Maastricht II - Entwicklungschancen und Risiken der EU: Erweiterung, Vertiefung oder Stagnation?: Tagungsband zur Jahresversammlung der Arbeitsgemeinschaft deutscher wirtschaftswissenschaftlicher Forschungsinstitute e. V. im Mai 1996 in Bonn [1 ed.] 9783428489916, 9783428089918


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German Pages 241 Year 1996

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Maastricht II - Entwicklungschancen und Risiken der EU: Erweiterung, Vertiefung oder Stagnation?: Tagungsband zur Jahresversammlung der Arbeitsgemeinschaft deutscher wirtschaftswissenschaftlicher Forschungsinstitute e. V. im Mai 1996 in Bonn [1 ed.]
 9783428489916, 9783428089918

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Beihefte der Konjunkturpolitik Zeitschrift für angewandte Wirtschaftsforschung Applied Economics Quarterly

Heft 44

Maastricht II – Entwicklungschancen und Risiken der EU: Erweiterung, Vertiefung oder Stagnation? Tagungsband zur Jahresversammlung der Arbeitsgemeinschaft deutscher wirtschaftswissenschaftlicher Forschungsinstitute e. V. im Mai 1996 in Bonn

Duncker & Humblot · Berlin

Maastricht I I Entwicklungschancen und Risiken der E U

Zeitschrift für angewandte Wirtschaftsforschung Applied Economics Quarterly Heft 44

Maastricht I I Entwicklungschancen und Risiken der EU: Erweiterung, Vertiefung oder Stagnation? Tagungsband zur Jahresversammlung der Arbeitsgemeinschaft deutscher wirtschaftswissenschaftlicher Forschungsinstitute e.V. im Mai 1996 in Bonn

Duncker & Humblot · Berlin

Die Zeitschrift Konjunkturpolitik wurde 1954 von Albert Wissler begründet. Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme [Konjunkturpolitik / Beihefte] Beihefte der Konjunkturpolitik : Zeitschrift für angewandte Wirtschaftsforschung. - Berlin : Duncker und Humblot. Früher Schriftenreihe Reihe Beihefte zu: Konjunkturpolitik NE: HST H. 44. Arbeitsgemeinschaft Deutscher Wirtschaftswissenschaftlicher Forschungsinstitute: Tagungsband zur Jahrestagung der Arbeitsgemeinschaft Deutscher Wirtschaftswissenschaftlicher Forschungsinstitute e.V 1996. Maastricht I I - Entwicklungschancen und Risiken der EU. - 1996 Arbeitsgemeinschaft Deutscher Wirtschaftswissenschaftlicher Forschungsinstitute: Tagungsband zur Jahrestagung der Arbeitsgemeinschaft Deutscher Wirtschaftswissenschaftlicher Forschungsinstitute e.V. . . . - Berlin : Duncker und Humblot (Beihefte der Konjunkturpolitik ; . . .) Früher Schriftenreihe. - Teilw. u. d. T.: Arbeitsgemeinschaft Deutscher Wirtschaftswissenschaftlicher Forschungsinstitute: Tagungsband zur Jahresversammlung der Arbeitsgemeinschaft Deutscher Wirtschaftswissenschaftlicher Forschungsinstitute e.V. . . . NE: Arbeitsgemeinschaft Deutscher Wirtschaftswissenschaftlicher Forschungsinstitute; Tagungsband zur Jahresversammlung der Arbeitsgemeinschaft Deutscher Wirtschaftswissenschaftlicher Forschungsinstitute e.V. . . .; HST 1996. Maastricht I I - Entwicklungschancen und Risiken der EU. - 1996 Maastricht I I - Entwicklungschancen und Risiken der E U : Erweiterung, Vertiefung oder Stagnation? ; im Mai 1996 in Bonn / [Schriftl.: Herbert Wilkens]. - Berlin : Duncker und Humblot, 1996 (Tagungsband zur Jahresversammlung der Arbeitsgemeinschaft Deutscher Wirtschaftswissenschaftlicher Forschungsinsitute e.V. ; 1996) (Beihefte der Konjunkturpolitik ; H. 44) ISBN 3-428-08991-X NE: Wilkens, Herbert [Red.]

Schriftleiter: Herbert Wilkens Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 1996 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0452-4780 ISBN 3-428-08991-X Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 ©

Vorwort In diesem Beiheft w i r d über den wissenschaftlichen Teil der 59. Jahrestagung der Arbeitsgemeinschaft deutscher wirtschaftswissenschaftlicher Forschungsinstitute berichtet, die am 9. und 10. Mai 1996 i n Bonn stattfand und das Thema Maastricht

II — Entwicklungschancen und Risiken der EU: Erweiterung, Vertiefung oder Stagnation

zum Gegenstand hatte. Für die wissenschaftliche Vorbereitung der Tagung ist Erhard Kantzenbach (Hamburg) und Christian Watrin (Köln) zu danken. Sie haben für jede Sitzung ein Referat und ein Korreferat vorgesehen. Die Autoren dieser Beiträge waren Dieter Cassel (Duisburg), Rolf H. Dumke (München), Hubert Gabrisch (Halle), Werner Hoyer (Bonn), Erhard Kantzenbach (Hamburg), Gerold Krause-Junk (Hamburg), Hans Dietrich von Loeffeiholz (Essen), Ingo Schmidt (Hohenheim) und Rainer Schweickert (Kiel). Die Schriftleitung sowie die Zusammenfassung der Diskussionen besorgte Herbert Wilkens (Berlin). Die 60. Jahrestagung soll am 24. und 25. A p r i l 1997 i n Bonn stattfinden und das Thema Wie sicher ist unsere Zukunft? Entwicklungsperspektiven der sozialen Sicherung behandeln. Berlin, i m August 1996 Lutz Hoffmann Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft

Inhalt

Werner Hoy er Von Maastricht nach Amsterdam: Zur Selbstbehauptung der Europäer i m globalen Wettbewerb Zusammenfassung der Diskussion

Erhard

9 30

Kantzenbach

Wettbewerbspolitik versus Industriepolitik

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Ingo Schmidt Wettbewerbspolitik versus Industriepolitik i n der EG. Korreferat Zusammenfassung der Diskussion

59 68

Dietrich von Loeffelholz Für und Wider einer Angleichung der Steuersysteme i m Binnenmarkt

77

Gerold Krause-Junk Das Für u n d Wider einer Angleichung der Steuersysteme i m Binnenmarkt. Korreferat 101 Zusammenfassung der Diskussion

117

Hubert Gohrisch Gesamtwirtschaftliche Anpassungsprozesse i n mittel- und osteuropäischen Ländern nach einem Beitritt zur E U 123 Dieter Cassel Anpassungsbedarf der Europäischen Union bei der Osterweiterung. Korreferat 157 Zusammenfassung der Diskussion

168

8

Inhalt

Rainer Schweickert Harmonisierung versus institutioneller Wettbewerb zur Sicherung realwirtschaftlicher Anpassung und monetärer Stabilität i n der Europäischen Währungsunion 181

Rolf H. Dumke Historische Erfahrung und theoretische Erkenntnisse zur Frage einer Harmonisierung der Finanz- und Lohnpolitik und eines europaweiten Finanzausgleichs i n der europäischen Währungsunion. Korreferat 213 Zusammenfassung der Diskussion

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Teilnehmerverzeichnis der 59. Jahrestagung der ARGE (wissenschaftlicher Teil)

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Von Maastricht nach Amsterdam: Z u r Selbstbehauptung der Europäer i m globalen Wettbewerb Vortrag von W e r n e r H o y e r , Bonn*

Von Maastricht nach Amsterdam, das ist die Wegbeschreibung der europäischen Integration i n einer Zeit des Umbruchs i n Europa und der zunehmenden, uns jetzt doch für viele überraschend schnell ereilenden wirklichen Globalisierung von Politik und Wirtschaft. I n Maastricht wurde i m Februar 1992 der Vertrag über die Europäische Union unterzeichnet, nach meiner Auffassung ein sehr viel besserer Vertrag als sein Ruf. Denn der Ruf dieses Maastrichter Vertrages hat wenig mit seiner Substanz zu tun. N u n kann man über viele Details sicherlich noch streiten. K a u m ein internationaler Vertrag könnte nicht noch besser sein als er ist. Aber damals waren w i r gerade an den entscheidenden Punkten, die heute stark diskutiert werden, sehr glücklich über das Ausmaß, i n dem w i r uns durchgesetzt haben. Ich erinnere an die Frage der Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank. Es war keineswegs eine Selbstverständlichkeit für unsere europäischen Partner, diese zu akzeptieren. Die Konvergenzkriterien, über deren Form des Zustandekommens man heute auch bisweilen nur kopfschüttelnd oder schmunzelnd nachdenken darf, sind damals zu Recht von der Bundesregierung als Erfolg gewertet worden, und nicht nur von der Regierung. Was bei Maastricht bisweilen ein ungutes Gefühl aufkommen läßt, ist eher die A r t und Weise, wie dieser Vertrag zustandegekommen ist: Der Mangel an Transparenz, die Verhandlungen von Experten hinter verschlossenen Türen. K a u m ein Mensch hat sich damals sehr dafür interessiert, auch die Medien waren nicht besonders interessiert an diesem Thema. Wenn w i r ehrlich sind: die meisten Parlamentarier auch nicht. Die Wissenschaft übrigens erst recht nicht. U n d das hat auch einen guten Grund, deswegen weiß ich gar nicht, warum w i r uns immer so sehr selber anklagen. I n den Jahren 1991 und * Mitschrift des mündlichen Vortrags.

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1992 hatten w i r eine ganz andere Herausforderung i m Kopf und auf den Schreibtischen: Das engagierte Herangehen an die Herausforderung „Deutsche Einheit", m i t der Ende der 80er Jahre die wenigsten von uns gerechnet hatten, wenn w i r ehrlich vor uns selbst sind. Nachträglich erzählen m i r meine Kollegen i m Bundestag zwar, daß sie das alles natürlich vorher gewußt haben. Aber sie haben damals davon nichts gesagt. Diese Herausforderung Anfang der 90er Jahre anzugehen hatte absolute Priorität. U n d deswegen waren nicht nur viele Bürgerinnen und Bürger „draußen", sondern auch sehr viele Parlamentarier „drinnen" doch recht überrascht, was da für eine gigantische Aufgabe m i t der Bewältigung der Einheit und der richtigen Weichenstellung für M i t t e l - und Osteuropa auf uns zukam. I n dieser Phase wurde Maastricht verhandelt, und deswegen, denke ich, ist es auch nachvollziehbar, daß das Interesse an den Verhandlungen damals erst sehr spät aufgekommen ist, nämlich zu dem Zeitpunkt, als die Leute realisiert haben, wie weitreichend die Vorschriften des Maastrichter Vertrages sind. E i n Weiteres hat damals dazu beigetragen, daß der Verhandlungsprozeß doch recht wenig transparent war: Es waren reine Expertenverhandlungen mit Ausnahme der Schlußphase, i n der dann die gordischen Knoten auf der höchsten politischen Ebene durchgeschlagen werden mußten. Das ist auch der Grund, warum w i r für die jetzige Regierungskonferenz i n Deutschland wie auch i n Frankreich eine politische Besetzung gewählt haben, unterstützt natürlich von der Sachkunde unserer Fachbeamten und Diplomaten. Aber w i r müssen diesen Prozeß diesmal mit einem hohen Maß an Transparenz und an öffentlicher Diskussion und Debatte über die Bühne bringen, sonst gehen die Bürgerinnen und Bürger nicht mit. U n d w i r werden sie brauchen, wenn w i r Akzeptanz für die Fortsetzung des europäischen Integrationsprozesses finden wollen. I n Amsterdam w i r d voraussichtlich Mitte 1997 die am 29. März 1996 i n Turin eröffnete Regierungskonferenz abgeschlossen werden. M i r wäre es sehr viel lieber, w i r würden dann von Amsterdam I und nicht von Maastricht I I sprechen, w e i l die Belastung dieses Begriffes aus den genannten Gründen sonst immer ein wenig mitschwingen wird. Februar 1992 und Juni 1997 sind also Markierungen auf einem Weg, dessen Ziel klar ist. Nach meiner Auffassung geht es u m nicht mehr und nicht weniger als u m die Selbstbehauptung der Europäer i m globalen Wettbewerb an der Schwelle zum dritten Jahrtausend:

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1. Der dramatische Strukturwandel i n der Weltwirtschaft erfordert von uns überzeugende Antworten und einen nachhaltigen Strukturwandel auch unserer Volkswirtschaft und unserer Unternehmen. Die M i t gliedstaaten der Europäischen Union haben sich nicht schnell genug auf den Übergang vom Industrie- zum Informationszeitalter und auf die rasante Globalisierung eingestellt. Gegenüber den Vereinigten Staaten und Japan geraten w i r immer weiter i n Rückstand, 20 M i l l i o nen Arbeitslose i n Europa sind einer der Belege dafür. Ich denke, es ist Zeit, daß w i r uns klarmachen, daß w i r zu lange von Vorsprüngen gelebt haben, die uns historisch gegeben waren, die auf jeden Fall mehr oder weniger weggefallen sind. Es gibt keine kolonialen Vorsprünge wesentlicher Dimension mehr - Gott sei Dank. Es gibt allerdings auch i m H i n b l i c k auf Technologie, i m H i n b l i c k auf Bildung, Wissenschaft und Forschung gegenüber wesentlichen Weltregionen, i n denen die wirkliche dynamische Entwicklung Platz greift, keine Vorsprünge mehr. Viele bei uns haben das noch nicht richtig realisiert. Diese Entwicklung führt uns i n einen Wettbewerb, der wirtschaftlich den Unternehmern längst bewußt geworden ist - den meisten zumindest, hoffe ich - der aber natürlich auch eine politische und kulturelle Dimension hat und von uns Europäern Handeln verlangt. 2. Infolge der revolutionären Ereignisse i n M i t t e l - und Osteuropa hat sich die politische Landkarte Europas radikal gewandelt. Das schafft zum Teil große Probleme. Wir stehen dadurch aber auch vor einer Herausforderung, die w i r uns eigentlich immer gewünscht haben. Wir haben heute die Chance und die Aufgabe, eine dauerhafte und gerechte Friedensordnung i n Europa zu schaffen und die Menschen i n M i t t e l - und Osteuropa teilhaben zu lassen an dem, was für uns das große Geschenk i n der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts gewesen ist, nämlich zum einen 50 Jahre Frieden i n diesem Teil Europas und zum anderen durch Integration die Möglichkeit, über Jahrzehnte hinweg eine ungeahnte Wohlstandsentwicklung i n Westeuropa erleben zu dürfen. 3. Terrorismus und organisierte Kriminalität, die beide i m internationalen Maßstab operieren, stellen eine immer größere Bedrohung für unsere Sicherheit dar. Deswegen müssen w i r uns darauf einstellen, daß w i r unsere Kräfte i m Kampf gegen das internationale Verbrechen bündeln. 4. Wanderungsbewegungen, Flüchtlingsprobleme, Visa- und Asylfragen stellen uns vor zusätzliche Herausforderungen, die uns i n eine Situa-

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tion gebracht haben, i n der die europäischen Staaten und insbesondere die von diesen Bewegungen besonders betroffenen Staaten nun auch das, neben der Subsidiarität, wesentliche Prinzip des europäischen Integrationsprozesses einfordern müssen, nämlich Solidarität. Keiner dieser Herausforderungen, dieser vier großen Blöcke, die ich genannt habe, können die traditionellen Nationalstaaten alleine begegnen. Wir brauchen hier europäisches Handeln. U n d interessanterweise handelt es sich bei all diesen Fragen u m Themenkomplexe, bei denen die Bürgerinnen und Bürger auch der Meinung sind, daß Europa handeln sollte, bei denen sie von uns europäische Antworten erwarten, während es genügend andere Gebiete gibt, wo sie der Auffassung sind: „Hier ist keine europäische Antwort erforderlich, das können w i r national oder regional oder i n der Kommune lösen." Das heißt: Wir haben auf der einen Seite eine interessante Verknüpfung von Subsidiaritätsprinzip, dem w i r auf dieser Regierungskonferenz Leben einhauchen müssen. Das heißt dann auch Beschränkung der Unionstätigkeit, der Gemeinschaftstätigkeit. Auf der anderen Seite steht die Anerkennung der Notwendigkeit europäischen Handelns i n der Außen- und Sicherheitspolitik und i n der Innen- und Rechtspolitik - ich komme darauf noch zurück. Was die Europäische Union für uns wirtschaftlich bedeutet, brauche ich hier i m Kreise der Kundigen nicht zu betonen. Nach meiner Auffassung wäre die dynamische Wirtschaftsentwicklung Deutschlands bis zum heutigen Tage ohne die europäische Integration nicht möglich gewesen. Die deutsche Einheit vermutlich auch nicht. Das Modell der europäischen Integration hat sich nicht nur zu unserem eigenen Wohl ausgewirkt, es findet auch überall i n der Welt Nachahmer: ASEAN, NAFTA, Mercosur, APEC sind die Namen. Wir wären töricht, wenn w i r bei der Bewältigung der anstehenden Aufgaben auf unser eigenes Erfolgsmodell verzichten würden. Auch für die Wissenschaft dürfte es interessant sein, darüber nachzudenken, wie das Thema der interregionalen Verflechtungen und Zusammenarbeit (zum Beispiel zwischen NAFTA und der Europäischen Union) i n den Zusammenhang des WTO-Prozesses gestellt werden kann, ohne das eine oder das andere Konstruktionsprinzip i n Gefahr zu bringen. Ich halte das für eine konzeptionell ausgesprochen interessante Frage, die uns politisch schon längst ereilt hat. I m Ministerrat der Europäischen Union befassen w i r uns mittlerweile ständig m i t Fragen der Schaffung von neuen Freihandelszonen zwischen der Europäischen Gemeinschaft und einzelnen

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Staaten wie Mexiko oder Südafrika, oder gar ganzen Regionen wie Mercosur. Wenn w i r nicht den Anschluß verlieren wollen, dann werden w i r uns i n Europa enger zusammenschließen müssen, werden w i r uns i m Inneren reformieren und nach außen handlungsfähig werden müssen. Das Arbeitspensum, das uns dabei i n den nächsten Jahren bevorsteht, kann daher i n seiner strategischen Komplexität nur mit der Gründungsphase der Europäischen Gemeinschaften vor mehr als vierzig Jahren verglichen werden. Was steht an? 1. Die Regierungskonferenz 1996/97. 2. Anfang 1998 die notwendigen Beschlüsse über die Vollendung der Wirtschafts- und Währungsunion zum 1.1. 1999 auf der Basis der IstDaten von 1997. 3. Sechs Monate nach Abschluß der Regierungskonferenz der Beginn von Verhandlungen über den Beitritt weiterer Staaten zur Europäischen Union. 4. Parallel dazu die Vorbereitung der Beschlüsse über die neue Finanzverfassung der Europäischen Union, denn die jetzige ist nur bis zum 31.12. 1999 vereinbart. Bei diesem Punkt möchte ich nur anmerken, welche politischen wie wirtschaftlichen Risiken gerade auch i n diesem letztgenannten Thema stecken, denn mit Begriffen wie „Nettozahlerposition" und „Leistungstransfers" kann man natürlich auch i m Wahljahr wunderbar Emotionalisierung der Bevölkerung betreiben und denjenigen, die ohnehin die Absicht haben, den europäischen Integrationsprozeß zu diskreditieren, M u n i t i o n liefern, wenn man nicht gewaltig aufpaßt. Wir stehen also vor sehr, sehr heißen Diskussionen. I n Maastricht haben die Europäer eine erste Antwort - ich denke, eine gar nicht so schlechte - auf die vor uns liegenden Herausforderungen gegeben. Die Wirtschafts- und Währungsunion wurde beschlossen, der Grundstein für die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik sowie für die Zusammenarbeit i m Innen- und Rechtsbereich gelegt. Darauf müssen w i r jetzt aufbauen. Dabei ist ein wichtiger Unterschied zu beachten: Die Regeln für die Wirtschafts- und Währungsunion wurden i n Maastricht abschließend festgelegt. Sie sind nicht Gegenstand der Regierungskonferenz. Es geht jetzt darum, die bestehenden vertraglichen Regelungen umzusetzen und

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den Übergang zur einheitlichen Währung unter strikter Einhaltung der festgelegten Kriterien und des vereinbarten Zeitplanes zu vollziehen. Ganz anders i m Bereich der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspol i t i k und der Innen- und Rechtszusammenarbeit - den wesentlichen Elementen einer politischen Union. Maastricht stellt hier einen großen Fortschritt dar, aber weitere müssen hinzukommen. Die bisherigen Grundlagen reichen noch nicht aus. Hier sind Vertragsänderungen i n der Regierungskonferenz erforderlich. Dabei ist jedem klar: Zwischen politischer Union und Wirtschaftsund Währungsunion besteht ein funktionaler und politischer Zusammenhang. Die Wirtschafts- und Währungsunion kann und darf nicht Endziel der europäischen Integration sein. Wir brauchen ein Europa, das politisch - auch sicherheitspolitisch - handlungsfähig ist, und das auch nach künftigen Erweiterungen. Das kann natürlich nicht bedeuten, daß man mit der Endstufe der Wirtschafts- und Währungsunion warten sollte, bis eine voll ausgebaute politische Föderation mit einer geschriebenen Verfassung verwirklicht ist. Damit würden w i r uns gegenwärtig absolut überheben. Wir gehören zu denjenigen i n der Europäischen Union, die letztendlich eine eindeutig föderale Vorstellung von einem mit einer Verfassung ausgestatteten Europa haben. Aber genau diese beiden Begriffe sind für viele Partner i n der Union - aufgrund ihrer Schwierigkeiten, mit dem Souveränitätsthema oder mit dem Verlust ihrer Weltmachtrolle fertig zu werden - heute noch die beiden Reizworte, bei denen die Diskussion besonders heikel ist. Bei der Souveränitätsfrage, i n der es vielen von uns relativ leichtfällt, aufgrund von Einsicht zu sagen, auf diesem oder jenem Gebiet müßten w i r auch bereit sein, Souveränitätsrechte abzugeben, ist dies für einen französischen Staatsbürger - den Bürger eines Staates, dessen Volk sich vor mehr als zweihundert Jahren i n einer blutigen Revolution die Volkssouveränität erkämpft hat - geradezu eine Blasphemie. Hier kann man allerdings argumentieren - insofern spielt dann Semantik auch wiederu m eine Rolle - , daß w i r Probleme zu bewältigen haben, bei denen die europäischen Völker ihre Souveränitätsrechte gemeinsam ausüben müssen, wenn sie denn Probleme erfolgreich bewältigen wollen. E i n vorsichtiger Umgang m i t Sprache w i r d hier also sehr wichtig sein. Bei der Verfassung haben w i r ein zweites Kernproblem der Strategie für die Regierungskonferenz. Diejenigen, die letztendlich eine Vorstellung von einer Verfassung für Europa haben, müssen zweierlei beachten.

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Erstens: Das Bundesverfassungsgericht setzt i m Hinblick auf die Staatlichkeit dessen, was i n Europa entsteht, Grenzen. Zum zweiten ist es wichtiger, da die Partner noch nicht ohne weiteres von der Verfassungsvorstellung zu überzeugen sind, sich bei der Regierungskonferenz darauf zu konzentrieren, solche Elemente i n den Vertrag zu integrieren, die auch konstitutives Merkmal einer Verfassung wären, wie zum Beispiel ein Grundrechtskatalog, wie zum Beispiel i m Idealfall auch ein Kompetenzkatalog. Genau hier - das hängt natürlich sehr eng zusammen m i t der Frage des Subsidaritätsprinzips - stoßen w i r an die Grenze dessen, was einige aus Angst vor einer föderalen Verfassung jetzt schon zu t u n bereit wären. Fortschritte bei der politischen Union - und insofern ein vorzeigbares Ergebnis der Regierungskonferenz - werden wichtig sein für die Akzeptanz auch der Wirtschafts- und Währungsunion bei der Bevölkerung. Herr Prof. Watrin und ich haben vorgestern abend bei einer großen Veranstaltung i n K ö l n gemerkt, wie sehr man sich u m die Akzeptanz der Wirtschafts- und Währungsunion bei unseren Bürgerinnen und Bürgern erst noch bemühen muß, wie weit w i r da noch von der großen Zustimmung entfernt sind. Es ist zwar erfreulich, daß sich hier gegenwärtig ein leichter Stimmungsumschwung herauskristallisiert. Dies gilt aber eher für die Meinungsführer und nicht für die breite Bevölkerung. Insofern ist es gut zu wissen, daß bei den deutschen Unternehmern mittlerweile die Stimmung zugunsten der W W U umschlägt. Aber i n der Breite der Bevölkerung ist das bei weitem noch nicht angekommen. Wenn ich m i r allein die Zusammensetzung des Publikums bei einer solchen Veranstaltung wie vorgestern abend klarmache - nämlich daß dort zu Zweidrittel Menschen über sechzig sitzen - dann zeigt das, wie tief die Ängste sind, die mit der W W U verbunden werden, die nicht zuletzt auch m i t der Aufgabe dieses Leistungssymbols D - M a r k nach dem Zweiten Weltkrieg verbunden sind, wie groß die Angst ist, daß es sich nicht um eine Währungsunion, sondern u m eine Währungsreform handelt. Hier w i r d sehr, sehr viel Psychologie i m Spiel sein müssen, wenn w i r erfolgreich sein wollen. Ich denke, für uns sind die Vorteile der Wirtschafts- und Währungsunion evident, vorausgesetzt, w i r sind erfolgreich damit - und darauf sollten w i r unsere Bemühungen dann auch engagiert konzentrieren - , die europäische Währung so stabil zu machen wie die D - M a r k , und die Europäische Zentralbank tatsächlich unabhängig zu gestalten. Deutschland w i r d vom einheitlichen Währungsraum besonders profitieren.

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Unsere Wirtschaft braucht Kalkulationssicherheit für Preise und Investitionen. Wir müssen wegkommen von Situationen wie 1992/1993, als irrationale Bewegungen auf den Devisen- und Kapitalmärkten zu Sozialprodukts· und Wachstumsverlusten und damit auch Arbeitsplatzverlusten i n gigantischem Umfang geführt haben. Ich w i l l mich nicht festlegen darauf, ob nun die Aussagen von Deutsche Bank Research vom letzten Jahr bezogen auf die Krisen von 1992/1993 methodisch korrekt sind oder nicht. Aber die Vorstellung eines Sozialproduktsverlusts zwischen 0,5 und 1 Prozent für diese beiden Krisen zusammengenommen für Frankreich und Deutschland 50 Mrd. Mark - scheint m i r so ohne weiteres nicht von der Hand zu weisen zu sein. Ich denke, w i r werden uns solche Dinge i n Zukunft nicht mehr leisten können. Wir könnten aber verstärkt i n solche Situationen hineingeraten bei wesentlichen Währungen, die durchaus anfällig wären, bei denen aber jetzt die Vermutung besteht, daß sie demnächst der europäischen gemeinsamen Währung zugeführt werden. Wenn sich da die Vorstellung der europäischen Währung zum 1. 1. 1999 als Illusion erweisen sollte, besteht nach meiner Auffassung die große Gefahr, daß dann die Turbulenzen auch sofort wieder zunehmen, und zwar i n einem Maße, wie w i r es wahrscheinlich von den Jahren 1992 und 93 gar nicht gewohnt waren - mit allen Konsequenzen, die das hat für die Aufwertungstendenzen der D - M a r k , für mögliche Abwertungswettläufe und - darüber müssen Sie sich politisch absolut i m klaren sein - für eine starke Versuchung einer ganzen Reihe von Ländern, Abstriche zu machen am Binnenmarkt bzw. sogar durch protektionistische Maßnahmen i m Grunde den Binnenmarkt auszuhöhlen, den w i r dringend brauchen. I m übrigen b i n ich auch der Auffassung, daß die Bundesrepublik Wert darauf legen sollte, die Funktion der zweitwichtigsten Reservewährung dieser Welt nicht auf Dauer auszufüllen m i t einer Währung, die zwar Leitwährung i n wesentlichen Teilen Europas ist und faktisch die autonome Geldpolitik i n wesentlichen Nachbarländern schon abgelöst hat, die Bundesrepublik Deutschland kann aber mit ihrer Währung auf Dauer die Funktion der zweitwichtigsten Weltreservewährung nicht alleine übernehmen, solange diese Währung letztendlich als 'legal tender' nur auf 82 Millionen Menschen abgestützt ist. Nun, ich w i l l hier keine Horrorszenarien aufmalen, ich denke, daß w i r einfach realistisch beschreiben müssen, was die Konsequenzen eines Scheiterns der Währungsunion zum 1.1. 1999 sein würden. Es ist die Kombination von Kriterien - sie sorgen für die Glaubwürdigkeit unserer Bemühungen, deswegen dürfen w i r daran nicht rumdok-

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tern - und Zeitplan, die den Druck aufgebaut hat, i n allen Mitgliedstaaten der Europäischen Union nun endlich das zu tun, was unsere Volkswirtschaften ohnehin dringend brauchen, nämlich die strukturellen Reformen, zu denen i n manchen Volkswirtschaften, wahrscheinlich auch i n unserer eigenen, die Kraft sonst nicht gegeben wäre. Das, was i m H i n blick auf die Tarifparteien i n den letzten zwei Jahren plötzlich möglich geworden ist, das, was i m Hinblick auf den Gesetzgeber plötzlich möglich w i r d - nicht zuletzt auch i n dem, was w i r gerade aktuell i n der Bundesregierung bzw. mittlerweile zwischen Bundesregierung und Parlament diskutieren - ist Ausweis dafür, daß w i r jetzt endlich auf dem richtigen Weg sind. Meine Befürchtung ist, daß i n dem Moment, i n dem sich das Datum 1.1. 1999 als nicht haltbar erweisen sollte - und manche reden das ja geradezu herbei - , die konsequenten Bemühungen u m diesen strukturellen Umbau sowohl unserer öffentlichen Haushalte als auch i m H i n b l i c k auf die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen sofort unter dem Druck der Sozialpolitik wieder eingestellt werden. U n d das gilt nicht nur für unsere Partnerländer, das gilt dann - fürchte ich - auch bei uns selbst. Deswegen lassen Sie uns um Himmels Willen diese Chance nutzen. I m Zusammenhang mit der Wirtschafts- und Währungsunion und der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit w i r d bei der Regierungskonferenz auch diskutiert, ergänzend zur W W U Bestimmungen zur Beschäftigung i m EU-Vertrag unterzubringen. Das w i r d möglicherweise beim Abschluß der Regierungskonferenz das heißeste Thema, auch innenpolitisch bei uns, weil w i r i n Deutschland, Gott sei Dank, i m wesentlichen einen europapolitischen Grundkonsens zwischen den Parteien haben - zumindest den Parteien i m Bundestag. Aber i m Hinblick auf die Beschäftigungspolitik sehe ich diesen Grundkonsens, was die europäische Dimension angeht, nicht. Hier w i r d die Versuchung, seitens der Opposition dieses Thema i n den Vordergrund zu rücken, enorm stark sein, genauso wie das bei der Sozialpolitik i m Sozialprotokoll bereits der Fall war, aber hier w i r d sie stärker werden. I n den letzten beiden Sitzungen der Außenminister hat eine Reihe von Mitgliedstaaten eine solche Regelung i m EU-Vertrag gefordert. Eine Mehrheit der Partner w i l l bei der Zielbeschreibung i m Vertrag ein hohes Beschäftigungsniveau festschreiben. Einige wollen gar ein neues Vertragskapitel zur Beschäftigungspolitik. Die Bundesregierung ist strikt gegen solche Überlegungen. Wir werden dabei von einer Reihe von Ländern - auch von großen Ländern wie Frankreich und Großbritannien 2 Konjunkturpolitik, Beiheft 44

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unterstützt. Der Vertrag sieht schon jetzt eine Vielzahl von Möglichkeiten für eine enge Koordinierung nationaler Beschäftigungspolitiken vor. Zudem sind praktisch alle Mittel, die i n den großen Gemeinschaftsbudgets zur Struktur-, Regional- und Agrarpolitik eingesetzt sind, i n hohem Maße beschäftigungsorientiert oder beschäftigungsmotiviert. Wir haben die Befürchtung, daß bei Einführung eines solchen Kapitels i n den Vertrag die Verantwortung für die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit i n den Mitgliedsländern auf Brüssel abgeschoben w i r d und daraus ein unkalkulierbares Risiko für die ohnehin völlig überlasteten Finanzen der Union entsteht. Wir würden riskieren, erst die Erwartung zu wecken, Brüssel werde es schon richten, dann mit Blick auf Brüssel die jeweiligen nationalen Anstrengungen um eine Verbesserung der Beschäftigungssituation etwas laxer anzugehen, u m schließlich die Verantwortung für nicht erfüllte Erwartungen wieder auf Brüssel schieben zu können. Neue Vertragsartikel schaffen keine neuen Arbeitsplätze. Die einzelnen Mitgliedstaaten können ihre Beschäftigungsprobleme nicht dadurch lösen, daß sie sich Alibis verschaffen und sich selbst aus der Verantwortung stehlen. Das gilt übrigens erst recht dann, wenn die Verhältnisse an den Arbeitsmärkten i n den verschiedenen Mitgliedstaaten der Europäischen Union so unterschiedlich sind, wie sie nun einmal sind, und folglich zumindest ein wesentlicher Teil der Ursachen für Beschäftigungslosigkeit i n den einzelnen Mitgliedstaaten der Union auch unterschiedlich gewertet werden muß. Der bisherige Verlauf der Regierungskonferenz gibt Anlaß zu einer vorsichtig positiven Bewertung. Die Staats- und Regierungschefs haben i n Turin ein Arbeitsprogramm verabschiedet, das die zentralen Themen für die Konferenz identifiziert. Bisher verlaufen die Verhandlungen zu meiner Überraschung i n einer recht konkreten Form und i n konzentrierter Arbeitsatmosphäre. Das liegt vielleicht ein wenig daran, daß die halbjährige Arbeit der Reflexionsgruppe hier eine gute Grundlage geschaffen hat, das heißt, die eigentlichen Themen gut identifiziert hat. Der Sitzungsrhythmus ist ausgesprochen intensiv. Es finden praktisch wöchentlich zweitägige Sitzungen i n Brüssel statt. Wir haben einen ersten Rundgang durch die Themen fast hinter uns am 14. Mai werden w i r i h n beenden - und ein zweiter Durchgang w i r d noch unter italienischer Präsidentschaft bis zum Europäischen Rat i n Florenz Ende Juni erfolgt sein. E i n Abschluß der Konferenz unter nie-

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derländischer Präsidentschaft nächstes Jahr i n der ersten Jahreshälfte ist ein angemessenes und realistisches Ziel. Ich habe gesagt, daß es wichtig ist, daß die Bürgerinnen und Bürger das Konferenzergebnis akzeptieren. Deswegen müssen w i r die Debatte sehr öffentlich führen. Welche Themen stehen dabei für die Bundesregierung i m Vordergrund? I. Die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) muß weiterentwickelt werden. Auch diese Frage ist einzuordnen i n den Gesamtzusammenhang, den ich am Anfang dargestellt habe: Es geht u m die Selbstbehauptung der Europäer i m globalen Wettbewerb. U n d die Europäer müssen sich fragen - insofern ist es eine Frage von Selbstbehauptung und auch Selbstachtung - ob sie eigentlich auf Dauer i n der Situation bleiben wollen, daß, wenn eine Krise i n Europa oder u m Europa herum entsteht, die berühmte Frage von Henry Kissinger nicht zu beantworten ist „Who is Mr. Europe? Give me his telephone number" und stattdessen der entsprechende Anruf i m State Department eingeht. Das können w i r uns i n Europa auf Dauer nicht leisten. U n d umgekehrt können dies auch noch so wichtige Einzelregierungen i n der Europäischen Union nicht allein leisten. Die i n Maastricht geschaffenen vertraglichen Grundlagen reichen noch nicht aus. Wir haben i n der Sitzung i n dieser Woche gesehen, daß die traditionell integrationsfreundlichen Mitgliedstaaten - das sind vor allen Dingen die Gründungsmitglieder der Europäischen Union - bereit sind, i n der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik einen großen Schritt nach vorne zu tun. Auf der Regierungskonferenz müssen aber auch die Weichen zur Schaffung einer europäischen verteidigungspolitischen Identität gestellt werden. Das ist übrigens keine neue Idee, sondern das ist ein Auftrag, der i m Vertrag von Maastricht ausdrücklich für diese Regierungskonferenz niedergelegt worden ist. Wir werden uns i n der nächsten Woche m i t diesem Thema ausführlich befassen. Sie können sich vorstellen, daß dies für einige der Partner ein besonders schwieriges Thema ist, nicht nur wegen der Souveränitätsfrage i m allgemeinen, sondern auch, weil einige dieser Staaten i n den letzten Jahren schon einen bemerkenswert weiten Weg haben zurücklegen müssen. Ich denke nur an die bisher neutralen Staaten, die mittlerweile i n dieser Europäischen Union mitwirken, als 2*

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ob sie schon ewig dabeigewesen wären, obwohl sie es tatsächlich erst seit 15 oder 16 Monaten sind. Hier stehen w i r vor schwierigen Herausforderungen. Wir müssen Effizienz, Kohärenz, Kontinuität, Sichtbarkeit und Solidarität i n der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik deutlich erhöhen. Institutionell - und das ist immer die einfachste Frage - werden w i r das anpacken durch eine gemeinsame Planungs- und Analyseeinheit, die beim Rat angesiedelt ist und mit der Kommission eng zusammenarbeiten soll. Diese Arbeitseinheit könnte einem Generalsekretär für die GASP unterstellt werden, der der GASP Gesicht und Stimme verleiht. Dieser Generalsekretär müßte gleichzeitig dem Rat zu- und untergeordnet und i h m gegenüber verantwortlich sein, denn die politische Verantwortung für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, die ja auch weiterhin intergouvernemental koordiniert und kooperierend organisiert werden soll, verbleibt natürlich bei den Außenministern. Ob man gegebenenfalls diese Funktion des Generalsekretärs für die GASP mit der zukünftigen Rolle des Generalsekretärs der Westeuropäischen Union verbindet, ist eine andere Frage. Die Handlungsfähigkeit der Europäischen Union w i r d allerdings i n Zukunft nur dann gewährleistet sein, wenn w i r i n erheblich stärkerem Maße auf Entscheidungen mit qualifizierter Mehrheit zurückgreifen können. Insbesondere bei zunehmender Größe der Europäischen Union begeben w i r uns sonst ständig i n Selbstblockaden oder geben einzelnen Mitgliedstaaten die Möglichkeit, ihr Vetorecht oder ihre Zustimmungsnotwendigkeit zu mißbrauchen, insbesondere indem Themen, die mit einander überhaupt nichts zu t u n haben, verknüpft werden und somit die große Mehrheit - möglicherweise (n - 1) Mitgliedstaaten - gewissermaßen i n Geiselhaft genommen wird. Dieser Zustand muß überwunden werden. Wir müssen uns aus der Zwangsjacke des Einstimmigkeitserfordernisses befreien. Ob das möglich ist durch eine besonders qualifizierte Mehrheit - die übrigens nicht dazu dienen soll, die qualifizierte Mehrheit zu verschärfen, sondern die Einstimmigkeitsnotwendigkeit zu reduzieren - oder ob das gegebenenfalls möglich wäre durch die Einführung einer konstruktiven Enthaltung, ist gegenwärtig noch offen. Wir halten als Hauptziel i m Auge, das Einstimmigkeitsprinzip i m Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik auf die w i r k l i c h vitalen Fragen zu reduzieren. Das sind vor allem Fragen, die mit verteidigungspolitischen Aktivitäten zu t u n haben. Es w i r d auf lange Sicht völlig unvorstellbar sein, daß Entscheidungen

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über militärische Einsätze von Einheiten und Verbänden der Nationalstaaten gegen den ausdrücklichen Willen dieses Mitgliedstaates getroffen werden. Insofern herrscht hier absolute Klarheit. Für die Frage der Gemeinschaftstreue und Solidarität innerhalb der Union w i r d es aber wichtig sein, daß auch dann, wenn mit konstruktiver Enthaltung oder besonders qualifizierter Mehrheit eine Entscheidung getroffen worden ist, die Finanzierung gemeinschaftlich organisiert wird. Zumindest haben w i r hierfür eine klare Präferenz, vorausgesetzt, daß w i r substantiell i n der GASP vorankommen, denn w i r müssen davon wegkommen, daß über die Nutzung des Instruments der Enthaltung oder der konstruktiven Enthaltung - oder des bewußten Einnehmens einer Minderheitenposition, weil die Mehrheit ja gesichert ist, gewissermaßen eine Trittbrettfahrerposition eingenommen werden kann i m H i n blick auf die Finanzierung einer an sich für sinnvoll gehaltenen Maßnahme. Zur WEU: Deutschland bleibt seinem Ziel einer mittelfristigen Integration der W E U i n die E U verpflichtet. Auf der Regierungskonferenz geht es nicht nur u m die Verklammerung der Strukturen. Es geht jetzt auch parallel i n den Verhandlungen innerhalb der W E U unter britischer Präsidentschaft darum, die operativen Kapazitäten der Westeuropäischen Union zu verbessern - auch i m Zusammenhang m i t dem mit der NATO abzuschließenden Combined and Joint-Task-Force-Konzept und diese Kapazitäten für die GASP nutzbar zu machen. Schritte i n diese Richtung wären: Die Einführung oder Ausdehnung der Leitlinienkompetenz des Europäischen Rates auf die WEU, die Aufnahme einer politischen Solidaritätsklausel i n den EU-Vertrag und die Verankerung die Ziele der sogenannten Petersberg-Aufgaben der W E U i n den E U Vertrag. Dieser Vorschlag - ursprünglich stammt er von uns, ich habe i h n als Testballon i n die Reflexionsgruppe eingebracht - ist interessanterweise genau von denen aufgegriffen worden, an die er gerichtet war, nämlich von den bisher neutralen Staaten. Finnland und Schweden haben durch ihre beiden Außenministerinnen unlängst erklärt, daß sie i n diese Richtung denken. U n d „Petersberg-Auf gaben" sind keine Humanitätsduselei, sondern umfassen alles bis h i n zu friedenschaffenden Einsätzen militärischer Verbände, wie w i r es zum Beispiel i m IFOR-Rahmen bereits beobachten können. Das sind schon sehr weitgehende Maßnahmen, die auch ein Teil der bisher neutralen Staaten mittragen würde, wenn w i r sie i n den EU-Vertrag überführen würden. Ob man darüber hinausgehen kann und auch die Beistandsverpflichtung des Artikels 5 des WEU-Vertrags i n den EU-Vertrag übernimmt, ist

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eine andere Frage. Das ist für die Staaten, die i n ihren Verfassungen ein Verbot der M i t w i r k u n g i n einem System kollektiver Verteidigung verankert haben, auf absehbare Zeit undenkbar und für eine weitere Anzahl von Staaten darüber hinaus politisch nicht durchsetzbar. Ob es eine A l ternative wäre, stattdessen diese Beistandsverpflichtung des WEU-Vertrags, die ja eine sehr weitgehende ist - übrigens einen Automatismus hat, der über den Automatismus des NATO-Vertrags hinausgeht - , i n ein Protokoll zum EU-Vertrag zu überführen, das dann nur von den bisherigen WEU-Mitgliedern unterschrieben würde, ist gegenwärtig noch nicht abzusehen, aber ein interessantes Denkmodell.

II. Unsere zweite Hauptzielsetzung muß eine Weiterentwicklung i m Bereich Inneres und Justiz sein. Das ist auch ein Gebiet, wo sich die Bürger unmittelbar betroffen fühlen und wo sie wissen, daß nur europäisches Handeln bei der Kriminalitätsbekämpfung und bei der Bewältigung von Wanderungsbewegungen die notwendigen Erfolge verspricht. Nicht alle Partner teilen diese Ansicht, aber ich denke, w i r werden eine große Mehrheit mobilisieren können und hoffentlich insgesamt Fortschritte machen. Das gilt insbesondere für die Asyl- und Visapolitik, möglicherweise für die Einwanderungspolitik insgesamt, ebenso für die Zollzusammenarbeit. I n diesen Gebieten scheint m i r eine Vergemeinschaftung der bisher i n intergouvernementaler Kooperation organisierten Politiken möglich. I n den anderen Feldern i m Bereich Inneres und Justiz sollten verstärkt Elemente des Gemeinschaftsverfahrens übernommen werden. Hier w i r d es dann neben dem Initiativrecht der Mitgliedstaaten auch ein Initiativrecht der Kommission geben müssen. Die Bürger verlangen von uns aber gerade i m sensiblen Bereich der Innen« und Rechtspolitik auch, daß eine wirksame demokratische und richterliche Kontrolle sichergestellt ist. Hierzu muß auch i n diesem Bereich die Rolle des Europäischen Parlaments und der nationalen Parlamente gestärkt werden. Ich kann den Streit, diesen teilweise theologischen Streit darüber, ob nun das Europäische Parlament oder die nationalen Parlamente zu stärken sind, manchmal nicht so ganz nachvollziehen. Denn - ob w i r es wollen oder nicht - w i r haben es noch auf absehbare Zeit m i t einer Dreisäulenstruktur des europäischen Integrationsprozesses zu tun.

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Bei der vergemeinschafteten Materie, i n der die Gemeinschaft Handlungs- und Entscheidungsträger ist, wo der Ministerrat i n seiner Legislativfunktion tätig wird, ist es systematisch korrekt, das Europäische Parlament i m Mitentscheidungsverfahren einzubeziehen, und zwar bis auf wenige Ausnahmebereiche flächendeckend. I n den Fragen dagegen, wo auch weiterhin intergouvernementale Zusammenarbeit organisiert wird, werden die nationalen Parlamente die zentrale Kontrollinstanz bleiben und als solche auch i n ihren Rechten ausgebaut werden müssen. Denn ein großes Problem der Bürgerinnen und Bürger m i t dem europäischen Einigungsprozeß besteht doch darin, daß sie den Eindruck haben, hier werde Materie von den nationalen Parlamenten, den Volksvertretungen, weggezogen und i n Brüssel auf einer Exekutivebene behandelt und das auch noch i m Grunde nicht von Politikern, sondern von Bürokraten, die nur noch von den Unkontrollierbaren kontrolliert würden. Deswegen ist es hier so wichtig, die Kontrollfunktion der nationalen Parlamente deutlicher herauszustreichen. Das ist allerdings nicht Gegenstand von Unionsgesetzgebung oder -Vertragsgestaltung, sondern unterliegt den Entscheidungen der nationalen Gesetz- und Verfassungsgeber. Deutschland hat i n Zusammenhang m i t dem Maastricht-Vertrag hier seine Hausaufgaben erfüllt. Daneben muß durch die Unterstellung dieses Bereichs Inneres und Justiz unter die Jurisdiktion des Europäischen Gerichtshofes ein einheitlicher Rechtsschutz gewährleistet werden, und ich würde es darüber hinaus begrüßen, wenn für die EU-Organe eine unabhängige, externe Datenschutzeinheit geschaffen würde.

ΠΙ. Die Union muß bürgernäher und transparenter, die demokratischen Strukturen müssen gestärkt werden. Wichtig ist und bleibt zudem eine striktere Anwendung des Subsidiaritätsprinzips. Diesen Themen müssen w i r unsere besondere Aufmerksamkeit widmen, wenn w i r die Zustimmung der Bürger für die europäische Integration erhalten wollen. Die Konferenzteilnehmer sind sich dieser Tatsache voll bewußt. Die ausführliche Behandlung dieses Bereichs i m Rahmen der Verhandlungen zeigt dies sehr deutlich. Für mich stehen dabei folgende Aspekte i m M i t telpunkt: Das Subsidiaritätsprinzip muß strikt angewandt und konkretisiert werden. Wir treten zu diesem Zweck für ein Protokoll zum Vertrag ein,

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das auf Basis der Schlußfolgerungen des Europäischen Rates i n Edinburgh und der Interinstitutionellen Vereinbarung vom November 1993 bindende Regelungen festschreibt. K ü n f t i g muß stärker darauf geachtet werden, daß das, was von den Mitgliedstaaten, den Regionen oder den Kommunen besser erledigt werden kann, nicht i n Brüssel entschieden wird. Allerdings darf uns das nicht daran hindern, das, was auf europäischer Ebene wirkungsvoller gemacht werden kann, auch tatsächlich dort zu tun. Das Subsidiaritätsprinzip darf weder Vorwand zur Renationalisierung noch Abschied von dem Solidaritätsgebot der Union sein. Gestern hat zu diesem Thema eine Anhörung des Bundestages und des Bundesrates stattgefunden, die sehr wichtige Aufschlüsse gegeben hat über die Implementierung des Subsidiaritätsprinzips. Auch die Rolle des Europäischen Parlaments (EP) muß insgesamt gestärkt werden. Für den Bürger entsteht oft der Eindruck, daß i n Brüssel die Abgrenzung von Legislative und Exekutive nicht klar ist und die Exekutive, sprich der Rat, auf Ebene der Minister oder, schlimmer noch, durch Eurokraten alles entscheidet. Ich denke, w i r sollten vor allem die Beteiligungsverfahren des EP vereinfachen und ihre Zahl reduzieren. Außerdem muß der Anwendungsbereich des Mitentscheidungsverfahrens des EP deutlich ausgeweitet werden. Dabei sollten w i r vermeiden, künstlich Gegensätze zwischen EP und nationalen Parlamenten aufzubauen und uns an den zu behandelnden Materien orientieren. Beim Thema Europäisches Parlament möchte ich Sie noch auf einen sehr wesentlichen Aspekt aufmerksam machen, der zu einem großen Ärgernis zu werden droht. Das ist die Nicht-Einheitlichkeit der Wahlverfahren zum Europäischen Parlament. Wie Sie wissen, haben w i r entsprechend den nationalen Traditionen hier Unterschiede. Grob kann man sagen: I n vierzehn Ländern eine weitgehend proportionale Ausgestaltung des Wahlsystems, i n einem Land ein klares, ein lupenreines Mehrheitswahlsystem. Das bedeutet, daß i n drei Europäischen Parlamentswahlen hintereinander die Zusammensetzung des EP - platt ausgedrückt: ob es sich u m eine linke oder eine rechte Mehrheit dort handelt - ausschließlich abhängig gewesen ist von dem Wahlergebnis i n Großbritannien, weil der Swing i n Großbritannien immer so groß war, daß er die leichteren Shifts i n den proportional abstimmenden Systemen immer überlagert hat. Ich sage jetzt nicht als Staatsminister i m Auswärtigen Amt, sondern als Vizepräsident einer europäischen Partei - und da spreche ich für die Kollegen von den Roten, den Schwarzen und den Grünen gleich mit - , daß w i r auf Dauer bei Europawahlen unsere Leute nicht

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mehr auf die Straße bringen werden, wenn sie mitbekommen, daß es letztendlich auf ihre Aktivitäten gar nicht mehr ankommt, weil die Mehrheitsverhältnisse i m Europäischen Parlament nämlich nur davon abhängen, wie groß der Swing i n Großbritannien ist. Ich glaube, das ist i n das Bewußtsein der politischen Handlungsträger i n unseren Ländern noch nicht richtig eingedrungen. Wir müssen uns bemühen, hier zu einem einheitlichen Verfahren zu gelangen.

IV. Der vierte Schwerpunkt sind die institutionellen Reformen. Hier geht es darum, die Union insbesondere für die Aufnahme neuer Mitglieder fit zu machen. Wir sind groß darin, den zukünftigen Mitgliedstaaten Vorschläge oder Vorschriften zu machen, wie sie sich denn umzugestalten haben, um reif für die Mitgliedschaft i n der E U zu sein. Aber die E U ist ihrerseits nicht i n der Lage, m i t ihren jetzigen Institutionen m i t 27 M i t gliedern fertig zu werden. Wir sind entstanden aus einer ziemlich gemütlichen Vereinigung von sechs - da kannte i m Ministerrat, i n der Kommission, i m Parlament noch jeder jeden. U n d ich sage Ihnen - sage Ihnen damit wahrscheinlich aber nichts Neues: Die Rituale i n den Organen der E U sind jetzt schon nicht mehr zu ertragen. U n d wenn die Mitgliederzahl eines Tages auf 27 hochgeht, und das ist absehbar, dann werden w i r nicht mehr handlungsfähig sein. Eine weitere rein arithmetische Anpassung der Institutionen hätte gravierende sachliche, funktionelle und politische Probleme zur Folge. Ohne echte Reformen würde die Union leicht ein Opfer ihres eigenen Erfolges. N u n ist das sicherlich ein Gebiet, das nicht besonders öffentlichkeitswirksam ist. Trotzdem erwarten die Leute, daß die Institutionen funktionieren und zuverlässig sind. Die Schwierigkeit besteht bei allen drei Organen der E U - Rat, Kommission und Europäischem Parlament - darin, daß die kleineren M i t gliedstaaten sich auf allen diesen Gebieten von den großen bedroht fühlen. Denn, wenn w i r von einer Reduzierung der Zahl der Kommissare sprechen - w i r haben i n die Regierungskonferenz eine Zahl von maximal 20 eingebracht - , dann wissen die kleinen Mitgliedstaaten ganz genau, daß Großbritannien und Frankreich, Italien, Spanien und Deutschland immer dabei sein werden. Aber ob dann noch Malta und Estland dabei sein werden, ist eine ganz andere Frage. Der Zugang zu diesem Macht-

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Zentrum der Europäischen Gemeinschaft w i r d so leicht von niemandem aufgegeben werden. Also müssen w i r hier zu einer Konstruktion kommen, mit der auch die kleinen Mitgliedstaaten leben können. Ähnlich verhält es sich beim Europäischen Parlament. Wir haben es geschafft, auch durch das Engagement von Europäern, iit Südafrika „one man, one vote" durchzusetzen. I m Europäischen Parlament gilt das noch längst nicht. N u n kann man sehr gut argumentieren, ich denke auch demokratietheoretisch sehr gut argumentieren, daß es angemessen ist, für Kleinst-Mitgliedstaaten wie Malta und Luxemburg eine M i n destanzahl von Parlamentsabgeordneten i m Vertrag festzuschreiben. Aber daß es zwischen den großen und mittelgroßen Mitgliedstaaten wesentliche Unterschiede geben kann i n der Anzahl von Stimmen, die für ein Parlamentsmandat abgegeben werden müssen, ist den Bürgerinnen und Bürgern nicht beizubringen. Wenn man das aber konsequent durchsetzt, werden wiederum die kleinen Staaten - nicht die Kleinst-Staaten - die Befürchtung haben, von den großen „untergebuttert" zu werden. I m Ministerrat gilt das gleiche. Die E U entwickelt sich mehr und mehr zu einer Gemeinschaft von „kleinen" Mitgliedstaaten. U n d extrapoliert man die gegenwärtige Stimmengewichtung i m Rat auf die 27 zukünftigen Mitglieder, dann müssen die vier, fünf größten sich i n Zukunft die Möglichkeit vorstellen können, daß sie sehr leicht i n der Minderheit i m Rat sind, obwohl sie bevölkerungsmäßig bei weitem die Mehrheit der Mitbürgerinnen und Mitbürger i n der E U stellen. Auch hier w i r d es also eine entsprechende Reform geben müssen, aber auch hier fürchten die kleineren Mitgliedstaaten, daß die größeren Finsteres i m Schilde führen. Wir werden also auch hier vertrauensbildend wirken müssen. Vielleicht ist der Weg einer doppelten Mehrheitsbestimmung i m Rat, nämlich ein Gegencheck, ob die gefundene Mehrheit denn auch die Mehrheit der vertretenen Bevölkerung repräsentiert, dazu eine Möglichkeit. Möglicherweise ist auch ein neuer Vorschlag für die Kommission, der i n dieser Woche i n die Regierungskonferenz eingebracht worden ist - zurückzukehren zu einer stärkeren Rolle der Vizepräsidenten der Kommission mit klar definierten Portfolios, denen dann einzelne weitere Kommissare zugeordnet werden - ein Weg. Für das Europäische Parlament könnte die Mindestausstattung von Kleinst-Mitgliedstaaten mit einer Mindestanzahl von Mandaten ein gangbarer Weg sein.

