Staat und Historie. Leitbilder und Fragestellungen deutscher Geschichtsschreibung vom Ende des 19. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts [1. ed.] 9783848760534, 9783748901822


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German Pages 361 [360] Year 2021

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Table of contents :
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Vorwort
Staat und Historie: Affäre und Misere einer „verspäteten Nation"
Annäherungen an Staat und Historie im Geschichtsdenken des 19. Jahrhunderts
Theodor Mommsen: Staat und Historie
Auf der Suche nach dem „besten Staat“. Wissenschaft und Politik im Staatsdenken Heinrich von Treitschkes
Gustav Schmollers Staatsverständnis
Otto von Gierke. Der Staat als herrschaftlich-genossenschaftlich verfasstes Gemeinwesen
Gibt es bei Max Weber eine Staatstheorie?
Friedrich Meinecke: Die Geburt des deutschen Nationalstaates aus dem Geist der Neoromantik
Otto Hintze und der Staat
Staat und Historie im Geschichtsdenken von Erich Marcks
Otto Brunner: Die Historizität des Staates
„Das Reich ist kein Industriekonzern“. Zum Staatsbegriff bei Franz Schnabel
Des Reiches Amtmann. Fritz Hartung (1883-1967) als Historiograph der Realpolitik
Konstitutionalismus und Antisemitismus. Carl Schmitts Rechtswissenschaftsgeschichte
Kantorowicz‘ Kenotaph. Von Referenzen bei Foucault und Agamben zu antiken, mittelalterlichen und neuzeitlichen Belegungen
Autorenverzeichnis
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Staat und Historie. Leitbilder und Fragestellungen deutscher Geschichtsschreibung vom Ende des 19. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts [1. ed.]
 9783848760534, 9783748901822

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Wissenschaftlicher Beirat: Klaus von Beyme, Heidelberg Horst Bredekamp, Berlin Norbert Campagna, Luxemburg Herfried Münkler, Berlin Henning Ottmann, München Walter Pauly, Jena Wolfram Pyta, Stuttgart Volker Reinhardt, Fribourg Tine Stein, Göttingen Kazuhiro Takii, Kyoto Pedro Hermilio Villas Bôas Castelo Branco, Rio de Janeiro Loïc Wacquant, Berkeley Barbara Zehnpfennig, Passau

Staatsverständnisse | Understanding the State herausgegeben von Rüdiger Voigt Band 157

Walter Pauly | Klaus Ries [Hrsg.]

Staat und Historie Leitbilder und Fragestellungen deutscher Geschichtsschreibung vom Ende des 19. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts

Titelbild: Historische Ansicht von Berlin: Reichstag und Siegessäule.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-8487-6053-4 (Print) ISBN 978-3-7489-0182-2 (ePDF)

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1. Auflage 2021 © Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2021. Gesamtverantwortung für Druck und Herstellung bei der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG. Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Editorial

Das Staatsverständnis hat sich im Laufe der Jahrhunderte immer wieder grundlegend gewandelt. Wir sind Zeugen einer Entwicklung, an deren Ende die Auflösung der uns bekannten Form des territorial definierten Nationalstaates zu stehen scheint. Denn die Globalisierung führt nicht nur zu ökonomischen und technischen Verände‐ rungen, sondern sie hat vor allem auch Auswirkungen auf die Staatlichkeit. Ob die „Entgrenzung der Staatenwelt“ jemals zu einem Weltstaat führen wird, ist allerdings zweifelhaft. Umso interessanter sind die Theorien früherer und heutiger Staatsden‐ ker, deren Modelle und Theorien, aber auch Utopien, uns Einblick in den Prozess der Entstehung und des Wandels von Staatsverständnissen geben. Auf die Staatsideen von Platon und Aristoteles, auf denen alle Überlegungen über den Staat basieren, wird unter dem Leitthema „Wiederaneignung der Klassiker“ immer wieder zurückzukommen sein. Der Schwerpunkt der in der Reihe Staatsver‐ ständnisse veröffentlichten Arbeiten liegt allerdings auf den neuzeitlichen Ideen vom Staat. Dieses Spektrum reicht von dem Altmeister Niccolò Machiavelli, der wie kein Anderer den engen Zusammenhang zwischen Staatstheorie und Staatspraxis verkörpert, über Thomas Hobbes, den Vater des Leviathan, bis hin zu Karl Marx, den sicher einflussreichsten Staatsdenker der Neuzeit, und schließlich zu den zeitge‐ nössischen Staatstheoretikern. Nicht nur die Verfälschung der Marxschen Ideen zu einer marxistischen Ideolo‐ gie, die einen repressiven Staatsapparat rechtfertigen sollte, macht deutlich, dass Theorie und Praxis des Staates nicht auf Dauer voneinander zu trennen sind. Auch die Verstrickung Carl Schmitts in die nationalsozialistischen Machenschaften, die heute sein Bild als führender Staatsdenker seiner Epoche trüben, weisen in diese Richtung. Auf eine Analyse moderner Staatspraxis kann daher in diesem Zusam‐ menhang nicht verzichtet werden. Was ergibt sich daraus für ein zeitgemäßes Verständnis des Staates im Sinne einer modernen Staatswissenschaft? Die Reihe Staatsverständnisse richtet sich mit dieser Fragestellung nicht nur an (politische) Philosophen und Philosophinnen, sondern auch an Geistes- und Sozialwissenschaftler bzw. -wissenschaftlerinnen. In den Bei‐ trägen wird daher zum einen der Anschluss an den allgemeinen Diskurs hergestellt, zum anderen werden die wissenschaftlichen Erkenntnisse in klarer und aussagekräf‐ tiger Sprache – mit dem Mut zur Pointierung – vorgetragen. Auf diese Weise wird der Leser/die Leserin direkt mit dem Problem konfrontiert, den Staat zu verstehen. Prof. Dr. Rüdiger Voigt

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Editorial – Understanding the State

Throughout the course of history, our understanding of the state has fundamentally changed time and again. It appears as though we are witnessing a development which will culminate in the dissolution of the territorially defined nation state as we know it, for globalisation is not only leading to changes in the economy and technol‐ ogy, but also, and above all, affects statehood. It is doubtful, however, whether the erosion of borders worldwide will lead to a global state, but what is perhaps of greater interest are the ideas of state theorists, whose models, theories and utopias offer us an insight into how different understandings of the state have emerged and changed, processes which neither began with globalisation, nor will end with it. When researchers concentrate on reappropriating traditional ideas about the state, it is inevitable that they will continuously return to those of Plato and Aristotle, upon which all reflections on the state are based. However, the works published in this series focus on more contemporary ideas about the state, whose spectrum ranges from those of the doyen Niccolò Machiavelli, who embodies the close connection between the theory and practice of the state more than any other thinker, to those of Thomas Hobbes, the creator of Leviathan, those of Karl Marx, who is without doubt the most influential modern state theorist, those of the Weimar state theorists Carl Schmitt, Hans Kelsen and Hermann Heller, and finally to those of contemporary theorists. Not only does the corruption of Marx’s ideas into a Marxist ideology intended to justify a repressive state underline the fact that state theory and practice cannot be permanently regarded as two separate entities, but so does Carl Schmitt’s in‐ volvement in the manipulation conducted by the National Socialists, which today tarnishes his image as the leading state theorist of his era. Therefore, we cannot forego analysing modern state practice. How does all this enable modern political science to develop a contemporary understanding of the state? This series of publications does not only address this question to (political) philosophers, but also, and above all, students of humanities and social sciences. The works it contains therefore acquaint the reader with the general debate, on the one hand, and present their research findings clearly and informatively, not to mention incisively and bluntly, on the other. In this way, the reader is ushered directly into the problem of understanding the state. Prof. Dr. Rüdiger Voigt

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort

9

Walter Pauly / Klaus Ries Staat und Historie: Affäre und Misere einer „verspäteten Nation"

11

Franziska Metzger Annäherungen an Staat und Historie im Geschichtsdenken des 19. Jahrhunderts

19

Stefan Rebenich Theodor Mommsen: Staat und Historie

47

Thomas Gerhards Auf der Suche nach dem „besten Staat“. Wissenschaft und Politik im Staatsdenken Heinrich von Treitschkes

69

Hans-Christof Kraus Gustav Schmollers Staatsverständnis

101

Gerhard Dilcher Otto von Gierke. Der Staat als herrschaftlich-genossenschaftlich verfasstes Gemeinwesen

113

Peter Ghosh Gibt es bei Max Weber eine Staatstheorie?

143

Klaus Ries Friedrich Meinecke: Die Geburt des deutschen Nationalstaates aus dem Geist der Neoromantik

167

Ewald Grothe Otto Hintze und der Staat

181

Stefan Jordan Staat und Historie im Geschichtsdenken von Erich Marcks

199

Reinhard Blänkner Otto Brunner: Die Historizität des Staates

211

7

Thomas Hertfelder „Das Reich ist kein Industriekonzern“. Zum Staatsbegriff bei Franz Schnabel

241

Martin Otto Des Reiches Amtmann. Fritz Hartung (1883-1967) als Historiograph der Realpolitik

277

Reinhard Mehring Konstitutionalismus und Antisemitismus. Carl Schmitts Rechtswissenschaftsgeschichte

301

Walter Pauly Kantorowicz‘ Kenotaph. Von Referenzen bei Foucault und Agamben zu antiken, mittelalterlichen und neuzeitlichen Belegungen

323

Autorenverzeichnis

361

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Vorwort

Die ab dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts unverkennbaren Veränderungen der epistemologischen Grundlagen, methodischen Zugriffe, Leitbilder, Fragestellungen und Ordnungsentwürfe gerade auch in der Geschichtsschreibung lassen sich auf den prominent etablierten Begriff einer „Achsenzeit der modernen Wissenschaft“ (O.G. Oexle) bringen. Gleichsinnig könnte man auch von einer weiteren „Sattelzeit“ (R. Koselleck) oder „Epochenschwelle“ (H. Blumenberg) sprechen. Die Ursachen hierfür liegen in tiefgreifenden philosophischen Umbrüchen, die letztlich eine Form der Bewältigung des Erbes des deutschen Idealismus darstellen, vor allem aber auch im Anbruch einer Industriemoderne, die von enormen naturwissenschaftlichen und technischen Fortschritten ausgelöst und begleitet wurde (E. Hobsbawm). Dieser Anstoß hat weit ins 20. Jahrhundert gewirkt und prägt auf seine Weise - nie in Gänze theoretisch reflektiert - bis heute das Nachdenken über Geschichte, Staat und Gesellschaft. Von daher kann für das Ende dieser Achsenzeit, abgesehen von der Willkürlichkeit jeder Zäsur, kein exaktes Datum angegeben werden. Infolgedessen sind die hier zu verzeichnenden Forschungsansätze nach wie vor virulent und gehö‐ ren zu den Fundamenten aktueller Debatten. Staat und Staatlichkeit haben in den seither vergangenen bald anderthalb Jahrhunderten enorme Wandlungen und Brüche erlebt. Das Instrumentarium einer Erfassung dieser Wandlungsprozesse mag nach wie vor von den epochemachenden Impulsen der in diesem Band untersuchten Pro‐ tagonisten profitieren und zu einer Steigerung der Sensibilität beitragen. Gleichwohl bleibt der in Deutschland erfolgte Kulturbruch eine immer mitzudenkende Bürde jedweder Rezeption dieses in Vielem noch unausgeschöpften Potentials. Wir danken allen Autorinnen und Autoren für ihre Mitwirkung an diesem Vorha‐ ben sowie Herrn Kollegen Rüdiger Voigt und dem Nomos-Verlag für die Aufnahme des Bandes in die Reihe Staatsverständnisse. Bedauerlicherweise muss erwähnt wer‐ den, dass wir auf einen aus Cambridge zugesagten Beitrag über Jacob Burckhardt zwei Jahre vergeblich gewartet haben. Unser Dank gilt in besonderem Maße Frau Isabelle M. Kutting, die das Buch in gewohnter Sorgfalt redaktionell betreut hat. Jena, Frühsommer 2021

Walter Pauly/Klaus Ries

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Walter Pauly / Klaus Ries Staat und Historie: Affäre und Misere einer „verspäteten Nation"

Die deutsche Geschichtswissenschaft in ihrer Glanzzeit des 19. Jahrhunderts unter‐ stützte die erstmalige Errichtung eines Staates auf nationaler Ebene als eine späte Affäre, die des 20. Jahrhunderts beschrieb dessen Krisen und Niedergang als eine folgenreiche Misere. Dies ging einher mit einer Fokussierung auf Staatlichkeit, die sich wie übrigens auch in Italien aus einem Nachholungs- und Kompensati‐ onsprozess ergab und sich bei Nationen wie Frankreich und Großbritannien, die staatliche Strukturen längst erworben hatten, erübrigte. Die Staatsverhaftung führte in ihrer Einseitigkeit zur Abdrängung einer eigenständigen Gesellschafts- und Kul‐ turgeschichte zugunsten einer dominanten politischen Geschichtsschreibung. Selbst dort, wo Ansätze zur Neuerung bestanden (namentlich bei Karl Lamprecht), verharr‐ ten diese ganz bemerkenswerterweise in nationaler Verengung – ganz anders als etwa die zeitgleich in Frankreich entstehende „Annales“-Schule. In Deutschland herrschte vornehmlich ein ganzheitlicher Staatsbegriff, der unter‐ schiedslos alle Aspekte des sich ausdifferenzierenden gesellschaftlichen Lebens mit der Machtpolitik verklammerte. Aufgrund der fortgeführten Verwendung eines anti‐ ken Staatsbegriffs, der „das gesammte Staatsleben nur als ungebrochene Einheit zu fassen" (Georg Jellinek) vemochte, waren die deutschen Historiker in ihrer Mehrheit blind für alle Nuancierungen der Gesellschaft und des politischen Gesamtgesche‐ hens. Damit blieben sie gefangen in einer Unbeholfenheit und der Erklärungswert ihrer Wissenschaft war nur ein beschreibender, der entweder in der Tradition Hegels den status quo verstehen wollte, oder – in Fortführung Rankes – einen unkritischen Neuidealismus (Elisabeth Fehrenbach) hervorbrachte. Dies war auch eine Abwehr der materialistischen Geschichtsschreibung, die in Deutschland nicht nur aufgrund ihrer ideologischen Engführung, sondern vielmehr wegen ihres sozioökonomischen Primats keine Chance besaß. Dem ganzheitlichen, der Antike entlehnten Staatsbegriff der deutschen Historie haftete etwas seltsam Amorphes und Nebulöses an, eine Unbestimmtheit und Vag‐ heit, die zugleich eine fragwürdige Überzeitlichkeit für sich in Anspruch nahm. Das hing auch mit der Tradition des Historismus zusammen, der in einer ganz spezifischen, vor allem auf Friedrich Meinecke zurückgehenden Spielart die Suche nach transzendenten und quasi-zeitlosen Geschichtskategorien als seine bevorzug‐ te Aufgabe ansah. Obwohl dieses Denken in der Tradition der metaphysischen Geschichtsauffassung Rankes, die aufgrund ihrer religiösen Prägung ebenfalls von

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festen Größen in der Geschichte ausging, stand, konterkarierte es doch zugleich den Rankeschen Individualitätsgedanken und seine Methode der Suche nach dem Einmaligen und Besonderen in der Vergangenheit. Dies führte selbst bei Meinecke zu einer bemerkenswerten analytischen Schwäche und einem regelrechten Staatsrau‐ nen, das zugleich jedoch gerade wegen dieser Schwäche anschlussfähig für jedwede realpolitischen Möglichkeiten war. Die sogenannten Neorankeaner spürten offenbar nicht den inneren Widerspruch zwischen ihrer romantisch angehauchten Geschichts‐ auffassung, die das organische Wachsen gegen das mechanistische Normdenken verteidigte, und ihrer gänzlich unbeweglichen und ungebrochenen staatlichen Ganz‐ heitsvorstellung, die ihnen zu einem unumstößlichen Denkgebäude geronn. Auch sahen sie wohl keinen Widerspruch darin, dass sie vor allem ab dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts weitgehend die Vergangenheit abkappten und in mythologi‐ scher Umdeutung Bismarcks als des großen Staatsgründers erst mit den 1860er Jahren die nationalstaatliche Geschichte beginnen ließen und sich von jeder weiter zurückreichenden national-demokratischen Tradition zunehmend verabschiedeten. Quasi paradigmatisch steht dafür Heinrich von Treitschke, wenn er 1866 von der „Wiederherstellung des Reichs“ sprach und daraus „die Integrationskraft des neuen Reichs gegenüber den regionalen, konfessionellen und politischen Spaltungen der deutschen Geschichte“ ableitete (Wolfgang Hardtwig). Die neue Traditionsstiftung dann auch der Generation der konservativen Wende von 1878/79 (Otto G. Oexle) arbeitete erstaunlicherweise weiter mit dem alten Einheitsbegriff des Staates, der auch und vor allem vor der Folie der parlamentarischen Staatsform der Weimarer Republik erneut Konjunktur hatte. In der deutschen Historie blieb während der 1920er Jahre trotz mancher Aktivismen und zukunftsgerichteter Vorstöße die wenig konkrete (bei Meinecke nunmehr auf die Überwindung von „Kratos und Ethos“ hinauslaufende) holistische Staatskonzeption der Neorankeaner weiterhin dominant, während die sich aus dem Neukantianismus speisende pluralistische Auffassung kaum wirklich rezipiert wurde. Der für die parlamentarische Demokratie offene Staatsbegriff eines Max Weber blieb den deutschen Historikern weitgehend fremd ebenso wie die gesellschafts- und kulturbezogenen transnationalen Fokussierungen der französischen Geschichtsschreibung in der Tradition der Annales. Im Gegenteil: Kriegsniederlage und Parlamentarisierung lösten vielmehr eine regelrechte Panik vor dem Zerfall der staatlichen Einheit aus und wirkten katalysatorisch auf das alte Einheitsdenken zurück. Das Trauma der Niederlage zementierte sozusagen das alte Einheitsdenken. In diesem Denken war nicht viel Platz für Neues, zumal es sich weiterhin am Objektivitäts- und Beschreibungsideal der Rankeschen Schule orientierte und Wis‐ senschaft gerade nicht als Motor des Fortschritts, sondern als Felsen und letzten Rettungsanker in der Brandung einer ungewissen Gegenwart und Zukunft sah. So statisch dieser Wissenschaftsbegriff war, ebenso statisch war auch der Staatsbegriff

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der deutschen Historie, wenn er auch in seiner Organismusmetapher eine gewisse historische Beweglichkeit vortäuschte. Er blieb weiterhin amorph und künstlich und war nur ex negativo als antiparlamentarisch, antiliberal und antipluralistisch zu bestimmen. Hierin lag jedoch die Gefahr des raunenden Staatsbegriffes, dass er in seiner Unkonkretheit und in seiner gleichzeitigen Einheitszentriertheit eine Steilvorlage für den kommenden NS-Staat abgab. Von daher fiel es Alexander von Müller leicht, in seinem Geleitwort zum ersten Heft der Historischen Zeitschrift 1936 unumwunden zu bekennen, dass die deutsche Geschichtswissenschaft „nicht mit leeren Händen zum neuen Staat und seiner Jugend“ komme, sondern sich bereitwillig in den Dienst stelle. Der unpräzise, aus der Romantik abgeleitete und auf Einheit getrimmte Staatsbegriff gehörte zum Gepäck der beginnenden Reise in den Abgrund und wurde nunmehr mit furchtbaren, teils ganz neuen, den Staat transzendierenden Inhalten gefüllt. Über die Gründe und Motive der Staatsbezogenheit und des unspezifischen ganzheitlichen Staatsbegriffes der deutschen Historie sind wir erstaunlicherweise bis heute weniger gut informiert. Man kann daher nur skizzenhaft andeuten, wie diese Entwicklung ablief. Der Staat stand nicht immer im Fokus der deutschen Geschichtswissenschaft – ganz im Gegenteil: Als die deutsche Historie im Zeitalter der Aufklärung und hier vor allem an der Universität Göttingen ihren modernen wissenschaftlichen Charakter ausbildete, lag gemäß dem aufgeklärten Fortschritts‐ programm ausschließlich die Gesellschaft und ihr Emanzipationsbestreben im Zen‐ trum des Interesses. Dies änderte sich schlagartig mit der staatlichen Indienstnahme der „Ideen von 1789“ durch den neuen Modernisierer und Eroberer Deutschlands und Europas, Napoleon Bonaparte. Es hing offenbar mit dieser neu zugewiesenen Modernisierungsrolle des Staates zusammen, dass nunmehr auch die Vordenker Deutschlands ihre Perspektive änderten und fortan in erster Linie auf den Staat als den entscheidenden Motor der gesellschaftlichen Bewegung und der staatlichen Reform setzten. Fichte war einer der ersten, der den Zwangscharakter des Staates betonte und dabei sogar schon Preußen und dessen König im Blick hatte. Ihm folgte auf dem Fuße Hegel, der in Napoleon die Weltseele zu Pferde erblickte und insofern eine Machtstaatsperspektive entwickelte, die jedoch zugleich die „bürger‐ liche Gesellschaft“ in sich aufnahm und durchaus dualistische Züge in sich trug, die nach beiden Seiten – zum Staat und zur Gesellschaft hin – ausdeutbar waren. Er‐ staunlicherweise hat die deutsche Historie nur den „halben Hegel“ rezipiert und auf die Legitimierung des preußischen Machtstaates reduziert. Dennoch: In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gab es noch eine Pluralität von kollektiven Identifikati‐ onsmodellen, die sowohl den Staat – der nunmehr in seiner neuen Bedeutung als politisier- und ideologisierbarer „Kollektivsingular“ (Reinhart Koselleck) gebraucht wurde – als auch die Gesellschaft mit der auch auf Kant zurückgehenden frühlibe‐

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ralen Zielvision einer mittelständischen „klassenlosen Bürgergesellschaft“ (Lothar Gall) in Anschlag brachten. Diese relative Offenheit und Pluralität der Ordnungsmodelle verschwand grosso modo nach der gescheiterten, wenn auch nicht folgenlosen Revolution von 1848/49, in der zum letzten und vielleicht auch zum einzigen Mal in der deutschen Geschichte aus eigenem gesellschaftlichen Antrieb heraus der Versuch einer neuen Staatsbil‐ dung unternommen wurde. Von nun an übernahm der Staat diese Aufgabe und demgemäß konzentrierte sich die deutsche Historie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts aus dem Kalkül der „Realpolitik“ (August Ludwig von Rochau) primär auf staatsbezogene Konzepte, die in aller Regel die Ganzheit, Geschlossenheit, ja Totalität der staatlichen Ordnung betonten. Aus diesem holistischen Gefängnis hat die deutsche Geschichtswissenschaft bis zum Ende der Weimarer Republik nicht mehr herausgefunden, und in dieser ganzheitlich-machtpolitischen, ausschließlich auf die deutsche Nation und am Ende auf den „Primat der Außenpolitik“ ausgerich‐ teten emphatischen Staatsbezogenheit liegt wohl auch einer der Hauptgründe des geistigen Versagens der deutschen Historiker vor dem Nationalsozialismus (Karl Ferdinand Werner). Der Band will jedoch keine „Vorgeschichte“ der NS-Zeit liefern, keine Neuauf‐ lage der „deutschen Mandarine“ (Fritz K. Ringer). Er will vielmehr zeigen, dass innerhalb der Verengung und Vereinseitigung der staatsbezogenen Perspektive eine Offenheit und Vielfalt von Konzepten bestand, die durchaus zukunftsträchtige Chan‐ cen und innovatives Potential besaßen. Man braucht nur an Jacob Burckhardts berühmte Kritik am preußisch geprägten deutschen Nationalstaat zu denken, die keineswegs staatsvergessen ausfiel. In dessen „weltgeschichtlichen Betrachtungen“ gehörte der Staat neben Religion und Kultur zu den drei maßgeblichen „Potenzen“, begleitet allerdings vom Verdikt, dass die „Macht an sich böse“ sei. Mit Blick auf das Gesamtoeuvre von Burckhardt findet sich eine ausgesprochen facettenreiche Verwendung des Staatsbegriffs, die letztlich von der Polis über das römische Reich, den Lehnsstaat bis in die Moderne reicht. Dabei hatte die Renaissance Burckhardt zufolge das Kunstwerk eines vom Individuum ausgehenden modernen Staatsgeistes vollbracht und damit die Möglichkeit einer Versöhnung von Staat und Individuum aufscheinen lassen. Dies klang noch in seiner Gegenwartsforderung an den Staat, Hort des Rechts und nicht der vorschreibenden Sittlichkeit zu sein, nach. Oder: Man denke an die so sehr geschmähte Historie Heinrich von Treitschkes, dessen „Deutsche Geschichte“ durchaus gesellschaftsgeschichtliche Phänomene – wenn auch unter staatszentrierter Perspektive – ausbreitete. Diese Perspektive ist übrigens rund hundert Jahre später von Bielefed aus nur in ihr Gegenteil verkehrt worden - mit durchaus vergleichbaren ideologischen Engführungen und Einseitigkeiten. Selbst die Staatsbezogenheit eines Friedrich Meinecke besaß auch eine Offenheit und plurale Ausdeutbarkeit und hält sich in ihrer Unterscheidung zwischen „Staats-

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und Kulturnation“ nicht von ungefähr als diskussionswürdiges Modell bis in die jüngste Gegenwart. Otto Brunners Ganzheitskonzept von „Land und Herrschaft“ kann natürlich als mittelalterliche Steilvorlage für die neuzeitliche „Volksgemein‐ schaft“ gelesen werden, hat aber auch durch die Betonung von Recht und Friedens‐ wahrung Modellcharakter für ein alternatives Staatskonzept im Sinne einer modern anmutenden „Interaktions- und Kommunikationsgemeinschaft“ (Karl W. Deutsch). Dessen Reserve gegenüber einer anachronistischen Verwendung des Staatsbegriffs für mittelalterliche Herrschaftsverhältnisse war wohl methodisch motiviert. Brunner traf sich allerdings übrigens nicht nur hierin mit Carl Schmitt, der den Staat um 1940 zu einem konkreten epochengebundenen Begriff erklärte – mit entsprechenden Weiterungen im NS-Kontext. Vielleicht führt von hier aus eine Spur zu den ge‐ schichtlichen Grundbegriffen (Brunner/Conze/Koselleck), die zentrale Lemmata in einer Weise historisieren, dass sie erst in der „Sattelzeit“ um 1800 ihren eigentlichen Bedeutungsgehalt erhalten und in der Vormoderne kontextuell ausfallen. Schließlich lässt sich Theodor Mommsens präsentistische Antikerezeption als Lehrstück der Gegenwart schwerlich einer der bestehenden Kategorien der wilhelminischen Staats‐ konzeptionen zuordnen. Und beinahe müßig ist es, den Außenseiter Otto Hintze zu erwähnen, der trotz seiner dezidiert borussischen Sichtweise erstaunlich fortschrittli‐ che Staats- und Verfassungskonzeptionen anbot, die von den deutschen Historikern kaum zur Kenntnis genommen oder gar rezipiert wurden. Diese wenigen Beispiele (und der vorliegende Band enthält viele mehr) mögen genügen, um zu zeigen, dass die von der deutschen Geschichtsforschung manchmal allzu eilfertig vorgenommene Schuldzuweisung an die eigene Zunft aufgrund ihrer „besondere(n) Staatsfixiertheit“ (Gabriele Metzler) und des u.a. daraus abgeleiteten „Sonderweges“ einer Modifika‐ tion bedarf. Gewiss ist die Pluralität der politisch-gesellschaftlichen Ordnungsvor‐ stellungen der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zusammengeschrumpft und einer staatlichen Dominanz gewichen, die alle – durchaus vorhandenen – von der Gesell‐ schaft aus gedachten Modelle an den Rand drängte. Aber im Rahmen dieser staatli‐ chen Konzepte gab es eine „neue Pluralität“, die sich nicht nur auf die Offenheit und das unterschiedliche Ausdeutungspotential bezieht, sondern ganz grundsätzlich auch und vor allem in völlig differenten Konzeptionen besteht, die weder dem neorankeanischen noch dem borussischen Lager zugeordnet werden können. Als gemeinsame Klammer scheint vielmehr der Primat der „Ganzheit“, der schon früh im 19. Jahrhundert (etwa bei Fichte) zu erkennen war und in der Folge zu einem regelrechten Dogma wurde. Wie sich diese beharrliche Konstanz der Einheitsfigur als eines politisch-sozialen und kulturellen Denkmusters der deutschen Historie im 19. und frühen 20. Jahrhundert erklären lässt, ist bis heute noch nicht wirklich erforscht worden. Allgemeine Verweise auf den Historismus (W. J. Mommsen) oder besser gesagt auf das, was man darunter zu verstehen glaubt, laufen hier ebenso ins Leere wie die berühmt-berüchtigte Kompensationsthese der „verspäteten Nation“

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(Helmuth Plessner), mit der sich nicht alles erklären lässt, was „schief“ gelaufen ist in der deutschen Geschichte. Der vorliegende Sammelband mag Denkanstöße geben, indem er zeigen möchte, dass die Zeit um 1900, auch und gerade was das angeblich so kontaminierte Verhältnis von Staat und Historie betrifft, keine eindeutige war, die auf ein klares Ziel hinsteuerte, wenngleich man die Kontinuitäten und Konstan‐ zen im Denken nicht unterschätzen darf. Es bleibt ein schwieriges Unterfangen, Mitte und Maß zu halten zwischen dem Erkennen struktureller Denkmuster und -figuren und dem gleichzeitigen Offenhalten individueller Ausgangspositionen und Handlungsspielräume.

Literatur Brunner, Otto: Land und Herrschaft. Grundfragen der territorialen Verfassungsgeschichte Ös‐ terreichs im Mittelalter. Baden bei Wien u. a. 1939; 5. Aufl. Wien/Wiesbaden 1965; Nach‐ dr. d. 5. Aufl. Darmstadt 1990. Burckhardt, Jacob: Weltgeschichtliche Betrachtungen. Mit einem Nachwort von Jürgen Oster‐ hammel. München 2018. Deutsch, Karl W., Nationalism and Social Communication: An Inquiry into the Foundations of Nationality. New York 1953; dt. Ausg.: Nationenbildung – Nationalstaat – Integration, hrsg. von A. Ashkenasi und P. Schulze. Düsseldorf, 1972. Fehrenbach, Elisabeth: Rankerenaissance und Imperialismus in der wilhelminischen Zeit. In: Faulenbach, Bernd (Hrsg.), Geschichtswissenschaft in Deutschland. Traditionelle Posi‐ tionen und gegenwärtige Aufgaben. München 1974, S. 54-65. Gall, Lothar: Liberalismus und "bürgerliche Gesellschaft". Zu Charakter und Entwicklung des Liberalismus in Deutschland, in: Historische Zeitschrift 220 (1975), S. 324-356. Hardtwig, Wolfgang: Bürgertum, Staatssymbolik und Staatsbewusstsein im Deutschen Kai‐ serreich 1871-1914, in: Geschichte und Gesellschaft 16 (1990), S. 269-295. Jellinek, Georg: Allgemeine Staatslehre. Berlin 1900. Koselleck, Reinhart: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frank‐ furt/Main 1979. Meinecke, Friedrich: Weltbürgertum und Nationalstaat. Studien zur Genesis des deutschen Nationalstaates. 5. durchges. Aufl. München und Berlin 1919. Metzler, Gabriele: Der Staat der Historiker. Staatsvorstellungen deutscher Historiker seit 1945. Berlin 2018. Mommsen, Wolfgang J.: Die Geschichtswissenschaft jenseits des Historismus. Düsseldorf 1971. Oexle, Otto G.: Geschichtswissenschaft im Zeichen des Historismus. Studien zu Problemge‐ schichten der Moderne. Göttingen 1996. Plessner, Helmuth: Das Schicksal deutschen Geistes im Ausgang seiner bürgerlichen Epoche. Zürich u. Leipzig 1935 (später unter dem Titel: Die verspätete Nation. Über die politische Verführbarkeit bürgerlichen Geistes. Stuttgart 1959).

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Ringer, Fritz K.: The decline of the German mandarins. The German academic community 1890–1933. Cambridge/Mass. 1969 (dt: Die Gelehrten. Der Niedergang der deutschen Mandarine 1890–1933. Stuttgart 1983). Rochau, von, Ludwig August: Grundsätze der Realpolitik. Angewendet auf die staatlichen Zustände Deutschlands. Hrsg. u. eingel. von Hans-Ulrich Wehler. Frankfurt a. M. 1972. Schmitt, Carl: Staat als ein konkreter, an eine geschichtliche Epoche gebundener Begriff. In: ders. (Hrsg.): Verfassungsrechtliche Aufsätze aus den Jahren 1924-1954. Materialien zu einer Verfassungslehre (1958), Berlin, S. 375 – 385. Treitschke, von, Heinrich: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. 5 Bde. Leipzig 1879–1894. Werner, Karl Ferdinand: Die deutsche Historiographie unter Hitler. In: Faulenbach, Bernd (Hrsg.), Geschichtswissenschaft in Deutschland. Traditionelle Positionen und gegenwärti‐ ge Aufgaben. München 1974, S. 86-96.

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Franziska Metzger Annäherungen an Staat und Historie im Geschichtsdenken des 19. Jahrhunderts

Geschichtsdenken wird in diesem Beitrag basierend auf einem konstruktivistischen, kommunikations- und diskurstheoretischen Zugang als Komplex von selbstreflexi‐ ven Diskursen definiert, welche als Metanarrative der Geschichtsschreibung einer bestimmten Zeit bezeichnet werden können.1 Dabei werden fünf selbstreflexive Dis‐ kursfelder unterschieden, die in ihrer Überlagerung und Überschneidung ein Bündel von Metanarrativen ausmachen: a) Geschichtsphilosophische Diskurse als Rahmen; b) eng damit verbunden Zeitkonzeptionen, welche den Umgang mit Zeit in der Ge‐ schichtsschreibung prägen; c) Selbstbeschreibungen der Disziplin als Wissenschaft, d.h. Wissenschaftlichkeitsdiskurse und Methodendiskurse; d) Narrativität von Ge‐ schichtsschreibung und Formen der Argumentation, d.h. narrative Strukturen, die sich auf die konkrete Geschichtsschreibung niederschlagen und ihrerseits unmittel‐ bar Geschichtsdenken zum Ausdruck bringen in der Art und Weise, wie Geschichte geschrieben wird; e) Diskurse der Legitimierung, insofern als Geschichtsdenken Sichtweisen auf Vergangenheit, aber auch Perspektiven auf Gegenwart und Zukunft legitimiert und begründet, durch welche Sinn konstruiert wird. Geschichtsdenken äußert sich in Konzepten, wie sie insbesondere in selbstreflexiven Texten zugrunde gelegt und verwendet wurden, in interpretativen Strukturen, aber auch in Seman‐ tiken und Diskursen, die in der konkreten Geschichtsschreibung zum Ausdruck kommen, sowie in narrativen Modi.

Zugänge auf Metanarrative der Geschichtsschreibung In einem konstruktivistischen Zugang auf historische Selbstreflexion wird grundle‐ gend von der Diskursivität von geschichtsphilosophischen, methodologischen und theoretischen Äußerungen zur Geschichtsschreibung ausgegangen. Diese Diskursi‐ vität und ihre Dynamiken werden im vorliegenden Beitrag als zentraler Untersu‐ chungsgegenstand in den Fokus gerückt. So werden insbesondere Wissenschaftlich‐ 1 Konstruktivistische, diskurs- und narrationsbezogene Positionen mit Blick auf Geschichtsden‐ ken vertreten insbesondere: White 1973; White 1987; Novick 1988; Megill 1995; Berkhofer 1995; Hardtwig 2005a; ders. 2005b; Berger/Feldner/Passmore 2003; Megill 2007; Daston/Gali‐ son 2010; Metzger 2010; dies. 2011.

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keitsvorstellungen in den Blick genommen, indem deren Begründungsstrukturen – besonders Wahrheits- und Objektivitätsdiskurse –, wie sie die Selbstbeschreibung der Disziplin in einer bestimmten Zeit prägten, aufgezeigt werden.2 Damit verbun‐ den wird der Blick auf den regelgeleiteten Charakter der Geschichtsschreibung gelegt, werden Konstruktionsmechanismen und ihre Verbindung mit geschichtsphi‐ losophischen Konzeptionen und Methodenvorstellungen untersucht. In einem kom‐ munikationstheoretischen Zugang wird von der Verschränkung von Meta- und (Mas‐ ter)narrativen als konkreten Erzählungen der Geschichtsschreibung, welche gewisse Persistenz und Durchsetzungskraft haben, ausgegangen. Mit einem Fokus auf das 19. Jahrhundert wird dies hier in erster Linie mit Blick auf Staats- und Nationskon‐ struktion analysiert. Selbstreflexive Diskurse werden in Kommunikationsgemeinschaften als Erinne‐ rungs-, Interpretations- und Wissensgemeinschaften geschaffen und vermittelt. Das Konzept der Kommunikationsgemeinschaften ist geeignet, Mechanismen von Ge‐ sellschaftsbeschreibungen und spezifisch der Geschichtsschreibung als Kommuni‐ kation vergangener Gesellschaften zu analysieren.3 Für das 19. Jahrhundert und die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts schufen und prägten verschiedene welt‐ anschaulich sich ausdifferenzierende – in gemischtkonfessionellen Kontexten wie Deutschland, der Schweiz oder den Niederlanden besonders auch konfessionelle – Kommunikationsgemeinschaft Nationsvorstellungen, die an bereits geschaffenen oder angestrebten staatlichen Strukturen und nationalen Diskursen orientiert waren und die mehr oder weniger voneinander divergieren konnten.4 Als Erinnerungsge‐ meinschaften reflektierten nationale wie auch etwa religiöse Kommunikationsge‐ meinschaften die gesamte Gesellschaft – besonders mit Blick auf Nation und Staat – wie auch die eigene Kommunikationsgemeinschaft. Erinnerungskonstruktion in ver‐ schiedenen Modi, Monumenten, Inszenierungen, Archiven und der Schule ebenso wie der Geschichtsschreibung war zentral für die, um Ulrich Bielefeld zu zitieren, „Institutionalisierung der Gesellschaft als Gemeinschaft“, für welche die „generische Form der Zeit“ in eine „genealogische Ordnung der bewussten und unbewussten intergenerationellen Übertragung von Traditionen und Vorstellungen des Kollektivs zwischen Generationen“ umgesetzt wurde.5 In der Herausbildung konkurrierender historischer Narrative stellte die Konstituierung von Wissensgemeinschaften einen 2 Im Unterschied zu einer zwischen „wissenschaftlicher“ und „nicht wissenschaftlicher“ Ge‐ schichtsschreibung dichotomisierenden Konzeption von historischer Wissenschaft und Verwis‐ senschaftlichung lehnt sich diese Konzeption an Michel Foucault sowie Lorraine Daston und Peter Galison an, die Verwissenschaftlichung als selbstreflexiven geschichtsphilosophischen Diskurskomplex verstehen. Vgl. Foucault 1969; Daston/Galison 2010. Vgl. auch: Novick 1988; Middell/Gibas/Hadler 2000; Kocyba 2006; Manhart 2011; Metzger 2011. 3 Vgl. zum Konzept der Kommunikationsgemeinschaften: Metzger 2010. 4 Vgl. zum konfessionellen Faktor: Altermatt/Metzger 2007; Horstmann/Liedhegener 2001; Wal‐ ser Smith 2001; Blaschke/Kuhlemann 1996. 5 Bielefeld 2003, S. 66.

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zentralen Faktor dar, wobei hier postuliert wird, dass für die Geschichtsschreibung des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Wissensgemeinschaften als Teil von Erinnerungsgemeinschaften zu erachten sind, wenn sie auch mit diesen nicht deckungsgleich sind. Grundlegend für die Konstituierung von „scientific com‐ munities“ im 19. Jahrhundert waren Kommunikationsgemeinschaften.6 Dabei trug die Institutionalisierung der Geschichtsschreibung – nicht nur an Universitäten, son‐ dern auch etwa durch Zeitschriften und historische Vereine, Nachschlagewerke und Handbücher – zur Kanonisierung von Geschichtsdiskursen und deren kommunikati‐ ver Reichweite wesentlich bei. Sie war nicht zuletzt auch dadurch sehr wirkmächtig, dass sie ältere Gedächtnisbestände inkorporierte und wissenschaftlich legitimierte.7 Ein Wissensbegriff, der mit dem Kommunikationsbegriff kompatibel ist und ent‐ sprechend Wissen als Diskurs betrachtet, integriert verschiedene Ordnungen des Wissens. Gerade dadurch ermöglicht er, selbstreflexiv-historisches Wissen als Teil eines Pools von Wissensdiskursen zu betrachten und das diskursive Verhältnis zwi‐ schen Wissens- und Erinnerungsgemeinschaft zu analysieren.8 Basierend auf diesen Konzepten kann einer dichotomisierenden historiographie‐ geschichtlichen Perspektive auf eine so genannt lebensweltliche und eine so genannt wissenschaftliche Ebene entgegengetreten werden.9 Selbstreflexive Diskurse des Geschichtsdenkens sind in einem komplexen Verhältnis zu Erinnerung, Erfahrung und Erwartung sowie zu gesellschaftlichen Diskursen zu sehen.10 Dadurch gelangen auch in erhöhtem Maße synchrone Unterschiede betreffend die fünf Diskursfelder der Selbstreflexion in ihrem Verhältnis in den Blick. Dies führt zu einem dynami‐ scheren Modell als jenem der Abfolge von (historiographiegeschichtlichen) Paradig‐ men. Komplexe Transformationen, die Ungleichzeitigkeiten und Verschiebungen zum Ausdruck bringen und nicht zu einheitlich als Entwicklung weder in Zeit noch in Ausdrucksform beschrieben werden, stehen im Fokus. Dadurch wird die Deutung durch ein – gerade durch das Geschichtsdenken des 19. Jahrhunderts geprägtes – Fortschrittsnarrativ und eine damit einhergehende Modernisierungserzählung als Metanarrativ dekonstruiert. So rücken auch Aneignungen und Umdeutungen von Semantiken und Diskursen im Verhältnis verschiedener (Wissens)gemeinschaften in den Blick und werden etwa Differenzen zwischen Aufklärungshistoriographie und Historismus vielmehr in der Konstruktion des Selbstverständnisses der Geschichts‐ schreibung als in einer inhaltlichen Weiterentwicklung gesehen.11 Vergleichs- und beziehungsgeschichtlich ist der Blick auf verschiedene synchrone und diachrone 6 7 8 9 10 11

Vgl. für die wissenschaftsgeschichtliche Position u.a.: Foucault 1969; Stichweh 1987. Vgl. etwa zur Schweiz: Zimmer 2003; Metzger 2010. Vgl. Vogel 2004; Egger/Rothe 2009; Metzger 2011; dies. 2021. Vgl. Rüsen 1983; ders. 1997; ders. 2002; Blanke 1991; ders. 1993. Vgl. Koselleck 2000. Vgl. auch die kritischen Positionen von: Jaeger 2011; Manhart 2011; Gisi/Rother 2011; Epple 2003; Jordan 2003; ders. 1999; Schulin 1998; Schleier 1997; Oexle 1996.

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Produktionen von Geschichte und Vorstellungen über Geschichte zu richten, auf ver‐ schiedene Kommunikationsgemeinschaften im national-transnationalen Zusammen‐ hang, darauf wie sich Erinnerungs- und Erfahrungsgemeinschaften konstituieren und überlagern, so besonders in ihrem Verhältnis zu Staat und Nation.

Zeit, Geschichte, Fortschritt Als sinnkonstituierende Kategorie liegt Zeit der Deutung von Vergangenheit, Gegen‐ wart und Zukunft in ihrem je synchron und diachron pluralen Verhältnis zugrunde. Zeit als Wahrnehmungskategorie beeinflusst Geschichtsschreibung ebenso wie an‐ dere Modi der Erinnerungskonstruktion, während diese ihrerseits Zeitkonzeptionen und Deutungen von Zeit strukturieren und festschreiben,12 Zeit modellieren und – im Falle geschichtsphilosophischer und -theoretischer Diskurse – Zeitlichkeit in der Geschichte reflektieren.13 Ihre jeweiligen Selektionsräume der Betrachtung können in Anlehnung an Reinhard Koselleck in der Verschränkung von Erinnerung, Erfah‐ rung und Erwartung liegend gesehen werden.14 Dies lässt sich in Bezug auf das Geschichtsdenken und auf Geschichtsdiskurse der Sattelzeit um 1800 und des 19. Jahrhunderts gut aufzeigen, sind diese doch wesentlich als Zeichen eines gewandel‐ ten Zeitverständnisses und einer damit zusammenhängenden fundamentalen Trans‐ formation im Geschichtsverständnis zu sehen. Gewandelte geschichtliche Zeitstruk‐ turen bringen begrifflichen Wandel mit sich und werden ihrerseits von begrifflichem Wandel geprägt. Beschleunigung wurde zu einer zentralen Erfahrung des späten 18. und 19. Jahr‐ hunderts, die es in der frühen Neuzeit in Form eines innerweltlichen Erfahrungsrau‐ mes so nicht gegeben hatte. Dabei spielte die Verringerung räumlicher Differenz eine wichtige Rolle in der Wandlung der Zeitwahrnehmung – durch räumliche Diffe‐ renz wurde zeitliche Differenz fassbar. Zeit wurde zunehmend zu einem abstrakten Begriff. Zeiterfahrung wurde mit ihrem unmittelbaren Gegenwartsbezug teilweise aus dem religiösen Diskursfeld herausgelöst, wenn sie auch weiterhin religiöse Be‐ deutung tragen konnte. Zukunft, Beschleunigung, Fortschritt, aber auch etwa Krise wurden von ausschließlich jenseitsbezogenen, endzeitlich-apokalyptisch orientierten Begriffen zu Konzepten, die auf politischen, industriell-technischen Wandel ausge‐

12 Vgl. Paul Ricoeurs „Konfiguration”: Ricoeur, 1991; ebenso das Konzept der „präfigurierten/ präfigurierenden Zeit” („temps préfiguré“): Ricoeur 1983, S. 107. Vgl. für ein dynamisches Zeitkonzept auch: Wodianka 2005; Sandl 2005; Metzger/Daphinoff 2019b. 13 Der Blick auf die Diskursivität von Zeit trägt gerade auch zur Dekonstruktion einer nach wie vor häufigen Dichotomisierung von Geschichte und Gedächtnis bei. Vgl. für entsprechende Positionen: Metzger/Daphinoff 2019a; Metzger 2019. Weiter: Esposito 2002; Erll 2009; Csáky 2004; Feindt et al. 2014. 14 Vgl. Koselleck 1979; ders. 2006; Joas/Vogt 2011.

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richtet waren.15 Zukunft wurde geschichtlich-innerweltlich, prozessorientiert und dynamisiert und zum politischen Programm.16 Politisch-gesellschaftliche Zukunfts‐ projektionen – insbesondere auf Staat und Nation ausgerichtete – sollten gerade die Komplexität einer „offenen“ Zukunft beschränken. Dabei ist das gleichzeitige Weiterbestehen religiöser Deutungsmuster zu betonen,17 gerade auch in Bezug auf den Geschichtsbegriff und geschichtsphilosophische Konzeptionen. Im historiographiegeschichtlichen Zusammenhang ist in Bezug auf die Verschie‐ bungen im Verhältnis von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunftsvorstellungen die Verbindung von Geschichtsbegriff und Fortschrittskonzept zentral. Die Diffe‐ renz von Erfahrung und Erwartung wurde seit der Sattelzeit um 1800 gerade in „Fortschritt“ begrifflich gefasst. In der Geschichtsschreibung wurde Fortschritt zum „Reflexionsbegriff“.18 Die Transformation der Zeitvorstellungen führte dazu, dass Vergangenheit und Gegenwart nicht mehr beziehungslos nebeneinander wahrgenom‐ men wurden. Dies prägte einen Metadiskurs zeitlicher Kontinuität von der Vergan‐ genheit in die Gegenwart und zusammenhängender, fortschrittlicher Entwicklung. Zentral wurde die Konstruktion von sinnvollen zeitlichen Folgen mit orientierender Bedeutung. In geschichtsphilosophischen Diskursen der Aufklärung wurde – erstens – die Bedeutung einer linearen Zeit in ihrer menschlichen Gestaltung hervorgehoben, wo‐ bei der Blick auf die intendierte Entwicklung und kausale Verknüpfungen gerichtet wurde. Darauf aufbauend wurde Geschichte als von Menschen gestalteter Prozess gesehen, der nicht nur die Gegenwart, sondern in teleologischer Sicht auch die Zu‐ kunft – im Sinne einer fortschreitenden Entwicklung hin zu Zivilisation, staatlicher Perfektionierung etc. – umfasste. Dieser Aufstieg wurde als unabreissbar, beschleu‐ nigt und damit verstärkt einlinig gedeutet.19 Die Geschichtsdenker und -schreiber der Aufklärung beschäftigten sich – zweitens – mit Vergangenheit gerade wegen ihres Bezugs zur Gegenwart. Als genetisches Wissen würde, so der dominierende Diskurs, Geschichte über die eigene Herkunft belehren. Historisches Wissen wurde nicht mehr in einem instrumentellen Verhältnis gegenüber anderen Feldern wie Religion, Moral, Recht und Politik gesehen. Daraus ergab sich ein pragmatischer Diskurs der Geschichte, der sich mit dem zentral werdenden Konzept der Bildung verbinden ließ und in dessen Verhältnis die Sinnhaftigkeit von Geschichtsschreibung begründet werden konnte.20 So lag für Johann Gottfried Herder in seiner idealisti‐

15 Vgl. Koselleck 2006. 16 Vgl. Hölscher 1999. 17 So auch etwa Johann Gottfried Herder in: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Mensch‐ heit (1784–1791) und in Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit (1774). Vgl. Joas 2011. 18 Vgl. Koselleck 2006, S. 172. 19 Vgl. etwa: Schulin 1994. 20 Vgl. Jordan 1999; Hardtwig 2005a; Feldner 2003.

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schen Deutung der Menschheitsgeschichte das Ziel in der im Begriff der Humanität ausgedrückten Vorstellung einer zu erreichenden menschlichen und menschheitli‐ chen Vollkommenheit. Ihr lag die Vorstellung von der universellen Geschichtlichkeit der Welt mit genetisch-organischem Auf- und Umbau ebenso zu Grunde wie eine optimistische Anthropologie.21 Die Geschichte der Bildung der Völker und der ganzen Menschheit konzeptionalisierte Herder als kulturelle Fortschrittsgeschichte. Damit ist – als dritte Dimension – die universalhistorische Perspektive genannt.22 Im weiteren 19. Jahrhundert blieb das lineare Zeitverständnis im Geschichts‐ denken und der Geschichtsschreibung dominierend, wurde jedoch differenziert.23 Innerhalb der Kontinuitätskonzeption wurden die individuellen Besonderheiten der betrachteten vergangenen Zeiten stärker hervorgehoben, was sich allerdings nicht gegen den Blick auf den Zusammenhang der Zeiten und einen damit verbundenen Entwicklungsdiskurs richtete. Im Unterschied zu universalgeschichtlichen Konzep‐ tionen ging Leopold von Ranke davon aus, dass das Allgemeine nur vom Beson‐ deren, vom Gang der Geschichte und von ihren empirischen Erscheinungen her erkannt werden könne. Konkret bedeutete dies, dass die Staaten die zentralen Ein‐ heiten der Betrachtung darstellten, aus denen er Allgemeines ableitete.24 Dabei diffe‐ renzierte Ranke die lineare Zeitkonzeption, indem er die besondere Entwicklung der verschiedenen Völker gleichberechtigt nebeneinander stellte. Diese pluralere Sicht blieb jedoch klar eurozentrisch, ja auf die als führend erachteten Völker Europas konzentriert, denen Ranke in seiner Weltgeschichte etwa die asiatischen Völker als Völker des „ewigen Stillstandes“ entgegenstellte, die an der Gestaltung der modernen Zeit nicht teilnehmen würden.25 Der Blick auf das Besondere wurde in der Nachfolge Rankes zu einem eigentlichen Diskurs der Selbstbeschreibung. Darin lag auch jene Tendenz der Geschichtsschreibung begründet, welche in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine positivistische Richtung annehmen konnte. Die Konzeption der Einheit der Menschheitsgeschichte wurde im 19. Jahrhundert zwar nicht mehr in so dominanter Weise wie im 18. Jahrhundert durch eine univer‐ salgeschichtliche Philosophie begründet. Der Diskurs einer Pluralität von Äußerun‐ gen der Geschichte wurde jedoch in ein zielgerichtetes teleologisches Narrativ inte‐ griert, dem eine entsprechende geschichtsphilosophische Deutung zugrunde lag. Der Fortschrittsdiskurs bestimmte als Metadiskurs in Verbindung mit Kontinuitätsdiskur‐ sen wesentlich die Deutung der Vergangenheit und von deren teleologischer Fortset‐ zung in die Gegenwart und Zukunft. Damit konvergierte besonders Johann Gustav 21 Vgl. dazu: Wiersing 2007, S. 280. 22 So auch etwa bei Georg Wilhelm Friedrich Hegel in: Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte (1837). Vgl. De Melo Araújo 2012; Rohbeck 2010; Ries 2010b; Hardtwig/ Müller 2010; Kittsteiner 2010; Wiersing 2007; Bialas 1997; Fulda 2003. 23 Vgl. Schulin 1994. 24 Vgl. Muhlack 2006; Hardtwig 2005b. 25 Ranke, Weltgeschichte, Bd. 1 (1881), S. VIII. Vgl. Muhlack 2010; Schulin 1994, S. 339.

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Droysens geschichtsphilosophische Konzeption der Geschichte als sich in der Zeit „steigerndes und summierendes“ Wachstum der Kultur.26 In seinem Grundriss der Historik (1857/1868) fasste Droysen den Zweck der Geschichte folgendermaßen: „§ 46 Indem die geschichtliche Auffassung in der Bewegung der sittlichen Welt de‐ ren Fortschreiten beobachtet, deren Richtung erkennt, Zweck auf Zweck sich erfül‐ len sieht, schließt sie auf einen Zweck der Zwecke, in dem sich die Bewegung voll‐ endet, in dem das, was Menschen umtreibt, rastlos weitereilen macht, Ruhe, Voll‐ endung, ewige Gegenwart ist.“ Die fortschreitende Steigerung der „sittlichen Welt“ war bei Droysen der spezifische Gegenstand der historischen Wissenschaften. Darin kommt die Konzeption eines sinnvoll gegliederten und gerichteten Ganzen zum Ausdruck, an die er theoretisch sein Konzept des Verstehens anband. „§ 83 Die Ge‐ schichte ist das Bewußtwerden und Bewußtsein der Menschheit über sich selbst. Die Epochen der Geschichte sind nicht die Lebensalter dieses Ich der Menschheit, – em‐ pirisch wissen wir nicht, ob es altert oder sich verjüngt, nur dass es nicht bleibt, wie es war oder ist – sondern Stadien seiner Selbsterkenntnis, Welterkenntnis, Gotter‐ kenntnis. § 84 Nach dem Maß dieser durchmessenen Stadien wächst der menschli‐ che Ausdruck für den Zweck der Zwecke, für die Sehnsucht nach ihm, für den Weg zu ihm. Daß mit jedem Stadium der Ausdruck sich vertieft, erweitert, steigert, das und nur das ist das Fortschreiten der Menschheit.“ Obwohl er in seinen empirischen Werken das historisch Besondere ins Zentrum stellte, verfasste auch Ranke im fort‐ geschrittenen Alter eine Weltgeschichte (1881–1888). Dem lag der Glaube an die Möglichkeit universalgeschichtlicher Darstellung zugrunde, daran, die von Gott ge‐ lenkte und durch Vernunft bestimmte Geschichte darstellen zu können.27 Die Anordnung historischer Ereignisse nach einem kausalen und konsekutiven Organisationsprinzip stellte eine, allerdings abgewandelte, Weiterführung pragma‐ tischen Denkens im 19. Jahrhundert dar. Die didaktische Dimension, welche Ge‐ schichtsschreibung in einen ethisch-moralischen, auf das Fortschreiten der Mensch‐ heit ausgerichteten Bildungszusammenhang stellte, wurde von dem Historismus zugerechneten Historikern zumeist nicht verfolgt. Nicht mehr der Nutzen der Ge‐ schichte legitimierte Geschichtsschreibung. Wie Stephan Jordan festhält, löste das Streben nach Objektivität und das Selbstverständnis, das sich aus Quellenstudium und -kritik ableitete, die didaktische Zielsetzung ab.28 Der Begriff des Pragmatismus bestand im 19. Jahrhundert fort, wurde jedoch auf die Konstruktion von Kausalitäten bis hin zu teleologischen Diskursen beschränkt.

26 Wiersing 2007, S. 378. Zur Droysens Historik siehe besonders: Ries 2010a; Hühn 2010. 27 Damit war dieses Werk unmittelbar auch Geschichtsphilosophie, eine Dimension, die im Unterschied zu älteren Deutungen Rankes stärker hervorzuheben ist. Vgl. Muhlack 2010; Hardtwig/Müller 2010. 28 Jordan 1999, S. 73–75.

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Fortschrittsnarrative von Nation und Staat Der geschichtsphilosophisch begründete Glaube an eine teleologisch zielgerichtete, sinnvolle Geschichte erlangte im auf die Nation ausgerichteten Fortschrittsdiskurs als zentralem Masternarrativ ihre dominante, kohärenteste und sichtbarste Ausfor‐ mung. Die Nation ließ sich als historisches Fortschrittsnarrativ hin zu nationaler Einheit und Unabhängigkeit, hin zu in der Gegenwart erreichten oder für die Zukunft imaginierten Ordnungsvorstellungen eines Nationalstaates verankern und legitimieren. An das Meta- und Masternarrativ von Fortschritt und Kontinuität ließen sich verschiedene Geschichtsdiskurse der Nation anbinden, welche sakrali‐ sierende, homogenisierende und zugleich exkludierende Wirkung hatten wie etwa Auserwähltheitsdiskurse, Diskurse (nationaler) Mission (und von „Zivilisierung“) oder auch Diskurse der Konfessionalisierung. Wesentlicher Bestandteil der Wirkung nationaler Geschichtsschreibung für die Festigung von Vorstellungen von Nation und Staat war, so meine These, das Verhältnis zwischen Dynamik im teleologischen Fortschrittsdiskurs und Überzeitlichkeit – die Konstruktion von Kontinuität und zeit‐ liche Überblendung –, welche die Imagination der (nationalen) Kommunikationsge‐ meinschaft als Gemeinschaft der Lebenden und Toten historisch-historiographisch legitimierte.29 Diese Überlagerung zweier im Grunde unterschiedlicher Zeitvorstel‐ lungen kann als einer der bedeutendsten Mechanismen des Funktionierens (nationa‐ ler) Geschichtsdiskurse bezeichnet werden. Er verband zugleich Geschichtsdiskurse unmittelbar mit anderen Modi der Erinnerungskonstruktion. Mit Blick auf unterschiedliche historische Begründungen von Fortschritt und Kontinuität der Nation durch verschiedene Kommunikationsgemeinschaften zeigt sich in gemischtkonfessionellen Kontexten wie auch im Kontext religiöser Opposi‐ tion in einem Verhältnis tendenzieller Trennung von Kirche und Staat, dass der religiös-konfessionelle Faktor zentral war für die Herausbildung differierender Er‐ innerungsdiskurse der Nation wie auch unterschiedlicher Erinnerungsgemeinschaf‐ ten.30 So schrieb die katholische Geschichtsschreibung in Deutschland gegenüber der dominanten diskursiven Verbindung von Protestantismus und liberalem bzw. konservativem, preussischem Nationalstaat ihre eigene, sich religiös definierende Gemeinschaft in ein historisches Fortschrittsnarrativ ein, das der gegenwärtigen gesellschaftlichen und politischen – national-staatlichen – Situation gerade auch (zuweilen radikal) entgegengestellt werden konnte und alternative Nationsvorstel‐ lungen historisch begründete. Konkurrierende Narrative entstanden besonders dort, wo zeitgenössische Konflikte des Nation building sich durch Konfliktlinien in der Geschichte überlagern ließen. Erinnerungsgemeinschaften basierten ganz wesentlich auf Erfahrungsgemeinschaften. Die Reformation, das „konfessionelle Zeitalter“, das 29 Vgl. Kuhlemann 2004; Metzger 2010; dies. 2019. 30 Vgl. Altermatt/Metzger 2007.

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„Revolutionszeitalter“ seit dem Ende des 18. Jahrhunderts sowie die Kulturkampf‐ zeit des 19. Jahrhunderts bildeten Instanzen, die zeitgenössische Konflikte des Nati‐ on building, von Staat und Kirche und des Kulturkampfes vermeintlich abbildeten und sich auf konfessionalistische Deutungen von Staat und Nation niederschlugen.31 In Bezug auf die Präsenz religiöser bzw. konfessioneller Diskurse in den do‐ minierenden nationalen Masternarrativen Deutschlands können zwei Ebenen unter‐ schieden werden, in welchen die Kontinuitätskonstruktion und das Fortschrittsnarra‐ tiv einen zentralen Platz einnahmen. In national-liberalen bzw. konservativen und protestantischen Narrativen sind erstens Sakralisierungsmechanismen der Nation – neben der Geschichtsschreibung wesentlich über Symbole und Riten, Feste, Denk‐ mäler und Erinnerungsfiguren – festzustellen, die auf der semantischen Ebene, etwa über Topoi der Auserwähltheit wirkten.32 In Deutschland ist diese Ebene der Sakrali‐ sierung bis hin zu Phänomenen einer „politischen Religion“ und einer Essentialisie‐ rung von Nation und Volk in völkischen Konzeptionen zu erkennen.33 Zweitens sind Diskurse der Konfessionalisierung der Nation im Sinne einer Identifizierung der Nation als protestantische und damit konfessionell exklusive Nation in der Geschichtsschreibung festzustellen. Die Konfession stellte ein die Nation konstituierendes Element dar und wurde zugleich auf die Konstruktion staatlicher Ordnungsmodelle übertragen. Insbesondere seit den 1860er Jahren lässt sich von einer verstärkten Konfessionalisierung bis hin zu geschichtstheologischen Deutungen, die zur Legitimierung und Teleologisierung der preussischen „Nation“ beitragen sollten, sprechen.34 Die Reichsgründung von 1871 stellte dabei das überra‐ gende zeitgeschichtliche Ereignis dar, das zu einem politischen Mythos und in einer nationalprotestantischen Geschichtstheologie zentraler Bestandteil des hegemonialen Nationalismus des Kaiserreiches wurde.35 Es entstand ein Komplex von Diskursen, die den Protestantismus als zentrales Element des deutschen „Nationalcharakters“ konstruierten. Darin spielte die Reformation eine wesentliche Rolle, welche die deutsche nationale Gemeinschaft im eigentlichen Sinn definierte und auch auf die nationale Mission Deutschlands ausgeweitet wurde, deren Kontinuität von der Re‐ formation bis zum Krieg gegen Napoleon weiter gezogen wurde.36 Hedda Gramley 31 Mit Blick auf die Erfahrungsräume, lässt sich eine Generation des Vormärz, eine solche des Kulturkampfes und eine der Jahrhundertwende, welche diese Konfliktlagen weitertrug und nicht unwesentlich zu deren Festschreibung beitrug, unterscheiden. Vgl. Klug 1995; Brechen‐ macher 1996; Metzger 2010. 32 Friedrich Wilhelm Graf spricht vom Rekurs auf „überkommene religionssemantische Bestän‐ de“, über welche die Nation existentialisiert wurde. Graf 2004, S. 119–120. Vgl. Walkenhorst 1996; Lehmann 2002; Kuhlemann 2004; Cramer 2004. 33 Vgl. Walkenhorst 1996; Klenke 2003. 34 Vgl. Walkenhorst 1996; Kuhlemann 2004; Metzger 2004; Frey/Jordan 2008. 35 Die Sedanfeiern, die im Kaiserreich jährlich als Nationalfeiertag stattfanden, demonstrieren die religiöse Vereinnahmung des Krieges gegen Frankreich besonders klar, der als durch Gottes Urteil legitimiert dargestellt wurde. Vgl. Laube 2001. 36 Vgl. Cramer 2004.

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fasst diesen teleologischen Kontinuitätsdiskurs folgendermaßen zusammen: „Durch die Verklammerung des Protestantismus mit den Ideen des politischen Liberalismus und des Nationalismus erschien die Reformation als Vorstufe in einem langzeiti‐ gen, kontinuierlichen emanzipatorischen Entwicklungsprozess der Nation, deren Bestimmung in dem reformatorischen Ereignis erkennbar wurde.“37 Kleindeutschpreußische Konzeptionen wurden auf das 16. und 17. Jahrhundert, besonders in den dreißigjährigen Krieg zurückprojiziert.38 Die Reformation wurde als nationale Bewegung und der Krieg als „große deutsche Revolution“ stilisiert, so etwa von Johann Gustav Droysen in seiner Geschichte der Preußischen Politik (Teil 3: Der Staat des Großen Kurfürsten, 1861). In der Einleitung brachte er die religiösen und staatlichen Umwälzungen folgendermaßen zusammen: „Unsere Betrachtungen haben die Zeiten erreicht, in denen die territoriale Geschichte des Hauses Branden‐ burg endigt, die Geschichte des preußischen Staates beginnt. Diesen Uebergang veranlaßt, ihn geschichtlich und moralisch möglich gemacht zu haben, das ist das Interesse, welches für unsere Aufgabe der dreißigjährige Krieg hat. Die Schrecken dieses Krieges, die Zerrüttung alles Rechts, aller Gesittung und Wohlfahrt, die Greu‐ el allgemeinen Unterganges, das sind die Wehen, unter denen der neue Staat geboren ist. In diesem Kriege, der großen deutschen Revolution, vollzog sich die Kritik der entarteten, verwucherten, unwahr gewordenen Zustände, welche unter dem Namen des Reichs deutscher Nation befaßt waren. In ihm ging das alte Deutschland für immer zu Grunde; wie ein tiefer Abgrund trennt er die Zeiten vorher und nachher. […] Unsere Geschichte hat keine nationalere Tat als die Reformation. In ihr fanden sich zum ersten Mal alle Stämme und Gebiete, alle Stände, das ganze deutsche Volk zu Einem Werk, in Einem Gedanken zusammen. In dem vollen Gefühl seiner Einheit brach es das Joch der geistlichen Fremdherrschaft, erkämpfte sich den Segen evangelischer Freiheit. […]“39 Die teleologische Perspektive führte auch zur Verbindung mit politischen Vorstellungen in Bezug auf die Ausformungen des postulierten zeitgenössischen Staates, so etwa in Heinrich von Sybels Geschichte der Revolutionszeit von 1789 bis 1795 (1871). Stärker als in der Schweiz wurde in Deutschland ein Bruch – konfessionell wie staatlich – zwischen Mittelalter und früher Neuzeit geschaffen, nach dem das Fortschrittsnarrativ erst einsetzte. Durch Krise zur Rettung und damit zur deutschen, nationalen Einigung gelangt wurde ge‐ gen das vormoderne Österreich.40 Im Zusammenhang mit dem Auserwähltheitstopos und den Kontinuitätskonstruktionen wurde eine Konzeption von „christlichem Volk“ konstruiert, worin sich die Verbindung von Nation und Protestantismus essentiali‐ 37 38 39 40

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Gramley 2002, S. 68. Vgl. Lehmann 2000; Cramer 2001; Blaschke 2002. Droysen, Geschichte der Preussischen Politik, Bd. 3 (1861), S. 3–4. Demgegenüber wurde in der Schweiz die Diskontinuität auf konfessioneller Seite von der staatlich-nationalen Kontinuitätskonstruktion seit dem Mittelalter begleitet und konnte leicht konfessionalisiert werden.

sierte und als sittlich-religiöse Gemeinschaft ethnisierte.41 Dies kommt in Heinrich von Treitschkes Verschränkung von Religion und Politik in nationalistischer Über‐ höhung zum Ausdruck, so in seiner Rede „Luther und die deutsche Nation“ von 1883.42 Diese Kulturalisierung wurde seit der Jahrhundertwende auch mit einem rassistischen Diskurs verbunden.43 In der katholischen Kommunikationsgemeinschaft entstanden konkurrierende Ge‐ schichtsdiskurse der Nation bis hin zur katholischen Vereinnahmung nationaler Erin‐ nerung mit entsprechendem Bezug auf staatliche und nationale Ordnungsmodelle, indem sich Konfessionalisierung der Nation und Nationalisierung der Konfession überlagerten. Solche gegen außen gerichtete Konfessionalisierungsdiskurse wurden mit Blick gegen innen auf die religiöse Gemeinschaft – auf die Geschichte von Klös‐ tern und religiösen Orden oder Heiligenfiguren etwa – verbunden. Einen wichtigen Faktor stellte die Ultramontanisierung und Nationalisierung von Erinnerungsorten bzw. -figuren dar.44 Die Geschichte katholischer Heiliger – insbesondere Bonifa‐ tius – und deren Nationalisierung stellten einen wichtigen Bestandteil im gegen innen gerichteten Konfessionalisierungsdiskurs dar.45 Von einer auf der Geschichte der Reformation und des konfessionellen Zeitalters basierenden „externen“ Konfes‐ sionalisierung mit Bezug auf die Nation sowie auf Staatskonzeptionen kann für Deutschland seit Mitte des 19. Jahrhunderts gesprochen werden.46 In der Reforma‐ tionsgeschichtsschreibung wurde Tilly im Unterschied zur „ausländischen“ GustavAdolf Figur als katholische nationale Integrationsfigur präsentiert und die Erhaltung der nationalen Einheit dem Katholizismus zugeschrieben. Auch auf katholischer Seite wurde über die Diskurse der Kontinuität und teleologische Verschränkung die Verbindung von Katholizismus und Nation kulturalisiert.47 Die Nationalisierung der mittelalterlichen Kaiserpolitik im Sinne eines Konti‐ nuitätsdiskurses war ein zentraler Bestandteil der katholischen Geschichtsdiskurse. Diese wurden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und vor allem seit den 1870er Jahren in der ultramontanen Geschichtsschreibung kanonisiert, wie sie von Onno Klopp, Johannes Janssen und Ludwig Pastor getragen wurde.48 Der Kaiser wurde als zentraler Garant der Einheit des Reiches dargestellt. Stand bei Klopp ein universaler Reichsgedanke im Zentrum, so nationalisierte der Mainstream der

Vgl. Gramley 2002, S. 89. Dazu ausführlich: Lehmann 2000, bes. S. 92–96. Vgl. Kuhlemann 2004, S. 34–35. Vgl. Metzger 2010. Vgl. Blaschke 2002; Stambolis 2000. Dem Gustav-Adolf-Verein wurde bereits 1849 der Bonifatiusverein gegenübergestellt. Vgl. Gräf 1996. 47 Vgl. Kuhlemann 2004, S. 40–45. 48 Besonders Janssen, Geschichte des Deutschen Volkes seit dem Ausgang des Mittelalters (1878–1894); Pastor, Geschichte der Päpste seit dem Ausgang des Mittelalters (1886–1933). 41 42 43 44 45 46

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ultramontanen Geschichtsschreibung das Alte Reich.49 Die ultramontane Richtung gipfelte in der Rückprojektion des Staat-Kirche-Konfliktes der Kulturkampfzeit in das konfessionelle Zeitalter durch Ludwig Pastor, den Vertreter deutscher Historiker der Kulturkampfgeneration par excellence. Zeitgenössische und historische konfessionelle und politische Konfliktlagen über‐ lagerten sich beispielhaft in der Sybel-Ficker-Kontroverse.50 Während Heinrich von Sybel die kaiserliche Italienpolitik des Mittelalters mit dem Argument verurteilte, sie stehe einer nationalen deutschen Monarchie entgegen, verteidigte Julius Ficker die „universale katholische Reichsidee“ und setzte sie zur eigenen Gegenwart des 19. Jahrhunderts und seiner großdeutschen Staatskonzeption und Nationsidee parallel.51 Fickers universalistische Reichsidee kommt in seiner Schrift Das Deutsche Kaiser‐ reich in seinen universalen und nationalen Beziehungen (1861) zum Ausdruck: „[…] das Kaiserreich Ottos des Großen und seiner Nachfolger, wenn es auch an denselben Ideenkreis anknüpft, nur als eine Fortsetzung des früheren erscheint, zeigt ein wesentlich nationales, deutschen Gepräge. Nur der deutsche Herrscher war zur Kaiserkrone berufen, auf die Kraft der deutschen Nation war das Reich gegründet […]; und vor allem war es die deutsche Auffassung des Staates, welche den ganzen eigentümlichen Bau durchdrang; mochte es nach wie vor den Namen des römischen Reiches führen, seinem Wesen nach war es ein deutsches. Dieses Heilige Römische Reich Deutscher Nation war weder ein Weltreich, noch ein Nationalreich; aber es war eine Staatsbildung […]. Um die Bedeutung des Kaiserreiches für jene Zeiten zu würdigen, erinnern wir zunächst an alles, was wir früher über das Bedürfnis einer größeren staatlichen Einigung der christlichen Völker sagten, ein Bedürfnis, welches den Gedanken an ein christliches Universalreich, wie es unter Karl seine Verwirklichung fand, entstehen […] ließ.“52 Im späteren 19. Jahrhundert und um die Jahrhundertwende von 1900 lässt sich von einer Pluralisierung des Verhältnisses zu Fortschrittsdiskursen und einer erhöh‐ ten Komplexität in Bezug auf Konzeptionen der Zeit sprechen, welche sich in gesellschaftlichen Krisenwahrnehmungen und philosophischen Unsicherheiten und Umdeutungen und in Literatur und Kunst in einer radikalen Infragestellung der Möglichkeiten kohärenter Deutungen der Welt und von Transzendenz und Identität zeigte. Fortschrittskritik und Krisendiskurs bezüglich der Zukunft, wie sie in den Jahrzehnten um 1900 wie in jenen um 1800 sich ausgeprägter äußerten, sind auch in Geschichtsdiskursen festzumachen. Sie zeigten sich bei einer Minderheit von 49 Gräf 1996, S. 388. 50 Vgl. Brechenmacher 2003. 51 Vgl. von Sybel, Über die neueren Darstellungen der deutschen Kaiserzeit (1859), Die deutsche Nation und das Kaiserreich (1862), Entstehung des Deutschen Königthums (1844); Ficker, Das deutsche Kaiserreich in seinen universalen und nationalen Beziehungen (1861). Zit. Gräf 1996, S. 372. 52 Fricker 1861, in: Schneider 1941, S. 68–69.

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Historikern und Geschichtsphilosophen auch in einer mehr oder weniger radikalen Infragestellung des optimistischen Geschichtsbegriffs und Wissenschaftlichkeitsver‐ ständnisses: in kulturpessimistischen Niedergangsdiskursen ebenso wie in neuen Gemeinschaftssemantiken, die diesen entgegengestellt wurden, wie auch in antihis‐ toristischen Positionen insbesondere in Teilen des protestantischen theologischen Geschichtsdenkens, welche alle die Verhältnisbestimmung von Zeit und Geschichte transformierten.53 Dabei ist insgesamt von einer Pluralisierung zu sprechen, die allerdings nur eine Minderheit der Geschichtsschreibung erfasste. Setzte Jacob Burckhardt dem homogenen Fortschrittsdiskurs eine Vielheit von Kulturprozessen entgegen, wodurch er die Dimension der „Kultur“ dynamisierte, je‐ doch in eine kulturpessimistische Theorie geschichtlicher Krisen integrierte54, ist bei Friedrich Nietzsche die radikalste – gerade auch semantisch sichtbare – Dekonstruk‐ tion des Wissenschaftlichkeitsverständnisses der Geschichtsschreibung zu finden. In Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben (1874) schrieb er: „Mit dem Worte ‚das Unhistorische’ bezeichne ich die Kunst und Kraft vergessen zu können und sich in einen begrenzten Horizont einzuschließen: ‚überhistorsich’ nenne ich die Mächte, die den Blick von dem Werden ablenken, hin zu dem, was dem Dasein den Charakter des Ewigen und Gleichbedeutenden gibt, zu Kunst und Religion.“55 Der Kulturbegriff hatte schon bei Burkhardt und um die Jahrhundertwende bei ver‐ schiedenen sogenannten Kulturhistorikern eine essentialisierende und zugleich auf Veränderung in der Zeit ausgerichtete Ausformung erlangt, so dann auch bei Oswald Spengler, der ihm zudem eine deterministisch-zukunftsbezogene Dimension verlieh. Mutmassungen über zukünftige Entwicklungen durch Analogie-Vergleiche mit Ver‐ gangenem verband er mit einem von organizistischen Metaphern durchwobenen Kulturbegriff, wobei Wiederholbarkeit und zyklisches Zeitverständnis mit Differenz in einem Spannungsverhältnis bestehen blieben.56

Diskurse der Wissenschaftlichkeit Heiko Feldners Analyse von Diskursen der Wissenschaftlichkeit im 18. Jahrhundert zeigt, dass um 1800 Geschichtsschreibung vermehrt als Wissenschaft konzeptionali‐ siert wurde.57 Dabei unterschied sich der Wissenschaftsbegriff wesentlich von dem älteren, bis ins 18. Jahrhundert hinein dominierenden aristotelischen Wissenschafts‐ begriff. Letzterer war auf das Universale und Abstrakte fokussiert, hatte sich in 53 Vgl. Graf 1988; Pfleiderer 2002; Christophersen 2008. 54 Vgl. bes. Burckhardt, Weltgeschichtliche Betrachtungen: über geschichtliches Studium (1905). Vgl. Hardtwig 2006; Müller 2008. 55 Nietzsche 1874, S. 171–172. 56 Spengler, Untergang des Abendlandes (1918). Vgl. Kittsteiner 2005. 57 Feldner 2003.

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der Aufklärung hin zu erfahrungsbezogenen Wissenskonzeptionen entwickelt und nahm darauf aufbauend eine empirische Wendung. Wissenschaftlichkeit wurde um 1800 in zentraler Weise zu einem Selbstbeschreibungsdiskurs der Geschichtsschrei‐ bung. Man könnte von einem Diskurskomplex aus Wahrheits-, Objektivitäts- und Unparteilichkeitsdiskursen sowie solchen der kritischen Quellenarbeit sprechen. Da‐ mit verbunden war der Glaube an die Kohärenz der Geschichte und die prinzipiel‐ le Möglichkeit der Repräsentierbarkeit vergangener Wirklichkeiten.58 Neben dem Genre sogenannter Historiken wurde diese Konzeption auch in Handbüchern und Nachschlagewerken bzw. Lexikaartikeln, teilweise auch in Monographien – zumeist in Einleitungen –, formuliert und stabilisiert. Vor dem Hintergrund dessen, dass die Codierung von „wahr“/„unwahr“ als für wissenschaftliche Kommunikation bestimmend bezeichnet werden kann,59 spielten Wahrheitsdiskurse in der Selbstdefinition der Geschichtsschreibung eine zentrale Rolle. Stefan Jordan hat aufgezeigt, wie sich der historische Wahrheitsbegriff seit 1800 von einem pragmatischen, auf die Erziehung der Menschen bezogenen zu einem die Objektivität als zentrales Spezifikum tragenden Konzept gewandelt hat.60 Diese Verschiebung, in deren Rahmen auch der Begriff der Idee zum bestimmenden Subjekt der Geschichte wurde, dominierte in der Geschichtstheorie des 19. Jahrhun‐ derts.61 Das Konzept der Objektivität nahm unterschiedliche Ausformungen an und ist in seiner Verschränkung mit anderen Begriffen zu betrachten. Objektivität bedeu‐ tete für Ranke Unparteilichkeit und schloss Parteilichkeit aus.62 Dabei hatte Rankes Begriff der „Unparteilichkeit“, wie Ulrich Muhlack aufzeigt, eine objektive und eine subjektive Seite.63 „Unmöglich wäre es, unter allen den Kämpfen der Macht und der Ideen, welche die größten Entscheidungen in sich tragen, keine Meinung darüber zu haben. Dabei aber kann doch das Wesen der Unparteilichkeit gewahrt bleiben. Denn dies besteht nur darin, daß man die agierenden Mächte in ihrer Stellung anerkennt, und die einer jeden eigenthümlichen Beziehungen würdigt. Man sieht sie in ihrem besonderen Selbst erscheinen, einander gegenübertreten, und mit einander ringen; in diesem Gegensatz vollziehen sich die Begebenheiten und die weltbeherrschenden Geschicke. Objectivität ist zugleich Unparteilichkeit.“64 Unparteilichkeit bedeutete für Ranke nicht Voraussetzungslosigkeit, ja er setzte Objektivität und Wahrhaftigkeit gerade der Voraussetzungslosigkeit entgegen. Damit verbunden lag die Aufgabe des Historikers in der sogenannten „Anschauung“, die vom Besonderen zum Allge‐

58 Man könnte mit Roland Barthes von einem „effet du réel“ sprechen. Barthes 1984, S. 167–174. Vgl. Megill 2007. 59 Vgl. Stichweh 1987; Novick 1988. 60 Jordan 1999. 61 Vgl. Jordan 1999, S. 148–150. 62 Vgl. Ranke, Die deutschen Mächte und der Fürstenbund (1871). Dazu: Vierhaus 1977, S. 67. 63 Muhlack 2006, S. 51. 64 Ranke, Die deutschen Mächte und der Fürstenbund, S. VII–VIII.

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meinen führte und die bei ihm zentralerweise Anschauung der einzelnen Staaten bedeutete. In diesem Kontext erhielt die Quellenforschung eine ganz neue Bedeu‐ tung. „Objektive Darstellung“ im Sinne von „Gegenständlichmachung“ bedeutete für Ranke die Vergegenwärtigung von Wahrheit. Darstellung und Vergangenheit, Darstellung und Geschichte wurden übereinander gelegt. Nur so konnten sie für Ranke wahr sein. Dabei bildete seine Ideenlehre die Interpretationsgrundlage. Me‐ thode und Darstellung waren unmittelbar verbunden.65 Staat, Religion, Sprachen waren für Ranke Ausdruck von Ideen und ihrerseits im Kampf mit anderen Ideen. Anders ausgerichtet waren die Wahrheitsbezüge in Droysens Historik. Aufbauend auf der Kategorie der Subjektivität forderte Droysen die Parteinahme des Histori‐ kers. Dies hatte eine unterschiedliche Definition von Objektivität zur Folge. Droysen beschrieb Objektivität als „Sachlichkeit“ im Sinne einer „Ausrichtung der histori‐ schen Forschung auf die Gegenstände“,66 welche er als für die Geschichtsschreibung wichtiges Darstellungsprinzip beschrieb. Diese Sachlichkeit müsse jedoch durch „die stärkste subjektive Färbung“ der Darstellung sichergestellt werden. Damit ge‐ koppelt machte Droysen den Geist zum „vernünftigen Subjekt“ der Geschichte und historisierte denselben als historische Vernunft. Sein Ziel war, wie Allan Megill formuliert, nicht „to establish […] the ways of objective History, but the laws of his‐ torical investigation and knowledge“.67 Interpretation bedeutete jedoch nicht, dass nicht doch ausschließlich eine Theorie als möglich erachtet und universell gesetzt wurde.68 Darüber hinausgehend entwickelte Droysen eine Theorie der Darstellung, indem er untersuchende, erzählende, didaktische und diskussive Darstellungsformen unterschied.69 Dabei reflektierte er, dass jede Darstellung von Geschichte Vollstän‐ digkeit, die Konstruktion von Abfolge – eines Anfangs und eines Endes – und die „Illusion von überlieferten Tatsachen“ als Ziel verfolge, womit er in der Reflexion der Narrativität weiter ging als andere zeitgenössische Historiker und Geschichtsphi‐ losophen.70 Um die Komplexität der Verhältnisbestimmung von Wissenschaftlichkeitsdiskurs und politisch-weltanschaulicher, vor allem auf die Nation ausgerichteter Geschichts‐ schreibung in Bezug auf selbstreflexive Diskurse zu thematisieren, soll ein Blick auf Heinrich von Sybel und Heinrich von Treitschke gerichtet werden. Selbstreflexive Diskurse finden sich bei diesen wie bei der Mehrzahl der Historiker in unsystemati‐ scher Weise und selten explizit.71 Bei beiden zeigt sich eine alleinige Zuspitzung 65 66 67 68 69 70 71

Vgl. Hardtwig 2005b; Vierhaus 1977. Jordan 1999, S. 167. Megill 1995, S. 160. Vgl. Lorenz 2008, S. 49. Vgl. dazu auch: Hardtwig 2005b, S. 22–23. Droysen, Grundriss der Historik (1857/1868), § 88–§ 93. Vgl. von Sybel, Über die neueren Darstellungen der deutschen Kaiserzeit (1859); ders., Über die Gesetzte des historischen Wissens (1864); Treitschke, Deutsche Geschichte im 19. Jahrhun‐ dert (1879–1894); ders., Die Aufgabe des Geschichtsschreibers (1896).

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des Begriffs der Unparteilichkeit auf die Quellenforschung und eine gleichzeitige Zuspitzung des Diskurses der politischen subjektiven Anteilnahme. Beides war bei Sybel und Treitschke verbunden mit dem Glauben der Sinnhaftigkeit der Geschichte und von deren Durchdringbarkeit. Dabei wurde der politisch-moralische Standpunkt als durch den „objectiven Geschichtsprozess“ gerechtfertigt dargestellt.72 Die selbstreflexiven Diskurse der katholischen Geschichtsschreibung schufen in zunehmender Systematisierung seit den 1840er Jahren einen additiven Wissenschaft‐ lichkeitsdiskurs, der Konzeptionen der Quellenbasiertheit und -kritik, Objektivität und Unparteilichkeit ebenso integrierte wie eine heilsgeschichtliche Perspektive und darauf basierende Wahrheitsdiskurse. Die zentrale Codierung der Wissenschaft‐ lichkeit wurde mit dem auch im religiösen Bezug bestimmenden Code „wahr“/ „unwahr“ überlagert. Darüber ließen sich geschichtsphilosophische und methodische Wahrheitsdiskurse miteinander verschränken. Aus der Verbindung eines über einen ahistorischen Mechanismus verlaufenden, auf göttlicher Vorsehung beruhenden heilsgeschichtlichen und eines historisch-dynamischen, innerweltlichen Geschichts‐ begriffs entstand das Metanarrativ der katholischen Geschichtsschreibung schlecht‐ hin.73 Die Verbindung der beiden Dimensionen von „Wahrheit“ geschah im Sinne einer Bestimmung des Diskursfeldes der Wissenschaftlichkeit durch jenes der Re‐ ligion und damit des „Diesseits“/„Jenseits“-Codes. In der Realencyclopädie oder Conversationslexikon für das katholische Deutschland von 1847 stand unter „Ge‐ schichte“: „Da nun das Christenthum die Wahrheit besitzt, und das Christentum allein namentlich die einzige wahre Geschichtsanschauung vermittelt hat, die einzi‐ ge wahre Geschichtsphilosophie begründen kann, so folgt, dass wahre Geschichte, in dem Sinne, wie wir sie oben erklärt haben, namentlich eine wahre UniversalGeschichte nur im Christenthume möglich ist.“74 Der Universalismusbegriff war dabei exklusiv, insofern er über den Wahrheitsbegriff einzig der katholischen Kirche zugeschrieben wurde.75 Auch der Unparteilichkeitsbegriff war unmittelbar auf die höchste Ebene des Wahrheitsdiskurses hin ausgerichtet. Allein die katholische Sicht ermöglichte, so dieser Diskurs, eine unparteiliche Beurteilung der christlichen Ge‐ schichte.

Geschichtsreligiöse Metadiskurse Auch jenseits der katholischen Historiographie war der methodologische Wahrheits‐ diskurs mit einem umfassenderen Wahrheitsdiskurs der Deutung verbunden, der In‐ 72 Mommsen 1977, S. 138, 143, 152. 73 Vgl. etwa Hüffer, in: Jahrbuch der Görres-Gesellschaft, 1 (1880). 74 Realencyclopädie, S. 754; vgl. auch: Knöpfler, in: Wetzer und Welte’s Kirchenlexikon (1891), S. 529. 75 So etwa Hergenröther, Handbuch der allgemeinen Kirchengeschichte, Bd. 1 (1876), S. 9.

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terpretation und transzendente Ausrichtung miteinander verschränkte, weshalb von zwei ineinander verzahnten Wahrheitsdiskursen gesprochen werden kann. Dem Fortschrittsdiskurs war auf der geschichtsphilosophischen Ebene trotz des innerweltlichen Zukunftsraumes häufig eine transzendente Dimension eingeschrie‐ ben. Innerzeitliche und transzendente Zeitperspektive wurden nicht als Gegensätze, sondern ineinander verschränkt gedacht. Die gerade bezüglich der Zeitdimension transzendente Diskursebene – nicht immer religiös, häufig in Begriffen wie „Idee“ (so bei Ranke) oder „Geist“ (bei Hegel und anderen) gefasst – ist in der Forschung vor dem Hintergrund von Verwissenschaftlichungs- und Modernisierungs- (wie auch Säkularisierungs)theorien lange unbeachtet geblieben. Die Differenz von historischdynamischer und ahistorisch-statischer Dimension – der Vorstellung historischen Wandels entgegenlaufend – erhielt in der Verschränkung von Transzendenz und Im‐ manenz ihre philosophische Auflösung und strukturierte die Geschichtsschreibung in zentraler Weise. Auch der Objektivitätsdiskurs des Historismus ist vor dem Hin‐ tergrund des transzendenten Bezugs zu interpretieren, schrieb er sich doch das Mo‐ nopol auf universale Sinndeutung zu.76 Ranke, Droysen und Meinecke sprechen von „Gott“, dem „Göttlichen und Ewigen“ oder dem „Absoluten“ als Ziel der histori‐ schen Erkenntnisbemühungen, das sie spezifischer über die Begriffe der „Idee“ oder des „Geistes“ fassten. Dabei ist bezüglich dieser Metadiskurse die Kontinuität von der Aufklärung ins 19. Jahrhundert besonders hervorzuheben. So lässt sich bei Her‐ der von einer doppelt teleologischen Ausrichtung sprechen: einer innerweltlichen, welche vom Glauben an die erreichbare „Menschlichkeit“ ausging und damit das Fortschrittsnarrativ teleologisch fixierte; und einer transzendenten, quasi providenzi‐ ellen Dimension.77 Hegels drei Dimensionen des Geistes verschränken historischen Wandel und ahistorischen absoluten Geist miteinander, weisen also jene Ambivalenz auf, die für die Verbindung der zwei Wahrheitsdimensionen als kennzeichnend gese‐ hen werden kann.78 Bestimmbar ist die geschichtsreligiöse Dimension vor allem an der Ideenlehre des Historismus, die von Wilhelm von Humboldt in seiner Schrift Über die Aufgabe des Geschichtsschreibers (1821) konzipiert und von Ranke wei‐ terentwickelt wurde. Der Wissenschaftlichkeitsanspruch der Geschichtsschreibung wurde in letzter Instanz metaphysisch abgesichert. Neben der methodologischen Begründung stellte die Gleichsetzung von Wahrheits- und Wirklichkeitsdiskurs eine weitere Legitimationsbasis dar. Bei Ranke nahm die „Idee“ bzw. der „Geist“ jene Geschichte schaffende Funkti‐ on ein, auf welche hin die Geschichtsschreibung ausgerichtet war – die Idee als das bildende, gestaltende Element, das in der Erscheinung hervortritt, das aber auch transzendent ist. Die Idee ist sowohl in der Geschichte wie auch außerhalb der Ge‐ 76 Vgl. Hardtwig 2005c, S. 67. 77 Vgl. Assmann 2001; Wiersing 2007, S. 275–276. 78 Vgl. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religion (1837), S. 63.

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schichte und bleibt dadurch unveränderliches Sein. Bezüglich dieser Verschränkung spricht Ranke auch vom „Real-Geistigen“.79 Dabei trennt er den menschlichen und göttlichen Bereich gerade so weit, dass die menschliche Wirklichkeit ihre eigene Gesetzlichkeit geltend machen kann, ohne dass die Verbindung zum Göttlichen verloren geht. Entsprechend erforschten für ihn die Historiker die „Geschicke Gottes in der Welt“.80 Die „Ideen“ steuerten, über der „erfahrbaren Wirklichkeit“81 stehend, eine teleologische Ausrichtung und erhielten dabei letztlich eine ahistorische, unver‐ änderliche, auch dem Konzept des historischen Wandels entgegengesetzte Orientie‐ rung. Droysen dynamisierte die Wirklichkeit, blieb aber auch der Vorstellung von einem substanzhaften, göttlich geordneten Kosmos verpflichtet. Die Notwendigkeit der historischen Arbeit begründete er religiös als den Auftrag, Gottes Schöpfung weiterzuschaffen und auszubauen. Ist das Subjekt der Geschichte bei Droysen nicht mehr die Idee, sondern der Geist, so scheidet er doch wie Hegel den absoluten vom endlichen Geist. Teleologisch richtete er den Zweck der Geschichte auf den absoluten Zweck hinter der Geschichte.82 So war auch bei Droysen, trotz oder viel‐ mehr in Verbindung mit dem dynamischen Ziel der Wirklichkeitsgestaltung die Idee der Kontinuität und Steigerung der geschichtlichen Welt religiös begründet. Auch Droysen lässt geschichtliche Erkenntnis aus einem Zweck jenseits der erforschbaren Wirklichkeit hervorgehen und richtet „die Auswahl und Synthese der empirisch im ‘forschenden Verstehen’ ermittelten Einzeldaten“ an einer absoluten, unendlichen Wahrheit aus.83 Auch Karl Marx durchbrach das metaphysisch begründete Gedankensystem einer teleologisch ausgerichteten Geschichtssicht nicht. Vielmehr zeigte sich in seinem Glauben an die Gesetzlichkeit des Geschichtsprozesses ein umfassender Geschichts‐ determinismus, welcher durch einen Fortschrittsdiskurs geprägt war. Marx’ Mas‐ ternarrativ war geprägt von der Vorstellung einer in Abfolge und Form zwar kon‐ tingenten, doch unausweichlichen Abfolge von Gesellschaftsformationen, welche durch Revolutionen ausgelöst würde. In der Analyse des zeitgenössischen Kapita‐ lismus nahm Marx eine historisierende Position ein und stellte sich damit gegen eine Essentialisierung des Verhältnisses von Kapitalisten und Arbeitern, welches er vielmehr als historisch gewordenes Verhältnis interpretierte. Doch richtete er die Vergangenheit immer unmittelbar auf die Zukunft hin aus und legte damit einen dem Historismus ähnlichen teleologischen Metadiskurs zugrunde. Über historische

79 80 81 82 83

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Ranke, Politisches Gespräch (1836), S. 325; vgl. Hardtwig 2005c, 53. Ranke, Deutsche Geschichte zum Zeitalter der Reformation, Bd. 1 (1839), S. 81. Hardtwig 2005c, S. 53–54. Droysen, Grundriss der Historik (1857/1868), § 81. Hardtwig 2005c, S. 54.

Argumentationen sollte die marxistische sozialwissenschaftliche Prognostik plausi‐ bilisiert werden.84

Narrativität und Zeit In Bezug auf die Umsetzung einer kohärenten Geschichte in einer historischen Darstellung gingen die Positionen auseinander. So glaubte Ranke nicht nur an eine einheitliche Geschichte, die in der Verbindung von Gott und der Idee der Einheit der Geschichte begründet lag, sondern auch an die – allerdings noch in der Zukunft liegende – Möglichkeit einer einzigen kohärenten Geschichtsdarstellung. Auch Droysen ging davon aus, dass es eine einzige, objektive große Erzählung der Geschichte gebe, wenn sie auch unerreichbares Ziel bleiben sollte.85 Erzählen kann als Akt der Erinnerung bezeichnet werden, indem es die zeitlichen Dimensionen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verbindet.86 Zeit in der Geschichtsschreibung ist gerade auch auf der narrativen Ebene zu betrachten: so‐ wohl hinsichtlich narrativer Präsentation von Zeit wie hinsichtlich der (Eigen)Zeit‐ lichkeit von Narrativen. Hayden White betont die Metaebene von Narrativen, indem er sie als „[…] an expression in discourse of a distinct mode of experiencing and thinking about the world, its structures, and its processes“ bezeichnet.87 Ähnlich hält David Carr fest: „[…] narrative structure pervades our very experience of time and social existence, independently of our contemplating the past as historians...“88 Bei‐ de verbinden narrative Strukturen, Zeit und Sprache miteinander. Narrative Struktu‐ ren beeinflussen, wie über etwas gesprochen wird. Auf der Ebene narrativer Strukturen interessiert in unserem Zusammenhang be‐ sonders die Frage nach der zeitlichen Struktur historischer Narrative. Geschichts‐ schreibung des 19. Jahrhunderts – und weit ins 20. Jahrhundert hinein – strebte, im Unterschied zu literarischen Texten, die Kongruenz inner- und ausserhistorischer Zeit, von erzählter Zeit und Erzählzeit an. Sie schuf eine Illusion der Kongruenz, indem die konstruierte Zeit als naturalisiert dargestellt wurde.89 Indem der erzählten Geschichte Referentialität mit Bezug auf die wahrgenommene und gedeutete Welt gegeben und Repräsentation und Referentialität identitär gesetzt wurde, wurde in den Worten von Allan Megill die „große Erzählung“ mit der „großen Vergangen‐ heit“ gleichgesetzt.90 Narrative Muster in ihrem Verhältnis zur zeitlichen Struktur 84 85 86 87 88 89 90

Vgl. Küttler 1997; Hardtwig 2005c; Middell 2006. Megill 2007. Vgl. Erll, 2009; Nünning 2010. Vgl. weiter: Metzger 2019. White 1996, S. 274. Carr 1986, S. 9. Berkhofer 1995, S. 109. Megill 2007.

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spiegeln damit das geschichtsphilosophisch reflektierte und historische Diskurse prägende Zeitverständnis. Eine vergleichende Analysen nationaler und konfessioneller Geschichtsdiskurse des 19. und 20. Jahrhunderts hat gezeigt, dass narrative Mechanismen ganz we‐ sentlich auf temporalen Strukturen basieren und diese wiederum schaffen.91 Kon‐ tinuitätskonstruktion und teleologische Perspektive können als zentrale Mechanis‐ men in historischen (Fortschritts)narrativen bezeichnet werden. Durch sie wurden Ordnungsvorstellungen für die eigene Gesellschaft produziert und Brüche und Dis‐ kontinuitäten unterschiedlich deutend in ein kontinuierliches, zielgerichtetes Narra‐ tiv integriert, in progressiv-linear aufsteigende Narrative, in solche des linearen Niedergangs wie in zirkulär gedachte Kontinuitätsnarrativen. Die Kopplung von Historisierung und Teleologisierung hatte einen Effekt der Enttemporalisierung zur Folge. Sie schuf durch die Präsentmachung vergangener Entwicklungslinien, Cha‐ rakteristika und Topoi – besonders der Nation – eine ahistorische Dimension und hielt sich überlagernde Zeiten in der Gegenwart fest. Eine solche Synchronisierung ist ein für die Konstruktion von Erinnerungsgemeinschaften zentraler Mechanis‐ mus. Nicht nur in Monumenten und bildlichen Darstellungen,92 gerade auch in der Geschichtsschreibung führte die Überblendung unterschiedlicher Zeitlichkeiten, die Präsentmachung vergangener Entwicklungslinien und Zustände, so besonders konzentriert in Erinnerungsfiguren, zu Synchronisierung sich überlagernder Zeiten (in der Gegenwart). Entzeitlichung und Präsentmachen können als Effekte dieser Überlagerungen bezeichnet werden. Durch Transzendenzbezug, Überblendung und Präsentmachung entsteht nicht zuletzt ein Effekt der Mythisierung, der sich gerade auch in Geschichtsdiskursen aufzeigen lässt.93 Sämtliche Mechanismen verschränkten Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, ja inszenierten diese Verschränkung als zusammenhängende temporale Strukturen. Sämtliche Mechanismen sakralisierten Gemeinschaft und schufen Einheit, Homo‐ genität und Differenz. Homogenisierung der Tradition und Traditionalisierung der Gemeinschaft waren eng miteinander verschränkt. Gedächtnismechanismen ganz allgemein brachten gefühlte Vergangenheit und gedachte Zukunft, Staats- und Na‐ tionsvorstellungen – aber auch Vorstellungen des Religiösen in der modernen Ge‐ sellschaft – in Verbindung, ja zur Deckung. Einheit im Sinne einer einheitlichen Geschichte der Nation wurde in einer einheitlichen Geschichtserzählung umgesetzt. Zeitlichkeit war das zentrale Medium der inneren Strukturierung der Narrative. Zusammenführend kann mit Langzeitperspektive auf das späte 18. und das 19. Jahrhundert festgehalten werden, dass vor dem Hintergrund gewandelter Zeitvor‐ stellungen die Vergangenheit durchgehend als komplexer, aber einheitlicher Fluss 91 Vgl. Metzger 2010; dies. 2019. 92 Assmann 1993. 93 White 2000.

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von Ereignissen erachtet wurde, welcher narrativ erfasst werden könne. Wurde die Geschichte als Kontinuum strukturierter Ereignisse gesehen, so ließen sich diese in einer ebenso strukturierten narrativen Logik umsetzen. Dazu gehörte der Glaube an Kontinuität und historische Entwicklung, der häufig einen Fortschrittsdiskurs mit hervorbrachte. Dieser Glaube an die Kohärenz der Geschichte konnte religiös bedingt sein, wie dies nicht nur in der katholischen Geschichtsschreibung, sondern auch etwa bei Leopold von Ranke und der protestantischen Geschichtsschreibung der Fall war. Er konnte jedoch auch verschiedene Transformationen vom im engeren Sinn religiösen in ein in einem weiteren Sinn transzendentes Feld durchmachen, hin zu Konzeptionen, die häufig vom Idealismus geprägt waren. Dabei wurde der Glaube an die Einheit der Geschichte, wie auch immer sie transzendent begründet wurde, gerade als Teil der Wissenschaftlichkeit, als Teil eines Wahrheitsdiskurses und nicht als diesem widersprechend gesehen.

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Stefan Rebenich Theodor Mommsen: Staat und Historie

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1 Jellinek 1900, S. 67. 2 Jellinek 1900, S. 394-434. Vgl. dazu etwa Schönberger 2000. 3 Riedel 1963, S. 41.

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in seinem wissenschaftlich bedeutendsten Werk, dem „Römischen Staatsrecht“, das 1888 abgeschlossen wurde, zu untersuchen (3).

1. 1848 Theodor Mommsen erlebte den Beginn der liberalen und nationalen Bürgerrevoluti‐ on von 1848 als Redakteur der „Schleswig-Holsteinischen Zeitung“ in Rendsburg.4 Fünf Jahre zuvor hatte der Pfarrerssohn sein juristisches Examen mit Auszeichnung bestanden und wurde im Anschluss über ein römischrechtliches Thema summa cum laude promoviert. Doch die hochgesteckten beruflichen Ziele ließen sich nicht verwirklichen, wie sich schnell zeigte. So war an eine akademische Karriere vorerst nicht zu denken. Mommsen musste sich zunächst als Aushilfslehrer in den Mäd‐ chenpensionaten seiner Tanten in Altona über Wasser halten. Ein Zubrot verdiente er sich als Journalist. Im April 1844 erhielt er jedoch ein Reisestipendium des däni‐ schen Königs und brach nach Italien auf. Dort studierte er Inschriften und legte die Grundlagen für eine umfassende lateinische Inschriftensammlung, die nach langem Ringen und vielen Auseinandersetzungen 1854 schließlich von der Berliner Akade‐ mie übernommen wurde. Das ursprüngliche rechtshistorische Ziel seiner Stipendien‐ reise, alle inschriftlich erhaltenen Gesetzesurkunden zu sammeln, war dem großen Plan gewichen, ein für die Altertumsforschung grundlegendes Corpus Inscriptionum Latinarum herauszugeben. Doch als er im Sommer 1847 in die Heimat zurückkehrte, erwartete ihn dort die Arbeitslosigkeit. Es nützte Mommsen herzlich wenig, dass er sich inzwischen unter Altertumswissenschaftlern einen großen Ruf erworben hatte. Jetzt stand er mittellos da. Der junge Gelehrte wechselte wieder an die Schule. Eben noch hatte er in Rom vor internationalem Publikum Inschriften interpretiert, nun unterrichtete er im Altonaer Institut Mädchen im heiratsfähigen Alter. Die Zukunft war ungewiss. Doch schon bald ließen ihn die politischen Ereignisse die beruflichen Schwierigkeiten vergessen. In den Herzogtümern Schleswig und Holstein gärte es. Aus dem regionalen Gegensatz zwischen den Herzogtümern und dem dänischen Staat war eine nationale Sache geworden, die ganz Deutschland bewegte. Erinnern wir uns: Seit den 1830er Jahren wurde immer energischer eine gemeinsame Verfassung für Schleswig und Holstein gefordert und für eine Lockerung der Bindung an Dänemark gestritten. Die Regierung in Kopenhagen ließ sich indes nur zur Einrichtung von getrennten Provinzialständen bewegen, betrieb ansonsten in Schleswig eine geschickte Danisie‐ rungspolitik und unterstützte die radikalen Vertreter der dänischen Minorität, die

4 Das Folgende nach Rebenich 2005a.

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offen für den Anschluss des Herzogtums an Dänemark agitierten. Dagegen formierte sich Widerstand. Schleswig und Holstein sollten als deutsche Länder ungeteilt blei‐ ben. Die alte Vertragsformel „up ewig ungedeelt“ wurde zum politischen Schlacht‐ ruf, und aus vielen Kehlen ertönte das nationale Kampflied „Schleswig-Holstein meerumschlungen“.5 Die Spannungen verschärften sich 1846, als der dänische König Christian VIII. in den Herzogtümern das Erbfolgerecht der dänischen Gesamtmonarchie einführte. Die Nachrichten von der Pariser Februarrevolution heizten Anfang 1848 die Krisenstim‐ mung zusätzlich an. In Schleswig und Holstein wurden wie überall in Deutschland ‚Märzforderungen‘ erhoben: Volksbewaffnung, Schwurgerichte, Presse- und Ver‐ sammlungsfreiheit. Am 18. März verlangten die Deputierten in Rendsburg die Zu‐ sammenlegung der holsteinischen und schleswigschen Ständeversammlungen, eine gemeinsame Verfassung und die Aufnahme Schleswigs in den Deutschen Bund. Schon bildeten sich Freiwilligenverbände, die mit der Waffe in der Hand für ihre Ziele zu streiten bereit waren. Auch Mommsen meldete sich in Rendsburg für ein Freikorps, wurde aber, weil dienstuntauglich, abgewiesen. Die Berufung einer vor‐ wiegend aus Nationalliberalen gebildeten Regierung durch den neuen Monarchen Friedrich VII., der Ende Januar 1848 den Thron bestiegen hatte, führte zu einer wei‐ teren Eskalation, denn in Kopenhagen beharrte man auf der Angliederung Schles‐ wigs an Dänemark und lehnte die in Rendsburg erhobenen Forderungen ab. Darauf‐ hin wurde in Kiel eine provisorische Regierung gebildet, deren erklärtes Ziel es war, für die nationale Einheit und Freiheit Deutschlands und die Aufnahme Schleswigs in den Deutschen Bund zu streiten. Am 23. März erklärten die Herzogtümer Schleswig und Holstein ihren Abfall von Dänemark. Die Festung Rendsburg wurde besetzt und zum Regierungssitz ausgerufen. Der Aufstand war ausgebrochen. Mitglied der in Frankfurt und Berlin anerkannten provisorischen Regierung war Theodor Olshausen, der im „Kieler Korrespondenzblatt“ zeitweilig für die Abtren‐ nung Schleswigs von Holstein eingetreten war, sich nun aber zu einem eifrigen Verfechter der Unabhängigkeit und Einheit der beiden Herzogtümer gewandelt hatte. Der populäre liberale Politiker mit journalistischer Erfahrung leitete mit der gerade gegründeten „Schleswig-Holsteinischen Zeitung“ ein Presseorgan, das die offizielle Politik der neuen Regierung in den Herzogtümern verbreiten sollte. Da er dem alten Schriftleiter wenig zutraute, schaute er sich nach einem geeigneteren Redakteur um und gewann Mommsen, den er aus gemeinsamen Kieler Zeiten kannte und schätzte.6 Am 18. April bezog Mommsen die Redaktionsstube. Schon am 23. April erlebte er bei Schleswig als „journalistischer Schlachtenbummler“ den Sieg der preußischen

5 Zum Hintergrund vgl. etwa Nipperdey 1983, S. 622ff. und Siemann 1985, S. 153ff. 6 Wichtige Artikel, die Mommsen in der Schleswig-Holsteinischen Zeitung 1848 schrieb, finden sich bei Hartmann 1908, S. 161-254; vgl. zudem Gehrcke 1927, S. 62-64 und S. 154-203.

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Truppen, die die Aufständischen gegen Dänemark unterstützten.7 Am nächsten Tag handelte er über die Wahlen zum Frankfurter Parlament,8 um am 25. April einer Versammlung des Wahlkomitees in Neumünster beizuwohnen. Energisch unterstütz‐ te er die Kandidatur von Johann Gustav Droysen und Georg Waitz, während er ge‐ gen den Kieler Staatsrechtler Lorenz Stein polemisierte.9 Mommsen setzte sich als Journalist energisch für die politische Profilierung der „Schleswig-Holsteinischen Zeitung“ ein. Zwar hatte er das Journalistenhandwerk nicht gelernt, aber er formulierte glänzend. Lokale, regionale und nationale Ereig‐ nisse wurden in seinen Artikeln besprochen, die parlamentarischen Debatten in den Landesvertretungen und in der Frankfurter Paulskirche dokumentiert, Aufrufe, Petitionen und Denkschriften abgedruckt und die Leser zur Diskussion aufgefordert. Nicht durch parlamentarische Reden oder politische Druckschriften trug Mommsen zur Politisierung der Öffentlichkeit bei, sondern durch brillant formulierte Leitarti‐ kel. Mommsen stand – wie die Parlamentarier Friedrich Christoph Dahlmann, Karl Theodor Welcker, Johann Gustav Droysen und Georg Waitz – mitten im politischen Geschehen. Aber es gelang ihm nicht, der Zeitung überregionale Bedeutung zu verschaffen. Die Zahl der Abonnenten kam über 2000 nicht hinaus. Der Leserstamm entsprach damit dem anderer und weitaus farbloserer Lokalblätter. Mommsen vertrat in der „Schleswig-Holsteinischen Zeitung“ die liberale Politik der Mitte. Einen forschen Patriotismus, der sich gegen Dänemark richtete, verband er mit dem glühenden Bekenntnis zur deutschen Einheit. „Ungeteilt“ hieß die Devi‐ se. Die Entscheidung über das Schicksal seiner Heimat musste seiner Ansicht nach in der Frankfurter Paulskirche fallen. Das romantische Ideal der deutschen Kulturna‐ tion, das schon Barthold Georg Niebuhr sich zu eigen gemacht hatte, verschmolz er mit der liberalen Idee einer „Staatsnation“. Mommsen war von der Lebensunfä‐ higkeit der deutschen Kleinstaaten überzeugt und setzte alle seine Hoffnungen auf Preußen. „Wir anderen Deutschen brauchen Preußen notwendiger, als Preußen uns“, schrieb er.10 Preußens Mission war die Errichtung des deutschen Nationalstaates. Dessen Teil sollte Schleswig-Holstein werden. Wie Johann Gustav Droysen forderte auch Mommsen im Jahr 1848, dass Preußen sein Staatsinteresse mit dem Interesse der deutschen Nation identifizieren und letztlich in Deutschland aufgehen solle.11 Im Unterschied zu vielen süddeutschen Liberalen ließ er nie einen Zweifel daran, dass er einen kleindeutsch-preußischen Bund, der Österreich ausschloss, favorisierte.

Theodor Mommsen, Die Schlacht bei Schleswig, in: Schleswig-Holsteinische Zeitung 1848, Nr. 9 vom 25. April, 32-34; zitiert nach Mommsen 1905, S. 363-372. 8 Theodor Mommsen, Unsere Wahlen zum Nationalparlament, in: Schleswig-Holsteinische Zei‐ tung 1848, Nr. 8 vom 24. April, zitiert nach Hartmann 1908, S. 162-171. 9 Theodor Mommsen, Versammlung der Centralwahlcommittee in Neumünster, in: SchleswigHolsteinische Zeitung 1848, Nr. 11 vom 27. April; vgl. Hartmann 1908, S. 35. 10 Zitiert nach Hartmann 1908, S. 36; vgl. auch Gehrcke 1927, S. 74. 11 Vgl. Muhlack 1998. 7

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Mommsen kommentierte in der „Schleswig-Holsteinischen Zeitung“ nicht nur die Entwicklung in Schleswig und Holstein, sondern auch die großen Fragen, die das Frankfurter Vorparlament und die verfassungsgebende Nationalversammlung bewegten.12 In seinen Artikeln zur Zentralisierung und zum Erbkaisertum, zur Re‐ präsentation des Volkes und zu Wahlrechtsfragen, zur Gewaltenteilung und zum Verhältnis von Regierung und Parlament setzte er sich mit den unterschiedlichen politischen Strömungen auseinander, suchte nach liberalen Antworten auf die drän‐ genden Fragen der Zeit und präzisierte – nicht immer frei von Widersprüchen – seine politische Aussage. Dabei war er ein unabhängiger Kopf, der sich in keine Parteischablone pressen ließ. Er sympathisierte oft mit Positionen der linken Mitte. „Keine Isolirung! Keine Reaction! Keine Anarchie!“ lautete sein Wahlspruch.13 Das bürgerlich-liberale Credo: Machtpolitik nach außen, im Innern aber Konstitutionalis‐ mus, machte er sich zu eigen. Entschieden wandte er sich gegen separatistische Strömungen und versagte – zunächst zumindest – den Nordschleswigern, unter denen sich zahlreiche Dänen befanden, das Recht auf nationale Selbstbestimmung. Das ganze Land sollte deutsch sein. Gleichzeitig agitierte er gegen fürstliche Reaktion und sozialistischen Umsturz. Reformen wurden begrüßt, aber Legalität und Rechtskontinuität eingefordert. Nicht Freiheit vom Staat, sondern im Staat lautete seine Devise. Und sie musste zunächst auf der untersten staatlichen Organisationsebene, den Gemeinden, realisiert wer‐ den.14 Die konstitutionelle Monarchie war Mommsen die sicherste Gewähr gegen Anarchie, die die Liberalen seit den Exzessen der Französischen Revolution fürchte‐ ten wie der Teufel das Weihwasser. Monarchie und Parlamentarismus galten ihm als vereinbar. Die von den Demokraten geforderte Republik mit einem souveränen Nationalparlament schloss er zwar für die Zukunft nicht prinzipiell aus, aber im Moment schien ihm die Einigung Deutschlands unter einem preußischen Erbkaiser taktisch geboten. Im Zentrum seiner liberalen Repräsentationstheorie, die die Volks‐ souveränität garantieren sollte, standen die gewählten Abgeordnetenkammern, durch die die Bürger an den Staatsgeschäften, vor allem den Steuerbewilligungen und der Gesetzgebung, mitwirken und die Regierung sowie den Monarchen kontrollie‐ ren konnten. Auf diese Weise musste und sollte sich die Nation selbst regieren. Die liberale Rechtsstaatsidee als Grundlage einer bürgerlichen Gesellschaft wurde Mommsen in dieser Zeit so wichtig, dass er – wie noch zu zeigen sein wird – einzelne Elemente selbst in historischen Formationen wie dem Staatsrecht des repu‐ blikanischen Roms suchte. 12 Zur historischen Einordnung der journalistischen Beiträge von Mommsen vgl. auch Gehrcke 1927, S. 65ff. und Heuß 1956, S. 140ff. 13 Theodor Mommsen, Unsere Wahlen zum Nationalparlament, in: Schleswig-Holsteinische Zei‐ tung 1948, Nr. 8 vom 24. April, zitiert nach Hartmann 1908, S. 164. 14 Theodor Mommsen, Die schleswig-holsteinischen Provinzialstände, in: Schleswig-Holsteini‐ sche Zeitung 1948, Nr. 49 vom 9. Juni, zitiert nach Hartmann 1908, S. 184.

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Mommsens Leitbild war eine klassenlose, ‚mittelständische‘ Gesellschaft gleich‐ berechtigter Staatsbürger,15 in der soziale Gegensätze ausgeglichen wurden. Die ständisch-feudale Privilegiengesellschaft war seine Sache nicht, genauso wenig die kapitalistische Klassengesellschaft englischer Provenienz, die etwa Gervinus propa‐ gierte.16 Die „Freiheit und Gleichheit aller Staatsbürger“ forderte er ein17 – und damit den vorsichtigen Wandel des historisch Gewordenen. „In allen Fragen, die den Staat als solchen betreffen, kommen Bürger und Bauern, Geistliche und Officiere, alle nur als Staatsbürger in Betracht und sollten durchaus dieselben Interessen ha‐ ben; wer sich hier durch sein Standesinteresse bestimmen lässt, verletzt seine Pflicht als Staatsbürger“.18 Doch „Sicherheit und Stabilität der öffentlichen Verhältnisse“ blieben Mommsens erste Sorge.19 In einer auf Vernunft gegründeten Gemeinschaft freier Individuen würden materielle Ungleichheiten und soziale Diskriminierung zwar nicht vermie‐ den, aber wenigstens eingeschränkt, und selbst den Arbeitern würde die Möglich‐ keit eröffnet, sich durch den Erwerb von Bildung und Besitz aus ihrer Notlage zu emanzipieren und an der bürgerlichen Freiheit zu partizipieren. Mommsen war mit‐ hin empfänglich für die Konzeption einer sozial und wirtschaftlich modernisierten Gesellschaft ohne ständisch-korporative Bindungen, die Hegel theoretisch fundiert hatte. Aber die Reform der bürgerlichen Gesellschaft sollte die Herrschaft des Bür‐ gertums in dem neuen Staat nicht grundsätzlich in Frage stellen. Anfang Juni 1848 freute sich Mommsen, dass es Dahlmann, Droysen, Waitz und anderen nationalliberalen Vertretern der Herzogtümer im Frankfurter Parlament gelungen war, die schleswigsche Sache zu einer deutschen Sache zu machen.20 Doch schon wenig später stand Mommsen in Rendsburg im Abseits, da er die Vereinigung der holsteinischen und schleswigschen Ständeversammlungen und einige Abgeord‐ nete scharf kritisiert hatte. Er sah in ihnen „nicht die Repräsentation des Volkes“, sondern ein Hemmnis des „freisinnigen Fortschritts“ und forderte die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht und eines liberalen Wahlgesetzes.21 Die Zahl seiner Gegner wuchs in der ohnehin mehrheitlich konservativen Regierung. Als ihm ein Maulkorb verpasst werden sollte, trat er in den ersten Julitagen von seiner Stelle als Schriftleiter zurück.22 Er wählte die Arbeitslosigkeit, um der Zensur zu entgehen. 15 Vgl. hierzu auch Gall 1985, S. 176. 16 Vgl. Hübinger 1998, S. 258. 17 Theodor Mommsen, Die schleswig-holsteinischen Provinzialstände, in: Schleswig-Holsteini‐ sche Zeitung 1948, Nr. 49 vom 9. Juni, zitiert nach Hartmann 1908, S. 185. 18 Ebd., zitiert nach Hartmann 1908, S. 186. 19 Theodor Mommsen, Die Verbesserung der Lage der arbeitenden Klassen, in: Schleswig-Hol‐ steinische Zeitung 1848, Nr. 32 vom 22. Mai, zitiert nach Gehrcke 1927, S. 170-174, hier S. 172. 20 Vgl. Gehrcke 1927, S. 89f. 21 Vgl. Gehrcke 1927, S. 91ff. sowie die von Hartmann 1908, S. 183ff. abgedruckten Artikel. 22 Vgl. Gehrcke 1927, S. 99 und Wickert 1959-1980, Bd. 3, S. 21ff.

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Im August 1848 ließ er sich dazu bewegen, nochmals für die Zeitung zu schrei‐ ben. Jetzt war das Blatt privatisiert, und Mommsen machte sich Hoffnungen, dass nicht mehr eine gouvernementale, sondern eine unabhängige Berichterstattung ge‐ wünscht sei. Aber die Zeitläufte waren widrig. Preußen fürchtete die Internationa‐ lisierung des deutsch-dänischen Konfliktes und schloss im schwedischen Malmö mit Dänemark einen Waffenstillstand. Die Entscheidung wurde in Rendsburg wie in Frankfurt kontrovers diskutiert. Während die Demokraten die Vereinbarung von Malmö kategorisch ablehnten, rang sich Mommsen schließlich – wie viele seiner liberalen Freunde – zur Zustimmung durch. Nun billigte er auch die Teilung des Herzogtums Schleswig, die er im Juni noch zurückgewiesen hatte. So hoffte er, den größeren Teil des Herzogtums für den Deutschen Bund retten zu können.23 Sein Glaube an den Primat der Nationalversammlung hatte aber in diesen Auseinander‐ setzungen deutlich an Kraft verloren. Bald sprach er abfällig von der Frankfurter „Parlamentsidylle“, die ihn in historischer Perspektive an den Vogelstaat des Aris‐ tophanes erinnerte.24 Die journalistische Arbeit war ihm vorerst jedoch verleidet. Anfang Oktober schrieb er seinen letzten Artikel für die Schleswig-Holsteinische Zeitung.

2. Die „Römische Geschichte“ In der Zwischenzeit hatte Mommsen durch die Vermittlung seines Lehrers und Freundes Otto Jahn einen Ruf auf eine außerordentliche Professur für römisches Recht an der Universität Leipzig erhalten. Er war heilfroh, „dem Journalisieren“ entkommen zu sein, und akzeptierte ohne Zögern das niedrige Einstiegsgehalt von 400 Talern.25 Ende September 1848 traf Mommsen in Leipzig ein. Die Universität war mit knapp 1000 Studenten eine der größten in Deutschland. Die Juristenfakultät florierte. Seine Antrittsrede hielt Mommsen an einem der letzten Oktobertage über die Aufgaben der historischen Rechtswissenschaft. Er war zurück im akademischen Milieu. Doch in Leipzig fand auch sein politisches Engagement eine Fortsetzung. Als es nach der Auflösung des sächsischen Landtages Ende April 1849 zu Unruhen kam, zog er zusammen mit anderen Professoren durch die Straßen Leipzigs und rief die Bürger zum Protest auf. Dieses mutige Engagement für die Ziele der Revolution von 1848 brachte ihm in erster Instanz eine neunmonatige Gefängnisstrafe, die aller‐ dings der Berufung nicht standhielt. Gleichwohl wurde Mommsen im April 1851 aus seiner Professur entfernt, da er durch sein Verhalten in den Maitagen des Jahres 23 Vgl. Gehrcke 1927, S. 101ff.; 185ff. sowie Hartmann 1908, S. 216ff. 24 Vgl. seinen Brief an Wilhelm Henzen vom 5. November 1848 bei Wickert 1959-1980, Bd. 3, S. 28. 25 Vgl. Wickert 1959-1980, Bd. 3, S. 23ff. sowie Rebenich 2002, 63ff. und Rebenich 2005a, 19ff.

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1849 ein denkbar schlechtes Beispiel für die Jugend gegeben habe. Die politische Reaktion hatte Mommsen mit Hilfe des Disziplinarrechtes abgestraft. Mommsen fand Zuflucht in der Schweiz, die damals zahlreiche politische Flüchtlinge aufnahm, und wurde Professor für römisches Recht an der Universität Zürich. Aus Leipzig hatte der Historiker den Verlagsvertrag für die „Römische Geschich‐ te“ mit nach Zürich gebracht. Trotz zahlreicher Verpflichtungen arbeitete er kontinu‐ ierlich an dem Projekt, von dem sich der Autor und die Besitzer der Weidmannschen Buchhandlung in Leipzig auch einen kommerziellen Erfolg versprachen.26 Das Ma‐ nuskript des ersten Bandes ging im November 1853 an den Verleger Karl Reimer, im Juni 1854 erschien das Buch. Im selben Jahr kehrte Mommsen in seine deutsche Heimat zurück, genau: an die Universität Breslau, wo er wieder römisches Recht lehrte. Der zweite Band der „Römischen Geschichte“, am 1. April in Reinschrift ab‐ geschlossen, kam zu Weihnachten 1855 in die Buchläden. Der dritte wurde im Früh‐ jahr 1856 veröffentlicht. 1868 war bereits die fünfte Auflage auf dem Markt, 1903, als Mommsen starb, die neunte. Die „Römische Geschichte“ wurde ins Englische, Italienische, Polnische, Spanische, Ungarische, Russische und Französische über‐ setzt. 1972 erschien eine Ausgabe im Deutschen Taschenbuchverlag, die inzwischen in sechster Auflage verkauft wird. Das dreibändige Werk war und ist ein Welterfolg, obwohl es ein Torso geblieben ist, sein Autor es als „Geschichtsklitterung“ bezeich‐ nete und die zeitgenössische Kritik den „schlechtesten Zeitungsstil“ beklagte.27 Dargestellt wird die politische Geschichte Roms von den Anfängen bis zum Sieg Caesars über die Pompeianer in der Schlacht von Thapsus 46 v. Chr. Eingeschaltet sind rechts-, kultur-, wirtschafts- und literaturgeschichtliche Partien, in denen Mommsen über Verfassung, Religion, Ackerbau, Kunst und Erziehung handelt oder herrliche Porträts lateinischer Autoren und ihrer Werke zeichnet. Weite Teile der rö‐ mischen Frühzeit werden ausgeblendet. Die freien Bauern der klassischen Republik interessieren nur wenig. In den Mittelpunkt des Geschehens rückt die aristokratische Führungsschicht, die Nobilität. Deren Bedeutung für die Expansion Roms zunächst in Italien und dann im Mittelmeerraum wird ausführlich dargelegt. Der eigentliche Fokus ist die Krise der späten Republik, die mit den Gracchen einsetzt. Eingehend beschreibt Mommsen die Abfolge der gescheiterten Reformversuche und die Statio‐ nen der sozialen und politischen Auflösung. Der unaufhaltsame Niedergang der durch den Senat herrschenden Oligarchie wird erst durch Caesar überwunden, der 26 Die nachfolgenden Ausführungen fußen auf Rebenich 2006. – Ich zitiere Theodor Mommsen, Römische Geschichte, 3 Bde, Leipzig 1854-1856 nach der neunten Auflage von 1903/04. Der fünfte Band erschien in erster Auflage 1885 (41894). Eine Taschenbuchausgabe (dtv 59055) hat Karl Christ herausgegeben: München 1976 (62001); eine zweibändige Sonderaus‐ gabe erschien in der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft 2010. Der Text der „Römischen Geschichte“ findet sich auch im Internet, so etwa in https://www.projekt-gutenberg.org/autoren /namen/mommsen.html [21.4.2021]. 27 Zur zeitgenössischen Kritik des Werkes vgl. Wickert 1959-80, Bd. 3, S. 618ff. sowie Wucher 1968, S. 112ff.

