halten und die Preise zu senken; aber eine gewisse Preisstabilität (bei recht hohen Monopolgewinnen) war doch für das Kalisyndikat charakteristisch (wozu allerdings von der zweiten Hälfte der neunziger Jahre ab der Druck der Außenseiterkonkurrenz beitrug). Außerdem hatte der fiskalische Einfluß (bis 1910) vermocht, das Verbot der Quotenübertragung aufrechtzuerhalten und damit die — von staatlicher Seite meist ungern gesehene — Konzentration der privaten Unternehmen, des „mobilen Kapitals", zu hemmen. Hält man sich diese Tatsachen vor Augen, so wird die Konzeption, die dem beabsichtigten Hibernia-Kauf zugrunde lag, durchaus klar. Nachdem nun der Aufkauf der Aktienmajorität mißglückt war und die Staatsregierung im November 1904 einen Gesetzentwurf zum Erwerb der von der Dresdner Bank gekauften Aktienminorität einbringen mußte, wurde Möller in den Landtagsdebatten noch etwas schärfer. Er sagte im Hinblick auf das Kohlensyndikat: „. . . diese Herren müssen sich daran gewöhnen, daß solche gewaltigen Gebilde die weiten Massen des Volkes interessieren, und daß politische Rücksichten bei ihrer Direktion genommen werden müssen. Ich sage daher: solche Herren müssen auch Politiker sein, sie müssen volles Verständnis haben für die politischen Machtmittel, die ihnen entgegenstehen oder die ihnen eventuell entgegengestellt werden können. Wenn sie das nicht tun, werden sie bald zu Schaden kommen . . . Sobald die Fusionen sich zu Monopolen auswachsen, wird die überwältigende Mehrheit des Volkes ganz ernsdich erregt werden. Das mögen die Herren sich gesagt sein lassen." 146 (Meine Hervorhebung — H. N.) Die preußische Staatsregierung zögerte denn auch nach der Niederlage in der HiberniaAffäre nicht, bei der nächsten Gelegenheit die „Klinke der Gesetzgebung" in die Hand zu nehmen. Zwar waren im Staatsministerium vom Minister der öffentlichen Arbeiten, Hermann Budde, der als Nachfolger v. Thielens ebenso wie dieser sehr gute Beziehungen zur Schwerindustrie hatte147, warnende Töne gekommen: Die Hibernia-Angelegenheit hätte in den Kreisen der Schwerindustrie sehr aufreizend gewirkt; auch Reichskanzler Bülow hatte sich von den an ihn gerichteten Protesten, u. a. von Emil Kirdorf und den RuhrHandelskammern, beeindruckt gezeigt.148 Jedoch stellte sich Bülow in dieser Zeit noch hinter Möller. 1 « Die Debatten um die Hibernia-Vorlage waren noch nicht beendet, als der große Streik der Ruhrbergarbeiter ausbrach, der die Herrschenden aufs tiefste beunruhigte. Schon während des ganzen Jahres 1904 waren Unruhe und Erregung unter den Bergarbeitern beträchtlich gewesen, vor allem im Zusammenhang mit den Zechenstillegungen und mit Versuchen zur Arbeitszeitverlängerung, so daß der Regierungspräsident von Düsseldorf schon für den Herbst 1904 mit einem größeren Ausstand rechnete.150 Am 30. NoStenographische Berichte über die Verhandlungen des Hauses der Abgeordneten, Bd. 272, Sp. 7673 und 7677. l « Stegmann, Dirk, a. a. O., S. 133. Budde war zuvor ab 1896 Chef der Eisenbahnabteilung im Großen Generalstab, ab 1901 Generaldirektor der Deutschen Waffen- und Munitionsfabriken gewesen. 148 Mottek, Hans, Zur Verstaatlichung im Kapitalismus — der Fall Hibernia, a. a. O., S. 21. 149 Fricke, Dieter, a. a. O., S. 111. 150 Ebenda, S. 56ff. 146
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Vember 1904 nun dekretierte die Verwaltung der Zeche Bruchstraße plötzlich, ohne die großjährige Belegschaft vorher zu hören — was den Bestimmungen der Berggesetznovelle von 1892 zuwiderlief —, daß die Dauer der Seilfahrt ab 1. Dezember von einer halben auf eine ganze Stunde verlängert werden sollte. 151 Fricke schildert den Ausbruch der Streikaktionen: „Die im Dezember 1904 sich ereignenden Vorfälle auf der Zeche Bruchstraße lassen die starke Gärung unter den Ruhrbergarbeitern erkennen. Stinnes, der Besitzer der Zeche Bruchstraße, hatte geplant, die benachbarte Zeche Louise Tiefbau stillzulegen. Ihre relativ hohe Beteiligungsziffer an der Syndikatsförderung wollte Stinnes durch die Zeche Bruchstraße fördern lassen. Die 800 Arbeiter der Zeche Louise Tiefbau sollten entlassen bzw. auf Bruchstraße beschäftigt werden. Die Vergrößerung der Zahl der Arbeiter auf der Zeche Bruchstraße benutzte Stinnes als Vorwand, um die Arbeitszeit verlängern zu können. Die Fördereinrichtungen reichten nicht mehr aus, deshalb sei eine Verlängerung der Seilfahrt erforderlich, wurde von den Verwaltern der Zeche den Bergarbeitern erklärt." Nach einem Streik der 1600 Arbeiter der Zeche Bruchstraße nahm die Grubenverwaltung die Anordnung zunächst zurück. „Am 23. Dezember 1904 kündigte ein neuer Anschlag auf der Zeche Bruchstraße die Verlängerung der Seilfahrt für den 1. Februar 1905 an. Stinnes weigerte sich, mit den Vertretern der Belegschaft zu verhandeln. Im Anschlag wurde den großjährigen Arbeitern lediglich die Gelegenheit gegeben, 'sich über den Inhalt der geplanten Anordnungen zu äußern.' Den Widerstandswillen der Bergarbeiter suchte Stinnes durch weitere Schikanen zu brechen. E r ließ z. B. die Zuteilung der den Bergarbeitern zustehenden Hausbrandkohle wesentlich einschränken. Am 7. Januar beschloß darauf die Belegschaft der Zeche Bruchstraße in geheimer Abstimmung mit überwiegender Mehrheit den Streik." 1 5 2 Der Streik breitete sich schnell auf das ganze Ruhrrevier aus. Die Zahl der Streikenden betrug 1 5 3 : Am
7. Januar 1905 9. „ „ 12. „ „ 16 18. „ „ 23. „ „ 28. „ „ 4. Februar „ 9. „ „ 13. „ „ 16. „ „
4589 12039 64137 107931 211520 216916 213244 214221 208819 36416 746
Die Forderungen der Streikenden, die von den gewählten Vertretern der vier Gewerkschaftsverbände dem Verein für die bergbaulichen Interessen des Oberbergamtsbezirks Dortmund unterbreitet wurden, richteten sich auf die Abschaffung unerträglicher Zustände, wie: Beseitigung zu vieler und zu harter Strafen; humane Behandlung; Bestrafung und eventuelle Entlassung aller die Arbeiter mißhandelnden und beschimpfenden Beamten; Beseitigung des Wagennullens (Wagennullen: nicht voll beladene Wagen wurden häufig nicht entsprechend dem tatsächlichen Inhalt dem Arbeiter angerechnet, sondern über151 Stillich, Oskar, a. a. O., S. 89. 152 Fricke, Dieter, a. a. O., S. 59. 153 Ebenda, S. 163. 12*
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haupt nicht angerechnet, also „genullt", wobeies außerdem häufig vorkam, daß Betriebsbeamte willkürlich Wagen als nicht voll beladen erklärten); Wahl von Wiegemeistern und Grubenkontrolleuren. Außerdem wurde der sukzessive Übergang zur Achtstundenschicht, die Beseitigung von Sonntags- und Überschichten, die Festsetzung von Minimallöhnen, die Errichtung von Arbeiterausschüssen, eine Reform des Knappschaftsversicherungswesens und die Anerkennung der Arbeiterorganisationen seitens der Unternehmer gefordert.154 Der Unternehmerverein lehnte sämtliche Forderungen rundweg ab, mit der Begründung, „ihre Annahme würde der Ruin des westfälischen Bergbaus und der für diesen unerläßlichen Disziplin sein." 155 Selbst Verhandlungen mit den gewählten Vertretern der Streikenden wurden abgelehnt, dagegen allen angeschlossenen Zechen die Entlassung und Bestrafung der Streikenden empfohlen und wiederholt von der Regierung Einsatz von Militär angefordert. 156 Die scharfmacherische und starr ablehnende Haltung der Ruhrmonopolisten zwang die Gewerkschaftsführungen, die bis Mitte Januar die spontan sich ausbreitende Streikbewegung zu bremsen versucht hatten, am 16. Januar den allgemeinen Streik auszurufen, festigte die Kampfentschlossenheit der Bergarbeiter und rief eine breite Sympathiebewegung in kleinbürgerlichen und bürgerlichen Kreisen hervor. 157 Über die sich in den folgenden Jahren bis 1918 noch verhärtende Haltung des „rechten Flügels der deutschen Industrie" schreibt Saul, die Großbetriebe lehnten „jeden Kontakt mit den Gewerkschaftsvertretern ab und wiesen alle Vermittlungsversuche der örtlichen Reichstagsverordneten, der Gewerbegerichte, der kommunalen und staatlichen Instanzen zurück. Noch 1913 war der Geschäftsführer der wirtschaftlichen Vereine der Saarindustrie, Max Schlenker, überzeugt, 'daß mit weicher Nachgiebigkeit die Arbeiterfrage nicht zu lösen ist, und daß mit dem Standpunkt des unbedingten (Herr im Hause sein) noch am ehesten bittere und schmerzliche Erfahrungen vermieden werden'." 1 5 8 Anfang 1905 jedoch mußte diese Haltung den um die Stabilität des politischen Herrschaftssystems des deutschen Imperialismus bemühten Vertretern der Staatsmacht besonders prekär erscheinen. Die Ereignisse, die dem Blutsonntag in Sankt Petersburg am 22. Januar vorausgingen und folgten, die sich ausbreitenden politischen Massenstreiks in Rußland, die die bürgerlich-demokratische Revolution einleiteten, stärkten einerseits den Kampfeswillen der Ruhrbergarbeiter und riefen andererseits größte Besorgnis in den staatlichen Gremien hervor. Reichskanzler Bülow bemerkte am 19. Januar über den Streik, es sei nötig, „alles aufzubieten, um eine Verständigung zu erzielen." Dem von ihm zu Verhandlungen ins Ruhrgebiet geschickten Oberberghauptmann von Velsen, der auch schon die Kommission zur Untersuchung der Stillegungen geleitet hatte, wiesen die Unternehmer die Tür. 15 9 Die preußischen Behörden suchten nun den Eindruck zu vermeiden, daß die Staatsmacht sich auf die Seite der Zechenunternehmer stelle; sie verstärkten zwar die Polizeiposten, schickten aber kein Militär und verhinderten den von den Unternehmern geforderten Einsatz ausländischer Arbeiter als Streikbrecher. Ende Januar richteten meh«4 Ebenda, S. 165 ff. 165 Stillicb, Oskar, a. a. O., S. 92. 156 Fricke, Dieter, a. a. O., S. 87ff. l " Ebenda, S. 100. 158 Saul, Klaus, Staat, Industrie, Arbeiterbewegung im Kaiserreich. Zur Innen- und Außenpolitik des Wilhelminischen Deutschland 1903—1914, (Düsseldorf 1974), S. 56= Studien zur modernen Geschichte, hg. v. Fritz Fischer u. a., Bd. 16. — Die Fußnoten zum Zitat sind weggelassen. 159
Fricke, Dieter, a. a. O., S. 114 und 97.
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rere Landräte aus Schlesien und Posen an das preußische Innenministerium ein Telegramm, in dem sie auf die Gefahr hinwiesen, die eintreten könnte, wenn mit der Steigerung der Unruhen in Rußland eine Ausbreitung des inländischen Streiks zusammentreffen sollte. Die Gendarmerie würde dann nicht mehr ausreichen, dann müßte Militär eingesetzt werden.«" In dieser Situation stellte die Sozialdemokratische Fraktion im Reichstag — wo während der den Streik betreffenden Debatten vom 20. bis 23. Januar übrigens wieder das ganze „Paket" der Bergbau- und Monopolfragen, so das Problem der Zechenstillegungen und des Kartellgesetzes, zur Sprache gekommen war 1 6 1 — am 26. Januar 1905 den folgenden Antrag: „Der Reichstag wolle beschließen: den Herrn Reichskanzler zu ersuchen, dem Reichstag noch in der gegenwärtigen Tagung eine Novelle zur Gewerbeordnung vorzulegen, welche für den Kohlenbergbau Bestimmungen trifft über 1. Festsetzung der Schichtdauer einschließlich Ein- und Ausfahrt mit besonderer Berücksichtigung der Schichtdauer vor nassen sowie heißen Orten mit über 28 Grad Celsius; Verbot der Sonntags- und Überschichten, mit Ausnahme der Arbeiten zur Rettung von Menschenleben, für außerordentliche Betriebsstörungen und Schachtreparaturen. Lohnzuschlag für Schachtreparaturen an Sonn- und Feiertagen. 2. Beseitigung des Wagennullens. Bezahlung der wirklich gelieferten Kohle. Eichung der Wagen nach Raum- oder Gewichtsinhalt. 3. Wahl und Besoldung von Wagenkontrolleuren bzw. Wiegemeistern durch die Belegschaft. 4. Regelung der Lohnzahlung; kostenlose Lieferung des Schießmaterials und des Geleuchtes durch die Zechenbesitzer. 5. Errichtung von Arbeiterausschüssen zur Erörterung von Beschwerden und Mißständen, Regelung des Strafgelderwesens und zur Mitverwaltung der Unterstützupgskassen. 6. Wahl von Grubenkontrolleuren durch die Belegschaft. 7. Regelung des Mietrechts für die den Zechenbesitzern gehörenden Arbeiterwohnungen." 162 Am selben Tag beschloß das preußische Staatsministerium, demnächst eine Novelle zum Berggesetz vorzulegen, die eine Reihe dieser Forderungen berücksichtigen sollte. Wie Fricke feststellte, ist dieser Beschluß ganz überstürzt gefaßt worden. Zwei Tage später entschuldigte sich Möller beim Kaiser für die Eile: Es sei seines Erachtens geboten gewesen, den Forderungen nach reichsgesetzlichen Regelungen durch das Vorgehen auf dem Wege der Landesgesetzgebung zuvorzukommen. „Bei diesem beschleunigten Verfahren, das des politischen Effekts wegen für geboten erachtet worden sei, sei er zu einem Bericht über den Staatsministerialbeschluß an Seine Majestät bisher außerstande gewesen und bitte dies allergnädigst zu entschuldigen." 163 Der Streik wurde von den Gewerkschaftsführungen am 9. Februar 1905 mit Hinweis auf das Regierungsversprechen abgebrochen. Die Ruhrmonopolisten hatten keine der Streikforderungen akzeptiert. Möller hatte zwei Jahre zuvor erklärt, die Öffentlichkeit müsse die Monopole zwingen, „verständig und vernünftig" zu sein. Ihre Haltung beim Bergarbeiterstreik war aber nun 160 Ebenda, S. 115. 161 Reicbslagsbericbte, Bd. 201, S. 3503, 3510, 3918, 3924, 3926, 3954, 3966, 3975ff. 162 Fricke, Dieter, a. a. O., S. 177f. 163 Ebenda, S. 120.
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im Hinblick auf die Systemstabilisierung keineswegs „verständig und vernünftig". In dieser Lage mußte sich die Staatsmacht veranlaßt sehen, eben im Interesse der Systemstabilisierung die „Klinke der Gesetzgebung" zu ergreifen. Die Berggesetznovelle über die Arbeitsbedingungen wurde schnellstens ausgearbeitet und nach einer Reihe von Änderungen am 14. Juli 1905 verabschiedet. 164 Da man schon die „Klinke" angefaßt hatte und die „Macht der populären Strömungen" noch stark war — allein im März 1905 wurde auf sieben Reichstagssitzungen wieder über die Kartelle debattiert 165 —, würde gleich eine zweite Berggesetznovelle vorgelegt. Ihre Bestimmungen zielten darauf ab, den staatlichen Einfluß im Bergbau zu verstärken und damit auch den „Drängern nach einem Syndikatsgesetz" sowie den Forderungen nach einer Verstaatlichung des gesamten Bergbaus zu begegnen. Forderungen nach Bergbauverstaatlichung waren ja außer von Vertretern aus dem konservativen Lager auch vom Bund der Industriellen, vom Abgeordneten der linksliberalen Deutschen Volkspartei und in der Sozialdemokratie von August Bebel erhoben worden. 166 Die Novelle 167 sah eine Sperre für Mutungen auf Steinkohle und Kalisalze für zwei Jahre vor. Innerhalb dieser Zeit sollte eine weitere Novelle ausgearbeitet werden, die das Verleihungswesen neu regeln und weitere Mutungen auf diese Mineralien dem Staate vorbehalten sollte. Diese Bestimmungen waren einerseits darauf gerichtet, zu verhindern, daß die letzten noch im Bergfreien liegen Steinkohlenfelderkomplexe im Norden des Ruhrreviers und links des Rheins in das Eigentum der Syndikatsmitglieder fielen; andererseits, in bezug auf den Kalibergbau, sollte die die Existenz des „gemischtwirtschaftlichen" Kalisyndikats stark gefährdende ständige Neuetablierung von Außenseitern unterbunden werden. Der freikonservative Abgeordnete Freiherr von Gamp, der den Antrag zur Ausarbeitung dieser Novelle eingebracht hatte — und nach dem sie dann „Lex Gamp" genannt wurde — war übrigens ein Schwager von Friedrich Bayer und Großaktionär der Farbenfabriken vorm. Friedrich Bayer & Co, einem der Stammkonzerne der späteren IG Farben. 168 Die in dem Entwurf der Novelle ferner vorgesehenen Änderungen der Paragraphen über den Betriebszwang konnten allerdings nicht verabschiedet werden. 169 Die Regierung mußte diese Teile des Entwurfs zurückziehen, um die in der Situation des Jahres 1905 politisch wichtige Novelle über die Arbeitsbedingungen durchbringen zu können. Letztere berücksichtigte einige der Forderungen des sozialdemokratischen Antrags vom 26. Januar, Gesetzsammlung für die Königlich Preußischen Staaten, (im folgenden: Preußische Gesetzsammlung), 1905, S. 307. 165 Reicbstagsbericbte, Bd. 203, S. 4915, 4944, 4954, 5010, 5106, 5146, 5634. - Von den Zentrumsabgeordneten Spahn, Gröber, Schaedler wurde Anfang März folgende Resolution eingebracht: „Den Herrn Reichskanzler zu ersuchen, dem Reichstag tunlichst bald eine Denkschrift über die für die Produktion, den Preis und den Vertrieb von Waren gebildeten Kartelle, Syndikate und Interessengemeinschaften vorzulegen, welcher die Vertragsbestimmungen dieser Gesellschaften beigelegt sind." (Ebenda, Bd. 209, Drucksache Nr. 534). 166 Bebel forderte allerdings eine Verstaatlichung durch das Reich (Fricke, S. 99). Zur Haltung Bebels zur „Verreichlichung" der Elektrizitätserzeugung: Nussbaum, Helga, Elektrizitätswirtschaft, a. a. O., S. 158f.) — Stellungnahme des Bundes der Industriellen vom 24. Oktober 1904: Jahresbericht des'Rundes der Industriellen 1903/04, Berlin 1905, S. 56-76. Zur Haltung der verschiedenen Parteien: Droste, Manfred, Die Stellung des Ruhrbergbaus in Staat und Gesellschaft bis zum Jahre 1918, phil. Diss. Göttingen 1953, S. 142ff. 167 Verabschiedet am 6. Juli 1905 (Preußische Gesetzsammlung, 1905, S. 265.) 168 Stegmann, Dirk, a. a. O., S. 25. 169 Boldt, Gerbard, Das Allgemeine Berggesetz vom 24. Juni 1865 in der gegenwärtigen Fassung und die bergrechtlichen Nebengesetze. Mit einem Uberblick über die Berggesetzgebung in Deutschland und Erläuterungen, Münster 1948, S. 67=Aschendorffs Juristische Handbücherei. Bd. 6. 164
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wobei allerdings von der ursprünglichen Regierungsvorlage noch viele Abstriche gemacht worden waren. So wurde nicht die Schichtdauer allgemein begrenzt, sondern nur an Orten mit mehr als 28 Grad Celsius, und zwar auf 6 Stunden. Nur für diese Orte wurden Über- und Nebenschichten verboten (§ 93 c, d). Es wurde festgelegt, daß die Arbeitszeit durch die Ein- und Ausfahrt nicht um mehr als eine halbe Stunde verlängert werden durfte (§ 93b). Das Wagennullen wurde verboten, ferner die Bergwerksbesitzer zur Beschäftigung eines von den Arbeitern zu wählenden Wagenkontrolleurs verpflichtet (§ 80c). Ehrverletztende Strafen wurden verboten, Geldstrafen durften einen Höchstbetrag nicht überschreiten (z. B. nicht 5 Mark im Monat für unvorschriftsmäßig beladene Fördergefäße), die Strafgelder mußten an eine von den Arbeiterausschüssen zu verwaltende Unterstützungskasse überwiesen werden (§ 80d). Das Gesetz schrieb ferner die Wahl von Arbeiterausschüssen bei den einzelnen Unternehmen vor (§ 80f). Von den Forderungen des sozialdemokratischen Antrags war also die allgemeine Begrenzung der Arbeitszeit, die Reform der Knappschaftsversicherung und die Wahl von Grubenkontrolleuren nicht berücksichtigt worden. Die letztgenannte Forderung konnte erst mit der Berggesetznovelle vom 28. Juli 1909 durchgesetzt werden170, die die Wahl von Sicherheitsmännern vorschrieb, während eine Reform der Knappschaftsversicherung schon 1906 — mit Wirkung ab 1908 — erfolgte. Trotz der relativ bescheidenen Ergebnisse der Novelle empfanden die Ruhrmonopolisten sie als Schlag gegen ihre „Herr im Hause"—Position, zumal sie mit der Mutungsnovelle und vor allem der in Aussicht stehenden gesetzlichen Begrenzung der privaten Felderaneignung auch ihre Besitzexpansion gefährdet sahen. Am 19. September 1905 erschien im Berliner Lokalanzeiger folgende Meldung: „In den Kreisen der Industrie- und Handelswelt ist augenblicklich das Gerücht verbreitet, daß der preußische Handelsminister Möller demnächst zurücktreten und durch einen Industriellen derselben politischen Richtung ersetzt werden solle. In jenen Kreisen ist man davon überzeugt, daß, wie bei ihnen selbst, so auch bei der Regierung der Wunsch bestehe, zwischen der Staatsverwaltung und den industriellen und kommerziellen Kreisen, deren Interessen bei der Hibernia-Affaire sowie beim westfälischen Bergarbeiterstreik berührt waren, ungetrübte Beziehungen zu schaffen. Man glaubt dort, daß ein Wechsel in der Leitung des Handelsministeriums die Herstellung eines solchen Verhältnisses fördern werde." 171 Wer die Meldung veranlaßt hat, ist nicht bekannt. Möller gab zwei Tage später dem Lokalanzeiger ein Interview. „Wohl niemals gab es eine Zeit, in der es mir ferner gelegen hat, vom Amte zurückzutreten, als es die jetzige ist." Der Kommentar des Lokalanzeigers dazu lautete: „Die Entscheidung darüber, ob Minister Möller mit dieser Auffassung der Lage schließlich rechtbehalten wird oder jene industriellen und kommerziellen Kreise, deren Ansichten wir vorgestern wiedergaben, wollen wir der Zukunft überlassen." 172 Einen Monat später war die Entscheidung gefallen, Bülow forderte Möllers Rücktritt, der Kaiser genehmigte und verlieh den erblichen Adel.173 17
Preußische Gesetzsammlung, 1909, S. 677. Berliner Lokalan^eiger, Nr. 464 v. 19. 9. 1905, 2. Ausgabe, Abendblatt. 172 Ebenda, Nr. 468, v. 21. 9. 1905, 2. Ausgabe Abendblatt. 173 Die Vorgänge um den Rücktritt schildert die Enkelin Möllers: Waliber, Heidrun, a. a. O., Kap. 6. — Stegmann weist darauf hin, daß am 15. September 1905 in der Deutschen Wirtschaftszeitung ein Aufsatz des ehemaligen Regierungsrats im Kartellreferat des Reichsamts des Innern und späteren Direktors des Stahlwerksverbandes, Henry Voelcker, erschien, der die Mißstimmung der „industriellen Kreise" darlegte und die Wiederherstellung des alten Vertrauensverhältnisses zwischen ihnen und der Regierung forderte. (Stegmann, Dirk, a. a. O., S. 135f). 171
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Drei Monate später wurde übrigens zwischen Möllers Kohlendestillation und dem R W K S ein Vertrag abgeschlossen, der die erstere verpflichtete, bis März 1908 den Kokereibetrieb stillzulegen und keine Kokerei im Inland westlich der Oder bis mindestens 31. Dezember 1915 zu errichten. 14 Tage nach der Stillegung würde das R W K S 860250 Mark zahlen. Die Kohlendestillation baute dann ihre Anlagen in Großbritannien weiter aus und errichtete neue in Rußland. 174 Die Bergbauindustriellen hatten sich zur Sicherung ihrer Position natürlich nicht allein auf den Sturz des Handelsministers beschränkt. Im September 1905 wurde vom RWKS und 23 seiner Mitglieder die Rheinisch-Westfälische Bergwerksgesellschaft mbH., Sitz Mühlheim a. d. Ruhr, gegründet, die der Internationalen Bohrgesellschaft zu Erkelenz, Felderkomplexe von rund 600 km 2 , von denen der größte an der Nordostgrenze der fiskalischen Felder gelegen war, abkaufte, um diese Kohlenfelder „der privaten Unternehmung zu erhalten." 175 Außerdem fanden sich auch in der „lex Gamp" Bestimmungen, auf Grund derer man ihre angestrebte Wirkung paralysieren konnte: Es war erlaubt, im Scblagkreis der vor der Novelle fündig gewordenen Bohrlöcher weiter zu bohren und zu muten. Dies wurde so ausgenutzt, daß 1905 und 1906 das Fünffache an Mutungen eingelegt wurde als im Durchschnitt der vorangegangenen Jahre ! 1 7 6 Bis 1909, unter der Amtsführung von Handelsminister Clemens Delbrück (Oktober 1905—Juli 1909), wurde die Linie der preußischen Bergbaupolitik weitergeführt, wenn auch vorsichtiger. Die Berggesetznovelle zum Mutungs- und Verleihungswesen vom 18. Juni 1907 177 , die gegen die Stimmen der Nationalliberalen Fraktion des Abgeordnetenhauses, die den rechten, zur Schwerindustrie neigenden Flügel der Partei repräsentierte, angenommen wurde, brachte zwar die Bestimmung, daß Mutungen auf Steinkohle und Kalisalze nur noch vom Staate vorgenommen werden durften, aber die meisten Felder waren ja ohnehin schon verliehen, und Delbrück hatte sich nicht wie Möller dem Verdacht ausgesetzt, ein Anhänger der allgemeinen Verstaatlichung zu sein. 178 Auf sozialpolitischem Gebiet aber hielten die Konflikte an. Delbrück, der ab 1909 als Staatssekretär im Reichsamt des Innern die „rechte Hand" Bethmann Hollwegs speziell auch bei den Versuchen wurde, in bezug auf die Arbeiter und die Arbeiterbewegung eine vorsichtige Integrationspolitik zu betreiben 179 , bemühte sich schon als Handelsminister vergeblich, den Bergbaumonopolisten diese Politik als die klügere für die herrschende Klasse plausibel zu machen. 180 174 Nussbaum, Helga, Hibernia, a. a. O., S. 243. 175 Bartz, Otto, a. a. O., S. 103. 176 Bergmann, Kurt, a. a. O., S. 14; Wiedenfeld, Kurt, a. a. O., S. 72. 177 Preußische Gesetzsammlung, 1907, S. 119. 178 Zu d e r Haltung Delbrücks (ab Juli 1909 Staatssekretär im Reichsamt des Innern), bei den späteren Plänen zur „Verreichlichung" der Elektrizitätswirtschaft: Nussbaum, Helga, Elektrizitätswirtschaft, a. a. O.). 179 Zur innenpolitischen Linie Bethmann Hollwegs : Gutscbe, Willibald, Aufstieg und Fall eines kaiserlichen Reichskanzlers. Theobald von Bethmann Hollweg 1856—1921. Ein politisches Lebensbild, Berlin 1973, speziell Kap. 3—5, und 10. 180 Berliner Politische Nachrichten, Nr. 252 v. 29. 10. 1907, Bericht von der Delegiertenversammlung des Zentralverbandes Deutscher Industrieller: Kirdorf erklärte, er hoffe, die Verhandlungen haben Eindruck auf die Regierungsmitglieder gemacht. „Unter der Herrschaft des jetzigen Reichstagswahlrechts sei die einzige Hilfe für die Industrie bei der Staatsregierung zu erhoffen, doch müsse die Industrie geschlossen den Kampf gegen die Umsturzpartei vornehmen . . . Es sei ein Herrenstandpunkt, der eingenommen werden müsse." Delbrück führte in seiner Rede aus, der Herrenstandpunkt könne Schaden psychologischer Art anrichten. Ein Industrieller sollte wie ein guter Truppenkommandeur Kamerad seiner Arbeiter sein.
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Im Jahre 1906 brachte eine weitere Berggesetznovelle eine Reform der Knappschaftsversicherung, die letztere an die bestehenden Bestimmungen der reichsgesetzlichen Sozialversicherung anglich, so daß jetzt auch die Bergbauunternehmer einen Beitragsanteil von 50 Prozent gegenüber rund 42 Prozent zuvor zu leisten hatten. Die schon erwähnte Novelle von 1909 verfügte die Einführung von Sicherheitsmännern auf allen Gruben. Die im internen Kreis von Bergbauindustriellen heftig geführte Polemik gegen die „sozialen Dummheiten", verbunden mit Absichtsäußerungen zum Sturz Delbrücks, blieben diesmal ohne Auswirkungen, da einige Vertreter, z. B. der Vorsitzende des Vereins für die bergbaulichen Interessen des Oberbergamtsbezirks Dortmund, Bergrat Kleine, Delbrück zu stützen rieten, da man ihn für einen Gegner Bethmann Hollwegs hielt. 181 Inzwischen hatten die preußischen Staatsbetriebe im Ruhrrevier ihre Außenseiterposition ausgebaut (Vgl. Tabelle 35). Tabelle 35 "Förderung der Staatswesen und der Außenseiter insgesamt im Rubrrevier 1904—1913 Jahr
Förderung der Staatszechen
1904 1907 1909 1911 1913
Außenseiter insgesamt
t
Prozent der Gesamtförderung des Reviers
Prozent der Gesamtförderung des Reviers
720022 1046450 1746149 2814740 4780555
1,05 1,27 2,05 3,0 4,13
1,72 2,55 4,90 7,16 11,12
Quelle: Uitbgen, Helmut, Das Rheinisch-Westfälische Kohlensyndikat in der Vorkriegs-, Kriegs- und Nachkriegszeit und seine Hauptprobleme, rechts- und staatsw. Diss. Würzburg 1926, S. 208f.
Die preußische Bergwerksdirektion war mit ihren sieben Zechen der größte der Außenseiter, der Rest der Außenseiterproduktion verteilte sich auf 26 Zechen. Die fiskalischen Zechen konnten mit den Syndikatszechen erfolgreich konkurrieren, wobei sie sogar nicht durchweg niedrigere Preise stellen mußten: Sie gewährten den Abnehmern eine sichere Qualitätsgarantie, die das RWKS immer verweigert hatte. Viele Großverbraucher waren aber auf weitgehende Gleichmäßigkeit der Kohlen und besonders des Kokses angewiesen, und daher gewannen die fiskalischen Ruhrzechen bald sichere Großabnehmer, so z. B. die Hüttenwerke des Siegerlandes. 182 Auch die staatlichen Saarkohlenzechen hatten große Anstrengungen unternommen, um die Lieferungsqualität ihrer an sich etwas schlechteren Kohle durch entsprechende Bearbeitung und Mischung gegenüber der Ruhrkohle zu erhöhen. Eine der bedeutendsten Großhandelsfirmen in Saarbrücken war deshalb, als das Syndikat den Händlern verbot, gleichzeitig Syndikats- und „Staats"kohlen zu handeln, aus der Syndikatshandelsorganisation, dem Kohlenkontor, ausgeschieden und konzentrierte sich ganz auf den Absatz von „Staats"kohlen. 183 Dazu hatten die Staatszechen 1908 181 Stegmann, Dirk, a. a. O., S. 138f. 182 Wiedenfeld, Kurt, a. a. O., S. 73f. 183 Ebenda, S. 8 1 f .