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Zur Stärkung der Kontinuität ist weiter die Überprüfung des halbjährlich wechselnden Vorsitzes notwendig. Mittlerweile haben auch alle verstanden, daß es nicht besonders günstig ist, daß, wenn eine Präsidentschaft sich mal richtig eingearbeitet hat, sie schon wieder „weg vom Fenster" ist. Auf der anderen Seite kollidiert dieses mit dem legitimen Interesse aller Mitgliedstaaten, die Geschicke der Union als Präsidentschaft auch einmal i n besonderer Weise bestimmen zu dürfen. Die Lösung kann wiederum nur i n der Neuaufteilung der Aufgaben und i n gemeinsamer Wahrnehmung von Verantwortung liegen, möglicherweise heißt hier das Stichwort „Teampräsidentschaften".

V. Schließlich stellt sich die Frage, wie künftig i n einer immer größer und heterogener werdenden Union bei weiteren Integrationsschritten verfahren werden soll. Die Diskussion u m das Kern-Europa, die vor zwei Jahren von den Kollegen Lamers und Schäuble angestoßen worden ist, hat die Diskussion i n der gesamten Union enorm befruchtet. Aber sie hat ein Problem produziert, weil bei einer Vielzahl von Mitgliedstaaten der Verdacht entstanden war, daß sich hier eine Reihe von Großen uneinholbar absetzen wolle von den anderen Mitgliedstaaten der Union, daß es also einen Ausschluß von Mitgliedern geben solle, die für eine verstärkte Zusammenarbeit nicht oder noch nicht geeignet erschienen. U m diesem Mißverständnis entgegenzuwirken, haben Bundeskanzler K o h l und Staatspräsident Chirac i n ihrem gemeinsamen Brief an den damaligen Ratspräsidenten, Ministerpräsident Gonzalez, am 6.12. 1995 den Vorschlag unterbreitet, i n den Vertrag eine allgemeine Klausel einzufügen, die Staaten, die dies wünschen und dazu i n der Lage sind, die Möglichkeit eröffnet, unter Wahrung des einheitlichen institutionellen Rahmens der Union eine verstärkte Zusammenarbeit zu entwickeln. Dabei darf selbstverständlich der acquis der Gemeinschaft nicht angetastet werden. Hier sind die wesentlichen Bedenken der Wirtschaftsressorts angesiedelt, die meinen, daß durch eine solche Klausel i m EGVertragsbereich eine Aushöhlung des acquis communautaire befürchtet werden müsse. Das wollen w i r nicht. Der einheitliche institutionelle Rahmen muß gewahrt bleiben. Eine verstärkte Zusammenarbeit sollte sich auf eine möglichst große Zahl von Teilnehmern ausrichten. Kein Mitgliedstaat darf dabei ausgeschlos-

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sen werden, jedem Mitgliedstaat muß die Möglichkeit eingeräumt werden, sich später anzuschließen. Aber umgekehrt muß eben auch klar sein, daß kein Mitgliedstaat eine größere Gruppe von anderen am gemeinsamen Vorangehen hindern darf. Die Verhandlungen auf der Regierungskonferenz wie auch die europapolitische Debatte i m Vorfeld haben inzwischen recht viel Klarheit über die Positionen der einzelnen Mitgliedstaaten gebracht. Erfreulich für uns ist, daß die deutsche und die französische Haltung - häufig trotz unterschiedlicher Ausgangspositionen - doch ein hohes Maß an Übereinstimmung zeigen und daß w i r damit wesentliche Impulse gemeinsam i n die Regierungskonferenz hineintragen können. Das hat sich auch i n Tur i n schon positiv ausgewirkt, wie auch i n den bisherigen Sitzungen. Beide Regierungen sind sich ihrer besonderen Verantwortung bewußt, Europa voranzubringen, und sind entschlossen, diesen Weg weiter zu gehen. Es ist teilweise ein mühsamer Abstimmungsprozeß. Aber das Bemerkenswerte i n dieser deutsch-französischen Kooperation ist, daß w i r es letztlich immer geschafft haben, durch Bewegung - und ich betone: teilweise auch durch schmerzliche Bewegung - auf beiden Seiten zu gemeinsam getragenen Positionen zu kommen. N u r dann bewegt sich etwas i n Europa. U n d traditionsgemäß haben w i r bei den integrationsfreundlichen Staaten dabei immer enge Unterstützung. Ich hoffe auch, daß es gelingt, Großbritannien ins Boot zu bekommen. Wir wollen nicht den „easy way out" wählen, der darin bestünde, zu sagen: „ W i r bauen Europa eben ohne Großbritannien weiter." Es wäre ein schwerer strategischer Fehler, dies zu wollen. Wir müssen zur Kenntnis nehmen, daß gegenwärtig Europapolitik i n Großbritannien eine Funktion von Innenpolitik ist. Hieran w i r d sich i n den nächsten Monaten nichts ändern. Aber auf der anderen Seite haben w i r überhaupt keine Veranlassung, uns i n irgendeiner Weise i n die inneren Verhältnisse Großbritanniens einzumischen. Das müssen die Bürgerinnen und Bürger dort selber entscheiden. Aber ich b i n sicher, wenn einmal dieser Vorhang der innenpolitischen Debatte weggezogen sein w i r d - egal wie das Wahlergebnis sein w i r d - w i r d auch i n Großbritannien wiederum unter dem Gesichtspunkt der M i t w i r k u n g bei der Gestaltung der Zukunft Europas diskutiert werden können. Wir jedenfalls wollen Großbritannien dabeihaben.

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Wir werden uns jetzt auf das Notwendige konzentrieren müssen. Wir werden Europapolitik nicht mit heruntergezogenen Mundwinkeln betreiben können, sondern offensiv und engagiert, sonst werden w i r die Bürgerinnen und Bürger, die w i r brauchen, nicht mitnehmen können. Ich denke, nur so können w i r den erfolgreichen Weg der europäischen Einigung fortsetzen. Es gibt für uns Deutsche und für uns alle i n Europa auch i n Zukunft keine Alternative zu diesem Weg.

Zusammenfassung der Diskussion Referat Hoyer

Siebert eröffnet die Diskussion mit dem Hinweis, daß bei dem Weg nach Maastricht die politische Union intendiert war, sozusagen als natürliches Komplement der Währungsunion. Man könne aus der w i r t schaftshistorischen Erfahrung den Schluß ziehen, daß man stabile Währungsrelationen zwischen souveränen Nationalstaaten nicht bekommen kann, wenn diese nicht bereit sind, auf Autonomie i n der Finanzpolitik zu verzichten. Die nationale Souveränität bei der Finanzpolitik werde natürlich die Europäische Zentralbank unter politischen Druck setzen. Z u fragen sei, wie die Europäische Zentralbank unter dem gegebenen Szenario von dem politischen Druck abgeschirmt werden kann. Der Sachverständigenrat, wie auch andere, hätten dafür ja einen Stabilitätspakt vorgeschlagen, den die Länder anstreben sollten - nicht durch Vertragsänderung, sondern durch zusätzliche Selbstbindungen, möglicherweise außerhalb des Europäischen Vertrags. Ziel sei eine teilweise Einschränkung von finanzpolitischer Autonomie. Es sei ruhig geworden um diesen Vorschlag eines Stabilitätspakts. Er sei aber doch wohl ein unverzichtbares Element für die Funktionstüchtigkeit der Europäischen Währungsunion. Es gehe dabei nicht um die Frage des Beitritts, sondern um die Frage, wie die Währungsunion fünfzehn, zwanzig Jahre existieren kann. Der Stabilitätspakt müsse als ein unverzichtbares Instrument angesehen werden, um gegenüber der Bevölkerung die Glaubwürdigkeit dieses Vorhabens zu begründen. Hoyer bejaht die Aussage Sieberts, was diesem nicht genügt. Er w i l l wissen, warum ist es denn so ruhig geworden ist um diesen Vorschlag. Es stellten sich drei Fragen: - Sind die anderen Länder i m Prinzip nicht bereit, einen solchen Stabilitätspakt zu zeichnen? - Wie könnte er institutionell umgesetzt werden? - Angenommen, er würde nicht realisiert, wie stünde es dann um die Glaubwürdigkeit der Europäischen Währungsunion?

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Hoyer erklärt, er sei bei dieser Frage gar nicht so pessimistisch. Die Reaktionen seien keineswegs so negativ, wie er das zunächst befürchtet hatte. Alle stünden ja grundsätzlich vor dem gleichen Problem. Der Druck auf die Währungsunion habe i n einigen Staaten Entscheidungen möglich gemacht, die man sich vorher gar nicht hätte vorstellen können. Die politisch Handelnden hätten ein gewisses Interesse, gegenüber ihrer Opposition, gegenüber der Bevölkerung m i t dem Druck von außen argumentieren zu können, u m den Stabilitätskurs fortsetzen zu können. Die Zurückhaltung bei den Partnern sei hauptsächlich i n der Sorge begründet, durch eine Vertragsänderung an dieser Stelle das Gesamtvorhaben zu gefährden. N u n sei ja auch klargemacht worden, daß der Weg über eine Selbstbindung der entsprechenden Regierungen führe, auch wenn natürlich die völkerrechtliche Qualität nicht der eines neuen Vertragstextes entspräche. Insbesondere auch das zweite Argument Sieberts - nämlich bei der eigenen Bevölkerung mehr Glaubwürdigkeit zu erreichen - sei stichhaltig. I n Deutschland sei es ein Problem, daß viele meinten, w i r seien nun die Größten, i m Hinblick auf unsere finanz- und geldpolitische Glaubwürdigkeit. Davon könne i n der Realität keine Rede sein. Die Inflationsraten hätten i n den letzten fünf Jahren nur i m guten Mittelfeld der Europäischen Union gelegen. Bei der Verschuldungssituation könne man zwar vieles mit der deutschen Einheit entschuldigen, die bisher von den Belastungen der Kapitalmärkte her bewundernswert gut über die Bühne gebracht worden sei. Aber er habe i n Brüssel i m Ministerrat nie so viele lächelnde Gesichter gesehen wie an dem Tag, als die deutsche Seite zugeben mußte, daß sie 1995 die Stabilitätskriterien nicht erreicht hatte. I n der deutschen Bevölkerung herrsche hingegen der feste Glaube, daß i n Deutschland die stabilste, die seriöseste Wirtschaftspolitik gemacht werde. Sie sei deshalb immer wieder leicht zu packen mit dem Argument, jetzt wollten sich die anderen, diese finanzpolitischen Hazardeure i n XY-Land, von den Deutschen finanzieren lassen. Hier müsse Sicherheit hineinkommen. Auch die Frage des Finanzausgleichs müsse i m gleichen Zug verankert werden. Oft bestehe anscheinend der Eindruck, der deutsche Schlendrian i m horizontalen oder vertikalen Finanzausgleich, der einige Katastrophenländer pausenlos begünstige, würde i n Zukunft einfach auf die europäische Ebene transponiert. Das würde der Akzeptanz bei der Bevölkerung den Rest geben. Klarheit sei w i r k l i c h dringend erforderlich. Auf die Probleme der Einhaltung des Zeitfahrplans geht Hoffmann ein. Hoyer habe zu recht betont, daß es politisch äußerst wichtig sei,

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gleichzeitig auf Einhaltung der Kriterien wie auf den Zeitplan zu drängen. Aber was politisch wünschenswert ist, müsse nicht notwendigerweise auch realistisch sein. Nicht nur i n Deutschland, sondern vielleicht auch i n manchem Nachbarland sehe es ja momentan leider nicht so aus. Auch die konjunkturelle Situation mache das Erreichen dieses Fahrplans schwierig. Er fragt, wie Hoyer den möglichen Trade-off zwischen den beiden Zielen sieht. Nochmals macht Hoyer deutlich, wie wichtig es sei, bei dem vereinbarten Verfahren zu bleiben. Erst i m ersten Quartal 1998 solle auf der Basis der gesicherten Daten für 1997 entschieden oder festgestellt werden, wer der Währungsunion angehören kann und wer nicht. Man müsse sich auf alle Optionen einrichten. Er wolle nicht i n der Öffentlichkeit über den Ausgang der Frage spekulieren. Viele von denen, die sich i n Sorge darüber ergingen, dieses oder jenes Land könnte die Stabilitätskriterien nicht erfüllen, hätten i m Grunde ein ganz anderes Ziel: Ihnen passe einfach die ganze Sache nicht. Über das ständige Säen von Zweifeln könne die Sache selber kaputt gemacht werden. Hoyer t r i t t der Haltung entgegen, i n einer solchen Situation müsse erst einmal das Ziel festgelegt werden. Dies sei geschehen. Dann gebe es Zwischenziele, die zu bewältigen sind, und hier müsse auf jeder Stufe kontrolliert werden, ob sie erreicht wurden oder nicht, aber erst dann, wenn man eine seriöse Aussage darüber machen kann. Das Säen von Zweifeln über die Erreichbarkeit bestimmter Ziele sei eine self-fulfilling prophecy , weil das Zögern i n Deutschland es den Politikern i n Nachbarländern erschwere, Tarifparteien oder Parlamentarier dazu zu bewegen, diejenigen Strukturentscheidungen herbeizuführen, die für die w i r t schaftliche Gesundung erforderlich sind. Das gelte übrigens m i t oder ohne Währungsunion. Deswegen halte er es für unverantwortlich, wenn von politischer Seite immer wieder dieser Zweifel genährt wird, nach dem Motto "Na, das schafft ihr sowieso nicht". E i n Scheitern der Währungsunion hielte er für fatal, nicht nur aus einem europapolitischen Romantizismus, sondern auf der Grundlage einer ganz klaren politischen wie ökonomischen Bewertung. Hier anknüpfend bezeichnet Pohl die Einwände gegen die Währungsunion als vorgeschobene Ersatzargumente. Die Finanzkriterien würden den Ausschlag geben. Er könne aber kaum eine Verbindung der Finanzkriterien m i t der W W U erkennen. I m Maastricht-Vertrag, i n den Statuten der Zentralbank seien Sicherungen eingebaut, die es verhinderten, ein Staatsdefizit inflationär zu finanzieren. Die Unabhängigkeit der

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Zentralbank sei gewährleistet. Fiskalkriterien seien einleuchtend, aber völlig unabhängig von der Währungsunion. Andere Kriterien, z.B. lohnpolitische Absprachen oder sozialpolitische Kriterien, seien denkbar, aber es rede kein Mensch drüber. Finanzkriterien i n Europa zu diskutieren, sei sehr sinnvoll, aber losgelöst von dem Zeitplan für die Währungsunion. Eine zweite Bemerkung von Pohl zielt auf das Verhältnis zwischen Bundesbank und Regierung. Die Einschätzung, daß unter dem Vorwand von Sachargumenten Zweifel gesät würden, könne sich ja auch auf die öffentlichen Äußerungen der Bundesbank zur Währungsunion beziehen. Der erste Satz laute immer: " W i r sind für die Währungsunion." Die übrige Zeit werde dann auf Begründungen verwendet, warum sie besser nicht kommen sollte. Das sei eine Position, mit der sich Deutschland i n ternational unmöglich macht. Was die Fiskalkriterien angeht, stimmt Hoyer den Äußerungen Pohls voll zu. Es helfe auch nicht weiter, wenn gesagt werde, als Ökonom könne man die Kriterien nicht begründen. Der Maastrichter Vertrag sei i n der Tag das Ergebnis politischer Verhandlungen. Aber die Kriterien seien als politische Zielvorgabe und zugleich Gläubwürdigkeitstest für die Politik einfach ein Fakt, m i t dem jetzt alle leben müßten und an dem man nicht kratzen dürfe. Es wäre fatal, wenn man daran Zweifel aufkommen ließe. Z u m Glück seien ja diese Kriterien auch damals nicht von der Politik i n die Welt gesetzt worden, sondern es seien ja die Experten - u.a. aus den Forschungsinstitutionen - m i t einbezogen worden. Zur Frage nach der Bundesbank macht Hoyer nochmals deutlich, daß wirkliche Unabhängigkeit für die Europäische Zentralbank angestrebt werde. Der Zentralbank schreibt er eine wesentliche Funktion zu, nicht nur als Gestalter, sondern auch als Mahner i m Hinblick auf die Geldwertstabilität. Trotzdem appelliert Hoyer an die Bundesbank, offensiv und konstruktiv den Weg i n die Währungsunion zu beschreiten. Er wünscht sich für die Regierung Unterstützung bei dem Kampf u m Glaubwürdigkeit und die Stabilität der zukünftigen Währung. Watrin macht darauf aufmerksam, daß i n Wirklichkeit i n den nächsten Jahren allenfalls eine Teilwährungsunion zustande kommen werde. Es stelle sich ein dreifaches Problem: - Man könne nicht m i t der Sicherheit, wie sie i m Referat zum Ausdruck kam, davon sprechen, daß die international operierenden Unternehmen Kalkulationssicherheit für ihre Preise und Investitionen bekom3 Konjunkturpolitik, Beiheft 44

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men. Das gelte allenfalls für die Mitglieder der Teilwährungsunion. Nähme man an, daß diese Teilwährungsunion i n Wahrheit oder politisch gesehen ein Sterling-D-Mark-Block wäre, unter Einbeziehung der Beneluxländer, dann müßte ja auch das Verhältnis zu den übrigen neun oder zehn Ländern geregelt werden, die gelegentlich EWS I I genannt würden. A m Horizont tauchten so besorgniserregende Dinge i n der Diskussion auf wie eine Interventionsverpflichtung der neuen Europäischen Zentralbank i m H i n b l i c k auf ein solches EWS II. Ohne eine Interventionsverpflichtung laufe man Gefahr, daß diejenigen, die draußen stehen, sich nicht nur nicht nach den Vorgaben der Europäischen Zentralbank richten würden, sondern daß sie vielleicht zu Kapitalverkehrskontrollen zurückkehren würden, was dann die erreichte Integration zerstören würde. Watrin fragt nach den Vorstellungen i m Auswärtigen A m t i m Hinblick auf dieses EWS I I und seine Ausgestaltung. - Einen zweiten Problembereich sieht Watrin i n den künftigen Beitrittsländern. Die zehn bis zwölf Länder müßten sicherlich über einen längeren Zeitraum noch als Weichwährungsländer angesehen werden. Wie bekommt man dies i n den Griff? - Eine dritte Ebene sei die Beziehung zu Dollar und Yen. Die Währungsgeschichte der letzten zehn, fünfzehn Jahre kenne hier verschiedene Versuche, z.B. das Plaza Agreement. Z u fragen sei nach den Vorstellungen der Bundesregierung und der europäischen Institutionen, wie dieses Verhältnis mittel- und langfristig zu gestalten sei. Hoyer entgegnet, das Schlagwort von der Teilwährungsunion sei eines von jenen, wo er gern nach dem taktischen Hintergrund frage. Von allen werde verlangt, die Stabilitätskriterien mit Härte durchzusetzen. Wenn dann das eine oder andere Land draußen bleibe, w e i l es die Kriterien noch nicht erfüllt, dann werde diese Währungsunion niedergemacht mit dem Begriff Teilwährungsunion. Man müsse wissen, was man w i l l . Er wolle eine Währungsunion, i n die nur aufgenommen wird, wer den K r i terienkatalog abarbeiten kann und wer sich darüber hinaus verpflichtet, auch anschließend einen solchen Stabilitätskurs beizubehalten. Die M i t w i r k u n g i n dieser Währungsunion werde zwar nur einen Teil der M i t gliedschaft i n der Europäischen Union umfassen, aber mehr als viele gegenwärtig glaubten. Diese Währungsunion werde eine so hohe A t t r a k tionswirkung auf die anderen ausüben, daß sich die Außenstehenden sehr schnell darum bemühen würden, zu folgen. Die Vorstellung, man könnte jetzt durch nationale Abwertungspolitiken oder Rückkehr zu

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Kapitalverkehrskontrollen die Position i m H i n b l i c k auf den Binnenmarkt stärken, hält er für ziemlich abwegig. Hoyer glaubt, daß ein ernsthaftes Interesse an einer Zerstörung des Binnenmarktes ebenso wenig bei jenen besteht, die zunächst nicht dabei sein werden, wie bei den Anfangsmitgliedern. E i n höchst interessantes konzeptionelles Problem - und diese Frage gibt er gerne zurück an die Wirtschaftsforscher - sei die Gestaltung des Verhältnisses zwischen den ins und outs oder wie das neuerdings so schön euphemistisch heiße, den pre-ins. Hier macht Hoyer ganz klar, daß er die Position von Finanzminister Waigel teilt, die dieser i n Verona eingebracht hatte: Die Geldpolitik i n dem Kreise der von vornherein der Währungsunion angehörenden Länder dürfe man nicht unterminieren lassen durch eine Interventionspflicht der Europäischen Zentralbank i m Hinblick auf Schwache, die noch draußen sind. Eine Interventions Verpflichtung liege dann schon eher bei den Betreffenden draußen selber. Insofern sei auch eine schlichte Übertragung der bisherigen Regelungen des Europäischen Währungssystems auf eine neues Europäische Währungsunion nicht möglich. Bei den künftigen Beitrittsländern sieht Hoyer ein sehr differenziertes Bild. Die Ambition, mitmachen zu können, sei überall vorhanden, aber das werde sehr schwierig werden. Einige Länder seien sehr nah an der Erfüllung der Kriterien, andere würden länger brauchen. Daran sei nichts Dramatisches. Jede Währungsunion, die über den jetzigen D Mark-Block hinausgeht, sei schon ein großer Fortschritt, und jedes hinzukommende Land machte die Sache zu einer noch größeren Erfolgsstory. Aufweichungen wären fatal, weil sie das Vertrauen unterminierten. E i n zu schnelles Vorangehen bei der Integration auch der Staaten i m Osten werde Vertrauen schädigen, und möglicherweise würde der eine oder andere neue Mitgliedstaat, der noch lange Übergangsfristen für die volle M i t w i r k u n g i m Binnenmarkt brauchen wird, auch überfordert. I n einer Nebenbemerkung verweist Hoyer auch auf die Zufälle der Geschichte. Das könne die alten und die neuen Mitglieder gleichermaßen betreffen. A m Schuldenstandskriterium lasse sich das illustrieren. Beim Vergleich zwischen Belgien und Deutschland könne man sich rückblikkend klarmachen, was für segensreiche Langzeitwirkungen etwa ein Londoner Schuldenabkommen (für Deutschland) entfalten kann. Hieran zeige sich die Schwierigkeit i m Umgang m i t derartigen Kriterien. Eekhoff geht auf das Problem der Akzeptanz einer Währungsunion bei den Bürgern ein. Den Bürgern erscheine die E U oft als unbeeinflußbarer 3

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Koloß. Was i n Brüssel entschieden wird, sei sehr schwer zu überschauen. Die Frage sei, ob der Ausweg, den Hoyer genannt habe, nämlich das Parlament stärker einzuschalten, i n die richtige Richtung gehen würde. Es könne dadurch auch alles noch schlimmer werden. Wie könne der Bürger noch irgendwo Einfluß nehmen, wenn eine Entscheidung zustande kommt, die i h m nicht gefällt? Die Alternative bestünde darin, zwischen den Ländern zu verhandeln, intergouvernemental die Linie beizubehalten, die sich i m Ministerrat herauskristallisiert. I n diesem System unterliege die Regierung der Wählerkontrolle. Eine ähnliche Kontrollfunktion bestehe über das Europaparlament nicht, und zwar nicht nur, weil die Verteilung der Zuständigkeiten zwischen Ministerrat und Parlament unklar ist. Auch die Funktionsweise dieses Parlaments mit seinen zum Teil sehr eigenartigen Strukturen sei doch stark verschieden von derjenigen des Bundesparlaments i n Deutschland. So würden i n den Vermittlungsausschüssen manchesmal Entscheidungen von Personen getroffen, die sehr klar bestimmte Positionen ihres Landes vertreten, sei es nun Großbritannien oder Frankreich. Es sei also zweifelhaft, ob die demokratische Kontrolle, die w i r vor A u gen haben, auf die Weise zu verstärken wäre, daß man das Parlament stärker beteiligte. Die Wirkung könne gerade i n die umgekehrte Richtung gehen. Hoyer bestätigt, dies sei eine der schwierigsten Fragen, die zur K l ä rung anstünden. I n einem stimmt er Eekhoff nachdrücklich zu: Es würden i m Ministerrat i n großem Umfang Entscheidungen von höchster politischer Brisanz und Relevanz auf der Ebene von Ausschüssen herbeigeführt. Solche Angelegenheiten würden dem zuständigen Minister meist nicht entsprechend ihrer Bedeutung zur Entscheidung vorgelegt und voll bewußt gemacht. Sie würden stattdessen i m sogenannten A.«Verfahren als vorab abgestimmte Punkte m i t einem Handaufheben abgesegnet. Er habe sich angewöhnt, für die Pressekonferenzen bei jeder Ministerratsitzung drei oder vier Themen aus der A.-Liste herauszugreifen und zu erklären, was da eigentlich entschieden worden ist, auch wenn i m Rat selber kein Wort mehr darüber verloren wurde. Man müsse gelegentlich deutlich machen, wieviele unglaublich brisante und wichtige Entscheidungen i n Brüssel getroffen werden, aber einfach fast nebenbei zwischen den Ministerien oder indirekt durch die ständigen Vertreter i n Brüssel verabredet werden, so daß keine ernsthafte Debatte mehr i m Ministerrat darüber stattfindet. Das sei ganz erschreckend, und man müsse hier viel mehr politisches Bewußtsein schaffen. Der Ministerrat als Legislativor-

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gan müsse eigentlich erst wieder i n die Lage versetzt werden, nach außen die notwendige Transparenz herzustellen, damit der Bürger überhaupt i n die Lage versetzt wird, die Vorgänge zu begreifen. Trotzdem ist Hoyer der Auffassung, daß auch auf der Europäischen Ebene eine Volksvertretung i n die Gesetzgebung eingebunden sein muß. Das sei gegenwärtig aus vielerlei Gründen kaum zu machen. Zum einen, hier gibt er Eekhoff recht, habe das Europäische Parlament eine ganz andere Funktion als die anderen Parlamente. Parlamentarier stünden z.B. keiner Regierung gegenüber, und die Parlamentsfraktionen seien auch nicht i n einer Loyalitätsverpflichtung, weder gegenüber dem Oppositionsführer noch gegenüber dem Regierungschef. Keiner der Parlamentarier trage eine Regierung und müsse sich entsprechend verhalten. Niemand riskiere, daß eine Regierung scheitert, wenn er unbedacht die Regierungsmehrheit aufs Spiel setzt. Noch problematischer sei es allerdings, daß i m Europäischen Parlament gegenwärtig etwa 27 verschiedene Beteiligungsverfahren angewendet würden. Kaum jemand, zumindest kein Brüsseler oder Straßburger Journalist blicke da mehr durch. Z u bezweifeln sei auch, ob alle Handelnden die Lage immer so genau durchschauten. Deswegen sei es eines der zentralen Ziele auf der Regierungskonferenz, die Beteiligungsverfahren des Europäischen Parlaments von 27 auf 3 plus Haushaltsverfahren zu reduzieren. I m übrigen müsse aber bei vergemeinschafteter Materie, wo die Souveränität w i r k l i c h an Brüssel abgegeben wurde, die Volksvertretung die Verantwortung übernehmen, und umgekehrt müsse das Parlament von den Bürgern wesentlich mehr i n die Pflicht genommen werden, als das bisher der Fall war. Es sei den Bürgerinnen und Bürgern ohnehin schwer klar zu machen, daß auf Europäischer Ebene der Ministerrat die Legislativfunktion wahrnimmt. Aber solange noch keine europäische Verfassung föderalen Charakters erreicht sei, werde das sicherlich auf lange Zeit noch so bleiben. Hoyer plädiert dafür, das Europäische Parlament i n die Frage der Bestellung der Kommission stärker einzubinden. Wie auch immer die Kommission i n Zukunft gestaltet werde - von der Größe und vom Schnitt der Ressorts her, mit weniger, aber klar definierten Zuständigkeiten - müsse es dazu kommen, daß der Präsident der Kommission eine stärkere Rolle gegenüber den Kommissaren einnehmen kann, etwa i m Sinne einer Richtlinienkompetenz. Er müsse bei der Auswahl der Kommissare aus den Vorschlägen der Mitgliedstaaten stärkere Mitsprache haben. E i n solcherart gestärkter Präsident müsse wie das Gesamtkollegium, das oh-

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nehin vom Parlament gewählt werden muß, ebenfalls vom Parlament akzeptiert werden. Wenn man die Rolle des Europäischen Parlaments i n dieser Weise stärkte, werde man auch das Interesse auf Seiten der Bürger daran wieder erhöhen. Den Gedanken, daß zunächst einmal eine europäische Verfassung anzustreben sei, unterstützt auch Oppenländer. Hiervon ausgehend, sei dann all das demokratisch zu entwickeln, was i n den einzelnen Nationalstaaten auch entwickelt worden ist. Bisher sei eine Bewegung h i n zu einer solchen Verfassung allerdings kaum zu erkennen. Wenn man andererseits von den bisherigen Strukturen ausgehe und beispielsweise das Subsidiaritätsprinzip zur Geltung bringen wolle, stelle sich oft heraus, daß i n vielen europäischen Mitgliedstaaten gar keine Institutionen existierten, um dieses Prinzip auch anwenden zu können. Die föderale Struktur sei zwar i n Deutschland sehr hoch entwickelt, vielleicht auch noch i n Belgien, aber i n anderen Mitgliedstaaten doch weit weniger. Man müsse sich fragen, wie dezentral-demokratische Konzepte funktionieren sollten, wenn schon die institutionellen Strukturen gar nicht gegeben sind. Hoyer stellt klar, daß seine Zielvorstellung die eines föderal verfaßten Europas ist - eine Verfassung, die i m wesentlichen Elemente erhält, wie sie auch i m deutschen Grundgesetz verankert sind. Dieser Gedanke sei bei verschiedenen Partnern gegenwärtig schwer unterzubringen. Dahinter stecke natürlich das große Problem der Definition von Föderalismus. Insbesondere i m angelsächsischen Bereich dächten viele bei diesem Begriff an die Federalist Papers, an Alexander Hamilton, an die Boston Tea Party. Sie dächten an Zentralisierung und nicht an das, was man z.B. i n Deutschland damit verbindet, i m positiven wie i m negativen Sinn, nämlich Dezentralisierung. Deswegen seien die Deutschen gut beraten, i n den EU-Vertrag solche Elemente einzubauen, wie man sie auch i n eine europäische Verfassung hineinschreiben würde. Deswegen befürwortet Hoyer auch, i n den EU-Vertrag einen Grundrechtskatalog aufzunehmen, obwohl i n allen nationalen Verfassungen die Grundrechte hinreichend gewährleistet seien. Auch sei es unter diesem Gesichtspunkt nützlich, die Unionsbürgerschaft dort unterzubringen. Es sei den Bürgern und Bürgerinnen ja gar nicht klar, daß sie - über ihre Rechte als deutsche Staatsbürger hinaus - besondere Rechte aus der Unionsstaatsbürgerschaft ableiten können. Freizügigkeit falle vielleicht noch vielen ein, das Niederlassungsrecht, soweit w i r k l i c h auch i n der Praxis durchgesetzt, vielleicht auch noch manchen. Das Recht auf konsularischen und diplo-

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matischen Schutz sei den meisten schon nicht bewußt, obwohl es für jeden Bürger sehr wichtig werden könne. Wenn jemand i n Samoa plötzlich i n eine Notlage gerät und es ist zufällig kein deutsches Generalkonsulat i n der Nähe, w o h l aber eines von beispielsweise Luxemburg, dann sei es zur Hilfeleistung verpflichtet. Alles das hänge m i t der Unionsbürgerschaft zusammen. I m Idealfall sollte der EU-Vertrag auch einen Kompetenzenkatalog enthalten, eine Definition der Legislativkompetenzen auf europäischer und nationaler Ebene. Das sei aber wohl nicht umsetzbar. Beim Subsidiaritätsprinzip solle man anstreben, das Subsidiaritätsprotokoll, i n dem die Vereinbarung zur Subsidiarität i n Edinburgh vom Europäischen Rat niedergelegt wurden, konkret mit Leben zu erfüllen. Eine Vertragsänderung am A r t i k e l 3b sei kaum wahrscheinlich. Oppenländer habe völlig recht, daß der Staatsaufbau i n den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union stark unterschiedlich ist, und da werde man den anderen keine Vorschriften machen können. Das habe übrigens den Ausschuß der Regionen zu einem so problematischen Instrument gemacht. E i n veritabler bayerischer Ministerpräsident m i t wer weiß was für politischer Macht und Autorität, sitze neben dem weisungsgebundenen Präfekten der Dordogne oder dem von der Königin eingesetzten Bürgermeister von Rotterdam. Das passe nicht und das werde sich i n absehbarer Zeit auch nicht ändern. Deswegen müsse es den einzelnen M i t gliedstaaten überlassen bleiben, wie sie das Subsidiaritätsthema auf allen politischen Ebenen verwirklichen. Subsidiarität müsse allerdings für die Ebene zwischen Brüssel und den nationalen Hauptstädten auf jeden Fall gelten, und i n Deutschland sei sie m i t Sicherheit ein durchgängiges Prinzip, von der europäischen Ebene bis hinunter zur Kommune. Komischerweise neigten fast alle politischen Handlungsträger zu einer i n einem Punkt gleichartigen Interpretation des Subsidiaritätsprinzips. Die britische Regierung sei der härteste Verfechter des Subsidiaritätsprinzips, sofern es darum geht, zwischen Brüssel und London zu entscheiden, aber die Eigenständigkeit einer Kommune oder das sich entwickelnde Parlament i n Schottland werde als eine ganz fürchterliche Sache angesehen. Bei den deutschen Bundesländern gelte das gleiche: Sie wollten i n der Europapolitik ein ganz wesentliches Wort mitreden, aber wenn es darum geht, das Subsidiaritätsprinzip auch bis zu den eigenen Gemeinden hinunter anzuwenden, seien sie total zugeknöpft. Als die deutschen Vertreter i m Ausschuß der Regionen benannt wurden, sei-

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en es nicht etwa die Länder gewesen, die dafür gesorgt haben, daß die Gemeinden dort drei Vertreter haben, sondern der Bund habe das durchgeboxt. So hätten alle mit der Implementierung des Subsidiaritätsprinzips ihre Probleme. I m Ausland werde i m übrigen manchmal der Verdacht genährt, die Deutschen hätten mit dem Subsidiaritätsprinzip eigentlich etwas ganz anderes i m Sinn, nämlich den Abschied von dessen Komplement, dem Solidaritätsprinzip. Deswegen seien die kleinen Mitgliedstaaten, die ja immer stark auf die Kommission als Hüterin der Verträge setzten, i n diesem Punkt so mißtrauisch. Sie hätten gelegentlich das Gefühl, die Deutschen wollten sich auf der Unions- oder Gemeinschaftssolidarität wegstehlen. Dem müsse man kräftig entgegentreten. Von Loeffelholz geht auf die Frage ein, die von Hoyer i m Untertitel seines Referats genannt wurde: Die Selbstbehauptung der Europäer i m globalen Wettbewerb. Die Europäer hätten ein Wachstumsproblem, aus dem auch ein Arbeitsmarktproblem folge, gerade i m Hinblick auf Nordamerika und noch mehr i m H i n b l i c k auf den asiatischen Raum. I h m stelle sich die Frage, ob Maastricht und die Währungsunion - über die Integrationsvorteile, die damit unter Umständen verbunden sind - für sich alleine ausreichten, um Europa auf einen höheren Wachstumspfad zu bringen und i m globalen Wettbewerb zu stärken oder ob nicht darüber hinaus noch zusätzliche Vorkehrungen erforderlich erscheinen. Diese könnten unter Umständen mit dem Subsidiaritätsprinzip i n K o n f l i k t geraten. Z u denken sei z.B. an eine koordinierte Wirtschafts- und Finanzpolitik, um zu einer stärkeren Selbstbehauptung der Europäer zu kommen. Einen solchen Konflikt mit der Subsidiarität mag Hoyer nicht unmittelbar erkennen. Von möglichen Einzelpunkten abgesehen, handele es sich ja doch i n der Regel lediglich um Koordinierung, also kaum um b r i sante Entscheidungen. Aber i n der Grundfrage stimmt er von Loeffelholz aus vollem Herzen zu. Die Währungsunion, die Regierungskonferenz, all das werde die deutschen und europäischen Probleme i m globalen Wettbewerb nicht lösen. Es handele sich dabei u m nicht mehr als eine notwendige Bedingung. Die hinreichende Bedingung liege ganz woanders, und zwar eher i n den Bereichen, die jetzt i m Zusammenhang mit der Währungsunion auch engagiert i n allen Staaten angepackt würden, weil sonst die Kriterien nicht erreicht würden. Das sei auch gut so, weil viele Entscheidungen jetzt möglich geworden seien, für die wahrscheinlich sonst die Kraft gefehlt hätte. Er spricht i n

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diesem Zusammenhang das 5O-Milliarden-D-Mark-Paket an, das schnell beschlossen wurde und sehr schnell die parlamentarischen Bühne erreichte. Diese Maßnahmen seien ein Ausweis von Entschlossenheit der Regierung. Die Bundesregierung habe jetzt eine einmalige Chance, auch i m Hinblick auf die strukturelle Wandlung der Volkswirtschaft einen entscheidenden Schritt zu tun. Nach den vielen eng beieinanderliegenden Wahlterminen sei aktuell eine Reihe von Entscheidungsprozessen möglich, für die man fünf, sechs Monate Durchhaltefähigkeit braucht. Es stimme i h n optimistisch, daß jetzt i n dieser Phase ein dringend erforderlicher Durchbruch erzielbar sei. Die strukturellen Verwerfungen seien nicht mit dem Übergang zu einer Währungsunion zuzukleistern.

W e t t b e w e r b s p o l i t i k versus I n d u s t r i e p o l i t i k Von E r h a r d

K a n t z e n b a c h , Hamburg

1. Die politische Dimension der Europäischen Integration Ich möchte mein Referat m i t einer politischen Prämisse beginnen, die für meine folgenden wirtschaftspolitischen Überlegungen grundlegend ist, die ich hier aber nicht näher erläutern und diskutieren w i l l . Ich gehe bei meinen Überlegungen davon aus, daß die Vertiefung und die Erweiterung der Europäischen Gemeinschaft auch i n Zukunft ein vorrangiges Ziel der deutschen Politik sein sollte. Dabei stehen für mich nicht die möglichen Effizienzgewinne durch die Integration der Produktmärkte und der Faktormärkte i m Vordergrund, sondern sicherheitspolitische, außenpolitische und außenhandelspolitische Gesichtspunkte. Ich b i n davon überzeugt, daß die europäischen Staaten ihre nationalen Interessengegensätze auf Dauer nur i n einer supranationalen politischen Gemeinschaft werden abbauen können. Ich b i n außerdem davon überzeugt, daß sie ihre gemeinsamen Interessen und Wertvorstellungen gegenüber anderen Kontinenten und Kulturkreisen nur durch eine gemeinsame Politik werden wirkungsvoll vertreten können. Ich glaube, die Prämisse am Anfang meines Referats hervorheben zu sollen, weil sie m i r heute nicht mehr selbstverständlich zu sein scheint. Bis vor wenigen Jahren war dies anders: da war die Integrationspolitik zwischen den maßgeblichen politischen Parteien und sonstigen Gruppen i n Deutschland unumstritten. Seit der Wiedervereinigung und seit den Diskussionen über die Europäische Währungsunion und den Vertrag von Maastricht ist dieses offenbar nicht mehr der Fall. I n zunehmendem Maße werden auch i n Deutschland Bedenken darüber geäußert, ob die Integrationspolitik w i r k l i c h i m nationalen Interesse sei. Insbesondere von Ökonomen w i r d die „Stabilitätskultur" einiger Partnerländer i n Zweifel gezogen, sowie ihre ordnungspolitische Prinzipientreue, und es w i r d eine stärkere Umverteilung von den reicheren zu den ärmeren Mitgliedstaaten befürchtet.

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Ich kann nicht bestreiten, daß grundsätzlich solche Risiken bestehen. Ich halte sie aber für so gering, daß sie angesichts der Vorteile der europäischen Integration hinnehmbar sind. Meines Erachtens würde eine Stagnation des Intergrationsprozesses sowohl die politische Stabilität als auch die wirtschaftliche Entwicklung i n Europa ernsthaft gefährden. Fortschritte bei der politischen und w i r t schaftlichen Integration sollten daher auch i n Zukunft energisch angestrebt werden. Mein grundsätzliches Eintreten für eine schrittweise politische Integration Europas impliziert kein Urteil über die anzustrebende Geschwindigkeit dieses Prozesses, das sog. „ t i m i n g " . Möglicherweise wurde durch den Vertrag von Maastricht die Bereitschaft der Bevölkerung zu nationalem Souveränitätsverzicht überfordert, und ein langsameres, gründlicher vorbereitetes Vorgehen wäre besser gewesen. Mein grundsätzliches Eintreten impliziert auch keine Stellungnahme über die anzustrebende Reihenfolge der Einzelschritte, das sog. „sequencing". Es gibt gute Gründe für die „Krönungstheorie" der Währungsunion - aber auch gute dagegen. Z u diesen Fragen w i l l ich hier nicht Stellung nehmen, denn sie gehören nicht zu meinem Thema. Andere werden darüber referieren. Aber das ist alles Schnee von gestern. M i t dem Maastricht-Vertrag sind diese politischen Entscheidungen gefallen und rechtlich verbindlich. Ich halte die Vorstellung, man könne nun einseitig diesen Vertrag aufkündigen oder sein Inkrafttreten verzögern - oder man könne darüber zwischen den Vertragspartnern Einigkeit erzielen - für unrealistisch. Mein grundsätzliches Eintreten für eine politische Union hat zwei wichtige Konsequenzen für die Beurteilung integrationspolitischer Einzelmaßnahmen. Es führt erstens zu der Konsequenz, daß Deutschland ebenso wie jeder andere Partnerstaat bereit sein muß, u m des vorrangigen Integrationszieles willen, bei Auffassungsunterschieden zwischen den Partnerstaaten i n Einzelfragen Kompromisse zu schließen. Diese Forderung bezieht sich vor allem auf die Ausgestaltung der zukünftigen gemeinsamen Ordnungspolitik. Insbesondere über das Verhältnis von Wettbewerb und Industriepolitik bestehen bekanntlich erhebliche Auffassungsunterschiede, vor allem zwischen Deutschland und Frankreich.

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Wir sollten dabei m.E. mit Nachdruck für die Durchsetzung unserer ordnungspolitischen Vorstellungen eintreten. Die Unterschiede sind aber m.E. nicht so groß, daß es zu rechtfertigen wäre, daran den Fortgang der europäischen Integration scheitern zu lassen. Beide Länder haben schließlich eine grundsätzlich marktwirtschaftliche Ordnung, und beide Länder hatten i n den letzten Jahren ähnliche Stabilitäts- und Wachstumserfolge und -rückschläge erlebt. M i r scheint, manchmal geraten i n der ordnungspolitischen Debatte diese grundsätzlichen Gemeinsamkeiten gegenüber den Gegensätzen i n Einzelfragen zu sehr i n den Hintergrund. Die zweite Konsquenz ist, daß die Erfolge gemeinsamer Wirtschaftspolitik nicht mehr nur am status quo ante jedes einzelnen Mitgliedslandes gemessen werden dürfen. Erfolgsmaßstab für einzelne Maßnahmen sollte vielmehr der Zielerreichungsgrad i n der Gesamtheit der Partnerstaaten sein. So wäre es für eine gemeinsame Stabilitätspolitik schon dann ein Erfolg, wenn die Inflationsrate i m Durchschnitt der Partnerländer gesenkt würde, auch wenn sie dabei i n einzelnen Ländern anstiege. Für das Land mit dem Stabilitätsverlust wäre die gemeinsame Stabilitätspolitik dann isoliert betrachtet zwar unattraktiv. Als Bestandteil einer umfassenden Integrationspolitik wäre sie jedoch hinnehmbar, wenn die Integration insgesamt dem betreffenden Land überwiegend Vorteile brächte. Daß dies die Regel ist, davon gehe ich i m weiteren aus.

2. Wettbewerbspolitik im europäischen Binnenmarkt I n bezug auf die Gestaltung der Wirtschaftsordnung entsprach die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft vor dem Vertrag von Maastricht weitgehend den herrschenden deutschen Vorstellungen. Jedenfalls waren die Vertragsbestimmungen mit der Konzeption der Sozialen M a r k t wirtschaft kompatibel. Die angestrebte Integration der einzelnen Volkswirtschaften wurde nach der Beseitigung der Handelschranken grundsätzlich den Marktkräften überlassen. U n d anders als i n der sechs Jahre zuvor gebildeten Montanunion verfügten die Organe der EWG nicht über ein rechtliches Instrumentarium zur Regulierung der Märkte. Ausnahmen bestehen lediglich für den Agrarsektor und den Verkehrssektor. Diese waren aber auch schon zuvor von den einzelnen Mitgliedstaaten einschließlich der Bundesrepublik - einer dichten Regulierung unterworfen.

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Der europäische Binnenmarkt erfordert einheitliche Rahmenbedingungen für den Binnenwettbewerb der Unternehmen. Diese betreffen weit mehr als das was man i n Deutschland i m allgemeinen als „Wettbewerbspolitik" bezeichnet. - Neben der Kontrolle von Wettbewerbsbeschränkungen privater U n ternehmen - umfassen sie die Kontrolle staatlicher Beihilfen an die jeweiligen nationalen Unternehmen, - und sie umfassen die weitestmögliche Aufhebung staatlicher Regulierung i n allen Wirtschaftszweigen. I n allen drei Bereichen sind i n den letzten Jahren neue Gemeinschaftskompetenzen geschaffen worden, und die zuständige Generaldirektion IV hat entsprechende Initiativen ergriffen. I m folgenden möchte ich alle drei Bereiche kurz analysieren und beurteilen.

2.1 Die Kontrolle privater Wettbewerbsbeschränkungen

I n bezug auf die Kontrolle privater Wettbewerbsbeschränkungen weist der EG-Vertrag große Ähnlichkeit m i t dem deutschen Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB) i n seiner ursprünglichen Fassung auf. Kartelle sind gemäß Art. 85 Abs. 1 EGV grundsätzlich verboten. Soweit sie aber „zur Verbesserung der Warenerzeugung oder »Verteilung oder zur Förderung des technischen oder wirtschaftlichen Fortschritts beitragen", können sie gemäß Abs. 3 unter bestimmten Voraussetzungen vom Verbot freigestellt werden. Von dieser Möglichkeit hat die Kommission durch Gruppen-Freistellungs-Verordnungen relativ großzügig Gebrauch gemacht. I m Prinzip entsprechen diese Freistellungen den Paragraphen 2 bis 8 des GWB, i n denen ebenfalls bestimmte Kartellformen vom allgemeinen Verbotsprinzip ausgenommen sind. Der wesentliche Unterschied liegt darin, daß die zulässigen Kartellformen i m deutschen Gesetz einzeln spezifiziert sind, während der EG-Vertrag den Wettbewerbsbehörden einen relativ weiten Ermessensspielraum läßt. Dieser Unterschied spielt auch i n der gegenwärtigen Diskussion über die Anpassung des deutschen Kartellgesetzes an das europäische eine große Rolle. Die Befürworter der Anpassung begrüßen die dadurch zu erreichende größere Flex i b i l i t ä t der Rechtsanwendung, die Gegner befürchten eine weitergehende Aufweichung des Verbotsprinzips.

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Ebenso wie i m deutschen Recht unterliegen auch i m europäischen Recht marktbeherrschende Unternehmen gemäß Art. 86 EGV einer Mißbrauchsaufsicht. I m Gegensatz zum EGKS- Vertrag sieht der EG-Vertrag jedoch keine Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen vor. Auch i n das deutsche GWB ist dieses Instrument erst m i t der zweiten Novelle von 1973 aufgenommen worden. Es hat sich seitdem aber sehr schnell als das wohl wichtigste und wirksamste Instrument der Wettbewerbspolitik i.e.S. erwiesen. Von seiten der Wissenschaft, vor allem aber auch von Seiten der deutschen Industrie ist das Fehlen einer gemeinschaftlichen Zusammenschlußkontrolle immer wieder beklagt worden. Die deutschen Unternehmen seien gegenüber ihren ausländischen Wettbewerbern diskriminiert, da diese auf ihren Heimatmärkten keiner bzw. keiner gleichermaßen wirksamen Kontrolle unterworfen seien. Diese Lücke hat der Rat der E G i m Dezember 1989 durch Erlaß einer „Verordnung über die Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen" (4064/89) geschlossen. Seitdem sind Zusammenschlüsse von Großunternehmen m i t grenzüberschreitenden Auswirkungen verboten, wenn sie eine marktbeherrschende Stellung i m Gemeinsamen M a r k t begründen oder verstärken. Insbesondere zwischen der deutschen und der französischen Regierung ist bis zuletzt u m die genaue Formulierung der Eingriffskriterien gerungen worden. Von französischer Seite wurde gegen den deutschen Widerstand eine Relativierung der reinen Wettbewerbskriterien durch industriepolitische Kriterien gefordert. Der i n Art. 2 Abs. 1 lit. b der Verordnung gefundene Kompromiß ist i n sich widersprüchlich, w e i l er versucht, die beiden gegensätzlichen Kriterien miteinander zu vereinbaren. Bei der Prüfung ist u.a. zu berücksichtigen: „ . . . die Entwicklung des technischen und wirtschaftlichen Fortschritts, sofern diese dem Verbraucher dient und den Wettbewerb nicht behindert". Man w i r d deshalb mit Aufmerksamkeit verfolgen müssen, wie die Kommission und gegebenenfalls der europäische Gerichtshof diese Formel anwendet. (Schmidt 1992) Gegenwärtig w i r d i n der Bundesrepublik intensiv über das Verhältnis der nationalen zur gemeinschaftlichen Wettbewerbspolitik diskutiert. Es geht dabei sowohl u m mögliche Änderungen des EG-Vertrages i m Rahmen der Maastricht I I Verhandlungen als auch u m eine geplante A n passungsnovelle zum GWB an das europäische Wettbewerbsrecht. Das Bundeswirtschaftsministerium hat dazu m i t dem Bundeskartellamt eine

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Arbeitsgruppe gebildet, deren Arbeit von einer Beraterguppe Rechts- und Wirtschaftswissenschaftlern begleitet wird.

aus

Kontrovers diskutiert werden dabei vor allem die folgenden Fragen: 1) Soll der Ausnahmekatalog vom Kartellverbot i m GWB durch eine Generalklausel wie i n Art. 85 I I I EGV ersetzt werden. (Darauf hatte ich bereits hingewiesen) 2) Soll der Wettbewerb auf ausländischen Märkten i n der Mißbrauchsaufsicht und i n der Zusammenschlußkontrolle stärker berücksichtigt werden? (Dies ist eine alte Forderung des BDI) 3) Soll die Aufgreifschwelle für die europäische Zusammenschlußkontrolle schon jetzt abgesenkt werden und damit die Kompetenz der EG-Kommission zu Lasten der nationalen Wettbewerbsbehörden erweitert werden? (Dies w i r d insbesondere von der EG-Kommission gefordert) 4) Sollen die wettbewerbspolitischen Einzelentscheidungen einer unabhängigen Wettbewerbsbehörde - ähnlich dem Bundeskartellamt übertragen werden? (Dies ist eine Forderung der Bundesregierung) Dabei ist streitig, ob die Entscheidungen einer politischen Korrekturmöglichkeit durch die Kommission unterliegen sollen - ähnlich der Ministerentscheidung gemäß § 24 Abs. 3 GWB. Eine weitgehende Anpassung des deutschen an das europäische Recht w i r d besonders von der Bundesregierung angestrebt und vom B D I nachdrücklich unterstützt. Neben allgemeinen integrationspolitischen Zielen spielen dabei Bestrebungen eine Rolle, durch Zentralisierung der Kontrolle (one stop shop) den administrativen Aufwand zu begrenzen. Beim B D I mag dabei die Hoffnung mitspielen, i n Brüssel besser wegzukommen als i n Berlin - obwohl das absolut nicht sicher ist. Skeptisch äußern sich dagegen vor allem Rechtswissenschaftler, die eine Aufweichung der bewährten, ordnungspolitisch relativ stringenten deutschen Wettbewerbspolitik befürchten (Mestmäcker, Möschel) Nach meinem Dafürhalten ist die Bundesregierung gut beraten, wenn sie die Durchsetzung ihrer wettbewerbspolitischen Zielvorstellungen nicht i m nationalen Alleingang, sondern innerhalb der Gemeinschaftspolitik sucht (Kantzenbach 1995, S. 631). Berücksichtigt man dazu die bisherigen Erfahrungen, so w i r d man ihr dabei auch gute Erfolgschancen einräumen. M.E. w i r d von vielen eher skeptischen deutschen Kollegen nicht hinreichend anerkannt, daß die deutsche Wettbewerbspolitik ebenso wie die deutsche Zentralbankpolitik - i n dieser Hinsicht bisher

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sehr erfolgreich war. Nicht nur, daß das europäische Wettbewerbsrecht dem deutschen mehr ähnelt als demjenigen irgend eines anderen M i t gliedstaates. Auch die ursprünglich sehr viel stärker industriepolitisch orientierten Systeme Frankreichs und Großbritanniens haben i m Laufe ihrer Entwicklung deutliche Schritte i n Richtung einer wettbewerblichen Orientierung vollzogen. (Schmidt, 1993, Kap. 9 und 10.) Alle übrigen 12 Mitgliedstaaten der EG (also ohne D, F, GB) haben i n den 90er Jahren Gesetze gegen Wettbewerbsbeschränkungen geschaffen bzw. novelliert und dabei mit der Ausnahme von Finnland, Dänemark und den Niederlanden auch eine Zusammenschlußkontrolle eingeführt meistens i n Anlehnung an die EG-Verordnung. Dabei ist m i r durchaus klar, daß nicht alles Gold ist, was glänzt. Berücksichtigt man außerdem, daß sowohl aufgrund technisch-ökonomischer als auch aufgrund integrationspolitischer Faktoren die w i r t schaftliche Verflechtung der Mitgliedstaaten weiter zunehmen wird, so spricht m.E. sehr viel für eine weitgehende Vereinheitlichung der Wettbewerbspolitik i n der Gemeinschaft; auch wenn diese gegenwärtig noch nicht i n allen Einzelheiten den deutschen Vorstellungen entspricht.