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als Volksgeneral und Demokratenkönig der maroden res publica nochmals unsterbli‐ chen Ruhm verleiht. Caesar ist das „schöpferische Genie“ (Bd. 3, S. 461), der „Rea‐ list und Verstandesmensch“ (Bd. 3, S. 463), „der Staatsmann im tiefsten Sinne des Wortes“ (Bd. 3, S. 463), er ist der Ziel- und Höhepunkt der römischen Geschichte. Die von ihm errichtete „demokratische Monarchie“ charakterisierte Mommsen als die „Vertretung der Nation durch ihren höchsten und unumschränkten Vertrauens‐ mann“ (Bd. 3, S. 476), der keine „orientalische Despotie von Gottes Gnaden“ (Bd. 3, S. 476), sondern „ein italisch-hellenisches Reich mit zweien Sprachen und einer ein‐ heitlichen Nationalität“ (Bd. 3, S. 548) schaffen wollte. Der in sich schlüssige Aufbau der „Römischen Geschichte“ fasziniert ungemein. Alles entwickelt sich hin auf Caesar, in dem „Demokratie wie Monarchie ihren höchsten und letzten Ausdruck fanden“ (Bd. 3, S. 374). Caesar ist, wie man schon längst gesehen hat, die Personifikation historischer Notwendigkeit, in ihm inkarniert sich Hegels Weltgeist. Mommsen ist zeitgenössischen Vorstellungen verpflichtet, die an die immanente Sinnhaftigkeit des geschichtlichen Geschehens und die überragen‐ de Rolle des Individuums glaubten, durch das sich die Vernunft in der historischen Realität fortschreitend offenbare. Nur so konnte der Apostat aus dem Pfarrhaus in der Figur Caesars, wie Alfred Heuß einmal treffend formuliert hat, eine weltliche Heiligenlegende schaffen.28 Caesar angemessen zu beschreiben, ist schier unmög‐ lich: „Wie der Künstler alles machen kann, nur nicht die vollendete Schönheit, so kann auch der Geschichtsschreiber, wo ihm alle tausend Jahre einmal das Vollkom‐ mene begegnet, nur darüber schweigen“ (Bd. 3, S. 468). Die „Römische Geschichte“ musste mit dem Untergang des republikanischen Roms und der Apotheose Caesars enden. Die Alleinherrschaft des Diktators ist Teil einer anderen Geschichte, die Mommsen erzählen wollte, aber nie erzählt hat. Der vierte Band, der mit den Ereignissen nach Thapsus einsetzen und letztlich die Kaiserzeit darstellen sollte, hat Mommsen trotz immer wieder aufflackernder Gerüchte nie geschrieben. Was wir besitzen, sind studentische Mitschriften seiner Vorlesungen, die er später an der Berliner Universität hielt.29 Sie zeigen eindrück‐ lich, dass Mommsen nie ernstlich daran dachte, diese Darstellung zu schreiben: Seine Interessen hatten sich verlagert, die alltägliche Arbeit am Inschriftencorpus und anderen wissenschaftlichen Projekten ließ ihm keine Zeit – und das Werk musste auch deshalb unvollendet bleiben, weil es die Vollendung der römischen Geschichte in der Gestalt Caesars zum Gegenstand hatte. Mommsen hatte, wie er einem Kollegen gestand, „nicht mehr die Leidenschaft, Caesars Tod zu schildern“.30 Allerdings schob er 1885 einen fünften Band nach, der die Geschichte der römischen Provinzen bis auf Diokletian behandelt. Thema und Intention dieses Werkes sind 28 Vgl. Heuß 1989, S. 65. 29 Mommsen 1992. 30 Vgl. Hartmann 1908, 80.

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allerdings nicht mit der dreibändigen „Römischen Geschichte“ der fünfziger Jahre zu vergleichen: Das Buch ist eine bahnbrechende Monographie zur althistorischen Regionenforschung, die das politische, administrative, kulturelle, religiöse und sozi‐ alökonomische Profil der Provinzen in den ersten drei Jahrhunderten nach Christi Geburt zeichnen will. Nicht zuletzt aus verlegerischen Gründen wurde (und wird) das Buch als fünfter Band der „Römischen Geschichte“ verkauft. In den ersten drei Bänden vergegenwärtigte Mommsen das Geschehen der römi‐ schen Republik durch „moderne Ausdrücke“ und Anspielungen „auf moderne Ver‐ hältnisse“. Die „Unbefangenheit oder Unverschämtheit“ des jungen Autors, die der alte Mommsen selbst ironisierte, zeigte sich nicht nur in der selbstherrlichen Quel‐ lenexegese und der Nonchalance der gelehrten Diskussion, sondern auch in einer kompromisslos modernen Sprache. Aus dem Consul wird der „Bürgermeister“ und aus dem Proconsul der „Landvogt“. Die landbesitzende Senatsaristokratie heißt Mommsen „Junker“, die Ritter sind die „Kapitalisten“. Sulla ist ein „Don Juan der Politik“ (Bd. 2, S. 376), der jüngere Cato hingegen ein „Don Quichotte“ (Bd. 3, S. 8). Im römischen Senat wurde wie im englischen Parlament gestritten, hier waren es die Optimaten und Popularen, dort die Liberalen und Konservativen. Es ist von Rechten und Linken die Rede, Ultras und Radikale bekämpfen sich, Fortschritt und Reaktion stehen einander gegenüber. Mommsen attackierte die ererbten Privilegien des aristokratischen „Gesindels“ ebenso wie die Servilität der Demokraten. Er ließ die persönlichen Frustrationen, die aus der gescheiterten 48er Revolution resultier‐ ten, in die aktualisierende Darstellung des historischen Gegenstandes einfließen. Mommsen schrieb sein Werk cum ira et studio, und er vergegenwärtigte den histori‐ schen Stoff. Die eigene Betroffenheit und Enttäuschung, die er mit vielen seiner Kollegen teilte, machten aus der Geschichte des republikanischen Roms ein Paradig‐ ma der historiographie engagée. Unmittelbar nach dem Scheitern der Revolution entdeckte Mommsen – wie Droy‐ sen und Gervinus – die Historiographie als politisches Remedium. Sie war ihm ein geeignetes Mittel, politische Ansichten einem breiten Publikum zu kommunizieren. Dabei bezog er den römischen „Staat“ und die Geschichte neu aufeinander. Rom wurde zum Ort, wo die Kämpfe des Frankfurter Nationalparlaments ausgetragen wurden und wo man um die liberalen Forderungen des deutschen Bürgertums rang. Mommsen ließ keinen Zweifel daran, dass es im Altertum „den großen Grundgedan‐ ken des heutigen republikanisch-konstitutionellen Staates: die Volkssouveränität auszudrücken durch eine Repräsentantenversammlung“ (Bd. 2, S. 231) nicht gab.31 Seine Vorstellung eines parlamentarischen Systems wurzelte in der politischen Phi‐ losophie liberaler Theoretiker. Nur die Repräsentation vermochte in seinen Augen 31 Die Einsicht, dass „die alte Welt“ nicht das gekannt habe, „was wir heute den nationalen Staat nennen“, äußerte Mommsen auch in anderen Zusammenhängen; vgl. z.B. Mommsen 1905, 413.

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die neuen Erwartungen, die aus dem Fortschritt der Zivilisation resultierten, zu er‐ füllen und einer Nation zur Einheit zu verhelfen. Die römische res publica mit ihrer unbegrenzten Volkssouveränität konnte folglich kein unmittelbares Vorbild für eine moderne Republik sein. Im Gegenteil, die Krise der römischen Republik zeigte die fatalen Folgen, die aus dem Fehlen einer repräsentativen Verfassung resultierten: „Es rächte sich hier der Grundfehler der Politie des Altertums, daß sie nie vollständig von der städtischen zur staatlichen Verfassung oder, was dasselbe ist, von dem Sys‐ tem der Urversammlungen zum parlamentarischen fortgeschritten ist“ (Bd. 2, S. 94). Aber Mommsen entwarf das Idealbild einer römischen Bürgergemeinde, die „eben wie die deutsche und vermutlich die älteste indogermanische überhaupt die ei‐ gentliche und letzte Trägerin der Idee des souveränen Staats“ (Bd. 1, S. 72) gewesen sei und in der er „ein freies Volk“ erblickte, das den Magistraten, den „Vorstehern der Gemeinde“, die das „Regiment“ führten, „zu gehorchen verstand“, aber „in kla‐ rer Absage von allem mystischen Priesterschwindel, in unbedingter Gleichheit vor dem Gesetz und unter sich, in scharfer Ausprägung der eigentlichen Nationalität“ (Bd. 1, S. 79f.). „Alles, was gut und groß“ war, war „das Werk der bürgerlichen Gleichheit“ (Bd. 1, S. 815), betonte er. Die Utopie der klassenlosen Bürgergesell‐ schaft versetzte er an den Tiber: „Der tiefste und großartigste Gedanke in dem römi‐ schen Gemeinwesen war [es], daß es innerhalb der römischen Bürgerschaft keinen Herren und keinen Knecht, keinen Millionär und keinen Bettler geben, vor allem aber der gleiche Glaube und die gleiche Bildung alle Römer umfassen sollte“ (Bd. 1, S. 884). Aber damit war es eben nicht getan: „Freiheit ohne Einigkeit und Einheit der Na‐ tion“ (Bd. 1, S. 716) war Mommsen unerträglich. Die „Römische Geschichte“ wurde zu einem Plädoyer des vereinten Italiens. Schon auf den ersten Seiten steht zu lesen, dass „die Geschichte Italiens erzählt werden soll, nicht die Geschichte der Stadt Rom. Wenn auch nach formalem Staatsrecht die Stadtgemeinde von Rom es war, die die Herrschaft erst über Italien, dann über die Welt gewann, so läßt sich doch dies im höheren geschichtlichen Sinn keineswegs behaupten und erscheint das, was man als die Bezwingung Italiens durch die Römer zu nennen gewohnt ist, vielmehr als die Einigung zu einem Staate des gesamten Stammes der Italiker, von dem die Römer wohl der gewaltigste, aber doch nur ein Zweig sind“ (Bd. 1, S. 6). Einmal mehr tri‐ umphierte der Wahrheitsanspruch des Historikers über die historische Wirklichkeit. Nicht die Expansion Roms in den Mittelmeerraum steht im Mittelpunkt seines Inter‐ esses, sondern die Einigung Italiens. In seinem Pamphlet über die „Grundrechte des deutschen Volkes“ hatte Mommsen wenige Jahre zuvor die „endliche Einigung un‐ seres herrlichen Volkes“ verlangt. Ziel war „eine rechtliche und staatliche Gemein‐ schaft“ des deutschen Volkes, das durch „das innigste Band der deutschen Freiheit

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und Staatsgemeinschaft“ vereinigt werden sollte.32 In der „Römischen Geschichte“ wurde wiederum der Bundesgenossenkrieg zur ‚nationalen Frage‘. Wie Mommsen als Redakteur in Rendsburg gefordert hatte, dass Preußen in Deutschland aufgehen sollte, so forderte er nun die Integration Roms in den italischen Staat, lobte die poli‐ tischen Sachwalter der italischen Interessen in Rom (Bd. 2, S. 222) und beschrieb den „Kampf um die Freiheit und die Nationalität“ (Bd. 1, S. 363), den die Italiker einmal mehr gegen Rom führen mussten. Die römische Nation ist wie die deutsche Nation Utopie und appellative Instanz. Mommsen vollzog in seinem Werk die Syn‐ these von Staatsnation und Geschichte. Inzwischen hatte Mommsen allerdings die bittere Lektion gelernt, dass das Ziel „jeder Volksgeschichte“ (Bd. 1, S. 41), die Einigung der Nation, einer Macht bedurf‐ te, die sie – gegebenenfalls mit Gewalt – herbeiführte. Deshalb gefiel ihm Sulla, weil dieser „der wahre und letzte Urheber der vollen staatlichen Einheit Italiens“ ge‐ wesen sei; und dieser „Gewinn“ war „mit endloser Not und Strömen von Blut den‐ noch nicht zu teuer erkauft“ (Bd. 2, S. 373). Der Zweck heiligte die Mittel, über die brutale Kriegsführung Sullas im Bundesgenossenkrieg wird der Mantel des verste‐ henden Schweigens gebreitet. Der Nationalstaat ist das Telos der Geschichte, der deutschen wie der römischen, und die territoriale Integrität höchstes Gebot: “Kein großes Volk gibt, was es besitzt, anders hin als unter dem Druck der äußersten Not‐ wendigkeit“ (Bd. 1, S. 367). Nach der dänischen Niederlage bei den Düppeler Schanzen im Jahre 1864 wird Mommsen die preußische Annexion Schleswig-Hol‐ steins gutheißen: „Da der nationale Staat jede Wunde heilen kann, darf er auch jede schlagen.“33 Mommsen leitete die Legitimität einer destruktiven Machtpolitik aus der historischen Notwendigkeit ab. „Militanter Nationalismus und konstitutionelle Rechtsordnung“34 waren keine Gegensätze. Einheit und Freiheit, Macht und Recht konvergierten in der Person Caesars. Der „Vertrauensmann“ der Nation gestand „der Volksgemeinde wenigstens einen formel‐ len Anteil an der Souveränität“ zu (Bd. 3, S. 481f.). Nicht nur die politische, sondern auch die sittliche Überlegenheit seiner Realpolitik war für Mommsen offenkundig. Caesar vertrat das Volk – mehr noch: Auf der Grundlage der Volkssouveränität lenk‐ te er die res publica und handelte im Interesse des Volkes nach innen und außen. Die Überhöhung Caesars haben nicht wenige Zeitgenossen auf Louis Napoléon Bona‐ parte bezogen, der am 2. Dezember 1852 nach einem Plebiszit als Napoleon III. zum Kaiser der Franzosen proklamiert worden war.35

32 Mommsen 1969, S. 7 = Nippel 2017, S. 259. 33 Theodor Mommsen, Die Annexion Schleswig-Holstein. Ein Sendschreiben an die Wahlmänner der Stadt Halle und des Saalkreises, Berlin 1865, zitiert nach Mommsen 1905, S. 373-401, hier S. 381; vgl. Jansen 1995, S. 44. 34 Hübinger 1998, S. 257. 35 Vgl. Rebenich 2002, S. 93ff.

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Mommsen traf mit seiner dreibändigen „Römischen Geschichte“ den Nerv der Zeit. Am römischen Beispiel überprüfte er das Hegelsche Diktum, dass der Staat „die göttliche Idee“ sei, „wie sie auf Erden vorhanden ist. Er ist so der näher be‐ stimmte Gegenstand der Weltgeschichte überhaupt, worin die Freiheit ihre Objekti‐ vität erhält und in dem Genusse dieser Objektivität lebt“.36 Der Fortschritt wiederum manifestiert sich in der Verwirklichung der Vernunft im Staat. Mommsen schrieb seine „Römische Geschichte“ mit dem Herzblut des liberalen Achtundvierzigers, der das Scheitern der Revolution historiographisch kompensierte und nun einer die Nati‐ on einigenden Machtpolitik das Wort redete.

3. Das „Römische Staatsrecht“ Statt einer Geschichte der römischen Kaiserzeit schrieb Mommsen das „Staats‐ recht“, an die Stelle der historiographischen Erzählung setzte er die juristische Systematisierung.37 Das kann nicht verwundern. Noch der alte Mommsen bekann‐ te: „Am juristischen Denken bin ich zum Forscher geworden“.38 Die historische Rechtswissenschaft bestimmte seit seinem Studium seine Methode und sein Er‐ kenntnisziel. Sein wissenschaftliches opus magnum ist das „Römische Staatsrecht“. Es umfasst drei Bände in fünf Teilen mit über dreitausend Seiten. Der erste Band erschien 1871. Rasch folgten eine zweite und eine dritte Auflage der ersten beiden Bände. 1888 wurde der dritte und letzte Band veröffentlicht. Damals stand Momm‐ sen auf dem Höhepunkt seines wissenschaftlichen Ruhmes. Als Wissenschaftler wirkte er an der Preußischen Akademie der Wissenschaften und der Berliner Fried‐ rich-Wilhelms-Universität. Mit Hilfe mächtiger Fürsprecher, die sein Inschriftenpro‐ jekt unterstützten, war es ihm gelungen, 1857 eine Forschungsprofessur an der Berliner Akademie der Wissenschaften zu erhalten. Vier Jahre später wurde er auf eine neu eingerichtete Professur an der Universität berufen, um dort die römische Altertumskunde zu vertreten. Konsequent stellte er durch seine eigenen Forschun‐ gen, aber auch durch weit ausgreifende Editionsvorhaben die Wissenschaft vom Altertum auf eine neue Grundlage. Mommsen demonstrierte im „Staatsrecht“ am historischen Beispiel die Leistun‐ gen einer systematischen Rechtswissenschaft. Sein Lebenswerk besteht darin, das

36 Hegel 1970, 57. 37 Zum Folgenden vgl. Rebenich 2002, S. 107ff. sowie die Einleitung zu Mommsen 1/31887/88 (2017). Zur wissenschaftsgeschichtlichen Verortung des Werkes vgl. Nippel/Seidensticker 2005 und Fargnoli/Rebenich 2013. – Ich zitiere nachfolgend aus dem 2017 erschienenen Nachdruck von T M , Römisches Staatsrecht, 3 Bände in 5 Teilen, Bd. 1, 2.1 und 2.2 Leipzig 31887; Bd. 3.1 Leipzig 1887; Bd. 3.2, Leipzig 1888, mit in Klammern gesetz‐ ten Band- und Seitenzahlen. 38 Zitiert nach Wickert 1959-80, Bd. 1, S. 456 Anm. 222.

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römische Staatsrecht durch die logisch klare und methodisch überprüfbare Organisa‐ tion des Rechtsstoffes neu errichtet zu haben. Eine „begriffliche Konstituierung“ des römischen Staates hat Mommsen aller‐ dings unterlassen.39 Der Begriff ist unscharf, wird immer wieder synonym zu dem deutlich häufiger verwendeten Konzept der „Gemeinde“ gebraucht und hat verschie‐ dene Konnotationen. Er bezeichnet eine „territoriale Suprastruktur“, ein „übergeord‐ netes, rechtserzeugendes und durchsetzendes Kontrollorgan“ oder auch schlicht die Bürgerschaft, lateinisch gesprochen den populus.40 Der Befund kann indes nicht überraschen. Mommsens „Staatsrecht“ fokussiert auf den ganzen römischen Staat; der „moderne Dualismus von Staat und Gesellschaft“41 ist ihm unbekannt. Also wird auch im „Staatsrecht“ die politische Ordnung Roms nicht nur durch rechtli‐ che Institutionen, sondern auch durch soziale Strukturen umrissen. In Mommsens Beschreibung des römischen Gemeinwesens ist die Spannung zwischen Rom als „Stadt“ und „Gemeinde“ auf der einen und Rom als „Staat“ und „Imperium“ auf der anderen Seite manifest. Wie für die Geschichte die Zeitfolge, führte er im Vorwort aus, so bedinge für das Staatsrecht die sachliche Zusammengehörigkeit die Darstellung. Folglich verwarf er eine chronologische Gliederung, gab die „übliche Einteilung in Königs-, republi‐ kanische und Kaiserzeit“ auf und beschrieb stattdessen „jede Institution in sich abgeschlossen“ (Bd. 1, S. VIII). Denn wie in der Behandlung des römischen Privat‐ rechts liege „der rationelle Fortschritt“ auch beim Staatsrecht darin, dass „neben und vor den einzelnen Rechtsverhältnissen die Grundbegriffe systematische Darstellung“ (Bd. 1, S. IX) finden. Damit disqualifizierte er die traditionelle Behandlung der „Staatsaltertümer“ als überholte antiquarische Forschung. Aber Mommsens Werk ist keine creatio ex nihilo. Die Verfassung Roms war seit Jahrhunderten Gegenstand gelehrter Abhandlungen. Mommsen kannte die ältere Literatur sehr wohl, zitierte sie aber nur spärlich. Er wertete die Forschung seiner Vorgänger gezielt ab, um die eigene Leistung und Innovativität um so stärker betonen zu können.42 Als die zentralen Elemente des römischen Rechtssystems macht Mommsen die Bürgerschaft, den Senat und die Magistratur aus, die er einzeln rekonstruiert und deren komplexes Zusammenspiel er analysiert: „Wenn der Staat ein organisches Ganze ist, so müssen wir, um ihn zu begreifen, teils die Organe als solche in ihrer Besonderheit, teils die aus dem Zusammenwirken mehrerer Organe hervorgehenden Funktionen verstehen; und wenn das letztere durch die materiell geordnete Darle‐ gung geschieht, so ist das erstere die Aufgabe des Staatsrechts“ (Bd. 1, S. XI). Somit unternimmt er den Versuch, „eine jede Institution darzustellen sowohl als Glied 39 40 41 42

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So schon Heuß 1956, S. 53. Vgl. Strauß 2017, 122f.; 124; 126; 129; 136f. Riedel 1963, 60. Vgl. Nippel 2013, 235ff.

des Ganzen in ihrer Besonderheit wie in ihrer Beziehung zu dem Organismus über‐ haupt“ (Bd. 1, S. XIII). Daher hat Mommsen das einzelne Gesetz und das einzelne Amt sowohl in seiner konkreten historischen Erscheinung wie in seiner Bedeutung für das gesamte System erfasst. Das kleinste Detail steht im Zusammenhang mit dem Ganzen – der Mikrokosmos der individuellen Rechtsinstitute korrespondiert mit dem Makrokosmos des Gesamtbaus. Als das bedeutendste „Organ“ des römischen Staates erscheint die Magistratur. Mit ihr beginnt das Staatsrecht, ihr sind der erste und zweite Band gewidmet. Im dritten werden der Senat und die Bürgergemeinde abgehandelt. In der Übertragung des imperium, der „obersten mit Kommando und Jurisdiktion ausgestatteten Amts‐ gewalt“ (Bd. 1, S. 22), sah Mommsen die entscheidende Voraussetzung magistrati‐ scher Autorität. Es ist sein unbestrittenes Verdienst, dass erst durch seine abstrahie‐ rende Konstruktion die Magistratur als ein zentrales Strukturelement des römischen Staates erkannt wurde. Die postulierte „Einheitlichkeit der Beamtengewalt“, die der Magistratur seit Beginn der staatlichen Ordnung innegewohnt habe, erlaubt es Mommsen, nicht nur die einzelnen Ämter der römischen Republik als „Modifikatio‐ nen des Grundbegriffs der Magistratur“ zu verstehen, sondern auch das Königtum der römischen Frühzeit und den Prinzipat, d.h. das römische Kaisertum von Augus‐ tus bis zur Etablierung des spätantiken Staates unter Diokletian. Tausend Jahre Ver‐ fassungsgeschichte wurden in eine Verfassungstheorie gepresst. Mommsen eliminierte zum Nutzen der „Reinheit“ seines holistischen Systems keineswegs die historischen Elemente. Einerseits gab er der staatsrechtlichen Sys‐ tematik den Vorzug vor der narrativen Historiographie. Andererseits aber konnte die „Individualität“ des römischen Staatsrechts nur durch historische Untersuchun‐ gen erforscht werden. Seine reichhaltigen Anmerkungen dokumentieren die antike Überlieferung sowohl für die einzelne Institution als auch für deren Entwicklung, sie geben mithin Rechenschaft über die historisch-philologische Grundlagenarbeit des Systematikers. Über das ganze Werk sind zahlreiche Einzeluntersuchungen, wie etwa zum römischen Kaiserhof, verstreut. Mommsen hat für sich aus gutem Grund in Anspruch genommen, Geschichte und Jurisprudenz verbunden zu haben; er sprach ausdrücklich von der „Doppelbehandlung“ des römischen Staatsrechts, von der Verbindung von Verfassungsgeschichte und Verfassungsrecht (Bd. 1, S. XI). Dennoch ist die Diskrepanz zwischen Geschichte und Verfassungstheorie, genau‐ er: zwischen der historischen Entwicklung der römischen Verfassung und ihrer sys‐ tematischen Darstellung offenkundig. Mommsen versuchte sie durch eine kühne Differenzierung zwischen „rechtlicher Form“ und „faktischem Inhalt“ zu überbrü‐ cken.43 Dabei konnte er sich bei der rechtlichen Systematisierung auf Quellen bezie‐ hen, die er historisch als wertlos einstufte, Gesetze postulieren, die nicht überliefert

43 Hölkeskamp 1997.

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sind, und sich in schwindelerregende Konstruktionen versteigen. „Von Rechts we‐ gen“, schreibt er, galt der Satz, daß in Rom „die Magistratur herrschte und der Senat gehorchte“ (Bd. 3.2, S. 1024). Tatsächlich aber habe bis zum Ende der Republik „der Senat über Rom und durch Rom über die Welt geherrscht“ (Bd. 3.2, S. 1025). Diesen manifesten Widerspruch wollte Mommsen durch den Hinweis erklären, daß „die spätere Stellung der beiden Gewalten auf der Umkehr der ursprünglichen Ordnung“ beruhe, wobei ebendiese „Umkehrung sich mehr faktisch als rechtlich vollzogen“ habe und „zu formeller Fundierung nicht gelangt sei“ (Bd. 3.2, S. 1024). Doch klar erkannte er, daß „die ebenso eminente und effektive wie unbestimmte und formell unfundierte Machtstellung des Senats [...] in der späteren Republik regelmäßig mit dem in entsprechender Weise verschwommenen und aller strengen Definition sich entziehenden Worte auctoritas bezeichnet“ wurde (Bd. 3.2, S. 1033). Die daraus re‐ sultierenden Brüche in der Darstellung, an der sich nachfolgende Forschergeneratio‐ nen gerieben haben, sind letztlich auf Mommsens Bemühen zurückzuführen, der rechtlich zu definierenden Form und dem politisch zu fassenden Inhalt der einzelnen Verfassungselemente des römischen Staates gleichermaßen gerecht zu werden, um auf diesem Wege zum überzeitlichen proprium der eintausendjährigen Geschichte Roms vorzudringen. Mommsen sprach davon, dass „im Recht sich die historische Entwicklung wie im erstarrten Sturzbach“ darstelle und dass sich das historische Ge‐ schehen im „Staatsrecht“ kristallisiere.44 Mommsen fand in der römischen res publica zugleich ein historisches Paradig‐ ma für die liberale Forderung nach einem Staat, der durch ein komplexes System von Rechtsnormen zusammengehalten wurde. Nicht das Staatsrecht des vollendeten Imperium Romanum stand im Mittelpunkt seines Interesses, auch nicht die großen Gesetzeskodifikationen der Spätantike, sondern die Genese der republikanischen Rechtsverhältnisse. Hier konnte er das Verhältnis von Volkssouveränität und Exeku‐ tive präzise analysieren. Hier war die Kontinuität königlicher und magistratischer Gewalt zu zeigen, die sich darin manifestierte, dass sowohl der König wie die Beamten die res populi verwalteten. In der römischen Republik sah Mommsen das Modell eines Staates, der auf Gewaltenteilung und Volkssouveränität beruhte. Des‐ halb verwundert es nicht, dass der Staat der Spätantike Mommsens Sache nicht war. Hier herrschte die absolute, unkontrollierte Gewalt des Monarchen. Dies entsprach nicht Mommsens konstitutionellem Ideal: In der Völkergeschichte, so schrieb er im „Abriss des römischen Staatsrechts“, ist „das schließlich entscheidende Moment das Mittun des Bürgers bei dem Tun der Gemeinde“, sind „Gemeinsinn, Wehrhaftigkeit, Amtstüchtigkeit, Patriotismus jeder Art nichts als die schöne Blüte der bürgerlichen Selbsttätigkeit“.45 Aber Mommsen wusste, dass es nicht der diokletianisch-konstan‐

44 Vgl. Schwartz 1904 (1938), 293. 45 Mommsen 1893, 275.

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tinischen Verfassungsänderung bedurfte, um dem Ideal des emanzipierten Bürgers ein Ende zu setzen. Diese Entwicklung begann bereits mit dem Ende der Republik. Bei aller Einsicht in die Unterschiede, die zwischen dem römischen Gemeinwe‐ sen und modernen Staaten bestanden, blieb Mommsen im „Römischen Staatsrecht“ seinem politischen Ideal treu, das er bereits in der „Römischen Geschichte“ propa‐ giert hatte: dem bürgerlichen Verfassungsstaat, der bürgerliche Freiheit und nationa‐ le Einheit verband.46 Die Souveränität des römischen populus, der „Bürger in ihrer Gesamtheit“ (Bd. 3,1, S. 4), ist Mommsen ein Synonym für eine legitime und ver‐ nünftige politische Ordnung. Noch im „Abriss des römischen Staatsrechts“ von 1893 trotzte er den politischen Widrigkeiten der wilhelminischen ‚Monarchensouve‐ ränität‘ mit seiner Lehre von der ‚Volkssouveränität‘. Das „Römische Staatsrecht“ ist also auch ein Monument des Liberalismus des 19. Jahrhunderts. Mommsen fand in der römischen res publica ein historisches Paradig‐ ma für die liberale Forderung nach einem Staat, der durch ein komplexes System von Rechtsnormen zusammengehalten wurde. Er selbst schuf diese Verfassung, die dem römischen Staat in seiner historischen Perspektivierung die verbindende Klam‐ mer gab. Der römische Staat war für den Liberalen Mommsen nur als „Rechtsstaat“ denkbar. Schon 1845 hatte er formuliert, das Recht sei die „Seele des Staats“ und der „Nerv aller Lebensverhältnisse“47. Daher begnügte er sich nicht mit der aus den anti‐ ken Quellen rekonstruierten Begrifflichkeit, sondern bediente sich der Sprache des zeitgenössischen liberalen Verfassungsdiskurses. Volk, Gemeinde und Staat setzte er in eins; davon ausgehend bestimmte er bürgerliche Rechte und Pflichten, untersuch‐ te Amt und Amtsgewalt, magistratische Kompetenzen und Verantwortlichkeiten und betrachtete die „souveräne Bürgerschaft“ (Bd. 3.1, S. 300f.).

4. Ausblick „Ich habe in meinem Leben trotz meiner äußeren Erfolge nicht das Rechte erreicht.“ So lautet der zweite Satz von Theodor Mommsens Testamentsklausel, niederge‐ schrieben im Ostseebad Heringsdorf am 2. September 1899. Und er fügte hinzu: „Äußerliche Zufälligkeiten haben mich unter die Historiker und Philologen versetzt, obwohl meine Begabung für beide Disziplinen nicht ausreichte, und das schmerzli‐ che Gefühl der Unzulänglichkeit meiner Leistungen, mehr zu scheinen, als zu sein, hat mich durch mein Leben nie verlassen.“48 Seine Familie ersuchte er im gleichen 46 Anders Strauß 2017, 134, der ausführt, dass sich im Gegensatz zur „Römischen Geschichte“ im „Römischen Staatsrecht“ „bis auf wenige Ausnahmen kein Widerhall der persönlichen politischen Grundüberzeugungen vernehmen“ lässt. 47 Mommsen 1908-1913, Bd. 3, S. 498. 48 Zitiert nach Heuß 1956, S. 282 und Wucher 1968, S. 218. Zur Testamentsklausel vgl. auch Hü‐ binger 2003, S. 40ff. und Rebenich 2005b.

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Atemzug, nach Möglichkeit zu verhindern, dass nach seinem Tode eine eingehende Lebensbeschreibung erscheine. Die bittere Bilanz, die Mommsen nach einem äußerlich erfolgreichen Leben zog, hatte mehrere Gründe. Mommsen war ein glänzender Organisator, der erfolgreich das Prinzip der fabrikmäßigen Arbeitsteilung umsetzte.49 Leidenschaftlich verfolgte er seine wissenschaftlichen Ziele, und ungebrochen war bis zuletzt sein Vertrauen auf den wissenschaftlichen Fortschritt. Doch seine Aufgabe sah er mehr und mehr in der Organisation wissenschaftlicher Kärrnerarbeit. Der Mann, der die Wissenschaft vom römischen Altertum auf eine neue Grundlage gestellt hatte, glaubte am Ende seines Lebens, er zeichne sich nur durch sein Organisationstalent aus. Die Moderni‐ sierung seines Faches stand im Widerspruch zu der von ihm beschworenen Einheit der römischen Altertumswissenschaft. Jener Mann, der die römische Altertumskun‐ de konsequent und unermüdlich aus ihrer traditionellen Verengung herausgeführt hatte, segmentierte und fragmentarisierte sie gleichzeitig in bisher unbekanntem Umfang. Trotz der ungeheuren und unbestreitbaren wissenschaftlichen Erfolge spür‐ te er, dass er ein vergehendes Saeculum repräsentierte. Denn seine spezialisierte Al‐ tertumswissenschaft gab keine Antwort auf die drängende Frage, wie Wissenschaft und Leben zu verbinden seien. Doch auch politisch fühlte sich der aufrechte Liberale im wilhelminischen Obrig‐ keitsstaat nicht mehr heimisch. Einst hatte er im Preußischen Abgeordnetenhaus die nationale Einigung der deutschen Länder unter Bismarcks Regie begrüßt und die Annexion Schleswig-Holsteins 1864 ebenso wie den Anschluss Elsass-Lothringens 1871 gefeiert. Sieben Jahre später, 1878, trat er für das Sozialistengesetz ein, saß dann aber als Angehöriger der linksliberalen Sezession um Ludwig Bamberger im Reichstag und wurde zum erklärten Gegner des Eisernen Kanzlers, der ihn sogar mit einem Beleidigungsprozess überzog. Im hohen Alter trat Mommsen, erschreckt über die wilhelminische Flottenpolitik, für die deutsch-englische Freundschaft ein und forderte ein Bündnis zwischen den Linksliberalen und der Sozialdemokratie. Bis an sein Lebensende focht er gegen die „Gesinnung der Canaille“, will sagen gegen den politischen Antisemitismus im Kaiserreich, und überwarf sich deshalb mit seinem Kollegen, dem Historiker Heinrich von Treitschke, dem er es nicht verzieh, dass dieser sich mit dem „Pöbel aller Klassen“ gemein gemacht und dem Antisemitismus publizistisch den „Kappzaum der Scham“ genommen hatte.50 Bis an sein Lebensende glaubte Mommsen an die politische Verantwortung des Bürgers, dessen erste Pflicht die Zivilcourage war. Doch im Kaiserreich fühlte er sich wie ein Fremder. So heißt es in der Testamentsklausel ebenfalls: „Politische Stellung und politischen Einfluß habe ich nie gehabt und nie erstrebt; aber in mei‐ nem innersten Wesen, und ich meine, mit dem Besten was in mir ist, bin ich stets ein 49 Vgl. Rebenich 2009. 50 Vgl. Hübinger 2003, S. 22ff. und Rebenich 2015.

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animal politicum gewesen und wünschte ein Bürger zu sein. Das ist nicht möglich in unserer Nation, bei der der Einzelne, auch der Beste, über den Dienst im Gliede und den politischen Fetischismus nicht hinauskommt. Diese innere Entzweiung mit dem Volke, dem ich angehöre, hat mich durchaus bestimmt, mit meiner Persönlichkeit, soweit mir dies irgend möglich war, nicht vor das deutsche Publikum zu treten, vor dem mir die Achtung fehlt.“51 Mommsens Biographie ist die eines liberalen Achtundvierzigers. Wissenschaft und Politik waren ihm untrennbar. Eine reservatio mentalis, einen grundsätzlichen Vorbehalt gegenüber politischer Aktivität kannte er nicht. In seiner Berliner Zeit quälte ihn immer öfter die Frage, warum das hehre politische Ziel: eine in Freiheit geeinte Nation trotz des manifesten wirtschaftlichen, kulturellen und wissenschaftli‐ chen Aufschwunges des Deutschen Reiches nicht erreicht worden war. Der mit der Reichsgründung von 1871 einsetzende Prozess, in dessen Verlauf sich die Trennung der nationalen Einheitsidee von den liberalen Freiheitsidealen vollzog, empfand Mommsen über drei Jahrzehnte hinweg als schmerzliche politische Offenbarung. Seine Testamentsklausel vom Sedantag des Jahres 1899 spiegelt unmittelbar die Einsicht in die eigene politische Ohnmacht. Sie zeugt von dem fehlenden parlamen‐ tarischen und gesellschaftlichen Machtpotential eines in sich gespaltenen, krisenhaft erschütterten Liberalismus. Sein fernes Ideal blieb die freie Bürgergemeinde im national geeinten römischen Staat.

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51 Zitiert nach Heuß 1956, S. 282 und Wucher 1968, S. 219.

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Thomas Gerhards Auf der Suche nach dem „besten Staat“. Wissenschaft und Politik im Staatsdenken Heinrich von Treitschkes

Einleitung Auf den ersten Blick scheint es eine dankbare Aufgabe zu sein, über das Staatsver‐ ständnis Heinrich von Treitschkes zu schreiben. Denn im Gegensatz zu vielen ande‐ ren Historikern hat er zahlreiche konkrete Hinweisschilder aufgestellt, wo bei ihm die entsprechenden Äußerungen zu diesem Thema zu finden sind. Anders als im 20. Jahrhundert existiert das von Gabriele Metzler kürzlich markierte Quellenproblem fehlender expliziter Aussagen zu den Staatsvorstellungen durchaus viel seltener im 19. Jahrhundert.1 Im Falle Treitschkes gibt es geradezu eine Fülle von Werken, die sich explizit mit dieser Problematik auseinandersetzen: von seiner Habilitations‐ schrift2 über einige wichtige Studien (etwa über „Bundesstaat und Einheitsstaat“)3 in den 1860er Jahren, bis hin schließlich zur posthum edierten „Politik“-Vorlesung. Auch im hinterlassenen und breit edierten Briefmaterial4 äußert er sich immer wie‐ der zu dieser zentralen Problematik für die Geschichts- und Staatswissenschaften im 19. Jahrhundert. Schließlich herrscht auch an Forschungsliteratur kein Mangel. Neben einigen zumeist älteren Biographien oder biographischen Studien5 – eine „moderne“ Lebensdarstellung existiert, trotz der Flut an Historikerbiographien in den letzten 20 Jahren, erstaunlicherweise immer noch nicht – hat gerade dieses Thema die Forschung bis in die 1950/60er Jahre hinein wiederholt beschäftigt;6 seither ist das Interesse daran jedoch stark rückläufig und wird insbesondere von der Aufarbeitung seines Antisemitismus überlagert.

1 Metzler 2018, S. 13. 2 Treitschke 1859. Treitschke schreibt hier über die „Gesellschaftswissenschaft“ – allerdings um darzulegen, dass es einer solchen neben der „Staatswissenschaft“ nicht bedürfe. 3 Treitschke 1865. 4 Zwischen 1913 und 1920 erschienen drei umfangreiche Bände aus Treitschkes Nachlass mit knapp 1000 Briefen, dazu eine Reihe weiterer Separatveröffentlichungen. Sie sind nachgewie‐ sen in Gerhards 2013, S. 425f. 5 Schiemann 1898; Petersdorff 1910; Bussmann 1981; Dorpalen 1957; Langer 1998; Gerhards 2013 ist keine Biographie, erfasst aber die Treitschke-Forschung bis ca. 2012. Leipprand 1935 ist – weitgehend ohne Anklänge an den Nazismus – weiterhin wichtig als Einführung in zentrale Themengebiete, zum Staat etwa S. 56-92. 6 Hier nur die wichtigsten Studien: Schurig 1909; Hepner 1916; Westphal 1922; Herzfeld 1923; Friesecke 1924; Meinecke 1924; Hagemann 1927; Böing 1956; Crampen 1967.

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Sieht man etwas genauer hin, wird die Aufgabe durchaus schwieriger. Nicht nur im Falle Treitschkes verschränken sich in einem nur schwer zu entwirrenden Dickicht eine Vielfalt von meist interdisziplinären Themen und Forschungstraditio‐ nen. Ich möchte an dieser Stelle nur einige knapp andeuten, um die Komplexität der Thematik jenseits der rein biographischen Dimension zu verdeutlichen: 1) In der Beschäftigung mit dem „Staat“ verbinden sich gerade im 19. Jahrhundert unterschiedliche Wissenschaftszweige mit ihren Denktraditionen: Geschichte, Philo‐ sophie, Rechts- und Staatswissenschaft u.v.m. Für die Geschichtswissenschaft ist beispielsweise die Bedeutung Hegels nicht zu unterschätzen.7 2) Das Staatsdenken hat in Deutschland eine spezifische Tradition, die intellektuell einerseits bis in die Antike zurückgeht und Aristoteles als großes Vorbild anerkennt, andererseits sich stark vom westlichen Staatsdenken – insbesondere französischer und britischer Pro‐ venienz – unterscheidet und auch bewusst unterscheiden wollte; das gilt besonders für den Konstitutionalismus und Parlamentarismus.8 4) Da sich die Staatsverständ‐ nisse gerade in der Zeit nach 1848 im Verfassungsdiskurs widerspiegeln, steht eben‐ so die politische Entwicklung Europas im Fokus der Staatsverständnisse. Denn auch wenn sich das staatstheoretische Rüstzeug in seinen „letzten Überzeugungen“ stark unterschieden haben mochte, so beobachteten sich die an den Debatten teilnehmen‐ den Wissenschaftler und Intellektuellen grenzüberschreitend. Gerade für Treitschke gilt das in besonderem Maße, wenn er sich immer wieder vehement gegen die Übertragung „fremder“ Verfassungstraditionen insbesondere aus England wandte. 5) Aufgrund der Besonderheiten der deutschen Geschichte des 20. Jahrhundert ist vor allem bei einem Historiker wie ihm die Frage nach seinen mittel- und langfristigen Wirkungen – so es sie denn überhaupt in nachvollziehbarer Weise gab – von nicht zu unterschätzender Bedeutung. Wenn wir vom Staat Treitschkes sprechen, dann auch vom Machtstaat – und diesem Denken wurde und wird eine Mitverantwortung an den beiden Weltkriegen des 20. Jahrhunderts zugesprochen. Es stellt sich mithin die Frage, was er damit zu tun hatte, nachdem er 1896 gestorben war. Dies sind nur einige der möglichen Kontexte, in denen Staatsverständnisse ganz allgemein einzuordnen sind. Im Folgenden wird gezeigt, wie sich am Beispiel eines prominenten Vertreters der kleindeutschen Geschichtsschreibung wissenschaftliche Praxis und politisches Wollen seines Staatsverständnisses folgenreich miteinander verbanden. In einem ersten Schritt wird so knapp wie möglich in Treitschkes wis‐ senschaftliche Biographie eingeführt, um sich darüber der Frage anzunähern, in wel‐ chen spezifischen Wissenschaftstraditionen er eigentlich stand und warum er sich so ausgiebig – und explizit – mit dem Staat beschäftigt hat. Im zweiten Abschnitt geht es konkret um seine Staatsvorstellungen. Dabei ist es nicht beabsichtigt, diese nach‐

7 Iggers 1972 als klassische Studie. 8 Schiera 2020; Maier 2012.

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träglich zu systematisieren – „consistency had never been Treitschke’s strength“9 –, sondern an einigen Beispielen zentrale Aussagen zu den Themen „Staat“ und „Macht“ problemorientiert zu analysieren. Abschließend wird ein Blick auf die Treitschke-Rezeption zum Problem der (Macht-)Staatsvorstellungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts geworfen. Es wird deutlich, dass sich nicht nur an seiner Person ge‐ rade im 1. Weltkrieg relevante Staats- und Verfassungsfragen entzündeten, die die‐ sen „Krieg der Geister“ auch zu einem „Verfassungskrieg“10 um unterschiedliche Staatsvorstellungen machten, in dem beispielsweise der vermeintliche „deutsche Sonderweg“ der konstitutionellen Monarchie international diskutiert wurde. Treitschkes Staatsdenken entsprang naturgemäß keinem „voraussetzungslosen“ wissenschaftlichen Erkenntnisinteresse. Seine Ansichten entsprangen oft politischen Beobachtungen und Analysen seiner Zeit, bevor er diese wissenschaftlich fruchtbar machte – so wie heute noch erwuchsen auch bei ihm die drängendsten Probleme aus dem Erlebnis der eigenen Zeitgenossenschaft. Als er im Sommersemester 1859 seine akademische Karriere in Leipzig begonnen hatte, standen unter anderem Themen wie Konstitutionalismus, Ministerverantwortlichkeit oder Wahlrecht auf der Agenda – und nicht zuletzt die nationale Einheit. Es war kaum zu vermeiden, dass dies Einfluss auf die Entwicklung des jungen Staatswissenschaftlers nahm.

1. Wissenschaftsbiographische Stationen Als Heinrich von Treitschke 1873 an die Berliner Universität berufen wurde, wo er im folgenden Jahr den Lehrstuhl Leopold von Rankes übernahm, hatte er bereits eine über zehn Jahre währende Lehrtätigkeit an den Universitäten Leipzig, Freiburg i.Br., Kiel und Heidelberg hinter sich. Umso erstaunlicher liest sich heute die Be‐ gründung der Berliner Fakultät, die ihn immerhin Jacob Burckhardt vorzog.11 Seine Berufung liege zwar im „Interesse des ganzen Staates“, trotz seiner Forderung von 4000 Thalern Gehalt (geplant war lediglich die Hälfte),12 aber:

Dorpalen 1957, S. 202. Vgl. schon Tönnies 1914, S. 202, explizit zu Treitschkes „Politik“: „Er war auch klug, gelehrt und geistreich. Als Denker war er aber weder durch Scharfsinn noch durch Tiefsinn bedeutend. Es ist etwas Wildes und Zerfahrenes in seinem Denken.“ 10 Der Terminus bei Kaufmann 1917, Kap. 1: „Der Krieg als Verfassungskrieg“. In der relativ breiten Forschung zum „Krieg der Geister“ hat das noch keinen Nachklang gefunden. Kauf‐ mann ging es v.a. darum zu zeigen, dass Potsdam und Weimar zusammengehören; das findet sich auch bei vielen weiteren Autoren. Aber ihm ging es um mehr: Der „ganze Staat“ habe „seine Kraft und sein Daseinsrecht“ zu erweisen, und damit die „verfassungspolitische Kraft des Staates: die Stärke des Verfassungsgedankens im Volksleben, seine Elastizität vor allem […], unter Bewahrung ihrer bewährten und eigengewachsenen Sonderart.“ Ebd., S. 2. 11 Vgl. Kaphahn 1943. 12 Simon 1988 (Band 1), S. 84. 9

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„Heinrich v. Treitschke ist der Gesamtrichtung seiner Tätigkeit nach mehr Politiker als eigentlicher Historiker; nicht die Tatsachen der Geschichte methodisch zu erforschen und in ihrem Zusammenhang darzustellen, hat er sich zur Aufgabe gestellt, sondern ist viel‐ mehr bemüht gewesen, die Fülle der ermittelten historischen Tatsachen für die Förderung namentlich der politischen Interessen der Nation in der unmittelbaren Gegenwart nutzbar zu machen […] erst in der letzten Zeit hat er sich der eigentlichen historischen Forschung zuzuwenden angefangen“.13

Das klingt überraschend in Bezug auf einen Mann, der heute in erster Linie als Fach-Historiker und politischer Publizist gelesen wird. Die Problematik steckt hier im Begriff des „Politikers“, der zumindest nicht nur auf seine umstrittene national‐ politische Publizistik verweist, sondern mindestens ebenso auf eine alte Wissen‐ schaftstradition. Ein Brief vom 24. August 1860 an Rudolf Haym, den Begründer der „Preußischen Jahrbücher“, klärt dieses Problem. Haym hatte ihn um Mitarbeit in der Redaktion gebeten, was Treitschke zu diesem Zeitpunkt noch ablehnte, bevor der dann zwischen 1866 und 1889 sogar Herausgeber wurde. Nun allerdings hieß es zunächst: „Es ist wahr, ich bin Politiker und Historiker von Fach; doch es ist ein An‐ deres die politischen Dinge in ihren großen Umrissen, so zu sagen mit historischem Blicke, anzuschauen […]“; zudem sei er „leicht erregbar von Haus aus“.14 Noch im Februar 1863 wiederholt er ähnliches gegenüber Johann Gustav Droysen: „seit mei‐ ner Schulzeit habe ich keinen Lehrer mehr gehabt, und in das historische Fach bin ich erst allmälig von der Staatswissenschaft herüber, durch das Dociren selbst ge‐ langt“.15 Der Begriff des „Politikers“16 verweist mithin zum einen auf seine fachwis‐ senschaftliche Ausbildung als Staatswissenschaftler (nicht als Historiker), zum an‐ deren auf seine Aufsätze der 1860er Jahre, die zwar historisch breit fundiert, v.a. je‐ doch staatswissenschaftlich grundierte vergleichende Verfassungsanalysen waren. Was bedeutete das nun konkret? 1851 hatte sich Treitschke zunächst an der Bonner Universität eingeschrieben, um Geschichte und Staatswissenschaften zu studieren. Zu den wichtigsten akademi‐ schen Begegnungen zählten dort Ernst Moritz Arndt und Friedrich Christoph Dahl‐ mann, dem er nach dessen Tod 1861 eine biographische Studie widmete.17 Schon ein Jahr später wechselte er nach Leipzig, wo er Wilhelm Roscher kennenlernte, der zwar auch Fach-Historiker war, im Grunde jedoch nie wirklich Geschichte lehrte. In Leipzig fungierte er als Staatswissenschaftler, und in die Wissenschafts‐ 13 Zit. nach Wolgast 1985, S. 192. 14 Treitschke 1913b, S. 98 (24. August 1860, an Rudolf Haym; Hervorhebung T.G.). 15 Treitschke 1913b, S. 252 (11. Februar 1863, an Johann Gustav Droysen). Mit „Lehrer“ meint Treitschke hier ein lehrendes Vorbild, das er auch hätte hören. Ein frühes Leiden hatte sich schon in jungen Jahren zu fast vollständiger Taubheit ausgewachsen, so dass er sein Studium nur lesend bestreiten konnte. 16 Vgl. dazu schon Jellinek 1914, S. 56: da hier „Politik“ i.S. von „Polis“, also Staat, verstanden werden muss, ist „Politik“ mit Staatswissenschaften gleichzusetzen. 17 Treitschke 1861.

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geschichte eingegangen ist er in erster Linie als Nationalökonom – allerdings als einer der Begründer der älteren Historischen Schule. Den jungen Treitschke regte er zu einer wirtschaftsgeschichtlichen Dissertation an.18 Sollten ursprünglich noch „die staatlichen und volkswirtschaftlichen Zustände Deutschlands im 16. Jahrhun‐ dert“ abgehandelt werden, entschied er sich schließlich für eine thematisch engere Eingrenzung und schrieb über die Produktivität verschiedener Arbeitsformen im Mittelalter. Die Schrift war noch auf Lateinisch abzufassen und trug den Titel: „Qui‐ busnam operis vera conficiantur bona oeconomica“. Die 1859 erstmals gedruckte Habilitationsschrift über „Die Gesellschaftswissenschaft“ zeigt schon im Titel die – zu dieser Zeit – staatswissenschaftlichen Bezüge. Thematisch ging es dann auch um die Verteidigung „seines“ Faches vor den in den 1850er Jahren in Deutschland stark diskutierten Überlegungen (Robert von Mohl, Lorenz von Stein), eine geson‐ derte „Gesellschaftswissenschaft“ jenseits des Staates zu etablieren. Diese Schrift hat durchaus Karriere gemacht und wurde noch im 20. Jahrhundert wiederholt aufgelegt. Gelegentlich wurde sie als erste systematische Kritik einer Soziologie verstanden, „ein geschichtliches Dokument von Rang“;19 und erst kürzlich reihte sie Pierangelo Schiera neben dem Werk Steins als eine der „Grundlagen der modernen deutschen Soziologie“ in deren frühe Wissenschaftsgeschichte ein.20 In biographi‐ scher Perspektive hat Ulrich Langer mit Recht festgestellt, dass Treitschke hier zum einen erst- und letztmalig nahezu alle wissenschaftlichen Prinzipien und Maximen festhält, die in späteren Arbeiten wiederkehren sollten. Es werde deutlich, dass er sich eben nicht nur als Historiker begriff, sondern auch Vertreter einer wissenschaft‐ lichen „Politik“ sein wollte und war, wie sie in dieser Zeit beispielsweise auch sein Lehrer Dahlmann repräsentierte. Verstanden wurde eine solche „Politik“ als Aufga‐ be, „auch für aktuelle politische Entscheidungen und Probleme historisch fundierte Situationsanalysen und Handlungsanleitungen zu entwerfen“.21 Welcher Art diese „aktuellen Probleme“ waren, darauf wird gleich zurückzukommen sein. In seinen ersten Publikationen war Treitschke vornehmlich Staatswissenschaftler, oder nach heutigen Begriffen: Politikwissenschaftler.22 Für das „Deutsche Staats‐ wörterbuch“ von Bluntschli und Brater verfasste er 1857/59 die Artikel über „Ci‐ villiste“, „Domänen“ und „Gemeinheitstheilung“, 1861 folgte noch eine biographi‐ sche Abhandlung über „John Milton“.23 Daneben sind es in diesen frühen Jahren vor allem biographische Essays über Schriftsteller wie Gottfried Keller, Ludwig

18 Zum Folgenden vgl. die Studie von Langer 1998, S. 151-154, der diese Dissertation erstmals seit Schurig 1909, S. 42-46, wieder ausgewertet hat. 19 Riedel 1963, S. 51. 20 Schiera 2020, S. 163. 21 Langer 1998, S. 154. 22 Das betont auch Bleek 2001, S. 151f. 23 Für die Drucknachweise vgl. die Auflistung aller publizierten Schriften Treitschkes bei Ger‐ hards 2013, S. 425-433.

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Uhland oder Friedrich Hebbel, die seinem großen literarischen Interesse entspra‐ chen. Auch als akademischer Lehrer zeigte Treitschke sich zunächst noch als Staats‐ wissenschaftler, seine erste Professur in Freiburg i.Br. galt auch ausdrücklich den Staatswissenschaften.24 Das erste Kolleg hielt er im Sommersemester 1859 in Leip‐ zig zum Thema „Geschichte der politischen Theorieen“ in der Abteilung „Staatsund Cameralwissenschaften“; bis zu seinem Wechsel nach Freiburg i.Br. zum Win‐ tersemester 1863/64 hielt er dann allerdings nur noch historische Vorlesungen, et‐ wa zur vergleichenden Geschichte Englands und Frankreichs, zur preußischen und deutschen Geschichte, abschließend (Sommersemester 1863) über die europäische Revolutionszeit 1848-1850 – „Zeitgeschichte“ also.25 In Freiburg bekleidete er dann eine außerordentliche Professur für Staatswissenschaften und hielt bis zum Som‐ mersemester 1865 Kollegs in „Geschichte“ sowie in den „Staatswirthschaftlichen Fächern“, bevor diese dann als „Geschichte und Staatswissenschaften“ zusammen‐ gelegt wurden. Historisch las er nun vornehmlich aus der „Frühen Neuzeit“, etwa zur Englischen Revolution oder zur Reformation; staatswissenschaftlich beschäftigte er sich erneut mit der „Geschichte der Politischen Theorieen von Platon bis zur Gegenwart“, aber auch mit „Landwirtschaftslehre“ oder „Politik und allgemeines Staatsrecht“. Die „Politik“ las Treitschke nach längerer Pause erstmals wieder im Sommersemester 1873, nach seinem Wechsel nach Berlin dort bekanntlich regelmä‐ ßig in jedem Wintersemester. Neben der ungewöhnlich erfolgreichen „Deutschen Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert“ (1879-1894) gehört diese Vorlesung zu seinen bekanntesten – und berüchtigtsten – Werken.26 Mit der „Politik“ steht Treitschke in einer Traditionslinie mit anderen Historikern des 19. Jahrhunderts, nicht zuletzt seinem verehrten Bonner Lehrer Dahlmann.27 Nach Manfred Riedel hing die vielkritisierte Staatsnähe der deutschen Geschichtswissenschaft nicht unwesentlich mit dieser „Politik“-Tradition zusammen.28 Von Heinrich Luden bis auf Wilhelm Roscher lässt sich eine Reihe namhafter Fachvertreter nennen, die alle eine solche Vorlesung hielten und damit neben der rechtswissenschaftlichen ebenso eine geschichtswissenschaftliche Traditi‐ on der „Politik“-Lehre belegen.29 Wie gerade diese Vorlesungen multiperspektivisch mit den Fachentwicklungen in Geschichte und Staatswissenschaften, Jurisprudenz 24 Die im Folgenden zitierten Titel von Treitschkes Lehrveranstaltungen sind den entsprechenden Vorlesungsverzeichnissen entnommen. Diese liegen für alle genannten Universitäten digitali‐ siert vor, auf Einzelnachweise wird daher hier verzichtet. 25 Vgl. dazu Schulin 1971. 26 Zur Entstehung und zur – oft missachteten – Quellenproblematik vgl. Treitschke 1897, S. IIIVIII (Vorwort des Herausgebers), sowie Gerhards 2013, S. 22. Schon 1866 sprach er von dem Plan, nach Vollendung seiner „Deutschen Geschichte“ ein Werk über „Politik“ vorzulegen, „wozu im Grunde alle meine Studien nur Vorarbeiten sind.“ Treitschke 1920, S. 56 (23. August 1866, an Alfred von Gutschmid). 27 Bleek 2001, S. 142f. Dahlmanns „Politik“ wurde neu ediert von Bleek: Dahlmann 1997. 28 Riedel 1963, S. 42. 29 Bleek 2001, S. 145f.

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und Soziologie und vielen anderen zusammenhängen, wurde bisher nicht systema‐ tisch untersucht.30 Modern gesprochen ließe sich vielleicht sagen, dass man sich hier an einem Knotenpunkt der (Vor-)Geschichte der Politikwissenschaft, wie sie sich in Deutschland erst nach 1945 institutionalisierte, und dem sich etablierenden Histo‐ rismus als Wissenschaftsparadigma befindet. Gerade in den „Politik“-Vorlesungen zeigt sich mithin, dass der Historismus keineswegs durch die Abschottung einzelner Disziplinen gekennzeichnet war, sondern sich ganz im Gegenteil aus dem Fundus verschiedenster Wissenschaften bediente; lange vor der Forderung nach Interdiszi‐ plinarität gab es hier weiche Fächer-Grenzen.31 In Otto Hintze findet sich zwar in Berlin durchaus ein weiterer Historiker als „Politik“-Lehrer, obwohl er selbst mit dem Ableben Roschers und Treitschkes diese Tradition versiegen sah.32 Mit Max Weber und vor allem Georg Jellinek markiert er jedoch eigentlich den „Übergang von der historistischen Politiklehre in die historisch-soziologischen Herrschafts- und Staatslehren des frühen 20. Jahrhunderts“.33 Treitschke war insofern ein Schüler des Aristoteles (wie die meisten deutschen „Politik“-Lehrer dieser Zeit), als er den praktischen Zweck der „Politik“ durchaus in den Vordergrund stellte – also keine kühl-sachliche Analyse des Staates, wie er reali‐ ter vorzufinden ist, sondern wie er idealiter sein sollte. Georg Jellinek betonte daher in seiner epochalen „Staatslehre“, dass Autoren wie Treitschke oder Dahlmann einen Staat zeichneten, „wie ihn eine nahe Zukunft auf Grund der geschichtlichen Ent‐ wicklung und des politischen Programms des Autors verwirklichen soll.“34 Tatsäch‐ lich hatte er in seiner frühen wissenschaftlichen Phase eine solches „Programm“, ohne dass diesem eine nachträgliche Teleologie oder gar Folgerichtigkeit unterstellt werden sollte. Gleichwohl ist es bemerkenswert, wenn in der „späten“ Politik gera‐ dezu beiläufig zu lesen ist: „Ferner sind wir das am meisten monarchische Volk Europas; wir müssen aber damit eine angesehene Volksvertretung in Einklang zu bringen suchen.“35 Gemeint sind hier die weiter oben bereits angedeuteten „aktuel‐ len“ Probleme – und zwar die einer Wissenschaft, die sich in den Dienst der natio‐ nalen Einheitsbestrebungen stellte und „Handlungsanleitungen“ zu liefern suchte. Bemerkenswert ist es, dass das ein Vierteljahrhundert zuvor bei ihm schon sehr ähnlich klang, in seinem Aufsatz über „Das constitutionelle Königthum in Deutsch‐ land“ – am Ende einer Reihe von Studien, die sich der Verfassungsentwicklung in Europa widmeten. Hier heißt es, dass die „schwerste Aufgabe moderner Politik“ in Deutschland besser zu lösen sei als in einem anderem Staat des Festlandes: die 30 Hübinger 1997, S. 341. Vgl. jetzt auch Wölky 2006. Wichtig nach wie vor der Überblick von Riedel 1963. 31 Hübinger 1997, S. 342; Ders. 2000, S. 50. 32 Bleek 2001, S. 189. 33 Hübinger 2000, S. 65. 34 Jellinek 1914, S. 67. 35 Treitschke 1913, S. 86.

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Versöhnung von „Staatsmacht und Volksfreiheit“. Und weiter: „Unsere Wissenschaft [gemeint ist die Staatswissenschaft; TG] ist der vergleichenden Methode, die sie immer liebte, treu geblieben; doch sie will nicht mehr fremde Institutionen blind‐ lings in die Heimath hinübertragen, sie betrachtet das Ausland, damit wir durch Vergleichung unsere Eigenart mit klarem Bewußtsein verstehen lernen.“36 Etwa zur gleichen Zeit schrieb Treitschke über die „Republik der vereinigten Nie‐ derlande“ Folgendes: Zwar seien „Untersuchung und Erzählung“ die wichtigsten, aber keineswegs die einzigen Aufgaben des Historikers; daneben gelte auch jene „Form der historischen Darstellung, welche […] dem erforschten Einzelnen seine Stelle in dem Zusammenhange der Geschichte anweist; sie schildert nicht den Fluß der Ereig‐ nisse, sondern betrachtet die Zustände, welche aus dem unendlichen Ringen der histori‐ schen Kräfte sich herausbildeten, sie versucht die Berechtigung dieser Lebensformen der Völker, die Nothwendigkeit ihres Gedeihens und ihres Verfalles zu ergründen.“37

Und bereits 1864 hatte er in dem vieldiskutierten Aufsatz „Bundesstaat und Ein‐ heitsstaat“ geschrieben: Allein Preußen habe zu Jahrhundertbeginn die Kraft bewie‐ sen, „die eine Gesellschaft zum Staate macht, die Kraft sich durch sich selbst allein zu erhalten.“ Die Unterschiede zwischen Preußen und seinen Bundesgenossen seien nicht graduell, sondern zwischen „Macht und Ohnmacht, Staat und Nicht-Staat. Man schilt solche Behauptungen doctrinär, weil sie an Aristotelische Gedanken anknüpfen. Und doch fußen sie auf der ernsthaften praktischen Erfahrung, daß das Wesen des Staats zum Ersten Macht, zum Zweiten Macht und zum Dritten nochmals Macht ist.“38 Auch in Treitschkes Briefen kommt der Gedanke an dieses „Programm“ wieder‐ holt zum Ausdruck. So heißt es in einem Brief an Rudolf Haym, den er zusammen mit seinen „Historischen und Politischen Aufsätzen“ an ihn schickte: „Mein Bestreben war den halbverstandenen Vergleichungen Deutschlands mit der Schweiz und Nordamerica oder mit Italien durch ein ganz offenes Verfahren entgegenzu‐ treten. Sie werden finden, daß ich ein radikaler Unitarier bin. […] Endlich einmal muß rund heraus gesagt werden, daß unsre Lage weit ernster, die Fäulniß der Kleinststaaterei weit unheilbarer ist als die gemüthlichen Leute denken. Die politische Literatur wenig‐ stens soll ganz ehrlich sein und die große unitarische Bewegung vorbereiten helfen, die über kurz oder lang unser Vaterland ergreifen wird – wenn wir überhaupt eine Zukunft haben.“39

36 Treitschke 1869-1871, S. 429f. 37 Treitschke 1869, S. 405. Nur am Rande sei erwähnt, dass Jens Nordalm nicht nur mit Bezug auf diesen Aufsatz völlig zu Recht feststellt: „Treitschke selbst treibt Strukturgeschichte, nicht Ereignisgeschichte.“ Nordalm 2006, S. 34. 38 Treitschke 1865, S. 152. 39 Treitschke 1913b, S. 348 (13. November 1864, an Rudolf Haym).

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Nur drei Jahre später schrieb er seinem Verleger Salomon Hirzel, was die konkrete Absicht seiner Bonapartismus-Studie40 und der anderen Aufsätze für die Neuauflage des genannten Buches ist: „Ich versuche mich über die Widersprüche und Hemmnis‐ se unserer festländischen Verfassungsexperimente zu belehren“.41 In Treitschkes Werken verbanden sich also explizit formulierte wissenschaftliche und politische Absichten. Darin zeigte sich auch seine historistische Auffassung, dass es „richtige“ Entwicklungen gibt, die ihre Legitimität aus dem historischen Verlauf beziehen – und „falsche“, die eben nicht dem „Geist unsrer Geschichte“ ent‐ sprechen.42 Schon in jungen Jahren gab er seinem Glauben an die Vernunft und den Sinn der Geschichte Ausdruck: „das Dasein weltbauender geistiger Gesetze nicht blos zu glauben, nein, sie zu erkennen – das ist der Segen der Historie“.43 Dieses Credo blieb essenziell für sein Geschichtsdenken: Am Gang der Weltgeschichte sei einerseits zu erkennen, „daß eine göttliche Gerechtigkeit waltet“, so wie sich andererseits im Staatsleben der Gotteswille offenbare.44 Fragen nach dem „Staatsverständnis“ sind und waren stets auch Verfassungsfra‐ gen. Dies gilt vor allem für Treitschkes große Studien der 1860er Jahre, die in ihrer Gesamtheit eine vergleichende Verfassungsgeschichte des zeitgenössischen Europa anstrebten – in der Absicht, die für Preußen-Deutschland „richtige“ Verfassung wissenschaftlich zu legitimieren: „Das constitutionelle Könightum“. Er bezog damit zu wesentlichen Fragen der zeitgenössischen politischen Diskussion Stellung: zum von ihm so verachteten Deutschen Bund,45 zur Frage des Föderalismus, zum Ver‐ fassungskonflikt in Preußen, zur „Deutschen Frage“ also schlechthin – und nicht zuletzt zum Liberalismus, dem er sich selbst zurechnete, an dem er aber andererseits oft verzweifelte, insbesondere wegen seines vermeintlichen „Doktrinarismus“ in Verfassungsfragen. Dahinter stand eine sehr konkrete Vorstellung vom Staat als Macht-Staat, wie er sich im Norddeutschen Bund mit seiner preußischen Hegemonie zu entwickeln begann.

40 Treitschke 1865-1868. 41 Treitschke 1920, S. 170 (12. September 1867, an Salomon Hirzel). 42 Treitschke 1913b, S. 361 (23. November 1864, an Georg Waitz). Auch am Beginn der umfang‐ reichen „Bonapartismus“-Studie steht zunächst die Frage: „Ist der Bonapartismus in dem Cha‐ rakter und der Geschichte des französischen Volks begründet?“, um die Ergebnisse sodann auf die deutsche Entwicklung zu beziehen und sich dem Vorwurf des „Cäsarismus“ zu stellen: „Leuchten wir dem Schreckgespenste des Cäsarismus in’s Angesicht, um zu erkennen, ob es von unserem Blute sei.“ Treitschke 1865-1868, S. 48. 43 Treitschke 1913b, S. 96 (11. August 1860, an Wilhelm Nokk). 44 Treitschke 1913a, S. 21f. 45 Zur Kritik an Treitschkes langfristiger Wirkung auf die Geschichtsschreibung über den Deut‐ schen Bund vgl. jetzt Gruner 2012, S. 108-115 und Gruner 2018, S. 11-16.

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2. Staat und Macht im historischen und politischen Denken Staat Am Beginn von Treitschkes Staatsdenken steht ein Kardinalfehler, den erstaunli‐ cherweise alle Historiker in dieser Epoche (und weit darüber hinaus) machten: „Der Staat ist das als unabhängige Macht rechtlich geeinte Volk. Unter Volk kurzweg verstehen wir eine Mehrheit auf die Dauer zusammenlebender Familien. Mit dieser Erkenntnis ist gegeben, daß der Staat uranfänglich und notwendig ist, daß er besteht, so lange es eine Geschichte gibt und der Menschheit so wesentlich ist wie die Sprache.“46

Der Staat wird damit gewissermaßen zur „anthropologischen Notwendigkeit“ (Ul‐ rich Scheuner) stilisiert. Sowenig ein Staat tatsächlich ohne Menschen denkbar ist, so klar ist die Notwendigkeit von Regelungsinstanzen für die Machtbeziehungen zwischen Menschen angesichts ihrer sozialen und politischen Ungleichheit. Aus die‐ sem Bedürfnis entstanden Staaten.47 Treitschke knüpft ihn hingegen „uranfänglich“ an die Existenz von Familien und spricht wenig später von der „Urfamilie“ als dem „Urstaat“, „denn schon in der Familie finden wir das staatliche Prinzip der Unterord‐ nung. Der Vater ist das Oberhaupt, er übt das Recht.“48 Wird man dem ersten Teil des Satzes auch aus heutiger Sicht noch zustimmen können – ohne „Gehorsam“ kein Staat –, so leicht ist der zweite Teil als patriarchalische Ideologie zu enttarnen. Ent‐ scheidender ist hier aber etwas anderes: Wenn der Staat „uranfänglich“ und damit seit Beginn der Menschheit gegeben ist, dann ist er nicht nur aus heutiger Sicht schlicht unhistorisch.49 Auch Treitschke selbst zeigt hier sehr früh in der eigentlich systematisch angelegten Darstellung eine seiner Grundschwächen auf: die fehlende Systematik der Denkweise. Denn wenig später heißt es, dass erst mit der Schrift „das historische Leben“ anfange – diese war jedoch nicht „uranfänglich“.50 Die „Politik“ war in ihrer grundsätzlichen Anlage nicht als ein theoretisches Werk gedacht; wie die meisten Historiker seiner Zeit zeigte Treitschke wenig Interesse an Ausführungen zu rein theoretischen Fragen. Stattdessen müsse man „einmal radikal brechen mit der Überhebung der politischen Theorie.“ Das bedeutete, statt‐ dessen „nach der Methode des historischen Denkens aus empirischen Betrachtungen [zu] deduzieren“, und zwar die Grundbegriffe des Staates aus der Betrachtung der „wirklichen“ Staatenwelt – also so, wie sie sich historisch entwickelt hatte, nicht, wie sie nach Ansicht liberaler Theorie sein sollte; darin folgte er, wie in vielen

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Treitschke 1913a, S. 13. Reinhard 2007, S. 9. Treitschke 1913a, S. 16. Reinhard 2002, S. 15; Reinhard 2007, S. 8f.; vgl. auch Riedel 1963, S. 49. Treitschke 1913a, S. 66 (Hervorhebung T.G.).

anderen Gedankengängen auch, seinem Lehrer Dahlmann.51 „Politik“ sei daher im Wesentlichen „angewandte Geschichte.“52 Das richtete sich in erster Linie gegen die Vernunfts- und Naturrechtslehren sowie Vertragstheorien,53 und damit – wie so oft – gegen den („partikularistischen“) Linksliberalismus oft süddeutscher Provenienz und dessen „freiheitliches“ Staatsdenken. Aufgrund der angenommenen „anthropo‐ logischen Notwendigkeit“ sei eine staatenlose Menschheitsgeschichte schlicht nicht vorstellbar, da sie dann „eine vernunftlose“ sein müsste. Sei sie noch so roh, so ist dennoch keine Gesellschaft ohne politische Ordnung bekannt: Der politische Trieb gehöre dem Menschen ebenso wesenhaft an wie der Trieb zur Sprachbildung.54 Schließlich kommt als wesentliches Element des historistischen Staatsverständnisses die Auffassung des Staates als Persönlichkeit hinzu – im juristischen, aber weiterhin auch im „moralisch-historischen Sinne“. In dieser Hinsicht zeigen Staaten ihren Charakter als „Gesamtpersönlichkeiten der Geschichte“, und damit auch, dass sie dem Sittengesetz unterliegen und somit schuldfähig sind.55 Wichtig – und oft über‐ sehen – ist die Folgerung, die Treitschke aus diesem Verständnis zieht: Wenn Staa‐ ten Persönlichkeiten sind, dann folge daraus „die notwendige und vernunftgemäße Vielheit der Staaten.“ Auch deshalb wird, worauf gleich zurückzukommen sein wird, der Machtcharakter des Staates so klar hervorgehoben, weil sich die Staaten gegeneinander immer wieder zu behaupten haben. Die Menschheitsgeschichte sei nur als ein Nebeneinander von Staaten zu begreifen, die Idee eines Weltreichs sei geradezu „hassenswert“: „Die Strahlen des göttlichen Lichts erscheinen nur unend‐ lich gebrochen in den einzelnen Völkern, jedes zeigt ein anderes Bild und einen anderen Gedanken der Gottheit.“56 Aus diesen Überlegungen resultiert schließlich eine Kritik des verabsolutierten Nationalitätsprinzips, die nur dann überraschend ist, wenn man Treitschke lediglich als machtfixierten Nationalisten begreift.57 In seinem Staatsverständnis ist es nur konsequent, wenn es heißt: „Die ungeheuere Einseitigkeit des nationalen Gedankens in unserem Jahrhundert bei den meisten Völkern und Völklein ist nichts weiter als der natürliche Rückschlag gegen das napoleonische Weltreich. Der unglückliche Versuch die Mannigfaltigkeit des europä‐ ischen Lebens in das öde Einerlei eines Weltreichs zu verwandeln, hat die natürlich Folge gehabt, dass der nationale Gedanke sich heute so ausschließlich geltend macht; das Weltbürgertum ist zu sehr zurückgetreten.“58

Bleek 2001, S. 153. Vgl. bereits Riedel 1963, S. 49. Treitschke 1913a, S. 2-6. Vgl. Riedel 1963, S. 45, 54. Treitschke 1913a, S. 17. Treitschke 1913a, S. 25-27. Treitschke 1913a, S. 28f. Treitschke 1913a, S. 270-273, zur Fluidität des Nationsbegriffs. Vgl. zur Rezeption seit den 1920er Jahren Westphal 1922, S. 169 und Leipprand 1935, S. 99f. 58 Treitschke 1913a, S. 31. Vgl. auch ebd., S. 108: Napoleons Politik sei eine „Sünde wider den Geist der Geschichte“ gewesen.

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Die „Politik“ bietet in enzyklopädischen Überblicken Treitschkes Ansichten zum „Wesen des Staates“, seinen sozialen Grundlagen, seiner Verfassung, zur Staatsver‐ waltung, und schließlich – recht knapp – zum „Staat im Verkehr der Völker“. Da dies im Einzelnen hier nicht nachvollzogen werden kann, soll Treitschkes Staats‐ verständnis im Folgenden an einem konkreten Beispiel untersucht werden. Dabei wird explizit der Faden des vorangegangenen Kapitels wieder aufgenommen und der Frage nachgegangen, welche legitime Staatsverfassung sich der nationalliberale Staatswissenschaftler und Historiker für Deutschland vorstellte. Er selbst formulierte sein Selbstverständnis so: „Der Historiker muß sich begnügen zu fragen, welche Staats- und Rechtsform für ein be‐ stimmtes Volk in einer bestimmten Zeit die angemessenste ist; er wird also die Republik als sittlich anerkennen, wo sie den sittlichen Bedingungen in einem Volke entspricht. Nur soviel kann der Historiker ohne Unbescheidenheit über den besten Staat sagen, daß, weil der Staat zunächst Macht ist, auch diejenige Staatsform, welche die Staatsgewalt in einer Hand zusammenfaßt und unabhängig hinstellt, dem Ideal am meisten entspricht.“59

Also nochmals: Welches „Programm“ stand am Ende (und vielleicht auch schon am Beginn) seiner verfassungspolitischen Überlegungen der 1860er Jahre, welche Staatsform passte zum „besten Staat“? Der große Aufsatz über „Das constitutionelle Königthum in Deutschland“ war gewissermaßen die conclusio seiner vorhergehenden Forschungen zur Verfassungs‐ entwicklung in Europa. Er erschien in einer Zeit, die jüngst als „Höhepunkt des Konstitutionalismus“ bezeichnet wurde, da sich das Verfassungsdenken „auf das Volk, die Nation, das Parlament, die Wählerschaft, die Parteien, die soziale Frage und die sozialdemokratische Reform“ ausrichtete.60 Treitschke zog aus all diesen Diskussionen den Schluss, dass die konstitutionelle Monarchie die den Deutschen gemäße Staatsform sei,61 indem sie „monarchisches Prinzip“ und „Volkssouverä‐ nität“ auf ideale Weise vereinigt. Schon über die Verfassung des Norddeutschen Bundes schrieb er, dass „Deutschland noch nie eine so klare, einfache Verfassung“ besessen habe wie jetzt: „Der norddeutsche Bund ist ein nationaler Staatenbund unter preußischer Hegemonie; nur sind die Rechte des führenden Staates so ausge‐ dehnt, seine Macht so überwiegend, daß dem Fremden, der nur die Action des Bundes nach Außen in’s Auge faßt, das Ganze als Einheitsstaat erscheint“.62 Über das Modell der konstitutionellen Monarchie in Deutschland wurde lange gestritten. Im Vordergrund stand dabei die Frage, ob es sich um einen eigenständigen Verfassungstypus handelte – „das eigenartige preußisch-deutsche System“ nannte

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Treitschke 1911, S. 10f. Schiera 2020, S. 139, 143. Vgl. dazu allg. Hardtwig 1980, S. 147. Treitschke 1867, S. 194.

es Otto Hintze –,63 oder ob es sich eher um ein Übergangsphänomen zwischen Monarchie und Demokratie gehandelt habe.64 Insbesondere seit den europäisch ver‐ gleichenden Studien von Martin Kirsch hat diese alte Diskussion zahlreiche neue Wendungen bekommen, bis hin zu den jüngsten öffentlichen Debatten über die „Schatten des Kaiserreichs“.65 Kurz gesagt: Die Monarchie des 19. Jahrhunderts erscheint als Staatsform mittlerweile in einem ganz neuen Blick, insbesondere als anpassungs- und modernisierungsfähig im Verbund mit dem Nationalismus.66 Das ist hier nicht weiter nachzuverfolgen. Mit Blick auf die Geschichte des Kaiserreichs und sein Ende lohnt sich hingegen die Frage, welche Entwicklungsmöglichkeiten Treitschke selbst sah, oder ob er die Verfassung von 1871 gewissermaßen als Ab‐ schluss betrachtete. Wichtig ist dabei insbesondere die Frage nach der Rolle des Parlaments und dessen Entwicklungsmöglichkeiten. Der konstitutionellen Monarchie ist in der „Politik“ ein eigenes Kapitel gewid‐ met. Einleitend werden zunächst die drei entscheidenden Kriterien genannt (Ge‐ setzgebung nur unter Mitsprache eines gewählten Repräsentativorgans; Kontrolle der Regierung durch dieses Organ, das mindestens das Steuerbewilligungsrecht haben muss; Rechtspflege im Rahmen der Monarchie, aber mit unabhängiger zi‐ viler und kriminaler Gerichtsbarkeit), bevor Treitschke sich Großbritannien als „Musterstaat“67 des Konstitutionalismus zuwendet.68 Seiner Ansicht nach beruhe die konstitutionelle Monarchie auf der Insel auf einem illegitimen und machtlosen Königtum,69 einer staatsklugen und mächtigen Aristokratie, die jedoch – bedingt durch den sozialen Wandel infolge der Industrialisierung – zunehmend von den „Mittelklassen“ abgelöst wird. Aufgrund der spezifischen Bedingungen in Großbri‐ tannien sei dieses Modell nicht auf den Kontinent übertragbar. Entscheidend für den Charakter der konstitutionellen Monarchie sei, „ob der Grundsatz, daß die gesamte Staatsgewalt in der Hand des Königs liegt, nur formell anerkannt wird, oder ob er in der Wirklichkeit Leben und Kraft besitzt. Hierauf beruht der Unterschied zwischen der konstitutionellen Monarchie, wie sie in Deutschland und speziell in

63 Hintze 1911, S. 359. 64 Vgl. dazu Böckenförde 1967, Boldt 1970, Huber 1988, S. 3-26, Heun 2006. Als knapper Über‐ blick: Boldt 1990, S. 194-205. 65 Zur konstitutionellen Monarchie vgl. Kirsch 1999 und Schlegelmilch 2009. Ein früher Über‐ blick über diese verfassungshistorischen Ansätze bei Kraus 2004; Conze 2020. 66 Vgl. dazu jetzt grundlegend Wienfort 2019 und Langewiesche 2013. Für Preußen jetzt grundle‐ gend: Manca 2020. Allgemein auch Kühne 2005. 67 Diese Charakterisierung war in Europa seit dem 18. Jahrhundert weit verbreitet. Vgl. Schiera 2020, S. 158, und schon Jellinek 1913, S. 60, der hier – wie Treitschke selbst – auf Montes‐ quieu als Urheber dieser Auffassung hinweist. 68 Treitschke 1911, S. 132-145. 69 Das britische Königshaus wird hier als illegitim verstanden, da die Welfen durch einen Parla‐ mentsbeschluss auf den Thron berufen wurden, ohne einen legitimen (= historisch verbürgten) Anspruch zu haben (Treitschke 1911, S. 133f.). Auch die Legitimität der durch Napoleon aus‐ gerufenen Throne in Deutschland stellte er in Abrede: Treitschke 1865-1868, S. 48.

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Preußen besteht, der aristokratischen Monarchie Englands und der demokratischen Monarchie in Italien und Belgien.“ Anders als im Westen herrsche in Deutschland eine „tiefere[n] Auffassung vom Staate“, die sich mit einem starken „Glauben an die Monarchie“ und ihre historischen Rechte paare.70 Es überrascht daher nicht, dass Treitschke eindeutig den monarchischen Charakter des Deutschen Reichs und damit die Stellung des Monarchen „über den Parteien“ betont: „Wenn es ihr Wesen ausmacht, daß alle Staatsgewalt in dem Monarchen vereinigt ist, so ist deutlich, daß ihr Wesen verloren geht, sobald der König in die Zwangslage gebracht werden kann, seine Räte [gemeint ist die Regierung, T.G.] nach dem Willen des Parlaments zu wählen.“71 Treitschke war freilich kein Gegner des Parlamentarismus;72 immerhin gehörte er selbst 1871-1884 dem Reichstag an und äußerte schon früh die Ansicht, dass ohne „eine geregelte Theilnahme der Nation an der Leitung des Staats […] das neue Deutschland nicht bestehen“ könne.73 Die verfassungsmäßigen Rechte – Kontrolle der Verwaltung, Mitwirkung bei der Gesetzgebung, Budgetbewilligung – wollte er daher keineswegs geschmälert wissen.74 Er nahm sogar eine recht starke Kontroll‐ funktion des Reichstages im Vergleich zum britischen Unterhaus an, denn dort halte sich die Opposition eher zurück, da sie selbst bald regieren könne. Deutsche Parlamentarier hingegen seien deshalb so gründlich in ihrer Arbeit, weil sie sich sagten: „wir werden selber nie regieren. Unsere Etatsdebatten sind dadurch manch‐ mal fast widerwärtig, aber man hat doch auch oft das erfreuende Gefühl: hier stehen Männer, denen es Ernst ist, die wirklich jeden Mißstand im Staate beseitigen wollen.“75 Seine parlamentarischen Hoffnungen nach der Gründung des Norddeut‐ schen Bundes76 verdunkelten sich gleichwohl im Laufe der nächsten Jahrzehnte. Die „Parlamentarischen Erfahrungen der jüngsten Jahre“ faste er 1886 resigniert dahingehend zusammen, dass der Deutsche Reichstag immerhin weniger Schaden angerichtet hätte als die Parlamente in anderen Ländern.77 War er in den 1860er Jahren noch davon überzeugt, dass gerade ein starkes Parlament dazu geeignet sei, die noch bestehenden Gegensätze in Deutschland zu überwinden,78 so schien ihm

70 Treitschke 1911, S. 148. 71 Treitschke 1911, S. 161. 72 Die Behauptung von Bleek 2001, S. 154, Parlamente hätten ihm als „Schwatzbuden“ gegolten, ist – soweit ich sehe – quellenmäßig nicht belegt und übernimmt lediglich das bekannte Wort Wilhelms II. Bei Treitschke ist oft zu unterscheiden zwischen verbalen Radikalismen und sach‐ lichen Argumenten. 73 Treitschke 1866, S. 105. 74 Treitschke 1911, S. 183. 75 Treitschke 1911, S. 167. 76 Treitschke 1867, S. 190ff., über die „gehaltreichen Debatten“ des konstituierenden Reichstags im Frühjahr 1867. 77 Treitschke 1886. 78 Zum Beispiel Treitschke 1913b, S. 209 (25. März 1862, an Heinrich Bachmann).

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nun viel eher die bürgerliche Beteiligung in der lokalen Selbstverwaltung die Bande zwischen Staat und Bürger zu festigen.79 All die Probleme, die sich insbesondere aus der besonderen Konstruktion der bismarckschen Reichsverfassung ergaben,80 werden bei Treitschke unter Hinweis auf das überkommene „monarchische Prinzip“ verdeckt – und damit reihte er sich in die Tradition des staatsnahen liberalen Verfassungsdenkens in Deutschland ein, das keineswegs klar aufseiten einer Parlamentarisierung stand,81 sondern allenfalls eine „Politik des stillen Verfassungswandels“ favorisierte.82 Wie problematisch insbeson‐ dere die Unmöglichkeit war, eine Regierung aus den Reihen der Parlamentarier zu bilden, hat Treitschke hingegen nicht gesehen. Ganz im Gegenteil: Die daraus resultierende „Unverantwortlichkeit“ parteilichen Handelns wird bei ihm alleine den Parlamentariern selbst zugeschoben – die grundsätzliche Problematik der Ver‐ fassungskonstruktion mit ihren Formelkompromissen hatte er nicht erkannt: „Sieht man nun gar unseren heutigen Reichstag an – der Gedanke ist lächerlich, hier eine Parteiregierung gründen zu wollen. Und dann vor allem steht dem die Reichsverfas‐ sung selber entgegen. […] In der Reichsverfassung steht ferner, daß kein Mitglied des Bundesrats Mitglied des Reichstages sein darf. Nun aber müssen sämtliche Chefs der großen Reichsverwaltungszweige ipso jure Mitglieder des Bundesrats sein; es ist als verfassungsmäßig eine parlamentarische Regierung unmöglich. Ich hoffe, daß Sie über diese Dinge im stillen ein wenig nachdenken werden, um sich klar zu machen, daß ein völliger Widersinn darin liegt, deutsche Verhältnisse nach englischem Muster pressen zu wollen. Wir habe alle Ursache uns zu freuen, daß wir ein lebendiges monarchisches Beamtentum besitzen, das durch eigene Verdienste, durch seine soziale Stellung und durch die Macht der Krone, die hinter ihm steht, auch etwas bedeutet. Wir haben gar keinen Grund, das anders zu wünschen.“83

Treitschke hatte allenfalls eine Ahnung davon, dass mit der Entstehung eines „politi‐ schen Massenmarktes“ (Hans Rosenberg) gegen Ende des 19. Jahrhunderts sich die Fragen nach Legitimität und Volkssouveränität ganz neu stellen würden – er hielt noch unbeirrt an der Überlegenheit der deutschen Verfassung „mit ihrer Kombinati‐ on von bürokratischer und parlamentarischer Regerierungsweise“ fest.84 Dabei hatte 79 Treitschke 1913a, S. 60 und Treitschke 1911, S. 510. Treitschke hat sich auch immer wieder mit dem englischen Selfgovernment beschäftigt, vermittelt vor allem durch die Lektüre Rudolf Gneists. Vgl. Treitschke 1913b, S. 72 (27. Januar 1860, an Julius Klee) und seine umfangreiche Rezension von Gneists englischem Verfassungs- und Verwaltungsrecht, Treitschke 1860. 80 Dazu weiterhin wichtig Mommsen 1978. 81 Vgl. Reinhard 2002, S. 428. „Klassisch“ die differenzierten Betrachtungen von Seier 1974. Wichtig in diesem Sinne auch Sheehan 1983, S. 130-143 („Die Suche nach einem liberalen Staat“) und S. 147-167 („Der Liberalismus und der Bismarck-Staat“). 82 Langewiesche 2001, S. 81. 83 Treitschke 1911, S. 162f. Zur Auffassung, dass gerade eine unterbleibende Parlamentarisierung als Stärke der konstitutionellen Monarchie betrachtet wurde, vgl. Boldt 1990, S. 205. 84 Mommsen 1992, S. 133 (Zitat); vgl. Reinhard 2002, S. 429f.; Hardtwig 1980, S. 119, 147. In‐ spirierend zur Frage eines „Sonderwegs“, auch in Hinsicht auf die Verfassung: Wirsching 2018, S. 7-23, v.a. 7f.

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er in der „Politik“ selbst mit feinem Gespür dargelegt, wie in England der langsame Verfassungswandel aus den sozialen Umschichtungsprozessen infolge der Industria‐ lisierung hervorging.85 Der von ihm hier angesprochene Artikel 9 der Reichsverfas‐ sung war es, in Verbindung mit Artikel 21 (Reichstagsmitglieder verlieren bei Ein‐ tritt in die Reichsregierung ihr Mandat), der im Weltkrieg Max Weber gegen „Bis‐ marcks Erbe in der Reichsverfassung“ kämpfen ließ: „eine Nation ohne alle und je‐ de politische Erziehung […], ohne allen und jeden politischen Willen.“86 Erst mit der Verfassungsänderung des Art. 21 am 28. Oktober 1918 wurde die Parlamentari‐ sierung des Reiches ermöglicht, was die Revolution aber nicht mehr verhindern konnte. Die Zeit der konstitutionellen Monarchie war damit nach knapp 100 Jahren beendet.

Macht Kaum ein Satz Treitschkes wurde so häufig zitiert wie der, dass „das Wesen des Staates zum Ersten Macht, zum Zweiten Macht und zum Dritten nochmals Macht“ sei.87 Diese scheinbare Reduktion der Staatsaufgaben auf die Machtausübung nach außen und innen ist oft kritisiert worden; zu fragen ist daher, was er unter „Macht“ verstand, und wie er sie verstand. Handelte es sich bei ihm um einen oberflächlich ethisierten Machtbegriff, der sich jenseits von Recht und Moral in ungebundenen Sphären befand,88 oder war er an sittliche Bedingungen geknüpft, etwa an ein allgemeinverbindliches Völkerrecht? Daneben ist zu fragen, ob er sich mit den allgemeinen Machtvorstellungen seiner Zeit deckte?89 Treitschkes Machtstaatsapologie rührt einerseits von seiner Machiavelli-Rezepti‐ on her.90 Es sei vor allem dessen historisches Verdienst, klar ausgedrückt zu haben, dass der Staat in erster Linie als „Macht“ zu verstehen sei.91 In zahlreichen Wen‐ dungen spiegelt sich dieses Verständnis in seinem Werk wieder. Dabei handelt es sich keineswegs um einen unreflektierten Machiavellismus, der sich nicht um Ethik und Moral schert – ganz im Gegenteil. Da Machiavelli als Kind seiner Zeit die Sittlichkeit mit der katholischen Kirche identifizierte und zugleich versuchte, den Staat von der Kirche zu trennen, habe er das Sittengesetz von der staatlichen Sphäre entfernt (während für Treitschke der Staat diesem Gesetz unterworfen ist). Daher rühre die „tiefe Unsittlichkeit seiner Staatslehre“: 85 86 87 88 89 90 91

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Treitschke 1911, S. 143f. Zit. nach Bruhns 2017, S. 63. Vgl. auch Mommsen 2004, S. 186-205. Treitschke 1865, S. 152. So z.B. Crampen 1967, S. 132, 142. Vgl. allg. dazu den Artikel von Faber 1982. Vgl. dazu Trocini 2011. Treitschke 1913a, S. 90.

„Nicht daß er gegen die Mittel der Macht völlig gleichgiltig ist, widert uns an, sondern daß sich alles darum dreht, wie man die höchste Macht erwirbt und bewahrt, daß aber diese Macht selber für ihn gar keinen Inhalt hat. Daß die erworbene Macht sich rechtfer‐ tigen muß, indem sie verwendet wird für die höchsten sittlichen Güter der Menschheit, davon findet man bei ihm keine Spur. […] Eine Macht, die alles Recht mit Füßen tritt, muß schließlich doch zugrunde gehen, denn in der sittlichen Welt stützt nichts, was nicht zu widerstehen vermag.“92

Das heißt: Die Ausübung von Macht muss stets an ethische Voraussetzungen gebun‐ den sein, soll der Staat nicht seine sittlichen Grundlagen – und damit sich selbst – verlieren. Allerdings geht es bei Treitschke nie um Moralfragen, die nicht auch Nützlichkeitserwägungen unterworfen wären; dazu war er zu sehr „Realpolitiker“ im Sinne Rochaus, den er sehr schätzte. Erhellend sind daher seine Ausführungen zur Machtstaatsproblematik im Zusammenhang mit „Völkerrecht und Völkerverkehr“. Einleitend wirft er die Frage auf, ob es überhaupt ein Völkerrecht geben dürfe, welches den Staat in seiner Handlungsfreiheit einschränke. Er gibt zunächst zwei Antworten, die seines Erachtens „gleich unhaltbare extreme Anschauungen vom internationalen Leben der Staaten“ repräsentieren: 1) Mit Machiavelli gebe es eine naturalistische Antwort: „der Staat ist Macht schlechthin, er darf alles tun, was ihm nützlich ist; er kann sich also an kein Völkerrecht binden, seine Stellung zu anderen Staaten bestimmt sich rein mechanisch nach dem Verhältnis der Kräfte. Diese Anschauung kann man nur von ihrem eigenen Standpunkt widerlegen. Man muß ihr zunächst zugeben, daß der Staat physische Macht ist; will er das aber einzig und allein sein, ohne Vernunft und Gewissen, so kann er sich auch nicht mehr im Zustande eigener Sicherheit behaupten. Auch die Naturalisten geben zu, daß der Staat den Zweck hat, Ordnung im Innern zu schaffen; wie kann er das, wenn er nach Außen sich an kein Recht binden will? Ein Staat, der grundsätzlich Treu und Glauben verachten wollte, würde beständig von Feinden bedroht sein und also seinen Zweck, physische Macht zu sein, gar nicht erreichen können. […] Denn der Staat ist nicht physische Macht als Selbstzweck, er ist Macht, um die höheren Güter der Menschen zu schützen und zu befördern. Die reine Machtlehre ist als solche völlig inhaltlos, und sie ist unsittlich darum, weil sie sich innerlich nicht zu rechtfertigen vermag.“

2) Dem gegenüber stehe – wohlgemerkt „gleich unhaltbar“ – die „moralisierende Auffassung der liberalen Theorie. Sie betrachtet den Staat wie einen braven Jungen, den man wäscht und kämmt und in die Schule schickt, dem man die Ohren zupft, damit er artig bleibt; er soll dankbar sein und gerecht und Gott weiß was alles.“93 Hier wird sehr deutlich, wie stark Treitschkes Macht-Begriff insbesondere gegen den von ihm sogenannten Doktrinarismus gerichtet ist – also gegen „den liberalen

92 Treitschke 1913a, S. 91. 93 Treitschke 1911, S. 543f.

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Particularismus“, der „verächtlichsten aller deutschen Parteien“.94 Die Lösung sieht er in einer historischen Vorgehensweise: Man müsse den Staat zwar als physische Macht betrachten, „zugleich aber als eine Anstalt, die mitwirken soll an der Erziehung des Menschenge‐ schlechts. Der Staat wird als physische Macht die natürliche Neigung haben, soviel Lebensgüter an sich zu reißen als ihm nützlich erscheint, er ist seinem Wesen nach aus‐ greifend. Jeder Staat wird aber auch von selbst gewisse Rücksichten nehmen auf die be‐ nachbarten Mächte. Aus der vernünftigen Berechnung, aus der gegenseitigen Erkenntnis des eigenen Vorteils wird mit der Zeit ein immer bestimmteres Rechtsgefühl; es entsteht die Einsicht, daß ein Staat gebunden ist an die Lebensgemeinschaft der Staaten, in die er gestellt ist, daß er sich mit ihr mehr oder minder übel abzufinden hat. Das sehr reale Gefühl der Gegenseitigkeit, nicht der Menschenliebe steht hinter dieser Erwägung.“95

Gedanken wie diese erinnern heute an die „Realistische Schule“ der internationalen Beziehungen in der Politikwissenschaft, ohne dass diese intellektuellen Beziehungen bereits hinreichend untersucht worden wären.96 Dieser Vergleich öffnet jedoch die Perspektive und stellt die grundsätzliche Frage nach der Tradition des Machtstaats‐ denkens und seinem „Nachleben“ bei deutschen Historikern im 20. Jahrhundert. War Treitschke hier eine Ausnahme? Die Geschichtswissenschaft in Deutschland hatte sich immer schon sehr um Fragen von Machterwerb und Machterhalt gekümmert,97 was der banalen Einsicht geschuldet ist, dass Geschichte oftmals in erster Linie politische Geschichte war. Gefragt wurde nach Staatsbildungsprozessen und dem Verhältnis der Staaten unter‐ einander, und damit auch nach Kriegen, bei denen es Sieger und Verlierer gab – somit Macht und Ohnmacht. Dies führte geradezu automatisch zur Anerkenntnis der „unleugbaren Wahrheit, daß jeder Staat seinem Wesen nach eine Macht- oder Herrschaftsorganisation darstellt.“98 Dies bedeutet noch nicht, dass Staaten sich im permanenten Machtkampf befinden oder gar ihre Macht nicht stets neu rechtfertigen müssten, insbesondere gegenüber den Beherrschten; eine solche Auffassung finden wir weit verbreitet erst seit dem „Alldeutschen Verband“ am Vorabend des Ersten Weltkrieges. In der Staats- und Rechtstheorie ging es zunächst nur darum, den nationalen Machtstaat als idealste Verkörperung der staatlichen Einheit eines Volkes aufzufassen, wobei der Staat selbst als höchste Form der menschlichen Vergemein‐ schaftung verstanden wurde.99 Das gilt hier in erster Linie für die Historiker,100 lässt Treitschke 1913b, S. 357f. (22. November 1864, an Johann Gustav Droysen). Treitschke 1911, S. 547. Ein Ansatz bei Holthaus 2014, ohne die Werke Treitschkes überhaupt zu erwähnen. Einfüh‐ rend zum Realismus Zürn 1994. 97 Einen pointierten Überblick bietet Daniel 1998. 98 Jellinek, Staatslehre, 194f. 99 Vgl. allg. zur „Staatskunst als Machtlehre“ in der Politiktheorie des 19. Jahrhunderts Bleek 2001, S. 149-156. 100 Vgl. allg. Gramley 2001, S. 187–209. 94 95 96

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sich andererseits aber auch an den zahlreichen staatswissenschaftlichen, rechtsphilo‐ sophischen und politiktheoretischen Schriften und Lehrwerken verfolgen. In Albert Schäffles „Encyclopädie der Staatslehre“ von 1878 heißt es etwa: „In Ausbildung und Bewahrung des Machtübergewichtes im Allgemeinen und in der ausschlagge‐ benden Combination besonderer Machtübergewichte für seine einzelnen Aufgaben und Zwecke besteht die Grundfunction des Staates.“101 Neu waren diese Töne in der deutschen Wissenschaft keineswegs, denn diese Ineinssetzung von Macht und Staat findet sich bereits bei Heinrich Luden, als er 1811 seine „Staatsweisheit“ vorlegte. Luden lehrte die Auffassung, dass das normale Verhältnis der Staaten untereinander zwangsläufig Feindschaft sein müsse, und dass daher jeder Regent bestrebt sei, „sei‐ nen Staat übermächtig zu machen, so daß weder ein einzelner Staat ihm überlegen sey, noch eine Vereinigung von mehreren Staaten gegen ihn möglich bleibe, deren Gesammtkraft seiner Unabhängigkeit gefährlich werden möchte.“ Hier findet sich schon – im Übrigen gegen die Unterstellung eines gesinnungslosen Machiavellismus eingewandt – die Theorie, dass internationale Verträge nur solange Geltung bean‐ spruchen können, wie sie den Interessen der Vertragspartner entsprechen – rebus sic stantibus.102 Auch Max Weber formulierte 1916 ganz in dieser Tradition: „Wir sind ein Machtstaat. Für jeden Machtstaat bildet die Nachbarschaft eines anderen Machtstaates ein Hemmnis in der Freiheit seiner politischen Entschließungen, weil er auf ihn Rücksicht nehmen muß. Für jeden Machtstaat ist es wünschenswert, von möglichst schwachen Staaten oder doch von möglichst wenigen anderen Machtstaaten umgeben zu sein.“103

Der Machtstaatsgedanke findet sich nicht zuletzt bei Leopold von Ranke,104 erst recht dann bei den politischen Historikern, die ihm folgten. Für Droysen, Waitz und Sybel war der Nationalstaat ebenso idealer Machtstaat wie für Treitschke, Meinecke oder Lenz. Schon Droysen hatte es so in seiner Historik formuliert: „Der Staat, in welchen Formen, in wessen Hand er denn sei, herrscht, weil er die Macht hat. Er ist Herr, um die Macht zu haben. Das ist die Summe aller Politik.“ Diese Macht habe aber letzten Endes dem Fortschritt der Sittlichkeit und Freiheit des Menschen zu dienen – war also Mittel zum Zweck, nicht Selbstzweck.105

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Schäffle, Encyklopädie, S. 327. Luden 1811, S. 57, 62 (§ 24). Vgl. zu dieser Klausel Treitschke 1913a, S. 37f. Weber 1916, S. 163. Mit zahlreichen Beispielen Meinecke 1924, S. 478–487. Droysen 1958, S. 259, 352. Wilfried Nippel hat in seiner Droysen-Biographie die Wichtigkeit des Machtgedankens auch in dessen politisch-historischem Denken herausgestrichen. Nippel 2008, S. 193, 231. Allg. Gramley 2001, S. 188, 202.

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3. Treitschke und die Folgen Treitschkes Werke waren in England zumindest in Gelehrtenkreisen bekannt, da‐ rüber hinaus wohl kaum verbreitet.106 Das änderte sich im August 1914, als er schlagartig zu einem zentralen Bezugspunkt im „Krieg der Kulturen“ wurde. Das Hauptinteresse richtete sich schnell auf die „Politik“, sie galt als „that part of Treitschke’s teaching which we now see his country putting into practice with such desperate energy“,107 wenn gelegentlich auch bemerkt wurde, dass sie methodischer Irrsinn sei, „more obscure than chaos itself.“108 Die britische Kriegsliteratur sah in Deutschland einen durch ihn vermittelten Staatsbegriff verwirklicht, der an die Stelle der Herrschaft des Rechts die eigene Staatsräson setzte, in der kein Raum mehr für internationale Verträge war.109 Das Erbe seines Machtstaatsdenkens, wie es mit dem Ausbruch des Krieges für alle sichtbar geworden sei, ließ die freiwilli‐ ge Bindung an internationale Abkommen nicht zu, da dies einem Machtverzicht gleichgekommen wäre – daher der völkerrechtswidrige Angriff auf Belgien. Ihm und in seinem Gefolge der deutschen Politik – die nichts anderes sei als die Verwirk‐ lichung seiner Ideen110 – gehe es jedoch weder um ein friedliches Miteinander der Staatengesellschaft oder um eine Beschränkung der eigenen Macht, sondern alleine um Machterweiterung Preußen-Deutschlands bis hin zur erträumten Weltherrschaft: „He is the true father of Weltpolitik.“111 Auf ihn gehe die Sucht nach militärischer Größe zurück, die die ganze Welt nun in die Katastrophe gestürzt habe.112 Sein Denken erweist sich so als Gefahr für ganz Europa, da es für einen aggressiven Nationalstaat steht, der seine eigene Kultur für die einzig wertvolle halte und sich so das Recht anmaße, sich selbst von internationalen Pflichten freizusprechen. Macht könne niemals alleine der Verteidigung dienen, denn es liege in ihrer Natur, offensiv zu sein.113 Die Kritik an Treitschke im „Krieg der Kulturen“ erschien in Deutschland mehr als nur das Bloßstellen einer vermeintlich nationalen Ikone: Sie berührte das politi‐ sche und fachwissenschaftliche Denken der deutschen Historiker in seinem Kern. Die Gelehrten setzten den Angriffen insbesondere auf den „deutschen Militarismus“ die tradierte idealistische Macht-Kultur-Synthese entgegen, die die Einheit von Volk, Heer und Wissenschaft als fest zusammengehörende Erscheinungen des preußisch106 Die Ausführungen in diesem Abschnitt referieren in erster Linie meine Argumentation in Gerhards 2013, S. 140-254, wo sich eine Vielzahl an weiteren Quellenbelegen findet. – Zur Treitschke-Rezeption in England vgl. Leipprand 1931. 107 Rolleston 1914, S. 466; vgl. auch McClure 1914, S. 32. 108 Carritt 1914/15, S. 558. 109 Vgl. etwa Members 1914, S. 108f.; McClure 1914, S. 33f.; Barker 1914, S. 18, 23. 110 Vgl. Members 1914, S. 114. 111 Morgan 1914, S. 779. 112 McCabe 1914, S. 138. 113 Barker 1914, S. 25f.

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deutschen Geistes beschrieben.114 Während in England nach dem Krieg das Interes‐ se an Treitschke sofort wieder nachließ, ging in Deutschland die Diskussion um Staat und Macht unvermindert weiter. Dabei versuchte man darzulegen, dass sich sein Staatsbegriff nicht in seinem Machtstaatsbegriff erschöpfte, da ihm Macht nur ein Mittel zum Zweck gewesen sei, das beispielsweise auch hohen Kulturzwecken zu dienen habe.115 Laut Hans Herzfeld sei er „letzten Endes selbst noch ein leben‐ diger Repräsentant dieses Entwicklungsganges“ vom Weltbürgertum zum National‐ staat gewesen.116 Auch der liberale Wilhelm Mommsen war der Auffassung, er sei „nie der Chauvinist gewesen, als der er in der Kriegspropaganda des Auslandes erschien.“ Nie habe er „die richtige Anschauung vom Machtcharakter des Staates […] so banal und äußerlich aufgefasst, um sie in die reine Vergötterung der äußeren Macht aufzulösen und diese als Selbstzweck aufzufassen.“117 Da das Reich und seine äußere Macht nun vergangen waren, ist es keine Über‐ raschung, dass die Historiker Treitschke neu entdeckten. Für Friedrich Meinecke entwickelte sich bei jeder Beschäftigung mit ihm immer von neuem ein ergebnisof‐ fenes „Zwiegespräch zwischen ihm und uns, dem ihm nachfolgenden Geschlechte, das heute auf die Trümmer des von Treitschke mit aufgerichteten und verteidigten Werkes schauen muß.“118 Der Großteil der Professorenschaft, als Angehörige des Bildungsbürgertums ein gewichtiger Teil der alten staatstragenden bürokratischen Elite, verharrte – nicht nur im Gegensatz zu Meinecke – in seiner nationalkonser‐ vativen Mentalität, die u. a. dazu führte, dass die Weimarer Republik als kein ernstzunehmender Staat angesehen wurde. Mehr noch: Der verlorene Weltkrieg ging für diese soziale Gruppe mit dem Verlust deutscher Staatlichkeit ganz allgemein einher.119 In diesem Sinne boten Treitschkes Werke die Möglichkeit zu einer Flucht in die Vergangenheit. Seine „Deutsche Geschichte“ war die Geschichte eines zerris‐ senen und uneinigen Vaterlandes, das dereinst unter der Führung Preußens unter neuem Glanz als Reich einig erstrahlen sollte. Diese Retrospektive vermochte Trost zu bieten in einer Zeit, als der deutsche Staat und v. a. seine Staatsform nicht mehr dem entsprachen, was deutschem politischen Denken angeblich wesenhaft sei. Die Reaktion darauf war reaktionär: Treitschke wurde gelegentlich zum prototypischen politischen Denker stilisiert, an dem die allerjüngste Vergangenheit, vor allem aber die Gegenwart, gemessen wurde. Nach 1933 gab es verschiedene Versuche, ihn in die Ahnengalerie des National‐ sozialismus einzureihen. Das geschah allerdings selten ohne erhebliche Verzerrun‐

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Brocke 1985, S. 653. Vgl. etwa Rau 1927, S. 15; Walter 1931, S. 12, 36. Herzfeld 1923, S. 269. Ähnlich auch Westphal 1922, S. 174. Mommsen 1927, Bd. 1, S. 16f. Meinecke 1915/21, S. 210. Vgl. Döring 1974, S. 347.

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gen, wenn nicht sogar bewusste Fälschungen seiner Werke.120 Christoph Steding, ein Mitarbeiter am „Reichsinstitut für Geschichte des neuen Deutschlands“, stell‐ te Ranke als Vordenker einer nationalsozialistischen Geschichtsschreibung über Treitschke, da dieser zum einen dem Liberalismus völlig ferngestanden habe und zudem jenseits des Gegensatzes von kleindeutsch – großdeutsch dachte: „Treitschke als leidenschaftlich für Preußen Begeisterter kann seine Geschichtsschreibung auch nur als kleindeutsch-preußisch nuancierte realisieren. Das Deutsche steht aber höher als das Preußische.“121 Rudolf Craemer argumentierte 1938 mit seinem Aufsatz über dessen vermeintlich „völkische Haltung“ in einer ähnlichen Richtung: „Seine leidenschaftlich bekennende und künstlerisch erlebende Geschichtsschreibung gilt auch der nationalsozialistischen Bewegung als ein Teil deutscher Vergangenheit, deren Überlieferung im neuen Werden fruchtbar bleibt, sie wird Beispiel echter Wissenschaft im Dienste der Nation gegenüber der bloßen Zunft, die sich in For‐ scherstuben vergräbt, um den Entscheidungen des Handelns und den Ansprüchen der Gemeinschaft entfliehen zu können.“122 Hier ist das Bemühen erkennbar, in Treitschke einen Vorläufer der Bemühungen um die Zusammenfassung des Reiches mit dem deutschsprachigen Teil Österreichs zu sehen. Die Grundlage seines natio‐ nalpolitischen Denkens sei somit eine „völkische Reichsidee“ gewesen,123 und in der „deutschen Zweiheit“ habe er „die gegenseitige Pflicht einer gesamtvölkischen Reichspolitik“ gesehen. Inhaltlich war das völlig substanzlos. Eine „gesamtdeutsche Geschichtsauffassung“ unter Einbeziehung Österreichs konnte sich daher keines‐ wegs auf ihn berufen – wollte sie intellektuell ernst genommen werden.124 Zu offen hatte er sich dahingehend geäußert, dass das Deutsche Reich die Aufnahme der Deutsch-Österreicher aufgrund ihrer Vielvölkerproblematik nicht verkraften könne; hier war er ganz der typische Kleindeutsche seiner Zeit. Treitschke war dafür zu realpolitisch orientiert, oder besser: staats-, und eben nicht volksorientiert. Der Gedanke eines Zusammenschlusses mit Österreich ist bei ihm nicht zu finden. Ganz im Gegenteil: Sein deutschlandpolitisches Denken war ganz und gar auf den preußisch-österreichischen Dualismus ausgerichtet. So schrieb er etwa im Juli 1877 an seinen Freund Overbeck: „könnte ich den Lauf der Welt bestimmen, so blieben Deutschland und Österreich in alle Ewigkeit zwei Reiche.“125 120 Vgl. die Auszüge aus Alfred Rosenbergs Ausgabe der „Deutschen Geschichte“ in Gerhards 2013, S. 216-224. 121 Steding 1938, S. 487. 122 Craemer 1938, S. 77. 123 Craemer 1938, S. 93f. 124 Srbik 1930, S. 3f., hatte bei aller grundsätzlichen Verehrung für Treitschke darauf schon 1930 hingewiesen. 125 Treitschke 1920, S. 447 (30. Juli 1877, an Franz Overbeck). Schon 13 Jahre zuvor hatte er Ähnliches seinem Vater gegenüber ausgedrückt: „Ich aber will ein Deutscher bleiben und ein Protestant und werde nie den undeutschen, katholischen Despotismus des Hauses Oesterreich preisen.“ Treitschke 1913b, S. 352 (19. November 1864). Ähnliche Beispiele lassen sich in Hülle und Fülle auch in Treitschkes Werken finden.

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Auch in Hinsicht auf die „Judenfrage“ erkannten manche Vertreter einer natio‐ nalsozialistischen Historie recht klar, dass Treitschke von einem gänzlich anderen Standpunkt aus argumentierte. Dieser „Historiker und Nationalist“, heißt es bei einem Schüler Wilhelm Mommsens, habe eine „eindeutige Klärung der Judenfrage“ verzögert, da er als Wissenschaftler noch den „liberalen Einflüssen“ seiner Zeit unterlegen sei: „Für ihn ist nicht das Volk das Primäre, sondern der Staat und seine Erfordernisse.“126 Erich Keyser und andere hatten das erkannt: „Ganz abgesehen davon, dass die sogenannte nationale Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts sehr stark mit liberalen Gedanken durchsetzt war, unterscheidet sie sich von der völkischen Geschichtsauffassung dadurch, dass sie vom Staate und seinen führen‐ den Schichten ausging und nicht vom Volke in der ganzen Breite seines Daseins. Die kleindeutsche wie die großdeutsche Staats- und Geschichtsauffassung haben mit der völkischen Geschichtsauffassung nichts gemein. Staatsgrenzen sind nicht Volksgrenzen, nationale Gesinnung ist stets auf den Staat bezogen. Völkische Gesin‐ nung schweift über den Staat und seine Grenzen hinaus.“127 So lässt sich am Ende pointiert formulieren, dass es nicht zuletzt Treitschkes Staatsfixierung war, die ihn vor einer intellektuell gerechtfertigten Vereinnahmung durch die Nationalsozialisten bewahrte.128

4. Fazit „So gewinnt man immer von neuem die Einsicht, daß es nicht die Aufgabe der Staats‐ wissenschaft sein kann, sich irgendein phantastisches Luftgebilde zu konstruieren, daß wahrhaft human nur ist, was in den historischen Tatsachen des wirklichen Lebens wur‐ zelt. In Abstoßung und Anziehung vollenden sich die Schicksale der Staaten kraft einer Entwicklung, deren letzte Ziele den Sterblichen verhüllt sind, und deren Richtung wir nur bisweilen ahnen können. Es gilt zu verstehen, wie die göttliche Vernunft in dieser Mannigfaltigkeit des wirklichen Lebens sich nach und nach offenbart hat, es gilt nicht die Geschichte zu meistern. Das ist auch das Große des praktischen Staatsmannes, daß er die Zeichen der Zeit zu deuten weiß und ungefähr zu erkennen vermag, wie sich die Weltgeschichte in einem gegebenen Momente entwickeln wird. Nichts geziemt auch dem Politiker mehr als Bescheidenheit.“129

In Treitschkes Staatsverständnis verbindet sich wissenschaftsgeschichtlich der An‐ spruch des Staatswissenschaftlers und Historikers auf eine vergleichende Analyse zeitgenössischer Verfassungen mit dem Streben des nationalliberalen Publizisten, 126 Müller 1940, S. 30. 127 Keyser 1933, S. 6. 128 Dies wird allgemein auch festgestellt für den Gegensatz einer Fokussierung auf „Staat“ oder „Volk“ von Maier 2012, S. 163, und Metzler 2018, S. 42. Zu den „sharp differences“ zwi‐ schen Treitschke und den Nationalsozialisten vgl. Dorpalen 1957, S. 299-303. 129 Treitschke 1911, S. 575.

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den bestmöglichen Staat für Deutschland wissenschaftlich zu begründen und poli‐ tisch zu propagieren. Grundiert wird all dies durch den Individualitätsgedanken des klassischen Historismus, wie er nicht zuletzt auch von Savigny und der historischen Rechtsschule vertreten wurde, dass jedem Staat eine ihm spezifische Verfassung zustehe, die historisch gewachsen und damit „sinnvoll“ ist. Der „beste Staat“ war für Treitschke die konstitutionelle Monarchie – mit einer starken monarchischen Spitze auf der einen, einem v.a. nur kontrollierenden Par‐ lament auf der anderen Seite. Das Reich von 1871 entsprach zwar keineswegs seinem Traum eines unitarischen Einheitsstaates, erschien ihm gleichwohl historisch legitimiert und alleine daher schon „sinnvoll“. Die konstitutionelle Monarchie war für ihn auch nicht die Vorstufe zur parlamentarischen Regierungsweise und sollte es nicht sein – sondern tatsächlich ein eigenständiges System mit signifikanten Unterschieden zu den Entwicklungen in Westeuropa: Es sei ein Verdienst, „daß das constitutionelle System, das fast in allen anderen Ländern die Verwaltung verbildet und verdirbt, in Deutschland die Sicherheit des öffentlichen Rechts unleugbar geför‐ dert hat.“130 Treitschke mag als vielbeachteter Vertreter des Machtstaates einen dunklen Ein‐ fluss auf die politische Kultur des Deutschen Reiches ausgeübt haben. Historisch wichtiger waren aber die Folgen eines halbkonstitutionellen Verfassungssystems in einem „autoritären Nationalstaat“ (W.J. Mommsen), dessen Wahlrecht zwar ver‐ gleichsweise fortschrittlich war – gleichwohl keine Möglichkeit einer Regierungsbil‐ dung aus dem Parlament zuließ. Die Folgen für die parlamentarische Kultur und die politischen Parteien stellten sich im 20. Jahrhundert als verheerend heraus. Sein Glaube an die Vernunft der Geschichte „ließ auch auf die Macht im Staate ein Licht fallen, das sie übermäßig verklärte. Aber wenn das ein Irrtum war, so war es ein Ehrfurcht erweckender Irrtum. Vor denjenigen Epigonen dieses Irrtums freilich, die seine idealistischen Grundlagen durch einen groben Naturalismus und Biologismus ersetzten, will die Ehrfurcht nicht aufkommen.“131 Sein Staatsverständnis dürfte sich nur wenig von seinen zeitgenössischen Fach‐ kollegen unterschieden haben, wenn sie sich politisch wie er im liberal-konservati‐ ven Milieu bewegten – und das war bei den meisten der Fall. Auch sein Großmacht‐ denken zeigt ihn – im Gegensatz zur „Weltpolitik“ seit den 1890er Jahren – noch ganz als Vertreter des 19. Jahrhunderts.132 Was ihn hingegen so prominent und berüchtigt machte, das war – abgesehen von seinem blendenden Stil – einerseits seine exponierte Stellung als publizistisch gefeierter Historiker, der weit über die Fachgrenzen hinaus bekannt war. Hinzu kamen seine teils drastischen oder zuge‐ spitzten Formulierungen, die Aufmerksamkeit erregten und einseitige Deutungen 130 Treitschke 1886, S. 634. 131 Meinecke 1924, S. 510. 132 Vgl. Gerhards 2016.

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nahelegten. Wenn Staaten für Ranke „Gedanken Gottes“ waren, dann klang das harmloser und vergeistigter als Treitschkes realpolitisches Credo, dass es Staaten an erster Stelle um ihre Macht gehe – und bekanntlich auch an zweiter und dritter Stelle. Einen faktischen Unterschied gab es hingegen allenfalls graduell. Ranke gegenüber erschien er als Machiavellist, in der Retrospektive gar als Vordenker deutscher Welteroberungsgelüste in zwei Weltkriegen. Aber schon Meinecke und andere Zeitgenossen, die oft nicht dem konservativen oder nationalistischen Milieu zuzurechnen waren, hatten erkannt, dass man genauer hinsehen musste. Jedenfalls führten allenfalls Umwege von seinen Werken ins „Dritte Reich“ – und es war nicht zuletzt sein Staatsverständnis, in dem gerade die Vertreter einer NS‑Historie gravierende Unterschiede zu ihren eigenen Zielvorstellungen zugeben mussten: An die Stelle des Staates war jetzt das Volk getreten, mit katastrophalen Konsequenzen.