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auch eine großangelegte Nebenproduktgewinnung und Koksproduktion aufgenommen, die sich rasch ausdehnte. Eine eigene Handelsorganisation wurde ebenfalls aufgebaut. 1912 schließlich erwarb der preußische Fiskus zur Sicherung seiner Binnenwassertransporte die Aktienmehrheit der Kölner Rhein- und Seeschiffahrtsgesellschaft, über die führende Mannheimer Schiffahrtsfirmen beherrscht wurden. 184 Die für das RWKS ungünstige Entwicklung der Außenseiter, insbesondere der Staatszechen, veranlaßten es, schon ab 1910 Verhandlungen mit dem Fiskus aufzunehmen. Jetzt konnte der Fiskus Bedingungen für einen etwaigen Beitritt stellen. Zur „Bereinigung der Hibernia-Angelegenheit", also ihrem vollen Verkauf an den Staat, was diesem eine erheblich größere Beteiligungsziffer gesichert hätte als bei einem Beitritt allein mit den sieben Staatszechen, war das RWKS aber noch nicht bereit. Andererseits war den Staatszechen an der Saar, die sich lange in einer quasi-monopolistischen Position befunden hatten, inzwischen ebenfalls eine Außenseiterkonkurrenz erwachsen, und zwar in Gestalt der Saar-Mosel-Bergwerksgesellschaft, einer Gemeinschaftsgründung von Hugo Stinnes und August Thyssen. 185 Bildeten also die Staatszechen im Ruhrrevier die Außenseiterkonkurrenz des Syndikats, so die Zechen von Syndikatsmitgliedern im Saarrevier die Außenseiterkonkurrenz der Staatszechen. Die Logik der Entwicklung hatte also von der zeitweiligen Kontraposition zur umso stärkeren Interessenverknäuelung geführt. So wurde denn Anfang 1912 mit Wirkung ab 1. 3. 1912 zwischen dem preußischen Fiskus und dem RWKS ein „Kartellvertrag" abgeschlossen, der folgendes beinhaltete 186 : Der Fiskus übertrug, unter Aufrechterhaltung seiner eigenen Handelsorganisation, dem RWKS für das laufende Jahr den Vertrieb der Produktion seiner Ruhrzechen, abzüglich der Mengen, die Reich und Staat vom Bergfiskus bezogen und die bereits an die Händler des Fiskus vergeben waren (festgesetztes Lieferquantum: 3,82 Mill t). Den vom Syndikat festgesetzten Einschränkungen unterlag die Förderung der Staatszechen nicht. Für den Vertrieb zahlte der Fiskus eine Vergütung von höchstens 6 Prozent der Rechnungsbeträge. Er wurde nicht Mitglied des Syndikats, besaß also auch kein Stimmrecht, erhielt aber eine beratende Stimme in den maßgeblichen Organen. Der Fiskus war berechtigt, jederzeit von dem Vertrag zurückzutreten, falls er es aus Gründen des allgemeinen Interesses, z. B. der Preispolitik des RWKS, für nötig hielt. Der Vertrag sollte Ende 1912 erlöschen, falls bis 30. September 1912 keine Einigung des Fiskus mit den privaten Zechen des Saarreviers erfolgt sein würde. Der Kartellvertrag mit dem RWKS war also auch wesentlich als Anreiz- und Druckmittel für die „Einigung" im Saarrevier, also zur Sicherung der dortigen monopolistischen Stellung des Fiskus, gedacht. Auf das Geschäftsgebaren des RWKS erlangte der Staat, wie sich zeigen sollte, durch die beratende Stimme keinen Einfluß, hatte aber auch dem RWKS keine bedeutenden Rechte übertragen — unterlag er doch z. B. nicht der Pflicht zur Fördereinschränkung. Rein finanziell bot das Abkommen dem Fiskus nur Vorteile. Die Vertriebsvergütung war niedrig im Vergleich zur entsprechenden „Umlage" der Syndikatsmitglieder, und die fiskalische Förderung konnte nun generell zu Syndikatspreisen abgesetzt werden.
184 Bergmann, Kurt, a. a. O., S. 79. 185 IViedenfeld, Kurt, a. a. O., S. 77. 186 Bart%, Otto, a. a. O., S. 142f. — Bald
nach diesem Vertrag schlössen auch die hauptsächlichen anderen
Außenseiter ähnliche Verträge mit dem R W K S ab (Ebenda, S. 144.).
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Gerade deswegen aber erlangte der Vertrag eine erhebliche „moralische" Bedeutung und brachte dem Syndikat einen großen Prestigegewinn. Aus syndikatsfreundlicher Sicht kommentiert Lüthgen, Sohn des Herner Generaldirektors und Bergrats Hermann Lüthgen: „Durch diesen Beitritt des Fiskus zum Syndikat wurde bewiesen, daß das Syndikat eine Kontrolle seiner Geschäftsführung durch den Vertreter der Allgemeinheit, den Fiskus, nicht zu scheuen hatte; erhielt doch der Staat nunmehr Einblick in die intimsten Vorgänge des Syndikatslebens. Welchen Prestige-Erfolg bedeutete diese Verständigung mit dem Fiskus für das Syndikat! Waren doch die fiskalischen Zechen zum guten Teil mit aus dem Grunde abgeteuft, um dem Kohlensyndikat Opposition zu machen, die Syndikatspolitik zu durchkreuzen und die Allgemeinheit vor der 'Ausbeutung durch das Kohlenmonopol' zu schützen."187 In der Öffentlichkeit kam es deshalb außer zum Frohlocken der Kartellfreunde zu heftiger Kritik an der Haltung des Staates bzw. des Handelsministers Reinhold Sydow.188 In der Erklärung des Vorstandes des Bundes der Industriellen vom 9. März 1912 kommt deutlich die Enttäuschung dieser Kreise der verarbeitenden Industrie zum Ausdruck, die im Gegensatz zu ihrer früheren Haltung seit Anfang des Jahrhunderts auf die Staatshilfe gesetzt hatten: „Der Bund der Industriellen bedauert, daß die für die kohlenverbrauchende Industrie empfindliche Preiserhöhungen des Rheinisch-Westfälischen Kohlensyndikats dadurch mit ermöglicht worden sind, daß der Preußische Staat als Kohlengrubenbesitzer seinen Einfluß auf den Kohlenmarkt fast völlig zugunsten des Syndikats aufgegeben hat. Der preußische Handelsminister hat in seiner Rede vom 31. Januar im Abgeordnetenhause zwar betont, daß durch das Abkommen des preußischen Kohlenfiskus mit dem Syndikat die fiskalischen Interessen gewahrt seien. Demgegenüber wäre es jedoch im Interesse der Kohlenverbraucher, insbesondere der vielfach unter hohen Rohstoffpreisen und unter der Preispolitik der Rohstoffsyndikate leidenden verarbeitenden Industrie erwünscht, daß der Staat als Kohlengrubenbesitzer seinen Einfluß auf den Kohlenmarkt nicht einschränkt, sondern eher erweitert, um der monopolisti sehen Entwicklung der Kohlensyndikate wirksam entgegenzutreten, nötigenfalls auch unter Hintansetzung fiskalischer Gesichtspunkte."189 Als jedoch bis Herbst 1912 eine Einigung mit den privaten Saarzechen nicht zustande gekommen war und das RWKS im Oktober 1912 gegen den fiskalischen Einspruch (d. h. den mit beratender Stimme vorgebrachten Einspruch) beschloß, die Preise für 1913 zu erhöhen, kündigte der Fiskus den Kartellvertrag für Ende 1912. Ein Einfluß auf die Preisbildung wurde hierdurch jedoch nicht ausgeübt. Die Außenseiterkonkurrenz des Staates macht sich erst wieder mit dem Abflauen der Konjunktur für das RWKS bemerkbar: von 1912 auf 1913 steigerten die fiskalischen Ruhrzechen ihre Förderung um 33 Prozent, und es gelang ihnen, das größte zechenfreie Hüttenwerk des Stahlwerksverbandes, die Vereinigten Hüttenwerke Burbach-Esch-Düdelingen als Großabnehmer zu gewinnen.190 Deshalb nahm das RWKS bald neue Verhandlungen Lüthgen, Helmut, a. a. O., S. 27. 188 So unter anderen in: Kölnische Volks^eitung v. 10. 1.1912; Frankfurter Zeitung v. 16. 1. 1912. In der anklagenden Broschüre eines Bodenreformers hieß es: „Über Staatsmonopole läßt sich reden, namentlich wo es sich um Bodenschätze, Wasserkräfte usw. handelt; denn alle Einnahmen, die hieraus fließen, kommen der Allgemeinheit wieder zugute. Aber eine staatliche Unterstützung von Privatmonopolen sollte ganz indiskutabel sein." (Pohle-Hobemrtpe, A., Der Staat und die Syndikate. Ein Beitrag zur Bergwerksfrage, Leipzig 1912, S. 62). 189 Veröffentlichungen des Bundes der Industriellen, Heft 2: Kohlensyndikat und Staat, Berlin 1912, S. 5ff. 190 Hierzu und zum folgenden: Ledermann, Ernst, Die Organisation des Ruhrbergbaus unter Berücksichti187
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mit dem Fiskus auf, die bis 1915 zu keinem Ergebnis führten. Der preußische Handelsminister erklärte seine Bereitschaft zum Eintritt in das Syndikat, wenn folgende fünf Bedingungen erfüllt würden: 1. Wirksamere Ausgestaltung des Rücktrittsrechts und des Preisvetos und Sicherung der öffentlichen Belange. 2. Sicherstellung des öffentlichen Bedarfs. 3. Bereinigung der Hibernia-Frage 4. Regelung der Beziehungen der fiskalischen Absatzorganisation zum RWKS. 5. Gleichzeitige Regelung der Verhältnisse im Saarrevier. Das RWKS sperrte sich vor allem gegen die „Bereinigung der Hibernia-Frage" und gegen die Bestrebungen des Fiskus, seine Handelsorganisation bei einem Eintritt neben der Syndikatsorganisation weiter bestehen zu lassen. Im Verlaufe der ersten Kriegsjahre veränderte sich mit der allgemeinen ökonomischen Situation dann aber auch die Lage auf dem Kohlenmarkt. 1915 war die Steinkohlenförderung im Reich gegen 1914 um 12 Prozent, gegenüber 1913 um 22,5 Prozent gesunken. 191 Außerdem waren die Importe aus Großbritannien weggefallen. Der Weiterbestand des RWKS, dessen Vertrag Ende 1915 ablief, erwies sich als gefährdet, da viele Unternehmen bei der herrschenden Kohlenknappheit nunmehr in „freier Konkurrenz" größere Preissteigerungen zu erzielen hofften. Auf Grund des Gesetzes vom 4. August 1914 192 , das den Bundesrat ermächtigte, für die Zeit des Krieges diejenigen wirtschaftlichen Maßnahmen anzuordnen, welche sich zur Abwendung wirtschaftlicher Schäden als notwendig erwiesen, erging am 15. Juli 1915 eine Bundesratsverordnung 193 über die Errichtung von Vertriebsgesellschaften im Steinkohlenund Braunkohlenbergbau. Durch die Verordnung wurden die Landeszentralbehörden ermächtigt, die Besitzer von Steinkohlen- und Braunkohlengruben auch ohne ihre Zustimmung allgemein oder für bestimmte Bezirke oder für bestimmte Arten von Bergwerkserzeugnissen zu Vertriebsgesellschaften zusammenzuschließen, denen Regelung der Förderung sowie Absatz der Bergwerkserzeugnisse der Gesellschafter obliegen sollten. Die Satzungen dieser Vertriebsgesellschaften sollten von den Landeszentralbehörden erlassen werden, einige Punkte waren aber schon in der Verordnung vorgegeben. Außer Vorstand und Gesellschaftsversammlung waren jeweils ein Berufungsausschuß und ein Beirat vorgesehen. Der Vorsitzende sowie die Hälfte der Mitglieder des Berufungsausschusses waren von den Landeszentralbehörden zu ernennen. Die erstmalige Festsetzung der Richtpreise durch die Gesellschaftserversammlung mußte vom Staat genehmigt werden, der das Recht erhielt, die Preise zu ermäßigen. Anträge auf Erhöhung der Verkaufspreise bedurften in der Gesellschaftsversammlung der Zustimmung von mehr als 70 Prozent der Stimmen. An allen Gesellschaftsversammlungen hatte ein Vertreter der Landeszentralbehörde teilzunehmen, der Beschlüsse wegen Verletzung öffentlicher Interessen beanstanden konnte. Die Entscheidung hatte dann die Landeszentralbehörde zu treffen, nachdem sie vorher einen Beirat von Vertretern der Bergwerksbesitzer, der Bergarbeiter, des Kohlenhandels, der Industrie, Landwirtschaft, Städte und Eisenbahnverwaltung gehört hatte. gung der Beziehungen zur Eisenindustrie, Berlin und Leipzig 1927, S. 49ff. = Moderne Wirtschaftsgestaltungen, hg. v. Kurt Wiedenfeld, H. 12. - Tboenes, Walter, a. a. O., S. 31ff. und 38ff. •91 Produktionszahlen: Handbuch der Koblenairtscbafl, hg. v. Karl Borchardt, Berlin 1926, S. 802ff. »2 RGBl. 1914, S. 327. «3 Ebenda, 1915, S. 427.
Monopol und Staat
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Die gedachten Vertriebsgesellschaften sollten also eine ähnliche Organisationsform haben, wie sie schon beim Kalizwangssyndikat bestand. Der starke staatliche Einfluß sollte eine uferlose Preistreiberei auf Grund der Knappheit verhindern. Im Abschnitt III der Bundesratsverordnung war nun folgende Einschränkung vorgesehen: Wenn sich die Bergwerksbesitzer eines Bezirks, deren Förderung mindestens 97 Prozent derjenigen des Bezirkes ausmacht, freiwillig zusammenschließen, und zwar binnen einer von der Landeszentralbehörde zu bestimmenden Frist, und wenn letztere durch den betreffenden Vertrag die öffentlichen Interessen für genügend gewahrt hält, dann ist von der Ermächtigung zum Zwangszusammenschluß kein Gebrauch zu machen. Diese Bestimmung war speziell auf das Ruhrrevier zugeschnitten. Wollte das R W K S von dieser Möglichkeit des weiteren freiwilligen Zusammenschlusses Gebrauch machen und so den rigoroseren Regelungen des Zwangszusammenschlusses entgehen, so mußten die fiskalischen Zechen mit aufgenommen werden, denn andernfalls wurde nicht der erforderliche Anteil von 97 Prozent der Revierförderung erreicht. Die Landeszentralbehörde, also der preußische Handelsminister, brauchte den „freiwilligen" Vertrag aber nur dann zu genehmigen, wenn er die öffentlichen Belange für gewahrt erachtete. Den RWKS-Mitgliedern blieb also nichts anderes übrig, als entweder die schon früher formulierten Eintrittsbedingungen des Fiskus für das „freiwillige" Syndikat anzunehmen, oder aber sich zwangssyndizieren zu lassen, was erheblich schärfere Aufsicht bedeutet hätte. So kam also das „freiwillige" Syndikat mit Einschluß der fiskalischen Zechen am 15. September 1915 zustande, als sogenanntes „Übergangssyndikat" mit kurzer Laufzeit, während der die Bedingungen des Fiskus endgültig realisiert werden sollten, was dann auch geschah. Der Fiskus erhielt das Recht der Entscheidung, wenn eine Minderheit von wenigstens 30 Prozent aller Stimmen für Preisherabsetzung oder gegen Erhöhung waren. Der Fiskus konnte den Vertrag mit vierwöchiger Frist quartalsweise kündigen — wobei, sollte dieser Fall eintreten, dann die Ermächtigung zum Zwangszusammenschluß wirksam wurde, denn der Rest der Unternehmen repräsentierte weniger als 97 Prozent. Die staatliche Handelsorganisation wurde zwar der Syndikatsorganisation angegliedert, sollte aber im Falle des Austritts des Fiskus automatisch wieder ausscheiden. Nach Verhandlungen mit der „Herne G m b H " und nachdem der Landtag seine Zustimmung gegeben hatte, wurde schließlich durch Gesetz vom 26. Februar 1917 194 die preußische Staatsregierung ermächtigt, den Rest der Hibernia-Aktien zu erwerben. Dadurch erlangte der Fiskus eine Beteiligungsziffer am R W K S von rund 10 Prozent. Nach alledem, was vorangegangen ist, wird klar, daß eine solche Lösung, die nun einen eindeutigen „Sieg" des Fiskus darstellte, nur unter dem Druck der Kriegsverhältnisse möglich war. Wie aber wirkte sich dieser „Sieg" aus? Mit dem 1919 erlassenen Kohlenwirtschaftsgesetz 195 verloren die fiskalischen Werke ihre Sonderrechte. Nachdem sie schließlich in selbständige, nicht der Budgetfinanzierung unterliegende Unternehmen umgewandelt worden waren, schwand trotz parlamentarischer Kontrolle auch der letzte Rest der objektiven Grundlage für eine regulierende Einflußnahme im „allgemeinen" Interesse. 196 So endeten also die — zunächst durchaus ernstgemeinten — Versuche, durch den Ausbau der staatlichen Unternehmerposition, flankiert von gesetzgeberischen Maßnahmen, im Kohlenbergbau regulierend auf die durch das „private" Monopol hervorgerufenen 194 Preußische Gesetzsammlung, 1917, S. 21 f. 195 Siehe dazu Band 2 der vorliegenden Arbeit, Abschnitt I. 196 Ebenda, Abschnitt II.
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Bergbau
Disproportionen einzuwirken. Während die Macht des „privaten" Monopols nicht gebrochen werden konnte, mußte der Ausbau der Unternehmerfunktion des Staates objektiv dazu führen, daß sowohl die „privat"monopolistischen und die staatsunternehmerischen Interessen als auch die betreffenden Institutionen sich immer enger miteinander verflochten und die Staatsunternehmen schließlich die „privat"monopolistischen Regulierungsmechanismen übernahmen beziehungsweise sich ihnen unterordneten.197 197 Weitete Überlegungen zu dieser Problematik siehe das spätere Kapitel 8.
KAPITEL 7
Landwirtschaft - staatliche Regulierung und Selbstregulierung in einem nichtmonopolisierten Bereich
Im letzten Teil des Kapitels 5 ist abgeleitet worden, daß im Vergleich zu den monopolistischen Bereichen die Fähigkeit zur „Selbstregeneration" in den nichtmonopolistischen wesentlich schwächer ist, besonders schwach in den Bereichen der kleinen Warenproduktion, daß nach Maßgabe der Wichtigkeit für die Stabilität des monopolkapitalistischen Gesamtsystems, vor allem dessen politische Stabilität, die Staatseingriffe in diesen „gefährdeten" Bereichen im allgemeinen zunehmen werden und daß staatliche Maßnahmen zugunsten der Mittelschichten heute integrierender Bestandteil der staatsmonopolistischen Politik sind. Will man nun — als Beispiel für einen typischen nichtmonopolistischen Bereich — das Wechselverhältnis von staadicher Regulierung und Selbstregulierung in der Landwirtschaft vor 1914 darstellen, so stößt man zunächst auf nicht unerhebliche Schwierigkeiten. Man kann sich auf keine zusammenfassende marxistische Analyse der Lage der Landwirtschaft zwischen 1870 und 1914 stützen, und auch an Einzelarbeiten liegt allzuwenig vor. Sicherlich ist das auch der Grund dafür, daß in historischen Überblickswerken die Verhältnisse auf dem Lande nur höchst knapp gestreift werden, und daß auch Mottek/ Becker/Schröter im dritten Band der „Wirtschaftsgeschichte Deutschlands" die Entwicklung der Landwirtschaft nicht ausführlich behandeln. Wenn aber noch in den letzten Jahren vor dem ersten Weltkrieg fast ebensoviele Personen in der Landwirtschaft beschäftigt waren wie in den Bereichen Industrie, Handwerk und Bergbau, wenn der Anteil der Landwirtschaft am Nationaleinkommen noch 26 Prozent ausmachte, wenn der deutsche Imperialismus in dieser Entwicklungsphase als junkerlich-bourgeoiser Imperialismus zu charakterisieren ist — wenn man sich dies alles vergegenwärtigt, dann erscheint doch ein Versuch, trotz der genannten Schwierigkeiten, die Landwirtschaft in unser Thema einzubeziehen, gerechtfertigt. Allerdings ist dabei in Kauf zu nehmen, daß eine ganze Reihe von Einzelfragen, die nicht genügend vorgeklärt sind, etwas ausführlicher analysiert und dargestellt werden müssen. Wenn man also zum Beispiel herausbekommen will, wie nun eigentlich das Agrarzollsystem auf die Landwirtschaft gewirkt hat, so müssen ja doch recht viele quantitative Daten vorhanden sein, an denen sich ablesen läßt, wie überhaupt die Entwicklung der Landwirtschaft war. Unter anderem müssen dabei auch solche Einzelfragen, wie die: Wie ist die „Verschuldung" der Landwirtschaft in jenen Jahren zu beurteilen? — erörtert werden. Ferner muß die Lage der bäuerlichen Schichten ebenfalls näher betrachtet werden. In manchen bisherigen Veröffentlichungen ist der Prozeß der Proletarisierung der Bauernschaft schon für jene Zeit als recht erheblich beurteilt worden. Auch diese Problematik ist eingehender zu diskutieren, wenn man die Frage stellt: Wie hat die staadiche Agrarpolitik auf die Lage der Bauern gewirkt? Dieser Aspekt aber gewinnt besondere Bedeutung, wenn man sich eine weitere Frage vorlegt: Wie war es mög-
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Landwirtschaft
lieh, daß die Mehrheit der deutschen Bauern vor dem ersten Weltkrieg auf die Seite der Herrschenden gezogen und zu einer wirklich wichtigen Stütze der reaktionären Politik der Monopolkapitalisten und Junker werden konnte? Als Lenin 1913 die Statistik der Reichstagswahlen von 1912 analysierte, stellte er fest, daß 34,8 Prozent der Stimmen auf die Sozialdemokraten entfielen, 38,8 Prozent auf alle konservativen Parteien zusammen. Er hob hervor, daß in den Großstädten 49,3 Prozent der Stimmen für die Sozialdemokraten abgegeben wurden und schrieb: „In den Dörfern Deutschlands werden fast 3/5 der Stimmen (58,6%) für die konservativen Parteien abgegeben, d. h. für die Parteien der Gutsbesitzer und Pfaffen!" 1 In „Tradition — Klassenkampf — Sozialismus" heißt es zu diesem Problem: „Der überwiegende Teil der Mittelschichten fand jedoch nicht den Weg an die Seite der Arbeiterklasse, wenn von einzelnen Ansätzen, wie zum Beispiel in den Kämpfen gegen das reaktionäre Dreiklassenwahlrecht, abgesehen wird . . . Die ostelbischen Junker mißbrauchten die Mehrheit der Landarbeiter ebenso wie auch die Masse der Klein- und Mittelbauern in den ostelbischen Gebieten für ihre reaktionäre Klassenpolitik. So folgten die kleinbürgerlichen Schichten in Stadt und Land in der übergroßen Mehrheit im Widerspruch zu ihren grundlegenden eigenen Interessen der deutschen Monopolbourgeoisie und den Junkern auf deren verhängnisvollem W e g . " 2 Mit dem Hinblick auch auf die spätere Entwicklung formulierte Hartwig: „Es steht außer Zweifel, daß es der Monopolbourgeoisie und dem Junkertum in den Jahren vor dem ersten Weltkrieg in großem Umfange gelang, die Mittelschichten ideologisch und politisch in ihre Botmäßigkeit zu bringen. Das war ein folgenschwerer Erfolg der Reaktion, der für die Ausbreitung des Chauvinismus, für die Unterstützung des imperialistischen Raubkrieges durch große Teile des deutschen Volkes, für die Sicherung einer Massenbasis der reaktionären Kräfte in der Weimarer Republik und für die Anfälligkeit der Mittelschichten gegenüber der faschistischen Ideologie von großer Bedeutung war." 3 Wie war das nun möglich? In den zuletzt genannten beiden Arbeiten werden sehr richtig die differenzierte ideologische Manipulation, die ständigen, vielfältigen nationalistischen, chauvinistischen und antisemitischen Einwirkungen der herrschenden Klasse durch Schule, Kirche, Presse und reaktionäre Organisationen genannt. 4 Was nun die ländlichen Mittelschichten betrifft, so wird man bei aufmerksamer Betrachtung in der Entwicklung ihrer ökonomischen Lage Aspekte finden, die zweifellos die ideologische Beeinflussung durch die Herrschenden unterstützten. Die Frage wäre dann: Welche Rolle spielte hierbei die staatliche oder staatsmonopolistische Regulierung? 1 2
3
4
Lenin, W. I., Die neuesten Angaben über die Parteien in Deutschland, in: Werke, Bd. 19, S. 259f. Klassenkampf — Tradition — Sozialismus. Von den Anfängen der Geschichte des deutschen Volkes bis zur Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft in der Deutschen Demokratischen Republik. Grundriß, hg. v. Zentralinstitut für Geschichte der Akademie der Wissenschaften der DDR, Berlin 1974, S. 334. Hartwig, Edgar, Zur politischen Haltung der Mittelschichten vor dem ersten Weltkrieg, in: Jenaer Beiträge zur Parteiengeschichte, Nr. 30, Januar 1972, S. 40f. Ausführlich zur Tätigkeit der reaktionären Propagandavereine: Kuc^ynski, Jürgen, Klassenkämpfe im imperialistischen Deutschland und in der BRD, Berlin 1972, S. 240ff.; Derselbe, Studien zur Geschichte des deutschen Imperialismus, Bd. 2: Propagandaorganisationen des Monopolkapitals, Berlin 1950.