2.2 Initiativen zur Deregulierung

Grundlegende Unterschiede i m Recht der Wettbewerbsbeschränkungen zwischen der Bundesrepublik und der Europäischen Union bestehen i n bezug auf die sog. „Ausnahmebereiche". Während i n den §§ 99ff. GWB insbesondere Verkehrs- und Versorgungsunternehmen sowie Banken und Versicherungen vom allgemeinen Kartellrecht ausgenommen sind, existiert eine entsprechende Bestimmung i m EG-Vertrag nicht. I m Gegenteil: Art. 90 EG-Vertrag verpflichtet die Partnerstaaten, alle öffentlichen Unternehmen und Unternehmen, die mit öffentlichen Dienstleistungen betraut und denen besondere Rechte gewährt werden, den allgemeinen wettbewerbspolitischen Regeln des Vertrages zu unterwerfen. Die EU-Kommission ist gemäß Art. 90 Abs. 3 beauftragt, diese Bestimmungen durch Richtlinien und Entscheidungen durchzusetzen. Dementsprechend gingen und gehen die wichtigsten Impulse zur Deregulierung betreffender Wirtschaftszweige von der Kommission der E U aus. a) Schon i n den fünfziger Jahren setzten die damalige Hohe Behörde der Montan-Union und die Kommission der EWG i m Verkehrssektor 4 Konjunkturpolitik, Beiheft 44

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- zunächst die Nichtdiskriminierung von ausländischen Verladern - und dann die Auflockerung der starren Tarifstruktur durch Margentarife durch. Aufgrund der Einheitlichen Europäischen Akte von 1986 erfolgte sodann eine schrittweise Aufhebung einzelstaatlicher Beschränkungen i m Straßenverkehr, Binnenschiffsverkehr und i m Luftverkehr. b) I m Telekommunikationssektor sind w i r gegenwärtig Zeugen einer stürmischen technischen Entwicklung und der weitgehenden Liberalisierung eines vorher extrem rigiden Regulierungssystems. Auch hierzu gingen die wesentlichsten Impulse durch die E U - Kommission aus. Aufgrund von Art. 90 Abs. 3 ergingen - Richtlinien zur Öffnung des Endgerätemarktes 1988, - der Mehrwertdienste 1990, - der Satellitendienste 1994, - der Kabelfernsehnetze - und des Mobilfunks (1995). Die wichtigsten Schritte waren aber die Entschließungen des Rates von 1993 bzw. 1994, - auch die Basisdienste, also insbesondere den einfachen Telefondienst, und - alle Telekommunikationsnetze bis 1998 zu liberalisieren. Aufgrund dieser Entschließungen w i r d gegenwärtig i n Deutschland an einer entsprechenden Gesetzgebung gearbeitet. c) I m Gegensatz zur Telekommunikation konnte bei den leitungsgebundenen Energieträgern bisher noch kein Durchbruch erzielt werden. I n der Diskussion sind gegenwärtig verschiedene Liberalisierungsmodelle (Monopolkommission, 1994, TZ 766ff.), insbesondere - das Ausschreibungsmodell, bei dem ein räumliches Versorgungsmonopol zeitlich begrenzt aufgrund eines Ausschreibungswettbewerbs vergeben w i r d ; (Wettbewerb u m den Markt) - das Durchleitungsmodell, bei dem unter Beibehaltung der bestehenden Eigentumsstruktur Wettbewerb unter den Erzeugern durch die Durchleitungsverpflichtung der Netzbetreiber ermöglicht w i r d (third party access) und

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- das Poolmodell, das eine Entflechtung von Erzeugung, Transport und Verteilung vorsieht, wobei die Netzbetreiber als reines Transportunternehmen oder als Handelsunternehmen fungieren kann. Die EG-Kommission favorisiert gegenwärtig das Durchleitungsmodell. Dieses w i r f t zwar für die Aufsichtsbehörden erhebliche technische Probleme auf (Kapazitäts- und Kostenermittlung), scheint aber wegen Beibehaltung der Eigentumsstruktur gegenüber dem konsequenteren Poolmodell eher durchsetzbar. Dennoch ist die Kommission mit ihren Richtlinienentwürfen auf den energischen Widerstand der Elektrizitätswirtschaft und einiger Mitgliedsländer gestoßen. Insbesondere Frankreich versucht das nationale Monopol der Electricité de France bei Liberalisierung des Außenhandels wenigstens beim Transport und der Verteilung aufrecht zu erhalten (single buyer principle). Der zuständige Kommissar Karel van Miert hat jedoch keinen Zweifel daran gelassen, daß er auch gegen politischen Widerstand die Richtlinienkompetenzen der Kommission wahrzunehmen beabsichtigt. Zusammenfassend läßt sich feststellen, daß die Deregulierungspolitik - nicht zuletzt aufgrund der Initiativen der EG-Kommission - auch i n Deutschland während der 80er und 90er Jahre erheblich an wirtschaftspolitischer Bedeutung gewonnen hat. Dies kommt besonders auch i n dem Bericht der Deregulierungskommission und den Sonderkapiteln der Monopolkommission zum Ausdruck. Die „klassische" Wettbewerbspolitik ist demgegenüber durch die Globalisierung der Wirtschaft und die damit verbundene Wettbewerbsintensivierung vieler Märkte etwas i n den Hintergrund getreten.

2.3 Die Kontrolle staatlicher Beihilfen

Daß Subventionen den Handel i n ähnlicher Weise verzerren können wie einfuhrbeschränkende Maßnahmen, war schon bei der Gründung der Europäischen Gemeinschaft unumstritten. Art. 92 Abs. 1 des EWGVertrages schrieb daher schon damals fest, daß nationale Beihilfen, die den Wettbewerb verfälschen bzw. zu verfälschen drohen, grundsätzlich mit dem Gemeinsamen Markt unvereinbar sind, soweit sie den Handel zwischen Mitgliedstaaten beeinträchtigen. Andererseits können Subventionen der wirtschaftlichen Entwicklung i n den Mitgliedstaaten auch förderlich sein, wenn es ζ. B. darum geht, die Bereitsteller positiver externer Effekte zu entlohnen oder Marktunvollkommenheiten zu beseiti4*

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gen, die einem reibungslosen Strukturwandel i m Wege stehen. Aus diesem Grund sieht Art. 92 mehrere Ausnahmen von dem Beihilfeverbot vor. Vereinbar mit dem Gemeinsamen M a r k t sind soziale, schadensbeseitigende und nachteilsausgleichende Beihilfen, wie i m Abs. 2 aufgeführt sind. Weitere nationale Subventionen können gemäß Abs. 3 als mit dem Gemeinsamen M a r k t vereinbar erklärt werden. Art. 92 Abs. 3 bildet die Grundlage für eine diskretionäre Beihilfenkontrolle durch die EG-Kommission, und es ist durchaus umstritten, wie weit hier der Ermessensspielraum reicht. Seit Mitte der 80er Jahre hat die Kommission ihre Kompetenzen verstärkt wahrgenommen und so den Handlungsspielraum der Mitgliedstaaten bei der Subventionsvergabe deutlich eingeengt. Die Anstrengungen richteten sich dabei vor allem auf die Eindämmung der sektoralen Beihilfen zugunsten der klassischen Krisenbranchen. Prinzipiell verweigert w i r d die Genehmigung einzelstaatlicher Subventionen, wenn dadurch unrentable Unternehmen am Leben gehalten oder Überkapazitäten i n den notleidenden Branchen vergrößert würden (Ehlermann, S. 264ff., Petersen). M i t dieser Einengung der nationalen Autonomie wurde aber auch gleichzeitig der Spielraum der einzelnen Mitgliedstaaten für eine offensive Industrie- und Handelspolitik spürbar eingeengt. Gegenwärtig bemüht sich die zuständige Generaldirektion IV durch die Formulierung genereller Richtlinien der Forderung nach größerer Transparenz ihrer Entscheidungspraxis nachzukommen. Aus ordnungspolitischen Gründen sollen die neuen sogenannten „horizontalen" Beihilfen generelle Anwendung finden und die bisherigen sektorspezifischen Beihilfen ersetzen. Gearbeitet w i r d an Richtlinien zur Kontrolle regionaler Beihilfen, Beihilfen für kleine und mittlere Unternehmen und Beihilfen zur Förderung von FuE. Angesichts der starken Zunahme von Anträgen der Mitgliedstaaten plant die Kommission auch für Beihilfen Gruppenfreistellungsverordnungen zu erlassen. (WuW 3/96 S. 176) Die grundsätzliche Problematik der gemeinschaftlichen Beihilfenkontrolle sehe ich i n der restriktiven Formulierung der Art. 92 Abs. 1 und Abs. 3 lit. c. Die Kommission ist dadurch gezwungen, bei Untersagungen die Verfälschung des Wettbewerbs konkret nachzuweisen und ihr Ausmaß gegenüber den angestrebten einzelstaatlichen Zielen abzuwägen. Eine m.E. ordnungspolitisch wünschenswerte allgemeine Zurückdrängung der Beihilfenpraxis ist durch den Vertrag nicht gedeckt und würde gegen das Subsidiaritätsprinzip verstoßen.

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Immerhin stellt die Beihilfenkontrolle der EG m.W. den bisher einzigen systematischen Versuch dar, das Subventionsunwesen i n den Griff zu bekommen. Es wäre wünschenswert, wenn auch auf einzelstaatlicher Ebene entsprechende Initiativen unternommen würden. Der Vorschlag von Möschel zu einem Subventionsbegrenzungsgesetz scheint mir dazu ein fruchtbarer Ansatz zu sein. (Möschel 1995 II) Von deutscher Seite - und zwar sowohl von der Wissenschaft als auch von der Regierung und den Wirtschaftsverbänden - sind diese drei Arten von ordnungspolitischen Maßnahmen grundsätzlich unterstützt worden. Vorherrschend war die Auffassung, daß eine Harmonisierung der wettbewerbspolitischen Rahmenbedingungen sich zugunsten der deutschen Unternehmen i m Gemeinsamen Markt auswirken würde. Das deutsche Wettbewerbsrecht galt als das schärfste und die deutsche Subventionspraxis als relativ zurückhaltend.

3. Die gemeinsame Industriepolitik Ordnungspolitische Bedenken hervorgerufen hat jedoch die Ergänzung des bisherigen wettbewerbspolitischen Instrumentariums durch die neuen industrie- und forschungspolitischen Kompetenzen der Gemeinschaftsorgane. Diese wurden aufgrund der Einheitlichen Europäischen Akte und des Vertrages von Maastricht i n den Vertragstext aufgenommen. Viele, insbesondere deutsche Autoren befürchten dadurch eine Modifikation der marktwirtschaftlichen Ordnung der E G zu mehr Intervention und Lenkung durch eine supranationale Bürokratie. (Schmidt 1992, Oberenderund Danmann 1992, S. 43ff.) Die rechtlichen Grundlagen für eine europäische Industriepolitik werden durch den 1992 geschlossenen Vertrag von Maastricht gelegt. I n den EG-Vertrag wurde ein Art. 3 lit. 1 eingefügt, durch den „die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit der Industrie der Gemeinschaft" ausdrücklich zum Vertragsziel erklärt wird. Die entsprechenden Aufgaben und Kompetenzen der Gemeinschaft werden i n dem neu gefaßten Art. 130 präzisiert. U m die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Industrie zu gewährleisten, sollen - die Anpassungsfähigkeit der Industrie an strukturelle Veränderungen, - die Entwicklung insbesondere kleinerer und mittlerer Unternehmen, - die Zusammenarbeit zwischen den Unternehmen sowie

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- die bessere industrielle Nutzung von Innovationen, Forschung und technologischer Entwicklung gefördert werden. I n voraufgehenden A r t i k e l n 129 b - d und i n den folgenden Artikeln 130 a-p befinden sich detaillierte Bestimmungen - erstens zur Förderung des wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalts durch Einsatz verschiedener Fonds (Strukturfonds, Ausrichtungs- und Garantiefonds, Sozialfonds und Fonds für regionale Entwicklung) und - zweitens zur Förderung von Forschung und technologischer E n t w i c k lung, insbesondere durch die schon seit längerem praktizierten Rahmenprogramme; (Kantzenbach und Pfister, S. 59ff.) - drittens, über die Förderung transeuropäischer Netze bei Verkehr, Telekommunikation und Energie. Durch diese neuen Vertragsbestimmungen wurden die ordnungspolitischen Kompetenzen der Gemeinschaftsorgane nachhaltig erweitert und gestärkt. Beklagt w i r d häufig, daß damit zwangsläufig ein Verlust ordnungspolitischer Autonomie der einzelnen Mitgliedstaaten verbunden ist. Das ist zweifellos so, und es ist von den Mitgliedstaaten politisch auch so gewollt. Die zentrale Frage ist jetzt, i n welcher Weise die Gemeinschaftsorgane ihre neuen Kompetenzen einsetzen werden. Werden sie sie zur Stärkung und Vervollständigung gemeinsamer wettbewerbspolitischer Rahmenbedingungen einsetzen oder zu ergebnisorientierten Interventionen i n die Marktprozesse? Der Wortlaut der Vertragsbestimmungen läßt i n bestimmten Grenzen beide Entwicklungen zu. A n vielen Stellen zeigt er deutlich den Charakter eines politischen Kompromisses. Entscheidend w i r d deshalb die Interpretation i m Einzelfall sein. Aufgrund unterschiedlicher Denktraditionen und bisheriger Politiken w i r d es darüber häufig Meinungsverschiedenheiten geben. Deutschland und Frankreich können dabei als Exponenten gegensätzlicher „Philosophien" gelten. Das Denken i n Wirtschaftsordnungen, wie es sich i m Nachkriegsdeutschland unter dem Einfluß der Freiburger Schule entwickelt hat, ist i n Frankreich, aber auch i n England weitgehend unbekannt. Es gilt als dogmatisch und zu wenig problembezogen. (Ehlermann, S. 255; van Miert, S. 553)

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Die französische Politik hat zunächst auf die amerikanische und dann auf die japanische Herausforderung mit der Förderung von Unternehmenszusammenschlüssen und der Subventionierung nationaler Champions reagiert. Dazu werden ihr durch die neue Gemeinschaftspolitik zunehmend die Möglichkeiten genommen - insbesondere durch die Zusammenschlußkontrolle und die Beihilfenkontrolle der Kommission. Es ist deshalb nur zu verständlich - obgleich aus unserer Sicht nicht vertretbar - , wenn die französische Regierung nun versucht, ihre bisherige Konzeption auf der Gemeinschaftsebene durchzusetzen. Bezeichnend dafür ist ihre heftige Reaktion auf die Untersagung des Zusammenschlusses der Flugzeugproduzenten Alenia, Aerospaciale und de Havilland. Kontrovers diskutiert w i r d i n diesem Zusammenhang vor allem das Verhältnis von Industriepolitik zur Wettbewerbspolitik der Gemeinschaft. Nach Auffassung der für die Wettbewerbspolitik zuständigen Generaldirektion IV ist durch die Industriepolitik der Gemeinschaft keine Beeinträchtigung des Wettbewerbs zu befürchten. Die Industriepolitik habe vielmehr die Aufgabe, durch den Ausbau der technischen und der institutionellen Infrastruktur sowie durch die Verbesserung der Anpassungsflexibilität der Unternehmen die Rahmenbedingungen für den Wettbewerb zu verbessern. I m übrigen werden i n Art. 130 Abs. 1 und Abs. 3 „das System offener und wettbewerbsorientierter Märkte" ausdrücklich als Ziel genannt bzw. „Wettbewerbsverzerrungen" durch die Industriepolitik ausgeschlossen (Ehlermann, S. 258). Dieser Interpretation entspricht das sog. „Bangemann-Papier": „Die europäische Industriepolitik für die 90er Jahre" (Bulletin der EG, Beilage 3/91). Die angefügten sog. „Sektorenpapiere" für die Informationsund Gentechnik sind allerdings i n dieser Hinsicht nicht so eindeutig und deshalb geeignet, ordnungspolitische Bedenken zu wecken. Ich teile die Auffassung fast aller deutscher Fachkollegen, daß sich die Bundesregierung mit Nachdruck für die Durchsetzung der ordnungspolitischen Prinzipien einer Sozialen Marktwirtschaft und einer liberalen Außenhandelspolitik auf Gemeinschaftsebene einsetzen sollte. Eine branchenspezifische Industriepolitik würde der statischen und dynamischen Effizienz unseres Wirtschaftssystems und damit seiner internationalen Wettbewerbsfähigkeit eher schaden als nützen. Aber - wie ich schon sagte - i n der Praxis scheinen mir die Gegensätze nicht so scharf zu sein wie i n der Ideologie oder, wie man i n Brüssel sagen würde, i n der „Philosophie". Keinesfalls würden sie es m.E. rechtfertigen, den Fort-

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gang des Integrationsprozesses daran scheitern zu lassen. Es kann m.E. aus europäischer Sicht auch nicht als Mißerfolg beurteilt werden, wenn die deutsche ordnungspolitische Konzeption nun nicht i n voller Reinheit durchgesetzt werden kann.

4. Zusammenfassung Ich fasse zusammen: 1. Aus außen- und sicherheitspolitischen Gründen ist eine Politik fortschreitender Integration i n Europa für Deutschland vordringlich. Diese Auffassung w i r d von den politischen Parteien übereinstimmend vertreten. Sie darf auch von den Ökonomen aus fachlicher Beschränkung nicht vernachlässigt werden. 2. Bei fortschreitender Integration ist auch eine Harmonisierung der Wirtschaftsordnungspolitik aus Effizienzgründen geboten. Sie erfordert die Bereitschaft zu Kompromissen zwischen den Zielvorstellungen der einzelnen Partner. Angesichts der grundsätzlich m a r k t w i r t schaftlichen Orientierung aller Partner sollten Kompromisse i n Einzelfragen nicht unmöglich sein. 3. I m Rahmen der Harmonisierung der Wettbewerbspolitik der Union sollte Deutschland folgende Ziele anstreben: a) eine weitgehende Angleichung der nationalen Wettbewerbsgesetze an die Art. 85 und 86 EUV sowie an die Fusionskontrolle-VO 4064/ 89, wobei auf eine strenge Interpretation der Bestimmungen durch die Kommission zu achten ist; b) die Unterstützung der politischen Initiativen der Kommission zur Deregulierung der sog. „Ausnahmebereiche", insbesondere der Verkehrs-, Energie- und Telekommunikations Wirtschaft; c) Die Unterstützung der Politik der Kommission zur restriktiven Kontrolle staatlicher Beihilfen für Unternehmen der betreffenden Länder. 4. Deutschland sollte darüber hinaus dafür eintreten, daß die gemeinschaftliche Industriepolitik sich darauf konzentriert, die internationale Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen durch sog. „horizontale" Maßnahmen zu stärken. Darunter fallen insbesondere:

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a) die funktionsgerechte Gestaltung der allgemeinen Rahmenbedingungen i m Binnenmarkt, b) eine verstärkte Förderung der Forschungsaktivitäten i n anwendungsorientierten, aber marktfernen Bereichen.

Literatur Ehlermann, Claus Dieter (1994): Zur Wettbewerbspolitik und zum Wettbewerbsrecht der Europäischen Union, Hamburger Jahrbuch für Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik , S. 255ff. Kantzenbach, S.213ff.

Erhard (1995): Diskussionsbeitrag zu Mestmäcker (1995) a. a. O.,

- (1993): Der Wirtschaftsstandort Deutschland i m internationalen Standortwettbewerb, Wirtschaftsdienst, Heft 12, S. 625ff. Kantzenbach, Erhard / Pf ister, Marisa (1995): Nationale Konzeptionen der Technologiepolitik i n einer globalisierten Weltwirtschaft, HWWA-Report 154, Hamburg. Mestmäcker, Ernst Joachim (1995): Wettbewerbsrecht und Wettbewerbspolitik i n der Europäischen Union, in: Gerken, Lüder: Europa zwischen Ordnungswettbewerb und Harmonisierung, Berlin u.a., S. 199Iff. Möschel, Wernhard (1995 I): Anpassung des GWB an das Europäischse Wettbewerbsrecht. Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht, Heft 24, S. 817ff. - (1995 II): Den Staat an die Kette legen - Gegen die Aushöhlung des Wettbewerbs durch den Staat, Frankfurter Institut (Kronberger Kreis), Frankfurt. Monopolkommission (1992): Wettbewerbspolitik oder Industriepolitik, Hauptgutachten 9, Baden-Baden, S. 373ff. - (1994): Mehr Wettbewerb auf allen Märkten, Hauptgutachten 10, Baden-Baden, S. 324ff. Oberender; Peter / Danmann, Frank (1995): Industriepolitik, München. Petersen, Asgar (1993): Die Kontrolle nationaler Beihilfen durch die Kommission der Europäischen Gemeinschaften, in: BDI, EG-Beihilfenpolitik i m Prozeß der europäischen Integration, Köln. Schmidt, Ingo (1992): EG-Integration: Industriepolitik versus Wettbewerbspolitik, in: Bareis, P. und Ohr, R.: Europäische Integration auf Abwegen, Hohenheim, S. 39ff. - (1993): Wettbewerbspolitik und Kartellrecht. 4. Aufl., Stuttgart. Van Miert, Karel (1995): Die Wettbewerbspolitik der neuen Kommission, Wirtschaft und Wettbewerb, Heft 7/8, S. 553ff.

W e t t b e w e r b s p o l i t i k versus I n d u s t r i e p o l i t i k i n d e r E G Korreferat zu E r h a r d Kantzenbach Von I n g o S c h m i d t , Hohenheim

1. Industriepolitische Implikationen des Vertrags von Maastricht Die Kontroverse über die Europäische Industriepolitik ist älter als die Gemeinschaft selbst. Schon der erste europäische Integrationsschritt, die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl, läßt sich auf industriepolitische Motivationen zurückführen. 1 Obwohl der EWG-Vertrag i n der Fassung von Rom für die Gemeinschaft kein ausdrückliches industriepolitisches Mandat vorsah, entwickelte die Europäische Kommission zu Beginn der sechziger Jahre die ersten industriepolitischen Programme. Aus deutscher Sicht stießen diese industriepolitischen Bestrebungen i n der politischen, wie auch wirtschaftswissenschaftlichen Debatte - nicht zuletzt aufgrund des vorherrschenden ordoliberalen Vorverständnisses - stets auf Unbehagen. 2 Erinnert sei an dieser Stelle nur an das Rededuell zwischen Walter Hallstein und L u d w i g Erhard i m Europäischen Parlament 1962. Trotz aller ordnungspolitischen Bedenken haben die Gemeinschaftsorgane, von der Öffentlichkeit eher unbemerkt, ihre industriepolitischen Aktivitäten immer weiter ausgedehnt. M i t der Verabschiedung der Einheitlichen Europäischen Akte 1986 wurden erstmals auch die vertraglichen Grundlagen für eine Europäische Industriepolitik m i t der Erschließung neuer gemeinschaftsweiter Tätigkeitsfelder vor allem i m Bereich der Forschungs- und Technologiepolitik gelegt. 3 Eine neue Qualität der Auseinandersetzung ergab 1 Vgl. Kipping, Matthias, Zwischen Kartellen und Konkurrenz: Der SchumanPlan und die Ursprünge der europäischen Einigung 1944-1952, Berlin 1996, S. 68 ff. 2 Vgl. hierzu stellvertretend Röpke, Wilhelm, Europäische Investitionsplanung: Das Beispiel der Montanunion, in: ORDO - Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und,Gesellschaft 7 (1955), S. 71 ff., und Kieps, Karlheinz, Zur Konkurrenz wirtschaftspolitischer Konzeptionen i n der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, in: ORDO - Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft 15/ 16(1965), S. 275 ff.

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sich mit der Verabschiedung des Union-Vertrags von Maastricht. Während Art. 3 lit. f EWGV a.F. die Errichtung eines Systems vorsah, „das den Wettbewerb innerhalb des Gemeinsamen Marktes vor Verfälschungen schützt" - und damit das Wettbewerbsprinzip zum Grundpfeiler der Europäischen Wirtschaftsordnung machte - sieht Art. 3 lit. 1 EGV n.F. ausdrücklich „die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit der Industrie der Gemeinschaft" vor. Damit werden i n Art. 3 EGV n.F. das Wettbewerbsprinzip und das als Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit der Industrie der Gemeinschaft umschriebene Prinzip der Industriepolitik gleichgestellt. M i t anderen Worten bedeutet dies nichts anderes, als daß ein ordnungspolitischer Paradigmen Wechsel vollzogen wurde (!). Konkretisiert werden die industriepolitischen Zielvorstellungen i m neu eingeführten Titel X I I I „Industrie" (Art. 130 EGV). Die Gemeinschaft, wie auch die Mitgliedstaaten, werden mit der Entwicklung einer Industriepolitik beauftragt. Damit hat die Industriepolitik als ein konstitutives Element der gemeinschaftlichen Wirtschaftspolitik Verfassungsrang erhalten. 4 Grundlage der industriepolitischen Zielsetzung des Maastrichter Vertrags bildet das Vorverständnis der Vertragsstaaten, daß sich die europäische Industrie i n einer sich zuspitzenden Lage befindet und i n ihrer internationalen Wettbewerbsfähigkeit bedroht sei. Aus dem drohenden Verlust an Wettbewerbsfähigkeit w i r d die Notwendigkeit einer gemeinschaftlichen Industriepolitik abgeleitet. I m Rahmen der Diskussion „Industriepolitik versus Wettbewerbspolit i k i n der E G " stehen zwei Fragestellungen i m Mittelpunkt: 1. Welche ökonomischen Argumente pro und contra einer europäischen Industriepolitik können abgeleitet werden? 2. Inwieweit gefährdet eine Europäische Industriepolitik die Wettbewerbsordnung der Gemeinschaft? Auf diese beiden Fragestellungen möchte ich nun folgend eingehen.

3 Vgl. Starbatty, Joachim, und Uwe Vetterlein, Die Technologiepolitik der Europäischen Gemeinschaft, Baden-Baden 1990, S. 27. 4 Vgl. Monopolkommission, I X . Hauptgutachten 1990/91: Wettbewerbspolitik oder Industriepolitik, Baden-Baden 1992, Rdnr. 28; Streit, Manfred E., A m Beginn einer europäischen Industriepolitik, in: Volkswirtschaftliche Korrespondenz der Adolf-Weber- Stiftung 31 (1992), und Vetterlein, Uwe, Die Industriepolitik der Europäischen Gemeinschaft - Implikationen der Maastrichter Beschlüsse, in: LIST Forum für Wirtschafts- und Finanzpolitik 18 (1992), S. 215.

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2. Argumente pro und contra Europäische Industriepolitik 2.1 Argumente pro EG-Industriepolitik

Wenn man nach der ökonomisch-theoretischen Rechtfertigung einer stärker industriepolitisch orientierten Politik fragt, stößt man seit Jahrzehnten weltweit immer wieder auf die gleichen Argumente: (1) M i t zunehmender Produktionsmenge träten economies of scale und Lernkosteneffekte auf. Dabei w i r d außer acht gelassen, daß nach Erreichen einer mindestoptimalen Betriebsgröße Kostenersparnisse praktisch nicht mehr realisierbar sind, vielmehr die Gefahr von dieseconomies of scale bzw. von X-Ineffizienzen i.S. von Leibenstein besteht, die zu steigenden Kosten führen. 5 Auch Lernkosteneffekte, die etablierten Unternehmen einen Wettbewerbsvorteil gegenüber Newcomern geben, sind nicht beliebig vermehrbar; vielmehr sinkt das Potential für Kostenersparnisse durch learning by doing i m Zeitablauf, da die ständige Wiederholung der Produktionsabläufe immer weniger neue Erfahrungen mit sich bringt. (2) Kostenvorteile großer gegenüber kleineren Unternehmen aufgrund von Verbundvorteilen (sog. economies of scope); diese Synergieeffekte spielen aber offensichtlich mehr i n den Lehrbüchern als i n der w i r t schaftlichen Praxis eine Rolle. (3) I m Falle vertikaler Integration w i r d mit Transaktionskostenersparnissen argumentiert, die zwar auftreten können, aber nicht auftreten müssen. Dem stehen jedoch steigende Koordinations- und Organisationskosten gegenüber, so daß ζ. B. die deutsche Automobilindustrie nach dem Vorbild der Japaner die vertikale Integration weitgehend rückgängig macht. (4) I m Mittelpunkt der Europäischen Industriepolitik steht vor allem die Stärkung bzw. Förderung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit der Industrie der Gemeinschaft. Es w i r d damit implizit unterstellt, daß zwischen Aufrechterhaltung wirksamen Wettbewerbs und der internationalen Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen Zielkonflikte auftreten können; eine strenge Fusionskontrolle könne daher die internationale Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Unternehmen gefährden (so auch die K r i t i k an der de Havilland-Entscheidung). 5

Vgl. Leibenstein, Harvey, Allocative Efficiency vs. „X-Efficiency", in: American Economic Review 56 (1966), S. 392 ff., und Schmidt, Ingo, und André Schmidt, X-Ineffizienz, Lean Production und Wettbewerbsfähigkeit, in: Wirtschaftswissenschaftliches Studium 25 (1996), S. 65 ff.

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Die empirischen Studien von Michael Porter belegen jedoch, daß die internationale Wettbewerbsfähigkeit neben der Leistungsfähigkeit eines Unternehmens, gemessen an der Produktivität, von Einflußfaktoren abhängt, die primär mit der relativen oder absoluten Größe eines Unternehmens nichts zu t u n haben. 6 Auch haben die empirischen Untersuchungen i m Zusammenhang mit den Neo-Schumpeter-Hypothesen gezeigt, daß die Innovationsaktivität eines Unternehmens nicht von seiner absoluten oder relativen Größe determiniert wird, sondern seine Fähigkeit, produktivitätssteigernde Innovationen durchzuführen, maßgeblich von den technologischen Bedingungen und der Nachfragestruktur der jeweiligen Industrie abhängt. 7 (5) I n neuerer Zeit werden häufig die Aussagen der Neuen Wachstumstheorie zur Rechtfertigung industriepolitischer Aktivitäten herangezogen. I m Mittelpunkt stehen dabei externe Effekte von Investitionen i n materielles und immaterielles Kapital, die Bildung von Humankapital, Infrastrukturmaßnahmen sowie Anreize für Forschung und technologische Entwicklung. 8 Aufgrund der bisher jedoch fehlenden empirischen Überprüfbarkeit der Zusammenhänge muß vor einer allzu optimistischen Einschätzung bezüglich der Wachstumseffekte einer strategischen Industriepolitik gewarnt werden. Vielmehr gilt auch i m Beziehungszusammenhang der Neuen Wachstumstheorie, daß für höhere Wachstumsraten die marktlichen Prozesse weiterhin die vorrangige Rolle spielen, die durch staatliche Entscheidungen nicht substituiert werden können. 9 Die hier vorgebrachten Rechtfertigungsgründe für eine Industriepolit i k sind alle insgesamt mehr oder minder fragwürdig, so daß sich die Frage nach dem Nutzen einer Industriepolitik überhaupt stellt.

6 Vgl. Porter, Michael, The Competitive Advantages of Nations, New York et al. 1990, S. 71. 7 Vgl. Schmidt, Ingo, und Stefan Elßer, Innovationsoptimale Unternehmensgrößen und Marktstrukturen: Die Neo-Schumpeter-Hypothesen, in: Wirtschaftswissernschaftliches Studium 19 (1990), S. 556 ff. 8 Vgl. Erber, Georg, Harald Hagemann und Stephan Seiter, Zur Industriepolitik i n Europa, DIW-Diskussionspapier Nr. 129, Berlin 1996, S. 12. 9 Vgl. Erber, Georg, Harald Hagemann und Stephan Seiter, op. cit., S. 14.

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2.2 Argumente contra EG-Industriepolitik

Eine Industriepolitik führt zudem zu erheblichen Eingriffen i n den auf dem Wettbewerbsprinzip basierenden Allokationsmechanismus. Dabei verdienen folgende Punkte besondere Beachtung: (1) Eine F & E Politik als vorausschauende und gestaltende Industriepolitik setzt das Wissen u m die zukunftsträchtigen Branchen und insbesondere Technologien voraus, was Friedrich August von Hayek als A n maßung von Wissen bezeichnet h a t . 1 0 (2) Wettbewerb kontrolliert nicht nur Preise und Gewinne, sondern übt auch einen Druck auf die Kosten aus. Diese Kostenkontrollfunktion geht bei einer staatlichen Industriepolitik verloren. (3) Eine vorausschauende gestaltende Industriepolitik setzt ein konsistentes theoretisches Konzept voraus. E i n solches Konzept ist jedoch bis heute nicht existent. (4) Industriepolitik funktioniert erfahrungsgemäß nur i n Zusammenarbeit zwischen Staat und Großindustrie, auch wenn Art. 130 f EGV i n Absatz 2 auf die Unterstützung kleinerer und mittlerer Unternehmen hinweist. Die kleineren und mittleren Unternehmen, die erfahrungsgemäß am innovativsten (zumindest i n der Inventionsphase) sind und für die Mehrzahl der Arbeitsplätze i n der Bundesrepublik sorgen, haben über ihre Steuern die Subventionen für die Großindustrie aufzubringen, von denen sie selbst aus vielfältigen strukturellen Gründen faktisch ausgeschlossen sind. (5) Gemeinschaftsweite industriepolitische Aktivitäten setzen immer politische Entscheidungsprozesse voraus. Damit erweist sich jedoch die Industriepolitik als ein ausgezeichneter Nährboden zur Durchsetzung von Partikularinteressen.

3. Gefährdung der Wettbewerbsordnung durch EG-Industriepolitik Die Beantwortung der zweiten Frage, inwieweit eine EG-Industriepol i t i k i m Widerspruch zur Wettbewerbsordnung steht, bezieht sich hauptsächlich auf ordnungspolitische Aspekte. Industriepolitische Maßnahmen geraten zwangsläufig mit der Wettbewerbsordnung i n Konflikt. D i rigismus, Protektionismus und Interventionismus sind allesamt unver10 Vgl. Hayek , Friedrich August von, Wettbewerb als Entdeckungsverfahren, Kieler Vorträge N.F. 56, Tübingen 1968.

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meidbare Begleiterscheinungen industriepolitischer Bestrebungen, die dazu geeignet sind, die Wettbewerbsordnung auszuhebeln. I n Anbetracht der knappen Zeit möchte ich mich i n meiner Darstellung auf zwei wesentliche Punkte beschränken. Meines Erachtens zeigt sich der Konflikt zwischen Industriepolitik und Wettbewerbsordnung hauptsächlich i n der Anwendungspraxis der Europäischen Fusionskontrolle und ihren institutionellen Schwächen, sowie i n den extensiven Rahmenprogrammen.

3.1 Fusionskontrolle

Gemäß Art. 2 Absatz 3 FKVO sind Zusammenschlüsse, die eine beherrschende Stellung begründen oder verstärken, durch welche wirksamer Wettbewerb erheblich behindert wird, für unvereinbar m i t dem Gemeinsamen M a r k t zu erklären (Wettbewerbsklausel). Bei der Prüfung der Vereinbarkeit eines Zusammenschlusses m i t dem Gemeinsamen Markt hat die Kommission jedoch gemäß Art. 2 Abs. 1 lit. b FKVO darüber hinaus auch „die Entwicklung des technischen und wirtschaftlichen Fortschritts, sofern diese dem Verbraucher dient und den Wettbewerb nicht behindert" zu berücksichtigen. Diese Klausel billigt der Kommission einen grundsätzlichen Ermessensspielraum bei der Berücksichtigung industriepolitischer Ziele zu. Institutionell krankt die Europäische Fusionskontrolle daran, daß die Entscheidungen nicht von sachverständigen Beamten oder Richtern getroffen werden, sondern von den Kommissaren, die aus der Politik kommen. Dies führt zwangsläufig zu einer Politisierung des Entscheidungsverfahrens, was eine verstärkte Berücksichtigung industriepolitischer Motive i n der Entscheidungspraxis zur Folge hat. So wurden i n vier Fällen Unternehmenszusammenschlüsse trotz erheblicher wettbewerbspolitischer Bedenken aufgrund politischer Einflußnahmen genehmigt. Die Fusionsentscheidung Alcatel/ AEG Kabel kam nur aufgrund des politischen Drucks der französischen Regierung zustande. I n der Fusionsentscheidung Mannesmann/Vallourec/Ilva haben sich ebenfalls die Industriepolitiker gegen die Wettbewerbspolitiker i n Brüssel durchgesetzt. Die Motive der Industriepolitiker galten dem Aufbau einer konkurrenzfähigen europäischen Stahlindustrie zur Abwehr japanischer Stahlimporte. Aber auch die Bundesregierung hat sich, was politische Interventionen betrifft, wahrlich nicht zurückgehalten. I m Fall K a l i + S a l z / M D K / Treuhand ging es vor allem die Erhaltung industrieller Kerne i n den

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neuen Bundesländern und i m Fall Mercedes-Benz/Kässbohrer erfolgten die politischen Interventionen vor allem aus arbeitsmarkt- und regionalpolitischen Gründen. Insgesamt läßt sich festhalten, daß mit der Politisierung des Entscheidungsverfahrens der Europäischen Fusionskontrolle die Aushöhlung der Wettbewerbsregeln einhergeht, obwohl die Wettbewerbsregeln als Rechtsanwendung und nicht als politische Handlungsanweisung konzipiert worden sind.

3.2 Rahmenprogramme

Der Wettbewerbsordnung der Gemeinschaft droht jedoch nicht nur Gefahr durch die Politisierung der Entscheidungspraxis i n der Europäischen Fusionskontrolle, sondern auch durch extensive Rahmenprogramme. Besonders hervorzuheben sind die Fördermaßnahmen i m Bereich Forschung und Technologie, die als auf wirtschaftliche Modernisierung gerichtete Industriepolitik interpretiert werden können. 1 1 Grundlage für die Forschungs- und Technologiepolitik der Gemeinschaft bildet das Verständnis, daß der Wettbewerb als Entdeckungsverfahren allein nicht ausreicht, u m technologischen Fortschritt zu generieren. I n Anlehnung an das angeblich so erfolgreiche japanische M I T I bedarf es der Institution der Kommission, die finanzielle und geistige Ressourcen zusammenführt und technologische Möglichkeiten vorgibt. Obwohl die Ergebnisse der Forschungs- und Technologiepolitik bisher i m Verhältnis zum Aufwand recht bescheiden ausgefallen sind, scheut sich die Kommission nicht davor, die Finanzvolumina ständig auszuweiten. Die Gesamtaufwendungen vom zweiten Rahmenprogramm (19871991) bis h i n zum vierten Rahmenprogramm (1994-1998) haben sich mehr als verdoppelt. Dabei haben die letzten beiden Rahmenprogramme keineswegs die Entwicklung neuer Technologien angestoßen. Vielmehr haben sie zu einer Verstärkung der Wettbewerbsverzerrungs- und Konzentrationsförderungseff ekte beigetragen. 12

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Vgl. Starbatty, Joachim, und Uwe Vetterlein, Forschungs- und Technologiepolitik der Europäischen Union, in: Aus Politik und Zeitgeschichte - Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament vom 09. 06. 1995, S. 3 ff. 12 Vgl. Eickhof, Norbert, Die Industriepolitik der Europäischen Union, Volkswirtschaftliche Diskussionsbeiträge der Universität Potsdam Nr. 6, Potsdam 1996, S. 30. 5 Konjunkturpolitik, Beiheft 44

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Es ist daher fraglich, ob eine weitere Mittelaufstockung effizientere Ergebnisse hervorbringt. Vielmehr ist zu befürchten, daß sich die technologischen Aktivitäten der Gemeinschaft mehr und mehr ausdehnen und nationale und private Forschungsinitiativen verdrängen.

4. Abschließende Würdigung Die Frage nach dem Spannungsfeld zwischen Wettbewerbspolitik und Industriepolitik kann - wie es Möschel empfohlen hat - unter zwei Perspektiven beantwortet werden: der Gesundbeter-Interpretation oder der Kassandra-Interpretation. 1 3 Die Gesundbeter-Interpretation geht davon aus, daß die i m Vertrag von Maastricht eingebauten Kautelen ausreichend sind, einer allzu interventionistischen Industriepolitik einen Riegel vorzuschieben. 14 Unter Berücksichtigung der gegenwärtigen Entwicklungen ist jedoch eher von der Kassandra-Interpretation auszugehen. Dies zeigt sich nicht zuletzt i n den jüngsten Vorstößen der Kommission bezüglich einer angedachten Gruppenfreistellungsverordnung für Beihilfen 1 5 oder den Bestrebungen der angeschlagenen europäischen Rüstungsindustrie, verstärkt Fördermittel zu gewähren. 1 6 Gerade i m letzt genannten Fall w i r d deutlich, daß eine EG-Industriepolitik eben nicht nur wachstumsträchtige Schlüsselindustrien fördern soll, sondern vor allem auch der Strukturerhaltung und Strukturkonservierung dient. Der erkennbare industriepolitische Ansatz verfolgt nicht den Zweck, Interventionen und Subventionen abzuschaffen, sondern sie zu harmonisieren und zu vergemeinschaften. 17 Damit w i r d i m Ergebnis die Wettbewerbsordnung ausgehöhlt, was auch darin zum Ausdruck kommt, daß die Wettbewerbspolitik als Teil der Industriepolitik angesehen w i r d . 1 8

13 Vgl. Möschel, Wernhard, EG-Industriepolitik nach Maastricht, in: ORDO Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft 43 (1992), S. 415 ff. 14 Vgl. Hommelhoff, Peter, Industriepolitik versus Wettbewerbspolitik i m Maastricht-Vertrag, in: ders. und Paul Kirchhof (Hrsg.), Der Staatenverbund der Europäischen Union, Heidelberg 1994, S. 131 ff. is Vgl. Handelsblatt vom 26. 02. 1996. 16 Vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 26. 01. 1996. ι 7 Vgl. Gröner, Helmut, Integrationsmerkmale und Integrationsmethoden: Die ordnungspolitische Konzeption der EG i m Wandel, in: ders. und Alfred Schüller (Hrsg.), Die europäische Integration als ordnungspolitische Aufgabe, StuttgartJena-New York 1993, S. 3 ff. 18 Vgl. Kommission der Europäischen Gemeinschaften, X X I . Bericht über die Wettbewerbspolitik 1991, Brüssel-Luxemburg 1992, S. 22.

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Es kann kein Zweifel daran bestehen, die Europäische Integration ist, wie es einmal Werner Weidenfeld bezeichnet hat, die „Erfolgsgeschichte dieses Jahrhunderts". 1 9 I m Rahmen dieses gesamten Bauwerkes spielt die Frage nach dem Spannungsfeld zwischen Wettbewerbspolitik und Industriepolitik gewiß eine untergeordnete Rolle. Dennoch sollte man sie nicht mit dem Hinweis auf die politische Kompromißfähigkeit i n i h rer Relevanz vernachlässigen. Besonders für die Ordnungspolitik gilt immer noch der Grundsatz, daß politische Entscheidungen und Entwicklungen nicht richtig sein können, wenn die zugrundeliegenden ökonomischen Prämissen falsch sind. Denn hinter der Frage nach der Wettbewerbspolitik oder Industriepolitik steht immer auch die Frage nach der Integrationsmethode. Soll der fortschreitende europäische Integrationsprozeß eher dezentral-marktwirtschaftlich oder eher zentralistischinstitutionell organisiert sein? Industriepolitik betont immer die zentralistisch-institutionelle Integration, während die Wettbewerbspolitik für eine marktwirtschaftliche Integration unerläßlich ist. M i t der Vergemeinschaftung industriepolitischer Kompetenzen werden die marktwirtschaftlichen Integrationsmechanismen mehr und mehr zurückgedrängt. Damit w i r d aber auch auf den Wettbewerb als Entdeckungsverfahren verzichtet, der Suchprozesse zur wirtschaftlichen Neuordnung des Kontinents ermöglicht, aus der auf Dauer alle Produktivitätsgewinne erzielen können und der allein i n der Lage ist, die Wettbewerbsfähigkeit Europas zu erhalten.

19 Weidenfeld, Werner, Die Bilanz der europäischen Integration 1990/91, in: ders. und W. Wessels (Hrsg.), Jahrbuch der europäischen Integration 1990/91, Bonn 1992, S. 13.

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Zusammenfassung der Diskussion Referate Kantzenbach u n d Schmidt

A n beide Referenten richtet Heilemann die Frage, welche Implikationen der Maastricht-Ii-Vertrag für das Wettbewerbsrecht bringt. Es sei ja so, daß durch den Wegfall des Wechselkurses als Scharnier zur nationalen Anpassung doch erheblicher Anpassungsdruck auf die einzelnen Nationalstaaten zukomme. Die Frage sei erstens, ob nicht vorübergehend einige Regelungen i n Kraft bleiben sollten, die sich i m bisherigen Prozeß gut bewährt haben, etwa bei der Standardisierung der Subventionsvergabe. Das sei unabhängig von dem Problem, ob die einzelnen Nationalstaaten überhaupt Strukturen haben, die ohne Schwierigkeiten einem einheitlichen Wettbewerbsrecht unterworfen werden können. Es müsse geklärt werden, welche nationalen Spielräume es denn überhaupt noch für Wettbewerbspolitiken gebe, sei es auch nur befristet. Daß ein Zusammenhang zwischen Wettbewerbspolitik und nationalen Wirtschaftsstrukturen besteht, dürfte ja wohl unbestritten sein. Eine zweite Frage habe sich i n dem Zusammenhang für i h n ebenfalls aus beiden Referaten ergeben, nämlich ob die Übertragung des deutschen Modells, die beide Referenten konstatiert hätten, angesichts der veränderten - namentlich der durch die Globalisierung veränderten Bedingungen, nicht korrekturbedürftig sei. Ob es nicht Strukturen seien, die i n den sechziger, siebziger Jahren angemessen waren, aber auch i n Deutschland schon erhebliche Diskussionen hervorgerufen hätten. Was also muß unter Maastricht I I bei der Wettbewerbspolitik geändert werden? Diese Ansicht teilt Kantzenbach nicht; er ist vielmehr der Auffassung, daß das Wettbewerbsrecht grundsätzlich auf alle marktwirtschaftlichen Systeme anwendbar sei, daß es genügend Flexibilität i n der Anwendung enthalte, daß man besonderen Situationen Rechnung tragen könne. Er belegt dies m i t zwei Punkten: Heilemann habe als Ausgangspunkt genannt, daß durch die Fixierung der Wechselkurse i n der Währungsunion der Anpassungsbedarf i n der Industrie an die Globalisierung der Märkte möglicherweise größer werden würde. N u n gebe es auf der einen Seite

Zusammenfassung der Diskussion

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die Möglichkeit, Strukturkrisenkartelle zu schaffen. Sie seien durchaus genehmigungsfähig, wenn sie zeitlich begrenzt sind und zum Abbau der Kapazitäten führen, und zwar nach deutschem Kartellrecht und auch nach dem EG-Recht. Darüber hinaus seien zeitlich begrenzte Anpassungssubventionen möglich, die m i t Kapazitätsabbau verbunden sind. Sie dürften bei der Beihilfenkontrolle der Kommission durchgehen, wenn sie tatsächlich fixierte Pläne für Kapazitätsabbau i n zeitlicher Begrenzung enthalten. Z u der Frage, ob das Kartellrecht der sechziger und siebziger Jahre noch heute sinnvoll ist, erläutert Kantzenbach, es gebe i n Deutschland eine Diskussion darüber, ob die Vorschrift, von der die Juristen sagen, daß sie zwingend sei, daß sich nämlich der räumlich relevante Markt auf Deutschland beschränkt, noch sinnvoll ist. Das Bundeskartellamt verweise darauf, daß sie äußere Wettbewerbseinflüsse - also von außerhalb des gemeinsamen Marktes ausgehende - berücksichtigen könne. Beim europäischen Recht stelle sich hier gar keine Frage; es lege den räumlich relevanten Markt ökonomisch richtig aus, lege also unter Umständen den Weltmarkt als den räumlich relevanten M a r k t zugrunde und könne dementsprechend die Marktanteile auf dem Weltmarkt berücksichtigen. Vom Prinzip her sieht er also keine Schwierigkeiten. Schmidt habe darauf hingewiesen, daß eventuell der Wille, dieses Recht w i r k l i c h scharf anzuwenden, nicht bestehe, aber das sei eine andere Frage. Von Loeffelholz verweist auf die vorherige Diskussionsrunde, wo es um die Selbstbehauptung der Europäer i m globalen Wettbewerb ging. I n diesem Zusammenhang erinnert er an die Tatsache, daß ζ. B. Japan eine extreme und wohl auch eine relativ erfolgreiche Industriepolitik betreibt. A n beide Referenten richtet er die Frage, inwieweit ihre Schlußfolgerungen diese Erfahrungen einbeziehen oder ob sie relativiert werden müssen, wenn der asiatische Raum mit ins B i l d genommen wird. Schmidt räumt ein, daß man auch mit einem anderen Wirtschaftssystem zu vergleichbaren Ergebnissen kommen kann. Überall werde anerkannt, daß man sowohl mit Industriepolitik als auch mit einem mehr wettbewerblich konzipierten System ähnliche Ergebnisse erreichen könne. Unter westlichen Experten herrsche aber meist auch Einigkeit, i m Hinblick auf unser Demokratie-Ideal und unsere Freiheitsvorstellungen das freiheitskonformere Instrument zu empfehlen. Schmidt weist auch auf die Planification i n Frankreich hin, deren Ergebnisse ja auch nicht schlecht seien. Die Argumentation lande immer wieder bei p o l i t i schen Argumenten: M i t Industriepolitik sei die Rolle des Staates und da-

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mit einhergehend die der Großindustrie, die dafür erforderlich sei, ungleich größer - zu Lasten der gesamten mittelständischen Wirtschaft und auch zu Lasten der Bürger. Kantzenbach warnt davor, i n Deutschland den Begriff Industriepolitik generell zu verteufeln. Man müsse vielmehr fragen, was darunter i m einzelnen verstanden werden soll. Er sieht einen hoffnungsvollen Ansatz i n den Bestrebungen der EG, von der sektorspezifischen Politik abzugehen und auf das Gebiet zu kommen, das als „horizontale Maßnahmen" bezeichnet werde und die nicht-sektorspezifischen Maßnahmen umgreife, also etwa allgemeine Förderung von F & E so wie sie i n Deutschland auch erfolge. Kantzenbach kann auch nicht erkennen, daß die Japaner w i r k l i c h eine generelle Industriepolitik machten. Es sei auch da zu spezifizieren und nach einzelnen Instrumenten zu fragen. I n Japan gebe es zweifelslos eine relativ rigide vertikale Struktur, die es den Amerikanern - insbesondere ihnen, aber auch Anbietern aus anderen Ländern - sehr schwer macht, i n diese Märkte einzudringen. Eine wichtige Frage sei es dann, wie weit die Außenhandelspolitik i n die nationale Souveränität eingreifen kann. Hierin bestehe der Grundkonflikt zwischen den Vereinigten Staaten und Japan. Eekhoff hält das Zusammenbinden von Industrie und Politik für einen grundsätzlichen Widerspruch. N u r selten würden von der Politik industriepolitische Vorgaben gemacht, oder weitreichende Ideen für die w i r t schaftliche Zukunft entwickelt. I n diesem Zusammenhang bringt er zwei Fragen vor: - I n Ostdeutschland sei ja nun w i r k l i c h massiv Industriepolitik gemacht worden. Dieses Thema sei aber i m Hintergrund geblieben. Ist es für die Diskussion noch zu früh, oder ist das Thema noch tabu? - Die zweite Frage zielt auf die Feststellung Kantzenbachs, Industriepol i t i k sei noch gar nicht richtig definiert. Warum gehen w i r Ökonomen nicht daran, eine Industriepolitik zu formulieren, wie w i r sie uns vorstellen? Eine Industriepolitik der „horizontalen Maßnahmen", vielleicht auch eine rationale Standortpolitik sei doch sicherlich eine wirtschaftswissenschaftliche Herausforderung. Freitag geht direkt auf das Referat von Kantzenbach ein. Er habe eine sehr optimistischen Einschätzung der europäischen Politik auch i n der Zukunft gezeichnet. Als Beispiele habe er u. a. die Telekommunikation genannt. N u n gebe es aber, i m Licht der ökonomischen Theorie der Poli-

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tik, doch auch etliche Beispiele, wo die Europäische Kommission, der Europäische Rat, auch andere Gremien, die Industriepolitik als Vehikel benutzt hätten, u m sich i n einem Markt für Politik europaweit zu etablieren. E i n Beispiel hierfür sei die Beihilfenaufsicht. Man müsse wohl doch zu einer etwas vorsichtigeren Einschätzung gelangen als Kantzenbach. Kantzenbach verweist auf die drei Bereiche, die i n diesem Zusammenhang die größte Rolle spielen: der Agrarbereich, die Kohle und die Werften. Über die Agrarpolitik der Europäischen Gemeinschaft brauche man sich nicht auszulassen, es bestehe Konsens i n der Ablehnung dieser Politik. Er habe nur darauf verwiesen, daß es diese A r t Politik schon vorher gegeben hat und die Deutschen erheblich dazu beigetragen haben, daß das Agrarpreisniveau hoch angesetzt wurde. Kohle und Werften seien Bereiche nationaler Industriepolitik, und diese Politik werde durch die Beihilfenkontrolle der Europäischen Kommission begrenzt. Kantzenbach sieht sich mit Freitag einig, daß derartige sektorspezifische Industriepolitik reduziert und womöglich ganz beseitigt werden sollte. Er halte nur die ständige Fokussierung auf die europäischen Instanzen gerade i n dieser Hinsicht für absolut falsch. Es gebe keine Industriepolitik auf europäischer Ebene, die sich umfangmäßig mit der deutschen Kohlepolitik auch nur entfernt messen könnte. Man sei sich einig i n der generellen Ablehnung. Freitag ergänzt, es gebe Aktionsprogramme der Europäischen Kommission, die man auch ganz anders lesen könne als diejenigen, die K a n t zenbach gerade interpretiert habe, nämlich als eindeutige Versuche, direkt einzugreifen. Siebert geht auf die von Kantzenbach angesprochene Frage ein, daß i n Europa unterschiedliche wirtschaftspolitische Vorstellungen bestehen können. Er teilt Kantzenbachs Ansicht, daß diese Unterschiede nicht so groß sind, u m daran den Fortschritt der Integration scheitern zu lassen. Danach habe Kantzenbach aber ein spezielles K r i t e r i u m aufgestellt: Es komme auf den Zielerreichungsgrad i n der Gesamtheit an, sozusagen auf das arithmetische Mittel. Das müsse man aber wohl noch intensiver diskutieren. Sicherlich komme es darauf an, welche dynamischen Prozesse i n den verschiedenen Ländern angelegt sind. Z u m anderen wäre die Frage zu klären, ob es nicht aus ordnungspolitischer Sicht i n bezug auf bestimmte Ziele Bedingungen gibt, die notwendig erfüllt sein müssen. Unter diesen Umständen genügte das arithmetische M i t t e l nicht.