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Hans-Christof Kraus Gustav Schmollers Staatsverständnis

Als führender und politisch wohl einflussreichster deutscher Staats- und Wirtschafts‐ wissenschaftler seiner Zeit hat Gustav Schmoller bis zu seinem Tod im vorletzten Kriegsjahr 1917 die wissenschaftlich-politischen Debatten über das Verhältnis von Staat und Wirtschaft wesentlich mitgeprägt. Im Gegensatz zu den meisten seiner Nachfolger und zu den zentralen Vertretern seiner Disziplin im 20. Jahrhundert ent‐ stammte der 1838 in Heilbronn geborene Schmoller noch vollständig der Tradition der alten deutschen Staats- und Kameralwissenschaften, von denen die diversen Arten und rechtlich geregelten Formen des Wirtschaftens innerhalb eines Gemein‐ wesens als ein wesentlicher Teil der Staatstätigkeit aufgefasst, dargestellt und un‐ tersucht wurden. Neu hinzugekommen war seit etwa Mitte des 19. Jahrhunderts jedoch auch die historische Analyse, die nun präziser als vorher die diachrone Entwicklung des Verhältnisses zwischen politischen Institutionen und ökonomischer Tätigkeit, zwischen Staatsbildung und Entwicklung des Wirtschaftslebens in den Blick nehmen konnte – dies alles freilich stets mit der Perspektive auf die konkreten ökonomischen Probleme und praktischen Erfordernisse der jeweiligen Gegenwart1. Diese beiden untrennbaren Aspekte: der Bezug des Wirtschaftens auf die Entwick‐ lung des Staates und die nicht allein gegenwartsbezogene, sondern auch historische Analyse, bestimmten die wissenschaftliche Tätigkeit Schmollers ebenso wie sein Staatsverständnis. Gustav Schmoller absolvierte als Teil eines in Süddeutschland seit den 1850er Jahren sich langsam ausbreitenden Netzwerks kleindeutsch und propreußisch orien‐ tierter Gelehrter, Publizisten und Politiker eine bereits früh einsetzende und schon bald steil nach oben führende wissenschaftliche Karriere2, die ihn von einem – 1 Vgl. Kurt Stavenhagen: Geschichte der Wirtschaftstheorie (Grundriß der Sozialwissenschaft, 2), 4. Aufl. Göttingen 1969, S. 23-28, 191-202; Harald Winkel: Die deutsche Nationalökonomie im 19. Jahrhundert (Erträge der Forschung, 74), Darmstadt 1977, S. 82-121. 2 Hierzu neuerdings Jens Herold: Der junge Gustav Schmoller. Sozialwissenschaft und Liberal‐ konservatismus im 19. Jahrhundert (Bürgertum – Neue Folge, 19), Göttingen 2019, S. 55-100. Bis heute fehlt eine wissenschaftliche Biographie, aus der älteren Literatur bleiben wichtig Carl Brinkmann: Gustav Schmoller und die Volkswirtschaftslehre, Stuttgart 1937, sowie die Überbli‐ cke von Karl Heinrich Kaufhold: Gustav von Schmoller (1838-1917) als Historiker, Wirt‐ schafts- und Sozialpolitiker und Nationalökonom, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirt‐ schaftsgeschichte 75 (1988), S. 217-252; Nicholas W. Balabkins: Not by Theory alone … – The Economics of Gustav von Schmoller and Its Legacy to America (Volkswirtschaftliche Studien, 382), Berlin 1988; Harald Winkel: Gustav von Schmoller (1838-1917), in: Joachim Starbatty (Hrsg.): Klassiker des ökonomischen Denkens, Bd. 2, München 1989, S. 97-118; Rüdiger vom

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ohne Habilitation erlangten – Lehrstuhl in Halle über die 1872 neu gegründete Reichsuniversität Straßburg schließlich 1881 in die Hauptstadt des neuen Deutschen Reiches, an die Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin führte. Schmoller verstand sich stets als politischer Gelehrter im Sinne der damaligen deutschen Tradition des „politischen Professors“3, griff jedoch niemals aktiv in das politische Leben – etwa als Parlamentsabgeordneter – ein, sondern sah sich eher als Beobachter, Kommen‐ tator und Analytiker des Geschehens. Tatsächlich absolvierte er, wie sein Schüler Carl Brinkmann einmal anmerkte, „eine Laufbahn mit Möglichkeiten nicht nur der Wirksamkeit, sondern vor allem der Beobachtung und Erfahrung an staatlicher Wirtschaftspolitik, wie sie wohl kaum einem deutschen Nationalökonomen vor- oder nachher wieder gegönnt worden sind“4. Als junger Extraordinarius (1864) und kurz darauf bereits Ordinarius (1865) für Staatswissenschaften an der Friedrichs-Universität zu Halle hatte Schmoller neben rein ökonomisch ausgerichteten Lehrveranstaltungen auch eine Vorlesung über „Po‐ litik oder allgemeine Staatslehre“ zu halten, deren Manuskripte zum größeren Teil in seinem Berliner Nachlass erhalten sind5. Hierin finden sich Äußerungen und Feststellungen, die belegen, dass die zentralen Aspekte von Schmollers Staatsver‐ ständnis in den Grundzügen und Hauptgedanken bereits sehr früh ausgeprägt waren. Hierzu gehört erstens das Postulat eines untrennbaren, wenn auch in der jeweiligen Intensität wechselnden Zusammenhangs von Staat und Gesellschaft: „Die ganze Staatswissenschaft ist socialpolitisch. Der Staat ist allen Einwirkungen der Natur u. der Gesellschaft ausgesetzt; umgekehrt spiegeln sich die politischen Verhältnisse selbst in den freiesten gesellschaftl. Beziehungen […] wider“. Dass sich allerdings

Bruch: Gustav Schmoller: Zwischen Nationalökonomie und Geschichtswissenschaft, in: dersel‐ be, Gelehrtenpolitik, Sozialwissenschaften und akademische Diskurse in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert, hrsg. v. Björn Hofmeister / Hans-Christoph Liess, Stuttgart 2006, S. S. 230-249. Einzelne fachhistorische Aspekte beleuchten Heinrich Herkner: Gustav Schmoller als Soziologe, in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik 118 (1922), S. 1-8; Joseph A. Schumpeter: Gustav v. Schmoller und die Probleme von heute, in: derselbe: Dogmenhistorische und biographische Aufsätze, Tübingen 1954, S. 148-199, sowie Fritz Hartung: Gustav Schmol‐ ler und die preußische Geschichtsschreibung, in: derselbe: Staatsbildende Kräfte der Neuzeit. Gesammelte Aufsätze, Berlin 1961, S. 470-496. Wichtig zum Kontext der Entwicklung von Schmollers Ideen zur staatlichen Sozialreform ebenfalls Eric Grimmer-Solem: The Rise of His‐ torical Economics and Social Reform in Germany 1864-1894, Oxford 2003, dazu auch HansChristof Kraus: Review Article, in: German Historical Institute London Bulletin, Bd. 27, Nr. 2, November 2005, S. 83-92. 3 Dazu vor allem Friedrich Meinecke: Drei Generationen deutscher Gelehrtenpolitik. Friedrich Theodor Vischer – Gustav Schmoller – Max Weber (1922), in: derselbe: Werke, Bd. 9: Bran‐ denburg – Preußen – Deutschland. Kleine Schriften zur Geschichte und Politik, hrsg. v. Eber‐ hard Kessel, Stuttgart 1979, S. 476-505. 4 Brinkmann: Gustav Schmoller (Anm. 2), S. 116. 5 Geheimes Staatsarchiv Berlin Preußischer Kulturbesitz [künftig: GStA PK], VI. HA, Nl. Schmoller, Nr. 89 („Theile einer Vorlesung über Politik“), hiernach die folgenden Zitate. – Eini‐ ge knappe Bemerkungen zu dieser Vorlesung neuerdings bei Herold: Der junge Gustav Schmol‐ ler (Anm. 2), S. 227 f.

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auch „Staat u. Gesellschaft nie vollständig decken, ja zu Zeiten sogar eine große Kluft zwischen beiden sein kann, ist nothwendige Folge der histor. Entwicklung u. d. menschl. Unvollkommenheit“, denn es kann Zeiten geben, in denen „die Ansprü‐ che der socialen Klassen mit ihrem Egoismus sich mehr geltend“ machen, deshalb „unterliegt die Staatsgewalt oft dem einen oder and. Sonderinteresse“. Mit Blick auf die neuere historische Entwicklung aber gilt, heißt es weiter: „Die Geschichte des modernen Staats besteht in der Erstarkung der Staatsgewalt über die socialen Genossenschaften. Der Feudalstaat ist eine überwuchernde Herrschaft der Gesell‐ schaft über den Staat“6. Schon die frühe Lehre Schmollers von der Staatsgewalt erweist sich, zweitens, als ausführlich angelegter Versuch einer theoretischen Fundierung der konstitutionellen Monarchie. An der notwendigen Einheitlichkeit der Staatsgewalt lässt er von Anfang an keinen Zweifel: diese ist nach seiner Definition „ein einheitlich organisierter Gesamtwille; sie ist souverän; sie hat einen öffentlich rechtlichen Charakter, keinen privaten“7. Sowohl die ältere „absolutist. Lehre von der Fürstensouveränität“ als auch die neuere „demokratische Lehre von den Volkssouveränität“ charakterisiert der junge Gelehrte ausdrücklich als „falsch“8. Vor allem dann, wenn „die Staatsge‐ walt nur Einem Körper, einem Senat, einem Parlament übertragen [wird], so ist die Majorität dieses die herrschende Einheit. Das ist aber wieder keine Garantie gegen Mißbrauch“9. Um die Möglichkeit beider Formen eines Machtmissbrauchs – entweder durch einen absoluten Herrscher oder durch ein mit uneingeschränkter Macht agierendes Parlament – zu vermeiden, ist „die höchste Staatsform die, welche das ganze Volk an d. Staatsgewalt Theil nehmen läßt. Dabei ist aber die Einheit schwer zu retten[;] um sie zu erhalten, muß die persönliche fürstl. Gewalt beibehal‐ ten werden, neben der die Vertretung des Volkes steht. Beide zusammen aber nur in ihrer Einheit sind die Staatsgewalt“, und deshalb kommt es darauf an, die einzelnen Faktoren der Staatsgewalt „so zu organisieren, daß die Einheit des Handelns […] nicht verloren geht“ 10. Die Souveränität wiederum schreibt er – in tatsächlich auffäl‐ liger Analogie zum britischen „King in Parliament“ – dem „organisierten Volk“ zu: „Das organisirte Volk, das Volk vertreten durch Fürst u. Parlament ist souverän, das Volk als Masse, wie als Einzelner ist nicht souverän, ist Unterthan“11. Die Zitate: Schmoller: Theile einer Vorlesung über Politik (Anm. 5), Bl. 69r-69v. Ebenda, Bl. 87r. Ebenda, Bl. 91r. Ebenda, Bl. 88v-89r. Die Zitate ebenda, Bl. 89r-89v. Vgl. auch Bl. 232r: „Die Schaffung einer […] nie unterbroche‐ nen Regierungsgewalt ist die erste Voraussetzung jedes Staats; die Gefahr liegt in dem mögli‐ chen Mißbrauch, in der Schwierigkeit, der Macht selbst gesetzliche Schranken vorzuschreiben. Dem lebenslängl. Wahlkönigthum, der Präsidentenwahl auf kürzere Zeit, der Regierung eines verantwortlichen Kollegiums ist sicher das erbliche Königthum umgeben von den Schranken einer constitutionellen Regierung vorzuziehen“. 11 Ebenda, Bl. 92v. – Schmoller hat sich bei der Ausarbeitung dieser Teile seiner Vorlesung offen‐ sichtlich in starkem Maße auf die Schriften Robert von Mohls gestützt, vor allem auf: Encyklo‐ 6 7 8 9 10

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Ganz im Stil seiner Epoche dachte auch Schmoller in den Kategorien des Fort‐ schrittsglaubens und einer klaren ethischen Zwecksetzung jeder Staats- und Wirt‐ schaftstätigkeit. Seine Sittlichkeit mache den Menschen erst zum Menschen, denn „durch die Sitte baut der Mensch in die Natur eine zweite Welt, die ‚Welt der Kultur‘ hinein“, zu der auch Staat und Volkswirtschaft gehörten. Tatsächlich gebe es „ohne feste Sitten […] keinen Markt, keinen Tausch, keinen Geldverkehr, keine Arbeitsteilung, keine Kasten, keine Sklaven, kein Staatswesen“12. Und diese – wenn auch erst nach und nach sich vollziehende – Entwicklung des Menschen vom bloßen Naturwesen zum Kulturwesen ist nach Schmoller als Resultat eines tatsächlichen sittlichen Fortschritts zu deuten. „Manche meinen“, heißt es am Schluss seines Hauptwerks, des zuerst 1900 erschienen „Grundrisses der Allgemeinen Volkswirt‐ schaftslehre“, „nur die Institutionen würden besser, nicht die Individuen. Aber die‐ se wirken doch auf die Menschen zurück. Ursprünglich war der Mensch fast ein Tier, heute wird er von Vernunft, höheren Gefühlen, kluger Einsicht und Fernsicht, steigendem Wissen beherrscht, und das macht ihn besser“13. Bereits zu Lebzeiten Schmollers und erst recht später sind sein Fortschrittsoptimismus und seine Idee einer sittlich zu begründenden Wirtschaftsordnung, vor allem von den Vertretern der „klassischen“, also strikt marktwirtschaftlich orientierten Ökonomie mit großer Schärfe kritisiert worden, so etwa von Ludwig Pohle, der in Schmollers Auffassung nur einen – schon im Ansatz verfehlten, daher zum Scheitern verurteilten – Versuch sah, „das Seinsollende aus dem Seienden selbst als notwendig abzuleiten“14. Der moderne Staat der Gegenwart repräsentiert nach Schmoller also die Spitze des historischen Fortschritts und deshalb erscheint es als notwendig, auch dessen Genese mit in den Blick zu nehmen, die von Schmoller bereits früh mit dem wohl zuerst von Hegel geprägten, erst später auch von der Geschichtswissenschaft aufgenommenen Begriff der Staatsbildung bezeichnet worden ist. Er verortet den Beginn dieser Staatsbildung historisch mit der Entstehung des merkantilistischen Wirtschaftssystems der Frühen Neuzeit: Der Merkantilismus sei „in seinem inners‐ ten Kern“ nichts anderes „als Staatsbildung – aber nicht Staatsbildung schlechtweg, pädie der Staatswissenschaften, Tübingen 1859, sowie: Ueber die verschiedene Auffassung des repräsentativen Systemes in England, Frankreich und Deutschland, in: Robert von Mohl: Staatsrecht, Völkerrecht und Politik. Monographien, Bd. I: Staatsrecht und Völkerrecht, Tübin‐ gen 1860, S. 33-65. 12 Gustav Schmoller: Über einige Grundfragen der Socialpolitik und der Volkswirthschaftslehre, Leipzig 1898, S. 47. 13 Gustav Schmoller: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre (zuerst 1900), Bde. I-II, 13.-14. Tsd., Leipzig 1920, hier Bd. II, S. 774; zur Bedeutung des „Grundrisses“ siehe auch Brinkmann: Gustav Schmoller (Anm. 2), S. 142-190, und Balabkins: Not by Theory alone (Anm. 2), S. 53-85. 14 Ludwig Pohle: Die gegenwärtige Krisis in der deutschen Volkswirtschaftslehre. Betrachtungen über das Verhältnis zwischen Politik und nationalökonomischer Wissenschaft, Leipzig 1911, S. 45; vgl. auch S. 3 ff. u. passim. Hierzu vgl. ebenfalls Kaufhold: Gustav von Schmoller (Anm. 2), S. 228 f., 236 u. a.

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sondern Staats- und Volkswirtschaftsbildung zugleich“, denn „Staatsbildung in dem modernen Sinne“ verfolge kein anderes Ziel, als „die staatliche Gemeinschaft zu‐ gleich zu einer volkswirtschaftlichen zu machen und ihr so eine erhöhte Bedeutung zu geben“15. Der Staat der beginnenden Moderne definiert sich nach Schmoller also ebenso durch seine Wirtschaftstätigkeit wie andererseits wiederum die neuzeitliche Volkswirtschaft ohne ihre Einbindung in die Institutionen, Ordnungen und Rahmen‐ bedingungen des modernen Staatswesens nicht zu denken ist. Diese enge Verbindung findet sich übrigens, wenn auch nur in rudimentärer Form, bereits in den frühesten menschlichen Gemeinwesen, deren Hauptfunktionen nach Schmoller in einer Siedlungs- und Wirtschaftsgemeinschaft bestehen. Und die‐ se Gemeinschaft wiederum ist in gleicher Weise auch als zweckgebundene Bluts-, Orts-, Kriegs- und Friedensgemeinschaft aufzufassen16. Erst mit der Erlangung hö‐ herer Kultur treten weitere soziale und kulturelle Zwecke hinzu; Schmoller nennt vor allem „Gottesdienst, Erziehung, Kunst, Gesundheitspflege und Ähnliches, wel‐ che soziale Beziehungen und Gemeinschaften und damit neue Vorstellungsreihen, Gefühle und Ziele des Handelns erzeugen“. Denn nun bilden sich ebenfalls „jene hö‐ heren Funktionen und Formen des gesellschaftlichen Lebens wie Sitte, Recht, Mo‐ ral, Religion, deren Entwickelung zuerst als Mittel für die älteren nächstliegenden Zwecke, dann aber als Selbstzweck und beherrschender Regulator alles Handelns erscheint“; hieraus entstehen wiederum neue gesellschaftliche Beziehungen und Ge‐ meinschaften17 – ein Vorgang, den die Soziologie des späten 20.Jahrhunderts einmal als „funktionale Ausdifferenzierung“ der Gesellschaft bezeichnen wird18. In dieser äußerst komplexen Verbindung menschlicher Ziele und Zwecke und der Entstehung und Weiterbildung von Institutionen liegt, wie Schmoller nachdrücklich betont, „das Geheimnis der sozialen Organisation, […] der Punkt, von dem aus es zu verstehen ist, daß Familien-, Rechts-, Staats- und Wirtschaftsverfassung sich stets gegenseitig bedingen, nie getrennt verstanden werden können“19. Staat und Wirtschaft sind nach Schmoller, dies bleibt festzuhalten, also keine autonomen Wertsphären (die in die‐ sem Fall ausschließlich nach eigengesetzlichen Regeln funktionierten und deshalb auch isoliert betrachtet werden müssten).

15 Gustav Schmoller: Das Merkantilsystem in seiner historischen Bedeutung: städtische, territo‐ riale und staatliche Wirtschaftspolitik [1884], in: derselbe: Umrisse und Untersuchungen zur Verfassungs-, Verwaltungs- und Wirtschaftsgeschichte besonders des Preußischen Staates im 17. und 18. Jahrhundert, Leipzig 1998, S. 1-60, hier S. 37; vgl. zur modernen Staatsbildung ebenfalls derselbe: Grundriß (Anm. 13), Bd. II, S. 627 ff.; dazu auch vom Bruch: Gustav Schmoller (Anm. 2), S. 247 f. 16 Schmoller: Grundriß (Anm. 13), Bd. I, S. 6 ff. 17 Die Zitate ebenda, S. 9. 18 Niklas Luhmann: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt a. M. 1984, S. 24 ff. u. passim. 19 Schmoller: Grundriß (Anm. 13), Bd. I, S. 9.

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Das große Paradigma moderner Staatsbildung im mitteleuropäischen Raum er‐ kennt Gustav Schmoller in der Entwicklung Brandenburg-Preußens seit dem Drei‐ ßigjährigen Krieg: Durch die energische Amtstätigkeit mehrerer begabter und ehr‐ geiziger Herrscher sowie einer besonders befähigten Beamtenelite sei es seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts gelungen, „aus den sprödesten Elementen, weit auseinander liegenden, einander fast feindlich gegenüberstehenden Territorien ein finanzielles, wirtschaftliches und militärisches Ganze zu machen, wie es kein zwei‐ tes auf dem Kontinente gab“; gleichzeitig war es möglich, trotz aller vorhandenen Widerstände und begrenzten Möglichkeiten, „eine geschlossene Einheit in finanziel‐ ler, rechtlicher und wirtschaftlicher Beziehung innerhalb der einzelnen Provinzen herzustellen“. Diese damals beginnende umfassende „Reform und Centralisation der inneren Verwaltung, die Verwandlung der Territorialwirtschaften in eine ‚Volks’wirt‐ schaft“ stand zugleich in engster Verbindung mit der Ausprägung des Merkantilsys‐ tems; d. h. auch hier ergänzten sich „innere und äußere Wirtschaftspolitik […] als die unentbehrlichen Bestandteile desselben Systems“20. Der „deutsche Beamtenstaat“, dessen Leistungen Schmoller im März 1894 im Rahmen eines vielbeachteten Vortrags auf dem Leipziger Historikertag in den höchsten Tönen zu rühmen wusste, verkörperte sich für ihn in erster Linie im preußischen Beispiel: In den Jahren zwischen 1680 und 1722 sei, führte er hier aus, durch die Etablierung der Oberbehörden (Provinzialkammern, Kriegskommissa‐ riate, der Berliner Hofkammer) „die wahre Staatseinheit Preußens begründet und der wichtigste Teil des Beamtentums groß gezogen worden, das die altpreußischen Staatseinrichtungen schuf“21 und zugleich weit über die Grenzen des Kurfürsten‐ tums und späteren Königreichs ausstrahlte. Zugleich habe der, in seinen Restbestän‐ den noch bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts hineinragende, frühneuzeitliche Beamtenstaat folgerichtig den Weg zum Staat der Gegenwart gebahnt, denn „der freie Verfassungsstaat mit seiner Selbstverwaltung, seinem Parlament, mußte den Beamtenstaat ablösen. Aber verstehen wird auch heute den deutschen Verfassungs‐ staat nur, wer seine Entstehung aus dem letzteren erkennt“22. Schmoller konstruiert hier nicht nur eine Art historischer Stufenfolge vom mittelalterlichen Feudalstaat über den frühneuzeitlichen Beamtenstaat hin zum modernen Verfassungsstaat der konstitutionellen Monarchie, sondern deutet die preußische Staatsbildung zugleich als „nationale“ Politik im Sinne einer langfristigen Vorbereitung späterer politischer

20 Die Zitate: Schmoller: Das Merkantilsystem (Anm. 15), S. 41 f.; vgl. ebenfalls Gustav Schmol‐ ler: Preußische Verfassungs-, Verwaltungs- und Finanzgeschichte, Berlin 1921, S. 66 ff. 21 Gustav Schmoller: Der deutsche Beamtenstaat vom 16.-18. Jahrhundert. Rede gehalten auf dem deutschen Historikertag zu Leipzig am 29. März 1894, in: derselbe: Kleine Schriften zur Wirtschaftsgeschichte, Wirtschaftstheorie und Wirtschaftspolitik, hrsg. v. Wolfram Fiedler / Rolf Karl, Bd. 2, Leipzig 1985, S. 711-730, hier S. 719. 22 Ebenda, S. 730.

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Einigung Deutschlands unter Führung des Hauses Hohenzollern23. Dies entsprach den Glaubenssätzen der damals dominierenden kleindeutsch-borussischen Histori‐ kerschule24, die Schmoller also nicht nur teilte, sondern ebenfalls mit verwaltungsund wirtschaftshistorischen Argumenten zu untermauern versuchte. Neben der historischen Perspektive hat Schmoller jedoch ebenfalls – wiederum in seinem „Grundriß“25, den man nicht nur als Hauptwerk, sondern auch als Summe seines Denkens verstehen muss – eine systematisch und zugleich allgemeinhisto‐ risch argumentierende Theorie des Staates entwickelt. Die in der Tat überzogene These seines prominenten Berliner Fakultätskollegen, des Althistorikers Eduard Meyer, der bereits die vorgeschichtlichen Urhorden der Menschen als rudimentäre „Staaten“ auffasste26, wies Schmoller ebenso entschieden zurück wie die frühneu‐ zeitliche staatsphilosophische Vertragstheorie oder auch die auf Aristoteles zurück‐ gehende Auffassung, „daß durch Vergrößerung der patriarchalischen Familie die Gemeinden und Staaten entstanden seien“27. Für den Ökonomen Schmoller entsteht der moderne Staat zugleich aus seinen beiden zentralen Funktionen als menschliche Schutz- und ebenfalls als ökonomische Selbsterhaltungsgemeinschaft, die als solche zuerst einen festen sozialen Körper bildet. Insofern sollte man, so Schmoller, „den Begriff des Staates doch besser auf diejenigen größeren sozialen, meist seßhaften Körper“ beschränken, die „1. keine Staatsgewalt über sich haben, 2. in sich eine feste, mit Machtzwang und Befehlsge‐ walt ausgerüstete oberste Regierungsgewalt geschaffen haben“ – sowohl nach außen geschützt durch „kriegerische Organisation“ als auch nach innen organisiert durch eine eigene Wirtschaftstätigkeit, denn einer der wichtigsten Kennzeichen des „sozia‐ len Körper[s], den wir jetzt Staat nennen“, besteht darin, „daß er Staatseigentum neben dem Privateigentum, Staatsvermögen, einen großen öffentlichen Haushalt hat oder nach und nach ausbildet; die Ausbildung desselben, der Finanz, ist die wirt‐ 23 Schmoller: Das Merkantilsystem (Anm. 15), S. 41 f.: „Die Signatur der preußischen Politik von 1860 bis 1786 ist durch die Art bedingt, wie dieser Staat auf schmaler und gespaltener geogra‐ phischer Basis den großen nationalen Gesichtspunkt deutsch-protestantischer und merkantilis‐ tischer Politik in Verbindung brachte mit den überkommenen Aufgaben territorialer Verwal‐ tung, wie er fast nur mit territorialen Mitteln nationale und staatliche Politik größten Stiles in Krieg und Frieden, in Verwaltung und Volkswirtschaft trieb“. 24 Dazu vor allem Jürgen Mirow: Das alte Preußen im deutschen Geschichtsbild seit der Reichs‐ gründung (Historische Forschungen, 18), Berlin 1981, S. 44-82; Wolfgang Hardtwig: Von Preußens Aufgabe in Deutschland zu Deutschlands Aufgabe in der Welt – Liberalismus und borussianisches Geschichtsbild zwischen Revolution und Imperialismus, in: derselbe, Ge‐ schichtskultur und Wissenschaft, München 1990, S. 103–160, und neuerdings eingehend, auch Schmoller ausführlich berücksichtigend, Wolfgang Neugebauer: Preußische Geschichte als ge‐ sellschaftliche Veranstaltung. Historiographie vom Mittelalter bis zum Jahr 2000, Paderborn 2018, S. 217 ff., 271 ff.; zu Schmoller auch S. 323-342. 25 Siehe oben, Anm. 13. 26 Eduard Meyer: Geschichte des Altertums, Bd. I/1: Elemente der Anthropologie, 2. Aufl. Stutt‐ gart – Berlin 1907, S. 10 ff. 27 Schmoller: Grundriß (Anm. 13), Bd. I, S. 289; zum Folgenden auch S. 289 ff.

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schaftliche Seite der Entstehung des Staates resp. seiner festen politischen Spitze, seiner Regierungsgewalt“28. Auch bei der Entstehung des neuzeitlichen Staates in Europa, d. h. „innerhalb der ursprünglich kleinen und dann immer größer werdenden Gebiete und Menschen‐ zahlen, die einen einheitlichen politischen Körper bilden“, ist die wirtschaftliche Entwicklung stets aufs engste mit der politischen verknüpft. Denn in der Zeit vom 15. bis zum 16. Jahrhundert setzten Entwicklungen ein, „die über den territorialen Staat und die territoriale Wirtschaft hinausführten zum nationalen Staat und der modernen staatlich umgrenzten und geleiteten Volkswirtschaft“29 – zwei Vorgänge, die als solche, wie Schmoller nicht müde wird zu betonen, untrennbar miteinander verbunden sind. Der moderne Staat wiederum, der sich seit dem Ende des 18. Jahrhunderts in Europa herausgebildet hat, vermehrt schließlich die von ihm verfolgten Zwecke um ein Beträchtliches. Von der alten frühneuzeitlichen „Macht-, Rechts- und Friedensor‐ ganisation“30 mit den hierfür notwendigen vom Umfang her allerdings noch sehr begrenzten bürokratischen Apparaten und Institutionen erweitert er sich zu einem umfassenden politischen Gebilde, das neben der politischen Integration zugleich zentrale Steuerungsfunktionen wahrzunehmen hat31, jedoch gleichzeitig, um eben diese Aufgaben erfüllen zu können, nach einer treffenden Formulierung Karl Hein‐ rich Kaufholds „als neutrale Kraft über den Klassen“ stehen und dabei verhindern muss, dass eine Klasse die politische Herrschaft an sich reißen kann. Dabei setzt er „auf die Objektivität des Beamtentums und (vor allem) auf die ausgleichende Macht eines sozialen Königtums“32. Um jedoch diese ökonomisch-sozialen und politischen Steuerungsfunktionen erfolgreich und zum Wohl des ganzen Gemeinwesens aus‐ üben zu können, bedarf es nach Schmoller eines annähernden Gleichgewichts zwi‐ schen privater und staatlicher Wirtschaftstätigkeit, die sich beide also „die Wage [sic] halten, sich gegenseitig korrigieren“33 müssen. Wie weit der Staatseinfluss auf die Organisation der Wirtschaft in einem Land gehen könne, hänge freilich immer von den jeweiligen Umständen ab34. Damit ist ein weiterer zentraler Aspekt des Schmollerschen Verständnisses von Staat und Wirtschaft berührt: die Relativierung vermeintlich allgemeiner Thesen durch steten Bezug auf konkrete gegebene Verhältnisse. Joseph Schumpeter hat 28 29 30 31 32 33 34

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Die Zitate ebenda I, S. 289 f. Die Zitate ebenda I, S. 300, 318. Ebenda I, S. 342. Dazu auch Herold: Der junge Gustav Schmoller (Anm. 2), S. 107 ff. Kaufhold: Gustav von Schmoller (Anm. 2), S. 235. Schmoller: Grundriß (Anm. 13), Bd. I, S. 344. Schmoller bringt u. a. folgendes Beispiel: „Ein Staatseisenbahnsystem ist in einem gut regier‐ ten monarchischen Staate mit tüchtigen Beamten vielleicht ebenso zu empfehlen wie in einem Lande mit bestechlichen Beamten und ausgedehnter parlamentarischer Patronage zu widerra‐ ten“ (ebenda I, S. 344).

genau diesen Aspekt präzise auf den Begriff gebracht, wenn er anmerkt, die Natio‐ nalökonomie Schmollers wolle zuerst und vor allem „konkrete Lagen konkreter Volkswirtschaften verstehen und Relevantes über ihre konkreten Probleme sagen“, und genau aus diesem Grunde werde alles dasjenige zu seinem Hauptuntersuchungs‐ objekt, was die klassische „theoretische Sozialökonomie“ reichlich vorschnell als bloß „gegeben“ annehme und daher in der Regel vernachlässige35. Jede Art von dogmatischer Verfestigung im Sinne allgemeingültiger ökonomischer Gesetze war Schmoller suspekt – und das konnte er sogar auf die vorhandenen, damit unverän‐ derlichen geographischen Gegebenheiten eines Landes, eines Volkes, einer Kultur beziehen36. Ein wie auch immer gearteter geographischer Determinismus war sei‐ nem Staatsverständnis fremd. Für ihn, dessen wissenschaftliche Methode durchaus treffend als „empirischer Realismus“ bezeichnet worden ist37, wirkte auf die jeweili‐ ge Gestaltung eines konkret vorhandenen Staats- und Wirtschaftslebens eine Fülle unterschiedlichster Faktoren ein. Wie sich der wirtschaftende Staat im Einzelnen gestalte, das hänge zugleich, wie Schmoller an zentraler Stelle betont, „von den großen vorherrschenden Ideen über Gemeinschaft und individuelle Freiheit, von den einschlägigen Gefühlen, von den Sitten und Rechtssätzen, den Institutionen und moralisch-politischen Ordnungen, dem Ämterwesen und der monarchischen oder sonstigen Zentralgewalt ab, wie sie auf dem Boden der realen Geschichte jedes Staates, hauptsächlich unter dem Drucke der feindlichen Mächte und der großen Ereignisse seine Entwicklung beherrschen. Diese Ursachen in ihrer Gesamtheit be‐ stimmen das geistige und politische Leben der Staaten“38. In einer Fußnote seiner bemerkenswerten Abhandlung über „Schmoller und die Probleme von heute“ hat Schumpeter das Schmollersche Staatsverständnis dahinge‐ hend charakterisiert, „daß die Verwaltungs- und Gesetzgebungsmaschine, die wir Staat nennen, das gegebene Subjekt […], das wesentliche Instrument“39 eines Wol‐ lens darstelle, das im Kern auf einen, gerechten Maßstäben folgenden, sozialen und politischen Ausgleich gerichtet sei – einen Ausgleich, der im Rahmen gegebener 35 Schumpeter: Gustav v. Schmoller (Anm. 2), S. 148-199, hier S. 164 f. 36 Vgl. Schmoller: Grundriß (Anm. 13), Bd. I, S. 131: Die geographische Geschlossenheit eines politisch-wirtschaftlichen Gebildes (Inseln, Halbinseln, durch Gebirge u. Ä. abgegrenzte Ge‐ biete) habe, historisch betrachtet, manche „Länder zu natürlich geschlossenen, einheitlichen Schauplätzen des wirtschaftlichen und politischen Lebens gemacht. […] Die phönizische Kul‐ tur konnte nur in der Ecke des Mittelmeeres, die ägyptische nur am Nil, Deutschlands Acker‐ bauleben nur in der Mitte Europas, die britische Welthandelsherrschaft nur an den englischen Küsten entstehen“. Und dennoch sei der Einfluss einer solchen „natürliche[n] Gebietsbildung […] stets nur so zu verstehen, daß die Entwickelung der wirtschaftlichen und sozialen Kultur durch sie eine gewisse Richtung erhält, daß gewisse Hemmungen und Möglichkeiten dadurch gegeben sind. Wie sie überwunden oder benutzt werden, hängt von der Rasse, dem Stande der Moral und der Technik, der sonstigen wirtschaftlichen, politischen und geistigen Erziehung und Schulung der Menschen ab“. 37 vom Bruch: Gustav Schmoller (Anm. 2), S. 245. 38 Schmoller: Grundriß (Anm. 13), Bd. I, S. 346. 39 Schumpeter: Gustav v. Schmoller (Anm. 2), S. 164, Anm. 1.

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konkreter Umstände wiederum auf die unterschiedlichste Weise erreicht werden könne40. Dieser Ausgleich im Sinne einer staatlich ins Werk gesetzten friedlichen „Socialreform“ bedürfe, betonte Schmoller 1903 in einem Akademievortrag, des Einsatzes einer aktiven staatlichen Macht, und diese wiederum könne „heute durch Popularität und demokratische Tendenzen, […] bei uns wahrscheinlich aber doch noch leichter im Anschluss an die Traditionen einer grossen und gerechten Mon‐ archie erreicht werden“41. Diese etwas unklare Formulierung verriet indes bereits einen leichten Zweifel daran, ob sich die Zukunft tatsächlich so harmonisch gestal‐ ten werde und könne, wie er dies auch noch in den letzten Jahren des Kaiserreichs postulierte42. Und noch in einer seiner letzten, erst kurz nach seinem Tod erschiene‐ nen Publikationen hoffte er auf die „Biegsamkeit“ der bestehenden staatlichen und sozialen Institutionen, besonders der Parlamente, damit auch auf ein ausreichendes „Maß der zugelassenen öffentlichen Diskussion der Übelstände“, um die andernfalls drohenden sozialen und damit auch politischen „Explosionen zu vermeiden“43. Dennoch hat der alte Schmoller selbst jene von ihm kurz nach der Jahrhundert‐ wende in seinem Akademievortrag ausdrücklich angesprochenen „demokratischen Tendenzen“ wenigstens für Deutschland nicht mehr akzeptieren können. Während der im Ersten Weltkrieg geführten weit ausgreifenden Debatte um eine deutsche Verfassungsreform und die Möglichkeiten und Grenzen einer Parlamentarisierung, ja einer Demokratisierung der Reichsverfassung44 verteidigte Schmoller, wie schon in den vorherigen Jahren45, entschieden und unnachsichtig den Status quo. Und die 40 Zu Schmollers Gerechtigkeitsvorstellungen siehe u. a. das Kapitel „Wirtschaft, Sitte und Recht“ in Schmoller: Über einige Grundfragen (Anm. 12), S. 43-69. 41 Gustav Schmoller: Classenkämpfe und Classenherrschaft (1903), in: derselbe: Kleine Schriften zur Wirtschaftsgeschichte, Wirtschaftstheorie und Wirtschaftspolitik, hrsg. v. Wolfram Fiedler / Rolf Karl, Bd. 6, Leipzig 1987, S. 831-844, hier S. 844. 42 Dazu auch seine Bemerkung ebenda, S. 843: „Keine untere Classe kann dauernd emporkom‐ men, wenn sie bloss mit Knütteln dreinschlägt, nur Hass und Unverständnis den oberen Clas‐ sen entgegensetzt, nur unausführbaren Utopien nachjagt. Sie kann nur grössere politische Rechte und grösseres Einkommen sich erringen, wenn sie technisch, wirthschaftlich und mora‐ lisch emporsteigt, wenn sie als Träger des Gesammtfortschrittes sich documentirt, wenn sie in den engeren Reihen Gehorsam und Zucht ausbildet, sich fähigen maassvollen Führern und nicht bloss hetzenden Demagogen unterordnet. Alle Classenmissbräuche und alle Classenherr‐ schaft werden nie ganz verschwinden“. 43 Gustav Schmoller: Die soziale Frage – Klassenbildung, Arbeiterfrage, Klassenkampf [hrsg. v. Lucie Schmoller], München – Leipzig 1918, S. 631; siehe dort auch die ausführlichen Ausfüh‐ rungen über den „Klassenkampf in Geschichte und Gegenwart“, S. 515-633. 44 Dazu umfassend Marcus Llanque: Demokratisches Denken im Krieg. Die deutsche Debatte im Ersten Weltkrieg, Berlin 2000; neuerdings auch Jens Hacke: Existenzkrise der Demokratie. Zur politischen Theorie des Liberalismus in der Zwischenkriegszeit, Berlin 2018, S. 47-68. 45 In einem 1912 publizierten Beitrag zum Thema „Demokratie und soziale Zukunft“, in: Gustav Schmoller: Zwanzig Jahre Deutscher Politik (1897-1917). Aufsätze und Vorträge, München – Leipzig 1920, S. 103-112, hatte Schmoller bereits sehr markant „die Grenzen aller Demokrati‐ sierung“ skizziert, indem er (sogar unter Berufung auf Rousseau!) herausstrich, es könnten le‐ diglich „kleine, gegen das Ausland gesicherte Staaten in der Demokratisierung weiter gehen als große, von starken Feinden umgebene“ (ebenda, S. 110).

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von ihm in einem seiner letzten, Ende 1917 erschienenen Aufsätze gestellte Frage „Wäre der Parlamentarismus für Deutschland oder Preußen richtig?“46 konnte er noch immer nur mit Nein beantworten. Lediglich in Staaten mit einem historisch bewährten und in sich stabilen, daher auch funktionsfähigen Zweiparteiensystem nach angelsächsischem Muster könne sich ein parlamentarisches Regime erfolgreich etablieren, wohingegen der „ewige Wechsel kurzlebiger Ministerien in Frankreich und Italien […] fast nur die Kehrseiten der parlamentarischen Regierung“ zeige, nämlich eine „advokatische Stellen- und Ämterjagd bei geringen gesetzgeberischen Resultaten, ja Vernachlässigung der wichtigsten Staatsaufgaben, eine unsichere, tas‐ tende Politik“, dazu ein „ewiger Ministerwechsel und eine mangelnde Stetigkeit in allen politischen Entscheidungen47. Diesem negativ gezeichneten Szenario stellte Schmoller noch 1917 die mitteleu‐ ropäischen Verhältnisse als positiv charakterisiertes Gegenbild an die Seite – mit der Behauptung, dass in denjenigen Staaten, „die wesentlich durch ihre bis auf den heu‐ tigen Tag tüchtigen Fürstenhäuser geschaffen wurden, wie Preußen und Österreich, und wo zugleich ein großer, integerer [sic] Berufsbeamtenstand in der Hauptsache regiert und verwaltet, […] die Vorbedingungen für eine parlamentarische Regie‐ rung am meisten“48 fehlten. Zwei sehr unterschiedliche Argumentationsstränge band Schmoller hier also zusammen: Zum einen die schon 1912 ausgesprochene These des gefährdeten, daher auf ein straffes politisches System angewiesenen deutschen kontinentalen Binnenstaates49, zum anderen die Behauptung der Einmaligkeit der deutschen „Beamtenaristokratie unseres pflichttreuen Beamtenstandes und unseres unvergleichlichen Offiziersstandes“, die er jener „herrschende[n] Geld- und Kapita‐ laristokratie, wie sie […] in England, in Frankreich und in den Vereinigten Staaten regiert“50, positiv kontrastiert. Nur in den deutschen politischen Verhältnissen ver‐

46 Gustav Schmoller: Wäre der Parlamentarismus für Deutschland oder Preußen richtig? (1917), in: ebenda, S. 183-189. 47 Ebenda, S. 189, 188. 48 Ebenda, S. 188; gleichwohl komme es gerade in diesen Staaten nicht selten vor, so Schmoller weiter, „daß tatkräftige Beamte, die das Zeug zu Ministerposten haben, in jungen Jahren auch einmal zeitweilig sich wählen lassen, schon um parlamentarische Erfahrungen zu sammeln“ (ebenda). Im Weiteren berief sich Schmoller auch auf die damals kaum infrage zu stellende Autorität Bismarcks (ebenda, S. 189). 49 Siehe das Zitat oben in Anm. 45, sowie ebenfalls Gustav von Schmoller: Herkunft und Wesen der deutschen Institutionen, in: Deutschland und der Weltkrieg, hrsg. v. Otto Hintze / Friedrich Meinecke / Hermann Oncken / Hermann Schumacher, 2. Aufl., Bd. I, Leipzig – Berlin 1916, S. 199-231, hier S. 200 f.; zum Kontext vgl. Hans-Christof Kraus: Demokratiekritik und anti‐ demokratisches Denkern in Deutschland vor und nach dem Ersten Weltkrieg, in: Ivan Jordo‐ vić / Uwe Walter (Hrsg.): Feindbild und Vorbild. Die athenische Demokratie und ihre intellek‐ tuellen Gegner (Historische Zeitschrift, Beihefte N. F., 74), Berlin - Boston 2018, S. 311-327, hier S. 312 f. 50 Schmoller: Herkunft und Wesen der deutschen Institutionen (Anm. 49), S. 227.

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körpere sich eine gelungene Mischung aus überlieferten Traditionen und zeitgemä‐ ßem Fortschritt51. Immerhin räumte Schmoller in einem 1916 erschienenen Text ein, dass auch Deutschland wohl einigen politischen Veränderungen in Richtung einer „etwas stär‐ kere[n] Demokratisierung“ entgegengehe, etwa mit Blick auf eine Reform des dama‐ ligen, hochumstrittenen und gerade in jener Zeit stark umkämpften preußischen Dreiklassenwahlrechts. Dennoch wünschten die Deutschen, so Schmoller weiter, weder den Parlamentarismus Englands oder Frankreichs, „noch eine teilweise auf Stimmenkauf bei den Wahlen beruhende Parteiherrschaft wie in den Vereinigten Staaten“. Zwar seien auch viele deutsche Institutionen „noch lange nicht vollkom‐ men“, aber dennoch ohne Frage „besser als die der westlichen demokratischen Großstaaten, jedenfalls für Deutschlands Genius und Geschichte entsprechender“52. Das war Schmollers letztes Wort zur Frage einer eventuellen deutschen Staatsreform in Richtung auf eine parlamentarisch-demokratische Monarchie. Schumpeter hatte wohl Recht, als er rückblickend feststellte, dass im Zentrum von Schmollers politi‐ schem Denken bis zuletzt nichts anderes als der „Staat des monarchischen Beamten‐ tums“ stand, „an dem er mit Leib und Seele hing“53. Den Untergang dieses Staates und damit den Zusammenbruch seiner Welt musste er, der am 27. Juni 1917 starb, nicht mehr erleben.

51 Vgl. ebenda: „Das heutige Deutsche Reich stellt eine ein eigene Mischung von Großstaat und Kleinstaaterei, von aristokratischen Kräften und Zuständen in Preußen, von demokratischen im Westen und Süden dar. Sie haben gelernt sich zu vertragen, zu verstehen, zu großen Aufgaben sich zusammenzufinden“. 52 Ebenda. 53 Schumpeter: Gustav v. Schmoller (Anm. 2), S. 164, Anm. 1.

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Gerhard Dilcher Otto von Gierke. Der Staat als herrschaftlich-genossenschaftlich verfasstes Gemeinwesen

1. Die Hintergründe 1.1. Politische Erfahrungen und wissenschaftsgeschichtliche Situation Otto Gierke (1841 – 1921), geboren als Spross einer Stettiner Juristenfamilie, ge‐ hört mit seinem Leben und Wirken dem Zeitalter der Ausbildung des deutschen Nationalstaates an. An den Kriegen, die der Gründung des Deutschen Reiches vorausgingen, nahm er als Soldat offenbar mit Begeisterung teil. Das Reich von 1871 bejahte er in seiner monarchisch-parlamentarischen Verfassungsform leiden‐ schaftlich, wie er gerade im und nach dem Weltkrieg vielfach bezeugte und was auch seine Nobilitierung 1911 bekräftigte. Er gründete seine Überzeugungen dabei auf den liberalen Prinzipien der Paulskirchenbewegung von 1848, die noch zu seinen Jugenderinnerungen zählt. Er engagierte sich intensiv für die Einbeziehung sozialstaatlicher Prinzipien und Regelungen sowohl im Bürgerlichen Recht wie im Arbeitsrecht. Gleichzeitig nahm er im Kaiserreich wie noch anlässlich des Entwurfs der Weimarer Reichsverfassung von 1919 am Staatsrecht anteil. Angesichts der so angesprochenen Stichworte national, liberal, sozial ist es nicht verwunderlich, wenn er den unterschiedlichsten politisch-weltanschaulichen Standorten zugeschrie‐ ben worden ist: Während er einerseits in der DDR der junkerlich-reaktionären Opposition gegen das liberale BGB zugerechnet wurde, wurde er, ebenfalls von marxistischem Standpunkt, als „Bourgeoissozialist“ kategorisiert, schließlich wur‐ de ihm von liberaler Seite eine kollektivistische Freiheitsbeschränkung und damit Vorläuferschaft zum Nationalsozialismus vorgeworfen. Andererseits bekannten sich liberal denkende Sozialdemokraten wie der „Vater“ der Weimarer Reichsverfassung, Hugo Preuß, und der Mitbegründer des deutschen wie (nach seiner Emigration nach 1933) des englischen Arbeitsrechts, Hugo Sinzheimer, als Schüler von Gierkes Rechtslehre, während ihn ein führender NS-Jurist, Reinhard Höhn, gegen eine dama‐

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lige „Gierke-Renaissance“ als unvereinbar, ja gefährlich für das Rechtsdenken des NS bezeichnete.1 Gierke selbst hat sich keiner politischen Partei zugeordnet; nur in dem Zusam‐ menbruch nach Ende des Weltkrieges war er an der Gründung einer konservativen Partei beteiligt, aus der er aber bald mit einem Eklat austrat, als sich deren antise‐ mitische Tendenz zeigte und gegen seine Tochter Anna als Reichstagskandidatin wandte (Gierke war in langer kinderreicher Ehe mit der Tochter eines linksliberalen jüdischen, dann zum Protestantismus übergetretenen Frankfurter Verlegers verheira‐ tet). Gierke hat sich in einem überaus reichen Werk in fast allen Rechtsbereichen mit wissenschaftlichen und großenteils auch rechtspolitischen Stellungnahmen geäußert, ein Nachruf feiert ihn außerdem als bedeutenden Rechtsphilosophen. Er selber de‐ finierte seinen Standort innerhalb der das 19. Jahrhundert prägenden Historischen Rechtsschule (der er in ihrer Endphase eine zusammenfassende Würdigung widme‐ te), und zwar als „Germanist“, d. h. als Vertreter der Fachrichtung des Deutschen Rechts und seiner germanisch-mittelalterlichen Grundlagen, verstanden in Abgren‐ zung zu dem, seit der sog. Rezeption auch in Deutschland grundlegend gewordenen Römischen Recht, das von den „Romanisten“ vertreten wurde.2 In diesem Sinne vertrat er die These: Deutsches Recht ist soziales Recht, in Abgrenzung zum angeblich individualistischen Römischen Recht.3 Er sah sich damit fachlich und methodisch als Rechtshistoriker. Mit dem Begriff der „Genossenschaft“ versuchte er im germanisch-deutschen Recht ein Grundprinzip menschlicher Verbandsbildung zu erkennen. Der höchste dieser Verbände aber war ihm der (nationale) Staat, als Ausdruck des von der Historischen Rechtsschule als Grundlage einer nationalen Rechtskultur proklamierten „Volksgeistes“.4 Es stellt sich damit die Aufgabe, Gier‐ kes Staatsgedanken im Feld der historisch-politischen Entwicklung und der darauf bezogenen weltanschaulich-wissenschaftlichen Positionen nachzugehen. Wie konnte es aber kommen, dass ein Jurist, der intensiv zur Gestaltung des entstehenden Bürgerlichen Gesetzbuches Stellung nahm, der maßgebend für die Entwicklung des Arbeitsrechts war, also auf Gebieten des Privatrechts wirkte, eine noch für uns interessante Staatskonzeption entwickelte? Staatsrecht und Staatslehre gehören bekanntlich innerhalb der Rechtswissenschaft zum Gebiet des Öffentlichen Rechts, heute als akademisches Fach vom Privatrecht personell und sachlich ge‐

1 Zur Einordnung Gierkes Dilcher 1974/75, zu seinem Verhältnis zum NS Dilcher 2013, jeweils mit Nachweisen zu den oben aufgeführten Autoren und Problembereichen. Zu „Bourgeoissozia‐ list“ Spindler 1982, von Seiten des NS kritisch Höhn 1936. Aus der älteren Literatur vor allem Wolf 1963, S. 669-712 und Wieacker 1967, S. 453-456. 2 Eine Selbsteinordnung in Gierke 1903, gleichzeitig ein Art Nachruf auf die Historische Rechts‐ schule; dazu auch Dilcher 2017, Einleitung. 3 Gierke 1889. 4 Wieacker 1954, S. 348- 429; Dilcher 2017, bes. S. 9-21.

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trennt. Sicher war Gierke einer der letzten Universaljuristen. Es stellte die wissen‐ schaftsgeschichtliche wie die politische Situation des 19. Jahrhunderts gerade in dieser Hinsicht eine Herausforderung dar. Wie gesagt, stand Gierke in der Tradition der von Friedrich Karl von Savigny begründeten Historischen Rechtsschule. Sie ver‐ suchte, für das politisch zersplitterte Deutschland eine einheitliche Rechtsgrundlage im Privatrecht zu schaffen; Frankreich besaß eine solche in dem napoleonischen Code civil von 1804, ebenso Österreich und einzelne deutsche Territorialstaaten. Savigny erkannte in dem, über die Universitäten europaweit und auch in Deutsch‐ land seit dem Mittelalter verbreiteten Römischen Recht eine solche Rechtsgrundlage und wies somit der Universitätswissenschaft die Aufgabe einer deutschen Rechtsver‐ einheitlichung zu. Das Römische Recht war im Alten Reich, das ja formell ein Römisches Reich war, als subsidiär geltendes „Gemeines Recht“ (ius commune) an‐ erkannt. Doch galten primär, als spezielle Partikularrechte, in den jeweiligen Territo‐ rien und Städten unterschiedliche Land-, Stadt- und Territorialrechte aus Mittelalter und Neuzeit. Sie wurden als Wissenschaft vom Deutschen Recht (ius germanicum) von den genannten Germanisten bearbeitet und gelehrt. Ihnen kam deshalb im Rah‐ men der Historischen Rechtsschule neben den Romanisten eine gleichberechtigte Stellung zu. Als Teil des Deutschen Rechts in diesem Sinne galt aber auch die das Verfassungsrecht des Alten Reiches behandelnde, an den deutschen Universitäten beheimatete Reichspublizistik, die eben das ius publicum, das Öffentliche Recht des Alten Reiches zum Gegenstand hatte.5 Dieses entfiel aber mit dem Ende des Alten Reiches 1806. Doch stellten sich durch die Begründung des Deutschen Bundes seit 1815 und durch die stufenweise im Rahmen des sog. Konstitutionalismus erlassenen Verfassungen deutscher Einzelstaaten neue Fragen des Öffentlichen Rechts. Gerade auf der Grundlage der Historischen Rechtsschule war es naheliegend, für deren juristische Analyse und Interpretation auf die Erfahrungen und Methoden der älteren Reichspublizistik zurückzugreifen. Das aber konnte nur Aufgabe der Germanisten sein. Diese durchgehende Tradition zeigt sich etwa darin, dass der führende Germa‐ nist am Ende des Alten Reiches, der Göttinger Johann Stephan Pütter (1725-1807) ebenso wie der germanistische Mitbegründer der Historischen Rechtsschule Karl Friedrich Eichhorn (1781-1854) sowohl deutsches Privatrecht wie Staatsrecht in der Lehre wie in ihren Schriften behandelten. Die volle Ausdifferenzierung des Staats- und Verwaltungsrechts als Öffentliches Recht fand also erst im Laufe des 19. Jahrhunderts statt. Während die Romanisten sich auf der Grundlage der spätantiken Kodifikation des Corpus iuris Kaiser Justinians um die Ausarbeitung eines weiter systematisier‐ ten und inhaltlich modernisierten Privatrechts in der sog. Pandektenwissenschaft bemühten, gehörten also zum Arbeitsbereich der Germanisten neben der paralle‐

5 Grundlegend Stolleis 1988.

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len Ausarbeitung eines Deutschen Privatrechts auch Stellungnahmen zu dem Verfas‐ sungsrecht des Deutschen Bundes, der Einzelstaaten und dann ab 1871 des Deut‐ schen Reiches. Dies alles fand im politischen Spannungsfeld zwischen monarchi‐ schem Konservatismus und der liberal-demokratischen bürgerlichen Bewegung statt.6 Politikwissenschaft, Staatslehre und Öffentliches Recht, lange noch inhaltlich verbunden, spalteten sich entsprechend in Anhänger einer monarchisch-konservati‐ ven und der progressiv-konstitutionellen Richtung. Der Hannoversche Verfassungs‐ konflikt von 1837 (bekannt durch die „Göttinger Sieben“), Revolution und Paulskir‐ chenbewegung von 1848/49, der preußische Verfassungskonflikt der 1860er Jahre kennzeichnen dramatische Zuspitzungen auf verschiedenen Stufen der Entwicklung des Verfassungsstaates.7 In der Reichsverfassung von 1871 war unter dem Zeichen der Bismarckschen Reichsgründung das genannte Spannungsverhältnis in eine ge‐ wisse Ruhelage gebracht, ohne dass doch die Forderungen der liberalen Bewegung voll erfüllt gewesen wären: Der Krone war die Bestellung der Regierung und damit die Exekutive zuerkannt, der aus allgemeinem gleichen (Männer-) Wahlrecht hervor‐ gegangene Reichstag besaß die legislative Gewalt auf demokratischer Grundlage, mit der durch Reichsgesetze ausgebauten einheitlichen Gerichtsorganisation und dem Reichsgericht als oberster Instanz war die Judikative in die Hand der Juristen gelegt.8 Die Ausarbeitung großer Kodifikationen vor allem auf den Gebieten des Ge‐ richtsverfassungs- und Verfahrensrechts, des Strafrechts und des Bürgerlichen und Handelsrechts sicherten der Gesellschaft eine immer stärker gefestigte rechtsstaatli‐ che Struktur. Genau diese Entwicklung war es, die Gierkes Leben und Werk beglei‐ tet und die er auf den genannte Gebieten wissenschaftlich und rechtspolitisch mitge‐ staltet hat. Dass dabei das Staats- und Verfassungsrecht auch bei privatrechtlichen Schriften immer im Hintergrund, oft aber im Fokus stand, ist einsichtig.

1.2. Die philosophischen und geschichtstheoretischen Grundlagen von Gierkes Werk Gierkes Werk wird, da sind sich ihn ganz unterschiedlich bewertende Interpreten einig, von einer Konzeption getragen, hinter der philosophische und geschichtstheo‐ retische Überzeugungen stehen. Ganz offensichtlich ist ihm Grundlage die für die Historische Rechtsschule prägende Annahme, es gebe in der europäischen Rechtsge‐ schichte neben der römischrechtlichen eine germanisch-deutschrechtliche bis zur Gegenwart maßgebende Tradition, die beide letztlich auf einen entsprechenden 6 Huber 1960, Kap. I § 3 - 10 zum Konstitutionalismus, Kap. VI zum Parteiensystem im Vormärz. 7 Huber 1960, S. 91-114 (Hannoverscher Verfassungskonflikt), Teil C (Die deutsche Revolution), Huber 1970 Kap. VI (Der preußische Verfassungskonflikt). 8 Huber 1970, § 67 (Die Justizhoheit des Reiches).

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„Volksgeist“ zurückzuführen seien. Für Gierke konzentriert sich die germanische Tradition in dem, von seinem Lehrer Georg Beseler, einem „Paulskirchenprofes‐ sor“, aufgezeigten gemeinschaftsbezogenen Begriff der Genossenschaft,9 während das römische Recht auf dem individualistischen Prinzip der Person beruhe, dem von Gierke der Begriff der Herrschaft zugeordnet wird. Er erkennt durchaus den unentbehrlichen Beitrag des römischen Rechts zur europäischen Rechtskultur an und will deshalb beide Traditionen, römische und germanisch-deutschrechtliche, zu einer jeweiligen Synthese bringen. Das bedeutet ihm eine Rechtsentwicklung im Spannungsfeld von Herrschaft und Genossenschaft. Dieses Spannungsverhältnis, das gleichzeitig eines von Einheit gleich Herrschaft, Vielheit gleich Freiheit gleich Genossenschaft darstellt, durchzieht für ihn die gesamte Rechtsordnung, gilt ebenso im Privatrecht wie im Öffentlichen Recht.10 Was das für sein Geschichtsbild, was es für sein Staatsverständnis bedeutet, soll im Laufe der Untersuchung weiter verfolgt werden. Zuvor aber ist ein Blick darauf zu werfen, dass das Gedankengebäude des Gier‐ keschen Werkes auf gewissen philosophischen und erkenntnistheoretischen Grund‐ lagen beruht, die er immer wieder anspricht ohne sie explizit auszuformulieren, die sich auch möglicherweise im Laufe seines Lebens etwas gewandelt haben. Der Nachruf eines bedeutenden, ursprünglich deutsch-russischen, dann in Frank‐ reich und England wirkenden Rechtsphilosophen und Rechtssoziologen, Georg Gurwitsch, bezeichnet Gierke nicht nur als „den größten Meister der deutschen Rechtswissenschaft“, sondern spezieller als den „vielleicht größten Rechtsphiloso‐ phen unserer Zeit - da er besser als andere das Vermächtnis des nachkantischen deutschen Idealismus und vor allem der späteren Rechtslehre Fichtes zu wahren und in seinen Konstruktionen zu verwerten wußte“ .11 In der hier angesprochenen Verankerung Gierkes im deutschen Idealismus des 19. Jahrhunderts sind sich alle Interpreten einig, doch divergieren sie in der weiteren Zuordnung: Neben Kant und Fichte wird maßgebend auf Schelling verwiesen; eine umfassende monografische Untersuchung will für seine späteren Jahre, nach einer Begegnung an der Universität Greifswald, eine wenn auch kritische Übereinstimmung mit der geisteswissenschaft‐ lichen Hermeneutik Diltheys und damit Bezüge zur Lebensphilosophie erkennen.12 Auf eine Beziehung zu Hegels Geschichtsbild, sogar zu Marx, sowie auf eine Kritik von seiten neukantianischer Denker kommen wir später. Es ist hier nicht der Ort, diese unterschiedlichen Verbindungen und Einordnungen auszudiskutieren oder gar einer Lösung zuzuführen. Festzuhalten ist der immer wieder aufscheinende Hintergrund idealistischer, metaphysischer Grundpositionen. 9 10 11 12

Dilcher 2017, S. 339 ff. Dilcher 1974/75; zur wissenschaftsgeschichtlichen Einordnung Böckenförde 1995, S. 147- 176. Gurwitsch 1922; dazu auch Böckenförde 1995, S. 147-176. Janssen 1974 mit weiteren Nachweisen zum Problem.

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Mehrfach macht Gierke, oft nicht ohne Pathos, deutlich, dass er eine volle Wahr‐ heitserkenntnis durch den streng nach Kausalitätsketten fragenden Verstand nach dem Beispiel der Naturwissenschaften im Bereich von Geschichte und Recht, also der Geistes- und Sozialwissenschaften nicht für menschenmöglich hält, die Wissen‐ schaft aber für eine solche Dimension offen bleiben müsse, will sie sich nicht den Weg zu einer Wirklichkeitserkenntnis verbauen. Sein idealistischer Ansatz zeigt sich, wenn er als letzten Bezug des Rechts die Rechtsidee, den Gedanken der Ge‐ rechtigkeit, erkennt; sie steht ihm auf gleicher Ebene wie für die Ästhetik die Idee des Schönen, für die Ethik die Idee des Guten. Innerhalb der Rechtwissenschaft musste er damit sowohl einem begriffsjuristischen Rechtspositivismus wie einem empirisch-soziologischen Naturalismus - zwei Richtungen, die sich zu seiner Zeit aus der Historischen Rechtsschule entwickelten - entgegentreten, auch wenn er ge‐ wisse Ansätze beider Richtungen teilte.13 Dieser Problematik werden wir gerade auch auf dem Gebiet seines Staatsdenkens begegnen. Doch hat Gierke nicht ohne Grund keine geschlossene oder systematische Darstellung seines philosophischen Standpunktes geliefert, sollte sein theoretischer Zugriff doch immer offen bleiben für die Erfassung der kontingenten wechselnden Formen und Erscheinungen des Rechts im Wandel der historischen Wirklichkeit; insoweit vertrat er voll das Erbe der Historischen Rechtsschule im Rahmen des damaligen Historismus. Eine solche rechtlich zu erfassende Wirklichkeit sah er nicht nur in der Geschichte, sondern ge‐ rade auch in den drängenden neuen Probleme der sozialen und wirtschaftlichen Ver‐ änderungen seiner eigenen Gegenwart an. Er wollte Erkenntnisse aus der Geschichte ziehen und damit die Gegenwart gestalten, aber keine nur der Vergangenheit zuge‐ wandte Rechtslehre entwickeln.

2. Geschichte und Staat im Denken Gierkes 2.1. Staat und Staatsbegriff im Rahmen des Gesamtwerkes Die eigentliche Grundlage für Gierkes gesamtes wissenschaftliches und rechtspoli‐ tisches Wirken stellt das früh konzipierte, dennoch unvollendete vierbändige Deut‐ sche Genossenschaftsrecht dar.14 Gierke knüpft dabei, wie schon gesagt, an dem von seinem Lehrer Georg Beseler „entdeckten“ Begriff der Genossenschaft als des für das Deutsche Recht maßgebenden Rechtsprinzips an. Gegenüber dem individualisti‐ schen, auf die Person gerichteten Römischen Recht stellte sich dies als ein Gegen‐ 13 Die Wichtigkeit des positiven Staatsrechts betont Gierke selbst in der Laband-Rezension, dazu unten 2.3, zu seiner Bedeutung für einen sozialwissenschaftlichen Ansatz Oexle 1988a, Blickle 1995, Pauly 1993, bes. S. 233. 14 Gierke 1868; Gierke 1873; Gierke 1881; Gierke 1913.

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prinzip dar, welches auf das Soziale, die Verbindung von Mensch zu Mensch zielt. Neben der Einteilung der gesamten Rechtsmaterie in Öffentliches und Privatrecht, der Gierke nach wie vor eine wichtige analytische Funktion zubilligt, hält er deshalb eine (in Verwechslung mit dem heutigen Sozialrecht oft missverstandene) Einteilung der Rechtsmaterie in Individualrecht und Sozialrecht für maßgebend. Sozialrecht hat dabei nicht seine heutige, auf den Sozialstaat bezogene Bedeutung, sondern umfasst das Recht aller menschlichen Verbindungen von der Familie über Gesellschaften und Vereine zu den Gemeinden und Kommunen und schließlich dem Staat; sie überschreitet damit die Grenze von Privatrecht und Öffentlichem Recht.15 Die dabei entwickelten Rechtsbegriffe sind nicht per se vorgegeben, sondern er sieht sie als sich historisch ausbildende und wandelnde Formen. Deren Gestaltungen zu erfassen, juristisch zu ordnen und für das geltende Recht fruchtbar zu machen, hielt Gierke im Gefolge der Historischen Rechtsschule für die wissenschaftliche Aufgabe des Juristen. Die vier Bände des Deutschen Genossenschaftsrechts stellen also gleichsam das Rückgrat seines Werkes dar. Der Lehrbuchkonzeption der Historischen Rechtsschule folgend, beginnt Gierke in seinem Jugendwerk, dem ersten Band, mit einem von der germanischen Zeit bis zu seiner Gegenwart führenden historischen Aufriss, also einer Darstellung des entwicklungsgeschichtlichen Hintergrundes. Dem folgen drei Bände mit jeweils auf eine Epoche, von der Antike über das Mittelalter bis zur Neuzeit gerichteten, stärker dogmengeschichtlichen Darstellungen. Neben dem deutschrechtlichen und dem römischrechtlichen Bereich spielt dabei auch das Kir‐ chenrecht eine gewichtige Rolle. Dass sich die Fortführung dieses Werkes so lange hinzog und schließlich nicht mehr zu einem Abschluss in der Gegenwart gelangte, ist dadurch bedingt, dass Gierke sich mit großer Intensität und bedeutenden Ergeb‐ nissen anderen Einzelaufgaben zuwandte: Methodisch grundlegenden Rezensionen und Besprechungen (gerade auch zum Staatsrecht), neues Material erschließenden Studien (etwa zum Naturrecht), schließlich für etwa zwei Jahrzehnte der Kritik und Beiträgen zur Entstehung des Bürgerlichen Gesetzbuches von 1900; daneben wurde er zu einem Mitbegründer des sich emanzipierenden Arbeitsrechts.16 Erst nach die‐ ser Phase rechtspolitischer Stellungnahmen im Bereich des Privatrechts nimmt er in zwei Reden und Aufsätzen 1902 und 1919 wieder zu Problemen des Staatsrechts Stellung.17 Schon aus dieser Entstehungsgeschichte seiner Werke wird deutlich, wie Gierke zwar von einer frühen Grundkonzeption bezüglich des Staates ausgeht, sie aber in steter Auseinandersetzung mit der Rechts- und Verfassungsentwicklung seiner Zeit und ihren rechtlichen die politischen Grundproblemen ausarbeitet. Er begleitet dabei 15 Schikorski 1976; Mundt 1976. 16 Zu Gierkes Bedeutung für das Arbeitsrecht schon damals Sinzheimer 1922. 17 S. dazu unten 2.4 und 2.5.

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eine Entwicklung von der Gründung des Kaiserreiches bis zu dessen Zusammen‐ bruch und zur Gründung der Weimarer Republik, gleichzeitig der Entwicklung von einer noch ständisch geprägten Gesellschaft zu einer klassenbezogenen Industriege‐ sellschaft. Deren tiefgreifende, die bürgerliche Ordnung bedrohenden Spannungen und Probleme sah er, wohl auch geleitet von der Marxschen Analyse,18 sehr deutlich und versuchte, nicht nur im Arbeitsrecht mithilfe sozialer und genossenschaftlicher Prinzipien einen Ausgleich zu bewerkstelligen. Wir finden bei Gierke also keine geschlossen ausformulierte Staatstheorie, son‐ dern einzelne, teils polemisch-kritische Stellungnahmen unter jeweiligen Fragestel‐ lungen und Aspekten. Es ist deshalb sinnvoll, diese Stellungnahmen zunächst ge‐ trennt und spezifisch zu analysieren, bevor wir zum Versuch eines Gesamtbildes schreiten. Es geht dabei vor allem um folgende Werke: Zunächst um die in den Bänden des Genossenschaftsrechts entwickelte Konzeption der Entfaltung des Ge‐ nossenschaftsprinzips in der deutschen und europäischen Rechtsgeschichte. Hier steht der junge Gierke, wie oft bemerkt worden ist und er selbst betont, ganz in der Tradition der bürgerlich-liberalen Bewegung von 1848 hin zu einem nationalen Rechts- und Verfassungsstaat. Als nächstes in unserem Zusammenhang äußert sich Gierke prononciert zu grundlegenden methodischen Zugängen zu Staat und Staats‐ recht in zwei umfangreichen Rezensionsaufsätzen von 1874 und 1883,19 in denen er die herrschenden Ansichten der positivistischen Staatslehre einer eindringenden Kritik unterzieht. Nach der Phase der rechtspolitischen Auseinandersetzung mit dem BGB nimmt er 1902 in seiner Berliner Rektoratsrede wieder zu seinem Grundthema, nämlich „Das Wesen der menschlichen Verbände“, Stellung; dies wurde auch als Kritik an der kurz zuvor erschienenen bedeutenden Allgemeinen Staatslehre seines Kollegen Georg Jellinek aufgefasst. Schließlich ruft er, in hohem Alter, nach dem von ihm tief empfundenen Sturz des deutschen Staates und der Monarchie in der Niederlage des Weltkrieges, 1919 dazu auf, sich auf den „germanischen Staatsge‐ danken“ als Grundlage einer neuen Verfassung für den Wiederaufstieg Deutschlands zu besinnen. Angesichts dieser Titel und Inhalte und des Pathos, mit dem dies teilweise vorgetragen wird, ist es wohl nicht falsch, im Sinne Goethes von den „Bruchstücken einer großen Konfession“ zu sprechen. Sie gilt es also im Folgen‐ den zu analysieren. Wie aus dem Lebensweg Gierkes und seinem Ansehen in der damaligen Gesellschaft deutlich wird, können wir dadurch auch Einblicke in die politische Mentalität des national gesinnten Bürgertums dieser Epoche gewinnen. 18 Von seinem dialektischen Ansatz von Hegel her sieht Gierke immer die Spannungsverhältnisse der Gesellschaft. Die Gefahr einer kulturzerstörenden Revolution führt er auf die Auswüchse des Kapitalismus zurück, etwa Gierke 1919, S. 26, aber ähnlich schon Gierke 1889. Er nimmt die Marxsche Voraussage einer proletarischen Revolution also ernst. Schon in Gierke 1868, S. 1036 spricht er von der „arbeitenden“ bzw. „besitzlosen Klasse“, also in Marxscher Termi‐ nologie. 19 Gierke 1874; Gierke 1883.

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2.2. Die Entstehung des Staates aus der Dialektik von Herrschaft und Genossenschaft Gierke entwarf, wie wir sahen, schon zu Beginn seines wissenschaftlichen Weges ein wissenschaftliches Grundkonzept, auf das er sich später immer wieder bezieht. Dieses besteht einmal aus seinem Geschichtsbild, zum anderen aus dem dieses Geschichtsbild formenden begrifflichen Instrumentarium. Zwar zielen seine histori‐ schen Untersuchungen, wie es dem Ideal der Historischen Rechtsschule entspricht, auf die Rechtsgewinnung und Rechtsgestaltung für die Gegenwart; doch fördert gerade im vierbändigen Hauptwerk des Deutschen Genossenschaftsrechts Gierkes unermüdliches Forschen immer umfangreicheres historisches Material, weit über die anfängliche Planung, zu Tage und fügt es in sein Konzept ein; auch dieser Materialreichtum sichert seinem Werk Beachtung bis heute. Gierke kann seine Thematik aber nur im historischen Aufriss des ersten Bandes, nicht in den weiteren, der Dogmen- und Theoriegeschichte gewidmeten Bänden bis zur Gegenwart führen. Das macht den Schlussteil des ersten Bandes für uns so wichtig. Andererseits wird die fehlende Verbindung zur Gegenwart dann doch noch geschlossen durch den Altersaufsatz von 1919, den wir später analysieren wollen. Gierke beginnt sein Jugendwerk mit einem wissenschaftlichen Bekenntnis: „Was der Mensch ist, verdankt er der Vereinigung von Mensch zu Mensch“;20 ein Satz, der den Sozialcharakter des Menschen, in alter aristotelischer Tradition als animal sociale et politicum, zur Grundlage alles Weiteren erhebt und damit eine Absage an eine allein vom Individuum ausgehende Staatskonstruktion in der Tradition von Hobbes, also eines fiktiven Gesellschaftsvertrages, enthält. Von dieser Grundlage sieht Gierke einen „Fortschritt der Weltgeschichte“ hin zu einem erhabenen Bau von immer umfassenderen organischen Verbänden, die schließlich über Staaten und Staatenverbünde in ferner Zukunft die gesamte Menschheit zu einem organisierten Gemeinwesen zusammenfassen könnte - ein Gedanke, der vielleicht von Kant inspi‐ riert ist. Es ist wichtig, diesen universalistischen Ansatz neben seinem nationalen festzuhalten. - Aus dieser Konzeption definiert sich der Mensch auch als Kulturwe‐ sen, die Gestaltung der menschlichen Verbände als kulturelle Leistung. Geschichte beruht damit auf der Weitergabe und Weiterbildung der erreichten Kultur in der Abfolge der Generationen, womit sich der anfänglich zitierte Satz auch in der historischen Dimension der Zeit bewährt. Konsequent sieht Gierke damit auch das Recht und die Geschichte des Rechts in einem allgemeinen kulturgeschichtlichen Zusammenhang, das Recht als Teil der allgemeinen Kultur, wie er an verschiedenen Stellen immer wieder betont.

20 Gierke 1868, Einleitung, S. 1; dazu vor allem Schikorski 1976.

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Den so verstandenen historischen Prozess stellt Gierke nun in das Spannungsfeld polarer Begriffe (O. G. Oexle), die als Prinzipien und diese Prinzipien begründende Ideen in einen Kampf eintreten und so die Bewegungen der Geschichte hervorbrin‐ gen. Ihm ist „das wahrhaft Bleibende und Wesentliche die sich entfaltende Idee, während das Thatsächliche und Stoffliche nur die Symptome und die Erkenntnis‐ quellen desselben bilden“. 21 Dabei stehen diese Prinzipien in einer dialektischen Wechselbeziehung, so dass die konkreten historischen Verhältnisse sich als immer neue Synthesen aus diesen Prinzipien darstellen. Hegelsches Geschichtsdenken ist unübersehbar.22 Als grundlegendes Prinzip stellt Gierke gleich zu Anfang seiner Einführung das schon besprochene Gegensatzpaar von Einheit und Freiheit dar. Aus einer ursprüng‐ lichen Mannigfaltigkeit und Vielfalt führt das Prinzip der Einheit geschichtlich zur Bildung umfassenderer Verbände, später des Staates. Die jedoch fortbestehende Vielheit der Mitglieder verlangt aber ebenso deren bleibende Selbstständigkeit und bestärkt das Prinzip der Freiheit. Gierke führt damit die Ziele der deutschen liberalen Nationalbewegung, eben Einheit und Freiheit, in sein Geschichtsbild als bleibende zeitübergreifende Prinzipien ein. Interessant ist dabei, dass er Freiheit nicht dem isolierten Individuum zuordnet. Die Bedeutung dieser Zuordnung wird greifbarer, wenn man sieht, dass ihm Einheit dem Prinzip der Herrschaft, Vielheit und Freiheit dem Prinzip der Genossenschaft entspricht. Freiheit, so wird dadurch deutlich, ent‐ faltet sich für Gierke immer konkret in der Sozialität des Menschen, die jedoch nach dem Prinzip der Einheit und damit der Herrschaft als äußerer Form verlangt. Aus dem dialektischen Spannungsverhältnis der beiden Grundprinzipien ergeben sich dann immer neue historische Synthesen, wobei deren der geschichtlichen Situation entsprechende Versöhnung das Glück der Völker, ein einseitiges Vorherrschen eines Prinzips aber deren Unglück bedeute. Weil dem aber keine Dauer beschieden sein kann, kommt es dann wieder zu einem dialektischen Umschlag zu Gunsten des anderen Prinzips. Im Laufe der Geschichte, die insoweit als Fortschrittsgeschich‐ te erscheint, gewinnt dabei das wachsende Bewusstsein der Völker, das sich als Gemeinsinn darstellt, als Faktor an Bedeutung. Als Gegenprinzip zu diesen dem Bereich von Person und Personalität zugehörigen Prinzipien tritt im historischen Prozess sodann noch das Element der Dinglichkeit hinzu, vor allem als Verhältnis zu Grund und Boden. Es kann sich ausdrücken in Formen des individuellen oder kollektiven Bodeneigentums oder auch hierarchischer Bodennutzung wie im Lehen‐ recht, aber auch in staatlicher Herrschaft über ein Territorium. Insofern steht die Dinglichkeit eher im Dienste des herrschaftlichen Elementes. Gierke ordnet nun, wieder zu den gedanklichen Schemata der Historischen Rechtsschule zurückkehrend, das Prinzip der Einheit und Form dem römischen 21 Gierke 1868, S. 5 unter 4). 22 Darauf hat als erster Böckenförde 1995, zuerst 1961, hingewiesen.

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Volksgeist und damit dem Römischen Recht zu, während für ihn die germanischen Völker in besonderer Weise befähigt sind für die Gestaltung des genossenschaft‐ lichen Prinzips, sie aber auf diese Weise auch zur Versöhnung der beiden Prinzi‐ pien beitragen können. Diese Fähigkeit begründet Gierke einerseits mit dem ger‐ manischen Blut (das aber auch teilweise aufgrund der Völkerwanderung in den romanischen Völkern fließt) wie auch mit dem germanischen Geist. In besonders glücklicher Weise habe sich diese Fähigkeit in der Geschichte Englands und der Vereinigten Staaten von Amerika, aber auch der Schweiz, der Niederlande und Skandinaviens bewährt, während Deutschland in Form des Absolutismus eine Phase einseitiger Herrschaft durchlaufen musste. Gierke verfolgt nun in seinem Jugendwerk das Ringen und die Verbindungen dieser Prinzipien durch die deutsche und europäische Geschichte. Dabei verliert er den prinzipiellen geschichtstheoretischen Gesichtspunkt nie aus den Augen, tritt aber im Gang durch die Epochen von der Frühzeit bis zur Gegenwart so sehr in die jeweiligen konkreten Verhältnisse und sozialen Gestaltungen, in so an der Faktizität und dem Quellenmaterial orientierte Erörterungen ein, dass er auch für den positivistisch ausgerichteten Historismus seiner Zeit keine Angriffsflächen dar‐ stellt, vielmehr insgesamt eine große, dicht belegte Geschichtserzählung bietet. Die weiteren Bände füllen das dann mit einem überquellenden rechtsdogmatischen und -theoretischen Material, wobei im zweiten Band der germanisch-deutschrechtliche Anteil, im dritten der römischrechtliche und kirchenrechtliche, im vierten der Anteil des neuzeitlichen Naturrechts die Leitlinien bilden. In dem geschichtlichen Aufriss, den Gierke in Band I des Genossenschaftsrechts bietet, unterscheidet er fünf Perioden, die unter jeweils anderen Vorzeichen stehen. In der ersten Periode, der Frühzeit bis zum Jahre 800, zeigt sich das genossenschaft‐ liche Element in der Sippe, das herrschaftliche im Haus. Unter dem Zeichen jeder dieser beiden Formen bilden sich dann größere Verbände, die auch in der Siedlungs‐ geschichte und damit im Verhältnis zu Grund und Boden eine Rolle spielen. Dies Letztere verstärkt sich dann in der nächsten Periode 800 bis 1200, nämlich bei der Ausbildung des Feudalsystems mit der Dominanz von Herrschaft und Dienst in der Verbindung mit Bodenrechten. Doch auch hier entwickeln sich genossenschaftliche Formen weiter und führen dann zu freien, also nicht verwandtschaftlich begründe‐ ten Einungen wie Gilden, Zünften und Bruderschaften. Deren Stärke führt dann zum Umschlag in die dritte Periode 1200 bis 1525, in der das genossenschaftliche Prinzip, bis hinauf zu Adelsbünden und der Struktur des Reiches, beherrschend wird. Vor allem aber kommt es zur Ausbildung der Stadt als „genossenschaftliches Bürgergemeinwesen“,23 das, wie Gierke jedoch erst im zweiten Band genauer de‐ finiert, durch die Erhebung zur Stadtpersönlichkeit „das erste wahrhaft staatliche 23 So Gierke 1868 im Inhaltsverzeichnis S. XVII unten, unter III: „Die Vollbürgergemeinde als Trägerin der Stadt“.

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Gemeinwesen deutscher Bildung“ (also aus deutschrechtlichen Prinzipien) wird.24 Dagegen spricht er schon dem Reich Karls des Großen den Staatscharakter ab. Die begrifflichen Voraussetzungen werden sogleich noch zu betrachten sein -. Zunächst aber gehen wir zur nächsten Periode von 1525 bis 1806, die Gierke jedoch in einem Abschnitt zusammen mit der fünften nach 1806, also seiner eigenen Gegen‐ wart, behandelt. Während zunächst noch das genossenschaftliche Prinzip in den Gemeinden und in der landständischen Verfassung wirksam bleibt, setzt sich die Idee des Staates unter herrschaftlichem Vorzeichen mit der Ausbildung des fürstli‐ chen Territorialstaates, schließlich in der Form des Absolutismus‘, durch. Indem Gierke die Entwicklung zu seiner Gegenwart nach 1806 mit einschließt, kann er seine Hoffnungen (im Jahr 1868!) auf ein Weiterwirken des genossenschaftlichen Prinzips in der Entwicklung des deutschen Staates einbringen. Vor allem sieht er unter dem Zeichen eines bürgerlichen Zeitalters die Möglichkeiten einer vielfältigen Entfaltung des genossenschaftlichen Prinzips in der Gesellschaft: im Vereinswesen in Bezug auf politische, religiöse, geistige, sittliche und soziale Zwecke.25 Beson‐ ders ausführlich aber stellte er dies dar für wirtschaftliche Zwecke,26 von Genossen‐ schaften des Kapitals wie Aktiengesellschaften bis hin zu „Produktivgenossenschaf‐ ten“, also Zusammenschlüssen der Arbeitenden zur Produktion ohne kapitalistische Entfremdung. Solches fasst er anstelle von Großunternehmen als Zukunft der In‐ dustriegesellschaft ins Auge. Es ist deutlich, wie er bei alldem in der Nähe der politischen Genossenschaftsbewegung steht (Schulze-Delitsch, Genossenschaftsge‐ setze, Konsumgenossenschaften, Volks- und Raiffeisenbanken). Gierke musste bald einsehen, dass sich insbesondere die Hoffnung auf Produktivgenossenschaften in der Phase der Hochindustrialisierung Deutschlands nicht erfüllte; darum wandte er sich verstärkt dem Arbeitsrecht zu, mit dem Ziel einer Beteiligung der genossenschaftlich verbundenen Arbeiterschaft in Form von Gewerkschaften an der Gestaltung des Arbeitslebens. Gierke geht davon aus, dass im germanisch-deutschen mittelalterlichen Rechts‐ denken eine Trennung von öffentlichem und privatem Recht nicht stattgefunden hat. Deshalb kann sich auch zunächst kein Staatsbegriff, der ja auf öffentlichem Recht fußen müsste, ausbilden. Auch nach der Trennung der beiden Bereiche, schon im antiken römischen wie dann im modernen Recht, die Gierke als analytische Diffe‐ renzierung durchaus akzeptiert, besteht er darauf, zu einer umfassenderen Betrach‐ tung stets die Rechtsordnung als Ganzes im Blick zu behalten. Seine Unterteilung in Individual- und Sozialrecht steht sowieso quer dazu. Darum untersucht er auch die Weiterbildung der rechtlichen Begriffe zur Erfassung menschlicher Verbände im 24 Gierke 1873, S. 573. 25 Gierke 1868, Überschrift zu § 65, S. 882. 26 Gierke 1868, Überschrift zu II, S. 907ff. Dort S. 1036 auch die Klassenterminologie im An‐ klang an Marx, vgl. oben FN 18.

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Privatrecht (etwa zum Verein) und im öffentlichen Recht (zu Gemeinde und Staat) als einheitlichen gedanklichen Prozess.27 Nach dem historischen Aufriss im ersten Band behandelt er dies, wie er selbst sagt, in den folgenden Bänden methodisch als Begriffsgeschichte.28 Dabei trennte er, dem Ansatz der Historischen Rechtsschule folgend, die deutschrechtliche (Band II), die mittelalterliche gelehrte römisch- und kirchenrechtliche (Band III) und schließlich, wenn auch unvollendet, die moderne, naturrechtlich beeinflusste Tradition (Band IV). Allerdings muss er in beiderlei Richtungen starke wechselseitige Einflüsse und Verbindungen zugestehen; so kön‐ nen wir in der gebotenen Kürze hier die Ausbildung der relevanten Begrifflichkeiten zusammenfassend betrachten. Es geht Gierke darum zu erkennen, wie aus einer genossenschaftlichen Gesamt‐ vielheit von Personen eine über der Vielheit stehende Gesamteinheit wird. Er nennt dies eine Körperschaft, die rechtlich als „juristische Person“ handlungsfähig wird. Dafür muss diese Organe (nicht nur Vertreter) bestellen und kann nun durch diese selbst handeln. Er sieht dies als langen und mühsamen, sowohl gedanklichen wie politisch-sozialen Prozess. Bei jenem hat vor allem die mittelalterliche Jurisprudenz auf römischrechtlicher wie kanonistischer Grundlage, zusammen mit der politischen Theorie, die entscheidenden Bausteine geliefert. Der germanische Genossenschafts‐ gedanke und die durch ihn gebildeten Rechts- und Sozialformen haben dagegen inneres Leben und Anstöße zur weiteren Entwicklung beigetragen. Auf die Rolle der mittelalterlichen Stadt und ihrer inneren genossenschaftlichen Strukturen ist bereits hingewiesen worden. Der Ausbildung eines organisch-körperschaftlichen Denkens diente von Seiten der Kirche auch das Bild als Leib Christi. Daneben verstand sich die von Rom geführte lateinische Kirche aber auch als heilsvermittelnde gött‐ liche Stiftung, als Anstalt, d. h. als eine zweckbezogene Institution, der Personen und Sachmittel zugeordnet sind. Der Gedanke der Anstalt verhalf dann bei der Entwicklung des Staatsgedankens dazu, diesen sowohl von der Personenvielfalt des Volkes (populus) wie von der Einzelperson des Fürsten (princeps) abzuheben und als objektiviertes Gebilde zu abstrahieren.29 In diesem Sinne konnte sich Friedrich der Große als „ersten Diener des Staates“ verstehen, gleichsam als Organ des Staates als Anstalt. Mit dem römischrechtlich-kanonistischen Korporationsbegriff, dem Anstaltsbe‐ griff und dem germanischen Genossenschaftsgedanken, parallel entwickelt im Pri‐ vatrecht und im öffentlichen Recht, stand für Gierke bereits am Ende des Mittelal‐ ters ein volles begriffliches Instrumentarium zur Erfassung von Verbänden bis hin zum Staat zur Verfügung. In dem der Neuzeit gewidmeten vierten Band des Genos‐ 27 Dazu Schikorski 1976. 28 Gierke 1868, S. 7. Vor allem am Beginn von Band II (Gierke 1873) reflektiert er intensiv das Verhältnis von Lebensform und Denkform, von Bewusstsein und Begriffen. 29 Gierke sieht in dem obrigkeitlichen Staat des Landesherren den Typus des reinen Anstaltsstaa‐ tes, Gierke 1873, S. 861.

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senschaftsrechts, den Gierke aber nicht bis zu seiner Gegenwart durchführen konnte, fügt er noch wichtige Gesichtspunkte für die Erfassung des modernen Staates hinzu. So löste sich die Staatsrechtswissenschaft immer mehr vom Privatrecht und gewinnt sachlich und methodisch Selbstständigkeit. Das wird getragen nicht nur von der Reichspublizistik an den deutschen Universitäten, sondern wird auch gestützt von einer naturrechtlichen Staats- und Politiktheorie.30 Für diese theoretische Diskussion werden aus der mittelalterlichen Theorie die beiden Pole der Volkssouveränität und der Herrschersouveränität übernommen; neuzeitlich ist dann der von Jean Bodin ge‐ klärte umfassende Souveränitätsbegriff. Der alte Gedanke des Naturrechts wurde von der Idee des Schöpfergottes gelöst und zu einer rational begründeten gedankli‐ chen Konstruktion gewandelt. Von Hobbes über Locke bis Rousseau ist damit das Modell des Gesellschaftsvertrages gegeben und zur Legitimitätsgrundlage staatli‐ cher Herrschaft gemacht, allerdings mit ganz verschiedenen Schlussfolgerungen von der völligen Unterwerfung der Untertanen (Hobbes) bis zur unbeschränkten Herr‐ schaft des Volkes (Rousseau). Auf beiden Wegen wird damit der ältere Dualismus zu Gunsten einer einheitlichen, gedanklich vom Fürsten gelösten Staatspersönlichkeit überwunden. Allerdings steht dem noch lange der tatsächliche Dualismus des Stän‐ destaates (Landstände/Fürst) auf der einen Seite, auf der anderen Seite die absolutis‐ tische Identifikation des Fürsten mit dem Staat (l´etat c´est moi) entgegen. Gierke deutet hier an, wie der Genossenschaftsgedanke hinzutreten mußte, damit der Staat als lebendiges Gemeinwesen und als die Rechte der Individuen wahrender Verfas‐ sungsstaat konzipiert werden kann. Nicht mehr in seinem unvollendeten Genossen‐ schaftsrecht, wohl aber in seinen nunmehr zu betrachtenden Einzelstudien konnte er dies ausführen.

2.3. Historisch-juristische Methode als politische Verfassungsauslegung Wir sahen: Gierke beobachtete nicht nur die Privatrechtsentwicklung hin zum Bür‐ gerlichen Gesetzbuch, sondern, im Rahmen seiner germanistischen Kompetenz, auch die Entwicklung des Staatsrechts aufmerksam. Schon 1874 nahm er zu zwei Schriften jüngerer Staatsrechtler kritisch Stellung unter dem Titel „Die Grundbegrif‐ fe des Staatsrechts und die neuesten Staatsrechtstheorien“. Ungleich wichtiger ist ein etwa 10 Jahre später erschienener, fast hundertseitiger Rezensionsaufsatz.31 Er ist dem wohl einflussreichsten Werk zur Reichsverfassung von 1871 gewidmet, dem „Staatsrecht des Deutschen Reiches“ von Paul Laband, der „großen staatsrechtlichen Autorität des Kaiserreichs“ (M. Stolleis). Laband (1838-1918) kam, wie vor ihm 30 Mit der berühmten „Entdeckung“ des Althusius (1880) konnte Gierke dem Naturrecht das genossenschaftlich-korporative Element einfügen. 31 Gierke 1883.

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Gerber (1823-1898) und wie auch Gierke, aus der rechtshistorischen Germanistik und hatte sich zunächst dem Handelsrecht, dann aber ganz dem Staatsrecht gewid‐ met. Noch in seiner Zeit als Privatrechtler hatte er nach dem Vorbild der Romanistik die Wende von einer historischen zu einer begrifflich-positivistischen juristischen Methode vollzogen und vervollkomnete dies im öffentlichen Recht in Anwendung auf die Reichsverfassung „zu einem wissenschaftlich angeleiteten Gesetzespositivis‐ mus“ (M. Stolleis).32 Methodisch geht er aus von einer Lückenlosigkeit der Rechts‐ ordnung „wie die Ordnung der Natur", innerhalb deren alle Lösungen durch rein logische Tätigkeit, nämlich durch die Bildung von Begriffen und Rechtsinstitutionen durch die Rechtswissenschaft zu lösen seien. Hier nun setzt Gierkes Kritik an. Er gesteht Laband durchaus das große Verdienst zu, die Staatsrechtswissenschaft aus den älteren Verflechtungen mit der Politikwissenschaft gelöst und als genuin juristische Materie konzipiert zu haben. Die rein juristische Methode könne aber nicht genügen, wo es um Grundbegriffe und Grundkonzeptionen des Staates gehe; hier müsse die Verbindung zu den übrigen Manifestationen des sozialen Lebens, die soziale Funktion des Rechts als Teil des Gemeinlebens einbezogen werden. Damit deckt Gierke auf, welche stillen Wertentscheidungen mit der Begrenzung auf eine positivistische begriffliche Methode getroffen und verdeckt werden, die Garantie objektiver Richtigkeit der logischen Ableitung also nur Schein ist. Dies gelte gerade in Bezug auf die Reichsverfassung mit ihrem monarchisch-liberalen Kompromiss‐ charakter. Laband betone auf diese Weise einseitig die herrschaftliche Komponente des Staates, damit Elemente des alten Obrigkeitsstaates. Weder das monarchischabsolutistische Element noch das pluralistisch-ständische könne einer modernen Verfassung zu Grunde gelegt werden. Gerade aus dem historischen Verständnis des genannten Kompromisses müssten vielmehr die genossenschaftlichen Elemente, d. h. das Volk und damit die Teilhaberechte der Bürger miteinbezogen werden. Unter diesem Gesichtspunkt rügt er, dass Laband dem Reichstag nicht die Funktion eines gleichberechtigten Staatsorgans als Repräsentanten des ganzen Gemeinwesens zubillige, sondern nur eine quasi entstaatlichte Funktion bei der Gesetzgebung. Die Frage des Verhältnisses von Parlament zu monarchischer Gewalt war ja nach dem preußischen Verfassungskonflikt noch virulent und auch in der Reichsverfassung ungelöst geblieben. Hier habe also eine umfassendere Interpretation anzusetzen. Der andere von Gierke angesprochene zentrale Punkt betrifft die Grundrechte des Bürgers, die, anders als in der Verfassung von 1849, in die Reichsverfassung keine Aufnahme gefunden hatten. Laband sah sie deshalb als verfassungsrechtlich nicht gegeben an. Gierke dagegen leitete grundrechtliche Sicherungen gegen die Staats‐ gewalt aus weitergehenden Erwägungen ab. Der der Verfassung zugrundeliegende 32 Eine genaue Charakteristik bei Stolleis 1992, S. 341-346. Umfassend Pauly 1993, S. 177-208 („Die Staatsrechtswissenschaft in der Konzeption Paul Labands“), zu Gierkes Kritik S. 228-235 („Kritik und Erosion des staatsrechtlichen Positivismus“).

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Begriff des Staatsbürgers umfasse nämlich, neben den Teilhaberechten des Bürgers am Staat durch die Wahl zum Parlament, auch die Freiheit von einem nicht obrig‐ keitlich verstandenen Staat. Diese Stellung als Staatsbürger sei aber in einer Vielzahl von Einzelgesetzen, etwa im Schutz vor strafrechtlicher Verfolgung durch die Straf‐ prozessordnung, aber auch als Gewerbe- und Pressefreiheit, Versammlungsfreiheit, Glaubens- und Gewissensfreiheit, wie auch in den Grundrechtsverbürgungen in den Verfassungen der deutschen Einzelstaaten enthalten. Vor allem aber dürfe ein Verfassungsstaat den Bürger rechtlich nicht gänzlich absorbieren, sondern müsse ihm als Person eine staatsfreie Freiheitssphäre sichern. Die betreffenden Rechtsre‐ geln der einzelnen Gesetze und Verfassungen hätten somit im Rahmen des Reiches verfassungsrechtlichen Rang. Aus der methodischen Kritik an Laband ergeben sich also für Gierke entscheidende inhaltliche Konsequenzen für die Reichsverfassung hin zu einer stärkeren Berücksichtigung liberaler und demokratischer Prinzipien in der Tradition der Paulskirchenverfassung von 1849.

2.4. Der Staat als höchste reale Verbandspersönlichkeit Gierke hatte nicht nur die Fähigkeit zu intensiver historischer Quellenverarbeitung, sondern auch die Gabe zu öffentlicher wissenschaftlicher Rede. Dies bewährte er in seiner Berliner Rektoratsrede von 1902 vor einem größeren Publikum, vor Gelehrten und Studenten aller Fakultäten.33 Er vertrat dabei in einer ebenso problembezogenen wie wissenschaftstheoretisch begründeten Weise seine Auffassung von der leiblichseelischen Wirklichkeit menschlicher Verbände, deren höchster der souveräne Staat sei. Deshalb habe die Rechtsordnung diesen Verbänden in gleicher Weise wie den Einzelpersonen die Stellung als Rechtssubjekt in Form der juristischen Person zuge‐ teilt. Jedoch gehöre der Staat ebenso wie alle anderen Verbände dem Bereich des Sozialrechts an. Daraus folgten Rechtsprinzipien eigener Art, etwa das Handeln durch Organe, Beschlüsse unterfielen nicht dem Begriff des Vertrages, sondern stell‐ ten schöpferische Gesamtakte dar; das gelte etwa für die Begründung des Deutschen Reiches. Aus dem organischen Begriff des Verbandes ergäbe sich auch zwingend die Rechtsstellung der Mitgliedschaft der Bürger, überhaupt eine rechtliche Ordnung der inneren Verhältnisse. Soweit diese Verbände, wie vor allem die Gemeinden, im Bereich öffentlicher Belange handelten, gehörten sie als Körperschaften dem öffentlichen Recht an, sonst aber dem Privatrecht. Der römischrechtliche Begriff einer persona ficta, einer bloß fingierten Rechtsperson sei abzulehnen. Gierke verteidigt dabei im Rahmen eines sehr umfassenden Gedankenganges die von ihm vertretene organische Staats- und Verbandstheorie. Wie sich aus einem

33 Gierke 1902: „Das Wesen der menschlichen Verbände“.

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Exkurs Max Webers ergibt, auf den wir später noch zurückkommen werden, gilt dies in Verteidigung und Angriff vor allem gegenüber der gerade 1900 erschienenen All‐ gemeinen Staatslehre Georg Jellineks, die auf neukantianischen Grundlagen beruht. Die organische Theorie postuliert für menschliche Verbände als leiblich-geistige Le‐ benseinheiten ebensosehr Wirklichkeit wie für Einzelpersonen. Das zeige sich an der historischen macht- und kulturbildenden Kraft solcher Verbände, also an deren Wir‐ kungen. Das gelte besonders für die Völker, die im Staat zur Rechtspersönlichkeit werden. Gierke wehrt andererseits methodische Fehlleistungen der organischen Theorie ab, wenn diese zum Gefangenen ihres Sprachbildes vom Verband als Körper wird und den Vergleich, das Bild für die Sache nimmt. Wissenschaftliches Denken beruhe auf gut begründeten Hypothesen, Begriffe seien nur durch Abstraktion ge‐ wonnen und nicht selber Realität; diese stellten sich oft als psychologisch oder so‐ ziologisch zu deutende Tatbestände dar. Wissenschaft müsse sich aber damit begnü‐ gen, letzte Wahrheiten und das Rätsel des Lebens selbst nicht erklären zu können. Auch die Rechtswissenschaft könne nur einen Aspekt des menschlichen Gemeinle‐ bens erfassen und müsse andere anderen Wissenschaften überlassen. Hier nennt er Völkerpsychologie und Soziologie als ganz neue wissenschaftliche Erkenntnismög‐ lichkeiten. Wir erkennen also in dieser Rede Gierkes einerseits sein Bestreben, für die Rechtswissenschaft einen umfassenden Blick auf soziale Phänomene zu bewahren, andererseits eine kritische Bescheidenheit in Bezug auf die Grenzen wissenschaftli‐ cher Wahrheitserkenntnis.

2.5. Der germanische Staatsgedanke als zukunftsweisendes Verfassungsprinzip An eine größere Öffentlichkeit in einer Krisen- und Umbruchszeit ist auch Gierkes letzte Veröffentlichung gerichtet. In einer Reihe „Staat, Recht und Volk“, heraus‐ gegeben von dem bedeutenden und bekannten Althistoriker Ulrich von Wilamo‐ witz-Moellendorf, erschien sein im Mai 1919 gehaltener Vortrag „Der germanische Staatsgedanke“.34 Gleich zu Anfang seiner Rede bezeugt Gierke seine tiefe Erschüt‐ terung angesichts der militärischen Niederlage und des Zusammenbruchs des Kai‐ serreichs: „In Trümmern liegt der stolze Bau des deutschen Staates, in dem unser deutsches Volk bis vor kurzem die unzerstörbare leibliche Verkörperung seiner Seele zu besitzen glaubte". Er ruft sich und den Zuhörern in Erinnerung, wie sein eigener Lebensweg seit seiner Kindheit in dem „Frühlingssturm von 1848" mit dem Werden dieses Staates verbunden war. Er wendet sich jedoch zugleich den „Gedanken über Staat und Recht“, die nun den „staatlichen Neubau“ bestimmen sollen, zu. Aus dem

34 Gierke 1919.

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Gefühl des tiefen Getroffenseins durch die Niederlage Deutschlands in der „ihm aufgezwungenen Verteidigung seines Daseins" lässt sich Gierkes emotionaler und nationaler Ton seiner Ausführungen verstehen. Sogar Anklänge an die berüchtigte „Dolchstoßlegende“ tauchen dabei auf. Er hatte sich schon während des Krieges in Zeitungsartikeln zu grundsätzlichen Fragen wie „Krieg und Kultur“, „Das Recht und der Krieg“, „Der Deutsche Volksgeist im Kriege“ geäußert, auch hatte er 1915 das scharf nationalistische alldeutsche „Seeberg-Memorandum“, mit extensi‐ ven deutschen Kriegszielen, zusammen mit 352 Professoren und 1347 prominenten Bürgern unterzeichnet. 35 Seine Meinung war also durchaus Ausdruck der Stimmung großer Teile des national denkenden gebildeten deutschen Bürgertums. Angesichts dieser gespannten, depressiven Lage, angesichts „blutiger Bürger‐ zwiste“ will der fast Achtzigjährige „vorwärts blicken“. Doch keine fremden Gedan‐ ken, weder aus Frankreich noch aus Russland, dürften dazu dienen, sondern für die Deutschen, das „germanische Kernvolk“, müsse dafür der germanische Staatsgedan‐ ke stehen. Allerdings hätten diesen, wie er nicht verschweigt, andere Völker glück‐ licher historisch verwirklicht und besser bewahrt. Das betreffe vor allem England (den Kriegsgegner!) und die Völker angelsächsischer Kultur, die Niederlande, Skan‐ dinavien und die Schweiz; er nennt hier also auf historischer Tradition beruhende Demokratien, wohl auch als Gegensatz zum „revolutionären“ Frankreich. In ausführlichen, aber sehr klaren Gedankengängen entwickelt Gierke nun in dem uns schon bekannten Durchgang durch die Geschichte den Inhalt dieses Staatsge‐ dankens. Von ihm hier besonders hervorgehoben sind, uns bereits wohlbekannt, die dialektische Versöhnung von Volksfreiheit und Herrschaftsgewalt; noch wichtiger der germanische Rechtsgedanke, der alle menschlichen Beziehungen durchdringe, Recht mit Pflichten verbinde, keine rechtsfreie Gewalt kenne und deshalb sowohl privates wie öffentliches Recht beherrsche. Hiermit habe über die Germanen der Gedanke des Rechtsstaates die Weltbühne betreten. Die dem germanischen Staatsge‐ danken anhaftende Unvollkommenheit, deutlich etwa in dem an die germanische Treue gebundenen Feudalwesen, wurde dann dadurch überwunden, dass das Germa‐ nentum die Erbschaft der Antike auch auf dem Gebiet des Staats- und Rechtslebens hütete und weiterentwickelte. Die sich versöhnenden Gegenpole seines dialektischen Denkens begegnen uns also auch hier wieder. Wir brauchen Gierkes detaillierte historische Durchführung seines Gedankengan‐ ges über das mittelalterliche Reich, das Städtewesen, die Territorialstaaten, die Rolle Preußens und des Beamtentums, über Gemeinde, Kulturstaat und Genossenschaften nicht im einzelnen zu verfolgen, da wir seine Bestandteile bereits kennen. Vielmehr muss uns interessieren, welche Ziele er am Ende seines Vortrags dem neu zu errich‐ tenden Staat, also der Weimarer Republik, vorgibt (zeitlich vor den Versailler Frie‐

35 Zur Kriegszieldebatte und den entsprechenden Memoranden Winkler 2000, S. 341 f.

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densregelungen!). An dieser Stelle können wir den tragenden historischen Unterbau, gleichzeitig ideologischer Überbau, seiner germanisch-nationalen Ideen zurücklas‐ sen und die zentralen Elemente seines Staatsdenkens erkennen. In der Tat stellen sich bald darauf sowohl er selber wie besonders seine Tochter Anna der Mitarbeit an der zu errichtenden republikanischen Verfassung.36 Mit der religiösen Metapher von Ostern und Auferstehung ruft Gierke zur Wie‐ dererrichtung eines deutschen Staates auf. Während die innere Erneuerung aus dem religiösen und sittlichen Leben, also der Gesellschaft, kommen müsse, könne ein Verfassungswerk die äußere Klammer bilden – er hängt also nicht der konservativen Idee eines verfassungsrechtlich christlichen Staates an. Die für ihn grundlegenden Verfassungsprinzipien fasst er dann kurz auf fünf Seiten zusammen: - Der Staat müsse nationaler Staat, möglichst unter Einschluss Deutsch-Österreichs (das Ziel der Paulskirche!), bleiben. Das schließe die gleichberechtigte Stellung innerhalb eines reformierten Völkerrechts ein, widerspräche aber der aktuellen Diskriminie‐ rung Deutschlands im Völkerbund. Zu den geschichtlichen Grundlagen gehöre die bundesstaatliche Form mit dem Eigenleben der Einzelstaaten, der „Landesgemein‐ wesen“. Dazu gehöre auch Preußen als Träger staatlicher Führungskraft und des Schutzes deutschen Wesens wider das Slawentum im Osten und das Welschtum im Westen. - Als organisch aufgebautes Gemeinwesen müsse der Staat Volksstaat sein, aber auch über eine Obrigkeit verfügen, das heiße eigene mit eigener Macht und Verantwortlichkeit ausgerüstete Regierung; das diene auch dem Schutz gegen Anarchie und eine sie ablösende gewalttätige Diktatur (!). - Der Staat müsse sozialer Staat, aber nicht sozialistischer Staat sein. Dabei geißelt er die Auswüchse des Kapitalismus als einer rein individualistischen Wirtschaftsepoche, die „den bis zur Vernichtungswut gesteigerten Hass des Arbeiterheeres gegen das Unternehmertum“ hervorgebracht habe. Die Lösung sei eine Fortführung der verheißungsvollen Anfän‐ ge deutscher Sozialpolitik mit dem Ziel der Überbrückung der Kluft zwischen Kapi‐ tal und Arbeit und friedliche Schlichtung und Versöhnung der Interessenkämpfe. Zur Sicherung der Freiheit des Individuums als Teile der aufsteigenden Kulturbewegung müssten Privateigentum und Erbrecht, das Recht von Besitz und Bildung bewahrt und der selbstständige Mittelstand gestützt werden. - Der Staat müsse Kulturstaat bleiben, auch wenn er hier nur eine subsidiäre Aufgabe habe. Eigentliche Träger sei‐ en die Familie mit der Erziehungsaufgabe, die Kirchen, da Deutschtum und Chris‐ tentum einen unlöslichen Bund geschlossen hätten, sowie die Fülle freier Genossen‐ schaften. - Der Staat müsse Rechtsstaat sein. Eine neue Verfassung müsse über die Lücken und Schwächen der alten Reichsverfassung hinauswachsen. Erfreulich sei hier die grundsätzliche Einigkeit aller daran mitarbeitenden Parteien. Unantastbare 36 Dazu Dilcher 2013. Anna v. Gierke gehörte als eine der wenigen Frauen der verfassungsge‐ benden Nationalversammlung an. Ihre Reichstagskandidatur scheitert an den antisemitischen Vorbehalten ihrer Partei, der DNVP, aus der Gierke sofort austritt.

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Grundrechte der Individuen und Schutz der Minderheiten gehörten dazu ebenso wie ein Reichsverwaltungsgericht und schließlich ein Gerichtshof für Verfassungsstrei‐ tigkeiten. Gierke entfaltet also hier das Jahrzehnte zuvor in der Kritik an Labands Positivismus entworfene Bild des Verfassungsstaates mit großer Konsequenz. Als letztes fordert Gierke für den Staat wieder höchste zwingende Macht, also das Gewaltmonopol, als eigentliche Substanz und begrifflichen Gehalt der Souveränität. Das bedeute auch ein unentbehrliches Maß an Waffengewalt nach außen wie nach innen, gegen äußere Feinde wie auch innere Umsturzversuche und Terrorismus. Er hofft dabei auf einen Friedensschluss, der die Volksintegrität bewahrt und den wirtschaftlichen und finanziellen Ruin nicht verewigt (Reparationen!). Mit einer Erinnerung an die Größe der deutschen Geschichte drückt er die Hoffnung aus, dass ein verjüngtes Gemeinwesen dem deutschen Volk die gebührende Machtstellung und Weltgeltung unter den Völkern wiederherstelle. Wir dürfen uns bei dieser letzten öffentlichen Äußerung Gierkes nicht durch seine uns fremde, oft „altfränkische“ Sprache und sein emotionales nationales Pathos davon abhalten lassen, die politische und verfassungsrechtliche Modernität seiner Konzeption zu erkennen. Sie weist nicht nur über die Reichsverfassung von 1871, sondern in manchem über die dann realisierte Weimarer Verfassung hinaus auf das Bonner Grundgesetz. Hierzu gehören die Forderungen nach unmittelbar geltenden Grundrechten wie die auf Errichtung eines Verfassungsgerichts. Dazu gehören eben‐ so die Fortentwicklung des Sozialstaates wie die Aufgabe als Kulturstaat, aber auch die subsidiäre Funktion des Staates gegenüber den Kräften aus der Gesellschaft, die Gierke als genossenschaftlich verfasste Kräfte sieht. Der Unsinn des erwähnten Vorwurfs eines „Kollektivismus“ wird hier besonders deutlich. So hat sich das aus dem Geschichtsbild der Historischen Rechtsschule entwickelte Verfassungsverständ‐ nis auch im Umbruch bewährt.

3. Gierkes Staatsbild in Diskursen seiner Zeit. Geschichte und Wirkungsgeschichte 3.1. Im Diskurs mit der Geschichtswissenschaft und der Staatslehre Wie wir sahen, beruht Gierkes Werk auf einem auch wissenschaftstheoretisch re‐ flektierten Standpunkt, wird von ihm aber entwickelt und verfochten in einzelnen wissenschaftlichen und rechtspolitischen Auseinandersetzungen: im Kampf gegen die Übermacht des Römischen Rechts für ein deutsches und soziales Recht, im Kampf um die Anerkennung des Arbeitsrechts als eigener Rechtsmaterie unter Einbeziehung der zunächst strafrechtlich verfemten Gewerkschaften, in der kriti‐ schen Auseinandersetzung mit der begriffsjuristischen und positivistischen Metho‐ de sowohl im Zivilrecht wie im Staatsrecht, im Kampf um die Erhaltung eines

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nationalen Verfassungsstaates nach der Niederlage und dem Ende der Monarchie nach dem Weltkrieg. Dennoch hat sich nie eine rechtswissenschaftliche Schule oder eine politische Richtung programmatisch hinter sein Werk gestellt; auch ein Band über „Streitbare Juristen“ geht an ihm vorbei,37 führt aber den schärfer sozialistisch ausgerichteten, aber sicher weniger bedeutenden Anton Menger auf, wie auch den auf Gierke fußenden großen Arbeitsrechtler Hugo Sinzheimer (1875-1945). Schon auf den ersten Blick wird deutlich, dass dieser Abbruch einer Gierke-Tra‐ dition sicher damit zusammenhängt, dass er sich für keines der politischen Mei‐ nungs-Lager ohne Abstriche vereinnahmen lässt: dem konservativen bürgerlichen Lager war er sozialpolitisch zu links, zu sehr wohl auch der liberalen Verfassungs‐ tradition der Paulskirche verbunden, dem sozialistischen und linken Lager war er in Wertvorstellungen und Sprache zu bürgerlich, zu liberal und national gestimmt. Nimmt man das Stichwort „Liberalismus“ als Kriterium, so beobachtete ihn eine neuere Studie auf einer Gratwanderung zwischen liberal und illiberal, zwischen Liberalismen und Sozialismen.38 Gierke und sein Werk entziehen sich also offenbar vereinfachenden Vereinnahmungen. Diese Charakteristik soll noch einmal an zwei streitigen wissenschaftlichen Diskursen über das Bild vom Staat geschärft werden. Wie wir sahen, bildete sich für Gierke das Bild vom Staat der Gegenwart aus der Geschichte. Darum kann ein seinerzeit berühmter Streit um den Staat des Mit‐ telalters weitere Klärung für seinen Standpunkt bringen. Es handelt sich um die Auseinandersetzung mit dem damals führenden Mittelalterhistoriker Georg von Be‐ low (1858-1927). Below, aus einer preußischen Adelsfamilie stammend, ein äußerst streitbarer, hochkonservativer „politischer Historiker“ (Oexle), sieht in Gierke noch am Ende seines Lebens seinen „alten Gegner“, gegen dessen Rechtsgeschichte der deutschen Genossenschaft sich die „breiteste Seite seiner Polemik“ richtet.39 Das gilt vor allem für von Belows zusammenfassendes Hauptwerk mit dem programma‐ tischen Titel „Der deutsche Staat des Mittelalters. Eine Grundlegung der deutschen Verfassungsgeschichte“.40 Für Below hat der Staat im Zentrum jeder historischen Betrachtung zu stehen, er stelle das Maß dar „für die Berücksichtigung der einzelnen Teile der Kultur“. Below verlangt vom Historiker begriffliche Klarheit und greift dabei bewusst auf die moderne juristische Terminologie zurück, stützt sich dabei konsequent auf die „juristische Rechtsgeschichte“ positivistischer Prägung (P. v. Roth, R. Sohm, H. Brunner).41 Im Hintergrund steht bei ihm die Erkenntnistheorie des Neukantianismus (Rickert, Windelband). Mit diesem normativen Instrumentari‐ um beweist er die Staatlichkeit des mittelalterlichen deutschen Reiches und seiner 37 Kritische Justiz 1988. 38 Rückert 1992. 39 Oexle 1998b, bei dem auch die folgenden Zitate nachgewiesen sind. Ausführlich Cymorek 1998. Bei ihm finden sich ebenfalls die Belege zum Text (Lamprecht, Schmoller). 40 Below 1914. 41 Dazu Böckenförde 1995, viertes Kapitel S. 177 ff.

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Herrschaftsordnung. Er sieht die zentralen herrschaftlichen Elemente, also Fürst und Monarchie, als alleinige staatsbildende Kräfte. Der Staat ist ihm eine zweckge‐ richtete Anstalt, deren Organ der Herrscher ist. Dieser Staat sei in der deutschen Geschichte von Anbeginn des fränkischen und deutschen Reiches vorhanden, Below kennt, im Gegensatz zu Gierke, also keinen langsamen geschichtlichen Prozess der Staatsbildung. Das Lehnswesen und patrimoniale und genossenschaftliche Ge‐ richtsbarkeiten fügt er dem Staat ein und sieht entsprechende Herrschaftsträger mit einem Begriff der zeitgenössischen Jurisprudenz als vom Staat „beliehen“ an.42 Vor diesem historischen Hintergrund gewinnt dann die preußische Monarchie als Zentrum des neuen Deutschen Reiches eine überzeitliche Legitimität. Mit sicherem Gefühl erkennt er, eben als „politischer Historiker“, die aktuellen politischen Impli‐ kationen anderer Geschichtsbilder, so auch des Sozialhistorikers Lamprecht und des Soziologen Schmoller. So begründet sich auch die Gegnerschaft zu Gierke: Dessen genossenschaftlich geprägtes Geschichtsbild identifiziert er, bei allem wissenschaft‐ lichen Respekt, als liberal und von „verborgenem Republikanismus“ getragen. Die Anhänglichkeit beider Gelehrter an Preußen und seine Monarchie vermag diese Kluft nicht zu überbrücken; stehen doch dahinter wohl auch zwei verschiedene Bilder der Reichsgründung von 1871, das eine von der politischen Bewegung der Paulskirche her kommend, das andere von der historischen Aufgabe der Monarchie. Deutlicher als in diesem Diskurs lässt sich wohl der Zusammenhang zwischen Geschichtsverständnis und Staatsbild nicht beschreiben. Es ist bemerkenswert, dass der Historiker hier mehr normativ und weniger historisch denkt als der Jurist. In einem anderen streitbaren Diskurs findet sich Gierke zur anderen, zur juristi‐ schen Seite hin, und auch hier, nach der Laband-Kritik, wieder mit dem Staatsrecht. Er betrifft wiederum sehr grundsätzliche Fragen, bleibt aber etwas verborgen in einigen Fußnoten und ist darum bisher wenig beachtet. Max Weber ist es, der in seiner erkenntnistheoretischen Auseinandersetzung mit Vertretern der Historischen Schule der Nationalökonomie, nämlich Roscher und Knies, auch die parallelen Auffassungen in Gierkes organischer Staatslehre kritisiert, dabei in dessen eben be‐ handelter Schrift „Das Wesen der menschlichen Verbände“ eine unausgesprochene, aber umfassende Kritik an Georg Jellineks (1851-1911) kurz zuvor erschienener Allgemeiner Staatslehre erkennt.43 Weber und Jellinek waren damals in Heidelberg durch eine „Fachmenschenfreundschaft“ (St. Breuer) verbunden und standen beide unter dem Einfluss der neukantianischen Philosophie, deren Vertreter Windelband ebenfalls zu dem Heidelberger Kreis gehörte. Weber war andererseits Gierke aus der Berliner Zeit verbunden, war dieser doch einflussreicher Zweitgutachter seiner 42 Erst Otto Brunner legt 1939 mit „Land und Herrschaft“ Grundlage für ein neues „nichtstaatli‐ ches“ Mittelalterbild. Eine Auseinandersetzung mit Below und Gierke findet sich bei Brunner 1973 S. 156-159 u. ö. 43 Weber 1922, S. 35/36 Anm. 1 (auch 6. Aufl. 1985).

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Dissertation und Habilitation.44 - Weber benutzt die Gelegenheit, um Jellineks „ab‐ schließende Kritik“ an der organischen Staatslehre zu bestätigen und Gierkes Lehre von der realen Gesamtpersönlichkeit erkenntnistheoretisch in einer zweiseitigen Fußnote zu zerpflücken. Zwar habe die Idee einer „überindividuellen Lebenseinheit“ der Gemeinschaften Gierke selbst und damit der Wissenschaft „heuristisch“ die allerbedeutendsten Dienste geleistet, doch beruhe dies, wie dieser selbst zugestehe („Geheimnis“, „Glaube“, „Phantasie“), auf einer metaphysischen, wissenschaftlich nicht nachvollziehbaren Deutung. Weber trennt also den gebilligten heuristischen Ansatz seltsam scharf von der kritisierten wissenschaftlichen Beweisführung, wäh‐ rend er, wie auch Jellinek, die wissenschaftlichen Ergebnisse Gierkes wiederum schätzt. Er versucht dann zu zeigen, wie man aufgrund einer Handlungslehre, der Untersuchung von Normen und Beziehungen schärfer analytisch vorgehend zu den‐ selben Ergebnissen kommen kann, nämlich der Beschreibung kollektiver Vorgänge. Jellinek greift in der folgenden Auflage seiner Staatslehre, ebenfalls in einer Fußnote, den Punkt im Anschluss an die „vorzüglichen Ausführungen von Max Weber“ auf.45 Ihm ist Gierke, gleich dem Verfassungsrechtler Hugo Preuß, ein „unkritischer Metaphysiker, der durch ein Dogma die Forschungen da enden läßt, wo das wahre wissenschaftliche Problem erst beginnt“ - eine harsche methodische Rüge. Auch Jellinek rühmt kurz darauf aber die „tiefdringenden Ausführungen“ in Gierkes Genossenschaftsrecht sowie dessen Klärung des Anstaltsbegriffs, lehnt aber wiederum den Ansatz der organischen Verbandstheorie ab. Statt wie Gierke von einer Doppelung von realer Gesamtperson und ihrer Eigenschaft als juristische Per‐ son zu sprechen, sei es erkenntnistheoretisch nur erlaubt, von einer Verbandseinheit zu sprechen.46 Starke erkenntnistheoretische Einsprüche zweier bedeutender Gelehrter also. Es geht um die begriffliche Erfassung des Staates. Jellinek steht dabei, wie zuvor Laband, auf dem Standpunkt des staatsrechtlichen Positivismus.47 Er sieht jedoch, wie Gierke, die Einseitigkeit der rein juristischen Sicht gegenüber dem Gesamt‐ phänomen des Staates und versucht, dies mit der Entwicklung von etwas ganz Neuem, einer Allgemeinen Staatslehre, einzufangen. Da er im Gefolge Kants an einer strengen Trennung von Sein und Sollen festhält, sieht er sich aber genötigt, nach methodischen Überlegungen zuerst eine „Allgemeine Soziallehre des Staates“ zu entwickeln und erst danach auf die „Allgemeine Staatsrechtslehre“ einzugehen. Er trennt also die empirisch-soziale Seite des Staates von dem Bereich des Norma‐ tiven, dem Recht. Eine Brücke schlägt er allerdings in dem berühmt gewordenen Begriff der „normativen Kraft des Faktischen“. Gierke dagegen will im Gefolge 44 45 46 47

Dilcher in Dilcher/Lepsius 2008, Einleitung, bes. S. 7 f., 87 f. Jellinek 1922 S. 153 Anm. 1. Jellinek 1922, S. 159/60 Anm. 3. Zur wissenschaftsgeschichtlichen Einordnung Stolleis 1992 S. 450-455, zum Verhältnis zu La‐ band Pauly 1993, S. 219-223.

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der organischen Staatslehre gerade das Gesamtphänomen einheitlich erfassen und besteht darauf, dass den rechtlich verfassten Verbänden ebenso leiblich-geistige Rea‐ lität zukomme wie der individuellen Einzelperson; er will dies an deren empirisch feststellbaren Wirkungen und Funktionen festmachen. Auch in diesem Diskurs stehen sich die wissenschaftlichen Kontrahenten eigent‐ lich näher, betonen aber um so mehr einen spezifischen Unterschied. Weber und Jellinek geht es genau wie Gierke, bei Anerkennung der durch den juristischen Positivismus erzielten Fortschritte in der Erreichung einer inhaltlichen und methodi‐ schen Autonomie des Juristischen auch im Staatsrecht, um die Erfassung des Staates auch als eines historisch gewordenen und empirisch erfassbaren Gebildes. Auch politisch standen sich die Kontrahenten viel näher als zuvor Gierke und Below. Freilich standen Weber und Jellinek eindeutiger im Spektrum des Liberalismus als Gierke mit seinem Ausgreifen sowohl in den Bereich des Konservativen wie des Sozialen. - Hier hat sicher auch der Altersunterschied eine Bedeutung. Für Gierke zählt die Paulskirche noch zu den unmittelbaren Lebenseindrücken. Er sieht die Reichsgründung als glückliche Erfüllung der Ziele dieser Bewegung, während Weber dem Wilhelminismus kritisch gegenübersteht;48 Gierke erhält die Erhebung in den Adelsstand, während Weber die Abdankung des Junkertums als preußischer Führungsschicht konstatiert und die Bildung einer neuen politischen Elite durch den Parlamentarismus erhofft. Jellinek reflektiert oberhalb des aktuell Politischen, wohl aber auch im Hinblick auf ein „lebenskräftiges Volk“.49 Jedoch bilden diese politi‐ schen Nuancen nicht den Gegenstand des in Gierkes Aufsatz und den kritischen Fußnoten der beiden anderen mit scharfen Urteilen geführten Streites. In dessen Zentrum stehen, wie gesehen, erkenntnistheoretische Fragen. Es zeigt aber gewiss die Bedeutsamkeit, die man der Begründung, dem Bild und Begriff des Staates damals zumaß, wenn um die theoretischen Wege zu seiner Erkenntnis mit solcher Schärfe und Leidenschaft gestritten wird. Auch hier sind sich die Kontrahenten na‐ he. Auch stützen sie sich alle drei für die Entwicklung ihres theoretischen Ansatzes auf breite historische Analysen, entwerfen also nicht – obwohl der Kantianismus der Heidelberger das nahelegen würde – ein System abstrakter Begrifflichkeiten, wie etwa gleichzeitig Kelsen. Alle drei stehen insoweit in der Denktradition des Historismus, Gierke am unmittelbarsten der Historischen Rechtsschule. In dieser Tradition entwirft er das historische Narrativ einer aus dem Volksgeist gespeisten Dialektik von Herrschaft und Genossenschaft, während Weber als Ergebnis seiner sozialwissenschaftlichen Begriffsbildung den diachronen Idealtypus des okzidenta‐ len Rationalisierungsprozesses entwickelt. Jellinek hingegen verfolgt die geistesge‐ schichtlichen Linien der Staats- und Politiktheorie vor allem in dem Kapitel „das Wesen des Staates“ für seine Soziallehre (nicht die Rechtslehre!) des Staates. 48 Zu Webers Staatsbild auch in diesem Band P. Ghosh. 49 Jellinek 1922, S. XVI, (Vorrede zur ersten Auflage).

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Die Schärfe, aber auch die Kürze der nur in Stichworten geführten Auseinander‐ setzung lässt sich nur verstehen vor dem Hintergrund der grundlegenden theoreti‐ schen und methodischen Auseinandersetzungen der Zeit um 1900.50 Es geht dabei um die Begründung und Emanzipation der neuen Sozialwissenschaften als empiri‐ sche Wissenschaften. Sie haben sich, zusammen mit den Geisteswissenschaften, zunächst vom im Laufe des 19. Jahrhunderts immer dominierenderen Vorbild der „exakten“ Naturwissenschaften, ihrem Kausalitätsverständnis und Gesetzesbegriff, zu lösen. Dem werden, auch vom Neukantianismus, die historischen „individualisie‐ renden“ Wissenschaften entgegengesetzt. Weber, wohl unter dem Einfluss Jellineks, entwickelt hierfür den Idealtypus als über der Vielzahl der Tatsachen stehendes, aber an sie gebundenes begriffliches Instrumentarium. Der idealtypische Begriff, etwa des Staates, bleibt aber eine Konstruktion des Wissenschaftlers, ein heuristisches Mittel zur Erfassung unterschiedlicher Realitäten ohne ontologischen Gehalt. Im Vergleich dazu wird deutlich, wie Gierke stärker auf dem Verständnis der unmittel‐ baren Erkenntnis auch normativer Wahrheit aus der Geschichte fußt - Hegel versus Kant? Seine Begriffe von Herrschaft und Genossenschaft entwickelt er unmittelbar aus dem historischen Material, dahinter steht jedoch der jeweilige Volksgeist und damit eine Figur der Geschichtsmetaphysik des 19. Jahrhunderts. So kann er sich auch auf die geisteswissenschaftliche Verstehenslehre, die Hermeneutik Diltheys, einlassen.51 Den methodischen Zugängen, dem neukantianischen wie dem herme‐ neutischen, geht es beiden um die wissenschaftliche Erfassung von Sinnzusammen‐ hängen, nicht nur von Fakten. Auch Weber unterscheidet deshalb Erklären und Verstehen und stellt dabei „eine innige Verbindung der beiden heuristischen Strategi‐ en“ her.52 Weber verteidigt seinen Standpunkt als theoretische Grundlage der neuen Sozialwissenschaften in scharfen Auseinandersetzungen in verschiedenen Gremien, was unter den Bezeichnungen Methodenstreit oder Werturteilsstreit bekannt ist. Wenn es hier zu scharfen Urteilen im Verhältnis zu Gierke kommt, dem die beiden Kritiker in Vielem wissenschaftlich nahe stehen und dessen Forschungsergebnisse sie schätzen, so ist dies nur aus dieser Kampfsituation an der erkenntnistheoretischen Front zu verstehen. Darum der Hinweis Webers, der metaphysische Ansatz Gierkes habe diesem „heuristisch“ ausgezeichnete Dienste geleistet. Selbst Jellinek sieht seinen Fortschrittsglauben in einer letzten „Metaphysik der Geschichte“ begründet.53 Ähnlich ordnet Weber „Werturteile“ des Wissenschaftlers im Forschungsprozess, nämlich außerhalb der eigentlichen Beweisführung, ein. Gierke wiederum akzeptiert die Unterscheidung metaphysischer Elemente, bezieht diese aber unmittelbarer in den Erkenntnisprozess ein und meint, man könne „das Rätsel des Lebens“ bei 50 Eine knappe Übersicht über die komplexe Lage, fokussiert auf Weber, bringt Kaesler 2003, S. 222-251. 51 Dazu Janssen 1974. 52 Hierzu und zum folgenden Kaesler a. a. O. 53 Stolleis 1992, S. 452.