Monopolisierte und nichtmonopolisierte Bereiche
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1. Monopolisierte und nichtmonopolisierte Bereiche in der Landwirtschaft Kaum ein anderer Wirtschaftszweig erhielt vor 1914 in Deutschland so starke und direkte staatliche Förderung und Unterstützung wie die Landwirtschaft. Die Landwirtschaft als Ganzes aber kann man für diese Zeit — und auch noch für spätere Perioden der Geschichte des imperialistischen Deutschland — mit gutem Recht als ganz überwiegend nichtmonopolistischen Zweig bezeichnen. „Ganz überwiegend" deshalb, weil sie zwar vom Monopolisierungsprozeß nicht unberührt geblieben war, aber die kartellierte bzw. syndizierte Produktion nur einen kleinen Bruchteil der landwirtschaftlichen Gesamtproduktion ausmachte, nämlich den hauptsächlich im landwirtschaftlichen Nebengewerbe erzeugten Spiritus. Faßt man die gesamte Produktion der Landwirtschaft ins Auge, so bildeten Spritproduktion und Spritsyndikat nur eine Randerscheinung. Jedoch war diese Randerscheinung in vieler Beziehung charakteristisch für die Zeit, und deshalb soll sie gleich eingangs hier erörtert werden. Zwischen 1887 und 1913 wurden jährlich etwa 8—5 Prozent der erzeugten Kartoffeln und durchschnittlich 2—3 Prozent vom Weizen und Roggen zu Spiritus gebrannt, und zwar überwiegend in landwirtschaftlichen Brennereien, und auf dem Gebiet dieses nicht unwichtigen landwirtschaftlichen Nebengewerbes gab es seit 1899 ein Syndikat mit erheblicher Marktmacht, die „Zentrale für Spiritusverwertung GmbH"5. Ein Zuckerkartell bestand nur von 1900 bis 1903. Die Brüsseler Konvention, abgeschlossen am 5. 3. 1902 zwischen den zuckerexportierenden Staaten, beseitigte die Zuckerausfuhrprämien, setzte den Zoll z. B. für Raffinade von 20,00 Mark für 100 kg auf 4,80 Mark herab und ließ damit "wesentliche Voraussetzungen der Marktposition des Kartells wegfallen, woraufhin es sich auflöste. Die Spirituszentrale aber konnte ihre Position mit staatlicher Unterstützung, ja mit Wilhelms II. höchstpersönlicher Förderung, ausbauen. Wie eine Spiegelscherbe geben die Verhältnisse auf dem Gebiet der Brennereiproduktion und der damit zusammenhängenden Gestaltung der Branntweinbesteuerung bestimmte Züge des „junkerlich-bürgerlichen" Monopolkapitalismus im Deutschland jener Zeit wider.6 Die Monopolisierungstendenz wird ausgelöst von der industriellen Verarbeitungsstufe, den Rektifikationsanstalten, die 1897 nach vorausgegangenem starken Preisfall für Spiritus ein Syndikat bildeten, das nun den Brennern als Abnehmermonopol gegenüberstand und 1898 die Gründung einer Monopolvereinigung der Erzeuger hervorrief. 1899 schlössen sich beide Verbände zur genannten Spirituszentrale zusammen, die zunächst 4000 Mitglieder hatte und 1909 schließlich fast 90 Prozent aller Erzeuger umfaßte. Von dem gesamten im Deutschen Reich 1901/02 in Brennereien erzeugten Alkohol — rd. 4,24 Millionen Hektoliter — aber wurden 68 Prozent von landwirtschaftlichen, kartoffelverarbeitenden Brennereien der 6 preußischen Ostprovinzen geliefert 7 : also von den ostelbischen Gutsbetrieben. Der von der Spirituszentrale auf die Abnehmer ausgeübte Druck war erheblich und rief eine zahlreiche Gegnerschaft auf den Plan, was in Handelskammerberichten, in den kontradiktorischen Verhandlungen über die Kartelle und in den Reichstagsdebatten 1909 während der Verhandlungen zur Reichsfinanzreform zum Ausdruck kam. Am 11. Maj Siehe dazu: Briefs, Götz, Das Spirituskartell, Karlsruhe 1912.; Nussiaum, Helga, Unternehmer gegen Monopole. Über Struktur und Aktionen antimonopolistischer bürgerlicher Gruppen zu Beginn des 20. Jahrhunderts, Berlin 1966, S. 142 ff. 6 Näheres dazu: Nussiaum, Helga, Unternehmer gegen Monopole, a. a. O. ' Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich 1903, S. 55. 5
13 Nuubaum, Wirtschaft
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Land wittschaft
1909 war das Spiritussyndikat vom Reichskammergericht wegen Verstoßes gegen „die guten Sitten" verurteilt worden.8 Die Marktmacht, die das Spiritussyndikat trotz der großen Teilnehmerzahl auszuüben imstande war — „normalerweise" war eine Vereinigung mit großen Teilnehmerzahlen wenig stabil — gründete sich ohne Zweifel in erster Linie auf die staatliche Regelung der Branntweinbesteuerung. Branntweinerzeugung und/oder -verbrauch war ja von jeher in den meisten Ländern eine wichtige Quelle für Finanzsteuern. In der Schweiz bestand seit 1886, in Rußland seit 1894 ein staatliches Finanzmonopol für Branntwein, in den meisten anderen europäischen Ländern gab es Fabrikations- und/oder Verbrauchssteuern.9 In Deutschland erhielten Gesetzesvorlagen der Reichsleitung zur Errichtung eines staatlichen Branntweinmonopols 1887 und 1909 keine Mehrheit im Reichstag, erst 1918 bzw. 1922 wurde das staatliche Branntweinmonopol Gesetz. Das Branntweinsteuergesetz, daß anstelle des Monopolgesetzes am 24. Juni 1887 erlassen wurde10, verfolgte den Zweck, zugleich die Überproduktion zu verhindern oder zu drosseln, die Steuereinnahmen zu heben und die landwirtschafdichen Brennereien zu privilegieren. Es wurde zusätzlich zu den schon bestehenden Steuern eine Fabrikatsteuer erhoben und ein Produktions-,, Kontingent" eingeführt, das steuerlich begünstigt war. Das Gesamtkontingent für das Reichsgebiet wurde auf die bestehenden Brennereien verteilt, wobei die landwirtschaftlichen Brennereien stark begünstigt wurden und neu entstehende gewerbliche Brennereien kein Kontingent erhielten. Wie schließlich 1909 im Reichstag mitgeteilt wurde, lagen zu der Zeit 71 Prozent aller mit Kontingent begabten Brennereien in Ostelbien.11 Die Höhe des Kontingents wurde niedriger bemessen als Verbrauch plus Export, und infolgedessen wurde stets mehr gebrannt als das Kontingent betrug.12 So erzeugten 1906/07 die „kontingentierten" Brennereien13 rund 2,28 Millionen Hektoliter, die sie zum niedrigen Kontingentsteuersatz versteuerten (50 Mark pro Hektoliter bis 1909, ab 1909105 Mark), und zusätzlich 1,37 Millionen Hektoliter, die zum Überkontingentssatz versteuert werden mußten (70 Mark pro Hektoliter bis 1909, ab 1909 125 Mark). Die Spanne zwischen den beiden Sätzen betrug also 20 Mark pro Hektoliter. Da die Überkontingentsmenge aber zur Marktversorgung nötig war und zusätzlich zu diesem Faktor die Spirituszentrale eine Monopolstellung besaß, konnte der höhere Steuersatz auf den Preis abgewälzt werden! 14 Auf diese Weise erhielten die kontingentierten Brennereien — in der Mehrheit also die ostelbischen Gutsbrennereien — für gut zwei Drittel ihrer Produktion eine Prämie, eine Steuerprämie oder einen monopolistischen Extraprofit von 20 Mark pro Hektoliter. Dieses von den Opponenten als „Liebesgabe" bezeichnete Steuergeschenk des Staates — man könnte auch sagen, diese Sonderbesteuerung der Verbraucher zugunsten der Junker —, das durch die Monopolisierung realisiert werden konnte, kam nun tatsächlich in der Hauptmasse den Großgrundbesitzern zugute, denn bäuerliche Betriebe hatten ja kaum Brennereien.15 Bei manchen anderen staatlichen Zuwendungen oder anderen Umvertei8 Reicbstagsbericbte, Bd. 237, S. 9005ff. v. Bitter — Handwörterbuch der Preußischen Verwaltung, hg. v. Bill Drews u. Franz Hoffmann, 3. Aufl., Bd. 1, Berlin 1928, S. 317ff. 10 RGBL, 1887, S. 253. " Reicbstagsbericbte, Bd. 237, S. 9014. 12 Vgl. Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich, lfd. 13 Ebenda, 1911, S. 74. 14 Hecke!, Max von, Artikel: „Branntweinsteuer", in: Wörterbuch der Volkswirtschaft in zwei Bänden, hg. v. Ludwig Elster, 3., völlig umgearb. Aufl., Bd. 1, Jena 1911, S. 578. 1 5 In der Provinz Ostpreußen gab es 1907 275 Brennereien. Davon waren 5 gewerbliche Brennereien, di e nu 9
Monopolisierte und nichtmonopolisierte Bereiche
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lungsmaßnahmen, wie den Agtarzöllen oder etwa niedrigen Eisenbahntarifen für Düngesalze, war der Empfängerkreis keineswegs so eng begrenzt, wovon noch die Rede sein wird. Daß die erste und lange Zeit einzige Monopolvereinigung in der Landwirtschaft — wenn man einmal von dem kurzlebigen Zuckerkartell absieht — sich gerade auf dem Gebiet der Spiritusproduktion bildete, ist nicht verwunderlich. Einmal handelte es sich um ein leicht zu klassifizierendes Produkt mit eindeutig festlegbaren Eigenschaften, das zudem nicht dem Verderb ausgesetzt und leicht zu überregionalen Märkten transportierbar war. Außerdem ging die Zahl dei Produzenten nicht wie bei anderen Agrarprodukten in die Millionen, sondern sie war einmal ökonomisch begrenzt — im wesendichen auf die Gutswirtschaften, was die landwirtschaftlichen Brennereien betraf — und zum anderen durch die Steuergesetzgebung beschränkt und streng erfaßt. Überaus bezeichnend jedoch für den Einfluß der Junker auf die wirtschaftspolitische Gesetzgebung ist eben die staatliche Stützung der junkerlichen Spritproduktion. Der Betrieb von Kartoffelbrennereien hat zweifellos die Reinerträge von ostelbischen Gutswirtschaften erhöht. Ende der zwanziger Jahre, als dieses Problem noch immer aktuell war, ist in einer Untersuchung von 1150 Buchabschlüssen „ostdeutscher Betriebe" nachgewiesen worden, daß die Reinerträge der Güter mit Brennereien bei allen Bodenklassen beträchtlich größer waren als die der Güter ohne Brennereien.16 Die Junker wußten nun dieses ihr handfestes Privatinteresse „mit lauter Stimme für identisch mit dem Gesamtinteresse" zu erklären: ohne Brennereien keine Intensivierung der Agrarproduktion auf den leichten Böden des Ostens. Ebenso wie in den Reichstagsdebatten 190917 von konservativer Seite wurde noch 1926 im Regierungsentwurf eines Spiritusmonopolgesetzes argumentiert: „Der weitaus größte Teil des in Deutschland hergestellten Branntweins kommt aus den landwirtschaftlichen Brennereien. Die große Mehrzahl dieser Brennereien gehört zu landwirtschaftlichen Gütern, deren leichte Böden nur den Anbau von Kartoffeln und Roggen gestatten. Diese Güter sind darauf angewiesen, den Teil ihrer Kartoffeln, der zu Speisezwecken keinen Absatz findet, anderweit zu verwerten. Dies geschieht am zweckmäßigsten durch Verarbeitung auf Branntwein, da der dabei anfallende Rückstand (die Schlempe) ein sehr wertvolles Futtermittel ist, das zur Vermehrung des Viehstandes und des für die leichten Böden unbedingt notwendigen Stalldüngers beiträgt. Maßnahmen, die die landwirtschaftlichen Brennereien zwingen würden, die Branntweinerzeugung allzu stark einzuschränken oder ganz einzustellen, würden extensive Bodenbewirtschaftung mit all ihren nachteiligen Begleiterscheinungen zur Folge haben . . . Aus diesen Erwägungen war die Branntweinsteuer- und Monopolgesetzgebung des Reichs von jeher auf den Schutz der landwirtschaftlichen Brennerei eingestellt. Die Reichsregierung hält an dieser Einstellung grundsätzlich fest." 18 Unerklärt läßt die Argumentation die Tatsache, daß auch in den ostelbischen Gebieten, sowohl auf leichteren als auch auf besseren Böden, die bäuerlichen
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etwa 2 Prozent der jährlichen Alkoholmenge erzeugten. Zwei Brennereien gehörten zu Betrieben mit 20—50 Hektar, vier weitere zu Betrieben mit 50—100 Hektar. Dies waren, wie Hansen schreibt, wahrscheinlich genossenschaftliche Brennereien. 264 Brennereien, also 96 Prozent, gehörten zu Betrieben von über 100 Hektar, und 83 Prozent zu Betrieben von über 200 Hektar (Hansen, ]., Die Landwirtschaft in Ostpreußen, Jena 1916, S. 381, 384). Henkelmann, Werner, Der deutsche Kartoffelbau, in: Deutsche Agrarpolitik im Rahmen der inneren und äußeren Wirtschaftspolitik, 1. T„ Berlin 1932, S. 200=Veröffentlichungen der Friedrich List Gesellschaft e. V., Bd. 5. Reicislagsiericble, Bde 233 u. 237.
18
Henkelmann, Werner, a. a. O., S. 200.
16
13*
Landwirtschaft
182
Betriebe durchweg einen relativ weit höheren Viehbesatz aufzuweisen hatten als die Gutsbetriebe, also intensiver wirtschafteten, und dies ohne Brennereien (Vgl. Tabelle 36). Tabelle 36 Rinderhesatzpro
100 ha landwirtschaftliche
Gebiet
Nutzfläche 1907 Größenklasse 5 - 2 0 ha
20-100 ha
100 u. mehr ha
77 71
59 56
45 47
32 29
67
55
37
26
( 2 - 5 ha) 6 preußische Ostprovinzen plus Mecklenburg-Schwerin Provinz Posen Provinz Brandenburg mit Berlin Quelle: Die Deutsche Landwirtschaft. Berlin 1913, S. 202.
Hauptergebnisse der Reichsstatistik. Bearb. im Kaiserl. Statist. Amt,
Die mit der staatlichen Gesetzgebung verklammerte und von ihr gehätschelte Monopolvereinigung der Junker ändert aber nichts an der Tatsache, daß die Hauptmasse der landwirtschaftlichen Produktion nicht monopolisiert war. Das trifft auch auf die Hauptmasse der Produktion der junkerlichen Betriebe zu. Die Gründe dafür liegen fast auf der Hand, sollen aber trotzdem erwähnt werden. Sie sind objektiver Natur — wie das geschilderte Beispiel zeigt, war der Wille, sich dieser neuen Form des Syndikats oder Kartells zu bedienen, bei den Großgrundbesitzern durchaus vorhanden. Der Hauptgrund lag natürlich in dem niedrigen Konzentrationsgrad. Wenn man auch die kleinen Parzellen mitzählt, so gab es 1907 über 5,7 Millionen landwirtschaftliche Betriebe (Anhangtabelle 10), in denen rund 9,6 Millionen Menschen19 hauptberuflich tätig waren, also im Durchschnitt knapp 1,7 Personen pro Betrieb. Gliedert man aus der Gesamtzahl diejenigen Betriebe aus, die als Verkäufer von Agrarprodukten in Betracht kommen, also die Betriebe ab 5 ha, so bleiben noch immer rund 1,35 Millionen Betriebe, davon nur 23566 solche über 100 ha. Das „nur" bezieht sich hier auf die Gegenüberstellung zu der großen Zahl der übrigen Marktproduzenten — absolut genommen war auch diese Zahl von über 23000 über das ganze Reichsgebiet verstreuten Großwirtschaften zu hoch für eine reibungslose Monopolbildung. Zwar trugen die Märkte für eine Reihe von Agrarerzeugnissen — wie Milch, Eier, Fleisch — mehr regionalen Charakter, was die regionale Verbandsbildung hätte begünstigen können, wenn die Zahl der Produzenten nicht übermäßig groß ist — siehe Ziegeleikartelle —, aber die Märkte waren wiederum nicht so voneinander abgeschlossen, daß nicht Preisunterbieter aus anderen Regionen hätten auftreten können — wie im Falle von Fleisch. Bei diesem Produkt hatte ja die fortschreitende Kühltechnik gerade in der hier zu betrachtenden Zeitspanne sogar zunehmend Importe aus Übersee ermöglicht. Ein weiteres, wenn auch zunächst untergeordnetes, aber in späteren Jahrzehnten mehr hervortretendes Hindernis war das niedrige Niveau der Standardisierung in der Agrarproduktion, besonders in der tierischen Produktion. Erst mit dem Ausbruch der neuerlichen Agrarkrise in den 1920er Jahren begann man in Deutschland die Standardisierung 19
Die deutsche Landwirtschaft. 1913, S. 25.
Hauptergebnisse der Reichsstatistik. Bearb. im Kaiserl. Statist. Amt, Berlin
Monopolisierte und nichtmonopolisierte Bereiche
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staatlicherseits stärker zu fördern, um damit eine Basis für einen kartellähnlichen Ausbau der „genossenschaftlichen" Verbände in der Landwirtschaft zu schaffen.20 Wie war nun die Marktposition der ländlichen Erzeuger- und Absatzgenossenschaften vor 1914? Gab es hier Ansätze zu monopolähnlicher Marktstellung auf einzelnen Gebieten? Werfen wir zunächst einen Blick auf einige andere Länder, in denen das offensichtlich der Fall war. Über Finnland berichtet der finnische Historiker J. Kalela, daß das Genossenschaftswesen um 1900 staatlich stark gefördert und genossenschaftliche Zentralbetriebe gebildet wurden, die zwischen 1900 und 1920 allmählich eine monopolistische Stellung in der Weiterverarbeitung und dem Absatz von Agrarprodukten erlangten. Für die Folgezeit spricht er von „Genossenschaftsmonopolen".21 Auch in Dänemark, das eine ähnliche Struktur des Agrarexports entwickelte wie Finnland (Butter, Schweinefleisch, Eier), entwickelten sich vom Ende der 1880er Jahre ab die landwirtschaftlichen Weiterverarbeitungs- und Absatzgenossenschaften in einem Ausmaß, das nach Ansicht zeitgenössischer Beobachter in Europa einzig war. 22 Aus den gründlichen Untersuchungen von Brinkmann, der viel statistisches Material über Produktionsmengen und -kosten, die angeschlossenen Betriebe nach Größenklassen, die Position im Absatz und die Organisation der Molkerei-, Schlächterei- und Eierabsatzgenossenschaften bringt, ist zu entnehmen, daß die zentralisierten Verbände tatsächlich kartellähnliche oder gar Kartellfunktionen gehabt haben müssen, zumindest in bezug auf den exportierten Teil der Produktion, der aber der weit überwiegende Teil war. Diejenigen Betriebe, die Schlächtereigenossenschaften angeschlossen waren, besaßen 51,6 Prozent des gesamten Schweinebestandes — machten aber nur 28 Prozent aller Betriebe aus. Der Schwerpunkt der Mitgliedschaft, sowohl in bezug auf die Zahl der Betriebe als auch in bezug auf den Schweinebestand, lag bei den Betrieben zwischen 5 und 60 ha. 23 1906 gab es in Dänemark 31 Schlächtereigenossenschaften mit einer durchschnittlichen Mitgliederzahl von 2333. Im Durchschnitt verarbeitete jede der zentralen Genossenschaftsschlächtereien 38000 Schweine im Jahr. Die größte von ihnen, die in Kolding, hatte 1906 7250 Mitglieder und verarbeitete 97394 Schweine.24 Brinkmann schätzt sie ein als „wirtschaftliche Unternehmungen größten Stils, die auf dem Gebiet des Vieh- und Fleischverkehrs in Europa kaum ihresgleichen finden dürften." 25 Sämtliche Schlächtereigenossenschaften schlössen sich 1897 zu dem Verband „Die vereinigten dänischen Genossenschaftsschweineschlächtereien" zusammen.26 Das Programm dieses Verbandes erstreckte sich auf folgendes: Die „Verordnung des Reichspräsidenten zur Sicherung von Wirtschaft und Finanzen" vom 1. 12. 1930 (RGBl., 1930 I, S. 517ff.) ermächtigte die Reichsregierung, für landwirtschaftliche Erzeugnisse Handelsklassen zu schaffen. 21 Kalela, Jorma, Uber die staatsmonopolistische Entwicklung in Finnland bis 1939. (Vortrag, gehalten am 31. 3. 1976 am Institut für Wirtschaftsgeschichte der Akademie der Wissenschaften der DDR.) 22 Hollmann, Anion Heinrich, Die Entwicklung der dänischen Landwirtschaft unter dem Druck der internationalen Konkurrenz und ihre gegenwärtige-Stellung auf dem Weltmarkt, Berlin 1904; Brinkmann, Theodor, Die dänische Landwirtschaft. Die Entwicklung ihrer Produktion seit dem Auftreten der internationalen Konkurrenz und ihre Anpassung an den Weltmarkt vermittels genossenschaftlicher Organisation, Berlin 1908—Abhandlungen des staatswissenschaftlichen Seminars zu }ena, Bd. 6; Pudor, Heinrich, Das landwirtschaftliche Genossenschaftswesen im Auslande, Bd. 1: Das landwirtschaftliche Genossenschaftswesen in den skandinavischen Ländern, Leipzig 1904. 23 Brinkmann, Theodor, a. a. O., S. 126f. 24 Ebenda, S. 128f. » Ebenda, S. 128, 26 Zur Tätigkeit dieses Verbandes: Ebenda, S. 134ff. 20
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Landwirtschaft
1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.
Wahrnehmung der Schlächtereiinteressen gegenüber der Gesetzgebung. Hebung der Fleischqualität mit allen Mitteln. Verbesserung der Transport- und Absatzverhältnisse. Gemeinsame Preisnotierung. Gemeinsames Auftreten in Arbeiterfragen. Förderung der Schweinezucht. Ausarbeitung einer vergleichenden Statistik. Stärkung des Gemeinsinns und Belehrung der an der Spitze der Schlächtereien stehenden Persönlichkeiten. Seit Gründung besaß der Verband einen mit einem Staatszuschuß angestellten technischen Beirat, außerdem stellte das Versuchslaboratorium der Kopenhagener landwirtschaftlichen Hochschule seine wissenschafdichen Hilfsmittel in den Dienst des Verbandes. Wenn auch eine Reihe der angeführten Punkte den Programmen etwa der Landwirtschaftlichen Zentralvereine in Deutschland entsprachen, so gehen doch andere weit darüber hinaus. „Gemeinsame Preisnotierung" ist eine eindeutige Kartellfunktion. Zwar waren die gemeinsamen Preisnotierungen aller Genossenschaften bis 1906 noch nicht zustande gekommen, aber bei der Gruppe der Genossenschaften in Jütland und Fünen, die fast ausschließlich für den Export nach Großbritannien arbeiteten, funktionierte die Preisabsprache bereits. Auch auf den lokalen Märkten waren die Schlächtereigenossenschaften nach Brinkmann soweit beherrschend, daß sie die ausschlaggebenden Faktoren bei der Preisbildung darstellten.27 Wie aus dem Arbeitsprogramm weiter hervorgeht, übte der zentrale Verband, ganz wie anfangs die industriellen Kartelle in Deutschland, zugleich die Funktion des „Arbeitgeberverbandes" aus. Brinkmann berichtet: „Auch in Arbeiterfragen geht der Verband gemeinsam vor, was sich als besonders notwendig erweist, da die Genossenschaften als Unternehmer festen Arbeiterorganisationen gegenüberstehen. Durch Arbeiterausstände könnten den Genossenschaften unermeßliche Verluste erwachsen, und daher bedeutet es für sie geradezu eine Lebensfrage, mit den Arbeitern in friedlichem Verhältnisse zu stehen oder doch etwaigen Streiks wirksam begegnen zu können. Als im Jahre 1902 die Hafenarbeiter in Esbjerg mit Arbeitseinstellung und dadurch mit einem Schlage sozusagen die gesamte Schweineausfuhr Dänemarks zu unterbinden drohten, gelang es den vereinigten Schlächtereigenossenschaften, indem sie unter ihren Mitgliedern ein Arbeiteraufgebot organisierten, das zur sofortigen Aufnahme der niedergelegten Arbeit bereit stand, die Gefahr abzuwenden. Ferner ist es dem Verbände nach längeren Verhandlungen mit dem dänischen Schlächtereiarbeiterverband geglückt, auf der Basis eines gemeinsamen Arbeits- und Lohnregulativs das Arbeitsverhältnis zu regeln und eine Ausgleichsstelle zur Vorbeugung und Schlichtung von Streiks zu schaffen. Endlich besteht zwischen den Genossenschaften ein Übereinkommen dahin, daß etwaige Verluste, die einzelnen Genossenschaften infolge unverschuldeter Streiks erwachsen, von der Gesamtheit getragen werden." 28 Den Molkereigenossenschaften waren von den Betrieben von 5 ha bis 238 ha über 80 Prozent angeschlossen, und 76 Prozent der gesamten Milchmenge des Landes wurde in diesen Molkereien verarbeitet.29 Die übrigen Verhältnisse lagen ähnlich wie bei den Schlächtereigenossenschaften, nur waren die Genossenschaften und die Molkereien im Durchschnitt 27 Dazu auch: Hol/mann, Anton Heinrich, a. a. O., S. 112f. 28 Brinkmann, Theodor, a. a. O., S. 136. 2» Ebenda, S. 63, 66.
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Monopolisierte und nichtmonopolisieite Bereiche
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kleiner als die Schlächtereigenossenschaften und ihre Betriebe, aber die Durchschnittsgröße der Molkereien betrug dennoch das Doppelte der Durchschnittsgröße der deutschen Molkereien. 30 In Deutschland gab es zwar auch eine große Anzahl von ländlichen Genossenschaften, aber hier lag das große Schwergewicht in den Kreditgenossenschaften.31 Noch für die 20er Jahre schreibt Beckmann: „Wir haben zwar in Deutschland eine gewisse Erzeugung durch die Genossenschaften, aber beim Absatz ist die Genossenschaft bisher weit zurückgeblieben." 32 Die genannte „Erzeugung" betraf vor allem die Molkereigenossenschaften, der nach den Kredit- und den Bezugsgenossenschaften wichtigsten Genossenschaftsform in der Landwirtschaft. Nach den Zusammenstellungen des Reichsverbandes der deutschen landwirtschaftlichen Genossenschaften gab es 1908 3146 Molkereigenossenschaften mit einer durchschnittlichen Mitgliederzahl von 98. Von den 1719 Genossenschaften, die genauer berichtet hatten, betrieb etwas über die Hälfte auch Milch ttn^¿re' Fällen vergrößerten Besitzer mit weniger als 2 Hektar ihren Besitz und kamen dadurch in die Gruppe von 2 bis 5 Hektar. So ergab sich insgesamt ein Rückgang von 37 auf 28 Bauern in dieser Gruppe. In der Gruppe von 5 bis 10 Hektar sehen wir ebenfalls 12 Veränderungen: in zwei Fällen Aufstieg in die nächsthöhere Gruppe, in zwei Fällen Ausscheiden nach unten; sieben kleinere Bauern kamen von unten her in die Gruppe von 5 bis 10 Hektar Bodenfläche und ein Bauer von oben aus der Gruppe mit mehr als 10 Hektar Ackerland. In der Gruppe von 10 bis 20 Hektar vollzogen sich drei Veränderungen, indem sich ein Bauer verkleinerte und dadurch unter 10 Hektar fiel, zwei andere jedoch durch Besitzvergrößerung von unten her in die Gruppe aufstiegen." 130 (Meine Hervorhebung — H. N.) Die wirkliche Bewegung setzt sich also aus Aufsdegen und Abstiegen zusammen, wobei in diesem Dorf die Zahl der Aufstiege die Zahl der •Abstiege'übertrifft. Dieselbe Tendenz zeigte sich auch im Dorf Crostwitz.131 Natürlich kann man aus diesen Einzelbeispielen nicht ableiten, daß auch insgesamt im Deutschen Reich, noch dazu in „unserer", d. h. einer kürzeren als der von Solta untersuchten Periode, die Zahl der Aufstiege die Zahl der Abstiege übertroffen habe. Aus dem ganzen bisher erörterten Komplex von Bedingungen jedoch läßt sich zumindest soviel ableiten, daß man auf keinen Fall alle 10000 der aus der Statistik „verschwundenen" Kleinbauern als proletarisiert annehmen kann, sondern daß ein Teil von ihnen — ein wie großer läßt sich nicht sagen — in die Gruppe der Mittelbauern aufgerückt sein wird. Faßt man spätere Zeiträume ins Auge, besonders die Zeit nach dem zweiten Weltkrieg in der BRD, so muß man für die 2 Jahrzehnte vor dem ersten Welt130 Solta, Jan, Die Bauern der Lausitz, a. a. O., S. 169f. 131 Ebenda, S. 173f.
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Landwirtschaft
krieg die Stabilität des kleinbäuerlichen Sektors — trotz der deutlichen Tendenzen der Landwirte zum Nebenerwerb132 — für noch immer bemerkenswert halten. In den unterbäuerlichen Größenklassen dagegen nahm die Umschichtung und Fluktuation offensichtlich größere Ausmaße an. Hier hatten schon 1895 die selbständigen Landwirte mit Hauptberuf in der Landwirtschaft die Minderheit aller Betriebsinhaber gebildet: 32,2 Prozent in der Gruppe 0,5—2 ha und 6,3 Prozent in der Gruppe bis 0,5 ha. (Während es bei den Kleinbauern noch 72,2 Prozent waren; Anhangtabellen 24 und 25). Die Bezeichnung „proletarische Wirtschaften", die für diese Größenklassen in unserer Literatur häufig benutzt wird, trifft zwar auf die Mehrheit, aber nicht auf alle Betriebstypen dieser Größenklassen zu: z. B. nicht auf die landwirtschaftlichen Betriebe der Selbständigen in Industrie, Handel, Verkehr und Gaststättengewerbe. Die Betriebsinhaber, die das eben Aufgezählte als Hauptberuf angaben, machten in der Gruppe 0,5—2 ha 1895 23,7 Prozent, in der Gruppe unter 0,5 ha 20,8 Prozent aus (Anhangtabelle 24). Außerdem sind auch Betriebe unter 2 ha in den Obst- und Weinbaugegenden West- und Süddeutschland nicht unbedingt als proletarische Betriebe anzusehen. Wenn also im folgenden trotzdem der Begriff „proletarische Wirtschaften" benutzt wird, so sind die eben gemachten Einschränkungen im Auge zu behalten. Die Zahl der Kleinstellenbetriebe (0,5—2 ha) hatte sich 1907 gegen 1895 um rund 89000 vermindert, die der Zwergbetriebe (bis 0,5 ha) um rund 231000 vermehrt. Wie aus der Anhangtabelle 24 zu ersehen ist, verminderte sich aber bis 1907 die Zahl der selbständigen hauptberuflichen Landwirte in beiden Gruppen, bei den Zwergbetrieben um 27,4 Prozent und bei den Kleinstellenbetrieben um 18,5 Prozent. Etwa ebenso stark verminderte sich die Zahl der Betriebsinhaber mit dem Hauptberuf „Unselbständige in der Landwirtschaft", also der hauptberuflichen Tagelöhner, Knechte und Mägde, und zwar besonders stark in der Gruppe 0,5—2 ha (um 28,6 Prozent). Dagegen stieg die Zahl der Betriebsinhaber mit den Hauptberufen „Unselbständige in Industrie, Handel, Verkehr, Gaststättengewerbe" in beiden Gruppen zusammen um 362249 oder um 42,6 Prozent. In der Gruppe der Parzellenbetriebe (bis 0,5 ha), deren Zahl sich ja auch so stark vermehrt hatte, stieg der Prozentsatz der Unselbständigen in der Industrie usw. unter den Betriebsinhabern von 1895 bis 1907 von 32 auf 41,8 Prozent. Obwohl es nicht angeht, die Zahlen der Vermehrung und Verminderung einfach gegeneinander aufzurechnen, weil offensichtlich viele sich überkreuzende Fluktuationen stattgefunden haben, scheint sich doch in den Zahlen eines deutlich abzuzeichnen: Die Vermehrung der Zahl der Unselbständigen mit Hauptberuf im Gewerbe als Betriebsinhaber kann nicht allein durch die Abwanderung der Kleinst- und Zwerglandwirte und Landarbeiter in den gewerblichen Hauptberuf erklärt werden. Gerade auch die Vermehrung der Parzellen betriebe deutet darauf hin, daß hier tatsächlich ein „Eindringen der gewerblichen Bevölkerung", wie es das Kaiserliche Statistische Amt formulierte, stattgefunden hat. Mit anderen Worten: Beschäftigte im Gewerbe, vorwiegend Arbeiter, pachteten kleine Gartenparzellen. Eine weitere Aufschlüsselung der Betriebskategorie unter 0,5 ha zeigt, daß sich die Zunahme der „Betriebe" tatsächlich in der Hauptsache auf die Zunahme der Gärten erstreckt. 133 132 Möglicherweise war für diesen Sektor gerade die in der Aufschwungsphase sich bietende Möglichkeit Nebenerwerb ein wichtiges Moment dieser relativen Stabilität.
133 £)je deutsche Landwirtschaft, a. a. O., S. 34.
zum
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Die Lage der bäuerlichen Schichten
Zwischen 1885 und 1907 wuchs die Zahl der „Betriebe": 52622 unter 200 m 2 um 96342 2 0 0 - 500 m 2 um 75396 500-2000 m 2 um 6783 2000-5000 m 2 um insgesamt unter 0,5 ha um
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Was sich nun aus dem Zahlenmaterial für diese unterbäuerlichen Größenklassen herauslesen läßt, ist zweifellos als ein Proletarisierungsprozeß zu betrachten. Zu vereinfacht ist aber die Ableitung, die Dillwitz gibt. Sie faßt die beiden Größenklassen der Parzellenbetriebe und der Kleinststellenbetriebe zusammen. Wie schon hier angeführt, haben sich die Parzellen um 231000 vermehrt, die Kleinstellen um 89000 vermindert. Faßt man beides zusammen, ergibt sich ein Überschuß der Vermehrung um 142000 (und wie eben nachgewiesen ist dieser Überschuß hauptsächlich durch die Vermehrung der Gärten zu erklären). Daraus zog Sigrid Dillwitz nun den Schluß: „Das zahlenmäßige Wachstum der proletarischen Wirtschaften war ein Ausdruck des Proletarisierungsprozesses der Bauernschaft" und „der Zuwachs rekrutierte sich im wesentlichen aus ruinierten Kleinbauernbetrieben." 134 Gerade die zuletzt genannte Schlußfolgerung ist aber ganz unwahrscheinlich. Wie soll sich der Zuwachs an 231000 Parzellenbetrieben (bis 0,5 ha) „im wesentlichen" aus ruinierten Kleinbauernbetrieben rekrutieren, wo letztere nur um 10000 abgenommen haben? Und wieso ist eine starke Zunahme der Kleinparzellen, die von Industriearbeitern bewirtschaftet werden, ein Ausdruck des Proletarisierungsprozesses „der Bauernschaft" ? Mit dem Begriff „Proletarisierung" muß man vorsichtig umgehen und die Folgen des ihm zugrunde liegenden Prozesses sehr differenziert betrachten. Bei fehlender oder sehr schwacher Industrialisierung müßte man ein derartiges zahlenmäßiges Wachstum von Parzellenbetrieben (bei nicht gartenmäßig betriebener Landwirtschaft) zweifellos als echte „Proletarisierung der Bauernschaft" betrachten. Wenn aber die Zunahme der Zwergbetriebe und die Bewegung der Haupt- und Nebenberufslandwirte darauf hinweist, daß sowohl die selbständigen Landwirte als auch die Landarbeiter mit Zwergbesitz ihren Hauptberuf in der Landwirtschaft aufgeben und in der Industrie zu arbeiten beginnen, während gleichzeitig andere Industriearbeiter in großem Ausmaß Gartenparzellen erwerben, und während ferner gleichzeitig die bäuerlichen Größenklassen sich stabilisieren, so kann man nicht schlechthin von einer Proletarisierung „der Bauernschaft" sprechen. Man müßte diesen Prozeß eher so beschreiben: Der Charakter der proletarischen Betriebe in der Landwirtschaft ändert sich, sie scheiden bis zu einem gewissen Grade aus der Landwirtschaft als Erwerbszweig aus und werden mehr zu einem Anhängsel der Industrie als der Landwirtschaft. (Bei den zahlreichen neu entstehenden Schrebergärten der Industriearbeiter ist der nicht-landwirtschaftliche Charakter ganz eindeutig.) Man müßte also eher von einer Verdrängung des Typs der proletarischen Wirtschaften aus der Landwirtschaft sprechen und nicht von Zunahme dieses Typs. Die Zwerg- und Kleinstlandwirte, die zur Arbeit in der Industrie übergehen, ohne ihren Besitz aufzugeben, werden zweifellos weiter proletarisiert. Nur muß man das im soziologischen Sinne verstehen und darf mit diesem Proletarisierungsvorgang nicht ohne weiteres die Vorstellung verbinden, daß die konkrete Lebenslage der Betreffenden sich damit absolut verschlechtert habe. 134
DUlmtz, Sigrid, a. a. O., S. 93.