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Gerade beim Stabilitätsziel seien hier Zweifel aus ordnungspolitischer Sicht angebracht. Auf das Spannungsfeld zwischen Wettbewerbs- und Industriepolitik geht Frau Dietrich ein. Sie beklagt, daß die Ökonomie bislang nicht i n der Lage gewesen sei, ein theoretisch konsistentes Konzept oder eine Lösung für diesen Widerspruch zu finden. Besorgniserregend sei es - das sei auch i n der Diskussion mit Vertretern der Kommission deutlich geworden - , wie wichtige Entscheidungen i m politischen Tagesgeschäft getroffen würden; man ziehe einfach, u m irgendeine Rechtfertigung zu haben, Fragmente unterschiedlicher Theorien heran. So würde die F & E Förderung m i t Elementen der neuen Wachstumstheorie begründet, über die neue Außenhandelstheorie würden Größenvorteile hergeleitet, und die kleinen und mittleren Unternehmen würden gefördert, weil sie so i n novativ sind und so viele Arbeitsplätze schaffen. Es sei nur allzu deutlich, daß es i n der E U kein konsistentes Konzept gibt, und es stelle sich die Frage, ob die europäischen Unternehmen für das nächste Jahrtausend mit dieser Politik wettbewerbsfähig zu machen sind. Dieses Unbehagen w i r d von Schmidt geteilt, und zwar sowohl hinsichtlich der Fusionskontrolle als auch für ganze Bereiche der Industriepolitik. Nicht selten würden ohne wissenschaftlichen Hintergrund einfach irgendwelche Dinge behauptet, obwohl ζ. B. Economies of Scale betriebswirtschaftlich ausgerechnet werden könnten oder für Einzelbereiche empirische Studien existierten, ζ. B. für die Stahlindustrie oder für die Automobilindustrie. Auch die Studie der Monopolkommission sei ein positives Beispiel. Es sei leider festzustellen, daß gerade dort nicht gearbeitet wird, wo es spannend wird. Hier scheine Furcht vor der wissenschaftlichen Argumentation um das Pro und Contra konkreter Maßnahmen zu herrschen. E i n Beispiel sei die Nichtuntersagung von Fusionen, wo der zuständige deutsche Vertreter i n der Kommission m i t Thesen arbeite, die überhaupt nicht belegt seien. M i t einem Hinweis auf die umfassende Förderung neuer Technologien (ζ. B. Informationstechnik und Gentechnik) i n den USA meldet sich Ochel zu Wort. Neue techonologische Paragidmen entstünden durch das Zusammenwirken verschiedener Akteure, es komme nicht nur auf das einzelne Unternehmen an, sondern auch auf die M i t w i r k u n g des Staates. Der Staat gewähre dabei nicht nur Subventionen, sondern er müsse ζ. B. i m Bereich der Grundlagenforschung und i m Bereich der Ausbildungsentscheidungen an den Universitäten Weichenstellungen treffen. Die Frage sei, ob man nicht i n der europäischen Industriepolitik eine breite

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Mischung von Maßnahmen - über die Subventionen hinaus - fordern müßte. Seidel spricht die wettbewerbspolitische Problematik einer gemeinsamen Nutzung von Ergebnissen der F&E-Förderung durch eigentlich konkurrierende Unternehmen an. Die F&E-Praxis der europäischen Förderung habe bislang immer zum Ziel gehabt, nicht nur einzelne U n ternehmen, sondern gerade die Zusammenarbeit zu fördern. Das könne aus den Gründen, die Ochel gerade geschildert hatte, vernünftig sein. Die Gefahr bestehe aber darin, daß die gemeinsame Verwertung der Forschungsergebnisse dann für wettbewerbsreife Produkte wettbewerbsbeschränkende Wirkungen entfalten könnte. Seidel spricht direkt K a n t zenbach an, der ja gerade diese A r t der F&E-Förderung propagiert habe. Die Bedenken Schmidts gegen eine Gewaltenvermengung i n Bezug auf Wettbewerbskontrolle einerseits und letztlich industriepolitischer Kompetenz teilt auch Seidel. Die Vermengung sei ja schon auf der Ebene der Prüfung durch die Kommission möglich. E i n Blick auf die Praxis ließe es allerdings zweifelhaft erscheinen, ob es tatsächlich anders zuginge als i n Deutschland mit seiner Gewaltenteilung zwischen dem Bundeskartellamt einerseits und der Ministerentscheidung auf der anderen Seite. Welter findet es schwer verständlich, daß Kantzenbach die ordnungspolitisch wünschenswerte allgemeine Zurückdrängung der Beihilfenpraxis durch die E U als einen Verstoß gegen das Subsidiaritätsprinzip gekennzeichnet habe. Subsidiarität bedeute doch Rahmensetzung innerhalb einer Ordnungspolitik auf zentraler Ebene. Wenn es ordnungspolitisch wünschenwert wäre, den Beihilfenwettlauf zurückzudrängen, wäre das doch eine Aufgabe, die i n Brüssel erledigt werden müßte. Auf die von Ochel und Seidel aufgeworfenen Fragen kann Kantzenbach keine abschließende Antwort geben. I m HWWA-Institut seien zwei Dissertationen über die Frage der F&E-Förderung gemacht worden, und es habe ein gemeinsames Projekt mit dem Kieler Institut für Weltwirtschaft und amerikanischen Kollegen zur Frage des Wettbewerbs von F&E-intensiven Produkten auf den Weltmärkten gegeben. Es fehle an eindeutigen Kriterien, nach den Forschungs- und Entwicklungsförderung zu beurteilen wäre. Man sei auf Einzelfall-Untersuchungen angewiesen. I n seinem Referat habe er versucht, das i n eine Formel zu pressen, indem er von praxis orientierten Marktformen gesprochen habe. Genaugenommen sei das nicht mehr als eine Leerformel. Eigentlich scheine es so zu sein, daß die Förderung von Kooperationen bei F & E - i n der E U ebenso wie i n Deutschland - i m wesentlichen auf eine Kostenteilung

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Zusammenfassung der Diskussion

hinausläuft. Man glaube, eine Kostenbeteiligung der beteiligten Unternehmen und auf diese Weise mehr Forschungs- und Entwicklungsprojekte zu erreichen, als sonst durchgeführt worden wären. Sicher wäre es die beste Lösung, wenn die betroffenen Unternehmen i m Forschungswettbewerb stünden. Ganz sicher sei es richtig, daß Wettbewerbsbeschränkung nicht nur darin besteht, daß i n der Forschung entwickelte Produkte nachher getrennt vermarktet werden. Schumpeterscher Wettbewerb, das Ringen zwischen den voneinander unabhängigen Unternehmen um neue Lösungen, sei sicherlich anzustreben. N u r sei die Alternative oft eben nicht, daß zwei Unternehmen getrennt forschten, sondern daß sie beide nicht i n der Lage wären, den Forschungsaufwand zu tragen. Wenn ihnen dies durch Kooperation ermöglicht würde, sei das immerhin eine zweitbeste Lösung, gegenüber der drittbesten, das Forschungsprojekt überhaupt nicht durchzuführen. Patentrezepte habe er nicht, man könne nur i m Einzelfall entscheiden, und das sei die Schwierigkeit jeder Forschungs- und Entwicklungsförderung. Auf der einen Seite seien die positiven externen Effekte von Forschung und Entwicklung i m Schrifttum unbestritten, d. h. der M a r k t prozeß führe zu suboptimalem Aufwand bei Forschung und Entwicklung, aber die Förderung enthalte auch eine große Menge ordnungspolitischer, praktischer Probleme. Z u Welters Frage hinsichtlich der Subsidiarität i n der Beihilfenpraxis bemerkt Kantzenbach, er habe sich auf die gegenwärtige Rechtslage bezogen. Die Einzelstaaten bestünden darauf, die von ihnen gewährten Subventionen fielen i n den Bereich nationaler Politik und stünden folglich nach dem Subsidiaritätsprinzip nicht zur Disposition der Kommission. Nur bei staatsübergreifenden wettbewerbsverfälschenden Wirkungen könne die Kommission mit der Beihilfenkontrolle eingreifen. Nach der gegenwärtigen Praxis müsse sie nachweisen, daß die wettbewerbsverzerrenden Wirkungen gravierender sind als die positiven Effekte, die der Staat damit bewirkt. Die Akzeptierbarkeit der nationalen Ziele der Subventionen bzw. der Beihilfen zu beurteilen, stehe nicht i n der Kompetenz der europäischen Kommission. Schmidt bekräftigt die Aussagen Kantzenbachs. Forschungsarbeiten zu den Determinanten des technischen Fortschritts hätten ergeben, daß Vereinfachungen wie sie unter Neo-Schumpeter- oder Chicago-Markenzeichen angeboten würden - jede Fusion ist gut für den technischen Fortschritt - total verfehlt seien. Allerdings seien die Fragen der Wirtschaftspolitiker, was man denn konkret machen sollte, nach dem jetzi-

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gen Stand der Erkenntnis weit schwieriger zu beantworten. Die Zusammenhänge seien sehr kompliziert, und es fehle an allgemeinen Regeln. Die Forschungs- und Technologiepolitik sollte sich darauf konzentrieren, die Rahmenbedingungen zu verbessern, Hemmnisse, die der Forschung und Entwicklung entgegenstehen, abzubauen, Grundlagenforschung zu fördern.

F ü r u n d W i d e r einer A n g l e i c h u n g d e r Steuersysteme i m B i n n e n m a r k t Z u r Entwicklung u n d zum Stand der Steuerharmonisierung am Vorabend der Europäischen Währungsunion Von H a n s D i e t r i c h v o n L o e f f e l h o l z , Essen

Einführung und Problemstellung Die Europäischen Währungsunion (EWU) soll spätestens Anfang 1999 mit der unwiderruflichen Fixierung der Umrechnungskurse zwischen den teilnehmenden Währungen und zum Euro beginnen und bis Mitte 2002 zur einheitlichen Währung führen. Damit werden die sog. vier Grundfreiheiten des europäischen Binnenmarkts - Freizügigkeit von Kapital, Arbeit, Gütern und Dienstleistungen - weiter erhöht. Der Wegfall der Wechselkurse als „Puffer" für unterschiedliche nationale Preisund Kostenentwicklungen reduziert die Transaktionskosten der Freizügigkeit; er läßt die Diskrepanzen der Produktivitäts- und Wohlstandsniveaus deutlicher zutage treten. Wegen der abnehmenden Mobilitätskosten und der zunehmenden Transparenz erhöht sich der Wettbewerb der einzelstaatlichen Steuer- (und Abgaben-)Systeme u m entstehende und verwendete (heimische und auswärtige) Einkommen als Anknüpfungspunkte für die Einnahmenbeschaffung der öffentlichen Hand. Damit w i r d die Konkurrenz der Nationalstaaten um die M i t t e l für die Bereitstellung öffentlicher Güter (Allokation), für die staatliche Umverteilung (Distribution) und für Zwecke der kurzfristigen Finanzpolitik (Stabilisierung) zunehmen. Der Wettbewerb dürfte insbesondere Mitgliedsländer m i t wohlfahrtsstaatlich bzw. allokationspolitisch bedingt relativ hohen Steuer-, Abgaben- und Staatsquoten treffen, wie ζ. B. Deutschland, Frankreich oder Italien, oder gerade auch die neuen EU-Mitglieder Schweden, Finnland und Österreich. Eine Erweiterung der E U um ostund südosteuropäische Länder, wie Ungarn, Polen oder Tschechien, könnte ebenso wie die Vertiefung innerhalb der Union diesen Wettbewerbsdruck cet. par. nochmals verstärken.

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Hans Dietrich von Loeffelholz

Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage nach dem Für und Wider der Angleichung der Steuersysteme i n der E W U („Harmonisierung" 1 ), m.a.W, nach den Vor- und Nachteilen einer Harmonisierung bzw. einer Beibehaltung des jetzigen möglicherweise uneinheitlichen Zustands. Bevor die Pros und Cons i m einzelnen i m Lichte der erwähnten steuerpolitischen Aufgabenstellungen (Allokation, Distribution, Stabilisierung) diskutiert werden, ist zunächst der analytische und empirische Rahmen der Untersuchung zu skizzieren (Abschnitt 1). Er umfaßt die Abgrenzung des Untersuchungsgegenstands i n bezug auf die einzubeziehenden und die für die europäischen Steuersysteme charakteristischen staatlichen Abgaben. Dabei ist zu berücksichtigen, daß die Sozialabgaben i n den Budgets der EU-Mitgliedsländer zunehmend Bedeutung erlangten. Weiter ist die „Geographie" der künftigen E W U zu berücksichtigen und zu analysieren, auf welche Steuersysteme welcher Länder es i n der E W U letztlich „ankommt", zwischen denen ggf. Harmonisierungsbedarf besteht; ein solcher Bedarf könnte i n bezug auf „kleinere" E W U - M i t gliedsländer oder die EU-Ländern, die zumindest anfangs (noch) nicht zur E W U gehören, i m allgemeinen geringer erscheinen. Schließlich werden einige generelle Überlegungen zu der Frage präsentiert, inwieweit aufgrund von Überwälzungsvorgängen, die m i t der Steuererhebung i n der Regel verbunden sind, formale Steuerschuld und effektive Traglast auseinanderfallen können (formale vs. effektive Inzidenz); je stärker dies der Fall ist, um so mehr büßen z. B. (die evtl. zu vereinheitlichenden formalen) Unterschiede i n den Steuersystemen, wie Steuersätze oder Bemessungsgrundlagen u.ä., an Aussagekraft ein. Dies gilt noch mehr, wenn aufgrund von Steuervergünstigungen die „Tarifwahrheit" beeinträchtigt wird. I n diesem Zusammenhang ist danach zu unterscheiden, inwieweit von solchen Überwälzungsprozessen sog. i m mobile oder mobile Produktionsfaktoren betroffen sind. Auch ist von Belang, wie effizient die jeweilige Steuer- und Abgabenerhebung und -Verwaltung ist, um die gesetzlich festgelegte Besteuerung auch tatsächlich durchzusetzen; diese Fähigkeit ist bekanntlich i m internationalen Vergleich schon innerhalb der E U z.B. zwischen Süd- und Nordeuropa durchaus unterschiedlich ausgeprägt. Der 2. Abschnitt enthält eine kurze Bestandsaufnahme der bisherigen Harmonisierungspolitik i n den letzten eineinhalb Jahrzehnten seit der Gründung des Europäischen Währungssystems (EWS) i m Jahr 1979; 1

Vgl. dazu die Überblicksartikel von Bird (1989), Sinn (1989) und Mintz (1992).

Angleichung der Steuersysteme i n Europa

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diese Phase enthält m i t dem Inkrafttreten der Einheitlichen Europäischen Akte zur Schaffung eines einheitlichen Binnenmarkts (EEA) 1987 und dem Beginn der ersten Stufe der E W U 1990 weitere wichtige Integrationsschritte. Nach dieser Bestandsaufnahme, die auch Erfahrungen i n den USA, Kanada und der Schweiz einschließt, ist i m einzelnen zu fragen, welche ökonomischen Gesichtspunkte zugunsten einer (ggf. weiteren) Angleichung sprechen, welche dagegen (3. Abschnitt). Insbesondere interessiert, inwieweit dabei die jeweiligen Bemessungsgrundlagen der Steuern und die Steuersätze relevant sind oder ob ζ. B. eine strukturelle Vereinheitlichung der indirekten bzw. direkten Besteuerung genügte? Was spräche für, was gegen eine Harmonisierung der i n allen Unionsländern immer bedeutsameren Sozialabgaben - zumal vor dem Hintergrund der durchaus unterschiedlichen demographischen Entwicklungen als wesentlicher Determinante der längerfristigen Sozialabgabenentwicklung - und welche Implikationen ergäben sich daraus für Leistungsniveau und -struktur der Parafisci? Der Beitrag schließt m i t einigen Steuer- und finanzpolitischen Schlußfolgerungen für Deutschland (4. Abschnitt). Müssen als weiterhin wichtig angesehene öffentliche Aufgaben, die evtl. i m nationalen Rahmen aufgrund des zunehmenden Steuer- und Fiskalwettbewerbs nicht mehr i m bisherigen Umfang durchgeführt werden können, zunehmend auf die europäische Ebene verlagert werden, und welche politischen und institutionellen Voraussetzungen sollten dafür gegeben sein. Schließlich sind auch die Implikationen einer (Steuer- und Abgaben-)Harmonisierung für die nachhaltige Erfüllung der (fiskalischen) Maastricht-Konvergenzkriterien zu berücksichtigen.

1. Analytischer und empirischer Rahmen Zusätzlich zu den wichtigsten laufenden staatlichen Einnahmen, der Einkommensteuer für natürliche und für juristische Personen (persönliche Einkommensteuer und Körperschaftsteuer) und den allgemeinen und speziellen Verbrauchssteuern, werden auch die (Arbeitnehmer- und Arbeitgeber-)Beiträge zur Sozialversicherung m i t ins B i l d genommen; letztere wurden i n der E U anteilmäßig insbesondere i n der Dekade von Mitte der sechziger bis Mitte der siebziger Jahre ausgeweitet und machen i m EU-weiten Durchschnitt seitdem fast ein D r i t t e l aller Einnah-

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Hans Dietrich von Loeffelholz

men aus Steuern und Abgaben aus, wobei die Spannbreite zwischen den einzelnen Ländern von 3,2 v.H. für Dänemark über 39 v.H. für Deutschland bis zu 45 v.H. für Frankreich reicht. Trotz dieser stark differierenden Beitragssätze unterscheidet sich das Ausmaß der Sozialen Sicherung zwischen diesen Ländern kaum, wenn man als Indikator den Anteil der (monetären und realen) Sozialtransfers am jeweiligen BIP (Sozialleistungsquote) von rund einem D r i t t e l heranzieht. Damit w i r d deutlich, wie unterschiedlich intensiv dieser Bereich aus Steuer- bzw. Beitragsmitteln finanziert w i r d und inwieweit die Leistungsbemessung nach dem Versicherungs- bzw. nach dem Versorgungs- oder Fürsorgeprinzip erfolgt. Neben den (außen-)handelspolitischen Implikationen interessieren diese Finanzierungsunterschiede auch unter dem Harmonisierungsaspekt: die Wettbewerbsbedingungen auf den internationalen Märkten stellen sich tendenziell für die Länder günstiger dar, die - wie Dänemark - statt der Beitragsfinanzierung der Sozialen Sicherung vor allem eine solche über indirekte Steuern praktizieren; letztere sind i m Gegensatz zu den Sozialbeiträgen nach dem geltenden Bestimmungslandprinzip an der Grenze ausgleichsfähig und beeinflussen damit den internationalen Handel nicht 2 . Diesem außenhandelsspezifischen Standortvorteil geringer Beitrags- bzw. hoher Steuerfinanzierung der Sozialen Sicherung steht allerdings die Gefahr gegenüber, daß sich die i m Inland belasteten Wirtschaftssubjekte und -bereiche wegen der fehlenden Äquivalenz zwischen Abgaben und Leistungen bzw. einfach zur Vermeidung des Einkommensverlustes der Belastung zu entziehen versuchen, wobei der Erfolg von den Elastizitätsverhältnissen auf den betroffenen Märkten abhängig ist. Was die „Geographie" der E W U bzw. die Frage nach den Teilnehmern daran angeht, kann man darüber z.Zt. nur spekulieren 3 . Deshalb werden i m folgenden die Steuersysteme der größeren EU-Mitgliedsländer fokus2

Dies setzt freilich voraus, daß versucht wird, die Sozialbeiträge i n den Preisen der produzierten Güter und Dienste „weiterzuwälzen", und es nicht gelingt, sie auf die Arbeitnehmer „zurückzuwälzen". Z u m Überwälzungsprozess i m einzelnen vgl. von Loeffelholz (1979), S. 42 ff., Atkinson/ Stiglitz (1980), S. 24 ff., und Stiglitz (1986), S. 354 ff. Z u m außenhandelsspezifischen Aspekt vgl. von Loeffelholz (1989), S. 183 ff. 3 Die Deutsche Bank Research schreibt: „Derzeit erfüllt nur Luxemburg alle Konvergenzanforderungen". Ob bis zur Konvergenzprüfung Anfang 1998 damit zu rechnen ist, „daß sich noch mehrere Länder qualifizieren" und dies „für Deutschland, Frankreich, die Niederlande, Österreich, Irland, Finnland und evtl. Belgien und Schweden" zutreffen könnte, mag dahingestellt bleiben. Vgl. Deutsche Bank Research (1996), S. 28.

Angleichung der Steuersysteme i n Europa

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siert, zwischen denen der Löwenanteil des Handels und des Austauschs von Produktionsfaktoren i n der E U abläuft. Wegen dieser intensiven wirtschaftlichen (und politischen) Beziehungen könnte sich vor allem zwischen diesen Staaten Harmonisierungsbedarf ergeben, an den sich „kleinere" EWU-Mitgliedsländer oder die EU-Länder, die zumindest anfangs (noch) nicht zur E W U gehören, anpassen müssen. Dies schließt nicht aus, daß letztere bezüglich spezifischer steuerlicher Aspekte, wie der Kapitaleinkommensbesteuerung, durchaus eine erhebliche Bedeutung haben können, auf die die Steuerpolitik der größeren EU-Länder zumindest Rücksicht nehmen muß. Wenn (kleinere) Länder ζ. B. Steuerfreiheit bei Zinsen auf Kapitaleinlagen gewähren (Luxemburg), Holdings oder die Erträge von Portfolioinvestitionen steuerlich begünstigen (Belgien, Niederlande bzw. Irland) oder das Bank- und Steuergeheimnis besonders extensiv praktizieren (Österreich und - außerhalb der E U die Schweiz), mag dies zwar zu erheblichen, vielfach ausschließlich steuerlich veranlaßten Transaktionen führen und spürbare Einnahmenverluste der „heimischen" Fisci bedeuten 4 , diesen Einbußen der öffentlichen Hände stehen aber reduzierte Steuerzahlungen der privaten Sektoren gegenüber, die - international gesehen - über ein erhöhtes Sparaufkommen zu einer Erhöhung des Kapitalangebots und damit cet.par. zu günstigeren Investitionsbedingungen führen können. I n analytischer Hinsicht w i r d der i n Rede stehende Komplex vor allem durch die Tatsache kompliziert, daß Steuern und Abgaben i n Abhängigkeit von den jeweils herrschenden Preiselastizitäten der Nachfrage und des Angebots auf den betroffenen Güter-, Arbeits- und Kapitalmärkten überwälzt werden 5 . Die vorliegenden empirischen Analysen für die Bun4 So dürften nach Schätzungen der Deutschen Bundesbank aus Deutschland nach Luxemburg zwischen Mitte 1991 und November 1993 etwa 100 Mrd. D M vor allem aus steuerlichen Gründen transferiert worden sein. Vgl. Deutsche Bundesbank (Hrsg.) (1994), S. 45 ff. Abgesehen von zunehmenden Legitimationsproblemen der Steuerpolitik und den durchaus beachtlichen Einnahmenverlusten für die „heimischen" Fisci sind die transferierten M i t t e l für den (integrierten) Europäischen Kapitalmarkt insgesamt nicht verloren und stehen (weiterhin) für Investitionen zur Verfügung. Vgl. Rheinisch-Westfälisches Institut für Wirtschaftsforschung (1992), S. 1 f., und Heilemann (1995), S. 3. 5 Vgl. umfassend zu den Steuern - neben Atkinson and Stiglitz (1980) und Stiglitz (1986) - Recktenwald (1971) und bezüglich der Sozialabgaben von Loeffelholz (1979), S. 41 ff., Hart (1984), und - die vorliegenden empirischen Untersuchungen m i t sehr unterschiedlichen Ergebnissen bezüglich der Rückwälzung der Arbeitgeberanteile auf die Arbeitnehmer zusammenfassend - Hamermesh (1993), S. 166 ff. Vgl. auch die Diskussion bezüglich der Harmonisierung der Kapitaleinkommensbesteuerung i n Europa zwischen Tanzi/Bovenberg auf der einen Seite und Salin bzw. Siebert auf der anderen i n Siebert (ed.) (1990), S. 171-230.

6 Konjunkturpolitik, Beiheft 44

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Hans Dietrich von Loeffelholz

desrepublik Deutschland oder für die Vereinigten Staaten bezüglich der effektiven Inzidenz insbesondere von Steuern und Abgaben, die bei der Einkommensentstehung anfallen („direkte" Besteuerung), zeichnen je nach den getroffenen Annahmen ein sehr uneinheitliches B i l d 6 . Wegen unzureichender empirischer Kenntnisse darüber, wen letztendlich welche Traglast i n welcher wirtschaftlichen Situation trifft, was nicht zuletzt auch von der administrativen Effizienz der Steuer- und Abgabenerhebung abhängig ist, sind sowohl Anknüpfungspunkte als auch die Notwendigkeit einer (formalen) Steuer- und Abgabenharmonisierung zur Verminderung von möglichen fiskalisch bedingten Wettbewerbsverzerrungen unsicher. Dies gilt noch mehr, wenn die effektive Inzidenz der mit den Steuern und Abgaben finanzierten monetären und realen Staatsleistungen mit ins B i l d genommen w i r d 7 ; von diesem Komplex w i r d indes i m folgenden wegen der Inzidenzproblematik abgesehen. A l les i n allem ist festzuhalten, daß es an einer wissenschaftlich hinreichend fundierten Entscheidungsgrundlage für ein überzeugendes Harmonisierungskonzept mangelt, was vor allem i n kurzer und mittlerer Frist gilt.

2. Verlauf und Stand der Harmonisierung I m gegebenen Rahmen können die empirische Entwicklung und der aktuelle Stand der Harmonisierung nur kurz anhand weniger Charakteristika deutlich gemacht werden 8 . Dazu gehören wichtige, vor allem i n 6 Vgl. z. B. von Loeffelholz (1979) bzw. Pechman (1985). 7 Der Steuerüberwälzung kann auf der Ausgabenseite der staatlichen Budgets eine „Nutzenwegnähme" i n bezug auf öffentliche Geld- und Realleistungen gegenüberstehen. Vgl. dazu von Loeffelholz (1979) S. 179 ff. 8 Z u einer ausführlichen Bestandsaufnahme der Rechtsgrundlagen und der Entwicklung der Steuerharmonisierung i n der E U vgl. Mennel und Förster (Hrsg.) (1995a), S. 16 ff. Es w i r d deutlich, daß der EU-Vertrag lediglich ein Harmonisierungsgebot i n bezug auf die „Umsatzsteuern, die Verbrauchsausgaben und die sonstigen indirekten Steuern (enthält), soweit diese Harmonisierung für die die Errichtung und das Funktionieren des Binnenmarkts .. .notwendig ist" (Art. 99). I m Bereich der direkten Steuern fehlt eine ausdrückliche Regelung, so daß Harmonisierungsbestrebungen bisher nur eine untergeordnete Rolle spielten. Zur Prüfung eines etwaigen Bedarfs legte der sog. Ruding-Ausschuß 1992 einen Bericht vor, i n dem er die Frage nach einem Harmonisierungsbedarf vor allem bei der Behandlung von Auslandsinvestitionen und hier insbesondere i m Finanzsektor bejahte. Zur Beseitigung der Diskriminierung grenzüberschreitender w i r t schaftlicher Tätigkeit wurden bei den Unternehmenssteuern sog. Richtlinien i n Kraft gesetzt (z. B. Fusions- und Mutter-/Tochter-Richtlinie); damit sollen Buchgewinne bei Fusionen bzw. Gewinnausschüttungen zwischen verbundenen euro-

Angleichung der Steuersysteme i n Europa

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der öffentlichen Diskussion oft fokussierte Steuer- und abgabenrechtliche Parameter, wie die (normalen) Mehrwertsteuersätze, die Spitzensteuersätze der Einkommensteuer, die (Thesaurierungs-)Sätze der Körperschaftsteuer oder die Beitragssätze zur Sozialversicherung, aber auch volkswirtschaftliche Steuer- und Abgabenquoten sowie die Anteile der direkten und indirekten Steuern am Gesamtaufkommen. Die folgenden Abbildungen 1 bis 3 zeigen die zwischen 1981 und 1995 i n den 12 EG-Ländern vorgenommene erhebliche Angleichung der Mehrwertsteuersätze (Normalsätze) auf eine Bandbreite zwischen 15

Mehrwertsteuersätze (Normalsätze) in der E 12 1981 und 1995 1981

1995

25

20

15

10

-

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Β DK

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EIR GB

L I

Ρ NL

D

Β E

DK

GR F

E1R GB

L I

5

Ρ NL

E

RWI

Nach amtlichen Angaben.

Abbildung 1 päischen Unternehmen (zumindest temporär) der Besteuerung entzogen werden, um Wettbewerb s Verzerrungen zu vermeiden.

84

Hans Dietrich von Loeffelholz

und knapp 21 v.H. sowie der Körperschaftsteuersätze auf einbehaltene Gewinne auf ein (durchschnittliches) Niveau von rund 35 v.H. der jeweiligen Bemessungsgrundlagen. Die Spitzensteuersätze der Einkommensteuer wurden i n den vergangenen 15 Jahren erheblich zurückgeführt, indes scheint hier die Diskrepanz zwischen den 12 betrachteten europäischen Ländern eher zugenommen zu haben 9 .

Einkommenssteuerspitzensätze in der E 12 1981 und 1995; in vH 1981

80 -

1995

70

60

50 -

40

30 ·

20 ·

10

Β

DK

D

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I

L

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E

Β

DK

D

F

GR

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I

L

NL

Ρ

E

\m

Nach amtlichen Angaben.

Abbildung 2

9 Wegen unzureichender Daten kann die längerfristige Entwicklung der Beitragssätze zur Sozialversicherung nicht nachgezeichnet werden. Allerdings deutet die anhaltende, relativ hohe Streuung der diesbezüglichen Aufkommensanteile an den nationalen BIP innerhalb der E U auf anhaltende Diskrepanzen auch bei den Sätzen h i n (vgl. weiter unten Abbildung 4).

Angleichung der Steuersysteme i n Europa

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Körperschaftssteuersätze auf einbehaltene Gewinne in der E 12 1981 und 1995; in vH 1995

1981

60

60

50

50

40-

40

30 -

30

20

20

L

10-

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I

L

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D

F

GR

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1

L

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10

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Nach amtlichen Angaben.

Abbildung 3

Die i n den jeweiligen Landesgesetzen festgelegten Steuer- und Beitragssätze haben indes lediglich „Signalcharakter" und mögen steuerpsychologisch sowie mikroökonomisch von einiger Bedeutung sein; sie bieten nur unzureichende Informationen über die individuelle Traglast i m Sinne der effektiven Inzidenz bzw. die Belastung bestimmter Wirtschaftsbereiche oder der Volkswirtschaft insgesamt. Diese ergibt sich wie erwähnt - vor allem aus dem Zusammenspiel der Sätze m i t den Bemessungsgrundlagen, Steuervergünstigungen u.ä. und - i n bezug auf Teilbereiche der Wirtschaft - mit Überwälzungsvorgängen, von deren Ergebnis schließlich auch die u.U. durch (formale) Steuerdivergenzen hervorgerufenen Wettbewerbsverzerrungen verstärkt oder abgeschwächt werden können; es sind also keine definitiven Aussagen dar-

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über möglich, inwieweit schon die formalen Unterschiede Wettbewerbsverzerrungen hervorrufen, die durch eine Einebnung dieser Differenzen zu vermindern wären. Dies gilt noch mehr, wenn man die Ausgabenseite der staatlichen Budgets einbezieht und die Steuern als „Preis" für die Leistungen der öffentlichen Hand betrachtet werden. Je stärker die jeweils Äquivalenz zwischen Steuer- und Abgabenkosten einerseits und den Nutzen staatlicher Leistungen andererseits ausgeprägt ist, m.a.W., je stärker den Präferenzen des privaten Sektors der Volkswirtschaft Rechnung getragen w i r d und je weniger davon zum Zwecke der interpersonalen und intergenerationalen Umverteilung von Einkommen abgewichen wird, um so geringer ist der Bedarf an Harmonisierung auf einem für alle annähernd gleichen Niveau. U m von allfälligen Überwälzungsprozessen wegen der sehr unsicheren und beschränkten empirischen Kenntnisse über die je nach den M a r k t verhältnissen und Steuerarten sehr unterschiedlichen Ergebnisse und Folgewirkungen insbesondere i n bezug auf die Steuern absehen zu können, die bei der Einkommensentstehung anfallen (direkte Steuern) 1 0 , wurde i m folgenden der Angleichungsprozess i n der E U i n bezug auf die nationalen Anteile der Steuern und Abgaben am jeweiligen BIP, m.a.W. i n bezug auf die volkswirtschaftlichen Steuer- und Abgabenquoten untersucht. Dabei sollte freilich berücksichtigt werden, daß sich aus den Untersuchungsergebnissen lediglich Tendenzaussagen und keine definitiven Schlußfolgerungen hinsichtlich eines unter Wettbewerbsgesichtspunkten weiteren Angleichungsbedarfs gewinnen lassen 11 . I n Abbildung 4 w i r d dargestellt, wie sich die mithilfe des Variationskoeffizienten 1 2 gemessene Streuung dieser Quoten i n den letzten 30 Jahren zwischen den 12 Ländern, die i m Jahr 1993 Mitglieder der E U waren 10 Bei den bei der Einkommensverwendung anfallenden (indirekten) Steuern und Abgaben besteht weitgehend Übereinstimmung darüber, daß sie überwiegend auch diese Verwendung belasten, also z. B. auf den privaten Verbrauch überwälzt werden. 11 Weiter könnte man argumentieren, daß die Frage der Verzerrungen durch die Besteuerung eine Frage nach den Entscheidungswirkungen darstellt, die aber nicht durch Vergleiche von Durchschnittsbelastungen, wie sie volkswirtschaftliche Steuer- und Abgabenquoten darstellen, abgeschätzt werden können, sondern nur durch Vergleiche von Grenzbelastungen. Grundsätzlich ist dem zuzustimmen, allerdings sind die gegebenen empirischen Untersuchungsmöglichkeiten - vor allem bezüglich internationaler Entwicklungen i m Längsschnitt - sehr begrenzt, so daß hilfsweise auf die Durchschnittsbelastungen zurückgegriffen werden muß. 12 Dieser Koeffizient stellt die Standardabweichung i n v.H. vom arithmetischen Mittelwert dar.

Angleichung der Steuersysteme i n Europa

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Streuung der gewichteten volkswirtschaftlichen Steuer- und Abgabenquoten der E 12 1965 bis 1993; Quoten jeweils in vH des BIP

1965

1970

1975

— — S t e u e r n insgesamt Pers. Einkommensteuern Steuer auf Güter und Leistungen

1980

1985

1989

1990

1991

Steuern insgesamt ohne Beiträge , Körperschafts_ steuern - Allg. Verbrauchssteuern

Nach Angaben der OECD.

1992

1993

Einkommensteuern insgesamt Sozialbeiträge

RWI

Abbildung 4

(E 12), entwickelt h a t 1 3 . Dabei wurde der Koeffizient gewichtet berechnet, u m den sehr unterschiedlichen Größenverhältnissen i n der E U Rechnung zu tragen; als Gewichte wurden die nationalen Steuereinnahmen insgesamt verwendet 1 4 . Der Wert reflektiert somit vor allem die A n gleichung der gesamtwirtschaftlichen Steuer- und Abgabenbelastung zwischen den 5 größeren europäischen Ländern Deutschland, Frank13 Die Beschränkung auf diese 12 Länder hat i m wesentlichen statistische Gründe. Die folgende empirisch-statistische Auswertung basiert auf den laufenden Veröffentlichungen der OECD (ed.) (o.J), Revenue Statistics. Paris, lfd. Jahre. 14 Die nationalen Steuereinnahmen sind i n der verwendeten OECD-Statistik jeweils i n US-Dollar verfügbar.

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reich, Großbritannien, Italien und Spanien mit zusammen 86 v.H. der Bevölkerung und des BIP der E 12. Es w i r d deutlich, daß die volkswirtschaftlichen Steuer- und Abgabenquoten seit langem konvergieren, am stärksten i m Bereich der Körperschaft-, Einkommen- und allgemeinen Verbrauchssteuer, was sicher zu einem Teil der oben dargestellten Vereinheitlichung der Steuersätze zu verdanken ist. Der Variationskoeffizient für die Steuern insgesamt ist seit 1975 u m 2 v.H.-Punkte auf 9 v.H. (1993) zurückgegangen. I n bezug auf die Sozialbeiträge ist er als Folge der anhaltenden Diskrepanzen zwischen EU-Mitgliedsstaaten, wie Großbritannien, Dänemark und Irland, i n denen nur i n geringem Maße auf diese Abgaben zur Finanzierung der Sozialen Sicherung zurückgegriffen wird, und den übrigen Mitgliedern mit namhafter Beitragsfinanzierung, bei etwa 11 v.H. annähernd konstant geblieben. Die bemerkenswert geringe und i n der Vergangenheit noch leicht rückläufige Diskrepanz der volkswirtschaftlichen Steuer- und Abgabenbelastung zwischen den größeren EU-Mitgliedsländern, unter denen sich voraussichtlich mit Deutschland und Frankreich auch „Kernländer" der 1999 beginnenden E W U befinden, w i r f t die Frage nach ihren Ursachen auf. Hinweise darauf bietet ein Vergleich der Steuer- und A b gabenstrukturen i n bezug auf die „Hauptsäulen" des Einnahmensystems: die (persönliche) Einkommen- und die (allgemeinen und speziellen) Verbrauchssteuern als die wichtigsten „direkten" bzw. „indirekten" Steuern. Hinzu kommen die (Arbeitgeber- und Arbeitnehmeranteile der) Sozialversicherungsbeiträge; zusammen umfassen die genannten Abgaben jeweils 80 bis 90 v.H. aller staatlichen Einnahmen i n diesen Ländern. Es zeigen sich die i n den letzten drei Dekaden durchgängig zunehmende Bedeutung der Sozialbeiträge und die tendenziell abnehmende der Verbrauchssteuern (Abbildung 5) 1 5 . Der Anteil der Einkommensteuer an den betrachteten staatlichen Einnahmen blieb i n der Bundesrepub l i k und i n Großbritannien aufgrund mehr oder weniger regelmäßig zur Verhinderung sog. heimlicher Steuererhöhungen („bracket creep") durchgeführter Steuersenkungen bemerkenswert konstant, i n den „romanischen" Ländern stieg er hingegen i m Zuge des Auf- und Ausbaus eines modernen Einkommensteuersystems und des Zurückdrängens der lange Zeit dominierenden, leichter zu administrierenden Verbrauchssteuern. 15 Eine Ausnahme bildet Großbritannien mit einer zwischen den beiden Untersuchungsjahren fast unveränderten Struktur.

Angleichung der Steuersysteme i n Europa

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Steuer- und A b g a b e n s t r u k t u r in den größeren E U - M i t g l i e d s l ä n d e r n 1965 und 1993; in vH der jeweiligen Einnahmen insgesamt

l

'

I

l

i

1965 1993

1965 1993

Deutschland

Frankreich

• • Einkommensteuern

I

I

I

I

1965 1993

I

I

1965 1993

1965 1993

Großbritannien

Italien

Spanien

1 Verbrauchssteuern

Ι:·Λ··% Sozialbeiträge

Nach Angaben der OECD.

Abbildung 5

W ä h r e n d es also z w i s c h e n d e n E U - M i t g l i e d s l ä n d e r n b e i d e r Besteuer u n g weder h i n s i c h t l i c h Niveau noch S t r u k t u r der Steuern u n d A b g a b e n gravierende Unterschiede gibt, stellt sich die S i t u a t i o n i n den Vereinigten Staaten, i n K a n a d a u n d i n der Schweiz - möglicherweise n i c h t z u l e t z t w e g e n der k r i t i s c h e r e n E i n s t e l l u n g d e r j e w e i l i g e n B ü r g e r Staat

16

- wesentlich uneinheitlicher d a r

17

zum

. I n diesen s t ä r k e r v o n d e r E i -

16 Dies macht auch eine neuere vergleichende Untersuchung der Rolle des Staates i n den Vereinigten Staaten, i n Japan und i n Deutschland deutlich; i n Amerika soll die öffentliche Hand möglichst wenig die Verfolgung privater Interessen stören, und deshalb w i r d ihr i m allgemeinen mit erheblichen Vorbehalten begegnet. I n Japan hat sie vor allem den institutionellen Rahmen für eine starke Regulierung, Monopolisierung und Kartellisierung der Wirtschaft und für die Verfolgung

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genständigkeit der bundesstaatlichen und lokalen Körperschaften hinsichtlich Steuergesetzgebung und - p o l i t i k geprägten Gemeinwesen variieren Steuersätze, Bemessungsgrundlagen und Steuervergünstigungen offensichtlich i n erheblich stärkerem Ausmaß als i n den E U - L ä n d e r n 1 8 . So erheben 5 der 50 US-Staaten keine allgemeine Umsatzsteuern, 8 keine (persönliche) Einkommensteuer, 13 keine Körperschaftsteuern 19 , und Gewerbesteuern (franchise taxes und bank excise taxes) sind überhaupt nur i n 17 Staaten bekannt 2 0 . Die (persönliche) Einkommensteuer der Staaten enthält sehr unterschiedliche Scheibentarife („brackets") mit jeweils sehr unterschiedlichen marginalen Steuersätzen, differierenden Bemessungsgrundlagen und Ausnahmeregelungen; ähnliches gilt auch für die Körperschaftsteuer. Die allgemeine Umsatzsteuer der Staaten hält sich zwar ebenso wie die der Kreise und Kommunen i n einem relative engen Band von zusammen 4 bis 8 v.H., allerdings werden oftmals auch eine kommunale und Kreis-Umsatzsteuer überhaupt nicht erhoben. Zusammenfassend ist festzustellen, daß „ . . .indeed no federation has a more diverse fiscal system at the state level than does the United States" 2 1 . Offensichtlich w i r d auch kein besonderer Harmonisierungsbedarf gesehen, allenfalls eine „improved cooperation among the levels of government and more effective functioning of the federal system" 2 2 . Eigene der dominierenden Exportinteressen bereitzustellen. I n Deutschland soll sie ähnlich wie i n Frankreich, Italien und Spanien, weniger i n Großbritannien - möglichst umfassende wirtschaftliche und soziale Sicherheit vermitteln und gegen möglichst viele Lebensrisiken schützen. Vgl. dazu die beiden neueren Veröffentlichungen von Garten (1993), S. 108 ff., und Albert (1993), S. 62 ff. Diese unterschiedlichen Attitüden spiegeln sich auch i n dem jeweiligen Anteil der staatlichen Gesamtausgaben am nationalen Sozialprodukt (Staatsquote) wider. Deutschland liegt m i t knapp 49 v.H. (1996; vgl. OECD (ed.) (1995a), S. A31), darunter ca. 30 v.H. für die Sozialleistungen, 15 Prozentpunkte über den USA; der Abstand zu Japan, wo der Staat eine stärker regulierungs- als ausgabenintensive Politik verfolgt, beträgt reichlich 10 Prozentpunkte. 17 Dafür bezeichnend ist, daß die gesamtwirtschaftliche Steuer- und Abgabenquoten der weit überwiegenden Mehrzahl der EU-Mitgliedsländer über dem Median der 24 OECD-Länder (37,6 v.H. des BIP) liegt, die der Vereinigten Staaten, von Kanada und der Schweiz darunter. Vgl. OECD (ed.) (1995b), S. 71 ff. 18 Vgl. Bird (1989), S. 140 ff. Vgl. auch schon Kieschnick (1983), S. 153 ff. 19 Stand 1. 10. 1990. Vgl. Mennel und Förster (Hrsg.) (1995b), S. 63. 20 Hinzu kommt noch eine Vielzahl von „ t a x incentives, fiscal assistance, and special services offered by state and local governments". Vgl. Vaughan (1983), S. 90 ff. 21 Bird (1989), S. 144. 22 Advisory Commission on Intergovernmental Relations (ACIR; ed.) (1991), S. 64 ff.

Angleichung der Steuersysteme

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Untersuchungen zur Streuung der Belastung der Einkommen m i t Staatssteuern zwischen den Einzelstaaten zeigen denn auch, daß der (ungewichtete) Variationskoeffizient 1992 bei einer durchschnittlichen Belastungsquote von 6,6 v.H. der Größenordnung nach fast ebenso hoch war wie der entsprechende Wert i n der E U vor 15 Jahren, nämlich 27,5 v.H.; 1980 lag die Durchschnittsbelastung noch bei 10,6 v.H. und der Koeffizient bei 32 v.H. I n bezug auf die Staats- und Lokalsteuern zusammen ist der Koeffizient i n den vergangenen vier Dekaden nur von 19 v.H. auf 16 v.H. zurückgegangen. I n Kanada bewegt sich ζ. B. der Steuersatz der Provinzen bei Einzelhandelsumsätzen (sales tax) zwischen 0 v.H. und 12 v.H. mit mannigfachen Befreiungen, die ihrerseits wiederum von Provinz zu Provinz erheblich differieren. Bei der schweizerischen Einkommen- und Körperschaftsteuer zeigen sich ebenfalls spürbare kantonale Unterschiede, so daß die Gesamtsteuerschuld aus kantonalen und Bundessteuern zwischen 12 v.H. und 32 v.H. der jeweiligen Bemessungsgrundlage differ i e r t 2 3 . Wegen allfälliger Überwälzungsprozesse ist aber auch hier keine definitive Aussage darüber möglich, inwieweit diese Uneinheitlichkeit zu Wettbewerbsverzerrungen führt. M i t Blick auf die empirischen Befunde einer relativ geringen und i n der Vergangenheit noch abnehmenden Divergenz der gesamtwirtschaftlichen Steuer- und Abgabenbelastungen zwischen den (größeren) E U Mitgliedsländern und einer großen Unterschiedlichkeit der Steuer- und Abgabensysteme i n den genannten föderal gegliederten Industrieländern sind i m folgenden Vor- und Nachteile einer weiteren Angleichung der Systeme i n einem zunehmend integrierten Europa zu diskutieren.

3. Vor- und Nachteile der weiteren Angleichung der Europäischen Steuersysteme Als Vorteil einer Harmonisierung, insbesondere der (Kapital-)Einkommensbesteuerung, w i r d angeführt 2 4 , daß dadurch verhindert werden kann, daß Kapital aus Hochsteuerländer „abwandert" und es dort wegen der abnehmenden „Ergiebigkeit" des Kapitalmarkts zu unzureichenden privaten Investitionen und zu einem Defizit beim Angebot öf23 vgl. Mennel und Förster (Hrsg.) (1995a), S. 52 bzw. S. 22 ff. Vgl. hierzu und zu folgendem die Beiträge von Tanzi and Bovenberg, und Cnossens i n Siebert (1990), S. 171 ff. 24

Salin

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fentlicher Güter kommt. Abgesehen von der problematischen Vorstellung eines beschränkten nationalen Kapitalmarkts 2 5 , von dem gerade mit Blick auf entsprechende weitere Integrationseffekte der E W U jedenfalls nicht mehr gesprochen werden kann, abstrahiert das Argument von u.U. gegebenen Überwälzungsmöglichkeiten und von allen außersteuerlichen Standortbedingungen, wie materielle und immaterielle öffentliche Infrastruktur, von Bildung und Ausbildung der Arbeitskräfte, den Managementfähigkeiten der Unternehmer, dem Wirtschaftssystem und der -gesinnung, von der Geldpolitik u.v.m. 2 6 . Zusammengenommen können diese Faktoren trotz hoher (formaler) Steuer- und Abgabenbelastung einer Abwanderung von Kapital entgegenwirken. Dies dürfte i n des stärker i n bezug auf Sachinvestitionen gelten als für Portfolioanlagen 2 7 . Weiter könne eine Harmonisierung nationale steuerpolitische Maßnahmen verhindern, die dazu dienen sollen, einseitige Vorteile zu erringen; es könnte dadurch ein „Subventionswettlauf" m i t anderen Ländern verhindert werden. Abgesehen von der „Vergemeinschaftung" der etwaigen Subventionswirkungen i m Binnenmarkt und der Diffusion der vermeintlichen Vorteile erscheint zweifelhaft, inwieweit sich die Nationalstaaten angesichts der Finanzierungserfordernisse bei ihren hauptsächlichen Staatsauf gab en und der Defizitbegrenzung i m H i n b l i c k auf die dauerhafte Erfüllung der fiskalischen Maastricht-Konvergenzkriterien eine so starke Reduzierung wichtiger Steuersätze, eine Einschränkung von Bemessungsgrundlagen oder Ausweitung von Steuervergünstigung o.ä. überhaupt „leisten" können, daß damit ein Wettlauf i n Gang gesetzt wird. Dies schließt - wie erwähnt - nicht aus, daß i n bestimmten Einzelbereichen, wie bei der Kapitaleinkommensbesteuerung, solche Vergünstigungen gewährt werden, denen die EU-Kommission zumindest innerhalb der E W U etwa mit einem entsprechenden Subventionskodex entgegenwirken könnte 2 8 . 25 Vgl. zu den Entwicklungen und Implikationen der Internationalisierung und Globalisierung der Kapitalmärkte Heilemann (1995), S. 5 ff. Z u der Vorstellung eines weltweiten Kapitalmarkts und der Unabhängigkeit der inländischen Investitionen vom heimischen Sparaufkommen vgl. aber kritisch Feldstein/Horioka (1980), S. 314ff, und die späteren Arbeiten von Feldstein zusammen m i t R Bacchetta bzw. m i t T. Sinai. 2 6 Vgl. zu einer differenzierten Analyse der Determinanten der Standortqualität Dohm/Heilemann/Lobbe/von Loeffelholz (1994), S. 105 ff. 2 ? Vgl. Mintz (1992), S. 18 f. 28 Daß solche Vergünstigungen oft aus regionalpolitischen Gründen sogar von der EU-Kommission gebilligt werden, zeigt das Beispiel Irland, wo Portfolioinve-

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Für eine (weitere) Angleichung w i r d auch ins Feld geführt, daß andernfalls bestimmte Länder geneigt sein könnten, auf dem Wege über ihr Steuer- und Abgabensystem (wirtschafts-)politische Vorstellungen anderen Ländern aufzudrängen. So könnte ein Land das Schwergewicht der Besteuerung auf die Umverteilung von Einkommen oder auf die Bereitstellung von öffentlichen Leistungen legen, an die sich andere Länder gegen die Präferenzen der Bürger anpassen müßten, u m nicht die steuerlichen Bemessungsgrundlagen an den „Vorreiter" zu verlieren. Abgesehen davon, daß eher umgekehrt ein Druck zur Zurückdrängung der Umverteilungstätigkeit des Staates zu erwarten ist, hat die vorstehende empirische Analyse zu den relativ geringen Niveau- und Strukturdifferenzen zwischen den europäischen Steuer- und Abgabensystemen und -belastungen indes deutlich gemacht, daß das entworfene Szenarien unrealistisch ist. Dies gilt freilich - wie gezeigt - stärker i n bezug auf Einkommen- und Verbrauchsteuern als i n bezug auf die Sozialversicherungsbeiträge. Zwar unterscheiden sich diesbezüglich Niveau- und Struktur der Sätze und der M i x der Finanzierung der Sozialen Sicherung durch Steuern und Beiträge, allerdings wurde schon hervorgehoben, daß die Niveaus der Absicherung der allgemeinen Lebensrisiken, wie Alter, Krankheit und Arbeitslosigkeit, durch die jeweiligen Nationalstaaten zumindest i n den größeren EU-Mitgliedsländern kaum differieren, und insoweit kein wesentlicher Anlaß zu Wanderungen besteht; größeren Diskrepanzen zwischen diesen und kleineren Ländern i n Südeuropa, die sich i m Zuge des dortigen Aufholprozesses von Produktivität, Einkommen und anderen ökonomischen Kenngrößen zunehmend vermindern, stehen höhere Transaktionskosten gegenüber. Schließlich w i r d eine Angleichung, insbesondere der Mehrwertsteuer und der speziellen Verbrauchssteuern, gefordert, um von dem jetzigen, noch der nationalstaatlichen Tradition folgenden Bestimmungslandprinzip bei der Verbrauchsbesteuerung zu dem einem integrierten M a r k t angemessenen sog. Ursprungslandprinzip übergehen zu können 2 9 . Dadurch sollen steuerlich bedingte Wettbewerbsverzerrungen verringert werden. Abgesehen davon, daß z.Zt. nicht absehbar ist, ob das Ursprungslandprinzip i n mittlerer und längerer Frist eingeführt w i r d oder wegen der damit verbundenen Haushaltsrisiken für einzelne Länder stitionen steuerlich begünstigt werden, u m diesen Standort längerfristig auch für Produktionen attraktiver zu machen. I n bezug auf Ostdeutschland gilt ähnliches. 29 Vgl. insbesondere das neue Diskussionspapier der EU-Kommission zur Steuer-Strategie für die EWU; Pressemitteilung vom 20. März 1996: Commission presents a Discussion Paper on Taxation Strategy for the European Union.

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und der Notwendigkeit eines Clearing-Verfahrens nicht das jetzige, i n den Büchern bei den Unternehmen praktizierte Bestimmungslandprinzip auf Dauer beibehalten w i r d 3 0 , zeigen z. B. die Erfahrung i n den Vereinigten Staaten, wo selbstverständlich das Ursprungslandprinzip gilt, daß dort keineswegs die Notwendigkeit einer Angleichung der Verbrauchssteuern gesehen wird; die entsprechenden Steuersätze weisen wie erwähnt - zwischen den Einzelstaaten bei einem viel niedrigeren N i veau eine Spannbreite von etwa 10 v.H.-Punkte auf, was i n etwa der Diskrepanz bei der Mehrwertsteuer i n Europa entspricht 3 1 . Die vorgetragenen Argumente sprechen zusammengenommen gegen eine (forcierte) Angleichung der Steuer- und Abgabensysteme i n der E W U und damit gegen eine „Steuerunion". Hinzu kommen noch folgende Gesichtspunkte, die unter stärker polit-ökonomischen Vorzeichen für einen „Wettbewerb" der Steuer- und Abgabensysteme angeführt werden können: Er verhindert, erstens, tendenziell eine Angleichung der Steuer- und Abgabenbelastung der Volkswirtschaften i n der E W U auf einem insgesamt höheren Niveau; eine solche Erhöhung ist aber bei einer Angleichung zu erwarten, weil keinem Mitgliedsland bei einem gegebenen Ausgaben- und Aufgabenbestand namhafte Aufkommenseinbußen mit entsprechenden Auswirkungen für das staatliche Defizit und die Staatsschuld zugemutet werden (können). Dies gilt noch mehr seit dem Beschluß über die Erfüllung der Maastricht-Kriterien für den E i n t r i t t i n die E W U Ob die Harmonisierung der Mehrwertsteuersätze seit Anfang der achtziger Jahre, die i n fast allen EU-Mitgliedsländern seit 1981 zu einer wesentlichen Erhöhung geführt hat (s. o. Abbildung l 3 2 ) , Beispiel mangelnden oder geradezu Voraussetzung verschärften Wettbewerbs ist, weil damit die Einkommensteuer gesenkt und ggf. staatliche Defizite abgebaut oder wachstumsorientierte öffentliche Ausgaben finanziert werden konnten, kann hier nicht abschließend beantwortet werden. Jedenfalls dürfte der Wettbewerb die nationalen Steuer- und Abgabenpol i t i k e n veranlassen, „pfleglicher" m i t ihren Steuerquellen (Bemessungsgrundlagen) umzugehen und deren Präferenzen stärker zu beachten, was Wachstums- und arbeitsmarktpolitisch günstig erscheint. 30 Schwierigster Punkt beim Übergang vom Bestimmungs- zum Ursprungslandprinzip ist auch nach Auffassung der sog Ursprungslandkommission beim Bundesfinanzministerium dieses Clearing-Verfahren. Vgl. Bundesministerium der Finanzen (Hrsg.) (1994), S. 14. 31 Vgl. oben Abbildung 1. 32 Ausnahmen bilden Irland und Portugal.

Angleichung der Steuersysteme

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Die Zielsetzungen der Angleichung der Steuer- und Abgabensysteme bleiben abgesehen von der Harmonisierung selbst, die für sich genommen meist positiv besetzt ist, weitgehend i m dunkeln. Inwieweit damit Effizienz- und Wachstums-, (Um-)Verteilungs- oder Aufkommenswirkungen, höhere konjunkturpolitische Reagibilität oder Verwaltungsvereinfachungen - zusammengenommen die wesentlichen Anforderungen an ein modernes Steuer- und Abgabensystem 3 3 - erreicht werden sollen, ist unklar. Es fehlt diesbezüglich eine klare Rangordnung i m Harmonisierungskonzept; sie ist auch nicht zu erwarten angesichts der unterschiedlichen Traditionen, Einstellungen, sozialer und wirtschaftlicher Strukturen sowie aktueller Problemlagen i n den einzelnen Ländern. Dadurch leidet die Rationalität der entsprechenden nationalen Maßnahmen zur Verfolgung allokativer, distributiver und stabilisierungspolitischer Ziele - es sei denn, man überantwortet auch diese Aufgaben der europäischen Zentralebene und überträgt erforderlichen steuerlichen und abgabenrechtlichen Gesetzgebungs- und Einnahmenkompetenzen von den Einzelstaaten auf die EU-Ebene. Dies dürfte indes über das Problem der demokratischen Legitimation dieser Verlagerung hinaus nur schwer mit dem Subsidiaritäts- und Dezentralisierungsgrundsatz der EU-Politik zu vereinbaren sein. E i n weiteres Contra gegen eine Angleichung leitet sich aus der Überlegung ab, daß m i t der E W U die Nationalstaaten insbesondere i m geldpolitischen Bereich Kompetenzen einbüßen - aber auch Verpflichtungen nachlassen, ζ. B. das Wechselkursregime durch expansive bzw. kontraktive Fiskalpolitik zu verteidigen 3 4 - , und zum Ausgleich ihre Kompetenzen i n Steuer- (und f i n a n z p o l i t i s c h e n Belangen möglichst unangetastet bleiben sollten, was einen Verzicht auf Harmonisierung „von oben" bedeutet. Inwieweit dieses Argument tragfähig ist, entscheidet sich i n der Realität danach, ob die verbleibenden Möglichkeiten von den einzelnen Mitgliedsländern der E W U Wachstums- und stabilitätsgerecht genutzt werden. Dies bedeutet indes für weniger stabilitätsbewußte Staaten, daß sie, wollen sie kurzfristig nicht der Zielsetzung der gemeinsamen Geldpolit i k zuwiderhandeln, diesbezüglich eher zusätzlichen Restriktionen unterliegen. Andererseits ist es möglich, i m Alleingang eine eher expansive Steuer- und Fiskalpolitik mit höheren Defiziten durchzusetzen, ohne daß die supranationale Geldpolitik reagieren muß. Inwieweit die Fi33 Vgl. Stiglitz (1986), S. 328 ff. Vgl. auch schon Neumark (1970). 34 Vgl. Heilemann (1995), S. 5 ff.