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der wissenschaftlichen Erfassung menschlicher Verbandsbildung nicht außen vor lassen und brauche deshalb auch Glauben und Fantasie. Andererseits nimmt er fast den kritischen Rationalismus Karl Poppers vorweg, wenn er feststellt, „auch die scheinbar solidesten Fundamente des wissenschaftlichen Verständnisses (sind) nur gut begründete Hypothesen“. Gerade darum aber spiele die Weltanschauungen auch bei der Beweisführung mit.54 Nicht nur das Geschichtsbild, sondern auch die im zeitgenössischen Methoden‐ streit bezogene erkenntnistheoretische Position spielte also bei der Begründung des wissenschaftlichen Bildes vom Staat um 1900 eine große Rolle.

3.2. Von der Geschichte zur Wirkungsgeschichte Eine weitere Einordnung von Gierkes Staatsbild kann durch einen Blick auf seine Wirkungsgeschichte erfolgen, sein Werk gleichsam im Rückspiegel gesehen. Den Werken der beiden bedeutendsten Gelehrten, die an Gierkes Genossenschaftsleh‐ re anknüpften, Hugo Sinzheimer (1875-1945) im Arbeitsrecht und Hugo Preuß (1860-1925) im Staatsrecht, beide aus jüdischen Familien stammend und der Sozi‐ aldemokratie politisch nahestehend, war seit dem Jahre 1933 ein Weiterwirken in Deutschland abgeschnitten. In den Dreißigerjahren wird Gierkes Werk vielmehr im anglo-amerikanischen Bereich als Grundlage einer politischen Pluralismustheo‐ rie rezipiert, anknüpfend an Gierkes wissenschaftlicher Freundschaft zu dem engli‐ schen Rechtshistoriker F. W. Maitland (1850-1906) und seinem Ehrendoktorat der Universität Harvard.55 Man könnte die politische Philosophie des von den USA ausgehenden Kommunitarismus als Fortsetzung dieser Tradition sehen. Im Nach‐ kriegsdeutschland dagegen schätzte noch die ältere Generation (K. S. Bader, H. Thieme) Gierkes Werk kritisch-positiv, während viele aus der jüngeren Generation von Rechtshistorikern, Zivil- und Arbeitsrechtlern ihm ideologische Nähe zum NS und eine Theorie des Kollektivismus vorwerfen.56 In dem Tagungsband von 1995 „Die Deutsche Rechtsgeschichte in der NS Zeit“ ist Gierke mit über 29 Nachweisen der häufigste Name im Personenregister,57 obwohl er bekannterweise den NS nicht mehr erlebt hat. Dem Kanonisten Peter Landau gelingt hier eine bemerkenswerte Differenzierung, indem er Gierke mit dem Genossenschaftsprinzip die Entdeckung eines „weltgeschichtlich wirksamen soziologischen Tatbestandes“ zuspricht, „den man im deutschen Mittelalter besonders gut erkennen kann, der jedoch nichts mit 54 Gierke 1902, S. 22/23, auch zitiert bei Weber und Jellinek in ihrer Kritik an Gierke. 55 Vgl. auch die Aufnahme von Gierkes Genossenschaftsrecht durch ein internationales Gremium unter die 150 wichtigsten juristischen Werke der westlichen Tradition in Dauchy 2016, dort Dilcher S. 385 ff.: Gierke, The German Law of Association. 56 Nachweise hierzu wie zum Vorhergehenden und zum Folgenden in Dilcher 2013. 57 Rückert/Willoweit 1995.

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einem germanisch geprägten Volkscharakter zu tun hat“58 - ein Urteil, dem man sich voll anschließend kann und das schon in dem Nachruf von Sinzheimer anklingt als „vergängliche Hülle eines germanischen Rechtsgeistes“, in die aber „zukunftsoffene rechtliche Vorstellungsformen gekleidet sind“. Jüngst betonten die Bedeutung des Gierkeschen Ansatzes für eine sozial- und strukturgeschichtliche Erfassung der mit‐ telalterlichen Gesellschaft emphatisch die Mediävisten Otto Gerhard Oexle59 und Peter Blickle,60 während der Politologe und Verfassungshistoriker Hans Boldt Gier‐ ke zu den Wegbereitern des modernen Sozialstaates zählt.61 Also auch im Rückspie‐ gel eine verwirrend unterschiedliche wissenschaftliche Einordnung und politische Bewertung. Deshalb sei, als eine Art Scheidewasser, ein Blick auf das Verhältnis von Gierkes Staats- und Rechtstheorie (das Privatrecht muss hier allerdings außen vor bleiben) zur NS-Ideologie geworfen. Das nationalsozialistische Parteiprogramm forderte in Punkt 19 „Ersatz für das der materialistischen Weltordnung dienende römische Recht durch ein deutsches Gemein-Recht“. Damit knüpfte man äußerlich an Forderungen der juristischen Ger‐ manistik und damit auch Gierkes an. Auch die rassistische Germanen-Ideologie des NS konnte auf die Identifikation von germanisch und deutsch in der Germa‐ nisten-Bewegung des 19. Jahrhunderts zurückgreifen. Die Identifikation des NS-Ge‐ meinschaftsdenkens und der „Volksgenossenschaft“ mit dem Genossenschafts- und Sozialprinzip des germanistischen und Gierkeschen Rechtsdenkens führten dann zu dem erwähnten Vorwurf des Kollektivismus und Antiindividualismus. In der Tat war es so, dass in der NS Zeit und schon zuvor von einigen Rechtshistorikern und dann auch von breiteren juristischen Kreisen in diesem Sinne eine „Gierkerenaissance“ gefordert wurde („zurück zu Gierke“, dann aber „vorwärts mit Gierke“);62 sie fand aber Widerhall eher im Kreis eines bürgerlich-nationalistischen Mitläufertums. Mit Scharfsinn und Schärfe wiesen dagegen führende nationalsozialistische Staatsrecht‐ ler wie Carl Schmitt, Ernst Forsthoff und Reinhard Höhn Gierke einem reformori‐ entierten (und darum gefährlichen!) bürgerlichen Liberalismus zu; für Höhn ist 1936 „Gierkes Rechtssystem [...] der letzte große Pfeiler, der uns im Kampf um die Rechtserneuerung von einem neuen Denken aus entgegensteht“. Gierkes frei‐ heitssicherndes Genossenschaftsprinzip ließ sich eben nicht in einen autoritär-dezi‐ sionistischen Führerstaat einfügen, sein idealistisches Germanenbild nicht für einen agressiven Rassismus und Antisemitismus verwenden. Die Theorie einer Kontinuität von den Germanisten und Gierke zur NS-Ideologie beruht also offensichtlich auf mangelnder Quellenlektüre, fehlendem Nachvollzug 58 Das Zitat in Rückert/Willoweit 1995, S. 94. 59 Oexle 1988a, der S. 213 Gierke mit den strukturgeschichtlichen Zugriffen von Max Weber, Otto Hintze und Marc Bloch in eine Reihe stellt. 60 Blickle 1995. 61 Boldt 1982. 62 Dazu Nachweise in Dilcher 2013.

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von Gierkes dialektischem Denken zwischen Einheit und Freiheit und Vereinfachun‐ gen der ideen- und begriffsgeschichtlichen Verflechtungen in Wissenschaft und Politik im 19. und in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts. Das Problem solcher Verbindungen sollte darum nicht durch die Konstruktion von Kontinuitätsli‐ nien angegangen werden, als vielmehr umgekehrt durch eine Analyse der wirren aber wirkungsstarken Mischung von ideologischen Legitimationsstrategien durch den NS. Davon grenzt sich dann Gierkes Staatsdenken ab als hervorgegangen aus dem Historismus des 19. Jahrhunderts, der neben dem Rückgriff auf die klassische Antike (Römisches Recht!) auch eines solchen auf die „germanische“ Vergangenheit der Deutschen bedurfte im Streben, der „verspäteten Nation“ (H. Plessner) eine historische Identifikation im europäischen Konzert zu verschaffen. Die Funktion dieser Identifikation liegt wie gezeigt bei Gierke darin, dem nationalen Verfassungs‐ staat liberaler, demokratischer und sozialer Prägung eine historische Legitimation zu verschaffen - wohl auch ein Fall der „invention of tradition“ im Sinne von E. Hobsbawm. Sieht man es so, dann tritt die letztlich katastrophale Abwendung großer Teile des deutschen Bürgertums von der 1848er-Tradition seit der Jahrhundertwende und unter der Weimarer Republik deutlicher hervor. Die oben diskutierten Positionen um 1900 gewinnen eine noch klarere ideenge‐ schichtliche Einordnung, wenn wir die Parallelen betrachten, die das Verhältnis von Jellinek/Weber zu Gierke aufweist zu dem heutigen Gegensatz zwischen der kantianisch-individualistisch geprägten Rechtsphilosophie von John Rawls zu dem die Sozialität des Menschen betonenden Ansatz der Schule der Kommunitaristen. In beiden Diskursen handelt es sich offenbar um dasselbe Grundproblem moderner Gesellschaften.

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Peter Ghosh Gibt es bei Max Weber eine Staatstheorie?*

Max Webers Gedanken zu Staat und Politik scheinen bestens bekannt und Gegen‐ stand einer umfassenden und ertragreichen Forschungsliteratur zu sein. Bisweilen trügt aber der Schein und Schwierigkeiten bleiben bestehen. Beispielsweise unter‐ scheiden sich die Ansichten der Autoren, die zu diesen Fragen schreiben, je nach fachlicher Perspektive (Rechtswissenschaft, Soziologie, Politikwissenschaft) erheb‐ lich. Eines jedoch hat Forschende in der jüngeren Diskussion geeint: Sie nehmen an, dass Weber über eine Theorie des Staates verfügte oder dass, wenn dies nicht der Fall ist und er uns nur „staatstheoretische Fragmente“ hinterlassen hat, es unsere Aufgabe ist, eine solche zu schaffen und die Fragmente, insofern er ein „begrifflichtheoretisches Fundament“ bereitgestellt hat, zu einem Ganzen zusammenzusetzen.1 Nun könnte es ein durchaus angemessenes Vorhaben sein, Webers Vermächtnis im Sinne eines modernen begrifflichen Instrumentariums aufzubereiten – aber ist es das, was Weber beabsichtigt hat? Hatte er eine ‚Staatstheorie‘? Stellte er den Staat in den Mittelpunkt seines Denkens?2 Ich behaupte, dass dies nicht der Fall ist, sondern vielmehr gerade die Ersetzung herkömmlicher politischer Kategorien für sein Denken zentral war.

I Dass Weber keine ‚Theorie des Staates‘ hatte und eine solche auch nicht anstrebte, ist für die ersten 53 seiner 56 Lebensjahre besonders deutlich. In dieser Zeit, also vor 1917, findet sich in einem außerordentlich weit gespannten und vielfältigen Œuvre nicht eine einzige wissenschaftliche Schrift, in deren Titel das Wort ‚Staat‘ oder ‚staatlich‘ auftauchen würde, und selbst die Verwendung von ‚Politik‘ ist eher unge‐ wöhnlich. So stammt auch der Titel Staat und Hierokratie, der in der akademischen Welt immer noch mit einem wichtigen Teilbereich der Herrschaftssoziologie der Vorkriegszeit in Verbindung gebracht wird, mit ziemlicher Sicherheit von Marianne

* Ich danke Hubert Treiber und Walter Pauly dafür, dass sie mich mit Material versorgt haben, das während der Pandemie nur schwer zugänglich war; Hubert Treiber hat zudem den Entwurf dieses Beitrags gelesen. 1 Anter 1996, S. 5, 231. 2 Vgl. Breuer 1994, S. 5–32; Treiber 2014, S. 1–40.

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Weber und nicht von ihrem Ehemann.3 Webers Überschrift lautete „Politische und hierokratische Herrschaft“, was bereits auf „Politischer Verband, hierokratischer Verband“ in der endgültigen Fassung von 1920 verweist.4 Wenn der Begriff ‚Staat‘ in einem Text Webers vorkommt, wird er gewöhnlich mit einer gewissen Skepsis in Anführungszeichen gesetzt: „[die] politische Gemeinschaft, welche man als ‚Staat‘ […] zu bezeichnen pflegt“.5 Eine kleine Anzahl hinterlassener Manuskripte zeigt, dass er ihn zugunsten von „politischer Verband“ gestrichen hat, und ‚Verband‘ ist der von ihm bevorzugte allgemeine Fachbegriff, da er die Vorstellung einer organi‐ sierten Gruppe in jeglichem sozialen oder politischen Kontext enthält.6 Tatsächlich ging er so weit, daran zu zweifeln, ob „die soziologische Betrachtung […] [das] Wort ‚Staat‘ […] überhaupt“ benutzen sollte.7 Natürlich wollte Weber politisches Verhalten nicht aus dem Bereich der Sozialwissenschaft ausschließen. Daher rührt auch die kursorische Behandlung von „politischen Gemeinschaften“ und darauf be‐ zogenen Entitäten wie der ‚Nation‘ in den Entwürfen zu Wirtschaft und Gesellschaft aus der Vorkriegszeit.8 Aber selbst ein solcher Gebrauch kam selten vor; ‚Politik‘ war für Weber zwar eng mit dem ‚Staat‘ verbunden, aber nicht das Gleiche. Es gibt zwei Ausnahmen zu dem oben Gesagten – allerdings eher scheinbare als tatsächliche Ausnahmen. Erstens weist Weber als Herausgeber des mehrbändigen Grundrisses der Sozialökonomik den Beziehungen zwischen der kapitalistischen Wirtschaftsweise und dem ‚modernen Staat‘ in der inhaltlichen Planung, die er 1910 und 1914 vornahm, eine bedeutends Rolle zu.9 Das zeigt jedoch nur, dass er bereit war, den modernen Staat ebenso wie den modernen Kapitalismus als ein spezifisches historisches Phänomen aufzufassen. Was ihn interessierte, war „Die Entwicklung des modernen Staates“ (so eine Überschrift für einen ungeschriebenen Abschnitt von Wirtschaft und Gesellschaft).10 Aber ‚der Staat‘ als allgemeiner Begriff bleibt ausgeklammert. Das einzige Mal, dass Weber das Wort ‚Staat‘ selbst im Titel eines seiner Werke gebrauchte – dies die zweite Ausnahme –, ist seine Freiburger Antrittsrede: Der Nationalstaat und die Volkswirtschaftspolitik (1895). Aber diese Vorlesung ist nicht ein Werk ‚wertfreier Wissenschaft‘. Hier finden wir eine fundamentale kategorische Unterscheidung, der jene, die über den ‚Staat‘ bei Weber und seine ‚politische 3 4

Vgl. Edith Hankes editorische Anmerkungen in MWG I/22‑4, 97, 576, 578. „Einteilung des Gesamtwerkes“, Juni 1914, MWG I/24, 169; WuG, c. I § 17, 29; vgl. „Staatsso‐ ziologie“ [1920], MWG III/7.66: „Politische und hierocratische Herrschaft“. 5 „Ueber einige Kategorien der verstehenden Soziologie“ (1913), WL, 466, vgl. auch 451 [im Weiteren „Kategorien“]; „Politische Gemeinschaften“ [ca. 1910], MWG I/22‑1, 208. 6 „Herrschaft“ [ca. 1910–1914], MWG I/22‑4, 576 und Anm. 63. 7 „Kategorien“, WL, 440. 8 MWG I/22‑1, 204–215, vgl. auch 222–247. 9 „Stoffverteilungsplan“ [1910], Bücher II. .2, III–V, sowie „Einteilung des Gesamtwerkes“ [1914], Bücher II. , III–V, MWG I/24, 145–154, 168–173; vgl. „Staatssoziologie“ [1920], Nr. 14, MWG III/7, 66. 10 „Einteilung des Gesamtwerkes“, MWG I/24, 169.

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Soziologie‘ sprechen, gewöhnlich aus dem Weg gehen. Ihr zufolge ist es jedoch theoretisch (und auch ethisch) nicht hinnehmbar, eine scharfe Trennungslinie zwi‐ schen der ‚wertfreien Wissenschaft‘ und der Politik zu ziehen. Warum sollte man in zwei Arten von ‚politischen Schriften‘ unterteilen, wenn sich ihr Inhalt zu einem großen Teil überschneidet? Doch es kein Zweifel bestehen, was Weber selbst gesagt hat. So mag er 1895 nicht den Begriff ‚wertfrei‘ umrissen haben, aber er unter‐ schied deutlich zwischen ‚Wissenschaft‘, die ‚wertfrei‘ war, und ‚politischer Wissen‐ schaft‘, in der wissenschaftlich erhobene Daten wiederum zu politischen Zwecken angewendet wurden. „Die Volkswirtschaftslehre als erklärende und analysierende Wissenschaft ist international, allein sobald sie Werturteile fällt, ist sie gebunden an diejenige Ausprägung des Menschentums, die wir in unserem eigenen Wesen finden“ – das heißt als Besitzer von Idealen, die „wandelbar und vergänglich“ sind.11 Wie der Titel der Antrittsrede ankündigt, ist ihr Gegenstand nicht international, sondern national. Es geht um ‚Volkswirtschaftspolitik‘, und „die Wissenschaft von der Volkswirtschaftspolitik ist eine politische Wissenschaft.“12 Tatsächlich vermag die Rede von einer ‚politischen Wissenschaft‘ nicht zufriedenzustellen. Angesichts von Webers tiefer Verpflichtung gegenüber der Reinheit der Wissenschaft ist der Ausdruck ein begrifflicher Widerspruch, und auch wenn Weber wiederholt über dieses Thema nachdachte, tauchte er bei ihm nie wieder auf.13 Dennoch ist seine Bedeutung klar: Die Freiburger Antrittsvorlesung will keine reine Wissenschaft betreiben. Ihr Gegenstand ist nicht „der Staat“ – was eine allgemeine Kategorie sein könnte –, sondern etwas Spezifisches: ‚der Nationalstaat‘ oder, anders gesagt, Deutschland nach 1871. Wie Weber bei anderer Gelegenheit bemerkte, als er mit einem Thema wie Deutschland konfrontiert wurde, muss der Analytiker, „dem logi‐ schen Prinzip nach, gerade so verfahren wie ein Faust-Interpret“.14 Deutschland war kein Allgemeinbegriff, sondern – wie ein unendlich komplexes Kunstwerk – ein spezifischer Fall. Ebenso erwogen wurde, dass dem ein Mangel an Interesse am Staat zugrunde lag, der sich aus einem tief sitzenden Zweifel daran ergab, ‚Staat‘ als konzeptionellen Begriff nutzen zu können – und Begriffe waren die elementaren Bausteine für das ganze Denken Webers. In seiner grundlegenden Stellungnahme zu diesem Thema, dem Aufsatz Die ‚Objektivität‘ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Er‐ kenntnis (1904), plädiert er dafür, den Idealtypus als Modell der Begriffsbildung zu

11 MWG I/4, 559. 12 Ebd., 561. 13 Vgl. „Die ‚Objektivität‘ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis“ [1904], WL, 156–157 [im Weiteren „Objektivität“]; Weber an den Verein für Sozialpolitik, 28.09.05, MWG I/8, 272; „Parliament und Regierung im neugeordneten Deutschland“ (1917/18), MWG I/15, 432; WuG, 173. Dennoch hat sich der Gebrauch dieses Ausdrucks im Jahr 1895 für Politikwis‐ senschaftler als attraktiv – und missverständlich – erwiesen: Hennis 1987, S. 131–139. 14 „Kritische Studien auf dem Gebiet der kulturwissenschaftlichen Logik“ [1906], WL, 262–263.

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gebrauchen. Dabei entschloss er sich aber, den Staat gänzlich außen vor zu lassen: „Notgedrungen muß hier die eingehende Erörterung des weitaus kompliziertesten und interessantesten Falls: die Frage der logischen Struktur des Staatsbegriffes bei‐ seite bleiben.“ Dennoch war Weber vorbereitet, die Art der Beziehung des Staates zum Idealtypus zu erläutern: Der wissenschaftliche Staatsbegriff, wie immer er formuliert werde, ist natürlich stets eine Synthese […]. Der konkrete Inhalt aber, den der historische „Staat“ in jenen Synthe‐ sen der Zeitgenossen annimmt, kann wiederum nur durch Orientierung an idealtypischen Begriffen zur Anschauung gebracht werden.15

Da es ihm hier darum geht, ein Manifest zu schreiben, um eine akademische Zeit‐ schrift zu begründen,16 hütet er sich davor abzustreiten, dass andere einen ‚wissen‐ schaftlichen Staatsbegriff‘ haben könnten (oder das zumindest glauben könnten); allerdings ist, was auch immer sie dazu schreiben, eine Synthese. Es ist kein reiner, sondern ein Mischbegriff, und häufig ist es überhaupt kein Begriff, sondern „nur eine Deckadresse für ein in sich höchst verschlungenes Knäuel von Wertideen“ oder willkürliche Formen der Selbstbehauptung.17 Am weitesten würde man sich einem reinen Gedankengebilde annähern, indem man einen Idealtyp des historischen ‚Staates‘ bildet. Der Idealtypus, wie Weber ihn selbst gebraucht, ist sowohl logisch rein als auch historisch gegründet (es könnte keine zufriedenstellende Erklärung der Askese ohne den asketischen Protestantismus oder der Bürokratie ohne den Patrimo‐ nialismus geben), und indem Weber von dieser neuen Vorstellung zu überzeugen sucht, ist er darauf vorbereitet, sie als eine historische Konstruktion anzusehen. Das gleicht seiner Akzeptanz des ‚modernen Staates‘ im Grundriss der Sozialökonomik, ebenso wie er in seinen Schriften das Wort ‚Staat‘ ohne Anführungszeichen zu verwenden pflegt, um etwas historisch und geografisch Spezifisches zu beschreiben: den antiken, den patriarchalen, den merkantilistischen Staat etc. Im Jahr 1917 scheint sich hier jedoch ein Wandel zu vollziehen. In diesem Jahr hielt er eine Vorlesung über Probleme der Staatssoziologie in Wien, die jene Vorle‐ sungsreihe bereits vorwegnahm, die er 1920 in München begann, aber nicht mehr abschließen konnte: Allgemeine Staatslehre und Politik (Staatssoziologie). Zu dieser Zeit formulierte Weber auch eine Definition des Staates, die in zwei unterschiedli‐ chen, im Wesentlichen aber übereinstimmenden Formen auftaucht. Aus theoretischer Sicht ist jene in Wirtschaft und Gesellschaft (1919/20), wenn auch nur unwesentlich, vorzugswürdig: Politischer Verband soll ein Herrschaftsverband […] heißen […] Staat soll ein politischer Anstaltsbetrieb heißen, wenn und insoweit sein Verwaltungsstab erfolgreich das Mono‐

15 „Objektivität“, WL, 200–201. 16 Ghosh 2016, S. 133–195. 17 „Objektivität“, WL, 211.

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pol legitimen physischen Zwanges für die Durchführung der Ordnungen in Anspruch nimmt.18

Dass diese Worte so oft zitiert worden sind und damit übermäßig vertraut scheinen, bereitet erhebliche Schwierigkeiten, aber berücksichtigt man Webers früherer Ableh‐ nung, die Existenz eines ‚Staatsbegriffs‘ anzuerkennen,19 erhalten sie eine neue und tatsächlich fundamentale Bedeutung. In der Rangordnung der Kategorien steht der Staat ganz unten: Er ist ein Beispiel eines politischen ‚Verbands‘, der wiederum ein ‚Herrschaftsverband‘ ist, denn bei ihm handelt es sich um eine Hybride oder Synthese. Er errichtet die Vorstellung von ‚Herrschaft‘ – einer Herrschaft, die von den Bürgern als legitim und gesetzlich wahrgenommen wird – innerhalb des „soziologisch amorph[en]“ und „diabolischen“ Reichs der Politik:20 „[W]er mit der Politik, das heißt: mit Macht und Gewaltsamkeit als Mittel, sich einläßt, [schließt] mit diabolischen Mächten einen Pakt [...], und [...] für sein Handeln [ist] es nicht wahr [...]: daß aus Gutem nur Gutes, aus Bösem nur Böses kommen könne, sondern oft das Gegenteil.“21 Im Prinzip hat die Vorstellung von Legitimität, die auf der Bereitschaft der Bürger gründet, Befehlen ohne Zwang zu gehorchen, nichts mit dem politischen Reich bloßer Gewalt gemein, das sich letztendlich physisch und amoralisch Ausdruck verschafft. Aus diesem Grund ist der ‚Staatsbegriff‘ eine Syn‐ these, und Weber würde niemals zugestehen, dass es sich um einen reinen Begriff handelt. Nun sollten wir nicht die Schwierigkeit übergehen, die das, was Weber sagt, mit sich bringt: Wie konnte derjenige, den wir als den größten modernen Theoretiker im heutigen Begriffsuniversum anerkennen, einen solchen beträchtlichen Bruch in seiner Theorie zulassen? Hier findet sich offensichtlich ein Grund dafür, warum politische Kommentatoren eine begrifflich reine Vorstellung vom Weber’schen Staat bevorzugen, ob es nun der juristische oder der rationale Staat ist.22 Aber Weber ist ein Gesellschaftstheoretiker, und in seinen eigenen, sozialen Kategorien findet sich kein Bruch. Zudem läuft seine Theorie weniger Gefahr, angesichts von Antinomien in sich zusammenzubrechen,23 ist ihr doch vielmehr eine empirische Differenz ein‐ gebaut: Der hybride Staat ist das Gegenstück zur hybriden Weber’schen Moderne, in der ‚wertfreie‘ Wissenschaft und Rationalität mit einer Welt einhergeht, die aus konfligierenden Werten und Werturteilen besteht – für die wiederum die Politik ein herausragendes Beispiel ist.24 Vor 1914 war sein Denken nicht anders. Legitime Herrschaft musste in der breiteren Sphäre der nicht weiter analysierbaren und nicht theoretisierbaren Macht 18 19 20 21 22 23 24

WuG, c. I § 17, 29; vgl. „Politik als Beruf“ [1919], MWG I/17, 158–159. WuG, 30. WuG, c. I § 16, 28. „Politik als Beruf“, MWG I/17, 159, 241–242. Zu Letzterem Breuer 1994, S. 5–32. Vgl. Mommsen 1981. Ghosh 2014b, § III.

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verortet werden.25 Aus diesem Grund sprach Weber lieber von „öffentlichem Recht“ als von „Staatsrecht“, weil der Staat kein reiner Rechtsbegriff war. Vielmehr war er derjenige, der das Gesetz physisch garantierte und erzwang: Von „staatlichem“, das heißt: staatlich garantiertem, Recht wollen wir da und insoweit sprechen, als die Garantie dafür, der Rechtszwang, durch die spezifischen, im Normalfall also: direkt physischen Zwangsmittel der politischen Gemeinschaft geübt wird.26

Was diesen theoretischen oder anti-theoretischen Überlegungen zugrunde liegt, war eine tiefe Animosität gegenüber einer in seinen Augen übertriebenen deutschen Ehr‐ furcht vor dem Staat, der „deutsche[n] ‚organische[n]‘ Staatsmetaphysik“.27 (Hier findet sich einer der Gründe für seinen Enthusiasmus für das, was englisch und ame‐ rikanisch war.) Vor dem Krieg war offensichtlich der ‚Staats- und Kathedersozialis‐ mus‘ Gustav Schmollers ein Gegenstand dieser Feindseligkeit.28 Nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs wurden seine Befürchtungen durch die staatszentrierten und organizistischen ‚Ideen von 1914‘ verstärkt. So notierte denn auch Ernst Toller auf Schloss Lauenstein 1917 wohlwollend: „Er haßt alle Staatsromantik“.29 Mochte er auch ab 1917 eher bereit sein, vom Staat zu sprechen, blieben die Grundlagen seines Denkens unverändert. Was sich änderte, ist lediglich die Form der Darstellung. 1914 schlägt er für Wirtschaft und Gesellschaft zwei separate Teile vor: zunächst „Der po‐ litische Verband“, der das Reich der Macht einschließt, danach „Die Herrschaft“ und die Funktionsweise der legitimen Hierarchie. Das spiegelt sich in den Manuskripten wider, die uns überliefert sind.30 Nach 1918 geht das Kapitel über ‚Herrschaft‘ einer ungeschriebenen ‚Staatssoziologie‘ voran,31 aber er verbindet ‚Herrschaft‘ und ‚Politik‘ von vornherein als synthetische Einheit und schafft so die Definition des Staates, die Berühmtheit erlangen sollte. Es ist weiterhin eine Synthese und kein reiner Begriff – sein Denken ist gleich geblieben. Ein Teil des Denkens Webers ist konventionell. Die Gleichsetzung von Politik mit ‚Macht‘, ‚Realpolitik‘ und ‚Staatsräson‘ steht in einer langen Tradition deutschen Denkens, in der Politik den Bereich von willkürlicher Macht und Konflikten be‐ zeichnet, während die alternative aristotelische Bedeutung von Politik (die Natur der politeia) mit anderen Ausdrücken (‚öffentliches Recht‘, Staat, Verfassung) neu beschrieben wird. Das fügte sich in die Logik der deutschen Geschichte, in der die 25 „Macht und Herrschaft“, MWG I/22‑4, 127–135. 26 „Die Wirtschaft und die Ordnungen“ [ca. 1910–1914], MWG I/22‑3, 198; zum „öffentlichen Recht“ z. B. „Die Entwicklungsbedingungen des Rechts“, § 1, ebd., 274–305. 27 „Objektivität“ [1904], WL, 201; vgl. „Freiburger Antrittsrede“ [1895], MWG I/4, 561; „Herr‐ schaft“ [ca. 1910–1914], MWG I/22‑4, 529. 28 Vgl. z. B. Weber an den Verein für Sozialpolitik, 28.09.05, MWG I/8, 266–279. 29 Toller 1978, S. 78. Vgl. Weber, Wahlrecht und Demokratie in Deutschland (1917), MWG I/15, 355–366. 30 „Einteilung des Gesamtwerkes“, Grundriss der Sozialökonomik, MWG I/24, 169. Vgl. „Politi‐ sche Gemeinschaften“, MWG I/22‑1, 204–47; „Herrschaft“, MWG I/22‑4, 126–679 passim. 31 WuG, 168.

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‚Kulturgemeinschaft‘ der deutschsprechenden Länder der Schaffung des Norddeut‐ schen Bundes 1866–1871 voranging. Der zweite Teil, die Herrschaftstheorie, ist hingegen etwas Neues, und es kann angesichts ihres Umfangs und ihrer Vorrangstel‐ lung im Vergleich zu seiner äußerst kurzen Behandlung der Politik keinen Zweifel geben, dass auch Weber sie so verstanden hat. Die nicht wirklich aufeinander abge‐ stimmte Kombination der beiden Auffassungen, auch die politischen Ansichten die daraus entstanden, ist einzigartig und ergibt sich aus der Logik von Webers eigenem forschenden Denken, bei dem soziale Prämissen das ‚politische‘ Verhalten umfassen und in sich enthalten. Die Vorstellung, er sei „ein nachgerade idealtypischer Reprä‐ sentant des deutschen politischen Denkens“ gewesen und seine Ansichten seien „zumeist Ausdruck der herrschenden Meinung der Zeit“, ist sicherlich alles andere als zutreffend.32 Die hauptsächliche Verbindung zur deutschen Tradition liegt in seinen Vorbehalten gegenüber einer politischen Ethik und in der damit zusammen‐ hängenden, wenngleich davon getrennten Annahme, dass es ein gewichtiges Leben außerhalb der Politik gibt, das für Weber in der Autonomie des Zivil- und des Handelsrechts seinen Ursprung hat. Es könnte der Eindruck entstehen, dass ein solches unpolitisches Denken in der erheblich angewachsenen machtpolitischen Prä‐ senz Deutschlands in Europa nach 1871 an den Rand gedrängt wurde. Es eröffneten sich jedoch auch neue Wege durch das Aufkommen der ‚sozialen Frage‘ und die Möglichkeit, dass es einen Bestand an sozialem Denken außerhalb des politischen Denkens geben könnte.33 Weber als politischer Nationalist und theoretischer Sozio‐ loge spürte beide Impulse. Aber es gibt keine Anzeichen, dass er etwas zur ‚Politik‑‘ oder ‚Staatswissenschaft‘ beitragen wollte. Vielmehr war sein Bestreben auf etwas typisch Hybrides aus: eine „soziologische Staatslehre“ zu schaffen.34

II Ausgehend von diesem Überblick können wir Webers Einsichten weiter erkunden und dabei als Folie und zugleich als Kontrast seine Staatstheorie in jener Version heranziehen, wie die heutige Rechtswissenschaft sie uns präsentieren.35 Diese ruht auf drei grundlegenden Annahmen: dass Weber einen Staatsbegriff und eine Staats‐ theorie besaß, die eine Einheit bilden; dass sein Denken von einer Anzahl rechtswis‐ senschaftlicher Autoren (C. F. v. Gerber, Paul Laband, Otto Mayr) herrührt; und dass eine juristische Vorstellung von der ‚Anstalt‘ den Kern dieser Theorie bildet – 32 33 34 35

Anter 1996, S. 232–233. Vgl. den Fall von Lujo Brentano bei Ghosh 2016, S. 33–44. An Paul Siebeck, 23.01.1913; vgl. auch 30.12.1913, MWG Briefe. Schönberger 1997, S. 311–318; Hermes 2006, S. 184–216; Hermes 2007‚ S. 81–101; Treiber 2014, S. 1–40. Prof. Treiber, der ebenso Soziologe wie Jurist ist, spricht hier allerdings von „Staatsverständnis“, nicht von „Staatstheorie“.

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daher auch die summarische Vorstellung seiner Ideen unter der Rubrik „Der Staat als ‚Anstalt‘“.36 Ich möchte zeigen, dass diese Annahmen falsch sind. Das Folgende ist jedoch nicht nur als Kritik zu verstehen. Offensichtlich besteht, allgemein gespro‐ chen, eine wesentliche Beziehung zwischen der Rechtstheorie des 19. Jahrhunderts und der Weber’schen Theorie, die rechtliche Begriffe und Vorstellungen aufgreift und umarbeitet. Ein Vergleich zwischen den beiden wird daher helfen, Klarheit über einige Grundlagen des Weber’schen Denkens über ‚den Staat‘ in Bezug auf ‚Herrschaft‘, ‚Anstalt‘, ‚Macht‘ und ‚Gewalt‘ zu schaffen. Nun war Weber durchaus in den Rechtswissenschaften geschult, aber sein In‐ teresse lag dabei auf dem Zivil- und Privatrecht, das allgemein als die „reifere Schwester“ in der Rangordnung der unterschiedlichen Rechtsgebiete galt.37 Mithin hatte er kein Interesse am öffentlichen oder Staatsrecht, das im gegenwärtigen Kon‐ text als zentral angesehen wird. Die Grundlagen dieses Denkens wurden schon in seiner Studienzeit gebildet, schon bevor er sich formal für eine bestimmte Karriere entschieden hatte. Die Vorlesungen, die er in seiner Frühzeit besuchte (1882–1886), waren (wie zu erwarten) in ihrer Bandbreite katholisch geprägt und beinhalteten daher deutsches Staatsrecht. Dieses sah er aber als in historische, politische, wirt‐ schaftliche und religiöse Kontexte eingebettet an – es war kein rein rechtswissen‐ schaftlicher Gegenstand. Am meisten Eindruck auf ihn machten entsprechend die Vorlesungen über „Deutsches Staatsrecht“ von Rudolf Gneist (1884–1885), einem Reichstagsabgeordneten und engen Kollegen seines Vaters: Gneists Collegien über deutsches Staatsrecht und preußisches Verwaltungsrecht sind […] ein wahres Meisterwerk und haben mir von allen juristischen Collegien, die ich bisher gehört habe, am meisten gefallen. Wirklich gewundert hat mich dabei die Art in der er in seinem Colleg auch direkt, in Fragen der Tagespolitik hineinsteigt und die stramm libera‐ len Ansichten, die er dabei entwickelt, ohne doch […] propagandistisch oder agitatorisch zu werden. Ich habe über Staatsrecht noch nie etwas gelesen oder vortragen hören, was die Fragen desselben, auch soweit sie historisch sind, in so direkt praktischer Weise und unter Festhaltung des Zusammenhanges mit den national-ökonomischen und religiösen Elementen, welche auf Staatsbildung und -Ordnung von Einfluß sind, behandelt hätte.38

Das war das Gegenteil des formal reinen und selbstgenügenden Rechtsbegriffs, wie ihn Gerber und Laband in den Jahren 1865 bis 1880 vertraten. Ungeachtet ihres intellektuellen Gewichts bezog sich Weber in seinem reifen Œuvre nie auf sie, ganz zu schweigen von zweitrangigen Figuren wie Mayer, wenngleich sich im Manuskript eine dann wieder gestrichene Anmerkung zur Rechtssoziologie findet, in der er Labands eher politische als rechtliche oder ‚wissenschaftliche‘ Sichtweise 36 Hermes 2006, Titel; Treiber 2014, S. 3, vgl. auch S. 12 Anm. 62; vgl. Breuer 2011, S. 231–232, 240. 37 Laband 1876, S. . 38 An Hermann Baumgarten 8./10.11.84, MWG Briefe. Vgl. Roth 2001, S. 389, 420, 462, 468– 469. MWG II/1, 637–638 listet die Lehrveranstaltungen auf, die Weber besucht hat.

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aufgreift und ihn als Fürsprecher „der modernen Machtpolitik“ im Reich nach 1871 darstellt.39 Dieses Nichtbeachten ist nicht ganz schlüssig. Immerhin waren Gerber und Laband bedeutende Männer, deren Werk, das selbst Ideen aus dem Zivilrecht zum Ausgangspunkt hatte, Weber sicherlich kannte. Auch war Mayer aller Wahr‐ scheinlichkeit nach einer der vielen Autoren, die Weber zu Rate zog, als er Die Entwicklungsbedingungen des Rechts nach 1910 vorbereitete.40 Aber selbst dort findet sich kein Verweis auf diese Denker. Heutige Gelehrte erkennen dies durchaus, aber angesichts der „Parallelformulie‐ rung“ und der „auffälligen Affinität“, die sie zwischen Weber und den Rechtswis‐ senschaftlern ausmachen, schreiben sie in dem Glauben, dass es am vernünftigsten ist, von einer Verbindung zwischen ihnen auszugehen.41 Beginnen wir jedoch nicht mit einer selektiven Suche nach Parallelen, sondern betrachten unvoreingenommen und umfassend die betreffenden Texte und Autoren, ergibt sich ein ganz anderes Bild: Weber stimmte in einigen zentralen Punkten gerade nicht mit Gerber und Laband überein. Bekanntlich – und diese Feststellung birgt nichts Neues – such‐ ten diese Autoren einheitliche Systeme des öffentlichen Rechts zu schaffen, die nichts als Rechtssysteme waren. Dies war das Programm, das im Titel von Gerbers bahnbrechender theoretischer Abhandlung Grundzüge eines Systems des deutschen Staatsrechts (1865) steckte. Öffentliches und Staatsrecht sollten eine unabhängige ‚Wissenschaft‘ sein, „eine[ ] möglichst folgerichtige[ ] Dogmatik“42, was politische, philosophische und historische Erwägungen ausschloss, die bislang einen großen Teil der Materie des Staatsrechts ausgemacht hatten, wofür der ältere Rudolf von Gneist als Beispiel stand.43 Das war Teil eines allgemeinen Trends zur Formalisie‐ rung und Systematisierung im deutschen Recht jener Zeit. Rudolf Ihering, für den das Studium des römischen Rechts in ähnlicher Weise Priorität hatte, bemerkte zu Gerber 1869: „Du hast die Jurisprudenz ins Staatsrecht geführt!“, wie auch Philipp Zorn 1907 bei seiner Begutachtung von Die Entwicklung der Staatswissenschaft seit 1866 sagen sollte, dass Laband der „Begründer dieser juristischen Disziplin“ sei.44 Indem sie sich auf „die ausschließliche Herrschaft der logischen Handlungsart des Rechts“ stützten, hatten Gerber und Laband wohl eine solch reine begriffliche Vor‐ stellung vom Staat, wie sie nur möglich war.45 Der Staat war eine juristische Person, die im Zentrum eines Rechtssystems stand, und obwohl im wirklichen Leben ein 39 MWG I/22‑3, 610, Anm. a. Siehe auch eine Buchrezension von 1908, die auf des Autors „Kritik der Labandschen Theorie der deutschen Kolonialgewalt …“ verweist: MWG I/8, 325. 40 MWG I/22‑3, 736 unter „Mayer, Otto“. 41 Hermes 2006, S. 210; Treiber 2014, S. 19. 42 Laband 41901, „Vorwort zur zweiten Auflage“ [1887], S. ; vgl. Gerber 1865, S. über „wissenschaftliche Selbstständigkeit“. 43 So. z. B. Laband 1866, S. 57; Laband 41901, S. . 44 Ihering an Gerber, 04.04.1869 sowie Zorn, Jahrbuch des öffentlichen Rechts 1 (1907), S. 65, beide abgedruckt in Pauly 1993, S. 140 resp. 21. 45 Laband 41901, S. .

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Großteil außen vor blieb, so etwa das ‚deutsche Volk‘,46 war das ‚wissenschaftliche System‘ des ‚Staatsrechts‘ im Prinzip in sich vollständig. Weber hätte gewiss den „rein begrifflichen Formalismus“ verstanden, der dieser intellektuellen Strategie zugrunde lag, bildete er doch eine Parallele zu dem, womit er vom römischen Recht her vertraut war, und Laband war ein begeisterter Verehrer der ‚Begriffsjuris‐ prudenz‘, die (ob berühmter- oder berüchtigterweise) damit assoziiert wurde.47 Aber das hatte nichts mit Webers hybrider Vorstellung vom Staat zu tun, der bei ihm zwar einen rechtlichen Bestandteil enthalten mochte, aber kein rechtliches Gebilde war. Worin Weber und die Staatsrechtler hauptsächlich übereinstimmten, war, dass sie zu der großen Anzahl derjenigen in den deutschsprachigen Teilen Europas zählten, die das Wort ‚Herrschaft‘ gebrauchten. Für beide ist der Staat ein Ausgangspunkt von Befehlen, denen Gehorsam zu leisten von den Bürgern erwartet wird; über diese recht allgemeine Formulierung einer gemeinsamen Grundlage können wir jedoch nicht hinausgehen. Für die Rechtswissenschaftler ist der Staat einziger Gegenstand ihres Interesses; er ist die Quelle der Gesetze, und Gehorsam ist eine schlichte Angelegenheit der rechtlichen Verpflichtung, die keine weitere Prüfung erfordert. Der Soziologe Weber hingegen ist am ‚sozialen Handeln‘ der Individuen, nicht am Recht als solchem interessiert. Er betrachtet jegliche Art von ‚Befehl‘, ‚Konvention‘ oder ‚Recht‘ innerhalb jeglicher Art von ‚Ordnung‘, zeigt sich doch ‚Herrschaft‘ in einem freiwilligen ‚Verein‘, im kapitalistischen Markt und im ‚Betrieb‘ ebenso wie in der Zwangs-‚Anstalt‘, wie sie der Staat oder die Kirche repräsentieren.48 Wie in anderen Bereichen auch hängt die ‚Fügsamkeit‘ der Bürger im Fall der Politik hauptsächlich von ihrer inneren Anerkennung der Legitimität der ‚Ordnung‘ ab und nicht von ihrer äußeren Auferlegung, und sie kann sich aus einer Vielzahl von Moti‐ ven ergeben, seien sie emotional, rational, im Selbstinteresse oder in der Erwartung einer möglichen Bestrafung bei Nichtbeachtung begründet.49 Herrschaft ist daher wie jede andere Form der ‚sozialen Beziehung‘ eine Frage der Wahrscheinlichkeit und nicht der ‚Rechtsdogmatik‘: „die Chance, für einen Befehl bestimmten Inhalts bei angebbaren Personen Gehorsam zu finden“.50 In ihrer probabilistischen Begründung unterscheidet sich die Weber’sche Herr‐ schaft von anderen Herrschaftskonzeptionen. Sie beruht nicht auf einem Kontrakt wie bei Locke, ist aber dennoch eine zweiseitige Beziehung, und es trifft schlicht nicht zu, „daß es [hier] in einem angebbaren Zeitraum Willen gibt, die andere Willen 46 Vgl. Gerber 1865, S. 1. Gerber spielt auch mit der Idee des „Staats als Organismus“ als Alter‐ native zum juristischen Konzept: Gerber 21869, S. 211–219. 47 Zorn, Jahrbuch des öffentlichen Rechts 1 (1907), 66, sowie Laband, ‚Alfredo Bartolomei‘. In: Archiv des öffentlichen Rechts 19 (1905), S. 615, beide zitiert nach Pauly 1993, S. 21 resp. 191. 48 Eine lange Liste mit entsprechenden Stellen in WuG, 128, § 5; zur Herrschaft in freiwilligen Vereinen: „Geschäftsbericht“ [1910], MWG I/13, 278. 49 WuG, 17, vgl. auch 13. 50 Ebd., 28, vgl. auch 122.

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beugen dürfen und Willen, die sich zu beugen haben.“51 Anders als ein Rechtssys‐ tem ist die Herrschaft im Sinne Webers dadurch bedingt, dass sie ‚unten‘ Zuspruch erfährt, und zugleich gibt es ganz verschiedene Wege, wie sie von ‚oben‘ ausgeübt wird. Sie umfasst alle Arten von Befehlen, nicht nur als Gesetze, sondern auch in Form von ‚Verwaltungsreglements‘. So ragt als Form der modernen Herrschaft vor allem die (berühmte) „legale Herrschaft mit bureaukratischem Verwaltungsstab“ heraus, in der die Kategorie der ‚Beamten‘ sehr weit gefasst ist.52 Aber Webers Denken geht noch darüber hinaus. Mit Ausnahme des kapitalistischen Marktes, der aus seiner formalen Typologie herausfällt, weisen alle Formen von Herrschaft, auch jene, die nicht als ‚bürokratisch‘ kategorisiert sind, eine ‚administrative‘ Komponen‐ te auf, weil es für die praktische Anwendbarkeit in der Gesellschaft erforderlich ist, dass Befehle, die auch als Dienste auftreten können, übermittelt werden. ‚Herr‐ schaft‘ und ‚Verwaltung‘ bilden somit eine Symbiose – „Jede Herrschaft äußert sich und funktioniert als Verwaltung. Jede Verwaltung bedarf irgendwie der Herrschaft“ –, und die Erörterung der Herrschaft erfolgt in einer vergleichenden Studie der un‐ terschiedlichen Verwaltungstypen: „Es wird hier absichtlich von der spezifisch mo‐ dernen Form der Verwaltung ausgegangen“ – der bürokratischen –, „um nachher die andern mit ihr kontrastieren zu können.“53 Im Fall des traditionellen ‚Herrn‘ kann das ‚Personal‘ ämtlich sein oder auch Verwandte oder ‚Ministeriale‘ umfassen, wäh‐ rend charismatische Führer von ‚Jüngern‘, ‚Vertrauensmännern‘ oder einer ‚Gefolg‐ schaft‘ flankiert werden.54 Im Gegensatz dazu waren Gerber und Laband nicht am Funktionieren der Bürokratie oder Verwaltung interessiert. In ihren Augen taugten die meisten bürokratischen Regularien nicht dazu, den Rechtsstatus zugeschrieben zu bekommen, bildeten sie doch eine „kaum übersehbare Menge von Regierungs‐ handlungen, welche keine Gesetze sind.“55 Gerber schloss das Verwaltungsrecht formal von seinem System aus, da er das Gefühl hatte, dass es mit seinem unterge‐ ordneten Charakter eher dem Straf- und Prozessrecht gleichkam als der Erhabenheit des Staatsrechts. Laband nahm eine ähnliche Herabstufung vor: „Regeln […], die sich innerhalb der Verwaltung selbst halten, […] sind keine Rechtsvorschriften.“56 Hier liegt der erste große Unterschied zwischen Weber und den Staatsrechtlern, und in seiner wiederholten Betonung des Unterschieds zwischen seinem soziologischen Gebrauch von Rechtsbegriffen und ihrem Gebrauch derselben einen vergeblichen

51 Breuer 2011, S. 2. Die Kategorie des Willens, die keine Kategorie Webers ist, ist vielleicht der Lektüre von Jellinek entnommen, so z. B. Breuer 1994, S. 20–21. 52 WuG, 124; vgl. „Herrschaft“ [ca. 1910–1914], MWG I/22‑4, 157 (Reglements). 53 Herrschaft, MWG I/22‑4, 139; WuG, 124, vgl. auch 154. 54 WuG, 131, 141. 55 Gerber 1865, S. 161–162. 56 Laband, Staatsrecht 51911, zitiert bei Pauly 1993, S. 201; vgl. Gerber 1865, S. .

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Versuch sehen zu wollen, der intellektuellen Hegemonie der Letzteren zu entkom‐ men, entbehrt jeder Grundlage.57 Aber nicht nur Webers Kerngedanke von ‚Herrschaft‘ ist ein anderer, sondern auch sein Konzept von ihrer Beziehung zum ‚Staat‘. Seine Begriffsanalyse beginnt bei der ‚Herrschaft‘, weil sie ein universales soziales Phänomen ist; nichts geht ihr voran, und sie geht aus nichts anderem hervor als aus dem ‚sozialen Handeln‘ der Individuen. (Hier werden wir deutlich an die nicht weiter ableitbare empirische Natur der Weber’schen Soziologie erinnert, „welche ‚denkende Ordnung der empiri‐ schen Wirklichkeit‘ erstrebt.“ Sie ist notwendigerweise begrifflich, weil sie in der empirischen Unendlichkeit beginnt.)58 ‚Herrschaft‘ hat ihre Ausgangspunkte ebenso im ‚Herrn‘, in den ‚Ständen‘ oder im ‚Führer‘ wie in der „unpersönlichen Ordnung“, die von der Bürokratie geschaffen wird,59 aber Weber führt sie nie zurück auf eine allgemeine Kategorie des Staates, wie es die Rechtswissenschaftler tun. Seine Logik geht vielmehr in die umgekehrte Richtung. Sofern der Staat in seiner Darstellung von Herrschaft nach 1918 vorkommt – und das ist nur selten der Fall –, bildet er (wie gesehen) nur eine Untergruppe von Herrschaft: Der ‚politische Verband‘ ist ein ‚Herrschaftsverband‘, weil Herrschaft und nicht der Staat die primäre Wirklichkeit ist.60 Erneut ist der Kontrast zwischen dieser Position und jener der Staatsrechtler fundamental. Die entscheidende begriffliche Innovation von Gerber, die Laband übernahm, war es, den Staat als eine juristische Person mit eigenem Willen zu postu‐ lieren. Der Grundgedanke stammt von einem technischen Instrument im Privatrecht, erlangte aber im öffentlichen Recht ein ganz anderes Gewicht, da eine solche Kon‐ zeption des Staates es diesem erlaubte, zum Kern eines ganzen Rechtssystems zu werden: „ein Unicum, das keine Verwandtschaft im Rechtsgebiete hat und eine Unterstellung unter einen allgemeinen Begriffe nicht duldet.“61 Hier zeigte sich ein einheitlicher begrifflicher Ursprung für den Staat, wie Weber ihn gerade vermied. Natürlich wusste er, welchen Schritt Gerber und Laband damit getan hatten – und in dieser Hinsicht haben jene recht, die irgendeine Art von Verbindung zwischen ihnen zu sehen glauben –, aber es war ihm so wesensfremd, dass er es als Beispiel für den Unterschied zwischen der ‚soziologischen‘ und der ‚juristischen Betrachtungsweise‘ herausstellte. Die Soziologie, so hielt er fest, müsse unerbittlich kollektive „Begriffe wie ‚Staat‘, ‚Genossenschaft‘, ‚Feudalismus‘ und ähnliche […] auf [das] Handeln der beteiligten Einzelmenschen“ zurückführen. Damit ist die Weber’sche Herrschaft 57 Hermes 2006, S. 212–213, wird von Treiber 2014, S. 7–11, richtiggestellt; vgl. MWG I/22‑3, 191–247. 58 „Objektivität“, WL, 150 etc. 59 WuG, 124. Letzten Endes ist sie auch eine menschliche Schöpfung: „geronnener Geist“; vgl. MWG I/15, 464. 60 WuG, 29. 61 Gerber 1867, S. 10. Vgl. Gerber 21869, „Die Persönlichkeit des Staats“, S. 219–229.

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eine Theorie des Verhaltens realer Individuen in der Gesellschaft, während die Staatsrechtler das gegenteilige Vorgehen wählten und eine kollektive Instanz, den Staat, als befehlendes, wenngleich fiktives Individuum errichteten: Die Jurisprudenz behandelt z. B. unter Umständen den „Staat“ ebenso als „Rechtsper‐ sönlichkeit“ wie einen Einzelmenschen, weil ihre auf objektive Sinndeutung und das heißt: den geltensollenden Inhalt gerichtete Arbeit jenes begriffliche Hilfsmittel nützlich, vielleicht unentbehrlich, erscheinen läßt.62

Hier bezieht sich Weber, was bisher nicht gesehen wurde, ohne Zweifel auf eine zentrale Säule von Gerbers und Labands Werk – aber dieser Bezug steht für den Un‐ terschied, nicht für eine Ähnlichkeit. Wurde ein System auf diese Weise begründet, war die Versöhnung von Macht und Recht, die Weber vermied, ein Leichtes. Sowohl die Macht als auch das Gesetz waren Funktionen der juristischen Person des Staates, und entsprechend waren beide ‚Recht‘. Mit Gerbers Worten: „Die Willensmacht des Staats, die Staatsgewalt, ist das Recht des Staats. Das Staatsrecht ist also die Lehre von der Staatsgewalt“, und er berief sich offen auf das ‚Gewaltrecht‘ wie auch auf das ‚Herrschaftsrecht‘ – beides eine Vermengung von Kategorien, wie sie Weber nicht kannte.63 Wenden wir uns nun der ‚Anstalt‘ zu, bemerken wir als Erstes, dass die Idee des bürokratisierten ‚Anstaltsstaates‘ eine Schöpfung der Forschung des späten 20. Jahr‐ hunderts ist, die diesen Gedanken, indem sie die Weber’schen Vorstellungen in gewisser Weise als selbstevident auffasst, in das Denken Gerbers und Labands trotz deren erklärtem mangelndem Interesse an der Bürokratie hineinliest.64 Gleichwohl wird akzeptiert, dass diese Denker uns nichts über die Weber’sche ‚Anstalt‘ zu sagen haben. Die heutige Rechtswissenschaft füllt diese Lücke daher, indem sie Otto Mayer – genauer einen Aufsatz desselben von 1908 – als ergänzendes Zeugnis einführt.65 (Die retrospektive Natur dieser Konstruktion könnte klarer kaum sein und mag als Modell für den Kontrast zwischen historischer und juristischer Argumentati‐ on dienen.) Nun sind es aber tatsächlich erneut Unterschiede und nicht Parallelen, die hervorstechen: zwischen Weber und Mayer, aber auch zwischen Mayer, Gerber und Laband.66 Da aber Weber bereits 1905, drei Jahre vor Mayers Essay, in der Protestantischen Ethik eine präzise Definition davon vorlegte, was er unter ‚Anstalt‘ 62 „Kategorien“ [1913], WL, 439, wiederholt in WuG, 6. Selbstverständlich erkennt Weber an, dass dort, wo der Staat als Eigentümer in einen Rechtsstreit verwickelt ist, die Kategorien des Privatrechts Anwendung finden; vgl. z. B. „Entwicklungsbedingungen des Rechts“ § 2, MWG I/22‑3, 379–390. 63 Gerber 1865, S. 3; vgl. Laband 1876, § 9 „Das Subject der Reichsgewalt“. Weber bezieht sich auf das Herrschaftsrecht im Sinne ‚des Rechts, Herrschaft auszuüben‘, aber das ist etwas ande‐ res, als Herrschaft als ein Rechtssystem zu identifizieren; vgl. „Die drei reinen Typen der legi‐ timen Herrschaft“ [1917–1918], MWG I/22‑4, 726, 729. 64 Schönberger 1997, S. 21–100, die Angabe auf S. 30; zur Relevanz von Weber ebd., S. 315. 65 Schönberger 1997, S. 311–318; Hermes 2006, S. 210–212; Treiber 2014, S. 13–14. 66 Siehe die Anmerkung am Ende dieses Beitrags: „Otto Mayer und Max Weber“.

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verstand, ist es zum Scheitern verurteilt, mit einem Parallelismus der beiden zu argumentieren. Wir können also bei Weber bleiben. Insofern Webers Denken einen intellektuellen Vorläufer hatte oder einen Stimulus empfing, stammte er bekanntlich aus dem Bereich des Rechts, und Weber gibt auch einen Hinweis, wer dies war: Otto Gierke, den er in seiner frühen juristischen Lauf‐ bahn in Berlin (1887–1894) kennengelernt hatte.67 Was er von Gierke übernahm, waren zwei Beiträge zur Rechtsgeschichte. Erstens geht es um die Behauptung, dass „die Kirchen […] die ersten ‚Anstalten‘ im juristischen Sinn“ waren, da diese Vorstellung zuerst im kanonischen Recht entwickelt wurde, und Weber wollte die Vorreiterrolle der mittelalterlichen Kirche als eine bürokratische ‚Anstalt‘ im Gegen‐ satz zur Schwäche der weltlichen Staaten jener Zeit betonen. Zweitens war dies die Feststellung, dass, insofern die historischen Anstalten Mitglieder hatten, „diese bloßen Mitglieder […] als solche prinzipiell keinen Einfluß auf die Verwaltung haben: Anstalt im juristischen Sinn (mit dem sozialpolitischen Anstaltsbegriff nur teilweise zusammentreffend).“68 Aber diese rechtlichen Vorstellungen waren Verän‐ derungen unterworfen, weil die Weber’sche ‚Anstalt‘ kein juristisches Konzept, sondern eine ‚Vergesellschaftung‘ war.69 In der Protestantischen Ethik kontrastierte er die ‚anstaltsmäßigen‘ katholischen und lutherischen Kirchen einerseits und die voluntaristischen Sekten, die zu Beginn der Reformation entstanden, andererseits. Letztere zeichnete demnach aus, „daß die religiöse Gemeinschaft […] nicht mehr aufgefaßt wird als eine Art Fideikommisstiftung zu überirdischen Zwecken, eine, notwendig Gerechte und Ungerechte umfassende, Anstalt […], sondern ausschließ‐ lich als eine Gemeinschaft der persönlich Gläubigen und Wiedergebornen und nur dieser: mit anderen Worten nicht als eine ‚Kirche‘, sondern als ‚Sekte‘.“70 Weber formuliert hier eine begriffliche Polarität, die völlig neu ist – sie lässt sich weder bei Gierke noch bei irgendeinem anderen Juristen finden. Was ihn interessiert, ist die menschliche und ethische ‚Qualität‘ der Mitgliedschaft in Gruppen. In der Kirche oder einer soziologisch verstandenen ‚Anstalt‘ ist die Mitgliedschaft zwingend und erscheint daher (als „Gerechte und Ungerechte umfassende“) weniger wertvoll. Es ist eine Gemeinschaft, in die das Individuum „‚hineingeboren‘ und ‚hineinerzogen‘“ wird, ob es dies nun will oder nicht, ganz wie das „stahlharte Gehäuse“, das von der rationalen Organisation im Kapitalismus und in der Bürokratie im Allgemeinen 67 „Entwicklungsbedingungen des Rechts“ [c. 1910–1914], MWG I/22‑3, 384, vgl. auch 397– 399. Vgl. Treiber 2014, S. 14–15. 68 „Entwicklungsbedingungen“, MWG I/22‑3, 547, 384, vgl. auch Anm. 72, wo Gierke zitiert wird. Obwohl diese Bezeugungen späteren Datums sind und die zweite Bemerkung Webers so‐ ziologische Sichtweise bereits erahnen lässt, gibt es keinen Grund zu der Annahme, dass er sei‐ ne Ansichten zu diesen Punkten des Rechts geändert hätte. 69 Vgl. WL, 442–474; WuG, 21–28. 70 Weber 1904/05, 21 S. 63–64. Diese Vorstellung taucht auch in „Die protestantischen Sekten und der Geist des Kapitalismus“ auf, einem Text, den er 1907 entworfen hat: Weber, 1920, S. 211; vgl. Ghosh 2014a, S. 354–361.

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geschaffen wird.71 Darüber hinaus müssen hier die Ziele der Herrschenden nicht die Ziele der Beherrschten sein. Die Beherrschten könnten die Legitimität der Herr‐ schaft anerkennen und ihr gehorchen, auch wenn ihr geistiges Streben und ihre Tatkraft sich auf anderes richten. Es handelt sich um ein „Einverständnishandeln, bei welchem […] die Zurechnung des Einzelnen zur Teilnahme einverständnismäßig ohne sein eigenes darauf zweckrational gerichtetes Zutun erfolgt“.72 Demgegenüber ist die ‚Sekte‘ oder der ‚Verein‘ ein freiwilliger Gruppenzusammenschluss ähnlich gesinnter Personen, die eine Elite bilden. Ihre Zwecke und die der Gruppe sind ein und dieselben. Daher rühren Webers äußerst (um nicht zu sagen unplausibel) hohe Meinung von der historischen Wirkmächtigkeit solcher Gruppen in der anglo‐ amerikanischen Geschichte, seine Geringschätzung der deutschen Rückständigkeit auf diesem Gebiet und seine theoretische Kür des ‚Zweckvereins‘ als „rationaler Idealtypus der Vergesellschaftung“.73 Allerdings ist die Darstellung in der Protestantischen Ethik einseitig. Infolge von Webers Begeisterung für freie Religionsgemeinschaften und Vereine sagt sie uns nur wenig zu Kirchen und Anstalten, und man würde kaum vermuten, dass er ein beträchtliches Interesse an der katholischen Kirche als alternativem Akteur in der Schaffung der modernen okzidentalen oder westlichen ‚Kultur‘ hatte. Dieses Defizit wird in den Entwürfen zu Wirtschaft und Gesellschaft aus der Vorkriegszeit behoben. Hier begrüßt er die Bedeutung des mittelalterlichen Katholizismus ange‐ sichts „der soziologisch notwendigen herrschaftlichen und anstaltsmäßigen Struktur der Kirche“. Als solche hat sie eine „streng rationale hierarchische Organisation“, die der „charakteristische rationale bürokratische Amtscharakter ihrer Funktionäre“ geprägt hat.74 Diese Anstalt im soziologischen Sinne mit ihrer Betonung von Ra‐ tionalität und Bürokratie unterscheidet sich klar von der rechtlichen Vorstellung: Während bei dieser die Anstalt eine entsprechend gestaltete Einrichtung ist, um nützliche Zwecke zu erfüllen – „Schulen, Armenanstalten, Staatsbanken, Versiche‐ rungsanstalten, Sparkassen usw.“75 –, interessierte Weber, wie er uns mitteilt, die „Strukturform“.76 Natürlich dienten Anstalt und Zweckverein Zielen, aber diese Ziele waren ohne Bedeutung für ihre Definition. Für ihn als Soziologen bestand die spezifische Frage darin, wie der Zugang zu der sozialen Gruppe erfolgte – ob institutionell oder freiwillig – und welche menschliche und ethische Qualität daraus resultierte. Was für ihn zählte, waren nicht das jeweilige Ziel oder irgendwelche rechtlichen Einrichtungen zur Förderung seiner Realisierung, sondern die menschli‐ che Fähigkeit zu zweckgerichtetem Handeln. 71 72 73 74 75 76

„Kategorien“, WL, 466; Weber 1904/05, 20, S. 18 und 21, S. 108. „Kategorien“, WL, 466. Ebd., 447. „Entwicklungsbedingungen des Rechts“, MWG I/22‑3, 398 resp. 546. Ebd., 399. „Kategorien“, WL, 466.

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Auch wenn der Staat als Beispiel diente, wurde die ‚Anstalt‘ bei Weber ohne Bezug auf ihn definiert. Er war sich durchaus bewusst, dass die Natur des Staates in den Augen seiner Leser diejenige „des weitaus […] interessantesten Falles“ war.77 Seine Konzeption der Anstalt leitete sich jedoch aus der Geschichte und der Praxis der katholischen Kirche ab, nicht der weltlichen Staaten. Hierin spiegelt sich seine Überzeugung von der Bedeutung der genetischen Analyse – die Geschichte hat keine Bedeutung um ihrer selbst willen, aber die Moderne geht aus ihr hervor78 –, wobei, wie er annimmt, die mittelalterliche päpstliche Bürokratie eine bahnbre‐ chende Rolle spielte. Auch eignet sich die Kirche für seine Darstellung gut, weil ihr Begriff grössere Klarheit besitzt als der des Staates. Zwar verbindet auch die Kirche wie die Staaten eine ‚anstaltsmäßige Struktur‘ mit Macht, aber die Macht der Kirche ist im Grunde universal und geistig, nicht physisch und lokal begrenzt – sie beruft sich auf ‚überirdische Zwecke‘79 –, weshalb in ihrer Struktur Macht nicht eine getrennte, gleichsam ‚störende‘ Komponente bildet, wie es beim Staat der Fall ist. Was den Staat betrifft, ähnelt die ‚Anstalt‘ der ‚Herrschaft‘ und dem kapitalistischen ‚Betrieb‘; sie ist eine soziologische Kategorie, die ihm vorangeht. Daher rührt die typische verwickelte Definition des Staates als „ein politischer Anstaltsbetrieb“.80 Die Beziehung der Anstalt zum Staat ist komplex, weil Webers ‚Staat‘ komplex ist. Die Anstalt definiert den Staat nicht, noch schließt sie ihn in sich ein. Einerseits sind die Charakteristika der Anstalt nicht auf den Staat beschränkt, denkt Weber doch stets an mindestens zwei unterschiedliche Fälle: Staat und Kirche.81 Andererseits ist der hybride Staat mehr als eine Anstalt, ist doch Macht das zweite, ebenso wichtige Definitionsmerkmal. Wenn Weber von der ‚Staatsanstalt‘ spricht, bezieht er sich auf die ‚anstaltsmäßige‘ Komponente des Staates, nicht auf den Staat insgesamt. Die ‚Staatsanstalt‘ ist nicht der moderne ‚Anstaltsstaat‘, ein Begriff, den er nie benutzt hat.82 Schließlich zur Frage der Macht. Leicht könnte man glauben, dass das einzige Element des ‚physischen Zwangs‘, das sich an den Staat heftet, jenes ist, das in Wirtschaft und Gesellschaft 1919/20 näher bestimmt wird: „legitimer physischer Zwang für die Durchführung der Ordnungen des Verwaltungsstabs“. Daraus ließe sich schliessen: „Insofern ist der moderne Staat für Weber immer Rechtsstaat.“83 Aber während Weber in seinem Glauben an das Gesetz ein klassischer Liberaler war, vor allem wenn er sich im politischen Kontext äußerte, und „christlich-kapita‐

77 78 79 80 81 82

„Objektivität“, WL, 200. Vgl. Ghosh 2019. Vgl. WuG, 29. Ebd. „Kategorien“, WL, 466; WuG, 28. Neben Hermes 2006 und Treiber 2014 siehe Anter 2001, S. 121–138 sowie Breuer 2011, S. 231–232, 240. 83 Treiber 2014, S. 21; vgl. WuG, 29; Anter 1996, S. 193.

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listisch-rechtstaatlich“ als informelle Beschreibung der modernen europäischen Kul‐ tur vorschlagen konnte,84 spielt der ‚Rechtsstaat‘ in seiner soziologischen Theorie nur eine bescheidene, schwer sichtbare Rolle. Daher gelegentliche Verweisen, die auf seine Randständigkeit verweisen und in denen der Begriff stets demonstrativ in Anführungszeichen gesetzt ist, um seinen unsicheren Status anzudeuten. Beispiels‐ weise ist das Recht nur einer der vielfältigen Zwecke, auf die ein Staat ausgerichtet werden kann: „‚Raubstaat‘ […] ‚Wohlfahrtsstaat‘, ‚Rechtsstaat‘“ ‚–Zwecke‘, die er (wie wir gesehen haben) als für den soziologischen Kontext irrelevant verwarf.85 Wir stellen auch fest, dass der Soziologe Weber den Begriff ‚Rechtsstaat‘ gewöhn‐ lich nicht mit dem kontinentaleuropäischen Verfassungsstaat des 19. Jahrhunderts assoziierte, bei dem die Verfassung als etwas verstanden werden konnte, das den rechtlichen Rahmen für den ganzen Staat zur Verfügung stellt, sondern mit dem „laissez-faire-Staat“, also mit dem Nachtwächterstaat des Manchesterkapitalismus in Großbritannien und Amerika, der lediglich für einen neutralen rechtlichen Rahmen für die kapitalistische Wirtschaft zu sorgen suchte.86 Die größte Abweichung der soziologischen von der rechtswissenschaftlichen Theorie ist jedoch diese: „Zuneh‐ mend versachlicht sich die innerpolitische Gewaltsamkeit zur ‚Rechtsstaatsordnung‘ […]. Die gesamte Politik aber orientiert sich an der sachlichen Staatsräson, der Pragmatik und dem absoluten Selbstzweck der Erhaltung der äußeren und inneren Gewaltverteilung.“87 Hier sehen wir die offene Anerkennung des Rechtsstaats als ein Mittel, die Gesellschaft mit einer Rechtsordnung auszustatten, aber selbst diese sozialrechtliche Ordnung fügt sich in einen größeren Kontext der Macht. Die Macht des Staates ist nicht einfach oder nicht einmal hauptsächlich eine innere Angelegenheit. Wie er es in seinen Lehrveranstaltungen in den 1890ern formulierte (die anders als die Freiburger Vorlesung keine politischen Äußerungen waren): „[R]ein polit[ische] Organisationen“ seien „Org[anisationen] zu Machtzwe‐ cken, Zweck als Machtbehauptung u. Expansion“.88 Diese Sicht veränderte sich bei ihm nie. Das „spezifische Pathos“ der politischen Gemeinschaft war „der Ernst des Todes“: die Bereitschaft, nicht bloß eine an das Gesetz gebundene Bestrafung im Inneren aufrechtzuerhalten, sondern sein Leben in der Schlacht zur Verteidigung der politischen Gemeinschaft oder des politischen Verbands gegen Angriffe von außen hinzugeben.89 Da Verbände (hier Staaten) nicht isoliert voneinander existierten, son‐ dern aneinandergrenzten, mussten sie eine Wahl treffen: Sie konnten schlicht danach

84 „Kritische Studien auf dem Gebiet der kulturwissenschaftlichen Logik“ [1906], WL, 257. 85 „Politische Gemeinschaften“ [ca. 1910], MWG I/22‑1, 205. 86 MWG I/22‑2, 400; WuG, 93; vgl. „Allgemeine … Nationalökonomie“ [1894–1898], MWG III/1, 519. 87 „Religionssoziologie“ [ca. 1913] § 11, MWG I/22‑2, 401; vgl. Weber 1915, S. 397, das sich aus diesem Text herleitet. 88 „Allgemeine … Nationalökonomie“ [1894–1898], MWG III/1, 567. 89 MWG I/22‑1, 206; vgl. Weber 1915, S. 398.

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streben, ihre Autonomie zu wahren, wie dies bei der Schweiz, den Niederlanden und Belgien der Fall war, oder sie konnten, wenn es sich um „quantitativ große politi‐ sche Gemeinschaften“ wie das neue Deutschland handelte, expansive ‚Großmächte‘ werden, bei denen „das reine Machtprestige, […] praktisch: die Ehre der Macht über andere Gebilde“ das Verhaltens begründete.90 Da Macht, wie primitiv auch immer, die theoretische Grundlage des Staates bildete, folgte daraus, dass die für das 19. Jahrhundert eigentümliche Idee des Nationalstaats ebenfalls die einer ‚Macht‐ organisation‘ war; entsprechend wurzelt das „Nationalitätsbewußtsein“ auf ‚Macht‐ prestige‘ und ‚Kämpfen auf Leben und Tod‘.91 Insofern der Nationalismus eine politische Komponente hat, ist er schlicht eine Variation des Grundthemas Macht. Er ist kein Begriff. Hier zeigt sich eine Diskrepanz zwischen Webers politischer und ‚wissenschaftlicher‘ Sichtweise. Circa 1910 widerrief er eines der zentralen Argumente für den Nationalismus, die er noch in seiner Freiburger Antrittsvorlesung mit großem Eifer zum Ausdruck gebracht hatte, und stellte es in das strenge Licht der Wissenschaft: „Das Attachement an das politische Prestige kann sich mit einem spezifischen Glauben an eine dem Großmachtgebilde als solchem eignende Verant‐ wortlichkeit vor den Nachfahren […] vermählen.“92 ‚Macht‘ war das Grundlegende, die mit Blick auf sie vorgebrachten Argumente waren hingegen räumlich begrenzt und kontingent. Das aber hinderte den politischen Weber nicht daran, sein Argument einer „Verantwortung vor der Geschichte“ und den kommenden Generationen mit unverminderter Leidenschaft während des Krieges wiederholt vorzubringen.93 Macht und das damit einhergehende internationale Ringen sind das in Webers Denken, was viele Leser als nicht akzeptabel ansahen. Sie haben auf zwei unter‐ schiedliche Arten reagiert. So wurde er als ein überholter Nationalist verdammt, der eine Brücke zum Faschismus und Nationalsozialismus geschlagen habe, womit die Weber’sche Theorie de facto als Vermittler einer politischen Botschaft gilt – Wolfgang Mommsen ist nur das berühmteste Beispiel dieser Reaktion auf Weber.94 Alternativ wird behauptet, dass die Weber’sche Theorie auf einer kantischen Ethik basiere und ethische Ansprüche – ungeachtet jeglicher harschen Äußerungen – über die in Politik als Beruf diskutierte ‚Verantwortungsethik‘ in seine politischen Ansichten Eingang gefunden haben. Wolfgang Schluchter ist der herausragende Repräsentant dieser Richtung.95 Keine der beiden Positionen lässt sich halten. Weder war Weber ein Proto-Faschist, noch war er ein Kantianer, und es widerspricht ihm 90 MWG I/22‑1, 224. 91 „Der Nationalstaat und die Volkswirtschaftspolitik“ (1895), MWG I/4, 561 resp. „Politische Gemeinschaften“, MWG I/22‑1, 206. 92 MWG I/22‑1, 240; vgl. MWG I/4, 559, 573. 93 „Deutschland unter den europäischen Weltmächten“ [1916], MWG I/15, 192; vgl. „Zwischen zwei Gesetzen“ [1916], „Parliament und Regierung im neugeordneten Deutschland“ (1918), ebd., 94–95, 592 etc. 94 Mommsen 1959. 95 Schluchter 1971; Schluchter 1988, I, 165–338.

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(wie bemerkt) sowohl im Wortlaut als auch insgesamt, wenn die Unterscheidung zwischen der ‚wertfreien‘ Wissenschaft und dem Reich der Werturteile aufgehoben oder eingeschränkt wird.96 Was die Macht betrifft, ist Folgendes der ausschlagge‐ bende Punkt: Weber verabscheute als Mensch die Staatsmacht mit ihrem bürokrati‐ schen Panzer als amoralisch, in ihren Wurzeln irrational und freiheitsfeindlich. (Der Marktkapitalismus mit seinen besonderen Formen von Freiheit und ‚Ethik‘ galt ihm als weit vorzugswürdiger.) Daher drängte die Weber’sche Theorie sie an den Rand des Lebens – ‚Alltag‘ war eine Sache der legitimen Herrschaft, mehr nicht97 –, ohne ihre grundlegende Wirklichkeit leugnen zu können. Er ist nicht weniger ‚politisch korrekt‘ wie seine heutigen Leser, aber sein Realismus ist größer. Der hybride moderne Staat ging aus einem Prozess der historischen Entwicklung hervor. Indem sie sich über die primitive Gründung durch Macht legte, wurde die politische Gemeinschaft „eine[ ] kontinuierliche[ ] anstaltsmäßige[ ] Vergesellschaf‐ tung“ (analog zum kapitalistischen ‚Betrieb‘) und erwarb das Monopol legitimer Gewalt nach innen mit dem Ergebnis, dass „die Drastik und Wirksamkeit seiner Zwangsmittel mit der Möglichkeit einer rationalen kasuistischen Ordnung ihrer Anwendung zusammentrifft“. Das schuf eine neue Form des Prestiges: Die moderne Stellung der politischen Verbände beruht auf dem Prestige, welches ihnen der unter den Beteiligten verbreitete spezifische Glaube an eine besondere Weihe: die „Rechtmäßigkeit“ des von ihnen geordneten Gemeinschaftshandelns verleiht, auch und gerade insofern es physischen Zwang mit Einschluß der Verfügung über Leben und Tod umfaßt: das hierauf bezügliche spezifische Legitimätseinverständnis.98

Aber auch noch diese neue Entwicklung, das ‚durchaus moderne‘ Konzept des Staates,99 der über Legitimität, Gesetze und Rechtmäßigkeit verfügt, kann nicht von der ursprünglichen Gründung durch Gewalt losgelöst werden. Weber formulierte sein Denken während der Kriegsjahre in der „Zwischenbetrachtung“ sehr pointiert, und doch gab es in dem, was er zu sagen hatte, nichts wesentlich Neues: [D]er gesamte Gang der innerpolitischen Funktionen des Staatsapparates in Rechtspflege und Verwaltung reguliert sich trotz all „Sozialpolitik“ letzten Endes unvermeidlich stets wieder an der sachlichen Pragmatik der Staatsräson: an dem absoluten […] Selbstzweck der Erhaltung (oder Umgestaltung) der inneren und äußeren Gewaltverteilung.100

Als er sich diesen Text 1920 erneut vornahm, machte er nur wenige Änderungen; eine davon war, dass er die berühmte Definition des Staates einfügte, die zu dem Zeitpunkt in Politik als Beruf (1919) und im letzten Entwurf zu Wirtschaft und Ge‐

96 97 98 99 100

Ghosh 2014b. Vgl. WuG, 126; „Parliament und Regierung“, MWG I/15, 450. MWG I/22‑1, 207. WuG, 30. Weber 1915, S. 397; vgl. Anm. 86 oben.

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sellschaft (1919/20) gegeben wurde.101 Es kann somit keinen Zweifel daran geben, dass er sein eigenes Denken als durchgehend konsistent verstand. Es ist dieses weite, das Innere wie das Äußere einschließende Konzept von Macht, das den Weber’schen Staat als etwas ohne jeden Zweifel Hybrides erkennen lässt, das nicht auf ein in seinem Bezugsrahmen auf das Innerstaatliche verwiesene ‚Staatsrecht‘ beschränkt werden kann, ob es nun geschlossen und formalistisch nach der Art von Gerber und Laband ist, ‚offen‘ und soziologisch, wie es Webers jüngere Zeitgenossen (Gustav Radbruch, Herman Kantorowicz, Eugen Ehrlich) vertraten, oder eine Versöhnung der ‚beiden Seiten‘, der formalen und der sozialen Rechtsauf‐ fassung, wie im Fall von Georg Jellinek.102 Wie oft bemerkt wurde, hat Webers Verständnis von Macht einiges mit Carl Schmitts Begriff des Politischen (1927/32) gemeinsam, leiten sich doch beide von derselben breiten deutschen Tradition her, die Politik in den Begriffen der ‚Staatsräson‘ und der ‚Realpolitik‘ konzipiert.103 Nun mag Schmitts Begriff ‚des Politischen‘, der auf der Polarität von Freund und Feind gründet, in internationalen Zusammenhängen plausibel sein – wenngleich selbst hier Webers Vorstellungen von ‚Macht‘ und ‚Kampf‘ flexibler und realistischer zu sein scheinen –, er hat jedoch nur eine marginale Bedeutung für die ‚Innenpolitik‘, auch wenn ein Verweis auf Marx und den Klassenkampf nachgeschoben wird.104 Gleichzeitig hat das Politische bei Schmitt ungeachtet seiner rechtswissenschaftli‐ chen Ausbildung keine substanzielle Verbindung zum Recht, das denn auch durch eine brüske Berufung auf Hobbes, für den (angeblich) „die Souveränität des Rechts nur die Souveränität der Menschen bedeutet“,105 erfolgreich beiseitegeschoben wird. Webers hybrider Blick auf den Staat scheint, auch wenn er nach den Maßstäben einer strikten Begriffslogik unzureichend ist, bei Weitem vorzuziehen zu sein.

III Zusammengefasst heißt das: Der Weber’sche ‚Staat‘ ist bestenfalls eine Hybride, ein ‚Komplex‘;106 meist aber kommt er, sofern nicht als historischer und deskriptiver Begriff, gar nicht vor und bildet so eine Leerstelle in der Weber’schen Theorie. Egal wie die modernen Fachwissenschaften, die sich auf die Idee des Staates als eines zentralen Elements in ihrer grundlegenden theoretischen Begrifflichkeit stützen, mit diesem Sachverhalt umgehen mögen, wir sollten nicht die besondere Originalität der sozialen Theorie des 19. und frühen 20. Jahrhunderts leugnen, die dem Staat 101 102 103 104 105 106

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MWG I/19, 491. Vgl. Ghosh 2016, S. 101–113. Vgl. Schmitt 2009, S. 30. Ebd., 68. Ebd., 62. Schmitt übersieht dass Hobbes ein Anhänger des Naturrechts ist. WuG, 7.

genau aus dem Grund weniger Gewicht beimaß, weil sie sich die Gesellschaft zum Ausgangspunkt nahm. Weber hat in dieser Hinsicht sehr viel mit Marx und Durkheim gemeinsam. Die vorliegenden Ausführungen sind jedoch nur ein Teil der Geschichte. Nachdem wir das Bild vom Weber’schen ‚Staat‘ dekonstruiert haben, sollten wir ebenso bedenken, was Webers soziopolitische Theorie im positiven Sinne ausmachte. Dass sie ihren Ausgang in den sozialen Kategorien nimmt, bedeutet nicht, dass sich daraus keine Implikationen für das ergeben, was gewöhnlich als politisches Verhalten und politische Institutionen angesehen wird. Im Gegenteil hat Webers Soziologie sehr viel zur ‚Politik‘ zu sagen, weit mehr als Marx oder Durkheim. Bei ihr handelt es sich um eine echte soziopolitische Theorie, was ihre herausragende Originalität ausmacht. Davon aber an anderer Stelle.

Anmerkung: Otto Mayer und Max Weber107 Mayer war ein Staatsverehrer genau jener Sorte, der Weber mit Abneigung begegne‐ te. Aus diesem Grund verwarf er ja auch Gerbers und Labands Gleichsetzung von Rechtspersönlichkeit und Staat als unvollständig und unangemessen. Als Jurist ak‐ zeptierte Mayer, dass es notwendig sei, „das ursprünglich überjuristische Wesen des Staates ‚in juristischen Formen zu begreifen‘“ (55, Anm. 1). Da aber der Staat „eine gewaltige Tatsache“ war, galt für ihn: „Recht und Rechtsordnung können und sollen dazukommen; sie dringen nie in sein innerstes Wesen ein“ (48). Obwohl Mayers Aufsatz in einer Festgabe für Laband erschien und er behauptete, seine Ideen aus einer kleineren Schrift Labands über das Privatrecht abzuleiten (11), gab es zwi‐ schen ihnen keine bedeutsame Gemeinsamkeit hinsichtlich des zentralen Punktes, um den es ging: die Beziehung zwischen Staat und Recht; die Annahme, sie würden einen Block bilden, ist daher falsch.108 So lehnte er Labands Hauptwerk, Das Staats‐ recht des Deutschen Reichs, ab (64–65). Da er die Doktrin des Staates als juristische Person als unangemessen ansah, wollte Mayer ihr ein Substrat in Form der Anstalt hinzufügen (22). Damit wurde die ‚juristische Person‘ eine „Anstaltspersönlichkeit“ (z. B. 54) – eine groteske Vermischung von Vorstellungen, wie sie Weber, Gerber oder Laband nicht kannten. Mayers Vorstellung von der Anstalt ist diejenige eines Staates als Unternehmen mit einem bestimmten ‚Zweck‘: „Ja, der Zweck ist der Herr!“ (22) Dies ist typisch für den juristischen Begriff der Anstalt als teleologisches Konzept und das Gegenteil von Webers Denken, das darauf beharrte, dass der

107 Die in Klammern angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf Mayer 1908. 108 Schönberger erkennt in Mayers Beziehung zu Laband sowohl Unterschiede als auch Ähnlich‐ keiten. Tatsächlich kann er jedoch nur dann eine Ähnlichkeit ausmachen, wenn er der Idee des Staates als juristische Person nur eine geringe Tragweite zuspricht und sie daher ausblen‐ det. Vgl. Schönberger 1997, S. 311–318, insbesondere S. 313.

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‚Staat‘ nicht auf diese Weise definiert werden könnte.109 Für Mayer wurde der ‚Staatszweck‘ letztlich von seinen Mitgliedern vorgegeben – dem ‚Volk‘ –, wobei die Natur dieser Teilhabe als Erstes von „ Hohem Lied auf den Staat“ in des‐ sen Philosophie des Rechts umrissen wurde: „[W]elchen Zweck [der Staat] zu erfül‐ len hat in dem grossen Plan nach welchem die irdischen Dinge sich abwickeln, das will uns die Weltgeschichte bezeugen.“ (47) Dass dies in Webers Augen äußerst plump und unausgegoren war, muss hier ebenso wenig wiederholt werden wie seine heftige Abneigung sowohl gegenüber dem Staat als auch gegenüber der hegeliani‐ schen Metaphysik. 110 Es konnte so keine ‚Parallele‘ zwischen Weber und Mayer ge‐ ben, nur einen Gegensatz.

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(2) Werke anderer Autoren Anter, Andreas, 21996: Max Webers Theorie des modernen Staats. Berlin. Anter, Andreas, 2001: Von der politischen Gemeinschaft zum Anstaltsstaat. In: Mommsen, Wolfgang/Hanke, Edith (Hrsg.): Max Webers Herrschaftssoziologie, Tübingen, S. 121– 138. Breuer, Stefan, 1994: Max Webers Staatssoziologie [1993]. In: Breuer, Stefan: Bürokratie und Charisma. Zur politischen Soziologie Max Webers. Darmstadt, S. 5–32. Breuer, Stefan, 2011: „Herrschaft“ in der Soziologie Max Webers. Wiesbaden. Gerber, Carl Friedrich von, 1865: Grundzüge eines Systems des deutschen Staatsrechts. Leipzig. Gerber, Carl Friedrich von, 1867: Ueber die Theilbarkeit deutscher Staatsgebiete. In: Zeit‐ schrift für deutsches Staatsrecht und deutsche Verfassungsgeschichte 1, S. 5–24.

109 „Politische Gemeinschaften“, MWG I/22‑1, 205–206; WuG, 30. 110 Vgl. WL, 144, 187.

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Klaus Ries Friedrich Meinecke: Die Geburt des deutschen Nationalstaates aus dem Geist der Neoromantik

Friedrich Meinecke gilt als einer der bekanntesten und auch unbescholtesten deut‐ schen Historiker der zweiten Hälfte des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhun‐ derts.1 Er durchlebte politisch relativ unbeschadet vier unterschiedliche politische Systeme (das deutsche Kaiserreich, die Weimarer Republik, den NS-Staat und die frühe Bundesrepublik), bezeichnete sich selbst als „Vernunftrepublikaner“ in der Weimarer Republik (und die Forschung hat dies auch weitgehend so übernommen), blieb auf Distanz zum Nationalsozialismus und wird bis heute - bis auf wenige Ausnahmen2 - als einer der wissenschaftlichen und politischen Stars unseres Fa‐ ches gefeiert. Wissenschaftsgeschichtlich gesehen, steht er für die Erfindung einer >Ideengeschichte< in der Tradition der älteren Geistesgeschichte, ebenfalls - wenn man so will - für die Erfindung des Begriffs der „Kulturnation“ (im Unterschied zur „Staatsnation“) als des deutschen Spezifikums der Nationalstaatsbildung3 und schließlich für eine ganz eigene >national-deutsche< Deutung des gemeineuropäi‐ schen Phänomens „Historismus“, die sich erstaunlicherweise zum Teil bis heute gehalten hat.4 Im Folgenden soll es um den Staatsbegriff Meineckes gehen, wobei man gleich vorausschicken muss, dass für Friedrich Meinecke >Staat und Nation< wie ein Paar zusammen gehören und auch nur gemeinsam betrachtet werden kön‐ nen. Es geht also konkret darum zu sehen, wie Meinecke den Nationalstaat (und hier vor allem den deutschen Nationalstaat) historisch-genetisch begründete, welche Denkfiguren seine Staatskonzeption prägten und welche Kontinuiäten und Brüche im Staatsdenken Meineckes zu beobachten sind. Meinecke war kein Borusse im klassischen Sinne, sein Hauptanliegen bestand vielmehr darin, den deutschen Nationalstaat, wie er 1871 unter preußischer Domi‐ nanz entstanden war, in seiner Genese darzustellen und damit auch historisch zu 1 Leider gibt es bis heute immer noch keine geschlossene Biographie Friedrich Meineckes; vgl. für die Zeit vor dem ersten Weltkrieg Meineke 1995; für die Zeit danach Lüpke 2015; jetzt die neueste Werkanalyse der wichtigsten Werke Meineckes, die leider nicht mehr berücksichtigt werden konnte: Krol 2021; zu den neuen Briefeditionen Kraus 2014, S. 89-100; sehr wichtig au‐ ßerdem die Beiträge in Bock/Schönpflug 2006. 2 Sehr kritisch Berg 2003, S. 64-104. 3 Vor allem in Meinecke 1919. 4 Vgl. vor allem Kraus 2015; kritisch dazu Oexle 1996, S. 95-136.

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legitimieren. Dabei ging es ihm - wie er in einem seiner berühmtesten Werke „Weltbürgertum und Nationalstaat. Studien zur Genesis eines deutschen National‐ staates“ von 1907 ausführte - ausdrücklich nicht um den „liberale(n) Zweig“ dieser Genese, sondern hauptsächlich um den „den romantisch-konservativen Zweig“ der Entwicklung hin zum deutschen Nationalstaat, weil dieser Zweig „das eine Große für sich hat, daß er von Stein über Friedrich Wilhelm IV., Hegel und Ranke zu Bis‐ marck führt“.5 Meinecke ordnete denn auch alle ihm irgendwie durch die Romantik geprägten Denker dieser Richtung zu - angefangen bei Wilhelm von Humboldt, Friedrich Schlegel, Novalis, Fichte, Adam Müller bis Karl Ludwig von Haller, Hegel (sic!) und Leopold von Ranke -, um schließlich bei Bismarck zu enden, dessen Nationalstaatsgründung - wie er zu zeigen versuchte - ganz offensichtlich dem 'Geist der Romantik' entsprungen sei.6 Was Meinecke jedoch genau unter eben dieser >Romantik< verstand, führte er nicht weiter aus. Um 1900 setzte im Kaiser‐ reich-Deutschland eine ganz spezifische Rezeption der Romantik, die sogenannte „Neoromantik“, ein, die als ein wichtiger Baustein des von eben jenen Denkern positiv konnotierten „deutschen Sonderweges“ angesehen wurde7, und Friedrich Meinecke war einer der entscheidenden Motoren dieser Debatte. Der Streit um die richtige Deutung der Romantik stand in einem politischen und in einem wissen‐ schaftsgeschichtlichen Zusammenhang: Zum einen war das romantische Denken ein wesentliches Element bei der Herleitung der „Ideen von 1914“, an deren Produktion Wissenschaftler, Schriftsteller und Journalisten im Vorfeld des Ersten Weltkrieges beteiligt waren;8 zum anderen diente die Romantik bei der wissenschaftstheoreti‐ schen und philosophischen Debatte im Umfeld der „Krise des Historismus“ einigen Intellektuellen als Legitimation ihrer eigenen Positionen gegen „westliches Den‐ ken“.9 Genau an dieser Nahtstelle lässt sich auch Friedrich Meinecke verorten. Er sprach sich ausdrücklich (auch mit Blick auf das gerade erst erworbene „Reichsland Elsaß-Lothringen“) gegen diejenige Vorstellung der Entstehung eines Nationalstaa‐ tes aus, die von dem Franzosen Ernst Renan herrührte. Renan hatte bekanntlich die Entstehung der Nation – ganz aufgeklärt-rational und modernstaatlich – an das ple‐ biszitäre Element gebunden mit der berühmten Renanschen Formel, die Meinecke auch in seinem „Weltbürgertum“ zitierte: „L'existence d'une nation est un plébiscite de tous les jours„.10 Diese Sichtweise war für Meinecke höchst unbefriedigend und irritierend, weil sie geboren sei „aus dem Geiste von 1789, aus dem Gedanken der Selbstbestimmung und Souveränität der Nation, d.h. der Staatsnation, die ihre poli‐

5 6 7 8 9 10

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Meinecke 1919, S. 21. Vgl. dazu Ries, 2012(a). Vgl. dazu den Forschungsaufriss bei Ries, 2012(b). Vgl. Flasch, 2000. Oexle, 1996, S. 121ff. Zitiert und kritisch kommentiert bei Meinecke, 1919, S. 5.

tische Verfassung selbst gestalten, ihre politischen Geschicke selbst leiten will“.11 Dem stellte er diametral sein >romantisches Konzept< einer organisch gewachse‐ nen und sich aus der eigenen Geschichte herleitenden „Kulturnation“ gegenüber, bei welcher „Gemeinsprache, gemeinsame Literatur und gemeinsame Religion (...) die wichtigsten und wirksamsten Kulturgüter“ seien, die eine Nation zusammen‐ hielten.12 Meinecke transportierte auf diese Weise - wenn auch unbeabsichtigt die mit Blick auf die Zukunft der deutschen Geschichte nicht unproblematische Vorstellung, dass der „echte Nationalstaat“ nicht durch den bewussten „absichtsvol‐ len Willen„ der Regierenden oder von Teilen der Gesellschaft entstehe, „sondern so, wie Sprache, Sitte, Glaube national sind und werden, durch das stille Wirken des Volksgeistes“.13 Dieses 'stille Wirken des Volksgeistes' setzte für Meinecke in Deutschland in Auseinandersetzung mit den Ideen der Französischen Revolution im Kreis der sog. Frühromantik um Novalis und Friedrich Schlegel ein und endete nach dem „Übergange zur politischen Romantik“ bei Leopold von Ranke und schließlich bei Bismarcks Nationalstaatsgründung.14 Das deutsche Kaiserreich Bismarckscher Prägung war für ihn aus dem Geist der Romantik entstanden bzw. daraus, was er (und viele andere seiner Zeit) sich unter Romantik vorstellten. Meinecke operierte in erster Linie mit der klassisch-romantischen Kategorie der „Individualität“, die den Nations- und Staatsgedanken in seiner Einzigartigkeit und Besonderheit auszeichnete. Es sei daher auch „kein Zufall, daß der Ära des moder‐ nen Nationalgedankens eine Ära individualistischer Freiheitsregungen unmittelbar vorangeht. Die Nation trank gleichsam das Blut der freien Persönlichkeiten, um sich selbst zur Persönlichkeit zu erheben“.15 Meinecke war sich bewusst, dass der „mo‐ derne Individualismus in sich selbst gespalten war“, und zwar in einen „Zweig, dem Naturrecht entstammend und demokratisch gerichtet“ und in einen Zweig, der, „aris‐ tokratisch in geistigem Sinne empfindend, die Befreiung und Steigerung der Besten erstrebte“.16 Dieser Dualismus löste sich jedoch durch schöpferisches Tun der Ein‐ zelnen alsbald in der höheren Einheit der Nation auf, denn: „Das Ideal ist allenthal‐ ben: Ungebrochene nationale Lebensgemeinschaft in allen wesentlichen Zielen des Daseins“.17 Der Individualitätsgedanke, so gespalten er auch war, war in der Ten‐ denz stets auf „Einheitlichkeit“ ausgerichtet, auf „die mit Leben und Kraft gesättigte Einheitlichkeit“.18 Dabei schloss Meinecke sich ausdrücklich nicht der „von der Ro‐ mantik beeinflußte(n) Geschichtsauffassung“ an, „daß alles Besondere einer Nation

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Ebd. Ebd., S. 3. Ebd., S. 14. Ebd., S. 62ff. u. S. 83ff. (zit. S. 83). Ebd., S. 9. Ebd., S. 9f. Ebd., S. 11. Ebd., S. 12f.

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ausschließlich aus ihrem eigenen immanenten Volksgeiste abzuleiten sei, sondern ihr Wesen bildet sich, ebenso wie das der Einzelpersönlichkeit, auch durch die Reibung und den Austausch mit den Nachbarn“.19 Meineckes Nationalstaatsmodell ging von einem grundsätzlichen Spannungsverhältnis aus: Eine Nation - und Meinecke dachte dabei vor allem an die deutsche Nation - entstehe erst durch die „Reibung zwischen Individuum und Umwelt“, durch die „Spannung zwischen universalen und nationa‐ len Ideen“.20 Um die Bestimmung dieses Wechselverhältnisses ging es ihm in erster Linie in seinem >Weltbürgertumreinen Lichtstrahl< kann wohl nur das wilhelmi‐ nische Kaiserreich gemeint sein, das sich mittlerweile durch radikal-nationalistische Arbeit im Innern zur Nation zusammengefügt hatte und nach außen bereits seinen „Platz an der Sonne“ suchte und mit Großbritannien gleichziehen wollte. Meineckes romantisch grundiertes Nationalstaatskonzept trug diesen missionarischen und zu‐ gleich expansionistischen Gedanken nicht nur mit, sondern legitimierte ihn histo‐ risch. Die Politik des wilhelminischen Kaiserreichs lag für ihn in der logischen Kon‐ sequenz der spezifisch deutschen >kulturnationalen< Staatswerdung. Mit Ranke im Rücken ließ sich auch die imperialistische Außenpolitik des Kaiserreichs rechtferti‐ gen; denn: „Die Gefahr des im Grunde unpolitischen und realitätsfernen Neuidealis‐ mus lag darin, daß die nationale Tradition der preußisch-deutschen Geschichte we‐ der in Frage gestellt noch kritisch-rational analysiert wurde. Die Vergangenheit war vielmehr ein 'Besitz', eine 'Kraftquelle', die es der Nachwelt zu bewahren galt. Was sich der Vergangenheit, ihren herrschenden Tendenzen und 'Ideen' entgegenstellte, wurde im Namen der Geschichte abgewiesen - so vor allem der politische und sozia‐ le Emanzipationsanspruch der Gesellschaft“.27 Man kann diese treffende Zuschrei‐ 24 25 26 27

Meinecke 1907, S. 191. Ebd., S. 190. Ebd. Fehrenbach 1974, S. 65.

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bung von Elisabeth Fehrenbach auch leicht in die NS-Zeit verlängern, wo der Bezug auf Ranke ebenfalls dafür sorgte, dass sich kaum ein kritischer Geist fand und zu Wort meldete. Die Entstehung des deutschen Nationalstaates aus dem Geist der Romantik, wie sie Meinecke beschrieb, machte einige Verkürzungen des historischen Phänomens der Romantik nötig, die durchaus typisch für die >neoromantischen< Bestrebungen in Deutschland um 1900 waren und hier nochmal einmal betont seien: Schon bei Meineckes erstem großen Werk, dem >Weltbürgertumdeutsches Jahrhundert< folgte, das im Zeichen der Romantik als einer typisch deutschen Bewegung stand und seinen Siegeszug gegen Frankreich antrat. Meineckes mediävistischer Kollege Georg von Below brachte diese „kulturelle Revolution“ der Romantik, die mit der „vollkommenen Herrschaft Frankreichs“ und der „Vorherrschaft“ der französischen Kultur ein Ende machte, auf den Punkt: „Die Zeit der Befreiungskriege ist die der romantischen Bewegung, in der die Deutschen sich der Werte ihres eigenen Volks‐ tums bewußt wurden. (...) Historisches und Nationalgefühl sind von der Romantik gleichermaßen angeregt und mächtig gefördert worden. Man wollte wieder ein kräf‐ tiges und großes Volk und Reich, wie man es als ideal verklärtes Vorbild aus der Vergangenheit entnahm“.29 Alle Entwicklungspotentiale, welche die >politische Ro‐ mantik< besaß und die Carl Schmitt pejorativ als „occasionalistisch“ und >beliebig< bezeichnete,30 wurden damit bewusst ausgeblendet, um die Bewegung rein zu halten und nur für die deutsche Geschichte des 19. Jahrhunderts zu reservieren. Von nun an war >politische Romantik< gleichbedeutend mit politischem Konservativismus, und daran hat sich in der deutschen Geschichtswissenschaft bis heute im Grunde nicht viel geändert.31 Der einzige Unterschied von heute und damals besteht in der gegensätzlichen Wertung: Während heute der romantische Konservativismus eher als abgewirtschaftet und wenig aufgeschlossen für die Zukunft gilt, war er um 1900 28 29 30 31

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Siehe dafür Ries 2012 (b). Zum Kontext und Zit. vgl. Oexle 1996, S. 128. Schmitt 1919, S. 10. Vgl. z.B. die Zuordnung bei Ottmann 2008, S. 21ff.

ein wichtiges Kernelement, ja der eigentliche Treibsatz eines positiv gewendeten >deutschen Sonderwegs< zwischen >westlicher Demokratie< und >östlicher Barba‐ reideutsche Kulturnationvernünftigen Gang< der Geschichte zusammen‐ hing, gleichermaßen (ob mehr aus >idealisitischen< oder mehr aus Denkfiguren< der Romantik - Ganzheit, Gemeinschaft, Volk und Kultur - schienen Meinecke wie geschaffen zur Überwindung der modernen Ambivalenzen. Dafür diente ihm der Rückgriff in die Vergangenheit. Die alten und neuen Dualismen von 'Sein und Sollen', von 'Natur und Geist' oder (wie er es selbst nannte) von 'Kratos und Ethos' sollten durch eine historisch begründete und legtimierte „gegensatzaufhe‐ bende Begriffsbildung“52 überwunden werden, um wieder zu einer höheren Einheit zu gelangen. Mit Ranke im Gepäck, der ihm nach wie vor ein wichtiger Referenz‐ punkt blieb,53 ließ sich dies einfacher und voraussetzungsloser bewerkstelligen als mit den unsicheren Kantonisten eines aufgeklärt-kritischen Perspektivismus. Dass in diesem ganzheitlichen Denken auch eine große Gefahr lag, die Gefahr nämlich, die erste parlamentarische Demokratie auf deutschem Boden begriffsgeschichtlich zu unterhöhlen und damit auch dem Niedergang zu weihen, hat Friedrich Meinecke nicht wirklich erkannt54. Er hat es übrigens auch 1945 immer noch nicht gesehen, als er in seinem letzten Werk, der „deutschen Katastrophe“, den seltsam anmuten‐ den, aber ganz bezeichnenden Vorschlag der Gründung von „Goethegemeinden“ 48 49 50 51 52 53 54

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Meinecke 1929, S. 537. Ebd. Ebd., S. 541f. Ebd., S. 542. Lepsius 1994. Meinecke 1929, S. 539. Vgl. zu dem Argument die kritische Studie von Werner 1974, bes. S. 88 u. 96.

machte - „ein kleines Wunschbild“, das ihm „in den furchtbaren Wochen nach dem Zusammenbruch in den Sinn kam“.55 Auch in dieser Schrift überwiegen noch die Vorbehalte gegenüber einer modernen Massengesellschaft und auch gegenüber der ersten Demokratie auf deutschem Boden56; denn - so Meinecke: „Die liberale Ära des 19. Jahrhunderts, so unvergänglich auch ihr Verdienst um die Weckung der individuellen Kräfte bleibt, hatte doch die Gesellschaft zu sehr sich selbst über‐ lassen und ihre alten ethischen Bindungen durch Familie, Sitte, Standesgeist usw. erschlaffen lassen, ohne an die Schaffung neuer Bindungen energisch zu denken. Die Gesellschaft war in die Gefahr gekommen, amorph zu werden“57. Meinecke blieb zeit seines Lebens in Distanz zur westlichen Demokratie und hielt ungebrochen an seinen neoromantischen organischen Staats- und Einheitsvorstellungen fest: „Ein pessimistischer Geschichtsphilosoph, der bei Burckhardt etwas gelernt hätte“, mein‐ te er unter der Kapitelüberschrift „Hat der Hitlerismus eine Zunkunft“ Ende 1945, „könnte auf Verfallssymtome der Kultur und Zivilisation auch bei den westlichen Völkern hinweisen und wie auch hier das Drängen der Massen nach Macht und Genuß über die heute noch vorhandenen edleren Motive ideeller und ethischer Art noch einmal obsiegen werde“58. Meineckes Staat war >ethischer und ideeller ArtWeltbürgertum< 1905/06 entworfen hatte - kein demokratisch-pluralistischer und parlamentarischer Rechts- und Verfassungsstaat, wie wir ihn heute mit all seinen Chancen und auch Zumutungen erleben dürfen.

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55 56 57 58

Jetzt nach der Neuedition Sösemann 2018, S. 165f. Die Hinweise auf die folgenden Zitate verdanke ich Herrn Philipp Kauder. Sösemann 2018, S. 125. Ebd., S. 142.

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Ewald Grothe Otto Hintze und der Staat*

Für den Historiker Otto Hintze1 blieb der Staat lebenslang ein Leitmotiv seines wissenschaftlichen Interesses. Bereits im Studium der Rechts- und Staatswissen‐ schaften spielte der Staat eine Hauptrolle. In seinem späteren wissenschaftlichen Werk beschrieb, analysierte und interpretierte Hintze Staatsbildungen, Staatsformen, Staatstypen und Staatszustände. Richtete sich sein Hauptaugenmerk lange Zeit mit Sympathie auf den preußischen Staat, so wandelte sich dies zunehmend und nach‐ haltig in Richtung einer staatskritischen Einstellung. Hintzes bevorzugtes Arbeits‐ feld war die international vergleichende Verfassungsgeschichte und deshalb rückten die Staaten, um deren Verfassungszustände es ging, in das Zentrum des historischen Geschehens. Hintzes Geschichtsauffassung war – ganz zeittypisch – vorwiegend etatistisch ausgerichtet. Nachfolgend soll das Verhältnis Hintzes zum Staat als historischem Objekt näher beleuchtet werden.2 Wie stand es um den Staatsbildungsprozess, wie beschrieb der Historiker den Wandel des Staates, wie seine Regierungsformen und wie die Macht‐ verhältnisse in ihm und nach außen? Wie stand es um die Funktion einer Verfassung, welche Rolle spielten Recht und Freiheit im Staat und welche Faktoren bewirkten Veränderungen des Staates? Schließlich soll auch die Rezeptionsgeschichte von Hintzes Werk kurz in den Blick genommen werden, denn sie gibt Aufschluss über das gewandelte Verhältnis der Historiker zum Staat in der Geschichtswissenschaft.

I In einem Antrag an die Königliche Akademie der Wissenschaften zu Berlin forder‐ ten die damals führenden Berliner Historiker Heinrich von Sybel und Max Lehmann sowie der Nationalökonom Gustav Schmoller im April 1887, die „Ursachen der Staatenbildung, ihrer Blüthe und ihres Untergangs“ zu erforschen.3 Dies gab den Anstoß zu verstärkten Aktivitäten im Bereich der Verfassungs- und Verwaltungsge‐ * Für Unterstützung und kritische Diskussionen danke ich herzlich Edgar Liebmann, Anne Nagel und Ulrich Sieg. 1 Über sein Leben ausführlich: Neugebauer 2015; Skizze bei Neugebauer 2001. 2 Vgl. dazu auch Grothe 2005a, S. 55-80, 142-149, 152-155; Grothe 2010; Grothe 2017. 3 Antrag der Akademie der Wissenschaften an das Ministerium vom 21.4.1887, gedruckt in: Acta Borussica 1892, S. VI.

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schichte. Bereits seit März 1887 arbeitete der 1884 an der Berliner Friedrich-Wil‐ helms-Universität promovierte, 25-jährige Otto Hintze an dem Editionsprojekt der Acta Borussica. Gustav Schmoller, der umtriebige Begründer der jüngeren histori‐ schen Schule der Nationalökonomie, hatte Hintze angeworben, an dem im „Kombi‐ natsstil“ betriebenen Großprojekt zur preußischen Geschichte in der frühen Neuzeit mitzuwirken.4 Der aus dem pommerschen Pyritz stammende Historiker war bei Julius Weizsäcker zu einem mittelalterlichen Thema promoviert worden5 und hatte anschließend auf Anregung des Verfassungshistorikers Georg Waitz ein Zweitstudi‐ um der Rechts- und Staatswissenschaften absolviert. Er hatte unter anderem bei Rudolf von Gneist gehört, der bei ihm ein Interesse für die Verfassungsgeschichte weckte. So erwies sich Hintze für Schmoller als ein idealer Mitarbeiter, der von seinen Fächern und Interessen her perfekt für die Acta Borussica passte. Hintze legte nach fünf Jahren intensiver Forschung zwei umfangreiche Bände zur Geschichte der preußischen Seidenindustrie im 18. Jahrhundert vor.6 Das The‐ ma mag auf den ersten Blick etwas abseitig wirken, behandelte aber einen der zentralen Bereiche des Merkantilismus und damit ein wirtschafts- und verfassungs‐ historisch bedeutsames Gebiet. Hier ging es zudem um die Institutionengeschichte als wichtigem Segment der Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte. Eine solche Staatsstrukturgeschichte entwickelte sich nunmehr zur dominierenden Richtung der preußischen Historiographie in den 1890er Jahren. Gefördert wurde diese systema‐ tische Erforschung der staatlichen Zustände Preußens in der frühen Neuzeit vor allem auch mit Mitteln aus dem Kultusministerium und mit Unterstützung des ein‐ flussreichen Staatssekretärs Friedrich Althoff.7 Auch auf sein Betreiben hin, aber vor allem mit massiver Förderung durch Schmoller wurde Hintze 1899 zum Extraordi‐ narius und 1902 zum Lehrstuhlinhaber für Verfassungs-, Verwaltungs-, Wirtschafts‐ geschichte und Politik an die Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin berufen.8

II Hintze Forschungsaktivitäten passten ausgezeichnet in den neuen Themenschwer‐ punkt an der Berliner Universität. Das Konzept zu einer allgemeinen Verfassungsund Verwaltungsgeschichte der neueren Staaten hatte er bereits in den 1890er Jahren entworfen. Nun baute er es theoretisch weiter aus und ergänzte es in einer Reihe von Aufsätzen und einem geplanten Überblickswerk.9 In seinem Verständnis gab 4 5 6 7 8 9

Neugebauer 1998. Hintze 1885. Acta Borussica 1892; Hintze 1893; Hintze 1901. Neugebauer 1997; Neugebauer 1999; Neugebauer 2000. Cymorek 2001; Grothe 2005a, S. 59-62. Neugebauer 1993.

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es, in Abgrenzung von anderen Modellen, wie der fast zeitgleich entstandenen Ent‐ wicklungstheorie von Wilhelm Roscher10, eine Stufenlehre der Staatsentwicklungen. In der Geschichte fand er eine Abfolge von Staatenbildungen, ihrer Umformungen, ihres Niedergangs und ihres Neuaufbaus. Hintzes Auffassung zufolge gab es einen stetigen Wandel von der Staatsform der antiken Stadtstaaten bis zum Typus des nationalen Großstaats in der Gegenwart. Den geographischen Raum für dieses Aufstieg-Blüte-Verfall-Modells bildete das Abend‐ land, der romanisch-germanische Kulturkreis. Dieser wurde immer wieder mit außerhalb liegenden, auch außereuropäischen Entwicklungen kontrastiert. Entschei‐ dender Faktor für den Unterschied zu historischen Prozessen in anderen Räumen war dabei die Tatsache, dass nur im Abendland die Kirche eine „selbständige und zur Oberherrschaft hinstrebende Stellung“ eingenommen habe.11 Hintze unterschied zudem die kontinentale Staatenbildung von der englischen.12 „Bei all diesen Verän‐ derungen handelt es sich“, so Hintze, „nicht um typische, regulär wiederkehrende Entwicklungsstufen der einzelnen Völker, sondern um einen großen universalen Zu‐ sammenhang, um einen weltgeschichtlichen Prozeß“.13 Zwei Grundzüge wurden bei der Beobachtung dieser Vorgänge sichtbar: die „Tendenz zur Schaffung universaler Reiche“ in einer extensiven Form der Staatenbildung und die „Tendenz zu einer mehr individualisierenden und intensiven Staatenbildung“.14 Hintze fand im historischen Prozess der Staatenbildung eine Grundkategorie, eine Art inneres Gesetz der Verfassungsgeschichte.15 In ihrem Kern stellte die Ver‐ fassungsgeschichte damit eine Art Staatenbildungsgeschichte dar.16 Es war Hintzes Plan, historische Prozesse systematisch und typologisch zu erfassen. Dabei zielte er auf eine „moderne Theorie der Staatenbildung“ ab, die multikausal (macht-)poli‐ tische und geographische ebenso wie psychologische und ökonomisch-soziale Fak‐ toren berücksichtigen sollte.17 Er betätigte sich als Deuter und Ordner des weltge‐ schichtlichen Verlaufs, den er in eine Art Reihenfolge brachte, und wirkte damit, wie Friedrich Meinecke es leicht ironisch ausdrückte, als „Entwicklungsreiher“.18 Hintze betonte die Bedeutung dynamischer Verlaufsformen in der Geschichte gegenüber der latent statisch wirkenden Beschreibung von Verfassungs-Zuständen19, wie sie vor allem von Juristen und Nationalökonomen betrieben werde. Aber auch in seinen 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19

Roscher 1893. Hintze 1897a, S. 24 f., das Zitat S. 24. Ebd., S. 38 f. Ebd., S. 29. Ebd. Meinecke 1941, S. 95: Hintze habe behauptet, es gebe „Gesetze in der Geschichte“. Schulze 1981. Hintze rezipierte den Begriff „Staatenbildung“ von Schmoller, so Neugebauer 1998, S. 46. Hintze 1895, S. 97. Meinecke 1941, S. 95. Zur Kategorie der Entwicklung, auch in Abgrenzung von Max Weber: Schulze 1983, S. 130 f.

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späteren Forschungen zeigte sich sein Interesse und sein sicheres Gespür für andere Komponenten der Politik. Seine Vorlesungen über das Staatensystem erwiesen sich als „machtpolitische Ergänzung der Verfassungsgeschichte“.20 Im Verlauf der Weltgeschichte unterschied Hintze sechs verschiedene Typen der Staatenbildung, denen er entsprechende Verfassungsformen zuordnete. Beide Prozesse, „Staatenbildung und Verfassungsentwicklung“, meinte er 1902, stünden in einem „ursächlichen Zusammenhang“.21 Sie vollzögen sich in einer stufenförmigen Abfolge. Dem griechischen und römischen Stadtstaat entspreche eine republikani‐ sche Verfassung, dem antiken Weltreich eine despotische, dem mittelalterlichen Stammesstaat eine Gentil- bzw. Feudalverfassung, dem frühneuzeitlichen Territori‐ alstaat eine ständische Verfassung, dem absoluten Staat eine monarchische, dem konstitutionellen Staat eine repräsentative und der moderne Nationalstaat schließlich besitze eine demokratische Verfassung. Diese wechselseitigen Beziehungen von Staatenbildungstyp und Verfassungsform beruhten auf dem grundsätzlichen Zusam‐ menhang zwischen äußerer und innerer Staatsentwicklung, den Hintze betonte.22 Für die Abhängigkeit der Verfassungsform von der Staatsgröße führte er die Autoritäten Aristoteles und Schleiermacher an.23

III Für Hintze hingen äußere und innere Staatszustände vor allem von den geographi‐ schen und geopolitischen Bedingungen ab. Er orientierte sich an den Thesen zeitge‐ nössischer Wissenschaftler. So hatte der englische Historiker John Robert Seeley seine Annahme, dass das Maß an innerer Freiheit umgekehrt proportional sei zu dem äußeren Druck, der auf einem Staat laste, am Beispiel der insularen Lage seiner Heimat England entwickelt.24 Hintze nahm dieses Theorem auf und baute es in seine Staatenbildungs- und Verfassungsentwicklungstheorie ein.25 In der Frühen Neuzeit habe sich auf dem Kontinent ein absoluter Militärstaat entwickelt, während sich in England das Prinzip der repräsentativen Selbstverwaltung herausgebildet habe.26 Bei der Berücksichtigung der geographischen Grundlagen der Staatenbildung stützte sich Hintze vor allem auf die Forschungen des Geographen Friedrich Ratzel.27 Hartung 1941a, S. 508 f. Hintze 1902, S. 51. Ebd., S. 19, 37. Vor allem in Hintze 1902. Hintze 1897a, S. 35 f. Die These findet sich u.a. in Seeley 1896, S. 131 („the degree of liberty will be inversely pro‐ portional, to the degree of pressure”). Dazu Kraus 2003. 25 Hintze 1897a, S. 19 f. Auch in Hintze 1913, S. 433. Noch deutlicher wird dies in: Hintze 1926, S. 200 f. 26 Hintze 1897a, S. 38 f. Siehe auch Ertman 1999, S. 28. 27 Hintze 1898; Hintze 1903. 20 21 22 23 24

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Hintze setzte sich aber gerade auch in seinem Staatsverständnis von zeitgenössi‐ schen Wissenschaftlern ab. So kritisierte er an dem Nationalökonomen Wilhelm Roscher genau jene Punkte, die er generell der juristischen Verfassungsgeschichte vorwarf. „Der Jurist betrachtet den Staat vornehmlich unter dem Gesichtspunkt des Rechts, der Historiker unter dem der Macht oder der Kultur.“28 Letztlich sei das der Unterschied zwischen der Diagnose eines Zustands bei den Juristen und der einer Entwicklung bei den Historikern. Eine Allgemeine Staatslehre war, Hintze zufolge, zu wenig historisch. Dagegen setzte er seine Auffassung: „Die systematische Lehre von den Staatsformen muß [...] ersetzt werden durch eine allgemeine Verfassungsge‐ schichte“.29 Was der Inhalt einer solchen „allgemeinen Verfassungsgeschichte“ zu sein habe, definierte Hintze am Ende seiner Roscher-Abhandlung: „In Forschung und Darstellung müßte immer der Zusammenhang mit den allgemeinen Kulturbewegungen gewahrt bleiben, die der Gegenstand der eigentlichen Historie sind; die Konzentration auf das beschränkte Objekt würde dieser Disziplin [der Verfassungs‐ geschichte, E.G.] dennoch einen besonderen Charakter verleihen. Sie könnte vielleicht zweckmäßig geteilt werden in eine Geschichte der äußeren Staatenbildung und in eine ei‐ gentliche Verfassungsgeschichte. Sie würde ausmünden in eine Ansicht des allgemeinen Staatsrechts der heutigen Kulturvölker und in eine Ansicht des heutigen Staatensystems. Sie würde sich mit der politischen Geographie wie mit Staatsrecht und Völkerrecht berühren. Sie müßte vergleichend verfahren, soweit es möglich und ersprießlich ist; na‐ mentlich müßte auch die staatliche Entwicklung innerhalb des Kreises der weltgeschicht‐ lichen Kulturvölker in Vergleich gesetzt werden mit dem, was man von der Staatenbil‐ dung in anderen Kultur- und Völkerkreisen weiß oder in Erfahrung bringen kann.“30

Ein allgemeiner Teil einer solchen „Wissenschaft der Politik“, einer politikwissen‐ schaftlichen Verfassungsgeschichte31, würde dann vor allem „die philosophische, d.h. hauptsächlich psychologische und ethische Grundlegung“ einer Staatslehre ent‐ halten, die in die Zukunft wiese.32 Hintzes Plan bestand darin, die traditionelle politische Ideen- und Staatenge‐ schichte durch eine moderne, wirtschaftliche und soziale Faktoren berücksichtigende Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte zu ergänzen. Damit wollte er das Gebiet historischer Forschung methodisch und systematisch erweitern.33 Dabei sah er in den wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Faktoren in der Geschichte Hintze 1903, S. 257. Hintze 1897a., S. 44. Ebd., S. 44 f. Siehe dazu auch Vierhaus 1983. Oestreich 1967, S. 8*. Diese Sicht auch bei Boldt 1984, S. 131-135, 142-147. Hintze 1897a, S. 45. Dass er solche Analysen in der damaligen Wissenschaft von der Politik vermisse, die „erst im Werden begriffen“ sei, hatte Hintze 1897a, S. 4 f., hervorgehoben. Zur Stellung Hintzes in der „Politikwissenschaft“ um die Jahrhundertwende siehe Bleek 2001, S. 166 f. 33 Zu Recht betont Dietrich Gerhard, dass es Hintze um eine Verfassungsgeschichte als Institutio‐ nengeschichte mit sozialem Hintergrund ging, nicht aber um eine unabhängige Sozialgeschich‐ te, wie sie z.B. später Hans Rosenberg betrieben habe. Gerhard 1970, S. 29 u. Anm. 11.

28 29 30 31 32

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zwar wichtige, aber doch überwiegend sekundäre Phänomene, kollektive Kräfte, die primär Resultate staatlichen Handelns waren.34 Hintzes Leitinteresse galt dem Staat, in seinen Arbeiten dachte er vorwiegend etatistisch.35 Dies galt sowohl in der innen- wie in der außenpolitischen Betrachtungsweise. In Hintzes außenpolitischen Überlegungen spielte die Machtpolitik eine entscheidende Rolle. Ihre Rückwirkun‐ gen reichten gleichwohl weit in die innenpolitischen Strukturen hinein. „So hat die soziale Schichtung“, schrieb er 1913, „die man in der Regel auf rein innere Ursachen zurückführt, ihre Wurzeln auch in den großen Weltverhältnissen, in denen die einzel‐ nen Staaten ihre Stellung zueinander genommen haben, und es ist in letzter Linie Machtpolitik, was die soziale Struktur der Staaten maßgebend beeinflußt hat.“36 Auffällig war Hintzes Titelwahl zu Beginn des 20. Jahrhunderts. „Staatenbil‐ dung und Verfassungsentwicklung“, „Staatsverfassung und Heeresverfassung“, „Das monarchische Prinzip und die konstitutionelle Verfassung“, „Machtpolitik und Re‐ gierungsverfassung“ hießen Aufsätze Hintzes zwischen 1902 und 1913.37 Wie un‐ schwer zu erkennen ist, ging es ihm bei der Kombination der Begriffspaare um die Kontrastierung vermeintlich polarer und zugleich typisierter Gegensätze, die er dann gleichsam dialektisch zusammenführte und aufeinander bezog.38

IV 1914 wurde Hintze zum Mitglied in der Königlichen Akademie der Wissenschaften zu Berlin berufen. In seiner Antrittsrede erläuterte er sein Verhältnis zu Preußen. „Die preußische Geschichte wurde mir zum Paradigma für die Ausgestaltungen und Abwandlungen des Lebens eines modernen Staates überhaupt.“ Preußen diente Hintze als Vehikel, denn „das eigentliche Ziel, das mir bei meinen wissenschaftli‐ chen Bemühungen vorschwebte, war von Anfang an eine allgemeine vergleichende Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte der neueren Staatenwelt, namentlich der romanischen und germanischen Völker“.39

34 Neugebauer 2015, plädiert durchgehend für eine bruchlose Entwicklung von Hintzes Staatsund Verfassungsverständnis. Die ältere Richtung, die seinen Blick für ökonomische, soziale und kulturelle Kräfte in der Geschichte vor 1918 begrenzt sieht: Gilbert 1975, S. 49, sowie Kocka 1981, S. 87. 35 Seine Methode sei „vom Staat her die historische Wirklichkeit integrierend“. Kocka 1973, S. 280. 36 Hintze 1913, S. 428. 37 Die genannten Arbeiten sind allesamt wiederabgedruckt in: Hintze 1906; Hintze 1911; Hintze 1913; Hintze 1970, S. 34-83, 359-389, 424-456. Vgl. auch Grothe 2017. 38 Oestreich 1989, S. 291 f. Gerhard Oestreich meint, dass es Hintze nicht um eine Synthese im Hegelschen Sinn gegangen sei, sondern um die Konstruktion einer „Ellipse mit zwei Brenn‐ punkten“. Oestreich 1967, S. 64*. 39 Hintze 1914.