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Landwirtschaft
Unter den Bedingungen einer längeren Aufschwungsphase, wie sie sowohl in der Landwirtschaft als in der Industrie 2wischen den 1890er Jahren und 1913 zu verzeichnen war, also stark wachsender Industriebeschäftigung, steigenden Nominallöhnen und steigenden Lebensmittelpreisen, mußte die soziale Sicherheit der in der Industrie arbeitenden Kleinstbesitzer %unebmen\ Sie konnten sich der Saisonarbeitslosigkeit bzw. den niedrigen Winterlöhnen in der Landwirtschaft entziehen, sie hatten nicht so stark unter den steigenden Lebensmittelpreisen zu leiden, sie konnten Zeiten industrieller Arbeitslosigkeit leichter überstehen. Wenn man also im soziologischen Sinne sehr wohl in diesen Fällen von „Ruinierung" — nämlich der ausschließlichen Existenz als Kleinbesitzer — und „Hinabschleudern ins Proletariat" sprechen kann, so mußte das subjektiv nicht unbedingt als Ruin und Absinken empfunden werden, sondern eher als Hin^ugewinnung neuer Existenzgrundlagen. Diese Unterscheidung ist sehr wichtig, denn sie vermag zu erklären, warum dieser Umschichtungsprozeß in den unterbäuerlichen Gruppen so rapide und so relativ reibungslos verlief, und auch, warum solche Arbeitergruppen zunächst nur schwer für die notwendigen Kampfaktionen des Industrieproletariats zu gewinnen waren. Fassen wir das bisher Abgeleitete zusammen: Während im Bereich der proletarischen Wirtschaften die Proletarisierung rasch fortschritt, Kleinsdandwirte und LandarbeiterBetriebsinhaber zu Industriebeschäftigten wurden und das von ihnen weiter bewirtschaftete Land aus dem Grenzbereich der Erwerbslandwirtschaft mehr und mehr ausschied, während von diesem Prozeß auch einige, aber noch geringe Teile der Kleinbauern erfaßt wurden, konnte sich die übergroße Mehrheit des bäuerlichen Besitzes in der Aufschwungswelle nach 1895 festigen. Letzteres hatte eine schwer zu überschätzende Auswirkung auf die politische Haltung der Bauernschaft, und zwar nicht nur in der hier betrachteten Zeit, sondern auch im Hinblick auf spätere Jahrzehnte. Am Schluß dieses Abschnittes wäre noch eine Frage zu erörtern: Bestätigt die „Bewegung" der Betriebsgrößen in der Zählungsperiode 1895 bis 1907 — die sich auch bis zur Zählung 1925 fortsetzte135 —, d. h. die zahlen- und flächenmäßige Ausdehnung der Betriebe zwischen 5 und 20 ha und die zahlen- und flächenmäßige Verringerung der Betriebsgrößen über 20 ha, die These von der Überlegenheit des Kleinbetriebes über den Großbetrieb in der Landwirtschaft? Bekanntlich hat diese von bürgerlichen und rechtssozialdemokratischen Ökonomen aufgestellte These vom Ende des 19. Jahrhunderts bis in die 1950er und 1960er Jahre hinein immer wieder dazu gedient, die marxistische Auffassung von der Gesetzmäßigkeit des Konzentrationsprozesses zu bekämpfen und als für die Landwirtschaft nicht zutreffend zu erklären. Sie hat sogar noch dazu gedient, die Bildung genossenschafdicher Großbetriebe in den sozialistischen Ländern als unsinnig zu diskreditieren und — besonders in der BRD — den mittleren „bäuerlichen Familienbetrieb" als stabilste und zukunftsträchtige landwirtschafdiche Betriebsform herauszustellen. Diese These orientierte sich an einem, wie gezeigt, tatsächlich stattgefundenen Prozeß in einer bestimmten Zeitspanne, interpretierte ihn einseitig und erhob diese einseitige Interpretation einer zeitweiligen Erscheinung zu einem allgemeingültigen Gesetz. Lenin hat sich schon 1901 ausführlich mit einer Reihe damaliger Verfechter der These von der Überlegenheit des Kleinbetriebs auseinandergesetzt136 und die (auch später immer wiederkehrenden) Hauptfehler ihrer Interpretation nachgewiesen, so vor allem die Vernachlässigung Bertbold, Rudolf, Zur sozialökonomischen Struktur des kapitalistischen Systems der deutschen Landwirtschaft zwischen 1907 und 1925, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 1974, T. 3, S. 107f. 13« Lenin, W. /., Die Agrarfrage und die „Marxkritiker", in: Werke, Bd. 5, S. 97-221. 135
Die Lage der bäuerlichen Schichten
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der „Kapital"konzentration und die Beurteilung der Wirtschaftskraft der Betriebe allein nach der Bodenfläche. So schrieb er unter anderem: „Daß es bei einer Intensivierung der Wirtschaft mitunter nötig ist, die Bodenfläche etwas zu verringern, daß die großen Landwirte Landstücke, die vom Mittelpunkt des Gutes entfernt liegen, in kleinen Parzellen verpachten, um sich Arbeiter zu verschaffen, das sind allgemein bekannte Erscheinungen." (Hervorhebung im Original) 137 Einiges müßte man vom heutigen Standpunkt aus noch zusätzlich zu der These von der Überlegenheit des Kleinbetriebes in der Landwirtschaft bemerken. Diese als allgemeingültiges Gesetz formulierte These ist von der Wirklichkeit endgültig ad absurdum geführt worden. In den letzten Jahrzehnten ist in allen entwickelten kapitalistischen Ländern die Zahl der Klein- und Mittelbetriebe rapide zurückgegangen und der Boden hat sich in steigendem Tempo bei den oberen Betriebsgrößenklassen konzentriert. Das Moskauer Institut für Weltwirtschaft hat Zahlen für die USA, die BRD, Großbritannien, Frankreich, Dänemark und Schweden zusammengestellt138 (auszugsweise in der Anhangtabelle 28 widergegeben), die zeigen, daß ausnahmslos in allen diesen Ländern der Prozeß in die gleiche Richtung ging. In einer Analyse des gleichen Instituts an anderer Stelle heißt es: „Dieser Prozeß verläuft heute in Westeuropa so intensiv, daß allein schon der Inhalt der Begriffe 'kleine', 'mittlere' oder 'große' Wirtschaft sich ständig wandelt: Eine Farm, die noch vor wenigen Jahren in diesem oder jenem Land als relativ groß galt, ist heute bestenfalls mittelgroß und steht an der Schwelle der Unrentabilität und des Ruins. So begann in der BRD seit 1969 die Zahl der Betriebe mit einer Fläche von 15 bis 20 ha abzunehmen, die noch vor kurzem als durchaus lebensfähig gegolten haben. Seit 1973 nimmt die nächstgroße Gruppe der Betriebe (mit einer Nutzfläche von 20—30 ha) zahlenmäßig ab. In England und Wales sind von 1964 bis 1973 7000 oder 11,7 Prozent der 'mittleren' Farmen (mit einer Nutzfläche von 40 bis 120 ha) verschwunden. In Dänemark, wo zu dieser Kategorie Betriebe von 20 bis 30 ha gehören, hat sich deren Zahl von 1960 bis 1974 . . . um 12 Prozent verringert. Nur wenige von ihnen sind größer geworden, die meisten aber wurden aufgelöst. Somit erfaßt der Prozeß der 'Aushöhlung' immer mehr die ehemals mittlere Schicht der Betriebe, deren Besitzer noch bis vor kurzem mit einer relativ stabilen Existenz rechnen konnten." 139 Das heißt, mit der Einführung industriemäßiger Produktionsmethoden in der Landwirtschaft setzt sich auch der Prozeß der Bodenkonzentration voll durch. Es ist also heute ganz offensichtlich, daß dieser Prozeß lediglich durch zeitweilig wirkende Bedingungen, die eine Gegentendenz hervorbrachten, in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts aufgehalten wurde. Wenn also die These von der Überlegenheit des Kleinbetriebs fälschlich die Gegentendenz, die aus zeitweilig wirkenden Bedingungen resultierte, zum all137
Ebenda, S. 194. — Es ist zu beachten, daß Lenins statistischen Analysen in dieser Arbeit der Zählung von 1882 und 1895 zugrunde liegen, die die Zeit der Agrarkrise miteinschließen I In dieser Zeit war die Verlagerung des Bodens zu den mittleren Betriebsgrößenklassen höchstens als ganz schwache Tendenz zu erkennen (Anhangtabellen 10,11), auch hatten sich in dieser Periode (als die Bodenpreise sanken) noch die Zahl und die Fläche der Latifundien (mehr als 1000 ha) vermehrt, worauf Lenin ausdrücklich hinweist. Zwischen 1895 und 1907 ging dann die Zahl und Fläche der Latifundien am stärksten von allen Betriebsgrößenklassen zurück.
Seh'koje cbo%jajstvo stran ra^yiiogo kapitah^ma (1950—1972 gg), in: Mirovaja ekonomika i meüdunarodnye otnosenija, Nr. 4/1974, (Statistischer Anhang), S. 155ff. 139 Ruin der Bauern in Westeuropa. Material, Zusammengest. v. Institut für Weltwirtschaft und Internationale Beziehungen d. Akademie d. Wissenschaften d. UdSSR, in: Frieden und Sozialismus, Nr. 4/1976, S. 570.
138
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Landwirtschaft
gemeinen Gesetz erhob, so ist es andererseits nicht angebracht, bei der Analyse dieses Prozesses die Gegentendenz zu bagatellisieren bzw. ganz zu leugnen. Was die Bodenkonzentration betrifft, so war diese Gegentendenz ganz eindeutig vorhanden. Zu untersuchen wäre also der Komplex der zeitweilig wirkenden Bedingungen und Ursachen, der sie hervorbrachte, was hier in dieser Arbeit natürlich nicht in größerem Ausmaß geschehen kann. Hingewiesen wurde schon mehrmals auf die Arbeitskräfteproblematik. Man muß diese Problematik noch einmal unter allgemeinerem Gesichtswinkel anvisieren. Wie vollzog sich die Entwicklung der Produktivkräfte in der Landwirtschaft zu Beginn des 20. Jahrhunderts? Es handelte sich um Intensivierung der Bodenbewirtschaftung und der Viehwirtschaft, die mit größerem Arbeitsaufwand verknüpft war, bei der aber nur bei einem Teil der Arbeitsprozesse arbeitssparende Maschinen eingesetzt werden konnten, so in einigen Bereichen der Pflanzenproduktion, aber kaum in der tierischen Produktion. Während im allgemeinen in der Industrie der Fortschritt der Produktivkräfte sich in einer Steigerung der (gesamtwirtschaftlichen) Arbeitsproduktivität ausdrückt, führte die Richtung, in die sich die landwirtschaftlichen Produktivkräfte in jener Zeit entwickelten, insgesamt gesehen nicht zu einem solchen Resultat. Die nach den Daten von Hoffmann errechnete Arbeitsproduktivität in der Landwirtschaft stieg bis 1900 an und stagnierte dann bis 1913.140 Erst seit etwa der Mitte des 20. Jahrhunderts setzte sich die „industrielle Revolution in der Landwirtschaft" durch, die eine enorme Steigerung der Arbeitsproduktivität ergab 141 und nun auch den Konzentrationsprozeß in der Landwirtschaft demjenigen in der Industrie ähnlicher werden ließ. Die damalige Entwicklung im Bereich der Produktivkräfte ist zweifellos als eine wesentliche der genannten zeitweiligen Bedingungen anzusehen. Außerdem ist aber der ganze Komplex der staatlichen agrarpolitischen Maßnahmen in Betracht zu ziehen, der im nächsten Abschnitt behandelt werden soll. 4. Staatliche Agrarpolitik und Selbstregulierung Die Abschwungs- und Aufschwungsphasen entsprachen auch in der Landwirtschaft dem weltwirtschaftlichen Rhythmus und waren nicht etwa von staatlichen wirtschaftspolitischen Maßnahmen verursacht. Zu untersuchen bleibt aber, ob und inwiefern und in welchem Ausmaß die staatliche Wirtschaftspolitik den Verlauf des Reproduktionsprozesses in der Landwirtschaft beeinflußt hat. Wie schon gezeigt, begann in der Industrie als Ergebnis der Abschwungsphase die Errichtung dauerhafter und stabiler Monopole. In. den Zweigen, in denen die Monopolisierung gelang, konnten die Profite rasch stabilisiert und erhöht werden und damit eine neue Phase der Kapitalexpansion eingeleitet werden. Diese Selbstregulierung durch Monopolisierung wurde ermöglicht durch den hohen Grad der Konzentration des Kapitals und der Produktion in den betreffenden Zweigen. Die Monopoli140
„Wertschöpfung" in Landwirtschaft, Forstwirtschaft und Fischerei in Preisen von 1913 geteilt durch Beschäftigte in diesem Bereich; 1890 rund 800 Mark/Beschäftigten, 1900 bis 1913 Stagnieren auf dem Niveau von rund 1000 Mark/Beschäftigten. (Berechnet nach: Hoff mann, Waltber G., a.a.O., S. 205, 333f.; siehe auch Schaubild, ebenda, S. 38.)
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Jürgen Kuczynski errechnet für die USA, wo dieser Prozeß schon ab 1940 einsetzte, für 1933/44 bis 1960/62 eine etwa zweieinhalbmal so große Steigerung der Arbeitsproduktivität in der Landwirtschaft als in der Industrie (Kuczjnski, Jürgen, Probleme der Entwicklung einer sozialistischen Landwirtschaft in Kuba, mit einem Vorwort von Carlos Rafael Rodriguez, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 1971, T. 1, S. 19f.)
Staatliche Agrarpolitik und Selbstregulierung
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sierung stärkte die Konkurren2position der betreffenden Zweige auf dem Weltmarkt, ermöglichte das Dumping und führte in der folgenden Aufschwungsperiode zu einer rapiden Ausdehnung ihres Waren- und Kapitalexports und, was den Warenexport betrifft, besonders auf die westeuropäischen Märkte ihrer imperialistischen Konkurrenten. Der Export von Metallen aus Deutschland stieg z. B. zwischen 1899 und 1913 auf 346 Prozent 142 gegenüber der Steigerung im Weltdurchschnitt auf 235 Prozent (siehe dazu Tabelle 12 S. 60). Der Export von Steinkohlen stieg im gleichen Zeitraum auf 248 Prozent, der von Koks auf 300 Prozent.*« In der Landwirtschaft in Deutschland blieb eine Monopolisierung der Hauptprodukte außerhalb der objektiv gegebenen Möglichkeiten. Einige Ursachen dafür sind schon erörtert worden, auf andere wird — beim Vergleich mit der dänischen Landwirtschaft — noch einzugehen sein. Infolgedessen waren die Möglichkeiten der — profitablen — Selbstregulierung wesentlich begrenzter. Die Selbstregulierung hätte auf dem Wege der freien Konkurrenz — wie in kleinbetrieblichen Industriezweigen — durch Ausscheiden der schwächsten Betriebe und raschere Konzentration vor sich gehen müssen. Der entscheidende Unterschied zur Industrie aber lag darin, daß bei freier Weltmarktkonkurrenz der gesamte Getreidebau in Deutschland im Grunde „unrentabel" war. Diese Tatsache überlagerte gewissermaßen den weltwirtschaftlichen Ab- und Aufschwungsrhythmus oder, anders ausgedrückt, bildete seit der Verringerung der Transportkosten durch die Dampfschiffahrt den konstantbleibenden Hintergrund jenes Rhythmus. Auf diese Tatsache hatten die Landwirte in Deutschland keinen Einfluß. Als Lösung dieses Problems ist sowohl in der zeitgenössischen Polemik wie in der rückschauenden Analyse oft der beschleunigte Übergang zur Veredelungswirtschaft genannt worden, also Einfuhr der Hauptmasse oder des gesamten Brotgetreides für den Konsum zu Weltmarktpreisen und Konzentration der inländischen Landwirtschaft auf die tierische Produktion, Gemüsebau usw. Auf diese Weise wären auch die Lebenshaltungskosten für die städtische Bevölkerung niedriger geblieben. Wie hätte sich die Landwirtschaft auf einem solchen Wege der völligen Selbstregulierung ohne alle staatlichen Stützungsmaßnahmen entwickeln können? Wenn es auch müßig wäre, eine solche Alternative bis ins Detail erwägen zu wollen, so sind doch einige allgemeine Überlegungen durchaus angebracht. Wären Agrarzölle weggefallen, so wären auch die Wirkungen des Bodenmonopols weggefallen und somit die Gesetze der freien Konkurrenz voll zur Geltung gekommen. Die inländische Getreideproduktion für den Markt, zumindest die Brotgetreideproduktion, wäre stark zurückgegangen oder ganz zum Erliegen gekommen. Wie aus Tabelle 37 hervorgeht, wären hiervon die Großbetriebe prozentual stärker betroffen worden als die Bauernwirtschaften, aber es wären eben auch die Bauernwirtschaften in erheblichem Maße betroffen worden: Rund zwei Drittel des inländischen Marktgetreides kamen aus dem bäuerlichen Sektor. Es ist somit klar, daß hier ein Umstellungsprozeß großen Ausmaßes hätte vor sich gehen müssen, in dem alle Betriebe auskonkurriert worden wären, die nicht die Umstellung auf den kapitalintensiven, rationell bewirtschafteten Veredelungsbetrieb mit höchster Produktivität geschafft hätten. Es wäre eine drastische — wenn man will, dem Kapitalismus der freien Konkurrenz angemessene — Umstrukturierung des Agrarsektors in Gang gekommen, aber es ist ganz unwahrschein142
Nussbaum, Helga, Außenhandelsverflechtung europäischer Länder und imperialistische deutsche Mitteleuropapläne 1899 bis 1914, in: Jahrbuch für Geschichte Bd. 15, Berlin 1977, Tabelle A 10.
1« Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich 1899, S. 136,154; 1914, S. 202.
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lieh, daß sich diese Umstrukturierung auf die Beseitigung extensiv wirtschaftender Junkerbetriebe beschränkt hätte.144 Die kapitalistische Auslese hätte auch im bäuerlichen Sektor zu einer sehr viel schnelleren Polarisierung und zu einem vermutlich massenhaften Ruin der schwächeren Produzenten geführt. Zweifellos wäre das ein „Fortschritt" gewesen, nämlich ein kapitalistischer Fortschritt mit allem einem solchen innewohnenden Widersprüchen. Es ist außerdem keineswegs sicher, daß unter den Bedingungen völlig freier Konkurrenz die Umstellung der gesamten Landwirtschaft auf die intensivere landwirtschaftliche Betriebsweise und die Veredelungswirtschaft die zwangsläufige Folge gewesen wäre. In diesem Zusammenhang ist es nützlich, zum Vergleich wenigstens einige Hauptaspekte der Agrarentwicklung in den Ländern ohne Agrarzölle, Großbritannien und Dänemairk, zu betrachten. In der britischen Landwirtschaft, dem, wie Pollard schreibt, „Hauptopfer der Freihandelspolitik des 19. Jahrhunderts"145, ist für die Zeit bis zum ersten Weltkrieg folgendes zu beobachten. Die Produktion von Weizen, also des Hauptbrotgetreides, nahm von den 1870er Jahren an laufend ab, bis sie 1913 nur weniger als ein Fünftel des Verbrauchs betrug.146 Ackerland wurde in Weide verwandelt: von 1887/89 bis 1911/13 nahm das Ackerland um 13,7 Prozent ab, das Dauerweideland um 11 Prozent zu.147 Die Hektarerträge stiegen aber nur wenig oder stagnierten. Der Weizenertrag pro acre betrug im Durchschnitt der Jahre 1887/89 30,0 bushels, im Durchschnitt der Jahre 1911/13 31,13 bushels.14« Auch der Viehstapel wuchs langsamer als in Deutschland: Zwischen 1895 und 1907 wuchs der Rinderbestand um 9 Prozent,149 in Deutschland um 17 Prozent150. Der Schweinebestand nahm im gleichen Zeitraum in Großbritannien um 9 Prozent ab, und der sehr hohe Schafbestand nahm geringfügig zu (um 1,5 Prozent).151 Während man also nicht sagen kann, daß die Viehproduktion sich anstelle der Getreideproduktion erheblich ausgedehnt hätte, nahm der Import von Fleisch und tierischen Produkten erheblich, teilweise enorm zu. So stieg das Importvolumen von Butter zwischen 1887 und 1913 auf 273 Prozent, das von frischem Hammelfleisch auf 680 Prozent und das von frischem Rindfleisch auf 1400 Prozent.152 Die Fleischpreise machten infolgedessen zwar die allgemeine Aufwärtsbewegung, besonders ab 1908/09, zum Teil mit, stiegen aber In Dänemark, das bis zum Sturz der Getreidepreise ebenfalls Getreideexport betrieb, hatten gerade die Bauern besondere Schwierigkeiten, sich auf die überwiegende tierische Produktion umzustellen, u. a. deswegen, weil die „Bauernbutter" von viel schlechterer Qualität war als die „Gutsbutter" (wie übrigens auch in Deutschland: vgl. dazu Franz, H., Die Landwirtschaft in Thüringen, insbesondere im Großherzogtum Sachsen und ihre Entwicklung in den letzten fünfzig Jahren, Berlin 1896, S. 305). So traf die Agrarkrise, schreibt Brinkmann, „mit besonderer Schärfe den Bauernstand, dessen Einnahmequellen versiegten, und dem es an Mitteln gebrach, sich neue zu verschaffen, da seine Betriebsorganisation den veränderten Anforderungen nicht mehr entsprach". (Brinkmann, Theodor, a. a. O., S. 33). 145 Pollard, Sidney, The Development of the British Economy 1914-1950, London (1962), S. 8. 146 Ebenda. 147 Berechnet nach: Statistical Abstractfor ibe United Kingdom, Nr. 49, S. 192; Nr. 62, S. 309 (Großbritannien ohne Irland). "8 Berechnet nach: Ebenda, Nr. 49, S. 200; Nr. 62, S. 317 (Großbritannien ohne Irland). «9 Berechnet nach: Ebenda, Nr. 49, S. 193; Nr. 62, S. 309. 150 Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich 1911, S. 33ff. 151 Berechnet nach: Statistical Abstract for the United Kingdom, a. a. O. 152 Berechnet nach: Ebenda, Nr. 49, Tabelle 27, S. 58ff.; Nr. 62, Tabelle 38, S. 126ff. 144
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längst nicht so stark wie in Deutschland. 153 Die Grundrenten und landwirtschaftlichen Profite sanken laufend bis 1907/08 bzw. 1908/09, um sich dann auf dem erreichten niedrigen Niveau zu stabilisieren. 154 Ob man diesen ganzen Prozeß durchweg als Extensivierung bezeichnen kann 155 , erscheint fraglich, aber zumindest waren die extensiven Tendenzen sehr stark. In Dänemark und Holland dagegen, die ebenfalls keine Agrarzölle hatten, war nun bei der Umstellung auf vorwiegende Viehwirtschaft (bzw. Gemüsebau) eine sehr starke Intensivierung zu beobachten. In Dänemark ging die Brotgetreidefläche zwar ebenfalls zurück, aber die Ackerfläche für Futtergetreide, sonstigen Futter- und Hackfruchtbau nahm sehr stark zu. 156 Zwischen 1888 und 1903 verdoppelte sich der Schweinebestand, der Rinderbestand nahm um 26 Prozent zu. 157 Im gleichen Zeitraum stieg die Mehrausfuhr (wertmäßig) an Fleisch und tierischen Produkten auf 340 Prozent. 158 Die Hauptmasse dieses Exports ging nach Großbritannien. Er stieg auch in den folgenden Jahren weiter: Hatte nach den Angaben der britischen Statistik der Gesamtimport aus Dänemark 1901 14,440 Mill. £ betragen, so 1913 24,029 Mill. £, und 1913 entfielen 97,5 Prozent davon auf Lebensmittel. 159 Wie ist nun dieser erstaunliche Unterschied in der Agrarentwicklung dieser Länder ohne Agrarzölle zu erklären? Die zeitgenössischen Beobachter sind sich einig, daß die Ursache in der unterschiedlichen Entwicklung der — wir würden sagen — Produktionsverhältnisse zu sehen ist. 160 Während das Pachtsystem in Großbritannien die Extensivierung begünstigte, fanden die Eigentümerlandwirte in Holland, Dänemark und auch Finnland den Ausweg im Zusammenschluß zu Weiterverarbeitungs- und Absatzgenossenschaften kapitalistischen Charakters. Die dänischen Genossenschaften eroberten sich eine marktbeherrschende Position beim Absatz tierischer Produkte für den Export. Während also die durch weltwirtschaftliche Faktoren erzwungene Umstellung auf Veredelungswirtschaft in Großbritannien ganz offensichtlich ein für die Landwirtschaft verlustreicher Prozeß war, der Extensivierungstendenzen mit sich brachte und die Krisensituation für die britische Landwirtschaft bis kurz vor dem ersten Weltkrieg andauern ließ, führten die gleichen „äußeren" Faktoren im Falle der dänischen Landwirtschaft zu monopolähnlichen Organisationsformen, die rasche Intensivierung, Verbindung der Landwirtschaft mit konzentrierter industriemäßiger Weiterverarbeitung und einen starken Aufschwung des Agrarsektors gewährleisteten. Im letzteren Falle zeitigte also die Abschwungswelle ähnliche Folgen wie in der Industrie in Deutschland und anderen Ländern: Umschlag von der freien Konkurrenz zum Monopol oder doch zumindest monopolähnlichen Formen. Nur vollzog sich dieser Umschlag in den genossenschaftlich organisierten Landwirtschaften auf einem zunächst so niedrigen Niveau der Kapital- und Produktionskonzentration, daß sich die Frage erhebt: Wie war das überhaupt möglich? Und: Wenn das in Ländern wie Dänemark und Finnland möglich war, warum ist es in der deutschen Landwirtschaft nicht oder kaum zu solchen Organisationsformen gekommen? Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich 1914, S. 23* (Internationale Übersichten). Einkommen aus Landeigentum 1891/92 57,392 Mill. £, 1908/09 51,895 Mill. £; Einkommen aus „occupation of land" 1891/92 19,487 Mill. £, 1907/08 17,380 Mill. £ {Statistical Ahtsract for tbe United Kingdom, Nr. 49, S. 34f.; Nr. 62, S. 40f. - Großbritannien und Irland). 155 So z. B. Diethe, Constantin von, Grundzüge der Agrarpolitik, Hamburg/Berlin (West) 1967, S. 48. 156 Brinkmann, Theodor, a. a. O., S. 14f. «7 Ebenda, S. 18. 158 Ebenda, S. 20. 159 Statistical Abstract for tbe United Kingdom, Nr. 49, S. 51; Nr. 62, S. 103. 160 Brinkmann, Theodor, a. a. O.; Hollmann, Anton Heinrieb, a. a. O. 153
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16 Nussbaum, Wirtschaft
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Hier ist nun zunächst ein wichtiges Merkmal hervorzuheben, das diese Länder, in denen die landwirtschaftlichen Genossenschaften monopolistische oder monopolähnliche Positionen erlangten, gemeinsam haben: Es waren Agrarländer mit starkem Agrarexport. Die Genossenschaften entwickelten sich im Zusammenhang mit und auf der Basis des Exports. Etwa 80 Prozent der Einnahmen der dänischen Genossenschaftsschlächtereien entfielen auf den Export von Bacon161 nach Großbritannien. 10 bis 13 Prozent der Einnahmen wurden aus dem Verkauf von Abfällen (Fett, Dünger, Blut) erzielt, und nur ein geringer Prozentsatz kam aus dem Verkauf von Frischfleisch in Kopenhagen usw., wohin meist Fettschweine geringerer Qualität geliefert wurden.162 Zwischen 1891 und 1904 hatte sich der Anteil des dänischen Bacon an der Versorgung des britischen Marktes von 17 auf 30 Prozent erhöht.163 Von der dänischen Butterausfuhr wurden 1904/05 94 Prozent in Großbritannien abgesetzt, 5 Prozent in Deutschland. Noch 1886 hatten die dänischen und französischen Buttereinfuhren den gleichen Anteil von 26 Prozent an den britischen Buttereinfuhren gehabt, 1904 betrug der dänische Anteil 40,3 Prozent, während die Anteile aller anderen Länder außer Australien unter 10 Prozent blieben.164 Diese Exportstruktur ermöglichte und erforderte zugleich eine Zentralisation des Absatzes. Brinkmann wies mit Recht darauf hin, daß die dänischen Schlächtereigenossenschaften weder Detailhandel betrieben noch mit dem heimischen Schlächterhandwerk konkurrierten.165 Bei einer vorwiegend auf den Binnenmarkt orientierten tierischen Produktion wie in Deutschland hätten aber Absatzgenossenschaften beides bewältigen müssen, ausgedehnten Detailhandel und Konkurrenz mit Handwerk und Handel. Wie es scheint, sind die Bestrebungen zu genossenschaftlicher Organisation für den Absatz landwirtschaftlicher Erzeugnisse in Deutschland damals gerade deshalb über Ansätze nicht hinausgekommen, weil sie diesen Konkurrenzkampf nicht bestehen konnten.166 Zu den rein ökonomischen Faktoren, die monopolähnliche Organisation in der dänischen Landwirtschaft ermöglichten, in der deutschen aber erschwerten, muß man also rechnen: die Größe des Exports, die Ausrichtung auf wenige einheitliche Produkte, für die ein großer einheitlicher Exportmarkt zur Verfügung stand, auf der einen Seite; die Zersplitterung des Binnenmarktes mit seinen vielfältigen Anforderungen nach unterschiedlichen Produkten bei etabliertem und starkem Engros- und Detailhandel auf der anderen Seite.167 Außerdem ist ein weiteres sehr wichtiges Moment nicht zu übersehen: Auch die Umstellung auf dem Wege der Selbstregulierung durch monopolähnliche Genossenschaften war keine völlige Selbstregulierung, sondern die Staatshilfe spielte auch hier eine große Rolle. Wenn Brinkmann schrieb: „Die Vergesellschaftung im Erwerb nach dem Prinzip der Selbsthilfe hat in Dänemark in jeder Beziehung eine fast beispiellos dastehende Verwirklichung gefunden"168, so unterschätzte er wohl dieses Moment der Staatshilfe, für das er selbst Beispiele anführt. Das sind leicht gesalzene Schweinehälften, geliefert nach festen Qualitätsstandards. Brinkmann, Theodor, a. a. O., S. 146f. 163 Ebenda, S. 159. «¡4 Ebenda, S. 105ff. 1® Ebenda, S. 163f. 166 Wjgodzynski, Waltber, Die neuere Entwicklung des landwirtschaftlichen Genossenschaftswesens, Hannover 1913, S. 62ff. — Holtmann, Anton Heinrieb, a. a. O., S. 114, schreibt vom „Fiasko" der Genossenschaftsschlächtereien in Deutschland, da sie frische Ware für den Detailverkauf liefern wollten. 167 Übrigens befand sich ja auch die englische Landwirtschaft in der Lage des vorwiegenden Binnenmarktlieferanten. Da hier monopolistische Formen ebenso wie Zölle fehlten, konnte die quasi-monopolistisch organisierte dänische Landwirtschaft einen ausgedehnten Markt in Großbritannien erobern. 168 Brinkmann, Theodor, a. a. O., S. 3. 161
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In Dänemark erstreckte sich die Staatstätigkeit außer auf Zuschüsse zur qualitativen Entwicklung der landwirtschaftlichen Produkte vor allem auf die gesetzliche — also mit staatlichem Zwang durchgeführte — Standardisierung, die Sicherung der Handelsmarken und die Qualitätskontrolle der Exportwaren.169 Die gesetzlich festgelegten Qualitätsanforderungen für die Exportprodukte sicherten den Export ebenso wie sie die Marktposition der Genossenschaftsbetriebe stärkten, auf deren Forderungen hin sie auch eingeführt worden waren. Kalela wies auf die starke staatliche Förderung der Genossenschaftsbetriebe in Finnland hin.170 Brinkmann wußte schon 1908 zu berichten, daß es fraglos als Erfolg der finnischen Genossenschaften anzusehen sei, „daß heute die finnische Butter eine selbständige Stellung auf dem englischen Markte besitzt und des dänischen und schwedischen Zwischenhandels nicht mehr bedarf". 17 ! Auch in Holland wurde unter Mitwirkung der Genossenschaften ein staatliches Zwangssystem dahingehend geschaffen, daß nichtstandardisierte Waren nicht zum Export zugelassen wurden.172 Nach dem ersten Weltkrieg wurde in Estland nach der Aufteilung von Großbetrieben in Bauernwirtschaften ein System von Zwangsmolkereigenossenschaften geschaffen, die, mit einheitlichen Maschinen ausgestattet, den Milchertrag zu gleichmäßig guter Butter verarbeiteten, so daß seitdem Estland als Butterexporteur auftrat.173 Dieser kursorische Überblick vermag folgendes deutlich zu machen: Auch wo die erzwungene Umstellung auf Veredelungswirtschaft auf dem Weg der Bildung von kapitalistischen Genossenschaften mit kartellähnlicher Position vor sich ging, konnte dies nicht ohne Staatseingriffe oder Staatshilfe geschehen. Dies ergab sich eben aus dem niedrigen Ausgangsniveau der Produktions- und Kapitalkonzentration in der Landwirtschaft. Daraus kann man mit Fug und Recht die These ableiten: Auch in Deutschland hätte die erzwungene Umstellung auf die Veredelungswirtschaft kaum ohne Stagnations- oder Rückgangserscheinungen in der landwirtschaftlichen Produktion, und zwar auch im bäuerlichen Sektor, ablaufen können, wenn jegliche staatliche Stützung gefehlt hätte. Die Art und Weise aber und die Richtung der staatlichen Einflußnahme konnte natürlich allein durch die Konstellation der Klassenkräfte entscheiden werden. Auch in Großbritannien hatte sich nach der Großen Depression eine schutzzöllnerische Bewegung unter Führung von Joseph Chamberlain gebildet, der seit den neunziger Jahren mit einer Gruppe von Industriellen aus der Liberalen Partei ausgeschieden war und mit den Konservativen paktiert hatte. Diese Fraktion aus rechten Liberalen und Teilen der Konservativen forderte insbesondere auch Agrarzölle. Die Konservative Partei, die mit dreijähriger Unterbrechung von 1886 bis Ende 1905 die Regierung gebildet, u. a. den Burenkrieg geführt und arbeiterfeindliche Gesetze erlassen hatte, konnte sich jedoch in der Frage der Schutzzölle nicht einigen und erlitt Ende 1905 eine gewaltige Wahlniederlage, die die Liberalen für lange Zeit an die Regierung brachte. Morton schildert die politische Konstellation so: „Die Bedrohung der Trade-Unions durch den Tafftal-Entscheid174 hatte 169 Im einzelnen: ebenda, S. 91, 95, 135. 170 Siehe Anmerkung 21 dieses Kapitels. 171 Brinkmann, Theodor, a. a. O., S. 111. 172 Beckmann, Frit%, Standardisierung als genossenschaftliche Marktmethode, in: Deutsche Agrarpolitik, a. a. O., S. 778. l'3 Ebenda, S. 779. 174 Gerichtsentscheid des britischen Oberhauses von 1901; verurteilte die Gewerkschaften zum Ersatz der bei einem Eisenbahnerstreik im Tale des Flusses Taff (Wales) entstandenen Unternehmer Verluste; Präzedenzurteil für gewerkschaftsfeindliche Gerichtsentscheidungen, 1906 revidiert. (Kleine Enzyklopädie Weltgeschichte, Leipzig 1971, S. 228.) 16*
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die organisierte Arbeiterklasse in äußerste Erregung versetzt. Die Tory-Partei selbst hatte sich über die Zollfrage gespalten. Während Chamberlain und andere nicht hinter der Zeit zurückgebliebene Imperialisten erkannten, daß die Entwicklung des Empire folgerichtig einer zollgeschützten Einheit zusteuerte, klebte ein anderer Teil der Partei am Freihandel, und der Führer der Partei, Balfour, hatte Angst, sich zu weit in dieser oder jener Richtung festzulegen. Die Folge war, daß die Liberalen gegen die Schutzzölle das Gespenst der Lebensmittelverteuerung mobilisieren konnten, ohne daß die Tories ihm eine geschlossene und entschlossene protektionistische Front entgegenzustellen vermochten. Ohnehin war der weitverbreitete und sorgfältig genährte Glaube, die lange Periode der Prosperität nach der Aufhebung der Korngesetze sei dem Freihandel zu verdanken gewesen, noch stark genug, den Gedanken an Schutzzölle unpopulär zu machen. All diese Momente verschafften den Liberalen eine Rekordmehrheit, wobei sie alle Industriegebiete mit Ausnahme der Hochburg Chamberlains, des Wahlkreises Birmingham, gewannen. Chamberlains Erfolg in diesem Bezirk, der so scharf von der Katastrophe in den anderen Teilen des Landes abstach, verschaffte der schutzzollfreudigen Gruppe innerhalb der Tory-Partei die Vorherrschaft." 175 Dänemarks Zollsystem beruhte im Prinzip seit dem Ende des 18. Jahrhunderts auf dem Freihandel, jedoch wurden bei der Einfuhr für die meisten industriellen Produkte, auch auf Rohstoffe wie Eisen, Koble, Ho/z(!), Finanzzölle erhoben. Landwirtschaftliche Produkte (außer Käse) waren frei von Finanzzöllen. 176 Die Konservative Regierung versuchte im Interesse der größeren Getreideproduzenten 1886 Schutzzölle für Mais und Gerste einzuführen, jedoch wurde der Gesetzentwurf im Folkething mit 65 gegen 22 Stimmen abgelehnt. Die Schutzzollbewegung, der außer der Minderheit der an hohen Getreidepreisen interessierten Landwirte die recht schwache Industrie angehörten, konnte sich nie durchsetzen, obwohl sie immer wieder Vorstöße unternahm: Die am Export von tierischen Produkten interessierten Landwirte leisteten massiven Widerstand. Um 1900 wurden z. B. von Delegiertenversammlungen der fünenschen, jütischen und seeländischen landwirtschaftlichen Vereine Resolutionen gegen Schutzzölle gefaßt und innerhalb kürzester Zeit von zehntausendcn Landwirten unterschrieben. Die jütische Resolution lautete folgendermaßen : „In Anbetracht daß: 1. unser wichtigster Markt, England, uns zollfreie Einfuhr für alle unsere landwirtschaftlichen Produkte gestattet, 2. unsere Industrie ohne oder mit mäßiger Beschützung aller Bedingungen des Fortschritts hat, wenn ihr der Zoll auf ihre Rohstoffe und Hilfsmittel freigegeben wird, 3. es unrecht ist, dem Haupterwerbszweig des Landes, der Landwirtschaft, deren Wohl durch keinen Schutzzoll gefördert werden kann, Bürden aufzulegen, welche nur wenigen Personen zugute kommen, stellt die Delegiertenversammlung der jütischen landwirtschaftlichen Vereine ihre Ansicht folgendermaßen fest: a) daß der Zoll auf landwirtschaftliche Maschinen und Gerätschaften sowie auf Kohle, Eisen und andere Rohstoffe abgeschafft werden muß, b) daß der Zoll auf Industrieprodukte, sofern er nicht vollständig aufgehoben werden kann, auf 5 % oder höchstens 10% des Wertes herabgesetzt werden muß, c) daß auf notwendige Gebrauchsartikel und Futtermittel, die bisher zollfrei waren, keine neuen Zölle gelegt werden dürfen." 175 176
Morton, A. L., Volksgeschichte Englands, Berlin 1956, S. 557. Dazu und im folgenden siehe: Hollmann, Anton Heinrich, a. a. O., S. 82ff.