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nanzmärkte eine dauerhafte Haushaltsdisziplin eines Mitgliedsland erzwingen - wie von manchen Beobachtern erwartet - , indem sie die Katings verschlechtern und höhere Risikozuschläge bei den Zinsen auf die jeweiligen Staatsanleihen verlangen, ist zumindest offen. Jedenfalls waren diese z. B. i m Falle Italiens oder Belgiens i n der Vergangenheit offensichtlich nicht i n der Lage, auf eine dauerhafte Haushaltsdisziplin hinzuwirken; diesbezügliche internationale Unterschiede („real spreads") haben i n den letzten Jahren eher zugenommen, wie die anhaltenden Aufwertungstendenzen der D - M a r k zeigen 3 5 . Schließlich erscheint eine Angleichung der Steuer- und Abgabensysteme am wenigsten dort erforderlich, wo sie darauf gerichtet ist, durch das Angebot öffentlicher Güter (materielle und immaterielle Infrastruktur) die Standortbedingungen für dauerhaft wettbewerbsfähige Arbeitsplätze zu sichern und zu verbessern. Zur Vermeidung eines „Trittbrettfahrer-Verhaltens" und eines staatlichen Unter- oder Überangebots wären bei der Finanzierung der erforderlichen Kosten die Gebührenelemente i m Steuer- und Abgabensystem (user fees) i m Sinne einer fiskalischen Äquivalenz zwischen Kosten und Nutzen des staatlichen Leistungsangebots zu verstärken. Somit verringerten sich fiskalisch bedingte Anreize zu Wanderungen i n schlechter bzw. besser ausgestattete Länder, Kegionen u.ä., und die nationale Allokationspolitik bewahrte ihre Autonomie. Demgegenüber dürfte i n der E W U eine stärkere Koordinierung insbesondere bei einer Umverteilung zugunsten immobiler Produktionsfaktoren und zulasten mobiler angezeigt sein, wenn die Redistribution i m nationalen Rahmen immer schwieriger zu verwirklichen ist, weil mobile Faktoren „auswandern" können; dies gilt insbesondere dann, wenn der mit der Umverteilung erreichte soziale Konsens von ihnen nicht als Kostenreduktion geschätzt wird. Damit könnte der nationale Handlungsrahmen enger werden und letztlich nur noch eine Redistribution innerhalb der immobilen Faktoren möglich sein, was zunehmend die Frage nach der Effizienz einer solchen Politik „von den nicht ganz Reichen zu den nicht ganz A r m e n " 3 6 auf wirft. Ob es indes ausreicht, die entsprechenden Maßnahmen, etwa i n Form von Mindeststandards i m Bereich

35 Vgl. Rheinisch-Westfälisches Institut für Wirtschaftsforschung (Hrsg.) (1996a), S. 8. 36 Vgl. dazu die jüngst abgeschlossene Untersuchung i n Rheinisch-Westfälisches Institut für Wirtschaftsforschung (Hrsg.) (1996b), und schon zur Mitte der siebziger Jahre Külp (1975), S. 227-241.

Angleichung der Steuersysteme

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der Sozialpolitik, zunehmend auf europäischer Ebene zu beschließen und zu verwirklichen, damit aber auch entsprechende Steuer- und beitragspolitische Kompetenzen von der nationalen Ebene auf die EU-Ebene zu verlagern, erscheint zweifelhaft; die mobilen Faktoren wandern über Europa hinaus i n die USA oder nach Asien. Letzten Endes erforderte dies eine weltweite Koordinierung, evtl. i m Rahmen der WTO bzw. des GATT.

4. Schlußfolgerungen Was jeweils als Vorteile bzw. als Nachteile einer weiteren Angleichung der Steuer- und Abgabensysteme i m Europäischen Binnenmarkt angesehen wird, kann je nach Standpunkt, Tradition und Verständnis von der Rolle des Staates sehr unterschiedlich ausfallen: daß i m Zuge der A n gleichung bzw. der Nicht-Harmonisierung die einzelstaatlichen Steuersysteme effizienter und damit wachstumsfreundlicher, distributiver zugunsten sozial Schwächerer oder Stärkerer gestaltet oder daß sie generell als Hebel für einen größeren Einfluß des Staates auf die Entstehung, Verwendung und Verteilung der volkswirtschaftlichen Ressourcen verwendet werden könnten, mag der eine je nach seinen Präferenzen positiv, der andere durchaus kritisch beurteilen. Jedenfalls läßt die vorliegende Analyse deutlich werden, daß die Konvergenz der europäischen Steuer- und Abgabensysteme i n den letzten zwei bis drei Dekaden erheblich war, und daß insoweit gegenwärtig steuerlich bedingte, „unvertretbare" Wettbewerbsverzerrungen empirisch i m allgemeinen eher unwahrscheinlich sind; damit können die Begründungen für eine (weitere) Angleichung i n den Mitgliedsländern der E U nicht überzeugen. Dies ist nicht zuletzt Folge der mangelnden Kenntnisse über die zwangsläufig m i t der Besteuerung initiierten Überwälzungprozesse und - noch mehr - über die effektive Inzidenz der mit den Abgaben finanzierten monetären und realen Leistungen des Staates. Somit erscheinen die wissenschaftlichen Grundlagen für eine überzeugende Harmonisierungspolitik als unzureichend, und die Argumente gegen eine weitere Angleichung gewinnen an Durchschlagskraft. Dies soll freilich nicht generelle Abstinenz i n Steuer- und abgabenpolitischer Hinsicht bedeuten: so sollte der EU-Subventionskodex nicht nur - wie bisher - auf direkte staatliche Beihilfen angewendet werden, sondern ζ. B. auch auf Steuervergünstigungen i n Gestalt von Vorzugsbehandlungen bestimmter Einkommen 3 7 . Diese Verantwortung wäre insbesondere 7 Konjunkturpolitik, Beiheft 44

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stärker bei der E U - e i n h e i t l i c h e n Besteuerung v o n K a p i t a l e i n k o m m e n w a h r z u n e h m e n u n d a u f eine w e l t w e i t e K o o r d i n i e r u n g a u s z u d e h n e n . D i e E W U erhöht die Anforderungen an die Q u a l i t ä t der P r o d u k t i o n s s t a n d o r t e u n d s o m i t des A n g e b o t s a n ö f f e n t l i c h e n G ü t e r n . A u f g r u n d d e r verschärften K o n k u r r e n z u m P r o d u k t i v k a p i t a l k o m m t der Aufrechterh a l t u n g u n d Verbesserung d e r I n f r a s t r u k t u r a u s s t a t t u n g eine h o h e P r i o r i t ä t zu. D i e n a t i o n a l e n S t e u e r - u n d A b g a b e n p o l i t i k e n m ü s s e n d a f ü r d i e f i s k a l i s c h e n V o r a u s s e t z u n g e n schaffen u n d z. B . d i e V e r l a g e r u n g v o n „Sozialinvestitionen"

z u Investitionen i n die wirtschaftsnahe

Infra-

s t r u k t u r f ö r d e r n 3 8 . D i e s e r s c h e i n t a u c h geeignet, das w i r t s c h a f t l i c h e Wachstum z u verstärken u n d d a m i t E U - w e i t die Bedingungen f ü r die nachhaltige E r f ü l l u n g der (fiskalischen) M a a s t r i c h t - K r i t e r i e n f ü r den E i n t r i t t u n d d i e d a u e r h a f t e M i t g l i e d s c h a f t i n der E W U z u verbessern.

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37 Der EWG-Vertrag sieht zwar nur ein Verbot direkter staatlicher Beihilfen an Unternehmen vor, u m Wettbewerb s Verzerrungen und Handelsbeschränkungen innerhalb der E U vorzubeugen (§92 EWGV), wobei regionale Beihilfen unter bestimmten Bedingungen zugelassen werden. Obwohl Steuervergünstigungen nicht unter diesen Subventionskodex fallen, w i r d das regionalpolitische Argument i n bezug auf die Vergünstigungen, die i n den irländischen Docklands gewährt werden, herangezogen. 38

I n diese Richtung zielt auch das sog. „Delors"-Weißbuch durch die I n i t i a t i ven z. B. zum Ausbau der Transeuropäischen Netze. Vgl. König (Hrsg.) (1994), S. 123 ff., sowie die diesbezügliche kritische Würdigung bei Heilemann/von Loeffelholz (1994), S. 83 ff.

Angleichung der Steuersysteme i n Europa

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Hans Dietrich von Loeffelholz

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Das F ü r u n d W i d e r e i n e r A n g l e i c h u n g d e r Steuersysteme i m B i n n e n m a r k t Korreferat zu Hans Dietrich von Loeffelholz Von G e r o l d K r a u s e - J u n k ,

Hamburg

1. Vorbemerkungen Anders als es der Wortsinn nahelegt, geht es i n der Diskussion um die europäische Angleichung der Steuersysteme bzw. die sogenannte Steuerharmonisierung nicht primär u m das Für und Wider von Unterschieden i n den Steuersystemen. I m Brennpunkt steht vielmehr die Zuordnung der steuerpolitischen Kompetenz. Genauer: Sollen künftig steuerpolitische Entscheidungen i m Binnenmarkt eher auf europäischer, also zentraler Ebene oder eher i m Bereich der Nationalstaaten, also auf staatlicher oder gar nachgelagerter Ebene, gefällt werden? Dabei herrscht die insgesamt sicher realistische Vorstellung, daß eine gestärkte Gemeinschaftskompetenz auch eine größere Angleichung - nämlich eine Angleichung „von oben" - zur Folge hätte. Der Verfasser des Hauptreferats steht einer derartig erweiterten Gemeinschaftskompetenz insgesamt kritisch gegenüber. Z u m einen verweist er darauf, daß die Angleichung der Steuersysteme ohnehin schon weit (genug) vorangeschritten ist 1 , und zum anderen, daß m i t einer zentralen Kompetenz große Gefahren verbunden sind. 2 1 von Loeffelholz legt dar, daß die großen Föderationen, USA, Kanada und die Schweiz, jeweils intern ein wesentlich differenzierteres B i l d regionaler Steuersätze, Bemessungsgrundlagen und Steuervergünstigungen aufwiesen, als dies gegenwärtig i n der E U der Fall sei. Dies kann freilich weder belegen, daß die Steuersysteme der erwähnten Föderationen, noch daß die Ergebnisse der innerhalb der E U erreichten Angleichung effizient sind. 2 von Loeffelholz befürchtet i m einzelnen eine Steuerangleichung auf überhöhtem Niveau und eine Verletzung der Grundsätze von Subsidiarität und Dezentralisierung. Insbesondere wegen des m i t der Währungsunion einhergehenden Verlusts an geldpolitischer Kompetenz müsse die finanzpolitische Kompetenz der Mitgliedstaaten unangetastet bleiben. Diese Meinung kontrastiert allerdings m i t

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Wenngleich sich beiden Thesen durchaus einiges abgewinnen läßt, seien ihnen die folgenden Positionen gegenübergestellt. 1. Der Prozeß der Angleichung der europäischen Steuersysteme ist bei weitem noch nicht abgeschlossen; die europäische Steuerharmonisierung ist weniger eine Frage des Ob, als des Wie. 2. Angesichts schwerer Mängel der europäischen Steuersysteme kann man sich von einer gestärkten Gemeinschaftskompetenz auch Vorteile versprechen. Diese beiden Gegenthesen seien i n den folgenden Abschnitten 2. und 3. begründet.

2. Europäische Steuerharmonisierung: Mehr eine Frage des Wie als des Ob M i t der Eröffnung des Binnenmarktes am 1. Januar 1993 schien es, als sei der Prozeß der europäischen Steuerharmonisierung zum Stillstand gekommen, getreu der Maxime, daß zu diesem Zeitpunkt alle zur Eröffnung des Binnenmarktes notwendigen Harmonisierungsmaßnahmen abgeschlossen sein mußten. (Sonst hätte der Binnenmarkt nicht eröffnet werden können.) Augenfälliges Merkmal dieser politischen Linie ist die Tatsache, daß die Europäische Kommission ihren bereits 1967 eingebrachten und später, 1975, geänderten Entwurf für ein europäisches Körperschaftsteuersystem i m Jahre 1990 zurückzog. Sie hatte damals die Prüfung weiterer Harmonisierungsmaßnahmen einer Expertenkommission übertragen, deren 1992 vorgelegte, weitreichende Empfehlungen 3 aber nicht zum Anlaß einer neuen Harmonisierungsinitiative genommen. Erhebliches Gewicht hatte i n diesem Zusammenhang die europäische Hinwendung zum „Subsidiaritätsprinzip", das denn auch als neues Gemeinschaftsprinzip Eingang i n den Maastrichter Vertrag fand. Auch auf dem Gebiet der indirekten Besteuerung schien der Harmonisierungselan der Europäischen Gemeinschaft gebremst: Zwar wurde das mit der Eröffnung des Binnenmarktes eingeführte europäische Umsatzsteuersystem als „Übergangsregel" apostrophiert, i n der erklärten A b einer vielfach erhobenen Forderung, die Finanzpolitik der Mitgliedstaaten müsse stärker koordiniert werden, wenn die Währungsunion erfolgreich sein soll. 3 Europäische Kommission, Luxemburg, A m t für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften (Hrsg.), Bericht des Unabhängigen Sachverständigenausschusses zur Unternehmensbesteuerung (Ruding-Report), 1992.

Angleichung der Steuersysteme i m Binnenmarkt

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sieht, es bis 1997 mit der Einführung des grenzüberschreitenden Vorsteuerabzugs abzulösen; doch schien diese Absicht schon damals recht vage, so daß das - offensichtliche - Verstreichen des Termins niemanden überrascht. Inzwischen hat die Kommission freilich ihre Zurückhaltung aufgegeben, sofern nicht ohnehin die Ruhe nur oberflächlich war. Das von Kommissar M o n t i zur Turiner Konferenz vorgelegte Papier 4 zeigt, daß die Kommission entschlossen ist, den Harmonisierungsprozeß voranzutreiben. Nachdem die Kommission zunächst einen deutlichen „Kontrast zwischen den zur Koordinierung der Steuerpolitik eigentlich erforderlichen und den tatsächlich angenommenen Beschlüssen" beklagt (S. 10), kündigt sie an, „bis zum Sommer ihr strategisches Programm für eine endgültige MwSt-Regelung auf der Grundlage des Herkunftlandprinzips" und ebenfalls i m Sommer „eine Mitteilung über direkte Steuern" vorzulegen, „die sich m i t den Erfordernissen und Herausforderungen eines reibungslos funktionierenden Binnenmarktes aus der Perspektive der Bürger, der Wirtschaft und der Mitgliedstaaten befassen w i r d " . I m Herbst w i l l die Kommission Vorschläge unterbreiten, die den Konsultationen über Verbrauchsteuern und insbesondere deren Mindestsätze Rechnung tragen (S. 20). „Darüber hinaus werden i n der Kommission derzeit Überlegungen angestellt, inwiefern ein effektiver Mindeststeuersatz . . . i n der gesamten Union zu der erforderlichen Stabilisierung der Einnahmen i n den verschiedenen Steuerbereichen beitragen würde" (S. 13). Noch deutlicher w i r d die neue Linie der Europäischen Kommission i n einem Brief des Kommissars M o n t i an den deutschen Bundesaußenminister vom Oktober 1995. Hier beklagt die Kommission, daß der europäische Kapitalverkehr durch das deutsche Körperschaftsteuerrecht erheblich verzerrt werde. Z u m einen würde zwischen deutschen Anteilseignern deutscher und anderer europäischer Kapitalgesellschaften dadurch diskriminiert, daß auf die deutsche Einkommensteuer nur die deutsche (und aufgrund des deutsch-französischen DBA: die französische), nicht aber die Körperschaftsteuer anderer EU-Staaten angerechnet werde. Z u m anderen würden ausländische Eigentümer deutscher Körperschaften gegenüber deutschen Eigentümern diskriminiert, da eben nur die letzteren die deutsche Körperschaftsteuer anrechnen können bzw. erstattet erhalten. Diese Hinweise zeigen, daß die Europäische 4 Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Steuern i n der Europäischen Union, Brüssel, den 20. 3. 1996, SEK (96) 487 endg.

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Kommission eine Harmonisierung der Körperschaftsteuersysteme keinesfalls aufgegeben hat, zur Erreichung dieses Ziels aber neue Wege beschreitet. Anstatt den - vermutlich aussichtslosen - Versuch zu unternehmen, den Rat neuerdings zu einer Körperschaftsteuerrichtlinie zu bewegen, stützt sie sich unmittelbar auf die Nichtdiskriminierungsregeln der Art. 52 und 58 sowie der Art. 73 b bis 73 g EWGV und eröffnet damit - für den Fall der Weigerung der betroffenen Mitgliedstaaten - die Möglichkeit eines Rechtsverfahrens vor dem EuGH. Daß diese Strategie nicht chancenlos ist, zeigt eine ganze Reihe jüngerer Urteile, die der E u G H i m Hinblick auf die europäische Einkommensbesteuerung grenzüberschreitender Aktivitäten gefällt hat. 5 Insbesondere der Fall „Schumacker" hat erhebliches Aufsehen erregt. E i n aus Belgien nach Deutschland einpendelnder Arbeitnehmer hatte auf die Gewährung des Splittingvorteils geklagt, der i h m jährlich eine Steuerminderung von rd. 8.000 D M einbringen würde. Dies war i h m von den deutschen Steuerbehörden versagt worden, da er nach bis dahin unbestrittener Rechtsaufassung als i n Deutschland beschränkt Steuerpflichtiger keine einkommensteuerliche Berücksichtigung seiner persönlichen Lebensumstände verlangen konnte. Schumacker hat letztlich vor dem E u G H obsiegt. Diesem Urteil werden sehr weitreichende Konsequenzen zugemessen. Nicht nur wurde zum 1. Januar 1996 das deutsche Einkommensteuergesetz (§§ 1 Abs. 3, 1 a) entsprechend angepaßt 6 ; vielmehr geht es u m das dem E u G H - U r t e i l zugrundegelegte Prinzip der internationalen innereuropäischen Besteuerung. Letztlich ist nicht ganz klar, was den Ausschlag für das Urteil gab. Entweder war es die Tatsache, daß Deutschland i m Doppelbesteuerungsabkommen m i t Holland eben jene Regelung den holländischen s Commission ν France, Case C-270/83, [1986] ECR 273 Beight ν Luxembourg, Case C 175/88, [1990] ECR 1779 RV IRC exp Commerzbank, [1994] 2 WLR 128 Halliburton Services BV ν Staatssecretaries van Financien, Case C/-93, [1994] STC 655 Werner ν Finanzamt Aachen, Case C-112/91 Bachmann ν Belgium, Case C-204/90, [1992] ECR 249 Commission ν Belgium, Case C-300/90, [1992] ECR 305 Wielock ν Inspecteur de Directe Belastingen, Case C-80/94, [1995] ECJ 876 Finanzamt Köln-Altstadt ν Schumacker, Case-279/93, [1995] ECJ 306 Commission ν Luxembourg, Case-151/94, [1995] ECJ 1047 R ν H M Treasury exp Daily Mail, Case 82/87, [1988] STC 787 6 Nach Deutschland einpendelnde EU-Grenzgänger können sich wie unbeschränkt Steuerpflichtige behandeln lassen (und auch den vollen Splitting-Vorteil wahrnehmen), wenn ihre deutschen Einkünfte mindestens 90% ihrer Gesamteinkünfte (einschließlich der Einkünfte des Ehepartners) ausmachen.

Angleichung der Steuersysteme i m Binnenmarkt

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Einpendlern zugestanden hatte, die es jetzt durch die Einkommensteuerreform auch allen übrigen Einpendlern gewährt. Folgt man dieser Interpretation des Urteils, dann hat der E u G H gewissermaßen eine Meistbegünstigungsklausel entwickelt, d. h. er hat den Grundsatz der Nichtdiskriminierung zwischen Arbeitnehmern der Europäischen Union nach Art. 48 EWGV so ausgelegt, daß Vorteile, die ein Mitgliedstaat Bürgern aus einem anderen Mitgliedstaat gewährt, auch allen anderen EU-Bürgern zustehen müssen. Nach einer weitergehenden Interpretation kommt mit dem Urteil zum Ausdruck, daß - unabhängig von bestehenden Doppelbesteuerungsabkommen - grundsätzlich jeder EU-Bürger die Möglichkeit haben soll, persönliche, steuermindernde Tatbestände bei der Besteuerung geltend machen zu können. Reicht sein i m Wohnsitzland zu versteuerndes Einkommen dafür nicht aus, muß gewissermaßen das europäische Quellenland i n Ersatz treten. Eine noch weitergehende Interpretation unterstellt, das Gericht wolle das Verbot einer diskriminierenden Behandlung europäischer Arbeitnehmer durch Mitgliedstaaten der Europäischen Union (Art. 48 EWGV) generell auch auf steuerliche Regelungen angewandt wissen. 7 Diese Interpretation hätte insofern sehr weitreichende Folgen, als m i t den Art. 52 und 73 b EWGV ähnliche Nichtdiskriminierungsregeln auch für gewerbliche Tätigkeiten und Kapitalanlagen fixiert sind. Zwar w i r d i m Art. 73 d EWGV eine nach Wohnsitz- und Quellenland differenzierende Kapitaleinkommensbesteuerung als mit dem Diskriminierungsverbot vereinbar erklärt; doch läßt sich diese Vereinbarkeit auch auf den Fall begrenzt denken, daß die Differenzierung eben nicht zu einer Diskriminierung i n ternationaler Kapitaleinkommen führt. Diese Lesart würde letztlich bedeuten, daß die europäischen Steuersysteme innereuropäisches Einkommen aus grenzüberschreitenden A k t i v i täten nur noch insoweit unterschiedlich behandeln dürften, als es dafür überzeugende, von der Sache her gebotene Gründe gibt. Es gälte also ein Willkürverbot, ähnlich wie i n Konsequenz des Art. 3 GG für das innerdeutsche Steuerrecht. Nach diesem Maßstab dürften viele der derzeit den innergemeinschaftlichen Faktorverkehr treffenden Besteuerungsregeln sehr kritisch zu beurteilen sein. 8 7 Vgl. A. J. Rädler, Fragen aus dem Schumacker-Urteil des EuGH, DB, Heft 16 vom 21. 4. 1995, S. 793. 8 Dies gilt ζ. B. für die Tatsache, daß Ausschüttungen britischer oder italienischer Tochtergesellschaften an Muttergesellschaften i n anderen EU-Staaten teils,

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Dies alles stützt die Vermutung, daß es nicht darum geht, ob der Prozeß der europäischen Steuerharmonisierung weitergeführt wird, sondern vielmehr u m die A r t und Weise, i n der dies geschieht. Genauer: Soll die europäische Steuerharmonisierung einzelnen Interventionen der Kommission und ggfs. dem Case Law des E u G H überlassen werden, oder sollen die zuständigen politischen Gremien der EU, also i n erster Linie der Europäische Rat und das Europäische Parlament, neue Versuche unternehmen, zu einer systematischen, d. h. auf klaren Prinzipien aufgebauten europäischen Lösung zu gelangen? 9 Unverzichtbare Voraussetzung für einen derartigen Versuch ist die Einführung eines (qualifizierten) Mehrheitsprinzips i m Europäischen Rat. N u r so lassen sich Partikularinteressen überwinden und alle europäischen Staaten zur ernsthaften Mitarbeit zwingen. 1 0

3. Gibt es Gründe, die europäische Steuerharmonisierung positiv zu beurteilen? Es besteht kein Zweifel daran, daß eine europäische Steuerpolitik, selbst wenn sie i n der oben beschriebenen Weise wieder unter die primäre Verantwortlichkeit der politischen Gremien gestellt würde, Gefahren enthält. So w i r d die Harmonisierung gelegentlich als Kartell der Steuerstaaten 1 1 interpretiert, das den Bürgern sozusagen die letzte Chance gewie systematisch zu erwarten, der Körperschaftsteuer unterworfen, teils freigestellt werden. 9 A. J. Rädler, deutsches Mitglied der Ruding-Kommission, drückt den Sachverhalt wie folgt aus: „Weil die Mitgliedstaaten gerade i m Bereich der direkten Steuern die Souveränität i n den Vordergrund stellen und dazu regelmäßig die Grundsätze der Subsidiarität und der Kohärenz (mit ihrem Steuersystem als ganzem, G. K.-J.) anführen, u m notwendige Gemeinschaftsregelungen zu vermeiden, häufen sich die Fälle, daß Gerichte der Mitgliedstaaten Steuervorschriften durch den Europäischen Gerichtshof daraufhin überprüfen lassen, ob die i m Vertrag garantierten Grundfreiheiten beachtet werden. Die Entscheidungen des Gerichtshofs können naturgemäß nicht systematisch auf die Steuersysteme i n den Mitgliedstaaten einwirken; sie schlagen notgedrungen wahllos an der einen oder anderen Stelle ein. Die Mitgliedstaaten erscheinen wie Vertragspartner, die sich nunmehr nicht nur über das Kleingedruckte, sondern auch über das Großgedruckte i n den von ihnen ausgehandelten Verträgen wundern" (IStR 5/96, S. 224-231). 10 Zentrale Regelungen auf der Basis von einstimmigen Beschlüssen sind kaum mehr als kollektive Vereinbarungen, i n denen letztlich doch alles vom Willen der einzelnen dezentralen Entscheidungsträger abhängt. Zwar ist richtig, daß sich dieser Wille i m größeren Verband eher abschleifen, jedenfalls auf die kollektiven Ziele ausrichten wird; dennoch kann ernsthaft nicht darauf gesetzt werden, daß sich alle Beteiligten stets kompromißbereiter zeigen, nur weil es u m Gemeinschaftsentscheidungen geht.

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gen den Leviathan, nämlich die Abstimmung m i t den Füßen, verbaut. Viele andere Aspekte einer zentralen oder dezentralen Zuständigkeit werden i n der einschlägigen Literatur behandelt. Die wichtigsten Punkte sind: statische und dynamische Effizienz, Bügernähe und Bürgerpräferenzen, Gewaltenteilung, Vielfalt, Reformfähigkeit und Flexibilität, Ausgewogenheit, Vermeidung externer Effekte, fiskalische Äquivalenz, Fähigkeit zur Umverteilung u. a.m. 1 2 . Auf diese größtenteils ambivalenten Argumente kann hier i m einzelnen nicht eingegangen werden. Statt dessen sei auf offenkundige Mängel i n den europäischen Steuersystemen aufmerksam gemacht und gewissermaßen spekulativ der mögliche Vorteil einer erweiterten zentralen Zuständigkeit abgeschätzt. Bei sich zunehmend international öffnenden Märkten sind der nationalen Steuerpolitik - i n Europa wie anderswo - Grenzen gesetzt, die nicht mehr mit dem bloßen Hinweis auf die Zähmung des Leviathan gutgeheißen werden können. Dies zeigt sich besonders deutlich i n der Erosion der Kapitaleinkommensteuer; für Europa ist aber auch zu befürchten, daß die Umsatzbesteuerung trotz des Vorliegens vernünftiger L ö sungsmodelle nicht über den Status des „Übergangsmodells" hinausgelangt, solange mit der Einstimmigkeitsregel die Chance für einen wirksamen Harmonisierungsprozeß verbaut ist. Auf mögliche Harmonisierungsvorteile i n beiden Steuerbereichen sei i m folgenden aufmerksam gemacht.

3.1 Kapitaleinkommensbesteuerung

Die nationale Steuerpolitik tut sich zunehmend schwer, Kapitaleinkommen wirksam zu besteuern. 13 I n Deutschland zeigt sich dies weniger

11 Vgl. z. B. S. Cnossen, Introduction, in: ders. (Hrsg.), Tax Coordination i n the European Community, Kluwer, Deventer 1987. 12 Vgl. u. a. G. Krause-Junk und R. Müller, Finanzpolitische Dezentralisierung i n Lateinamerika, Beobachtungen und Wertungen aus internationaler Sicht, in: Institut für Ausländisches und Internationales Finanz- und Steuerwesen der U n i versität Hamburg (Hrsg.), Hefte zur Internationalen Besteuerung, Heft 106, Hamburg 1996. G. Krause-Junk, Internationaler Wettbewerb der Steuersysteme: Not oder Tugend?, Sonderveröffentlichung Nr. 18 des Finanzwissenschaftlichen Forschungsinstituts an der Universität zu Köln, K ö l n 1990. McLure, Sinn, Musgrave and others, Influence of Tax Differentials on International Competitiveness, Deventer, Boston 1990. 13 Symptomatisch ist der Rückgang des relativen Anteils des Körperschaftsteueraufkommens i n Deutschland (siehe Tabelle auf S. 108).

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i n allgemeinen Tarifsenkungen (wenn auch die Körperschaftsteuersätze innerhalb der letzten sechs Jahre von 56 v.H. über 50 v.H. auf 45 v.H. gemindert wurden) als vielmehr i n einer Reihe von Regeln, die für die Höhe der Bemessungsgrundlage relevant sind. - Für Einkünfte aus Kapitalvermögen gilt ein Freibetrag i n Höhe von 6.000 DM. Dies erlaubt es ζ. B. einer vierköpfigen Familie, die bei einem Zinssatz von 6% aus einem Vermögen von 400.000 D M anfallenden Einkünfte steuerfrei zu vereinnahmen. - Gewinnausschüttungen inländischer Körperschaften an Muttergesellschaften i n anderen EU-Ländern bleiben ab 1. Juli dieses Jahres kapitalertragsteuerfrei. Dies erlaubt durch Anwendung des Schütt-aushol-zurück-Verfahrens eine materielle Thesaurierung der Gewinne zu einem Körperschaftsteuersatz von 30 v.H. Formal ergibt sich also ein erheblicher „Ausländereffekt", generell steht es aber auch deutschen Körperschaften i n deutschem Besitz frei, sich eine ausländische M u t tergesellschaft zuzulegen. - Veräußerungsgewinne aus Aktien i m Privatbesitz sind bei Einhaltung der 6-Monats-Spekulationsfrist steuerfrei. Dies ist nicht nur für sich genommen ein deutlicher Steuervorteil, sondern eröffnet zusätzlich die Möglichkeit, - über ein sogenanntes Dividenden-Stripping - auch ausgeschüttete Gewinne steuerfrei zu vereinnahmen. Verkauft der A k tienbesitzer kurz vor Ausschüttung an einen anrechnungsberechtigten Inländer, der die A k t i e n ins Betriebsvermögen nimmt, könnte dieser die Aktien nach Ausschüttung zu einem maximal u m die volle BruttoDividende verringerten Preis rückveräußern, ohne dabei zu verlieren. Der Grund sind ausschüttungsbedingte Wertminderungen gerade i n Höhe der Bruttodividenden, so daß insofern kein steuerbarer Gewinn anfällt. M i t der Versagung der steuerlichen Anerkennung ausschüttungsbedingter Wertminderungen beim Aktienerwerb von Nichtanrechnungsberechtigten hat der Gesetzgeber versucht, eine „indirekte Anrechnung", sprich: Körperschaftsteuerbefreiung bei Nichtanrechnungsberechtigten, zu unterbinden (§ 50 c Abs. 10 EStG). E i n D i v i denden-Stripping durch Anrechnungsberechtigte wäre allerdings nur zu verhindern, wenn generell die steuerliche Anerkennung von ausTabelle Anteil der Körperschaftsteuer am Gesamtsteueraufkommen (in v.H.) 1962

1965

9

7,7

1968

1971

1974

1977

1980

1983

7

4,2

4,3

5,6

5,8

6

1986

1989

1992

1994

7,1

6,4

4,3

2,5

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schüttungsbedingten Wertminderungen versagt oder Veräußerungsgewinne besteuert würden. 1 4 - I n der Kapitaleinkommensbesteuerung geht die Großzügigkeit des Gesetzgebers gelegentlich so weit, selbst i n der Vergangenheit erzielte Gewinne nachträglich noch steuerlich zu entlasten. Als der Ausschüttungssatz von 36 v.H. auf 30 v.H. ermäßigt wurde, wurden zuvor thesaurierte und mit 56 v.H. besteuerte Gewinne bei Ausschüttung (zur Herstellung der sogenannten Ausschüttungsbelastung) m i t 26 v.H. entlastet, obwohl die entsprechende Entlastung bei Ausschüttung zum Zeitpunkt der Entstehung der Gewinne nur 20 v.H. betragen hätte. Für sogenannte Nichtanrechnungsberechtigte hat sich das zwischenzeitliche Thesaurieren also auch steuerlich gelohnt. 1 5 - Die stärkste Erosion der Kapitaleinkommensteuer dürfte aber davon ausgehen, daß i n Deutschland - wie i n den meisten anderen Staaten an ausländische Gläubiger fließende Zinsen von inländischer Einkommensteuer, Körperschaftsteuer und Kapitalertragsteuer verschont werden. Das von ausländischem Fremdkapital erwirtschaftete Einkommen w i r d i m Inland nicht besteuert. Dies ist der Grund für vielfältige Gestaltungsmodelle, bei denen es entweder darum geht, K a p i taleinkommen generell als Zinseinkommen anfallen zu lassen oder doch das i m Hochsteuerland erwirtschaftete Kapitaleinkommen i n Form von Zinsen auszuweisen. So hat gerade i n Holland ein Fall Aufsehen erregt, den das oberste holländische Finanzgericht zugunsten eines internationalen Konzerns entschieden hat. Eine britische Muttergesellschaft besitzt i n Holland eine dort produzierende Tochter, die zuvor ihre Gewinne i n Form von Dividenden an die Mutter ausgeschüttet hat. U m holländische Körperschaftsteuer zu vermeiden, hat nun die Mutter eine zweite Tochter i n Holland gegründet, die mit Hilfe eines Darlehens der Mutter die erste Tochter aufgekauft hat. Die beiden Töchter verbinden sich zu einer fiskalischen Einheit, so daß i n Holland kein steuerbarer Gewinn mehr anfällt. Die von der ersten Tochter erwirtschafteten Gewinne saldieren sich m i t den Zinskosten der zweiten Tochter.

14 Vgl. u. a. R. Eckert, § 50 c Abs. 10 EStG zur Vermeidung des DividendenStripping verfassungsgemäß?, DB, Heft 2 vom 13. 1. 1995, S. 62. 15 Ähnliches steht ins Haus, wenn ab 1. Juli d.J. die Dividendenausschüttungen deutscher Tochtergesellschaften an Muttergesellschaften innerhalb der Europäischen Union kapitalertragsteuerfrei gestellt werden.

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Auch i n Deutschland lohnt es sich für ausländische Kapitaleigner, ihre deutschen Unternehmen mit Fremdkapital, anstatt m i t Eigenkapital, auszustatten. Versuche, dieser Gestaltung mit Hilfe sogenannter U n terkapitalisierungsregeln („thin-capitalization-rules") zu begegnen (§ 8 a KStG), sind stets fragwürdig, da sie darauf angewiesen sind, Gesellschafterdarlehen als solche zu erkennen und Maßstäbe für Unterkapitalisierung vorzugeben. - Kontrollmitteilungen über geleistete Zinszahlungen an die Finanzämter, wie sie i n einigen europäischen Staaten üblich sind, ergehen nicht an das Ausland. Die Folgen sind u. a. ein reger Grenzverkehr, bei dem ζ. B. Deutsche ihr Geldvermögen i n Holland anlegen und damit die Quellensteuer vermeiden (und die spätere Einkommensteuer hinterziehen), während Holländer ihr Vermögen i n Deutschland anlegen und damit die i n Holland üblichen Kontrollmitteilungen (und die Einkommensbesteuerung) umgehen. Beliebt ist auch eine A r t „CouponStripping", bei dem man Geldvermögen vor Zinsfälligkeit an Ausländer veräußert und nach Fälligkeit zurückkauft (möglicherweise i n einem einzigen Geschäftsvorgang). Dieses Verhalten w i r d ζ. B. aus Spanien berichtet. - Die Bundesregierung plant, die Vermögensteuer und die Gewerbekapitalsteuer abzuschaffen. Der Grund für die unverkennbare Erosion der Kapitaleinkommensbesteuerung und die eher halbherzigen Versuche einer Durchsetzung von Steueransprüchen liegt letztlich i n der Furcht vor Kapitalflucht. 1 6 Betrachtet man nämlich das Kapital als international mobil, müßte sich dessen Besteuerung i n nationalen Wohlfahrtsverlusten niederschlagen. Unterstellt man einen international gegebenen Nettozinssatz (r), eine 16 Für die zuletzt genannten Pläne der Bundesregierung zur Abschaffung von Vermögensteuer und Gewerbekapitalsteuer gibt es freilich auch Gründe, die mit der steuerlichen Entlastung des Kapitals nichts zu t u n haben. So besteht bei der Vermögensteuer das Problem, die sehr unterschiedlichen Vermögensgegenstände nach gleichen Maßstäben zu bewerten; andernfalls ist die Steuer nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 22. Juni 1995 (2 B v L 37/91) sogar verfassungswidrig. Eine gleichmäßige Erfassung und Bewertung aller Vermögensgegenstände würde aber einen Verwaltungsaufwand verlangen, der angesichts des relativ kleinen Aufkommens der Steuer (1995 rd. 8 Mrd.) nicht gerechtfertigt erscheint. Die Gewerbekapitalsteuer ist aus verschiedenen anderen Gründen obsolet (vgl. Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundesministerium der Finanzen, Zur Reform der Gemeindesteuern, Schriftenreihe des Bundesministeriums der Finanzen, Heft 31, 1982, und Zur Einheitsbewertung i n der Bundesrepub l i k Deutschland, Schriftenreihe des BMF, Heft 41, 1989). Vermögensteuer und Gewerbekapitalsteuer werden zur Zeit i n den neuen Bundesländern nicht erhoben; allein ihre Einführung würde erhebliche Verwaltungskosten verursachen.

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mit zunehmendem Kapitaleinsatz sinkende nationale Grenzproduktivität des Kapitals ( f ) und eine Faktorentlohnung m i t der Grenzproduktivität und interpretiert die Fläche unter der Grenzproduktivitätskurve als Nationalprodukt und Maßstab inländischer Wohlfahrt (Abb. 1), dann sinkt der inländische Kapitaleinsatz mit zunehmender Kapitaleinkommensbesteuerung und führt bei einem Steuersatz von s zu einem Wohlfahrtsverlust i n Höhe des Dreiecks ABC.

Abbildung 1

Interpretiert man die Fläche A D E als nationales Lohneinkommen und unterstellt ein lohnunabhängiges Arbeitsangebot, dann liegt es sogar i m Interesse der (international immobilen) Arbeitnehmer, daß sie und nicht das Kapital besteuert werden. Auf diese Weise würde sich der Nettolohn nämlich nur um das Steueraufkommen BFEC und nicht u m die größere Fläche ABFEC reduzieren. Die Gewerkschaften müßten für eine Lohn- anstelle einer Kapitaleinkommensbesteuerung demonstrieren. Es sind wohl derartige Überlegungen, die einige Ökonomen dazu bewegen, die Kapitaleinkommensbesteuerung noch weiter einschränken

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zu wollen. Nach den Vorstellungen des Kronberger Kreises 1 7 , der sich seinerseits auf die Heidelberger Forschungsgruppe, „Konsumorientierte Neuordnung des Steuersystems" 18 , bezieht, sollte nur der „zinsbereinigte" Gewinn besteuert werden, d. h. die steuerliche Bemessungsgrundlage der Unternehmensgewinne u m eine „Normalverzinsung" des eingesetzten Eigenkapitals vermindert werden. Interpretiert man die Fläche zwischen der Grenzproduktivitätskurve und der Zinsgeraden (Abb. 1) nicht als Lohneinkommen, sondern als inframarginalen Gewinn (bzw. als Summe aus beidem), dann würde eine Zinsbereinigung der Bemessungsgrundlage unter sonst gleichen Annahmen dazu führen, daß sich das i m Inland eingesetzte Kapital i m Zuge der Besteuerung nicht verminderte. E i n Wohlfahrtsverlust wäre vermieden. Zweifellos ist die Wahrung steuerlicher Neutralität am einfachsten dadurch zu bewerkstelligen, daß man auf die Besteuerung verzichtet. Unter dynamischen Aspekten spricht sogar manches dafür, die Steuerbefreiung auch oder gerade auf die über die Normalzinsen hinausgehenden Gewinne auszudehnen; denn das sind Gewinne der Schumpeter sehen Unternehmer. Sie vor allem - und weniger die m i t der Normalverzinsung zufriedenen „statischen Wirte" - sollten sich i n Deutschland wohlfühlen. Aber die Steuerbefreiung von Kapitaleinkommen ist nur dann eine Patentlösung, wenn andere Steuerquellen zur Verfügung stehen, deren Belastung keine oder doch nur weit weniger schwerwiegende Reaktionen hervorruft. Bedenkt man, daß als Gegenstück zu einer Besteuerung von Kapitaleinkommen letztlich nur eine Besteuerung von Lohneinkommen i n Betracht kommt, reduziert sich das Problem also auf die Frage, ob denn eine Besteuerung von Lohneinkommen i n der Tat weit weniger schädliche Reaktionen auslöst. Dies läßt sich generell sicher nicht behaupten. - Auch Arbeitsanbieter, namentlich die Anbieter der für die Volkswirtschaft so wichtigen hochproduktiven Arbeit, sind international mobil. - Besteuerte Arbeitseinkommen geraten immer mehr i n Konkurrenz zu unbesteuerten Arbeitseinkommen. Die Palette unbesteuerter Arbeits-

17 Kronenberger Kreis, Steuerreform für Arbeitsplätze und Umwelt, Frankfurter Institut, Schriftenreihe Bd. 30, 1996, S. 23. 18 Z u dieser Gruppe zählen u. a. M. Rose, F. Wagner und I. Wenger. Vgl. auch M. Rose, E i n einfaches Steuersystem für Deutschland, Wirtschaftsdienst 1994/VIII, S. 423 f.

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einkommen reicht vom steuerlich nicht erfaßten Realtausch über die ,,Heimwerker"-Tätigkeit bis h i n zur Schwarzarbeit. - Eine exzessive Besteuerung von Arbeitseinkommen schwächt die A n reize für die volkswirtschaftlich immer wichtigere Aus- und Weiterbildung. Vor allem aber ist zu bezweifeln, daß sich die Umschichtung der Abgabenlast vom Kapital zur Arbeit (in vollem Umfang) i n einer Senkung der Nettolöhne niederschlägt. Vielmehr gibt es Grund zu der Vermutung, daß sie auch zu einer Erhöhung der Bruttolöhne führt. Dies muß sich bei gegebenem Arbeitsangebot i n Arbeitslosigkeit niederschlagen. Auch bei internationaler Kapitalmobilität ist also vor einer einseitigen Verschiebung der Abgabenlast zu warnen und eher eine Balance zwischen den hier wie da ungünstigen Steuerwirkungen anzustreben. Die internationale Kapitalmobilität ist i m übrigen nur so weit ein Hinderungsgrund für eine wirksame Kapitaleinkommensbesteuerung, als die Nettozinssätze tatsächlich international gegeben sind und sich das international mobile Kapital der Besteuerung i n einem Land durch den Wechsel i n ein anderes Land entziehen kann. Dies ist allerdings die Situation, der sich derzeit die Einzelstaaten gegenübersehen, weil sie auf eine Koordinierung ihrer Steuerpolitik verzichten. Unter diesen Umständen läßt sich dem Tenor der von Loeffelholzschen Ausführungen, nämlich einer eher skeptischen Beurteilung größerer Steuerkompetenzen der EU, nur bedingt folgen. 1 9 Die Chancen der Gemeinschaft für eine am Ende doch noch wirksame Kapitaleinkommensbesteuerung sind nämlich ungleich höher als diejenigen der Nationalstaaten. Dabei gehe ich von folgenden Hypothesen aus:

19 von Loeffelholz nimmt allerdings i n bezug auf die Harmonisierung der Kapitaleinkommensbesteuerung eine differenziertere Position ein. Einerseits bezweifelt er, daß es i n Hochsteuerländern zu Investitionsausfällen käme. Steuerlich hinausgedrängtes Kapital sei auf den weltweiten Kapitalmärkten gewissermaßen stets ersetzbar. I m übrigen könnten sich die EU-Staaten schon wegen der Maastricht-Kriterien keinen Steuerwettlauf leisten. Mindeststandards auf europäischer Ebene brächten nichts, weil immobile Faktoren über Europa hinaus i n die US oder nach Asien wanderten. Andererseits sei i n der E U „eine stärkere Koordinierung insbesondere bei einer Umverteilung zugunsten immobiler Produktionsfaktoren und zu Lasten mobiler angezeigt". Auch müsse die europäische Kommission Verantwortung für eine europaeinheitliche Besteuerung von Kapitaleinkommen wahrnehmen - freilich weniger aus volkswirtschaftlichen oder kapitalmarktspezifischen Gründen als wegen des „Öffentlichkeitswert(s)" von Kapitalflucht.

8 Konjunkturpolitik, Beiheft 44

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- Kapitaleinkommen kann am wirksamsten dort besteuert werden, wo es real erwirtschaftet wird. Wenn sich die großen Industriestaaten zu einer Kapitaleinkommensbesteuerung an der Quelle entschlössen, könnten die Vermögensbesitzer dieser Mindestbesteuerung auch dann nicht entgehen, wenn sie ihr Kapitaleinkommen über internationale Steueroasen leiteten. - Europa verbindet viele große Industriestaaten. Das Kapital könnte deren Potentiale nicht vernachlässigen, auch wenn hier eine angemessene Quellenbesteuerung erfolgen würde. - Wichtiger noch: Wenn Europa i n dieser Beziehung geschlossen handelte, müßte es möglich sein, auch m i t Nordamerika und Japan, die mit ähnlichen Problemen zu kämpfen haben, zu einer Übereinkunft zu gelangen. Schließlich muß den Industriestaaten weltweit bewußt werden, daß es an ihnen liegt, eine wirksame Kapitaleinkommensbesteuerung durchzusetzen. - D a ß nicht alle Länder der Welt i n diesem Konzept mitspielen würden, ist nicht unbedingt nachteilig. Entwicklungsländer könnten auf diese Weise einen Teil ihrer typischen Standortnachteile kompensieren.

3.2 Umsatzbesteuerung

Bekanntlich hat sich der Europäische Hat nicht auf eine Einengung der Steuersätze der Mehrwertsteuer einigen können, geschweige denn auf einen einheitlichen Steuersatz. Dies ist auch gut so; denn die indirekten Steuern haben für die einzelnen Mitgliedstaaten eine unterschiedliche fiskalische Bedeutung. Andererseits scheitert aber gerade an der Vielfalt der Steuersätze offenkundig die Einführung des grenzüberschreitenden Vorsteuerabzugs, den die Gemeinschafts Juristen irreführenderweise als Anwendung des Ursprungslandprinzips bezeichnen. Die Einführung dieses Systems, ursprünglich schon für 1993 vorgesehen und mit einer sogenannten Übergangsregel zunächst auf 1996 verschoben, ist weit und breit nicht zu erkennen. Der Hauptwiderstand richtet sich gegen das nach wie vor umstrittene Verfahren, mit dem die fiskalische Kompensation der Importländer erfolgen soll. Dabei ist das gegenwärtige System alles andere als glücklich: Umsätze innerhalb eines Mitgliedstaates werden der nationalen Umsatzsteuer unterworfen, während Unternehmer i n bezug auf Waren, die sie an andere europäische Mitgliedstaaten liefern, entweder steuerfrei gestellt

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werden oder die Steuern des Bestimmungslands entrichten müssen. I m ersten Fall müssen sie die Steuernummer ihres Abnehmers präsentieren; i m zweiten Fall, d. h. bei Lieferungen (oberhalb einer bestimmten Größenordnung) an Nichtumsatzsteuerpflichtige, müssen sie einen Steuervertreter i m Bestimmungsland stellen. Dies alles ist so verwaltungsaufwendig, daß manche kleinere Unternehmer auf einen Export verziehten. 2 0 Interessant ist i n diesem Zusammenhang ein jüngst von Michael Keen und Stephen Smith vorgelegter Vorschlag 2 1 , der dem notwendigen Harmonisierungsbedürfnis Rechnung trägt, ohne den Staaten ihre Aufkommenskompetenz zu nehmen. Der Vorschlag ist verblüffend einfach: Für alle gewerblichen Transaktionen soll es einen einheitlichen europäischen Steuersatz, ζ. B. von 15% geben. Er gilt also gleichermaßen für alle innerstaatlichen als auch alle innereuropäischen Umsätze. (Exporte i n Drittländer sollen nach wie vor freigestellt werden.) Demgegenüber werden Endverkäufe an die Konsumenten Steuersätzen unterworfen, die die einzelnen Mitgliedsländer selbst bestimmen können. Geht man von den gegenwärtigen Steuersätzen aus, würde dies für Deutschland bedeuten, daß es keinen Unterschied zwischen den für gewerbliche U n ternehmer und für Konsumenten geltenden Steuersätzen gäbe. Demgegenüber würden sich i n Dänemark und Schweden die beiden Steuersätze jeweils um 10 Prozentpunkte unterscheiden. Für die übrigen M i t gliedsländer ergäben sich jeweils Abweichungen um i m Schnitt 5 Prozentpunkte. Die großen Vorteile dieses Systems bestehen nun darin, daß die Unternehmen ihre Verkäufe an nationale und andere europäische Kunden vollständig gleich behandeln könnten. Jeweils wäre nur zu prüfen, ob der Abnehmer ein umsatzsteuerpflichtiger Unternehmer ist bzw. über eine entsprechende Steuernummer verfügt (nach den Vorstellungen der beiden Autoren sollen auch nicht umsatzsteuerpflichtige Unternehmen für eine Steuernummer votieren können). Dieses System wäre deswegen 20 Z u den Mängeln der gegenwärtigen Übergangsregelung, s. u. a. G. KrauseJunk, E i n Plädoyer für das Ursprungslandprinzip, F.C. Bea und W. Kitterer (Hrsg.), Finanzwissenschaft i m Dienste der Wirtschaftspolitik, Dieter Pohmer zum 65. Geburtstag, Tübingen 1990, S. 253-265 und Stellungnahme des Wirtschafts- und Sozialausschuß der Europäischen Gemeinschaften zum Thema „ D i rekte und indirekte Steuern" (96/C 82/11) in: Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften Nr. C 82/49 vom 19. 3. 96. 2 * M. Keen und St. Smith, The Future of Value-Added Tax i n the European Union, Manuskript, CES-Konferenz „Competition or Harmonization? - Fiscal Policy and Standards - " München, Oktober 1995.

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möglich, weil die importierenden Staaten den Vorsteuerabzug auch ausländischer Steuern zulassen könnten, ohne de facto durch diese Steuererstattungen fiskalisch belastet zu werden. Bei Weiterveräußerung der Güter erhielten sie nämlich wenigstens wieder die zuvor erstattete Steuer zurück. Gegenüber dem jetzigen Verfahren verlören freilich alle Länder m i t einem innereuropäischen Importüberschuß. Doch sollte es möglich sein, diese Verluste entweder zu ertragen oder auf unkomplizierte Weise auszugleichen. E i n weiterer Vorteil dieses Verfahrens läge darin, daß sich der Anreiz zur Steuerhinterziehung durch Ausnutzen des Gemeinschaftssystems (Freistellung der Exporte) deutlich reduzierte. I m übrigen könnten die Staaten wie bisher die Endverbraucher beliebig belasten. Es wäre ihnen aber die Möglichkeit versperrt, durch einen hohen Anteil der Mehrwertsteuer am Gesamtsteueraufkommen Exporte stärker entlasten zu können (auf diese Strategie Dänemarks hat auch von Loeffelholz aufmerksam gemacht). Aus deutscher Sicht scheint der Vorschlag noch eine weitere interessante Perspektive zu eröffnen: Genaugenommen läßt sich nämlich die so konzipierte Steuer als das Aggregat einer einheitlichen europäischen Umsatzsteuer und einer von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat möglicherweise verschiedenen Einzelhandelsumsatzsteuer (bei jeweils gleich definierter Bemessungsgrundlage) interpretieren. Nichts spricht dagegen, diese zusätzliche Einzelhandelsumsatzsteuer nicht nur zwischen den Staaten, sondern auch innerhalb der Staaten differenzieren zu lassen. 22 Dies bedeutet, man könnte die Zusatzsteuer zur Kommunal- oder zur Ländersteuer machen und damit möglicherweise einen Ersatz für die Gewerbesteuer schaffen bzw. endlich den Ländern eine gewisse Steuerautonomie einräumen. Was hat dies alles m i t der Frage der zentralen steuerpolitischen Zuständigkeit zu tun? Offenkundig gibt es sinnvolle Vorschläge für eine europäische Mehrwertsteuer, die nur von der Zentrale - und dabei wahrscheinlich auch nur bei Einführung qualifizierter Mehrheitsentscheidungen - durchzusetzen sind. Verglichen mit der gegenwärtigen Situation lassen sich also einer Stärkung der europäischen Zentrale auch Vorzüge abgewinnen - wenn auch eher auf der Basis einer optimistischen Spekulation. 22 Dies wäre eine gewisse Parallele zu den USA, deren System lokaler Einzelhandelsumsatzsteuern (sales taxes) sich - anders als bei von Loeffelholz - auch als Durchsetzung des Bestimmungslandprinzips interpretieren läßt.