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Preußen repräsentierte für Hintze einen bestimmten realgeschichtlichen Verfas‐ sungstypus, der den Staatenbildungs- und -umbildungsprozess seit der Frühen Neu‐ zeit bis um 1900 vollzogen hatte. An der preußischen Geschichte zwischen dem 16. und dem 19. Jahrhundert ließen sich für Hintze verschiedene Staatsformen und unterschiedliche verfassungsgeschichtliche Wandlungsprozesse nachweisen und geradezu exemplifizieren. Der preußische Staat durchlief die Stationen des spätfeu‐ dalen Staates, des absolutistischen Ständestaates sowie des konstitutionellen Staates bis zur Gründung des kontinentalen Großstaates Deutsches Reich im Jahr 1871. Am preußischen Beispiel ließen sich Zentralisierung, Bürokratisierung und Militari‐ sierung als Tendenzen der Verfassungsgeschichte in der Neuzeit aufzeigen.40 Als Hintze 1915 seine umfangreichste Monographie über „die Hohenzollern und ihr Werk“ veröffentlichte41, war es also nicht nur die Ehre, ein Auftragswerk für das Königshaus zu übernehmen. Es war vielmehr auch die Möglichkeit, die preußische Geschichte, die er vorher in zahlreichen Aufsätzen behandelt hatte, nunmehr im Zusammenhang zu untersuchen.42 Nicht uninteressant ist dabei auch die Frage, wie sich – jenseits seiner historiographischen Welt – Hintze zum preußisch-deutschen Kaiserreich positionierte. Keine Frage ist, dass er Anhänger der Monarchie war, ebenso gibt es Belege dafür, dass er den Wandel zur Demokratisierung begrüßte. In einer Festrede zum 100sten Todestag von Königin Luise kann man lesen, dass Hintze „demokratische Institutionen unter einer monarchischen Regierung […] heu‐ te noch ebenso wie vor 100 Jahren am Platze“ fand.43 Die durch interdisziplinäre Verfahren gewonnenen Einsichten Hintzes schlugen sich in bemerkenswerten verfassungshistorischen Ergebnissen nieder. Als zentraler historischer Prozess war die Staatenbildung anzusehen. In ihr manifestierte sich die Parallelität von äußeren Bedingungen und inneren Faktoren im Geschichtsverlauf, die zu Hintzes grundlegenden Annahmen zählte. Doch Hintze betonte bei allem Prozesshaften und aller Dynamik in der Geschichte gleichzeitig auch die stets vorhandene Neigung zur Verfestigung historischer Strukturen, z.B. in Staaten und (staatlichen) Institutionen. Es gehörte also zur Aufgabe des Verfassungshistorikers, diese historisch geronnenen Formen zu analysieren, die Zustände des Staates und die Verhältnisse in einem Staat zu untersuchen. Als analytische Methode zum Er‐ fassen und Interpretieren der Staatszustände bevorzugte Hintze insbesondere den Vergleich. Dieses Verfahren eignete sich bevorzugt zum Erkennen von individuellen und allgemeinen Typen sowie zur Entwicklung bestimmter Verlaufsformen. Hintze suchte nach idealtypischen Allgemeinbegriffen, wie z.B. dem modernen Staat, den 40 Zu Hintze und Preußen siehe: Ertman 1999, Grothe 2005a, S. 73 f., Grothe 2005b; Neugebauer 2015, S. 186-210. 41 Hintze 1915. Dazu Büsch 1983; Neugebauer 2015, S. 412-429. 42 Hintze 1915, S. VII, betonte ausdrücklich, dass es sich weder um eine „Apologie“ noch um einen „Panegyrikus“ handele. 43 Zitiert nach Neugebauer 2015, S. 385.

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er dann in seiner Entwicklung und in spezifischen Vorformen untersuchte. Hintze beabsichtigte, die Phasen der Staatenbildung und -umformung möglichst auf einen Begriff zu bringen, der mittels des Verfahrens der anschaulichen Abstraktion sowohl eine notwendige Allgemeinheit erfasste und somit eine Typisierung zuließ als auch noch hinreichende Bezüge zum tatsächlichen historischen Vorgang aufwies. Im Unterschied zu Georg Jellinek und Max Weber bevorzugte Hintze demnach die Bezeichnung Realtyp statt Idealtyp.44

V Neben der typologischen Betrachtungsweise, die für Historiker um 1900 recht un‐ gewöhnlich war, zeigte sich Hintze auch offen für eine andere Entwicklung, die er parallel dazu rezipierte. Gemeint ist seine bemerkenswerte Stellungnahme im Lamprecht-Streit. Der Leipziger Historiker Karl Lamprecht hatte sich in den 1890er Jahren in eine Randposition bei den Historikern begeben, weil er die politik- und staatsbezogene Geschichtsbetrachtung durch eine stärkere Einbeziehung der sozialen und kulturellen Zustände ergänzen wollte. Lamprecht stellte fest: „die Entwickelung der Staatsgeschichte ist nicht der Anfang geschichtlicher Wissenschaft, sondern deren Ende“. Die von ihm vertretene neue Richtung sei darauf bedacht, „das Ver‐ ständniß des Staates zu vertiefen“.45 Die Forderung des Leipziger Lehrstuhlinhabers nach einer „Kulturgeschichte“46 löste den Streit aus. Lamprecht hatte in seiner „Deutsche[n] Geschichte“ der bisher in der Geschichtswissenschaft im Vordergrund stehenden „Personen-“ und „Staatsgeschichte“ eine klare Absage erteilt, dafür aber zu einer Erforschung der Strukturen und Prozesse, vor allem aber der sozialpsycho‐ logischen Urgründe und Gesetzmäßigkeiten in der Geschichte aufgerufen.47 Es sei an der Zeit, die Totalität sozialer, wirtschaftlicher, politischer und geistiger Zustände in der Geschichte zu erfassen. Die Kritiken aus der Historikerzunft überschlugen sich in inhaltlicher und emotionaler Schärfe. Demgegenüber fiel das Urteil Otto Hintzes differenzierter aus. Hintze sah die Dinge nüchterner, aber auch grundsätzlicher. Er knüpfte, anders als die meisten Lamprecht-Kritiker, nicht an der „Deutschen Geschichte“ des Leip‐ ziger Historikers an, sondern an dessen methodischen Aufsatz „Was ist Kulturge‐ schichte?“, der in der „Deutschen Zeitschrift für Geschichtswissenschaft“ 1896/97 erschienen war.48 Dieser Beitrag, so Hintze, sei „nicht das Schlechteste, was über diese Fragen geschrieben worden ist“. Er enthalte „auch für die prinzipiellen Geg‐ 44 45 46 47 48

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Grothe 2005a, S. 79. Alle Zitate bei Lamprecht 1896a, S. 27. Zu seiner Person neben Chickering 1993, vor allem: Schorn-Schütte 1984. Lamprecht 1921, S. 133 f. Lamprecht 1896/97.

ner des Lamprechtschen Standpunktes manches Lehrreiche“, kranke aber an einer „einseitigen Durchführung eines an sich richtigen Prinzips“. Die Grundfrage, die Lamprecht stelle, richte sich auf möglicherweise nachweisbare Gesetzmäßigkeiten in der Geschichte, auf die Frage nach der Singularität historischer Erscheinungen. Somit kreisten seine Ausführungen um das Problem einer „individualistischen oder kollektivistischen Geschichtsauffassung“. Während Lamprecht aber einseitig nur die „psychischen Kollektivkräfte“ und eine „sozial-psychologische Betrachtungsweise“ betone, kommt Hintze zu der Er‐ kenntnis, dass nur die Kombination beider Methoden fruchtbringend sei. „Das geschichtliche Leben beruht im letzten Grunde überall auf – mehr oder minder bewußt hervortretender – individueller Lebensbetätigung; und das individuelle Le‐ ben erscheint dabei überall eingebettet in das Leben der Gemeinschaften, mehr oder weniger abhängig von den Kollektivkräften, die sie beherrschen.“ Es gebe demnach nicht etwa zwei verschiedene historische Methoden, nicht zwei Disziplinen der politischen und der sogenannten Kulturgeschichte, sondern nur eine einzige. Lamprechts Ansicht bedeute nicht eine „Umwälzung“ der bisherigen Historie, son‐ dern deren „Ergänzung“. Hintze stört die dichotomische Konstruktion Lamprechts, er bevorzugt demgegenüber einen Ausgleich zwischen „alten und neuen Richtungen in der Geschichtswissenschaft“.49 Hintze betont den Grundgedanken der historischen Entwicklung und hebt ihn sowohl in seiner genetischen Natur als singulär als auch in seiner Vielfältigkeit und Multikausalität hervor. Zudem ist von natürlichen „Tendenzen“ die Rede, welche „reguläre“, d.h. gesetzmäßige Prozesse beeinflussen. Schließlich werden „parallele Entwicklungen [...] innerhalb der romanisch-germanischen Völkerfamilie“ genannt, die auf die generellen Staatenbildungsprozesse anspielen, wie Hintze sie bereits ge‐ genüber Wilhelm Roscher hervorgehoben hatte. Einzelne Nationen „repräsentieren [...] bestimmte Entwicklungsstadien eines größeren Ganzen als den wiederkehrenden Typus einer regulären nationalen Entwicklung“. „Wir wollen“, so deutet Hintze in Anspielung auf Meineckes Ideengeschichte seine historiographischen Pläne an, „nicht nur die aufgesetzten Ketten und Gipfel, sondern auch den Grundstock des Gebirges, nicht nur die Höhen und Tiefen der Oberfläche, sondern die ganze konti‐ nentale Masse kennenlernen.“ Ohne große Phantasie lässt sich aus dieser Aussage ein programmatisches Anliegen herleiten. Hintzes Absicht bestand darin, die politi‐ sche Ideen- und Staatengeschichte durch eine moderne, wirtschaftliche und soziale Faktoren berücksichtigende Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte zu ergänzen

49 Chickering 1993, S. 231. Der Aufsatz Hintzes sei ein Modell für „generosity and conciliation“. Vgl. den Titel von Lamprecht 1896b.

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und damit das Gebiet historischer Forschung methodisch und systematisch zu erwei‐ tern.50 Hintzes Ziel ist eine ‚integrative’ Verfassungsgeschichtsschreibung, die die Wich‐ tigkeit der wirtschaftlichen und sozialen Prozesse und der Kategorie der Gesellschaft in der Geschichte betont, die in der bisherigen staatsbezogenen Historiographie allzu sehr vernachlässigt worden seien.51 Indem Lamprecht diese Faktoren berücksichtigt habe, liege in seiner „Richtung ein merklicher Fortschritt“.52 Hintze knüpfte mit dem Gedanken der Integration gesellschaftlicher Kräfte in die historische Darstellung ebenso an Lorenz von Stein an wie er zugleich seine wissenschaftliche Herkunft aus der Schmoller-Schule nicht verleugnen konnte.53 Die Herkunft und Verwurzelung in verschiedenen historiographischen Schulen des 19. Jahrhunderts begünstigte zweifellos die auf Ausgleich zielende Stellungnah‐ me Hintzes im Lamprecht-Streit. Diese Versöhnungsattitüde kam bereits im Titel der Abhandlung zum Ausdruck, der „individualistische und kollektivistische Ge‐ schichtsauffassung“ gleichrangig nebeneinander postierte und ohne wertende Stel‐ lungnahme kontrastierte. Es ist bemerkenswert, dass Hintze bei aller Staatsbezogen‐ heit seiner Verfassungsgeschichte für einen breiteren methodischen Ansatz warb, der auch wirtschaftliche, soziale und kulturelle Aspekte mit integrierte.

VI Nach dem Ersten Weltkrieg wandelte sich Hintzes Einstellung zum Staat.54 Eine nüchterne Sicht und ein von Max Weber beeinflusster technisch-bürokratischer Blick auf das Gemeinwesen waren nunmehr deutlich spürbar.55 In einem Beitrag unter dem bezeichnenden Titel „Der Staat als Betrieb und die Verfassungsreform“ stellte Hintze fest: „Zu der Zeit, da wir Älteren jung waren und mit unserem Reich auch die Andacht zum Staat noch in der Blüte stand, wäre es fast als eine Blasphemie erschienen, die Majestät des Staates durch den Vergleich mit einer wirtschaftlichen Unternehmung herabzuwürdigen.“ Die frühere Staatsverehrung sei aber seit dem „moralisch-politischen Zusammenbruch am Ende des Großen Krie‐ ges“ dahin, „der alte Nimbus des Staates“ sei „zerstört“. Dem Staat stehe man heute – „anders als noch vor dem Kriege – mit geringerer Andacht und stärkerer 50 Dietrich Gerhard hebt hervor, dass Hintze eine Verfassungsgeschichte als Institutionen- und Strukturgeschichte betrieben habe, nicht aber im Kern eine Sozialgeschichte. Gerhard 1970, S. 29 u. Anm. 11. 51 Hintze 1897a, S. 10. Vgl. auch Schulze 1988, S. 327, 333. 52 Hintze 1897a, S. 317. 53 Oestreich 1964, S. 47*. 54 Ohne von einer wirklichen Zäsur zu sprechen, halte ich an einem Wandel des Staatsverständ‐ nisses Hintzes gegen die Auffassung von Neugebauer 2015, S. 30 f., fest. 55 Hintze 1926a; Hintze 1927b.

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Kritik gegenüber“.56 Der Staat sei nichts anderes mehr als „ein mit Zwangsgewalt ausgerüsteter Anstaltsbetrieb“, der für ein „sehr bescheidenes Maß an Wohlfahrt und Kultur zu sorgen“ habe.57 Schon zuvor hatte Hintze sich mit seiner Sicht auf den Staat von vielen Juristen und Historikern unterschieden, indem dieser die „als konkrete Einheit aufgefaßte Gesamtheit von Staat und Gesellschaft“ verkörperte.58 Aber jetzt war der Staat noch mehr versachlicht, hatte allen metaphysischen Glanz eingebüßt. Dies entsprach nach 1918 einem weit verbreiteten Gefühl, denn viele Zeitgenossen empfanden, dass der Staat mit dem Ende der Monarchie alle Mystik verloren habe. Bei Hintze und Weber wurde das Gemeinwesen nunmehr als „Unternehmung“ geradezu ökonomi‐ siert. Der Staat sei kein „Naturprodukt“, sondern ein „Kulturerzeugnis“. Deshalb dürfe die Verfassungsgeschichtsschreibung die Verfassungsgeschichte nicht länger als einen „rein immanenten Entwicklungsprozeß ohne gewaltsame äußere Eingriffe [...] konstruieren.“59 Doch trotz dieses partiellen Abrückens vom Staat ging es bei Hintze nicht ganz ohne ihn. An die Stelle der Monarchie trat nun die Bürokratie als „überdauernder Kontinuitätsträger“.60 In einem Aufsatz über die „Typologie der ständischen Verfassungen des Abend‐ landes“61 unterschied Hintze zwei spezielle Gruppen von Staatsentwicklungen. Für den einen sei England das charakteristische Beispiel, wo Wahlkönigtum, Selbstre‐ gierung und Parlamentarismus mit einem Zweikammersystem vorzufinden seien. Für den anderen Typus sei Frankreich das beste Exempel, weil es hier dynastische Erbfolge, monarchisch-bürokratische Verwaltung und einen Absolutismus mit einem Dreikuriensystem gegeben habe. Zwei Ursachen seien für diese unterschiedliche Entwicklung maßgeblich. So gebe es eine verschiedene Form und Struktur der Staatenbildung, da in den karolingischen Nachfolgestaaten der Feudalismus eine dynastisch-territoriale Neubildung ermöglicht habe, während in den Randstaaten wie England dieser Vorgang nicht stattgefunden habe und damit traditionelle Landesver‐ bände und lokale Selbstregierungen überleben konnten. Otto Hintze rezensierte 1927 die „Allgemeine Staatslehre“ des Wiener Staats‐ rechtlers Hans Kelsen in der „Historische[n] Zeitschrift“. Zunächst referiert er dessen Grundgedanken, indem er konstatierte: „Dieses System will rein juristisch sein; es verschmäht alle soziologischen und historisch-politischen Denkformen“62. Im zweiten Teil konzentriert sich Hintze auf eine geharnischte Kritik Kelsens, die in dem Satz gipfelt: „Eine Staatslehre, die den Begriff der Macht gänzlich ausschaltet, 56 57 58 59 60 61 62

Hintze 1933, S. 512. Hintze 1927a, S. 205 f.; Hintze 1924. Hintze 1897a, S. 41. Hintze 1929, S. 285 f. Vgl. generell Kocka 1973, S. 289 f.; Oestreich 1964, S. 23*, 60*. So zutreffend Blänkner 1992, S. 55. Hintze 1981. Hintze 1930. Siehe auch Hintze 1931a, Hintze 1931b. Hintze 1927, S. 66.

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die keine anderen Beziehungen der Staaten untereinander kennt, als rechtliche, die eigentlich überhaupt den wirklichen historischen Einzelstaat nur als Teilordnung der Universalrechtsordnung eines allgemeinen Weltstaates begreifen kann, streift doch nahe an die Utopie“. Kelsens Lehre stelle „ein Symptom gefährlicher Erkrankung des politischen Lebens und Denkens“ dar63. Die „Reine Rechtslehre“ negierte aus Hintzes Sicht nicht nur die historischen und soziologischen Entstehungszusammen‐ hänge von Rechtsordnungen, sie ignorierte zudem auch die interdisziplinäre Arbeits‐ weise der Verfassungsgeschichtsschreibung, wie sie Hintze seit Jahrzehnten prakti‐ zierte und forderte. Deshalb focht Hintze nicht nur für eine reale, die Machtfaktoren berücksichtigende Sichtweise des Staates, der keineswegs mit der Rechtsordnung identisch sei, sondern er verteidigte zudem im Rahmen der Kelsen-Rezension die Staatsanschauung Max Webers. Hintze entwickelte in den zwanziger Jahren eine sich immer mehr ausdifferen‐ zierende Staatenbildungs- und Staatsformensystematik. Es war sein Ziel, Verfas‐ sungsgeschichte und Allgemeine Staatslehre in typologisch kondensierter Form miteinander zu verbinden. Letztlich dienten solche Typologien ebenso wie alle Epo‐ cheneinteilungen in der Geschichte einem systematischen Zweck. Sie sollten einen Vergleich von Staaten und Staatengruppen ermöglichen und eine Ergänzung und Abrundung der historischen allgemeinen Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte der neueren Staaten sein. Von der bereits nach 1900 geplanten größeren Darstellung Hintzes haben sich etliche Fragmente erhalten; zusammenhängend ist jedoch zu seinen Lebzeiten nichts erschienen.64

VII Die zeitgenössische Rezeption Hintzes ist vor allem davon geprägt, dass seine ver‐ fassungshistorischen Veröffentlichungen zwar vielfach in den Forschungsprozess Eingang fanden, aber seine theoretischen Überlegungen zu einer Erweiterung der Geschichtswissenschaft deutlich weniger beachtet oder gar geteilt wurden. Eine eigentliche Schule hat Hintze nicht gebildet. Die mitten im Krieg erschienene Erst‐ ausgabe der Hintzeschen Abhandlungen seines Schülers Fritz Hartung fand wegen der Zeitumstände wenig Resonanz.65 Nach dem Zweiten Weltkrieg hat die Geschichtswissenschaft in verschiedener Hinsicht und in unterschiedlichen Phasen das Werk Otto Hintzes rezipiert. In den 1950er Jahren wurde Hintze eher wenig beachtet, vereinzelt finden sich Hinweise 63 Ebd., S. 74 f. 64 Einen Druck mehrerer Teilabschnitte besorgte Wolfgang Neugebauer. Hintze 1998. 65 Hintze 1941-1943. Dazu Hartung 1941a; Hartung 1941b. Zur Einordnung: Hartung 1956; Grothe 2005a, S. 55-80, 139-149, 389-392, 399-402.

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bei Otto Brunner, Hermann Heimpel und Theodor Schieder, die vor allem den historischen Vergleich wertschätzten.66 Die erheblich erweiterte Neuedition der von Hartung edierten Hintze-Abhandlungen durch Gerhard Oestreich in den 1960er Jahren wurde dagegen breit aufgenommen.67 Neben Oestreich und Schieder zählten die Meinecke-Schüler Dietrich Gerhard und Felix Gilbert zu denjenigen, die eine Rezeption Hintzes vorantrieben.68 Insbesondere Gilbert hat mit seiner Übersetzung von 1975 die angloamerikanische Forschung inspiriert69, die mit Untersuchungen zum state- bzw. nation-building Hintzes Studien aufgriff und weiterführte. In Deutschland war es vor allem die sich entwickelnde deutsche Sozialgeschichts‐ schreibung, die Hintze neben Karl Lamprecht und Max Weber als Ahnherrn für sich reklamierte.70 Die Verknüpfung von Verfassungs- und Sozialgeschichte erfuhr nach‐ drückliches Lob, die typologisch-vergleichende Methode wurde hervorgehoben und auch die epochen- wie fächerübergreifende Sichtweise Hintzes fand neue Anhänger. Die heutige Geschichtswissenschaft kann in dieser Hinsicht weiter von Hintze lernen. Auch die Wissenschaftsgeschichte der deutschen und internationalen Histo‐ riographie im 20. Jahrhundert wird auf eine eingehende Würdigung von Werk und Wirkung Hintzes schlechthin nicht verzichten können. Zuletzt hat jedenfalls die differenzierte und an neuem Material reiche Biographie von Wolfgang Neugebauer gezeigt, dass es bei Hintze im Detail noch viel zu entdecken gibt.71 Vor dem Hinter‐ grund anhaltender Diskussionen über die Rolle des Staates in der Gegenwart, lohnt es sich jedenfalls durchaus, über den Staatsbegriff der Historiker im 20. Jahrhundert nachzudenken.72

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Stefan Jordan Staat und Historie im Geschichtsdenken von Erich Marcks

Das Bild, das die historiografiegeschichtliche Forschung in den letzten rund einhun‐ dert Jahren von Erich Marcks politischer Haltung und seinem Werk entworfen hat, ist äußerst heterogen. Einig ist man sich, dass der zuletzt in Berlin lebende und lehrende Historiker zu Lebzeiten zu den führenden Vertretern seines Fachs gezählt hat und die Persönlichkeit Bismarcks und dessen Epoche in den thematischen Mit‐ telpunkt seines Werks stellte. Zudem wird Marcks als „Meister der biographischen Essayistik“1 gewürdigt, der die für den Historismus seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts typische Form der Geschichte als der Geschichte großer Männer zur Blüte gebracht habe. Dafür aber, dass das nähere Urteil über Marcks und sein Werk uneinheitlich bis widersprüchlich ist, gibt es mehrere Gründe, die alle eine Gemein‐ samkeit haben: Die Literatur zeichnet sich dadurch aus, dass sie stets versucht hat, Marcks in eine bestimmte „Schublade zu stecken“ beziehungsweise ihn mit einem bestimmten „Label“ zu versehen.

Rankerenaissance Das erste dieser Etiketten, das Marcks angeheftet wurde, ist das des hinsichtlich seines staatspolitisch ausgerichteten Geschichtsbilds und einer auf Objektivität zie‐ lenden Methodik zunächst von Leopold von Ranke geprägten Historikers, der später unter den Einfluss Heinrich von Treitschkes (bei dem er sich 1887 in Berlin habi‐ litierte) und dessen politisch-parteilicher Geschichtsauffassung geriet. Wegweisend war es Heinrich Ritter von Srbik, der Marcks neben Max Lenz der „Rankerenais‐ sance“ zurechnete und ihm das Verdienst zusprach, „noch am Geiste Treitschkes Anteil“ gehabt und diesen „mit dem Geist Goethes und Rankes vereint und geklärt“ zu haben.2 „Marcks wuchs auf zur Synthese von Macht und Geist, Bismarck und Goethe, er fand zurück zum Idealismus, zur Einheit und Harmonie alles Lebendigen, wie es seiner eigenen Persönlichkeit im tiefsten homogen war.“3 Dabei habe er „das Treitschkesche Übermaß […] vermieden“.4 Deutlich erkennbar ist die Einbet‐ 1 2 3 4

Faulenbach 2002. Srbik 1951, S. 18. Ebenda, S. 20. Ebenda, S. 21.

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tung von Srbiks Marcks-Bild in seine Konzeption eines Österreich umfassenden „Gesamtdeutschlands“, zu dem Marcks mit seiner „Wärme und Gerechtigkeit für Österreich“ beigetragen habe.5 Mit dieser Sicht auf die Rankerenaissance und damit auch auf Marcks setzten sich in den 1960er Jahren der Herzfeld-Schüler Hans-Heinz Krill und in den 1970er Jahren Elisabeth Fehrenbach ideologiekritisch auseinander, wobei Krill eine „Neu‐ gruppierung der Rankeaner nach der überwiegenden Fortsetzung des Erbes von Ranke oder von Treitschke“ vorschlug. Mehr auf die Seite Treitschkes rechnete er Lenz, Marcks und Johannes Haller; näher an Ranke seien Bernhard Erdmannsdörf‐ fer, Moriz Ritter, Friedrich Meinecke und Otto Hintze zu sehen.6 Auch Fehrenbach vollzog in ihrer Darstellung der Rankeaner eine Trennung, indem sie zwischen Form und Inhalt oder, um mit Droysen zu sprechen, zwischen Methodik und Systematik unterschied: „Die Forderung nach unparteiischer Objektivität bezweck‐ te keineswegs eine kritische Distanzierung oder eine Revision des traditionellen nationalen Geschichtsbildes. Im Gegenteil, die Verteidigung Rankes war zugleich eine Verteidigung Bismarcks.“7 Zu überzeugen vermögen beide Positionen nicht. Vielmehr machten sie einen Hiatus deutlich, der schwerlich zu überbrücken war und ein höchst ambivalentes Bild des Protagonisten entwarf.

Völkische Geschichtswissenschaft Waren die Positionen Krills und Fehrenbachs durch Entgegensetzungen geprägt, suchten andere Autoren, das Bild von Marcks zu historisieren und dadurch zu homo‐ genisieren. In seiner von Karl Bosl betreuten Münchner Dissertation kontextuierte Christoph Weisz die Entwicklung des Geschichtsbilds von Marcks und anderer „Münchener Historiker der Weimarer Zeit“ vor dem Hintergrund der politischen Entwicklung, wobei die Erfahrung der deutschen Kriegsniederlage 1918 als ent‐ scheidendes Ereignis genommen wird. Vereinfacht gesagt, schlug Weisz in einer theoretisch zuweilen wirren Argumentation eine Traditionslinie vom Staatsnationa‐ lismus des 19. Jahrhunderts, der im Kaiserreich seine Blüte erfahren habe, zum völkischen Denken der Weimarer Zeit und des beginnenden Nationalsozialismus. Mit besonderem Blick auf Marcks konstatierte der Autor, dass dieser „die Notwen‐ digkeit historischer Entwicklungen nicht [anerkannt habe, SJ], da er den von ihm als absoluten Höhepunkt der deutschen Geschichte aufgefaßten Bismarckstaat trotz der veränderten Bedingungen restauriert sehen“ wollte.8 Weisz kam zu dem Schluss: 5 6 7 8

Ebenda, S. 18. Krill 1962, S. 257 f. Fehrenbach 1974, S. 55 f. Weisz 1970, S. 278.

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„Erich Marcks, Karl Alexander von Müller und Max Buchner sind durch ihre völki‐ sche Geschichtsauffassung und ihre absolute Ablehnung der politischen Gegenwart einander verbunden.“ Sie blickten auf den „Volkstumsfaktor“ und ein „konstant bleibendes ‚deutsches Wesen’“.9 Eine ähnliche Auffassung vertrat später Bernd Faulenbach, der allerdings weniger ein Volkstumsdenken bei Marcks als vielmehr dessen Personenkult als Einfallstor nationalsozialistischer Ideologie sah: „Von einer Synthese von Macht und Geist im Kaiserreich ausgehend, geriet das Denken dieser [durch die Reichsgründung gepräg‐ ten, SJ] Historiker nach dem Ersten Weltkrieg in eine tiefe Krise, die sie anfällig machte für den NS. Marcks’ Historiographie zeigt auf exemplarische Weise die Pro‐ blematik einer unpolitischen, ästhetisierenden, auf das ‚heroische’ Individuum kon‐ zentrierten Geschichtsschreibung.“10 Wie Faulenbach dabei eine „Anfälligkeit“ für die NS-Ideologie mit einer „unpolitischen“ Geschichtsschreibung zusammenbringen konnte, mag sein Geheimnis bleiben. Allerdings schuf er damit, wie vor ihm Weisz, das Bild der Genealogie eines zunehmend entgrenzten Machtbegriffs bei Marcks, das Peter Fuchs in seinem Artikel für die „Neue Deutsche Biographie“ nochmals verschärfte: „Mit den übersteigerten Vorstellungen des stillen und konfliktscheuen Gelehrten von der Rolle der großen Männer in der Geschichte, zumal seiner pseudo‐ religiösen Bismarck-Apotheose, seiner Macht- und Staatsvergottung, seiner immer wieder vorgetragenen Überzeugung vom Primat der Außenpolitik, seiner deutschen Reichsmystik, seinem im Alter hervortretenden Zukunfts- und Jugendkult und sei‐ nem naturalistischen Sprachsuperlativismus muß Marcks als einer der geistigen Wegbereiter des Nationalsozialismus gelten.“11 In der jüngsten monografischen Veröffentlichung über Erich Marcks setzte sich der Autor, Jens Nordalm, kritisch mit diesen Positionen auseinander und entwarf auf breiter Quellenbasis ein wesentlich differenzierteres Bild von Marcks vor allem in seinem letzten Lebensjahrzehnt. Zwar konstatierte auch Nordalm „Marcks’ Weg von Bismarck zu Hitler“,12 doch habe seine Haltung „etwas Verqueres zwischen Bedrohtheitsgefühl und Mitgehen“ gehabt.13 Auf der einen Seite habe er Hoffnun‐ gen in den Aufbruch in ein neues Zeitalter gesetzt, auf der anderen Seite das Ideal historischer Persönlichkeiten und die Bürgerlichkeit bei den Nationalsozialisten ver‐ misst; sei Marcks noch 1933 skeptisch gegenüber Hitler gewesen, so habe er sich nach einem Besuch beim „Führer“ und der Verleihung des „Adlerschildes“ von ihm angetan gezeigt. Marcks ließ sich 1935 zum Ehrenmitglied und Mitglied des Sachverständigenbeirats des Reichsinstituts für Geschichte des neuen Deutschland

9 10 11 12 13

Ebenda. Faulenbach 2002, S. 209. Fuchs 1990, S. 124. Nordalm 2003, S. 370. Ebenda, S. 371.

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wählen,14 habe aber hier keine Wirksamkeit mehr entfaltet, Hermann Oncken nach den Anfeindungen durch Walter Frank in Schutz genommen und sich selbst in der Beobachterrolle gesehen: „Ich gehe als Betrachter nebenher und suche ein Stück Verständnis für die Größe dessen, was wir erleben“.15 Letztlich teilt Nordalm damit das Urteil, das Meinecke über Marcks fällte: „Marcks weiß nichts, ist müde und läßt die Dinge geschehen“.16 Vor dem Hintergrund von Nordalms überzeugenden Darlegungen wird man kaum von einem völkischen Weg Marcks’ Richtung Nationalsozialismus sprechen wollen, wie ihn Weisz, Faulenbach und Fuchs insinuiert haben. Vielmehr zeigt sich in deren Urteil die fatale Wirkung des Blicks post festum: Aus Marcks Haltung in seinen letzten Lebensjahren und vor dem Hintergrund des Wissens, wie sich die Geschichte nach 1938 weiterentwickelt hat, wird eine Entwicklungsgeschichte konstruiert, die den nationalen, vermeintlich für völkische Positionen offenen, vom verlorenen Krieg traumatisierten Marcks Richtung Nationalsozialismus steuert.

Historismus Mit seiner differenzierten Sichtweise auf Marcks’ letzte Lebensjahre vermied Nord‐ alm dessen Rubrizierung als „völkischer Historiker“, dafür allerdings öffnete er eine andere Schublade, die ihm für Marcks als passend erschien: den Historismus. Marcks ist für Nordalm ein führender Vertreter des Historismus, was zunächst wenig aussagt, denn der Terminus „Historismus“ ist bekanntermaßen schillernd. Er reicht von jenen Theorien, die den werte- und wissensrelativierenden Charakter historischen Denkens in den Vordergrund stellen (etwa Ernst Troeltsch und Max Weber) über Theorien, die im Historismus eine wie auch immer bewertete Epoche der Geschichtswissenschaft sehen (etwa Friedrich Meinecke und Jörn Rüsen) bis zu Auffassungen, die ihn als geschichtswissenschaftliche Form des „deutschen Sonder‐ wegs“ postulieren (etwa Georg G. Iggers). Nordalm präsentierte demgegenüber eine eigene Definition, nach der Historismus schlichtweg als eine „gegen die Prinzipien der Aufklärung gerichtete geistige Revolution um und seit 1800“ ist,17 die sich bis heute nicht mehr wesentlich verändert hat und die „gegen die (...) Anwürfe seiner zahlreichen Verächter“ zu verteidigen, sich Nordalm aufs Panier geschrieben hat.18 Gleichgültig nun, ob der Historismus positiv oder negativ bewertet wird, färbt die Bewertung auf Marcks ab, sobald man ihn zum Kreis der Historisten rechnet: Fasst man den Historismus als eine Entwicklung ‚moderner’ Geschichtswissenschaft, 14 15 16 17 18

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Heiber 1966, S. 267. Brief von Marcks an Ludwig von Hofmann, 14. 8. 1936, zitiert nach: Nordalm 2003, S. 376. Brief von Meinecke an Walter Goetz, 26. 9. 1936, zitiert nach: Heiber 1966, S. 574. Nordalm 2006, S. 9. Ebenda, S. 13.

dann wäre Marcks als ‚Moderner’ zu bezeichnen; sieht man den Historismus als eine Denkform, die sich ‚modernen’ Strömungen in Deutschland – etwa dem Kultu‐ ralismus Karl Lamprechts, der Öffnung der Geschichtswissenschaft gegenüber Sozi‐ alwissenschaften ebenso wie sozialistischen und völkischen Ideologien – versagt, dann wäre er kein ‚Moderner’. Dieses Diktum gälte auch, wenn man Historismus als Relativismus versteht.

Marcks und die Moderne In der Sattelzeitkonzeption Reinhart Kosellecks fungiert die Moderne als letzte Zeitstufe einer Epoche, die der Bielefelder Historiker als Neuzeit bezeichnete. Die entscheidende Schwelle innerhalb dieser Epochenkonstruktion stellt die Sattelzeit dar, die Koselleck im Zeitraum zwischen etwa 1750 und 1850 verortete. Entschei‐ dend ist die Sattelzeit für die Neuzeit insofern, als sie den Zeitraum markiert, innerhalb dessen sich alle „modernen“ Begriffe neu herausbilden oder in neuem Verständnis geprägt werden, die unsere heutige Begriffswelt prägen. Bedeutsam ist, dass Koselleck den Begriffswandel ausdrücklich nicht auf die Zeit der Aufklärung eingrenzte, sondern aus einem Denken heraus, für das Aufklärung eine Zeit- und Denkform war, die in den Terreur führte, ein weiteres zeitliches Spektrum wählte, dass auch nachaufklärerische Begriffsformationen miteinschloss. Mit Blick auf die deutschsprachige Geschichtswissenschaft ist dieses weitere Zeitspektrum insofern von besonderer Bedeutung, als es den Zeitraum des sich formierenden Historismus und der „verspäteten Nationsbildung“ mitumfasst. Besonders die von Herder, Fichte und Hegel geprägten Denkwelten deutscher Historiker in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zählen damit im Koselleckschen Verständnis zur Sattelzeit.19 Die Sattelzeitkonzeption erscheint aus heutiger Sicht durchaus schlüssig: Zen‐ trale Begriffe der politisch-sozialen Welt – Demokratie, Staat, Nation, Bildung, Erziehung, Wissenschaft, Öffentlichkeit – erhielten um den Wechsel vom 18. zum 19. Jahrhundert herum jene Bedeutung, in der sie heute noch verwendet werden. Allerdings vernachlässigt die Konzeption eine Phase der Bildung „völkischer“ wie auch sozialistischer Gegenbegriffe, die in Deutschland in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einsetzte und bis 1933 beziehungsweise 1945 (in Ost-Deutschland auch darüber hinaus) Sprache und Denken dominierte: Rasse und Klasse, Blut und Boden, Führer und Masse sind heute außer Gebrauch gekommene beziehungswei‐ se politisch bewusst außer Gebrauch gesetzte Konzepte. Mit Recht ist daher mit Bezug auf solche Begriffsbildungen oder -umbildungen von einer zweiten Sattelzeit gesprochen worden.20 Die Konzepte der zweiten Sattelzeit gelten gegenwärtig als 19 Koselleck 1972. Siehe hierzu: Jordan 2012. 20 Hierzu: Ebenda, S. 375 f.

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politisch nicht opportun, sind sie doch Weltbildern verhaftet, die als imperialistisch, chauvinistisch, völkisch, kommunistisch, totalitär, faschistisch oder gar nationalso‐ zialistisch gebrandmarkt worden sind; gleichwohl können derlei Begriffe lediglich aus Wörterbüchern und aus dem allgemeinen Diskurs verbannt werden, mit ihrer Prägung in der zweiten Sattelzeit sind sie – zumindest virtuell – vorhanden und könnten jederzeit wiederbelebt und weiterentwickelt werden. Wäre Erich Marcks ein möglicher Gewährsmann für eine solche derzeit nicht absehbare, aber immerhin denkbare Entwicklung? Die Beantwortung dieser Frage ist zugleich eine Antwort auf die Frage, inwieweit Marcks ein „Moderner“ war, muss sie doch klären, inwieweit Marcks, dessen Denken und Schaffen genau in die zweite Sattelzeit fällt, Begriffe der Sattelzeit und der Begründung des Historismus als Form politischer Geschichtsschreibung aufgriff und/oder begriffliche Neu- und Umbildungen seiner Gegenwart in sein Werk aufnahm. Ebenfalls zu klären ist, welche Funktion Marcks seiner geschichtsschreiberischen Tätigkeit zumaß, welche Ansprüche er an sich als Historiker wie als politischer Publizist und Literat stellte.

Marcks als historischer Literat Wirft man einen Blick in die Vorworte der Marckschen Werke, so ist sofort augen‐ fällig, dass der Autor dem Leser seine besondere Art der Darstellung erläutern möchte. Gleich zu Beginn seines Vorworts zur Erstausgabe von „Bismarcks Jugend“ will Marcks dem Leser darlegen, „was das Buch [...] sein möchte, und was es darzubieten hat“.21 Wichtig ist ihm, dass er gerade keine „’Geschichte’ Bismarcks“ vorzulegen beabsichtigt, sondern eine „Biographie“. Marcks Absicht ist es, eine „Lebensbeschreibung“ vorzulegen, „die den Mann innerhalb der weiten Zusammen‐ hänge, der allgemeinen Zustände, Kräfte, Bewegungen seines Zeitalters, innerhalb der engeren seiner persönlichen Voraussetzungen und Umgebungen sieht, aber als Mittelpunkt und Hauptsache immer ihn selbst, sein Werden und seine unablässige Wandlung [...] im Ganzen seines Wesens und auf jeder großen Stufe seiner Entwick‐ lung“.22 Damit unterscheidet sich Marcks deutlich von jenen Historiografen vor ihm, die die Schilderung als welthistorisch bedeutend postulierter Persönlichkeiten in philosophisch-idealistischer Weise als Spiegel benutzten, um den Blick auf den in ihnen verkörperten ‚Volksgeist’ zu werfen. So leitete etwa Johann Gustav Droysen die zweite Auflage seiner „Geschichte Alexanders des Grossen (1833, 21877) mit folgender Bemerkung ein: „Der Name Alexander bezeichnet das Ende einer Welt‐

21 Marcks 1939, S. XIX. 22 Ebenda, S. XIX f.

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epoche, den Anfang einer neuen.“23 Bezeichnenderweise integrierte er dieses vom Genre her wenig biografiehafte Werk in eine „Geschichte des Hellenismus“, die zu‐ sammengenommen ein Stück politisch motivierter antiker Weltgeschichtsschreibung darstellt.24 Ähnliches mag man bei Marcks höchstens ansatzweise in seinem zwei‐ bändigen Alterswerk „ Der Aufstieg des Reiches. Deutsche Geschichte von 1807– 1871/78“ von 1936 erkennen.25 Überhaupt ist für das Gesamtwerk eher eine sich deutlich von den voluminösen Universaldarstellungsbemühungen des 19. Jahrhun‐ derts unterscheidende „Kurzzeitperspektive“ charakteristisch, für die das einzelne gelebte Leben das Richtmaß abgibt. Marcks zielte nicht auf die Darstellung kollektiver, langfristiger Entitäten wie Staaten oder „Volksgeister“, sondern auf die Biografie, die er inhaltlich näher defi‐ nierte: Die Biografie solle ein „Ganzes“ [Hervorhebung durch Marcks] sein,26 die „nicht auf eine Häufung von Einzelzügen, sondern auf eine Einheit und auf ein Bild“ aus sei.27 Ziel sei die „Rundheit der Darstellung“.28 Es geht ihm um das „Wesen“ und das „Werden“ der Persönlichkeit und damit letztlich um individualpsychologi‐ sche Kategorien, die im Zentrum der klassischen Biografietheorie des 19. Jahrhun‐ derts standen und die biografische Praxis bis weit in das 20. Jahrhundert hinein prägten. Wegweisend hierfür war in besonderem Maße Goethes „Wilhelm Meister“, der im Sinne des Aristotelischen Entelechiegedankens die Entwicklung von etwas zu etwas beschreibt, das es schon immer gewesen ist. Die Vorgriffe von der frühesten Kindheit Bismarcks auf die spätere Kanzlerschaft – „Es ist also von Anfang an so mancherlei in der Entwicklung des Knaben zusammengeflossen [...]“29, „Wie vieles möchten wir aus Bismarcks Kindheit und Jugend erfahren! Für wie Vieles am Wesen des Mannes würden wir dort den Schlüssel suchen!“30 – und die Rückgriffe von der Schilderung des „alten Bismarcks“ auf seine Jugend – „Es war, von seinem Leben her angesehen, der logische Abschluß einer langen Entwicklung“31– sind Legion in der Marckschen Biografie. Der Historiker Marcks verstand sich als Literat.32 Im Vorwort zum ersten Band seiner „Männer und Zeiten“ betitelten Sammlung von Aufsätzen und Reden zur neueren Geschichte bezeichnet er die zusammengestellten Arbeiten als „Essays“ und

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Droysen 1877, S. 3. Droysen 1877/78. Marcks 1936. Marcks 1939, S. XIX. Ebenda, S. XXI. Ebenda. Ebenda, S. 36. Marcks 1899, S. 48. Marcks 1939, S. 605. Dies betont auch sein Schwiegersohn Willy Andreas in seiner ansonsten weitgehend auf bio‐ graphische Aspekte konzentrierten Würdigung: Andreas 1962, S. 33. Ähnlich hierzu: Stählin 1939.

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als besondere „Kunstform“33 und entwirft sein Selbstbild als Autor: „‘Akademisch’ werden sie [die Essays, SJ] ja wohl sein, auch wo sie Gegenwartsfragen berühren: Erzeugnisse lediglich eines Professors, dem allerdings wissenschaftliche Erkenntnis und künstlerische Gestaltung auch innerlich immer untrennbar gewesen sind“.34 Er selbst hat seine Darstellungen als „Erzählungen“ oder als „Epos“ bezeichnet, worauf Nordalm hingewiesen hat.35 Damit reihte sich Marcks in die Liste jener Historiker des 19. Jahrhunderts ein, die an ihr eigenes Tun als Geschichtsschreiber (nicht als Geschichtsforscher!) auch künstlerische Maßstäbe anlegten. Anders als ihre große Mehrzahl – als herausra‐ gendes Beispiel sei hier der mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnete Theodor Mommsen genannt – suchte er diesen Anspruch aber nicht im Genre epochal ange‐ legter Universalgeschichtsschreibung zu verwirklichen, in deren Zentrum politische Kollektivsubjekte standen, sondern in der durch das individuelle Menschenleben zeitlich begrenzten Biografie als Literaturgattung, die in besonderem Maße Nähen zur Individualpsychologie und, im Sinne des „Lebensbildes“, zur literarischen Aus‐ staffierung von einzelnen Situationen, personellen Konstellationen sowie der Schil‐ derung von Stimmungen und Befindlichkeiten hat. Der literarische Charakter von Marcks Werk ist bereits mehrfach betrachtet wor‐ den. In seiner Zürcher Dissertation machte Pierre Wenger das Epische als „Grund‐ zug“ der Marckschen Geschichtsschreibung aus.36 Wie nach ihm Nordalm unterzog Wenger die Marckschen Werke einer Stilanalyse und kam zu dem Schluss: „Was uns an Marcks’ Stil zunächst auffällt, ist das Fehlen eines ausgeprägt konstruktiven Zuges: die Parataxe herrscht unbedingt vor der Hypotaxe vor. Oft folgt ein kurzer Hauptsatz dem andern, abgegrenzt durch Komma, Strichpunkt, Doppelpunkt oder Gedankenstrich.“37 Das führte Wenger zu der rhetorischen Frage, ob es denkbar sei, „dass beispielsweise Mommsen auch nur auf einer einzigen Seite in einem solchen Stile geschrieben hätte“.38 Im Gegensatz zur vorherrschenden Historiografie nutzte Marcks seinen Stil zur mit zahlreichen emphatischen Adjektiven hypostasierten „nacherlebenden Vergegenwärtigung“ und als Mittel zur Variation des Erzähltempos und damit zur Dramatisierung und Betonung einzelner Erzählmomente. Zeitgenos‐ sen wie Otto Hintze, Friedrich Meinecke und Siegfried A. Kaehler bezeichneten seine Darstellungsweise daher auch als „impressionistisch“39 – eine Einordnung, gegen die Marcks selbst „nichts einzuwenden“ hatte.40 Charakteristisch ist seine 33 34 35 36 37 38 39 40

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Marcks 1911, S. VI. Ebenda, S. VII f. Nordalm 2003, S. 38. Wenger 1950. Ebenda, S. 41. Ebenda, S. 42. Hintze 1898, S. 480; Meinecke 1918, S. 339; Kaehler 1932, S. 83. Karte von Marcks an Friedrich Meinecke, 22. 11. 1909, zitiert nach: Nordalm 2003, S. 49; siehe hierzu auch die weiteren Ausführungen Nordalms, S. 48-50.

tupfenartige Darstellung im Gegensatz zu einem episch breit ausgefalteten Plot, zu dem der hypotaktische Stil, „die vielen kleinen nervösen Striche“,41 maßgeblich beiträgt. „Der Begriff des ‚Impressionismus’ bietet sich offenbar an, die grundlegen‐ de Weise zu charakterisieren, wie Marcks der Geschichte gegenübersteht. Für ihn scheint Geschichte im Tiefsten etwas mit Eindruck, mit Bildern mit (bewegter) Synchronie als mit Diachronie zu tun zu haben. Marcks ist kein Epiker, er trägt vielmehr ein Bild aus bewegten Eindrücken zusammen, er folgt dem Historischen nicht mit Verbformen langfristig-wechselnder Tätigkeit, sondern er umspielt es mit zahlreichen Adjektiven und Partizipien.“42 Nordalm hat in seiner Untersuchung von Marcks Historiografie auf den Einfluss hingewiesen, den die Novellen Paul Heyses und Conrad Ferdinand Meyers auf den jungen angehenden Historiker gehabt hätten, der später auch Fritz Reuter schätzte.43 Derartige „Stilgenealogien“ als Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge sind freilich immer problematisch. Gleichwohl spricht einiges für Nordalms These: Marcks Er‐ zählweise ist streckenweise novellenartig, besonders dort, wo der Realismus der Darstellung von Personen zur Erklärung ihrer Psyche, ihres „Wesens“ oder „Seelen‐ lebens“ eingesetzt wird, wie es immer wieder bei der Schilderung der einzelnen Stationen aus dem Lebens Bismarcks der Fall ist. Nordalm bezeichnete Marcks‘ historiografische Methode daher als von „Anschauung und Einfühlung“ geprägt.44 Marcks’ Sprache ist gekennzeichnet durch „eine Häufung von Adjektiven, Adver‐ bien, Adverbialien und Appositionen“.45 Diese entstammen häufig einem psycholo‐ gischen Vokabular aus der Zeit von vor der Verwissenschaftlichung der Psychologie als akademischer Disziplin. Ihre Bedeutung wird mitunter dadurch erhöht, dass Marcks das Prädikat in seinen Sätzen wegfallen lässt.46 Der Sprachduktus ist bil‐ der- und alliterationsreich, enthält Tempiwechsel und bringt in seinen Termini ein Streben nach empfindsamer Schilderung zum Ausdruck. Völkische Begriffe sind nirgends zu finden; Technizismen oder wissenschaftliche Termini aus Nachbardiszi‐ plinen wie der Rechtswissenschaft oder Soziologie kommen kaum vor. Wenger sah daher den Marcksschen Duktus in deutlichem Gegensatz zum „Gelehrtenstil“ etwa eines Max Weber.47

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Nordalm 2003, S. 50, siehe auch S. 52. Ebenda, S. 53. Ebenda, S. 70 f. Ebenda, S. 81. Wenger 1950, S. 42. Ebenda, S. 44. Ebenda.

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Schluss War Marcks nun ein Moderner? Glücklicherweise lässt sich diese Frage nicht ein‐ deutig beantworten, so dass am Ende dieser Betrachtungen vermieden werden kann, eine neue Schublade für ihn zu öffnen. Hinsichtlich seiner gediegenen geschichts‐ wissenschaftlichen Forschung entsprach er klar dem Typus des methodisch geschul‐ ten und einem in Ranke idealtypisch verkörperten, dem historischen Realismus verpflichteten Gelehrten, wie ihn das 19. Jahrhundert schuf. Auch sprachlich ist sein Werk dem Duktus einer Zeit verpflichtet, in der Geschichtsschreibung noch als Kunstform verstanden wurde und nicht vom „Gelehrtenstil“ geprägt war. Völkisch, technizistisch, massenpsychologisch oder ähnliches, was Marcks – wie behauptet – zum Vorläufer des NS-geprägten Denkens machen würde, ist daran nichts. Gleich‐ wohl kommt man nicht um die Frage herum, wie Marcks politisch eingestellt war. Denn allein schon durch sein Interesse für den Politiker Bismarck und weitere Persönlichkeiten aus der politischen Geschichte der Neuzeit konnte er sich einer politischen Wertung kaum entziehen, auch wenn man den Literaten Marcks gegen‐ über dem Historiker Marcks in den Vordergrund rückt. Sollte die Vorstellung von einer „unpolitischen“ Geschichtsschreibung, wie Faulenbach sie Marcks attestiert, überhaupt möglich sein, so ist dieser Begriff sicher nicht anwendbar auf Darstellun‐ gen politischer Persönlichkeiten und ihres Handelns. Wer über Bismarck als „hohen Erzieher unserer Nation“48 schreibt, kann nicht unpolitisch sein. Gleichwohl darf man Marcks sicher nicht zu den politischen Historikern oder Historiker-Politikern und -Publizisten zählen, wie man dies etwa bei Johann Gustav Droysen und Georg Gottfried Gervinus tut, die sich in der 48er-Revolution engagier‐ ten, oder wie im Fall von Ranke, der in seiner Publizistik und durch persönliche Kontakte zu Monarchen politischen Einfluss suchte, oder wie für Treitschke, der Ge‐ schichtsschreibung mit politischer Publizistik und Parteipolitik vermischte. Marcks engagierte sich nicht parteipolitisch und ist auch in seinem Werk nicht eindeutig politisch zuordnenbar. Auch ob man seine Position gegenüber dem Reichsinstitut für Geschichte des neuen Deutschland in seinen letzten Lebensjahren als politisches Statement werten sollte, mag dahingestellt sein. Wirklich nationalistische Töne sind in Marcks’ Werk selten. Wenger wies darauf hin, dass Marcks’ Studien zu Bismarcks Außenpolitik und im Besonderen zum britischen Weltreich von einer „heimlichen Bewunderung“ für England geprägt seien.49 Wenger lieferte auch eine plausible Deutung von Marcks’ politischer Haltung. Marcks war für ihn „der anti‐ quarische Historiker einer monumentalischen Welt“.50 Die Welt Bismarcks erscheint so als „die Welt, in der er selber [Hervorhebung durch Wenger, SJ] wurzelt, und der 48 Marcks 1899, S. X. 49 Wenger 1950, S. 115. 50 Ebenda, S. 127.

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er die Treue wahren will: eine Welt, die heroische Züge trägt“.51 Marcks‘ politische Haltung lässt sich daher dadurch charakterisieren, dass sie das politische System der Bismarckzeit und das Handeln des Kanzlers idealisiert und der Gegenwart als Leit‐ bild vorstellt – eine Gegenwart, die nach Marcks vom „Niedergang“ gekennzeichnet war.52 Marcks urteilt über sich selbst, er sei „kein Politiker, nur ein Begleiter und kein Beeinflusser der Dinge“,53 was davon zeugt, dass er sich als Bewahrer eines „Bismarckschen Vermächtnisses“ begriff. In den Worten Wengers: „Marcks hat sich keine eigene Welt ‚gebaut’ – dazu war er, als der ‚Anschmiegsame’ und ‚Antiqua‐ rische’, nicht der Mann –, sondern er hat sich der Welt Bismarcks ‚mit gewissen geistigen Ergänzungen’, hingegeben.“54

Bibliographie Andreas, Willy, 1962: Erich Marcks. Eine Würdigung zu seinem 100. Geburtstag. In: Archiv für Kulturgeschichte 44, S. 27-33. Droysen, Johann Gustav, 1877: Geschichte des Hellenismus. Band 1. Gotha. Droysen, Johann Gustav, 1877/78: Geschichte des Hellenismus. 3 Bände. Gotha. Faulenbach, Bernd, 2002: Art. „Marcks, Erich“. In: vom Bruch, Rüdiger/Müller Rainer A. (Hrsg.), 2002: Historiker-Lexikon. Von der Antike bis zur Gegenwart. 2. Auflage, Mün‐ chen, S. 208-210. Fehrenbach, Elisabeth, 1974: Rankerenaissance und Imperialismus in der wilhelminischen Zeit. In: Faulenbach, Bernd (Hrsg.), 1974: Geschichtswissenschaft in Deutschland. Tradi‐ tionelle Positionen und gegenwärtige Aufgaben. München. Fuchs, Peter, 1990: Art. „Marcks, Erich“. In: Historische Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften (Hrsg.) 1990: Neue Deutsche Biographie. Bd. 16. Berlin, S. 122-125. Heiber, Helmut, 1966: Walter Frank und sein Reichsinstitut für Geschichte des neuen Deutschlands. 1966 (Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte Band 13). Stuttgart. Hintze, Otto 1898: Rezension von Marcks’ „Wilhelm I.“. In: Forschungen zur Brandenburgi‐ schen und Preußischen Geschichte 10. S. 479-483.

51 Ebenda, S. 126. 52 Sehr deutlich wird diese Dekadenzperspektive, die sich nach dem Kriegstod seines Sohnes und dem Kriegsende 1918 erkennbar verschärfte, in fünf Rundfunkvorträgen, die Marcks im No‐ vember 1926 vortrug: Marcks 1927: „Auf- und Niedergang im deutschen Schicksal“. Ähnlich auch: „Die Vergangenheit ist unser einziger [Hervorhebung durch Marcks, SJ] Besitz. Wir wollen und werden sie uns nicht rauben lassen. Wir schöpfen aus diesem Besitztum Kraft und Trost, Stolz und Liebe und Hoffnung; wir haben in ihm, was unserem Tage fehlt, die Größe. Das ist Deutschland gewesen. Was es werden wird, fragen wir in Bangigkeit.“ Marcks 1921, S. 3. 53 Marcks 1925, S. 161. 54 Wenger 1950, S. 103.

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Reinhard Blänkner Otto Brunner: Die Historizität des Staates

Hans Rosenberg, der einflussreiche liberale Mitbegründer der modernen Sozialge‐ schichte, nannte 1972 im generationsgeschichtlichen Rückblick seinen intellektu‐ ellen Konkurrenten Otto Brunner (1898-1982) im Wissen um dessen zeitweilig völkisch-nationalsozialistisch wissenschaftliches Engagement und darum bis heute umstrittenen Gelehrten „eine(n) der allerbedeutendsten Historiker dieses Jahrhun‐ derts.“1 Rosenbergs Urteil stützte sich dabei auf Brunners Monografien „Die Finan‐ zen der Stadt Wien“ (1929), „Land und Herrschaft“ (1939) und „Adeliges Landle‐ ben und europäischer Geist“ (1949), dem er eine ausführliche positive Rezension widmete,2 sowie auf dessen Aufsatzsammlung „Neue Wege der Sozialgeschichte“ (1956 / 1968). Von Staat und Staatlichkeit ist hier auf den ersten Blick bei Brunner keine Rede, und als Historiker des Staates kann Brunner tatsächlich nicht zutreffend beschrieben werden. Doch wäre es erstaunlich, wenn bei einem herausragenden und eminent politischen Historiker wie Brunner das Problem von „Staat und Historie“ unerörtert bliebe. Berücksichtigt man neben den genannten Publikationen, die Brunner vor allem als Verfassungs-, Sozial- und Begriffshistoriker ausweisen, die in seinem Nachlass befindlichen unveröffentlichten Manuskripte und nicht zur Realisierung gekommenen Buchvorhaben, ergibt sich jedoch ein erweitertes Bild, in dem das historische Phänomen des Staates durchaus einen gewichtigen Ort einnimmt. Wie sehr ihn nach eigener Aussage die politische Erfahrung von Staatlichkeit ge‐ prägt hat, dokumentiert Brunners am 28. Oktober 1955 anlässlich seiner Aufnahme in die Mainzer Akademie der Wissenschaften und der Literatur gehaltene Antrittsre‐ de, in der er auf seine Herkunft aus der Österreichisch-Ungarischen Monarchie hin‐ weist und dabei die stärker als anderswo deutliche Staatsproblematik dieses „durch innere Gegensätze in seiner Existenz bedrohten Staatenverband(s)“ hervorhebt.3 Mit dieser Selbstauskunft konnte Brunner sich der Aufmerksamkeit des nicht nur wis‐ senschaftlich, sondern auch zeitgeschichtlich interessierten Auditoriums der 1949 gegründeten Mainzer Akademie sicher sein, denn erst wenige Monate zuvor, am 27. Juli 1955 – und damit in zeitlicher Nähe zum Deutschlandvertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den westlichen Siegermächten des Zweiten Welt‐ 1 Rosenberg 1972. 2 Rosenberg 1951. 3 Brunner 1956, S. 139; s. a. Brunner 1959, S. VIII.

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kriegs –, war der von den alliierten Besatzungsmächten (USA, Sowjetunion, Frank‐ reich, Grossbritannien) und der österreichischen Bundesregierung unterzeichnete Staatsvertrag zur „Wiederherstellung eines unabhängigen und demokratischen Österreich“ in Kraft getreten. Die nachfolgenden Ausführungen nehmen Brunners Selbstauskunft als Aus‐ gangspunkt auf und stellen sie in den weiter ausgreifenden Kontext seines Gesamt‐ werks, das durch das Grundproblem politisch-sozialer Ordnungen und die Frage nach ihren kategorialen Beschreibungen charakterisiert werden kann. Werk-biogra‐ fisch lassen sich dabei drei Phasen unterscheiden, in die sich Brunners Reflexionen über Staat und Historie einfügen: (1) die Formulierung der Grundproblematik des „Staates“ in der Frühphase; (2) deren völkisch-nationalsozialistische Überformung durch die totalitäre Utopie von „Volk und Reich“; (3) die hiervon nach 1945 vollzo‐ gene anti-totalitäre Abkehr im Zeichen einer skeptischen Akzeptanz der modernen, auf Staatlichkeit basierenden Welt.4

1. Das österreichische Staatsproblem Das „österreichische Staatsproblem“5 als problemgeschichtlichen Ausgangspunkt zu nehmen, bedeutet nicht zwangsläufig, den „Staat“ ins Zentrum historischer For‐ schung zu stellen. Für Brunner jedenfalls war die Staatsthematik lediglich Teilaspekt der übergeordneten, sein Gesamtwerk durchziehenden Frage nach der Plausibilität wissenschaftlicher Kategorien zur adäquaten Beschreibung politisch-sozialer Ord‐ nungsmuster. Sozialtheoretisch knüpfte er hiermit an die soziologischen Problem‐ stellungen in Deutschland um 1900 bei Otto v. Gierke, Ferdinand Tönnies, Georg Simmel und Max Weber an, mit dessen Werk er sich bereits als junger Student und angehender Gelehrter sowie darüber hinaus dauerhaft intensiv auseinandersetzte.6 Die Behandlung des „Staates“ war jedoch keineswegs eine nur abstrakt-katego‐ riale Frage. Sie wurde, vor allem in Deutschland, durch die (vulgär-)hegelianische Staatsmetaphysik des 19. Jahrhunderts mit normativen Ansprüchen und politischen Erwartungen überlagert. In welcher gedachten Beziehung „Staat“ und „Politik“ stan‐ den, ist dabei eine grundsätzliche Frage, die über deren disziplinäre Behandlung in der Staatsrechtslehre und der Politikwissenschaft hinausgeht und im Rahmen dieses Aufsatzes nur gestreift werden kann. Als genuiner Aspekt des Brunnerschen Den‐ kens ist allerdings bereits hier die kategoriale Entkoppelung von „Staat“, „Politik“ und „Verfassung“ hervorzuheben. 4 Zur werkgeschichtlichen Differenzierung s. Blänkner 2003, S. 350; ders. 2019, S. 442. 5 S. hierzu Brunner unveröffentlichtes, Anfang der 1930er Jahre geschriebenes Manuskript „Das österreichische Gesamtstaatsproblem“, NL Otto Brunner, StA Hamburg, Sign.: 622-2.38. 6 Zu Brunners Wiener Zeit bis 1945/48 s. Blänkner 2019.

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Um Brunners Ausgangsfrage in eine wissenschaftliche Problemstellung zu über‐ führen, die zugleich zur Aufschliessung seines Werks beizutragen vermag, sind zu‐ nächst die politischen und ordnungstheoretischen Schichten des „österreichischen Staatsproblems“ zu identifizieren, um sodann Brunners Antworten hierauf zu skiz‐ zieren. Ein besonderer Blick ist dabei auf die gedachten Beziehungen zwischen dem „Staat“ als (vermeintlich) allgemeinem politischen Ordnungsmodell und seinen „ös‐ terreichischen“ Spezifika zu richten.

1.1. Österreich: „Staat wider Willen“ Der ereignisgeschichtliche Ausgangspunkt für Brunners historisch-politisches Nach‐ denken wird durch den Untergang der Habsburgermonarchie mit dem Ende des Ers‐ ten Weltkriegs und die Frage markiert, was mit Österreich als Teil des untergegange‐ nen Habsburgerreiches geschehen solle. Der Wunsch der überwältigenden Mehrheit der Österreicher, die sich selbst als „Deutsch-Österreicher“ verstanden, nach einem Anschluss an das Deutsche Reich, fand in der Provisorischen Verfassung vom 12. November 1918 Niederschlag, in deren Art. 2 sich „Deutsch-Österreich“ als „Bestandteil der Deutschen Republik“ definierte. Umgekehrt korrespondierte hier‐ mit Art. 61 der im August 1919 verabschiedeten Weimarer Reichsverfassung. Allerdings lief dieser Wunsch, nach der Auflösung des Deutschen Bundes (1866) und der als Antwort hierauf entstandenen K.u.K.–Monarchie (1867) sowie des Deut‐ schen Kaiserreichs (1871) die Republik Österreich und die Weimarer Republik in einem gemeinsamen Deutschland zu vereinen, den geopolitischen Interessen der Siegermächte des Ersten Weltkriegs entgegen. Vor allem der französische Minister‐ präsident Georges Clemenceau wollte die Etablierung einer neuen deutschen Gross‐ macht in Mitteleuropa unbedingt verhindern. Eine konstruktive Vorstellung darüber, was mit „Österreich“ geschehen solle, hatte er nicht. Für ihn war Österreich schlicht der „Rest“ neben den aus der Auflösung des Habsburgerreiches hervorgegangenen, neu gegründeten Nationalstaaten Tschechoslowakei, Polen, Ungarn, dem Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen, dem späteren Königreich Jugoslawien (1929) also, und Rumänien. Wenngleich für das Clemenceau zugesprochene Diktum „L’Au‐ triche c’est qu’il reste“ kein eindeutiger Beleg vorliegt, ist seine politische Absicht hiermit dennoch zutreffend beschrieben. In den Verträgen von Versailles und St. Germain wurde Österreich jedenfalls der Anschluss an das Deutsche Reich völker‐ rechtlich untersagt und damit „der Grundsatz der nationalen Selbstbestimmung au‐ ßer Kraft gesetzt.“7Auf die weitergehenden völkerrechtlichen Bestimmungen dieser Verträge, vor allem über ihre territorialpolitischen Festlegungen und die Ausführun‐

7 Leonhard 2012, S. 370.

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gen zur Behandlung ethnischer Minderheiten in den neu entstandenen, aus der Auf‐ lösung des Habsburgerreiches hervorgegangenen Nationalstaaten, die mit der SüdTirol-Frage darüber hinaus auch Italien betrafen, ist hier nicht näher einzugehen. Unübersehbar aber ist, dass beide, zusammen mit dem Anschlussverbot, schwere Hypotheken für eine europäische Friedenspolitik nach dem Ersten Weltkrieg bedeu‐ teten.8 Im Unterschied zu den neu entstandenen mitteleuropäischen Nationalstaaten, die kulturell auf national(istisch)en Ideologien gründeten, verfügten die „Österreicher“ über kein Narrativ einer spezifisch österreichischen nationalen Tradition. Die poli‐ tisch-kulturelle Klammer, die das multiethnische Habsburgerreich zusammengehal‐ ten hatte, bildete die Monarchie mit ihrer Bürokratie und Armee, die nun entfiel. Die Neugründung des österreichischen Staates war daher mit einem zweifachen Problem konfrontiert: politisch mit der Frage, welche anderen Institutionen anstelle der Monarchie die notwendigen Integrationsleistungen für den neuen Staat erbrin‐ gen konnten. Eine Frage, die im übrigen nicht nur Österreich, sondern alle postmonarchischen Staaten nach dem Ersten Weltkrieg betraf und die sich mit dem weiterreichenden Problem der politischen Formgebung historisch neuartiger indus‐ trieller Massengesellschaften verband. Es ist daher kein Zufall, dass unter diesen Bedingungen neue Theorien der Integration in den Staats- und Sozialwissenschaften florierten. Vor allem die Theorien von Rudolf Smend, Carl Schmitt, Hermann Hel‐ ler, Othmar Spann und Hans Kelsen waren Gegenstand heftiger Debatten.9 Neben das staatsrechtlich-politische Problem trat das memorialpolitische Vakuum, das die Auflösung der Habsburgermonarchie aufgrund eines fehlenden Österreich-Narrativs hinterlassen hatte und als Frage nach einer historisch begründeten Eigenständigkeit des österreichischen Staates ein Zentralproblem der österreichischen Innenpolitik darstellte.10 Mit dem von Hitler erzwungenen „Anschluss“ Österreichs ans national‐ sozialistische Deutsche Reich (1938) fand sie eine vorläufige Antwort, bevor mit dessen zerstörerischem Untergang Europas 1945 das Problem auch für die Mehrzahl derjenigen erledigt war, die bis dahin über die politischen Parteiungen hinweg für ein „Grossdeutschland“ optiert hatten.11 Dies trifft auch auf Brunner zu, der in einem grossdeutschen Milieu in Niederös‐ terreich und Mähren aufgewachsen war, den Krieg als Kriegsfreiwilliger 1917/18 an der Isonzo-Front erlebt hatte und im Wintersemester 1918/19 das Studium der Geschichte, Geografie und Kunstgeschichte in Wien aufnahm. Vor allem die Ge‐ schichtswissenschaft, aber auch die Staats- und Rechtswissenschaften, die an der Wiener Universität durch Othmar Spann und Hans Kelsen vertreten wurden und 8 S. hierzu Leonhard 2012; ders. 2019, S. 1053-1069. 9 S. hierzu Pauly 1998; Stolleis 1999, S. 153-186. 10 S. hierzu den informativen Überblick bei Suppanz 2007, S. 224-230; Rathkolb 2020, S. 477-511. 11 S. hierzu Rathkolb 2020a, S. 534-543.

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deren Vorlesungen Brunner zusätzlich besuchte, standen vor der Herausforderung, das nach der Auflösung des Habsburgerreiches entstandene memorialpolitische Va‐ kuum durch neue Deutungen der habsburgischen, deutschen, mitteleuropäischen und allgemein europäischen Geschichte zu schliessen. Brunner hat hieran frühzeitig in deutsch-nationalem Sinn mitgearbeitet. Über Heinrich v. Srbiks Neukonzeptualisierung einer „gesamtdeutschen Geschichte“ hin‐ ausgehend, die mit der politischen Problematik des österreichisch-preußischen Dua‐ lismus und des Deutschen Bundes nach dem Wiener Kongress 1815 einsetzte, griff Brunner weiter zurück in die Geschichte der Habsburgermonarchie und erwarb sich bereits in jungen Jahren den Ruf eines Experten für österreichische Geschichte. Aus‐ gehend von seiner i. J. 1930, acht Jahre nach ihrem Abschluss publizierten Disserta‐ tion „Österreich und die Walachei während des Türkenkrieges 1683 – 1699“12 und in nachfolgenden Aufsätzen hob Brunner hervor, es sei der Habsburgermonarchie nicht gelungen, dauerhaft an der unteren Donau Fuß zu fassen. Dass die habsburgi‐ sche monarchische „Reichsbildung“ nicht in eine „Staatsbildung“ gemündet sei und keine dauerhafte Festigkeit der „innere(n) Einheit Mitteleuropas“ unter deutscher Führung „gegen den Druck mächtiger und andersartiger Völker und Staaten in Ost und West“ zu gewähren vermocht habe, ist Brunners zentrales historisch-poli‐ tisches Argument, das alle seine einschlägigen Aufsätze bis 1945 – und darüber hinaus – durchzieht.13 In prägnanterem Sinn als Hellmuth Plessner i. J. 1935 das Bismarcksche Deutsche Kaiserreich charakterisierte, war die Habsburgermonarchie für Brunner eine „Großmacht ohne Staatsidee“.14 Seinen interpretatorischen Neuansatz verband Brunner mit einer teilweise hefti‐ gen Polemik gegen die ältere Historiografie der österreichischen „Reichsgeschich‐ te“, die 1893 in den obligatorischen Lehrplan des Österreichischen Instituts für Geschichtsforschung aufgenommen worden war und die Brunner seit 1931 als Professor für Mittelalterliche und Österreichische Geschichte in Vorlesungen zu vertreten hatte. Anstelle einer „politischen Geschichte Österreichs“, so Brunner in einem nach dem „Anschluss“ 1938 veröffentlichten Aufsatz, sei die „österreichische Reichsgeschichte“, und anstelle der „Geschichte der politischen Einheit“ sei eine „Geschichte der Institutionen“ getreten. „Nicht zufällig haben sich“, so Brunner weiter, „im Unterrichtsbetrieb von den in den 90er Jahren zahlreich erschienenen Handbüchern nur jene durchgesetzt, die eine Verfassungsgeschichte von stark ju‐ ristischem Gehalt geben (…). Damit tritt eine ihres politischen Gehaltes völlig entkleidete Institutionengeschichte in den Vordergrund, die für die Herausbildung eines neutralen, über dem Ringen der sozialen, nationalen und territorialen Gruppen stehenden Beamtentums, das für die Spätzeit des franzisko-josephinischen Zeitalters 12 Brunner 1930a. 13 Vgl. Brunner 1930b, S. 1. S. a. ders. 1943; ders. 1955. 14 Vgl. Plessner 1959, S. 34; s. hierzu Hettling 2003, S. 13-17; Fischer 2016, S. 35-68.

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charakteristisch ist, verwendbar war“. Zwar habe diese sog. „österreichische Reichs‐ geschichte“ wichtige Impulse für die archivalische Forschung geliefert, jedoch hät‐ ten „diese neuen ausgreifenden Forschungen ... die politischen Existenzprobleme der Monarchie völlig beiseite (gelassen).“ Abgesehen von den Arbeiten Josef Redlichs trete „hier die völlige Entpolitisierung dieser ’Reichsgeschichte’“ deutlich zutage.15 Seine Kritik an der „österreichische Reichsgeschichte“ stellte Brunner in den weiteren Zusammenhang der habsburgisch-österreichischen Wissenschaftsgeschich‐ te seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, deren Grundzug er in „eine(r) Tendenz zur Neutralisierung“ und zu einer „‚positivistischen‘“ Haltung sieht. Insbesondere Wien sei „in stärkstem Maße (…) Sitz positivistischer Tendenzen“ und „zum Ort ‚reiner‘ Lehren von Staat und Gesellschaft“ in der Philosophie sowie in den Wirtschafts‐ wissenschaften geworden. „Die Parallelität zu den Vorgängen in den historischen Wissenschaften“ liege, so Brunner, „deutlich zu Tage. Überall wird als ihre letzte Voraussetzung eine Lage erkennbar, in der eine echte politische Idee nicht mehr vorhanden ist, die in der Geschichte wie in den theoretischen Wissenschaften von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft eine Lehre erzeugt, die zur Not einem neutralen, über den politischen Gegensätzen stehenden, aber von diesen auch ausgeschalteten Beamtentum dienen kann.“ Nach dem Zerfall der Monarchie und der Entstehung der „wider eigenen Willen selbständigen Republik Österreich“ haben sich, so Brunner, die „reinen aber einflußlosen Theorien erst voll entfaltet. Während sie sich in einem hemmungs- und bindungslosen Radikalismus des Denkens schließlich selbst ad ab‐ surdum führten“, sei „die Historie glücklicher“, denn sie habe „den gesamtdeutschen Zusammenhang nie verloren.“16

1.2. Das Problem legitimer Gewaltsamkeit Neben die spezifisch österreichischen politischen Probleme des Staates rückte seit Mitte der 1920er Jahre das Problem legitimer Gewaltsamkeit ins Zentrum von Brunners Reflexionen über Staat und Historie. Dies war keineswegs eine nur akademische Frage der Staatsrechtslehre, die, ausgehend von Georg Jellinek und Max Weber,17 vor allem zwischen Carl Schmitt, Hermann Heller und Hans Kelsen diskutiert wurde.18 Allgemeiner Hintergrund hierfür war das bereits erwähnte Inte‐ grationsproblem der postmonarchischen modernen Massengesellschaften, Auslöser jedoch die fortdauernde Gewalt in Europa, die mit den Friedensverträgen von Ver‐ sailles und St. Germain keineswegs gebannt war. In Ostmitteleuropa verstrickten 15 16 17 18

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Vgl. Brunner 1938, S. 409. Ebd., S. 414-416. S. hierzu Anter 1995, S. 35-47; Anter 2016; Colliot-Thélène 2016. Vgl. Weber 1976, S. 821-824; Pauly 1998; Voigt 2008.

sich die autonom gewordenen Nationen in Territorialkriege, im Südosten führte Kemal Atatürk nach dem Zerfall des Osmanischen Reiches gleichsam einen Staa‐ tenbildungskrieg zur Gründung der Türkei, in Russland dauerte die gewaltsame Konstituierung der bolschewistischen Sowjetmacht an, und in Deutschland und Österreich trugen paramilitärische Verbände die politische Gewalt auf die Strassen.19 Mit Putschversuchen erschütterten sie die Legitimität der staatlichen Ordnung und brachten damit die Frage nach der Souveränität auf die Agenda der Tagespolitik. In Wien kulminierten diese Konflikte 1927 im Brand des Justizpalastes, der später literarischen Niederschlag bei Heimito von Doderer (Die Dämonen, 1956) und Elias Canetti fand, der die Ereignisse als Augenzeuge eindrucksvoll in seiner Autobio‐ grafie beschrieben hat und sie darüber hinaus, ebenso wie Hermann Broch, als Ausgangspunkt seiner massentheoretischen Reflexionen nahm.20 Unter dem Eindruck alltäglicher politischer Gewalt stand auch Brunner, und auch er hat, wenngleich anders als Canetti und Broch, die Gewalterfahrungen in origineller Weise theoretisch verarbeitet. Im Zuge seiner nach Absolvierung seines Studiums betriebenen Archivstudien zum niederösterreichischen Adel im Mittelalter stieß er auf Quellen, in denen von Souveränität und staatlichem Gewaltmonopol nichts, wohl aber viel über die Fehde zu finden war. Brunner hat dies in seinem 1929 veröffentlichten Aufsatz „Beiträge zur Geschichte des Fehdewesens im spät‐ mittelalterlichen Österreich“21 dargelegt und damit die grundlegende Fragestellung aufgeworfen, die er in den nächsten Jahren intensiv weiterverfolgte und schließlich, dann allerdings überformt durch völkische und nationalsozialistische Antworten, in seinem „epochemachenden Buch“22 „Land und Herrschaft“ (1939) zu einem (vorläufigen) Abschluss brachte. Seine wissenschaftsgeschichtlich bahnbrechende Neubewertung der Fehde als Rechtsinstitut und Form legitimer Gewaltanwendung23 richtete sich einerseits gegen das bis dahin vorherrschende populäre Verständnis der Fehde als illegitime Praxis mittelalterlichen Raubrittertums, andererseits gegen die in der deutschen Geschichts‐ wissenschaft (Georg v. Below, Friedrich Keutgen, Otto Hintze) sowie in der Rechts‐ geschichte noch von Heinrich Mitteis, dem bedeutendsten deutschen Rechtshistori‐ ker seiner Zeit, vertretene These der Staatlichkeit des mittelalterlichen deutschen Reiches.24 Mit der „Staats“-Kritik konnte Brunner ausdrücklich an Schmitt und 19 Leonhard 2019, S. 1186-1236; Gerwardt 2017, S. 9-30. 20 Canetti 1980, S. 274-282; ders. 1960; Broch 1979. S. hierzu Müller-Funk 2006; Lützeler 2014. Zum Wiener Justizpalastbrand und den Hintergründen s. Leser / Sailer-Wlasits 2001. 21 S. Brunner 1929. 22 Kroeschell 2008, S. 324. 23 Zur jüngeren kontroversen Diskussion über Brunners Konzept der Fehde, auf die hier nicht nä‐ her einzugehen ist, s. Algazi 1996, S. 131-167 u. 196-233; Schmitt 2002; Reinle 2003, S. 11-74; Reinle 2014. 24 Mitteis 1933. S. hierzu Böckenförde 1995; Grothe 2005, S. 297-305; zu Mitteis, auch mit Blick auf Brunner ausführlich Liebrecht 2018, S. 107-235.

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Heller anknüpfen, die trotz politischer Differenzen übereinstimmend den „Staat“ als durch Souveränität charakterisiertes Phänomen der Neuzeit definierten. Hiermit war ein wichtiger Schritt zur Historizität des Staates getan. Allerdings, so Brunner, hät‐ ten beide sich damit begnügt, die „politischen Verbände des Mittelalters als NichtStaat im modernen Sinn“ zu kennzeichnen und seien daher zu der „entscheidenden Aufgabe einer Beschreibung der politischen Verbände des Mittelalters“25 nicht vor‐ gedrungen. Schmitts und Hellers These aufnehmend und deren Kritik an der „Allge‐ meinen Staatslehre“ zuspitzend, ersetzte Brunner die bis dahin geläufige definitori‐ sche Trias des Staates von Staatsgebiet, Staatsvolk und Staatsgewalt durch die Trias Verband, Landvolk und Fehde als Grundbegriffe der mittelalterlichen Verfassung. Die Fehde als legitime Gewaltsamkeit ist in Brunners Konzept des „Landes“26 das mittelalterliche funktionale Analogon zum Monopol legitimer Gewaltsamkeit des souveränen neuzeitlichen Staates.

2. Erfahrungswandel und Methodenwechsel: Problemgeschichte als Begriffsgeschichte Die Einsicht in die Unanwendbarkeit des modernen Staatsbegriffs für das Verständ‐ nis der politisch-sozialen Ordnung des Mittelalters eröffnete nicht nur einen neuen historischen Blick auf das Problem legitimer Gewaltanwendung. Sie war zudem mit einer methodischen Reflexion verbunden, die über die bis dahin auch in der Geschichtswissenschaft einflussreiche positivistische Begriffsjurisprudenz sowie da‐ rüber hinausgehend das Problem der Problemgeschichte27 in grundsätzlicher Weise tangiert. „Nicht die ‚sachlichen’ Zusammenhänge der ‚Dinge’, sondern die gedanklichen Zusammenhänge der Probleme liegen den Arbeitsgebieten der Wissenschaften zu‐ grunde“28 – mit diesen Sätzen hatte Max Weber die kulturwissenschaftliche Neukon‐ zeptualisierung der Wissenschaften als Problemwissenschaft begründet, die mit der Kritik an der „populäre(n) naive(n) Vorstellung, die Geschichte sei ‚bloße’ Beschrei‐ bung vorgefundener Wirklichkeiten, oder einfache Wiedergabe von ‚Tatsachen’“29 auch die Geschichtswissenschaft auf die Grundlage einer kritischen Erkenntnistheo‐ rie stellte. Methodologisch verband Weber die „Problemwissenschaft“ mit seiner 25 Brunner 1939, S. 134. Bereits hieran erweist sich die These von Hans-Henning Kortüm, Schmitt habe „wie kein zweiter – Otto Brunners Fehdedeutung ganz entscheidend mitgeprägt“, als unbegründet. Tatsächlich hat Schmitt sich mit der Fehde nicht theoretisch beschäftigt; vgl. Kortüm 2006, S. 594. 26 S. Brunner 1939, S. 195-229. Zu Brunners Begriff des „Landes“ s. zuletzt, mit weiteren Litera‐ turhinweisen, Blänkner, S. 468-470. 27 Oexle (Hrsg.) 2001. 28 Weber 1904, S. 166. 29 Weber 1906, S. 237; s. hierzu Oexle 2001a, S. 15-17.

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Idealtypenlehre, die jedoch mit universalen Kategorien operiert und daher für die historische Forschung nur bedingt nutzbar ist. Es ist eine Problemwissenschaft ohne Begriffsgeschichte. Auf den methodisch begrenzten Nutzen der Idealtypenlehre hat‐ te bereits Otto Hintze aufmerksam gemacht,30 und an ihr entzündet sich auch Brun‐ ners Kritik an dem, wie Brunner gleichwohl ausdrücklich hervorhebt, „großartigen wissenschaftliche(n) Werk Max Webers“. Wie besonders an dessen Herrschaftstypen aus der „Ableitung des Staatsbegriffs aus der Neuzeit“ deutlich werde, komme es Weber in seiner historischen Soziologie „nicht auf die Beschreibung der Struktur bestimmter Welten, sondern auf die Schaffung eines soziologischen Apparats ideal‐ typischer Begriffe“31 an. Demgegenüber betont Brunner die Notwendigkeit, das Mittelalter – und generell andere „Welten“ jenseits der europäischen Neuzeit – auf der Grundlage einer „sachund quellenmäßigen Begriffssprache“32 zu rekonstruieren. Dieses Postulat hat ihm den Vorwurf des „Begriffspurismus“ bzw. des „Terminologiehistorismus“33 und die naive Unterstellung eingetragen, die mittelalterliche Welt durch Rückgriff auf die Quellensprache unmittelbar und unverstellt durch moderne Begriffe erschließen zu können. Sehr klar hat Brunner dagegen bereits in „Land und Herrschaft“ (1939) betont, es sei „nichts ... falscher als zu glauben, daß historische Arbeit die moder‐ nen Begriffe entbehren könne. Nur müssen sie in ihrer geschichtlichen Bedingtheit erkannt werden.“34 Und über den methodischen Zusammenhang zwischen Quellen‐ sprache und Gegenwartsbegriffen in der historischen Forschung hebt er an anderer Stelle hervor, die „Schwierigkeit“ einer historischen Untersuchung liege darin, „daß sie von der Begriffssprache der Gegenwart ausgehen und letztlich auch wieder zu ihr zurückführen muß.“35 Mit der Kritik an der Idealtypenlehre und der Verwendung universaler Kategorien und deren Ersetzung durch den Blick auf die Historizität analytischer Kategorien erweitert Brunner die Problemgeschichte als Begriffsgeschichte. Er ist in dieser Hinsicht der geschichtswissenschaftliche Antipode Max Webers, von dessen Werk er gleichwohl wichtige Anregungen empfangen hat.36 Diese markante Zäsur ist in der Wissenschaftsgeschichte bislang ebenso übersehen worden wie Brunners originärer Beitrag zu einer geschichtswissenschaftlichen Erweiterung der philosophischen Be‐

30 31 32 33 34 35 36

Hintze 1926. S. hierzu ausführlich Neugebauer 2015, S. 523-529. Brunner 1939, S. 189. Ebd., S. 506. Mager 1977, S. 76. Brunner 1939, S. 193; vgl. a. gleichlautend Brunner 1959, S. 163. Brunner 1956b, S. 442. Mit Blick auf die Reflexion der „Geschichtlichkeit des Staatsbegriffs“ weist Andreas Anter ex‐ plizit auf die Differenz zwischen Weber und Brunner hin, dessen „Land und Herrschaft“ gleichwohl „auf Max Webers Schultern steht.“, vgl. Anter 1995, S. 165.

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griffsgeschichte als Problemgeschichte, die bis dahin Reservat des Neukantianismus war, unter dessen Einfluß auch Weber stand.37 Blickt man auf die eingangs skizzierten Facetten dessen, was Brunner das „öster‐ reichische Staatsproblem“ nennt, und seine von der Problematik des „Staates“ aus‐ gehenden methodologischen Reflexionen, wird eine Erkenntnissituation deutlich, die Reinhart Koselleck aus anthropologischer Sicht als Zusammenhang zwischen Erfahrungswandel und Methodenwechsel beschrieben hat.38 Die zeitgenössische Er‐ fahrung zunächst des Untergangs des Habsburgerreiches und darauffolgend prekärer staatlicher Ordnungsstiftung charakterisieren Brunner als „Historiker der Krise“,39 der die politische Reflexion über die Krise der Staatlichkeit mit einem aus dem Stu‐ dium mittelalterlicher Quellen ausgelösten begriffsgeschichtlichen Methodenwech‐ sel verbindet. Diese spezifische Erkenntnissituation in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre, in der ausserwissenschaftliche und wissenschaftsinterne Aspekte zusammen‐ fliessen, markiert gleichsam das „Brunnersche Moment“, von dem aus sich Brunners Werk aufschliessen lässt.40 Welche politischen und historiografischen Konsequenzen Brunner aus dieser Erkenntnissituation ziehen würde, war allerdings offen. Seine Option für den An‐ schluss Österreichs ans Deutsche Reich war eine Möglichkeitsbedingung, die kei‐ neswegs stringent in die Unterstützung der nationalsozialistischen Anschlusspolitik 1938 führte und ausgangs der 1920er Jahre nicht vorhersehbar war. Vor allem steht Brunners Methodenwechsel in keiner ursächlichen Beziehung zur nationalso‐ zialistischen Ideologie. Zwar ist eine verbale Radikalisierung der Forderung nach einer „Revision der Grundbegriffe“ seit Mitte der 1930er Jahre unübersehbar.41 Die noch jüngst vertretene These, „dass der Anstoß für Brunners Konzept ... aus dem Rekurs auf die nationalsozialistische Staats- und Rechtstheorie (kam)“,42 ist je‐ doch unhaltbar und verkennt die vorangegangene Brunnersche Erkenntnissituation, die den begriffsgeschichtlichen Methodenwechsel längst vor und unabhängig von Brunners späterer Hinwendung zum nationalsozialistisch-wissenschaftspolitischen Engagement auslöste. Umso erklärungsbedürftiger ist darum seine im Zuge des „Anschlusses“ Öster‐ reichs ans nationalsozialistische Deutsche Reich (1938) vollzogene historiografische Wendung zu „Volk und Reich“ als Antwort auf die bis dahin offen gebliebene Frage, an welchen politisch-wissenschaftlichen Leitkategorien Geschichtsschreibung 37 S. hierzu Müller / Schmieder 2016, S. 84-100. Oexle 2009, S. 382-387 u. 392, markiert die Dif‐ ferenz zwischen Brunner und Weber, geht aber auf Brunners Weber-Kritik nicht ein und miss‐ interpretiert Webers „Kategorien“- und „Grundbegriffs“-Logiken als „Begriffs-Geschichte“. Näheres hierzu bei Blänkner 2021, S. 119 f. u. 131-136. 38 Koselleck 1988. 39 Schiera 1987. 40 S. hierzu Blänkner 2020, S. 117-121. 41 Vgl. Brunner 1937, S. 422. 42 Müller / Schmieder 2016, S. 270. So auch explizit Oexle 2009, S. 381-384.

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und Rechtsgeschichte sich nach dem Plausibilitätsverlust des „Staates“ orientieren könnten. Die Verflechtung von politischem Gegenwartsinteresse und Wissenschaft wird an dieser Stelle des Brunnerschen Œuvres evident.

3. „Nicht Staat und Kultur sind uns heute Gegenstand der Geschichte sondern Volk und Reich.“ Das „österreichische Staatsproblem“ markiert den Ausgangspunkt des Brunnerschen Nachdenkens über die kategoriale Historizität des Staates. Um die Originalität seines Denkansatzes zu verstehen, bedarf es jedoch der weiterführenden Einbettung in den deutschen Kontext. Denn abgesehen von der besonderen Problematik eines eigenständigen österreichischen Staates, standen die Österreichische Republik und die Weimarer Republik vor ähnlichen politisch-sozialen Herausforderungen, die unter dem Topos der „Krise des Staates“ breit diskutiert wurden. Hieran waren ins‐ besondere die Staatsrechtler und Historiker beider Länder beteiligt, die über Fach‐ zeitschriften, Kongresse, persönliche Bekanntschaften sowie organisatorisch über ihre Fachverbände diskursiv und institutionell eng miteinander verflochten waren.43 Nicht übersehen werden darf dabei jedoch eine spezifische Differenz, die Brun‐ ners seit Anfang der 1930er Jahre erfolgte Hinwendung zur „Volksgeschichte“ in besonderer Weise beförderte. Denn im Unterschied zur Weimarer Republik, in der Gelehrte und Intellektuelle sich nach dem Ende der Monarchie und zur historischen Selbstverständigung über die Krise des Staates auf die Suche nach den entweder freiheitlichen oder autoritären Traditionslinien des „deutschen Staatsgedankens“ machten,44 war in Österreich aufgrund des memorialen Vakuums ein historiografi‐ scher und normativer Bezug auf den „Staat“ nicht möglich. In einem kurz nach dem „Anschluss“ Österreichs ans nationalsozialistische Deutschland, den Brunner emphatisch begrüßte, beschrieb er ausführlich diese Dif‐ ferenz. Nach dem Scheitern deutscher Einigungspläne im 19. Jahrhundert und der Auflösung des Deutschen Bundes (1866) „drohte den Deutschösterreichern“, so Brunner, „(j)ede echte Staatlichkeit verlorenzugehen. Seit 1866 des Rückhalts am ganzen deutschen Volk beraubt, gerieten sie in einen verzweifelten Daseinskampf mit den nichtdeutschen Völkern der Monarchie. In diesem Kampf erfuhren sie aber eins: der nationale Gedanke, die Idee des Volkstums rückte völlig in den Mittelpunkt 43 S. hierzu, insbesondere zur Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer, Stolleis 1999, S. 186-202. Für einen biografischen Zugriff s. Häberlein / Kilian / Wolff (Hrsg.) 2018. Zur Ge‐ schichtswissenschaft s. Berg 2018, S. 27-228. Allgemein zu den österreichisch-deutschen Wis‐ senschaftsbeziehungen in der Zwischenkriegszeit s. Fengler / Luxbacher 2011. 44 Neben Friedrich Meineckes Buch „Die Idee der Staatsräson in der neueren Geschichte“ (1924) ist vor allem die von Arno Duch begründete 27bändige Sammlung „Der deutsche Staatsgedan‐ ke“ (1921-1925) zu nennen. S. hierzu Hintze 1924 sowie näheres bei Blänkner 1999, S. 95-97.

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ihres Denkens, nicht der Staat, das V o l k wird zur primären, leitenden Idee ihres Denkens und Handelns. (...) Trotz aller Mißgriffe und Irrtümer, die unvermeidlich waren, geschah hier etwas Großes und Einzigartiges: die entscheidende Gestaltung des volksdeutschen Denkens.“ Im Deutschen Reich habe der Volksgedanke der Deutschösterreicher jedoch nur „schwachen Widerhall“ gefunden. „Hier, wo man sich der endlich errungenen Einheit des schwer erkämpften deutschen S t a a t e s freute, (...) konnte dem volksdeutschen Denken kein Raum gegeben werden. So stehen staatliche Macht im zweiten Reich und volkhaftes, aber letztlich unstaat‐ liches Denken der Deutschösterreicher unverbunden nebeneinander.“ Aus dieser hoffnungslos erscheinenden Lage habe erst der durch Hitler und die nationalsozialis‐ tische Bewegung herbeigeführte „Aufstieg des Reichs zu neuer Macht und Geltung und der innere Wandel des reichsdeutschen Denkens zum Volkstum als der lebendi‐ gen Kraft des nationales Daseins“ hier „Wandel schaffen“ können.45 Den Hinweis auf die österreichisch-deutsche Differenz des politischen Denkens verbindet Brunner in einem programmatischen Aufsatz zur Methode der Verfas‐ sungsgeschichtsschreibung mit einer begriffsgeschichtlichen Attacke gegen den Eta‐ tismus der juristischen Rechtsgeschichte, der die Einsicht fehle, „daß Erscheinungen wie Staat, Macht, Wirtschaft überhaupt erst in einer bestimmten geschichtlichen Lage, die seit Absolutismus und der Aufklärung gegeben war, als ‚selbständige Faktoren’ gesehen werden konnten.“ Daher dürfe man, so Brunner, die seit der „Zivilisationshistorie der Aufklärung eingetretene Trennung von politischer und Kulturgeschichte nicht einfach als selbstverständlich hinnehmen.“ Brunners Kritik, in der sich die bereits früher gewonnene grundsätzliche Einsicht in die Historizität sozialtheoretischer Kategorien mit der Kritik an der Zerrissenheit der bürgerlich-li‐ beralen Welt verbindet, mündet in das Postulat: „Nicht der Staat, nicht die Kultur sind uns heute Gegenstand der Geschichte sondern Volk und Reich.“46 Die Rede von „Volk und Reich“ war bereits seit den 1920er Jahren vor allem in der staatenübergreifenden volksdeutschen Bewegung geläufig, die u. a. in der gleichnamigen politischen Monatsschrift (1925-1944) einen jungkonservativen, spä‐ ter nationalsozialistisch dominierten und seit 1939 vom Auswärtigen Amt mitfinan‐ zierten publizistischen Sammlungsort fand, in der auch Brunner i. J. 1932 in einem Themenheft über Österreich mitgearbeitet hatte.47 Zur diskursiven „Leitdifferenz“48 wurde diese Formel jedoch erst im Zuge der realpolitischen Herstellung des „Groß‐ deutschen Reiches“ nach dem „Anschluss“ Österreichs (1938) und der Errichtung des „Reichsprotektorats Böhmen und Mähren“ (1939). Auf Brunners Aktivitäten in der volksdeutschen Bewegung und sein ausgangs der 1930er Jahre einsetzendes En‐ 45 Vgl. Brunner 1938a, S. 526-528. 46 Brunner 1939a, S. 515-516. 47 Brunner 1932. Zur monatlich erscheinenden Zeitschrift „Volk und Reich“ s. Longerich 1987, S. 260-262. 48 Zum soziologischen Konzept der „Leitdifferenz“ s. Rehberg 1994, S. 63-68.

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gagement im nationalsozialistischen Wissenschaftsgefüge ist hier nicht näher einzu‐ gehen. Hinzuweisen ist lediglich darauf, dass Brunner trotz seines mehrfachen publi‐ zistischen Bekenntnisses zum Nationalsozialismus zu keiner Zeit ein NS-Parteiakti‐ vist war und die Münchener Parteileitung seinem Antrag auf NSDAP-Mitgliedschaft nach mehreren vorausgegangenen Ablehnungen erst im Februar 1944, rückwirkend zum 1. Januar 1941 stattgegeben hat.49 Auch soll hier nicht der Frage nachgegangen werden, wie Brunner sein Postulat einer „Volksgeschichte“ bzw. das Programm einer an den Leitbegriffen „Volk und Reich“ zu schreibenden (deutschen) Geschich‐ te historiografisch umsetzte.50 Stattdessen ist, das Thema „Staat und Historie“ auf‐ nehmend, zu fragen, gegen welche geschichts- und rechtswissenschaftlichen Strö‐ mungen Brunner sich mit seiner Aussage, dem Nationalsozialismus sei das „Volk“, und nicht mehr der „Staat“ „oberstes Prinzip des politischen Denkens“,51 abgrenzt. Die deutsche Geschichtswissenschaft stand bis dahin im Zeichen der aus dem Hegelianismus hervorgegangenen Idee der „Staatsbildung“, die in ihrer zweifachen Bedeutung als ethische Bildung des Bürgers zum Staat und als historische Entste‐ hung des Staates für ein Jahrhundert das leitende historisch-politische Paradigma der deutschen Ideologie war. Dies gilt für die germanistische Verfassungshistorie ebenso wie für die Neuzeithistorie, in der vor allem Gustav Schmoller und die jün‐ gere Historische Schule der Nationalökonomie den aufgeklärten Absolutismus des preußischen Beamtenstaats als kontinentales Muster und deutschen Sonderweg mo‐ derner Staatsbildung ins Zentrum rückten. Den Höhepunkt und systematischen Ab‐ schluss fand das Konzept der „Staatsbildung“ bei Otto Hintze, dessen Forschungen, von der preußischen Geschichte als „Paradigma“ ausgehend, auf „eine allgemeine vergleichende Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte der neueren Staatenwelt“ abzielte.52 Mit dem Ende der Monarchie verlor die These eines nationalpolitisch gegen Frankreich und England gerichteten positiven deutschen Sonderwegs in die Moderne 49 S. hierzu Blänkner 2019, S. 449-457; Kortüm 2018, S. 126-148. Kortüms auf den Nationalso‐ zialismus fokussierte Gesamtdeutung des Brunnerschen Werks ist jedoch höchst fragwürdig. Unhaltbar und unbelegt ist die These von Brunners „unbeirrte(m) Festhalten an bereits im Na‐ tionalsozialismus entwickelten Positionen“, vgl. ebd., S. 153. Vor allem die bereits zuvor aus der Brunnersche Erkenntnissituation ausgangs der 1920er Jahre hervorgegangenen leitenden Fragestellungen treten hier gar nicht in den Blick. 50 S. hierzu Blänkner 2019, S. 464-473. Weitergehend wäre v. a. Brunners unveröffentlicht ge‐ bliebenes Buch „Der Schicksalsweg des deutschen Volkes“ heranzuziehen. Die unvollständig erhaltenen Druckfahnen dieses 1944 abgeschlossenen Buches, das lange Zeit als verschollen galt, habe ich bei meinen Recherchen 2015 in der Brunner-Bibliothek wiedergefunden, die sich in der Bibliothek der Chuo-Universität in Tokio befindet. Zur Formierung und zum Spektrum der Volksgeschichte als Paradigma der Geschichtswissenschaft bis 1945 s. Oberkrome 1993 u. Hettling 2003. 51 Brunner 1939a, S. 517. 52 Vgl. Hintze 1914, S. 564. Zur Idee und zum Konzept der „Staatsbildung“ in seiner zweifachen Bedeutung sowie zum Gesamtzusammenhang der Argumentation s. Blänkner 1992, S. 51-56; Blänkner 2011, S. 105-121.

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ihre Plausibilität und der metaphysische „deutsche Staatsgedanke“ geriet in die Krise. Max Webers soziologisches Verständnis des Staates als „Anstaltsbetrieb“ war Ausdruck einer allgemeinen Säkularisierung des Staatsbegriffs und des Abschieds von der, wie Hintze konstatierte, „Andacht zum Staate.“53 Gerade Hintzes über den Schmollerschen Ansatz hinausreichende Arbeiten u. a. über „Wesen und Wandlung des modernen Staates“ (1931), zum Ständetum, zur Repräsentativverfassung und zum Feudalismus sind Erweiterungen innerhalb des Konzepts der „Staatsbildung“, das nach einem Jahrhundert Dominanz jedoch paradigmatisch erschöpft war und keine nachhaltigen Impulse in der nun einflussreich werdenden völkischen Soziolo‐ gie und der in der Geschichtswissenschaft sich formierenden Landes- und Volksge‐ schichte auslöste. Diese tiefgreifende politische, kulturelle und wissenschaftliche Bewegung lässt sich als leitdifferentieller Umbruch von der „Staatsbildung“ zur „Volkwerdung“ beschreiben, der ganz im Zeichen völkischen Denkens und später des hegemonialen nationalsozialistisch-institutionalisierten Diskurses stand, der mit dem Ende des Nationalsozialismus 1945 abrupt endete. Dass die Landes- und Volksgeschichte nach der Machtergreifung des National‐ sozialismus, die auch die institutionellen Rahmenbedingungen (nicht nur) der Ge‐ schichts- und Rechtswissenschaften tiefgreifend veränderten, in das Fahrwasser nationalsozialistischer Wissenschaftspolitik geriet und insbesondere durch die Volks‐ deutschen Forschungsgemeinschaften Teil der NS-Expansions- bis hin zur NS-Ver‐ nichtungspolitik wurde,54 darf nicht über die Tatsache hinwegtäuschen, dass von ihr methodische Anregungen ausgingen, die über die bisherige staatsfixierte Forschung hinausführten.55 Nicht zu übersehen ist allerdings auch, dass mit dem Aufbruch der Landes- und Volksforschung gerade im Vergleich zu Hintzes Arbeiten Verengungen und der nach innen gerichtete Blick mit dem Verlust einer vergleichend-europä‐ ischen Perspektive, wie sie neben Hintze ausdrücklich auch Marc Bloch anmahnte,56 einhergingen. Dies gilt auch für Brunner, für den sich die Perspektive einer Historio‐ grafie im europäischen Horizont erst im Zuge der europäischen Grossraumpolitik des Nationalsozialismus und der hieraus hervorgegangenen Konzeptualisierung ei‐ nes „Neuen Europa“ öffnete und damit in eine hier nicht weiter zu verfolgende Spannung zu seinem vorangegangenen Postulat, „Volksgeschichte“ sei „das Gebot der Stunde“57 geriet. Jedenfalls war unter Brunners Prämisse einer Landes- und 53 Hintze 1927, S. 205. Zu Hintze s. grundlegend Neugebauer 2015, insbes. S. 512-534. Zu We‐ bers Konzept des „Anstaltsbetriebs“ s. Anter 1995, S. 47-51; Treiber 2016. Aus geschichtswis‐ senschaftlicher Sicht unergiebig, die zentrale Debatte über Staatlichkeit verfehlend: Metzler 2018, S. 16-49. 54 S. hierzu Oberkrome 1993, S. 172-220; Fahlbusch 1999. 55 S. hierzu Oberkrome 1993, S. 56-101 u. 224 f.; Hettling 2003, S. 17-25. 56 S. Bloch 1928; zu Hintze s. ausführlich Neugebauer 2015, S. 464-489. 57 Brunner 1939, S. 185. Zur nationalsozialistischen Konzeption und Strategie eines „Neuen Eu‐ ropa“ s. Europa. Handbuch der politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Entwicklung des neuen Europa. Hg. v. Deutschen Institut für Außenpolitische Forschung, Leipzig 1943; Six

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Volksgeschichte eine europäisch vergleichende Verfassungs- und Staatengeschichte kaum möglich. Bezeichnenderweise setzte Brunners Kritik an den, wie er konzedierte, „überaus ertragreichen Arbeiten Otto Hintzes“ nicht an dieser Problematik, sondern an der Übertragung des modernen Staatsbegriffs auf die Struktur der mittelalterlichen Welt an. Zwar bedeuteten Hintzes Arbeiten, so Brunner, im Vergleich zu Georg v. Below, dem prominentesten Verfechter der These mittelalterlicher Staatlichkeit unter den deutschen Historikern, „einen ganz erheblichen Fortschritt“, doch bleibe Hintze mit dem seinen Arbeiten zugrunde liegenden Schema der Trennung von „Staat und Ge‐ sellschaft“ den „Kategorien des 19. Jahrhunderts“ verhaftet. „Der Dualismus“, der in Hintzes Mittelalterbild „zutage tritt“, sei, so Brunner, „nichts als eine Abspiegelung der inneren Gespaltenheit der neuzeitlichen Welt.“ Wohl sei Hintzes „Blick ... immer auf das Ganze der geschichtlichen Verbände .. gerichtet“, aber nirgends „erscheint das V o l k in der Ganzheit der alle Seiten seines Lebens gestaltenden Ordnungen.“58 So plausibel hier einerseits Brunners methodologische Kritik an der Universa‐ lisierung soziologischer Kategorien des 19. Jahrhunderts erscheint, die sich im „übliche(n) Schlendrian scheinbar allgemeingültiger Begriffe“59 breitmache, so pro‐ blematisch ist seine politische Antwort auf die systemische Ausdifferenzierung der modernen Welt, die er, hierin mit den Staatsrechtlern Ernst Rudolf Huber und Ernst Forsthoff im Anschluss an Carl Schmitt übereinstimmend, als „positivistisches Tren‐ nungsdenken“ der bürgerlich-liberalen Welt beschreibt.60 Im Unterschied zum „Staatsvolk“ der „Allgemeinen Staatslehre“, das als Sum‐ me der „Staatsbürger“ nur durch die „Staatsgewalt“ zu einer „juristischen Einheit zusammengefügt“ werde, sei im nationalsozialistischen Verständnis das Volk eine „blut- und rassenmäßig geprägte Wirklichkeit, die in einer konkreten Volksordnung lebt und sich in dieser Einheit im Erlebnis der Volksgemeinschaft bewußt wird.“ Durch seinen Staat werde das Volk zur „rechts- und handlungsfähigen Einheit“, die „Partei“ sei sein „politischer Willensträger, die Wehrmacht das Volk in Waffen. Damit ist“, so Brunner, „die Trennung von Staat und Gesellschaft aufgehoben, Volk, im besonderen Volksgemeinschaft und Führung, sind die zentralen Verfassungsbe‐ griffe.“61 Ähnliche bis gleichlautende Formulierungen finden sich auch bei zahlreichen Re‐ präsentanten der deutschen Staatsrechtswissenschaft.62 Als totalisierende (und totali‐

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1943. Aus der jüngeren Forschungsliteratur s. Kletzin 2002, S. 84-109; Botsch 2006, S. 215-228; Greiner 2014, S. 179-223. Vgl. Brunner 1939, S. 188-193. Brunner 1939, S. 155. Vgl. Brunner 1939, S. 136 f.; Brunner 1939a, S. 514. Brunner 1939a, S. 517. S. hierzu Dreier 2001, zu „Volk“, „Volksgemeinschaft“ u. „völkischem Staat“ insbes. S. 33-40; Pauly 2001; Lepsius 2004. Zur Rechtsgeschichte im Nationalsozialismus s. Rückert / Willoweit

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täre) „gegensatzaufhebende Begriffsbildung“ (O. Lepsius) bestimmt die Kategorie „Volk“ auch das politische Denken und die Methodologie der Rechtswissenschaft unter dem Nationalsozialismus, doch blieb der Volksbegriff letztlich definitorisch unbestimmt63 und wird gerade hierdurch als diskursive Leitdifferenz erkennbar. Wie ein vergleichender Blick auf Huber, Forsthoff und Brunner zeigt, gilt dies in besonderer Weise für die begriffliche Beziehung zwischen „Volk“ und „Staat“. So ist zwar das „Volk“ auch Ausgangpunkt der Huberschen Rechtssystematik, doch bleibt es kategorial dem „Staat“ untergeordnet.64 Ob Hubers Konzept einer erneuerten „gesamten Staatswissenschaft“,65 das die Trennung von „Staat“ und „Gesellschaft“ aufheben soll, „im Kern“ lediglich „ein Plädoyer für die Wiederbelebung der etatis‐ tischen Staatsidee des deutschen Idealismus und der Romantik...“66 ist, erscheint allerdings überzogen und angesichts seiner totalitären Implikationen fragwürdig. Unzweifelhaft steht es aber, ebenso wie Forsthoffs Theorie des „Totalen Staates“,67 in der Tradition des deutschen Etatismus des 19. Jahrhunderts und im Kontext des Neuhegelianismus, denen Brunner vor dem Hintergrund des „österreichischen Staatsproblems“ ganz fern stand. Brunners Hinwendung zum Nationalsozialismus war wissenschaftlich weder mit der Wendung zum „totalen Staat“ noch mit einer Erneuerung der „gesamten Staatswissenschaft“ verbunden. Vom „totalen Staat“ als Typus, der nach dem „absoluten Staat“ des 17. und 18. Jahrhunderts und dem „neutralen Staat des liberalen 19. Jahrhunderts“ die „Identität von Staat und Gesellschaft“ herstelle, hatte zuvor bereits Carl Schmitt gesprochen.68 Nicht die Typologie des neuzeitlichen Staates, wie sie zeitgleich auch Hintze vorleg‐ te,69 wohl aber andere Arbeiten Schmitts boten Anknüpfungspunkte für Brunner. Zunächst, wie bereits erwähnt, dessen an die „Souveränität“ gebundene Definition des Staates als Phänomen der Neuzeit. Verbunden war hiermit Schmitts Begriff des „Politischen“, der dem des „Staates“ vorausgehe.70 Diese prinzipielle Entstaat‐ lichung des Politischen hat Brunner übernommen, sich dabei aber von Schmitts existentieller Bestimmung des Politischen als Unterscheidung zwischen Freund und Feind distanziert. Mit dem „Land“ als mittelalterliches Analogon des neuzeitlichen „Staates“ geht bei Brunner auch die Historizität des Politischen einher, die Frage

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1995; Günther 2004, S. 29-47; Stolleis 2016. Zu den Konfliktlinien zwischen Staatswissen‐ schaften und völkischer Soziologie s. Nolte 2000, S. 151-159. S. Lepsius 1994, insbes. S. 13-49; Oberkrome 1993, passim; Hettling 2003, S. 8-10. S. hierzu Jürgens 2005, S. 173 ff.; Walkenhaus 1997, S. 183-186; Grothe 2005, S. 219; Wiede‐ rin 2015, S. 202-206. Huber 1935. Bleek 2015, S. 181. Forsthoff 1933; Storost 1978, S. 25-35 u. 54-80; Pauly 2001, S. 80-84; Meinel 2011, S. 48-69. Zum Verhältnis Huber – Forsthoff s. Meinel 2015, S. 53. Vgl. Schmitt 1931, S. 79 (s. zuvor bereits in seinen Aufsatz „Die Wendung zum totalen Staat“. In: Die Europäische Revue 7 (1931), S. 241-250). Hintze 1931. Zu Schmitts Typus des „totalen Staats“ s. ebd. S. 473. Schmitt 1932, S. 19.

also, „was Politik in der Vergangenheit jeweils heißen kann.“ Das Politische als „allgemeines Ordnungsprinzip“ bedürfe „eines positiven Gehaltes, der niemals im Feind-, sondern nur im Freundverhältnis gefunden werden kann.“71 Ein zweiter kritischer Anknüpfungspunkt ist Brunners Auseinandersetzung mit Schmitts Begriff der Verfassung. Schmitt hatte „Verfassung“ als „konkrete(n) Ge‐ samtzustand politischer Einheit und sozialer Ordnung eines bestimmten Staates“72 definiert, mit seiner Reservierung des Staatsbegriffs auf die europäische Neuzeit allerdings die Frage hinterlassen, wie die politisch-soziale Einheit vor-neuzeitlicher bzw. vor-staatlicher Ordnungen beschrieben werden können. Brunner griff dieses offene Problem auf, indem er Schmitts materiellen Aspekt der Verfassung als „Gesamtzustand politischer Einheit und sozialer Ordnung“ übernahm, den Begriff der modernen „Konstitution“ jedoch von dem der (mittelalterlichen) „Verfassung“ unterschied. Mit dieser Unterscheidung ging Brunner nicht nur ausdrücklich über Schmitt hinaus.73 Er distanzierte sich hiermit auch sowohl von der neueren Verfas‐ sungshistorie, wie sie vor allem, von der preußischen Geschichte herkommend, Fritz Hartung vertrat und die als obligatorisches Lehrfach i. J. 1935 in den Lehrplan des juristischen Studiums aufgenommen wurde, als auch von etatistischen Verfas‐ sungsgeschichte, die Huber als Teilaspekt seiner erneuerten „gesamten Staatswissen‐ schaft“ propagierte.74 Die Kritik an einer „Verfassungsgeschichte im allgemeinen Sinn“ durchzieht fortan die weiteren Arbeiten Brunners, die er in seinem Spätwerk in der Diskussion mit dem Mediävisten Walter Schlesinger nochmals explizit erneu‐ erte.75 Die Entstaatlichung des „Politischen“ sowie die mit der De-Konstitutionalisie‐ rung des Verfassungsbegriffs verknüpfte Entstaatlichung der „Verfassung“ eröffnen Brunners Perspektive einer jenseits des „Staates“ an den Leitbegriffen „Volk“ und „Reich“ orientierten Historiografie. Dogmatisch wurde diese Entstaatlichung zusätz‐ lich durch Schmitts These vom Ende des „Zeitalters der Staatlichkeit“ gestützt, mit der dieser von seiner Dreistadientypologie des neuzeitlichen Staates Abstand nahm und die Wendung zur Reichs- und Großraumtheorie vollzog, der Brunner sich anschloss.76 Wie der programmatische Titel seines Buches „Land und Herrschaft“ dokumentiert, entkoppelte Brunner schließlich auch den Herrschaftsbegriff vom Staatsbegriff. Dies war einerseits gegen die Allgemeine Staatslehre gerichtet, insbe‐ 71 Vgl. Brunner 1939, S. 11. Zu Brunners Kritik an Schmitts feindbezogenem Begriff des Politi‐ schen s. zutreffend Llanque / Münkler 2003, S. 11. 72 Schmitt 1928, S. 4. 73 Vgl. Brunner 1939a, insbes. S. 517-519; Brunner 1939, S. 143-157. 74 S. hierzu Grothe 2005, S. 105-113, 247-262 u. 286-297. 75 S. Brunner 1956c, S. 5-11; kritisch gegen Fritz Hartung: Brunner 1959, S. VIII; Brunner 1966, S. 15. Zur begrifflichen Problematik der Unterscheidung zwischen „Verfassung“ und „Konsti‐ tution“, die die deutsche Sprache erlaubt, nicht aber in der englischen und in den romanischen Sprachen möglich ist, s. Blänkner 2014, S. 204-210; Blänkner 2020, S. 138-141. 76 Vgl. Schmitt 1941, insbes. S. 295-314; Ders. 1941a, S. 401-406; Brunner 1944, S. 433-439.

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sondere aber gegen den idealtypischen Herrschaftsbegriff Max Webers, der, wie Brunner hervorhebt, vom neuzeitlichen Staatsbegriff abgeleitet sei.77 Die hier skizzierte dreifache kategoriale Entstaatlichung – des Politischen, der Verfassung und des Herrschaftsbegriffs – ist die Grundlage für Brunners Konzept einer Historizität des Staates. Wie Brunner die Geschichte des Politischen, Verfas‐ sungsgeschichte und Herrschaftsgeschichte jenseits des Staates als Leitkategorie konzipiert und geschrieben hat, ist im Rahmen dieses Aufsatzes nicht zu behan‐ deln.78 Hier ging es lediglich darum, die Bedingungen der Möglichkeit für eine an „Volk und Reich“ orientierte Historiografie freizulegen. Dass, von den ideologischen Implikationen abgesehen, die praktische Verwendung dieser Leitkategorien sich me‐ thodologisch nicht vom kritisierten Schema „Staat und Gesellschaft“ unterscheidet, ist allerdings nicht zu übersehen. Auch das „Volk und Reich“-Schema reprojiziert normative Gegenwartskategorien in die Vergangenheit, nicht nur, um die institutio‐ nellen Mechanismen anderer „Welten“ zu analysieren, sondern vor allem um im historistischen Sinn einen normativen Zusammenhang zwischen Vergangenheit und Gegenwart zu stiften. Verschiedentlich wurde Brunner vorgehalten, er habe seine im nationalsozialisti‐ schen Kontext gebrauchten Begriffe nicht hinreichend reflektiert. Tatsächlich jedoch hat er zunächst den „semantischen Umbau der Geisteswissenschaften“ (G. Bollen‐ beck) im vollen Bewusstsein und explizit mitvollzogen, vor allem aber hat er sie nach 1945 selbstkritisch überprüft.79 Weiterführender als diese unhaltbare Kritik ist die Unterscheidung zwischen Brunners ausgangs der 1920er aufgeworfenem Problem der Historizität politisch-sozialer Kategorien und den hierauf seit Mitte der 1930er Jahre formulierten Antworten. Festzuhalten ist daher, dass Brunners Problemstellung durch seine Hinwendung zum totalisierenden Denken und zum ideologischen Totalitarismus überschattet wurde und in der Brunner-Rezeption lange Zeit verdeckt blieb.

4. Stände und Frühmoderner Staat Der Untergang des Deutschen Reiches besiegelte das Ende der nationalsozialisti‐ schen Eroberungs- und Vernichtungspolitik in Europa. Mit ihm verloren auch die Grossraumdoktrin des „Reiches“ als „maßgebende(r) Begriff“80 und das „positivis‐ tische Trennungsdenken“ vermeintlich überwindende totalisierende Schema „Volk und Reich“ ihre Plausibilität. In einem selbstreflexiven Lernprozess hat Brunner, der 77 78 79 80

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S. o. Anm. 31. S. hierzu Grothe 2005, S. 297-305; Consolati 2020, S. 7-69. S. hierzu Blänkner 2020, S. 136. Schmitt 1941, S. 320.

nach Kriegsende zunächst von seiner Wiener Professur suspendiert, 1948 auf eige‐ nen Wunsch pensioniert81 und 1954 auf eine Professur nach Hamburg berufen wur‐ de, in seiner dortigen Antrittsrede seinen eigenen Weg in den Nationalsozialismus als „Irrweg“ bezeichnet und sich von der totalitären Ideologie distanziert.82 Erstes und prominent gewordenes Dokument für seine Abkehr vom Nationalsozialismus ist sein nicht nur für die Frühneuzeitforschung wegweisendes Buch „Adeliges Landle‐ ben und europäischer Geist“ (1949), in dem er seine zuvor verwendeten völkisch-na‐ tionalsozialistischen „Grundbegriffe“ ausdrücklich einer „Revision“ unterzog.83 Die These einer „germanischen Kontinuität“, die die drei ersten Auflagen von „Land und Herrschaft“ (1939; 1942; 1943) grundiert, ist hier zugunsten einer „alt‐ europäischen“ Kontinuität beiseite geschoben, die sich auf die griechisch-humanis‐ tische Idee der Tugend („paideia“) als Grundlage einer erneuerten Bürgerlichkeit stützt.84 Dieser Versuch einer posttotalitären Traditionsvergewisserung ging einher mit der Neukonzeptualisierung zentraler Verfassungsbegriffe. Hatte Brunner 1939 in seinem bereits zitierten programmatischen Aufsatz geschrieben, „Volk und Reich“ seien „uns heute“ anstelle von „Staat“ und „Kultur“ Gegenstand der Geschichte, nimmt er in der überarbeiteten Neufassung dieses Aufsatzes 1955/56 eine gewich‐ tige Änderung vor: „Nicht der Staat, nicht die Kultur sind uns Gegenstand der Geschichte sondern Menschen und menschliche Gruppen.“85 Diese asymmetrische semantische Parallelverschiebung von „Volk und Reich“ zu „Menschen und menschliche Gruppen“ wirft mehrere Fragen auf, die hier nicht nä‐ her zu diskutieren sind. Sie lediglich als terminologische Entnazifizierung abzutun, wäre allerdings verkürzt. Denn hinter diesem begrifflichen Austausch steht, in Ab‐ wandlung des Koselleckschen Diktums, gleichsam ein politischer Erfahrungswandel ohne Methodenwechsel. Die nationalsozialistisch-totalitäre Antwort auf die Krise des Staates und das „österreichische Staatsproblem“ hatte sich als verheerend erwie‐ sen und mit dem Untergang des Nationalsozialismus das Ausgangsproblem in nun verschärfter Form ungelöst hinterlassen. Der neuen Welt seit der Industrialisierung sei es, so Brunner, „bisher nicht gelungen, dauernde Formen des menschlichen Zu‐ sammenlebens und ein ihr gemäßes Geistesleben zu gestalten.“ Sein Buch „Adeliges Landleben und europäischer Geist“ ist der Versuch, Antworten auf die „geistige Krise der Gegenwart“ zu finden und ein Aufruf, die Grundlagen der modernen Welt neu zu durchdenken. Dies gilt auch für die Kategorien - insbesondere „Staat“, „Wirtschaft“, „Gesellschaft“ -, mit denen die moderne Welt beschrieben werden. An der These, dass diese Kategorien historisch mit dem „Durchbruch der modernen S. hierzu Blänkner 2019, S. 474-477. Vgl. Brunner 1954, S. 44; Brunner 1954a. Vgl. Brunner 1949, S. 9 f. S. hierzu Blänkner 1999, S. 111; Blänkner 2003, S. 362 f. Zu Brunners Revision der These einer „germanischen Kontinuität“ s. Brunner 1959, S. VIII. 85 Brunner 1956c, S. 4. 81 82 83 84

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Welt“ verbunden seien, hielt Brunner fest, und damit an seiner grundsätzlichen, seit Ausgang der 1920er Jahre gewonnenen Einsicht in die Historizität politisch-sozialer Kategorien. Anders aber als in dem ideologisch fehlgeleiteten Versuch, die funktio‐ nale Differenzierung in einer totalitären Ordnung und das „Trennungsdenken“ durch totalisierende Begriffe zu überwinden, akzeptierte er nun, nach deren Scheitern, die Legitimität der modernen Welt und deren Kategorien.86 Ein wichtiger Schritt hierzu war die Erkenntnis, dass sich „Staat“ und „Gesell‐ schaft“ „nicht mehr so eindeutig gegenüberstellen lassen wie im 19. Jahrhundert“ und dass das Postulat der Aufhebung ihrer Trennung, wie Brunner in einer ebenso überraschenden wie irritierenden Wendung gegen Carl Schmitt hervorhebt, „mit der Gefahr totalitärer Tendenzen“ verbunden gewesen sei. „Alle jüngeren Wandlungen“, so Brunner stattdessen, „setzen den „Staat“ des Absolutismus und Revolutionen und die diesem zugeordnete ’Gesellschaft’ voraus.“87 Mit dieser ernüchterten Akzeptanz des Staates stand Brunner nicht allein. Sie findet sich in ähnlicher Form ebenso bei anderen, früher der Volkssoziologie oder dem „totalen“ Staatsdenken nahestehenden Juristen, Soziologen und Philosophen, die, wie Arnold Gehlen, Hans Freyer und Helmut Schelsky, denen Brunner nahestand, oder Forsthoff, zu einflussreichen Re‐ präsentanten des „technokratischen Konservatismus“ (M. Greiffenhagen) wurden.88 An den im engeren Sinn staatsrechtlichen und soziologischen Debatten, die Brunner aufmerksam verfolgte, hat er sich nicht beteiligt. Wohl aber an historischen Studien zur Entstehung der industriellen Gesellschaft und der Differenzierung von „Staat und Gesellschaft“, die vor allem Werner Conze mit wegweisenden Aufsät‐ zen initiierte und die, Anregungen vor allem von Freyer aufnehmend, in dem von Conze mit Unterstützung Brunners begründeten Heidelberger „Arbeitskreis für mo‐ derne Sozialgeschichte“ ihren wichtigsten und einflussreichen institutionellen Ort fanden.89 Die erste Publikation, die hieraus hervorging, widmete sich dem Thema „Staat und Gesellschaft im deutschen Vormärz“, zu der auch Brunner mit einem Aufsatz über das vormärzliche Österreich beitrug.90 Dass „Staat“ und „Gesellschaft“ im Heidelberger Arbeitskreis zu den „Grundbegriffen“ der sprachlichen Konstituie‐ rung der modernen Welt gehörten, dokumentieren die beiden einschlägigen Artikel

86 Vgl. Brunner 1949, S. 313-339. 87 Brunner 1956c, S. 6. 88 S. hierzu van Laak 2003; Meinel 2011, S. 272-278, 334-346; Muller 1987, S. 330-354; Rehberg 2007; Rehberg 2013, insbes. S. 16-30; Nolte 2000, S. 235-341. 89 S. Conze 1954; Conze 1957; Conze 1958. Zum Heidelberger AK s. Engelhardt 2020, insbes. S. 13-70. Speziell zu Conze und dem Arbeitskreis s. Etzemüller 2001, S. 49-89 u. 157-160 so‐ wie zur Conzes Konzept der Sozialgeschichte der industriellen Welt Dunkhase 2010, S. 115-166. 90 Vgl. Brunner 1962. S. a. die Gesamtwürdigung des Bandes in der Rezension von Vierhaus 1965.