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In Deutschland nun waren bekanntlich die agrarischen und industriellen Schutzzölle schon 1879 durch die vereinten Anstrengungen von Teilen der Großindustriellen und den Großgrundbesitzern durchgesetzt worden. 177 Diese Konstellation der politischen Kräfte bestimmte also von vornherein die Richtung, die die staatliche Regulierung im Agrarsektor dann schließlich nahm. Als Trend der agrarpolitischen Maßnahmen, der sich auch über bestimmte Zickzackbewegungen schließlich durchsetzte, schälte sich heraus: Erhaltung der ländlichen Besitzstruktur mit allen verfügbaren bzw. durchsetzbaren Mitteln; stärkere Stützung des Großgrundbesitzes, ohne — aus politischen Motiven — die Stützung des bäuerlichen Sektors ganz zu vernachlässigen; Stützung des Getreidebaus, aber auch staatliche Förderung der tierischen Produktion. Die staatlichen Regulierungsmaßnahmen sollen nun etwas eingehender dargestellt werden. Dabei ist natürlich wieder zu beachten, daß wesentliche Kompetenzen hier bei den Bundesstaaten lagen, daß also die „staatliche" Einwirkung keineswegs einheitlich war. Wenn im folgenden neben der Reichsgesetzgebung Maßnahmen des preußischen Staates oft häufiger erwähnt werden als diejenigen anderer Bundesstaaten, muß man bedenken, daß Preußen fast 65 Prozent des Reichsterritoriums umfaßte und sein Anteil sowohl an der Bevölkerung als auch der Zahl der Landwirtschaftsbetriebe rund 60 Prozent betrug. So hatte auch die preußische Agrarpolitik in mancher Hinsicht Leitfunktionen für andere Bundesstaaten, und außerdem ist auch in der Agrarpolitik das politische Schwergewicht Preußens im Bundesrat bei den Entscheidungen der Reichsspitze in Betracht zu ziehen. Etwas grob schematisiert kann man die Agrarpolitik der Bundesstaaten und — seit der Reichsgründung — des Reiches im 19. Jahrhundert in drei Phasen gliedern, die in etwa mit den im Kapitel 5 genannten Phasen der allgemeinen ökonomischen Staatstätigkeit korrespondieren: die Phase des „auf die Beine helfens", nämlich des auf die Beine helfens der kapitalistischen Produktionsverhältnisse in der Landwirtschaft — auf „preußischem Wege". Sie umfaßt die Zeit der Agrarreformen bis zum Ende der Gesetzgebung zu den Regulierungen und Ablösungen, reicht also bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts. Ihr folgt die Phase eines annähernden „laisser aller", die aber schon sehr bald, seit dem Einsetzen der überseeischen Getreidekonkurrenz, mit den Elementen der dritten Phase, der des „Krücken liefern", durchsetzt wird. Wir beobachten von 1879 bis in die erste Hälfte der 1890er Jahre ein gewisses Übergangsstadium: Die staatliche Einwirkung auf die wirtschaftliche Lage im Agrarsektor erfolgt hauptsächlich durch Zölle und Zollerhöhungen, während alle sonstigen Formen der staatlichen Einwirkung noch stark von liberalistischen Prinzipien beeinflußt sind. Die dritte Phase, die des „Krücken liefern", setzt voll ein, — so paradox das auch zunächst klingen mag — nach der durch die Industrie erzwungenen Senkung der Getreidezölle Ende 1891, die fast mit dem Tiefpunkt der Agrarkrise zusammenfiel und die politische Fronde der Großgrundbesitzer in Gestalt des Bundes der Landwirte auf den Plan rief. Es folgten nun eine Reihe flankierender Maßnahmen, die eine neue 177
Dazu ausführlich: Rathmann, Lotbar, Bismarck und der Übergang Deutschlands zur Schutzzollpolitik (1873/75 bis 1879), in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, Nr. 5/1956, S. 899ff.; Mottek, Hans, Die Gründerkrise. Produktionsbewegung, Wirkungen, theoretische Problematik, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 1966, T. 1, S. 51 ff. hambi, Ivo Nicolai, Free trade and protection in Germany 1868—1879, Wiesbaden 1963=Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Beiheft 44.
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Etappe staatlicher agrarpolitischer Aktivitäten einleitete, u. a. die Zwangsorganisation der landwirtschaftlichen Betriebe in Landwirtschaftskammern, kreditpolitische Maßnahmen, erneute Zollerhöhungen usw. Wenn zuvor hier bemerkt wurde, bis in die 1890er Jahre seien die „sonstigen" staatlichen Einwirkungen noch von liberalistischen Prinzipien beeinflußt gewesen, was sich vielleicht zunächst wie ein Widerspruch in sich anhört, so muß das noch etwas erläutert werden. Kurz zusammengefaßt heißt das: Es gab sowohl staatliche Ausgaben für die Landwirtschaft als auch gemischte staatlich-private Konsultativgremien zur Gestaltung der Agrarpolitik, aber das Ziel dieser staatlichen Tätigkeit beschränkte sich im wesentlichen darauf, die Privatinitiative und Selbstregulierung sowie die Entwicklung der Produktivkräfte zu fördern. Das oberste Konsultativorgan im Reich war der 1872 gebildete „Deutsche Landwirtschaftsrat", der sich aus gewählten Abgeordneten der regionalen landwirtschaftlichen Zentralvereine zusammensetzte, wobei die Zahl der Abgeordneten unter Anlehnung an das Stimmenverhältnis imBundesrat normiert wurde. 178 Ab 1893 erhielt Preußen 25 Abgeordnete, die übrigen Staaten zusammen 49. Laut Statut hatte der Landwirtschaftsrat nicht nur die von ihm geforderten Gutachten abzugeben, sondern auch „unaufgefordert und beizeiten an den Reichskanzler motivierte Vorstellungen zu richten oder sich mit Anträgen an den Reichstag zu wenden". Er kam seit Gründung einmal jährlich zu einer mehrtägigen Sitzung zusammen und gab ein Publikationsorgan heraus. 179 Im Gegensatz zu dem in den 80er Jahren zunächst für Preußen gegründeten „Volkswirtschaftsrat", der schon bald nach der Gründung nicht mehr zusammentrat, existierte der Deutsche Landwirtschaftsrat bis 1933. In Preußen existierte seit 1842 das „Königlich Preußische Landesökonomiekollegium", das seit 1859 vom Landwirtschaftsministerium geleitet wurde, aus den zuständigen Ministerialbeamten, Wissenschaftlern und „praktischen Landwirten" bestand und hauptsächlich als Zentralstelle für die landwirtschaftliche Technik diente. 1870 und 1878 wurde es durch Regulative umgestaltet. Die Mitglieder wurden nun von den landwirtschaftlichen Zentralvereinen, der Vorsitzende von den Kollegiumsmitgliedern gewählt. Die Kollegiumsmitglieder waren gleichzeitig die Abgeordneten Preußens im Deutschen Landwirtschaftsrat. Das Kollegium hatte für Preußen die gleichen beratenden und gutachterlichen Funktionen wie der Landwirtschaftsrat für das Reich. 180 Die Gründung landwirtschaftlicher Vereine und ihr Zusammenschluß zu Zentralvereinen war von der preußischen Staatsregierung seit 1811 gefördert worden. 1887 bestanden in Preußen 1817 landwirtschaftliche Vereine mit 148342 Mitgliedern. 181 Den Zentralvereinen flössen die — zunächst noch geringen — staatlichen Mittel zur Einrichtung von landwirtschaftlichen Versuchsstationen und Lehranstalten, zur Förderung von Viehzucht, Düngung usw. zu. Einen Teil der Mittel brachten die Vereine durch Mitgliedsbeiträge auf. Aus der Tatsache, daß die Versuchsstationen und Lehranstalten vielen Landwirten zugute kamen, nicht nur den Vereinsmitgliedern, die Kosten aber zum Teil durch Mitgliedsbeiträge aufgebracht wurden, ergab sich dann schon in den achtziger Jahren die Forderung einer ganzen Reihe von Zentralvereinen nach einer Golt%, Theodor von derjWjgod^jnski, Waltber, Artikel: „Landwirtschaftsrat" in: Wörterbuch der Volkswirtschaft, Bd. 2. a. a. O., S. 267. 179 „Archiv des Deutschen Landwirtschaftsrates", aber 1903: „Zeitschrift für Agrarpolitik". 180 Wygod^ynski, Waltber, Artikel: „Landesökonomiekollegium", in: Wörterbuch der Volkswirtschaft, Bd. 2, a. a. O., S. 220f. 181 Golt^, Theodor von derjWygod^nski, Waltber, Artikel: „Landwirtschaftliches Vereinswesen", in: ebenda, S. 263. 178
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Zwangsorganisation mit Zwangsbesteuerung aller Landwirte, die aber bis 1890 keine Mehrheit im Landesökonomiekollegium fand. Widerstand leisteten hier die Vertreter der westlichen Provinzen. 182 In vielen anderen Bundesstaaten existierten Organe, die dem Landesökonomiekollegium in Zusammensetzung und Funktion stark ähnelten: in Bayern der „Bayerische Landwirtschaftsrat", im Königreich Sachsen der „Landeskulturrat für das Königreich Sachsen", in Württemberg die „Zentralstelle für die Landwirtschaft". 183 Wir finden also zwischen den siebziger und neunziger Jahren relativ lockere Organisationsformen bei der Kooperation von Staat und landwirtschaftlichen „Unternehmern". Das System von „Kammern" mit obligatorischer Mitgliedschaft aller Unternehmer des betreffenden Bereichs, diese eigenartige Institution, halb Staatsorgan, halb Unternehmerinteressenvertretung, bestand ja für Industrie, Handel und Gewerbe in Preußen schon seit 1870. 184 Große Teile der Bourgeoisie — außer den Linksliberalen — hatten diese Gründungen schon zuvor gefordert. Zeise weist ausdrücklich darauf hin, welche Rolle diese Forderungen bzw. die schon bestehenden Kammern im Kampf der Bourgeoisie um die Durchsetzung kapitalistischer Verhältnisse in Deutschland spielten. 185 Während aber die Industriellen die allseitige Berücksichtigung ihrer Interessen erst erkämpfen mußten und hofften, die halbstaatlichen Handelskammern würden sich als wirksame Instrumente dafür erweisen (was zunächst oft nicht eintrat), war in vielen Bundesstaaten „der Staat" bzw. Landesherr eben in ganz anderem Ausmaß mit „der Landwirtschaft" verbunden: Einmal durch den politischen Einfluß der Großgrundbesitzer, zum anderen aber auch durch die Existenz des „eigenen" Grundbesitzes. In Preußen nahm das fiskalische Eigentum an landwirtschaftlicher Nutzfläche — das Domänenland — 1890 knapp 1,2 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche Preußens ein, 1898 etwas mehr als 1,5 Prozent. 186 1910 umfaßten die preußischen Domänen 441719 ha, davon lagen 88 Prozent in den östlichen Provinzen! 187 Der preußische Staat war also der größte Grundeigentümer innerhalb Preußens und — abgesehen von der Kirche — der zweitgrößte innerhalb Deutschlands: Im Großherzogtum Mecklenburg-Schwerin gab es 1909 559261 ha Domänenland, das waren 42,5 Prozent der Gesamtfläche dieses Staates. 188 Fungierte der preußische Staat im Verkehr und im Bergbau als der größte bzw. einer der größten Unternehmer, so in der Landwirtschaft vorwiegend nicht als Unternehmer, sondern als Grundeigentümer, der das Land verpachtete und die Grundrente kassierte. Als solcher 182 Die Landmrtscbaftskammer Berlin 1930, S. 6f.
für die Provinz Brandenburg und für Berlin. Werden und Wirken 1896 bis 1930,
Goltz, Theodor von der/Wygod^jnski, Walther, Artikel: „Landwirtschaftliches Vereinswesen", a. a. O., S. 263f. — Die Landwirtschaft und die 'Landwirtschaftspflege in Württemberg, a. a. O., S. 8ff. 184 Zur widersprüchlichen Stellung der Handelskammern im Reich vgl. Nussbaum, Helga, Unternehmer gegen Monopole, a. a. O., S. 38—51. 18ä Zeise, Roland, Zur Genesis und Funktion der deutschen Handelskammern und des deutschen Handelstages bis zur Reichsgründung 1871, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 1976, T. 4. 186 Goltz, Theodor von der, Agrarwesen und Agrarpolitik. 2., umgearb..u. durch ein Agrarprogramm vermehrte Aufl., Jena 1904, S. 68, 71. 18? Statistisches Jabrbuch für den Preußischen Staat 1914, S. 72. — Dazu kamen noch 3,02 Mill. ha Staatsforsten. 188 Wygodzynskj, Waltber, Artikel: „Domänen", in: Wörterbuch der Volkswirtschaft, Bd. 1, a. a. O., S. 685. — Im Herzogtum Anhalt machte der Ertrag der Domänen 1909 12,7 Prozent der Staatseinanhmen aus, im Großherzogtum Baden 1887/96 5 Prozent. In Bayern, Württemberg und im Königreich Sachsen war der Domanialbesitz unbedeutend (Ebenda). 183
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mußte er aber die Einkommensbedingungen und die wirtschaftliche Lage, und zwar gerade die der Gutswirtschaften in den östlichen Provinzen (denn die Domänenvorwerke waren ja vorwiegend Gutswirtschaften), ständig spüren, wenn auch nicht am eigenen Leibe, so doch an der eigenen Kasse. Die Domänenpächter, deren Betriebsführung regelmäßig von der Domänenverwaltung revidiert wurde 189 , stellten ein zusätzliches Bindeglied zwischen der Staatsverwaltung und den praktischen, landwirtschaftlichen Unternehmern dar. Wenn also zuvor festgestellt wurde, daß bis in die neunziger Jahre die „sonstigen" Einwirkungen des Staates auf die Landwirtschaft sich wesentlich darauf beschränkten, die Produktivkräfte und die Selbstregulierung zu fördern und die entsprechenden Organisationsformen relativ locker waren, so ist doch andererseits hervorzuheben, besonders in bezug auf Preußen, daß die wechselseitigen Kontakt- und Einflußmöglichkeiten beträchtlich und „wohlgeordnet" waren und einen ziemlich nahtlosen Übergang zur aktiveren staatlichen Regulierungstätigkeit gewährleisteten. Bevor nun diese Etappe der stärkeren staatlichen Eingriffe auf Bundesstaatsebene und der strafferen Organisation, die im Tiefpunkt der Agrarkrise begann, besprochen wird, muß zunächst die Wirkung der entscheidenden staatlichen Maßnahmen der vorherigen Etappe auf Reichsebene, nämlich der Agrarzölle, betrachtet werden. In den Jahren vor dem Zolltarifgesetz von 1879, das Teile der Großindustriellen gemeinsam mit den Großagrariern durchsetzten, hatten sich die Preise wie folgt entwickelt: Zwischen 1873 und 1879 waren die Preise für Industriestoffe um 55 Prozent gefallen (Abb. 2), die Importgetreidepreise (also die Weltmarktpreise) um 17 Prozent (Abb. 13), die Erzeugerpreise für Roggen um 25 Prozent, die für Weizen um 23 Prozent (Abb. 12). Das Volumen des importierten Getreides hatte sich in der gleichen Zeit verdoppelt. Die Erzeugerpreise für Fleisch waren nur um 10 Prozent gesunken, aber auch das Importvolumen von Fleisch hatte sich beträchtlich erhöht (Abb. 14). Während aber nun die Preise für Industriestoffe nach 1879 weiter sanken bis 1885, zogen die Getreidepreise sofort stark an bis zu einem Höhepunkt 1881. Gleichzeitig ging das Importvolumen wieder auf die Hälfte zurück. Dies mußte bei den Zollanhängern den Eindruck erwecken, daß der Zoll tatsächlich das wirksamste „Heilmittel" sei und man sich hauptsächlich auf die Zollregulierung orientieren müsse. Wenn man aber die Bewegung der Preise, der Ernteerträge (Abb. 12 u. 13) und der Hektarerträge! 90 genau vergleicht, sieht man, daß der jeweilige Ausfall der Ernten den jeweiligen Eindruck der Zollwirkung — auch in den folgenden Jahrzehnten — erheblich verstärkt hat. Auf die hohen Ernteerträge von 1878 und 1879, die zum starken Preisfall beitrugen, folgte ein scharfer Rückgang der Ernte- (und H e k t a r e r t r ä g e 1880 und 1881. Dies korrespondierte mit schlechter Welternte, und zugleich mit den Importpreisen stiegen die Erzeugerpreise erheblich. Darauf folgte 1882 eine gute Inlands- und Welternte, und die Import- und Erzeugerpreise fielen erneut, und zwar tiefer als je zuvor. Ab 22. Mai 1885 wurden daraufhin die Zölle für Weizen und Roggen von 10 auf 30 Mark pro Tonne, d. h. auf das Dreifache erhöht — bei Roggen bedeutete das bei dem Preisstand von 1885 rd. 21 Prozent vom Wert. Diesmal zeigte sich jedoch keine unmittelbare Wirkung: Fallende Importpreise und gute Inlandsernten 1886 und 1887 ließen auch die Erzeugerpreise bis 1887 sinken. Die Zahl der Zwangsversteigerungen ländlicher Grundstücke in Preußen stieg 189 Go/iz, Theodor von der, Agrarwesen und Agrarpolitik, a. a. O., S. 73. 190 Hoffmann, Waltber G., a. a. O., S. 278ff.
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1886/87 auf den höchsten Stand vor dem ersten Weltkrieg - auf 6370 (Abb. 16). Am 22. 12. 1887 wurden nun die Getreidezölle erneut erhöht, für Weizen und Roggen von 30 auf 50 Mark pro Tonne, was für Roggen bei dem Preisstand von 1887 knapp 42 Prozent vom Wert ausmachte, für Weizen knapp 28 Prozent. Wie nach 1879 folgten aber nun wieder zwei schlechte Inlands- und Welternten, die Importpreise stiegen stark, ebenso die Erzeugerpreise. Trotz der etwas besseren Inlandsernte von 1890 setzte sich aber der Anstieg der Erzeugerpreise auch 1890 fort, offenbar beeinflußt vom Anstieg der Importpreise. 1891 brachte dann einen Rekordstand der Erzeugerpreise — für Roggen höher als in den ersten 1870er Jahren —: Rußland hatte eine ausgesprochene Mißernte und erließ ein GetreideiW*j/# Vgl. Kathenau, Walther, Politische Briefe, a. a. O., S. 61 f., 66f.; Deutschland im ersten Weltkrieg, Bd. 2, a. a. O., S. 462; Weber, Hellmuth, a. a. O., S. 41. 11 Bauer, Max, a. a. O., S. 120. 12 Stresemann, Gustav, Industrie und Krieg, in: Veröffentlichungen des Bundes der Industriellen, Heft 9a, Berlin 1916, S. 6. 2 3
Regulierung des Arbeitskräftemarktes
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dreifacht werden. Die Förderung von Eisenerz sollte um 800000 t und von Kohle um 1 Million t monatlich gesteigert werden. Um dieses Ziel zu erreichen, war einmal eine weitere Einschränkung der Konsumgüterindustrie zugunsten der Rüstungsindustrien erforderlich. Als entscheidender Hebel zur Erfüllung des Programms wurde jedoch die zusätzliche Beschaffung von Arbeitskräften betrachtet.
2. Die Regulierung des Arbeitskräftemarktes — Das „Gesetz über den vaterländischen Hilfsdienst" Die Lenkung und Verteilung der Arbeitskräfte hatte anfangs die geringsten Schwierigkeiten bereitet. Bei Ausbruch des Krieges war es zunächst zu der erwarteten Massenarbeitslosigkeit gekommen. Die von den Gewerkschaften geführte Arbeitslosenstatistik zeigt ein Ansteigen der Erwerbslosigkeit von 2,9 Prozent im Juli 1914 auf 22,4 Prozent im ersten Kriegsmonat (ohne Berücksichtigung der ebenso verbreiteten Kurzarbeit). 13 Besonders betroffen waren das Bekleidungsgewerbe (62,7 Prozent im August 1914), aber auch die elektrotechnische (28,2 Prozent) und die chemische Industrie (32,2 Prozent). 14 In den westdeutschen Kohlegruben wurden zwischen 70 und 80 Prozent der Steiger einberufen. 15 Die wahllose Einziehung von Wehrpflichtigen hatte einen beträchtlichen Anteil an dem starken Rückgang der Produktion in den ersten Kriegsmonaten. Um den daraus entstehenden sozialen und wirtschaftlichen Folgen zu begegnen, wurden seitens des Staates relativ rasch Maßnahmen zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit eingeleitet. Bereits am 5. August 1914 bildete das Reichsamt des Innern eine Reichszentrale der Arbeitsnachweise, um die Arbeitslosen möglichst bald wieder in den Produktionsprozeß einzugliedern. Der Staat organisierte im Herbst 1914 den Einsatz von Arbeitern in der Landwirtschaft, da die Einbringung der Ernte infolge des Ausfalls von Arbeitskräften und Transportmitteln gefährdet war. Um die Herstellung von Waffen und Munition zu erhöhen, wurde es bald notwendig, einen qualifizierten Stamm von Facharbeitern in den kriegswichtigen Betrieben zu erhalten. Mit dieser Aufgabe beschäftigte sich die Abteilung Zurückstellungen der Fabrikenabteilung beim Allgemeinen Kriegsdepartement des Kriegsministeriums, die im Januar 1915 (zunächst als Referat) gebildet wurde. Das von ihr praktizierte System der Reklamationen sollte der Steigerung der Leistungsfähigkeit der Industrie dienen. Die zurückgestellten (reklamierten) Arbeiter waren gleichzeitig damit einem (außerökonomischen) Arbeitszwang unterworfen. Ihre Freizügigkeit war aufgehoben, politische Betätigung praktisch lebensgefährlich. Machte sich bereits zu Beginn des Krieges ein Mangel an qualifizierten Arbeitern bemerkbar, standen ansonsten Arbeitskräfte noch ausreichend zur Verfügung. Bis in das Frühjahr 1915 hinein hatte die Industrie damit zu tun, die während der Mobilisierungskrise freigesetzten Arbeitskräfte aufzusaugen. Andererseits waren viele Frauen, die mit ihren Familien in eine Notlage geraten waren, gezwungen, einer Beschäftigung nachzugehen, so daß 1915 und auch noch 1916 ein ausgesprochenes Überangebot an weiblichen Arbeitskräften herrschte. Bewegte sich die Arbeitslosenziffer von Mai 1915 bis Juli 1916 Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich 1915, Berlin 1915, S. 427. « Preller, Ludwig, Sozialpolitik in der Weimarer Republik, Stuttgart (1949), S. 6. 15 Ebenda. 13
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Zentralisierung der Kriegswirtschaft 1916/17
um 2,5 Prozent, so bei den weiblichen Arbeitslosen 1915 zwischen 9 und 10 Prozent und 1916 zwischen 8 und 9 Prozent.16 1916 deutete sich aber ein grundlegender Wandel in der Arbeitskräftesituation an, verursacht durch die steigenden Verluste der Streitkräfte, die ständigen Ersatz forderten, durch eine allmähliche Erschöpfung des Überangebots an Arbeitskräften und durch die von Hindenburg und Ludendorff geforderte Verdoppelung und Verdreifachung der Kriegsproduktion, die außerordentliche Maßnahmen auf dem Arbeitskräftemarkt erforderten. In Deutschland war die Situation in bezug auf das Potential an Menschen besonders angespannt. Tabelle 62 Gesamtzahl der in den wichtigsten kriegführenden händern Mobilisierten
Deutschland Österreich-Ungarn Frankreich 1 Rußland England 1 Italien USA 1
Gesamtzahl der Mobilisierten (in 1000)
Mobilisierte auf 100 Einwohner
13250 9000 8195 15000 5700 5615 3900
19,7 17,3 17,2 10,5 10,9 15,5 3,8
ohne Kolonien
Quelle: Dokumente zur deutschen Geschichte 1917--1919, Berlin 1975, S. 131.
Die neue OHL ging davon aus, daß der Krieg zugunsten des deutschen Imperialismus nur erfolgreich beendet werden konnte, wenn es gelang, die Front ausreichend mit Waffen und Munition zu versorgen und durch großen Einsatz von Kriegstechnik den Menschen so weit wie möglich zu ersetzen.17 Stand zu Beginn des Krieges die Forderung nach Soldaten im Mittelpunkt des militärischen Denkens, so war jetzt der Faktor Arbeitskraft gleichberechtigt an dessen Seite getreten. Die Heeresleitung forderte, die Anzahl der in der Kriegsindustrie beschäftigten Arbeitskräfte mit allen Mitteln zu erhöhen. Kriegsbeschädigte, Frauen und Jugendliche und Kriegsgefangene sollten verstärkt zur Intensivierung der Rüstungsproduktion eingesetzt werden. Einführung der Sonntagsarbeit, Schließung der Universitäten und Hochschulen und Durchsetzung des Prinzips „Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen" waren weitere Maßnahmen, die von der OHL als unerläßlich angesehen wurden. Der Kernpunkt des Hindenburg-Programms war daher die Forderung nach einem „Kriegsleistungsgesetz", das insbesondere dazu dienen sollte, der Rüstungsindustrie die nötigen Arbeitskräfte zur Erfüllung des Programms aus den nicht kriegswichtigen Industriezweigen zuzuführen und „die Arbeitskraft jedes einzelnen voll auszunutzen." 18 Faktisch handelte es sich bei dem vorgeschlagenen Gesetz um nichts anderes als um ein Gesetz zur Erweiterung der Wehrpflicht19, um die vollständige Militarisierung 16 17
Preller, Ludwig, a. a. O., S. 8. Vgl. Urkunden der Obersten Heeresleitung über ihre Tätigkeit 1916J18, hg. v. Erich Ludendorff, Berlin 1922, S. 64, 69.
18
Urkunden der Obersten Heeresleitung . . ., a. a. O., S. 66.
« Vgl. Weber, Hellmuth, a. a. O., S. 52.