Zusammenfassung der Diskussion Referate von Loeffelholz u n d Krause-Junk

Wiegard fragt Krause-Junk, welchen der verschiedenen Vorschläge zum Vorsteuerabzug i m Rahmen der Umsatzbesteuerung er für den besseren halte. Obwohl es zu jedem Argument auch ein Gegenargument gebe, t r i t t Wiegard letztlich für eine Harmonisierung ein. Die Argumente, die von Loeffelholz vorgetragen habe, überzeugten i h n letztlich nicht. Die Geldpolitik sei weitgehend irrelevant für die Frage der Steuerharmonisierung. Für i h n sei die Frage der Effizienzeigenschaften von unterschiedlich harmonisierten Steuersystemen relevant. Unter Berücksichtigung monopolistischer Konkurrenz i m In- und Ausland spreche einiges dafür, eine Harmonisierung bei der Kapitaleinkommensbesteuerung und bei der Umsatzsteuer weiter zu befürworten und anzustreben. Krause-Junk gesteht, er sei ursprünglich ebenfalls Anhänger des Ursprungslandprinzips gewesen, das sei jedoch unrealistisch geworden. Für Europa komme nur noch ein grenzüberschreitender Vorsteuerabzug i n Frage. Der neue Vorschlag sei praktisch für die Unternehmen, und er lasse auf der anderen Seite den Einzelstaaten einen enormen Freiheitsraum. Man könne i n einfacher Weise eine sog. Einzelhandelsumsatzsteuer auf den Normalsatz aufstülpen. I m übrigen würden die Probleme der Kapitalbesteuerung - insbesondere einer Harmonisierung dieser Steuern i n irgendeiner Form - immer dringlicher. Die Vorstellung, man könnte hier nationale Präferenzen durchsetzen, bezeichnet Krause-Junk als absurd. Es sei kein Wunder, daß eine Differenzierung nur bei der Belastung der Lohneinkommen übrigbleibe. Hier fehle es noch an Mobilität. Letzten Endes seien aber auch die Arbeitnehmer mobil, insbesondere die hochqualifizierten. Dönges w i l l dem Streben nach Harmonisierung überhaupt nicht zustimmen. Das entspreche nur dem Trend i n Europa, alles gleichzumachen. Nicht nur i n Deutschland, sondern auch i n anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union würden Steuerreformen m i t zwei Zielen

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Zusammenfassung der Diskussion

diskutiert: Z u m einen neige der Staat zu immer mehr Umverteilung (Stichwort Progression i n Einkommenssteuertarifen), und hier müßten Grenzen gezogen werden. Z u m zweiten - gerade weil Kapital so mobil sei und internationaler Standortwettbewerb herrsche, müsse möglichst viel Kapital dort gebunden werden, wo es gebraucht werde, u m Arbeitsplätze zu schaffen (Stichwort Unternehmenssteuerverfahren). Wenn man nun das alles europaweit harmonisieren wollte, stelle sich methodisch die erste Frage: harmonisieren wo, auf welchem Niveau, nach wessen Gestaltungsvorstellungen? Soll alles nach deutschen Vorstellungen geschehen oder nach luxemburgischen? Diese Frage sei wissenschaftlich nicht beantwortbar. Das Schöne an der von vielen so beklagten Kapitalmobilität sei, daß sie wenigstens alle diejenigen wachrüttele, die sich gegen Steurreformen wehren, die es gerne beim jetzigen Dschungel lassen wollten, die alles mögliche gestalten wollten, Verteilungspolitik oder Steuerpolitik i m Sinn hätten, aber an die eigentlich notwendigen Reformen nicht herangingen. Anders ausgedrückt: Für die Funktionstüchtigkeit der geplanten Europäischen Währungsunion werde dieser Wettbewerb der Steuersysteme geradezu gebraucht. Nur so könnten die Vorkehrungen, die der Maastricht-Vertrag vorsieht, damit die Länder keine unsolide Finanzpol i t i k betreiben, tatsächlich wirksam werden. Wenn man wisse, daß i m Falle einer übermäßigen Ausgabenexpansion nicht einfach die Steuern erhöht werden können, weil sonst das Kapital wegzieht, dann werde man vielleicht von vornherein eine solidere Haushaltspolitik betreiben. Dönges geht auf ein weiteres Ärgernis der Bürger ein, nämlich daß Zinseinkünfte, die aus Vermögen erzielt werden, das aus versteuertem Einkommen gebildet wurde, noch einmal zu versteuern sind. Es gebe keinen Grund, die i n Deutschland eingeführten sieben Einkunftsarten derart auseinanderzudividieren, wie das i n den Formularen für die Einkommenssteuererklärung zu geschehen hat. Auch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über das, was eigentlich anständig ist, was man einen Bürger wegnehmen darf, weise i n diese Richtung. Die Frage laute also, warum man überhaupt Zinseinkünfte versteuern muß. Schließlich verweist Dönges auf das österreichische Beispiel und fragt, wenn man schon hoffen dürfe, daß eine Harmonisierung der Kapitalertragssteuern nicht gelingen werde, ob es dann nicht ein gangbarer Weg wäre, eine definitive Abgeltungssteuer einzuführen und damit Schluß. Die österreichischen Erfahrungen damit seien gut.

Zusammenfassung der Diskussion

Krause-Junk t r i t t ebenfalls für den Wettbewerb der Systeme ein, wenn es darum geht, eine übermäßige Belastung der Bürger zu verhindern. Man müsse aber zwei Dinge unterscheiden. Z u m einen die Abgabenquote insgesamt: Da habe der gepriesene Wettbewerb der Systeme nicht allzuviel bewirkt, die Abgabenquote sei w i r k l i c h arg hoch. Z u m anderen die Struktur der Abgaben: Hier führe der Wettbewerb der Systeme dazu, daß immer mehr nur absolut immobile Faktoren oder die Einkommen immobiler Faktoren besteuert werden könnten, und das findet er nicht richtig. Er wisse zwar, daß man das durch nationale Politik nicht ändern kann, also sehe er die Chance der internationalen Vereinbarung. Zur zweiten Frage - warum überhaupt? - offenbar finde Dönges es richtig, daß Kapitaleinkommen nicht oder immer weniger besteuert wird. Darüber lasse sich natürlich streiten. Krause-Junk w i l l sich nicht der Theorie anschließen, es gebe letztlich ohnehin nur einen Produktionsfaktor, den Faktor Arbeit, und es sei gleichgültig, wie das Kapital besteuert werde, weil die Belastung letztlich doch allein von der Arbeit zu tragen sei. Vielmehr müsse man davon ausgehen, daß die verschiedenen Faktoren unterschiedliche Reaktionsmuster haben, mit denen die Wirtschaftssubjekte auf die Steuerbelastung reagieren. Deshalb sei eine ausgewogene Besteuerung der verschiedenen Produktionsfaktoren erforderlich. N u r wenn man eine vollkommen unelastische Steuerbasis hätte, wenn die Lohneinkommen völlig unelastisch wären und zwar die offiziellen - also unter Berücksichtigung der Tatsache, daß ja auch schwarz verdient werden kann - nur dann wäre es richtig, auf die Kapitaleinkommensbesteuerung zu verzichten und nur den Lohn zu besteuern. Diese Voraussetzungen seien nicht gegeben. Überdies führe jede Besteuerung zu Mehrbelastungen, zu Anpassungskosten, zu Effizienzverlusten, die nur bei einem ausgewogenen System zu minimieren seien. Z u diesen rein allokativen Gründen träten dann noch die Verteilungsgesichtspunkte, auf die Krause-Junk i n diesem Zusammenhang gar nicht eingehen w i l l . Zur österreichischen Abgeltungssteuer merkt Krause-Junk an, er selbst habe ja etwas ähnliches vorgeschlagen, indem er die unsägliche Unterscheidung zwischen Gewinneinkommen und Zinseinkommen i n der internationalen Besteuerung abschaffen wollte. Stattdessen sollte das Kapitaleinkommen an der Quelle, dort wo es real entsteht, der Besteuerung unterworfen werden, und zwar unabhängig davon, i n welcher Form es dort entsteht. Die Unterschiede zur österreichischen Steuer seien ökonomisch gar nicht sehr relevant. Man käme am Ende ebenfalls zu

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einer A r t Abgeltungssteuer, jeweils an der Quelle erhoben, und zwar auf Zinsen, auf Dividenden und ähnliches. Zur Höhe des Satzes w i l l sich Krause-Junk nicht äußern, und die Frage, ob er von Luxemburg oder Deutschland bestimmt werden sollte, habe er so gar nicht angeschnitten. Er habe vielmehr gesagt, daß Luxemburg allen anderen europäischen Ländern vorschreiben wolle, daß es keine Quellensteuer gibt. Boss ergänzt die Argumente von Dönges: Bei der Besteuerung der U m sätze, also des Mehrwertes gebe es durchaus Vorteile des Wettbewerbs der Steuersysteme. Es sei nicht einzusehen, warum nicht jedes Land nach eigenem Ermessen und mit dem eigenen Steuersatz die Umsätze besteuern sollte, wenn gleichzeitig ein Vorumsatzabzugsverfahren eingeführt wird. Dönges gibt sich mit den Argumenten von Krause-Junk nicht zufrieden. Implizit stecke darin die Prämisse, die Ausgaben seien i n vorgegebener Höhe durch irgendwelche Steuereinnahmen zu bedienen. Wenn bei einer Steuerart Rückgänge nicht zu vermeiden seien, müßten eben die anderen die Last übernehmen. Die Frage sei aber doch, ob nicht bei den Ausgaben eine andere Entwicklung eingeschlagen werden müsse, herunter mit der Ausgabenquote, vielleicht auch Veränderung der Ausgabenstruktur. Diese Diskussion könne i n Gang kommen, wenn w i r k l i c h hohe Lasten bei den Bürgern ankämen. Krause-Junk stimmt der Notwendigkeit zu, die Ausgaben zu reduzieren und bei der Einführung neuer Systeme vorsichtig zu sein, auch damit nicht der Druck von den Politikern genommen wird, Ausgaben zu senken. Hinsichtlich der innerdeutschen Verhältnisse trage er voll die Vorschläge mit, den Ländern mehr Steuerautonomie zu geben, um auch hier Wettbewerb einzuführen. Aber dabei w i l l er eine Ausgewogenheit, ein Balancieren erreichen, und er sieht die Kapitaleinkommensbesteuerung heute i n Europa als absolutes Chaos an. Weder könne man auch nur annähernd von einer Gleichbehandlung der europäischen Bürger oder Kapitalanleger innerhalb dieses Binnenmarktes sprechen, noch sei dieses System geeignet, massive Hinterziehungen zu unterbinden, und das alles mit dem lächerlichen Argument, Luxemburg sei dagegen. Auch aus diesem Grund gelte es, ein qualifiziertes Mehrheitsstimmrecht i m Europäischen Rat einzuführen, auch was die steuerpolitische Entscheidung angeht. Von Loeffelholz stellt fest, die entscheidenden Argumente, die gegen eine weitere Harmonisierung i n diesem Bereich sprechen, seien zum einen Erkenntnismängel, zum anderen polit-ökonomische Gründe. Man

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wisse relativ wenig über die effektive Inzidenz der Steuern und deshalb auch wenig über die tatsächlich von Steuern verursachten Wettbewerbsverzerrungen. Somit sei es also von der Informationsbasis her sehr schwierig, ein überzeugendes Harmonisierungskonzept zu entwickeln. Das polit-ökonomische Argument laufe darauf hinaus, daß Harmonisierung immer Harmonisierung auf einem höheren Niveau bedeute. Zumindest sei es sehr plausibel anzunehmen, daß eine Harmonisierung nur auf hohem Niveau erfolgte. Schon gegenwärtig seien die Steuerabgabenquoten i n der Europäischen Union hoch, vor allem gegenüber den globalen Mitbewerbern i n Amerika bzw. i n Japan, die i m Durchschnitt zwanzig Prozentpunkte geringere Steuerabgabenquoten hätten. Dies sei ein wesentlicher Standortnachteil i m globalen Wettbewerb, abgesehen von den mit hohen Steuerabgabenquoten einhergehenden Effizienzverlusten und -Problemen.

Harmonisierungsbedarf gerade i m Bereich der Kapitalertragssteuern sieht auch von Loeffelholz. Er ist aber auf der anderen Seite skeptisch, ob die Vorstellung von Krause-Junk realistisch ist, daß man ζ. B. mit Japan oder Amerika hierzu internationale Abkommen zur Verhinderung von Arbeitskräfte- und Kapitalwanderungen treffen könnte. Wurm fragt nach Möglichkeiten der Besteuerung i m Fall von Gewinnverlagerungen von transnational tätigen Unternehmen. Hierauf antwortet Krause-Junk, daß dieses Problem natürlich bekannt und auch geregelt ist, nämlich über die Prüfung der Transferpreise durch die Finanzämter. Dadurch sei das Problem allerdings bekanntlich nicht leicht zu lösen; die internationale Gewinnnverlagerung durch alle möglichen Mechanismen existiere, nicht nur bei Vorleistungen, sondern ζ. B. über wechselseitige Kreditverträge oder Versicherungen. Es sollten deshalb nur Kapitaleinkommen aus einer realen Quelle besteuert werden. Es könnten so viele Steuersparmodelle und Steueroasenmodelle konstruiert werden, wie man wolle, reales Kapitaleinkommen müsse irgendwo erwirtschaftet werden. Wenn die großen Industriestaaten begriffen, daß sie die Quellen sind, i n denen Einkommen entsteht, dann müßten sie auch i n der Lage sein, dies zu besteuern.

G e s a m t w i r t s c h a f t l i c h e Anpassungsprozesse i n mittel- u n d osteuropäischen L ä n d e r n nach einem B e i t r i t t z u r E U Von H u b e r t

G a b r i s c h , Halle

Einführung Die große Debatte über eine Osterweiterung der Europäischen Union war bisher durch ein Vorurteil gekennzeichnet, das seine Wurzeln möglicherweise i n dem Drängen der Transformationsländer auf baldigen Beit r i t t einerseits und i n der Verzögerungspolitik der E U andererseits besitzt. Dieses Vorurteil besagt, daß unter den gegebenen Rahmenbedingungen - Eaktorausstattungsunterschiede zwischen Ost und West und EU-Politiken - die potentiellen Gewinner die Beitrittsländer, die Verlierer hingehen die gegenwärtigen Mitgliedsländer wären. I n Wirklichkeit ist die Verteilung der gesamtwirtschaftlichen Kosten und Lasten wesentlich komplizierter. Eine Durchsicht der verfügbaren Literatur zeigt, daß zum Thema der Effekte für die E U zwar relativ viel, zum Thema der Effekte für die Beitrittsländer bisher so gut wie keine Forschung (Ausnahme: Landesmann und Pöschl 1995) stattgefunden hat - weder i n der E U noch i n M i t t e l - und Osteuropa. Vor diesem Hintergrund muß die Identifizierung jenes Reformdrucks auf die EU, der durch die Aufnahme von Ländern M i t t e l - und Osteuropas ausgelöst wird, unsicher bleiben. Dieser Beitrag hat die wirtschaftlichen Auswirkungen einer Osterweiterung der E U auf die neuen Mitgliedsländer und damit indirekt auch den Anpassungsbedarf i n der Union zum Thema. Zunächst einmal sind die Fragen zu beantworten, i n welche Europäische Union mittel- und osteuropäische Länder eigentlich aufgenommen werden und welche makroökonomischen Dimensionen eine Aufnahme für beide Seiten hätte. Dies ist Gegenstand von Kapitel 1 und 2. Kapitel 3 gibt eine Antwort auf die Frage, warum komparative Vorteile der mittel- und osteuropäischen Länder trotz fortschreitender Liberalisierung des Handels bisher nicht

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zum Zuge gekommen sind und was dies mit einer zukünftigen Mitgliedschaft i n der E U zu t u n hat. Kapitel 4 diskutiert die Effekte der sichtbarsten Folge einer Osterweiterung auf die neuen Mitgliedsländer - der Transferzahlungen. Kapitel 5 befaßt sich mit einem bisher überhaupt nicht berücksichtigten Phänomen: der Erosion von Preisdifferenzen auf sich integrierenden Gütermärkten. 1 Vor diesem Hintergrund versucht das sechste Kapitel, einige Schlußfolgerungen für den Anpassungsbedarf der EU-Integrationspolitik zu ziehen.

1. In welche E U werden mittelund osteuropäische Länder aufgenommen? Weitgehend bekannt ist, daß mittel- und osteuropäische Länder i n eine E U aufgenommen werden, die aus Volkswirtschaften besteht, die eine höhere Wirtschaftskraft und damit auch ein höheres Einkommen pro Kopf besitzen (Abbildung 1 i m Anhang) und darüber hinaus ganz andere Strukturen der Produktion und Verteilung von Gütern und Einkommen auf weisen. Der Grad der Heterogenität zwischen den gegenwärtigen Mitgliedsländern der E U und ihren potentiellen Mitgliedern aus Mittel- und Osteuropa ist sichtlich höher als innerhalb der gegenwärtigen EU. Dieser Aspekt ist insofern wichtig, als der Maastricht-Vertrag Heterogenität i n der E U faktisch nicht als einen Antriebsmotor für die Realisierung von Wohlfahrtsgewinnen betrachtet, wie etwa das klassische Freihandelskonzept vorschlägt, sondern als ein Problem. Der Vertrag schafft nämlich Mechanismen, die Nachteile einzelner Länder ausgleichen sollen, die sie bei einer Vertiefung der Integration erleiden. Die EU-Ratstagung vom September 1995 i n Madrid beschloß, daß ein halbes Jahr nach Abschluß der Maastricht-II-Konferenzserie, also aller Voraussicht nach Anfang 1998, Verhandlungen m i t den beitrittswilligen mittel- und osteuropäischen Ländern über deren Aufnahme beginnen sollen. Wann die Aufnahme letztendlich erfolgen w i r d und mit welchen Übergangsbestimmungen, ist nicht absehbar. Absehbar ist allerdings bis zu einem gewissen Grad der ordnungspolitische Rahmen, dem die m i t tel- und osteuropäischen Länder dann beitreten werden. 1 Die meisten Abhandlungen zum Thema Osterweiterung der E U befassen sich mit Veränderungen der relativen Preise, die den Faktorausstattungsunterschieden angepaßt werden. Diese eher allokationstheoretischen Modelle setzen Preisniveau-, Handelsbilanz- und Beschäftigungsneutralität voraus. E i n derartiger A n satz ist aber ausdrücklich nicht Gegenstand dieses Beitrages.

Gesamtwirtschaftliche Anpassungsprozesse

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Das wichtigste Element ist zweifelsohne die Währungsunion (EWU). Ob diese Währungsunion bereits bestehen wird, wenn mittel- und osteuropäische Länder i n die E U aufgenommen werden, ist zwar derzeit ebenfalls nicht absehbar. Aber eine zeitliche Verschiebung ist nicht das entscheidende Problem. Wichtig ist vielmehr, daß die Maastricht-Konferenz keine Revision der Konvergenzkriterien vornehmen wird. Es ist eher zu vermuten, daß der Grad der Verpflichtung für alle E U - M i t gliedsländer nicht nur nochmals unterstrichen, sondern sogar verschärft wird. War der Verpflichtungsgrad (insbesondere der fiskalischen K r i t e 1 rien) i m Maastricht-Vertrag noch relativ locker formuliert worden, was zunächst eine Diskussion über seinen imperativen Charakter und sogar über mögliche Revisionen ausgelöst hatte (Hasse 1994), so ist stetig und nicht zuletzt unter E i n w i r k u n g der Bundesregierung die Interpretation hinsichtlich einer Erfüllung der Kriterien restriktiver geworden. Die wichtigste Konsequenz der Währungsunion w i r d eine Einschränkung der wechselkurspolitischen Autonomie der Nichtteilnehmerstaaten sein. Dies klingt paradox, da doch die Währungsunion zunächst einmal den Verlust Wechselkurs- und geldpolitischer Eigenständigkeit der EWU-Teilnehmer impliziert. A r t i k e l 109, Abs. 2 des Vertrags von Maastricht verpflichtet jedoch alle Nichtteilnehmerstaaten, ihre Wechselkurspolitik als Angelegenheit von gemeinsamen Interesse zu behandeln. Der institutionelle Rahmen, der für diese Verpflichtung aller Voraussicht nach gefunden wird, dürfte ein neues Europäisches Währungssystem sein (Krupp 1995, S. 13). Wie auch immer gestaltet, w i r d es darauf hinauslaufen, daß die Nicht-EWU-Länder den Kurs ihrer Währungen nicht einseitig abwerten dürfen. Es handelt sich dabei u m eine völlig logische Folge der Gründung der EWU, denn die Nichtteilnehmer müssen eine spätere Teilnahme anstreben und insofern die Konvergenzkriterien noch stärker als bisher beachten. Damit verlöre der Wechselkurs für die Nichtteilnehmerländer, zu denen auch neue Mitglieder aus M i t t e l - und Osteuropa gehörten, einen großen Teil seiner Kraft als ökonomisches Anpassungsinstrument, und auch die Geld- und letztlich Fiskalpolitik würde i n einer einseitigen Wechselkursorientierung gefesselt werden. Diesen schmerzlichen Verlust w i r d übrigens unter den bisherigen E U Mitgliedern vor allem Griechenland verspüren, das dem EWS-Interventionsmechanismus niemals beitrat und durch hohe Abwertungen die negativen externen Effekte einer inflationären Politik zu kompensieren versuchte. Insofern übt die Einschränkung wechselkurspolitischer Freiheit zweifelsohne einen günstigen disziplinierenden Einfluß aus. Inwieweit dies auch für Länder M i t t e l - und Osteuropas gilt, wo Preisniveau-

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Steigerungen nicht nur das Resultat mangelnder geld- und fiskalpolitischer Restriktion sind, sondern auch transformationsbedingt sind und durch externe Einflüsse entstehen können, ist fraglich und w i r d uns weiter unten ausführlich beschäftigen. Das zweite Element ist die als Folge eines währungspolitischen Zusammenschlusses unvermeidliche Ausweitung der distributiven Funktionen der Union. Rothschild (1994, S. 270) hat vermutlich recht, wenn er darauf verweist, daß die Freigabe aller Ressourcenströme (die vier Freiheiten bei Waren, Dienstleistungen, Arbeit und Kapital), verbunden m i t monetären Konvergenzvorschriften und institutionellen Festlegungen tiefgreifende Anpassungen verlangt, die nicht mehr i n einfacher und direkter Weise m i t allgemeingültigen Effizienz- und Wohlfahrtseffekten verknüpft sind. I m klassischen Freihandelskonzept führt Heterogenität zwischen Ländern zu Strukturwandel, dessen Ausmaß durch Geld-, Fiskal-, Einkommens- und Wechselkurspolitik gesteuert werden kann. Die monetären Konvergenzregeln und ein EWS I I werden diese klassischen Instrumente nationaler Politik weitgehend ausschalten. Regional, sektoral und individuell kann es dann Gewinner und Verlierer i n beachtlichem Ausmaße geben, was einen finanziellen Ausgleich auf EU-Ebene erfordert. Zwangsläufig nehmen dann die distributiven Funktionen der Integrationsgemeinschaft zu. Dies ist besonders deutlich an der Entwicklung der Strukturfonds der E U (Regionalfonds und Kohäsionsfonds) zu beobachten, die sozusagen das finanzielle K i n d der Maastricht-Union sind. 1994 entfielen auf die traditionelle Gemeinsame Agrarpolitik (GAP) noch 49 v.H. aller Mittel, die der E U zur Verfügung standen, und 33 v.H. auf strukturpolitische Maßnahmen (Europäische Kommission 1995, S. 439). Verschiedene Reformmaßnahmen, wie etwa die EU-Agrarreform von 1992 (Mac-Sherry-Reform) und die Vereinbarungen der Uruguay-Runde werden voraussichtlich zu einer Verschiebung der Gewichte zugunsten der volumenmäßig wachsenden Strukturfonds führen.

2. Die finanziellen Dimensionen einer Osterweiterung der E U Zwei Probleme nähren nun das eingangs erwähnte Vorurteil einer einseitigen Lastenverteilung zuungunsten der Union nach einer Osterweiterung: - Die Arbeitslosenquote i n der Union lag 1994 bei etwa 11,8 v.H., i n M i t t e l · und Osteuropa (ohne B a l t i k u m und Gemeinschaft Unabhängiger

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Staaten) 1995 bei 11,4 v.H. Aber während die Arbeitslosigkeit i n der Union längerfristig wohl auf diesem hohen Niveau bleiben w i r d und gegenwärtig sogar zunimmt, gibt es i n den potentiellen Beitrittsländern erste Anzeichen für einen Rückgang. Allgemein w i r d nun befürchtet, daß eine Öffnung der europäischen Märkte den Beitrittsländern wegen ihrer Lohnkostenvorteile neue Beschäftigungsmöglichkeiten schafft, und zwar zu Lasten der gegenwärtigen Mitgliedsländer. Würde man jedoch die Löhne i n M i t t e l - und Osteuropa schnell an das EU-Niveau heranführen, etwa nach dem Muster OstdeutschlandWestdeutschland, müßte ein riesiger Transferfluß von West nach Ost erfolgen. „Dies würde den Selbstmord der E U bedeuten", schrieb Hans-Werner Sinn i m November 1994. - Das zweite Problem ist daher m i t dem Zustand der öffentlichen Finanzen i n den EU-Ländern und den budgetären Kosten einer Osterweiterung, insbesondere i m Rahmen der Gemeinsamen Agrarpolitik, verbunden. Seitdem die mittel- und osteuropäischen Länder i n die Union drängen, w i r d versucht, den Umfang ihrer finanziellen Anrechte an E U Fonds zu ermitteln. Die Divergenz der bisher durchgeführten Schätzungen budgetärer Kosten für die E U (siehe Tabelle 1 i m Anhang) kommt durch unterschiedliche Annahmen über den Modus der Integration (beispielsweise die Länge von Übergangsperioden), über das Ausmaß einer Belebung der Landwirtschaft i n den neuen Mitgliedsländern und über den Charakter der Unions-Politiken zu diesem Zeitpunkte zustande. Eine der neuesten Schätzungen (Breuss und Schebeck 1996) berücksichtigt sowohl die Mac-Sherry-(Agrar-)Reform von 1992, die Uruguay-Runde und die Reformen i m Bereich der Strukturpolitiken. Der gesamte Nettotransfer der E U aus Strukturfonds und via Agrarpreisstützungen i n zehn Länder M i t t e l - und Osteuropas w i r d für das Jahr 2000 auf insgesamt 30 Mrd. Ecu geschätzt (ca. 31 v.H. des dann zu erwartenden E U Haushalts oder 0,4 bis 0,5 v.H. des Bruttoinlandsprodukts der EU). Für die vier CEFTA-Länder Polen, Ungarn, Tschechien und die Slowakei würden sich die Transfers auf 17 Mrd. Ecu belaufen, von denen etwa 7 Mrd. Ecu auf Preisstützungen i m Agrar- und Nahrungsmittelsektor entfielen. Zum Vergleich: Die Marshall-Plan-Hilfe belief sich auf etwa 1 v.H. des Bruttosozialprodukts der Vereinigten Staaten. 2 Ganz anders sieht die Bedeutung für die mittel- und osteuropäischen Länder aus. Würde beispielsweise Polen heute einen Nettotransfer i n 2 Vgl. ECE 1992, S. 1-10 ff.

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Höhe von etwa 6 Mrd. Ecu erhalten, so entspräche dieser Betrag i n etwa 7 v.H. seines Bruttoinlandsprodukts (wiederum zum Vergleich: für die Empfänger-Länder des Marshall-Plans belief sich die Hilfe auf etwa 2 v.H. ihres Bruttosozialprodukts). Wenn man annimmt, daß die budgetären Kosten einer Osterweiterung bisher unterschätzt worden sind und tatsächlich eine Belastung des Steuerzahlers i n der E U darstellen, so muß die Dimension des Problems gesehen werden: Das ostdeutsche Beispiel, das viele vor Augen haben, wenn von der Nichtfinanzierbarkeit einer Osterweiterung der E U die Rede ist, ist dann gar nicht vergleichbar. Die Nettotransferzahlungen Westdeutschlands an Ostdeutschland beliefen sich bisher i n etwa auf 5 v.H. des westdeutschen BIP. Dies entspräche derzeit einer Summe von etwa 275 Mrd. Ecu auf EU-Ebene 3 - ein Betrag, auf den selbst die wildesten Schätzungen nicht kommen dürften. Erst bei einer derartigen D i mension kann man wohl ernsthaft von einer Wiederholung deutscher Integrations- bzw. besser: Inkorportationsprobleme auf EU-Ebene reden. Festzuhalten bleibt, daß eine Osterweiterung der Union die Aufnahme von Ländern bedeutet, die erstens realwirtschaftlich viel stärker vom EU-Durchschnitt divergieren als das bisher i n der Union der Fall ist, die zweitens nicht mehr über den Wechselkurs als starkes Anpassungsinstrument verfügen werden und darüber hinaus drittens Einkommenstransfers i n beachtlicher Relation zu ihrem bisherigen Einkommen erhalten. Dies w i r d nicht ohne Konsequenzen für die realwirtschaftliche Integration dieser Länder i n die EU, für Einkommenentstehung, Beschäftigung und Preisniveau bleiben.

3. Die Entwicklung des Handels zwischen E U und den CEFTA-Ländern im Falle ausschließlicher Handelsliberalisierung Vor diesem Hintergrund lohnt es sich, zunächst zu fragen, welche Schwierigkeiten die mittel- und osteuropäischen Länder bereits i n der Phase der seit fünf Jahren andauernden beiderseitigen Handelsliberalisierung hatten, ihre komparativen Vorteile zu nutzen. Die E U begann 1990, ihre Märkte für osteuropäische Waren zu öffnen. Zunächst wurde das Allgemeine Präferenzsystem auf Polen und Ungarn ausgeweitet. Es folgten 1991 entsprechende Abkommen mit anderen 3 Das aggregierte BIP der EU-15 belief sich 1995 auf etwa 5.500 Mrd. Ecu.

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Ländern - darunter die Tschechoslowakei. Von der Liberalisierung wurden nur gewerbliche Erzeugnisse erfaßt; landwirtschaftliche Erzeugnisse blieben ausgeschlossen. Unter den gewerblichen Erzeugnissen wurden Textilwaren sowie Kohle- und Stahlprodukte ebenfalls von der Liberalisierung ausgenommen. Eine zweite umfassendere Liberalisierungswelle war m i t den Interims-Abkommen verbunden, die die handelspolitischen Regelungen der Europa-Verträge vorab i n Kraft setzten. Interims-Abkommen wurden i m März 1992 mit den damals noch drei CEFTA-Ländern Polen, Ungarn und Tschechoslowakei zur Geltung gebracht. Das Gipfeltreffen der E U von Kopenhagen 1993 verkürzte die i n den Abkommen festgelegten Fristen noch einmal um ein Jahr. Danach müssen die meisten EU-Märkte für gewerbliche Waren aus den nunmehr vier CEFTA-Ländern sowie Bulgarien und Rumänien bis 1996 vollständig liberalisiert sein, d. h. ein Import kann frei von Zöllen und mengenmäßigen Beschränkungen erfolgen. Textilwaren und Stahl folgen bis 1997/98, Kohle i n einer längeren Perspektive. 4 I m übrigen gilt das Prinzip der asymmetrischen Marktöffnung, d. h. die E U verpflichtet sich, ihre Märkte eher zu öffnen. Faktisch bedeutet dies, daß die Reformländer M i t t e l - und Osteuropas ab 1996 ihre Märkte stärker als die E U öffnen müssen. 1997/98 werden die tarif ären Marktzugangsbeschränkungen bei den meisten Produkten seitens der E U aufgehoben sein - i m Handel scheint eine EU-Mitgliedschaft weitgehend vorweggenommen zu sein. Aber trotz der Liberalisierung seitens der Union bleiben die Importe gewerblicher Waren aus den mittel- und osteuropäischen Ländern einer Vielzahl handelsbeschränkender Maßnahmen unterworfen, die man vielleicht unter dem Begriff des „managed trade" fassen kann. Dabei handelt es sich um äußerst variable Maßnahmen wie Anti-Dumping-Drohungen, self-guard Klauseln, freiwillige Exportbeschränkungen. Diese sind zwar nach den WTO-Regeln rigoros abzubauen, aber für den potentiellen Anwender liegt ihr Charme i n der mangelnden Kontrollierbarkeit eines Verbots. Handelsbeschränkungen werden somit endgültig erst nach einer Aufnahme i n die E U wegfallen, wobei auch hier noch temporäre Ausnahmeregelungen erwartet werden dürfen. I m Agrarhandel wurden den mittel- und osteuropäischen Ländern nur kleinere Konzessionen gewährt; die Hauptmärkte der Union blieben vor4 Vgl. Schuhmacher und Möbius (1994), S. 33. 9 Konjunkturpolitik, Beiheft 44

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erst geschlossen. Offensichtlich ist eine Agrarmarktintegration erst nach einer Reform der Gemeinsamen Agrarpolitik möglich. Hier muß nicht nur abgewartet werden, wie erfolgreich das i m M a i 1992 beschlossene EG-Agrarreformpaket die budgetären Belastungen der E U verringert, sondern auch, inwieweit die Verpflichtungen der E U hinsichtlich der Uruguay-Runde umgesetzt werden können. Gleichwohl ist der Weg, den mittel- und osteuropäische Länder zu einer vollständigen Handelsintegration und damit zu einer Beteiligung am Binnenmarktprogramm der E U bisher zurückgelegt haben, bereits länger, als der, den sie noch zurücklegen müssen. Es lohnt sich also, einen Blick auf die bisherige Entwicklung des Außenhandels der E U m i t diesen Ländern zu werfen und zu fragen, welche Faktoren hier eine ausschlaggebende Rolle gespielt haben. Der Handel mit den bis 1995 vier CEFTA-Staaten Polen, Ungarn, Slowakei und Tschechien 5 zeigt folgendes B i l d (Tabelle 2): (1) Der Saldo des Handels wurde 1991 für die E U positiv, und der Überschuß verdreifachte sich bis 1993. Seitdem blieb er auf diesem N i veau. Auch unter Berücksichtigung struktureller Effekte - der Arbeitsinput bei Maschinen und Transportausrüstungen ist geringer als bei Textilien und Agrarwaren 6 - dürfte der Beschäftigungssaldo für die E U w o h l positiv ausgefallen sein. (2) Positive Beschäftigungseffekte sind insbesondere i m Maschinen- und Transportmittelbau entstanden. Der traditionelle Überschuß der E U bei Maschinen und Transportausrüstungen verdoppelte sich 1991 und nahm seitdem weiter zu. Dies entspricht allgemein den Erwartungen des Heckscher-Ohlin-Modells. (3) Das traditionelle Defizit der E U bei Agrarprodukten - die verglichen mit Erzeugnissen der verarbeitenden Industrie einen relativ hohen Homogenitätsgrad besitzen - wurde 1993 von einem Überschuß abgelöst, der seitdem leicht steigende Tendenzen aufweist - dies verläuft entgegen den Erwartungen, da die osteuropäische L a n d w i r t schaft erheblich arbeitsintensiver als die EU-Landwirtschaft ist. 5 Slowenien wurde Anfang 1996 i n die CEFTA aufgenommen, mit Bulgarien und Rumänien gibt es Verhandlungen. 6 Schuhmacher (1995) verweist darauf, daß der Arbeitsgehalt der Exporte i m Handel der E U m i t Mittel- und Osteuropa kleiner als derjenige der Importe ist, während dies beim Input m i t hoch qualifizierter Arbeit umgekehrt ist. Eine gleichmäßige Ausweitung des Handels würde demnach zu einem etwas geringeren Arbeitskräftebedarf i n Deutschland führen.

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(4) Das Defizit der E U bei Textilwaren blieb zwar bestehen, nahm entgegen den Erwartungen jedoch nur unwesentlich zu. Etwaige negative Beschäftigungseffekte haben hier positive Effekte i m Maschinenund Transportmittelbau bei weitem nicht aufgewogen. I m übrigen ist der Überschuß der CEFTA-Länder i m Textilhandel auch ein Reflex der gestiegenen Lohnveredelung, die bisher von der E U tarifär präferiert wurde (nur die Wertschöpfung w i r d besteuert). Hätte es diese Vorzugsbehandlung nicht gegeben (in Zukunft w i r d sie wegfallen), hätten die CEFTA-Länder mehr oder weniger nur eine ausgeglichene Bilanz erreicht. (5) Lediglich bei Stahlprodukten und Kohle zeigt das traditionelle Defizit der E U eine steigende Tendenz. Dies ist insofern erstaunlich, weil diese Industrien eher kapital- und energieintensiv sind und die CEFTA-Länder hier keine speziellen komparativen Vorteile besitzen. Sie sind Nettoimporteure von Energie und Eisenerz vornehmlich aus Rußland, das seine Preise schrittweise angehoben hat. Bei einem von der E U geforderten Abbau der Subventionen für Energie (und bei einer Übernahme etwa der Umweltbestimmungen i m Gemeinschaftsrecht) dürfte die Überschußposition erodieren. Die CEFTA-Länder konnten also bisher die ihnen zugeschriebenen komparativen Vorteile nicht oder nicht zur vollen Wirkung bringen und i n entsprechende Wachstumseffekte umsetzen. Dafür kann nun eine ganze Reihe von Argumenten angeführt werden: Angebotsbeschränkungen vor allem bei Textilien und Agrargütern, 7 die restriktive Verwaltung von saisonalen Importlizenzen seitens der E U bei Agrargütern, 8 das starke Wachstum der Inlandsnachfrage i n den vergangenen zwei Jahren (allgemeiner Nachfrageeffekt), vor allem nach Investitionsgütern (Struktureffekt), und die reale Aufwertung der Währungen. Die meisten Währungen M i t t e l - und Osteuropas werteten seit spätestens 1993 real gegenüber dem US-Dollar und dem Ecu (Abbildung 2) auf. Damit erodierte der Schutz, den der Wechselkurs für einige Sektoren vor Importen bietet, und gleichzeitig verschwanden auch die Arbeitskostenvorteile für einige exportorientierte Sektoren. I n dieses B i l d passen Klagen polnischer Textilunternehmen, wonach die reale Aufwertung des Zloty nicht nur die 7 Für Textilien vgl. die allerdings etwas veralteten Daten bei Langhammer (1993). Nach einem Bericht der EU-Kommission (1995a) haben der Rückgang der Investitionen und die starke Witterungsabhängigkeit dazu geführt, daß die mittel und osteuropäischen Länder auch i m Wirtschaftsjahr 1995 ihre Agrarkontingente nicht ausgenutzt haben. 8 Vgl. EU-Kommission (1995a). 91

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Ausnutzung von Importkontingenten der E U bei Fertigwaren, sondern sogar Lohnveredelungsgeschäfte zunehmend unrentabel mache. 9 Die Bedeutung der einzelnen Faktoren für die Entwicklung des Handelsbilanzsaldos wurde mit einer linearen Schätzgleichung ermittelt, i n die Daten von sieben Ländern (Polen, Ungarn, Tschechien, Slowakei, Bulgarien, Rumänien und Slowenien) für fünf Jahre (1991 bis 1995) eingingen. I n dieser Gleichung war die absolute Veränderung des Saldos i m gesamten Außenhandel dieser Länder - gemessen i n Ecu - die abhängige Variable. Die Ergebnisse sind ziemlich eindeutig: 1 0 Der Aufwertungsfaktor war dominant, auch gegenüber dem Struktureffekt. Alle anderen Testvariablen waren vollständig insignifikant. Weder die allgemeine Nachfrageentwicklung i n der OECD, i n den mittel- und osteuropäischen Ländern selbst, noch Aufbringungsprobleme waren für die Passivierung der Handelsbilanz M i t t e l - und Osteuropas i n den vergangenen fünf Jahren ausschlaggebend. Die reale Aufwertung hat also durchgehend alle Positionen der Handelsbilanzen M i t t e l - und Osteuropas negativ tangiert. Für die reale Aufwertung waren i n der Vergangenheit binnenwirtschaftliche und damit transformationsbedingte Faktoren dominierend, vor allem für jene Länder, i n denen ein Wechselkursziel verfolgt w u r d e . 1 1 Z u den Ursachen gehörten vor allem eine Anpassungsinflation nach der Freigabe der Preise, aber auch Kostensteigerungen und eine nicht ausreichende Disziplin von Fiskal- und Geldpolitik i n unterschiedlich starker Mischung. H i n sichtlich dieser beiden zuletzt genannten Ursachen würde eine E U - M i t gliedschaft mit entsprechender Bindung der Wechselkurspolitik disziplinierend wirken. Diese Bindung wäre allerdings dann ungünstig, wenn die Aufwertungstendenz durch externe Preisanpassungen und andere Faktoren verursacht würde. Zumindest drei der CEFTA-Länder, und zwar Polen, Ungarn und die Tschechische Republik registrieren seit ungefähr zwei Jahren wachsende Kapitalzuflüsse aus dem Ausland, wobei der Anteil kurzfristigen K a p i 9 Vgl. Zycie gospodarcze, Warschau, Nr. 1/1996, S. 38. Bei Lohnveredelung dürfte allerdings die auf den Markt drängende noch billigere Konkurrenz aus Rumänien, der Ukraine, Weißrußland und Rußland die entscheidende Ursache für den Rückgang von Lohnveredelungsgeschäften sein. 10 Schätzergebnisse: R 2 = 0,225 (gepoolte Daten!); Signif. F = 0,0963, T-Werte: Reale Aufwertung: 1,96; Struktureffekt: -1,73. Beta-Wert für reale Aufwertung: 0,321. Die Vorzeichen der Koeffizienten entsprechen den Erwartungen. 11 Das gilt bis auf wenige temporäre Ausnahmen (Slowenien) faktisch für alle Länder, auch für jene, die ihre Kurse formell floaten ließen.

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tais, das nicht unmittelbar m i t der Finanzierung von Importen verbunden ist, zunimmt. Die Zuflüsse an Devisen verursachten trotz steigender Leistungsbilanzdefizite einen realen Aufwertungsdruck - entweder über eine steigende Nachfrage nach der Währung des Gastlandes oder über eine Ausweitung der inländischen Geldmenge, die eine Quasi-Akommodierung inländischer Kostensteigerungen bedeutete. Die Zentralbanken aller drei Länder haben erhebliche Schwierigkeiten, die Wirkungen der Devisenzuflüsse auf das inländische Geldangebot zu neutralisieren, zumal, wenn dies über Zinserhöhungen - geldpolitische Disziplin! - erfolgen soll. Eine zentrale Ursache des Kapitalzuflusses sind nämlich hohe Zinsdifferenzen bei relativ geringem Wechselkursrisiko. Dieser Effekt ist nicht auf kurzfristige Kapitalzuflüsse beschränkt; er kann ebenso durch Nettotransfers hervorgerufen werden. Dies ist Veranlassung genug, sich ausführlicher mit den Wirkungen der erwarteten Transferzahlungen an neue Mitglieder zu befassen.

4. Wachstums- und Struktureffekte von Einkommenstransfers in Beitrittsländer Neue Mitglieder erhalten einen Einkommenstransfer aus den gegenwärtigen EU-Ländern auf zweierlei Weise: Zahlungen an öffentliche Haushalte der Empfängerländer stammen aus der Ausweitung der Strukturpolitiken der E U auf die neuen Mitglieder. Zahlungen an A n bieter des Agrar- und Nahrungsmittelsektors (Landwirte, landwirtschaftliche Verarbeitungsbetriebe) entstehen durch die Ausweitung der Gemeinsamen A g r a r p o l i t i k . 1 2 Der uns hier interessierende Aspekt ist die Gleichsetzung budgetärer Kosten für die E U mit positiven Effekten für die neuen Mitglieder. Transferzahlungen aus EU-Fonds würden i n 12 Nach einer Marktöffnung für Agrar- und Nahrungsgüter bieten die neuen Anbieter ihre Produkte zu EU-Preisen an, die über den bisherigen Absatzpreisen i m eigenen Land und den Produktionskosten liegen. Die Differenz zwischen E U und inländischem Absatzpreis ist ein Einkommensgewinn, der sich auf Landwirte, landwirtschaftliche Verarbeitungsbetriebe u. a.m. verteilt. Die bisherigen Anbieter i n der E U verlieren einen Teil ihres Absatzes, d. h. sie produzieren „Überschüsse" zu dem gegebenen Mindestpreisniveau. Diese Überschüsse können sie an Interventionsstellen verkaufen. Die Subventionszahlungen an die Landwirte der bisherigen EU-Länder via Interventionspreise nehmen zu, und zwar i n dem Umfange, i n dem die neuen Anbieter einen Einkommensgewinn erzielen. Korrigierende Effekte gehen natürlich von möglichen Angebots- und Nachfragebewegungen i n alten und neuen EU-Ländern aus.

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etwa 6 v.H. bis 11 v.H. des Bruttoinlandsprodukts der der vier CEFTALänder Empfängerländer entsprechen, wobei die Anteile Ungarns und der Slowakei relativ am größten wären (Tabelle 3), was i m wesentlichen auf Zahlungen i m Rahmen der Strukturpolitik zurückzuführen ist. Polen wäre dagegen vor allem Empfänger von Zuwendungen i m Rahmen der Gemeinsamen Agrarpolitik. I n einer der wenigen Arbeiten, die sich mit den makroökonomischen Wirkungen eines EU-Beitritts auf die neuen Mitglieder befassen (Landesmann und Pöschl 1995), w i r d auf die Lockerung einer vorhandenen Zahlungsbilanzrestriktion verwiesen. Transferzahlungen sind eine derartige Lockerung. Die beiden Autoren schätzen eine bis u m zwei Prozentpunkte höhere jährliche Wachstumsrate für den Fall, daß die mittelund osteuropäischen Länder Mitglieder der E U sind, verglichen mit i h rem derzeitigen Assoziierungsstatus. 13 Implizit nehmen die Autoren i n ihrem Modell an, daß sich das Devisenangebot passiv an die Devisennachfrage anpaßt. N u r unter dieser Voraussetzung kann ein konstanter realer Wechselkurs für die Schätzperiode angenommen werden. Als Musterbeispiel dafür könnte die Marshall-Plan-Hilfe nach dem zweiten Weltkrieg angeführt werden, die dazu diente, den devisenknappen Empfängerländern internationale Kaufkraft für die Finanzierung von Importen von Rohstoffen und Vorprodukten für ihre unterausgelasteten Industrien zur Verfügung zu stellen. Eine mögliche Zahlungsbilanzrestriktion - wie sie etwa Polen und Ungarn (aber auch Bulgarien) als hoch verschuldete Länder gegenwärtig verspüren - würde allerdings nicht durch mehr oder weniger importgebundene Marshall-Plan-Hilfen oder andere Kredite aufgehoben, sondern durch massive Transferzahlungen an öffentliche und private Haushalte - ein Aspekt, der i m Landesmann/Pöschl-Modell vernachlässigt wird. I m Fall dieser Transfers, i n denen das Devisenangebot offensichtlich exogen bestimmt w i r d und sich nicht an die Devisennachfrage anpaßt, ist die Ursache-WirkungsBeziehung des Marshall-Plan-Modells nicht ohne Weiteres übertragbar. Die erwünschte Kausalität träte nämlich nur dann ein, wenn (a) die Kapazitäten der Beitrittsländer weitgehend unter Unterauslastungen litten (was i n einigen Jahren, also zum erwarteten Beitrittstermin, bei den gegenwärtigen realen Wachstumsraten zu bezweifeln ist), (b) die Zentral13 Ihre Überlegungen gehen auf ein von Thirlwall (1979) entwickeltes Modell zurück, mit dem gezeigt wird, daß Unterschiede i n den Wachstumsraten von Entwicklungsländern auf unterschiedliche Zahlungsbilanzbeschränkungen zurückgehen, die sich beispielsweise i n höheren Kreditkosten (Risikoprämie) niederschlagen.

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banken der Beitrittsländer einen fixen Wechselkurs halten wollten (was realistisch ist) und (c) ihre bisherige Neutralisierungspolitik aufgeben. ad b: Grundsätzlich existiert i n einer Welt freier Wechselkurse keine Zahlungsbilanzrestriktion. Bei flexiblem Kurs würden die Transfers unmittelbar eine Aufwertung der Währung des Empfängerlandes nach sich ziehen, die die Wettbewerbsfähigkeit zumindest des Nicht-Agrarsektors verschlechterte und ausländische Konkurrenzprodukte verbilligte. Ohne daß die Transferzahlungen einen Beitrag zum Wirtschaftswachstum geleistet hätten, wäre die Handelsbilanz ins Defizit geraten. ad c: Der für eine Osterweiterung zu erwartende Fall ist jedoch eine wie auch immer geartete Verpflichtung mittel- und osteuropäischer Länder, eine Wechselkursstabilisierung zu verfolgen; dies haben sie bereits i n der einen oder anderen Weise getan. Einige Länder haben über einen gewissen Zeitraum den Wechselkurs gegenüber einer Ankerwährung meistens den US-Dollar - fixiert, sind aber später zu einem Bandbreitensystem übergegangen (Polen, Tschechien), die Zentralbanken anderer Länder haben trotz floatenden Kurses immer wieder Interventionen auf dem Devisenmarkt vorgenommen (beispielsweise Slowenien, Bulgarien, Rumänien). Erhält nun der Agrarsektor der Beitrittsländer höhere E x porteinnahmen, w i r d der Devisenmarkt tangiert. Abgesehen von dem unwahrscheinlichen Fall, daß die Empfänger Deviseneinnahmen u n m i t telbar für höhere Importe verwenden, w i r d die verstärkte Nachfrage nach inländischer Währung eine Aufwertung zur Folge haben. Intervenieren die Zentralbanken, stabilisieren sie zwar den Kurs, nehmen aber dafür eine Erweiterung der inländischen Geldbasis i n Kauf. Erhalten dagegen öffentliche Haushalte Zuwendungen aus EU-Fonds, so w i r d der Devisenmarkt des Empfängerlandes i n der Regel nicht involviert sein. 1 4 Eine Ausweitung der Geldmenge erfolgt dann direkt, indem der Haushalt eine Gutschrift auf seinem Konto bei der Zentralbank für eine Ausweitung seiner Ausgaben nutzt. I m Falle einer Ausweitung der inländischen Geldbasis durch Transferzahlungen i n der einen wie auch anderen Weise stehen die Zentralbanken vor einem ähnlichen Dilemma wie bereits gegenwärtig i m Falle des unerwünschten Zuflüsse kurzfristigen Kapitals. Nachdem sie sich 14 Involviert sind die Zentralbanken des empfangenden und des zahlenden Landes. I n beiden w i r d ein Konto für die Buchung der Forderung bzw. der Verbindlichkeit eröffnet. Der Devisenzufluß w i r d ohne Umweg der Reserveposition zugeschrieben. Der öffentliche Haushalt erhält seinerseits auf einem Konto bei der Zentralbank die Gegensumme i n inländischer Währung gutgeschrieben.

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schwer damit tun, Devisenzuflüsse i n Höhe von wenigen Milliarden Dollar zu neutralisieren, würden sich die Schwierigkeiten bei einem zu erwartenden Zufluß von 17 bis 30 Mrd. Ecu zweifelsohne noch verstärken. Gelingt die Neutralisierung nicht, dürfte eine Ausweitung der Gesamtnachfrage über eine entsprechende Preisreaktion wieder eine reale Aufwertung der Währung bewirken. Gelingt die Neutralisierung, sind Crowding-Out-Effekte zulasten von Exporten und Investitionen i m p r i vaten Nicht-Agrarsektor zu befürchten. Bei den diskutierten Effekten eines Transferzuflusses handelt es sich u m die unmittelbaren Folgen, die ihrerseits wieder weitere Effekte und Nebenwirkungen produzieren. Inwieweit diese eintreten - beispielsweise i n Form von Produktivitäts- und Angebotssteigerungen - bleibt dahingestellt und unterliegt einer Reihe von weiteren Voraussetzungen. Dazu gehört beispielsweise ein ausreichendes Wachstumspotential i m Agrarsektor oder eine effiziente Verwendung von Transfereinkommen etwa für Investitionen. Das dies nicht automatisch gegeben ist, zeigen die Erfahrungen mit Griechenland, das zwar erhebliche Transfermittel aus EU-Fonds erhielt, aber kaum ein bemerkenswertes Wirtschaftswachstum auf zuweisen hatte. Das Tückische an der Gemeinsamen Agrarpolitik ist darüber hinaus, daß eine Angebotssteigerung des Agrarsektors als Folge höherer Exportpreise die Gefahr einer realen Aufwertung keineswegs beseitigt, sondern eher verschärft. Eine Angebotssteigerung erhöht die Überschüsse i n der E U und damit die Zahlungen i m Rahmen des Interventionssystems. I m übrigen bleibt zu zweifeln, ob positive Angebot s Wirkungen etwa i m Agrar- und Nahrungsmittelsektor dem entsprechen, was die Beitrittsländer sich hinsichtlich einer Umstrukturierung ihrer Volkswirtschaften erhoffen. Plötzliche Deviseneinnahmen i n der Handelsbilanz durch die Möglichkeit, Agrar- und Nahrungsmittelprodukte zu einem höheren Preis i n Ecu i n der E U absetzen zu können, bergen die Gefahren eines Dutch-Desease-Problems i n sich: Kommt es zu einer realen Aufwertung oder zu Crowding-Out-Effekten, w i r d der Agrarsektor davon nicht betroffen sein, wohl aber die verarbeitende Industrie. Dies würde i n einer Periode erfolgen, i n der sich die Produktionsstrukturen i n den Transformationsländern gerade erst entwickeln, also noch ein erheblicher intra- und intersektoraler Ressourcenzufluß stattfindet. Diese notwendige Umstrukturierung würde durch die Übertragung der GAP zweifelsohne eingefroren werden (Hartmann 1995, S. 44).

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5. Preisanpassung durch Marktintegration Die bisherigen Überlegungen kreisten u m die Probleme einer durch Zuwendungen aus EU-Fonds und durch höhere Exportpreise i m Agrarsektor ausgelösten realen Aufwertung der mittel- und osteuropäischen Währungen und von ungünstigen strukturellen Effekten. E i n Beitritt zur E U muß jedoch auch hinsichtlich seiner Wirkungen auf das Binnenpreisniveau der Beitrittsländer untersucht werden. Die eingangs erwähnte realwirtschaftliche Divergenz zwischen E U und potentiellen Mitgliedern M i t t e l - und Osteuropas schlägt sich nämlich auch i n einem makroökonomischen Preis- und Lohngefälle nieder. Auf makroökonomischer Ebene lassen sich Preisdifferenzen mit Kaufkraftparitäten berechnen. Kaufkraftparitäten messen die Preisrelationen eines international vergleichbaren Korbs von Waren und Dienstleistungen. I n internationalen Vergleichen w i r d als Maßstab komparativer Preisniveauindizes das Verhältnis der Kaufkraftparität zum Wechselkurs 15 verwendet, und neue Berechnungen der OECD bringen eine erhebliche makroökonomische Preisdisparität zwischen E U und Mittel- und Osteuropa zum Vorschein (Tabelle 4). I m allgemeinen läßt sich beobachten, daß Kaufkraftparitäten und Wechselkurse um so weniger voneinander abweichen, je höher der Anteil international handelbarer Güter am repräsentativen Warenkorb ist und je geringer die Beschränkungen i m Austausch handelbarer Güter sind. Deshalb kann die mittelfristige Annäherung von Wechselkurs und Kaufkraftparität nicht nur als Zeichen des allgemeinen Entwicklungsstandes eines Landes, sondern auch einer bereits weitergehenden Integration i n den Weltmarkt verstanden werden. Nicht zufällig treten die größten Preisdisparitäten zwischen E U und M i t t e l - und Osteuropa i n Kategorien der Endnachfrage nach handelbaren Gütern auf, bei denen der Grad der Protektion beider Seiten am höchsten ist, also i m Agrarbereich und bei Bekleidung (Tabelle 5). Eine Aufnahme mittel- und osteuropäischer Länder i n die Union zum jetzigen Zeitpunkt legt dann die Vermutung nahe, daß die Beseitigung jeglicher Protektion und eine stärkere Bindung der Wechselkurspolitik auch eine Angleichung der Binnenpreise dieser Länder an das höhere Preisniveau i n der E U zur Folge hätte mit der eventuell fatalen Folge, daß allgemeiner Entwicklungsstand und äußere Integration zumindest kurzfristig entkoppelt werden.

is Auer (1995) und Rittenau (1995).