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des aus dem Arbeitskreis hervorgegangenen Lexikons „Geschichtliche Grundbegrif‐ fe“, das Brunner, gemeinsam mit Conze und Koselleck, herausgab.91 Als „Denken vom Staat her“, wie sich die frühe Staatsrechtslehre der Bundesre‐ publik und auch die sich etablierende Politikwissenschaft charakterisieren lässt,92 können die hier entstandenen Arbeiten dennoch nicht bezeichnet werden. Sie fügen sich vielmehr in die sich formierende Sozialgeschichte ein, von der die wichtigsten Impulse für die Neuorientierung der (west-)deutschen Geschichtswissenschaft nach 1945 ausgingen. Brunner kommt hierbei einerseits mit seiner methodischen Verbin‐ dung von Sozialgeschichte und Begriffsgeschichte eine besondere Bedeutung zu.93 Von Conze und Koselleck hebt Brunner sich zudem durch die zeitlichen Schwer‐ punkte seiner Arbeiten ab. Während jene den „sattelzeitlichen“ Durchbruch der modernen Welt vor allem anhand der sprachlichen Erschliessung der zukünftigen industriellen Gesellschaft verfolgen, richtet sich Brunners Blick besonders auf den Niedergang bzw. die Transformation der alteuropäischen Welt und ihrer Kategorien wie dem „ganzen Haus“ oder der „Herrschaft“.94 Dies hatte Folgen auch für die Behandlung des „Staates“. Nachdem, ausgelöst durch Brunners Kritik und sein Buch „Land und Herrschaft“, die These von der mittelalterlichen Staatlichkeit erschüttert war, geriet nun auch die Staatlichkeit der frühen Neuzeit, deren Paradedisziplin die Absolutismusforschung war, ins Blickfeld der Kritik. In „Land und Herrschaft“ hatte Brunner die politisch-soziale Bedeutung der Stände, insbesondere des Adels hervorgehoben, die jedoch nicht im späten Mittelalter erlosch, sondern, wie Brunner in „Adeliges Landleben und europäischer Geist“ zeigt, bis weit in die frühe Neuzeit hineinreichte. Anstelle der Bürokratie als Träger moderner Staatsbildung rücken nun die Stände als retardierendes Moment absolutistischer Herrschaft bzw. als konstitutiver Faktor der „altständischen Gesell‐ schaft“ ins Zentrum des Forschungsinteresses.95 Hiermit hat Brunner nicht nur massgeblich zur absolutismuskritischen Etablie‐ rung der Ständeforschung und zur Erforschung des „frühmodernen Staates“ beige‐ tragen, die vor allem die bundesrepublikanische Geschichtswissenschaft der Nach‐ kriegszeit bis in die 1970er Jahre entscheidend mitgeprägt hat.96 Nachhaltige Impul‐ se sind hiervon darüber hinaus auf die allgemeine Diskussion über den (modernen) Staat und seinen Status als analytische Kategorie ausgegangen. Die kategoriale 91 S. Riedel 1975; Boldt / Conze / Haverkate / Klippel / Koselleck 1990. Zur Konzeption der Begriffsgeschichte bei Brunner und Koselleck s. Blänkner 2021. 92 S. hierzu Günther 2004; Anter / Bleek 2013, S. 17-42. 93 S. hierzu Koselleck 1986; zu Brunner und Koselleck s. Blänkner 2021. 94 Vgl. Brunner 1952; Brunner 1962a. 95 S. Brunner 1949, S. 314-316; Brunner 1954b; Brunner 1955a; Brunner 1963. 96 S. hierzu Gerhard 1969; Baumgart 1983. Zur Forschungsstand über den „modernen Staat“ Mitte der 1960er Jahre s. Hofmann 1967. Als Abschluss der ständegeschichtlichen Forschungs‐ perspektive s. die Gesamtdarstellung zur deutschen Geschichte von Vierhaus 1984. Zu späteren Forschungsdebatten s. Blänkner 1992; Blänkner 2004; Blänkner 2011, S. XI-XXV.

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Entkoppelung des „Staates“ vom Begriff des Politischen und vom Begriff der „Ver‐ fassung“ wird in den aktuellen disziplinübergreifenden Debatten ebenso diskutiert wie die Historisierung und Kontextualisierung der Verfassungsdogmatik.97 Andreas Anter hat mit Recht betont, dass Brunner, kritisch an Max Weber und Hermann Heller anknüpfend, „(d)en entscheidenden Beitrag zur Gewinnung eines histori‐ schen Staatsbegriffs“ geleistet habe. Ob es nach Auffassung von Ernst-Wolfgang Böckenförde, dessen verfassungsgeschichtliche Dissertation Brunner als Gutachter betreut hat, „zum gesicherten Bestand des wissenschaftlichen Bewußtseins (gehört), daß der Begriff des Staates kein Allgemeinbegriff ist, sondern ... aus spezifischen Voraussetzungen und Antrieben der europäischen Geschichte entstanden ist“, lässt sich jedoch, mit Anter, durchaus bezweifeln.98 Die anhaltende Diskussion über „Staatsverständnisse“ ist an dieser Stelle nicht weiterzuführen. Jedenfalls wird sie um eine Auseinandersetzung mit Brunners These der Historizität des Staates nicht herumkommen. Dies gilt für die Mediä‐ vistik ebenso wie für die neuere Geschichte, zumal mit Blick auf das Problem der postsouveränen Territorialität und die Herausforderungen globalgeschichtlicher Erweiterungen.99 Unergiebig bleibt die Diskussion, sofern sie politische Verbände über alle Epochen hinweg aprioristisch als „Staat“ bezeichnet. Demgegenüber hat Oliver Lepsius für die Rechtswissenschaft, aber epistemologisch verallgemeinernd, nachdrücklich darauf aufmerksam gemacht, „dass auch der Staat als Erkenntnisge‐ genstand wissenschaftlich erzeugt werden muß.“100 Diese problemwissenschaftliche Rückfrage gilt freilich auch für die These der Historizität des Staates, die hier auf ihre Zeitbedingtheit zu befragen war. Der zeitgebundenen Standortbindung eigener Forschung war Brunner sich dabei wohl bewusst: „Denn nichts wäre ja naiver als die Annahme, man stehe selbst über den Dingen und nur die anderen seien standortbedingt.“101

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Thomas Hertfelder „Das Reich ist kein Industriekonzern“. Zum Staatsbegriff bei Franz Schnabel

„Auch wenn die Diskussion geschlossen sein sollte und künftig nur noch diktiert wird im deutschen Vaterlande, so bleibt es doch die Pflicht der geistig führenden Schicht, so lange ihre Stimme zu erheben, wie dies noch möglich ist“. Mit diesem Weckruf eröffnete der an der Technischen Hochschule Karlsruhe lehrende Historiker Franz Schnabel einen Essay, der im Oktober 1932 etwa zeitgleich in der Zeitschrift „Hochland“ sowie im „Badischen Beobachter“ erschienen war.1 Kurz zuvor, am 20. Juli 1932, hatte Reichskanzler Franz von Papen, gestützt auf eine Notverordnung des Reichspräsidenten, die geschäftsführende preußische Regierung unter ihrem so‐ zialdemokratischen Ministerpräsidenten Otto Braun in einem staatsstreichartigen Vorgehen für abgesetzt erklärt, durch Reichskommissare ersetzt und überdies den militärischen Ausnahmezustand über Berlin und die Mark Brandenburg verhängt. In einer Rundfunkansprache hatte von Papen, der nun als Reichskanzler und preußi‐ scher Ministerpräsident in Personalunion agierte, sein Vorgehen damit begründet, dass die abgesetzte preußische Regierung nicht konsequent genug gegen kommunis‐ tischen Terror vorgegangen sei. Für viele Beobachter im demokratischen Lager stand dagegen fest, dass das Vorgehen der Reichsregierung einen offenen Verfas‐ sungsbruch bedeutete. Zwar erklärte der Staatsgerichtshof in Leipzig am 25. Okto‐ ber 1932 in einem aufsehenerregenden Urteil die Absetzung der preußischen Regie‐ rung nur mit erheblichen Einschränkungen für rechtens. Die neue kommissarische Regierung jedoch blieb unbeirrt im Amt und säuberte den öffentlichen Dienst von republiktreuen Beamten. Heutige Historiker sind sich darin einig, dass mit dem Staatsstreich vom 20. Juli 1932 der von langer Hand geplante Umbau der demokra‐ tischen Republik von Weimar zum autoritären Staat seinem Ziel einen wichtigen Schritt nähergekommen war.2 Schnabels Protest gegen den „Preußenschlag“ der Reichsregierung stützte sich auf drei Argumente. Zum einen bedeute die Gleichschaltung Preußens einen Verstoß gegen die Prinzipien des Rechtsstaats. Denn mit der Absetzung der geschäftsfüh‐ renden preußischen Regierung werde der schleichende Umbau des demokratischen Rechtsstaats zu einem autoritären Regime entscheidend vorangetrieben. Die miss‐ 1 Schnabel 1932/33, S. 1-12, hier S. 1. Vgl. auch Schnabel 1932. 2 Vgl. Winkler 1993, S. 494-520; Mommsen 1990, S. 449-461; Büttner 2008, S. 470-485; zur staatsrechtlichen Debatte s. Stolleis 1999, S. 120-124.

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bräuchliche Anwendung der Notverordnungen schaffe nämlich eine Rechtsfiktion, die unter Wahrung scheinbarer Legalität die Grundlagen der Verfassung aushöhle. Die Geschichte aber lehre, dass Notverordnungen noch immer „die Brücke gewesen sind, über die der Diktator in den Rechtsstaat einmarschiert ist.“3 Zum andern entkerne die Reichsregierung mit ihrem Vorgehen den historisch gewachsenen Föde‐ ralismus und arbeite auf eine „neudeutsche ‚Reichskultur‘“ hin, die an die Stelle der kulturellen Vielfalt die Uniformierung der Gesinnungen setze. „Wir sind der Überzeugung, daß die föderalistische Gestaltung des deutschen Staates der Natur und der Geschichte unseres deutschen Vaterlandes entspricht und daß nur die Eigen‐ staatlichkeit der Länder das deutsche Leben vor wirtschaftlicher und geistiger Ver‐ ödung schützen wird.“4 Denn die Freiheit sei in Deutschland ganz besonders auf die Vielfalt der Kulturzentren angewiesen. Drittens spreche, so Schnabel, aus der Politik der Zentralisierung, etwa der Beseitigung der Finanzhoheit der Länder im Zeichen der Wirtschaftskrise, ein neudeutscher Geist der Gewaltsamkeit, der im Staat unter Berufung auf Effizienzgesichtspunkte nur noch einen „wohlrationalisierten Betrieb“ sehen wolle. Aber „das Reich ist nun einmal kein Industriekonzern; der Zweck der staatlichen Verwaltung ist ganz und gar nicht, mit dem geringsten Aufwand an Spesen den höchstmöglichen Gewinn herauszuziehen – der Zweck der staatlichen Verwaltung ist, beizutragen zur Erfüllung der menschlichen Bestimmung.“5 Dieser normative Blick, der sich am Zweck des Staates orientiert, ist charakteristisch für Schnabel; er unterscheidet sich z.B. deutlich von der analytisch-typologischen Me‐ thode des Berliner Verfassungshistorikers Otto Hintze, der in den 1920er Jahren wiederholt – und mit ganz anderer Zielrichtung als Schnabel – auf die zunehmende „Ähnlichkeit des Staates mit einer wirtschaftlichen Unternehmung“ hingewiesen hatte.6 Schnabels Aufsatz, der in der Presse einige Aufmerksamkeit erregte, steht in einem breiteren politischen Zusammenhang. Denn schon seit der Gründung der Wei‐ marer Republik 1919 kreiste die politische Diskussion immer wieder um die Frage des Verhältnisses zwischen dem Reich und den Ländern, von denen allein Preußen 60 Prozent des Reichsgebiets und zwei Drittel der Bevölkerung umfasste. Der „Dua‐ lismus“ zwischen dem Reich und Preußen war dabei ebenso ein Gegenstand ständi‐ ger Kritik wie die vielfach beklagte Ineffizienz des Föderalismus. Unter dem Druck der Weltwirtschaftskrise und überschuldeter Staatshaushalte nahm diese Debatte um eine umfassende „Reichsreform“ wieder an Fahrt auf, bis die Regierung Papen im Juli 1932 mit ihrem Staatsstreich Fakten schuf. In seinem Essay stellt Schnabel das Vorgehen der Reichsregierung in einen Zusammenhang mit früheren Plänen einer 3 4 5 6

Schnabel 1932/33, S. 3. Ebd., S. 8. Ebd., S. 6. Hintze 1927/1964; vgl. hierzu auch Neugebauer 2015, S. 534-559 zu Hintzes Staatsbegriff. Zu Otto Hintze vgl. auch den Beitrag von Ewald Grothe in diesem Band.

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„Reichsreform“, bei denen er „Projektemacher“ und „Literaten“ am Werk sah.7 Da‐ mit stand der Karlsruher Historiker in der damaligen Geschichtswissenschaft nicht nur wegen seiner republikfreundlichen Grundhaltung weitgehend alleine. Denn in der Frage der horizontalen Gliederung des Staates vertrat die Mehrheit seiner Fach‐ kollegen – wie z.B. Wilhelm Mommsen – eine unitarische Haltung oder zumindest – wie etwa Friedrich Meinecke – die Idee des „dezentralisierten Einheitsstaates“, in dem eine starke Zentralgewalt die Aufsicht führt über dezentralisierte Organe der Selbstverwaltung, also etwa über Departements, Provinzen oder Kommunen.8 Wohl auch auf Grund eines stillschweigenden Einverständnisses nahmen zum „Preußen‐ schlag“ der Regierung Papen generell nur wenige Historiker Stellung. Was Schnabel vor vielen seiner Kollegen auszeichnete, war seine vorbehaltlose Unterstützung der demokratischen Republik von Weimar, die auch in seine For‐ schung einfloss. Obwohl er alles andere war als ein politischer Professor – sein poli‐ tischer Protest im „Hochland“ bildete in seinem umfangreichen wissenschaftlichen Werk eine singuläre Ausnahme –, bekannte sich Schnabel in öffentlichen Festan‐ sprachen immer wieder ausdrücklich zur Weimarer Republik. „Über alle Gegensätze der Stände hinweg“, so Schnabel in seiner Rede zur Neujahrsfeier der badischen Staatsregierung am 1. Januar 1929, „fand sich das Volk zusammen im Willen zum Staate, indem es die neue Verfassung auf die Grundlage der Volkssouveränität stell‐ te“.9 In dieser Ansprache bekannte sich Schnabel mit Nachdruck zu den Resultaten der Revolution von 1918/19, insbesondere zur Konzentration der politischen Wil‐ lensbildung beim Deutschen Reichstag, weil nur so dem Prinzip der Volkssouveräni‐ tät Geltung verschafft werden könne. Zugleich aber sah er in den Ländern „ein Ele‐ ment der Freiheit“ und der „freien Konkurrenz“, die Voraussetzung sei für ein freies, nicht staatlich gelenktes Kulturleben.10 Ein freier, nicht von staatlichen Imperativen geleiteter „Geist“ – heute würde man von Diskursen sprechen – als Widerlager und kritisches Korrektiv gegen die Machtansprüche der Staatsräson – dieser Topos durchzieht Schnabels Reflexionen über den Staat wie ein roter Faden und trug ihm das nicht immer treffende Etikett eines Liberalen ein.11 Wer war dieser Mann?

7 8

Ebd., S. 1. Vgl. noch immer Faulenbach 1980, S. 277-279. Zu Friedrich Meinecke vgl. den Beitrag von Klaus Ries in diesem Band. 9 Schnabel 1929a/1970, S. 98. 10 Ebd., S. 100. 11 Z.B. bei Schönwalder 1992, S. 305, oder im Vorspann zur Neuausgabe seiner Deutschen Ge‐ schichte im 19. Jahrhundert, Bd. 1: Die Grundlagen, München 1987, S. 1. Zu liberalen Posi‐ tionen im intellektuellen Feld zwischen den Kriegen vgl. die vorzügliche Studie von Hacke 2018.

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1. Der Historiker und sein Werk Franz Schnabel, 1887 in Mannheim geboren, gehörte zu den produktivsten und originellsten Historikern der Weimarer Republik. Er hatte in Heidelberg und Berlin studiert und 1910 bei Hermann Oncken in Heidelberg mit einer Studie über den politischen Katholizismus in der Revolution von 1848/49 promoviert. Bis zu seiner Einberufung an die Westfront 1915 arbeitete Schnabel als Gymnasiallehrer in Mann‐ heim und Karlsruhe. 1920 habilitierte er sich in Karlsruhe mit einer Arbeit über die „Geschichte der Ministerverantwortlichkeit in Baden“, die ihm 1922 den Ruf auf den Lehrstuhl für Geschichte der Technischen Hochschule Karlsruhe eintrug.12 Von 1924 bis 1927 bestellte die badische Staatsregierung Schnabel im Nebenamt zum Leiter des Generallandesarchivs Karlsruhe. 1936 wurde der Historiker im Zuge der vom NS-Regime betriebenen Neuorganisation der Technischen Hochschulen zwangsentpflichtet;13 die Quellen zeigen, dass dabei Schnabels politische Haltung eine entscheidende Rolle spielte. Schnabel gehörte damit zu den elf Ordinarien für Geschichte, die zwischen 1933 und 1945 ihre Professur nicht aus „rassischen“, sondern aus vorwiegend politischen Gründen verloren hatten.14 Die folgenden Jahre verbrachte Schnabel als Privatgelehrter in Heidelberg, bis er nach Kriegsende zum „Landesdirektor für Unterricht und Kultus“ im amerikanisch besetzten Nordbaden bestellt und 1947 schließlich auf den Lehrstuhl für neuere Geschichte an der Univer‐ sität München berufen wurde. Dort lehrte er bis zu seiner Emeritierung im Jahr 1962; 1966 verstarb Schnabel im Alter von 78 Jahren in München. Zu seinen Schü‐ lern der Münchner Jahre zählen prominente Wissenschaftler und Intellektuelle der Bundesrepublik wie Ernst-Wolfgang Böckenförde, Lothar Gall oder Mario Rainer Lepsius. Auf seiner Karlsruher Professur hingegen blieb der Katholik Schnabel in der Historikerzunft seiner Zeit ein Außenseiter. Dies lag zum Teil an seiner besonderen Situation als Historiker an einer Technischen Hochschule, die ihm kaum fachlichen Austausch und zudem keine Gelegenheit bot, einen Kreis von Schülern auszubilden. Außerdem wirkte die systematische Ausgrenzung, der katholische Historiker in der nationalprotestantisch dominierten Geschichtswissenschaft des Kaiserreichs ausge‐ setzt waren, noch in der Weimarer Republik nach. Als wenig karrierefördernd erwies sich schließlich sein Bekenntnis zur demokratischen Ordnung von Weimar; so wuss‐ ten nationalkonservative Historiker wie Gerhard Ritter die Berufung Schnabels auf einen Lehrstuhl an einer Universität ein ums andere Mal zu verhindern.15

12 Vgl. Hertfelder 1998, S. 326-331. 13 Vgl. Hertfelder 1998, S. 669-678. 14 Vgl. Hertfelder 1998, S. 650, sowie Schönwälder 1992, S. 68-74, bes. S. 72. Zu Schnabels Ver‐ halten unter der NS-Diktatur s. unten S. 268 sowie Hertfelder 1998, S. 650-669. 15 Vgl. Hertfelder 1998, S. 615-649.

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Schnabels historiographisches Werk aus der Zeit zwischen 1919 und 1937 um‐ fasst 13 größere Monographien, darunter Biographien des badischen Kammerlibera‐ len Ludwig von Liebenstein, des Reformministers Sigismund von Reitzenstein und des preußischen Reformers Karl Freiherr vom Stein, dazu ein vielfach aufgelegtes Schulbuch, ein populäres Kompendium zum 19. Jahrhundert sowie eine umfassende Quellenkunde zur frühen Neuzeit16 – als eine „solitäre“ Erscheinung überrasche Schnabel wie ein „Vulkan“ seine Kollegen mit immer neuen, großen Publikationen, stellte sein Doktorvater Hermann Oncken im Sommer 1931 staunend fest.17 Zu diesem Zeitpunkt war bereits der mehr als 600 Seiten umfassende erste Band von Schnabels Deutscher Geschichte im 19. Jahrhundert erschienen, drei weitere ge‐ wichtige Bände sollten bis 1937 folgen.18 Im Vorwort zum ersten Band legte Schna‐ bel die Messlatte für sein Hauptwerk denkbar hoch: Mit seiner Deutschen Geschich‐ te wolle er das fünfzig Jahre zuvor erschienene Werk Heinrich von Treitschkes ablösen, dabei die „gegenwärtige Lage der europäischen Kultur und im besonderen des deutschen Volkes historisch […] deuten“, die „innige Verflochtenheit aller Le‐ bensgebiete […] untersuchen“, „um so in großen Zügen eine Biographie des europä‐ ischen und des deutschen Menschen zu geben“.19 Dieses für die Zwischenkriegszeit einzigartige historische Werk zeichnete sich nicht zuletzt dadurch aus, dass die Spannweite der Darstellung neben der politischen Geschichte auch die Geistes- und Ideengeschichte, die Geschichte von Wissenschaft und Technik, die der religiösen Bewegungen sowie in Ansätzen auch wirtschafts- und alltagsgeschichtliche Aspekte umfasste. Angesichts dieser Anlage des Werks überrascht es nicht, dass Schnabel am Ende nicht nur an den politischen Umständen und der Zensur des NS-Regimes scheiterte, sondern auch an seinem eigenen, breit angelegten Ansatz – in der Chronologie kam Schnabel kaum über das Jahr 1830 hinaus. Dafür liefert Schnabels „Deutsche Geschichte“ eine problemorientierte Genese der modernen Welt in kulturkritischer Absicht, für die die Frage des chronologischen Fortgangs ohnehin von nachrangiger Bedeutung war. Seiner Darstellung liegt die These zu Grunde, dass die moderne Kultur von Descartes über Kant bis zu Hegel von einer „autonomistischen“ Tendenz bestimmt sei: „Die Einheit der abendländischen Welt brach auseinander“, das „Ideal des autonomen Lebens“ sollte „Europa zerreißen.“20 Dabei geht es Schnabel um Themen wie die Selbstermächtigung des modernen Subjekts, die Herausbildung 16 Vgl. die Ziffern 4-22 in der Bibliographie der Schriften Schnabels in Hertfelder 1998, S. 755-757. 17 Hermann Oncken an Gerhard Ritter, 10.6.1931, Nachlass Gerhard Ritter Nr. 127, BArch Nl 166. 18 Schnabel 1929b; Schnabel 1933; Schnabel 1934; Schnabel 1937. Das Erscheinen eines im Manuskript bereits abgeschlossenen fünften Bandes hatten die NS-Zensurorgane verhindert, vgl. Hertfelder 1998, Kap. X. 19 Schnabel 1929b, S. V. Zu Treitschke vgl. den **Beitrag von Thomas Gerhards in diesem Band. 20 Schnabel 1929b, S. 188.

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eines neuen Relativismus, das Zerbrechen europäischer Einheitsprojektionen im Na‐ men eines neuen Nationalismus, aber auch, in heutiger Terminologie, um die Ver‐ selbständigung der Funktionssysteme („Lebensgebiete“), die sich zunehmend aus ganzheitlichen Sinndeutungen herauslösten und ihren je eigenen politischen, ökono‐ mischen, religiösen oder ethischen Logiken folgten.21 Schnabel liest diesen Prozess zwar auch als eine Geschichte des Zugewinns an Freiheit einerseits, der aber ande‐ rerseits und vor allem in Gestalt der „Kulturkrisis“ einen hohen Preis fordert und zu‐ dem Gegenbewegungen auslöst. So schreibt er im Blick auf Rousseau: „Im Namen der menschlichen Autonomie war der Rationalismus vorgedrungen, aber er hatte selbst wieder im Hinblick auf vollendetes Menschentum eine ‚Heteronomie‘ bedeu‐ tet; so war eine Sehnsucht nach dem ‚Menschen‘ entstanden – mitten in einer Welt der rationalen Demonstration, des mattherzigen Nützlichkeitssinns, der unproblema‐ tischen und unsinnlichen Aufklärer. Rousseau hatte – ein neuer Diogenes mit der Laterne – dieser Stimmung Worte geliehen […] und […] dauernd das Bewußtsein gestärkt, daß die moderne Kultur den Menschen in seiner Totalität zertrümmert, ihn zu einem jammervollen Bruchstück gemacht habe.“22 In Schnabels „Deutscher Ge‐ schichte“ finden sich zahlreiche solcher Beobachtungen, die im Fortgang des Wer‐ kes auf eine zunehmend pessimistisch gestimmte Gewinn- und Verlustrechnung der Moderne hinauslaufen.23

2. Zur historischen Genese des neuzeitlichen Staates in Europa Zu den „Grundlagen“ der Geschichte des 19. Jahrhunderts, die Schnabel in einem grandiosen Wurf im ersten Band seiner „Deutschen Geschichte“ 1929 herausarbei‐ tet, gehört neben der Freisetzung des Individuums aus ständischen Strukturen und traditionalen Sinnbezügen in zentraler, erkenntnisleitender Weise auch die Heraus‐ bildung des modernen Staates. Immer wieder kommt Schnabel ausführlich auf die Genese und Begründung des modernen Leviathan zu sprechen – ein Thema, das gerade in der Weimarer Republik, als der Staat theoretisch und praktisch wie nie zuvor in Frage gestellt wurde, die Intellektuellendiskurse bewegte.24 Zunächst fällt auf, dass Schnabel bei seinem Abriss zur Genese des neuzeitlichen Staates in Europa bereits beim Hochmittelalter einsetzt. Nach dem Investiturstreit habe der Zerfall universaler Strukturen und Ideen in Frankreich und Italien eine neuartige Konzentration von Ressourcen auf begrenztem Raum ermöglicht. Der „Begrenztheit in Raum und Zwecken“ habe ein neues Prinzip von Souveränität 21 22 23 24

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Vgl. Schnabel 1934, S. 436f. Dazu auch Fulda 2010, S. 81. Schnabel 1929b, S. 212. Vgl. hierzu ausführlich Hertfelder 1998,S. 453-613. Vgl. Faulenbach 1980; Hacke 2018. Demgegenüber war „der Staat“ für die Zeithistoriker der Bundesrepublik weit weniger ein Thema expliziter Befassung, vgl. hierzu Metzler 2018.

entsprochen, das auf die Wahrnehmung „universaler Aufgaben“ verzichtete und stattdessen eine „Vielfalt der Gebilde“ ermöglichte, die in Konkurrenz zueinander die Umrisse einer neuen Staatlichkeit entwickelten.25 Diese Umrisse erkennt Schna‐ bel zuerst im aufblühenden Städtewesen Oberitaliens, die den maritimen Handel für sich zu nutzen wussten und eine Schicht unternehmerischer Patrizier hervorbrachten. Anders als die sich ausbildenden Territorialstaaten habe die Stadt als autonome Rechtsgemeinschaft den städtischen Adel zu urbaner Lebensweise förmlich gezwun‐ gen und politische Führungspersönlichkeiten hervorgebracht, „die im Streben nach Macht und Erwerb alle Schranken der Gesinnung durchbrachen“; nie sei es dem Feudalismus gelungen, sich im Innern der Städte einzunisten, die sich Beamte und Söldner leisteten. Die italienische Stadt habe somit „den modernen Staatsgedanken zuerst verwirklicht, indem sie alle Spuren des Lehenswesens ausschied, eine korpo‐ rative politische Gemeinde entwickelte und durch Vereinigung aller Gewalt in den Händen des Rates oder des Tyrannen dem Leiden der Polis ein Ende bereitete.“26 Die Stadt der Renaissance als Prototyp moderner Staatlichkeit – mit dieser These bewegte sich Schnabel natürlich auf den Spuren Jacob Burckhardts.27 Für Schnabel galt sie zeitversetzt auch für Deutschland, wo nach dem Ende der Stauferherrschaft Marktverkehr, Handel, Geldwirtschaft, Zunftwesen und persönliche Freiheit von Lehensbindungen den „wunderbaren Aufschwung des deutschen Städtewesens“ er‐ möglichten und als Modelle fungierten bei der Herausbildung des modernen Staates: „Der moderne Staat ist in Deutschland zuerst in den Städten geboren worden“.28 Schnabels paradigmatisches Sozialmodell bleibt in vielerlei Hinsicht die bürgerli‐ che Stadt mit ihren spezifischen Handels-, Wirtschafts- und Rechtsformen sowie den städtischen Praktiken der Selbstverwaltung. In seiner Wertschätzung der europä‐ ischen Stadt als Modell und Keimzelle des Staates weiß er sich einig mit Hugo Preuß, dem liberalen Vordenker der Weimarer Reichsverfassung und Vertreter der demokratischen Genossenschaftstheorie.29 Seiner These vom Modellcharakter der Stadt verleiht Schnabel eine besondere Nuance, indem er nicht nur Forscher seiner Zeit, sondern auch Thomas von Aquin als Autorität aufruft. Der mittelalterliche Großtheologe hatte in seinem Kommentar zur „Politik“ des Aristoteles die Stadt des Mittelalters als „inter omnes communita‐

Schnabel 1929b, S. 46. Alle Zitate Schnabel 1929b, S. 34. Burckhardt 1860, Kapitel 1: „Der Staat als Kunstwerk“. Schnabel 1929b, S. 84, S. 52: „Wir erwähnten bereits, wie der moderne Fürstenstaat in vielen Dingen nur einfach die Einrichtungen der mittelalterlichen Stadt zu übernehmen und zu erwei‐ tern brauchte.“ 29 Vgl. Schnabel 1929b, S. 581, dort der Verweis auf Preuß 1927. Zu Preuß vgl. Dreyer 2018; Lehnert 1998. 25 26 27 28

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tes humanas [….] perfectissima“ bezeichnet,30 ein Begriff, den Schnabel paraphra‐ sierend als „societas perfecta“ aufgreift, um fortzufahren: In den Zünften und Gilden der mittelalterlichen Stadt „war der wirtschaftliche Kampf ums Dasein auf weite Strecken durch Solidarität und Gemeinschaft tatsächlich stillgelegt, der Einzelne gesichert und gebunden, sein Erwerb aber nach seiner Arbeitsleistung bemessen und zugleich beschränkt“. Dabei lässt Schnabel keinen Zweifel aufkommen, dass für ihn das thomistische Ideal weitgehend der Realität des mittelalterlichen Stadtlebens ent‐ sprochen hat.31 Schon Ernst Troeltsch, führender Kopf der liberal-protestantischen Theologie nach 1900, hatte auf den besonderen Status der Stadt in der politischen Philosophie Thomas von Aquins hingewiesen und bemerkt, dass dessen Soziallehre „in keiner Weise feudal“, sondern „bürgerlich im Sinne der agrarisch-gewerblichen Stadt“ gewesen sei.32 Für Schnabel, der in seinem Werk mehrfach auf Thomas zurückkommt, ist die zitierte Passage jedenfalls deshalb so aufschlussreich, weil dem Karlsruher Histori‐ ker im Rahmen seiner „Deutschen Geschichte“ das europäische Mittelalters weit mehr bedeutet als nur eine überwundene Epoche. In seiner Deutung der Moderne fungiert das Mittelalter nämlich als eine umfassende Ressource von Traditionen und Modellen sozialer Ordnung, die unterhalb der säkularen Prozesse der Rationa‐ lisierung, Individualisierung und Autonomisierung fortwirkten und ab dem späten 18. Jahrhundert nach einer Periode fast vollständiger Amnesie wieder zur Geltung gekommen sind. In Schnabels Sicht verdankte sich die liberale und demokratische Transformation des absolutistischen Staates in der Französischen Revolution nicht nur der hinreichend bekannten Rezeption der römischen Antike, sondern eben auch den Impulsen des mittelalterlichen „Erbes“: „Es war der tragende Gedanke der Men‐ schen- und Bürgerrechte, daß der Staat sich sittlichen Zielen unterordnen müsse, wie dies einst im Mittelalter der Fall war.“33 Auch in der Einführung einer Volksgerichts‐ barkeit während der Revolution sieht Schnabel eine mittelalterliche Institution wie‐ der aufleben; den Begriff der „Gewaltenteilung“ als eines mittelalterlichen Prinzips setzt Schnabel zwar in Anführungszeichen,34 doch auch hier gilt: Überformt von der Idee der sozialen „Ordo“ setzte das Mittelalter Maßstäbe, die unter den Bedingungen der Moderne in gänzlich neuer Form wieder aufgegriffen und aktualisiert wurden. Analog argumentiert der Historiker für das 19. Jahrhundert: Dort, wo der das 19. Jahrhundert beherrschende Geist „Bindungen im gesellschaftlichen und staatlichen Dasein, im Denken oder im Handeln anerkannte, lebte er vom Erbe des Mittelalters 30 Vgl. von Aquin 2015, S. 46. Schnabels Thomas-Bezug wirft eine Reihe philologischer und in‐ terpretatorischer Probleme auf, die hier nicht dargestellt werden können. Vgl. etwa Stengel 2011, S. 130f. 31 Schnabel 1929b, S. 18 (Zit.), 10, 310. 32 Troeltsch 1922 (11912), S. 345f. 33 Schnabel 1929b, S. 121. 34 Schnabel 1933, S. 133.

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und hielt es fest […].“35 Wie noch zu zeigen ist, sollte eine verallgemeinerte Fassung dieser Denkfigur in der Staatsrechtslehre der Bonner Republik noch eine Rolle spielen. In seiner Deutung des Mittelalters ruft Schnabel alle einschlägigen Topoi auf. Ihm steht das Mittelalter für universale Ordnung und die „Einheit der abendländischen Welt“, für metaphysischen Geist und eine internationale Elite, für die „Vereinigung von Freiheit und Bindung auf allen Gebieten des Lebens“, die „Einheit von Weltord‐ nung und Sittengesetz“ und sogar für die Befriedigung der verschiedenen Seiten des menschlichen Bewusstseins.36 Schnabels Wertschätzung des Mittelalters erklärt, warum seine Deutsche Geschichte des 19. Jahrhunderts nicht – wie das Vorgänger‐ werk Heinrich von Treitschkes – beim Westfälischen Frieden von 1648 einsetzt, sondern deutlich früher; sie erklärt auch, warum Schnabel bis heute als „katholischer Historiker“ gelesen wird. Schnabels Mittelalterbild entspringt zweifelsohne einer idealisierenden Rückpro‐ jektion aus der Erfahrung der Krise der klassischen Moderne, und sie ist im Kon‐ text jener generellen Aufwertung zu lesen, die das Mittelalter in soziologischen Diskursen der Weimarer Zeit – etwa im Umfeld des Philosophen Max Scheler – erfahren hat.37 So erklärte der Philosoph Paul Ludwig Landsberg 1922 das Mittelal‐ ter zur „verwirklichbare(n) Maßgestalt“, während er der Neuzeit ein „Gepräge der Negativität“ attestierte und daraus die Forderung nach dem „Tod der neuzeitlichen europäischen Gesellschaft“ ableitete.38 Soweit wollte Schnabel nicht gehen. Bei aller Liebe zu jener fernen Ära stand für ihn die grundsätzliche Legitimität der Neuzeit nicht in Frage. Diese lief bei ihm indessen nicht auf die Selbstbehauptung des Subjekts gegen theologische Absolutheitsansprüche hinaus,39 sondern er verstand sie vor allem als ein Produkt von Säkularisierungsprozessen.40 Damit stand er wie‐ derum in einem ebenso breiten wie einflussreichten Deutungszusammenhang, der in Deutschland von prominenten Denkern und Zeitgenossen wie Max Weber, Carl Schmitt und Karl Löwith unterschiedlich ausbuchstabiert wurde.41 Der gestuften, im „self government“ geteilten staatlichen Herrschaft in England stellt Schnabel den auf das neuartige Prinzip der Souveränität gegründeten konti‐ nentalen Staat gegenüber, den er prototypisch im Frankreich des 17. und 18. Jahr‐ hunderts verwirklicht sieht. Die in der „volontee genérale“ gipfelnde demokratische Vision eines Rousseau setzte die Souveränität des absolutistischen Staates voraus

35 Schnabel 1929b, S. 20. 36 ebd. S. 6-20, hier S. 6, 13, 9. 37 Vgl. Landsberg 1925; Honigsheim 1924, S. 308-322; Schmalenbach 1906. Vgl. hierzu Oexle 1992, S. 125-153. 38 Zit. n. Oexle 1992, S. 128f. 39 Vgl. dazu die klassische Studie von Blumenberg 1966. 40 Schnabel 1929b, S. 31f. 41 Vgl. beispielhaft: Weber 1920; Schmitt 1922; Löwith 1953.

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und war diesem insofern wesensverwandt. „Ob die nivellierte Gesellschaft aus Untertanen bestand oder aus Staatsbürgern, war letzten Endes ein Unterschied in der Form, nicht in der Sache“, behauptet Schnabel apodiktisch unter Berufung auf Thomas Hobbes und den Grafen Mirabeau. Dabei war Schnabel der kategoriale Un‐ terschied zwischen Untertanen und Staatsbürgern selbstverständlich bewusst. Seine Zuspitzung benötigte er indessen, um den modernen Staat als „monistischen“, d.h. als ausschließlich vom Prinzip der Souveränität her gedachten Herrschaftsverband zu kennzeichnen. „Es ist der wichtigste Inhalt der Staatengeschichte in den neueren Jahrhunderten, wie allmählich der Begriff des Staates sich löste von Person und Dynastie des Monarchen und der Staat selbst zum ‚Souverän‘ wurde“, so fasste Schnabel den neuzeitlichen Staatsdiskurs knapp zusammen.42 Die cartesianische Selbstermächtigung der Vernunft, die der Historiker gestützt auf die Marburger Dissertation von Ernst Cassirer ausführlich entwickelt, bildet für Schnabel die entscheidende ideengeschichtliche Scharnierstelle für den Prozess der „Rationalisierung der Lebensordnungen“.43 Durch die „Rückführung aller Qua‐ litäten auf quantitative Bestimmungen“ habe Descartes die „Gesetzmäßigkeit aller Lebenserscheinungen in den strengen Formen von Maß, Zahl und Bewegung“ fest‐ zustellen versucht. „Eine neue Welt schien sich zu enthüllen, autonom, ohne Wunder und Willkür, ohne Zweck und Absicht, in ihren kreisenden Bahnen rein in sich selber ruhend und sich selbst erhaltend. So ist die moderne Kultur autonomistisch und zugleich intellektualistisch geworden“.44 Das Zitat deutet an, wie bei Schna‐ bel die Entwicklung zeitgenössischer Theorie die realen Veränderungen gleichsam prototypisch vorwegnahm bis hin zur Französischen Revolution, die er erneut im Licht des cartesianischen Rationalismus deutet.45 Dem Individualismus, der die eu‐ ropäische Kultur „in Atome zu zerstäuben drohte“, bot der Rationalismus immerhin ein Widerlager, da er „die Begründung und Festhaltung absoluter Vernunftideale ermöglichte und so der autonomen Persönlichkeit doch noch Schranken setzte.“46 Keineswegs also kann mit Schnabel der Prozess der heraufziehenden Moderne als reine Verfallsgeschichte gelesen werden; gerade der Rationalismus, der die Über‐ windung überkommener Ordnungen vorantrieb, kannte am Ende seine eigenen, nicht verhandelbaren Maßstäbe. Der Intellektualisierung als weiterem säkularen Basisprozess begegnet Schnabel mit großer Reserve. Zahllos sind seine Seitenhiebe gegen die von der praktischen Staatskunst entfremdeten „Literaten“, die bar jeder Erfahrung in Beruf und Politik und ohne normativen Kompass sich wahlweise in gefährlichen Deduktionen oder schweifendem Subjektivismus ergehen; als Beispiel nennt Schnabel den „extremen 42 43 44 45 46

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Alle Zitate Schnabel 1929b, S. 44. Ebd., S. 29. Ebd., S. 25f. Ebd., S. 30. Ebd., S. 27.

Nationalismus“ eines Heinrich von Kleist.47 Ambivalent bewertet Schnabel schließ‐ lich die Herauslösung der Menschen aus überkommenen Abhängigkeiten und Bin‐ dungen, die einerseits neue Freiheiten ermöglichte und schöpferische Ressourcen freisetzte, andererseits aber die Individuen „isoliert, gleichartig und ohnmächtig unter die staatliche Allmacht“ stellten.48 Im Zuge seiner historischen Rekonstruktion des modernen Staates lenkt Schnabel immer wieder die Perspektive auf seine Gegenwart, das Zeitalter der Extreme. Sowohl das absolute Fürstentum als auch seine Gegner in Gestalt der revolutionä‐ ren Jakobiner hätten sich, so Schnabel, der Übertragung naturwissenschaftlicher Denkweisen und Methoden auf das staatliche Leben bedient, bis der russische Bolschewismus aus diesem Modell die letzten Konsequenzen gezogen und auf „völlig planiertem Boden“ eine „Welt ohne Gott, ohne selbständiges Geistes- und Seelenleben, ohne die individuellen Unterschiede“ geschaffen habe. Im System des Bolschewismus nämlich sei jenes andere Produkt der neuzeitlichen Entwicklung, die individuelle, schöpferische Persönlichkeit durch die „Organisation des kollektiven Menschen“ vollkommen vernichtet worden. Auch in diesem Prozess haben sich – Schnabel zufolge – die Wissenschaften zunehmend als treibende Kraft erwiesen, an die sich „grenzenlose Erwartungen“ richteten, bis am Ende „nichts […] mehr auf un‐ wissenschaftlichem Wege geschehen“ durfte.49 Die These von der „Verwissenschaft‐ lichung des Sozialen“ (Lutz Raphael) findet sich bei Schnabel bereits angedeutet. Schnabel skizziert die Genese des modernen Staates also im Licht jener Basispro‐ zesse von Rationalisierung, Säkularisierung, Intellektualisierung und Individualisie‐ rung, die seit der Jahrhundertwende um 1900 die kulturwissenschaftlichen Diskurse bestimmten. Im Sinne jener von Max Weber50 kanonisch formulierten Diagnose bestimmte für Schnabel die umfassende Rationalisierung und Intellektualisierung der Welt die Signatur der Moderne, mehr noch: Sie sollten sich am Ende als die praktischen Triebkräfte radikaler Umwälzungen erweisen.

3. Mit und gegen Carl Schmitt: Liberalismus, Parlamentarismus und Demokratie Das „Urteil, das die zeitgenössische Geschichtsschreibung und die politische Ideolo‐ gie von heute über den Parlamentarismus fällt“, sei „kein günstiges“, lesen wir 1925 bei Hans Kelsen, dem bedeutendsten liberalen Demokratietheoretiker der Weimarer Republik.51 Schnabels Habilitationsarbeit von 1922 kannte der Verfassungsjurist 47 48 49 50 51

Ebd., S. 314. Ebd., S. 48. Ebd., S. 59. Zu Max Weber vgl. den **Beitrag von Peter Ghosh in diesem Band. Kelsen 1929, S. 26. Zu Kelsen vgl. auch Hacke 2018, S. 218-232; Stolleis 1999, S. 166-171, 175-179, 182-185.

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wohl nicht, und der zweite Band der „Deutschen Geschichte“, in dem sich Schnabel ausführlich mit den historischen Grundlagen des Parlamentarismus auseinandersetz‐ te, erschien erst im Spätsommer 1933. Zu diesem Zeitpunkt befand sich Kelsen bereits auf dem Weg über Genf in die Emigration. In seiner 1922 veröffentlichten Habilitationsarbeit bleibt Schnabel nicht bei einem Hinweis auf die zeithistorische Aktualität seines Themas – in der Weimarer Verfassung wie auch in den Verfassungen der Länder war 1919 das parlamentari‐ sche Prinzip festgeschrieben worden – stehen. Ohne Umschweife bekennt sich der Karlsruher Historiker vielmehr zum Prinzip der politischen Verantwortlichkeit der Minister gegenüber dem Parlament, „weil ohne Ministerverantwortlichkeit eine Ver‐ fassung unvollständig“, ja sogar „undenkbar ist.“52 In seiner Studie zeichnet er den windungsreichen Weg, den das Großherzogtum Baden seit der ersten, 1818 gewähr‐ ten Verfassung bis hin zur Anerkennung einer juristischen Verantwortlichkeit der Minister durch die Verfassungsrevision des Jahres 1868 genommen hat; Baden, in vieler Hinsicht ein Modellfall,53 sei damit den anderen deutschen Staaten wie auch dem späteren Kaiserreich in Sachen Parlamentarisierung weit voraus gewesen. Zu‐ gleich hebt Schnabel hervor, dass die Ministerverantwortlichkeit, etwa in Gestalt der Gegenzeichnung königlicher Erlasse durch den verantwortlichen Minister, als ein genuin westeuropäisches Verfassungsprinzip zu gelten habe. An diesem Umstand findet Schnabel, anders als viele seiner konservativen Kollegen, die der Institution des Parlaments ohnehin wenig abzugewinnen vermochten, nicht das Geringste zu beanstanden.54 Während Schnabel in den Jahren 1929 bis 1933 am zweiten Band seiner Deut‐ schen Geschichte unter dem Titel „Monarchie und Volkssouveränität“ arbeitete, war der Deutsche Reichstag, begleitet von heftiger antiparlamentarischer Publizistik, im Zuge der Notverordnungspolitik der Kabinette Brüning, Papen und Schleicher als parlamentarisches Repräsentativorgan nach und nach ausgeschaltet worden. Diese Politik hatte Schnabel bereits im eingangs erwähnten Aufsatz über die „Neudeutsche Reichsreform“ kritisiert. Aber auch im zweiten Band seiner Deutschen Geschich‐ te fanden die Vorgänge im Reich und die sie begleitenden wissenschaftlichen De‐ batten ihren beständigen Widerhall, und zwar bei der Behandlung der Prinzipien parlamentarischer Repräsentation im Rahmen der Konstitutionellen Monarchie des frühen 19. Jahrhundert. Überraschend scharf wendet sich Schnabel gegen die von prominenten Historikern wie Otto Hintze vertretene Auffassung, die Konstitutionelle Monarchie sei eine eigenständige, zudem typisch preußisch-deutsche Staatsform, die neben den westeuropäischen parlamentarischen Systemen auf Dauer Bestand habe.55 52 53 54 55

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Schnabel 1922, S. 2. Vgl. auch Schnabel 1933, z.B. S. 145, 154 passim. Schnabel 1926, S. 10f. Hintze 1911/1962, S. 359-389. Zu Hintze vgl. Neugebauer 2015.

Schnabel kontert, die Konstitutionelle Monarchie sei nicht historisch gewachsen, sondern eine „kunstvolle Mischung aristokratischer und demokratischer Elemente“ und damit eine „Übergangserscheinung“;56 vor allem aber sei sie nicht spezifisch deutsch. Ähnlich hatte der Staatsrechtler Carl Schmitt in seiner 1928 erschienen „Verfassungslehre“ argumentiert, und Ernst-Wolfgang Böckenförde sollte 1967 die These erneut im Sinne Schnabels aufgreifen.57 Trotz seiner Hochachtung für das europäische Mittelalter weiß Schnabel um die wissenschaftliche Entzauberung der Magna Charta als Gründungsdokument moder‐ ner Parlamente. Diese nämlich gründen für Schnabel nicht in den ständischen Ver‐ sammlungen der früheren Neuzeit, sondern in den subjektiven öffentlichen Rechten, wie sie Immanuel Kant begründet hatte: „Die Freiheit – so hatte Kant definiert – ist die ‚Befugnis, keinem andern Gesetze zu gehorchen, als dem, zu dem ich meine Beistimmung gegeben habe.‘“58 Moderne Parlamente sind also ein Produkt der Auf‐ klärung. Schnabel sieht im Parlament zunächst ein Gebot der Zweckmäßigkeit, ein technisches Instrument zur Ermittlung des Volkswillens in Flächenstaaten. Kelsen sah dies ähnlich und hatte auf das „unverzichtbare Bedürfnis nach Arbeitsteilung“ verwiesen.59 Im Blick auf das Parlament spricht Schnabel von der „Idee der Reprä‐ sentation als der Vertretung der politischen Einheit“, Kelsen bezeichnet, präziser, die parlamentarische Repräsentation als eine „Fiktion“.60 Einig sind sich die beiden darin, dass sich zwischen der direkten, plebiszitären und der repräsentativen, parla‐ mentarischen Demokratie ein Abgrund auftut.61 Anders als Kelsen sieht Schnabel im Parlament aber mehr als nur eine sozial‐ technische Apparatur. Ebenso sorgfältig wie ausführlich referiert er die liberale Begründung des Parlaments: Der Rechtsstaat suche vernünftige Begründungen, und diese bilde sich im öffentlich ausgetragenen Kampf der Meinungen heraus. Wahrheit und Recht ließen sich also am besten im vernunftgeleiteten Wettstreit der Argumente ermitteln, und die öffentliche Bühne, auf der dieser Wettstreit durch eine vom Volk berufene „Elite der Vernunft“ ausgetragen wurde,62 seien im 19. Jahrhundert die Parlamente bzw. zweiten Kammern gewesen. „Diskussion und Öffentlichkeit“ bestimmten also den Kern des parlamentarischen Verfahrens, das nur unter den Be‐ dingungen der bürgerlichen Grundfreiheiten der Rede, der Presse und der Versamm‐ lung habe funktionieren können. Schnabel verweist auf die hohe parlamentarische Kultur, die sich vor diesem Hintergrund in England und Frankreich, aber auch

56 Schnabel 1933, S. 132. 57 Böckenförde 1967/1976, S. 112-145. Vgl. dazu jetzt: Kirsch 1999. Zu Carl Schmitt vgl. den Beitrag von Reinhard Mehring in diesem Band. 58 Schnabel 1933, S. 134. 59 Kelsen 1929,S. 29. 60 Schnabel 1933, S. 134, Kelsen 1929, S. 30. 61 Kelsen 1929,S. 17, 20, 24f. 62 Schnabel 1933, S. 157.

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in den deutschen Einzelstaaten herausgebildet habe. So habe das 19. Jahrhundert herausragende parlamentarische Führer hervorgebracht, auch in Deutschland. Einem davon, dem badischen Parlamentarier Ludwig von Liebenstein, hatte Schnabel 1927 eine eindringliche Biographie gewidmet.63 Mit kritischer Sympathie zeichnet Schnabel den frühkonstitutionellen Liberalis‐ mus also als ein überaus voraussetzungsreiches System. Für den Historiker besteht das Lebenselixier des Liberalismus im Glauben an Vernunft, Wahrheit, Recht und die Geltung absoluter Normen: „Es gibt in der Tat keine Diskussion, wenn es keine absoluten Normen gibt, auf welche die Parteien zurückgreifen können.“64 Spätestens hier gehen der Historiker Schnabel und der Jurist Kelsen getrennte Wege, galt letzterer doch als entschiedener Vertreter einer „relativistischen“ Konzeption von Demokratie und einer Kritik des Naturrechts, die Schnabel so niemals geteilt hätte. Bei seiner Rekonstruktion von Liberalismus, Parlamentarismus und Demokratie bezieht sich Schnabel vielmehr ebenso ausdrücklich wie zustimmend auf Kelsens Gegenspieler Carl Schmitt und dessen Schrift „Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus“ von 1926.65 Wie weit folgt Schnabel dem Kritiker und Dekonstrukteur der liberalen, parlamentarischen Demokratie?66 Seit dem 20. Jahrhundert werde, so Schnabel, die liberale Trennung zwischen öffentlicher und privater Sphäre vernichtet, die Diskussion nicht mehr als Streit um die Wahrheit, sondern als Kampf der Interessen geführt, der übrig bleibe, wenn der für den Liberalismus charakteristische Glaube an die Geltung absoluter Normen verloren gegangen ist: „Willkür trat wieder an die Stelle der Ratio, und die Gewalt verzichtete darauf, Gründe anzugeben und Recht zu haben.“67 Zudem habe die Verlagerung der parlamentarischen Debatte in Ausschüsse und die ökonomische Vermachtung der Presse das liberale Ideal der Öffentlichkeit ad absurdum geführt. Eine breite bürgerliche Mittelschicht habe noch im 19. Jahrhundert das soziale Substrat funktionierender Parlamente gebildet; dass davon in den frühen 1930er Jahren nicht mehr die Rede sein konnte, war jedem zeitgenössischen Leser klar. Alles in Allem gerieten, so Schnabel unter Rekurs auf Schmitt, „die beiden Säulen, auf denen die Idee des Parlamentes ruhte – Diskussion und Öffentlichkeit – […] ins Wanken.“68 Auch beim Thema „Demokratie“, das Schnabel im Kontext der Französischen Revolution und ihrer Vordenker sowie als Oppositionsbewegung gegen das konstitu‐ tionelle System erörtert, nimmt Schnabel entscheidende Anleihen bei Schmitt: „Die 63 64 65 66

Schnabel 1927. Schnabel 1933, S. 137. Schmitt 1926; Schnabel 1933, S. 136, 158. Zu Schmitt in der Weimarer Republik vgl. Stolleis 1999 , S. 177-181; Mehring 2009, S. 114-302; Mehring 2017a, S. 57-69. 67 Schnabel 1933, S. 136f, hier S. 137. 68 Schnabel 1933, S. 137.

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Demokratie beruhte auf der Voraussetzung der Gleichartigkeit und der Identität des einheitlichen Volkes, sie wollte keine Gliederung, sondern Masse und Zahl; ihr Ideal war die eine ‚Volkskammer‘“.69 „Identität“ und „Homogenität“ – diese Begriffe hatte Schmitt als konstitutiv für die Demokratie erklärt, um sie gegen das Parlament zu wenden, dessen finale Krise er pointiert beschworen hatte: „Wenn mit der demokratischen Identität [zwischen Regierenden und Regierten, T.H.] Ernst gemacht wird, kann nämlich im Ernstfall keine andere verfassungsmäßige Einrich‐ tung vor der alleinigen Maßgeblichkeit des irgendwie geäußerten, unwidersprechlichen Willens des Volkes standhalten. Ihm gegenüber hat insbesondere eine auf der Diskussion von unabhängigen Abgeordneten beruhende Institution keine selbständige Existenzbe‐ rechtigung, um so weniger, als der Glaube an die Diskussion nicht demokratischen, sondern liberalen Ursprungs ist.“70

Soweit das bekannte Argument, mit dem Schmitt gegen die Institution des Parla‐ ments zu Felde gezogen war: Demokratie und Liberalismus im Allgemeinen, Demo‐ kratie und Parlamentarismus im Besonderen schließen einander sowohl begrifflich als auch historisch aus, zumal unter den Bedingungen der industriellen Massenge‐ sellschaft.71 Bei Schnabel, der Schmitts Definitionen und Analysen lange gefolgt war, hört sich dieser entscheidende Gedankengang mit einem Mal anders an: „Demokratie und Liberalismus waren also nicht sich ausschließende Gegensätze, sondern handelten von zwei verschiedenen Dingen: der Liberalismus sprach vom Umfang der staatlichen Wirksamkeit, die Demokratie vom Inhaber der staatlichen Souveränität. Beide entstammten dem gleichen Geist der Autonomie; das individualistische Naturrecht lehrte, die staatliche Wirksamkeit zu beschränken, die Idee der Volkssouveränität führte in ihrer letzten Konsequenz zur Demokratie. Liberalismus und Demokratie stießen sich insofern ab, als die einheitliche staatliche Willensbildung schließlich zur Verneinung der Freiheitsrechte führen musste; aber sie berührten sich, insofern die vom Liberalismus erstrebte Einengung staatlicher Wirksamkeit praktisch nur gesichert war, wenn das Volk irgendwie Anteil erhielt an der Bestimmung des staatlichen Willens.“72

Schnabel betont also die gemeinsamen Ursprünge von Liberalismus und Demokratie in der Aufklärung, und seine Argumente, um die Vereinbarkeit von Demokratie und Liberalismus historisch zu belegen statt sie scholastisch zu bestreiten, gehören zu den meisterhaften Passagen seines Hauptwerks. Entsprachen die Einführung der Schulpflicht wie auch der Wehrpflicht nicht liberalen und demokratischen Prinzipi‐ en gleichermaßen?73 Wirkten Liberalismus und Demokratie nicht zusammen, als 69 Schnabel 1933,S. 140. 70 Schmitt 1926, S. 21. 71 Die kategoriale Trennung zwischen beiden war keine Erfindung Schmitts. Sie war im 19. und frühen 20. Jahrhundert vielmehr gängig und wurde z.B. auch vertreten von Radbruch 1914, S. 140-143, auf den sich Schnabel u.a. bezieht. 72 Schnabel 1933, S. 98f. 73 Ebd., S. 100.

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es darum ging, den Arbeiter mit subjektiven Rechten auszustatten, ihn aus dem betrieblichen Herrschaftsverband herauszulösen?74 War der Liberalismus, der in der Wahlrechtsfrage lange Zeit so wenig demokratisch agierte, nicht schon zu Zeiten des Grafen Mirabeau offen gegenüber den egalisierenden Tendenzen seiner Zeit?75 Haben deutsche Liberale am Ende nicht selbst für das allgemeine gleiche Wahlrecht gestritten?76 Und bediente sich umgekehrt die demokratische Bewegung etwa nicht des Instruments des Parlamentes und „bekannte sich also ihrerseits zum Gedanken der Elite, der geistigen Auslese“?77 Das entscheidende Argument jedoch macht Schnabel an der „großen historischen Leistung des Liberalismus“ fest, und das ist der Rechtsstaat. Seine Herleitung und Begründung aus dem Ideenhorizont von Liberalismus und Demokratie sucht in der Geschichtsschreibung der Weimarer Republik ihresgleichen. In der Begründung des Rechtsstaats folgt Schnabel – natürlich – Kant, der 1785 in seiner „Grundlegung der Metaphysik der Sitten“ den Staat als „Vereinigung einer Menge von Menschen unter Rechtsgesetzen“ bestimmt hatte.78 In dieser Gegenposition zur „eudämonistischen“, auf Wohlfahrt abzielenden Staatsauffassung des Absolutismus wie auch moderner Diktaturen sieht Schnabel den entscheidenden Fortschritt der Kantschen Staatskon‐ zeption: Weder erhöht sie den Staat zum Selbstzweck noch erniedrigt sie ihn zu einer Wohlfahrtsagentur, vielmehr bindet sie ihn an die Verwirklichung des Rechts. Schnabel verwendet einige Sorgfalt auf diese Unterscheidung, die er – historisch etwas pauschal – mit der „Stimmung einer Epoche“ erklärt, „in der die Menschen leicht vorwärtskamen, dank der gefestigten staatlichen Ordnung und dem zunehmen‐ den allgemeinen Wohlstand“. Für den Liberalismus Kantscher Prägung jedenfalls gilt: „Der Rechtsstaat war aus dem Eudämonismus nicht ableitbar.“79 Denn der Rechtsstaat beruht auf naturrechtlichen Annahmen, auf dem Glauben an unhinter‐ gehbare Werte – ein Gedanke, der dem Katholiken Schnabel zutiefst sympathisch erschien. Der Zweck des Staates bestehe laut Kant darin, die staatliche Verfassung nach eben denjenigen Rechtsprinzipien zu gestalten, die der kategorische Imperativ aus Gründen der Vernunft gebiete.80 Die erstaunliche Sorgfalt und Aufmerksamkeit, die Schnabel im 1933 erscheinenden zweiten Band seiner Deutschen Geschichte der historischen und systematischen Begründung des Rechtsstaats über 30 Seiten hin gewidmet hat,81 lässt sich ohne Weiteres als Antwort auf die Aushöhlung rechts‐ staatlicher Prinzipien verstehen, die das Notverordnungsregime seit dem Sturz des

74 75 76 77 78 79 80 81

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Ebd., S. 100f. Ebd., S. 102f. Ebd., S. 143. Ebd., S. 99. Kant 1785/1906, S. 313. Schnabel 1933, S. 106. Ebd., S. 105. Schnabel zitiert aus § 49 in Kant 1906, S. 318. Ebd., S. 104-134.

Kabinetts Hermann Müller im März 1930 und erst Recht den Übergang zur Diktatur im Frühjahr 1933 kennzeichnete. Kant spielt in Schnabels Überlegungen zum Verhältnis zwischen Liberalismus und Demokratie auch deshalb eine zentrale Rolle, weil mit Kants Prinzip der Auto‐ nomie das entscheidende systematische Bindeglied zwischen den beiden politischen Ordnungsentwürfen benannt ist. „Die ‚gesetzliche Freiheit‘ hat Kant definiert als das Recht des Staatsbürgers, keinem anderen Gesetz zu gehorchen, als zu welchem er seine Zustimmung gegeben hat: hierdurch war die Mitwirkung des Volkes bei der Gesetzgebung begründet.“82 In diesem Brückenschlag, den Schnabel mit Kant vollzogen hat, lag zugleich der Nachweis, dass die Schmittsche These von der kategorialen Unvereinbarkeit von Liberalismus und Demokratie nicht zu halten war. Bildeten der Rechtsstaat, die Grundrechte und die Gewaltenteilung das Fundament liberalen Staatsdenkens, so konnte die darin begründete Begrenzung der Staatsge‐ walt nur dann gelingen, wenn „die Kontrolle durch das Volk“ gewährleistet blieb.83 An diesem entscheidenden Punkt war es für Schnabel also nicht nur eine historisch zufällige, sondern eine strukturelle Allianz, die Liberalismus und Demokratie mit‐ einander verklammerte. Der liberale Rechtsstaat kann nur dann Bestand haben, wenn er auch von einer Mehrheit der Bürgerinnen und Bürgern gewollt, gestützt, ja gelebt wird – an diese Einsicht hat jüngst der Staatsrechtler Christoph Möllers erinnert.84 Zwar spricht auch Schnabel vom Versagen des Liberalismus in der so‐ zialen Frage, von den vielen Opfern, „die an dieser Straße der Freiheit lagen“,85 und er gelangt zu der an Schmitt erinnernden Schlussfolgerung, „Individualkultur und demokratische Gleichheit heben sich voneinander ab wie zwei sich folgende Zeitalter“.86 Aber schließen sie sich notwendig aus? Schnabel bestreitet dies. Vor diesem ideengeschichtlichen Hintergrund ist jedenfalls Schnabels Protest vom Som‐ mer 1932 gegen das staatsstreichartige Vorgehen der Regierung Papen zu lesen. Das eben skizzierte Muster, dass Schnabel dem politischen „Mineur“ (Reinhard Mehring) Schmitt zwar eine ganze Strecke folgt, um dann aber im entscheidenden Moment anders abzubiegen, findet sich erneut im Zusammenhang mit der in den zwanziger Jahren vielfach erörterten „Selbstaufhebung“ liberaler Prinzipien, deren Aporien Schnabel zunächst ganz in den Bahnen Schmitts beschreibt: Die Vernich‐ tung der Privatheit, ja der Freiheit überhaupt im Namen umfassender „Publizität“, das Abgleiten liberaler Diskussion zum Kampf der Interessen, die Umgehung der parlamentarischen Öffentlichkeit in Ausschüssen, die ökonomische Vermachtung der Meinungsbildung – all diese Tendenzen einer liberalen Verfallsgeschichte führt Schnabel seinen Lesern in gedrängter Form vor Augen, um als Resümee die „Krisis 82 83 84 85 86

Schnabel 1933, S. 105. Ebd., S. 126. Möllers 2018. Schnabel 1933, S. 113. Ebd., S. 101.

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des Rechtsstaats“ und des Parlamentarismus nüchtern zu konstatieren.87 Dann folgt abrupt die eigentümliche Volte: „Aber immer blieb auch dann noch, wenn nur die rechtsstaatlichen Formen gerettet wurden, der Weg der Erneuerung offen, weil allein schon im Widerspiel der Parteien und in der bloßen Möglichkeit, daß unabhängige Schriftsteller auftreten können, eine Korrektur liegt und weil der menschliche Geist nicht ruhen wird, die verlorenen Normen zurückzugewinnen.“88

In stark verdichteter Weise und eigentümlichem Schwanken zwischen Präsens und Präteritum bietet Schnabel hier, im Sommer 1933, drei Argumente gegen die Schmittsche Dekonstruktion auf. Das erste Argument vertraut in klassisch liberaler Manier auf die klärende Kraft des Rechtsstaats, der, obzwar nur noch in seiner „Form“ vorhanden, das Gemeinwesen vor dem Abgleiten in die Diktatur zu bewah‐ ren vermag. Hinter diesem Vertrauen mag der Glaube an die normierende und disziplinierende Kraft von Institutionen stehen, der der deutschen liberalen Tradition generell eingeschrieben ist und den der Katholik Schnabel gerne geteilt hat. Das zweite Argument greift den liberalen Topos von der „Balance“ auf, die sich im Streit der Meinungen einstelle. Schmitt hatte diese Vorstellung als Metaphy‐ sik abgetan, mehr noch: seine Arbeit an Begriffen wie „Liberalismus“ oder der „Demokratie“ galt nicht etwa deren vertieftem Verständnis, sondern ausschließlich ihrer Dekonstruktion.89 Schnabel hingegen setzt auf das „Widerspiel der Parteien“ in „rechtsstaatlichen Formen“ und tritt implizit der in der Weimarer Republik allge‐ genwärtigen Parteienkritik entgegen, wenn er ausgerechnet den politischen Parteien und ihrem „Widerspiel“ die Aufgabe der Erneuerung zuweist. Hierin war er sich wieder einig mit Hans Kelsen, der ähnlich wie Schnabel der „pazifizierenden und integrierenden Wirkung der parlamentarischen Demokratie“ (Jens Hacke) vertraute: Auch für Kelsen war die Demokratie nur als Parteiendemokratie zu denken.90 Mit dem dritten Argument, „unabhängige Schriftsteller“ könnten die Krise der liberalen Demokratie zum Guten wenden, stellt sich Schnabel in die Tradition des deutschen Idealismus und des daraus abgeleiteten Deutungsmusters vom „Primat des Geistes“.91 Dieses Argument als rückwärtsgewandte Illusion eines humanistisch gebildeten Geisteswissenschaftlers abzutun, wäre indessen voreilig. Den gleichen Gedanken nämlich hatte Karl Mannheim 1929 in seinem Hauptwerk „Ideologie und Utopie“ wissenssoziologisch begründet und in klassischen Formulierungen vorgetra‐ gen: Gerade in einer von Interessenkämpfen gekennzeichneten Zeit seien die Intel‐ lektuellen auf Grund ihrer Bildung und ihrer fehlenden Klassenbindung in der Lage, 87 88 89 90 91

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Schnabel 1933, S. 137. Ebd., S. 137. Mehring 2017b, S. 27-43. Kelsen 1929, S. 19-25; Hacke 2018, S. 225. Hierzu noch immer anregend: Bollenbeck 1996.

„all jene Impulse, die den sozialen Raum durchdringen“, aufzunehmen, zu verarbei‐ ten und „jeweils den Punkt zu finden, von wo aus Gesamtorientierung im Geschehen möglich ist, Wächter zu sein in einer sonst allzu finsteren Nacht“. Mannheim zufol‐ ge schlägt die Stunde der Intellektuellen nämlich in der Krise, „wo alle Dinge plötz‐ lich transparent werden und die Geschichte ihre Aufbauelemente und Strukturen ge‐ radezu enthüllt.“92 Auf dieses Mandat des „unabhängigen Schriftstellers“ hatte sich Schnabel denn auch in seinem Protest gegen den „Preußen-Schlag“ 1932 ausdrück‐ lich bezogen, als er die „geistig führende Schicht“ in die Pflicht nehmen wollte. Im Vorwort zum zweiten Band seiner Deutschen Geschichte, datiert auf Juni 1933, ar‐ gumentiert er wie Mannheim aus einer Situation des radikalen Umbruchs, in der die Dinge transparent werden: Angesichts der „gewaltigen revolutionären Umwälzun‐ gen“ der Gegenwart betrachte er es als „glückliche und seltsame Fügung meines Le‐ bens“, als erster Historiker das 19. Jahrhundert nun in der Rückschau als „in sich ge‐ schlossene Einheit“ erkennen zu können und dabei „das geschichtlich Bedingte zu scheiden von den dauernden Leistungen.“93 Gerade die „Kulturkrisis“ der Gegen‐ wart, mit der das 19. Jahrhundert definitiv zu Ende geht, ermöglicht dem Historiker die Erkenntnis des zeitlos – und mithin auch für das 20. Jahrhundert – Gültigen, das es in Erinnerung zu rufen und zu retten gilt. Wenn Schnabel die Lösung der Krise also von „unabhängigen Schriftstellern“ erwartete, so reflektierte er in diesem Postu‐ lat nicht zuletzt seine eigene Rolle als Historiker und Außenseiter des Wissen‐ schaftsbetriebs.

4. Republik und Volksstaat Nirgends wird Schnabels Bekenntnis zur Republik von Weimar so deutlich greifbar wie in seiner Biographie des Freiherrn vom Stein, die er 1931 pünktlich zum hundertsten Todestag des Reichsfreiherrn vorgelegt hat. Das Buch richtete sich weniger an die Fachwelt, die, angeführt von dem nationalprotestantischen Freiburger Historiker Gerhard Ritter, sogleich Einspruch gegen Schnabels Deutung erhob,94 als vielmehr an historisch und politisch interessierte Bürgerinnen und Bürger sowie vor allem die gebildete Jugend. Schnabel hatte nämlich vom preußischen Kultusmi‐ nisterium wie auch vom Reichsministerium des Innern im November 1930 den Auftrag erhalten, innerhalb kürzester Zeit zum Jubiläumsjahr eine Stein-Biographie zu verfassen, die den Primanern des Abiturjahrganges 1931 mit auf den Weg gege‐ ben werden sollte. Ganz unverhohlen gab das Ministerium die Grundrichtung der 92 Mannheim 1929, hier S. 126, 130, 41, 125, 127, https://nbnresolving.org/urn:nbn:de:0168-ssoa r-50776-8. 93 Schnabel 1933, S. V-VI. 94 Schnabel 1931; zu diesem Buch und der Kontroverse darum vgl. Hertfelder 1998, S. 343-387.

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Interpretation vor: Der Historiker möge bitte den Kampf des Reichsfreiherrn „gegen reaktionäre Widerstände“ hervorheben und auch Steins „Reparationspolitik“ mit Blick auf die Gegenwart akzentuieren.95 Es handelt sich bei dem Werk handelt also um eine Auftragsarbeit, ein klassisches Beispiel staatlicher Geschichtspolitik zumal. Etwas widerwillig hat Schnabel den Auftrag, der unter gewaltigem Zeitdruck stand, angenommen und seine Zusage mit der ausdrücklichen Erwartung verbunden, dass „die Verbindung nach Abfassung des Buches nicht aufhören soll und ich daher gelegentlich auch sonst in Berlin bei Lösung [sic!] von Kulturaufgaben des Reiches herangezogen werde“.96 Dazu sollte es nach 1933 nicht mehr kommen. Die pädago‐ gische Absicht jedoch, die das Buch leitet, lässt sich nahezu Seite für Seite verfol‐ gen. Knapp und bissig rekapituliert Schnabel im Vorwort die Stein-Forschung,97 um sogleich das Subversive an seinem Gegenstand hervorzuheben: „Was Stein gewollt hatte und was man in den Dokumenten seines Lebens lesen konnte, widersprach den nächsten Interessen der Herrschenden.“98 Die „Herrschenden“, das meinte vor allem die Hohenzollernmonarchie und den preußischen Staat. Um diese Perspektive war es Schnabel vor allem zu tun: Es ging ihm um Herrschaftskritik, um Kritik an einem bestimmten Typ von Herrschaft, den der Historiker insbesondere in der etatistischen Tradition Preußens und in der Person Bismarcks verkörpert sah. Schnabel rückt Stein – zum Ärger maßgeblicher Kollegen99 – nahe an die euro‐ päische Aufklärung und die Französische Revolution heran; neben den konservati‐ ven, reichsständisch geprägten hebt er die modernen Züge des Reformministers hervor und stellt diese – abermals zum Ärger der Kollegen – in einen positiven Kontrast zu politischen Positionen, wie sie ein halbes Jahrhundert später Bismarck vertreten sollte. Vor allem aber stellt Schnabel den Reichsfreiherrn unmissverständ‐ lich in eine revolutionäre Traditionslinie, die von 1808 über 1848/49 und 1918/19 bis zur Republik von Weimar reicht. Ganz im Sinn seiner Auftraggeber macht Schnabel reichlich von der Chance Gebrauch, seinen Protagonisten zu aktualisieren: Die Parallelen, die er zwischen Steins Reformen und der republikanischen Politik der jüngsten Vergangenheit zieht, reichen von der Weimarer Verfassung über die „Erfüllungspolitik“ bis zum Heimstättenrecht als Instrument der Weimarer Sozialpo‐ litik. Im Zentrum jedoch stehen drei Themen: •

Erstens zählt der Historiker die Erneuerung der kommunalen Selbstverwaltung in Preußen, die Stein 1808 mit dem Erlass der preußischen Städteordnung einge‐ leitet hat, zu den entscheidenden Leistungen des Reformministers. Trotz des dort

95 Reichsministerium des Innern an Schnabel am 3.11.1930, zit. n. Hertfelder 1998, S. 361. 96 Schnabel an das Reichsministerium des Innern am 25.11.1930, zit. n. Hertfelder 1998, S. 361, Anm. 180. 97 Dabei nimmt er, ohne sie zu benennen, die Meinecke-Schule aufs Korn. 98 Schnabel 1931, S. III. 99 Vgl. Hertfelder 1998, S. 363-387.

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vorgesehenen Zensuswahlrechts hebt Schnabel deren egalitäre und freiheitliche Elemente hervor, die er auf den Einfluss der Französischen Revolution zurück‐ führt.100 Mit Stein habe das überaus fruchtbare und zukunftsweisende Prinzip der Selbstverwaltung in die staatspolitische Praxis wieder Einzug gehalten – wieder, denn Stein habe mit der Städteordnung auch an „altdeutsche Rechts‐ vorstellungen“ angeknüpft.101 Ganz im Sinne seines präsentistischen Ansatzes nutzt Schnabel die Gelegenheit, seine Leserinnen und Leser auf die „erschüt‐ ternde Krisis des Selbstverwaltungsgedankens“ der Gegenwart aufmerksam zu machen.102 In der Tat war die seit der Reichsfinanzreform von 1920 ohnehin geschwächte kommunale Selbstverwaltung im Zuge der Weltwirtschaftskrise nach 1929 weiter ausgehöhlt worden; just zur Zeit des Stein-Jubiläums hatte die von Reichskanzler Heinrich Brüning veranlasste Notverordnung „zur Sicherung der Haushalte von Ländern und Gemeinden“ den Landesregierungen im Sommer 1931 die Möglichkeit eröffnet, in den überschuldeten Kommunen Staatskommis‐ sare einzusetzen, deren Maßnahmen sich auch über geltendes Kommunalrecht hinwegsetzen durften.103 Gerade in dieser Situation, in der staatliche Eingriffe in die Hoheit der Kommunen „fast zur Regel“ geworden seien, gelte es, so Schnabel, die Erinnerung an Steins Leistung und den „großen Gedanken der kommunalen Freiheit“ wach zu halten.104 Zweitens sieht Schnabel – und hier schießt er übers Ziel hinaus – in Stein denjenigen, „der als erster die Idee der Volksvertretung in die neuere deutsche Geschichte getragen hat.“105 Steins Pläne zur Einrichtung preußischer Provin‐ zialstände und eines preußischen „Reichstages“ bildeten den Ansatzpunkt für diese These. Diesen Plänen zufolge sollte die Wählbarkeit in diese Vertretungs‐ organe an persönliches Eigentum gebunden sein; dabei genügten die von Stein vorgesehene Periodizität der Sessionen, das Recht auf Steuerbewilligung, die Mitwirkung bei der Gesetzgebung und das Initiativrecht dem Historiker, um Stein zum Vordenker parlamentarischer Praxis in Deutschland aufzubauen. Er‐ neut schlägt Schnabel den Bogen zur Gegenwart des Jahres 1931, „wo das Wesen der Volksvertretung von ihren grundsätzlichen Gegnern verkannt“ werde und „die Institution des Parlaments manchen Kritikern nicht mehr zeitgemäß erscheint, weil ihnen in den schwierigen Verhältnissen der Gegenwart der tiefere Sinn verborgen geblieben ist.“106 Jenen „tieferen Sinn“ von Parlamentarismus

Schnabel 1931, S. 55. Ebd., S. 56. Ebd., S. 56. Vgl. Büttner 2008, S. 436f. Schnabel 1931, S. 56. Ebd., S. 57. Schnabel 1931, S. 57.

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und Selbstverwaltung historisch zu entwickeln, darin sah Schnabel die Aufgabe seiner Stein-Biographie. Drittens wird Schnabel nicht müde, Steins Politik und Staatsauffassung ethisch zu deuten.107 Der entscheidende Punkt war dabei die von Stein als sittliche Grundlage der Selbstverwaltung projektierte „Erweckung des Gemeinsinns“ ei‐ nerseits, die Selbsttätigkeit und Selbstentfaltung des Individuums andererseits. Stein habe den bislang durch die absolutistische Bürokratie entmündigten Unter‐ tanen durch ein abgestuftes System von Vertretungskörperschaften zu politisch mündigen Staatsbürgern erziehen wollen und dabei die Weckung von „Bürger‐ sinn“ und „Gemeingeist“ im Rahmen einer erst zu schaffenden deutschen Nation vor Augen gehabt.108 Die von Stein betriebene Befreiung der Domänenbauern, die Aufhebung der Leibeigenschaft und ein ethisch grundiertes Verständnis von Eigentum gehören für Schnabel in diesen Kontext.109 „Was Stein den Deutschen brachte, war eine neue Bewertung des Menschen: nicht als Mittel und Objekt bürokratischer Regierungskunst soll der Mensch gelten, sondern das Wachstum der menschlichen Kraft ist Selbstzweck, ist ein hoher Zweck des Daseins über‐ haupt“, schreibt Schnabel den preußischen Primanern des Abiturjahrgangs 1931 ins Stammbuch.110 Diese humanistische Botschaft wird gerahmt von einem re‐ publikanisch gestimmten Nationalismus und dem Bekenntnis zur „Macht der Persönlichkeit in der Geschichte.“111

Schnabels Staatsverständnis lässt sich einordnen in eine seit dem späten Kaiserreich geführte Debatte um „Volksstaat“ oder „Obrigkeitsstaat“.112 Sein Akzent liegt klar auf dem autonomen, vorstaatlichen Recht der Selbstorganisation, das nicht nur den „Volksstaat“ vom „Obrigkeitsstaat“ unterscheidet, sondern nach seiner Auffassung die deutsche Staatstradition überhaupt auszeichnet: „Der Begriff der Genossenschaft ist der zentrale Begriff der deutschen Rechtskultur“, schreibt Schnabel 1930 in einem Lexikoneintrag, und er fährt fort: Das genossenschaftliche Prinzip sei „der tragende Grundgedanke der modernen Demokratie, die nun einmal vornehmlich germanischer Herkunft ist und die bei den germanischen Völkern in Deutschland, England und Skandinavien ihre vollendete Verwirklichung gefunden hat.“ Dieses Prinzip findet der Historiker nicht nur in der kommunalen Selbstverwaltung reali‐ siert, auch das Alte Reich „blieb seinem tiefsten Sinne nach eine große Genossen‐ schaft“: „Genossenschaft“ also als ein korporatives Strukturprinzip, das historisch

107 Ebd., S. 95. 108 Ebd., S. 33: „Stufenweise also sollte sich die Selbstverwaltung aufbauen, aber das Volk muss‐ te für seine neue Aufgabe erzogen werden.“ 109 Schnabel 1931, S. 32-36. 110 Ebd., S. 38. 111 Ebd., S. 128. 112 Vgl. Llanque 2000; Bruendel 2003.

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ganz unterschiedliche Ausformungen erfährt.113 Denn auch die Organisation der Ar‐ beiterschaft in Gewerkschaften sowie die Einrichtung von Arbeiter- und Wirtschafts‐ räten auf Betriebs-, Bezirks- und Reichsebene, wie sie der Artikel 165 der Weimarer Verfassung vorsah, interpretierte der Historiker in der Tradition genossenschaftlicher Selbstorganisation – eine These, die zumindest in dieser Pauschalität überholt ist.114 Als Gewährsleute seiner Auffassung nennt Schnabel mit dem Münchner Natio‐ nalökonomen Lujo Brentano und dem Berliner Staats- und Verfassungstheoretiker Hugo Preuß immerhin zwei prominente linksliberale Wissenschaftler. Brentano hatte die englischen Arbeitergilden eingehend untersucht und das deutsche Gewerk‐ schaftswesen ökonomisch begründet, während Preuß bekanntlich im Auftrag Fried‐ rich Eberts den Verfassungsentwurf für das Deutsche Reich vom 3. Februar 1919 ausgearbeitet und damit maßgeblich auf die Verfassungsgebung eingewirkt hatte.115 Wesentliche Elemente der Weimarer Verfassung wie den Reichstag, die kommunale Selbstverwaltung, die Anerkennung der Gewerkschaften wie auch des „korporativen Tarifvertrags“ interpretierte Schnabel – mit Preuß – als institutionelle Ausformungen des Genossenschaftsprinzips, in dem die frühliberale und durch Hegels Staatsphilo‐ sophie untermauerte Trennung zwischen Staat und Gesellschaft aufgehoben wurde. Dass diese Erkenntnis einen Historiker faszinierte, der zumal als Katholik auf die Prinzipien der Solidarität und Subsidiarität setzte, ist wenig verwunderlich. Für sein Geschichtsbild charakteristisch bringt Schnabel auch hier die Denkfigur der Wiedererweckung ins Spiel: Nicht die wissenschaftliche Theorie sei ausschlag‐ gebend bei der Formulierung der entsprechenden Weimarer Verfassungsartikel ge‐ wesen, sondern der Umstand, dass die Schöpfer der Verfassung – und unter ihnen namentlich Hugo Preuß – die „Lehre von der deutschen Genossenschaft wieder erweckt“ hätten. In diesem Licht betrachtet erscheint die Weimarer Republik zum einen als das legitime Produkt einer langfristig wirksamen, spezifisch deutschen Verfassungstradition, die sich im Denken und Wirken Steins mit westeuropäischen Einflüssen verbindet. Zum andern bilden die von Schnabel identifizierten genossen‐ schaftlichen Elemente ein Korrektiv gegenüber jenem „schrankenlosen Individualis‐ mus“, den vor allem das späte 19. Jahrhundert hervorgebracht habe.116 Schnabels Erwartungen an den neuen „Volksstaat“ von Weimar waren mithin hoch. Die neue Republik sollte nicht nur die Integration von Staat und Gesellschaft bewirken, sondern generell die Überwindung der „Kulturkrisis“ seiner Zeit. Diktatu‐ ren und anderen cäsaristischen Lösungen erteilte Schnabel zu Beginn der dreißiger Jahre ebenso eine Absage wie allen Anläufen zu einer zentralistischen Reichsreform. Indem Schnabel die Republik von Weimar jedenfalls in eine weit zurückreichende 113 114 115 116

Schnabel 1930, S. 404-406, hier S. 404, 406, 405. Vgl. Ritter 1994, S. 73-112; Dreyer 2018, S. 377-379. Vgl. Dreyer 2018; Lehnert 1988 . Schnabel 1930, S. 406.

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deutsche Verfassungstradition stellt, entzieht er sie jener zeitgenössischen Polemik, die in der Republik wenig mehr sehen wollte als einen Oktroy westlicher Ordnungs‐ modelle.

5. Das „größte Zerstörungswerk des Jahrhunderts“: Hegel und seine Theorie des Staates Im Frühjahr 1934 brachte Schnabel den dritten Band seiner „Deutschen Geschichte“ unter dem Titel „Erfahrungswissenschaften und Technik“ heraus. Kurioserweise setzt der erneut 500 Seiten umfassende Band mit einem großen Kapitel über Georg Wilhelm Friedrich Hegel ein, der gewiss alles andere war als ein Empiriker oder Techniker. In Hegels Versuch, die Kategorien der Individualität und Identität, des „Wirklichen“ und des „Vernünftigen“ in einem großen philosophischen Systement‐ wurf zu synthetisieren, sieht Schnabel das „letzte, verwegenste Experiment“ der abendländischen Metaphysik, das gerade in seinem grandiosen Scheitern den Durch‐ bruch der empirischen Wissenschaften und damit auch der Geschichtswissenschaft ermöglicht hat. 117 Für Schnabels Staatsbegriff ist dieses furiose Kapitel überaus auf‐ schlussreich, nicht nur deshalb, weil der Karlsruher Historiker hier seine Methode des Pendelns zwischen Historisierung und Aktualisierung besonders eindringlich vor Augen führt, sondern vor allem weil er in seiner Kritik an Hegel sein eigenes Staats‐ verständnis konturiert. Dabei ist erneut daran zu erinnern, dass Schnabel den dritten, für seine Zeit überaus innovativen Band seiner Deutschen Geschichte in den Jahren 1930 bis 1934 erarbeitet hat, als konservative Eliten die demokratische Republik von Weimar in das autoritäre System der Präsidialkabinette überführt hatten, bis auch dieses System zum totalitären, rassistischen Führerstaat revolutioniert wurde. Auch aus diesem Grund verdient das Kapitel „Hegel und seine Zeit“ – der Titel ist eine Hommage an das gleichnamige Standardwerk von Rudolf Haym aus dem Jahr 1857118 – eine Betrachtung. Schnabel würdigt Hegel zunächst als Entdecker der „objektiven Zusammenhän‐ ge“, der das Einzelne als Moment eines Allgemeinen begriffen und mit dieser Denkfigur die Geschichtswissenschaften nachhaltig inspiriert habe. Auch als Schöp‐ fer zentraler und damals innovativer Kategorien – etwa der Begriffe der „Konti‐ nuität“, der „Entwicklungstendenzen“, der „historischen Notwendigkeit“ und des dialektischen „Umschlags“ – habe Hegel den Geisteswissenschaften entscheidende Impulse verliehen; mit seinem Sinn für die Wirklichkeit könne er zudem als einer 117 Schnabel 1934, S. 3, 22. Diesen Einwand gegen Hegel hat auch Cassirer 1920/2000, mit Nachdruck vertreten: „Hier steht der absolute Idealismus in der Tat seinem systematischen Widerspiel, dem absoluten Empirismus, gegenüber und droht ständig in ihn umzuschlagen“ (S. 355); vgl. hierzu Meyer 2006, S. 52f. 118 Haym 1857.

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der „Väter des Realismus, der Sachlichkeit, der Objektivität“ gelten.119 Denkwürdig und einzigartig bleibe auch Hegels Ansatz einer dynamischen und totalisierenden Auffassung der Weltgeschichte – nicht zufällig habe seine Philosophie gerade im 20. Jahrhundert eine „weltgeschichtlich bedeutsame Wiedergeburt“ erlebt.120 Hatte Schnabel noch 1923 vor seinen Studenten mit Hegel kokettiert und den Staat als das „stärkste praktische Bekenntnis der Menschheit zum objektiven Geist“ gefeiert, so stieß gerade Hegels Staatstheorie zehn Jahre später auf seinen schärfs‐ ten Widerspruch.121 Hegels Philosophie sei „der folgerichtigste Monismus, der je gedacht worden ist“, lautet der Ausgangsbefund. Da Hegels „Monismus“ – das Denken von Gegensätzen in ihrer Einheit – nicht definitiv zwischen Gut und Böse unterscheiden konnte, sei Hegel zu keiner wirklichen Ethik in der Lage gewesen.122 Im Begriff der Sittlichkeit habe Hegel die Spannung zwischen Sein und Sollen, zwischen Macht und Moral gewaltsam geschlossen – mit verhängnisvollen Folgen für seine Lehre vom Staat. Denn da Hegel der Staat als Verwirklichung der sittlichen Idee galt, als „sichtbar gewordene Vernunft, […] ein Irdisch-Göttliches“, habe er der Wirksamkeit des Staates keine Grenze setzen und auch keine Kriterien zur Begrenzung und Kritik des Staates liefern können, wie dies noch die naturrechtlich fundierten Staatslehren der frühen Neuzeit vermocht hatten. Hegel „zerbrach […] die Wertidee zwischen den Händen“, so dass einerseits das Recht aus seinen natur‐ rechtlichen Verankerungen herausgerissen und dem Staat ausgeliefert, andererseits zugleich dem modernen Wertrelativismus und Rechtspositivismus Tür und Tor auf‐ gestoßen wurden.123 Daher diene bei Hegel das Recht gerade nicht zur Einhegung des Staates im Sinne des modernen Rechtsstaats, denn das „Recht ist Erzeugnis des Staates, nicht sein Herr“.124 Bei Hegel bilde die Sphäre des Rechts ebenso wenig wie die der Moral oder der Religion ein Widerlager staatlicher Macht, vielmehr gehe es vollkommen in der Staatsräson auf – eine Philosophie, die, so Schnabel bissig, „nur auf protestantischem Boden erwachsen konnte.“125 Jegliches staatliche Handeln könne im Licht der Hegelschen Philosophie letztendlich als Ausfluss von Vernunft und Sittlichkeit legitimiert werden. „Jede Individualethik ist verworfen, das Christentum und Kant zugleich verneint, die Religion zur Dienerin der Gewalt erhoben worden.“126 Im vierten Band seiner Deutschen Geschichte, der 1937 erschien und sich mit den religiösen Tendenzen der ersten Jahrhunderthälfte beschäftigte, kam Schnabel

119 120 121 122 123 124 125 126

Schnabel 1934, S. 8f. Ebd., S. 8, 5. Schnabel 1923/1970, S. 55. Schnabel 1934, S. 4, 14. Ebd., S. 11. Ebd., S. 14. Ebd., S. 13. Ebd., S. 17.

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erneut ausführlich auf Hegel und seine Adepten zu sprechen. Im Zusammenhang mit David Friedrich Strauß und dem liberalen Protestantismus fällt sein Urteil nun noch vernichtender aus: Von Hegel habe das „größte Zerstörungswerk des Jahrhun‐ derts“ seinen Ausgang genommen.127 1933 hingegen hatte Schnabel in Hegel noch vor allem den Vordenker des modernen Machtstaates gesehen, dessen „unerhörte Wucht“ darin bestehe, dass er seine Untertanen nicht zur zum Gehorsam verpflichte, sondern dazu, „das Interesse und die Macht des Staates mitzuwollen.“ Blind für die Folgen seines Denkens habe Hegel dem Nationalismus und Imperialismus des späten 19. Jahrhunderts damit die theoretische Begründung geliefert.128 Am Auftre‐ ten Hegels findet Schnabel zudem die sozialpathologischen Züge des deutschen Universitätsgelehrten prototypisch vorgezeichnet, der sich in der Behaglichkeit der Studierstube „an Machiavelli und an der Macht zu berauschen“ beliebe und zugleich den „geistigen Hochmut des deutschen bürgerlichen Professors“ vor sich hertrage. In der Tat stecken Hegels berühmte Formulierungen über den Staat voller schil‐ lernder Provokationen: In seiner Rechtsphilosophie bestimmt Hegel bekanntlich den Staat als „die Wirklichkeit der sittlichen Idee“, das „an und für sich Vernünftige“ sowie als „absoluter Selbstzweck, in welchem die Freiheit zu ihrem höchsten Recht kommt“. Dem einzelnen Bürger gegenüber verkörpert der Staat in seiner substanzi‐ ellen Einheit daher „das höchste Recht“.129 „Objektivität, Wahrheit und Sittlichkeit“, so Hegel an anderer Stelle, kommen dem Individuum nur insoweit zu, als es „ein Glied“ eines Staates ist, mehr noch: „Alles, was der Mensch ist, verdankt der dem Staat; er hat nur darin sein Wesen. […]. Der Staat ist nicht um der Bürger willen da; man könnte sagen, er ist der Zweck und sie sind seine Werkzeuge“.130 Immer wieder hat sich die Kritik an Hegel an diesen Formulierungen entzündet. In den frühen 1920er Jahre hatte sich Schnabel gründlich mit Karl Marx beschäf‐ tigt, seine Bedeutung für die Geschichtswissenschaft 1925 als „neu und fruchtbar“ bezeichnet, lange Exzerpte aus dem ersten Band des „Kapital“ angefertigt und schließlich den Begründer des dialektischen Materialismus in einem Kompendium zur „Geschichte der neuesten Zeit“ überraschend ausführlich behandelt.131 Schna‐ bels Interesse an Hegel dürfte indessen weniger auf dem Umweg über Marx als vielmehr im Kontext der um 1900 einsetzenden Wiederentdeckung Hegels zunächst durch Wilhelm Dilthey,132 dann durch die südwestdeutschen Neukantianer geweckt worden sein, deren Wirken Schnabel als Student in Heidelberg selbst miterlebt hatte. Dort hatte er u.a. bei dem Neukantianer Wilhelm Windelband gehört, der 1910 in einer vielbeachteten Akademierede für die systematische „Erneuerung des 127 128 129 130 131 132

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Schnabel 1937, S. 494. Schnabel 1934, S. 16f, 19. Hegel 1821/1986, S. 398 (§ 257), S. 399 (§ 258). Hegel 1837/31930, S. 90f. Schnabel 1925/1970, S. 93; Schnabel 1926, S. 113-117. Dilthey 1905/41968. Zur Hegel-Renaissance um 1900 vgl. Helferich 1979, S. 151ff.

Hegelianismus“ eingetreten war.133 Im dritten Band seiner Deutschen Geschichte kommt Schnabel darauf zu sprechen, wenn er die „Erneuerung Hegels zu Beginn des 20. Jahrhunderts“ mit feiner Ironie als das Werk „friedlicher deutscher Philosophie‐ professoren“ bezeichnete, deren „bürgerlich behagliches Dasein“ nichts geahnt habe von den verheerenden politischen Folgen der von ihnen im Hörsaal ausgerufenen Hegel-Renaissance. Aufmerksame Studenten jener Professoren hätten Hegel näm‐ lich fortan politisch gelesen, und zwar im Sinne eines grenzenlosen Radikalismus, der sich wenig später einerseits im „‘stato totalitario Mussolinis‘“, andererseits in der „Diktatur des Proletariats“ des revolutionären Sowjetrussland verwirklicht habe. Alle Feinde des Rechtsstaats unter den Denkern des 19. Jahrhunderts hätten bei Hegel angeknüpft, der die Ideen von 1789 kassiert, die Vorstellung subjektiver vorstaatlicher Individualrechte verneint und damit, so Schnabel provozierend, das Zeitalter der Extreme vorbereitet habe.134 Kein Zweifel, Schnabel sah in Hegels Werk die theoretische Keimzelle der totalitären Systeme seiner Zeit, und man tut gut daran, sich bei der Lektüre des dritten Bandes der Deutschen Geschichte der politischen Zeitumstände zu erinnern, unter denen die Niederschrift des Buches zwischen „Preußenschlag“ und „Röhm-Putsch“ erfolgte. Dabei nimmt der Historiker Hegel zunächst vor einer gängigen Interpretation – dem „Akkomodationsargument“ – in Schutz, die in Hegels Rechtsphilosophie wenig mehr als die Apologie des preußischen Staates zu Beginn der 1820er Jahre sehen wollte.135 Es verhalte sich vielmehr gerade umgekehrt: Hegels Auffassung vom Staat folgte nämlich „deduktiv“ der Logik seines Systems, dessen Fundamente längst vor der Gründung der Berliner Universität gelegt worden seien. In Berlin habe man die „Wesensverwandtschaft“ zwischen dem preußischen Staat und Hegels Philosophie durchaus erkannt und daher den Philosophen nach Berlin berufen, wo man ihn dann allerdings politisch „brauchbar“ fand – gerade auch in der Abwehr liberaler Forderungen nach einer Volksvertretung.136 Schnabel weigert sich entschieden, Hegel das zuzugestehen, was ihm noch 1924 der Berliner Historiker Friedrich Meinecke in seinem Standardwerk „Die Idee der Staatsräson in der neueren Geschichte“ zugestanden hatte: Dass der höchste Zweck des Staates nach Hegel nicht die Macht sei, sondern die Ausbildung von Kunst und Wissenschaft in einer „nationalen Kultur“.137 Hegels Kulturstaat laufe, so Schnabel gegen Meinecke, auf „die staatliche Erziehungsdiktatur und den expansiven Staats‐ 133 Windelband 1910. Schnabel hatte im Wintersemester 1906/07 sowie im Sommersemester 1909 bei Windelband in Heidelberg Vorlesungen gehört, Generallandesarchiv Karlsruhe 235/2478, „Zusammenstellung gehörter Vorlesungen“; seine Aufzeichnungen zur historischen Methode kommen verschiedentlich auf den badischen Neukantianismus zurück; vgl. auch Schnabel 1934, S. 456, sowie Hertfelder 1998, S. 186. 134 Schnabel 1934, S. 26-28; vgl. auch ebd. S. 159. 135 Vgl. hierzu Ottmann: 1979, S. 227-243. 136 Schnabel 1934, S. 18. 137 Meinecke 1924, S. 457.

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zweck“ hinaus.138 Auch die akribische Hegel-Exegese, die der Meinecke-Schüler Franz Rosenzweig 1920 in zwei voluminösen Bänden vorgelegt hatte, wollte Schna‐ bel nicht gelten lassen. Rosenzweig hatte argumentiert, dass der Nationalismus des Deutschen Kaiserreichs von 1871, ja der Nationalismus ganz generell dem Hegel‐ schen Staatsbegriff fremd gewesen sei. „Ganz fern“ habe Hegel eine völkische Be‐ gründung des Staates gelegen, schreibt der jüdische Gelehrte, um Hegel ausdrück‐ lich gegen spätere Vereinnahmungen in Schutz zu nehmen: „Der Denker wird sich immer nur sichern können gegen die Kräfte, die er kennt und in seine Gedanken hin‐ eingebunden zu haben glaubt, nicht gegen die unbekannten, die er erst erweckt.“139 Schnabel, der Rosenzweigs Werk kannte, ging bei seiner Hegel-Deutung genau den umgekehrten Weg: Statt Hegel wie Rosenzweig zu historisieren, verfolgt Schnabel in den frühen 1930er Jahren einen wirkungsgeschichtlichen Ansatz. „Grenzenlos […], aber durchaus formal“ sei Hegels Staatsbegriff gewesen, lässt Schnabel seine Leser wissen, und er folgert, dass sich mit Hegels formaler Machtstaatskonzeption „alle denkbaren Inhalte“ hätten verbinden können, der radikale Nationalismus eben‐ so wie die Diktatur des Proletariats.140 Die Frage freilich, ob diese Einschätzung einer eingehenden Hegel-Lektüre standhält, steht auf einem anderen Blatt.141 Während sich Schnabel mit seiner Hegel-Interpretation also scharf von Franz Rosenzweig und Friedrich Meinecke abgrenzte, so fand er in dem sozialdemokra‐ tischen Juristen Hermann Heller einen Gewährsmann. Heller hatte 1921 seine Ha‐ bilitationsarbeit unter dem Titel „Hegel und der nationale Machtstaatsgedanke in Deutschland“ vorgelegt und darin Argumente ausgearbeitet, die Schnabel zehn Jahre später in seiner Deutschen Geschichte aufgreifen sollte. Heller hatte Hegels Rechts‐ philosophie als „Stahlbadphilosophie“ karikiert, mit der sich noch jede staatliche Aggression als „Dienst am Weltgeiste“ verklären lassen; für den Juristen jedenfalls war ausgemacht, dass Hegel nicht nur als „erster Verkünder einer in allen wesent‐ lichen Teilen ausgebauten nationalen Machtstaatslehre“ zu gelten habe, sondern auch als „Vater des modernen Imperialismus.“ Im Licht seiner Generalthese, der Staat Hegels sei auf „Macht, Macht und noch einmal Macht“ gegründet, liest sich

138 139 140 141

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Schnabel 1934, S. 13. Rosenzweig 2010, S. 449, 457f. Schnabel 1934 S. 26f. Ernst Cassirer, der 1945 als Emigrant unter dem Eindruck der ihn umgebenden totalitären Staaten sein letztes Buch „Vom Mythos des Staates“ vorgelegt hatte, vermerkte dort, zunächst ganz im Sinne Schnabels: „Kein anderes philosophisches System hat so viel zur Vorbereitung des Fascismus und Imperialismus getan, als Hegels Lehre vom Staate“, Cassirer 1945/22016, S. 356. Den Unterschied zwischen Hegel und den totalitären Systemen sah Cassirer indessen darin, dass jener niemals die Gleichschaltung der Kunst, der Philosophie, der Religion und des gesamten gesellschaftlichen Lebens gebilligt hätte. Vgl. auch die liberale Hegel-Lektüre bei Avineri 1976, sowie zuletzt Klaus Viehwegs Vorschlag, Hegel als „Philosoph der Freiheit“ zu lesen: Viehweg 2019.

Hellers Schlusssatz wie ein Menetekel: „Die bislang unzulängliche Politisierung Deutschlands sichert Hegel auch für die Zukunft fortdauernden Einfluß.“142 Mit solchen Versuchen einer politischen Aktualisierung Hegels sah sich Schnabel zehn Jahre nach Hellers Abrechnung konfrontiert. So kündigte er einen seiner histo‐ risch-politischen Diskussionsabende, die er vom Sommersemester 1931 bis zum Wintersemester 1933/34 an der Technischen Hochschule Karlsruhe anbot, unter dem Titel „Probleme des modernen Staatslebens im Anschluss an die Erneuerung der He‐ gelschen Rechtsphilosophie der Gegenwart“ an. In der Tat war in der Endphase der Weimarer Republik und besonders im Hegel-Jahr 1931 eine ganze Reihe von Studi‐ en erschienen, die an Hegels Rechtsphilosophie anknüpfend den Liberalismus und seine Freiheitslehren kritisierten, um erneut auf spekulativem Weg die Legitimität des liberalen Rechtsstaats zu denunzieren: „Naturrecht und positives Recht sind […] jedes für sich und im Gegensatz zu dem andern genommen, unwahre Abstraktio‐ nen“, so der in Göttingen lehrende, 28jährige Privatdozent Karl Larenz 1931, der ab 1933 in Kiel tätig war und dort als Haupt der „Kieler Schule“ eine „völkische Rechtswissenschaft“ entwickelte.143 Die Nationalsozialisten bedienten sich gerne dieser neuhegelianischen Ansätze, die Juristen wie Julius Binder, Gerhard Dulckheit und Karl Larenz, aber auch Philosophen wie Theodor Haering nach 1933 zu einer Apologie des Führerstaats fortentwickelt hatten.144 Die Rolle des Rechtshegelianis‐ mus als Rechtfertigungsideologie des „Dritten Reichs“ war allerdings selbst unter dessen intellektuellen Apologeten umstritten. So notierte Carl Schmitt 1933: „An diesem 30. Januar ist der Hegelsche Beamtenstaat des 19. Jahrhunderts, für den die Einheit von Beamtentum und staatstragender Schicht kennzeichnend war, durch eine andere Staatskonstruktion ersetzt worden. An diesem Tag ist demnach, so kann man sagen, ‚Hegel gestorben‘“.145 Schnabel hatte das 1933 anders gesehen. Was ihn und seine Deutsche Geschichte betrifft, so hatte der Zensor der „Parteiamtlichen Prü‐ fungskommission zum Schutze des NS-Schrifttums“ Schnabels Hegel-Kapitel durchaus richtig verstanden, als er im September 1938 in einem Schreiben an den Herder-Verlag den weiteren Vertrieb des Werkes unter Hinweis auf das Hegel-Kapi‐ tel des dritten Bandes untersagte.146

142 Heller 1921, S. 123, 131, VI, 210. Zu Heller vgl. Stolleis 1999 , S. 183-185, Hacke 2018, S. 176-190. 143 Larenz 1931, S. 5-29, hier S. 25; zum Rechtshegelianismus dieser Zeit vgl. Kiesewetter 1974, S. 231-350 (zweite völlig veränderte Ausgabe Frankfurt 1995), zu Larenz und der Kieler Schule ebd., S. 294-302. Wie man heute mit Hegel die „subjektiven Rechte“ und den „forma‐ len“ Rechtsstaat dialektisch demontieren kann, führt Menke 2015, vor. 144 Busse 1931; Binder / Busse / Larenz 1931; Binder 1929 (mit einer scharfen Kritik an Meine‐ cke 1924); Binder 1934. 145 Schmitt 1933, S. 31f. 146 Wohl auf Grund einer Initiative des „Amtes Rosenberg“ wurde der Vertrieb im Januar 1939 allerdings wieder freigegeben, vgl. Hertfelder 1998 , S. 690-703 sowie S. 579 mit Anm. 506.

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6. Ausblick und Fazit Spätere Würdigungen von Schnabels Werk heben in der Regel in einem Atemzug sein Eintreten für die Demokratie von Weimar sowie seine entschiedene Gegner‐ schaft gegen das nationalsozialistische Regime hervor. Ersteres trifft ohne Zweifel zu, letzteres hingegen nur mit Einschränkungen. Gewiss, Schnabel war neben Walter Goetz und Hermann Oncken der prominenteste unter den wenigen deutschen Histo‐ rikern, die im „Dritten Reich“ ihren Lehrstuhl nicht aus „rassischen“, sondern vor‐ wiegend aus politischen Gründen verloren hatten. Im Unterschied zu Goetz und On‐ cken, die zu Beginn der NS-Diktatur ohnehin ihr Emeritierungsalter erreicht hatten, war Schnabel erst 48 Jahre alt, als ihm der Prorektor der Technischen Hochschule Karlsruhe am 15. Juli 1936 die vom „Führer und Reichskanzler“ unterzeichnete Ent‐ pflichtungsurkunde aushändigte; der vierte Band seiner „Deutschen Geschichte“ stand gerade kurz vor der Drucklegung. 1938/39 war die weitere Auslieferung der „Deutschen Geschichte“ unter Hinweis auf „gravierende politische Entgleisungen“ untersagt worden, ebenso die Drucklegung eines im Manuskript bereits vorliegenden fünften Bandes.147 Wohl in dem Wissen, dass sowohl sein akademisches Lehramt als auch sein histo‐ riographisches Werk gefährdet waren, hatte sich Schnabel allerdings in den Jahren 1933 bis 1936 immer weiter von jenem Liberalismus distanziert, dessen Leistungen er in seiner Deutschen Geschichte eben noch gepriesen hatte. In öffentlichen Vorträ‐ gen der Jahre 1933/34 bekannte sich Schnabel stattdessen zu neokorporativen Ideen und zur Konzeption eines „organischen“ Reichsaufbaus; kurzzeitig sympathisierte er mit jener neuen, vom Kloster Maria Laach ausgehenden Reichstheologie, die den „Brückenschlag“ zum „Dritten Reich“ suchte und die der Historiker auf der in Maria Laach im Juli 1933 abgehaltenen, dritten „soziologischen Sondertagung“ des katholischen Akademikerverbandes mit einem Vortrag historisch untermauerte;148 auch rhetorische Verbeugungen vor dem „Führer“ hat Schnabel bei einzelnen öffent‐ lichen Auftritten nicht gescheut. Dass all dies nichts nützte, sollte er erst im Sommer 1936 erfahren. Neben der unbestreitbaren Qualität seines Hauptwerks trugen seine Entlassung und die Zensur seines Werkes durch das NS-Regime erheblich zu dem enormen Ansehen bei, das Schnabel als Inhaber des Lehrstuhls für Mittlere und Neuere Geschichte an der Universität München in den fünfziger und frühen sechzi‐ ger Jahren genossen hatte.149 Das Staatsverständnis, das Schnabel während der Weimarer Republik in seinen zahlreichen Werken zur Geschichte des 19. Jahrhunderts entwickelt hatte, reflektiert den damaligen Diskurs über die „Krisis“ des Liberalismus, der Demokratie und des 147 Vgl. Hertfelder 1998, S. 690-729. 148 Vgl. Schnabel 1933/34, S. 265-270 u. S. 297-307; vgl. auch Hertfelder 1998, S. 650-669. 149 Vgl. Hertfelder 2010, S. 233-258.

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Staates überhaupt. Anders als die Mehrzahl seiner Kollegen dachte Schnabel nicht vom Staat her – jeglicher Etatismus lag ihm fern; rationalistische Begründungen, die auf einen „schlanken“ Einheitsstaat hinauswollten, lehnte er ab: Das Reich war kein Industriekonzern. Inspiriert von neoidealistischen und vitalistischen Denkfiguren der Jahrhundertwende galt sein Interesse vielmehr dem Zusammenhang von Kultur, Ge‐ sellschaft und Staat, dem er unter Heranziehung auch der sozialwissenschaftlichen Literatur seiner Zeit auf die Spur zu kommen suchte. Einer kategorialen Trennung von Staat und Gesellschaft konnte er nichts abgewinnen, die frühneuzeitlichen Sou‐ veränitätslehren sah er als historisch notwendige Zwischenschritte auf dem Weg zu einem Staat, dessen liberale Durchdringung, rechtsstaatliche Einhegung und demo‐ kratische Legitimation er als bleibende Leistungen des 19. Jahrhunderts würdigte. Hatte Schnabel in den frühen Jahren der Weimarer Republik den vom Zerfall be‐ drohten Staat verschiedentlich mit hegelianischen Begriffen wie „objektiver Geist“ und „Sittlichkeit“ zu begründen versucht, so bezog er in den frühen dreißiger Jahren scharf gegen Hegel und zeitgenössische Versuche Stellung, dessen Lehre vom Staat politisch zu aktualisieren. Stattdessen optierte er für eine kantianische Begründung des Rechtsstaats; in Kants Begriff der Autonomie sah er zudem – und gegen Carl Schmitt – das entscheidende Bindeglied zwischen Liberalismus und parlamentari‐ scher Demokratie. Überhaupt machte er aus seinem Glauben an die Notwendigkeit einer naturrechtlichen Fundierung der subjektiven Rechte keinen Hehl, die er im Christentum, in der Französischen Revolution wie in Kants Rechtslehre historisch ausgeformt sah; einer relativistischen Auffassung von Demokratie, wie sie damals prominent Hans Kelsen vertrat, stand er ebenso fern wie generell der positivistischen Rechtslehre. Die Weimarer Reichsverfassung und den Staatsaufbau des Deutschen Reichs interpretierte er vielmehr im Licht der von Otto von Gierke150 entwickelten und von Hugo Preuß demokratisch gewendeten Genossenschaftstheorie und distan‐ zierte sich damit klar von der zeitgenössischen Auffassung, die Demokratie von Weimar sei ein Importprodukt der westlichen Siegermächte. Dies lag auch in der Konsequenz der Argumentation seines Hauptwerks, in dem er die Entfaltung von Staatlichkeit in Deutschland wie kaum ein anderer deutscher Historiker seiner Zeit im europäischen Kontext gedeutet und immer wieder die überragende Bedeutung der Französischen Revolution auch für die deutschen Verhältnisse hervorgehoben hat. Diese sah er zugleich von einzelstaatlichen, föderalen Traditionen bestimmt, zu denen er sich mit großer Emphase bekannte. Schnabels Rekonstruktion des 19. Jahrhunderts ist von einem durchgehend kul‐ turkritischen Unterton bestimmt, der sich zuweilen zur Dominante steigert. Sensibi‐ lisiert für die Ambivalenzen der Moderne wie kaum ein anderer Historiker seiner Zeit nimmt Schnabel gleichwohl Einsichten späterer Forschung vorweg, etwa das

150 Zu Otto von Gierke vgl. den **Beitrag von Gerhard Dilcher in diesem Band.

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Paradigma von der „Verwissenschaftlichung des Sozialen“ oder Aspekte der von Wolfgang Reinhardt entwickelten „Geschichte der Staatsgewalt“. Reinhardt erklärt den entscheidenden Unterschied zwischen vormoderner und moderner Institutionen‐ kultur mit der „systematischen Gleichförmigkeit und Einheitlichkeit“ und mit jenem „Willen zur allumfassenden Rationalität“, die „seit dem 18. Jahrhundert zum wich‐ tigsten Merkmal der Moderne werden sollte.“151 Kaum anders hatte es Schnabel 70 Jahre zuvor in seiner „Deutschen Geschichte“ formuliert. Das vorausweisende Moment von Schnabels Deutung lässt sich noch an einem weiteren Aspekt festmachen. Wenn Schnabel immer wieder darauf insistiert, dass der moderne Staat, wie er sich im 18. und 19. Jahrhundert entwickelt hat, von Ressourcen vormoderner Tradition und vom „Erbe des Mittelalters“ gezehrt habe, so nahm er damit eine These vorweg, die sein Schüler Ernst-Wolfgang Böckenförde ein Jahr nach Schnabels Tod in epigrammatischer Einprägsamkeit auf den Punkt gebracht hat: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. Das ist das große Wagnis, das er, um der Freiheit willen, eingegangen ist.“152 Wie später für Böckenförde so ist auch für Schnabel die Entstehung des modernen Staates in erster Linie als Vorgang der Säkularisation zu begreifen, und zwar gerade auch in seinen freiheitsverbürgenden Gehalten, die der Historiker etwa an der Gewaltenteilung und an den Menschen- und Bürgerrechten festmacht. Aus der Perspektive der späten zwanziger Jahre hegt Schnabel – anders als Böckenförde in der Bundesrepublik – allerdings nurmehr wenig Hoffnung, dass das Ringen um eine naturrechtliche Fundamentierung des Gemeinwesens noch zu deren Gunsten ausgehen könne. Die mehr in überlieferten Traditionen verbürgten als in modernen Verfahren erzeugten gesellschaftlichen Bindekräfte vermag er in der Endphase der Weimarer Republik kaum noch zu erkennen, so dass seine Beschwö‐ rung der „ewigen Werte“ in der 1933 verfassten Einleitung zum zweiten Band seiner Deutschen Geschichte ins Leere läuft.153 Die Bedeutung der „Deutschen Geschichte im neunzehnten Jahrhundert“ als einer in vieler Hinsicht singulären historiographi‐ schen Leistung im Zeitalter der Extreme wird dadurch nicht geschmälert.

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Martin Otto Des Reiches Amtmann. Fritz Hartung (1883-1967) als Historiograph der Realpolitik

1. Dürre Zeilen „Er steht nicht in der Neuen Deutschen Biographie, wohl aber im Brockhaus.“ Un‐ gewöhnlich hatte Werner Schochow1, Bibliothekar an der Staatsbibliothek (West-)Berlin, den Artikel zum hundertsten Geburtstag von Fritz Hartung begonnen, der am 12. Januar 1983 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erschien.2 Das war zutreffend, aber auch verschleiernd. Der Große Brockhaus enthielt 1969 ein knappes Lemma zu Hartung3, der Inhalt, in Schochows Worten „dürre dreieinhalb Zeilen“ und „lapidar“, beschränkte sich neben Lebenseckdaten auf „wurde 1922 Prof. in Kiel, 1923 in Berlin. H. ist vor allem als Verfassungshistoriker bekannt“ und eine knappe Auswahlbibliographie. Das entsprach allerdings den Lemmata anderer His‐ toriker.4 Immerhin: Fritz Hartung gehörte 1969, zwei Jahre nach seinem Tod, zum Minimum an Allgemeinbildung. Dass die Neue Deutsche Biographie als deutsche Nationalbiografie Hartung nicht verzeichnete, besaß einen sachlichen Grund, denn er war am 24. November 1967 verstorben. Der in Frage kommende achte Band Hartmann – Heske hatte am 30. Juni 1968 Redaktionsschluss, das jüngste Todesda‐ tum im 1969 erschienenen Band besaß der am 9. Mai 1967 verstorbene Reichsjus‐ tizminister Oskar Hergt.5 Für Schochow war dies Indiz, dass Hartung „im Osten kaum noch gekannt, in Westen von der jungen Generation weitgehend abgeschnit‐ ten“ sei. Dabei gelangte Hartung erst nach 1945 in den Brockhaus. Die von 1928 bis 1935 erschienene 15. Auflage6 fiel mit Hartungs produktivsten Jahren zusam‐ men, berücksichtigte ihn aber nicht, obwohl zahlreiche lebende Vertreter der Ge‐ schichtswissenschaft verzeichnet waren. Zum Nationalsozialismus hatte Hartung im‐ mer Distanz gehalten; doch verzeichnete ihn das wichtigste Lexikon im nationalso‐ Zu diesem Walravens 1990; ferner Schochow 2019. Schochow 1983 b. Brockhaus 1969, S. 203. Ähnlich knapp waren etwa Karl-Dietrich Erdmann, Gerhard Ritter, Theodor Schieder und Hans Herzfeld vertreten, etwas umfangreicher Hartungs Lehrer Otto Hintze, erheblich länger Golo Mann und Friedrich Meinecke. 5 Freundliche Auskunft Dr. Stefan Jordan, Historische Kommission bei der Bayerischen Akade‐ mie der Wissenschaften vom 28. September 2020 („Hartung hat in der Tat aufgrund seines To‐ desdatums keinen Artikel in der NDB bekommen“). 6 Keiderling 2005, S. 102 ff. 1 2 3 4

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zialistischen Deutschland7, die 8. Auflage von Meyers Lexikon: „1915 Prof. in Halle, 1922 in Kiel, seit 1923 in Berlin, 1935 Mitglied des Sachverständigenbeirats des Reichsinstituts für Geschichte des neuen Deutschlands, beschäftigte sich bes. mit der neueren Verfassungsgeschichte.“8 Inhaltliche Aussagen zum Werk wurden in Demo‐ kratie wie Diktatur vermieden. In späteren Würdigungen wird mit Regelmäßigkeit betont, Hartung sei „wohl der einzige deutsche Historiker von einiger Bedeutung“ gewesen, „der in allen fünf politischen Regimen, die es seit dem Kaiserreich in Deutschland gegeben hat, wissenschaftlich aktiv gewesen ist“, nämlich Kaiserreich, Weimarer Republik, Nationalsozialismus, Bundesrepublik und DDR.9 Dies legt die Frage nach dem Staatsverständnis nahe, auch wenn man in Rechnung stellt, dass Hartung sich wie die meisten damaligen Wissenschaftler als „unpolitisch“ verstan‐ den hat. Berufliche Aktivität in fünf Staatsformen, bei einem längeren Leben im Deutschland des 20. Jahrhunderts keinesfalls ungewöhnlich, gewinnt meist erst an Relevanz, wenn es sich um eine Person „von einiger Bedeutung“ handelt. Hartungs Bedeutung beruht auch darauf, dass sein Familienname bis weit in die neunziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts als Deonym, ein von einem Eigennamen abge‐ leitetes Substantiv, für ein historisches Grundlagenwerk gebraucht wurde. Der Har‐ tung ist die Deutsche Verfassungsgeschichte vom 15. Jahrhundert bis zur Gegen‐ wart, lange das „Standardwerk seiner Disziplin.“10 Die erste Auflage war noch im Kaiserreich, unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg erschienen11, die letzte Neuaufla‐ ge in der Bundesrepublik im Jahr des „Machtwechsels“ 1969.12 Das Vorwort der 4. Auflage datierte vom Dezember 1932, zwischen 1933 und 1945 war keine Neuaufla‐ ge erschienen, aus den Bibliotheken verschwunden war der Hartung allerdings nie. Seine „Unsterblichkeit“ teilt er mit unterschiedlichsten Grundlagenwerken, der Quellenkunde zur deutschen Geschichte von Friedrich Christoph Dahlmann (ab 1830) und Georg Waitz (ab 1840), dem Bücherverzeichnis zur deutschen Geschichte des Mainzer Historikers Winfried Baumgart (ab 1971), der Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft des Stuttgarter Altphilologen August Friedrich Pauly (ab 1837), dem Reallexikon der germanischen Altertumskunde des Heidelber‐ ger Anglisten Johannes Hoops (ab 1911), dem Handbuch der deutschen Geschichte des Berliner Realschulprofessors Bruno Gebhardt (ab 1891), dem Auszug aus der al‐ ten, mittleren und neuen Geschichte des Französischlehrers Friedrich Karl Ploetz (ab 1863) oder dem eigenwilligen Stein-Kulturfahrplan des Physikers und Politikers

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Keiderling 2012. Meyer 1938, Sp. 884. Kraus 2019, S. 2; ähnlich bereits Kraus 2012, S. 307, auch Schochow 1983. Mit gleicher Be‐ rechtigung ließe sich dies allerdings auch für den Jenaer evangelischen Kirchenhistoriker Karl Heussi (1877-1961) feststellen. 10 Kraus 2012, S. 307. 11 Hartung 1914. 12 Hartung 1969.

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Werner Stein (ab 1946); für die Verfassungsgeschichte wäre die Deutsche Verfas‐ sungsgeschichte seit 1789 von Ernst Rudolf Huber zu nennen (ab 1957). Anders als der siebenbändige Huber13, der bereits angesichts seines Materialreichtums immer noch benutzt wird, dürfte der Hartung, bei dem in der letzten Auflage von 1969 die Verfassungsentwicklung von 1933 bis zur Gegenwart mit der sowjetischen Besat‐ zungszone endet, mittlerweile nur noch in Ausnahmefällen Verwendung finden. Aber Hartungs „eigentliches Hauptwerk“14, das ihn sein gesamtes Gelehrtenleben begleitete, war die Deutsche Verfassungsgeschichte.

2. „Ein Historiker in der Zeit“ 2. 1. „Das deutsche Kaiserreich von 1871 bis 1918“ Fritz Hartung wird am 12. Januar 1883 in einer „preußischen Ministerialbeamtenfa‐ milie“15 in Saargemünd, dem heute französischen Sarregumines (Moselle) geboren, ein Vorort des zur preußischen Rheinprovinz gehörenden Saarbrücken; die Matrikel der Berliner Universität verzeichnet als Vaterland Lothringen.16 Der Vater Paul Har‐ tung ist Baurat im militärischen Liegenschaftswesen, am 6. August 1847 geboren und hatte mit Auszeichnung am Krieg 1870/71 gegen Frankreich teilgenommen17; in der preußischen Landwehr ist er Leutnant. Kurz nach Geburt des Sohnes wird er zum XIV. preußischen Armeekorps Karlsruhe als Garnison-Bauinspektor mit Dienstsitz Freiburg im Breisgau versetzt; er veröffentlicht zum Kasernenbau.18 Die Mutter Marie Eckardt, geboren am 21. Mai 1856, ist die Tochter des Beamten der badischen Post- und Eisenbahnverwaltung Friedrich Eckardt. Ihre Enkelkindschaft zum liberalen Historiker Carl von Rotteck wird behauptet19, lässt sich aber nicht oh‐ ne weiteres belegen.20 Fritz Hartung verbringt die Kindheit mit zwei Schwestern in der Schwimmbadstraße 46 in Freiburg-Wiehre und besucht das Berthold-Gymnasi‐ um. Er erlebt als preußischer Protestant prägende Jahre in einer nichtpreußisch-süd‐ deutschen und mehrheitlich katholischen Umgebung. Der Vater wird 1899 nach Ber‐ 13 14 15 16 17 18 19 20

Dazu insbesondere Grothe 2005, S. 317 f. Kraus 2014, S. 307. Nur Schochow 1983 a, S. 223. Amtliches Verzeichnis des Personals und der Studierenden der Königlichen Friedrich-Wil‐ helms-Universität zu Berlin. Auf das Sommersemester vom 26. April bis 15. August 1905, Berlin 1905, S. 110. Kraus 2019, S. 6. Die Armee des Großherzogtums Baden war seit 1871 Bestandteil der preußi‐ schen Armee. Hartung 1898. Etwa Schochow 1983 a, S. 223. Carl von Rotteck hatte drei Töchter, nämlich Marie, verheiratete Ruef, Amalie, verheiratete Rettig und Sofie, verheiratete Dopfer, eine Eheschließung mit einem Träger des Namens Eckardt ist nicht nachweisbar. Vgl. Becke-Klüchtzner 1886, S. 384.

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lin als „Intendant und Baurath“ (stellvertretender Behördenleiter) im „Bau-Auf‐ sichtsbezirk Berlin für die militärischen Institute“ zur Garnison-Bauverwaltung im preußischen Kriegsministerium versetzt21; die Familie zieht nach Berlin in die Ans‐ bacher Straße 35, nicht weit vom Kurfürstendamm. Hartung besucht das Prinz-Hein‐ rich-Gymnasium in der Klixstraße in Berlin-Schöneberg, an dem auch Professoren der Berliner Universität unterrichten, darunter der Rechtshistoriker Bernhard Kübler. Zum Wintersemester 1901/02 immatrikuliert sich Hartung für Geschichte an der Berliner Universität, ab 1902 in Heidelberg, seit Ostern 1903 wieder in Berlin, dies‐ mal mit Wohnung in der Bayreuther Straße 10. Daneben belegt er Philosophie und Nationalökonomie. Am 17. Juli 1905 beendet Hartung, gerade 22 Jahre alt, sein Stu‐ dium mit der mündlichen Doktorprüfung zum Dr.phil., das Datum der Promotions‐ urkunde datiert vom 25. November 1905. Doktorvater ist der 1902 auf ein persönli‐ ches Ordinariat für Verfassungs-, Verwaltungs-, Wirtschaftsgeschichte und Politik berufene Otto Hintze.22 Hartung hat ein Thema gewählt, das gleichzeitig süddeutsch und preußisch ist, die Verwaltungsgeschichte der Markgrafschaft Ansbach-Bayreuth unter Carl August von Hardenberg.23 Die Beziehung zu Hintze ist ambivalent;in Hintzes Jubiläumsband Die Hohenzollern und ihr Werk wird Hartungs Promotions‐ thema 1915 ungewöhnlich knapp abgehandelt.24 Im Alter beklagt sich Hartung, dass Hintze in ihm „nie mehr als den Schüler gesehen“, nie „Fachprobleme“ mit ihm be‐ sprochen und ihn „nicht für philosophisch veranlagt“ gehalten habe.25 Hartungs neue akademische Heimat nach der Promotion wird die erst am 17. Dezember 1904 ge‐ gründete Gesellschaft für fränkische Geschichte26, deren wissenschaftlicher Leiter der in Würzburg lehrende österreichische Historiker Anton Chroust ist.27 Ein Schwerpunkt ist die Verfassungsgeschichte des Fränkischen Kreises, ein neues For‐ schungsgebiet.28 Innerhalb der Gesellschaft ragt darin der von 1896 bis 1907 in Er‐ langen lehrende Richard Fester heraus,29 beraten von dem Heidelberger Historiker Bernhard Erdmannsdörfer, einem Droysen-Schüler und Herausgeber von Akten des Großen Kurfürsten.30 Im süddeutsch-katholischen Kontext ist die Bereitschaft, das „Alte Reich“ positiv zu sehen, größer als in der preußisch-kleindeutschen Historio‐

21 Handbuch über den Königlich Preußischen Hof und Staat für das Jahr 1902, Berlin 1901, S. 179. 22 Neugebauer 2015, S. 255 f. 23 Hartung 1906. 24 Hintze 1915. 25 Schreiben Fritz Hartung an Gerhard Oestreich, „Berlin, 13. Februar 1964“, abgedruckt in: Kraus 2019, S. 752-754. 26 Wendehorst 2010. 27 Herde 2012. 28 Grundsätzlich Kraus 2009; zeitgenössisch Chroust 1910, S: XIX („Denn das Interesse an diesem Kapitel unserer Verfassungsgeschichte ist überhaupt erst erwacht.“). 29 Hartung 1949. 30 Chroust 1910, S. XXII. Zu Erdmannsdörfer Oestreich 1959.