Regulierung des Arbeitskräftemarktes
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und Zwangsregulierung des Arbeitsmarktes oder, wie Lenin formulierte, um die Verwandlung Deutschlands in ein Militärzuchthaus. Die OHL war der Auffassung, daß der Krieg nur mit Hilfe dieses Gesetzes gewonnen werden könne. So schrieb Ludendorff am 23. November 1916 an den Präsidenten des Reichstages, daß ein Scheitern des Gesetzes „die sichere Niederlage bedeuten" würde. 20 Gleichzeitig legte die Heeresleitung großen Wert darauf, das Gesetz vom Reichstag verabschieden zu lassen, um die Autorität des Parlaments, und hier insbesondere den Einfluß der sozialdemokratischen Abgeordneten auf die Volksmassen, auszunutzen. Allerdings erwies sich bei der Beratung der Vorlage innerhalb und außerhalb des Parlaments, daß das Gesetz in der ursprünglichen Form keine Aussicht hatte, eine Mehrheit zu finden. Die reformistischen Führer in der sozialdemokratischen Partei und den Gewerkschaften kannten die Stimmung unter den Volksmassen. Sie wußten, daß bei der zunehmenden Kriegsmüdigkeit der Verlust ihres Einflusses auf die Arbeiterklasse auf dem Spiel stand, wenn sie der vorgesehenen vollständigen Zwangsregulierung des Arbeitsmarktes und der Militarisierung der Arbeitskraft zustimmten. Die Unterstellung, daß sie an der „Effizienz" des Hilfsdienstgesetzes „wenig interessiert" gewesen wären und das treibende Motiv bei ihren Forderungen nach Veränderung der Gesetzesvorlage darin bestanden hätte, „ein Stück gesellschaftlicher Macht zu erobern" 21 , geht am eigentlichen Kern der Sache vollkommen vorbei. Im Vordergrund ihrer Überlegungen stand vielmehr die Sorge um die Fähigkeit des deutschen Imperialismus, sich den Anforderungen des Krieges gewachsen zu zeigen. Sie schlugen daher eine abgeschwächte Form vor, die ihnen sowohl die Möglichkeit ließ, als Vertreter der Interessen der Volksmassen aufzutreten, als auch gleichzeitig damit der herrschenden Klasse bei deren Bestrebungen, den festgefahrenen Kriegskarren wieder flott zu machen, ihre guten Dienste anzubieten. Ihre Forderung nach Einarbeitung „sozialpolitischer Sicherungen" in das Gesetz verbanden sie mit der Behauptung, daß es sich bei den vorgesehenen Maßnahmen um einen weiteren Schritt zum Sozialismus unter den besonderen Bedingungen des Krieges handle. Die Theorie, daß Ende 1916 die „Schwenkung zum vollen Kriegssozialismus" vollzogen worden sei, wird bis in unsere Tage von der bürgerlichen Historiographie eifrig kolportiert. Dahinter verbirgt sich die Absicht, den Sozialismus durch die Gleichsetzung mit Militarisierung und Zwang zu diskreditieren. Aber nicht nur in den Reihen der sozialdemokratischen Führung, sondern auch in der herrschenden Klasse selbst stießen die Pläne der OHL auf Skepsis uhd Widerstand. Der Reichskanzler schrieb bereits am 30. September 1916 an den Chef des Generalstabes, Hindenburg: „Die Annahme, es könnten für die Waffen- und Munitionsfabriken neue männliche Arbeitskräfte in beträchtlichem Umfang im Wege des Zwanges durch die Überführung aus anderen Industriezweigen oder durch die Einführung einer Arbeitspflicht für arbeitsfähige, aber jetzt nicht arbeitende Männer gewonnen werden, erscheint mir . . . nicht begründet." 22 Bethmann Hollwegs Vizekanzler und Staatssekretär des Innern, Helfferich, erwies sich dagegen als energischer Vertreter der Forderungen des Militärs 2 3 und wandte sich insbesondere gegen Konzessionen, die geeignet waren, die Positionen der Gewerkschaften zu stärken. Damit stand er im Gegensatz sowohl zu General Groener, der von Ludendorff mit der Vorbereitung und Durchführung des Hindenburg-Programms beaufUrkunden der Obersten Heeresleitung . . a. a. O., S. 86. Kielmansegg, Peter Graf, a. a. O., S. 192. 22 Urkunden der Obersten Heeresleitung . . ., a. a. O., S. 72. 23 Bauer, Max, a. a. O., S. 123. 20 21
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Zentralisierung der Kriegswirtschaft 1916/17
tragt worden war, aber dessen Unterstützung durch die Gewerkschaften für unumgänglich notwendig hielt, als auch zum preußischen Kriegsministerium. Hier lehnte der Leiter der Abteilung Zurückstellungen, Richard Sichler, eine zwangsweise Regelung generell ab und wollte dagegen dem „wirtschaftlichen Zwange" vertrauen, da die Arbeiter infolge der steigenden Lebenshaltungskosten in die Kriegsindustrie strömten, wo die höchsten Löhne gezahlt wurden. 24 Eine ähnliche Haltung nahm Walther Rathenau ein, der sowohl die Einschränkung der Freizügigkeit als auch die Einführung von Arbeiter- und Angestelltenausschüssen für falsch hielt. Statt dessen befürwortete er im September 1916 in Briefen an Ludendorff die „zwangsweise Überführung von siebenhunderttausend belgischen Arbeitern nach Deutschland" 25 und „eine ähnliche Aktion in Polen." 2 6 Die westdeutsche Schwerindustrie dagegen forderte energisch, „mit fester Hand" für die Vermehrung der Zahl der Rüstungsarbeiter und die Erhöhung ihrer Leistung zu sorgen. 27 Die Meinungsverschiedenheiten trugen natürlich nicht dazu bei, die baldige Verabschiedung des Gesetzes zu fördern. Ludendorff sah sich daher veranlaßt, den Kaiser einzuschalten, der seinem Kanzler am 6. November 1916 den Befehl erteilte, die Vorlage „sofort und unverzüglich" vor den Reichstag zu bringen. 28 Nachdem Groener als Verhandlungsführer den rechten Gewerkschaftsvertretern die Einarbeitung von „Verbesserungen" zugesagt hatte, gab die Konferenz der GewerkschaftsVorstände am 22. November ihre Zustimmung zur Einführung des Zwangsgesetzes. Bei der Debatte im Reichstag wurde die Vorlage der Regierung noch beträchtlich verändert und am 2. Dezember 1916 mit 235 gegen 19 Stimmen der zentristisch orientierten sozialdemokratischen Minderheit verabschiedet. Statt der von Hindenburg geforderten Erweiterung der Wehrpflicht konnten nunmehr alle männlichen Deutschen zwischen 17 und 60 Jahren zum „vaterländischen Hilfsdienst" in kriegswichtigen Betrieben und Einrichtungen herangezogen werden. Faktisch handelte es sich dabei um die Aufhebung der Freizügigkeit, der freien Wahl des Arbeitsplatzes, um eine durch „Sicherungen" verschleierte Form der Militarisierung der Arbeitskräfte. Die „Sicherungen" bestanden darin, daß die Bindung an den Arbeitsplatz nicht absolut war, sondern ein Wechsel der Arbeitsstelle im Rahmen der in der Kriegswirtschaft tätigen Betriebe unter bestimmten Voraussetzungen („angemessene Verbesserung der Arbeitsbedingungen", Ausstellung eines Abkehrscheines durch den Unternehmer, Schiedsspruch durch in den Betrieben einzurichtende Schlichtungsstellen) möglich war. Außerdem sollten Arbeiterausschüsse gebildet werden, die die Aufgabe hatten, das „gute Einvernehmen" zwischen Arbeitern und Unternehmervertretern zu fördern. Mit der Durchführung des Gesetzes wurde das Kriegsamt beauftragt — eine Weiterentwicklung der staatsmonopolistischen Institutionen, die sich als logische Folge aus den Forderungen des Hindenburg-Programms ergab. 24
Sichler, KicbardITiburtius, Joachim, D i e Arbeiterfrage — eine Kernfrage des Weltkrieges, Berlin o. J . , S. 3 3 .
25 Kessler, Harry Graf, a. a. O., S. 252. 26
R athenau, Walther, Politische Briefe, a. a. O., S. 6 6 f .
27 Deutschland im ersten Wellkrieg, Bd. 2, a. a. O., S. 470. 28 Weber, Hellmuth, a. a. O., S. 54.
Regulierung des Arbeitskräftemarktes
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3. Das Kriegsamt — staatsmonopolistische Zentrale für die Forcierung der wirtschaftlichen Kriegsanstrengungen Das gewaltige, in seinen Grundzügen vorliegende Rüstungsprogramm sowie das Problem der Erfassung und des Einsatzes der zu seiner Realisierung notwendigen Arbeitskräfte hatten die Frage nach dem der Größe der Aufgabe adäquaten organisatorischen Rahmen aufgeworfen. Als Vorbild diente dabei das englische Rüstungsministerium (Ministry of Munitions) 29, das seit seiner Gründung am 26. Mai 1915 zunächst von Lloyd George (bis Juni 1916), später (Juli 1917 bis Januar 1919) von Winston Churchill geleitet wurde und dessen Existenz von führenden Köpfen der herrschenden Klasse in Deutschland die großen Erfolge bei der Mobilisierung der englischen Industrie für den Krieg und der daraus resultierenden Materialüberlegenheit zugeschrieben wurden. Bereits die Denkschrift des Vereins Deutscher Eisenhüttenleute vom 23. August 1916 hatte den Gedanken der Zentralisierung der Kriegswirtschaft vertreten und die Einrichtung eines „Obersten Kriegsamts" gefordert. Zweifellos drückte sich darin auch die Unzufriedenheit führender Monopole der Schwerindustrie mit den bisherigen kriegswirtschaftlichen Organisationsformen, insbesondere aber mit der Haltung des Kriegsministeriums aus, die dem „Gang der Geschäfte" nicht eben förderlich war. Entsprechend sollte die neue Zentrale nach den Vorstellungen der Industriellen eine selbständige Einrichtung sein und auf das engste mit der Industrie zusammenarbeiten. Der Vorschlag zur strafferen Zusammenfassung der zersplitterten staatsmonopolistischen Organisationen stieß sowohl bei der OHL (Ludendorff), der Regierung (Helfferich) und bei Vertretern anderer Industriezweige (z. B. Rathenau) auf Zustimmung. Im Ergebnis der Diskussion konnte verhältnismäßig kurzfristig, bereits am 1. November 1916, durch kaiserliche Kabinettsorder das Kriegsamt gebildet werden — allerdings nicht als völlig selbständige Organisation, sondern, wenn auch weitgehend formal, dem Kriegsministerium unterstellt. Wohl war es den schwerindustriellen Kreisen im Verein mit der neuen Heeresleitung gelungen, den Kriegsminister und seinen Stellvertreter zu stürzen, nicht aber diesen Rest von Einfluß des Ministeriums selbst auf Organisation und Praxis der Kriegswirtschaft zu beseitigen. Mit der Bildung des Kriegsamtes erreichte die staatsmonopolistische Regulierungspolitik im ersten Weltkrieg die höchste Stufe ihrer institutionellen Entwicklung. Das Kriegsamt fungierte als kriegswirtschaftliche Zentrale, der die Kriegsrohstoffabteilung, das Waffen- und Munitionsbeschaffungsamt, das Bekleidungsbeschaffungsamt, das KriegsErsatz- und Arbeits-Departement, die Abteilung für Ein- und Ausfuhr, die Abteilung für Volksernährung und der Ständige Ausschuß für Zusammenlegung von Betrieben unterstellt wurden. Durch die Bildung von Kriegsamtsstellen bei den stellvertretenden Generalkommandos schuf sich das Kriegsamt einen weitverzweigten, ganz Deutschland überspannenden Apparat. Dennoch war keine völlige Zentralisierung erreicht worden. Der Leiter des Kriegsamtes selbst, Generalleutnant Groener, bezeichnete die für die Bildung des Amtes gefundene Lösung als einen „Kompromiß" 3 0 . Da keine vollständige Lostrennung vom Kriegsministerium erfolgt war, kam es zu ständigen Auseinandersetzungen. Dieses Ministerium soll bei Kriegsende 65000 Mitarbeiter gezählt und 3 Mill. Arbeiter kontrolliert haben (Wendt, Bernd-Jürgen, War Socialism — Erscheinungsformen und Bedeutung des Organisierten Kapitalismus in England im Ersten Weltkrieg, in: Organisierter Kapitalismus, a. a. O., S. 136). 30 BÄK Militärarchiv, Nachlaß Groener, N 46, Nr. 127, Bl. 30. 29
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Zentralisierung der Kriegswirtschaft 1916/17
Es gab nach wie vor zahllose Beschaffungsstellen, die dem Kriegsamt nicht unterstellt waren und die ohne Kontrolle durch zentrale Stellen Aufträge an die Industrie erteilten. 31 Gegenüber den Rüstungsmonopolen stellte das Kriegsamt alles andere als einen Machtfaktor dar. Von diktatorischen Vollmachten etwa konnte keine Rede sein. Wenn Groener später bemängelte, seine „Befugnisse" gegenüber den Unternehmen seien „nicht weit genug" gegangen, er hätte z. B. die Macht haben müssen, „einem Unternehmer, der sich den Anordnungen des Kriegsamtes nicht fügte, die Aufträge ohne Entschädigung zu entziehen" 32 , so verkannte er gründlich die der neuen Behörde von ihren Initiatoren zugedachte Rolle. Der Anspruch, ein der Industrie übergeordnetes Organ zur effektiveren Leitung und Konzentration der Kriegswirtschaft zu sein, wurde von dieser Seite strikt zurückgewiesen. Vielmehr ging es den großen Monopolen darum, in der neuen Zentrale ein Instrument zu besitzen, das durch regelmäßige und ausreichende Versorgung der Unternehmen mit Material und Rohstoffen, Arbeitskräften und Aufträgen für die Kontinuität und weitere Erhöhung der Profite sorgte. Erschwert wurde die Tätigkeit der neuen Zentralbehörde ferner durch die Tatsache, daß infolge der stets von den Augenblicksbedürfnissen diktierten Bildung der einzelnen Kriegswirtschaftsorganisationen sich inzwischen ca. 1000 dieser Gebilde entwickelt hatten 33 , deren Kontrolle und Lenkung, ganz zu schweigen von einer eventuellen Zusammenfassung, auf unüberwindbare Schwierigkeiten stieß. Groener, der erste Chef des Kriegsamtes, zunächst als Vertrauter Ludendorffs von diesem zur Annahme der neuen Funktion gedrängt worden, galt als einer der wenigen Militärs, die mit volkswirtschaftlichen Fragen vertraut waren. An der Spitze der einzelnen Abteilungen und Ämter standen Offiziere, die in der Regel bereits über Erfahrungen auf wirtschaftlichem Gebiet verfügten. Eine Ausnahme in dieser Hinsicht bildete der Direktor des Krupp-Gruson-Werkes in Magdeburg, Dr. Kurt Sorge, der spätere Präsident des Reichsverbandes der Deutschen Industrie, als Chef des technischen Stabes. Abgesehen von diesen Spitzenpositionen waren die nachgeordneten Leitungen in der Regel von Staatsbeamten und von Vertretern der Industrie, darunter führenden Monopolisten, besetzt. Wichtige Positionen hatte die Monopolgruppe AEG/Metallgesellschaft besetzt. Richard Merton von der Metallgesellschaft, im militärischen Rang eines Rittmeisters, leitete im Stab des Kriegsamtes die Gruppe P 2 (Besondere Aufträge des Chefs des Kriegsamtes in Industrie- und Arbeiterfragen) und galt als Vertrauter von Groener. Max von der Porten, Direktor der zum Konzern der Metallgesellschaft gehörenden Otavi-Minen und Eisenbahngesellschaft, fungierte als Leiter der Metallmeldestelle und der Kautschukmeldestelle in der KRA. Professor Georg Klingenberg von der AEG stand der Elektrizitätswirtschaftsstelle vor und Wichard von Moellendorff war u. a. als technischer Berater im Waffen- und Munitionsbeschaffungsamt tätig. Aber auch Vertreter der Schwerindustrie, wie der bereits erwähnte Sorge und z. B. Paul Reusch, Generaldirektor der zum HanielKonzern gehörenden Gutehoffnungshütte, hatten führende Positionen inne. Dem Stab zugeordnet war eine Wissenschaftliche Kommission, die von Professor Max Sering geleitet wurde. Ihr gehörten u. a. an Fritz Haber, v. Moellendorff, die Wissenschaftler Wiedenfeld, Ballod, Francke und Sombart, Goebel und Diehl. Zu ihren Aufgaben gehörten 31 Ebenda, Bl. 19. Ebenda. 33 Schröter, Alfred, Die Bedeutung der institutionellen Verschmelzung von Staat und Monopolen für die Entwicklung des staatsmonopolistischen Kapitalismus, in: Monopole und Staat in Deutschland 1917 bis 1945, Berlin 1966, S. 62f. 32
Das Kriegsamt
291
die Beratung des Stabes in allen volkswirtschaftlichen Fragen und die Ausarbeitung von Expertisen und Gutachten zur Lösung der vor dem Kriegsamt stehenden Aufgaben. 34 Die Zusammensetzung des Kriegsamtes in seiner Gesamtheit erklärt sich vor allem aus der historischen Entwicklung des Kräfteverhältnisses in seinen einzelnen Abteilungen in den vorangegangenen Kriegsjahren vor deren Zusammenfassung in der neuen Zentralbehörde. Groener selbst war ein „aufgeklärter" Militarist, der in seinen ökonomischen und politischen Auffassungen zur wendigeren Gruppe des deutschen Monopolkapitals tendierte, realistischer an die Probleme heranging und insbesondere die überragende Bedeutung der Haltung der Arbeiterklasse für die Fortführung des Krieges und die weiteren Aussichten erkannte. Er betrachtete es daher als eine besondere Aufgabe des Kriegsamtes, „die Gewerkschaften in den Dienst des Staates zu stellen, um dadurch auf die Führung der Arbeiterschaft dauernd bestimmenden Einfluß zu erhalten." 35 Dieser Taktik blieb er auch später, als Nachfolger von Ludendorff während der Novemberrevolution, treu. Bereits während seiner Tätigkeit im Kriegsernährungsamt war Groener für die „Heranziehung eines Sozialdemokraten" eingetreten, die dann auch — in der Person von Dr. August Müller — erfolgte. 36 Im Kriegsamt arbeitete der Vorsitzende des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes, Alexander Schlicke, ein „angenehmer, bescheidener und sehr gewandter Mensch, der in Arbeiterfragen außerordentlich beschlagen war", 37 als Leiter des Unterausschusses für Arbeiterangelegenheiten im Kriegs-Ersatz- und Arbeitsdepartement. Schlicke war damit als erster führender Vertreter der reformistischen Gewerkschaften in den Staatsdienst berufen worden. Abgesehen von seinen unmittelbaren Kontakten zu Vertretern der wendigeren Monopolfraktion im Rahmen des Kriegsamtes (z. B. Merton, Moellendorf) unterhielt Groener persönliche Beziehungen vor allem zu Ernst v. Borsig und dem Generaldirektor der Maschinenfabrik Augsberg-Nürnberg (MAN), Anton Ritter v. Rieppel, die beide zu seinen bedeutendsten Beratern zählten. 38 Groener mußte damit zwangsläufig in einen direkten Gegensatz zu den Führern der Schwerindustrie geraten, deren anfängliche Skepsis sich bald, nachdem der Kurs des Kriegsamtes klarer erkennbar war, in offene Gegnerschaft verwandelte. Groener stieß bald immer wieder auf die „offene und versteckte Gegenwirkung gewisser Kreise der Industrie . . ., denen man eine starke Beeinflussung der Obersten Heeresleitung und der Regierung zuschrieb." 39 Ein preußischer Minister warnte ihn „vor der Macht dieser Kreise" und sagte sein Scheitern voraus. 40 Hugo Stinnes, Peter Klöckner und Carl Duisberg waren die einflußreichsten Gegner der Pläne und der Politik des Kriegsamtes unter der Leitung von Groener. Die Aufgabe des Kriegsamtes bestand vor allem darin, die ehrgeizigen Pläne des Hindenburg-Programms zu erfüllen und die Bestimmungen des Hilfsdienstgesetzes in die Tat umzusetzen. Die Lösung der Aufgabe war von vornherein dadurch erschwert, daß es sich bei dem Programm keineswegs um einen fertigen Plan handelte. Nach Groeners WorBÄK, Militärarchiv, Nachlaß Groener, N 46, Nr. 115, n. p. 35 BA K, Militärarchiv, Nachlaß Groener, N 46, Nr. 127, Bl. 14. 36 Groener, Wilhelm, Lebenserinnerungen, hg. v. Friedrich Frhr. Hiller von Gaertringen, Göttingen 1957, S. 335. 37 Ebenda, S. 346. 38 Ebenda, S. 349 f., 369. 39 BÄK, Militärarchiv, Nachlaß Groener, N 46, Nr. 127, Bl. 9. BÄK,
NG, Nr. 127, Bl. 9.
«>l BÄK, Nachlaß Moellendorff (im folgenden: NM), Nr. 84 alt, n. p. W2 Ebenda.
Auseinandersetzungen innerhalb der herrschenden Klasse
303
minderten Gewinnen die Produktion auf der unbedingt erforderlichen Höchstleistungsfähigkeit zu halten." 103 Großes Interesse galt dem Verfasser der Denkschrift. Müller meinte: „Daß Herr Sorge, der Chef des Techn. Stabes mitgewirkt hat, ist kaum anzunehmen." 104 Da sie mit „M." abgezeichnet war, vermutete Helfferich, daß Moellendorff der Verfasser sei; Müller identifizierte ihn dagegen richtig als Richard Merton. Müller vereinbarte schließlich mit dem Nachfolger Groeners im Kriegsamt, General Scheüch, daß „eine Äußerung vorerst nicht erfolgen soll." 105 Damit waren die in der Denkschrift fixierten Ideen zunächst ad acta gelegt. Offiziell war demnach von der sog. Groener-Denkschrift nichts bekannt. Tatsache ist aber, daß ihr Inhalt wesentlich zur Abberufung Groeners als Leiter des Kriegsamtes beitrug, praktisch den letzten, entscheidenden Anstoß dazu gab. So schreibt Sichler, „die Industrie" habe sich „schärfstens" gegen die Denkschrift gewandt. 106 Groener selbst, am 16. August 1917, einen Monat nach dem Sturz Bethmann Hollwegs, durch Allerhöchste Kabinettsorder von seinem Posten unter fadenscheinigen Gründen abberufen, natürlich bei gleichzeitiger Beförderung und Auszeichnung, bezeichnete später Stinnes, Duisberg, Peter Klöckner, Bauer und Ludendorff als diejenigen, die hauptsächlich auf seinen Sturz hingearbeitet hätten. In der Presse, die sich in diesen Tagen stark mit dem „Fall Groener" beschäftigte, wiesen verschiedene Zeitungen auf die Stimmungsmache gegen ihn aus Kreisen der Industrie hin. Z. B. berichtete die „Leipziger Volkszeitung", Organ der USPD, am 18. August 1917 über „Gerüchte", wonach Groener „durch eine mächtige Interessentengruppe im schwerindustriellen Lager gestürzt worden sein soll." 107 Die Denkschrift sollte totgeschwiegen werden. Führende Vertreter des Staatsapparats logen um die Wette, wenn es darum ging, allein ihre Existenz zu leugnen. So behauptete Helfferich, der sie unter Verschluß hielt, bei Verhandlungen im Hauptausschuß des Reichstages, ihm sei „von einer Eingabe Groener an den Kanzler" nichts bekannt. 108 Im Frühjahr 1918 kam die Angelegenheit im Zusammenhang mit dem sog. Daimler-Skandal — die Firma Daimler hatte auf Kosten des Staates Riesengewinne gemacht — wieder zur Sprache. Die „National-Zeitung" vom 9. März 1918 kritisierte, daß die Denkschrift von Groener „einfach zu den Akten" gelegt worden sei. Am 16. April befaßte sich schließlich auch der Reichstag mit dieser Frage. General Scheüch als Groeners Nachfolger im Amt mußte zu der Frage Stellung nehmen, ob ein vorgesehener Abbau der Preise mit Groeners „Abgang" in Verbindung stehe. Scheüch antwortete, er habe „sofort Ermittlungen nach dem Vorhandensein einer Denkschrift anstellen lassen, die General Groener über die Möglichkeit eines Abbaus der Preise aufgestellt haben soll. Ich kann Ihnen mitteilen, daß ich eine solche Denkschrift im Kriegsamt nicht gefunden habe. Ich habe auch bei der Obersten Heeresleitung anfragen lassen, und auch dort ist von dieser Denkschrift nichts bekannt. Infolgedessen kann diese nicht vorhandene Denkschrift mit dem Rücktritt des Generals Groener nicht in Verbindung gebracht werden." 109 Dazu findet sich im Nachlaß die eigenhändige Bemerkung von Groener: „Der Lügenbeutel!!" Nachdem Erzberger behauptet hatte, die Denkschrift befinde sich bei der OHL, telegraphierte Ludendorff am 18. April 1918 an K"3 Ebenda. IM Ebenda, «ß Ebenda. 106 Sichler, RicbardjTiburtius, Joachim, a. a. O., S. 44. 107 BÄK, Nachlaß Groener, Nr. 114, n. p. 1 0 8 „Münchener Neueste Nachrichten" v. 25. August 1917, in: Ebenda. 109 Ebenda.
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Zentralisierung der Kriegswirtschaft 1916/17
Groener und bat um Auskunft, ob eine solche Denkschrift, die ihm nicht bekannt sei, „tatsächlich" aufgestellt worden wäre. 110 Es ist jedoch durchaus zu vermuten, daß Ludendorff die Denkschrift sehr wohl kannte. Die weitere Entwicklung nach Groeners Sturz hatte dazu beigetragen, daß wesentliche Gedanken der Denkschrift bereits am 8. Dezember 1917 in einem Schreiben Ludendorffs an den Reichskanzler als Forderungen der OHL auftauchen, nämlich: Herabsetzung der Kriegsgewinne und der Lebenshaltungskosten, Verhinderung weiterer Lohnerhöhungen und schließlich Abbau der Löhne in der Kriegsindustrie. 111 Auch die Berufung auf das „englische Vorbild" fehlte nicht. Ludendorff sah sich offensichtlich durch die Entwicklung der wirtschaftlichen und innenpolitischen Verhältnisse dazu gezwungen, auf diese Linie einzuschwenken, obwohl er selbst keineswegs ein Gegner des „Rechtes" der Industrie auf „angemessene" Gewinne war. 112 Ludendorffs Behauptung, von der Groenerschen Denkschrift nichts zu wissen, ist ebenso unglaubwürdig wie die aktenkundigen Beteuerungen Dulsbergs (Brief an Groener), mit dem Sturz des Chefs des Kriegsamtes nichts zu tun zu haben. Noch vor der Abberufung Groeners berief Duisberg für den 19. August 1917 im Düsseldorfer IndustrieClub eine Beratung der führenden westdeutschen Industriellen ein, zu der auch Vertreter der OHL, des Kriegsministeriums, des Reichsamtes des Innern, der Kriegsämter Düsseldorf und Essen und andere geladen waren. Zum Zweck der Tagung heißt es in der Einladung an Bauer: „Die Klagen und die Agitation über die einseitige Belastung, die das Hilfsdienstgesetz den Arbeitnehmern durch die Beschränkung der Freizügigkeit gebracht haben soll, hören nicht auf. Maßnahmen, um auch die Arbeitgeber durch Gewinnbeschränkung zu treffen, werden erwogen. Es ist deshalb Eile geboten, dem zu begegnen . . ." 1 1 3 Man kann als relativ sicher annehmen, daß diese Tagung über die Querverbindung Duisberg — Bauer zu Ludendorff den letzten Anstoß für die zwei Tage später erfolgte Abberufung Groeners gegeben haben dürfte. Eine besondere Rolle spielte auf der Tagung das geltende System der Reklamierung von wehrpflichtigen Facharbeitern, worunter die Zurückstellung vom Wehrdienst verstanden wurde. Die Anzahl der Reklamierten war beständig angestiegen und erhöhte sich bis zum Kriegsende weiter. Tabelle 66 Entwicklung der Zahl der "Reklamierten 1916—1918
Mitte Anfang Mitte Anfang Mitte Spätsommer
1916 1917 1917 1918 1918 1918
Anzahl der Reklamierten
davon „kriegsverwendungsfähig'
1190200 1431600 1890600 2154400 2424300 2434000
738800 839000 1026400 1097100 1187800 1188000
Quelle: Groener, Wilhelm, Lebenserinnerungen, a. a. O., S. 356. 110
Ebenda.
i « BÄK,
Nachlaß Groener, Nr. 122, Bl. 2 f f .
Vgl. Ludendorff, Erich, a. a. O., S. 269. "3 BÄK,
Nachlaß Bauer, Nr. 11, Bl. 161.
Auseinandersetzungen innerhalb der herrschenden Klasse
305
Dulsberg hielt eine einleitende Ansprache, in der er sich vor allem gegen das Hilfsdienstgesetz wandte sowie gegen den Status der reklamierten Wehrpflichtigen, der durch ihre Gleichstellung mit den Hilfsdienstpflichtigen die anhaltende Fluktuation begünstigte (Abwanderungsquote 40 Prozent gegenüber früher 10 Prozent). Er schlug vor, auf die Beschränkung der Freizügigkeit zu verzichten, damit hinsichtlich der Reklamierten das frühere Verfahren wieder eingeführt werden könnte. In bezug auf die Gewerkschaftsführer seien die „Erwartungen . . . getäuscht worden." 1 1 4 Statt für Ruhe zu sorgen, hätten sie „den Frieden und die Ordnung in den Betrieben zerstört." 115 Der Rückgang der Arbeitsleistungen sei vor allem auf ihre „Wühlarbeit" zurückzuführen. Bauer sprach den „anwesenden Leitern der Rüstungsindustrie den Dank der Heeresleitung aus." 1 1 6 In der Diskussion ging es hauptsächlich um die Aufhebung der Beschränkung der Freizügigkeit und die Wiedereinführung des früheren Reklamierungs-Systems. Die Monopolisten wollten die hochqualifizierten Facharbeiter, um die es sich dabei handelte, wieder fester in den Griff bekommen. Es sprachen u. a. Hugenberg, Duisberg, Kirdorf, Bauer, Reusch, Silverberg sowie einige Militärs. Auf einer weiteren Sitzung des Klubs am 19. September 1917, wiederum von Duisberg eröffnet, bei der es um die „Aufklärung hinter der Front" ging, 1 1 7 bezeichnete er die Stimmung im Volk als „außerordentlich schlecht". Besonders bei den Munitionsarbeitern fehle es an der „wünschenswerten Arbeitsfreudigkeit". Die Leistungen der Arbeiter in den Rüstungsbetrieben seien um 20 Prozent, die der Reklamierten sogar um 40 Prozent zurückgegangen. Es ist bezeichnend für die totale Fehleinschätzung der Lage und für die Ignoranz und Borniertheit der reaktionärsten Gruppierungen des deutschen Monopolkapitals, wenn es im Bericht weiter heißt: „Die Frage, ob ein Grund für die herrschende schlechte Stimmung vorliege, sei zu verneinen. Sowohl an der Front wie zur See sei unsere Lage sehr gut. Im Gegensatz hierzu stehe es bei unseren Feinden schlecht. . ." 1 1 8 . Mitverantwortlich für die Mißstimmung sei das Hilfsdienstgesetz, da es aber leider nicht möglich wäre, das „mißlungene" Gesetz gänzlich abzuschaffen, müsse wenigstens der Paragraph über die Beschränkung der Freizügigkeit, die „Hauptquelle des Übels", aufgehoben werden. Außerdem sollten dem Unternehmer „neue Lasten" auferlegt werden, und zwar „denke man an eine weitere Beschränkung der Kriegsgewinne. Anträge in dieser Richtung lägen bereits vor." 1*9 Ein solches „Vorgehen" müsse verhindert werden. In der Folgezeit gelang es weder, Veränderungen am Hilfsdienstgesetz vorzunehmen, noch die Pläne für die staatliche Regulierung von Löhnen und Gewinnen durchzusetzen. Beide Forderungen machte sich gegen Ende des Krieges die OHL zu eigen. Nach dem Scheitern der letzten großen Offensiven des deutschen Heeres im Westen 1918 unternahm sie einen erneuten Versuch, die Verfügung über die Arbeitskraft der vollständigen Kontrolle und Diktatur des Militärs zu unterwerfen. Hindenburg schlug in einem Schreiben an den Reichskanzler vom 18. Juni 1918 wiederum die Einführung der Wehrpflicht für alle Männer vom 15. bis zum 60. Lebensjahr vor und wiederholte damit seine bereits 1916 gestellten und gescheiterten Forderungen, allerdings mit einer Ergänzung: Wenn die Arbeiter an bestimmte Betriebe gebunden werden, sei es dann nicht mehr möglich, die „Regelung der Löhne dem Unternehmertum zu überlassen", vielmehr müßten „die Lohnfrage und in 1« BÄK, Nachlaß Groener, Nr. 113, Bl. 85. «5 Ebenda. "6 Ebenda. 117 Sichler, RicbardjTiburtius, Joachim, a. a. O., S. 131. «8 Ebenda, S. 131 f. «9 Ebenda, S. 133.