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Wechselkurspolitik und Protektion waren bisher zwei wichtige Politikbereiche, die diese Binnenpreisdifferenzen aufrechterhalten haben. Relativ niedrige Binnenpreise (und damit auch Löhne) i n M i t t e l - und Osteuropa waren einerseits günstig für einige Exportsektoren und schützten andererseits einige Sektoren vor der teureren EU-Konkurrenz. Anhand eines einfachen Modells des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts (I-S-Modell) läßt sich zeigen, wie ein durch Integration i n einen größeren M a r k t mit höherem Preisniveau ausgelöster Preisschub bei kraftloser Wechselkurspolitik Einkommen und Ersparnis des beitretenden Landes beeinflussen kann (siehe Anlage). Der Anstieg des Binnenpreisniveaus handelbarer Güter stellt das beitretende Land dann vor folgendes Dilemma: - Entweder bleiben bei einem Anstieg des Preisniveaus die Nominallöhne konstant, dann sinken die Reallöhne, und die Gewinnmarge der Unternehmen steigt. Dies ist gleichbedeutend m i t einem Anstieg der Quote der privaten Ersparnis und mit einem Rückgang der privaten Konsumgüternachfrage. Unter diesen Umständen kann das Sozialprodukt nur dann konstant gehalten werden, wenn eine kompensierende Ausdehnung des Außenbeitrages und der Investitionen folgt. Beides ist indes unsicher. Die Exporte leiden unter der realen Aufwertung, die sich durch den Anstieg des Binnenpreisniveaus ergibt, und Importe werden preislich günstiger als Inlandsprodukte. Eine Ausdehnung der Investitionen ist ebenso unsicher, weil der positiven Anreizwirkung einer gestiegenen Gewinnmarge die negative Wirkung eines sinkenden Inlandsverbrauchs gegenüberstünde. - Oder, was wahrscheinlich die realistischere Annahme ist, die Nominallöhne steigen i m Zuge der Anhebung des Binnenpreisniveaus. I n diesem Falle werden die Reallöhne, ausgedrückt i n inländischer Währung, nicht sinken. Bei gegebenem nominalen Wechselkurs sind aber die Nominallöhne i n Ecu berechnet gestiegen. Dann ist zu befürchten, daß die zusätzlich geschaffene Kaufkraft i n die E U abfließt - dies wäre die Wiederholung des ostdeutschen Desasters. Dieses Dilemma verdeutlicht, daß bei passiver Wechselkurspolitik auch für die Einkommenspolitik kaum noch ein Spielraum existiert, um den realen Aufwertungseffekt einer Handelsintegration abzupolstern. Inwieweit die Marktöffnung bereits i n den vergangenen Jahren mitverantwortlich für den binnenwirtschaftlichen Preisauftrieb i n den CEFTA-Ländern und damit für die reale Aufwertung ihrer Währungen gewe-

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sen ist, läßt sich kaum exakt nachweisen. Es ist aber doch auffallend, daß bei Ausrüstungsinvestitionen kaum noch Preisdifferenzen zugunsten der Länder bestehen, i n einigen Fällen sogar die komparativen Preise höher sind als i n der EU. Etwas Ähnliches läßt sich auf dem Segment der Unterhaltungselektronik beobachten. 16 Diese Überlegungen lassen sich auch anhand der Erfahrungen aus der Süderweiterung der EU, aber auch der jüngsten Erweiterung Anfang 1995 (Norderweiterung und Österreich) illustrieren: Österreich liefert das Beispiel für die Wirkungen eines EU-Beitritts auf ein Land mit fixem Wechselkurs. Es zeigt, daß nicht nur das Gefüge der relativen Preise erheblichen Turbulenzen unterliegen kann, sondern auch das gesamtwirtschaftliche Preisniveau tangiert wird. Österreich hat seine Währung seit vielen Jahren an die D M gebunden und war daher auch vor dem EU-Beitritt faktisch Mitglied des EWS. I m Nahrungsmittelbereich galt Österreich als Hochpreisland, denn seine L a n d w i r t schaft war stärker als die der E U geschützt, und das Produzentenpreisniveau war höher. Durch die Übernahme der Gemeinsamen Agrarpolitik war also ein Rückgang der Produzenten- und dann auch der Verbraucherpreise bei Nahrungsmitteln zu erwarten, wenn dieser auch angesichts der nur geringen Einkommens- und Preisniveaudifferenz zum EU-Durchschnitt eher gering hätte ausfallen dürfen. Nach einer Untersuchung von Pollan (1996) fielen die Produzentenpreise der Landwirte Anfang 1995 tatsächlich um durchschnittlich 23 v.H.; i n einigen Segmenten gingen sie i n Vorwegnahme des EU-Beitritts bereits i m Herbst 1994 zurück. I m Verbraucherpreisindex schlug sich der Rückgang i m Februar und März 1995 nieder. Zieht man den Preis verlauf i n Westdeutschland des Jahres 1995 als Maßstab heran, so läßt sich der preisdämpfende Effekt des Beitritts zur E U i m ersten Halbjahr 1995 auf fast einen halben Prozentpunkt, i m zweiten Halbjahr auf fast dreiviertel Prozentpunkte schätzen, wobei der überwiegende Teil der Verbilligung der Nahrungsmittel zuzuschreiben ist. Die Dämpfung des Preisauftriebes bei fixem Wechselkurs hat also dieselben Effekte wie eine reale Abwer-

16 Nach den Vergleichsrechnungen i m Rahmen des erwähnten OECD-Projektes lagen die Preise für TV- und Videogeräte 1993 i n Tschechien, i n der Slowakei, i n Ungarn und Slowenien sogar deutlich über denen i n Österreich. Dieser Bereich war offenbar nicht nur durch den höchsten Anteil handelbarer Güter gekennzeichnet. Offenbar spielte auch eine Rolle, daß auf den osteuropäischen Märkten Produkte älterer Bauart, sogenannte „Auslaufmodelle", zu Preisen verkauft wurden, die jenen der neuesten Produktgeneration i m Westen entsprachen (Rittenau 1995a, S. 705).

140

Hubert Gabrisch

tung gegenüber der D M und verbessert die Wettbewerbsfähigkeit österreichischer Industrieprodukte. Anders mußte der Anpassungsprozeß i n Spanien und Portugal nach ihrem Beitritt zur EG i m Jahre 1986 und i n Griechenland, das bereits 1981 der EG beitrat, verlaufen. Diese drei Länder wiesen und weisen ein erheblich niedrigeres BIP pro Einwohner und damit auch Lohnniveau als der EU-Durchschnitt aus. Ihre Preisniveaus mußten deshalb weit unter dem EU-Durchschnitt liegen, und es war ein Anstieg zu erwarten. Das komparative Preisniveau Spaniens gegenüber dem EG-Durchschnitt hatte 1985 noch 74 v.H. betragen. Bis zum Jahre 1990 war es auf 91 v.H. angestiegen. 17 Die Reallöhne blieben i n dieser Periode nicht konstant, sie stiegen vielmehr. Eine ähnliche Entwicklung fand i n Portugal statt. Vor allem Spanien hat zwischen 1985 und 1990 die Erosion des Preisgefälles nicht durch entsprechende Abwertungen der Peseta aufgefangen, auch nicht i n der Zeit vor dem Beitritt zum EWS i m Jahre 1989 (Tabelle 6). D a r i n unterscheidet es sich von Portugal, das dem Interventionsmechanismus erst 1992 beitrat; die nominale Abwertung gegenüber dem Ecu betrug zwischen 1985 und 1990 immerhin 39 v.H. Griechenland, das bereits 1981 der E G beitrat, ist ein Beispiel für ein Land, das seine Transferzuflüsse wenig effizient verwendete. Bei schwachem Wirtschaftswachstum konnte das Land nur über Abwertungen vermeiden, daß die Einbeziehung i n die EG-Märkte zu einer Erosion der Preisdifferenz führte. 1 8 Griechenland nahm bisher nicht am Interventionsmechanismus teil; die Abwertung der Drachme gegenüber dem Ecu betrug zwischen 1981 und 1990 239 v.H. Dadurch ist die Preisdisparität gegenüber dem EU-Durchschnitt zwischen 1985 und 1990 wieder größer geworden, nachdem sie i n den ersten Jahren der Mitgliedschaft trotz hoher Abwertungen stark abnahm. Diese Option w i r d Griechenland aber aller Voraussicht nach mit Beginn der Europäischen Währungsunion nicht weiter besitzen. Wie zu erwarten, hat sich die Handelsbilanz aller drei Länder verschlechtert, besonders die Spaniens. Während den griechischen Handelsbilanzdefiziten beträchtliche Transferzuflüsse aus der E U und nur geringe Direktinvestitionszuflüsse gegenüberstanden, registrierte Spa17 Die Daten wurden mit älteren Schätzungen der Kaufkraftparität der OECD berechnet. 18 Dies ist natürlich etwas überspitzt formuliert, da die hohe Inflationsrate i n Griechenland zu einem Großteil auf die Geld- und Fiskalpolitik zurückgeführt wird.

Gesamtwirtschaftliche Anpassungsprozesse

141

nien neben hohen Transferzuflüssen vor allem Direktinvestitionen des Auslands. Das Erstaunliche am spanischen Beispiel ist der Rückgang der Arbeitslosenquote von 21 v.H. auf 16 v.H. i m Zeitraum 1986-1990 bei gleichzeitigem Anstieg der Reallöhne. Der starke Zustrom von ausländischen Direktinvestitionen trug offensichtlich dazu bei, die negativen Wirkungen der realen Aufwertung der Peseta auf effektive Nachfrage und Beschäftigung auszugleichen. Spanien registrierte Direktinvestitionen i n Höhe von insgesamt 37 Mrd. US-Dollar i m Zeitraum 1986-1990 (gegenüber nur 10 Mrd. zwischen 1980 und 1985). Über diese Periode hinweg betrug das kumulierte Defizit i n der Leistungsbilanz knapp 28 Mrd. US-Dollar. Ausländische Investoren investierten i n eine Wirtschaft, die sich bereits i n den 60er und 70er Jahren weitgehend geöffnet hatte, stabile marktwirtschaftliche Institutionen besaß und darüber hinaus 1989 dem EWS beitrat, was zumindest eine einigermaßen stabile Währungsentwicklung voraussetzt. A l l dies kann gegenwärtig noch nicht für die mittel- und osteuropäischen Länder festgestellt werden.

6. Einige Schlußfolgerungen für den Anpassungsbedarf der E U Zusammenfassend läßt sich konstatieren, daß das zentrale Problem, das aus dem Beitritt zur E U folgt, für die mittel- und osteuropäischen Länder eine reale Aufwertung ihrer Währungen ist. Diese w i r d mit Sicherheit durch Preisanpassungen an das höhere EU-Niveau hervorgerufen und durch Transferzahlungen aus EU-Fonds i n einer Größenordnung von etwa 10 v.H. ihres Sozialprodukts noch verstärkt. Der dadurch verursachte Verlust an Wettbewerbsfähigkeit insbesondere des industriellen Sektors verhindert eine (vollständige) Nutzung jener komparativen Vorteile, die die mittel- und osteuropäischen Länder angesichts i h rer Faktorausstattung besitzen. Umgekehrt verringert dies den Anpassungsdruck auf sog. sensible Industrien der Europäischen Union. A n satzweise ist dieses Phänomen bereits i n der Entwicklung von Volumen und Struktur ihres Handels m i t der E U seit 1990 zu erkennen. E i n Anpassungsbedarf der bisherigen EU-Politiken Agrar, Struktur und Regional entsteht also weniger aufgrund der Belastungen des E U Haushalts oder allgemeiner formuliert, des Steuerzahlers i n der EU, sondern eher wegen der zu erwartenden negativen Effekte dieser Politiken i n den neuen Mitgliedsländern. Eine kritische Durchsicht des bestehenden Reformpotentials zeigt aber, daß das Gefahrenpotential nicht wesentlich verringert wird.

142

Hubert Gabrisch

Gemeinsame Agrarpolitik: Die EU-Agrarreform von 1992 stellte insofern einen Einschnitt i n die bisherige Agrarpolitik dar, als die hohe Agrarproduktion der Union durch Preissenkungen bekämpft wird. Der preissenkende Effekte w i r d jedoch begrenzt, weil (1) die Wirkungen von Preissenkungen durch andere Maßnahmen i m Rahmen des Reformpakets (flächen- und tierbezogene Kompensationszahlungen) großenteils konterkariert werden, (2) die Preissenkungen nicht alle Produkte betreffen und (3) der Preisabstand zu den Weltmarktpreisen weiterhin hoch b l e i b t . 1 9 Die GATT-Übereinkommen sehen ihrerseits vor, daß innerhalb einer Übergangszeit von maximal zehn Jahren (also bis zum Jahre 2003) die EU-Preise auf Weltmarktniveau abgesenkt werden müssen. Selbst wenn i n der E U die Preisstützungen verschwinden sollten, bleibt ihr noch das Instrument der kompensierenden Maßnahmen i n Form von tier- und flächenbezogenen Stillegungsprämien. Diese werden seit 1993 i n der E U an die Landwirte gezahlt und unterliegen nicht der Abbaupflicht. Allerdings kann die erwartete Aufnahme i n die E U die mittel- und osteuropäischen Länder dazu bewegen, ihre Binnenpreise für Agrargüter bereits recht früh an das EU-Preisniveau heranzuführen, um nach einem Beitritt i n den Genuß von Prämien zu gelangen. Realistisch dürfte aber eher ein noch erhebliches Preisgefälle zum Zeitpunkt einer Aufnahme sein. Für die E U ergibt sich dann eine Option, die bereits bei der Süderweiterung gewählt wurde: lange Ausnahmeregelungen und die Erhebung eines Grenzausgleichs. Diese Option besitzt aber wie alle anderen Ausnahmeregeln den Defekt, daß sektorale Grenzkontrollen aufrechterhalten werden müssen, dies aber nicht i n das Konzept eines gemeinsamen Marktes innerhalb der sich abzeichnenden E U ohne Grenzkontrollen passt. Insofern ist die weit verbreitete Idee, die mittel- und osteuropäischen Länder schnell aufzunehmen, aber ihnen lange Ausnahmezeiten zu gewähren, zukünftig schwieriger durchzusetzen als etwa vor 10 Jahren. Strukturpolitik: Die eigentlichen Haushaltsprobleme sind i n der Strukturpolitik angesiedelt. Auf Regionalfonds, bzw. die von der Kommission formulierten Zielprogramme l - 5 b werden i m Zeitraum 1994 bis 1999 i n etwa 125 Mrd. Ecu bzw. 89 v.H. aller M i t t e l i m Rahmen der Strukturpolitik (die restlichen M i t t e l konzentrierten sich auf die Kohä-

19 Vgl. Schräder (1993).

Gesamtwirtschaftliche Anpassungsprozesse

143

sionsfonds) entfallen (Europäische Kommission 1995). Als Problem zeichnet sich insbesondere die geographische Ausdehnung der Strukturpolitik ab. Der Anteil der Bevölkerung, die i n unterstützten Regionen lebt, belief sich 1988 immerhin schon auf 43 v.H. der Gesamtbevölkerung und stieg bis 1995 auf etwa 52 v.H. Eine Aufnahme der CEFTA-Länder würde dann den Bevölkerungsanteil der geförderten Gebiete auf 64 v.H. der E U erhöhen. U m i n den Genuß von Fördermitteln i m Rahmen des Ziel-1-Programmes (Regionen mit Entwicklungsrückständen), das den höchsten Anteil aller M i t t e l aus Strukturfonds absorbiert, müssen Regionen ein BIP pro Einwohner von weniger als 75 v.H. des EU-Durchschnitts aufweisen. Dies dürfte bis auf wenige Ausnahmen für alle Regionen der CEFTALänder und erst recht aller übrigen mittel- und osteuropäischen Länder zutreffen. Die von der Generaldirektion Regionalpolitik der Kommission angestrebte geographische Konzentration der M i t t e l auf 35 bis 40 v.H. der EU-Bevölkerung (Wulff-Mathies, 1996, S. 51) würde nur durch eine radikale Herabsetzung des Indikators möglich werden, was aber faktisch bedeutet, daß nur noch mittel- und osteuropäische Regionen i n den Genuß der Fördermittel kämen. Die fiskalische Entlastung der E U würde die Problematik für die mittel- und osteuropäischen Länder keineswegs abschwächen. Festzuhalten bleibt, daß i m Rahmen der gemeinschaftlichen Strukturpolitiken nur begrenzte Reformmöglichkeiten bestehen, die die Akzeptanz aller bisherigen Nettoempfänger gewinnen dürften. Die Union w i r d sich wohl oder übel auf eine Ausweitung ihrer Haushaltsmittel einrichten müssen. Ob dadurch eine zusätzliche Belastung des Steuerzahlers i n der E U eintreten wird, sei dahingestellt. Die zusätzlichen M i t t e l könnten durch härtere Budgetbeschränkungen der nationalen Subventionspolitiken eher relativ leicht aufgebracht werden. Der eigentliche Anpassungsbedarf liegt woanders, und zwar i n der Gestaltung der gemeinschaftlichen Währungs- und Fiskalpolitik. Die Schlüsselfrage lautet, ob und wie stark die osteuropäischen Währungen an die Ankerwährung Euro angebunden werden sollen. Hierzu besteht zweifelsohne noch ausführlicher Forschungsbedarf. Da die mittel- und osteuropäischen Länder zum gegenwärtig diskutierten Zeitpunkt ihrer Aufnahme i n die E U - etwa 2000-2005 - das bestehende Produktivitäts-, Einkommens- und Lohngefälle zum EU-Durchschnitt aller Voraussicht nach noch nicht wesentlich verringert haben dürften, benötigen sie den Wechselkurs zur Abfederung integrationsbedingter Preisanpassungen.

144

Hubert Gabrisch

Eine Anbindung an die Ankerwährung Euro empfiehlt sich daher nicht. Welche Auswirkungen das auf die übrige E U haben wird, ist derzeit nicht abzuschätzen. Es sei aber erwähnt, daß Länder mit einer relativ geringen Neigung, fiskal- und geldpolitische Disziplin zu üben (Griechenland?), dies als Anreiz ansehen könnten, sich ebenfalls nicht an eine währungspolitische Leine der Europäischen Zentralbank legen zu lassen. Als Ergebnis zeichnet sich nicht nur ein Europa der zwei, sondern vieler Geschwindigkeiten ab. Eine Einbeziehung der mittel- und osteuropäischen Länder i n die derzeitigen Überlegungen zur Gestaltung des Verhältnisses zwischen EWU-Teilnehmern und Nichtteilnehmern würde den Abstimmungsprozeß zweifelsohne weiter komplizieren. Vor diesem Hintergrund bietet sich als Alternative zu einer Osterweiterung der E U die Schaffung einer Freihandelszone m i t der E U ab, die den mittel- und osteuropäischen Ländern die Möglichkeit sichert, bei wachsender realwirtschaftlicher Integration einen Mangel an Produktivitätsfortschritt durch Abwertungen auszugleichen. Diese Freihandelszone kann zu einer Zollunion ausgeweitet werden, u m indirekten Handel zu verhindern. Wenn gleichzeitig die mittel- und osteuropäischen Länder stärker am politischen Entscheidungsprozeß der E U mitwirken könnten, bietet sich i m Prinzip ein neuer EWR als integrationspolitische Option für eine längere Übergangsperiode an, die auch der E U Zeit gibt, notwendige Anpassungen vorzunehmen. Diese Übergangsperiode müßte zweckmäßigerweise so lange dauern, bis die Länder das heutige Einkommens- und Produktivitätsgefälle zum EU-Durchschnitt erheblich verringert haben.

Gesamtwirtschaftliche Anpassungsprozesse

145

Anhang

5000

10000

15000

20000

BIP in US-Dollar je Einwohner

Abbildung 1: Das Bruttoinlandsprodukt je Einwohner i n US-Dollar nach Kaufkraftparitäten 1995 (nominale Werte) Quellen: OECD (1996a und b); eigene Berechnungen. EU-Süd: Griechenland, Spanien und Portugal.

146

Hubert Gabrisch Tabelle 1 Budgetäre Kosten einer Osterweiterung der E U Uberblick über ausgewählte Schätzungen

Quelle

Gesamt pro Jahr i n Mrd. Ecu

CEPR (1992) a

CEFTA

ALb

8,3°

14,lc,d

4-31 22-27

Gemeinsame Agrarpolitik (GAP)

Strukturfonds

Mrd. Ecu GAP-Re- Uruguay- Mrd. Ecu CEFTA CEFTA form be- Runde (AL) (AL) rücksich- berücksichtigt? tigt? 4,8 (7,5)

nein

nein

5-42

-

nein

nein

-

-

22-27

ja

ja

-

U K M A F F 1 (1994) a 5,3-13,2

5,3-13,2

5,3-13,2

ja

nein

-

U K M A F F 2 (1994) a 4,9-14,6

7,5-22,5

7,5-22,5

ja

nein

-

CEPS (1993)

a

lyers (1993) a

Tyers/Anderson (1994) a

37,6

Baldwin (1994) a

11,6

Tangermann/ Josling 1994)

13,3

Breuss/Schebeck (1996)

16,8C

a

ja

nein

_

nein

nein

-

13,3

ja

ja

_

6,8 (9,2)

ja

ja

12,7 (21,6)

23,2

30,3 c , e b

6,9(11,3)

c

Zitiert nach Buckwell et. al. {1994), S. 58. - Assoziationsländer. - Die Gesamtsumme ist netto berechnet (d. h. Bruttoeinnahmen abzüglich Beiträge zu EU-Fonds), die Zuflüsse durch GAP und Strukturfonds sind Bruttowerte. - d CEFTA plus Bulgarien und Rumänien. - e CEFTA, Bulgarien, Rumänien, Slowenien, Baltische Länder.

Gesamtwirtschaftliche Anpassungsprozesse

147

Tabelle 2 Handel der Europäischen Union 8 mit Polen, Ungarn, Tschechien und der Slowakei (CEFTA) in ausgewählten Produktgruppen nach der EU-Statistik - i n m n ECU 1990

1991

1992

1993

1994

1995 b

Exporte

9.876

15.174

18.472

22.073

26.707

31.200

Importe

10.780

13.897

16.598

17.535

22.278

27.900

-904

1.278

1.874

4.537

4.429

3.300

883

1.415

1.570

1.958

2.237

2.200

Gesamthandel mit CEFTA

Saldo Landwirtschaftliche Produkte (EU-Nomenklatur Kapitel 1-24) Exporte Importe

2.034

2.247

2.059

1.791

1.979

1.800

-1.151

-832

-489

166

259

400

Exporte

1.033

1.485

1.918

2.392

2.894

3.200

Importe

1.355

1.902

2.435

2.851

3.413

3.600

Saldo

-323

-417

-517

-459

-519

-400

Saldo Textilwaren (Kapitel 50-63)

Stahl- und Kohleerzeugnisse (Kapitel 72-73) Exporte

368

482

631

822

1.040

1.500

Importe

1.142

1.343

1.782

1.645

2.300

3.100

Saldo

-774

-861

-1.152

-823

-1.260

-1.600

Maschinen & Transportausrüstungen (Kapitel 84-89) Exporte

3.918

6.336

7.507

8.723

10.672

13.000

Importe

1.437

2.112

2.835

3.695

4.965

7.400

Saldo

2.480

4.224

4.672

5.027

5.707

5.600

a

EU(12). - b Hochrechnung auf Basis von Halbjahresdaten. Quelle: Eurostat

10*

148

Hubert Gabrisch

-Ungarn -Slowenien -Tschechien -Polen -Slowakei -Rumänien -Bulgarien

Abbildung 2: Die Entwicklung des effektiven realen Wechselkurses gegenüber dem Ecu (1990 = 1) - erzeugerpreisbereinigt a

Bulgarien: 1991 = 100. Quelle: Eigene Berechnungen. Eine Abwärtsbewegung entspricht einer realen Aufwertung.

Gesamtwirtschaftliche Anpassungsprozesse

149

Tabelle 3 Hypothetische Transferzuflüsse in CEFTA-Länder: Absolute und relative Dimension Länder

Nettozahlungen i n v.H. des BIP

Nettozahlungen der BIP der Länder i n Mrd. Ecu E U i n Mrd. Ecu i m Jahr 2000 a

1995

2000

1995

2000

1995

Polen

6,0

8,5

90

115

6,7

7,4

Slowakei

1,2

1,9

13

17

9,2

11,2

Tschechien

2,2

2,0

35

45

6,3

4,4

Ungarn

3,0

4,4

35

44

8,6

10,0

CEFTA

12,5

16,8

173

221

7,2

7,6

a

Als durchschnittliche Wachstumsrate wurden 5 v.H. zugrundegelegt. Quellen: Nettozahlungen Breuss und Schebeck (1996), S. 147 und Breuss (1996), S. 247; BIP und Anteile: eigene Berechnungen und Schätzungen.

Tabelle 4 Komparative Preisindizes 3 auf Ebene des Bruttoinlandsprodukt 1993 Deutschland

Österreich

Spanien

Griechenland

100 94

106

196

279

100

185

Spanien

51

54

100

263 142

Griechenland Slowenien

36

38 58

70 74

100

Kroatien

55 52

71

81

Ungarn Polen

50 38

55 52

68

40

51

Tschechien

28

30

38

78 59 44

Slowakei

28

31

39

44

Bulgarien Rumänien

25 25 23 22

26 26 24

33 33

38 38

31

23

35 34

Russland Litauen

21

23

29 28

16

17

22

25

Ukraine Moldawien

14

15

19

22

11

11

15

7

8

9

18 10

Deutschland Österreich

Estland Letland

Weißrussland

85

32

a Komparative Preisniveauindizes sind der reziproke Wert der sog. Exchange Rate Deviation Indices, also der Relation zwischen Wechselkurs und Kaufkraftparität. Quelle: OECD, eigene Berechnungen.

150

Hubert Gabrisch Tabelle 5

Preisniveauindizes der Endnachfrage (Kaufkraftparität/Wechselkurs) 1993 Österreich =100 Verwendung des BIP Privater Inländerkonsum Nahrungsmittel Brot u n d Getreideprodukte Fleisch u n d -produkte Milch, Käse, Eier Bekleidung und Schuhe K l e i d u n g i n k l . Reparaturen Schuhe inkl. Reparaturen Mieten, Energie Wohnungsmieten Energie Einrichtung, Hausrat Einrichtungsgegenstände Haushaltstextilien Haushaltselektrogeräte Sonstige Hausrat, häusliche Dienste Medizinische Versorgung Verkehr und Nachrichten Fahrzeuge - Anschaffung Erhaltung von Fahrzeugen Verkehrsdienstleistungen Nachrichtendienstleistungen Erholung, Unterhaltung, Bildung Waren für Unterhaltung, Erholung Dienstl. für Unterhaltung, Erholung Bücher u n d Zeitschriften B i l d u n g u n d Erziehung Sonstige Waren und Dienstleistungen Hotels, Restaurants, Cafés Öffentlicher Konsum Bruttoanlageinvestitionen Bauinvestitionen Wohnbau Sonstige Hochbau Tiefbau Ausrüstungsinvestitionen i^hrzeuge Nichtelektrische Maschinen Elektrische Maschinen Lagerveränderungen Außenbeitrag Brutto-Inlandsprodukt Quelle: Rittenau 1995a, 1995b.

Bulgarien

Polen

Rumä- Slowa- Slowe- Tsche- Ungarn chien nien nien kei

21,5 34,0 29,2 32,0 35,1 22,5 21,6 26,5 25,9 27,9 20,2 38,3 44,1 25,5 49,9

36,9 44,3 37,7 41,4 42,6 47,1 44,2 60,2 19,2 14,2 37,7 49,7 33,5 46,8 61,8

20,4 34,6 18,6 40,4 40,3 22,9 21,4 31,0 9,0 6,0 18,0 30,1 24,6 28,6 41,0

28,2 33,2 19,4 37,1 31,6 36,6 33,1 54,5 12,1 7,3 26,6 47,0 53,5 39,1 44,8

54,9 65,1 52,8 62,7 61,4 83,4 84,8 77,7 43,6 42,0 49,1 74,4 79,4 79,6 69,7

26,0 33,4 21,0 35,1 32,1 36,3 35,4 40,4 13,7 9,9 25,3 40,4 41,3 32,8 43,7

43,6 52,4 46,7 48,5 47,5 51,8 49,3 63,7 30,2 28,2 36,7 60,6 71,5 76,0 54,1

27,9 15,6 36,1 76,1 32,1 35,8 18,4

58,9 22,8 55,5 111,0 49,6 42,9 39,0

28,7 17,3 28,0 71,1 25,7 28,1 9,3

40,6 20,6 40,4 82,9 34,6 35,3 27,3

68,3 46,5 58,5 93,8 46,6 48,5 46,0

36,1 20,0 43,6 82,0 39,4 29,5 31,9

51,8 40,9 69,1 92,1 69,9 50,3 58,6

12,5

27,7

14,7

20,4

52,6

22,2

32,1

48,5

86,2

69,6

60,3

89,4

53,7

75,6

10,6 15,1 8,0

23,4 37,3 18,0

7,3 9,3 8,3

12,7 22,6 14,0

53,2 88,1 41,9

15,9 21,9 16,3

27,8 38,5 24,4

16,9 15,5 21,4 42,2 25,0 19,7 32,0 24,8 84,4 80,7 85,9 84,2 39,8 100,0 24,7

51,5 58,9 36,4 54,1 39,5 22,1 55,1 58,4 88,3 96,8 89,7 78,7 57,1 100,0 39,8

18,6 15,9 23,8 46,9 33,2 27,7 37,6 33,6 71,4 83,1 64,9 86,0 53,5 100,0 25,8

49,5 26,9 31,3 42,9 22,6 16,0 25,3 26,1 90,9 111,2 86,1 85,1 48,3 100,0 30,9

56,7 47,0 52,0 68,3 49,4 39,9 63,1 48,9 104,6 104,5 105,9 100,2 76,3 100,0 57,7

27,7 28,4 32,5 42,6 23,5 17,9 26,7 26,6 85,1 81,9 84,2 92,3 48,3 100,0 30,1

47,9 49,0 72,7 81,0 57,5 39,5 81,9 61,8 132,9 138,9 129,2 137,4 67,0 100,0 51,8

Gesamtwirtschaftliche Anpassungsprozesse

151

Tabelle 6 Entwicklung der komparativen Preisniveaus, der Reallöhne und des Wechselkurses der Südmitglieder der E U - EU-Durchschnitt = 100 Land

Griechenland Portugal Spanien

1980 1985 1990

52,2 -

83,7 54,5 73,6

75,4 61,8 91,2

A b w e r t u n g der Reallohnanstieg Teilnahme am I n Landeswährung ge- 1990 gegenüber terventionsmechagenüber dem Ecu 1985 i n v.H. a nismus des EWS 1990/85 i n v . H . seit... 90,5 (90/80: 239,0) -5,5 (90/80: +13,5) 39,0 8,0 0,2 (88/85: 6,6) 8,3

-

6.4. 1992 19. 6. 1989

a

Griechenland: Stundenlöhne; Portugal: Tageslöhne. Quelle: OECD, Deutsche Bundesbank (Devisenstatistik), IWF, eigene Berechnungen.

Für die Berechnung der komparativen Preisniveaus gegenüber der E U wurde die Relation zwischen dem Bruttoinlandsprodukt je Einwohner nach dem Wechselkurs und nach der Kaufkraftparität (ältere Schätzungen der OECD) als Indikator des „Exchange Rate Deviation Indexes" (ERDI) verwendet. Der reziproke Wert des E R D I entspricht dem komparativen Preisniveauunterschied gegenüber den USA. Der EU-Durchschnittswert wurde dann als 100 gesetzt, so daß sich daraus die komparativen Preisniveauunterschiede CPU der drei Länder gegenüber dem EU-Durchschnitt ergeben.

Kurzfristige makroökonomische Aspekte der Öffnung einer kleinen Volkswirtschaft bei konstantem nominalen Wechselkurs Es gelten folgende Annahmen: - E i n Musterland Ost hat hinsichtlich seiner Importe protektionistisch agiert und stieß bei seinen Exporten auf Zugangsbeschränkungen des Auslands. - Musterland Ost befindet sich auf einem niedrigeren Entwicklungsniveau als das Ausland. I m Inland w i r d dann das Preisniveau für handelbare Güter i m allgemeinen nach Umrechnung i n international vergleichbare Währung unter dem Niveau des Auslandes liegen. - Nach der Öffnung agiert Musterland als Preisnehmer auf dem größeren Auslandsmarkt. Nach der Öffnung kommt das Preisdifferential zum Ausland zur Wirkung. Die niedrigeren Preise sind ein starker Anreiz für Exporte und gleichzeitig ein gewisser Schutz vor Importen. E i n durch das Preisdifferential ausgelöster Exportüberschuß w i r d kurzfristig, d. h. bei gegebenen Produktionskapazitäten, jedoch nur Zustandekommen, wenn eine entsprechende Kürzung der Inlandsnachfrage eintritt. Deshalb ist die unmittelbare Folge der Öffnung ein Anstieg des Binnenpreisniveaus, der gleichzeitig als Mechanismus des Anpassungsprozeß agiert. Der A n stieg des Binnenpreisniveaus wiederum führt ceteris paribus zu einer Senkung

152

Hubert Gabrisch

des Reallohns und dementsprechend zu einem Anstieg der Gewinnmarge der Unternehmen. Bei gegebenem Sozialprodukt wäre dann der Rückgang des privaten Konsums das Äquivalent für den Exportüberschuß.

S, I, E

Dieser Verlauf kann anhand von Abbildung 3 illustriert werden. I m Punkt A bestand das Gleichgewicht zwischen Investitionen I und gesamtwirtschaftlicher Ersparnis S i n der geschlossenen Wirtschaft. Spar- und Investitionsfunktion widerspiegeln die Reaktion beider Aggregate auf Änderungen des realen Sozialprodukts bei gegebenem Preisniveau. Wenn nach Öffnung der Wirtschaft aufgrund des Preisdifferentials zum Ausland ein Exportüberschuß i n Höhe von E zustandekommt, w i r d es zu einer Verschiebung der aggregierten Investitions- und Exportfunktion kommen, da die Ersparnis der Summe aus Investitionen und Exportüberschuß entspricht. Bei unveränderter Investitionsneigung w i r d das neue Gleichgewicht i m Punkte Β erreicht, sofern das reale Angebot sich der erweiterten Exportnachfrage anzupassen vermag. Ein Anstieg des Binnenpreissniveaus w i r d dann nicht stattfinden. Das Sozialprodukt wächst auf Υχ. Gehen w i r aber von einem kurzfristig nicht auszuweitenden Sozialprodukt aus, so ist ein neues Gleichgewicht nur bei einer höheren Ersparnis i m Punkte C möglich. Die höhere Erspar-

Gesamtwirtschaftliche Anpassungsprozesse

153

nis s drückt sich i n einer Verschiebung der Sparfunktion nach oben aus, die durch den Anstieg der Binnenpreise auf ρ ι verursacht w i r d (die neue Sparfunktion ist die unterbrochene, gefettete Linie). Wenn jedoch die Sparfunktion auf die Steigerung der Preise stärker reagiert, so ist durchaus auch eine weitere Verschiebung möglich. I n diesem Falle w i r d ein Gleichgewicht zwischen S und I+E i m Punkte D erreicht, der ein geringeres Sozialprodukt Y 2 repräsentiert. Trotz höherer Exporte sinken Sozialprodukt und Beschäftigung, weil die Senkung des privaten Konsums stärker ausgefallen ist. I m Punkte D ist es i m übrigen auch zu einer Senkung der Investitionen über eine Senkung des Sozialprodukts gekommen (negativer Akzelerator). Dieses B i l d ist jedoch nicht vollständig, denn die Investitionen könnten nicht nur auf eine Veränderung des Sozialprodukts, sondern auch positiv auf eine Steigerung der Gewinnmarge reagieren. Graphisch würde dies i n einer Verschiebung der Investitionsfunktion zum Ausdruck kommen, so daß bei unterausgelasteten Kapazitäten i m Punkte D und konstanten Exporten die Investitionen steigen. Würde die Reaktion der Investitionen so stark ausfallen, daß die Kapazitäten der Wirtschaft wieder ausgelastet werden, wäre wieder Punkt C erreicht, allerdings zu Lasten der Exporte. Schließlich ist noch ein weiterer Umstand zu berücksichtigen: Der Anstieg der Binnenpreise führt bei konstantem nominalen Wechselkurs zu einer realen Aufwertung der Währung, die einen Teil der Exporte, die zunächst durch das Preisdifferential zum Ausland profitabel erschienen, wieder unprofitabel werden lassen. I n diesem Falle würde die Verschiebung der I+E-Linie schwächer ausfallen.

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Hubert Gabrisch

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Anpassungsbedarf der Europäischen U n i o n bei der Osterweiterung Korreferat zu H u b e r t Gabrisch Von D i e t e r

C a s s e l , Duisburg

Statt des gestellten Themas behandelt der Referent, Hubert Gabrisch (IWH), „Gesamtwirtschaftliche Anpassungsprozesse i n M i t t e l - und Osteuropäischen Ländern (MOEL) nach einem Beitritt zur Europäischen Union (EU)". Er zielt m i t seiner Analyse darauf ab, negative Wohlfahrtseffekte für die neuen Mitgliedsländer aus einer Vollmitgliedschaft abzuleiten. Auf das gestellte Thema kommt er erst zum Schluß kursorisch zu sprechen, nachdem er die Gemeinsame Wechselkurs-, Agrar- und Strukturpolitik der E U als eine wesentliche Ursache der Effekte herausgearbeitet hat und diesen Befund i m letzten Kapitel zu einem entsprechenden Reformappell an die E U nutzt. Dies bereitet m i r als Korreferent erhebliche Schwierigkeiten: Da der Anpassungsbedarf der E U i m Falle der Osterweiterung weit über die Aspekte hinausgeht, die der Referent anspricht, wäre es an sich geboten, ein zweites Referat zu halten. Andererseits ist es m.E. erforderlich, das Räsonnement des Referenten k r i tisch zu beleuchten, zumal er daraus weitgehende integrationspolitische Forderungen (ζ. B. die Einbeziehung der M O E L i n eine Freihandelszone bzw. Zollunion mit der EU) als längerfristige Alternative zur Vollmitgliedschaft ableitet. Es wäre zudem reizvoll, die Sinnhaftigkeit einer derartigen Integrationsoption vor dem Hintergrund der spezifischen Probleme der mittel- und osteuropäischen Transformationsländer zu diskutieren. Ich werde versuchen, i n der gebotenen Kürze das eine zu tun, ohne das andere zu lassen.

1. Warum gibt es einen Anpassungsbedarf bei der Osterweiterung? Die Osterweiterung der E U ist politisch gesehen eine „beschlossene Sache", an der nicht mehr zu rütteln ist (Tebbe, 1996): Polen, Ungarn,

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Dieter Cassel

die Tschechische Republik, die Slowakei, Rumänien und Bulgarien sowie die drei baltischen Staaten sind inzwischen durch „Europa-Abkommen" mit der E U bilateral assoziiert; das Abkommen mit Slowenien ist paraphiert. Der Europäische Rat hat i m Juni 1993 i n Kopenhagen ausdrücklich bekräftigt, daß diejenigen assoziierten MOEL, die dies wünschen, der E U als Vollmitglied beitreten können. Bis auf Slowenien haben inzwischen alle diese Länder den Beitritt zur E U beantragt, so daß es „ n u r " noch eine Frage der Zeit und des Weges ist, bis bzw. wie sich die 15er-Gemeinschaft um 10 oder mehr Länder erweitern und eine durch wirtschaftliche Freizügigkeit und politische Kooperation geprägte, integrierte gesamteuropäische Marktwirtschaft geschaffen wird. Den Schlüssel dazu bilden die „Beitrittsreife" der M O E L einerseits und die „Erweiterungsreife" der derzeitigen E U andererseits. I m Vergleich zu den bisherigen Erweiterungen der vormaligen Ger-Gemeinschaft sind die Reifekriterien bei der nun anstehenden Osterweiterung von erheblich größerer Relevanz, weil - sich erstens die M O E L als ehemals sozialistische Länder nach wie vor i n einem umfassenden Transformationsprozeß befinden, der die politische und ökonomische Divergenz zur E U erst teilweise abbauen konnte und der den beitrittsbedingten Integrationsprozeß i n institutioneller, struktureller und entwicklungsmäßiger Hinsicht noch auf absehbare Zeit belasten dürfte; und weil zweitens - die Integration der M O E L für die E U nach Zahl (mindestens 10 Länder), Bevölkerung (mehr als 100 Millionen Menschen), Wirtschaftsstruktur (bis zu 25% der Erwerbstätigen arbeiten noch i n der Landwirtschaft) und Entwicklungsstand (das Bruttoinlandsprodukt der Beitrittsländer liegt zwischen 18 und 54% des EU-BIP) einen „Quantensprung" darstellt, der die wirtschaftliche Integrations- und politische Handlungsfähigkeit der gewachsenen Gemeinschaft unter Status-quo-Bedingungen zu überfordern droht. Hieraus speist sich die anhaltende Diskussion über die beiderseitigen Kosten und Nutzen der Osterweiterung einerseits sowie die erforderlichen Ex-ante-Anpassungen zur Herstellung der Beitritts- und Erweiterungsreife der Beteiligten andererseits (Dauderstädt, 1995).

Anpassungsbedarf der Europäischen Union bei der Osterweiterung

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2. Sind die Mittel- und Osteuropäischen Länder von integrationsbedingter realer Aufwertung ihrer Währungen bedroht? Der Referent beteiligt sich an dieser Diskussion aus Sicht der M O E L und kommt zu einer insgesamt negativen Bilanz. Sein Argument: Die bei Vollmitgliedschaft der M O E L zu erwartenden langfristigen Preis- und Strukturanpassungen, verbunden mit kräftigen finanziellen Hilfen aus den EU-Fonds, führen zu realen Aufwertungen, die den wirtschaftlichen Aufschwung der Beitrittsländer verhindern und Wohlfahrtsgewinne der EU-Integration fraglich machen. Damit behandelt er aber nur kurz- bis mittelfristig relevante Teilaspekte eines langfristigen, überaus komplexen Anpassungsprozesses; er liefert weder eine hinreichend umfassende Kosten-Nutzen-Analyse der Vollmitgliedschaft, noch kann bzw. w i l l er die aus der Außenwirtschafts- und Integrationstheorie abgeleitete These erschüttern, nach der bei einer Integration auch heterogener Wirtschaftsräume alle Beteiligten Wohlfahrtsgewinne erzielen können (Willgerodt, 1992; Tichy; 1996). Statt dessen werden mit der integrationsbedingten realen Aufwertung und ihren konjunkturellen Folgen für diê M O E L makroökonomische Probleme angesprochen, die m i r hinsichtlich ihrer Herleitung und ihres Geltungsanspruchs alles i n allem ziemlich konstruiert bzw. begrenzt erscheinen. So geht Gabrisch i n seiner Analyse von einer Vollmitgliedschaft der M O E L i n einer E U aus, die einerseits durch ein Fixkurssystem (EWS II) der nicht an der Europäischen Währungsunion (EWU) teilnehmenden Mitgliedsländer und andererseits durch die Fortschreibung der bestehenden Agrar- und Strukturfonds (Regionalfonds, Kohäsionsfonds) geprägt ist. Beides ist jedoch keineswegs sicher: - Welche Länder an der E W U teilnehmen und wie sich die Wechselkurse der Nichtteilnehmer-Währungen zum Euro bilden werden, steht noch keineswegs fest. Viel spricht dafür, daß das EWS I I so flexibel wie das bisherige EWS gehandhabt wird, oder daß sogar flexible Wechselkurse zugelassen werden, falls die Inflationsraten der Outs deutlich von denen der E W U divergieren. Dies nicht zuletzt deshalb, um die Europäische Zentralbank (EZB) von stabilitätsgefährdenden Interventionen freizuhalten (Tietmeyer, 1996). - Die gängige Hochrechnung der Finanztransfers für die Agrar-, Regional- und Kohäsionspolitik auf das 2- bis 3-fache der jetzigen Beträge hat den zweifelhaften Charme einer Status-quo-Prognose und kann nicht mehr, aber auch nicht weniger als ein Hinweis darauf sein, daß diese Politikbereiche reformbedürftig sind oder daß die M O E L auf ab-

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Dieter Cassel

sehbare Zeit nicht daran partizipieren dürfen. Der Referent selbst weist aber darauf h i n (6. Kapitel), daß die Agrarreform bereits 1992 eingeleitet und unter dem GATT-Druck bis über das Jahr 2000 hinaus weitergeführt werden müsse (Hartmann, 1995; Tangermann, 1995). Auch bei der Regional- und Strukturpolitik laufen die Rechtsgrundlagen und die Finanzplanung bis 1999 aus, so daß auch hier gravierende Änderungen möglich sind. Hinzu kommt, daß die EU-Integration der M O E L nach den bisherigen Weichenstellungen („Assoziierungs- bzw. Europa-Abkommen" seit 1991; „multilaterale strukturierte Beziehungen" seit Kopenhagen 1993; „Heranführungsstrategie auf der Grundlage des Weißbuches" seit Essen 1994) nicht abrupt, sondern stufenförmig erfolgt und wohl erst zu Beginn des nächsten Jahrtausends i n der Vollmitgliedschaft mit allen Rechten und Pflichten - und insbesondere ohne Ausnahme von den Gemeinschaftsregeln („Acquis communautaire") endet. Voraussichtlich werden die Antragsteller i n den demnächst beginnenden bilateralen Beitritts Verhandlungen je nach Beitrittsreife auf unterschiedliche Stufen einer „Integrationstreppe" gestellt, die vom Assoziierungsstatus über den Binnenmarkt - m i t oder ohne temporären Ausnahmen - zur Beteiligung am Transfermechanismus bis h i n zum EWS I I und schließlich zur E W U führen könnte. Den einzelnen Beitrittsländern bliebe es überlassen, je nach Anpassungsfortschritt oder auch -rückschritt künftig auf dieser Treppe auf- oder abzusteigen (Cichy, 1995; Weif ens, 1996). Die Relevanz derartiger Integrationsoptionen für die von Gabrisch aufgeworfenen Probleme besteht darin, daß die postulierten negativen Integrationseffekte für die M O E L entweder gar nicht auftreten - so ζ. B. bei flexiblen Wechselkursen und der Nichtbeteiligung am Transfersystem - oder sich quantitativ unmerklich auf einen längeren Zeitraum verteilen - zumal die M O E L den Auf- oder Abstieg auf der Integrationstreppe eigenverantwortlich werden bestimmen können. Aber selbst unter den vom Referenten gemachten Annahmen läßt sich bezweifeln, ob und inwieweit der von i h m vorgestellte Wirkungsmechanismus überhaupt trägt. Dreh- und Angelpunkt seiner Argumentation ist eine integrationsbedingte Erhöhung der komparativen Preisniveaus i n den Beitrittsländern, durch die es bei konstanten nominalen Wechselkursen zu einer realen Aufwertung kommen soll. Wie seine Tabelle 1 nahelegt, besteht offenbar ein erheblicher Anpassungsbedarf der MOEL-Preisniveaus nach oben, wozu das Gesetz der Preiseinheitlichkeit als Begründung herangezogen wird. Sofern jedoch die Theorie der komparati-

Anpassungsbedarf der Europäischen Union bei der Osterweiterung

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ven Kosten gilt - was von Gabrisch an keiner Stelle explizit bezweifelt w i r d - , müssen Preissteigerungen i n Branchen m i t Kostenvorteilen - also den potentiellen Exportbranchen - Preissenkungen i n solchen Branchen entgegenstehen, die komparative Kostennachteile aufweisen und bei denen es i n der Folge des Freihandels zum Import von billigeren Gütern kommen wird. E i n Anstieg des Preisniveaus als Durchschnittsstand der Preise ist daher keineswegs zwingend. Eine persistente Diskrepanz zwischen den Preisniveaus der EU-Länder und den M O E L - wie auch i m Verhältnis der nördlichen und südlichen Mitgliedsländer der E U (Tabelle 1) - läßt sich i m übrigen aus den Preisen der „non-tradeables" erklären, die aufgrund des geringen Einkommensniveaus der M O E L bzw. der südlichen EU-Länder erheblich niedriger als i m hochindustrialisierten Nordwesten sind. Wo aber kein integrationsbedingter Preisniveauanstieg zu verzeichnen ist, bleiben auch reale Aufwertungen und die daraus vom Referenten abgeleiteten Einkommens- und Beschäftigungseffekte aus. N u n soll mit dieser K r i t i k keineswegs geleugnet werden, daß es i m Zuge der Integration durchaus zu erheblichen realen Wechselkursveränderungen kommen kann, die sich nachteilig auf die M O E L auswirken können. Wenn überhaupt, dürfte dies aber eher i m Wirkungsdreieck „Geldpolitik - Inflation - Wechselkurs" der Fall sein: Eine inflationär wirkende Geldpolitik der M O E L würde i m System eines inflexibel gehandhabten EWS I I ständigen Abwertungsdruck erzeugen und bis zum fälligen Realignment reale Aufwertungen induzieren. Hiervon ist i m Paper von Gabrisch aber keine Rede. Auch ließe sich mittels dieses Zusammenhangs die von 1991-1995 beobachtbare Aufwertungstendenz einiger m i t teleuropäischer Währungen (insbesondere des polnischen Zloty; A b b i l dung 2) anders erklären als es der Referent zu intendieren scheint (3. Kapitel): Die Preisliberalisierung einerseits und die Abwertungsbereitschaft bzw. Freigabe der Wechselkurse andererseits hat i n den Transformationsländern Ende der 80er Jahre zunächst zu einem „overshooting" nach unten und damit zur drastischen Unterbewertung ihrer Währungen geführt. Nachdem die Preisanpassung ausgelaufen, die Transformation vorangeschritten und die Geldpolitik stabilitätsgerechter geworden ist, kehrt Vertrauen i n die Währungen zurück und korrigiert die Unterbewertung durch sukzessive reale Aufwertungen.

11 Konjunkturpolitik, Beiheft 44

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3. Ist die Europäische Union reif für die Osterweiterung? Trotz der K r i t i k am Räsonnement des Referenten gibt es keinen Grund, die möglichen Anpassungslasten für die beitrittswilligen M O E L zu verharmlosen - sie ergeben sich m.E. aber eher aus anderen Wirkungszusammenhängen als sie der Referent ableitet. Neben den eben erwähnten geldpolitisch induzierten Wechselkurseffekten und ihren Folgen für die Realwirtschaft sind es vor allem zwei Problemkomplexe, die durch den Integrationsprozeß hervorgerufen, zumindest aber beschleunigt werden und als Herausforderung auf die E U zurückwirken: - Z u m einen werden die beitretenden M O E L nur wenige Jahre nach dem Transformationsschock einem zweiten realwirtschaftlichen Schock ausgesetzt, der aus der Integration i n den Gemeinsamen Binnenmarkt resultiert. Angestoßen durch massive Veränderungen der relativen Preise und Löhne, verbunden mit erheblichen Technologieschüben sowie sozial-, energie- und umweltpolitischen Weichenstellungen w i r d es noch zu großen strukturellen und sektoralen Anpassungen kommen müssen, i n deren Verlauf Arbeitsproduktivität und Arbeitseinkommen steigen, aber auch die Arbeitslosigkeit zunehmen und der Migrationsdruck auf die westlichen EU-Länder wachsen w i r d (Weifens, 1993; 1995). - Zwar w i r k t sich nach dem Stand der theoretischen und empirischen Integrationsforschung die Integration insbesondere bei unvollständigem Wettbewerb und bestehenden Handelshemmnissen auch zwischen stark heterogenen Ländern wohlfahrtssteigernd für alle Beteiligten aus, doch besteht die Gefahr, daß sich unter bestimmten Bedingungen eine Polarisierung zwischen Zentrum (die hochindustrialisierten EU-Mitglieder) und Peripherie (die M O E L und südlichen E U Mitglieder) ergibt. Soll die Agglomeration durch Schaffung und Verlagerung von Produktion und Märkten i n das Zentrum und eine Pauperisierung der Peripherie verhindert werden, stellen sich der Regionalund Strukturpolitik i n der E U alte Aufgaben i n einer quantitativ und qualitativ neuen Dimension (Tichy, 1996). Damit sind zwei zentrale Aspekte der Erweiterungsreife der jetzigen 15er-Gemeinschaft angesprochen: Solange die Arbeitslosigkeit i n Westeuropa so exorbitant hoch ist, die wirtschaftliche Entwicklung praktisch stagniert und die Kohäsion i n der Gemeinschaft nur schleppend vorankommt, muß der von der Osterweiterung zu erwartende zusätzliche M i -

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grations- und Strukturanpassungsdruck von den Altmitgliedern der E U als Bedrohung empfunden werden. Daraus entsteht die latente Gefahr, daß die europäische Integration über den politischen Prozeß gestoppt wird. Deshalb müssen zunächst die nationalen „Hausaufgaben" i n Sachen Arbeitslosigkeit und Wachstumsschwäche gemacht und der B i n nenmarkt tatsächlich realisiert werden, bevor der nächste Schritt i n die Osterweiterung getan werden kann. Zur Erweiterungsreife der E U gehört auch, daß der Vertrag von Maastricht termin- und sachgerecht erfüllt und die E W U als Stabilitätsgemeinschaft auf den Weg gebracht wird. Die E W U mit dem Euro als gemeinsamer Währung und einer unabhängigen, auf das Ziel Preisniveaustabilität festgelegten EZB wären die Krönung eines langen Integrationsprozesses und würden für alle noch nicht beteiligten Länder einen Anker für ihre wirtschaftlichen und politischen Anstrengungen zur Erfüllung der Aufnahmekriterien bilden. Dies insbesondere dann, wenn es mit Maastricht I I gelingen sollte, den Mitgliedsländern auch nach der Gründung der E W U durch geeignete Regeln finanzpolitische Disziplin aufzuerlegen und auf diese Weise die i n der „Bailout-Problematik" bestehende offene Flanke einer stabilitätsgerechten Geldpolitik zu schließen. Von der E W U ginge daher ein nachhaltiger Anpassungsdruck auch auf die M O E L aus, verbunden m i t der Chance, sich als noch nicht beitrittsfähiges Land i m Vorhof eines noch zu schaffenden EWS I I die Beitrittsreife zu erarbeiten. Sollte dieses „Jahrhundertwerk" scheitern, droht auch das Ende des Binnenmarkts (File, 1995) und w i r d die Osterweiterung i n weite Ferne rücken: Das Momentum der europäischen Integration ginge verloren, der Stabilitätsdruck auf die Mitgliedsländer würde weichen und die vier Freiheiten des Binnenmarkts gerieten wieder i n Gefahr. Wer die Osterweiterung um ihrer ökonomischen und politischen Vorteile wegen w i l l , muß auch Maastricht und die E W U wollen. Schließlich bedarf die E U ökonomisch gesehen neuer Konzepte für wichtige Bereiche der Wirtschaftspolitik, u m auf die Osterweiterung vorbereitet zu sein. Hierzu gehören vor allem die Agrar- und Strukturpolitik mit ihren rapide wachsenden Transferleistungen. Dabei kann es nicht u m ihre Abschaffung, sondern vor allem u m ihre Effektuierung gehen mit dem Ziel, die Effizienz der Maßnahmen zu steigern und die Finanzströme deutlich zu verringern. Darüber hinaus wachsen der E U i m Bereich der Wettbewerbs-, Forschungs-, Kommunikations-, Verkehrsund Umweltpolitik Aufgaben zu, die wegen grenzüberschreitender E x ternalitäten auf supranationaler Ebene gelöst werden sollten. Anderer11

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seits ist der i m Zuge zentralistisch vorangetriebener Harmonisierung entstandene Wildwuchs von Regulierungen zu durchforsten und dem „Wettbewerb der Systeme" wo immer möglich Raum zu geben (Streit, 1996). Denn die Osterweiterung w i r d unweigerlich Anstöße und Veränderungswünsche seitens der Newcomer mit sich bringen, die nur dann ihre innovatorische Kraft und ihr wohlfahrtssteigerndes Potential entfalten können, wenn die Regelungsdichte überschaubar ist und institutionelle Gestaltungsspielräume bestehen. Dieser Aspekt ist eng verbunden mit der Forderung an die Europapolitik, dem Bürger wesentlich stärker als bisher deutlich zu machen, daß die europäische Integration und nicht zuletzt auch die Osterweiterung - dazu dienen, persönliche Freiheit, Sicherheit und Wohlstand i m Spannungsfeld globaler Herausforderungen zu gewährleisten. Denn die nach wie vor mangelnde Identifikation der Bürger mit der E U als neuem wirtschaftlichen, rechtlichen und politischen Gebilde ist eine nicht zu unterschätzende offene Flanke jeder Erweiterungs- und Vertiefungsdiskussion. Dieser Gedanke leitet über zum politischen Anpassungsbedarf der EU, i n dem viele den eigentlichen reformerischen Dreh- und Angelpunkt der Osterweiterung sehen (Leipold, 1994; Berg, 1996; Weidenfeld, 1996). Schon jetzt gewährleisten die komplexen Entscheidungsstrukturen und Verantwortlichkeiten i m Verhältnis von Rat, Kommission und Europaparlament weder transparente noch zügige Entscheidungsverfahren und lassen zudem Zweifel an ihrer demokratischen Legitimation aufkommen. Eine Vielzahl von Entscheidungsverfahren (Konsultation, Mitentscheidung, Zusammenarbeit) sowie Entscheidungsregeln (Einstimmigkeit, qualifizierte Mehrheit), ihre unsystematische Zuordnung zu den Entscheidungsfeldern sowie die babylonische Sprachenvielfalt innerhalb der rasch wachsenden Eurobürokratie beeinträchtigen die politische und wirtschaftspolitische Handlungsfähigkeit der E U noch zusätzlich. Es ist deshalb absehbar, daß eine 25er- oder gar 3Oer-Gemeinschaft nach überkommenen Prinzipien nicht mehr funktionieren kann: Nicht jedes Land w i r d dann ein Mitglied der Kommission stellen können, das Rotationsprinzip des Ratsvorsitzes stößt an seine Grenzen, ohne Neuregelung des Quorums bei qualifizierten Mehrheitsentscheidungen w i r d es zu unerwünschter Majorisierung der großen durch die kleinen M i t gliedsländer kommen, und schließlich würden der Verfahrenspluralismus und das potenzierte Sprachengewirr den Entscheidungsmechanismus lahmlegen. Kein Zweifel: Ohne eine politisch-institutionelle Reform und Stärkung der europäischen Handlungsfähigkeit kann es keine Osterweiterung geben.