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graphie.31 Fester beauftragt Hartung mit der Edition von Akten zur Fränkischen Kreisgeschichte aus Archiven in Nürnberg, Bamberg und Würzburg. Als Fester 1907 nach Kiel geht, arbeitet Hartung unter dem als „schwierig“ und „rücksichtslos“ beschriebenen32 Chroust weitere drei Jahre. Hartung hält Kontakt zu Fester, auch als dieser 1908 nach Halle wechselt und verfasst eine in der süddeutschen Verfassungs‐ geschichte beheimatete Habilitationsschrift zu den Reichsständen unter Karl V. von 1546-1555.33 Am 31. Januar 1910 wird Hartung für Mittlere und Neue Geschichte in Halle habilitiert, das Lebensmittelpunkt des jungen Privatdozenten wird. Er wohnt am Advokatenweg 15 a II, nicht weit von Burg Giebichenstein. Hier entstehen auch die ersten zwei Auflagen der Verfassungsgeschichte. Der Vater verstirbt kurz nach Eintritt in den Ruhestand als Geheimer Oberbaurat am 12. Mai 1913 in Berlin; als Angehöriger der Garnisonkirchengemeinde wird er auf dem Alten Garnisonfriedhof in der Linienstraße beigesetzt. Im gleichen Jahr vermittelt Fester die Mitarbeit an einer Verwaltungsgeschichte von Sachsen-Weimar zur Goethezeit.34 Mehrere Mona‐ te hält Hartung sich für Archivstudien in Weimar auf, auch den Beginn des Ersten Weltkriegs erlebt er dort. Der Kriegseinsatz beschränkt sich zunächst auf Hilfsdiens‐ te beim Roten Kreuz. Ein Ruf nach Kiel als Nachfolger von Felix Rachfahl, der 1914 nach Freiburg gegangen war, zerschlägt sich; berufen wird Arnold Oskar Meyer.35 Am 25. März 1915 wird Hartung zum Ersatzbataillon des „2. Ober-Elsässi‐ schen Infanterieregiment Nr. 171“ in Colmar einberufen; im gleichen Jahr wird er in Halle außerordentlicher Professor. Häufig wird der seit der Kindheit lungenkranke Hartung in Genesungsheime verlegt, doch als Soldat gelangt er auch 1915 nach Russland, erlebt die Front und die Schützengräben auf dem Gebiet der heutigen Re‐ publik Belarus und wird zu einem Kurs für Offiziersanwärter nach Wilna, das litaui‐ sche Vilnius, abkommandiert. Seit dem 10. Januar 1916 ist Hartung Unteroffizier, sein Zugführer Leutnant Leopold Smend36, dessen Bruder Rudolf im Vorjahr mit mi‐ nisterieller Berliner Unterstützung von Tübingen nach Bonn gewechselt ist. Seit April 1916 erneut an Tuberkulose erkrankt, verbringt Hartung die nächsten Monate in Lazaretten und Krankenhäusern, seit November 1916 im Diakonissenhaus Halle in seiner Nachbarschaft. Ende des Jahres wird Hartung, mit dem Eisernen Kreuz II. Klasse und später dem Verwundetenabzeichen in Schwarz ausgezeichnet, aus der Armee entlassen, bleibt aber leidend; insgesamt verbringt er vier Jahre in Lazaretten, Sanatorien, Krankenhäusern und Kuranstalten.

31 Zum Geschichtsbild der älteren preußischen Historiographie (mit Verweisen auf die Ausnah‐ men Hartung und Fester) Neugebauer 2018, S. 543. 32 Kraus 2019, S. 63 („bekannt wegen seines schwierigen Charakters und einer den damaligen akademischen Gepflogenheiten nicht entsprechenden Rücksichtslosigkeit“); Herde 2012, S. 39. 33 Hartung 1910 a. 34 Kraus 2019, S. 80.Als Buch dann Hartung 1923. 35 Kraus 2019, S. 6. Zu Arnold Oskar Meyer Kraus 2012, S. 245-262. 36 Kraus 2019, S. 111.

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2.2. „Das Deutsche Reich unter der Weimarer Verfassung von 1919 bis 1933“ Bedeutung gewinnt für den ungebrochen produktiven Historiker der „Freundeskreis in Halle“, zu dem der Nationalökonom Gustav Aubin, die Historiker Hermann Au‐ bin und Siegfried August Kaehler, der Philosoph Paul Menzer, zeitweilig auch der Jurist Erich Kaufmann gehören; das Ende der Monarchie erleben sie illusionslos, der nüchtern betrachteten Republik rechnen sie die Verhinderung von Anarchie und Rä‐ teherrschaft an. 1922 scheitert Hartung als Nachfolger von Otto Hintze in Berlin, der Rauf geht an Willy Andreas, doch erhält er im gleichen Jahr als Nachfolger von Ar‐ nold Oskar Meyer den Ruf zum ordentlichen Professor für Geschichte in Kiel. Er zieht in die Moltkestraße 3 in Kiel-Düsternbrook und liest „Allgemeine Verfassungsund Wirtschaftsgeschichte der Neueren Zeit“, „Entwicklung des Staatensystems im Zeitalter des Imperialismus“ und „Übungen zur Geschichte der Reformationszeit.“ Im gleichen Jahr wird Hartung auf Betreiben von Heinrich Mitteis am 17. Juli 1923 für seine verfassungsgeschichtlichen Arbeiten mit dem juristischen Ehrendoktor der Universität Köln ausgezeichnet; am gleichen Tag wird auch dem Kölner Oberbür‐ germeister Konrad Adenauer der juristische Ehrendoktor verliehen.37 Zudem heiratet Hartung in Kiel die am 4. Januar 1888 in Hamburg geborene Witwe Anna Christel Henriette „Anni“ Buss38, die zwei Kinder in die Ehe einbringt; ihr erster Mann, Ka‐ pitänleutnant Berndt Buss, war am 9. März 1917 mit dem U-Boot U 48 im Ärmelka‐ nal ums Leben gekommen.39 Die Tochter eines promovierten Hamburger Apothe‐ kers und liberalen Bürgerschaftsabgeordneten stammt aus der hannoverschen Beam‐ ten- und Offiziersfamilie von Reiche, zur engeren Verwandtschaft gehören der Kom‐ mandeur der Marineschule Kiel Vizeadmiral Ernst von Reiche (1840-1912), ein Mit‐ glied des Marinekabinetts von Kaiser Wilhelm II.40, und die gräfliche Familie von Posadowsky-Wehner. 1923 wird Hartung als Nachfolger von Willy Andreas auf den Lehrstuhl für Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte sowie Wirtschaftsgeschichte und Politik in Berlin berufen; die Familie zieht in die Konstanzer Straße 39; in der Nähe wohnt die verwitwete Mutter in der Xantener Straße 16. Spätestens mit der Hochzeit wird die jüngere deutsche Geschichte zum weiteren Schwerpunkt; 1927 er‐ scheint Die Marokkokrise des Jahres 1911 über den Diplomaten Alfred von Kider‐ len-Waechter.41 Auch Hartungs Berliner Schüler promovieren über Themen aus dem

37 Schochow 1983 a, S. 221. 38 Auch die Schreibweisen „Busz“ und „Buß“ nachgewiesen. 39 Dufeil 2011. Der „einzige Junge“, Hartungs Stiefsohn Eick Buss, kommt als Offiziersanwärter der Reichsmarine 1932 mit dem Schulschiff Niobe im Fehmarnbelt ums Leben; Kraus 2019, S. 224. 40 Jentzsch 2017, S. 267. 41 Hartung 1927 a.

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„deutschem Kaiserreich“, etwa Theodor Eschenburg42, Wilhelm43 und Wolfgang Treue44, Richard Dietrich45 und der marxistische Historiker Ernst Engelberg46. Nur Gerhard Oestreich arbeitet zu der brandenburg-preußischen Verwaltungsgeschichte unter dem Großen Kurfürsten47 Ab 1927 gibt Hartung bei der Preußischen Akade‐ mie der Wissenschaften die Jahresberichte für deutsche Geschichte heraus. Dabei verknüpft er „großdeutsche“ Gesinnung mit Weltoffenheit: „Die neuen Jahresberich‐ te beschränken sich auf die deutsche Geschichte. Wir gehen dabei, wie es sich von selbst versteht, von dem historischen Deutschland, nicht vom heutigen Umfang des Deutschen Reiches aus und berücksichtigen daher auch die Gebiete, die einst zum Deutschen Reiche gehört haben, aber im Laufe der Geschichte von ihm getrennt worden sind. Wir behandeln ferner diejenigen Glieder des deutschen Volkes, die au‐ ßerhalb des politischen Reichsverbandes stehen, bringen also einen Abschnitt über das Deutschtum im Auslande, der in den alten Jahresberichten fehlte, und ziehen auch die ausländische Literatur zur deutschen Geschichte in weitestem Umfang her‐ an, wobei wir der in Deutschland bisher vielfach weniger beachteten wissenschaftli‐ chen Arbeit der slawischen und der anderen osteuropäischen Nationen aus prakti‐ schen Erwägungen heraus besondere Abschnitte widmen.“48

2. 3. „Die Zeit des Nationalsozialismus 1933 bis 1945“ Unmittelbare Folgen hat die „Ernennung Hitlers zum Reichskanzler“49 für Hartung zunächst nicht, der Tod des Reichspräsidenten Paul von Hindenburg am 2. August 1934 verschafft ihm eine Auftragsarbeit, ein Reclam-Heft über Paul von Hinden‐ burg. Erstmals schreibt Hartung für ein weit über das universitäre Milieu hinausge‐ hendes Publikum. Hindenburg, Repräsentant des Hartung wohlvertrauten militäri‐ schen Milieus, wird als Verkörperung „der alten Grundlagen des preußischen Staa‐ tes“ und „der Autorität des Staates“50, als Diener am Staat über dem „Parteien‐ 42 Theodor Eschenburg, Das Kaiserreich am Scheideweg. Bassermann, Bülow und der Block. Nach unveröffentlichten Papieren aus dem Nachlass Ernst Bassermanns, Berlin 1929. 43 Wilhelm Treue, Die deutsche Landwirtschaft zur Zeit Caprivis und ihr Kampf gegen die Handelsverträge, diss. phil. Berlin 1933. 44 Wolfgang Treue, Der Erwerb und die Verwaltung der Marshall-Inseln. Ein Beitrag zur Ge‐ schichte der Jaluit-Gesellschaft, diss. phil. Berlin 1940. 45 Richard Dietrich, Die Tripolis-Krise 1911/12 und die Erneuerung des Dreibundes 1912. Ein Beitrag zur allgemeinen Politik der Vorkriegsjahre, diss. phil. Berlin 1933. 46 Ernst Engelberg, Die deutsche Sozialdemokratie und die Bismarcksche Sozialpolitik, diss. phil. Berlin 1933/34. 47 Gerhard Oestreich, Der brandenburg-preußische Geheime Rat vom Regierungsantritt des Gro‐ ßen Kurfürsten bis zu der Neuordnung im Jahre 1651. Eine behördengeschichtliche Studie, Würzburg 1937. 48 Brackmann/Hartung 1927 b, S. I. 49 Formulierung nach Hartung 1969, S. 343. 50 Hartung 1934, S. 65.

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gezänk“ gezeichnet, aber auch als Unterstützer der „Erfüllungspolitik“ von Gustav Stresemann.51 Einige Wertungen wie die „Unentbehrlichkeit Hitlers und der auf ihn vertrauenden Massen“52 oder die abschließende Schilderung des „Tags von Pots‐ dam“ erscheinen aus heutiger Sicht befremdend, doch war der Spielraum hier ge‐ ring; immerhin werden „Hitlers Anspruch auf unbedingte Führung“ und der künftige „autoritäre“ Staat deutlich benannt.53 Hartung profitiert aber auch vom Bedeutungs‐ gewinn der Verfassungsgeschichte, als diese erstmals 1935 in der Studienordnung vorgeschrieben wird.54 Sichtbare Folge sind zahlreiche neu erscheinende Verfas‐ sungsgeschichten, etwa von Ernst Forsthoff. Hartung ist bereits eingeführt, seine 1933 erschienene vierte Auflage zunächst der einzige lieferbare Titel. Die „meistver‐ kaufte Verfassungsgeschichte in Nationalsozialismus“55 wird allerdings das 1937 erstmals erschienene Lehrbuch des Tübinger Rechtshistorikers Hans-Erich Feine, der als Sohn des Hallenser Theologieprofessors Paul Feine und ehemaliger Privatdo‐ zent der juristischen Fakultät auch zum näheren Umfeld des „Freundeskreises in Halle“ gehört. Im Vorwort wird durch Feine „die an sich ausgezeichnete[n], aber für den Juristen doch etwas umfangreiche[n] Verfassungsgeschichte von Fr. Hartung“ prominent aufgeführt.56 Nicht nur in der Bewertung des Rheinbundes, der für Feine in offener und teilweise wörtlicher Anlehnung an Hartung die „unstaatliche Welt des deutschen Südens und Westens […] an staatliches Leben gewöhnt“ habe, sind offene Bezüge auf Hartung zu erkennen.57 Hartungs Mutter stirbt am 31. Juli 1938 in Ber‐ lin. 1939 zieht Hartung letztmals in Berlin um, in die Lagardestraße (seit 1972 Ber‐ gengruenstraße) im Bezirk Zehlendorf am Schlachtensee, in der Nähe der Berliner Wohnungen von Smend und Kaufmann. 1939 wird Hartung in die Preußische Aka‐ demie der Wissenschaften gewählt; einige ihn protegierende Mitglieder wie die Ju‐ risten Ernst Heymann und Ulrich Stutz bringen dem Nationalsozialismus Sympathi‐ en entgegen, doch die Akademie wird Hartungs wichtigster Rückzugsraum. 1942 wird er zudem korrespondierendes Mitglied der Bayerischen Akademie der Wissen‐ schaften.

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Hartung 1934, S. 59. Hartung 1934, S. 67. Hartung 1934, S. 37. Grothe 2005, S. 190. Otto 2008, Sp.1531. Feine 1943, S. III; der Hinweis war seit der ersten Auflage unverändert. Feine 1943, S. 57.

2. 4. „Beginn der staatlichen Neugestaltung Deutschlands“ 2. 4. 1. „Die sowjetische Besatzungszone“ 1945 bleibt Hartung „Lehrer der Geschichte“ an der Berliner Universität und wird Dekan der Philosophischen Fakultät. Im November 1945 nimmt er an einer Konfe‐ renz zur Neuordnung des Schulwesens in der Sowjetischen Besatzungszone teil.58 In der Akademie der Wissenschaften wird er 1946 zum Sekretar der Philosophisch-Hi‐ storischen Klasse gewählt. Gemeinsam mit Johannes Stroux erstellt er eine Liste po‐ litisch belasteter Akademiemitglieder.59 Auch die „Verkündung der Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik“60 am 7. Oktober 1949 hat an der Akademie wenig unmittelbare Folgen für den an der Universität seit 1949 auf eigenen Wunsch emeritierten61 Hartung. 1951 wird Hartung Sekretar der neuen „Gesellschaftswissen‐ schaftlichen Klasse“. Am 16. Dezember 1951 berichtet Hartung Friedrich Baethgen von einer „unheimliche[n] Geschäftigkeit“ auf den „Gebiet der Geschichte“ in der DDR62 Der Versuch, Hartung für den Beirat des „Museums für Deutsche Geschich‐ te“ zu gewinnen63, scheitert an formalen und inhaltlichen Differenzen; am 10. März 1952 erklärt er den Austritt aus dem Beirat, als dessen Mitglied er sich nie betrachte‐ te.64 1951 wird bekannt, dass der sowjetische Historikers Arkadij Erusalimskij (1901-1965) in einem seiner Bücher Hartung als Befürworter des deutschen Impe‐ rialismus bezeichnet65; das Buch erscheint 1954 in einer deutschen Übersetzung von Leon Nebenzahl im Dietz-Verlag der SED66, doch offenbar ohne Folgen für Har‐ tung. Er wird auch gebraucht, weniger als Aushängeschild denn für die tatsächliche Arbeit; von der Akademie wird erwartet, so zu arbeiten, „dass ihre Leistungen auch in Westdeutschland als wissenschaftlich anerkannt sind.“67 An der Akademie setzt sich insbesondere der „Referent für Gesellschaft“, der Althistoriker Johannes Irm‐ 58 59 60 61 62 63 64

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Schulze 1994, S. 188 f. Schulze 1994, S. 176. Begriff nach Hartung 1969, S. 376. Kraus 2019, S. 516. Kraus 2019, S. 618. Vgl. auch Schulze 2014, S 184. Schreiben Prof Dr. Ertel (Vizepräsident Deutsche Akademie der Wissenschaften) an Hartung, „Berlin, den 23. 1. 1952“ mit Glückwunsch zur Berufung in den Beirat des „Museums für Deutsche Geschichte“; Archiv BBAW, AKL 45-68 Pers. Nr. A 155. Schreiben Hartung an „Herrn Präsidenten des wissenschaftlichen Rates des Museums für Deutsche Geschichte“, „10. 3. 52“; Austritt mit Verweis, „dass die politische Propaganda einen sehr wesentlichen Teil der Arbeit des Museums einnehmen wird“; Archiv BBAW, AKL 45-68 Pers. Nr. A 155. „Der Referent für Geisteswissenschaften“ (Johannes Irmscher) an den „Herrn Direktor“, „Ber‐ lin, den 20. 11. 51“; Archiv BBAW, AKL 45-68 Pers. Nr. A 155. Verwiesen wurde auf die Erstausgabe von Hartung „Deutscher Geschichte“ von 1920, in der, richtig wiedergegeben, Imperialismus als Ausdruck der „Lebenskraft der Völker“ bezeichnet wurde. Erusalimskij 1954; teilweise deutsche Veröffentlichungen unter „Jerussalimski“. Schreiben Fritz Hartung an Friedrich Baethgen, „Berlin, 16. Dezember 1951“; abgedruckt Kraus 2019. S. 618-619 (619).

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scher68, für ihn ein. Auch das Glückwunschschreiben des DDR-Ministerpräsidenten Otto Grotewohl, das Hartung zu seinem 70. Geburtstag 1953 an seine West-Berliner Anschrift erhält, stammt von Irmscher.69 In einer Beurteilung wird über Hartung ver‐ merkt: „Er verhält sich ausgesprochen loyal gegenüber der Deutschen Demokrati‐ schen Republik; er ist jedoch nicht bereit, gegen die Politik der bonner Regierung Stellung zu nehmen.“70 Hartungs Verständnis von Dienst am Staat korrespondiert konstant mit seinen Veröffentlichungen. Von 1954 bis 1960 ist Hartung Vorsitzender der Leibniz-Kommission der Akademie, sein Nachfolger, der Marxist Ernst Bloch71, amtiert nur kurze Zeit und verlässt sie 1961; dies verdeutlicht, wie sehr sich die Wis‐ senschaftspolitik der DDR in den letzten Lebensjahren Hartungs verändert. Als eme‐ ritierter Professor mit Wohnsitz in West-Berlin erhält Hartung seit 1949 nach dem Recht der Bundesrepublik Altersbezüge. Mit fast buchhalterischer Korrektheit ver‐ bietet er sich von der DDR Zahlungen für seine Arbeit in der Akademie oder Leis‐ tungen einer zusätzlichen Altersversorgung in Mark der DDR, wie sie für alle Ar‐ beitnehmer vorgeschrieben ist.72 Auch nach dem Mauerbau 1961 ist es Hartung möglich, nach Ost-Berlin zu reisen73; er nimmt weiter an Akademiesitzungen teil, doch das Alter fordert zunehmend seinen Tribut.

2. 4. 2. „Das Grundgesetz für die Bundesrepublik“ Die 1948 gegründete Freie Universität Berlin betrachtet Hartung als „etwas proble‐ matische Gründung, getragen vom […] politischen Eifer […] einiger Stadtverordne‐ ter“ und ohne „halbwegs ausreichenden Lehrkörper.“74 Hartung lebt seit 1945 im Amerikanischen Sektor von Berlin, hat seinen Arbeitsplatz aber immer im sowjeti‐ schen Sektor. Der Verfassungshistoriker lässt sich von der Verfassungswirklichkeit weder Wohnsitz noch Arbeitsplatz dekretieren. 1945 protestiert Hartung gegen den Umzug der Moumenta Germaniae Historica nach Bayern. Im März 1946 stützt Har‐ tung diese Forderung sogar auf eine zweifelhafte Kompetenz des Berliner Magistrats bis zu einer staatlichen Neuordnung Deutschlands, sämtliche ehemaligen histori‐

68 Zu diesem Wielgohs 2010. 69 „Entwurf zu einem Glückwunschschreiben des Herrn Ministerpräsidenten an Hrn. Hartung“, „Berlin, den 12. Januar 1953“; Archiv BBAW, AKL 45-68 Pers. Nr. A 155. 70 Entwurf Beurteilung „Berlin, den 30. Juli 1952“; Archiv BBAW, AKL 45-68 Pers. Nr. A 155. 71 Schreiben Prof. Dr. Werner Hartke (Präsident Deutsche Akademie der Wissenschaften) an Har‐ tung, „Berlin, den 29. Februar 1960“; Archiv BBAW, AKL 45-68 Pers. Nr. A 155. 72 Schreiben Dewey (Direktor Deutsche Akademie der Wissenschaften) an Hartung, Vermerk „Vertraulich“, „Berlin, den 19. Juni 1963“; Archiv BBAW, AKL 45-68 Pers. Nr. A 155. 73 „Notiz über ein Gespräch mit Hrn. Hartung am 25. Aug. 1961“, die „Kontrolle an der Grenze sehr höflich und korrekt“, Hartung konnte mit seinem Akademieausweis „sofort passieren“; Archiv BBAW, AKL 45-68 Pers. Nr. A 155. 74 Schreiben an Friedrich Baethgen, „Berlin, 16. November 1948“; Kraus 2019, S. 516.

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schen „Reichsinstitute“ in Berlin konzentrieren.75 Ab 1951 leitet Hartung die Berli‐ ner Außenstelle der MGH. Für die Neue Deutsche Biographie, die er in ihrer be‐ kannten Form ablehnt76, bearbeitet er gleichwohl den Diplomaten Harry Graf von Arnim-Suckow77 und den preußischen Minister und Gelehrten Johann Peter Ancil‐ lon78, über den er sich dabei „wegen der selbstgefälligen, wortreichen und inhaltsar‐ men Art seines Redens und Schreibens“, das „mehr breit als tief“ gewesen sei, ver‐ nichtend äußert; die Rückschlüsse auf das Selbstverständnis von Hartung sind evi‐ dent. Im Oktober 1964 schreibt Hartung in „Berlin-Schlachtensee“ letztmals das Vorwort der Verfassungsgeschichte neu. Hartung stirbt am 24. November 1967 in Berlin-„Schlachtensee“, wenige Monate vor seinem 85. Geburtstag; der Nachruf in der FAZ bezeichnet ihn als „Begründer der Verfassungsgeschichtsschreibung in Deutschland.“ Er wird, obwohl das Grab seiner Eltern im Ostteil der Stadt fortbe‐ steht, in Hamburg im Familiengrab der Schwiegereltern auf dem Hauptfriedhof Ohlsdorf (Stiefsohn Eick liegt im Niobe-Gemeinschaftsgrab auf dem Nordfriedhof Kiel) beigesetzt, wie seine am 18. August 1976 verstorbene Witwe. Das Grab wird von der Friedhofsverwaltung als „aufgelöst“ bezeichnet und nicht mehr gepflegt, ist aber im Oktober 2020, wie das Grab der Eltern in Berlin, noch vorhanden.

3. Der „Hartung“ und der Staat: „Deutsche Verfassungsgeschichte vom 15. Jahrhundert bis zur Gegenwart“ 3.1. Aloys Meister und der „Grundriss der Geschichtswissenschaft“ Der auch in der Verfassungsgeschichte hervorgetretene Münsteraner Historiker Aloys Meister79, ein 1866 in Frankfurt am Main geborener Katholik aus dem Umfeld der Görres-Gesellschaft, hatte 1906 die Lehrbuchreihe Grundriss der Ge‐ schichtswissenschaft zur Einführung in das Studium der deutschen Geschichte des Mittelalters und der Neuzeit im Verlag B. G. Teubner in Leipzig begründet.80 Er richtete sich in erster Linie an Studenten, denen er „den augenblicklichen Stand der Geschichtswissenschaft“ vermitteln wollte. Dabei sollten die Leser durch „reiche Literaturangaben, besonders in Kontroversfragen“ in die Lage versetzte werden, „das Gebotene weiter zu verfolgen und die Begründung des ausgesprochenen Ur‐

Schulze 1994, S. 195 f. Kraus 2019, S. 597. Hartung 1953 b. Hartung 1953 a. Grothe 2005, S. 88 ff. Meister gebrauchte für seinen Vornamen teilweise auch die Schreibweise „Alois“. 80 Meister 1906, S. 1; insgesamt zur Reihe Mütter 1971, S. 205-207.

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teils zu prüfen.“81 Aus verlegerischen Gründen verteilten sich das Gesamtwerk auf Einzellieferungen82, die ersten erschienen 1906, angeführt vom Methodenband von Meister selbst83 und Bänden zu historischen Hilfswissenschaften wie Diplomatik oder Heraldik. Viele Autoren waren Archivare, nicht wenige hatten einen katholi‐ schen, süddeutschen oder österreichischen Hintergrund84, zudem hatte Meister auch jüngere Kollegen berücksichtigt. Bereits einen Namen gemacht hatte sich der 1906 in Gießen lehrende Protestant Hermann Oncken, ein Schüler von Max Lenz, dessen angekündigter Band Quellen und Historiographie der Neuzeit allerdings nie er‐ schien. Für die zweite Auflage konnte Meister für den Band mit gleichem Ergebnis Onckens Schüler Franz Schnabel gewinnen. Als Historischen Sonderwissenschaften erschienen Wirtschafts- und Kirchengeschichte, im damaligen Sprachgebrauch Ver‐ fassungsgeschichte der Kirche.

3.2. Autorschaft durch Zufall Die eigentliche „Verfassungsgeschichte“ war auf zwei Bände verteilt, wobei Meister mit Deutsche Verfassungsgeschichte von den Anfängen bis ins 15. Jahrhundert 1907 den Anfang machte. Er betonte Abhängigkeiten: „Verfassungsgeschichte ist nahe verwandt mit Rechtsgeschichte. […] Deutsche Rechtsgeschichte und deutscher Ver‐ fassungsgeschichte erkennen in Karl Friedrich Eichhorn ihren gemeinsamen Stamm‐ vater.“85 Ein angekündigter rechtshistorischer Band von Hubert Naendrup86, von 1902 bis 1945 Professor für deutsche Rechtsgeschichte in Münster, erschien nicht, aber nach längerer Pause 1912 die Deutsche Rechtsgeschichte des Münchner Privat‐ dozenten Claudius von Schwerin. Der 1880 geborene Schüler Karl von Amiras ging zum Reihenherausgeber auf Distanz: „Meine Bemühungen um eine Änderung des Titels hatten keinen Erfolg […]“87 Er habe den Titel Deutsche Rechtsgeschichte „nicht zu beanspruchen“, da Wirtschafts- und insbesondere Verfassungsgeschichte fehlten.88 Für den zweiten Teil der Verfassungsgeschichte war der seit 1902 in Münster Mittlere und Neuere Geschichte lehrende Georg Erler89 vorgesehen, der aus

81 Hartung 1914, Klappentext. 82 Die Bände erschienen „um ein möglichst rasches Erscheinen zu ermöglichen“ in Einzelbänden, die jedoch im Buchhandel nicht einzeln, sondern nur im Rahmen des Gesamtwerkes erhältlich waren. 83 Meister 1906, S. 1-20. 84 Eine „süddeutsche“ Ausrichtung von Hartungs Verfassungsgeschichte betonte auch Hashagen 1919, S. 369. 85 Meister 1907, S. 1. 86 Meister 1907, S. 1. 87 Schwerin 1912, S. III. Vgl. auch Grothe 2005, S. 88 (Fn. 169). 88 Schwerin 1912, S. 1. 89 Zu diesem: Blecher 1999.

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gesundheitlichen Gründen 1911 den Auftrag zurückgegeben hatte90, worauf Meister an Hartung, seit einem Jahr Privatdozent, herangetreten war.91 Im April 1912 unter‐ zeichnete Hartung den Verlagsvertrag92; das Erscheinen der zweiten Auflage hatte bereits begonnen. Hartungs Verfassungsgeschichte lag im Juni 1914 erstmals vor. Der Grundriss überlebte Krieg, Inflation und sogar seinen 1926 in Münster verstor‐ benen Herausgeber; ab 1928 erschien die dritte Auflage. Hartung war an allen Auf‐ lagen beteiligt und erreichte als einziger Autor eine vierte Auflage, die 1933 heraus‐ kam. Später betonte Hartung, dass sich der Zusammenhang mit der Reihe „freilich von Anfang an auf die Erwähnung auf dem Titelblatt beschränkt“ habe.93

3. 3. Erstauflage 1914 Im Rückblick erinnerte sich Hartung: „Vorbereitet in der Schule von O. Hintze und durch die mehrjährige Beschäftigung mit der Geschichte des fränkischen Reichskrei‐ ses, deren ersten von 1521 bis 1559 reichenden Band ich 1909 mit einer weitausho‐ lenden Einleitung über die Entstehung der deutschen Kreisverfassung in der deut‐ schen Verfassungsgeschichte seit dem Interregnum abgeschlossen hatte, mit den Problemen der deutschen Verfassungsgeschichte des ausgehenden Mittelalters ver‐ traut, habe ich die Aufgabe übernommen und ohne jede Beteiligung Meisters oder Erlers durchgeführt.“94 Ursprünglich war das Erscheinen für den Herbst 1913 vorge‐ sehen, doch erst im Sommer 1914 lag die schlanke, insgesamt 174 Seiten umfassen‐ de Deutsche Verfassungsgeschichte im Buchhandel vor. Das Vorwort datierte vom 21. Mai 1914, der 68. Geburtstag der seit dem 12. Mai 1913 verwitweten Mutter. Hartung benannte ein klares Programm, nämlich die fehlende „zusammenfassende Darstellung der deutschen Verfassungsgeschichte der neueren Zeit“ vorzulegen; die zahlreichen Werke zur „Staats- und Rechtsgeschichte“, könnten „dafür keinen Ersatz bieten, abgesehen davon, dass sie in der Regel bei der Schilderung der zu verschie‐ denen Perioden gültigen Rechtszustände stehen bleiben und die Entwicklung der Verfassungsformen im Zusammenhang mit der Entwicklung staatlichen Lebens au‐ ßer acht lassen, behandeln sie die neuere Zeit nur ganz knapp.“95 Der Verzicht auf „juristische Begriffsgeschichte“ wurde auch von Rezensenten aus der Geschichts‐ wissenschaft wie Justus Hashagen, ein Schüler von Karl Lamprecht, wohlwollend hervorgehoben.96 Hartungs Kritik machte auch vor dem Grundriss keinen Halt; die 90 91 92 93 94 95 96

Mütter 1971, S. 206 f.; Erler starb am 30. Juni 1913 in Münster. Hartung 1964, S. IX. Grothe 2005, S. 108. Hartung 1964, S. IX. Hartung 1964, S. IX. Hartung 1914, S. 1. Hashagen 1919, S. 368 (Verzicht auf „Übermaß an juristischer Begriffsgeschichte“).

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bereits in zweiter Auflage vorliegende Verfassungsgeschichte von Meister wurde als negatives Beispiel aufgeführt, daneben das Lehrbuch der deutschen Rechtsgeschich‐ te von Richard Schröder, die Grundzüge der deutschen Rechtsgeschichte von Hein‐ rich Brunner, die Deutsche Verfassungsgeschichte von Andreas Heusler sowie die Allgemeine Staatslehre von Richard Schmidt. Neben den als historische Quellen‐ sammlungen geschätzten fürstenrechtlichen Werken von Hermann Schulze wurden weitere Juristen mit dem Prädikat „für den Historiker brauchbar“ geadelt. Dazu zähl‐ ten zwei Schriftenreihen, die von Konrad Beyerle herausgegebenen Deutschrechtli‐ chen Beiträge, die von Otto von Gierke herausgegebenen Untersuchungen zur deut‐ schen Staats- und Rechtsgeschichte und nicht zuletzt Gierkes Genossenschaftsrecht. Ein Wissenschaftler besaß bei Hartung große Präsenz, der in Berlin und Heidelberg lehrende, nach damaliger Begrifflichkeit auch als Rechtshistoriker geltende histo‐ rische Mediävist Karl Zeumer (1849-1915).97 Dieser hatte seit 1905 die bis in die Gegenwart benutzte Quellensammlung Quellen und Studien zur Verfassungsge‐ schichte des Deutschen Reichs in Mittelalter und Neuzeit herausgegeben. Hartungs Lehrer Otto Hintze hatte seinen Aufsatz Der Commissarius und seine Bedeutung in der allgemeinen Verwaltungsgeschichte 1910 in der Festgabe zum 60. Geburtstag von Zeumer veröffentlicht. Hartung hatte auch monographische Untersuchungen Zeumers wie Heiliges römisches Reich deutscher Nation hinzugezogen. Zu Zeumers Schülern zählte Rudolf Smend, der bei diesem im Wintersemester 1900/01 die Semi‐ nararbeit Zur Verfassungsgeschichte des Reichskammergerichts in den Jahren 1495-1654 geschrieben hatte98, der Anstoß zu seiner 1908 bei Albert Hänel vorge‐ legten rechtshistorischen Habilitationsschrift.99 Auch Smend zählte zu den von Har‐ tung überdurchschnittlich wahrgenommenen Juristen. Mit Smends ebenfalls in der Zeumer-Festgabe enthaltenem Aufsatz Zur Geschichte der Formel von Kaiser und Reich in den letzten Jahrhunderten des alten Reichs100 hatte sich Hartung bereits 1913 kritisch auseinandergesetzt.101 Zwischen Smend und Hartung hatte im August 1913 ein Briefwechsel mit Austausch von Veröffentlichungen begonnen, dessen Ge‐ genstand auch die Reichsreform war.102 In der Verfassungsgeschichte kritisierte Har‐ tung an Smend, dieser habe den Bedeutungswandel der Formel „Kaiser und Reich“ angesichts des unter dem erblichen Königtum des Habsburger fortbestehenden Grundsatzes zwischen Reichs- und Hausinteressen, dessen Nachteile sogar noch ver‐ stärkt wurden, verkannt. Das Reich sei „bei Abschluss der kirchenpolitischen Strei‐ tigkeiten der vierziger Jahre des 15. Jh.s […] leer ausgegangen“ Hartung wehrte sich 97 98 99 100 101 102

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Erler 1998. Duchhardt 2011, S. 90. Duchhardt 2011, S. 89. Smend 1910; vgl Hartung 1914, S. 5. Hartung 1913, S. 52. Schreiben Hartung an Smend, „Halle (Saale), den 1. August 1913“; SUB Göttingen, Nachlass Rudolf Smend.

gegen den Vorwurf, anachronistische Begriffe zu gebrauchen. „Es sind nicht etwa moderne Begriffe, die wir in jene Zeit hineintragen, wenn wir Reichsinteresse und Hausinteresse unterscheiden. […] So verändert die Formel ‚Kaiser und Reich‘ all‐ mählich ihre Bedeutung. Während die beiden Begriffe ursprünglich identisch gewe‐ sen sind, nur dass der Kaiser das individuelle Oberhaupt, das Reich die allgemeine und dauernde Organisation ist, tut sich im 15. Jh. ein Gegensatz auf, der später zur vollen Trennung des Kaisers und des Reiches als der Gesamtheit der Stände ohne den Kaiser geführt hat.“ Eine Veröffentlichung Smends in der Zeitschrift der Monu‐ menta Germaniae Histiorica von 1907103 war Hartung Referenz für die Reichsre‐ formschrift des Magdeburger Domherren Heinrich Tokes.104 Auf Smends Habilitati‐ onsschrift zum Reichskammergericht wurde ebenso verwiesen; nicht nur Hartung war von einem Erscheinen des zweiten Bandes ausgegangen.105 Hartung vermeidet einen frühen Gebrauch des Staatsbegriffs106, nicht im Mittelalter und auch nicht in der Frühen Neuzeit; einen staatstheoretischen Ehrgeiz besaß Hartung erkennbar nicht. Eher mittelbar wurde die Entstehung des modernen Staates angedeutet; die „Entwicklung der landesherrlichen Gewalt, der Verwaltung und des Beamtentums“ und des „territorialen Finanzwesens“ hätten bereits im 15. Jahrhundert „Keime mo‐ derner Staatsbildung“ gezeigt.107 Nicht in der Verfassungsgeschichte, sondern 1912 in einem Aufsatz über Fürstentestamente hatte Hartung für das 16. und 17. Jahrhun‐ dert geschrieben: „Es war kein wirklicher Staat, sondern halb Staat, halb große Guts‐ wirtschaft.“108 Hartungs Skepsis gegenüber dem Reichsgesetzgeber war groß; die Reichsverfassung des 15. Jahrhunderts „das Ergebnis eines lange dauernden Zerset‐ zungsprozesses, den keine allgemeine Reichsgesetzgebung aufgehalten hat.“ Real‐ politisch grundierte Skepsis gegenüber juristischer Literatur war häufig: „Noch blieb in der Theorie der deutsche König ein so gut wie unumschränkter Herr; ja, je mehr das römische Recht in die Staatstheorie eindrang, desto mehr wurden dem König al‐ le Rechte des römischen Imperator zuerkannt.“109 In der Wirklichkeit hätten die Ter‐ ritorien „der königlichen Gewalt die Grundlage entzogen“ und „das alte Reich zer‐ setzt.“ „Sie sind so selbständige Gewalten geworden und haben eine solche Bedeu‐ tung namentlich für die Entstehung des modernen Staates erlangt […]“ Die Analyse der Reichsverfassung nach dem Dreißigjährigen Krieg überraschte daher wenig. „Schon war es mit dem Reiche so weit gekommen, dass es allen staatsrechtlichen Theorien Hohn sprach.“110 Dem bekannten „überlegenen Spott“ Pufendorfs [„irregu‐

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Smend 1907, insbesondere S. 49. Hartung 1914, S. 7. Hartung 1914, S. 17. Grothe 2005, S. 111-. Hartung 1914, S. 28. Hartung 1912; Stolleis 1988, S. 341. Hartung 1914, S. 4. Hartung 1914, S. 99.

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lare aliquod corpus et monstro simile“, M.O.] stimmte Hartung zu, doch „für die praktische Politik war sein Buch [De statu imperii Germanici, M.O.]unfruchtbar, wußte nichts anderes vorzuschlagen, als abzuwarten, bis das Hause Habsburg aus‐ sterbe.“111 Johann Stephan Pütter reduzierte Hartung zeittypisch auf den Rechtsanti‐ quar ohne politische Ideen, da Pütter mit der Vorstellung vom Reich als zusammen‐ gesetzten Staatswesen „nichts Rechtes anzufangen“ wusste. Andere Wertungen wa‐ ren schärfer; der Reichstag „vertrödelte“ im 18. Jahrhundert seine Zeit, das Reichs‐ kammergericht „verknöcherte langsam.“ „Daß beide sich trotzdem bis ins Jahr 1806 hielten, ist kein Zeichen von Lebenskraft, sondern von der Unfähigkeit, Abgestorbe‐ nes zu beseitigen und durch Neues zu ersetzen.“112 Dass die mittleren und weltlichen Fürsten im Süden und Westen des Reichs noch lange am Reich festhielten, „erklärt sich auch aus ihrer geringen staatlichen Entwicklung.“113 Entsprechend milde war Hartung gegenüber dem Rheinbund: „Das Gesamturteil über die Reformen in den Rheinbundstaaten kann jedenfalls trotz allen ihren Fehlern und Schwächen nur güns‐ tig laufen. Es ist großes und bleibendes geschaffen worden. Mit einem Schlage ist nachgeholt worden, was der Absolutismus anderswo, z.B. in Brandenburg-Preußen, in langsamer Arbeit geleistet hatte. Vor allen Dingen: es ist die besondere Aufgabe gelöst worden, die diesen Staaten gestellt worden war, die Bruchstücke der alten deutschen Staatenwelt zu einem neuen einheitlichen Staatswesen zusammenzu‐ schweißen und sie mit staatlichem Bewusstsein zu erfüllen. Daß dieses Bewußtsein nicht deutsch war und sein konnte, ist selbstverständlich; aber es war doch schon ein Fortschritt, dass ein politisches Bewusstsein entstand.“114 Bismarck wurde gelobt, dass er „die deutschen Liberalen, auch die fürstlichen Standes, wie den preußischen Kronprinzen und der Herzog Ernst von Coburg-Gotha, zur Anerkennung der staatli‐ chen Macht, zum Verzicht auf die Starrheit der Parteigrundsätze, zur Realpolitik“ gezwungen habe.115 Die Bedeutung Bismarcks wurde hervorgehoben, obwohl in einer Verfassungsgeschichte „nicht der Ort“ sei, auf „Wesen“ und „Entwicklung“ einer Persönlichkeit einzugehen. Allerdings war Hartung gegenüber dem „Eisernen Kanzler“ für seine Verhältnisse außergewöhnlich biographisch, nämlich über mehre‐ re Zeilen. Das „Neue der Bismarckischen Politik“ war, dass für sie „nicht die Partei‐ doktrin“ maßgebend gewesen sei, „sondern das reale Interesse des Staates, sie ist Realpolitik im Gegensatz zu der Ideologie, die sowohl die liberalen wie die konser‐ vativen Politiker beherrschte.“116 Hartung begrüßte, dass Bismarck in der Reichsver‐ fassung „die farblosen Bezeichnungen Präsidium und Bund durch die altehrwürdi‐

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Hartung 1914, S. 100. Hartung 1914, S. 100; rückblickend Liebmann 2006. Hartung 1914, S. 101. Hartung 1914, S. 128. Hartung 1914, S. 164. Hartung 1914, S. 159.

gen Titel Kaiser und Reich“ ersetzt hatte117; für die Künstlichkeit dieser Begriffe wa‐ ren Juristen wie Paul Laband oder der von Hartung positiv hervorgehobene Heinrich Triepel hellsichtiger. Hartungs erste Verfassungsgeschichte hatte, Reminiszenz an den Geburtsort, ihren Abschluss in der elsass-lothringischen Verfassung von 1911.

3. 4. Folgeauflagen Als Hartung im September 1921 die Arbeiten am Vorwort der zweiten Auflage beendet hatte, war das geltende Verfassungsrecht ein anderes geworden. Hartung endete jetzt mit dem neuen Kapitel „Das Reich als Republik.“ In der Frühen Neu‐ zeit waren die Kapitel über die Landeshoheit zugunsten des Bandes von Meister fortgefallen, zudem hatte Hartung „den etwas zu lang geratenen Abschnitt über den brandenburgisch-preußischen Absolutismus“ gekürzt. Im Vorwort betonte er, dass diese Kürzung „mit den heutigen politischen Stimmungen nichts zu tun“ habe; auch die „Waffenbrüderschaft der Kriegszeit und die gemeinsame Not unse‐ rer Tage“ habe ihn nicht zu der etwa von dem Rezensenten Heinrich von Srbik geforderten Berücksichtigung der österreichischen Verfassungsgeschichte bewegen können. Erstmals erwähnte Hartung eine wissenschaftliche Debatte über den „staat‐ lichen Charakter des alten Reichs“118, wobei Hartung im Ergebnis Georg von Below und dessen „Nachweis für den staatlichen Charakter der deutschen Verfassung des Mittelalters“ zustimmte. Für Hartung war dies aber nur eine Scheindebatte: „Aber für die allgemeinen Fragen der deutschen Verfassungsgeschichte wird durch diese Betrachtungsweise doch nur wenig gewonnen. Namentlich die Festlegung auf einen allgemein gültigen formalen Staatsbegriff, der für das ganze Mittelalter und noch darüber hinaus maßgebend sein soll, läßt die eigentlichen Probleme nicht recht zur Geltung kommen, die für die Reichsverfassung mit dem Aufkommen der Territorien als neuer Mittelpunkte staatlichen Lebens gegeben sind.“119 Neu hinzugekommen war ein auf Zeumer gestütztes Kapitel „Das Reichsgebiet“ mit Sätzen von aphoristi‐ scher Schärfe: „Das Reich mit dem es die deutsche Verfassungsgeschichte bis 1806 zu tun hat, ist kein deutsches, sondern ein römisches Reich“120 und „Preußen hat dagegen stets außerhalb des Reichsverbandes gestanden.“121 Andernorts fielen Kon‐ tinuitäten auf, so bei der Formel „Kaiser und Reich“ und der Kritik an Smend122, 117 Hartung 1914, S. 166 f. 118 Grothe 2005, S. 111 (dort Hinweis auf den von Hartung nicht erwähnten „Streit um die The‐ sen von Paul Sander“, die der von 1866 bis 1919 lebende Historiker in seinem 1906 erschie‐ nenen Buch Feudalstaat und bürgerliche Verfassung. Ein Versuch zu einem Grundproblem der deutschen Verfassungsgeschichte formuliert hatte). 119 Hartung 1922, S. 3. 120 Hartung 1922, S. 4. 121 Hartung 1922, S. 5. 122 Hartung 1922, S. 7.

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Pufendorf und der Reichsverfassung nach dem Dreißigjährigen Krieg.123 Auch das Bild des Rheinbundes blieb positiv, doch hatte Hartung den konfessionellen Faktor verstärkt: „Auch darin wird man eine wichtige Errungenschaft dieser staatlichen Rheinbundpolitik sehen dürfen, dass sie, indem sie aus politischen Gründen sich um die Verbreitung von Aufklärung bemühte, den Anschluss der katholischen Länder Süddeutschlands an das im protestantischen Norden entstandene deutsche Geistes‐ leben herbeiführte.“124 Das war angesichts einer katholischen Aufklärung wie im Österreich des Josephinismus oder dem mehrheitlich protestantischen Königreich Württemberg angreifbar, entsprach aber einer weitverbreiteten „norddeutschen“ Hal‐ tung; von seinen süddeutschen Anfängen hatte sich Hartung etwas gelöst. Ausfüh‐ rungen zu Bismarck, den Liberalen und der Realpolitik blieben unverändert125, doch gerade in den letzten Kapiteln hatte sich die Verfassungsgeschichte am stärksten verwandelt, war die Tagespolitik eingedrungen. Neu akzentuiert wurde aber auch das monarchische Prinzip; unter der neu berücksichtigten Literatur war die 1906 in Halle bei Edgar Loening verteidigte juristische Dissertation von Erich Kaufmann Studien zur Staatslehre des monarchischen Prinzips. Ohnehin bestand eine Nähe zu der „Geisteswissenschaftlichen Richtung“, mit deren Vertretern Erich Kaufmann126, dessen Schüler Günther Holstein oder Rudolf Smend persönliche Schnittmengen bis hin zu dem Versuch einer Arbeitsbeziehung bestanden; im Frühjahr hatte Smend von Hartung einen Beitrag für einen Sammelband zum Wahlrecht erbeten127; Hartung hatte im Juni ein Manuskript zur Entwicklung des Wahlrechts in Süddeutschland erstellt128, doch der Band war wegen der allgemeinen politischen Entwicklung nie erschienen. 1928 hatte Hartung eine dritte, 1932 eine vierte Auflage vorgelegt, diesmal mit der lange vermissten österreichischen Verfassungsgeschichte. Mit dem faktischen Ende des Parlamentarismus auf Reichsebene ging die sachliche Linie zugunsten einer tagespolitischen Position zunehmend verloren.129 Zustimmend zi‐ tierte Hartung in der Ende 1932 abgeschlossenen vierten Auflage Die geistesge‐ schichtliche Lage des deutschen Parlamentarismus von Carl Schmitt.130 1929 hatte Hartung die Verfassungslehre von Schmitt und Verfassung und Verfassungsrecht von Smend besprochen, gegenüber Schmitt nicht ohne Kritik.131 Die 1934/35 geführte 123 124 125 126 127 128 129 130 131

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Hartung 1922, S. 96 f. Hartung 1922, S. 126 f. Hartung 1922, S. 163. 1917 distanzierte sich Hartung gegenüber Smend allerdings von Kaufmanns „Bismarcks Erbe in der Reichsverfassung“ (1917); Kraus 2019, S. 137. Der Brief ist nicht überliefert, doch geht dies aus dem Antwortschreiben von Hartung an Smend „Weimar, 16. April 1918“ hervor (SUB Göttingen, Nachlaß Rudolf Smend), abge‐ druckt bei Kraus 2019, S. 137-138. Postkarte Hartung an Smend, „Halle a. S.Advokatenweg 15 a, den 15. Juni 18“; SUB Göttin‐ gen, Nachlass Rudolf Smend. Grothe 2005, S. 136. Hartung 1933,S. 230. Hartung 1929.

Kontroverse zwischen Hartung und Carl Schmitt über den preußischen Konstitutio‐ nalismus war also nicht überraschend.132 Aus Sicht von Schmitt war Hartung nicht nur ein Vertreter der überlebten politischen Ordnung, sondern auch ein Verfassungs‐ historiker, der Juristen nahestand, mit denen Schmitt bereits seit der Weimarer Repu‐ blik Abneigung verband. Hartungs Bild von der konstitutionellen Monarchie war äl‐ ter und war noch im Konstitutionalismus, in der ersten Auflage der Verfassungsge‐ schichte, positiv formuliert worden, in dem vom „besondere[n] Charakter des preu‐ ßischen Staates als konstitutioneller Monarchie“ die Rede war. „Königtum, Beam‐ tentum und Heer haben ihre alte Stellung über den Parteien behauptet, das parlamen‐ tarische Regierungssystem West- und Osteuropas und des Musterlandes der preußi‐ schen Verfassung Belgien hat in Preußen keine Nachahmung gefunden.“133 Die zu‐ stimmenden Reaktionen von Rudolf Smends Schwiegervater Rudolf Hübner134 und Erich Kaufmann135 für Hartung, so berechtigt sie inhaltlich waren, hatten vor 1933 zurückreichende Wurzeln. Hartung hatte nie aufgehört, sine Verfassungsgeschichte fortzuschreiben. Bereits 1948 hatte er ein Manuskript fertiggestellt, dass er aufgrund der politischen Entwicklung im seit 1950 in Stuttgart ansässigen K. F. Koehler Ver‐ lag erscheint.136 Die Lehrbücher fügten sich erfolgreich in die bundesdeutschen Stu‐ dienpläne der Nachkriegszeit137, bis 1964 erschienen ausschließlich in der Bundesre‐ publik drei weitere Auflagen, die mit „Die sowjetische Besatzungszone“ endeten. Die deutsche Teilung bezeichnete Hartung als den „tiefsten Punkt“ der „deutschen Verfassungsentwicklung.“138 Carl Schmitt wurde bei der Beurteilung des Konstitu‐ tionalismus als „hinausgeschobene Entscheidung“ Recht gegeben.139 Die letzte pos‐ tume Auflage 1969 entsprach weitgehend der achten Auflage von 1964, doch waren noch „einige sachliche Verbesserungen […] nach Notizen Prof. Hartungs eingearbei‐ tet“ worden, zudem weitere Nachträgen von dem Potsdamer Archivar Heinrich Otto Meisner140 Doch die an sich in bis in die „Gegenwart“ fortzuführende Verfassungs‐ entwicklung der DDR, die seit 1968 eine neue „sozialistische“ Verfassung hatte, ent‐ sprach noch unverändert der Auflage von 1964.

132 133 134 135 136 137 138 139 140

Eingehend dazu Kraus 1999, auf dessen Darstellung hier verwiesen wird. Hartung 1914, S. 161. Abgedruckt bei Kraus 2009, S. 307 f. Abgedrruckt bei Kraus 2019, S. 306 f. Zu dem 1948 von Leipzig nach Stuttgart verlegten Verlag „K.F. Koehler“ (Amelang & Koeh‐ ler) und dessen für Hartung wichtigen Mitarbeiter Hellmut Köster nur Grothe 2005, S. 357, 399. Grothe 2010. Hartung 1969, S. 379. Hartung 1969, S. 266 f. Hartung 1969, S. IX. Zu Meisner auch Kraus 2019, S. 743; Hartung bezeichnete diesen 1961 als einzigen „Historiker alten Schlages“ in der DDR.

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4. Hartung und der Staat Zu seinem 80. Geburtstag 1963 sollte Hartung ein Glückwunschschreiben des ZK der SED erhalten, wiederum nach einer Vorlage von Johannes Irmscher. Es war be‐ sonders detailliert ausgefallen und hob ein Werk hervor: „Ihre 1923 erschienene Ge‐ schichte des Großherzogtums Sachsen/Weimar unter der Regierung Carl August ist darüber hinaus von besonderem Wert für die Literaturwissenschaftler der Deutschen Demokratischen Republik, die sich der Erforschung des nationalen Erbes der deut‐ schen Klassik widmen.“141 Einer sicherlich anders zu wertenden Kritik sah sich die Geschichte des Großherzogtums in der Bundesrepublik nach der Wiedervereinigung ausgesetzt. Kontrovers wurde ab 1999 der amerikanische Germanist W. Daniel Wil‐ son diskutiert, der explizit gegen Hartung den Vorwurf erhoben hatte, den reaktionä‐ ren Kleinstaat Sachsen-Weimar beschönigend dargestellt zu haben, eine öffentlich‐ keitswirksame Pointe. Pointen fielen Hartung umgekehrt schwer. Am 31. März 1935 hatte der Staatsrechtler Erich Kaufmann in einem Brief an Hartung den ihm verhass‐ ten Staatsrechtler Carl Schmitt kritisiert; bei diesem werde das Ergebnis „durch eine behauptete Antithetik vorweggenommen und mit einer bluffartigen glänzenden For‐ mulierung an den Anfang gestellt […] Die Zitate und Belege werden willkürlich zu‐ sammengetragen, sie sind meist aus dem Zusammenhang gerissene und nicht einmal Lesefrüchte sondern Blätterfrüchte […]“142 Das gilt im Umkehrschluss für Hartung. Bei ihm war alles Lesefrucht, aus der Bibliothek oder dem Archiv, nichts war durch oberflächliches Blättern in Büchern oder Akten gewonnen worden. Und Hartung war kein Meister der „bluffartigen glänzenden Formulierung.“ Die Stärke ist zu‐ gleich seine Schwäche; Hartung konnte auch geschliffen formulieren, doch die Poin‐ ten wurden zuweilen auf Kosten der Lesefrüchte und Fundstücke verschenkt, sie gingen unter. Ein zentraler Text für die Entstehung des modernen Staates, für den „Fortschritt in der Staatsauffassung schon im 15. und 16. Jahrhundert“ ist bei Har‐ tung seit der ersten Auflage seiner Verfassungsgeschichte eine 1420 getätigte „Äu‐ ßerung des Kurfürsten Friedrich I. von Brandenburg, daß er Gottes schlichter Amt‐ mann“ sei143; die auf die apokryphe und deswegen im späteren protestantischen Kontext ungebräuchliche Bibelstelle Weisheit Salomonis 6, 5144 gestützte Aussage findet sich durchgängig in allen Auflagen der Verfassungsgeschichte, 1969 sogar mit einem Verweis auf einen theologischen Aufsatz145, und in einem 1941 in Nürnberg

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Briefentwurf (o. D.), Archiv BBAW, Klassen 1945-1968 Nr. 214. Abgedruckt bei Kraus 2009, S. 306 f. Hartung 1914, S. 36. „Denn ihr seid seines Reichs Amtleute“ (Lutherübersetzung 1912, hier bezogen auf die „Regenten der Welt“). 145 Hartung 1969, S. 62 f.

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gehaltenen Vortrag.146 Doch zitiert wurde Hartung hier selten. Auch dass Hartung 1964 bei aller Distanz keinen Zweifel daran ließ, „daß die Deutsche Demokratische Republik als Staat vorhanden ist“147 erweckte kaum Widerspruch, weil es wohl kaum zur Kenntnis genommen wurde. Als verfassungshistorischer Autor wird der Materialsammler Hartung nur noch bedingt zur Kenntnis genommen. In einem mo‐ dernen Grundriss der Geschichte erscheint er als Kritiker des in der bundesdeut‐ schen Historiographie immer positiver gezeichneten Rheinbundes, sein differenzier‐ teres Bild von 1914 geht unter, da die Verfassungsgeschichte nur nach der Auflage von 1969 zitiert wird.148. Losgelöst von der Richtigkeit der Bewertung Schmitts durch Kaufmann; die „Blätterfrüchte“ haben im historischen „Schrifttum“ gegen‐ über den „Lesefrüchten“ zugenommen. Mehr noch als das Staatsverständnis ist die damit verbundene Arbeitsweise von Hartung fragwürdig geworden.

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Reinhard Mehring Konstitutionalismus und Antisemitismus. Carl Schmitts Rechtswissenschaftsgeschichte

Im Rahmen des vorliegenden Bandes ließe sich eine Darstellung von Schmitts Historisierung des Staatsbegriffs und Übergangs zum imperialen „Reichbegriff“ er‐ warten. Das gibt es aber bereits öfters.1 Der folgende Beitrag rekonstruiert Schmitts Auseinandersetzung mit dem modernen Konstitutionalismus deshalb in deren nor‐ mativer Engführung auf die Legitimitätsfrage. Dabei thematisiert er dessen antise‐ mitische Paranoia und Legende vom „Einbruch“ des „jüdischen Geistes“ in die deutsche Rechtswissenschaftsgeschichte. Viel ist seit dem ersten Erscheinen des Nachkriegstagebuchs Glossarium, 1991, über Schmitts scharfen und fortdauernden Antisemitismus geschrieben worden.2 Der folgende Beitrag betrachtet ihn nur in seiner programmatischen wissenschaftspoliti‐ schen Engführung. Er rekonstruiert Schmitts antisemitische Legende philologisch eingehend und betrachtet sie als negativen Endpunkt einer Legitimitätserzählung. Es soll gezeigt werden, dass die Apologie des Nationalsozialismus bereits 1934 in Legitimitätszweifel geriet, auf die Schmitt mit einer strategischen Umstellung auf eine antisemitische Rechtfertigung antwortete, der die eigene Legitimitätserzählung in mythische Fiktionen zerfiel.

1. Leerstellen im Verfassungsbild Schmitt verknüpfte seine ideen- und verfassungsgeschichtlichen Linien eng mitein‐ ander. Politische „Ideen“ betrachtete er als systembildende Kräfte und perspektivi‐ sche Spiegel bestimmter verfassungspolitischer Probleme, Konstellationen und Fra‐ gen. Über die europäische Antike und das Mittelalter äußerte er sich nur wenig. In den 1920er Jahren konzentrierte er sich auf die Epoche der Moderne, später analy‐ sierte er die neuzeitliche Emanzipationserklärung säkularer Staatlichkeit gegenüber der Kirche. Dazwischen arbeitete er – von 1922 bis 1938/39 – seine Verfassungsleh‐ re des Konstitutionalismus aus.

1 Einführend Mehring 2017; Kervégan 2019. 2 Dazu etwa Mehring 1992, Gross 2000, vgl. schon Hofmann 1988.

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Man sollte bei diesem Befund etwas verweilen und die erstaunliche Selektivität dieser deutschen Verfassungsgeschichte der Moderne in ihren Leerstellen fassen. Schmitt stellte bestimmte „Einbruchstellen“ und Pfade „okkasionell“ heraus. Zwar erörterte er früh die französische Verfassungsgeschichte der Revolutionszeit und lieferte Jahrzehnte später, mit der Theorie des Partisanen sowie Clausewitz als politischer Denker, auch einige Mosaiksteine zur „nationalen Erhebung“ Preußens gegen Napoleon nach; von einer detaillierten Verfassungsgeschichte des frühen 19. Jahrhunderts, der Zeit nach 1789 und 1815, kann aber schwerlich die Rede sein. Die Politische Romantik ignorierte die Frühromantik und polemisierte gegen den spätromantischen „bürgerlichen“ Opportunismus am Beispiel Adam Müllers; die ideenpolitischen Kämpfe seit 1815 thematisierte Schmitt aber stets erstaunlich verkürzt; positiv bezog er sich hier vor allem auf Hegel und die ersten Ansätze zur „Staatsphilosophie der Gegenrevolution“. Schmitt erörterte die Antworten auf 1789 und 1815 aber nirgends eingehend und betrachtete das Autorenspektrum der Epoche nach 1815 auch eigentlich erst in den wirkungsgeschichtlichen Folgen der Zeit nach 1848. Hier skizzierte er eine doppelte Wirkungsgeschichte Hegels im Junghegelianismus und Marxismus einerseits und über Lorenz von Stein in die Ver‐ waltungslehre und –praxis andererseits. Donoso Cortés spielte er als exzentrisches Gegenlicht aus. Dass Schmitt selbst die Ideengeschichte nach 1815 eigentlich erst in den Lang‐ zeitfolgen nach 1848 betrachtete, zeigt sich schon im selektiven Interesse an Hegel; Schmitt rezipierte vor allem den frühen Jenaer Hegel und nicht den späteren System‐ philosophen. Auch Eduard Gans und Julius Stahl erörterte er jenseits polemischer Seitenbemerkungen kaum. Überall beließ er es bei spärlichen und mitunter gar abwegigen Bemerkungen, die er aber für signifikant hielt. Von einer umfassenden Ideen- und Verfassungsgeschichte der Epoche nach 1789 und 1806, 1815 oder 1830 lässt sich nicht annähernd sprechen.

2. Die wissenschaftsgeschichtliche Perspektive und Linienführung Zweifellos wusste Schmitt über die Ideen- und Verfassungsgeschichte des deutschen Konstitutionalismus enorm viel. Er äußerte sich dazu auch immer wieder erhellend und streute interessante Bemerkungen aus, die hohes akademisches Anregungspo‐ tential hatten und Kohorten von Wissenschaftlern bis heute beschäftigen. So ließe sich ein interessantes Buch über „Schmitt und die Geistesgeschichte des Vormärz“ schreiben. Bevor man aber Perlen- und Blütenlese treibt, sollte man die einschlä‐ gigen Zusammenfassungen eingehender betrachten: insbesondere die Wissenschafts‐ geschichte Hugo Preuß und die verfassungsgeschichtliche Streitschrift Staatsgefüge

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und Zusammenbruch des zweiten Reiches. Deren Linien zeichnen sich schon früh ab. So heißt es im ersten Paragraphen der Verfassungslehre: „Für das verfassungstheoretische Denken des deutschen 19. Jahrhunderts ist Lorenz von Stein die Grundlage gewesen (und gleichzeitig die Vermittlung, in welcher Hegels Staatsphilosophie lebendig blieb). Bei Robert Mohl, in der Rechtsstaatslehre von Rudolf Gneist, bei Albert Haenel, überall sind die Gedanken von Stein zu erkennen. Das hört auf, sobald das verfassungsgeschichtliche Denken aufhört, nämlich mit der Herrschaft der Methoden von Laband, die sich darauf beschränkten, an dem Text verfassungsge‐ setzlicher Bestimmungen die Kunst der Wortinterpretation zu üben; man nannte das ‚Positivismus’.“3

Hier sind bereits einige Linien und Unterscheidungen gezogen, denen Schmitt le‐ benslang folgen wird, und der abschätzige Ton, mit dem Laband und der „Positivis‐ mus“ abgekanzelt werden, mag bereits Untertöne haben, die später antisemitisch stigmatisiert sind. So schreibt Schmitt 1936: „Im Jahre 1890 war der Sieg des verfassungsrechtlichen Positivismus entschieden, des‐ sen anerkannter Führer der jüdische Rechtsgelehrte Laband war. Der erste entscheidende Erfolg war Labands 1871 erschienene Schrift über das Budgetrecht.“4

Schmitts polemische Verfassungs- und Wissenschaftsgeschichte zeichnet stets schar‐ fe Linien und Fronten. So unterscheidet Schmitt zeitlebens zwischen einer „mecha‐ nistischen“ Linie des Positivismus und Normativismus und einer „organischen“ und „systematischen“ Gegenlinie, der er sich trotz aller Vorbehalte gegen „organische“ Metaphern zurechnet. Anfang Januar 1930 arbeitet er seine Rede über Hugo Preuss, den „Vater“5 der Weimarer Reichsverfassung, für die Reichsgründungsfeier aus. 1926 hatte Triepel in seiner Berliner Rektoratsrede Staatsrecht und Politik die Linie und Tendenz der „Konstruktionsjurisprudenz“ von Gerber und Laband bis Kelsen scharf kritisiert. Schmitt sieht diese Linie ähnlich kritisch, konzentriert sich in seiner Preuß-Rede aber mehr auf die positive und „organische“ Gegenlinie. Demnach formulierte die „organische“ Staatslehre einen Kompromiss des Bürgertums mit dem monarchischen Staat; Preuß übersetzte diese „organische“ Lösung dann durch das demokratische Angebot der „gleichen Chance“ in einen „Klassenfrieden“ zwischen Bürgertum und Arbeiterschaft. Schmitt kritisiert, dass diese Lösung ins „Extrem eines nichts wissenden, nichts unterscheidenden, agnostischen Staates“6 führte. Der Staat wurde zunehmend zur „Selbstorganisation“ der Gesellschaft, weshalb Smend der Staatstheorie die „Aufgabe der Selbstintegrierung der Gesellschaft“7 zuwies. Schmitt knüpft dagegen an ältere Residuen der Staatlichkeit an: an die durch Gneist 3 4 5 6 7

Schmitt 1928, S. 6. Schmitt 1940, S. 232. Dazu jetzt vorzüglich Dreyer 2018. Schmitt 1930, S. 19. Schmitt 1930, S. 21.

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noch auf Preuß wirkende Tradition des preußischen Beamtenstaates, die Hegel ini‐ tiiert habe. Dabei sei das theoretische Interesse am Staat nach dem Triumph von Labands „formalistischer“ Schule allerdings in die Nationalökonomie abgewandert und nach 1914 und 1918 verstummt. 1930 stellt Schmitt Preuß in eine Linie, die von Hegel über Lorenz v. Stein,8 Gneist, Gierke und Smend bis in die Gegenwart führt. Die positivistisch-normati‐ vistische Gegenlinie führte dagegen von Gerber und Laband über Anschütz zu Kelsen. Auch Jellinek, Otto Mayer9 und Weber10 sieht Schmitt in dieser Linie des „positivistischen“ Staatsdenkens. 1934 skizziert er in Über die drei Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens für das „konkrete Ordnungsdenken“ dann erneut die Linie Hegel, Stein, Gneist, Gierke,11 von der er Laband absetzt. Weitere Namen ließen sich eintragen. Nach 1933 codierte Schmitt seine wissenschaftsgeschichtliche Verfallslinie ver‐ stärkt antisemitisch. 1935/36 schrieb er Stahl und Bodin12 in seine Polemik hinein; 1942 korrigierte er seine „jüdische“ Stigmatisierung Bodins und erhob ihn stattdes‐ sen zum „Vater des modernen Staatsrechts“.13 Wichtig ist hier, dass Schmitt seit seiner Kölner Antrittsrede Reich – Staat – Bund von 1933 immer wieder betonte, dass die Durchsetzung des Staatsbegriffs in der Linie des liberalen und französischen Konstitutionalismus das Reichsdenken zerstört habe.14 Während er vor 1933 den Kompromiss der Wilhelminischen Staats‐ rechtslehre in der Souveränitätsfrage kritisierte, zielte er nach 1933 grundsätzlicher noch gegen die Begriffswelt des staatsbezogenen Konstitutionalismus und ersetzte das Gesetzesdenken des liberalen Rechtsstaats durch den „unmittelbar gerechten Staat“15 Hitlers.

8

9 10 11 12 13 14

15

304

Dazu vgl. Schmitt, Carl: Die Stellung Lorenz von Steins in der Geschichte des 19. Jahrhunderts (1940), in: Schmitt 1995, S. 156-160; Schmitt klärte sich hier, dass Stein zwar nach Wien ging, in Berlin aber die „Gesamtlinie“ (Schmitt 1995, S. 159) der deutschen Generation „mitge‐ macht“ hätte und also auch in einer preußischen Wirkungsgeschichte stand, für die Schmitt hier Schmoller und Popitz (Schmitt 1995, S. 160) nennt. Dazu besonders Schmitt, Carl: Das ‚Allgemeine Deutsche Staatsrecht’ als Beispiel rechtswis‐ senschatlicher Systembildung (1940), in: Schmitt 1995, S. 166-180, hier: 176ff. Dazu die erstaunlich negativen Bemerkungen in Schmitt, Carl: Die Formung des französischen Geistes durch den Legisten (1942), in: Schmitt 1995, S. 184-210, hier: 189f. Zur Stellung We‐ bers vgl. Anter 2016. Schmitt 1993, S. 39f. Schmitt 1936c. Schmitt 1995, S. 200. Dazu auch Schmitt 1936b; kleine Begriffsgeschichte bei Brand 2019; Brand sieht den „groß‐ deutschen“ Kern des Reichsdenkens nicht, konstatiert begriffsgeschichtlich zutreffend aber eine „Verdrängung des Reichsbegriffs nach 1945“ (Brand 2019, S. 115 ff.); Schmitts verfas‐ sungsgeschichtliches Kernargument ist nicht nationalistisch: weder klein- noch großdeutsch; Schmitt fragt nach einer mitteleuropäischen „Großraumordnung“ jenseits des überkommenen Nationalstaats. Schmitt 1995, S. 121.

Seiner antisemitischen Codierung der Wissenschaftsgeschichte ließe sich in mi‐ kroskopischer Spurenlese noch eine eigene Sicht der Geschichte des Antisemitismus zur Seite stellen. Auch hier mied Schmitt die Mainstream-Linien und konstruier‐ te Gegengeschichten, Kontaminations- oder Infektionsgeschichten. Auch hier be‐ gann er seine Linienführung eigentlich erst mit 1848er-Autoren. Richard Wagner und Bruno Bauer wurden in dieser Geschichte des modernen, postrevolutionär-ent‐ täuschten Antisemitismus zu Weichenstellern. Die spätwilheminischen und zeitge‐ nössischen Antisemiten ignorierte Schmitt dagegen fast vollständig. Er zitierte die Ahnengalerie des nationalsozialistischen Antisemitismus nicht, führte den modernen Antisemitismus aber auf die „geistesgeschichtlichen“ Folgen des Scheiterns der 1848er-Revolution zurück. Renegaten von 1848 erklärte Schmitt zu den Begründern des modernen Antisemitismus.

3. Verfassungsgeschichte als kontrafaktische Legitimitätserzählung Es wurde gesagt, dass Schmitt Ideen- und Verfassungsgeschichte schrieb und bei‐ des sehr selektiv und „okkasionell“ miteinander verknüpfte. Er zielte nicht auf historische Kausalitätsketten und Kontinuitäten, sondern auf Brüche, „Lücken“ und Entscheidungen. Schmitt schrieb weder eine „ganze“ oder holistische Nationalge‐ schichte noch eine umfassende Geschichte der politischen Ideen oder Konstitutiona‐ lisierung Deutschlands. Politische Ideen betrachtete er dabei als Pfade und Spiegel der Verfassungsgeschichte. Versucht man aber genauer zu rekapitulieren, wie er die Weichenstellungen nach 1789, 1815 und 1848 eigentlich wertete, so gerät man jenseits des allgemeinen antiliberalen Credos in einige Verlegenheit. Zweifellos kritisierte Schmitt zwar die Durchsetzung des bürgerlichen „Liberalismus“ und Konstitutionalismus im langen 19. Jahrhundert; es ist aber schon kaum zu sagen, wie er zur Restaurationsepoche nach 1815, zum „Vormärz“ oder „Scheitern“ der nationalliberalen Revolution von „1848“ stand. „1848“ hob er zwar immer wieder als verfassungsgeschichtliches Schicksalsjahr hervor; er bedauerte dieses „Scheitern“ aber schwerlich, sondern kritisierte vielmehr, dass die bürgerliche Bewegung ihre politische Niederlage in einen Triumph des konstitutionellen Verfassungsideals zu verwandeln vermocht ha‐ be. Die Gründung eines nationalliberalen großdeutschen Einheitsstaates, etwa durch die Annahme der Frankfurter Kaiserkrone, hätte Schmitt schwerlich begrüßt. Er betonte vielmehr immer wieder, dass die geschlagenen 1848er auf dem Umweg des Konstitutionalismus triumphierten. Dabei entwarf er kein einfaches Bild von 1848, sondern spiegelte den offenen Ausgang in diversen Perspektiven und Wegen. Sein Gruppenbild der heterogenen Vordenker, Akteure und Zeugen der Revolu‐ tion versammelte er insbesondere in seinen Cortés-Studien und anderen Schriften

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der 1940er Jahre. Einige Autoren, die er hier fast beiläufig erwähnt, hat er intensiv studiert: u.a. David Friedrich Strauß, Lorenz von Stein, Bruno Bauer, Bakunin, Max Stirner, Marx, Burckhardt, Savigny, Bachofen, Donoso Cortés, Kierkegaard, Tocqueville. Eine breite Geschichte der 1848er-Revolution und ihrer verfassungsge‐ schichtlicher Folgen ist bei Schmitt aber nicht zu finden. Die preußische Politik nach 1848 und Bismarcks Reichsgründungspolitik werden auch nur fast beiläufig behandelt. Schmitt setzt mit seiner spätwilhelminischen Erfahrung vielmehr bei einigen markanten „Augenblicken“ der Verfassungsgeschichte nach 1871 ein, um den „Sieg des Bürgers über den Soldaten“ zu kritisieren. Die verfassungsgeschichtliche Programmschrift Staatsgefüge und Zusammen‐ bruch des zweiten Reiches von 1934 ist hier das verfassungsgeschichtliche Pendant zur wissenschaftsgeschichtlichen Skizze von 1930. Laband und Anschütz werden hier zwar erneut als liberale Triumphatoren exponiert, die den Konstitutionalismus auf den Begriff brachten und durchsetzten; anders als in den parallel erschiene‐ nen nationalsozialistischen Programmbroschüren zur Verfassungsstruktur und zum Rechtsdenken (Staat, Bewegung, Volk; Über die drei Arten des rechtswissenschaft‐ lichen Denkens) spricht Schmitt nun aber nicht mehr von Hegel und dem Beam‐ tenstaat, sondern von Bismarck und vom preußischen „Soldatenstaat“. Die Schrift bringt mit dieser Perspektivenverschiebung eine wesentliche politische Präzisierung der Kritik am wilhelminischen „Verfassungskompromiss“. Dabei sagt Schmitt über die sozialen Träger des Verfassungskampfes: Adel und Bürgertum, nur wenig; seine Schrift zielt ganz auf prägnante „Augenblicke“ der Verfassungsentscheidungen, die eine „Logik der geistigen Unterwerfung“ unter die Deutungshegemonie und Rechts‐ begriffe des liberalen Konstitutionalismus begründeten. Schmitt spricht von einer fundamentalen Umstellung der Legitimität und Souve‐ ränität: vom Übergang von der „Fürstensouveränität“ zur „Volkssouveränität“ infol‐ ge der Durchsetzung der konstitutionellen Rechtsbegriffe und Legitimitätsunterstel‐ lungen. Er konstruiert einen disjunktiven „Dualismus“ von Preußen und Deutsch‐ land, Soldat und Bürger, Fürstensouveränität und Volkssouveränität, und betont drei entscheidende „Augenblicke“ der Durchsetzung des liberalen Konstitutionalismus im Kampf zwischen Parlament und Regierung. Den preußischen Verfassungskon‐ flikt von 1862 bis 1866 betrachtet er dabei als die erste entscheidende Phase und Weichenstellung. Hier zielt er weniger auf den ganzen Verlauf als auf die königliche „Bitte um Indemnität“ im Moment des Triumphes. Mit der Bitte um Indemnität habe der König eine „Notlage“ anerkannt, eine offene Rechtsfrage und „Lücke in der Ver‐ fassung“, die Schmitt gegen Anschütz als den „entscheidenden Fall“ deutet, der die Souveränitätsfrage enthüllte. Indem der König die Beantwortung dieser Frage nicht einfach kraft seiner Souveränität vornahm, anerkannte er die primäre Zuständigkeit des Parlaments für Verfassungsfragen und somit die Souveränität und Legitimität des Konstitutionalismus. Schmitt wertet diese Indemnitätsbitte gleichsam als Kapi‐

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tulationserklärung: als den „Urkompromiss“16 und die Urszene und Urkatastrophe der „geistigen Unterwerfung“, die den weiteren Weg in die Konstitutionalisierung und Parlamentarisierung bereits beschloss, die Schmitt als Ende aller politischen „Einheit“ und „Führung“ betrachtet. Schmitt fokussiert seine Erzählung auf entscheidende Momente in der Souveräni‐ täts- und Legitimitätsgeschichte und scheint dabei ein pervertiertes Verhältnis von Souveränität und Legitimität zu kritisieren. In der Linie seiner Souveränitätslehre meint er weiter: „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet.“ Macht stiftet Recht, der Souverän setzt sich ins Recht. Schmitt konstatiert nun aber, dass die bürgerliche Bewegung die staatsrechtliche Deutungshegemonie errang, als der „Soldatenstaat“ mit der „Bitte um Indemnität“ ihren Legimitätsanspruch anerkannte und in „geistiger Unterwerfung“ kapitulierte. Diese Anerkennung des konstitutionel‐ len Deutungsmonopols brachte mit dem Legitimitätsverzicht auch einen Souveräni‐ tätsverlust. Überall zeigt sich in Schmitts Schriften ein Primat der juristischen Legitimitäts‐ perspektive. Man könnte von einem juristischen Idealismus sprechen, der Verfas‐ sungsgeschichte als Kampf um Deutungshegemonien schrieb. Diesem Primat der Legitimitätsperspektive resultiert eine Fokussierung auf juristische Fach- und Wis‐ senschaftsgeschichte, bei der Schmitt wenige signifikante Autoren hervorhebt, die für bestimmte Konstellationen und verfassungspolitische Entscheidungen stehen, Weichenstellungen und Pfade begründeten und Kampfzonen und „Linien“ bildeten. Die Ideen- und Begriffspolitik dieser Autoren betrachtet Schmitt dabei ex post von den Wirkungen her. In dieser wirkungsgeschichtlichen Hermeneutik müssen die entscheidenden Auto‐ ren ihre politische Funktion und Rolle nicht selbst hinreichend sehen. Schmitts Sicht ist vielmehr eklatant kontrafaktisch: Die „positivistische“ Staatsrechtslehre hat das Kaiserreich nicht destabilisieren wollen; zu allerletzt wünschte sie die militärische Niederlage und den Systemkollaps im Weltkrieg. Genau das behauptet Schmitt aber und codiert seine Verfallsgeschichte mit Stahl und Laband, Kaufmann und Kelsen dabei verstärkt antisemitisch. Seine Rede vom „jüdischen Geist“ steht für die Wirk‐ samkeit einer „Politischen Theologie“ jenseits der Intentionen und Selbstverständ‐ nisse der erörterten Autoren. Schmitt lizensiert seine freischwebende Hermeneutik dabei durch die Behauptung, dass bestimmte historische „Wendepunkte jüdischen Verhaltens“ mit „Maskenwechseln“ einhergingen.17 Es ist zwar historisch-biogra‐ phisch betrachtet geradezu absurd, Stahl oder Laband den Willen zur „geistigen Unterwerfung“ und Vernichtung Preußens und des Wilhelminismus zu unterstellen. So beschreibt Schmitt es aber.

16 Maschke 2011, S. 17. 17 Schmitt 1936a, S. 1197f.

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In seiner Optik erscheinen die verfassungsgeschichtlichen Kämpfe als juristische Deutungskämpfe; der Bürger hat seine Niederlage von 1848 in einen Triumph des Konstitutionalismus verwandelt; der „Soldatenstaat“ kapitulierte „lautlos“18 und ohnmächtig; als er in Gestalt des preußischen Kriegsministers „Rede und Antwort stehen“19 musste, hatte er schon verloren. Schmitt stellt die Auseinandersetzungen als „Widerstreit wesensverschiedener Menschentypen“ und Streit um die „Gestalt des Deutschen selbst“20 dar. Die Verfassungslehre sprach hier abstrakter von Ent‐ scheidungen zwischen Existenz- oder „Daseinsweisen“, der „Art und Form“ politi‐ scher Einheit. Schmitts Rede von der „Gestalt des Deutschen“ und vom Soldaten ist 1934 von Ernst Jüngers 1932 erschienenem Buch Der Arbeit. Herrschaft und Gestalt angeregt; Jünger hatte seine „Gestalt“ des Arbeiters von der Idealisierung des „Stoßtruppführers“ abgezogen und zur allgemeinen Physiognomie der Zeit erhoben. Später erklärte er zwar immer wieder in Interviews, Schmitt und auch Spengler hätten seine Rede vom „Arbeiter“ nicht richtig verstanden; noch 1995, im Alter von 100 Jahren, meinte er: „Sowohl Spengler als auch Carl Schmitt warfen mir vor, dem Proletariat nach dem Mund zu reden.“21 Ein starker Einfluss von Jüngers Buch auf Schmitts Broschüre ist dennoch anzunehmen; Jüngers „totale Mobilmachung“ wird in Schmitts Gestaltvision auch ausdrücklich genannt. So grob und simpel, so offenbar tendenziös Schmitts Programmschrift auch ist, zielt die plakative Militarisierung und Anthropologisierung doch weniger auf die moralische Aufrüstung des Nationalsozialismus als auf das Ressentiment des Be‐ siegten. Als die Schrift im Frühjahr 1934 erschien, wurde sie als Parteinahme für das Militär gegen die vielfach beschworene „zweite Revolution“ der SA gelesen und bald in einen Zusammenhang mit Schmitts Apologie der Morde vom 30. Juni 1934 („Röhm-Putsch“) gebracht. Die ganze Schrift ist aber nicht auf Sieg und Jubel ge‐ stimmt; sie schreibt vielmehr eine Geschichte der „geistigen Defensive“ und fehlen‐ den Kultur und Moral der Niederlage. Schmitt betont, dass der Verfassungskompromiss von Adel und Bürgertum im Wilhelminismus „siegreiche Kriege und wirtschaftliche Prosperität“22 zur Vorausset‐ zung hatte. In Zeiten der Niederlage und Krise sei er unmöglich geworden und zerbrochen. Es bleibt hier Schmitts esoterisches Geheimnis, worin der „heroische Weg“23 des Soldatenstaates seit Ende des Weltkriegs bestanden habe. Spielt er auf

Maschke 2011, S. 17. Maschke 2011, S. 25. Maschke 2011, S. 11. Barbey 2019, S. 415, vgl. S. 376 und S. 438: „Spengler und Schmitt akzeptierten meine Thesen nicht, weil sie glaubten, ich hätte das Lob des Proletariats singen wollen. Ich sah im Gegenteil im Arbeiter eine Art prometheische Gestalt“. 22 Maschke 2011, S. 34. 23 Maschke 2011, S. 35. 18 19 20 21

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die „Dolchstoßlegende“ und weitere politische Biographie von Hindenburg und Ludendorff an? Diese Verfallsgeschichte kennt jedenfalls keine strahlenden Helden. Obgleich Schmitt die „weltgeschichtliche Größe“24 von Wilhelm I. gegen Wilhelm II. ausspielt, ist selbst seine Bismarck-Verehrung gebrochen; sie preist nicht zuletzt die Bereitschaft zum „Staatsstreich“, worüber Schmitt vor 1933 eine Besprechungs‐ abhandlung geschrieben hatte. Außer der „Bitte um Indemnität“ hebt Schmitt noch zwei andere entscheidende Momente in der „geistigen Unterwerfung unter die Rechtsbegriffe des Feindes“25 hervor: die Erklärung des Kanzlers 1914 bei Kriegsbeginn, dass der Einmarsch in Belgien ein unvermeidliches „Unrecht“ gewesen sei, sowie die Entscheidung zur Parlamentarisierung der Regierung am 28. Oktober 1918 und also den Übergang zur Demokratie. Schmitt polemisiert nicht gegen die „Novemberrevolution“ oder „No‐ vemberverbrecher“ von 1918, sondern gegen die vorgängige Legalisierung des Machtwechsels durch die alten Eliten, die die Revolution vermeiden wollten und einen relativ friedlichen Übergang suchten. Im klaren Widerspruch zu früheren Aus‐ sagen bestreitet er der Weimarer Republik hier 1934 geradezu die gewesene politi‐ sche Existenz; sie sei „nur posthum“ gewesen, „der Sieg, den ein Gespenst über den Schatten seines Gegners davonträgt.“26 Schmitt führt sie nicht mehr auf die Natio‐ nalversammlung, sondern auf das „Versailler Diktat“ zurück und nennt sie ein „Ins‐ trument der Entwaffnung und der Unterwerfung“:27 Hatte das Parlament einst die Fürstensouveränität durch das Budgetrecht gezügelt und depotenziert, so gelangte Weimar im „letzten Stadium“ mit der Verfassungsjustiz des Leipziger Staatsgerichts‐ hofs an den „Nullpunkt des Willens zur politischen Führung“: „Das war die Voll‐ endung und Krönung des bürgerlichen Verfassungsdenkens“,28 schreibt Schmitt 1934 sarkastisch. Er verzichtet hier auf eine neuerliche Apologie der nationalsozialistischen Gleich‐ schaltungs- und Verfassungspolitik, die er kurz zuvor mit anderen Programmschrif‐ ten gepriesen hatte, und zielt mit Staatsgefüge und Zusammenbruch des zweiten Rei‐ ches auf den moralischen Appell zum letzten Gefecht auf verlorenem Posten. Schmitt sieht eine normative Krise, die er nach dem 30. Juni 1934 mit seiner Um‐ stellung auf die Optik des Ausnahmezustandes und seinem Übergang zur antisemiti‐ schen und apokalyptischen Sinngebung weiter dramatisiert. Er betrachtet die Verfas‐ sungsgeschichte des zweiten Reiches als progredierenden Zerfall einer ursprüngli‐ chen Einheit von Souveränität und Legitimität, die der konstitutionellen Staats‐ rechtslehre die Deutungshegemonie überließ, sich ins Recht zu setzen und im Recht zu wissen. Er schreibt keine akteurszentrierte Verfassungsgeschichte der Verfas‐ 24 25 26 27 28

Maschke 2011, S. 17. Maschke 2011, S. 39. Maschke 2011, S. 41. Maschke 2011, S. 42. Maschke 2011, S. 47.

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sungskämpfe und keine Geschichte verfassungspolitischer Konstitutionalisierungen, sondern eine Geschichte des Legitimitätsverlustes im Deutungskampf. Seine Legen‐ de überschätzte dabei offenbar die Macht der staatsrechtlichen Deutungskämpfe: Der Wilhelminismus scheiterte nicht an seinen liberalen Staatsrechtslehrern.

4. Viele „Aufgaben“, eigene Perspektive 1936 publizierte Schmitt anlässlich der Etablierung des Lehrfachs „Verfassungsge‐ schichte der Neuzeit“ einen kleinen Artikel29 Über die Aufgaben der Verfassungsge‐ schichte, der seinen spezifischen Blickwinkel in der Fülle möglicher Perspektiven und „Aufgaben“ herausstreicht. Eigentlich alles gehört ins Fach, meint Schmitt, ist das Politische doch „total“. Er exponiert dann aber erneut seine eigene Sicht und richtet sich gegen die geläufige „Unterscheidung von konstitutioneller und parlamentarischer Regierung“,30 weil die Konstitutionalisierung von Stahl und La‐ band bis Anschütz31 zwingend in die Bahn der Parlamentarisierung gedrängt habe. In einer langen Besprechung von Christoph Steding spricht Schmitt 1939 dafür erneut von einem Prozess der „Neutralisierung“ politischer Entscheidungen und Führung. Seine Steding-Besprechung verdeutlicht die spätwilhelminische Erfahrung der Dekomposition des „Reiches“ und codiert die politische Geschichte des Souve‐ ränitätsverlustes qua Legitimitätsschwund erneut antisemitisch. Stahl und Laband bringt Schmitt hier markant gegen Hegel und Bruno Bauer in Stellung.32 Die antise‐ mitische Codierung enthüllt die idealistische Engführung der Legitimitätsgeschichte als Geistergefecht.

5. Antisemitische Codierung Schmitts Broschüre Staatsgefüge und Zusammenbruch des zweiten Reiches wurde bereits unmittelbar nach ihrem Erscheinen von mutigen Vertretern akademischer Standards scharf kritisiert. Mit der Publikation von Ernst Rudolf Hubers monumen‐ talem Rückblick auf die Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789 führte sie in den 1960er und 1970er Jahren dann zu einer verfassungsgeschichtlichen Debatte um die Rolle des Wilhelminismus und das Verhältnis von Konstutitionalisierung, Parlamen‐ tarisierung und Demokratisierung. Hatte Schmitt 1936 in seinem kleinen Artikel die „Unterscheidung von konstitutioneller und parlamentarischer Regierung“33 einst 29 30 31 32 33

310

Dazu Grothe 2007. Schmitt 1940, S. 231. Schmitt 1940, S. 234f. Schmitt 1940, S. 292ff. Schmitt 1940, S. 231.

bestritten, so kreiste darum nun erneut die Debatte. Während Huber hier gegen Schmitt auf der relativen Stabilität und Dauer sowie der „nationalen“ Akzeptanz des Wilhelminismus bestand, vertrat Böckenförde mit konträrer Wertung Schmitts Sicht; er betonte den Zug des Konstitutionalismus zum Parlamentarismus um der Demokratisierung willen. Diese Debatte soll hier nicht erneut aufgearbeitet werden, zumal Maschke sie im Vorwort seiner Neuedition von Schmitts Kampfschrift skizziert. Maschke34 stimmt Huber zu und berechtigt viele historische Einwände. „Schmitt war kein Historiker“, schreibt er: „Er vermag Liberalismus und Parlamentarismus nur als Schwächung von Staat und Staatlichkeit zu begreifen.“35 Maschke vermisst bei Schmitts Kritik am „dritten pathognomischen Moment“, der „Oktoberreform“ von 1918, auch kriti‐ sche Bemerkungen zum Verhalten der OHL.36 Dass Schmitt Hindenburg und Luden‐ dorff offenbar schonte und den „Soldatenstaat“ überhaupt idealisierte, gehört zu den nahe liegenden Einwänden, die auf das Konto der politischen Tendenz gehen. Ge‐ wichtiger noch als solche Kritik ist aber die Auseinandersetzung mit der Legitimi‐ tätsperspektive und „okkasionalistischen“ Methode der Dramatisierung bestimmter pathognomischer Momente und Weichenstellungen. Maschke betont die Vieldeutig‐ keit und positionelle Ungreifbarkeit der Schrift: „Je öfters man Schmitts Schrift liest, desto häufiger stellen sich Fragen ein, Fragen, die immer neue, gewagtere Fragen gebären. Wie bei vielen anderen Texten dieses oft scheinklaren Schriftstellers weiß man auch hier häufig nicht, welche Antwort er nahe legen und welche Wirkung er auslösen wollte.“37 Dem ist zuzustimmen. Schmitts kritische Legitimitätsperspektive bleibt insgesamt unklar, nebulös und fragwürdig. Schmitt verstand sich stets als Jurist. Er entwickelte eine normative Perspektive, die er herrschaftssoziologisch und positivrechtlich als geltende Legitimitätsvorstel‐ lung aufnahm und nicht weiter durch ein philosophisches „Naturrecht“ begründen wollte. Er band das Recht an eine Ordnungsleistung des Souveräns. „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet.“ Deshalb zerfiel ihm die Option für die „Fürstensouveränität“ des Soldatenstaates; er musste konzedieren, dass die konstitu‐ tionelle Bewegung auf dem Umweg über ihre Durchsetzung der Rechtsbegriffe mit der Souveränität auch die Legitimität übernahm. Die Rechtswissenschaft wurde da‐ mit zum eigentlichen Akteur und tragischen Helden oder Schurken der Geschichte. Maschke schweigt im Vorwort seiner Edition von Schmitts antisemitischer Codie‐ rung seiner Legitimitäts- und Wissenschaftsgeschichte. Diese Codierung tritt auch erst nach dem 30. Juni 1934 deutlich hervor. Es ist aber nicht zu übersehen, dass der Übergang zur antisemitischen Stigmatisierung der Wissenschaftsgeschichte mit 34 35 36 37

Maschke 2011, S. XLII. Maschke 2011, S. XXXVI. Maschke 2011, S. XXXVIII. Maschke 2011, S. XLVI.

311

Schmitts Umstellung auf die Optik des Ausnahmezustands und Kapitulation vor der Legitimitätsfrage einherging. Jeder Leser von Schmitts nationalsozialistischen Schriften muss für diese antisemitische Verschärfung nach dem 30. Juni 1934 eine plausible Antwort finden. Ein problemgeschichtliches Motiv ist hier die Legitimitätsfrage. 1922 hatte Schmitt für seinen ersten gegenrevolutionären Helden, Donoso Cortés, bereits von einem Übergang „von der Legitimität zur Diktatur“38 gesprochen. Gemeint war der Abschied vom Traditionalismus und der dynastischen Legitimität. Nach dem 30. Ju‐ ni 1934 sieht Schmitt nun ein Legitimitätsdefizit Hitlers. Die positive Hegel-Linie, die er in Über die drei Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens gerade noch aus‐ gespielt hatte, konnte er nach dem 30. Juni 1934 nicht weiter vertreten, weil er nun den Ausnahmezustand sah und das Vertrauen in die Verfassungsfähigkeit des Natio‐ nalsozialismus verloren hatte. Die Ende 1933 in Staat, Bewegung, Volk noch ernst‐ haft, fast zweifelnd gestellte Frage, ob Hegel noch in „Berlin“ lebt, war 1934 so ne‐ gativ entschieden, dass Schmitt sie 1936 nur noch mit Mussolini in „Rom“ lokali‐ sierte. Er konnte dem Konstitutionalismus nach dem 30. Juni 1934 keine zweite Chance geben, wollte seine Apologie des Nationalsozialismus aber nicht widerrufen und stellte deshalb in der Legitimitätsfrage auf die antisemitische Feinderklärung um. Schmitt erhob den Antisemitismus, weiter an der Seite von Hitler und Hans Frank, nun zur zentralen Rechtsfertigungsideologie und zum neuen Legitimations‐ mythos des Nationalismus.

6. Antisemitisches Programm Das Programm einer antisemitischen Stigmatisierung der Rechtswissenschaft formu‐ lierte Schmitt 1936 auf seiner Tagung Das Judentum in der Rechtswissenschaft in seiner Rede Die deutsche Rechtswissenschaft im Kampf gegen den jüdischen Geist. Schmitt meinte hier u.a.: „Die besonders bezeichneten Wendepunkte jüdischen Verhaltens sind für das letzte Jahr‐ hundert die Jahre 1815, 1830, 1848, 1871, 1890 – Bismarcks Entlassung, Beginn der Wilhelminischen Ära -, 1918, 1933. […] Auch hier wieder erscheint der Jude Stahl-Jol‐ son, der heute noch seine Wirkung auf die konfessionell-kirchliche Opposition gegen den nationalsozialistischen Staat ausübt. Es ist ganz falsch, ihn als einen vorbildlichen, konservativen Juden hinzustellen gegenüber anderen, späteren Juden, die das leider nicht mehr gewesen seien. Darin liegt eine gefährliche Verkennung der wesentlichen Einsicht, dass mit jedem Wechsel der Gesamtsituation, mit jedem neuen Geschichtsabschnitt, so schnell, dass wir es nur mit größter Aufmerksamkeit erfassen, auch eine Änderung des jüdischen Gesamtverhaltens, ein Maskenwechsel von dämonischer Hintergründigkeit

38 Schmitt 1950, S. 26.

312

eintritt, dem gegenüber die Frage nach der subjektiven Gutgläubigkeit des einzelnen beteiligten Individuums uninteressant ist.“39

Schmitt verknüpfte seine Linie der „Augenblicke“ „geistiger Unterwerfung“ also mit einer Theorie der „Wendepunkte“ und „Maskenwechsel“. Er betonte die transin‐ tentionale Dämonie des Geschehens, abstrahierte von der „subjektiven Gläubigkeit“ und essentialisierte die Linie oder Front zum großen Kollektivsingular „der Jude“. So sprach er von einer „Totalität des jüdischen Einbruchs“ und meinte: „Das Judentum in Staatsrecht und Staatslehre gibt hierfür ein hervorragendes Beispiel. Stahl-Jolson, Laband, Kaufmann, Kelsen, Heller, so viele Namen, so viele verschiedene Lehren, und doch sind es immer die gleichen Juden“.40

Schmitt trennte den „jüdischen Geist“ vom Buchstaben der Autoren; er las die Schriften gegen die Autorenintentionen kontrafaktisch und lizensierte willkürliche Zuschreibungen. Als erste Zeit der „Maskenwechsel“ nennt Schmitt für das 19. Jahrhundert das Jahr 1815. Er konstruiert also kein „langes“ 19. Jahrhundert seit 1789, wie etwa Huber. Nirgends schlägt er eine starke Brücke von 1789 zur deutschen Verfassungsgeschichte seit 1815. Wenn er die Jahre 1830 und 1848, 1918 und 1933 hervorhebt, nennt er Revolutionszeiten. Welche „Wendepunkte“ und „Maskenwechsel“ jüdischen Verhaltens er mit diesen Jahren aber genau verbindet, bleibt unausgeführt. Man benötigt einige verschwörungstheoretische Energie und Phantasie, um Schmitts Daten mit großen Erzählungen zu verbinden. Die Geschichte der Verschwörung „jüdischer“ Staatslehrer gegen das deutsche 19. Jahrhundert hat Schmitt nirgends auch nur in einzelnen Kapiteln geschrieben. Selbst Andeutungen und Bruchstücke dazu hat er kaum übermittelt. Seine Polemik kommt kaum über die Stigmatisierung einzelner Namen und Zuschreibung des allgemeinen Trends zum Positivismus, Normativismus und zur „leeren Raumvorstellung“41 an jüdische Auto‐ ren oder „jüdischen Geist“ hinaus. Schmitt arbeitete seine Geschichte der jüdischen „Wendepunkte“ und „Maskenwechsel“ also nicht aus. Einige der genannten Aspekte hat er aber lebenslang bedacht. So schreibt er 1980 noch in einem letzten Brief an Jacob Taubes: „Ich wüsste gern von Ihnen, ob es sinnvoll wäre, darüber zu sprechen, dass Fichte sich seinen Moses Hess erweckt hat wie Hegel sich seinen Karl Marx.“42

1936 fragte Schmitt nach der „Anfälligkeit vieler deutschblütiger Männer“: ob „der Fall Karl Marx und die Wirkung, die von ihm ausging, für uns eigentlich ein Fall Friedrich Engels oder Bruno Bauer oder Ludwig Feuerbach oder vielleicht auch

39 40 41 42

Schmitt 1936a, S. 1197f. Schmitt 1938b, S. 3f. Schmitt 1995, S. 317f. Kopp-Oberstebrink 2012, S. 108.

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Hegel ist.“43 Er äußerte sich aber nicht weiter zur „deutschen Seite“ der Frage, zur Frage, wie die deutsche Geistesgeschichte im 19. Jahrhundert ohne „jüdischen Geist“ verlaufen wäre. Diese Frage lässt sich auch an Schmitts Leben und Werk stel‐ len: Wie hätte es sich ohne „jüdische“ Anregung und Förderung entwickelt? Also ohne Eisler, Feuchtwanger, Moritz Bonn, Erich Kaufmann, Kelsen oder viele ande‐ re. Stattdessen formuliert Schmitt ein merkwürdiges Fazit, das ihm auch ohne Ta‐ gung vorab mehr oder weniger feststand: „Das jüdische Gesetz erscheint, wie alle Vorträge gezeigt haben, als die Erlösung aus einem Chaos. Die merkwürdige Polarität von jüdischem Chaos und jüdischer Gesetzlich‐ keit, von anarchistischem Nihilismus und positivistischem Normativismus, von grob sensualistischem Materialismus und abstraktestem Moralismus steht jetzt so klar und plastisch vor unseren Augen, dass wir diese Tatsache als eine […] Erkenntnis unserer Tagung der weiteren rechtswissenschaftlichen Arbeit zugrunde legen können.“44

Vom „Denken in Polaritäten“ sprach Schmitt bereits in der Politischen Romantik. Im Begriff des Politischen kennzeichnete er die „Systematik liberalen Denkens“ durch eine „Polarität von Ethik und Ökonomik“.45 Schmitt meinte, dass die liberale Ethik eigentlich nur ökonomische Interessen maskierte oder bemäntelte. Dafür sprach er auch von „ökonomischem Imperialismus“. Auch den universalistischen Mensch‐ heitsgedanken betrachtete er selbstverständlich als bürgerlich-kapitalistischen Inter‐ ventionstitel. Ähnlich deutete er wohl die „jüdische Gesetzlichkeit“. Einerseits deu‐ tete er weite typologische Etiketten an, denen sich alles irgendwie zuordnen ließ, und andererseits legte er doch eine reduktive Lesart und Dogmatik nahe. Die „jüdi‐ sche Gesetzlichkeit“ betrachtete er dabei weniger als „Erlösung“ denn als Schleier und Maske des „Chaos“. Den „Normativismus“ bezeichnete er gelegentlich explizit als „Nihilismus“; „Moralismus“ verstand er als Kleid des „Materialismus“. Als Kern des „jüdischen Geistes“ stigmatisierte Schmitt demnach Materialismus, Nihilismus und Chaos. Als mythischen Kern und Inbegriff des „jüdischen Geistes“ betonte er das Chaos. Sich selbst aber bezeichnete er nach 1945 im Glossarium gelegentlich als „Chaopolit“. Damit meinte er allerdings weniger das Chaos, das er in sich trug und stiftete, als die Weltlage in der Epoche des „Weltbürgerkriegs“.

7. In Schmitts paradigmatischen Stahl-Gewittern Ist das des Pudels Kern? Muss man sich für solche Überlegungen und Reduktionis‐ men interessieren? Schmitt selbst hätte die dogmatische Reduktion und Lesart seines Fazits vielleicht verspottet und verhöhnt. Auch hier argumentierte er lieber okkasio‐ 43 Schmitt 1936a, S. 1198. 44 Schmitt 1936a, S. 1198. 45 Schmitt 1963, S. 76.

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nalistisch-fallbezogen. Wohl niemanden sonst exponierte er dabei paradigmatisch so deutlich wie Friedrich Julius Stahl, den Triepel46 1926 noch emphatisch zum Fach gezählt hatte. Schmitts Fokussierung auf Stahl hat stets verwundert. Sie hat viel‐ leicht ein persönliches Nebenmotiv: Schmitt wollte gegen Laband und Kelsen, seine anderen Antipoden, nicht persönlich polemisieren. Beide waren früher „Kollegen“ gewesen: Schmitt hatte Laband in Straßburg noch persönlich kennengelernt. Kelsens Positionen lehnte er zwar vehement ab, hegte aber keine persönliche Feindschaft. Bei verschiedenen Begegnungen vor 1933 hatte er positive Erfahrungen mit Kelsen gemacht. Er entschied sich deshalb im Herbst 1932 auch für einen Wechsel nach Köln, um dort neben Kelsen als Kollege und Antipode zu wirken.47 Mit Stier-Somlo, Kaufmann und anderen „jüdischen“ Staatsrechtskollegen war er zwar vor 1933 bereits verstritten; sie hatten in Schmitts antisemitischer Legende und Front aber als wirkmächtige Autoren keine exponierte Stellung.48 Schmitt konzentrierte sich auf Stahl, weil eine Dämonologie Erzschurken und Oberteufel braucht. Seine wenigen beiläufigen Erwähnungen in den Schriften vor 1933 legten diese spätere Schurkenrolle aber keinesfalls nahe. In der Habilitations‐ schrift Der Wert des Staates und die Bedeutung des Einzelnen finden sich 1914 viel‐ mehr einige positiv grundlegende Verweise auf Stahl.49 In der Politischen Romantik heißt es dann dezidiert: „Stahl war kein Romantiker.“50 Schmitt stellte ihn dort als Kritiker des Hegelianismus51 in die Linie der „Gegenrevolution“52 und der „Restau‐ rationsphilosophie“.53 Die Verfassungslehre erklärte ihn dann zum „Theoretiker der preußischen konstitutionellen Monarchie“,54 der die „Unterscheidung von konstitu‐ tioneller und parlamentarischer Monarchie durchgesetzt“55 und damit im Kampf gegen die Parlamentarisierung den rechtsstaatlichen Konstitutionalismus akzeptiert habe. Schmitt betrachtete Stahl demnach vor 1933 als einen Beschleuniger des Kon‐ stitutionalismus wider Willen. Diesen Aspekt deutete er nach 1933 antisemitisch 46 Triepel 1926, S. 4f. 47 Dazu Mehring 2014, S. 73-98. 48 Die seitenlangen Ausführungen, in denen Schmitt sich, gerade in Bonn eingetroffen, in der ers‐ ten Fassung der „Politischen Theologie“ (Schmitt 1922, S. 14f, 26-28) zum Bonner Kollegen Kaufmann positionierte, sind in der zweiten Auflage von 1934 und allen folgenden Auflagen gestrichen. Schmitt sah sich 1922 noch in weitgehender Übereinstimmung mit Kaufmanns Kri‐ tik der neukantianischen Rechtsphilosophie (Kaufmann 1921), vermisste aber die „Darstellung einer Lebens- oder Irrationalitätsphilosophie“ (Schmitt 1922, S. 27), die er selbst mit dem vier‐ ten Kapitel seiner Parlamentarismus-Broschüre dann 1923 in Anschluss an Georges Sorel und Mussolini nachlieferte. 49 Dazu vgl. Schmitt 2004, S. 31, 69, 99f. 50 Schmitt 1925, S. 96. 51 Schmitt 1925, S. 95. 52 Schmitt 1925, S. 11, vgl. Schmitt 1928, S. 283. 53 Schmitt 1925, S. 82. 54 Schmitt 1928, S. 288. 55 Schmitt 1928, S. 330f.

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um. Was er zunächst als wirkungsgeschichtliche Ironie und Tragik beschrieb: die Akzeptanz des Konstitutionalismus im Kampf gegen den Parlamentarismus, betrach‐ tete er nun als intentionale Strategie oder Dämonie „jüdischen Geistes“. Die sehr plötzliche und vehemente Polemik gegen Stahl, ab 1935 hervortretend, diente dabei dem schnellen Brückenschlag vom Vormärz in den Wilhelminismus, der für seine Verfassungsgeschichte überhaupt kennzeichnend ist. Einige Schriften Stahls waren in der Weimarer Republik neu aufgelegt worden. 1930 publizierte der Meinecke-Schüler Gerhard Masur den ersten Teil einer StahlBiographie, die bis 1840, Stahls Berufung nach Berlin, führte. Die Schmitt beson‐ ders interessierende Berliner Wirksamkeit und Wirkungsgeschichte erörterte Masur also nicht. Masur56 stellte Stahls Konversion und Taufe 1819 als „eines der Kern‐ probleme seines Lebens“ heraus; er sprach von einem „dezidierten Hinübertritt des Judentums in den Raum der deutschen Nation“ und einer bewussten Entscheidung „aus dem Ghetto“ heraus, „um mit dem deutschen Volk zu leben“: von einer „radi‐ kalen Dezision für die deutsche Nation“. Der protestantische Historiker Gerhard Ritter bemerkte dazu in seinem Handexemplar: „Woher weiß M. das schon jetzt?“57 Für seine antisemitische Codierung zitiert Schmitt zunächst keinerlei Stahl-For‐ schung. Erst 1938 nennt er eine unsägliche Abhandlung des protestantischen Staatsund Kirchenrechtlers Johannes Heckel,58 die 1937 in der Historischen Zeitschrift erschienen war, als Schmitts Polemik bereits vorlag. Es ist möglich, dass Schmitt bereits in den frühen 1930er Jahren mit Heckel über Stahl sprach. Buchstäblich aber antwortete Heckel bereits auf Schmitts Deutung. Heckel argumentiert explizit gegen Masur und nennt Stahl einen „orthodoxen“ Juden und „Assimilanten“, der den „christlichen Staat“ in einen „christlich übermalten“ „theokratischen“ Anstalts- und „Tempelstaat“ umgedeutet habe. Während Schmitt vor allem die Wirkung von Stahls Rechtsstaatsbegriff inkriminiert, deutet Heckel Stahls Dogmatik detailliert als „Sieg des Jüdischen in seinem Denken“.59 Seine Sicht wird geradezu absurd, wenn sie die „Absage“ an das jüdische „Rassebewusstsein“ als jüdische „Rabulistik“ brandmarkt und dazu bemerkt: „Und nie hat das jüdische Blut Stahl weniger verleugnet.“60 56 Masur 1930, S. 38 ff. 57 Ritters Handexemplar von Masurs Stahl-Biographie befindet sich in der Sammlung Ritter der Universitätsbibliothek Düsseldorf (Slg 10 1776); Ritter scheint sich gerade für diesen Punkt sehr interessiert zu haben. Die Sammlung Ritter enthält auch einen SD mit Widmung von Juli‐ us Schoeps; Schoeps meint: „Stahl ist im späteren Leben von seinen jüdischen Ursprüngen weit abgekommen, aber es ist zu bezweifeln, ob er jemals von ihnen völlig losgekommen ist.“ (Schoeps 1958, S. 102). 58 Heckel 1937; es ist gut möglich, dass die Abhandlung im Zusammenhang mit Schmitts Ta‐ gung entstand und mehr aus strategischen Gründen in der Historischen Zeitschrift erschien. Jahrzehntelang war dieses Flaggschiff der Historischen Schule von Friedrich Meinecke, dem Lehrer Masurs, herausgegeben worden und setzte nun unter neuer Herausgeberschaft national‐ sozialistische Segel. Heckels Beitrag war auch ein Affront gegen Meinecke. 59 Heckel 1937, S. 541. 60 Heckel 1937, S. 517.

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Heckel bringt es fertig, eine Absage ans Judentum als Ausdruck „jüdischen Bluts“ zu deuten. Heckels Abhandlung kann einerseits als Ausführung von Schmitts Pro‐ gramm verstanden werden, bis hin zur Rede vom „Einbruch des jüdischen Geistes“, und setzt andererseits mit ihrer protestantischen Kritik am juristisch-institutionellen Anstaltskonzept doch andere Akzente. Schmitts Polemik gegen Stahl bleibt biographisch wie fachlich vergleichsweise vage und abstrakt. Dennoch steht sie im Zentrum seiner antisemitischen Version der Wissenschaftsgeschichte. Während sich die Polemik gegen Laband schon früh an‐ deutet und zeitgenössisch einigermaßen verbreitet war, gehört die Stahl-Stigmatisie‐ rung zu Schmitts „esoterischen“ Einsichten, die kaum jemand sonst nachvollziehen wollte und konnte. Schmitt verkündigte sie Ernst Jünger aber 1935 im Gestus akade‐ mischer Entdeckung. Er nahm sich einen freien Tag, „um nochmals in Wolfenbüttel den Joel Jolson zu stellen“.61 Was hätte Lessing wohl zu den Funden, Thesen und Befunden gesagt? Umgehend schrieb Schmitt seine exklusiven Einsichten in seinen Aufsatz Was bedeutet der Streit um den ‚Rechtsstaat’? hinein: „Der Sieg dieses bürgerlichen Rechtsstaats über den christlichen wie über den Hegel‐ schen Sittlichkeitsstaat war entschieden, als es einem als ‚konservativ’ anerkannten Autor, Friedrich Julius Stahl (Jolson) gelungen war, Hegels Staatsphilosophie bei den deutschen Konservativen als ‚undeutsch’ zu diskreditieren und den christlichen Staat durch die Kombination ‚christlicher Rechtsstaat’ in das Begriffsnetz des Rechtsstaates hineinzuführen. […] Das Pathos dieser Unterwerfung des Staates unter das Recht ist von Stahl (Jolson) über Lasker und Jacoby bis zu dem eingangs erwähnten Darmstaedter und ähnlichen ‚Idealisten des Rechtsstaats’ immer dasselbe.“62

Nirgendwo hat Schmitt seine antisemitische Version der Verfassungsgeschichte umfassend ausgeführt. Am ehesten geschieht es im Buch Der Leviathan in der Staatslehre des Thomas Hobbes von 1938. Schmitt stellt der wissenschaftsgeschicht‐ lichen Skizze der Wirkung des Hobbes hier eine Geschichte des Leviathan-Mythos voran. Dabei unterscheidet er zwischen einer „christlichen“ und einer „jüdischen“ Deutungsgeschichte:63 „Die jüdischen Deutungen des Leviathan und des Behemoth sind wesentlich anderer Art“64 als etwa die Auffassungen Luthers, schreibt Schmitt und skizziert einen Deutungskampf um den „Sinn“ des „politischen Symbols“, der zum „Fehlschlag“ und Untergang des neuzeitlichen Etatismus geführt habe. Schmitt macht die „jüdische“ Deutung für die Zerstörung der ursprünglichen Einheit verant‐ wortlich, der politischen „Totalität“, die er bejaht und gegen die „liberalistische“ Umdeutung verteidigen möchte. So schreibt er:

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Kiesel 1999, S. 189. Schmitt 1995, S. 124f. Schmitt 1938a, S. 15 ff. Schmitt 1938a, S. 16.

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„Die überkommene jüdische Deutung schlug auf den Leviathan des Hobbes zurück. Alle untereinander sonst so feindlichen indirekten Gewalten waren sich plötzlich einig und verbündeten sich zum ‚Fang des großen Wals’. Sie haben ihn erlegt und ausgeweidet.“65

Schmitt meint dies ernst. Er geht von einem Primat der Mythen gegenüber wis‐ senschaftlichen Rationalisierungen aus und stellt selbst Hobbes und Spinoza in mythische Traditionen. Die Verfassungslehre hatte Spinoza zum Vater der „demo‐ kratischen Legitimität“ ernannt, der auf Sieyès gewirkt habe: „Die Metaphysik der potestas constituens als des Analogon zur natura naturans gehört in die Lehre von der politischen Theologie.“66 Im Leviathan-Buch erklärt Schmitt Spinoza nun auch noch zum Vater des modernen Liberalismus: „Schon wenige Jahre nach dem Erscheinen des ‚Leviathan’ fiel der Blick des ersten libe‐ ralen Juden auf die kaum sichtbare Bruchstelle. Er erkannte in ihr sofort die große Ein‐ bruchstelle des modernen Liberalismus, von der aus das ganze, von Hobbes aufgestellte und gemeinte Verhältnis von Äußerlich und Innerlich, Öffentlich und Privat in sein Ge‐ genteil verkehrt werden konnte.“67 „Eine kleine umschaltende Gedankenbewegung aus der jüdischen Existenz heraus, und in einfachster Folgerichtigkeit hat sich im Laufe von wenigen Jahren die entscheidende Wendung im Schicksal des Leviathan vollzogen.“68

Schmitt schreibt keine detaillierte Wirkungsgeschichte, die die erwähnten Wendeda‐ ten von 1815 oder 1830 erklären würde. Er nennt zwischen Spinoza und Stahl nur Moses Mendelssohn, um für das 19. Jahrhundert dann eingehend auf Stahl zu sprechen zu kommen. „Auch im 19. Jahrhundert war es der Blick eines jüdischen Philosophen, Friedrich Julius Stahl-Jolson, der die Einbruchstelle sofort erkannte und benutzte.“69 „Unter vielen schö‐ nen Worten vom ‚christlichen Staat’ und von der antirevolutionären ‚Legitimität’ führt der jüdische Philosoph die von Spinoza zu Moses Mendelssohn gehende Linie ziel- und instinktsicher weiter.“70 „Stahl-Jolson ist der Kühnste in dieser jüdischen Front. Er dringt in den preußischen Staat und in die evangelische Kirche ein.“71 „Stahl-Jolson arbeitet hier in der Gesamtlinie seines Volkes, in dem Doppelwesen einer Maskenexistenz, die um so grauenhafter wird, je mehr er verzweifelt ein anderer sein will als er ist.“72

Schmitt unterscheidet also erneut zwischen dem individuellen Selbstverständnis und der wirkungsgeschichtlichen Bedeutung. Seine Rede von einer „jüdischen Front“ ist eine Ex-post-Konstruktion und Fremdzuschreibung, die sich gegen historische Argu‐

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Schmitt 1938a, S. 124. Schmitt 1928, S. 80, vgl. Schmitt 1928, S. 22. Schmitt 1938a, S. 86. Shmitt 1938a, S. 88f. Schmitt 1938a, S. 106. Schmitt 1938a, S. 107f. Schmitt 1938a, S. 108. Schmitt 1938a, S. 109.

mente immunisiert. In einer Fußnote73 verweist Schmitt auf seine Wolfenbütteler Entdeckungen; er erwähnt den Brief einer dritten Person, die sich erinnerte, dass die „deutsche“ Gattin den Nachlass Stahls verbrannt habe, um dessen Herkunft zu verschleiern. Auch diesen schwachen Beleg führt Schmitt nur an, um seine Ausfüh‐ rungen gegen Einwände zu immunisieren. Seine ausführlichste antisemitische Diffa‐ mierung, sein Versuch, „den Joel Jolson zu stellen“, enthüllt sich als antisemitisches Gespinst. Dennoch hält Schmitt an seiner Polemik gegen Stahl fest. So schreibt er 1939: „Die Unglücksfiguren des Gesetzgebungsministers Savigny und des zur Überwindung des Hegelianismus nach Berlin berufenen alten Schelling gehören ebenso typisch in diese Zeit wie die Unheilsfigur eines Stahl-Jolson. Welch ein Absturz! Der preußische Staat, der im 17. Jahrhundert einen Pufendorf nach Berlin zog, der im 18. Jahrhundert Voltaire als Gast in Potsdam sah, holte jetzt einen frisch assimilierten Juden aus dem süddeutschen Ghetto als Bekämpfer der Staatsphilosophie Hegels an die Universität Berlin!“74

Die Polemik gegen Stahl ist nur durch die antisemitische Energie erklärlich, mit der Schmitt seine Linien zog. Schon die Zeitgenossen hat sie verwundert und verstört.75 In sein Glossarium notiert Schmitt dazu 1948 eine ungenannte „hämische Stimme“: „Die Sache ‚Stahl’ hat Ihnen wohl sehr geschadet. Jawohl, du Pinke-Pinke-Idealist; sie hat mir sehr geschadet“.76 In einer späteren Eintragung erneuert Schmitt die Po‐ lemik: „Pietät, ein im Deutschen bis jetzt jungfräulich keusches Wort – sagt Goethe […] Aber es bedurfte nur eines Fr. J. Stahl-Jolson, und schon – 1840 - war es nicht mehr jungfräulich.“77 Noch 1970 fühlte sich Schmitt durch die Veröffentlichung eines Stahl-Briefes in seinen Ausführungen von 1938 „voll“78 bestätigt.

8. Legitimitätsmythos Die Rahmenthematik des vorliegenden Beitrags betraf den Wandel der Staatsan‐ schauungen in der Moderne. Der Beitrag erörterte aber weder Schmitts Diagnose

73 Schmitt 1938a, S. 109. 74 Schmitt 1940, S. 293, vgl. Schmitt 1940, S. 273. 75 So schreibt Huber in einem Rechtfertigungsbericht von 1946/47: „1936 lehnte ich es ab, einer von dem Bund veranstalteten Tagung über ‚Judentum und Recht’ beizuwohnen; meine ironi‐ sche Bemerkung, es sei bei der Tagung nicht mehr herausgekommen, als dass Friedrich Julius Stahl ein Jude sei, wurde kolportiert und zog mir Unwillen und Verdächtigung zu.“ (Grothe 2014, S. 530) An Schmitt hatte Huber allerdings am 16. September 1935 noch geschrieben: „Das Hauptverdienst von Krauß ist die endgültige, vernichtende Erledigung der Stahl-Legen‐ de.“ (Grothe 2014, S. 233). 76 Schmitt 2015, S. 113. 77 Schmitt 2015, S. 253. 78 Lehnert 2008, S. 111f.

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vom „Ende der Epoche der Staatlichkeit“ noch den alternativen „Reichsbegriff“, den Schmitt als „konkretes Ordnungsdenken“ und „Großraumlehre“ ausspielte; er erör‐ tert vielmehr die Auseinandersetzung mit der Ideen- und Verfassungsgeschichte des 19. Jahrhunderts. Zunächst wurde hier gezeigt, dass Schmitt Ideen- und Verfas‐ sungsgeschichte eng miteinander verknüpfte, indem er Verfassungsgeschichte pri‐ mär als Legitimitätsgeschichte schrieb. Sodann wurde gezeigt, dass seiner Gegenre‐ volution der Legitimitätsstandpunkt zerfiel, sodass Schmitt nach dem 30. Juni 1934 mit der Optik des Ausnahmezustands auf eine antisemitische Legitimation des Na‐ tionalsozialismus umstellte. Der vorliegende Text folgte dieser Sinngebung des Sinnlosen und rekonstruier‐ te die antisemitische Paranoia in ihrem wissenschaftsgeschichtlichen Geltungsan‐ spruch, um zu zeigen, dass Schmitt seine kritische Geschichte der Legitimität im Nationalsozialismus als „Kampf gegen den jüdischen Geist“ fortschrieb. Die eigene Programmatik einer antisemitischen Umschrift der modernen Verfassungsgeschichte löste er dabei nicht umfassend ein, sondern er wählte ein „okkasionelles“, dekon‐ struktives und polemisches Vorgehen. Er lizensierte kontrafaktische Spekulationen und Insinuationen und immunisierte sein mythisches Konstrukt vom „jüdischen Geist“ gegen buchstäbliche Widerlegungen. Dieser antisemitische Mythos konzen‐ trierte sich auf Autoren um 1848, insbesondere auf Stahl, und ignorierte das neuere, biologistisch-rassistische Autorenspektrum, das nach 1900 auf Hitler wirkte. Wenn Schmitt das Legitimitätsdefizit des Nationalsozialismus mit einem eigenen antise‐ mitischen Mythos beantwortete, endete der ideenpolitische „Kampf“ des erklärten Gegenrevolutionärs nach 1934 resignativ und fatal. Dieser „heroische Weg“ war nicht mehr auf „Sieg“, sondern auf apokalyptischen Endkampf und Untergang ge‐ stimmt. Weil Schmitt den Antisemitismus zur legitimatorischen Schicksalsfrage des Nationalsozialismus erhoben hatte, gehörte er zu den Vordenkern der Vernichtung. Er schwieg deshalb auch nach 1945 zum Holocaust, weil eine ernste Aufarbeitung seiner antisemitischen Antwort mit der gegenrevolutionären Ausgangslage auch das eigene Werk sehr grundsätzlich infrage gestellt hätte. Schmitt hatte keine klaren Gegenpositionen, keine starke verfassungspolitische Rezeptur und keinen festen Legitimitätsstandpunkt. Mit diesem Befund ist das Anregungspotential seiner Inter‐ ventionen zwar nicht bestritten; seine selektiven Erhellungen sind aber nicht mit einer umfassenden deutschen Verfassungsgeschichte des Konstitutionalismus zu ver‐ wechseln.