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Zentralisierung der Kriegswirtschaft 1916/17
logischer Folge auch die Gewinne des Unternehmertums in staatliche Regelung" genommen und damit „eine gewisse Militarisierung der Rüstungsbetriebe" vorgenommen werden. 120 Diese politisch aussichtslose, vom gegebenen Kräfteverhältnis her undurchführbare, rein vom militärischen Denken abgeleitete und überdies von falschen Vorstellungen über die noch vorhandenen Kräfte ausgehende Konzeption fand erwartungsgemäß keinerlei Unterstützung. Sie dokumentierte lediglich die Ausweglosigkeit der Situation, in der sich der deutsche Imperialismus und Militarismus um die Jahresmitte 1918 befanden, hatte jedoch gleichzeitig eine Alibi-Funktion zu erfüllen, indem die Heeresleitung die Verantwortung für das Scheitern der Weltherrschaftspläne der Monopolisten und Junker auf die Nichterfüllung ihrer Forderungen zurückführen wollte. Als Hindenburg und Ludendorff 1916 von der Schwerindustrie in den Sattel gehoben worden waren, stand die herrschende Klasse relativ geschlossen dahinter. Das von ihnen geforderte Rüstungsprogramm fand die begeisterte Zustimmung der Monopolbourgeoisie, die sich davon hohe Gewinne, die Erweiterung ihrer ökonomischen und politischen Machtstellung und die siegreiche Beendigung des Krieges versprach. Auch über die Zentralisierung der Kriegswirtschaft war man einer Meinung. Rathenau beispielsweise unterstützte ebenso wie auf der anderen Seite Stinnes und Duisberg die Berufung von Ludendorff 1 2 1 und die Bildung des Kriegsamtes. Die ersten Probleme und unterschiedlichen Betrachtungsweisen traten bei der Verabschiedung des Hilfsdienstgesetzes auf. Als weder dieses Gesetz noch das Rüstungsprogramm die Erwartungen erfüllen konnten, die innenpolitischen Schwierigkeiten, unterstützt durch die revolutionären Ereignisse des Jahres 1917, an Intensität ständig zunahmen, der uneingeschränkte U-Boot-Krieg nicht das erhoffte Ergebnis brachte und statt planmäßiger Führung der Kriegswirtschaft Chaos und Anarchie immer weiter um sich griffen, verschärften sich die Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen Gruppen der herrschenden Klasse wieder. Im Ergebnis dieses Kampfes wird deutlich, daß die Koalition zwischen Schwerindustrie und chemischer Industrie (Stinnes/Duisberg) und der Heeresleitung (Bauer/Ludendorff) den Haupteinfluß sowohl auf die Wirtschafts- als auch auf die Innen-, Außen- und Sozialpolitik ausübte, allerdings keineswegs im Sinne einer allmächtigen Diktatur. Die erste Niederlage erlitt diese Gruppierung bei der Beratung des Hilfsdienstgesetzes, wo sie mit ihren Forderungen nach vollständigem Arbeitszwang nicht durchkam. Ihre späteren Versuche, das Gesetz zu korrigieren, scheiterten stets. Dabei zeigt sich interessanterweise, daß die Heeresleitung auf ihrer Forderung nach totaler Militarisierung beharrte, während die Industriellen die Wiedereinführung der Freizügigkeit, bei gleichzeitiger Bindung der Reklamierten an den Betrieb, befürworteten. Diese Gruppe war erfolgreich in ihren Bemühungen, den Reichskanzler Bethmann Hollweg und den Chef des Kriegsamtes Groener zu stürzen, ohne daß sie dadurch die andere Fraktion, die sich auf Seiten der Industrie in der Monopolgruppe AEG/ Metallgesellschaft (Rathenau/Moellendorff/Merton) am deutlichsten verkörperte, wirklich entscheidend zu treffen vermochte. Im Gegenteil: J e mehr sich der Krieg seinem Ende zuneigte, setzte sich die Konzeption dieser Gruppe besonders auf innenpolitischem Gebiet mehr und mehr durch. Groener trat gegen Kriegsende an die Stelle von Ludendorff und Rathenaus Vorstellungen zur wirtschaftlichen Demobilmachung bestimmten weitgehend die taktische Linie der Monopole, die auf einen kontinuierlichen Übergang vom imperialistischen Krieg zum imperialistischen Frieden gerichtet war. 120 BÄK, Nachlaß Groener, Nr. 128, Bl. 59. 121
Zum zunächst freundschaftlichen Verhältnis zwischen Rathenau und Ludendorff vgl. die Briefe und TagebiÄhaufzeichnungen des ersteren.
Auseinandersetzungen innerhalb der herrschenden Klasse
307
Das Hindenburg-Programm war im ganzen und in seinen wichtigsten Teilen (Produktionsprogramm, Arbeitskräfteprogramm, Heeresersatzprogramm) gründlich gescheitert. Bauer, in dessen Abteilung das Programm entstanden war, bescheinigte sich selbst natürlich auch nach dem Kriege, es habe „tatsächlich im großen und ganzen gestimmt." 1 2 2 Aber während die Industrie 1916 „mit Feuereifer" 123 an die Arbeit gegangen war (dazu Moellendorff: „Wie wertlos ist das Ja der befragten Interessenten, wie verdächtig ihre Vorbedingung, vermehrte .Bewegungsfreiheit' zu erhalten." 124 ) meldeten sich bereits zu dieser Zeit einzelne Kritiker, wie z. B. der damalige Feldzeugmeister Generalleutnant Franke, die das Programm für unerfüllbar hielten. Später wurde es durchaus treffend von Schiffer als „Programm der Verzweiflung" charakterisiert. Die Versuche seiner Initiatoren, die Verantwortung für sein Scheitern z. B. auf die zu seiner Durchführung geschaffene Institution, das Kriegsamt, abzuwälzen, 125 dienten lediglich dazu, von der objektiven Unmöglichkeit der Verwirklichung dieses Programms, die durch subjektive Momente nur noch verstärkt wurde, abzulenken. Die Nichtübereinstimmung zwischen den Zielen und den zu ihrer Erreichung vorhandenen Mitteln konnte auch durch die verstärkte Entfaltung der Elemente des staatsmonopolistischen Kapitalismus nicht überwunden werden. Gegen Ende des Krieges zeigte sich eine militärisch-materielle wie auch die politischmoralische Unterlegenheit des deutschen Imperialismus immer deutlicher. Die Anzahl der in der Industrie und im Bergbau Beschäftigten war im Verlaufe der Kriegsjahre beträchtlich zurückgegangen. Tabelle 67 Beschäftigte in Industrie und Bergbau (in Betrieben mit 10 und mehr Arbeitern)
1913 1918
Männer
Frauen
insgesamt
5794035 4296969
1592138 2319674
7386173 6616643
Quelle: nach Kuc^ynski, Jürgen, Die Geschichte der Lage der Arbeiter . . ., Bd. 4, a. a. O., S. 364.
Männerarbeit wurde teilweise durch Frauenarbeit ersetzt, der Leistungsrückgang dagegen konnte weder bei Männern noch Frauen verhindert werden. Objektive und subjektive Ursachen spielten dabei eine Rolle: sowohl die geringere Qualifikation der neu in die Tabelle 68 Berufsgenossenscbaftlich
1914 1915 1916 1917 1918
versicherte
Personen
(1913=100)
Kriegsindustrien
„Private Industrien"
„Gemischte Industrien"
88 78 89 103 110
91 53 46 43 41
91 77 69 63 63
Quelle: Kuczynski, Jürgen, Die Geschichte der Lage der Arbeiter . . ., Bd. 4, a. a. O., S. 312. 122 Bauer, Max, a. a. O., S. 121. «3 Ebenda. BÄK, Nachlaß Moellendorff, 52 neu, n. p. 21 Nussbaum, Wirtschaft
125 Ludendorff,
Erich, a. a. O., S. 269.
308
Zentralisierung der Kriegswirtschaft 1916/17
Industrie strömenden oder verpflichteten Arbeitskräfte wie die zunehmende physische und psychische Erschöpfung bis hin zum aktiven und passiven Widerstand. Dabei hatte die Zahl der Arbeitskräfte in der Rüstungsindustrie nach einem beträchtlichen Aderlaß in den ersten beiden Kriegsjahren ab 1916 wieder erheblich zugenommen. Bei wichtigen, für die Kriegführung besonders benötigten Produkten der Industrie und des Bergbaus entwickelte sich die Produktion wie in Tabelle 69 ersichtlich. Tabelle 69 Produktion ausgewählter
1914 1915 1916 1917 1918
1914 1915 1916 1917 1918
1914 1915 1916 1917 1918
Erzeugnisse
der Industrie und des Bergbaus (1913= 100)
Steinkohle
Braunkohle
Erdöl
Eisenerz
Roheisen
84,8 77,2 83,7 88,1 83,2
95,6 100,8 108,0 109,5 115,3
91,2 82,0 76,6 74,9 31,5
71,7 61,9 74,6 78,5 27,7
74,5 60,1 68,8 68,0 61,4
Stahl
Zinkerz
Zink
Bleierz
Blei
Kupfererz
79,7 69,8 62,6 83,1 68,6
82,5 75,7 81,6 81,6 69,2
84,6 66,5 63,9 66,9 66,4
89,0 83,4 94,5 86,2 86,2
95,3 64,2 57,1 47,6 42,5
93,8 108,6 136,1 121,0 107,1
Kupfer
Kalisalz
93,5 119,2 161,5 149,8 141,3
68,8 58,4 73,0 74,9 77,6
Zement 80,5 .47,1 56,4 29,5
Schiffbau 100,7 56,6 38,1 18,6 23,0
Quelle: Hoff mann, Waltber G., Das Wachstum der deutschen Wirtschaft seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, Berlin, Heidelberg, New York 1965, S. 342f„ 345f„ 354, 358.
Die Produktion stieg nur bei Braunkohle ab 1915 beständig, verursacht vor allem durch den Bau von kriegswichtigen Betrieben der chemischen und Aluminium-Industrie und den zu ihrer Versorgung notwendigen elektroenergetischen Kapazitäten im mitteldeutschen Raum. Sie lag bei Kupfererz und Kupfer ab 1915 zwar schwankend, 1916 aber durchaus beträchtlich über dem Vorkriegsniveau — Ausdruck eines besonderen Engpasses der deutschen Rüstungsindustrie und ermöglicht durch stärkere Ausbeutung der Mansfelder Lagerstätten. Sie ging ständig zurück bei Erdöl (besonders stark 1918), bei Blei und im Schiffbau (bis 1917) und erholte sich nach einem Tiefstand 1915 ab 1916 besonders als Auswirkung des Hindenburg-Programms bei Steinkohle, Eisenerz, Roheisen, Zinkerz und Kalisalz, bei Stahl und Zink erst ab 1917, ohne je den Vorkriegsstand wieder zu erreichen und um 1918 in fast allen Positionen wieder und zum Teil beträchtlich (Eisenerz!) zurückzugehen. Auf der Grundlage dieser Entwicklung des Arbeitskräftepotentials und der industriellen Erzeugung konnte die deutsche Rüstungsindustrie den bereits 1915/16 eingetretenen Rückstand in der Fertigung von Waffen und Munition nicht aufholen.
309
Auseinandersetzungen innerhalb der herrschenden Klasse Tabelle 70 Maximale
Monatsproduktion
von Kriegsmaterial
Rauchloses Pulver (t) Sprengstoff (t) Gewehre (1000 St.) Maschinengewehre (St.) Leichte Geschütze (St.) Schwere Geschütze (St.) Leichte Granaten (1000 St.) Schwere Granaten (1000 St.) Patronen (Mill. St.) Flugzeuge (St.) Flugmotoren (St.) Tanks (St.) Q u e l l e : Andexel,
während des ersten
Weltkrieges
Deutschland
Frankreich
England
14400 35000 250 14750 2500 400 9000 3000 270 2000 2000
15000 22000 100 4000 1000 250 7000 2000 200 2500 4000 750
18000 25000 20 12000 800 250 5000 2000 270 2700 3000 300
Ruth, a. a. O . , S . 2 5 .
Die vorliegenden Angaben, die nicht einmal die während des letzten Kriegsjahres immer stärker werdenden Kriegsanstrengungen der U S A berücksichtigen, zeigen, daß die deutsche Rüstungswirtschaft trotz äußerster Anspannung nicht in der Lage war, dem Übergewicht allein Frankreichs und Englands, besonders hinsichtlich der Produktion von Sprengstoffen und Munition und der Motorisierung der Streitkräfte, ein Paroli zu bieten. Der deutsche Imperialismus ging unaufhaltsam der vollständigen Erschöpfung seiner Kräfte entgegen. Die „untrennbare Doppelforderung, Feldherr und Kriegswirtschaft zur höchsten Leistung zu bringen" 1 2 6 , ging von einer völlig falschen Einschätzung der vorhandenen Ressourcen aus und scheiterte vor allem an der Frage, wie sowohl die Kriegswirtschaft mit den notwendigen Arbeitskräften als auch die Streitkräfte mit Ersatz für die wachsenden Verluste versorgt werden konnten. Die Hauptproduktivkraft Mensch erwies sich als der entscheidende Faktor. Verschärft wurde die Situation für den deutschen Imperialismus dadurch, daß die Menschen von Jahr zu Jahr weniger davon überzeugt waren, für ihre eigenen Interessen zu kämpfen und zu arbeiten, sondern im Gegenteil ihre Haut nicht länger weder an der Front noch in der Rüstungsfabrik für die Ziele der herrschenden Klasse zu Markte tragen wollten. « 6 BÄK, Nachlaß Groener, Nr. 118, Bl. 17.
21*
KAPITEL 11
Staatsmonopolistischer Kapitalismus und Arbeiterbewegung
1. Die Verschärfung der sozialen Widersprüche Drei Jahre vor dem Ausbruch des verheerenden Weltkrieges hatte August Bebel in einer Rede vor den Delegierten des Jenaer Parteitages 1911 die herrschende Klasse vor dessen Folgen eindeutig gewarnt. Seine Worte zeichneten ein treffendes Bild von der Situation, der sich die bürgerliche Gesellschaft dann tatsächlich gegenübersah: „Millionen von Arbeitern werden weggerufen von ihren Familien, die nichts mehr zu beißen und zu leben haben. Hunderttausende von kleinen Gewerbetreibenden können ihren Bankrott ansagen... Der Ausfuhrhandel stockt . . . Zahllose Fabriken und gewerbliche Unternehmungen . . . kommen zum Stillstand. Arbeitslosigkeit und Verdienstlosigkeit an allen Ecken! Die Zufuhr der Lebensmittel hört ganz oder zum großen Teil auf. Die Preise der Lebensmittel erreichen eine unerschwingliche Höhe . . . Armee und Flotte (werden) jeden Tag der Mobilmachung 45 Millionen Mark (kosten) . . . Und nun stellen sie sich den Krieg selbst vor, mit der ungeheuren technischen Entwicklung seit 1870, den Millionenheeren hüben und drüben, den Repetiergewehren, den Schnellfeuergeschützen, den Maschinengewehren, mit den modernen Sprengstoffen usw . . . Alle diese Vorgänge werden eine Stimmung erzeugen, von der wir uns gar keinen Begriff machen können. Schon 1904 habe ich dem Reichskanzler Fürst Bülow gesagt, wenn ein großer Krieg kommt, steht die Existenz der bürgerlichen Gesellschaft auf dem Spiele. Und nicht wir sind es, die das herbeigeführt haben, sondern die Vertreter dieser bürgerlichen Gesellschaft, die glauben, die bürgerliche Gesellschaft stützen zu müssen, sie allein tragen die Verantwortung für all das ungeheure Elend und die schrecklichen Folgen eines solchen Krieges." 1 Die Verschärfung der bestehenden ökonomischen, politischen und sozialen Widersprüche während des Krieges war sowohl eine Ursache der dargelegten Entwicklung des staatsmonopolistischen Kapitalismus als auch dessen Folgeerscheinung. Sie offenbarte die Unfähigkeit der Monopole und der Staatsmacht, die gesellschaftlichen Probleme mit staatsmonopolistischen Mitteln und Methoden zu lösen. Der Grundwiderspruch des kapitalistischen Systems, der Widerspruch zwischen dem gesellschaftlichen Charakter der Produktion und der privatkapitalistischen Aneignung, vertiefte sich weiter und in bedeutend rascherem Tempo als in Zeiten relativ friedlicher Entwicklung. Die staatsmonopolistischen Maßnahmen führten zu einer verstärkten Konzentration und Zentralisation der Produktion und des Kapitals. Die Profite wurden noch mehr monopolisiert, das heißt in den Händen einiger weniger, besonders eng mit der Kriegsindustrie 1
Protokoll über die Verbandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Abgehalten in Jena vom 10. bis 16. September 1911, Berlin 1911, S. 346f., zit. nach: Geschichte der deutseben Arbeiterbewegung, Bd. 2, Berlin 1966, S. 204.
Verschärfung der sozialen Widersprüche
311
verbundener Monopole, die sich einen wachsenden Anteil am Volkseinkommen sicherten und sich immer mehr Kapitaleigentum aneigneten, konzentriert. Lenin hat diesen gesamten Prozeß sehr treffend mit folgenden Worten charakterisiert: „Bei Aufrechterhaltung des Privateigentums an den Produktionsmitteln gehen alle diese Schritte in Richtung einer größeren Monopolisierung und größeren Verstaatlichung der Produktion unweigerlich Hand in Hand mit einer immer stärkeren Ausbeutung der werktätigen Massen, mit der Verstärkung der Unterdrückung, der Erschwerung des Widerstands gegen die Ausbeuter, dem Erstarken der Reaktion und des Militärdespotismus, und zugleich führen sie unweigerlich zu einem ungeheuren Anwachsen der Profite der Großkapitalisten auf Kosten aller übrigen Bevölkerungsschichten, zur Versklavung der werktätigen Massen auf viele Jahrzehnte durch Tribute, die sie in Form von Milliardenzinsen für die Anleihen den Kapitalisten entrichten müssen." 2 Deutschlands „Kanonenkönig" Krupp konnte seinen Rohgewinn bereits im ersten Kriegsjahr mehr als verdoppeln. 3 Die Sprengstoffwerke mit dem bezeichnenden Firmennamen „Glückauf" in Hamburg zahlten 1916 eine Dividende von 100 Prozent, und es gab sogar Fälle, in denen der Reingewinn selbst die Höhe des Aktienkapitals überstieg, wie z. B. bei der Daimler-Motorengesellschaft in Stuttgart. 4 Man kann daher annehmen, daß die Schätzungen, nach denen die Profitjäger runde 50 Milliarden Goldmark, gemessen an den Kriegskosten ca. ein Drittel, als Gewinn in ihre Taschen steckten, der Wirklichkeit durchaus nahe kommen. Tabelle 11 Gewinne der Industrie während des Krieges (Dividenden in Prozent des Aktienkapitals;
1913/14 1914/15 1915/16 1916/17 1917/18
Preisveränderungen
ausgeschaltet)
Industrie gesamt
Großeisenindustrie
Chemische Industrie
7,96 5,00 5,90 6,52 5,41
8,33 5,69 10,00 14,58 9,60
5,94 5,43 9,69 11,81 10,88
Quelle: Kuczynski, Jürgen,
Die Geschichte der Lage der Arbeiter . . B d . 4, a. a. O., S. 191.
Tabelle 72 Rüstungs- b^w Kriegsausgaben
und Volkseinkommen,
1913—1917 (in Mrd.
Mark)
Jahr
Rüstungs- bzw. Kriegsausgaben
Volkseinkommen
Rüstungs- bzw. Kriegsausgaben in % des Volkseinkommens
1913 1914 1915 1916 1917
2,0 7,9 24,2 24,9 42,4
50 50 60 60 70
4 16 40 42 61
Quelle: Kuczynski, Jürgen, Die Geschichte . .., Bd. 14, a. a. O., S. 196. 2 Lenin, W. I., Werke, Bd. 24, Berlin 1959, S. 302. 3 Richter, Werner, a. a. O., S. 97. * Vgl. Bartel, Walter, a. a. O., S. 344.
312
Staatsmonopolistischer Kapitalismus und Arbeiterbewegung
Überstieg im vormonopolistischen Kapitalismus der Anteil der Kriegskosten nicht mehr als 10—15 Prozent des Volkseinkommens 5 ; so zeigte sich im ersten Weltkrieg eine erhebliche Steigerung, die gleichzeitig den Prozeß der Umschichtung des Einkommens deutlich macht (Siehe Tabelle 72). Während sich die Widersprüche zwischen den mächtigsten Monopolgruppen unter dem Einfluß des Krieges und der sich damit für diese Industriezweige ergebenden großen Möglichkeiten für eine Maximierung des Profits im Kampf um den Einfluß in den staatsmonopolistischen Organisationen und um einen entsprechend hohen Anteil am Profit entwickelten, wuchsen sie auch zwischen den Gruppen der am stärksten am Rüstungsgeschäft Beteiligten und denjenigen Gruppen, besonders der Leicht- und Fertigwarenindustrie, die wenig oder gar nicht davon profitieren konnten bzw. durch die Regulierung in Mitleidenschaft gezogen wurden. Viele kleine und mittlere Betriebe wurden im Verlaufe des Krieges ruiniert, ganze Industriezweige in ihren wirtschaftlichen Grundlagen schwer geschädigt. Tabelle
Ii
Produktion wichtiger Industriegruppen
und
weige (1913= 100)
Jahr
Bergbau
Eisen u. Stahl
NEMetalle
Textilien
Genußmittel
Wohnungsbau
1913 1914 1915 1916 1917 1918
100 84 78 86 90 83
100 78 68 81 83 53
100 89 72 113 155 234
100 87 65 27 22 17
100 92 88 84 67 63
100 68 30 10 4 4
Quelle: Kuc^ynski, Jürgen, Die Geschichte der Lage . .
Bd. 4, a. a. O., S. 190.
Wenn die Industrieproduktion insgesamt von 100 (1913) auf 57 (1918), also nahezu um die Hälfte zurückging, so vor allem auf Kosten der nicht oder weniger kriegswichtigen Zweige. Mitunter wurden die während des Krieges in verschiedenen Industriezweigen gebildeten Zwangskartelle und Zwangssyndikate dazu benutzt, um Betriebe zu schließen. Auf diese Weise wurden z . B . in der Schuhindustrie 1100 von insgesamt 1400 Betrieben stillgelegt. 6 Etwa zwei Drittel der in der Baumwollindustrie arbeitenden Spindeln und 90 Prozent der Kaffee-Gerste-Körnerröstereien wurden außer Betrieb gesetzt. 7 Ab Anfang 1917 wirkte vor allem das Kriegsamt über den Ständigen Ausschuß für Zusammenlegung und Stillegung von Betrieben (SAZ) sowie die Einberufungsausschüsse, die sich mit der Umverteilung von Arbeitskräften beschäftigten, und über die Feststellungsausschüsse, die die Betriebe als kriegswichtig oder nicht kriegswichtig klassifizieren konnten, in dieser Richtung. Das Kriegsamt arbeitete in dieser Frage eng mit der monopolistischen Zentrale, dem „Kriegsausschuß der deutschen Industrie", zusammen und ließ sich von ihm „beraten". 8 Zur Theorie des staatsmonopolistischen Kapitalismus, Berlin 1967, S. 89. Freie Bahn für Handel und Industrie. Forderungen für die Übergangswirtschaft, aufgestellt in der Kundgebung deutscher Industrie- und Handelsverbände zu Berlin am 8. Oktober 1917. Berlin-Wilmersdorf 1917, S. 20. 1 Müller, Alfred, a. a. O., S. 21. 8 Vgl. Schröter, Alfred, a. a. O., S. 104.
5 6
Verschärfung der sozialen Widersprüche
313
Es wird geschätzt, daß etwa 8—10 Prozent aller Betriebe ihre Tätigkeit einstellen mußten, wobei berücksichtigt werden muß, daß einige Industriezweige die Durchschnittsziffer beträchtlich übertrafen. Die staatsmonopolistischen Regulierungsmaßnahmen verschärften nicht nur die Widersprüche zwischen dem Monopolkapital und der übrigen Bourgeoisie, sie trafen in besonderem Maße auch die städtischen und ländlichen Mittelschichten. Die bäuerlichen Kleinund Mittelbetriebe, verhältnismäßig stärker ihrer Arbeitskräfte entblößt, waren durch ihre schwächere ökonomische Stellung den Kriegsfolgen bei weitem mehr ausgeliefert als die Betriebe der Großproduzenten, die sich durch eine umfangreiche Spekulation mit Lebensmitteln schadlos zu halten suchten. In den Städten wurde eine Vielzahl von kleinen Gewerbetreibenden ruiniert. Mangel und NichtZuteilung von Rohstoffen, Arbeitskräften und Aufträgen sowie die Einberufung zum Wehrdienst oder zum „vaterländischen Hilfsdienst" zwangen viele Handwerksbetriebe, ihre Werkstätten zu schließen. 9 Auf diese Weise wurden die 45 000 selbständigenBerliner Handwerker im Verlaufe des Krieges auf die Hälfte reduziert.* 0 Allein im Zeitraum von 1913 bis 1916 verringerte sich die Zahl der versicherungspflichtigen Betriebe im Baugewerbe von 203000 auf 186000, in der Holzindustrie von 74000 auf 51000, annähernd um ein Drittel. 11 Die Rationierung der Lebensmittel und die infolge ständig steigender Preise und unzureichender Einkommen sinkende Kaufkraft der Bevölkerung gefährdeten die wirtschaftlichen Grundlagen des Einzelhandels. Der Prozeß der Proletarisierung des Kleingewerbes schritt während des Krieges, nicht zuletzt infolge der staatsmonopolistischen Entwicklung, in beschleunigtem Tempo voran. Die aus der Tatsache des Krieges resultierende objektive Notwendigkeit, das spontane Wirken der ökonomischen Gesetze des Kapitalismus weiter einzuschränken, führte zu einem ständigen Anwachsen des bürokratischen Machtapparates, der mit den Mitteln des außerökonomischen Zwanges die gesellschaftlichen Prozesse zu steuern versuchte. Entsprechend dem Klassencharakter dieses Apparats waren seine Aktionen in erster Linie von den Interessen der großen Monopole diktiert. Die Arbeiterklasse wurde am unmittelbarsten von den Auswirkungen der staatlichen Zwangsmaßnahmen betroffen. Lenin schrieb über die Resultate der staatsmonopolistischen Regulierung: „Sowohl Amerika als auch Deutschland 'regulieren das Wirtschaftsleben' so, daß dabei für die Arbeiter (und zum Teil für die Bauern) ein Militär^ucbtbaus, für die Bankiers und Kapitalisten aber ein Paradies geschaffen wird. Ihre Regulierung besteht darin, daß man die Arbeiter 'durchhalten' und hungern läßt, den Kapitalisten aber (insgeheim, auf reaktionär-bürokratische Weise) höhere Profite sichert als vor dem Krieg." 1 2 Im Interesse der Monopole wie auch des Staates lag es, die Arbeiter so ausreichend zu ernähren, daß es möglich war, bei vollständiger Verfügung über die Arbeitskraft deren Ausbeutung bis an die Grenze des Möglichen zu steigern. Diesem Ziel entsprachen solche Maßnahmen wie die Rationierung der Lebensmittel, die Zwangsverpflichtung und die Aufhebung der Freizügigkeit, die Militarisierung der Betriebe, die Aufhebung von Arbeiterschutzgesetzen, die Verlängerung der Arbeitszeit, die Einrichtung der staatlichen Zwangsschlichtung von Arbeitskonflikten u. a. m. Das Ergebnis dieser Maßnahmen konnte nur eine fortlaufende Verschlechterung der wirtschaftlichen und sozialen Lage des Proletariats sein. 9 Vgl. Geschichte der deutseben Arbeiterbewegung, Bd. 3, Berlin 1966, S. 67f. W Nimlz, Walter, Die Novemberrevolution 1918 in Deutschland, Berlin 1962, S. 21. 11 Deutschland im ersten Weltkrieg, Bd. 2, a. a. O., S. 644. 12 Lenin, W. I., Werke, Bd. 25, Berlin 1960, S. 343.
314
Staatsmonopolistischer Kapitalismus und Arbeiterbewegung
Tabelle 74 Indices %ur Lage der Arbeiter 1914-1918 (1900= 100) Jahr
Index der durchschnittl. Bruttogeldlöhne
Index der Lebenshaltungskosten
Index der Bruttoreallöhne
1914 1915 1916 1917 1918
1251 147 172 230 292
134 168 221 329 407
96 87 78 70 72
l September 1914 Quelle: Kuc^ynski,
Jürgen,
Die Geschichte der Lage . . . , Bd. 4, a. a. O., S. 329, 350, 351.
Hart wurden auch die unteren und mittleren Schichten der Angestellten und Beamten von der Schere zwischen Löhnen und Preisen, die immer weiter auseinanderklaffte, getroffen. Damit verwandelten sich diese an Bedeutung zunehmenden gesellschaftlichen Gruppen allmählich von einer Reserve der Bourgeoisie zu einer Reserve des Proletariats. Die den Staat beherrschenden Kräfte, die von der Kriegskonjunktur profitierten, waren bestrebt, die Kriegslasten vor allem auf die Arbeiterklasse abzuwälzen. Die Lohnsklaverei trat in eine neue Etappe ein, das Gesetz der absoluten Verelendung kam voll zur Wirkung. Lenin, der in aller Schärfe den reformistischen Theorien vom „Staatssozialismus" und „Kriegssozialismus" entgegentrat, zeigte, daß es sich dabei in Wirklichkeit um einen „staatsmonopolistischen Kriegskapitalismus" 13 handelte, dessen Folgen sich in einer weiteren Polarisation von Not und Elend auf der einen, von Macht und Reichtum auf der anderen Seite bemerkbar machten. Zwangsläufig mußte sich damit der grundlegende antagonistische Widerspruch zwischen den beiden Hauptklassen der bürgerlichen Gesellschaft verschärfen. Unter dem Einfluß der imperialistischen Entwicklung überhaupt, des Krieges und des Übergangs zum staatsmonopolistischen Kapitalismus entwickelte sich dieser Widerspruch zu einem Antagonismus zwischen den Interessen der Arbeiterklasse und den anderen werktätigen Schichten des Volkes und den Interessen einer kleinen Schicht von Monopolisten und mit diesen verbundenen Junkern. So war bereits am Vorabend der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution, die eine Wende in der Menschheitsgeschichte einleiten sollte, eine Situation eingetreten, die Friedrich Engels, so unwahrscheinlich es auch klingen mag, bereits 30 Jahre vorher bis ins kleinste Detail vorhergesagt hatte: „Und endlich ist kein andrer Krieg für Preußen-Deutschland mehr möglich als ein Weltkrieg, und zwar ein Weltkrieg von einer bisher nie geahnten Ausdehnung und Heftigkeit. Acht bis zehn Millionen Soldaten werden sich untereinander abwürgen und dabei ganz Europa so kahl fressen, wie noch nie ein Heuschreckenschwarm. Die Verwüstungen des Dreißigjährigen Krieges zusammengedrängt in drei bis vier Jahre und über den ganzen Kontinent verbreitet; Hungersnot, Seuchen, allgemeine, durch akute Not hervorgerufene Verwilderung der Heere wie der Volksmassen; rettungslose Verwirrung unseres künstlichen Getriebs in Handel, Industrie und Kredit, endend im allgemeinen Bankerott; « Ebenda, S. 368.