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Walter Pauly Kantorowicz‘ Kenotaph. Von Referenzen bei Foucault und Agamben zu antiken, mittelalterlichen und neuzeitlichen Belegungen

1. Rezeptionsoffene Konfiguration In ihren Schlüsselwerken berufen sich Michel Foucault wie Giorgio Agamben auf die epochemachende Studie „The King’s Two Bodies“ (1957), in der Ernst Hart‐ wig Kantorowicz (1895 - 1963) die Strategie einer Verdoppelung des Körpers des Königs beobachtet und beschrieben hat. So wie Kantorowicz den natürlichen und vergänglichen Körper des Königs von dessen übernatürlichem, unsterblichen politi‐ schen Körper als Träger des Königtums geschieden und beide wieder aufeinander bezogen gesehen habe, vollzieht Foucault „Kantorowicz zu Ehren“ eine Verdoppe‐ lung des Körpers des Verurteilten, so dass neben dessen physischen ein von ihm so genannter „geringste[r] Körper des Verurteilten“ tritt.1 Dem „Machtplus“ des Souveräns, das mit der diskursiven Begründung des politischen Körpers einhergeht, entspricht dabei auf Seiten des Straffälligen ein „Machtminus“, dem ebenfalls eine abstrakte immaterielle Größe korrespondiert: in diesem Fall „eine Seele“, die den Ansatz- und „Bezugspunkt einer bestimmten Technologie der Macht über Körper“ bildet, die auf Überwachung, Dressur und Korrektur ausgeht. Und wie der politische Körper in Foucaults Terminologie die Summe der Elemente und Techniken bildet, die „als Waffen, Schaltstationen, Verbindungswege und Stützpunkte den Macht- und Wissensbeziehungen dienen, welche die menschlichen Körper besetzen und unter‐ werfen,“ fungiert die „Seele“ als ein „um den Körper, am Körper, im Körper“ ange‐ siedeltes und wirkendes „Zahnradgetriebe, mittels dessen die Machtbeziehungen ein Wissen ermöglichen und das Wissen die Machtwirkungen erneuert und verstärkt.“2 Der Mensch, einschließlich des erkennenden Subjekts, ist dabei immer schon „Re‐ sultat einer Unterwerfung“ und die Seele „Effekt und Instrument einer politischen Anatomie“3, übrigens nicht unähnlich der späteren Charakterisierung des Staates als 1 Hierzu und zum Folgenden Foucault 1994, S. 41. Für Kantorowicz sind beide Körper „wirklich und wirksam“, wenn sichtbar auch nur der sterbliche ist, dem die Sichtbarmachung des unsicht‐ baren unsterblichen Körpers auferlegt ist; so Raulff 2004a, S. 19, der anknüpfend an Foucaults Hommage die Bezüge zu dessen Körperlehre ausarbeitet. 2 Foucault 1994, S. 40-42; Rekonstruktion der Seele als „Relais“ bei Marti, 1999, S. 86. 3 Foucault 1994, S. 42. Von einer Spaltung des Subjekts, die der Trennung von Institution und Amtsträger zugrunde liege, handelt Legendre 2016, S. 77, am Beispiel des doppelten Wesens

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„Effekt eines Regimes vielfältiger Gouvernementalität“4. Die Annäherung an Kanto‐ rowicz im Rahmen eines ebenso analytischen wie konstitutiven Körper/Macht-Dis‐ kurses unter poststrukturalistischen Vorzeichen5 verbindet sich hiernach mit einer klaren Abkehr vom juridisch-monarchischen Souveränitätsmodell, für das im politi‐ schen Denken „der Kopf des Königs noch immer nicht gerollt“6 ist. Ein weiteres Beispiel für eine ebenso prominente wie eigenwillige Rezeption der von Kantorowicz beschriebenen Konfiguration liefert Agamben auf den Spuren von Hannah Arendt. Nachdem Arendt unter Anführung von Kantorowicz eine vom römischen Kaisertum über das Pontifikat und die absolute Monarchie bis zur fran‐ zösischen Revolution reichende Linie gezogen hatte, die die „Vergöttlichung des Volkes“ an die Anfänge absolutistischer Gewalt, den darin verkörperten „göttlichen Ursprung“ sowie die damit verbundene Koinzidenz von „Gesetz und Macht“ zu‐ rückband,7 hat Agamben diese absolute Komponente originell ausgearbeitet. Seiner Auffassung nach hat Kantorowicz selbst den „absoluten Charakter der souveränen Macht“ – im Unterschied namentlich zu Carl Schmitts politischer Theologie – über‐ gangen und stattdessen mittels seiner eigenen christologisch fundierten Körperleh‐ re den „harmloseren Aspekt“ der institutionellen Kontinuität herausgestellt, „ohne den keine stabile politische Organisation denkbar“ sei.8 Dabei habe Kantorowicz die römische Genealogie der Zwei-Körper-Lehre zwar benannt, aber absichtsvoll vernachlässigt, weil die römische Kaiserapotheose via consecratio, die vielfach in eine Verbrennung des aus Wachs gefertigten imago des Souveräns mündete, den Wesenszug der „Ewigkeit der politischen Macht“ nicht zu erhellen und zu tragen imstande gewesen sei.9 Demgegenüber scheine die „Analogie mit dem mythischen Körper Christi“ ergiebiger gewesen zu sein, um jene Kontinuitätsthese herzuleiten, die bereits Jean Bodin als „ein altes Sprichwort“ („der König stirbt nie“)10 aus‐

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des Pontifex. Ihm zufolge hat Kantorowicz die „theatralische Dimension“ abendländischer Nor‐ mativität hervorgehoben, die sich in die „Konstituierung des Gesellschafts-Dritten“ einschreibe, womit er die „anthropologische Wahrheit der Fundamente der europäischen Moderne ausge‐ sprochen“, weil die „Repräsentationsfundamente der Vernunft“ erfasst habe; so Legendre 1992, S. 111 f. u. 113 f.; für Kohns 2012, S. 224 u. 240, hat Legendre damit – einer „Fetischisierung der Einheit und Autorität der Macht“ erliegend – Kantorowicz‘ historische in eine anthropologi‐ sche Fragestellung verwandelt. Foucault 1984, S. 70. Parallelisierung bei Schöttler 1997, S. 145 f.; vgl. auch Dean 2012, S. 112 f.; die Beziehung zum Autor von „Die wundertätigen Könige“ thematisiert Luks 2005, S. 105 ff. Foucault 1983, S. 110; zur „Gouvernementalisierung des Staates“ und zum „Dreieck“ aus „Souveränität, Disziplin und gouvernementale[r] Verwaltung […], deren Hauptzielscheibe die Bevölkerung ist und deren wesentliche Mechanismen die Sicherheitsdispositive sind“, Fou‐ cault 2004, S. 161 u. 164. Arendt 1974, S. 202 ff. u. 237; Twellmann 2008, S. 90, spricht insoweit von einem bloßen „Austausch der autorisierenden Referenz“. Agamben 2002, S. 102; in diesem Zusammenhang fehlt jeder Hinweis auf Hannah Arendt. Agamben 2002, S. 103 f. u. 111, obschon es auch in diesem Fall um eine Divinisierung geht. Bodin 1986b, S. 436; für Bodin war unter der Souveränität beides, eine „absolute und zeitlich unbegrenzte Gewalt“, zu verstehen; vgl. Bodin 1986a, S. 205.

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gegeben habe.11 Der römische Ursprung hingegen führe in eine vergleichsweise „dunklere und ungewissere Zone“, in der sich eine Annäherung des nicht opferbaren politischen Körpers des Souveräns an die Figur des homo sacer vollziehe,12 lege der antike Bestattungsritus doch „hinter dem ewigen Leben der königlichen dignitas überdies eine Spur der Tötbarkeit offen“13, die dem „Überschuß des heiligen Lebens des Kaisers“14 gelte. Der politische Körper erweise sich folglich als „Chiffre des ab‐ soluten und nichtmenschlichen Wesens der Souveränität“, die in biopolitischer Per‐ spektive mit der „Fähigkeit“ einhergehe, sich und die anderen als tötbares und nicht opferbares Leben zu konstituieren.15 Wie schon Foucault gelangt damit auch Agam‐ ben ausgehend von der Zwei-Körper-Lehre zu eigensinnigen Ableitungen und For‐ meln, die von einer enormen Fruchtbarkeit und Anschlussfähigkeit der von Kantoro‐ wicz herauspräparierten Dichotomie zeugen, liegen sie auch deutlich jenseits des Horizontes seiner historischen Forschungen.

2. Denkmal der Zwei-Körper-Lehre Nicht nur sich selbst hat Kantorowicz mit „The King’s Two Bodies“ ein Denkmal gesetzt, wie ein französischer Beobachter äußerte, der mit dem Werk ein „großarti‐ ges Kenotaph vollendet“ sah,16 sondern ebenso dem Thema und Titel der Studie. Zur Erfolgsgeschichte der Formel, ihrer vielfachen Abwandlung und Nutzung17 gehört eine Fokussierung auf Körpervorstellungen, die sich in einem reichen Quel‐ lenmaterial finden, aus dem Kantorowicz geschöpft hat. Kantorowicz steht zwar in einem weitgespannten Überlieferungszusammenhang ohne Originalitätsanspruch hinsichtlich der Themenwahl, aber er hat mit einer Tendenz zum „Unscharfen und Agamben 2002, S. 102 u. 111 f. Agamben 2002, S. 104 u. 112. Treffende Reformulierung bei Geulen 2009, S. 151. Agamben 2002, S. 111; das heilige Leben des Kaisers, das sich mit dessen natürlichem Tod überlebt habe, sei mit der „menschlichen Welt unvereinbar geworden“ (ebd., S. 110). 15 Agamben 2002, S. 110 f. 16 Boureau 1992, S. 11, demzufolge das Werk „seither für seinen Autor“ steht; später heißt es al‐ lerdings, der „Mensch Kantorowicz“ verschwinde „im Bild des respekteinflößenden Denk‐ mals, das im großen Buch der Zeit von Princeton […] Gestalt annahm“ (ebd., S. 125). Vom „Denkmal Kantorowicz“ spricht Rader 2004, S. 364. „The King’s Two Bodies“ hat Giesey 1985, S. 191, ,,a monument of the essential tension that exists between ruler and rulership” ge‐ nannt. Von „an enduring legacy” spricht Leyser 2016, S. xxiii, hinsichtlich einer Studie „in le‐ gal anthropology”. Gleichwohl gilt, „Kantorowicz’s book has never become the foundation of a ‘school’”, wie Lerner 2017, S. 357 feststellt. 17 Nachweise bei Klenner 2009, S. 125 ff.; Hinterfragung der Dichotomie, der „Zweiheit“ als sol‐ cher ohne Antwort bei Vogl 1996, S. 573 f.; implizit wird damit die fehlende Triangulierung Thema. Die Fortsetzung von Kantorowicz für die Zeit des klassischen Absolutismus unter‐ nimmt Marin 2005, S. 26, mit „bloß noch“ einem Körper des Königs, der aber in sich drei Kör‐ per vereinige, „einen historischen physischen, einen juridischen politischen und einen sakra‐ mentalen semiotischen“, wobei letzterem eine vermittelnde Funktion zukommt. 11 12 13 14

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Überdeterminierten“ eine „Losung“ von enormer wissenschaftlicher Anziehungs‐ kraft ausgegeben, die inzwischen ein beachtliches Eigenleben zu entfalten imstande war.18 Im Untertitel stellt Kantorowicz seine Arbeit in den größeren Zusammenhang der politischen Theologie und kündigt im Vorwort eine Studie dazu an, „mit welchen Mitteln und Methoden sich im späteren Mittelalter gewisse Axiome einer politischen Theologie zu entwickeln begannen, die mutatis mutandis bis zum 20. Jahrhundert gültig bleiben sollten.“19 Die avisierte Konzentration auf das historische Material zielt dabei auf „gewisse Chiffren des souveränen Staates und seines Ewigkeitsan‐ spruchs“ sowie „politische Glaubensformeln“ im Eigenverständnis ihres Anfangssta‐ diums und zu der Zeit, „in der sie als Triebkräfte bei der Gestaltung der ersten modernen Staatswesen mitwirkten.“ Damit soll ein auf „nur einen einzigen Faden“ begrenzter Beitrag zum komplexen Gewebe des „Mythus des Staates“ geleistet werden, auf dessen Abhandlung durch Ernst Cassirer verwiesen wird.20 Angesichts dieser Einlassungen vermag der „Aufstieg der ‚zwei Körper des Königs‘ […] zum allgemeinen Emblem des Politischen von seiner symbolischen Seite“ nur begrenzt zu überraschen; man hat insoweit von einem „produktiven Missverständnis“ gespro‐ chen,21 obgleich Kantorowicz hierfür die zitierten Signale gesetzt hat. Die Leser neigten dazu, in der beschriebenen Formel „eine alte Form modernen politischen Denkens“ zu sehen, während Kantorowicz eine „neue Form des politischen Denkens im Mittelalter“ zu erfassen gesucht habe, schrieb sein Schüler und enger Vertrauter Ralph E. Giesey.22 Zugleich warnte er vor einer Verwechslung von „Körper“ mit „Natur“ und entsprechend von „Zweikörperlehre“ und „Zweinaturenlehre“.23 Der Meisterschüler beklagte die „irreführenden Interpretationen des Werkes von Kanto‐ rowicz in all den Jahren“,24 die letztlich auch zu einer Banalisierung der Zweikör‐ perlehre im Rezeptionsprozess führen sollten. In der neueren Literatur wird Kantorowicz‘ Selbstbegrenzung auf die „Leitidee“ der „Fiktion vom doppelten Körper des Königs, ihre Wandlungen, Implikationen und Ausstrahlungen“25 teilweise als zu eng und daher unzureichend, wenn nicht irreführend, begriffen, jedenfalls um einen veritablen Beitrag zum „Verständnis der Ursprünge und der Mythologie des modernen säkularen Staates“ zu leisten.26 Unter 18 Klenner 2009, S. 128 u. 137; vgl. etwa die weitgefasste Anwendung auf das Verhältnis des „hi‐ storischen Wissenskorpus“ zur „eigenen kurzen Verkörperung“ der Disziplin durch die Person des Historikers bei Davis 1998, S. 47. 19 Hierzu und zum Folgenden Kantorowicz 1990, S. 22. 20 Kantorowicz 1990, S. 23; die Problematik werde so allerdings nicht „vollständig erfaßt“ (ebd.). Knappe Präsentation von Cassirers 1946 posthum erschienenem Werk bei Pauly 2009, S. 578 f. 21 Klenner 2009, S. 136. 22 Giesey 1992, S. 89. 23 Giesey 1992, S. 82 f., 86 u. 90; Giesey selbst war mit dem Werk „The Royal Funeral Ceremony in Renaissance France“, 1960, in die Fußstapfen seines Lehrers getreten. 24 Giesey 1992, S. 80. 25 Kantorowicz 1990, S. 23. 26 Skinner 2012, S. 14.

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diesem Gesichtspunkt bleibe die gewählte Begrenzung auf die Zeit vor 1600 unver‐ ständlich, denn erst danach habe man den vom König beherrschten politischen Kör‐ per „als den Körper des Staates zu beschreiben“ begonnen.27 Hätte Kantorowicz die neuzeitlichen Staatslehren einbezogen, hätte er auch nicht die sog. ältere Theologie der Königsherrschaft, die von einer „königlichen christomimesis“ ausging und den weltlichen Herrscher als zwischen Himmel und Erde vermittelnden „vicarius Chris‐ ti“ betrachtete,28 zugunsten der „vermeintlich ‚jüngeren‘, gesellschaftsimmanenten, vorgeblich weltlichen Theorie der politischen Herrschaft“ im Fortgang gänzlich verblassen lassen, welche die Fiktion des doppelten Körpers zur Markierung der „Grenze zwischen individueller und kollektiver Persönlichkeit“ einsetzte.29 In der Vorstellung einer gesellschaftstranszendenten Position des absolutistischen Gesetz‐ gebers wie dann auch des Volkssouveräns habe sich die vorgeblich ältere Traditions‐ linie fortgesetzt, die Hannah Arendt schlussendlich auf die alttestamentliche Gesetz‐ gebung am Sinai zurückführte, in der der „Befehl“ einer gesellschaftstranszendenten Autorität zu Tage getreten sei.30 Entgegen der mittelalterlichen Datierung bei Kan‐ torowicz reichten die Wurzeln jener Verdoppelung der Körper, wie sie der sog. jüngeren Theorie zugrunde liegt, ebenfalls bis in die Antike zurück, d.h. bis in die Korporationslehre der klassischen römischen Jurisprudenz.31 Zudem habe bereits Arendt die Ursprünge einer tendenziell pluralistischen und auf Vereinbarung aus‐ gehenden Begründungslinie politischer Herrschaft im römischen Recht gesehen.32 Demzufolge führen beide Traditionslinien von der Antike über das Mittelalter als „Durchgangsstation oder Schnittstelle“ in die Moderne.33 Die von Kantorowicz prä‐ sentierte Ideen- und Dogmengeschichte erfährt damit eine deutliche Relativierung im Lichte der eingeforderten Horizonterweiterung. Dass Kantorowicz die Bedeutung des römischen Rechts für die Entstehung des modernen Staates überbewertet habe, hat hingegen Blandine Kriegel moniert, die hierfür dessen Gleichsetzung von Reich und Staat verantwortlich macht.34 Kantorowicz habe seiner Untersuchung einseitig eine „kaiserliche, anti-republikanische Idee des Staates“ zugrunde gelegt und die vom römischen Recht weitgehend entkoppelte Entwicklung des Staatstyps der „de‐ mokratischen Republik“ ignoriert, die auf ein „republikanisches Recht“ hinauslief.35

Skinner 2012, S. 14. Kantorowicz 1990, S. 106 ff. u. 112. Meder 2015, S. 75 f. Meder 2015, S. 76 f. u. 79 ff. Meder 2015, S. 53 u. 59. Meder 2015, S. 80 u. 84; dafür ließe sich Meder (ebd., S. 81) zufolge aber auch das Alte Testa‐ ment heranziehen, das das Verhältnis zwischen Gott und seinem Volk über ein Bündnis be‐ stimmte; im Anschluss an Max Weber hierzu Pauly 2016, S. 257 ff. 33 Meder 2015, S. 76 u. 82. 34 Kriegel 1998, S. 120 ff. 35 Hierzu und zum Folgenden Kriegel 1998, S. 126 f., unter starker Kontrastierung von Republik und despotischem Reich, nicht zuletzt im Hinblick auf die Menschenrechtsentwicklung.

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Der hierauf gestützte Vergleich mit dem „Denken Carl Schmitts“ gibt endgültig An‐ lass, die Thesen von Kantorowicz‘ Spätschrift zu rekapitulieren.

2.1. Genealogie einer Fiktion Den Einstieg in seine Untersuchung vollzieht Kantorowicz anhand dreier englischer Juristen aus drei Jahrhunderten: F.W. Maitland (1850-1906), der Sinn und Unsinn der „mystische[n] Fiktion von den ‚zwei Körpern des Königs‘“ ausgeleuchtet ha‐ be,36 W. Blackstone (1723-1780), der in der Darstellung des politischen „Superkör‐ pers“ des Königs mit dessen übernatürlicher Vollkommenheit eine „Fiktion inner‐ halb einer Fiktion“ präsentiert habe,37 und schließlich E. Plowden (1518-1585), der in seinen „Reports“ aus der königlichen Gerichtsbarkeit der Tudorzeit explizit von den zwei Körpern, dem „body natural“ und dem „body politic“, des Königs berichtete.38 Beide Körper sind danach „in einer Person inkorporiert und bilden einen Körper, nicht zwei verschiedene, d.h. der korporative Leib ist im natürlichen und e contra ist der natürliche Leib im korporativen“, so dass etwa der natürliche Leib durch die Aufnahme von Amt, Regierung und Majestät „größer gemacht“ wird. Das Volumen des politischen Leibes zeige die Inhärenz der Untertanen als „Glieder“ mit dem König als „Haupt“, und „in Betreff dieses Körpers stirbt der König nie“, so dass sein natürlicher Tod die „demise des Königs genannt“ werde, die zur Trennung beider Körper führe, um den politischen Körper „auf einen anderen natürlichen Körper“ zu übertragen. Kantorowicz weist dabei eine enge Verknüpfung dieser von „Seelenwanderung“ und erneuter „Inkarnation“ getragenen „juristischen Spekulation […] mit theologischem Denken“ nach; der „Superiorität“ beanspruchende politische Körper des Königs sei als „Ebenbild“ der Engel (character angelicus) begriffen worden.39 Zugleich beobachtete Kantorowicz die Nähe des politischen Körpers zur 36 Kantorowicz 1990, S. 27 u. 29, wonach Maitland in seiner Studie „The crown as corporation“ (1901) diese Lehre „zerzaust“ und das „plumpe Konzept“ in seinen „Torheiten“ und „komi‐ schen Züge[n]“ dargestellt habe. Bereits in der Einleitung hatte Kantorowicz den Durchbruch durch den „Zaun einer Nachbarwissenschaft, […] der mittelalterlichen Rechtsgeschichte“, an‐ gekündigt (ebd., S. 23). 37 Kantorowicz 1990, S. 28 f., unter Zitierung von Blackstones „Commentaries on the laws of England“ (1765), wo sich die überkommene Zuschreibung von Unsichtbarkeit an den König ebenso findet wie die These, er könne „nicht nur kein Unrecht tun, sondern auch kein Unrecht denken“. Das zugrundeliegende Konzept der „corporation sole“ gehe Blackstone zufolge als „Art einer von Menschen geschaffenen Irrealität“ auf den von den Römern erfundenen Korpo‐ rationsgedanken zurück (ebd., S. 29). 38 Hierzu und zum Folgenden Kantorowicz 1990, S. 31, 33 u. 37, unter Anführung von Zitaten aus Plowdens „Commentaries or reports“ (1571). 39 39 Kantorowicz 1990, S. 32 f. u. 37. Der „wie ein deus absconditus“ tätige politische Körper lösche „jede Unvollkommenheit“ des natürlichen, indem der natürliche „an der Natur und den Wirkungen des politischen Körpers“ teilhabe; das Modell führe letztlich zu einem argumentati‐ ven „Eiertanz“ (ebd., S. 35 f.). Zur engelsgleichen Versetzung des politischen Körpers „vom

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Kirche als „corpus mysticum mit Christus als Haupt“, d.h. eine Übertragung „aus der theologischen Sphäre in jene des Staates […], dessen Haupt der König ist“, ver‐ mittels einer „kryptotheologische[n]“ Sprache der elisabethanischen Juristen.40 Im Unterschied zur kontinentalen Jurisprudenz, der die Heranziehung theologischer Be‐ griffe zur Definition des Staates durchaus geläufig gewesen sei, fände sich in Eng‐ land eine spezifische „Königs-Christologie“, indem man dort das Königtum mittels „christologischer Begriffe“ definiert habe.41 Die „Einmann-Körperschaft“ (corpora‐ tion sole) des Königs habe auf Grund der Souveränitätslokalisation beim „König-imParlament“ eben „den auch vom Parlament repräsentierten ‚politischen Körper‘ in sich“ geschlossen, wie es der „doppelten Majestät“ kontinentaler Prägung, eben in Form einer maiestas realis sive personalis des Kaiser, versagt bleiben sollte.42 Die England-These unterstreicht Kantorowicz mit dem Verweis auf Shakespeares Histo‐ riendrama Richard II (entstanden um 1595) aus der Lancester-Trilogie, in dem er die christusbezogene „Theorie vom zwiegeborenen Wesen des Königs“ verarbeitet sieht.43

2.1.1. Königliche christomimesis Von der Zwei-Körper-Fiktion der englischen Rechtsdoktrin des 16. Jahrhunderts zieht Kantorowicz eine Linie zu den Traktaten eines normannischen Anonymus um 1100, die eine „auffallende Ähnlichkeit mit den Argumenten der Tudor-Juristen“ aufwiesen.44 Vor dem Hintergrund des Investiturstreits mit der Scheidung von tem‐ poralia und spiritualia proklamierte ein königstreuer Kleriker die „Zwillingsperson“ des Königs, eine gemina persona in „Parallele zum Zweinaturen-Christus“, der nach

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tempus zum aevum“ als endlosem Kontinuum und Wohnort auch der „Ideen“, der „logoi“, vgl. ebd., S. 103. Kantorowicz 1990, S. 39 f.; Kantorowicz erinnert daran, dass im Römischen Recht die Juristen bezeichnenderweise auch „Priester der Gerechtigkeit“ genannt worden seien (ebd., S. 40). Kantorowicz 1990, S. 40 u. 42; der Rückgriff auf Kirchenlehre und -sprache und „Schlüsse de similibus ad similia“ wären „seit alters“ verbreitet gewesen, „genau wie umgekehrt die kaiser‐ liche politische Terminologie und das kaiserliche Zeremoniell in der Frühzeit des Christentums den Bedürfnissen der Kirche angepaßt“ worden seien (ebd., S. 42 f.). Kantorowicz 1990, S. 43 f. Kantorowicz 1990, S. 49 ff. u. 63; das auf königlichen Machtverlust, Thronübergabe, Ermor‐ dung und schließlich Erhöhung des Abgedankten ausgehende Stück sei „die Tragödie der zwei Körper des Königs“ und der zugrundeliegende Begriff „nicht von Shakespeare zu trennen“, wobei es nicht darauf ankomme, ob der Dichter wirklich Plowdens Fälle samt des verfassungs‐ rechtlichen Hintergrunds gekannt oder lediglich aus einer „tieferen Seelenschicht“ geschöpft habe (ebd., S. 48 f.). Gezeigt werde die Kaskade vom „göttlichen Königtum zum ‚Namen‘ des Königtums und von dem Namen zum nackten menschlichen Jammer“ (ebd., S. 50). Kantorowicz 1990, S. 68; Teilen des Klerus der Ära Elisabeths seien solche „Präzedenzfälle“ vermutlich bekannt gewesen (ebd., S. 64). Im Fortgang der Studie heißt es, der König als „ge‐ mina persona“ sei „im Hochmittelalter das Äquivalent des späteren Gedankens vom zweifa‐ chen Körper des Königs und zugleich dessen Vorbote“ gewesen (ebd., S. 106).

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orthodoxem Verständnis „una persona, duae naturae“ war.45 Als „Darsteller“ und „Nachahmer“ Christi („christomimetes“) war der König nicht qua natura, jedoch durch Salbung und Weihe via gratia auf Zeit deifiziert, und seine Macht war die Macht Gottes.46 In der „persona mixta“ eines Königs, aber auch Bischofs trafen verschiedene „Schichten“ und „Kapazitäten“ aufeinander, verbanden sich in der einen Person weltliche und geistliche Funktionen, worin ein klarer Unterschied zur späteren Dualität von natürlichem und politischem Körper liegt; folglich konnte sich hierzu allenfalls eine indirekte Beziehung aus der Verbindung zwischen dem „un‐ sterblichen Superkörper“ und dem „geistlichen Charakter“ ergeben, wofür die Rede von der „gemina persona“ eine Vorlage geliefert zu haben scheint.47 Mittels der Methode der „geminatio“ prononcierte der Anonymus die Göttlichkeit der Macht nicht nur christlicher Fürsten, sondern auch vorchristlicher jüdischer Könige wie des heidnischen römischen Kaisers, namentlich des Tiberius, der auf Grund seiner „divina potestas“ sogar in gewisser Weise über dem inkarnierten Gott, „dem niede‐ ren Christus von Nazareth vor seiner Himmelfahrt“ gestanden habe.48 Die Pointe dieser unter der Einwirkung der dialektischen Methode getroffenen Verdoppelungen habe dabei nicht in einer funktional verfassungsrechtlichen Trennung von Amt und Person gelegen; vielmehr habe es sich um eine theologisch radizierte politische Idee gehandelt, die aus der Spiegelung der verdoppelten Natur Christi im Herrscher resultierte und „zwei Arten des Seins“ evozierte.49 Damit habe der Anonymus zwar post festum die christozentrische politische Theorie der ottonischen und früh‐ salischen Ära idealtypisch fixiert, jedoch die Zeichen der Zeit verkannt: Sowohl 45 Kantorowicz 1990, S. 64 u. 70 f.; danach war der König das „lebende Bild des ZweinaturenGottes“ (ebd., S. 68). 46 Kantorowicz 1990, S. 68 f., in Parallele zur griechischen „apotheosis“ und römischen „conse‐ cratio“ (ebd.), S. 69. Weil der König durch Gnade und nicht von Natur aus göttlich sein sollte, konnte ihm keine göttliche Natur zugeschrieben werden (ebd., S. 73). An anderer Stelle ist vom Fürsten auf der Seinsebene als „Abbild Christi“ und auf der Handlungsebene als „Stell‐ vertreter Christi“ die Rede, der als „Vermittler“ zwischen Himmel und Erde, aber auch „zwi‐ schen Geistlichkeit und Volk“ fungiere (ebd., S. 107 f.). Bereits bei Papst Johannes VIII. findet sich die Bezeichnung des Kaisers, des Karolingers Karl des Kahlen, als „salvator mundi“ (ebd., S. 106). 47 Kantorowicz 1990, S. 65 u. 67 m.w.Nw.; wie der König war der Bischof „im Geist Christus et Deus“, handelte aber als Priester als „Gegenstück des niederen Amtes und der niederen Natur, der Menschlichkeit (Christi), der König als das Gegenstück des höheren Amtes und der höhe‐ ren Natur, der Göttlichkeit“ (ebd., S. 77); auch die „Einheit des römischen Pontifex“ hat der Anonymus aufgespalten (ebd., S. 78). König und Bischof waren sowohl „personae mixtae (geistlich und weltlich)“ als auch „personae geminatae (menschlich von Natur, göttlich durch die Gnade)“, d.h. „christozentrisch“ konzipiert (ebd., S. 79 f.). 48 Kantorowicz 1990, S. 74 ff.; basierend auf der Dichotomie der „Figuren des Jesus Christus und des Jesus christus“ (ebd., S. 74). Skepsis dagegen bei Kantorowicz, der von einer „fixen Idee“ und Überspannung eines Prinzips spricht; der Anonymus treibe den „Keil seiner Persönlich‐ keitsspaltung in alles und jedes Wesen, jede Person, jede Institution“ (ebd., S. 75 ff.). 49 Kantorowicz 1990, S. 80, der eine „primär ontologische Schicht“ berührt sieht, sowohl hin‐ sichtlich der natürlichen als auch der liturgisch deifizierten Qualität; die Amt/Person-Dichoto‐ mie sei bereits „im Frühmittelalter durchaus nicht unbekannt“ gewesen (ebd., S. 78).

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die klerikal-hierokratische Monopolisierung der geistlichen Sphäre im revolutionä‐ ren Reformpapsttum als auch die zunehmend säkulare rechtliche Abstützung von Herrschermacht hätten seinem Ideal eines christologisch-liturgischen Königtums die Zukunft genommen. Eine kongeniale Übertragung der „gemina persona“ vom Gottmenschen Christus auf Kaiser Otto II. erblickt Kantorowicz in einer Miniatur im Aachener Evangeliar, die um 973 auf der Reichenau gemalt worden sei.50 Der Kaiser fände sich dort bis in den Himmel zu Gott erhoben und in seiner Macht mit Gott verbunden; sitzend auf Christi Thron und ausgestattet mit der „maiestas Christi“ sei er der „christomimetes“ und damit mehr als nur „vicarius Christi“. In karolingischen Thronbildern habe Christus hingegen noch gefehlt, wie es einem theozentrischen „davidischen Königtum“ im Sinne eines „vicarius Dei“ entspreche.51 Es habe erst eines Jahrhunderts „christozentrischer Kirchenfrömmigkeit“ bedurft, um zu einer ikonographischen Wende zu gelangen, die mit einer christusbezogenen Staatsphi‐ losophie einherging. Kantorowicz bekennt, dass seine Bildinterpretation von der Deutung einer Banderole abhängt, die für ihn den Himmelsraum symbolisiert und damit ein „piktorales Indiz der Zweiteilung“52 von göttlicher und weltlicher Natur liefert. Steht die Banderole stattdessen für das den Kaiser einhüllende Evangelium, verliert die Beweisführung ihre Durchschlagskraft.53

2.1.2. Recht-bezogenes Königtum Mit Vereinnahmung der Würde des „vicarius christi“ durch das Papsttum im Zuge der gregorianischen Reformen sollte die christozentrische Königsidee verblassen und durch ein wesentlich auf das Recht bezogenes Königtum abgelöst werden. Unter dem Einfluss des römischen Rechts und seiner Rezeption wird der Kaiser als „deus in terris“ oder „deus terrenus“ bezeichnet; dem lag eine neue „theokratisch-juristi‐ sche Vorstellung“ zugrunde, für die sich allerdings antike und insbesondere biblische Anknüpfungspunkte finden ließen.54 Eine Übergangsfigur in diesem allmählichen Wechsel war Johannes von Salisbury, der in seinem Policraticus (1159) die alte Hierzu und zum Folgenden Kantorowicz 1990, S. 82 ff. Hierzu und zum Folgenden Kantorowicz 1990, S. 96 f. Boureau 1992, S. 128; zur Deutungsrelevanz Kantorowicz 1990, S. 86 ff. Boureau 1992, S. 128, sieht das entsprechende Kapitel von „The King‘s Two Bodies“ deswe‐ gen „als einziges im Werk von Kantorowicz von der neueren Kritik für ungültig erklärt“, auch weil der Text des normannischen Anonymus lediglich ein Schulbeispiel „für die Handhabung der Dialektik“ geliefert habe. Zu den Bedenken gegen die Ausdeutung des Aachener Evangeli‐ ar, das übrigens Otto III. zeigen solle, schon bei Kempf 1959, S. 205 f. m.w.Nw. 54 Hierzu und zum Vorstehenden Kantorowicz 1990 S. 106 ff.; dabei schwand die „liturgische As‐ soziation bei der Einsetzung des Herrschers“, die geistliche Macht ließ hingegen „Kaiserrechte anmelden“ (ebd., S. 109).

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„Doktrin vom rex imago aequitatis“ neu belebte, wobei der Fürst als „persona publi‐ ca“ dem Gesetz gleichzeitig unterstand („legibus alligatus“) und dennoch von seiner Verbindlichkeit freigestellt („legibus solutus“) war, um aus Gerechtigkeitsliebe zum Nutzen des Gemeinwesens Billigkeit zu pflegen („lex animata“). Die Ambivalenz von fürstlicher Gesetzeskraft und -bindung, von „imago aequitatis“ und „servus aequitatis“ versteht Kantorowicz als Fortschreibung des gemina-persona-Konzepts und Ausdruck eines „Mittlertums“, das nun aus der christologisch liturgischen „in die juristische Sphäre übertragen“ wurde.55 Gesetzesgestützt entstand mit dem „Fürsten gerens typum Iustitiae“ eine neue Form der „persona mixta“, die in den von Kaiser Friedrich II. erlassenen Konstitu‐ tionen von Melfi, dem „Liber augustalis“ (1231), unter Anführung der römischen „lex regia“56 auf die scheinbar paradoxe Formel „pater et filius Iustitiae“ gebracht wird.57 Vater und Sohn, Herr und Diener, Ursprung und Schutz der Gerechtigkeit verweist auf eine dem römischen Recht in dieser Form unbekannte Mittlerfunktion, die die Gerechtigkeit in eine „Mittelstellung“ rückt und ihr in einer „ecclesia impe‐ rialis“ den Kult einer „religio iuris“ widmet, der die Richter als sacerdotes und den Kaiser als „Sol Iustitiae“ mit „quasi-theologische[m] Unterton“ auszeichnet.58 Das römische Recht lieferte allerdings einzelne Komponenten dieser „um das Recht zentrierte[n] Ideologie“, prominent vor allem die Digestenstelle, wonach das Geset‐ zeskraft hat, was dem Fürsten gefällt, wie die gegenläufige Aussage der sog. „lex digna“, wonach es des Herrschers würdig ist, die Gesetze zu befolgen.59 Nach dem Selbstverständnis auch von Friedrich II. beruhte fürstliche Gesetzesbindung 55 Hierzu und zum Vorstehenden Kantorowicz 1990, S. 112 ff.; im Hinblick auf seine „privata voluntas“ war der Fürst unfraglich dem Gesetz unterworfen (ebd., S. 114). Zur Organismusvor‐ stellung im „Policraticus“ des Johannes von Salisbury eingehend Struve 1978, S. 123 ff. m.w.Nw. 56 Die Quiriten hätten mit diesem Volksgesetz dem römischen Herrscher das Gesetzgebungsrecht und Imperium übertragen; vgl. Stürner 1996, S. 185 (Konst. I 31.). Dass die „lex regia“ bei Ul‐ pian (Dig. 1, 4, 1, pr.) auftaucht, wird teilweise auf einen späteren Eingriff zurückgeführt; Mommsen 1952, S. 877, Anm. 2, vermutet eine „byzantinische Interpolation“, da die Bezeich‐ nung „nicht in Justinians, aber wohl in Ulpians Mund befremde“, gesteht allerdings die Ein‐ wirkung der uralten „lex curiata“ zu, die „in der Königszeit eine lex regia“ gewesen sei. Ähn‐ lich Lübtow 1955, S. 467, wonach der „nachklassische Bearbeiter des Ulpian-Fragments“ die umfassende Herrschergewalt im Wege einer auf die „lex de imperio“ gestützten Machtübertra‐ gung gerechtfertigt habe. 57 Kantorowicz 1990, S. 115, 117 f. u. 156. Bereits 1927 hatte Kantorowicz 1994a, S. 178 f., das Zitat vom Caesar als „der Justitia Vater und Sohn, Herr und Knecht“, angeführt. Ausführliche quellenmäßige Abstützung dann 1931 bei Kantorowicz 1994b, S. 86 ff., bereits hier wertet Kantorowicz den dritten Band von O. v. Gierkes Genossenschaftsrecht gründlich aus, aber auch die Studien von F. Kern zum „Gottesgnadentum und Widerstandsrecht“ (1915) und Ri‐ chard Scholz zur „Publizistik zur Zeit Philipps des Schönen und Bonifaz‘ VIII.“ (1903). 58 Kantorowicz 1990, S. 117 ff. u. 136 ff., unter Benennung der christologischen Bezüge. 59 Kantorowicz 1990, S. 120 ff., unter Berufung auf Ulpians „Quod principi placuit, legis habet vigorem“ (Dig. 1, 4, 1) einerseits und in den Codex aufgenommener Festlegungen der Kaiser Theodosius und Valentinian „Digna vox maiestate regnantis legibus alligatum se principem profiteri: adeo de auctoritate iuris nostra pendet auctoritas“ (Cod. 1, 14, 4) andererseits.

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auf Selbstbindung, war ein „velle“, nicht ein „esse“, anknüpfend an des Fürsten „voluntas ratione regulata“, d.h. an seinen vernunftgeleiteten Willen.60 Immerhin war die Vernunft so die Mutter des positiven Rechts wie er dessen Vater, er zwar „legibus solutus“ aber „ratione alligatus“ und damit indirekt dem Gesetz doch ver‐ pflichtet. Kantorowicz schildert die zeitgenössische Identifikation der Gerechtigkeit mit dem Naturrecht sowie dem göttlichen Recht und nicht ganz spannungsfrei ihre „Zwischenstellung“ mit Anteilen am Naturrecht wie positiven Recht, ihre Qualität als „Idee oder Göttin“, ihre Vermittlungsleistung als „Iustitia mediatrix“ zwischen „göttlichem und menschlichem Recht, zwischen Vernunft und Gerechtigkeit“, wobei Friedrich II. „wie jeder mittelalterliche Herrscher“ beanspruchte, ihr Stellvertreter zu sein.61 In der von Glossatoren wie Postglossatoren geprägten Epoche eines „um die wissenschaftliche Jurisprudenz zentrierten Herrschertums“ sei die im römischen Rechtsdenken beheimatete Vorstellung des Fürsten als „lex animata“, zurückgehend auf den in der griechischen Philosophie geprägten Begriff des „νόμος ἔμψυχος“, wiederbelebt worden.62 Die Wurzeln reichen zurück zur „δἰκαιον ἔμψυχον“ der Ni‐ komachischen Ethik, laufen über die Aristoteles-Rezeption bei Thomas von Aquin bis hin vor allem zu Aegidius Romanus, der den Herrscher zwischen positivem und natürlichem Recht ansiedelt, ausgehend von der allgemeinen Vorstellung eines per se existierenden meta-legalen Naturrechts.63 Die Dualität von natürlichem und menschlichem Recht, aber auch zwischen „himmlischer und irdischer Gerechtigkeit“ brachte den Fürsten als „Mediator“ innerhalb der weitgehend säkularen „religio iuris“ in die polare Position einer „persona mixta“, die die unsterbliche göttliche Ius‐ titia im Spannungsfeld von „Natur und Mensch“ und sodann „Vernunft und Gesell‐ schaft“ zu manifestieren und realisieren hatte.64 Waren Vernunft und Gerechtigkeit damit auch in eine interpretative Abhängigkeit vom Herrscher geraten, so waren sie gleichwohl „noch nicht dem absoluten, vergötterten Staat untergeordnet“ und der sie 60 Hierzu und zum Folgenden Kantorowicz 1990, S. 123 f., der auf die weite Verbreitung dieser Versöhnung von lex regia und lex digna in der mittelalterlichen Jurisprudenz hinweist. 61 Kantorowicz 1990, S. 127 f. u. 133, unter Anführung des mutmaßlich auf den Juristen Placenti‐ nus zurückgehenden Dialoges „Quaestiones de iuris subtilitatibus“, der von der Wohngemein‐ schaft von Ratio, Iustitia und Aequitas im „Templum Iustitiae“ ausgeht. 62 Kantorowicz 1990, S. 143 ff., mit dem Hinweis auf Gottfried von Viterbo und das Zusammen‐ treffen der Bologneser Doktoren mit Kaiser Barbarossa auf dem Reichstag von Roncaglia (1158). Dagegen sieht Ullmann 1958, S. 367, den „Übergang vom theologischen zum Rechts‐ denken“ bereits lange vorher in der theologischen Papstliteratur angelegt und „das theologische Substrat in ein juristisches“ umgewandelt, in den vielen Fällen, in denen die römische Kirche an das Recht appellierte. 63 Kantorowicz 1990, S. 148 ff. 64 Kantorowicz 1990, S. 153 u. 156 ff., unter Zitierung der Digestenstelle (1, 1, 10, 2): „Iuris pru‐ dentia est divinarum atque humanarum rerum notitia, iusti atque iniusti scientia“. Der „Kult der Gerechtigkeit“ habe einen „halbreligiösen Charakter“ aufgewiesen, was es Friedrich II. erlaubt habe, das „alte Ideal des biblischen, messianischen Königs der Gerechtigkeit zu aktivieren“, unbeschadet einer „offensichtliche[n] Säkularisation“ im neuen Leitbild des „Fürsten gerens typum Iustitiae“ als „Pontifex maximus“ der „Iustitia als Modellgöttin“ (ebd., S. 155 f. u. 158).

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verlebendigende Fürst „auch noch nicht der Exponent einer unsterblichen Nation“, wie Kantorowicz betont.65 Vom englischen Juristen Henry of Bracton, einem Zeitgenossen des Hohen‐ staufers, erfährt die Problematik des „rex infra et supra legem“ eine ebenso dia‐ lektische wie konstitutionalistische Akzentuierung, wenn der König gerade der Beschränkung seiner Rechte wegen erhöht wird, wie die Beschränkung aus der Erhöhung folgen soll: Dem „Vikariat Gottes“ vermag der Herrscher nur zu genügen, wenn er „gottähnlich“ und nicht wie ein Tyrann handelt.66 Vorrechte, die den König durch das „Gesetz selbst“ über oder jedenfalls „jenseits“ des Gesetzes stellten, wiesen Bracton zufolge nicht in Richtung eines „kräftigen Absolutismus“, sondern banden den König umso mehr an das Gesetz, dem er erst seine Vorrechte verdank‐ te.67 Ulpians Gleichsetzung der Gesetzeskraft mit dem, was dem Fürsten gefiel, habe Bracton „im Sinne des Konstitutionalismus“ dahin verdreht, dass er das fürstliche „placuit“ an die Kontrolle eines Rates band, d.h. eine „fast unpersönliche oder über‐ persönliche Regierung des Königs“, wie es übrigens durchaus der Regierungspraxis entsprochen habe.68 Bracton war wohlgemerkt auch ein Fürsprecher des Satzes „nullum tempus currit contra regem“, der eine Verjährung gewisser königlicher Rechte und den gutgläubigen Erwerb rsp. die Ersitzung bestimmter königlicher Ei‐ gentumsrechte verhinderte. Insoweit zog Bracton die Trennungslinie nicht hin zum König als Privatperson und auch nicht zum König als natürlichem Körper, sondern „innerhalb des Königsbegriffs selbst“: Der König war dem Gesetz der Zeit insoweit enthoben, als es sich um „zum Frieden und zur Jurisdiktion des Königs gehörende Sachen“, um „öffentliche Sachen“ handelte, die „für irgendeinen Gemeinnutzen des Reichs da waren“ und als „quasi heilige Dinge“, als „res quasi sacrae“ oder „res fisci“ ebensowenig wie die res sacrae der Kirche veräußert werden konnten.69 Im Falle „weniger heiliger“ Sachen und Rechte, patrimonalia statt fiscalia, accidentia statt essentialia der „unpersönlichen Krone“, Angelegenheiten, die nicht die „ganze Verfassung“ betrafen und „alle angingen“, unterlag der König sehr wohl dem Gesetz der Zeit, war also auch insoweit eine „gemina persona“.70 Kantorowicz registrierte 65 Kantorowicz 1990, S. 124 u. 158; aufgrund der Instanz eines göttlichen Naturrechts musste „je‐ ner Zeit der Gedanke eines Staates, der nur um seiner selbst willen da ist, ganz fremd“ bleiben (ebd., S. 159). 66 Kantorowicz 1990, S. 166, 170 u. 172 f. 67 Kantorowicz 1990, S. 162, 164, 166 u. 171, wonach „nur der servus legis auch der dominus legis sein oder werden konnte.“ Hier findet sich auch der Vergleich mit dem gesetzesunterwor‐ fenen Christus, obschon Bracton gemäß der englischen Doktrin den König als Vikar Gottes auffasste und die Verkörperung Christi bei den Bischöfen und „nach dem Ebenbild des zu Ge‐ richt sitzenden Christus“ bei den „Rechtsgelehrten“ ansiedelte (ebd., S. 173 ff. u. 179). 68 Kantorowicz 1990, S. 166 f.; der Fürst sei so als der „Mund des Rates“ erschienen (ebd., S. 169). 69 Hierzu und zum Vorstehenden Kantorowicz 1990, S. 181 f. u. 185 f. 70 Kantorowicz 1990, S. 181 u. 184 ff.; Zeitlichkeit galt hinsichtlich feudaler Angelegenheiten, die persönliche Lehensbeziehungen betrafen (ebd., S. 186 u. schon S. 181).

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bei Bracton damit eine „bizarre Antithese oder Parallele zwischen Christus und Fis‐ cus“, um das „Entstehen einer unpersönlichen öffentlichen Sphäre“ zu markieren, die an den gemeinen Nutzen gebunden und aus den „Bedürfnissen des Staates selbst“ erwachsen war.71 Dem un- wie überpersönlichen Fiskus lag im Rückgang auf römisches Rechtsdenken die Figur einer keiner natürlichen Person gehörenden „res nullius“ zugrunde, die als etwas „Quasi-Heiliges“ staatlicher und insofern fürstlicher Souveränität korrespondierte und die „Vorstellung einer immerwährenden öffentli‐ chen Sphäre“ neubelebter res publica artikulierte, in der der König zum „vicarius fisci“ mutierte.72 Damit verband sich ein Anspruch auf „ewige Dauer“ der aufkei‐ menden Nationalstaaten wie des Reiches („Imperium semper est“).73

2.1.3. Wandel des corpus mysticum zur Körperschaft: corpus ecclesiae mysticum und corpus reipublicae mysticum Hatte der nicht biblische Terminus „corpus mysticum“ zur Zeit der Karolinger die geweihte Hostie des Abendmahls bezeichnet, fand er ab Mitte des 12. Jahrhunderts infolge eines einschneidenden Bedeutungswechsels zunehmend Anwendung auf die Kirche als „Organisation“ und tauschte damit seine „ursprünglich liturgische und sakramentale Bedeutung“ gegen eine „soziologische Konnotation“.74 Beeinflusst vom kirchlichen Modell einer „absoluten und rationalen Monarchie auf mystischer Grundlage“ wurde der körperschaftliche Begriff des „corpus mysticum“ schließlich auf den modernen Staat als eine „Quasi-Kirche oder mystische Körperschaft auf rationaler Grundlage“ übertragen wie dann auf „jede Körperschaft der säkularen Welt“.75 Bezeichnenderweise ging die Auffassung der Kirche im Sinne eines „politi‐ schen und rechtlichen Organismus“ mit einer Heiligung der „weltlichen politischen

71 Kantorowicz 1990, S. 178 u. 186. 72 Kantorowicz 1990, S. 191 u. 201 ff.; in der karolingischen Zeit habe der Fiskus hingegen noch für das „Privateigentum des Königs“ gestanden, und erst bei den Juristen des 12. Jahrhunderts habe sich der Übergang zu einer „öffentlich-rechtlichen Auffassung“ vollzogen, sei eine „neue Sphäre des öffentlichen Rechts“ mit einem „neuen Staat im Staate“ aufgekommen (ebd., S. 191 ff.). Bereits in den „ältesten Schichten des römischen Rechtsdenkens“ habe sich die Ent‐ sprechung zwischen dem Eigentum der Götter und des Staates gefunden (ebd., S. 200). 73 Kantorowicz 1990, S. 204. 74 Kantorowicz 1990, S. 208; dagegen war der leidende Leib Christi zur Karolingerzeit als „pro‐ prium et verum corpus“ bezeichnet worden, die Kirche hingegen einem Pauluswort gemäß als „Corpus Christi“ (ebd., S. 207); zum hintergründigen theologischen Disput über die Transsub‐ stantiation ebd., S. 208. Niederschlag fand die neue Doktrin 1302 in der Bulle „Unam sanc‐ tam“ von Papst Bonifaz VIII., die die Kirche den „einen mystischen Leib“ nennt, dessen Haupt Christus ist (ebd., S. 206). Kantorowicz sieht in der Folge des neuen, auf die politische Organi‐ sation abhebenden Konzepts die Kirche „mit weltlichen Inhalten vollgepumpt“ (ebd., S. 218). 75 Kantorowicz 1990, S. 205 f. u. 217.

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Körper“ einher, wie sie in der Formel vom „sacrum imperium“ Ausdruck fand.76 Zudem hatte sich der „Schwerpunkt“ unter lehrmäßiger Betonung der „korporativen und organischen Struktur“ von Staat und Gesellschaft von der Person zum Kollek‐ tiv, den „politischen Aggregaten“ verschoben, getragen von der Unterscheidung zwischen dem individuellen menschlich materiellen Leib Christi (corpus naturale oder personale) und seinem kollektiven geistlichen Körper, die sich von der christo‐ logischen Diremtion von göttlicher und menschlicher Natur absetzte.77 Und Kanto‐ rowicz schreibt, hiermit scheine der „Präzedenzfall für die ‚zwei Körper des Königs‘ gefunden“ zu sein.78 Angestoßen namentlich von Thomas von Aquin löst die „per‐ sona mystica“ die Formel vom „corpus mysticum“ ab, und Kantorowicz zitiert die pointierte Aussage von Rudolph Sohm: „Aus dem Körper Christi hat sich die Kirche in eine Körperschaft Christi verwandelt“, die eine „persona repraesentata oder ficta“ darstellt.79 Den von der „Anleihe beim kirchlichen Wortschatz“ profitierenden „Staat als Organismus“ kennzeichnete neben einer transzendenten Aufwertung ein „korpo‐ rative[r] Charakter“, wie er nun jeder „universitas“ zuerkannt wurde, angefangen bei den „fünf corpora mystica der menschlichen Gesellschaft […] Dorf, Stadt, Provinz, Reich und Welt“ bis hin zum Volk, indem auch „populus“ eine überindivi‐ duelle und übersummative Größe bezeichnete.80 Im Zuge der Aristoteles-Rezeption erhielt „corpus mysticum“ einen ethischen „Heiligenschein“ und in der synonymen Rede vom „corpus morale et politicum“ zeigt sich eine Aufwertung des politischen Körpers („body politic“).81 Zugleich beförderte das wiederbelebte Gleichnis einer „Heirat des Fürsten mit seinem corpus mysticum“ ehevertragsähnliche Bindungen, konstitutionell-organologische Beschränkungen des Fürsten als „Haupt und Gatte“, der nun seinen „Schwerpunkt im Staat“ fand.82 Mit dem staatszentrierten Königtum sieht Kantorowicz schließlich eine Neubelebung des „regnum als patria“ verbunden, einhergehend mit einer ethischen Heiligung des politischen Vaterlandes, für das zu sterben („pro patria mori“) als ein ähnliches „Märtyrertum“ zu gelten hatte wie der Tod für den Glauben.83 76 Kantorowicz 1990, S. 209; der Terminus „corpus mysticum“ habe das „corpus Christi juridi‐ cum“ geheiligt (ebd., S. 208 f.). 77 Kantorowicz 1990, S. 205 u. 209 ff.; das eine war der Leib Christi selbst, „das andere der Leib, dessen Haupt er ist“ (ebd., S. 210 m.w.Nw.). 78 Kantorowicz 1990, S. 210. 79 Kantorowicz 1990, S. 213 m.w.Nw., wobei die mystische Person mit der fiktiven Person kon‐ vergierte (ebd., S. 213 ff.). 80 Kantorowicz 1990, S. 219 ff. 81 Kantorowicz 1990, S. 221. 82 Kantorowicz 1990, S. 222 ff., 228, 230 u. 241. Als prägnant würdigt Kantorowicz die Charak‐ terisierung von England als „dominium regale et politicum“ bei John Fortescue (1394 – 1476), deren Kongenialität mit einem Zitat von Nikolaus von Cues (1401 – 1464) er hervorhebt, wo‐ nach der Fürst nur dann zum „Vater jedes einzelnen Staatsbürgers“ werde, betrachte er sich als „Geschöpf aller seiner Untertanen“ (ebd., S. 236 u. 240). 83 Kantorowicz 1990, S. 241, 250, 264 u. 274, unter Hinweis auf die römisch-rechtlichen Ur‐ sprünge der „patriotischen Ethik“ (ebd., S. 253 f.) und die Ambiguität der Formel „pro rege et

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Trotz manch vorfindlicher Analogien, Entgleisungen und Tendenzen weist Kanto‐ rowicz eine direkte Rückführung der Lehre von den zwei Körpern des Königs auf die Lehre von den zwei Körpern Christi im Ergebnis zurück, da dem sterblichen Kö‐ nig im spätmittelalterlichen organologischen Konzept die „Zeitlosigkeit“ fehlte, die sich vielmehr über die Kontinuität von Gerechtigkeit und Gesetz sowie die „univer‐ sitas“ eines „unsterblichen Volkes, Staates oder der patria“ hergestellt habe; auf die‐ ser Ebene zugeordnet waren Dynastie, Krone und Königswürde, nicht aber die ein‐ zelnen Könige.84 Die Vorstellung einer „organischen Einheit“ habe einem „corpus separatum“ des Staatsoberhauptes widerstritten, und es fehlten auch quellenmäßige Belege für die Vorstellung von zwei Körpern des Königs, dem stattdessen „zwei Ei‐ genschaften“ oder sogar „zwei Leben“ zugeschrieben wurden.85 Als „organisches Ganzes“ sei der Staat einer abstrakten Personifizierung (noch) nicht zugänglich ge‐ wesen, die ihn konsequent von seinem Haupt und seinen Gliedern abgehoben hätte, weswegen nicht die fiktive Person, sondern der Körper in Anlehnung an das kirchli‐ che Vorbild den Leitbegriff geliefert hätte.86

2.1.4. Kontinuität qua universitas Die Schwäche der überkommenen organologischen Staatstheorie erblickte Kantoro‐ wicz in ihrer auf den jeweiligen Augenblick fixierten rein räumlichen Perspektive, die Haupt und Glieder immer nur ad hoc für momentane Zwecke korporativ zusam‐ mendachte, nicht jedoch als zeitlich überdauernde Größe, die auch die Sukzession ihrer Bestandteile bewältigte.87 Die Integration der zeitlichen Dimension übernahm die Figur der universitas, die „nie stirbt“, die „Identität trotz Wandel“ garantierte und in ihrer „Projektion in Vergangenheit und Zukunft“ die Bedeutung der momentanen Angehörigen stark relativierte. In horizontaler Hinsicht bestand die korporationsin‐ terne „Pluralität von Personen“ aus der „Gesamtheit der lebenden Angehörigen“, in vertikaler Hinsicht hingegen in der „Generationenfolge“, was die Möglichkeit eröffnete, den „unsterblichen Sukzessionskörper“ auch in Form der fiktiven Person der „Einmann-Korporation“ zu konstruieren, „die nur in bezug auf die Zeit ein Kol‐ lektivum“ darstellte: Die „Reihe von Vorgängern und Nachfolgern“ führte zu einer

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patria“, da in ihr ein feudales und ein staatliches Element zusammentreffen (ebd., S. 266). Ein Martyrium einfach für einen sterblichen Menschen war dabei nicht gerechtfertigt, weshalb die Verpflichtung der Glieder das Haupt zu schützen für Kantorowicz einen Problemgehalt organo‐ logischer Doktrinen birgt (ebd., S. 273 f.). Kantorowicz 1990, S. 278. Kantorowicz 1990, S. 229 u. 276. Kantorowicz 1990, S. 277. Hierzu und zum Folgenden Kantorowicz 1990, S. 314 f.; erst ab dem 14. Jahrhundert hätten die Begriffe „corpus morale et politicum“ oder „patria“ zeitliche Kontinuität einbegriffen.

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„Ewigkeit“ des Staatsoberhauptes, zu einem König, der ebenfalls nie stirbt.88 Auf‐ grund praktischer Bedürfnisse war die „Fiktion einer Quasi-Kontinuität öffentlicher Einrichtungen“ entstanden, gespeist von der Vorstellung einer „perpetua necessitas“, die etwa vormalig einmalige Abgaben mit kalendermäßiger Regelmäßigkeit versah; zudem begann der permanent werdende Staat die administrativen Akte seines zuneh‐ mend in institutioneller Kontinuität begriffenen Verwaltungsapparates zu registrie‐ ren.89 Juristische Inspiration lieferte hierfür das römische wie kanonische Recht, die „Ewigkeit des Römischen Reiches“ in der Lehre von den vier Weltmonarchien nach Daniel ebenso wie die der lex regia zugrundeliegende Vorstellung einer „immerwäh‐ renden Majestät“ des römischen Volkes, das bei den Glossatoren wieder auftretende Bild eines trotz kompletter Erneuerung der Planken identischen Schiffes ebenso wie die aristotelisch angereicherte postglossatorische Doktrin eines ewigen Imperiums.90 Befördernd wirkte das scholastische Vokabular des Streits um die Universalien, die von nominalistischer Seite „fictiones intellectuales“ genannt wurden, aber auch die ab Mitte des 13. Jahrhunderts geführte theologische Debatte um die „Ewigkeit der Welt“, die neben „aeternitas“ und „tempus“ als dritten Begriff ein „aevum“ als „Ka‐ tegorie endloser Zeit“ bemühte.91 Kantorowicz betont die innere Verwandtschaft der fiktiven Personen der Juristen mit der „Unveränderlichkeit in einem wechselnden, wenngleich unendlichen aevum“; diese den Engeln vorbehaltene Sphäre sei im an‐ hebenden Spätmittelalter in der politisch-rechtlichen Gedankenwelt aufgeschienen, die sich „sozusagen mit engelartigen Körpern bevölkerte“, deren es zur Bewältigung des juristischen Kontinuitätsbedürfnisses bedurfte.92

2.1.5. Rex qui nunquam moritur: Dynastie, Krone und unsterbliche Königswürde Die Permanenz des Staatsoberhauptes erhält sich ab dem Übergang vom Hoch- zum Spätmittelalter mittels des Vorrangs der „bloßen dynastischen Abstammung“ über die juristisch marginalisierte kirchliche Krönung.93 Hierzu beigetragen hatte einmal von hierokratischer Seite eine Dekretale von Papst Innozenz III., die die Fürstengegenüber der Bischofssalbung charismatisch deutlich abwertete, dann vor allem aber die legistische und kanonistische Aufwertung entweder des Wahlaktes, der letztlich von Gott herrührte, oder eben der dynastischen Abstammung, die ebenfalls 88 Kantorowicz 1990, S. 315 f. 89 Kantorowicz 1990, S. 289, 291 u. 295. 90 Kantorowicz 1990, S. 297, 299 u. 302 f.; Ansätze einer Auffassung von Kollektiva als Person fänden sich bereits im römischen Recht; die Glossatoren hätten die universitas als „Sammlung einer Vielzahl von Personen in einem Körper“ aufgefasst (ebd., S. 308). 91 Kantorowicz 1990, S. 279, 284 ff., 306 u. 310; zum Konflikt von aristotelischem und augustini‐ schem Zeitkonzept ebd., S. 280 f. 92 Kantorowicz 1990, S. 286 ff. u. 307. 93 Kantorowicz 1990, S. 321.

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über die Geburt des Erben ein „Gottesurteil“ enthielt und die Thronfolge zum Ge‐ burtsrecht erhob.94 Die Dynastie stieg damit zu einer „überindividuellen Wesenheit“ auf, die permanent für einen „natürlichen Körper des Staatsoberhauptes“ sorgte.95 Wenn Vater und Sohn erbrechtlich im Hinblick auf die „ewige, unsichtbare Krone“ zu einer Person verschmolzen, sollten Könige genau genommen „nicht Erben von Königen, sondern Erben des Königtums“ sein, d.h. eines öffentlichen Erbes, das in seiner korporativen Gestalt Haupt und Glieder umschloss.96 Die „Sempiternität“ der corona invisibilis umfasste „alle zur Regierung des Staatswesens erforderlichen königlichen Rechte und Vorrechte“, griff aber über die „Physis des Königs und des Territoriums“ hinaus in eine politische „Metaphysis“ aus, die der „Gemeinschaft des Reichs“, der universitas galt.97 Waren König und Krone somit auch nicht identisch, so konnten sie dennoch nicht voneinander getrennt werden, da die Krone wesentlich erst über den König Handlungsfähigkeit erhielt, wobei er sich eidlich zum Schutz der Kronrechte zu verpflichten hatte.98 Wie die römische res publica und Kirche dem Minderjährigenschutz unterstellt, bedurfte die Krone des Königs als Vormund, ggf. im Verbund mit verantwortlichen Magnaten.99 War die Krone über die „Perpetuität der Hoheitsrechte“ und Souveränität auf den kollektiven politischen Körper bezo‐ gen, so bezog sich die „dignitas“ auf die „Einmaligkeit des Königsamtes, auf die dem König vom Volke übertragene Souveränität“, wobei aber die Aufrechterhaltung der königlichen Dignität als öffentliche Angelegenheit durchaus alle anging.100 War das Prinzip der Krone „organisch“, so das der dignitas „sukzessiv“ angelegt: Eine „Körperschaft durch Nachfolge“ erfasste alle Personen, die in zeitlicher Abfolge die königliche Würde bekleideten, zu gegebener Zeit immer nur eine Person, wie es das Konzept der „Einmann-Körperschaft“ zum Ausdruck brachte.101 Das aus der antiken Kantorowicz 1990, S. 324 ff. u. 332 f.; Innonenz III. hatte damit der Vorstellung eines chris‐ tuszentrierten Königtums eine deutliche Absage erteilt und dadurch als „Hauptförderer gerade jener Säkularisierung“ gewirkt, die „der Heilige Stuhl sonst bekämpfte“ (ebd., S. 324 f.). Nie‐ derschlag fand die Maßgeblichkeit nur der Wahl schließlich in dem der Goldenen Bulle vor‐ angegangenen Weistum des Kurvereins zu Rhense (1338) und dem entsprechenden Reichsge‐ setz licet iuris; unterstützt wurde die Wahltheorie u.a. von Wilhelm von Ockham und Marsili‐ us von Padua (ebd., S. 329). Beispiele für einen Regierungsbeginn vor Krönung lieferten für Frankreich 1270 Philipp III. und für England 1272 Eduard I., die mit dem Tod bzw. Begräbnis ihrer Väter die volle Regierungsmacht übernahmen (ebd., S. 330 f.). 95 Kantorowicz 1990, S. 338; eine Lückenfüllung über Christus als „interrex“, wie sie für kirch‐ liche Ämter zu Gebote stand, barg die Gefahr eines päpstlichen Vikariats im Interregnum (ebd., S. 317 u. 335 ff.). 96 Kantorowicz 1990, S. 339, 362 f. u. 372. 97 Kantorowicz 1990, S. 339, 343 u. 360. 98 Kantorowicz 1990, S. 357, 365 u. 380; zur Ausdifferenzierung verschiedener „Kapazitäten des Königs“ ebd., S. 369 f.; für das als Krone bezeichnete komplexe „Knäuel“ bemüht Kanto‐ rowicz die spätere Formel von Francis Bacon, wonach Krone und König „untrennbar, aber verschieden“ gewesen seien (ebd., S. 379 f.). 99 Kantorowicz 1990, S. 375 u. 380. 100 Kantorowicz 1990, S. 381 f. 101 Kantorowicz 1990, S. 385 u. 442. 94

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Mythologie bekannte Fabeltier des Phönix lieferte hierfür das Sinnbild, da immer nur ein einziges Exemplar im mehrhundertjährigen Lebenszyklus existierte, bevor es zur Selbstzeugung des neuen Vogels aus der Asche des verbrannten Vorgängers kam: singulär individuell und kollektiv für die Art stehend zugleich, so wie Adam, der einst die Gesamtheit der Menschheit in seinem Einzelwesen umschlossen hatte.102 Unsterblich wie die „universitas“ brachte die „dignitas“ zeitweilig die Vorstellung einer permanenten „persona idealis“ im König auf, die neben seiner „persona perso‐ nalis“ stand und in Frankreich zur Sentenz „Le roi ne meurt jamais“ führte.103 Für England stellt Kantorowicz die allmähliche Ersetzung der dignitas durch corpus, den politischen Körper heraus.104 In den Effigies des französischen Begräbniszeremoni‐ ells seit dem 14. Jahrhundert sieht Kantorowicz die „dignitas“ zur Schau gestellt, die in England randständig blieb.105 Beim Kommentator Baldus de Ubaldis findet Kan‐ torowicz die thomistisch inspirierte „Unterscheidung zwischen principalis (=ewige Dignität) und instrumentalis (=sterblicher König)“, derzufolge der jeweilige König als Werkzeug, Organ und Instrument der Königswürde als einer sein Handeln leiten‐ den prinzipiellen Kraft wirkt („rex instrumentum dignitatis“).106 Hieraus hätten die englischen Juristen ihre Lehre einer wechselseitigen Inkorporation von natürlichem und politischem Körper entwickelt, die beide in einer Person untrennbar seien.107 Dass gerade in England diese Form einer politisch-juristischen Theorie von den zwei Körpern des Königs, verbunden mit der Lehre von der „Einmann-Körperschaft“, aufgekommen sei, führt Kantorowicz auf die frühzeitige „Entwicklung und dauernde Triebkraft des Parlaments im englischen Verfassungsdenken“ zurück, die angesichts dessen „konkreten Sinn[s]“ die Verwandlung in eine fiktive Person ausgeschlossen habe.108 Der „politische Körper des Königreichs“ sei hier in seiner organologischen Gestalt von Haupt und Gliedern besonders sichtbar und wirksam gewesen, während

102 Kantorowicz 1990, S. 386, 388 u. 443. 103 Kantorowicz 1990, S. 397 u. 405; Grundlage hierfür bildete die Doktrin „dignitas non mori‐ tur“, die jedoch nicht auch den Ursprung für den Ausruf „Le roi est mort! Vive le roi“ lieferte, der sich vielmehr einer eigenen Gebets- und Akklamationspraxis aus dem 15. Jahrhundert verdankte (ebd., S. 405 ff.). 104 Kantorowicz 1990, S. 402 ff. 105 Kantorowicz 1990, S. 415 ff., unter Betonung einer gewissen englischen Urheberschaft, die später nach römischem Vorbild verfeinert worden sei (ebd., S. 423). 106 Kantorowicz 1990, S. 436 ff.; knapp zur thomistischen Vorlage des „Christus als instrumen‐ tum deitatis“ Kloos 1959, S. 362. 107 Kantorowicz 1990, S. 432 f., 435 u. 439 ff.; theologisch diente wiederum der Bischof als Vor‐ bild, der in der Kirche ist und diese in ihm, wie nach Joh. 14, 10, Christus im Vater und der Vater in ihm (ebd., S. 434 f.). 108 Hierzu und zum Folgenden Kantorowicz 1990, S. 440 f.; zur Unterschiedlichkeit der Funktion des Königs in England und Frankreich insbesondere Marek 2009, S. 215 f., der zufolge die englische Monarchie die „Weltlichkeit ihres Anspruchs auf Dauerhaftigkeit“ zuzustehen be‐ gann, während die französische die „Dauer des Amtes durch göttlichen Willen“ legitimierte, ein wesentlicher Gesichtspunkt für die Weggabelung von „einerseits konstitutiver und ande‐ rerseits absolutistischer Monarchie.“

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in Frankreich ein absolutes Herrschertum und in deutschen Landen der abstrakte Staat im Mittelpunkt gestanden habe.

2.1.6. Antike Vorläufer und humanistische Vollendung Parallelen zur Zwei-Körper-Lehre im Altertum räumt Kantorowicz am Ende sei‐ ner Studie ein und stellt sogar den normannischen Anonymus in die „Bahnen antiker Herrschervergottung“, angefangen bei Duplikationen im alten Ägypten.109 Die Scheidung von Freunden des Fürsten und solchen des Fürstentums bei Aristo‐ teles kommt ebenso zur Sprache wie die davon wohl inspirierte Unterscheidung Alexander d.Gr. zwischen Alexander- bzw. Königsfreunden, weiter Senecas perso‐ nale Verdoppelung des Steuermannes eines Schiffes, der doch auch Fahrgast ist, dann die Doppelung im opfernden Kaiser, der zugleich Opfer empfing, sodann die in der persona publica des Herrschers gelegene „Objektivierung“, die Verehrung des Kaisers als Gott mit der zeitgleichen Mahnung an sein Menschtum, sein Verständnis als Instrument und Genius des römischen Volkes und schließlich Senecas Satz, dass der Fürst die Seele der res publica und diese der Körper des Fürsten sei.110 Obschon dies darauf hindeute, dass „der Kern der Idee von den zwei Körpern des Königs schon im heidnischen Altertum vorhanden gewesen sei“, fehle es an der Wendung der Tudor-Juristen zum englischen „Konzept des Königs, der zwei Körper hat“, und zur „Einmann-Korporation“, die nicht schlicht mit Verkörperungen von Kosmos, Polis und Individuum zusammenfalle.111 Vielmehr sei diese spezifische Zwei-Kör‐ per-Lehre ein „Produkt“ und „Markstein christlicher politischer Theologie“, das seinen Ausgang vom paulinischen Verständnis der Kirche als „corpus Christi“ ge‐ nommen habe. Von da aus habe der Weg über die mittelalterlichen Formeln des „corpus ecclesiae mysticum“, dann des „corpus rei publicae mysticum“ und des „corpus morale et politicum des Staates“ zum unsterblichen politischen Körper geführt, der dem König innewohnte. Als eine eigensinnige humanistische Ausformung präsentiert Kantorowicz dage‐ gen das im Menschen angelegte Königtum und dessen Würde bei Dante Alighieri (1265 - 1321), der dem Menschen die Schlüsselstellung eines „homo instrumentum humanitatis“ eröffnet habe.112 Unter Radikalisierung der Lehre der Dualisten errich‐ tete Dante einen von Papst, Kirche und Religion unabhängigen „Weltsektor“, den ein „irdisches Paradies“ symbolisierte, dessen Seligkeit der Mensch aus eigener Kraft erreichen konnte.113 Davon separierte er die Seligkeit des ewigen Lebens, die 109 110 111 112 113

Kantorowicz 1990, S. 488 mit Anm. 6 u. 496. Kantorowicz 1990, S. 489 ff. Hierzu und zum Folgenden Kantorowicz 1990, S. 495 f. Kantorowicz 1990, S. 444 u. 484. Hierzu und zum Folgenden Kantorowicz 1990, S. 450 ff. u. 462.

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nur mit Hilfe Gottes erreicht werden konnte. Beide Hemisphären waren durch die verschiedenen Zielsetzungen des Menschen getrennt und mit den höchsten Ämtern von Kaiser und Papst bestückt. Die „Fähigkeit zum Menschsein“ selbst rückt hier auf nahezu zum „Amt“, geziert von einer „korporative[n] und gattungsmäßige]n] Würde des Menschen“, die sich in einer „überindividuellen humanitas“ objektivierte und unsterblich wurde.114 In dieser „Reflexivität“ von homo und humanitas, von „natürlichem Körper des Menschen“ und „korporativem Körper der Menschheit“ tritt für Kantorowicz „der Kern der Lehre von den zwei Körpern“ hervor, verbunden mit der dichterischen Bewältigung der „Kreuz- und Querbeziehungen“ jener span‐ nungsreichen Herrschaft der humanitas über den homo.115 Die vom „universalen Philosophenkaiser“ geleitete Weltgesellschaft der humana civilitas erfasste alle Menschen, Christen wie Heiden, diente dem Frieden, der Gerechtigkeit, der Freiheit und Eintracht, basierte auf menschlichem Recht, erhellt durch natürliche Vernunft, Moralphilosophie und Rechtswissenschaft, und lebte aus den „klassisch-heidnischen Kardinaltugenden: Klugheit, Tapferkeit, Mäßigung, Gerechtigkeit.“116 Für Dante ha‐ be die universale Menschheit einen „korporativen Körper“ ausgestattet mit einem „universalen Intellekt“ zur Entfaltung der „Totalität der humanitas“ gebildet, ausge‐ richtet an der Perfektion des sie nach Art einer Einmann-Körperschaft vor dem Sün‐ denfall repräsentierenden unsterblichen „Adam subtilis“; dessen Natur „parakirch‐ lich“ zu reetablieren, zu „re-‚humanisieren‘“, sei „Dantes Leistung“ gewesen.117 Die hierfür „in nichtsakramentaler Weise“ zu vollziehende Reinigung vom „peccatum originale“ vollzieht die „Göttliche Komödie“ in Form einer „Übertragungstaufe“ zur humanitas, mit der Vergil als Täufer Dante als „neue[m] Adam“ das „Paradies des Menschen“ geöffnet habe, indem er in ihm mit der „Taufkrone“ den Adam subtilis über den Adam mortalis erhoben habe.118

2.2. Fixierungen und Akzentuierungen Kantorowicz blieb im Ergebnis recht deutlich auf das Spezifikum der englischen Zwei-Körper-Lehre des Königs in der Fassung der Tudor-Juristen fixiert und hat unter diesem Gesichtspunkt, wie gesehen, immer wieder die Vorgeschichte selektiert 114 115 116 117 118

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Kantorowicz 1990, S. 453 u. 484. Kantorowicz 1990, S. 484 ff. Kantorowicz 1990, S. 456 f. u. 460. Kantorowicz 1990, S. 464 ff., 474 u. 476. Kantorowicz 1990, S. 476 f. u. 482 ff.; mit der von Vergil unter der Patenschaft von Cato Uti‐ censis, der den Aufstieg in den Garten Eden nur bis zum Fuße des Purgatoriums begleitet hat‐ te (Vergil dagegen bis zur Pforte des irdischen Paradieses), vollzogenen Taufkrönung erlangte Dante die unversehrte Menschennatur und -würde des paradiesischen Adam zurück, die der (postlapsarisch notwendig gewordenen) Herrschaft von Menschen über Menschen entbehrte; vgl. auch Pauly 2014, S. 519 f. m.w.Nw.

und zensiert, gleichwohl aber die Netze seiner theoriegeschichtlichen Betrachtung weit ausgeworfen. Auch von einer Fixierung quellenmäßiger Natur spricht die Sekundärliteratur, namentlich auf Otto von Gierke, die sodann erhebliche Folgen gezeitigt hätte.119 So hat Kantorowicz tatsächlich auf den Spuren Gierkes eine „epochale Erklärung“ von Papst Innozenz IV. aus der Mitte des 13. Jahrhunderts zum Ursprung einer neuen Korporationstheorie deklariert, die es erlaubte, jede universitas „als juristische Person zu behandeln“ und dabei die juristische Person „eindeutig von jeder natürlichen Person“ zu unterscheiden sowie die Vielzahl der in ihr verbundenen Individuen dennoch „als eine Person anzusehen“, die „fiktiv“ war.120 Gierke spricht ausdrücklich von einem „kanonistischen Ursprung der Fik‐ tionslehre“ und erläutert, dass „zuerst Innozenz“ den Satz aufgestellt habe, „daß die Korporation als solche ein unleibliches Begriffswesen“ sei, was er wie Kantoro‐ wicz auf den „Einfluß des philosophischen Nominalismus“ zurückführt.121 Beide Autoren treffen auf den Vorwurf, damit die bereits von der römischen Jurisprudenz vollzogene Trennung der unkörperlichen Einheit eines Kollektivs einerseits von der Vielheit und Summe seiner jeweiligen, ggf. wechselnden Mitglieder andererseits übersehen zu haben.122 Bereits Gierke spricht allerdings davon, dass Innozenz „mit genialem Griff“ lediglich „den im römischen Recht thatsächlich waltenden, doch nur halb ausgesprochenen Gedanken des rein begrifflichen und fiktiven Daseins der juristischen Person gewissermaßen neu entdeckte“,123 und bei Kantorowicz heißt es, ein „Kollektivum einfach als ‚Person‘ aufzufassen, wurde schon vom römischen Recht nahegelegt“,124 weshalb es in der Sache hier doch wohl eher um eine Frage der Akzentuierung geht. Gierke zufolge hatte sich der Verbandsbegriff im römischen Recht immerhin auf dem Gebiet des ius publicum ausgebildet, nicht jedoch auf dem des ius privatum, wo Mehrheiten „stets als eine Summe isolierter Individuen“ aufge‐

119 Meder 2015, S. 46, wo neben Gierke auch auf die maßgeblichen Forschungen von Henri de Lubac zum „corpus mysticum“ hingewiesen wird. 120 Kantorowicz 1990, S. 309 f. 121 Gierke 1881, S. 280 f.; während Meder 2015, S. 55, die Unterstellung einer nominalistischen Position bei einem katholischen Kirchenvertreter seitens des protestantischen, die Lehre von der realen Verbandspersönlichkeit vertretenden Gierke „in Gestalt eines scholastischen Rea‐ listen“ moniert, anerkennt Berman 1991, S. 363 Anm. 45, eine „gemäßigt nominalistische Auffassung“ und relativiert die Fiktionalität des kanonistischen Trennungsdenkens. 122 Meder 2015, S. 18, 53 ff. u. 61 f.; dass es Innozenz IV. um „ein ganz anderes Ziel“, d.h. ein Verbot der Exkommunikation von Gruppen gegangen sei (ebd., S. 55), schreiben Kantorowicz 1990, S. 309, und Gierke 1881, S. 281, selbst. 123 Gierke 1881, S. 279 f.; dass die „Persönlichkeit der universitas eine Fiktion“ sei, nennt Gier‐ ke, ebd., S. 103 mit Anm. 234, für die römische Jurisprudenz „unabweislich“, wenn sie den „Gedanken weder mit Einem [sic!] Schlage noch überhaupt in voller Schärfe formuliert, ge‐ schweige denn über Natur und Inhalt dieser Fiktion theoretische Erwägungen angestellt“ hät‐ te, namentlich nicht über die Reichweite und den genauen Bezugspunkt der Fiktion. 124 Kantorowicz 1990, S. 308.

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fasst worden seien.125 Beruft sich die gegen Gierke gerichtete Reklamierung des verbandsrechtlichen Trennungsdenkens für die römische Jurisprudenz wesentlich auf Gaius, dann war es aber gerade dieser, der den Vorbildcharakter des staatlichen Gemeinwesens für Körperschaften und Vereinigungen („ad exemplum rei publicae“) herausstrich.126 Auch die für den Einfluss der griechischen Philosophie auf die römi‐ sche Jurisprudenz angeführte Körperlehre des Stoikers Chrysipp (corpora continua, composita und ex distantibus), die die römischen Juristen für ihre Zwecke rezipiert hätten, wird bei Gierke ausführlich behandelt.127 Ausgesprochen strikt nimmt sich die zeitliche Fixierung aus, mit der Kantorowicz seine Studie in der anhebenden Frühen Neuzeit enden lässt, obschon er im Vorwort von Axiomen einer „mutatis mutandis bis zum 20. Jahrhundert gültig bleibenden“ politischen Theologie gesprochen hatte.128 Aber bereits im Vorwort erfolgt die Be‐ grenzung auf die „Fiktion vom doppelten Körper des Königs“ als „Leitidee“ sowie auf das „Anfangsstadium“ und den ausschließlich „geschichtlichen Standpunkt“, der dann auch konsequent gewahrt wird. Die angesprochene Fortwirkung bis in das 20. Jahrhundert bezieht sich auf „gewisse Chiffren des souveränen Staates und seines Ewigkeitsanspruchs“, wie sie sich in der Zwei-Körper-Lehre fixiert finden. Und nur in diesem Bezugsrahmen werden sie von Kantorowicz untersucht, d.h. als zeitgebundene „Triebkräfte bei der Gestaltung der ersten modernen Staatswe‐ sen“, von denen er im Hinblick auf den von ihm nicht weiter problematisierten mediävistischen Staats- wie übrigens auch Souveränitätsbegriff129 methodisch recht unbefangen spricht. Die Studie sollte von daher in den von ihr bewusst gezogenen Limitierungen respektiert und nicht mit Erwartungen konfrontiert werden, die sich erst jenseits ihrer strikten Rahmensetzung ergeben. Selbstverständlich existiert eine nachfolgende Geschichte der Entstehung des modernen Staates und der auf ihn bezogenen Körperlehre, wozu die frühneuzeitlichen Staatsvertragstheorien reiches Material liefern, das im Zeitalter der Aufklärung und des Vernunftrechts tiefgreifen‐ de Umarbeitungen erfährt. Und auch diese Theorietraditionen lassen sich mit antiken 125 Gierke 1881, S. 279, S. 39 u. 43; im Hinblick auf das Rechtssubjekt des römischen Staates sei „zweifellos in ältester Zeit die Gesammteinheit von der Gesammtvielheit so wenig wie sonst bei jugendlichen Völkern unterschieden worden“ (ebd., S. 43). 126 Meder 2015, S. 34, unter Berufung auf Gaius D.3.4.1.pr. 127 Meder 2015, S. 33 f., einerseits, u. Gierke 1881, S. 32 f., andererseits, wonach der Verband der Rubrik corpus ex distantibus unterfiel, so dass „er ein von der Summe seiner Theile verschie‐ denes Ganze“ war, was Gierke jedoch nicht als Modifikation seitens der römischen Juristen erkannt habe, wie Meder, ebd., S. 54 Anm. 28 ausführt; es folgen bei Gierke die berühmten Beispiele des trotz Mitgliederwechsels identischen Richterkollegiums und der trotz Auswech‐ selns der Planken bewahrten Identität eines Schiffes. Dafür zitiert Gierke, ebd., S. 33 Anm. 77, auch jene berühmten Ausführungen des Alfensus (D.5.1.76), die die Gierke-Kritik in das Zentrum ihrer Beweisführung stellt, vgl. Meder, ebd., S. 37 ff.; dass die von Savigny „mit Recht eine Fiktion“ genannte juristische Person, möglicherweise bereits im römischen Recht in ihrem fiktiven Charakter durchschaut war, betont Behrends 1998, S. 239 m.w.Nw. 128 Hierzu und zum Folgenden Kantorowicz 1990, S. 22 f. 129 Vertiefend insbesondere Quaritsch 1970, S. 20 ff. m.w.Nw.

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Vorläufern bestücken, so dass sich ein im Vergleich zu Kantorowicz deutlich weiter gezogenes und erheblich verzweigteres theoriegeschichtliches Beziehungsgeflecht entwerfen lässt. In diesem Sinne kann die von Kantorowicz als älter eingestufte Theorie theologi‐ scher Herrschaftslegitimation qua monarchischen Vikariats samt Stellvertreterfunk‐ tion für die transzendente Macht in die Vorgeschichte der Staatslehre eines Jean Bodin, der den Fürsten zum Abbild Gottes erklärte, oder eines Thomas Hobbes, der den Gesellschaftsvertrag als „Schöpfungsakt des Menschen“ auffasste, eingelesen werden.130 Und über die These von der „Geburt des modernen Staates aus dem Geist des Absolutismus“ samt nachfolgender Auswechslung des Trägers der Staatsgewalt und souveränen Organs, also von Fürst und Volk, verlängert sich diese Theorielinie ein weiteres Mal.131 Bereits im 17. Jahrhundert war die Vorstellung, der gesellschaft‐ liche Körper sei lediglich ein des monarchischen Haupts bedürftiger „kopfloser Rumpf“, zunehmend in ein „Sperrfeuer der Angriffe“ zugunsten einer sog. populisti‐ schen Auffassung des Staates geraten, die der „Vereinigung des Volkes selbst die höchste Macht“ zuerkannte.132 Wird ausgehend vom „Basisparadox“ der Verkörpe‐ rung der Einheit einer Gesellschaft durch einen ihrer exponierten Teile, d.h. von der „paradoxen Einheit und Trennung des body natural und des body politic“ her, der Durchbruch zu einem letztlich „abstrakten, depersonalisierten Staatsverständnis“ erklärt, dem „am Ende das Prinzip der Alleinherrschaft als Ganzes zum Opfer“ fal‐ le,133 dann tritt allerdings auch die von Kantorowicz als jünger begriffene Theorie‐ tradition über das corpus mysticum in diese Genealogie ein. Dies hat dann ebenfalls für die zeitgenössische Debatte um die „Dekorporation der Macht“ zu gelten, die den seit dem Abtritt des politischen Körpers des Königs vakant gewordenen „Ort der Macht“ als symbolisch-imaginär und identitätsstiftend füllungsbedürftig erachtet.134 130 Meder 2015, S. 72 ff. u. 76 f., unter Zugrundelegung eines mittelalterlichen Verständnisses von Stellvertretung und Repräsentation im Sinne von „Bildanalogien“ unter Anwesenheit des Abgebildeten im Abbild (ebd., S. 73). Zuvor bereits unter dem Stichwort „Rekonzeption“ Matala de Mazza 1999, S. 69, wobei das „Modell des Leviathan“ im Anschluss an StollbergRilinger 1986, S. 58, auf die technische Perfektion einer „wert- und wahrheitsneutrale[n] Ma‐ schine Staat“ ausgerichtet sei (ebd., S. 87). 131 Meder 2015, S. 79, der neben der staatlichen Souveränität auch die Volkssouveränität als eine „gesellschaftstranszendente Größe“ begreift, da der Volkssouverän ebenso wie der Fürst „über und damit außerhalb der Gesellschaft“ stehe. 132 Skinner 2012, S. 24 f.; Manow 2008, S. 37 ff., weist darauf hin, wie 1649 die Inanspruchnah‐ me der Trägerschaft des „body politic“ durch das englische Parlament mit der Hinrichtung des „body natural“ von König Karl I. zusammengehen konnte; dazu auch Wrede 2013, S. 245, unter Hinweis auf Kantorowicz 1990, S. 44-46. 133 Koschorke 2007, S. 114 u. 117. 134 Hierzu und zum Folgenden Meder 2015, S. 64, 67 u. 128 f. m.w.Nw.; auch die moderne De‐ mokratie will Manow 2008, S. 12 f., „neo-metaphysisch“ und damit überhaupt erst politisch auffassen, da sie im Kontext einer sie legitimierenden „symbolischen Ordnung“ stehe, indem sie „ihre eigene politische Mythologie“ produziere. Der „oft für tot erklärte politische Körper [sei] auch in der Demokratie lebendig“ (ebd., S. 9). Dabei geht es Manow, ebd., S. 13 f., um eine politische Theologie, die nicht wie bei Carl Schmitt ursprünglich religiöse Begriffe säku‐

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Abgesehen von Nation, Kultur, Klasse oder Verfassungspatriotismus bestehen inso‐ weit staatsrechtstheoretische Angebote in Richtung einer genuin (verfassungs)recht‐ lichen Besetzung dieser Leerstelle, die auf einen wie auch immer konzipierten „body of law“ verweisen. Dass in diesen Transformationsprozessen auch die theologischen Elemente der sog. älteren Vikariats- oder Stellvertretungstheorie verblassen, liegt an‐ gesichts von etatistischen Maschinenmetaphern und einem kontraktualistischen Ver‐ ständnis von Recht und Staat als Menschenwerk auf der Hand.135 Dass aber auch die sog. jüngere Theorie einer nach dem Bilde des corpus mysticum der Kirche geform‐ ten unsterblichen staatlichen universitas nicht ab ovo als rein weltlich begriffen wer‐ den kann, dürfte sich von selbst verstehen. Gleichwohl sind die Säkularisierungsten‐ denzen auf dem Weg zu einer die theologischen Argumentationsbestandteile neutra‐ lisierenden Herrschaftstheorie unverkennbar, wie denn umgekehrt die Juridifizierung der Kirche selbst die klare Scheidung von theologischen und weltlichen Gehalten nicht gerade erleichtert.136 Bereits die politische Theologie des Mittelalters, der laut Untertitel „The King’s Two Bodies“ gelten, führt damit in schwierige Zuordnungs‐ fragen, die eben nicht allein die Rezeptionsgeschichte betreffen. Und so sehr sich Kantorowicz bei seinen Untersuchungen auf mittelalterliche Ursprünge konzentriert hat, hat er doch ein allusionsreiches Kraftfeld von Begriffen und Gedanken errichtet, das nach wie vor vielfältige Inspirationen zum Verständnis der Nachgeschichte und Gegenwart liefert.

3. Historisierung politischer Mystik 3.1. Mythenschau In der Einleitung von „The King’s Two Bodies“ bekennt Kantorowicz, dass „politi‐ sche Mystik“ wie „mystische Fiktion“ ein Ursprungsmilieu haben, einen eigenen Raum und ihre eigene Zeit,137 wobei die Zeit selbst vom Wandel des Zeitgefühls ergriffen werden kann. Mythen gehen ein in die soziale Wirklichkeit, etablieren Normen, Organisationsstrukturen sowie Selbstverständnisse und gestalten auf diese larisiere, sondern um die „religiöse Aufladung ursprünglich säkular-politischer Begriffe“, da nicht jede Zeit wie bei Schmitt eine politische Ordnung habe, „die ihren mythischen Überzeu‐ gungen entspricht“, sondern umgekehrt „mythische Überzeugungen […], die ihrer politischen Ordnung entsprechen.“ In Anknüpfung u.a. an Lefort 1999, thematisiert Santner 2015, S. 16 f., 31 ff. u. 339, die Fortsetzung der sublimen fleischlichen Dimension des Königs im Volkskörper. 135 Hierzu und zum Folgenden Meder 2015, S. 77 u. 82 ff. 136 Hofmann 2003, S. 125 f. u. 128, weist darauf hin, dass die einst theologische Bedeutung von „mystisch“ gerade auch bei den Theologen des 13. Jahrhunderts zu „bildlich“ rsp. „figurativ“ verblasst sei. 137 Kantorowicz 1990, S. 27; zur Änderung des Wesens der Zeit vgl. nur ebd. S. 103.

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Weise nachhaltig die politische Ordnung, weshalb der Historiker sie zu entschlüs‐ seln und zu enthüllen hat.138 Dieses kritisch-analytische Verhältnis zu politischen Mythen im Spätwerk steht in einem unübersehbaren Kontrast zur politischen Mytho‐ logie und Prophetie, die Kantorowicz‘ Jugendwerk über den staufischen „Kaiser Friedrich der Zweite“ (1927) gekennzeichnet hatte. Die durch die Omnipräsenz des Buchtitels naheliegende Rede von den „zwei Körpern des Historikers“ bzw. „des Ernst Kantorowicz“139 wird jedoch präziser als eine „Metanoia oder Metamorphose des politischen Wesens“ in einem bewegten Leben zu fassen sein.140 Die späteren Feststellungen, dass von Mystik im „kühle[n] Scheinwerferlicht der Tatsachen und der Vernunft“ eigentlich „nicht viel übrig“ bleibe, ihre Sprache außerhalb des „mys‐ tischen Zirkels“ eher „primitiv“ und „albern“ klinge, und ihrem Kontext enthobene politische Mystik ihren „Zauber“ verliere und „sinnlos“ werde,141 lesen sich wie ein Dementi der Kaiserbiographie,142 die nicht ohne Grund unter dem Titel „Kaiser Friedrich II. in ‚mythischer Schau‘“ prominent in der Historischen Zeitschrift 1929 rezensiert worden war.143 Den Wert der „historischen Werke aus der George-Schule“ verteidigend, klassifi‐ zierte Kantorowicz in seinem Referat auf dem Historikertag zu Halle an der Saale am 24. April 1930 seine Kaiserbiographie als „Geschichtsschreibung“, die er sowohl von der Tatsachen sammelnden, positivistischen und doch wahrheitsarmen „Ge‐ schichtsforschung“ als auch von der eher pamphletistischen „historischen Belletris‐ tik“ trennte.144 Historiographie, „die nicht beweist und untersucht, sondern Bilder gibt und erzählt“, gehört zur „Nationalliteratur“ und „Kunst“, kann sich aber auf Ge‐ schichtsforschung stützen, würdigt die historische Erscheinung in ihrem „Eigen‐ wert“, widmet sich dem „Unberechenbares“ einschließenden „Bild eines Lebensge‐ samts“ einschließlich der „Legenden und Mythenstoffe“ als Teil der „historischen 138 Mali 1998, S. 43 f., der von hier aus auch die Differenz zu dem von Kantorowicz im „Vor‐ wort“ angerufenen Ernst Cassirer markiert. Für diesen Vertreter einer rationalen und „libera‐ len Philosophie“ der Aufklärung seien Mythen zivilisationsbedrohende und zu überwindende „Feinde“ von Vernunft und Moralität (ebd., S. 44). 139 Müller 2015, S. 29 f. u. 36. 140 Raulff 2004b, S. 451. 141 Kantorowicz 1990, S. 27. 142 Diskontinuitätsannahme auch bei Oexle 1996, S. 212 m.w.Nw.; so musste die Einwilligung zu einer Neuauflage 1963 auch dem widerstrebenden Kantorowicz erst mühsam gegen seine in‐ nere Überzeugung abgerungen werden; so Raulff 2004b, S. 452, im Einzelnen dokumentiert bei Grünewald 1982, S. 158 ff.; immerhin hatten neben Widerstandskämpfern auch Hitler, Himmler und Göring zu den begeisterten Lesern des Werkes gehört. 143 Die Rezension von Albert Brackmann und die Replik „‚Mythenschau‘. Eine Erwiderung“ von Kantorowicz aus der HZ 1930 finden sich nebst einem „Nachwort“ von Brackmann und an‐ deren Rezensionen wieder abgedruckt bei Wolf 1966, S. 5 ff. u. 23 ff. 144 Kantorowicz 1994c, S. 104 ff., 121 f. u. 125. Während sich die Geschichtsforschung an das „Gelehrtenforum der ganzen Welt“ wende, spreche die historische Belletristik, „dem Tonfilm ganz ähnlich […] zu den internationalen Massen und dem internationalen Halbbildungspö‐ bel“, die Geschichtsschreibung jedoch richte sich „an die stets kleine Zahl der wirklich Gebil‐ deten und geistig Führenden der Nation“ (ebd., S. 122).

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Wahrheit selbst“, der „ganzen farbigen Fülle der Lebenswirklichkeiten“ und braucht für ihre Entstehung „den politischen, philosophischen, dichterischen Teil des Men‐ schen“, über die Kunstaufgabe „einem Glauben, einem Lieben geweiht“.145 Wo die Wissenschaft gewillt sei, die „Kluft zwischen Wahrheit und Nation zu schließen“, könne auch die George-Schule ihr dienen, wenn ihre Geschichtsschreibung dem „Dogma von der würdigen Zukunft der Nation und ihrer Ehre“ folge, gebannt im „Glauben an den Tag des Deutschen“, wie ihn Friedrich Schiller nach dem „un‐ glücklichen Frieden von Lunéville“ beschworen habe.146 Mag Kantorowicz mit sei‐ nen heroischen und messianischen Botschaften auch einen Beitrag zu jener den Na‐ tionalsozialismus befördernden Stimmungs- und Gesinnungslage bereitgestellt ha‐ ben, 1933 hat er sich den neuen Machthabern und ihrer Ideologie jedoch „eindeutig und mutig verweigert“ und deutlich hörbar vor den Verführungen dieser Bewegung gewarnt.147 Aus Gewissensgründen ließ Kantorowicz sich, obgleich von der Frontkämpfer‐ klausel erfasst, für das Sommersemester 1933 beurlauben, „solange jeder deutsche Jude sich einer täglichen Antastung seiner Ehre ausgesetzt sieht“, um dann nach Verweigerung des Eides auf Adolf Hitler und vorangegangenen massiven Behinde‐ rungen seiner Lehrtätigkeit zum 1. November 1934 aufgrund seiner jüdischen Ab‐ stammung als ordentlicher Professor für Mittlere und Neuere Geschichte sowie His‐ torische Hilfswissenschaften an der Universität Frankfurt/M. (seit 1932) endgültig entpflichtet zu werden.148 Am 14. November 1933 hatte er noch in einer Vorlesung 145 Kantorowicz 1994c, S. 105 ff., 112 f., 119 u. 121. 146 Kantorowicz 1994c, S. 125; die zeitgenössische Historiographie, für die „Überzeugung, Par‐ tei, Nationalität eigentlich nur wissenschaftliche Verunreinigung, Befleckung und Belastung“ darstelle, favorisiere eine „Art von historischem Reporter“, ein „farblos indifferenter Typ“, an dem es allerdings „im kosmopolitischen Ullstein-Deutschland wahrlich nicht“ gebrechen würde (ebd., S. 120 f.). Zu einer weniger nationalistischen und eher universalistischen Deu‐ tung des Schiller-Zitats im Sinne einer „allmenschlichen Repräsentanz“ Pauly 2018, S. 45 m.w.Nw. 147 Oexle 1996, S. 211 m.w.Nw., unter Anführung des Urteils über den George-Kreis von Löwith 1989, S. 24: „Sie haben dem Nationalsozialismus Wege bereitet, die sie dann selber nicht gin‐ gen.“ Im Stauffenberg-Attentat sah E.H. Kantorowicz, Brief an Lucy von Wangenheim vom 23. Juli 1944, abgedruckt bei Grünewald 2019 S. 9, eine „Rechtfertigung von uns allen“, d.h. „in erster Linie von Stefan“ und sodann der „Jungs“. 148 Wiedergabe eines Auszuges aus dem Gesuch an den Preußischen Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung vom 20. April 1933 bei Grünewald 1982, S. 114 f.; zur Lockung, sich in Erinnerung an Münchener Freikorpszeiten 1919 auf Kampf und Widerstand einzulas‐ sen, Grünewald ebd., S. 127. Dezidiert argumentiert Raulff 2004b, S. 456 ff., gegen die An‐ nahme, Kantorowicz habe bis Sommer 1933 eine politisch schwankende Haltung eingenom‐ men. Bereits seit 1930 hatte Kantorowicz in Frankfurt eine Honorarprofessur bekleidet, die ihm über den Kurator der Universität Kurt Riezler gegen den „(mäßigen) Widerstand der Fa‐ kultät“ zugefallen war, wie Gudian 2017, S. 137, schreibt. Von der vierten Januarwoche bis Mitte Juli 1934 weilt er in England und Frankreich, meistenteils in Oxford, wo er als Gastdo‐ zent tätig ist; die Zeit nach seiner Frankfurter Emeritierung verbringt er im Wesentlichen in Berlin und arbeitet gastweise bei den Monumenta Germaniae Historica, bis er Ende 1938 nach England flieht, um von dort aus nach Berkeley zu gelangen, wo er nach einer Dozentur

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über „Das Geheime Deutschland“ die Studenten vor dessen Missbrauch gewarnt und klargestellt, dass die mit ihm bezeichnete „geheime Gemeinschaft der Dichter und Weisen, der Helden und Heiligen, der Opfrer und Opfer, welche Deutschland her‐ vorgebracht hat und die Deutschland sich dargebracht haben“ und damit „allein das echte Antlitz der Deutschen erschufen“, nach wie vor seiner Erweckung wartet und keineswegs mit dem Nationalsozialismus verwechselt werden darf.149 Wie Hellas werde dereinst „Deutschland auf eignem Raum wiederum das Gesamt aller ur‐ menschlichen Gestaltungen und Kräfte erstehen lassen“, sich „Römisches und Helle‐ nisches, Italienisches und Englisches“ dabei durchaus anverwandeln, in Form von „ewig-deutschen“ und damit „über-deutschen Heroen“, allesamt verbunden darin, „dass sie nicht die eigentlich Volkstümlichen der Nation sind!“150 Nach wie vor geht es um „Mysterien“, das „Reich der Mysterien und Mythen“ und „mythischen Poli‐ teien“, angefangen bei der hellenischen Götterwelt, über die „civitas dei“ und Dantes „humana civilitas“ hin zum letzten Glied des „Geheimen Deutschland“, dem eine „Divina Commedia teutsch“ gebühre.151 Von politischer Prophetie hat Kantorowicz an dieser Stelle keinen Abschied genommen, jedoch die Ankunft des kommenden Reiches aus der Jetzt-Zeit herausgeschoben. Auch seine seit 1932 anhebende Be‐ schäftigung mit dem nach dem Tode des Staufers Friedrich II. einsetzenden Interre‐ gnum, übrigens ein gegen Ende der Weimarer Republik bemerkenswertes Zwischen‐ reich-Denken, hatte noch im Zeichen der „Mythenschau“ gestanden,152 aber mit ihr

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ab 1945 eine Professur übernimmt. Weil er es 1949 ablehnt, den antikommunistischen Loyal‐ ty-Oath zu leisten, wohl im Lichte der Frankfurter Erfahrungen aus grundsätzlichen Erwägun‐ gen zur akademischen Freiheit, wechselte er 1951 angesichts des drohenden endgültigen Amtsverlusts an das Institute for Advanced Study in Princeton; im Einzelnen Grünewald, ebd., S. 113 ff.; bereits 1940 hatte Kantorowicz das Manuskript des Buches „Laudes regiae“ fertiggestellt, das 1946 bei Berkeley University Press erschien und anhand mittelalterlicher liturgischer Krönungsgesänge auf eine „Königspropaganda“ hinwies, die implizit die agitato‐ rische Nutzung von Musik durch die Nationalsozialisten thematisierte; so Gudian 2014, S. 147 m.w.Nw. Kantorowicz 1997, S. 80 f. u. 93; entsprechend geht es auch um die apollinisch ausgerichtete Erziehung der jungen Deutschen zu neuen „Kalokagathoi“, zum „Kult von Adel Schönheit Grösse“ (ebd., S. 92). Kantorowicz 1997, S. 83 ff. u. 87, den „Ur-Räumen Europas“ verbunden, nicht aber einem „all-europäischen Einheits-Mischmasch das Wort“ redend (ebd., S. 84 u. 87). Immer hätten die „größten Genien als ‚undeutsch‘“ gegolten, „weil sie einem billigen Einheitsschlag, den man jeweils ‚deutsch‘ hiess, gewiss nicht entsprachen“ (ebd., S. 86). Kantorowicz 1997, S. 80 ff. E. Kantorowicz, Brief an Stefan George vom Mai 1932, zit. nach Grünewald 1982, S. 111; das neue Projekt sollte nicht die Kaiserbiographie fortsetzen, sondern „die andere“ der ewig‐ deutschen Möglichkeiten behandeln, den „erste[n] totale[n] Zusammenbruch einer deutschen Welt“, wobei „die gestaltloseste und verworrenste Epoche ein ebenso vorzügliches Objekt zur ‚Mythenschau‘ sein kann wie die Gestalter […], ja heute ein besseres.“ Im Brief vom Pfingst‐ montag 1933 an Stefan George heißt es dann, dass die Arbeit am Interregnum bedeute, „poli‐ tische Geschichte zu schreiben und mit ihr das Verhängnis Deutschlands zur Darstellung zu bringen, das einfach häßlich wurde, als es sich entmediterranisierte“, zit. nach Grünewald 1982, S. 122. Von diesem Brief schlägt Grünewald, ebd., S. 132 u. 135, den Bogen zum Auf‐ satz „Deutsches Papsttum“, den Kantorowicz 1933 verfasst hatte und der sogar im Radio un‐

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beginnt eine über das Jahr 1933 hinwegführende Linie von Forschungen zum sich im 13. Jahrhundert wandelnden Zeitverständnis, die schließlich in „The King’s Two Bodies“ einmündet.153 Dabei geht es um eine Genealogie jener „Kontinuitätsvorstel‐ lungen“, die durch die „Kunst des Juristen“ mit der Monarchie verbunden werden und so eine Konstanz von Herrschaft und Souveränität zu denken erlauben.154 Seine personengebundene und somit auf die Lebensdauer von Herrschern begrenzte Form überwindend, gewinne der Staat durch den zurückgewonnenen „Begriff von Fort‐ dauer der Menschheit in der Welt“ eine innerweltliche Permanenz, die Kantorowicz zufolge mit beträchtlicher Wirkungsmacht das „Grundprinzip des modernen Staates“ ausmache.155 Eine „radikale Umwertung“ erfährt die politische Prophetie erst nach der Emigra‐ tion in die Vereinigten Staaten, nachweisbar in seiner wohl 1943/44 über „German history“ gehaltenen Vorlesung in Berkeley, die nun insoweit von einem „wichtigen Problem“ spricht:156 Politische Prophetie wird nun als „Ferment in der Geschichte der meisten Länder im 19. Jahrhundert“ beschrieben, wobei „die Macht dieses politisch säkularisierten Messianismus in Deutschland“ nicht zu überschätzen sei, wo sie vor allem nach der Niederlage 1918 wieder emporbranden sollte. Zeitgleich wird nun auch die politische Theologie dem Zugriff einer kritisch-analytischen Problemgeschichte unterstellt, heißt es im Textentwurf „Humanities and History“, die Geisteswissenschaften seien heute ein „Gegengift gegen ‚politische Theologie‘, eine Pseudo-Theologie“, die in ihrer modernen Version auf „einen einheitlichen Menschentyp (nordischer Nazi) und Gesellschaftstyp (Neue Ordnung – NSDAP,

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ter Synonym ausgestrahlt wurde, gehe es dort auch um die Qualität „deutsch-römisch“ statt „deutsch-national“, also um ein schöneres Deutschland als das nationalsozialistische. Ein rö‐ misches Deutschland bedeutet „universal und welthaltig“, so Kantorowicz 1992, S. 15. Im Einzelnen Lerner 1997, S. 104 ff. Raulff 1999, S. 182 u. 185, unter Heranziehung auch eines aus den dreißiger Jahren stammen‐ den Manuskripts mit dem Titel „Wandel des Zeitgefühls“ (ebd., S. 188 m.w.Nw.). Im „Gedan‐ ken der Unsterblichkeit der menschlichen Würde“ erblickt Raulff das „Hauptthema“ von Kantorowicz‘ Forscherleben und sieht bereits in der am Ende der Kaiserbiographie ausgege‐ benen Formel „Er lebt und lebt nicht“ eine solche der „Unsterblichkeit“, die allerdings nicht die „Kontinuität einer institutionellen Form“ betreffe, sondern nur die „Leerform einer mes‐ sianischen Erwartung des Tages, an dem sie (wieder) aufgefüllt sein wird“, beschreibe, also die Konnotation maximiere, aber die Denotation verweigere (ebd., S. 170 u. 173 f.). Auch dem „officium des Dichters“ George als Haupt seines Staats und dem Geheimen Deutschland eigne diese dignitas wie auch Georges Lehre vom „ewigen Augenblick“ auf die maßgebliche Kontinuitätsvorstellung hinführe (ebd., S. 175 u. 189 f.). Raulff 2004b, S. 462 f. u. 469. Hatte das von Augustin geprägte christliche Mittelalter das weltimmanente ewige Sein der antiken Götter zugunsten der zeitlosen Ewigkeit Gottes aufge‐ geben und den „Augenblick“ für das irdische Dasein entwertet, bedurfte es einer „Rückge‐ winnung der Dimension der Dauer“ und einer Rückeroberung „unter Rückgriff auf antike Bil‐ der und Ideen“, wie sie „von Juristen und Dichtern“ geleistet worden sei, um auf diese Weise den modernen Staat erst zu ermöglichen; so Raulff 1999, S. 188 u. 190. Hierzu und zum Folgenden Raulff 1999, S. 177 f. m.w.Nw.

‚Vaterland‘)“ ausgehe.157 Heilsprophetie war damit historisierender Reflexion gewi‐ chen.

3.2. Geschichtliche Flut der Körperbilder Der Antike zugewandt, zitiert „The King’s Two Bodies“ zwar mehrfach die Abhand‐ lung des Klassischen Philologen Wilhelm Nestle über die „weltberühmte Fabel“158 vom Streit des Magens mit den Gliedern, die Menenius Agrippa laut des römischen Geschichtsschreibers Titus Livius dazu genutzt hat, im Jahr 494 v. Chr. den Plebe‐ jern die hierarchische Ordnung nahezubringen und ihren Widerstand zu brechen, kommt aber auf ihren Mythenstoff selbst nicht weiter zu sprechen.159 Der in ihm be‐ mühte Vergleich zwischen menschlichem Organismus und Staat(skörper) repräsen‐ tiert dabei traditionell die beliebteste und nachhaltigste Form politischer Metapho‐ rik160 und geht in seinen Ursprüngen wohl auf eine ägyptische Vorlage noch aus dem zweiten vorchristlichen Jahrtausend zurück, klingt an im antiken indischen Mahab‐ harata,161 entspricht dem Geist der griechischen Homonoialiteratur im ausgehenden fünften vorchristlichen Jahrhundert und findet über Paulus Eingang in die christliche Theologie.162 Kantorowicz erschien diese Legende und Metaphorik aber wohl zu un‐ 157 Raulff 2004b, S. 454 m.w.Nw., demzufolge sich ein Historiker kaum deutlicher „von seinen alten Leitlinien distanzieren“ könne (ebd.). Dass Kantorowicz seinen Begriff der „Politischen Theologie“ nicht erläutert und „geradezu demonstrativ“ auf die Nennung des „sich hier auf‐ drängenden“ Carl Schmitt verzichtet habe, bemerkt Graf Vitzthum 2015, S. 128. Demgegen‐ über sei der Hinweis auf Kantorowicz 1998, S. 265 m.w.Nw., erlaubt, der die behandelten „Mysterien des Staates“ in verallgemeinerter Weise „heute“ mit dem Begriff „Politische Theologie“ bezeichnet sah und darunter einen (anders als bei Carl Schmitt) gegenseitigen „Austausch zwischen dem geistlichen und dem weltlichen Bereich“ verstand, wobei die hier‐ archische römisch-katholische Kirche zum „Prototyp einer absoluten und rationalen Monar‐ chie auf mystischer Grundlage“ geriet, während der Staat eine „Art Kirche“ und „mytische Monarchie auf rationaler Grundlage“ wurde (ebd., S. 264). Die „Mysterien des Staates“ ent‐ stammten dem von den Juristen des 12./13. Jahrhunderts „religio iuris“, bisweilen „mysteri‐ um Iustitiae“ genannten Bereich (ebd., S. 268 f.), wobei sich zunächst der Monarch im „Ponti‐ fikalismus“ übte und späterhin die Nation „in die pontifikalen Fußstapfen des Fürsten trat“, so dass der „moderne absolute Staat auch ohne einen Fürsten in der Lage [war], Ansprüche wie eine Kirche zu erheben“ (ebd., S. 265 u. 289). Titelgebend für den Auswahlband aus den 1965 posthum erschienenen „Selected Studies“ ist eine Studie zur antiken Ikonographie, die ebenso wie der nur im amerikanischen Original enthaltene Aufsatz über die Rechtsgöttin Dike Kan‐ torowicz‘ tiefe Verwurzelung auch im Altertum dokumentiert. 158 Nestle 1927, S. 350. 159 Kantorowicz 1990, S. 196 Anm. 288 erwähnt die frühmittelalterliche Rezeption der Fabel; S. 207 Anm. 6 führt die Studie von Nestle für das „organologische[…] Konzept des hl. Paulus innerhalb der antiken philosophischen Tradition“ an und S. 219 noch Anm. 42 verweist ledig‐ lich „allgemein“ auf Nestle für die „organologische Metapher“. 160 Peil 1983, S. 302, der im Anschluss die unterschiedlichen Versionen und Varianten behandelt. Grundlegend und systematisierend Böckenförde/Dohrn-van Rossum 1978, S. 519 ff. 161 Gombel 1934, S. 3 ff. 162 Nestle 1927, S. 353 f. u. 358 f.; für die Rezeptionsgeschichte Peil 1985, S. 8 ff.

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spezifisch für sein Forschungsvorhaben, um sich inhaltlich weiter einzulassen. Seine Handhabung von Ockhams Rasiermesser, das alles für die Ziel- und Beweisführung Entbehrliche wegschneidet, fehlt zahlreichen Werken, die sich auf ihn und seine Anregungen berufen oder auch nur seinen schlagenden Buchtitel aufrufen. Diese Literatur öffnet, wie bereits gesehen, andere Zeitfenster der Betrachtung und gelangt zu Körpermetaphern, die jenseits des von Kantorowicz gewählten thematischen Ausschnitts liegen. Deswegen sollen solche Forschungsvorhaben allerdings nicht als illegitim gelten, und es ergibt durchaus Sinn, im Anschluss an Kantorowicz auch moderne politische Körper in der Doppelung von natürlichem, physiologischem wie sozialem Substrat einerseits und kollektiv beglaubigtem „Doppel im Imaginären“163 andererseits zu untersuchen – bis hin zur zeitweiligen Verkörperung der Idee einer Nation im Körper eines Präsidenten.164 Zwangsläufig stößt jede „Geschichte der politischen Besetzung des Körpers“ auf soziale Sinnbeziehungen, diskursiv-symbolische Selbstverständigungsprozesse und Selbstverständnisse, die im jeweiligen „historischen Bezugsfeld“ zu verorten sind und es erlauben, in „archäologisch“ angelegter Lektüre auch auf die Anfänge der angesprochenen altrömischen Fabel zurückzugehen.165 Der Genealogie eröffnet sich damit zugleich der Raum der als Körper begriffenen griechischen Polis, der die Na‐ türlichkeit von Politik und Herrschaft cum grano salis selbstverständlich war. Und dann schweift der Blick über Kantorowicz‘ Mittelalter hinweg zum neuzeitlichen Kontraktualismus, der den politischen Kollektivleib erst durch menschlich rational planvolles Handeln in Form einer künstlichen Maschine entstehen lässt (corpus arti‐ ficiale, artificial man), emblematisch verewigt im Titelkupfer des Hobbesschen Le‐ viathan, der die Untertanen nach dem Akt einmaliger Ermächtigung in der Gleich‐ heit der Unterwerfung zum Souverän zusammengesetzt zeigt.166 Dieser Souverän kann „selbst in einen Christus transfiguriert“ gedacht werden, und seiner Doppelung von body natural und body politic kann eine „Zweiteilung des Individuums in den Körper der privaten und der öffentlichen Existenz“ auf Seiten der Unterworfenen zugeordnet werden.167 Der in der Halbierung von „gewissensstarke[m] Privatmen‐ schen“ und „handlungsohnmächtige[m] Untertanen“ angelegte Konflikt von Politik und Moral erzwingt im Zuge bürgerlicher Individualisierung und Öffentlichkeit einen Übergang von der mechanischen zur organischen Staatsauffassung, wie er u.a. im „Ältesten Systemprogramm des deutschen Idealismus“ (1796/7) nachhallt, das den Staat nur noch als „mechanisches Räderwerk“ begreifen kann, als „elende[s] 163 Matala de Mazza 1999, S. 29. Zum Schicksal der Metapher der „Zwei Körper“ als „bloße Zier- und Zitierformel“ Graf Vitzthum 2015, S. 126. 164 Haltern 2009, S. 35 ff. 165 Matala de Mazza 1999, S. 31, 40 u. 43 f. 166 Matala de Mazza 1999, S. 63 ff., derzufolge das Antlitz des Leviathan aus dem „Gesichtsver‐ lust“ der aggregierten Individuen resultiert (ebd., S. 76 u. 85). 167 Matala de Mazza 1999, S. 86 u. 91.

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Menschenwerk“, das „aufhören“ soll.168 In der Politischen Romantik erfolgt der utopische Durchbruch zu einer „eigentlichen Gemeinschaft jenseits der partikularis‐ tischen Gegebenheiten“, die den „ganzen Menschen“ ästhetisch saniert, in dessen Körper sich die neue Gemeinschaft „als imaginäre Institution des kollektiven Kör‐ pers“ aller institutionellen „Sichtbarkeiten“ enthoben verinnerlicht findet, quasi als „Privatisierung des corpus Christi selbst.“169 Ästhetisch lebendig erfahrbar kann der internalisierte Organismus in Form realer Gemeinschaft ebenso begegnen wie in symbolischer Gestalt,170 folglich in körperlicher Doppelung erscheinen. In Folge der Französischen Revolution war mit dem König die „entstellte, monströse figura der Staatsnation“ vernichtet worden wie überhaupt das Prinzip „personaler Verkör‐ perung“171, genauerhin einer „pouvoir incarnateur“, wie sie erst im Totalitarismus wiederkehrt.172 Man mag darin die Auftaktveranstaltung sehen für das „Phänomen der Entkörperung der Macht“, für eine mit der Demokratie entstehende „gleichsam körperlose Gesellschaft (société sans corps)“, die die Gewinnung ihrer „natürlichen Bestimmung“, Identität und Einheit über die Person des Fürsten aufgegeben hat.173 Am vormaligen Ort der Macht klafft eine „Leerstelle“, die sich gegen substantielle Einverleibungen sperrt und lediglich im geschichts- wie verfahrensgebundenen poli‐ tischen Diskurs zeitweilig besetzt werden kann. Im revolutionsvergessenen Deutsch‐ land erfolgte die rechtswissenschaftlich exekutierte „Enthauptung“ des Monarchen im Wege der Ernennung des Staates zur juristischen Person en passant in einer Rezensionsabhandlung, woran sich eine willenstheoretische Formalisierung des his‐ torisch-organischen Korpus des geltenden Staatsrechts anschließen wird.174 Die hier‐ gegen aus dem Geist der germanistischen Rechtsschule entstandene organizistische Gegenströmung wird den deutschrechtlichen gegen den römischrechtlichen Perso‐ nenbegriff in Stellung bringen und den Staat als eine „wirkliche Staatspersönlich‐ keit“, als einen ganzheitlichen Organismus mit die Summe der Teile übersteigender

168 Matala de Mazza 1999, S. 91, 102 f. u. 115 m.w.Nw., die die hybride Struktur des Rousseau‐ schen teils künstlich-mechanischen und teils organischen Staatsverständnisses aufzeigt (ebd., S. 118 ff.); zu Schellings Autorschaft und Hegels Abschrift des „Ältesten Systemprogramms“ Pauly 2011, S. 171 ff. 169 Matala de Mazza 1999, S. 122 u. 129, verbunden durchaus mit dem literarischen Begehren nach einer „vorpolitischen Eigentlichkeit“ des Körpers (ebd., S. 128). 170 Matala de Mazza 1999, S. 422 f., unter Hinweis auf innerromantische Ausdifferenzierungen. 171 Matala de Mazza 2003a, S. 173. 172 Lefort 1990, S. 287. 173 Hierzu und zum Folgenden Lefort 1990, S. 293 u. 295; bereits Foucault 2002, S. 933 hat aus‐ gesprochen: „Es gibt keinen Körper der Republik.“ Stattdessen steige der „Körper der Gesell‐ schaft zum neuen Prinzip“ auf und werde „auf eine gleichsam ärztliche Weise“ zu schützen sein. 174 Zu Genese und Gestalt Pauly 1993, S. 77 ff. u. 137 ff. m.w.Nw.; Fürsten- wie Volkssouveräni‐ tät werden durch Staatssouveränität neutralisiert.

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körperschaftlicher Struktur begreifen.175 Juristische Romanistik und Germanistik begründeten hiernach ebenso theoretische Pfadabhängigkeiten wie die deutsche oder französische Provenienz des historisch-politischen Zugriffs. Konzeptionelle Divergenzen bestimmen die Körpertheorien wie -bilder und mit ihnen die Bezugnahmen auf Kantorowicz bis in die noch schwelenden biopoliti‐ schen Debatten. Kreist die Verbindung des Politischen mit dem Körper, d.h. die Immanenz des Politischen im Körper, bei Agamben zentral um die Souveränität, namentlich die Entscheidung über Leben und Tod, und bleibt sein homo sacer „im Bann des Rechts und verdankt hier Carl Schmitt mehr als Foucault“176, so erfolgt der letztlich affirmative Anschluss an Kantorowicz über die mittelalterliche Königs‐ effigies. Findet auch die von Kantorowicz vorgenommene Funktionsbestimmung, im Übergang zwischen zwei natürlichen Herrscherkörpern die Anwesenheit des po‐ litischen Körpers auf Dauer zu stellen, Agambens Kritik, weil dabei der Überschuss an heiligem Leben, das Absolute und in diesem Sinne nicht-menschliche Wesen der Souveränität übergangen würden, so gelangt dieser jedoch am Ende zu einer von der antiken „sacratio“ und dem römischen Koloss über die Königsdouble bis zum universalen „homo sacer“ reichende, im Einzelnen durchaus strapaziöse und kritisierbare Genealogie integraler Körper.177 Foucault dagegen wählt eine auf den ersten Blick dezidiert unjuridische Perspektive, die den Körper des Königs mit sei‐ nen ideologischen und politischen Gehalten in einen „extremen Gegensatz zur neuen Physik der Macht“ stellt, die über ein „Disziplinarmodell“ in die „Niederung der ungeordneten Körper“ führt und die höchste Machtintensität nie in der Präsentation eines Königs lokalisieren würde, sondern auf der Ebene von Körpern, die durch vielfältigste, alltägliche, dezentrale und sublime Machtstrukturen „individualisiert“ werden.178 Über Disziplinierungsmechanismen in unterschiedlichsten Einrichtungen, Kasernen, Schulen, Hospitälern und anderen Verwahranstalten, erfolgt eine „Unter‐ werfung der Kräfte und der Körper“, mittels derer „die Basis und das Untergeschoß zu den formellen und rechtlichen Freiheiten“ entsteht, eine Art „Gegenrecht“, das „unübersteigbare Asymmetrien“ einführt, d.h. „Gegenseitigkeiten“ ausschließt179 und damit die „glänzende Oberfläche des demokratischen Egalitarismus“ und „ma‐ jestätische Schauseite des Gesetzes“ unterminiert und verschattet.180 Die Reverenz, 175 Hierzu und zum Folgenden Matala de Mazza 2003a, S. 178 ff., 183 ff., 188 u. 191; dabei habe Gierke den Überschuss an Bildlichkeit erkannt und einem „sprachlichen Notstande“ zuge‐ schrieben (ebd., S. 186 m.w.Nw.). 176 Lemke 2004, S. 265. 177 Marek 2007, S. 31 ff., 39, 46 ff. u. 51 ff. mit dem Vorwurf eines verharmlosenden Verglei‐ chens. 178 Foucault 1994, S. 267 f. 179 Foucault 1994, S. 285. 180 Matala de Mazza 2003b, S. 77, die Foucaults Urteil über das „zersetzte Gesetz“ durch die Einsicht in die „unausweichliche Bodenlosigkeit eines Rechts, das den Grund seiner Autorität nicht aus sich heraus rechtlich validieren kann, sondern mit dem Akt seiner In-Kraft-Setzung ein Gewaltverhältnis inauguriert“, revidiert sieht (ebd., S. 78); hierfür erfolgt der Rekurs auf

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die Foucault verbunden mit diesem Paradigmenwechsel Kantorowicz erweist, histo‐ risiert damit zugleich dessen Lebenswerk statt es für Kontinuitätsinsinuationen zu strapazieren.

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Michel de Montaigne, Blaise Pascal, Walter Benjamin und Jacques Derrida (ebd., S. 78 ff. u. 86); für das Begründungs-Regressproblem wären aber auch Max Weber und an vornehmer Stelle Hans Kelsen mit seiner Grundnormtheorie zu bemühen. Zur dunklen Kehrseite von Recht und Gesetz vgl. weiter Pauly 2013, S. 143 ff.

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Autorenverzeichnis

Reinhard Blänkner, Prof. em., Dr. phil., Senior Scholar an der Fakultät für Kulturwissenschaf‐ ten der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder) Gerhard Dilcher, Professor emeritus, Dr. iur. Dr. iur h. c. (Neapel), Institut für Rechtsge‐ schichte der Goethe Universität Frankfurt am Main, Königstein Ts. Thomas Gerhards, Dr., Lehrbeauftragter am Institut für Geschichtswissenschaften der Hein‐ rich-Heine-Universität Düsseldorf Peter Ghosh, Prof. Dr., Jean Duffield Fellow in History, St. Anne’s College, Oxford Ewald Grothe, apl. Prof. Dr., Professor am Historischen Seminar der Bergischen Universität Wuppertal Thomas Hertfelder, Dr. phil., Geschäftsführer und Mitglied des Vorstands der Stiftung Bun‐ despräsident-Theodor-Heuss-Haus, Stuttgart Stefan Jordan, Dr., Wissenschaftlicher Angestellter der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, München Hans-Christof Kraus, ord. Univ.-Prof., Lehrstuhlinhaber für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Passau Reinhard Mehring, Prof. Dr., Professor für Politikwissenschaft an der PH-Heidelberg Franziska Metzger, Prof. Dr., Professorin für Geschichte an der Pädagogischen Hochschule Luzern (Institut für Geschichtsdidaktik und Erinnerungskulturen) Martin Otto, Dr., Akademischer Rat an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der FernUni‐ versität in Hagen Walter Pauly, Prof. Dr., o. Professor an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der FriedrichSchiller-Universität Jena Stefan Rebenich, Prof. Dr., Ordinarius für Alte Geschichte und Rezeptionsgeschichte der Antike am Historischen Institut der Universität Bern Klaus Ries, apl. Prof. Dr., Professor am Historischen Institut der Friedrich-Schiller-Universität Jena

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