Die reformistischen Partei- und Gewerkschaftsführer
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Zusammenbruch der alten Staaten und ihrer traditionellen Staatsweisheit, derart, daß die Kronen zu Dutzenden über das Straßenpflaster rollen und niemand sich findet, der sie aufhebt; absolute Unmöglichkeit, vorherzusehn, wie das alles enden und wer als Sieger aus dem Kampf hervorgehen wird; nur ein Resultat absolut sicher: die allgemeine Erschöpfung und die Herstellung der Bedingungen des schließlichen Siegs der Arbeiterklasse. —" 1/1 2. Die Unterstützung des imperialistischen Systems durch die reformistischen Partei- und Gewerkschaftsführer Der Verrat der rechten sozialdemokratischen Partei- und Gewerkschaftsführer am 4. August 1914 war nicht nur für die Geschichte der Arbeiterbewegung ein Ereignis von großer Tragweite. Der offene Übergang dieser Führer in das Lager der Feinde der Arbeiterklasse und ihrer Bewegung, die Ersetzung des proletarischen Internationalismus durch einen sozial verbrämten Chauvinismus, bedeutete auch grünes Licht für die verstärkte Konzentration der Macht in den Händen der einflußreichsten Monopole und erleichterte in jeder Hinsicht die Entwicklung des staatsmonopolistischen Kapitalismus. Die rechten sozialdemokratischen Führer unternahmen alle Anstrengungen, um den Klasseninhalt der staatsmonopolistischen Wirtschaftspolitik vor den Volksmassen zu verschleiern. Sie beschränkten sich nicht darauf, den imperialistischen Angriffskrieg zu verteidigen und in sein Gegenteil umzulügen. Die Politik des Burgfriedens, jene „spezifische Form des Klassenkampfes . . . unter den Bedingungen des Krieges" 1 5 , den die Bourgeoisie gegen die Arbeiterklasse führte, fand auf ökonomischem Gebiet ihre ideologische Rechtfertigung mit der Behauptung, daß alle eingeleiteten Maßnahmen angeblich einem übergeordneten „nationalen Interesse" dienten. Insbesondere versuchten sie, durch die irreführende These vom „Kriegssozialismus" den Massen glaubhaft zu machen, daß die Entwicklung des staatsmonopolistischen Kapitalismus den Bedürfnissen des Volkes entspräche, einen Schritt auf dem Wege zum Sozialismus darstelle und daher Unterstützung verdiene. So behauptete der rechte Sozialdemokrat Konrad Haenisch demagogisch, daß eine „unglaubliche Engstirnigkeit" dazu gehöre, in der Lebensmittelrationierung, der Einführung von Höchstpreisen, der regulierten Rohstoffverteilung etc. „nicht zum mindesten Meilensteine auf dem Wege zum Sozialismus zu erkennen" 16 , um mit Hilfe dieser Apologetik zu dem Schluß kommen zu können, daß der deutsche Imperialismus die „Sache des großen historischen Fortschritts", das „revolutionäre Prinzip" 17 vertrete. Eine besondere Rolle bei den Versuchen, die Arbeiterbewegung auf diese Weise in den imperialistischen Staat zu integrieren, spielten die rechten Gewerkschaftsführer. Von der Furcht besessen, die Regierung könnte die für den Kriegsfall gegen die Gewerkschaften vorbereiteten Maßnahmen in Kraft setzen, hatten sie sich bereits vor Ausbruch der Feindseligkeiten mit der Staatsmacht ins Benehmen gesetzt und die Versicherung erhalten: „Wir denken nicht daran, Ihnen zu Leibe zu gehen, falls Sie uns keine Schwierigkeiten machen, denn wir sind froh, große Organisationen der Arbeiterklasse zu haben, auf die sich 14
15 16 17
Engels, Friedrieb, Einleitung zu Sigismund Borkheims Schrift „Zur Erinnerung für die deutschen Motdspatrioten 1806—1807", in: Engels, Friedrich, Über die Gewaltstheorie; Gewalt und Ökonomie bei der Herstellung des neuen Deutschen Reiches, Berlin 1952, S. 88. Geschichte der deutseben Arbeiterbewegung, Bd. 2, Berlin 1966, S. 221. Haeniscb, Konrad, Die deutsche Sozialdemokratie in und nach dem Weltkriege, Berlin 1916, S. 128. Ebenda, S. 130.
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Staatsmonopolistischer Kapitalismus und Arbeiterbewegung
die Regierung verlassen kann." 1 8 (Hervorhebungen von mir — D. B.) Die Führer der Gewerkschaften bedankten sich prompt und schwenkten ohne zu zögern auf die Linie der Unterstützung der imperialistischen Kriegspolitik ein. Bereits am 2. August fand eine Konferenz der Vorstände der Verbände statt, deren Beschlüsse der völligen Unterordnung unter die Interessen der herrschenden Klasse gleichkamen. 19 Streiks wurden eingestellt, Streikunterstützungen nicht mehr gezahlt. Mit ganzer Kraft unterstützten die rechten Gewerkschaftsführer die Versuche der herrschenden Klasse, die Auswirkungen der Mobilisierungskrise so rasch wie möglich zu überwinden. Sie beteiligten sich an der Arbeit der Reichszentrale der Arbeitsnachweise, förderten die Bestrebungen, Industriearbeiter bei der Ernte einzusetzen, stellten ihre finanziellen Mittel zur Linderung der durch den Krieg hereingebrochenen Not zur Verfügung und versuchten in jeder Weise, sowohl mit dem Staat als auch mit den Unternehmerverbänden zusammenzuarbeiten. Ihre Konzeption von der einzuschlagenden Innenpolitik wie auch hinsichtlich der Kriegsziele näherte sich den Auffassungen der Regierung Bethmann Hollweg und der wendig-parlamentarischen Fraktion der Monopolbourgeoisie. Ihre Bemühungen, mit der herrschenden Klasse zu kooperieren, waren teilweise von Erfolg gekrönt. In einigen Gewerben, allerdings solchen von untergeordneter Bedeutung, kam es zur Bildung von „Arbeitsgemeinschaften" zwischen Unternehmern und Gewerkschaften. In Berlin entstand Anfang 1915 ein „Kriegsausschuß für die Metallbetriebe Groß-Berlins", der sich paritätisch aus Vertretern der Unternehmer und der Gewerkschaften zusammensetzte und in dem auch der Staat vertreten war. Diese und andere ähnliche Tatsachen, die sämtlich auf die volle Unterstützung der imperialistischen Kriegspolitik und der staatsmonopolistischen Entwicklung hinausliefen, wurden von den rechten Gewerkschaftsführern benutzt, um ihre These vom „Kriegssozialismus" zu stützen. „Sozialismus, wohin wir blicken!" hieß es bereits im November 1914 im Organ des Deutschen Metallarbeiterverbandes. 20 Wilhelm Jansson, leitendes Mitglied der Generalkommission, gab ein „gewerkschaftliches Kriegsbuch" heraus, in dem führende Funktionäre nachzuweisen versuchten, warum es angeblich im Lebensinteresse der deutschen Arbeiterklasse lag, sich vor den imperialistischen Kriegskarren zu spannen. Da hieß es z. B.: „Die Hütte des Arbeiters wird ebensowenig verschont wie der Palast des Reichen. Schwer versündigt sich derjenige, der behauptet, der Arbeiter habe nichts zu verlieren." 21 Ein anderer führender Sozialdemokrat schrieb: „Wehe den deutschen Arbeitern, wenn wir nicht Sieger bleiben." 22 Der rechte Sozialdemokrat Hugo Heinemann behauptete sogar, die Regierung sei — quasi im Interesse des Sozialismus — „entschlossen . . ., mit allen ihr zu So die Darstellung von Paul Umbreit(Die deutschen Gewerkschaften im Weltkrieg, Berlin 1917, S. 21), der es auf Grund seiner intimen Kenntnis der Gewerkschaftspolitik wissen mußte. 19 Vgl. Richter, Werner, a. a. O., S. 40f., der darauf hinweist, daß die Gewerkschaftsführer ihre Kehrtwendung zu einer Zeit vollzogen, als in der SPD-Führung noch heftig diskutiert wurde. 20 Metallarbeiter-Zeitung, Nr. 45 v. 7 . 1 1 . 1914. 21 Schmidt, Robert, Kapitalismus und Sozialpolitik, in: Arbeiterinteressen und Kriegsergebnis. Ein gewerkschaftliches Kriegsbuch, hg. v. Wilhelm Kansson, Berlin 1915, S. 3. Schmidt begann noch unter der kaiserlichen Regierung seine Karriere im Dienste der bürgerlichen Staatsmacht als Unterstaatssekretär im Kriegsernährungsamt, wurde 1919 zunächst Reichsernährungsminister, dann Reichswirtschaftsminister, 1923 Reichsminister für Wiederaufbau und 1928 wieder Reichswirtschaftsminister. 22 Wissel!, Rudolf, Die Arbeiterversicherung, in: Arbeiterinteressen und Kriegsergebnis, a.a.O., S. 27. Wisseil war 1919 Reichswirtschaftsminister, wurde wegen Differenzen über die einzuschlagende staatsmonopolistische Linie abgelöst und durch seinen Widersacher Robert Schmidt ersetzt. Beide waren dann 1929/30 wieder Ministerkollegen im Kabinett von Hermann Müller. 18
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Gebote stehenden außerordentlichen Machtmitteln den Widerstand der kapitalistischen Kräfte zu überwinden." 23 Auch heute noch finden sich in der Historiographie der BRD, wenn auch nur vereinzelt und vornehmlich unter als konservativ bekannten Historikern älterer Jahrgänge solche längst auf dem Müllhaufen der Geschichte gelandeten Behauptungen vom Kriegssozialismus, bei denen die gezielte Absicht, Idee und Wirklichkeit des Sozialismus zu diffamieren, mehr oder minder deutlich erkennbar ist. 23 Die herrschende Klasse stand dergleichen Auffassungen mit durchaus gemischten Gefühlen gegenüber. So nützlich sie zunächst waren, um die Massen vorerst „bei der Stange" zu halten, so mußte doch, je länger der Krieg dauerte, diese künstliche und verlogene Theorie mehr und mehr in einen für jeden sichtbaren Widerspruch zur Wirklichkeit geraten und damit die Forderungen nach dem wirklichen Sozialismus lauter werden lassen. Sie mußten außerdem diejenigen bürgerlichen Kräfte verstärkt auf den Plan rufen, die von einer wie auch immer gearteten Intervention des Staates, ob als „Sozialismus" drapiert oder nicht, nichts wissen wollten. Dabei kam es vor, daß aus dieser Ablehnung heraus mitunter recht drastisch die Wahrheit über den Charakter des Krieges gesagt wurde, so z. B., wenn der junge Theodor Heuß, der spätere erste Bundespräsident der BRD (1949—1959), in aller Offenheit feststellte: „Die Arbeiter kämpfen . . . mit Gewehr und Handgranate für die Profitrate des Unternehmers, und dieser kann nur wünschen, daß sie recht ausdauernde Soldaten seien." 25 Der Beifall seitens der Monopole und des Staates blieb aus, das „Interesse" für den „vaterländischen Sozialismus" war rein theoretischer Natur. In der Praxis dagegen war man zunächst wenig geneigt, den Anbiederungsversuchen der rechten Führer entgegenzukommen. Mit der zunehmenden Verschlechterung der Lage im allgemeinen und der wirtschaftlichen Situation im besonderen war die herrschende Klasse jedoch in wachsendem Maße bereit, auf die Unterstützung durch die rechten Führer zurückzugreifen, um der weiteren Verschärfung der Widersprüche entgegenzuwirken. Diese Tendenz trat bereits im Laufe des Jahres 1916 deutlich in Erscheinung. Sie war ein unübersehbares Symptom der Schwäche und der Krise des deutschen Imperialismus und des Anwachsens des Volkswiderstandes gegen den imperialistischen Krieg. Führende Sozialdemokraten wurden in die staatsmonopolistischen Organisationen berufen, unter ihnen August Müller, Alexander Schlicke, später Gustav Noske und Gustav Bauer, der 2. Vorsitzende der Generalkommission der Gewerkschaften Deutschlands, Männer, die dann beim Übergang vom imperialistischen Krieg zum imperialistischen Frieden und in der Zeit der Weimarer Republik leitende Positionen bekleideten und das kapitalistische System gegen den Ansturm der Volksmassen verteidigten. Während der Kriegszeit wurden sie faktisch auf die Übernahme dieser Aufgaben vorbereitet. Sie zählten stets zu den eifrigsten Befürwortern einer durch staatsmonopolistische Mittel und Methoden gekennzeichneten Wirtschaftspolitik und waren mit von der Partie, wenn es galt, gegen den Widerstand konservativer Kräfte die Interessen der Monopole und des Staates durchzusetzen. Das Hilfsdienstgesetz z. B. konnte nur in Kraft gesetzt und wirksam werden mit Hilfe der Unterstützung der rechten Partei- und Gewerkschaftsführer, die dessen Inhalt als „stärkste" 23 Heinemann, Hugo, Die sozialistischen Errungenschaften der Kriegszeit, Chemnitz o. J., S. 1. So z. B. bei Slolper, Gustav!Häuser, KarljBorcbardt, Knut, Deutsche Wirtschaft seit 1870, Tübingen 1966, S. 77 und Hubatscb, Walter, Der Weltkrieg 1914/1918, in: Handbuch der deutschen Geschichte, Bd. IV, Abschn. 2, Konstanz o. J. S. 43. 25 Heuß, Theodor, Kriegssozialismus, in: Der deutsche Krieg, Politische Flugschriften, hg. v. Ernst Jäckh, 58. Heft, Stuttgart/Berlin 1915, S. 8.
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Staatsmonopolistischer Kapitalismus und Arbeiterbewegung
kriegssozialistische Maßnahme anpriesen und den arbeitenden Schichten schmackhaft zu machen suchten. Der Einbau einiger Scheinkonzessionen wie der Arbeiterausschüsse und der Schlichtungsmechanismus waren in ihrer allgemeinen Zielsetzung zweifellos als Erfolge auf dem konsequent weiter beschrittenen Weg des allmählichen Aufbaus einer „Arbeitsgemeinschaft" zwischen Kapital und Gewerkschaftsführern zu werten. 1917 nahm die Zusammenarbeit zwischen den Gewerkschaftsführern und dem Staatsapparat sowie der militärischen Führung neue, noch engere Formen an, während das Monopolkapital weiterhin äußerste Zurückhaltung übte, weitgehend abstinent blieb. Einem wachsenden Teil der herrschenden Klasse, und hier vor allem ihren exponiertesten Vertretern an der Spitze des Reiches, wurde der Zusammenhang zwischen der Weiterführung des Krieges, der Unterdrückung der Volksbewegung und der Haltung der Gewerkschaftsführung mehr und mehr bewußt. Diese weitgehende Abhängigkeit kommt in einem Schreiben des Unterstaatssekretärs in der Reichskanzlei, Wahnschaffe, an Ludendorff vom 24. Februar 1917 deutlich zum Ausdruck: „Im übrigen ist es zweifellos und vom Kriegsamt nach meiner Überzeugung mit vollem Recht grundsätzlich anerkannt, daß ohne den guten Willen des deutschen Industriearbeiters der Krieg nicht zu gewinnen ist. Auf die große Masse der Industriearbeiter hat aber niemand in der Welt annähernd denselben Einfluß wie die Führer der Gewerkschaften. Ohne diese Führer oder gar gegen sie ist da nichts zu machen. Ihr Einfluß beruht auf einer jahrzehntelangen erfolgreichen Arbeit für die Besserung der Stellung der Arbeiterschaft, die ihnen das volle Vertrauen ihrer Vereinsmitglieder eingetragen hat. Bisher ist es gelungen, während des ganzen Krieges die Gewerkschaften alle fest bei der Politik des 4. August 1914 zu halten. Wie wir durchhalten sollten, wenn es anders wäre, ist gar nicht abzusehen." 26 Die rechten Partei- und Gewerkschaftsführer mühten sich allerdings redlich, das in sie gesetzte Vertrauen zu rechtfertigen. Anfang April 1917 verhandelte Groener mit führenden Vertretern der sozialdemokratischen und Gewerkschafts-Presse in einer durch die Ernährungslage gespannten Situation über den Beitrag, den diese Presse leisten konnte, um die Erregung zu dämpfen. Man erzielte „volle Übereinstimmung". 27 Als der große April-Streik dennoch ausbrach, trugen die Gewerkschaftsführer zu seiner baldigen Beilegung bei, indem sie einem von Groener gebildeten „Arbeiterernährungsausschuß" beitraten. 28 Der „Vorwärts" veröffentlichte am 27. April 1917 ein Schreiben an Groener, in dem es hieß: „Arbeitseinstellungen in der gegenwärtigen Stunde sind zu vermeiden; Erhaltung und Sicherheit des Reiches stehen an erster Stelle." 29 Prompt gab der U SPD-Vorsitzende Haase dem Leiter des Kriegsamts die ehren wörtliche Zusicherung, einen Streik zum 1. Mai, dem Kampftag der internationalen Arbeiterklasse, zu verhindern. 30 Höheren Ortes wurde aus den April-Ereignissen der Schluß gezogen, sich noch stärker als bisher auf die Stärkung des rechten Flügels der Sozialdemokratie zu konzentrieren. Am 9. Juli 1917 äußerte sich der Kanzler auf einer Sitzung des Preußischen Kronrates, an der auch der Kaiser teilnahm: „Bisher sei es geglückt, die Sozialdemokraten an der Stange zu halten, und namentlich die sozialdemokratischen Gewerkschaften hätten, wie der Herr Handelsminister hervorgehoben habe, wertvolle Dienste geleistet. Je 26 Dokumente und Materialien . . ., Reihe II, Bd. 1, Berlin 1958, S. 559. 27 Stern, Leo, Der Einfluß der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution auf Deutschland und die deutsche Arbeiterbewegung, in: Auswirkungen der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution auf Deutschland, Berlin 1959, S. 88. 2« Vgl. Richter, Werner, a. a. O., S. U l f . 29 Dokumente und Materialien . . . , a. a. O., S. 626. 30 Geschichte der deutseben Arbeiterbewegung, Bd. 2, a. a. O., S. 316.
Die Stellung der deutschen Linken
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länger der Krieg dauere, je größer die Not werde, um so mehr wachse aber die Macht des radikalen Flügels. Die Gewerkschaften klagten, daß sie ihre Leute nicht mehr in der Hand behielten, die von den Radikalen mit dem Hinweis darauf aufgeheizt würden, daß die kaiserlichen Sozialdemokraten ja nichts für sie erreichten. Es sei unbedingt nötig, den rechten Flügel der Sozialdemokratie wieder zu stärken. Denn was solle werden, wenn die Regierung bei der Bekämpfung der Streikbewegungen sich nicht mehr der Hilfe der Gewerkschaften bedienen könne?" 3 1 Im Herbst des gleichen Jahres kam es schließlich mit der Gründung des „Volksbundes für Freiheit und Vaterland" zum offenen Bündnis zwischen der wendig-parlamentarischen Fraktion der Monopolbourgeoisie und der rechten Gewerkschaftsführung. Gustav Bauer, zum ersten stellvertretenden Vorsitzenden gewählt, schloß sich seinen Vorrednern hinsichtlich der Fragen des Friedensschlusses und der Kriegs- und Friedensziele „vollinhaltlich" an. 32 Wenn somit der reformistische Flügel in der Arbeiterbewegung immer weiter nach rechts abgetrieben wurde, so als Reaktion und Reflektion des Anwachsens der Volksbewegung, die, getrieben durch die eigene Lage und die innere Situation, sich am Beispiel der russischen Arbeiter, Bauern und Soldaten orientierten und mit wachsender Stärke auf die revolutionäre Beendigung des Krieges hinarbeitete. 3. Die Stellung der deutschen Linken Bereits vor dem Kriege waren es die Linken in der deutschen Arbeiterbewegung, die einen energischen Kampf gegen die Rüstungskonzerne führten, ihre internationale Verflechtung anprangerten und ihr Zusammenspiel mit dem staatlichen und militärischen Machtapparat bei der Vorbereitung des Krieges nachwiesen. Es war insbesondere Karl Liebknecht, der „wesentliche Erscheinungsformen staatsmonopolistischer Tendenzen des Imperialismus" 33 untersuchte. Nach Kriegsausbruch waren die Linken im Gegensatz zur Haltung der rechtssozialdemokratischen Partei- und Gewerkschaftsführer bestrebt, den Massen den volksfeindlichen und antinationalen Charakter der staatsmonopolistischen Maßnahmen zu erläutern und sie vom ideologischen Einfluß der mit den Monopolen paktierenden rechten Elemente in der Arbeiterbewegung zu befreien. Die Linken verbanden dabei ihre prinzipielle Ablehnung und Bekämpfung des imperialistischen Krieges stets mit Forderungen, die auf eine Verbesserung der wirtschaftlichen und sozialen Lage der Volksmassen abzielten. Sie übten scharfe Kritik an den Unzulänglichkeiten und der Inkonsequenz der staatlichen Regulierungsmaßnahmen auf dem Gebiet der Versorgung der Bevölkerung und prangerten sie als Versuch der herrschenden Klasse an, die Lasten des Krieges mit Hilfe staatsmonopolistischer Mittel und Methoden den Volksmassen aufzubürden. In seinen Thesen vom November 1914 erarbeitete sich Liebknecht die theoretische Grundlage für die Strategie und Taktik unter den Bedingungen des Krieges. Ausgehend von der Einschätzung, daß es sich „um einen imperialistischen Krieg reinsten Wassers, und zwar vor allem, auf deutscher Seite, mit dem von mächtigsten Kreisen beharrlich verfolgten Ziel von Eroberungen großen Stils" handelte 34 , daß es kein 31
32
33 34
Kuc^ynski, Jürgen, Klassen und Klassenkämpfe im imperialistischen Deutschland und in der BRD, Berlin 1972, S. 338f. Richter, Werner, a. a. O., S. 131f., Kuc^jnski,Jürgen, Die Geschichte der Lage der Arbeiter. . ,,Bd. 4,a. a. O., S. 227. Geschichte der deutseben Arbeiterbewegung, Bd. 2, a. a. O., S. 201. Ebenda, S. 441.
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Staatsmonopolistischer Kapitalismus und Arbeiterbewegung
„Verteidigungskrieg", sondern ein „kapitalistischer Angriffs- und Eroberungskrieg" sei, entwickelte er seine prinzipiell ablehnende Haltung zum Krieg, setzte sich aber gleichzeitig für soziale Maßnahmen zur Linderung der Notlage des werktätigen Volkes, wie z. B. eine staatliche Organisation der Lebensmittelversorgung ein, und zwar „ohne Rücksicht auf den Widerspruch gewisser Interessentenkreise, die diese Zeit der Not für ihren persönlichen Vorteil auszunützen suchen." 35 Als einziger Abgeordneter vertrat Liebknecht auch im Deutschen Reichstag konsequent die Interessen des werktätigen Volkes, prangerte die kapitalistische Interessenpolitik an und nutzte die Tribüne des Parlaments, um den wahren, den Klassencharakter der These von der „nationalen Einheit" vor der Öffentlichkeit zu entlarven. Liebknecht forderte z. B. von der Regierung, daß sie „durch Regelung der Produktion nach den Interessen der Allgemeinheit, durch Beschlagnahme der Vorräte und ihre gleichmäßige Verteilung auf die Gesamtbevölkerung" der Notlage der Masse des deutschen Volkes entgegenwirke. 36 Die Linken gaben sich jedoch nicht der Illusion hin, daß ihren Forderungen entsprochen werden könnte. Die Regierung war weder willens noch fähig, ihnen nachzukommen. Es ging vielmehr vor allem darum, den unversöhnlichen Gegensatz der Interessen aufzuzeigen und den Volksmassen deutlich zu machen. Die revolutionären Kräfte unternahmen große Anstrengungen, um — allen Unterdrükkungsmaßnahmen und Verfolgungen zum Trotz — das Volk über den wahren Charakter des Krieges, über sein Wesen, aufzuklären und den Ausweg aus der gegebenen Situation zu zeigen. Noch im Winter des Jahres 1914 setzte ihre propagandistische Tätigkeit ein, als die Begründung zu Liebknechts historischem „Nein" zu den Kriegskrediten, das gleichzeitig seine Zustimmung zu den Notstandskrediten enthielt, als Informationsmaterial herausgebracht wurde. 37 In realer Einschätzung der Lage stellten die Linken bereits im Dezember des gleichen Jahres in einem Referentenmaterial fest, daß „die Hälfte des Kleinbürgertums faktisch Pleite ist, daß es Deutschland heute bereits an den wichtigsten Rohstoffen fehlt, daß die Lebensmittel nur noch für kurze Zeit reichen, daß die Staaten und Gemeinden bankrott sind, daß wir bereits eine Papiergeldwirtschaft haben, die zur Katastrophe führen muß." 38 Die Abgrenzung der Linken von den Sozialchauvinisten und Zentristen fand einen ersten organisatorischen Niederschlag im Frühjahr 1915 in der Bildung der Gruppe Internationale. Sie trat mit der Herausgabe einer eigenen Zeitschrift „Die Internationale" an das Licht der Öffentlichkeit, in deren erster und einziger während des Krieges erschienener Nummer vom April 1915 — die Zensur verbot ihr weiteres Erscheinen — führende Köpfe der deutschen Linken sich mit der Burgfriedenspolitik auseinandersetzten, darunter auch mit der von den Reformisten unterstützten staatsmonopolistischen Kriegswirtschaftspolitik, speziell mit der Frage der Kriegskosten und der Theorie vom „Kriegssozialismus". Die Linken wandten sich scharf gegen die Versuche rechtssozialdemokratischer Politiker, die Einführung kriegswirtschaftlich begründeter Maßnahmen und die Entwicklung des staatsmonopolistischen Kapitalismus als eine „spezifische Form" des Sozialismus, als „Kriegssozialismus" unter den Massen zu popularisieren. Julian Marchlewski wies im gleichen Jahr in einer Broschüre 39 nach, daß dieser verzweifelte Versuch, die Arbeiter35
36 37 38 39
Zit. nach Woblgemutb, Heinz, Deutschland und die deutsche Arbeiterbewegung von der Jahrhundertwende bis 1917, Berlin 1964, S. 287. Dokumente und Materialien . . ., Reihe II, Bd. 1, a. a. O., S. 256. Vgl. Spartakusbriefe, Berlin 1958, S. 3f. Ebenda, S. 6. Kämpfer, Jobannes (d. i. Julian Marchlewski), Kriegssozialismus in Theorie und Praxis, München (1915).
Die Stellung der deutschen Linken
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bewegung an das staatsmonopolistische System zu binden, angesichts der Realitäten zum Scheitern verurteilt war. Ein Höhepunkt der außerparlamentarischen Agitation und Propaganda war die Verbreitung eines von Karl Liebknecht entworfenen Flugblatts durch die Gruppe Internationale mit dem programmatischen Titel: „Der Hauptfeind steht im eigenen Land" im Mai 1915.40 In faktischer Übereinstimmung mit den Auffassungen Lenins hieß es darin: „Der Hauptfeind des deutschen Volkes steht in Deutschland: der deutsche Imperialismus, die deutsche Kriegspartei, die deutsche Geheimdiplomatie. Diesen Feind im eigenen Lande gilt's für das deutsche Volk zu bekämpfen." 4 1 Gleichzeitig setzte Liebknecht seinen Kampf innerhalb der Reichstagsfraktion der SPD und im Reichstag selbst gegen die imperialistische Kriegspolitik und ihre Folgen für die werktätigen Massen konsequent fort. Er forderte die Reichstagsabgeordneten der SPD zu einer aktiven Antikriegspolitik auf und sorgte durch seine Aktivitäten dafür, daß die Auseinandersetzung über die Stellung der Partei nicht zum Erliegen kam. Häufig spielte dabei der Zusammenhang zwischen der staatsmonopolistischen Wirtschaftspolitik und deren Auswirkungen auf die wirtschaftliche und soziale Lage des Volkes eine wesentliche Rolle. So forderte er die Fraktion am 22. November 1915 zu einer umfangreichen Interpellation im Reichstag auf, in deren Entwurf es u. a. hieß: „e) Weiß die Regierung, in welch schwerer wirtschaftlichen Not sich die Masse des deutschen Volkes infolge des Krieges, der Gewinnsucht kapitalistischer Interessengruppen und der völlig ungenügenden Maßregeln der Regierung befindet? Ist die Regierung endlich bereit, zur Steuerung dieser Not bei energischer Steigerung der allgemeinen Kriegsfürsorge ohne weiteres Zögern, unter Beiseiteschiebung aller Sonderinteressen die erforderlichen Schritte zur ausreichenden Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln (Nahrung, Kleidung, Unterkunft, Heizung, Beleuchtung) zu tun, und zwar so, daß die Produktion im-Interesse der Gesamtheit geregelt, die vorhandenen Vorräte beschlagnahmt und, unter weitgehender Inanspruchnahme öffentlicher Mittel für die Bedürftigen, auf die Gesamtbevölkerung gleichmäßig verteilt werden?"' 52 Im Reichstag selbst entlarvte er mit Hilfe von Anfragen und Reden die Demagogie der herrschenden Klasse. Nachdem seine letzte Rede vor dem Plenum des Reichstags am 8. April 1916, die sich mit der Frage der Kriegsanleihen beschäftigen sollte, gewaltsam unterbrochen und Liebknecht am 1. Mai bei der Antikriegs-Demonstration verhaftet worden war, setzte er seinen mutigen Kampf vor dem Gericht der Klassenjustiz fort und prangerte die Politik der Regierung an: „Sie hat in der wirtschaftlichen Versorgung der Bevölkerung während des Krieges aus agrarischen und kapitalistischen Rücksichten gründlich versagt und so einer empörenden Volksauswucherung und Not die Wege geebnet." 43 Ein bedeutsamer Schritt auch zur organisatorischen Loslösung von den Opportunisten war die Reichskonferenz der Gruppe Internationale vom 1. Januar 1916. Hier berieten die konsequentesten Vertreter der revolutionären Arbeiterbewegung in Deutschland die Leitsätze ihrer politischen Arbeit und beschlossen die künftige Herausgabe eines (illegalen) Publikationsorgans, der „Spartakusbriefe", nach denen die Gruppe auch ihren Namen erhielt. Die Leitsätze betrachteten den Imperialismus, dessen Unfähigkeit, die Probleme der Menschheit zu lösen, offenbar war, als „letzte Lebensphase" der Herrschaft des Kapitals, die zu einer intensiven Verschärfung der Klassengegensätze führt. 44 Das Proletariat wurde Dokumente und Materialien . . ., a. a. O., S. 162f. «l Ebenda, S. 165. « Zit. nach: Wohlgemutb, Hein%, a. a. O., S. 295. « Spartakusbriefe, a. a. O., S. 222. « Ebenda, S. 115. i0
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Staatsmonopolistischer Kapitalismus und Arbeiterbewegung
aufgerufen, sich unter der Losung „Krieg dem Kriege" auf die entscheidende Auseinandersetzung mit dem Kapitalismus vorzubereiten. Die Aufklärung der Volksmassen über den wahren Charakter des Krieges und der Politik der opportunistischen Führer war dabei von großer Bedeutung, um die politisch-ideologischen Voraussetzungen für den Klassenund Massenkampf gegen den Imperialismus zu schaffen. Die beiden diametral entgegengesetzten Klassenlinien in der deutschen Arbeiterbewegung kamen auch in der Haltung gegenüber dem Hilfsdienstgesetz deutlich zum Ausdruck. Julian Marchlewski prangerte in einem von ihm verfaßten Flugblatt den „Vorwärts" an, der das Gesetz als „Sprung in den sozialistischen Zukunftsstaat" bewunderte, während es sich in Wirklichkeit um die „Verwandlung Deutschlands in ein vollkommenes Zuchthaus für die Arbeiterschaft" handelte. 45 Folgerichtig nahmen solche Forderungen, die auf die Schwächung der Macht entscheidender Teile des mit dem Staatsapparat verbundenen Monopolkapitals, auf die Übernahme von Regulierungsfunktionen durch die Organe der Werktätigen selbst und auf die Beseitigung der Zwangsarbeitsgesetzgebung orientierten, bei der Vorbereitung der ersten antiimperialistischen Volksrevolution in Deutschland in den Programmen und Richtlinien der Linken einen bedeutenden Raum ein. Als im Februar 1917 in Rußland die bürgerlich-demokratische Revolution ausbrach, wurde sie von den Linken begeistert begrüßt, gleichzeitig aber auch als ein vorerst noch „ schwacher Anfang" betrachtet. Die Revolutionäre in der deutschen Arbeiterbewegung waren sicher, daß die Revolution erst begonnen hatte: „Weit entfernt davon, ihr Werk beendet zu haben, hat sie erst eine knappe Einleitung zustande gebracht, dem die gewaltigsten Klassenkämpfe um den Frieden und das radikale Programm des Proletariats folgen werden." 4 6 Zielbewußt bereitete sich auch die Spartakusgruppe auf die „Götterdämmerung" des Imperialismus vor. Dokumente und Materialien . .., a. a. O., S. 507.
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