Anpassungsbedarf der Europäischen Union bei der Osterweiterung

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4. Fazit Die vorgesehene Osterweiterung der E U und die daraus erzielbaren Vorteile eines politisch stabilen, demokratisch verfaßten und m a r k t w i r t schaftlich geordneten kontinentalen Integrationsraums sind sicherlich nicht kostenlos zu haben. Die Anpassungslasten für die mittel- und osteuropäischen Beitrittsländer sind erheblich; sie resultieren aber i m wesentlichen aus anderen Wirkungszusammenhängen als sie der Referent sieht und können zudem durch eine intelligente inhaltliche und zeitliche Gestaltung des Integrationsprozesses gesenkt werden. Hierzu gehört auch, daß die beitritt s willigen M O E L stärker als bisher miteinander kooperieren und gemeinsam den „Acquis communautaire" der E U einüben. Auch wäre çs dringend erforderlich, einen Modus freizügiger Z u sammenarbeit mit jenen Ländern zu entwickeln, die - wie Rußland, Weißrußland und die Ukraine - voraussichtlich für immer außerhalb der E U bleiben werden, u m einer politischen und wirtschaftlichen Destabilisierung am Ostrand der Gemeinschaft vorzubeugen. Unter diesen U m ständen läßt sich wohl kaum bezweifeln, daß der Beitritt zur E U für die ehemaligen Transformationsländer auf Dauer außerordentlich profitabel sein w i r d und deshalb die Option der Vollmitgliedschaft ohne vergleichbare Alternativen ist. Etwas anders sieht es für die bestehende 15er-Gemeinschaft aus: Binnenmarkt, Währungsunion und Osterweiterung bürden ihr erhebliche politische und wirtschaftliche Anpassungslasten auf, die zu tragen denjenigen Mitgliedsländern besonders schwerfällt, die - wie vor allem die südlichen EU-Länder - nur bedingt von der Vertiefung und Erweiterung der Gemeinschaft profitieren werden. Hier ist zu hoffen, daß diesen Ländern nicht die Zustimmung zu jedem weiteren Integrationsschritt „abgekauft" werden muß, weil dies die wohlfahrtsstif tende Effizienz der E U erheblich beeinträchtigen würde. Wird die Osterweiterung dagegen als Anlaß genommen, die bisherige Wirtschaftspolitik der Gemeinschaft radikal auf den Prüfstand zu stellen und insbesondere die politischen Institutionen und Entscheidungsverfahren grundlegend zu reformieren, könnten alle Altmitglieder auf Dauer ökonomisch erheblich besser dastehen als es unter den Status-quo-Bedingungen möglich erscheint. Die Osterweiterung sollte deshalb auch nicht als Bedrohung empfunden werden, sondern als Chance, bereits verkrustete Strukturen aufzubrechen und damit die künftige Position Europas i m globalen Wettbewerb der Regionen und Systeme zu stärken.

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Dieter Cassel Literatur

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Anpassungsbedarf der Europäischen Union bei der Osterweiterung

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Zusammenfassung der Diskussion Referate Gabrisch u n d Cassel

Die grundlegenden Prämissen Gabrischs, die seinem Plädoyer gegen einen EG-Beitritt zugrunde gelegen haben, seien von Cassel wohl ziemlich zerzupft worden, bemerkt Wilkens. Es sei nun schon interessant zu wissen, ob Gabrisch den Argumenten folgen wolle oder ob er an dem Gegensatz zwischen Anfang und Ende seines Beitrags festhalte: Einerseits werde ein Szenarium vorgestellt, nach dem für die Beitrittsländer großer Schaden von einem EG-Beitritt zu erwarten wäre. Andererseits, würden i m Schlußteil genau diese Prämissen aufgehoben, indem langfristige A n passungsmechanismen, auch Wechselkursbeweglichkeit gefordert würden, und zwar nicht etwa als ein Instrument, um den EU-Beitritt überhaupt möglich zu machen, sondern nur als Schadensbegrenzung. Schadensbegrenzung setzt aber voraus, daß erst einmal ein Schaden für die ost- und mitteleuropäischen Länder tatsächlich eintritt. Das sei überhaupt nicht zu erkennen, sondern i m Gegenteil werde es diesen Ländern durch die Assoziationsabkommen wesentlich erleichtert, wieder zu M i t teleuropa hinzuwachsen. Die Anpassung der Rechts- und Wirtschaftssysteme sei dafür ein Beispiel. Diese Möglichkeit habe diesen Ländern vierzig Jahre lang gefehlt. Wilkens wundert sich ferner über einen seltsamen Schlenker i n der Argumentation Gabrischs: Unter den Prämissen, die er gesetzt habe, sei „wieder mit einem Kaufkraftabfluß von Ost nach West, wie aus den neuen deutschen Bundesländern nach den alten deutschen Bundesländern" zu rechnen. A n einer solchen Behauptung könne man doch kaum festhalten, wenn man sich ζ. B. i n Halle umschaute und das vergleiche m i t dem Halle vor fünf oder sechs Jahren. Gabrisch möchte auf das Beispiel Halle nicht eingehen. Z u dem Korreferat von Cassel sei aber eine ganze Menge zu sagen. Eine Chance zur Anpassung der Rechtssysteme, der Institutionen, w i l l Gabrisch gar nicht bestreiten, das sei aber nicht der Gegenstand seiner Überlegungen gewesen. Die Erfüllung des Kriteriums Nummer drei des Kopenhagener Gipfels, daß die osteuropäischen Beitrittsländer den Acquis Communitaire

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übernehmen sollten, könne man anhand einer Checkliste abprüfen. Wenn das dann der Fall wäre, wäre es aber immer noch ein schwerer Fehler, sie allein deswegen für beitrittsfähig zu erklären. Es müßten ja noch zwei andere Kriterien erfüllt werden. Z u m einen müßten die m i t tel- und osteuropäischen Länder fähig sein, dem Wettbewerb innerhalb der Europäischen Union unter den dann herrschenden Bedingungen standzuhalten. U n d zweitens müßte auch die Europäische Union fähig sein, die Gemeinschaft mit den mittel- und osteuropäischen Ländern zu verkraften. Es handele sich offensichtlich u m recht unklare Kriterien, und interessanterweise hätten sie bisher seines Wissens auch noch keine Resonanz i n der Forschung gefunden. I n dem Korreferat von Cassel sieht Gabrisch keine zentralen Argumente gegen seine Analyse und ihre Schlußfolgerungen. Cassel habe an einer Stelle seines Korreferates ziemlich deutlich gesagt, daß für die m i t tel· und osteuropäischen Länder während des Integrationsprozesses der Euro als gemeinsame Währung und damit als Anker für ihre wirtschaftlichen, politischen Anstrengungen zur Erfüllung der Aufnahmekriterien erforderlich sei. Andererseits habe er am Anfang deutlich gesagt, er glaube nicht das von Gabrisch unterstellte Szenario, daß es zu einer Einschränkung der Wechselkursautonomie dieser Länder kommen würde. Zwischen diesen beiden Aussagen bestehe ein klarer Widerspruch. Er stimme durchaus mit Cassel i n dem Punkt überein, den er i n seiner letzten Sequenz vorgebracht habe, daß es nämlich darauf ankomme, daß diese Länder volle Autonomie i n ihrer Wechselkurspolitik haben. Von zerzupften Prämissen könne nicht die Rede sein. Gabrisch folgt:

versteht die von Cassel vorgebrachten K r i t i k p u n k t e wie

- Erstens, er liefere ökonomische Argumente, m i t denen er den Gegnern einer EU-Erweiterung M u n i t i o n verschaffe. Er sehe aber seine Aufgabe schon darin, ökonomische Argumente zu liefern. Man könne darüber streiten, ob sie falsch oder richtig seien, aber es gehe nicht an, stichhaltige Argumente aus politischer Sympathie zu unterschlagen. - D a s zweite Argument sei gewesen, seine Ausgangsprämissen seien gekünstelt, konstruiert und wahrscheinlich nicht sehr relevant. Das müsse man abwarten, man wisse es noch nicht. Jedenfalls weiche sein theoretischer Ansatz von den gängigen Betrachtungen der Osterweiterung der E U und des daraufhin abzuleitenden A n passungsbedarfs der Europäischen Union ab. Es gebe sicherlich viele

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mögliche Ansatzpunkte für die Analyse, von der Theorie der Komparativen Kosten über die neue Außenhandels- und Wachstumstheorie bis zur Theorie der effektiven Nachfrage. Diese Ansätze widersprächen einander nicht unbedingt, sie könnten sich durchaus ergänzen. Allerdings habe i h n ein Argument von Cassel doch stutzig gemacht. Er - Cassel - habe bei der Beurteilung des Preisniveaus gesagt, es müßte gemäß der Theorie der Komparativen Preise bzw. der Theorie der Komparativen Kosten zu Preissenkungen kommen, weil es infolge des Freihandels zum Import von billigen Gütern kommen wird. Diese Argumentation versteht Gabrisch nicht. Es geht i h m nicht um die relativen Preise, i h n interessieren die absoluten Preisunterschiede. Er kenne beispielsweise keine deutschen Produkte, die nach Umrechnung etwa i n Zloty billiger als polnische Konkurrenzprodukte seien. Diese theoretischen Vorstellungen stoßen auch bei Schweickert auf Widerspruch: Gabrischs zentrale Aussage sei es nach eigenem Bekunden gewesen, daß es zu einer integrationsbedingten realen Aufwertung kommt und daß man daraus Kosten für diese Länder ableiten kann. So wie er argumentiert habe, sei das aber nicht zu verstehen. Wenn man dam i t anfinge zu sagen, daß ζ. B. die deutsche Währung real höher bewertet ist als die eines osteuropäischen Landes, dann könne man das akzeptieren, denn nach der Theorie müßte das die Produktivitätsdifferenzen zwischen beiden Ländern widerspiegeln. Wenn man erwartete, daß diese Länder i m weiteren Prozeß aufholen, dann müßte man erwarten, daß diese Differenzen verschwinden. I m Wachstumsprozeß komme es also zu einer realen Aufwertung. N u n behaupte Gabrisch, dadurch daß die E U diesen Ländern Kooperation anbietet, d. h., daß es zu Handels- und Kapitalverkehrsintegration kommt, würden diese Tendenzen verstärkt. Das bedeute nichts anderes als daß es integrationsbedingt zu Wachstumsprozessen kommt, die sich i n der realen Aufwertung widerspiegeln. Durch die Integration würden diese Länder also reicher. Den Schwenk, daraus Kosten zu konstruieren, könne er nicht nachvollziehen. Es komme vielmehr darauf an, zwischen realer Aufwertung und realer Überbewertung unterscheiden. So wie er die Argumentationskette verstanden habe, handele es sich um einen gleichgewichtigen Aufholprozeß, i n dessen Zuge es zu einer realen Aufwertung kommt, insofern wäre also alles i n Ordnung. Man müßte daher argumentieren, daß es integrationsbedingt zu einer realen Überbewertung kommt. Dies könne man sich ζ. B. vorstellen, wenn sehr kurzfristig sehr viel spekulatives Kapital zuflösse und diese Situation nicht

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durchzuhalten wäre, ähnlich wie bei vergleichbaren Fällen i n Entwicklungsländern, siehe Mexiko. Dies wäre denkbar, die Argumentationskette wäre aber ganz verschieden von der, die Gabrisch aufgebaut habe. Wenn man akzeptierte, daß diese Länder i m Trend real aufwerten, dann seien die Schwierigkeiten m i t einem festen Wechselkurs nicht verständlich, denn bei festem Wechselkurs könnten diese Länder real aufwerten, wenn sie eine höhere Inflationsrate hätten als ihre Partner. Es gäbe zwar ein Problem, wenn diese Länder Null-Inflation anstrebten, das sei aber kein Problem für den realwirtschaftlichen Allokationsprozeß. Hier müsse ja vermutet werden, daß eine reale Abwertung Komplikationen brächte. Wenn der Gleichgewichtskurs real stiege, und es werde real abgewertet, dann bedeute das nichts anderes als eine andere Form des Ab wertungs wettlauf s. Die Abwertung hätte dann inflationäre Konsequenzen. Hoffman macht darauf aufmerksam, eine Prämisse Gabrischs sei gewesen, daß es zu einem Lohndruck nach oben kommt, wenn die Preise sich den EG-Preisen nach oben anpassen. Die Aufwertung wäre wohl dann kein Problem, wenn die Reallöhne sich anpaßten. Schweickert sieht das auch so, es handele sich dann um eine gleichgewichtige reale Aufwertung. Gabrisch stimmt dem zu. Produktivitätsfortschritte könnten sich auch aus der Integration ergeben. Insbesondere bei einer Steigerung der A t traktivität - beispielsweise für ausländische Direktinvestitionen entsprechend dem Beispiel von Spanien - sei die damit verbundene Steigerung der Reallöhne und damit auch die verbundene Aufwertung für das Land und die Wettbewerbsfähigkeit seiner Exporte überhaupt kein Problem. Er mache sich aber Sorgen u m Fälle, i n denen diese reale Aufwertung nicht aus solchen Produktivitätsfortschritten resultiert, oder u m Fälle, i n denen die reale Aufwertung oder die Preisniveausteigerung die Produktivitätsfortschritte überschießt, nicht weil die fiskalische Diszip l i n oder monetäre Disziplin verletzt worden ist, sondern nur infolge eines Preisanpassungsprozesses. Andere mögliche Ursachen seien spekulative Kapitalzuflüsse oder große Transferzuflüsse. Wenn 30 Milliarden ECU nach Mittel- und Osteuropa gepumpt würden, ergäbe sich doch ein reales Aufwertungsproblem mit entsprechend negativen Auswirkungen auf die Wettbewerbsfähigkeit der Exporte. Bei der Diskussion u m die zukünftigen Vor- und Nachteile eines Beitritts der mittel- und osteuropäischen Länder i n die Europäische Union dürften nicht nur Chancen für Produktivitätsfortschritte betrachtet wer-

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den. Wichtig sei vielmehr auch die Frage, ob nicht auch diese Produktivitätsfortschritte durch andere Bewegungen mehr oder weniger kompensiert werden. I n diesem Fall brauche man das Instrument der Wechselkurspolitik, um die den Wechselkurs wieder i n einen Zusammenhang mit dem Produktivitätsdifferential zu bringen. Siebert akzeptiert den von Schweickert dargestellten realen Aufwertungseffekt i m Rahmen eines Konvergenzprozesses. Allerdings müsse man berücksichtigen, daß i n der Realität diese Prozesse nicht immer so verlaufen, daß Probleme auftreten. Es sei nicht vorstellbar, die Währungsunion sofort auf die mittel- und osteuropäischen Länder übergreifen zu lassen. Hier werde der Wechselkurs als Puffer für den Übergangsprozeß gebraucht. Zweitens bemerkt Siebert, es gebe sicherlich noch zusätzliche Bedingungen, die diese Länder zu erfüllen hätten. So hätten die Reformländer noch einen hohen Staatsanteil, Ungarn ζ. B. 60%, Polen 50%. Man müsse diese „jungen Volkswirtschaften" vergleichen mit den Ländern des pazifischen Bekens. Dort würden reale Wachstumsraten von 6-7% erreicht, aber bei Staatsanteilen von etwa 30%. Wenn junge Volkswirtschaften, die mit einem niedrigen Entwicklungsniveau starten, bereits einen Staatsanteil von 50 oder 60% hätten, seien keine hohen Wachstumsraten zu erwarten, sondern nur etwa 3%. Entsprechend lange würden die Konvergenz- und Aufholprozesse dauern. Wenn nun diese Länder EU-Mitglieder würden, entstünde auf Jahrzehnte ein politischer A n spruch auf Transfers. Entsprechend dringlich sei die Rückführung des Staatsanteils i n diesen Reformländern. Auch bei der Frage, ob die Integration i n die Europäische Union für diese Länder überhaupt günstig wäre, könne der Vergleich zu den Ländern am pazifischen Rand nützen. Diese hätten sich sozusagen brutal der Weltwirtschaft geöffnet und damit dem multilateralen Wettbewerb ausgesetzt. Die Länder M i t t e l - und Osteuropas setzten sich zwar zunehmend dem westeuropäischen Wettbewerb aus, sie würden aber zum Teil durch die abschirmende Politik der Europäischen Union gegen einen weltweiten Wettbewerb geschützt. Sie wären - insbesondere nach dem Beitritt - also nicht unter dem gleichen Druck wie etwa die asiatischen Länder. Dann stelle sich die Frage, ob der Zwang zur Veränderung i n der Europäischen Union hinreichend stark sein werde, oder ob diese Länder auch beginnen würden, allmählich einzuschlafen. Dönges stellt drei Bemerkungen zur Diskussion. Grundsätzlich sei es ganz gut, daß einmal eine Position vertreten worden sei, die nicht i n die

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allgemeine Osterweiterungseuphorie einstimmte. Er sei persönlich kein Gegner der Osterweiterung, aber es werde zu oft „politisch" entschieden. Daß erst einmal politisch entschieden und erst später ökonomisch nachgedacht wird, gebe es ja leider häufiger. Dabei mache sich die Europäische Union das Leben selber schwer. Sie könne wesentlich beitragen zu dem Transformationsprozeß i n den benachbarten osteuropäischen Ländern, indem sie sich insbesondere i m Außenhandel öffnete. Auch bei den Europaverträgen gehe es wieder nach dem alten Muster, daß der Europäischen Gemeinschaft dort, wo es weh tut, bei den sogenannten sensiblen Bereichen, alles mögliche einfalle, u m heimische Partikularinteressen zu schützen, seien es nun längere Übergangsfristen oder Kontingente, und man verweise dann die aufstrebenden Länder auf jene Bereiche, wo sie gar kein Exportpotential haben. Das kenne man auch i m Verhältnis zu den Entwicklungsländern. Hier sollte die Europäische Union endlich ein Signal setzen, für diese Länder eine Zukunftsperspektive zu eröffnen i n Bereichen ihrer eigenen Spezialisierung. Auch die osteuropäischen Länder selbst sollten sich solchen Freihandelsüberlegungen verstärkt zuwenden, so wie es i n einigen schon geschehe. A n Sieberts B i l d von den freihändlerischen Schwellenländern bringt Dönges die kleine Korrektur an, daß ζ. B. Korea und Taiwan alles andere als freihändlerisch eingestellt seien, allenfalls beim Export, aber überhaupt nicht auf der Importseite, die noch recht protektionistisch geregelt werde, teils sehr subtil und geschickt. Das ändere allerdings nichts an der grundsätzlichen Aussage, daß diese Länder die Chancen erkannt und sie entschlossen genutzt hätten, die die Teilhabe an der internationalen Arbeitsteilung für sie eröffnete. Dazu müsse man offenbar nicht i n der Europäischen Union sein. U n d wenn Cassel am Schluß dramatisch den institutionellen Reformbedarf anmahnte, so fehle ihm, Dönges, doch jede Phantasie dafür, sich vorzustellen, daß die Europäische Union derartiges leisten könnte, schon gar nicht mit 25 und 30 Mitgliedsländern. Deshalb sollte man lieber die kleinere Linie (Marktöffnung für den Wettbewerb aus M i t t e l - und Osteuropa) fahren. Sie wäre wirksamer, und zwar auch i m Interesse dieser Länder. Das von Gabrisch vorgebrachte Argument, durch Integration handele man sich Preissteigerungen i m eigenen Land ein, weist auch Dönges zurück. Das sei theoretisch schwer zu begründen, und es entspreche auch nicht der Erfahrung. Bei der Süderweiterung der Europäischen Union habe man bei allen drei mediterranen Ländern festgestellt, daß der früher übliche starke Inflationsdruck und ein hohes Preisniveau bei vielen

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Gütern beendet wurde, vor allem i n Spanien und Portugal. Das sei eine Folge von Wettbewerb. Es gebe weniger Möglichkeiten der Kartellierung unter den Anbietern, darauf könne man setzen. Offen sei, und diese Frage richtet er an Gabrisch, inwieweit noch mit transformationsbedingter Anpassungsinflation zu rechnen ist, d. h. wie weit die Prozesse der Preisderegulierung fortgeschritten sind. Wenn von dieser Seite Probleme zu befürchten wären, so hätten sie allerdings nichts m i t der Frage des Beitritts i n die Europäische Union oder der Öffnung gegenüber dem Weltmarkt zu tun. Es wäre eine Hausaufgabe, die i m Rahmen der Transformation zu leisten wäre. E i n weiterer Meinungsunterschied zu Gabrisch ist, daß Dönges auch für diese Länder den Euro als Ankerwährung befürwortet. Für Länder mit eher schwachen Notenbanken - schwach i m Hinblick auf den ständigen innenpolitischen Druck, dem sie ausgesetzt sind, was ihre stabilitätsorientierte Geldpolitik anbelangt - sei dies vorteilhaft. Ebenso sei es bei den Problemen, die aus hohen Anteilen des Staates resultieren, insbesondere wenn die nicht privatisierten Unternehmen Verluste machten, für die der öffentliche Haushalt de facto eintreten muß. Auch wenn Gewerkschaften immer noch starken Lohndruck ausübten, könne der zuständigen Notenbank geholfen werden, indem sie sich bindet und zu einem Teilhaber an einer stabilen Währung wird, so wie das Österreich, Spanien und andere Länder getan hätten. Natürlich habe das zu einer realen Aufwertung geführt, zum Teil auch zu einer Überbewertung, weil viel spekulatives Kapital zugeflossen sei, aber auch beim Wechselkurs gebe es zwei Möglichkeiten, entweder man korrigiert i h n durch eine nominale Abwertung oder aber man zwingt die Produktionsstruktur, sich an die neuen Wechselkursverhältnisse anzupassen. Auch die deutsche Wirtschaft habe wiederholt die Erfahrung gemacht, daß das funktioniert, wenn auch nicht ganz schmerzfrei. Auch i m Hinblick auf mehr Konvergenz, unabhängig vom eigentlichen Beitritt, gehöre die Sicherung von mehr Geldwertstabilität i n diesen Ländern zu den Grundlagen für anhaltende wirtschaftliche Entwicklung und Integration, und dazu könne eine Ankerwährung helfen. Dabei brauche der Kurs gar nicht ein für allemal festgemacht werden, man könne auch irgendwann einmal nominal abwerten. Hoffmann ergänzt, wenn man es m i t transformationsbedingten Preisanpassungen zu t u n habe, sollten Reallohnsenkungen i n der Tat hingenommen werden.

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Scharrer wundert sich über die Schlußfolgerung Gabrischs, die darauf hinauslaufen, daß Transferzahlungen für die Empfängerländer schädlich seien: Sie führten zu einer Aufwertung und damit zu Beschäftigungseinbußen, und diese schädlichen Effekte könnten nur dadurch kompensiert werden, daß man abwertet. Nach dieser Auffassung seien sie andererseits sogar unmittelbar nützlich für die Geberländer, denn sie w i r k t e n wie Investitionen i n EU-Kaufkraft. - Eine bizarre Vorstellung. Wenn ein L a n d alle seine Waren verschenkte, erreichte es natürlich Vollbeschäftigung. Ob man unter diesen Umständen nicht vielleicht auf die Transferzahlungen verzichten sollte, zumal sie aus EU-Sicht bisher doch eher als Belastung empfunden würden? Wurm meint, der Beitritt der osteuropäischen Länder zur Europäischen Union werde zu erheblichem Ausbildungsbedarf i n diesen Ländern führen - ein erfahrungsgemäß langer Prozeß. Die Arbeitsproduktivität sei speziell i n Polen sehr niedrig. Gleichzeitig entstehe dort erhebliche Feindschaft gegen westliche Firmen. Investitionen - auch i n die Ausbildung - würden erheblich erschwert. Hübner weist auf die zu erwartenden Migrationsprobleme hin. Gerade wenn Gabrischs Analyse zuträfe, daß mit realem Aufwertungsdruck und daraus folgendem Verlust an Wettbewerbsfähigkeit und Anstieg der Arbeitslosigkeit erzeugt zu rechnen wäre, würde Migrationsdruck entstehen. Innerhalb der E U hätten Arbeitssuchende, sechs Monate das Recht, sich an einem beliebigen Ort innerhalb der E U aufzuhalten und dann noch Anspruch auf Sozialhilfe. Die Migration von Ost nach West werde somit attraktiv. Sie werde sich vorwiegend auf Deutschland konzentrieren. Die Konsequenz wäre dann, daß man die Freizügigkeit, zumindest gegenüber bestimmten Ländern und für eine gewisse Zeit aufheben müßte. Auf einige dieser Diskussionsbeiträge antwortet Gabrisch: Eine der Kernfragen sei es, ob es nach einer Öffnung der Volkswirtschaft gegenüber dem Weltmarkt und bei mehr Wettbewerb zu einem Anstieg des Preisniveaus kommt. Dönges habe Erfahrungen m i t Fällen aufgezählt, i n denen es umgekehrt war. Aber Gabrisch sind dazu empirisch nur Gegenbeispiele geläufig, i n denen nicht m i t preisstabilisierenden Effekten zu rechnen sei. I n einer Reihe von Gutachten für die EU-Kommission aus dem Jahre 1994 sei man zu dem Ergebnis gelangt, daß allein aufgrund der Übertragung der gemeinsamen Agrarpolitik auf die mittel- und osteuropäischen Länder ein erheblicher Anstieg des Agrarpreisniveaus i n diesen Ländern stattfinden wird. Das gelte auch unter dem Aspekt, daß

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die Agrarreform an Tempo gewonnen hat. Man könne sich auch nicht vorstellen, daß das EU-Binnenmarktniveau bei den Agrar- und Lebensmittelpreisen durch irgendeine A r t von Agrarreformen auf das Niveau von Polen, Ungarn oder Tschechien sinken könnte. Da ungefähr 30-40% des privaten Konsums i n den mittel- und osteuropäischen Ländern für Lebensmittel verwendet würden, seien erhebliche Auswirkungen auf den Lebensstandard und damit auch auf das Verhalten der Arbeitnehmer zu erwarten. Den Einwand von Scharrer zur Transferproblematik w i l l Gabrisch nicht gelten lassen. Man könne sich ja nicht auf die Spruchweisheit zurückziehen, daß nicht sein kann, was nicht sein darf. Er habe versucht, diesen Mechanismus darzustellen, und i m übrigen habe gerade i m HWWA Anfang der achtziger Jahre eine sehr ausführliche Diskussion i n der Entwicklungsländer-Abteilung stattgefunden, i n der die gesamtwirtschaftlichen Auswirkungen von Entwicklungshilfe auf die Entwicklungsländer diskutiert worden seien. Zumindest sei die These i n Frage gestellt worden, daß die ausländische Hilfe ausschließlich oder überwiegend eine Komplettierung der inländischen Ersparnis darstellt. Vielmehr könne sie unter bestimmten Bedingungen inländische Ersparnis verdrängen und hätte also negative Auswirkungen auf das Wirtschaftswachstum eines Landes. Cassel fragt bei Siebert nach, welchen Staatsanteil er i m Sinn hatte, den Stand der Privatisierung i n den ehemals sozialistischen Ländern oder die Verschuldungsquote. Siebert bezieht die Betrachtung vorwiegend auf die hohen Ausgaben für soziale Sicherung i n diesen Ländern; dies hänge aber auch mit der Privatisierung zusammen. Cassel stellt klar, ein Problem, das er angesprochen habe, sei die Frage, inwieweit diese Länder bereits reif für den Beitritt seien, und zwar i m Hinblick auf eine definitiv vollzogene Transformation, die einschließe, daß ein hoher Prozentsatz der ehemaligen staatlichen Betriebe i n Privateigentum überführt sind. Es sei ζ. B. zu fragen, inwieweit tatsächlich Marktverhältnisse bestehen, die durch Wettbewerb geordnet sind, inwieweit Notenbanken existieren, die über ein entsprechendes Instrumentarium der Geldpolitik verfügen. Das sei ja eines der Kriterienbündel, die bereits i n Kopenhagen beschlossen wurden und hier meldet er Vorbehalte an. Die Länder hätten ihre Hausaufgaben noch zu machen. Wenn die Osterweiterung zu rasch käme, würde der Anpassungsdruck sich möglicherweise potenzieren, weil einerseits noch die Restrukturierung aus der sozialistischen Phase anstünde und außerdem ein weiterer

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realer Schock als Folge der Anpassung i m Rahmen der Europäischen Integration auf diese Länder einwirkte. Siebert betont die Problematik der noch erheblichen Subventionen und der Zugeständnisse, die möglicherweise aus politischer Sicht notwendig erschienen, etwa um Wahlen zu gewinnen. Diese entscheidenden Belastungen des Staatshaushalts müßten i m Detail untersucht werden. Auffallend sei der Unterschied zwischen der Höhe der Staatshaushalte dieser Länder i m Vergleich mit anderen jungen Aufholländern. Cassel weist die Unterstellung zurück, er hinge einer Erweiterungseuphorie an. Aus seiner Feststellung am Anfang, die Dinge seien politisch entschieden worden - durch die Assoziierungsabkommen mit dem i n Kopenhagen gemachten Versprechen, die assoziierten Länder aufzunehmen, wenn sie denn einen Antrag stellten. Man sollte sich schon darüber klar sein, daß auch die Osterweiterung, wie frühere Erweiterungen und natürlich die Gründung der Europäischen Gemeinschaft selbst, primär nicht ökonomisch begründet ist, sondern politisch. Wenn eine solche Entscheidung gefallen sei, müsse man auf Schadensbegrenzung aus sein und versuchen, das Vorhaben zu einem ökonomischen Erfolg zu führen. Dabei spiele eine zusätzliche Rolle, daß die neuen Beitrittsländer auch untereinander erst einmal i n eine Integration hineinkommen müßten. Wenn man sich nicht leisten wollte, am Ostrand einer ökonomischen und politischen Destabilisierung entgegenzulaufen, müsse man neue Formen der Zusammenarbeit m i t Weißrußland, der Ukraine und Rußland entwickeln. Clement kommt auf die von Dönges und Cassel angesprochene Frage zurück, wie groß der Anpassungsbedarf bei den Preisen infolge der Transformation noch ist. I n den CEFTA-Ländern sei die Preisanpassung weitgehend vorbei, auf jeden Fall werde sie bis zum Beitritt geschafft. Eher sei zu fragen, wo realer Anpassungsbedarf bestehe. Es könne sein, daß durch die Transformation soviel Kapazität i n Abgang zu stellen sei, daß ein struktureller Anpassungsbedarf ausschließlich durch Zuwachs gedeckt werden könnte. Dann bestehe kein allzu großes Problem, das Tempo entscheide sich an der Investitionsquote und der Investitionssumme. E i n Problem sieht Clement bei der Frage des Außenhandels mit (für die EU) sensiblen Gütern. Sicherlich sei die Wettbewerbsstärke der ostund mitteleuropäischen Länder bei Stahlprodukten eigentlich paradox, denn es handele sich ja um kapitalintensive Güter. Die Kapitalkosten würden offensichtlich nicht voll berechnet, und fraglich sei, ob es dann 12 Konjunkturpolitik, Beiheft 43

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sinnvoll wäre, den M a r k t der E U zu öffnen und möglicherweise dort Investitionsfehllenkung zu verursachen. Möglicherweise sei die Verweigerung des Zugangs zum E U - M a r k t sogar hilfreich für diese Länder bei der Anpassung ihrer Produktionsstruktur. Auch Eekhoff nimmt Stellung zu der Frage, wie sich die Integration auf das reale Preisniveau auswirkt. Auf keinen Fall sollte man mit schlechten Wechselkursen arbeiten, was aber nicht heiße, stabile anzustreben. Es sei kaum zu erwarten, daß von vornherein funktionsfähige feste Wechselkurse zu erreichen wären. Der richtige Weg sei sicher der von Dönges beschriebene, sich an eine Leitwährung anzuhängen und zu versuchen, stabile Wechselkurse zu realisieren. Dann sei ein beträchtlicher Teil der Probleme, die Gabrisch genannt habe, von der Wechselkursseite her gelöst. Das Hauptproblem sieht Eekhoff demgegenüber i n dem von Clement angesprochenen realen Strukturwandel. Es sei ja nicht verwunderlich, daß sich die vielen Staatsunternehmen i n den Beitrittsländern auf dem Weltmarkt zumindest genauso schwertun wie die Industrien i n westlichen Industrieländern. Die Produktionsstruktur passe nicht mehr zu dem, was nach Öffnung der Grenzen wirtschaftlich vernünftig wäre. Solange diese Unternehmen i n Staatshand blieben, solange der Staat daran festhalte, diese Struktur zu erhalten, seien ganz erhebliche Verzerrungen und Kosten die Folge. I m übrigen sollte man nicht so tun, als sei das nur ein Problem i n den früher sozialistischen Ländern. Was i n Westeuropa unter dem Begriff der „sensiblen Sektoren" diskutiert werde, sei ja nichts anderes als der Ausdruck davon, daß man sich hier ebenfalls nicht i n der Lage sehe, i n diesen Sektoren den erforderlichen Strukturwandel zu erreichen. Auf die E U komme nicht nur ein Problem dieser Länder zu, sondern ein Problem der mangelnden Strukturflexibilität i n den Ländern der Europäischen Union. Drabczyk fragt nach der Strategie der Europäischen Union hinsichtlich des Zeitplans der Osterweiterung. Das Zögern der E U werde vielfach als schädlich für die Wirtschaft Polens angesehen. Gleichzeitig bewirke das Weißbuch über die Vorbereitung der mittel- und osteuropäischen Länder auf den Binnenmarkt einen erheblichen Anpassungsdruck i n diesen Ländern. Drabczyk korrigiert die Bemerkung, es gebe i n Polen eine besonders starke Bewegung gegen Ausländer. Das treffe nicht zu, was auch bei den letzten Wahlen durch das schlechte Abschneiden der Kandidaten oder Gruppierungen, die solche Einstellungen repräsentierten, deutlich ge-

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worden sei. Eine terroristische Gruppe habe zwar einmal eine Erpressung versucht, aber es habe sich u m nichts anderes gehandelt als den Versuch, auf kriminelle Weise an Geld zu kommen. Cassel stimmt Eekhoff zu, was die Restrukturierung der Beitrittsländer betrifft. Hierin liege i n der Tat ein ganz zentrales Problem. Bezeichnend für den Anpassungsbedarf sei, daß i n Ländern wie Polen oder Slowenien etwa 25% der Beschäftigten noch i n der Landwirtschaft tätig sind. Auf der anderen Seite seien die mittel- und osteuropäischen Länder fest entschlossen, sich mit der E U zu vereinen und zu Vollmitgliedern zu werden. Sie seien durchaus bereit, die Anpassunslasten zu tragen, während die E U die größeren Vorbehalte habe. Zur Einschätzung eines stufenweisen Vorgehens bemerkt Cassel, die nächste Stufe nach dem Assoziierungsabkommen könne nur ein Binnenmarkt sein, der allerdings temporäre Ausnahmen für bestimmte sensible Bereiche vorsehen müsse. U m eine ähnliche Entwicklung wie bei der deutschen Wiedervereinigung m i t der katastrophalen Vernichtung von Kapazitäten zu vermeiden, könne dieser Binnenmarkt - und da sei er sich mit Gabrisch einig - dauerhaft nur i n einem System flexibler Wechselkurse gegenüber der E U funktionieren. Insofern werde man weit über das Jahr 2000 hinaus m i t einer Teilintegration leben müssen. Gabrisch verzichtet auf ein Schlußwort; er habe i m Grunde alles gesagt, was er z.Z. zu sagen habe. Er bedankt sich für die kritischen Äußerungen und hofft, daß man auf diesem Gebiet miteinander i n der Diskussion bleiben werde.

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H a r m o n i s i e r u n g versus i n s t i t u t i o n e l l e r W e t t b e w e r b zur Sicherung realwirtschaftlicher Anpassung u n d monetärer Stabilität i n der Europäischen Währungsunion Von R a i n e r S c h w e i c k e r t ,

Kiel

1. Einleitung Harmonisierung versus institutioneller Wettbewerb Die europäische Integrationspolitik, wie sie i m Vertrag von Maastricht fixiert wurde, setzt vor allem auf eine ex-ante Harmonisierung nationaler Wirtschaftspolitiken (Laaser/Soltwedel et al. 1993; Schmieding 1992). Verständlich w i r d diese Entscheidung, wenn man sich die Interessen der beteiligten Parteien vergegenwärtigt (Starbatty 1993; Siebert 1991): die Produzenten i n Hocheinkommensländern verlangen Mindeststandards, u m ihre derzeitige Wettbewerbsposition zu halten; die beteiligten Regierungen wollen einem Wettbewerb untereinander aus dem Wege gehen; die Politiker und Zentralbankräte i n den Staaten der Europäischen Union (EU) bevorzugen eine Harmonisierung, da sie eine Zentralisierung von Entscheidungsprozessen begünstigt und sich Reputation aus der Implementierung gemeinschaftlicher Regeln und Vorschriften ziehen läßt. Dabei ist davon auszugehen, daß die Harmonisierungsstrategie verglichen mit einer Strategie institutionellen Wettbewerbs zu Wohlfahrtsverlusten führt (Streit 1994; Siebert/Koop 1993; Sinn 1993; Hayek 1968). Die Grundidee institutionellen Wettbewerbs ist es, daß Regierungen ein Paket von Regulierungen und Staatsausgaben anbieten, u m mobile Ressourcen zu attrahieren. Fließt durch ein attraktives Angebot Kapital zu bzw. siedeln sich Firmen an, so steigen die Steuereinnahmen und die Wahrscheinlichkeit einer Wiederwahl der Regierung. Dabei können die Regierungen ihr Angebot gemäß regional spezifischer Präferenzen bzw. gemäß Veränderungen i n ihrem Umfeld gestalten. Es findet also ein Suchprozeß statt, i n dessen Verlauf nachteilige Folgen einzelner Regulierungen für die Anpassungs- und Entwicklungsfähigkeit aufgedeckt und

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Rainer Schweickert

unter Wettbewerbsdruck neue Lösungen implementiert werden. I m Gegensatz zu einer ex-ante Harmonisierung werden dadurch die Kosten einer Fehlentscheidung aus gesamteuropäischer Sicht minimiert. Dies schließt eine ex-post Harmonisierung nicht aus. Voraussetzung für die Effizienz des Suchprozesses und damit auch der gefundenen Lösungen sind die Mobilität des Faktors Kapital (Sinn 1992) und harte Budgetrestriktionen für die beteiligten Regierungen (McKinnon 1994). Die Annahme einer grundsätzlichen Überlegenheit institutionellen Wettbewerbs gegenüber einer Harmonisierungslösung bedeutet nun nicht, daß jegliche Harmonisierung abzulehnen wäre, sondern nur daß der Nettonutzen jedes harmonisierenden Staatseingriffs nachzuweisen ist (Paqué 1993). Aus dieser Sicht stellt die Entscheidung für die Europäische Währungsunion (EWU) selbst schon einen ordnungspolitischen Sündenfall dar, da sie den Wettbewerb zwischen den europäischen Staaten als Anbieter von nationalen Währungen und dadurch auch die stabilitätspolitische Führungsrolle der Deutschen Bundesbank abschafft (Vaubel 1993c; 1990), ohne daß der Nettonutzen einer Währungsunion theoretisch oder empirisch nachgewiesen wurde (Krugman 1992). Die Arbeitshypothese dieser Untersuchung lautet deshalb: die Vereinbarung einer Europäischen Währungsunion (EWU) - die hier nicht diskutiert w i r d - begründet keine weiteren Harmonisierungspolitiken. Dabei w i r d der Begriff Harmonisierung weit definiert und umfaßt sowohl ,harte' Formen der Harmonisierung - die Zentralisierung bzw. Koordinierung lohn- und finanzpolitischer Instrumente - als auch ,weiche' Formen der Harmonisierung - die Festlegung von Ober- bzw. Untergrenzen für den Instrumenteneinsatz. Gemeint ist dabei immer eine ex-ante Harmonisierung. I n den nachfolgenden Kapiteln w i r d zu untersuchen sein, ob die Arbeitshypothese, daß die E W U keine weiteren Harmonisierungsschritte begründet, abgelehnt werden kann. I m Mittelpunkt stehen dabei die makroökonomischen Zielgrößen realwirtschaftliche Anpassung (Kapitel 2) und monetäre Stabilität (Kapitel 3). I n bezug auf die realwirtschaftliche Anpassung w i r d untersucht, ob sich eine Harmonisierung der Lohn- und Fiskalpolitik rechtfertigen lassen. I n bezug auf die monetäre Stabilität w i r d untersucht, ob sich die finanzpolitischen Beitrittskriterien zur Währungsunion rechtfertigen lassen.

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2. Harmonisierung und realwirtschaftliche Anpassung 2.1. Die Rolle der Lohn- und Fiskalpolitik bei Anpassungsproblemen

Bevor die Harmonisierung der Lohn- und Fiskalpolitik diskutiert werden kann, sollen zunächst die theoretischen Grundlagen verdeutlicht werden. Ausgangspunkt der Überlegungen sind dabei die Thesen der Theorie der optimalen Währungsräume i n bezug auf die Lohn- und Finanzpolitik i n einem einheitlichen Währungsraum (Vaubel 1988: 236238): - Das Ausmaß einer notwendigen Änderung des realen Wechselkurses, dem Relativpreis von gehandelten zu nicht gehandelten Gütern, zwischen den Regionen der Währungsunion i n Folge eines asymmetrischen externen Schocks ist u m so größer, je geringer die interregionale Mobilität des Faktors Arbeit ist. Bei einer geringen Mobilität des Faktors Arbeit müssen starke Reallohnänderungen die regionale Arbeitsnachfrage und das regionale Arbeitsangebot i n Einklang bringen. - Das Ausmaß einer notwendigen realen Wechselkursänderung i n Folge eines asymmetrischen externen Schocks ist auch um so größer, je weniger die Harmonisierung der Finanzpolitik ausgebaut ist. E i n progressiv angelegtes Steuersystem bzw. einkommensabhängige Sozialtransfers könnten dagegen für eine regelgebundene Dämpfung regionaler Nachfrageschwankungen sorgen. Folgt man der keynesianischen Interpretation, so steigen die Kosten der Einheitswährung proportional m i t den notwendigen realen Wechselkursänderungen, da der Wechselkurs als Anpassungsinstrument entfällt. Demnach würde - unter der Annahme geringer Mobilität des Faktors Arbeit - eine Harmonisierung der Lohnpolitik die realwirtschaftlichen Anpassungskosten erhöhen; eine Harmonisierung der Finanzpolitik wäre dagegen geeignet, die Kosten der Einheitswährung zu senken. Es kann mit Hilfe eines einfachen Modells für eine kleine, offene Region gezeigt werden, daß diese Thesen zumindest zu differenzieren sind. Abbildung 1 zeigt die graphische Darstellung eines solchen Modells, das dem Modell für eine kleine, offene Volkswirtschaft m i t gehandelten und nicht gehandelten Gütern entspricht (vgl. hierzu Schweickert 1993). 1 Auf der horizontalen Achse ist die reale Absorption (a) abgetragen, d. h. die gesamte reale Inlandsnachfrage nach heimischen und i m 1 Die graphische Darstellung lehnt sich an Corden (1991) an. Für eine formale Darstellung, siehe Dornbusch (1980: 100-103).

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Rainer Schweickert S

a ' ο

a

ο

Abbildung 1: Die Bedeutung der Lohnflexibilität bei festem und flexiblem Wechselkurs

p o r t i e r t e n G ü t e r n . D i e v e r t i k a l e A c h s e z e i g t d e n r e a l e n W e c h s e l k u r s an, d e r d e f i n i e r t i s t als : (1) wobei

s= e

= nominaler Währung,

e-p* T/p N.

Wechselkurs

(einheimische

Währung/ausländische

p j = Preisindex gehandelter Güter i n ausländischer Währung, PN = Preisindex nicht gehandelter Güter i n inländischer Währung. D i e G e r a d e Eo k e n n z e i c h n e t a l l e P u n k t e m i t H a n d e l s b i l a n z g l e i c h g e w i c h t . 2 D i e G e r a d e Io z e i g t K o m b i n a t i o n e n v o n s u n d a m i t g l e i c h e r 2

Kapitalverkehr w i r d hier zunächst nicht betrachtet. Es w i r d angenommen, daß die Kapitalbilanz i m Ausgangszustand ausgeglichen ist. Damit entspricht das Handelsbilanzgleichgewicht dem Zahlungsbilanzgleichgewicht. Diese Restriktion w i r d i m Laufe der weiteren Diskussion aufgehoben.

Harmonisierung versus institutioneller Wettbewerb

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Nachfrage nach nicht gehandelten Gütern. 3 Die positive Steigung der EGeraden ergibt sich aus der Überlegung, daß bei steigender Absorption der Preis der gehandelten Güter relativ steigen muß (steigendes s), damit die Handelsbilanz nicht ins Defizit gerät. Die negative Steigung der IGeraden ergibt sich daraus, daß die gehandelten Güter relativ billiger werden müssen (sinkendes s), damit sich die zusätzliche Absorption ausschließlich auf gehandelte Güter richtet und das Gleichgewicht auf dem M a r k t für nicht gehandelte Güter erhalten bleibt. 4 Aus diesen Überlegungen ergibt sich auch, daß eine Parallele unterhalb Eo Punkte mit gleichem Handelsbilanzdefizit zusammenfaßt. Eine Linksverschiebung von Io bedeutet eine geringere reale Nachfrage nach nicht gehandelten Gütern. Es w i r d unter der Annahme einer kleinen Region argumentiert, d. h., die Preise für gehandelte Güter i n ausländischer Währung sind extern bestimmt und ihre Preise i n heimischer Währung können nur durch Wechselkursänderungen beeinflußt werden. 5 Bei fixem Wechselkurs führen Änderungen der Nachfrage nach gehandelten Gütern zu Mengeneffekten und bei gegebenem Angebot zu einer entsprechenden Änderung des Handelsbilanzsaldos. Der Markt für gehandelte Güter ist also stets i m Gleichgewicht. Ungleichgewichte auf dem Markt für nicht gehandelte Güter können dagegen Preisänderungen dieser Güter bewirken. Es sei hier angenommen, daß diese Preisänderungen durch Lohnänderungen bestimmt werden. Bei inflexiblen Preisen erfolgt wie bei gehandelten Gütern eine Mengenanpassung. E i n Ausgleich über die Handelsbilanz ist i n diesem Fall aber nicht möglich. Eine zu geringe Nachfrage mündet deshalb i n Beschäftigungs- und Einkommensverluste. Unter den hier gemachten restriktiven Annahmen über die Preisänderungen bei gehandelten und nicht gehandelten Gütern gilt für die realen Wechselkurs: 3 Es w i r d hier ein linearer Zusammenhang unterstellt, um die Darstellung zu vereinfachen. 4 Da die Analyse kurzfristig angelegt ist, w i r d von einer Umstrukturierung des Angebots abstrahiert. Die Berücksichtigung eines bei konstantem Gesamtangebot steigenden Angebots nicht handelbarer Güter bei realer Aufwertung (sinkendes s) würde zu einem flacheren Verlauf der I - K u r v e und zu einem steileren Verlauf der Ε-Kurve führen. Bei konkavem Verlauf der Transformationskurve würden beide Kurven bei sinkendem s zunehmend flacher verlaufen. A n den qualitativen Aussagen dieser Analyse ändert sich dadurch nichts. 5 Dies könnte auch durch eine Änderung der Importzölle bzw. der nichttarifären Handelshemmnisse geschehen. Die Auswirkungen der Handelspolitik sollen hier jedoch nicht betrachtet werden.

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(2)

s= ê- w ,

wobei

w

= nominaler Lohn und = Änderungsrate.

Für feste Wechselkurse, wie zwischen den Regionen einer Währungsunion gilt dann entsprechend: (3)

s = -w ,

d. h., der reale Wechselkurs w i r d ausschließlich über Lohnänderungen angepaßt. Da das Angebot an gehandelten Gütern stets nachgefragt wird, entsprechen die Beschäftigungs- und Einkommensverluste, die auf dem M a r k t für nicht gehandelte Güter entstehen, den gesamtwirtschaftlichen Beschäftigungs- und Einkommensverlusten. Das Vollbeschäftigungsangebot beträgt a 0 . 6 Die Differenz zwischen a 0 und der tatsächlichen A b sorption entlang J 0 entspricht dem Handelsbilanzsaldo. 7 N u r eine Kombination von s und α ist m i t internem und externem Gleichgewicht vereinbar. E i n kritisches Anpassungsproblem kann nun aufgrund eines Rückgangs der internationalen Nachfrage nach regionalen Gütern entstehen. I n Abbildung 1 ist dieser Schock als eine Linksverschiebung der Gerade EQ nach E i dargestellt: bei gleichbleibenden Relativpreisen und zurückgehendem Export muß der Import und damit auch die reale Absorption abnehmen. Betrachtet werden nun i n Abbildung 1 die Anpassungsmechanismen bei flexiblem bzw. festem Wechselkurs. Bei flexiblem Wechselkurs würde das externe Gleichgewicht durch eine Abwertung der heimischen Währung herbeigeführt (Punkt C). Aufgrund der Überschußnachfrage nach nicht gehandelten Gütern können die Löhne steigen

6

Diese Aussage stellt wiederum eine Vereinfachung dar, die an den hier getroffenen qualitativen Aussagen nichts ändert. Bei kurzfristig gegebenem Angebot wäre Vollbeschäftigung bei Deflationierung der nominalen Werte durch den Preis nicht gehandelter Güter durch eine steigende, bei Deflationierung durch den Preis gehandelter Güter durch eine fallende Kurve gekennzeichnet. I n beiden Fällen würde die Kurve durch den Punkt C verlaufen. 7 Der Handelsbilanzsaldo entspricht nicht der horizontalen Differenz zwischen den Geraden I 0 und E 0 , da sich Änderungen der Absorption bei gegebenem Relativpreis nur teilweise auf die Nachfrage gehandelter Güter auswirken. Bei positivem und gegebenem Anteil der Nachfrage nach nicht gehandelten Gütern ist die Änderung der realen Absorption, die notwendig wäre, u m ein Handelsbilanzungleichgewicht zu beseitigen, stets größer als das Ungleichgewicht selbst.

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(Punkt D); das verbleibende Handelsdefizit w i r d durch eine monetäre Kontraktion (Devisenabfluß) beseitigt. Bei festem Wechselkurs erfolgt die externe Anpassung ausschließlich über einen Devisenabfluß (Punkt A). Es entsteht i m Gegensatz zum Fall eines flexiblen Wechselkurses ein Überschußangebot an nicht gehandelten Gütern. Die Löhne müßten nun sinken (Punkt B), u m den gleichgewichtigen realen Wechselkurs herzustellen; der dadurch bewirkte Handelsüberschuß bewirkt eine Absorptionserhöhung und das neue Gleichgewicht G' w i r d erreicht. Drei grundlegende Schlußfolgerungen können nun aus dieser stilisierten Beschreibung der Anpassungsprozesse bei flexiblem und festem Wechselkurs gezogen werden: - Das Ausmaß der notwendigen Reallohnflexibilität (nach unten) ist bei beiden Anpassungsalternativen gleich. Sind die Gewichte gehandelter und nicht gehandelter Güter i m gesamten Warenkorb gegeben, so bedeuten die relativ gesunkenen Löhne bei beiden Alternativen den gleichen realen Lohnverlust. - Die Anpassung zum neuen Gleichgewicht G' erfordert bei festem Wechselkurs zusätzlich, daß die Nominallöhne auch nach unten flexibel sind. Dies ist der Fall, der i n der Theorie der optimalen Währungsräume betrachtet wird. Nach unten starre Nominallöhne lassen die Volkswirtschaft i n Punkt A verharren. Bei fehlender Mobilität der Arbeitskräfte bedeutet dies, daß gegenüber Gleichgewicht G die Arbeitslosigkeit gestiegen ist. Arbeitsmobilität kann dann zwar nicht die A b sorption erhöhen, sorgt jedoch für eine Abwanderung der überschüssigen Arbeitskräfte. Dadurch w i r d Punkt A zum gesamtwirtschaftlichen Gleichgewicht. - Bei fehlender Reallohnflexibilität gilt entsprechendes auch für den Fall flexibler Wechselkurse. Die reale Abwertung zur Beseitigung des externen Ungleichgewichtes kommt dann nicht zustande, und ein Devisenabfluß zwingt die Volkswirtschaft nach Punkt A. Wie bei festem Wechselkurs ist also die Absorption ebenfalls geringer als i m Gleichgewicht G' und die zusätzliche Arbeitslosigkeit kann nur durch Arbeitsmobilität beseitigt werden. Regionen, die einem negativen, asymmetrischen externen Schock ausgesetzt sind und i n denen die Reallohnflexibilität gering ist - etwa aufgrund von LohnindexierungsVereinbarungen - , laufen deshalb auch bei flexiblen Wechselkursen Gefahr, i n einem Unterbeschäftigungsgleichgewicht bei überbewertetem realen Wechselkurs zu verharren. Flexible

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Wechselkurse sind außerdem nur dann eine Alternative, wenn die von einem Schock betroffene Region über eine eigene Währung verfügt. Dies bedeutet, daß Abbildung 1 zugunsten der Effektivität der Abwertungspolitik von der Identität der Region m i t einem nationalen Währungsgebiet ausgeht. Dies w i r d i n der Regel nicht der Fall sein (Bofinger 1994). Bei absolut festen Wechselkursen würde die gleiche Gefahr eines U n terbeschäftigungsgleichgewichts bei fehlender Nominallohnflexibilität bestehen. Die Debatte u m die steigende Arbeitslosigkeit i n Deutschland zeigt, daß diese Analyse auch für bereits integrierte Währungsräume i n Europa von Relevanz ist (Siebert 1994: 130-133). Insgesamt ist eine exante Harmonisierung der Lohnpolitik i n der E U also kritisch zu w ü r d i gen, wenn sie die Real- und Nominallohnflexibilität einschränkt. Ob dies der Fall ist, w i r d noch zu diskutieren sein (Abschnitt 2.2.).

Abbildung 2: Regionale Konjunkturpolitik bei negativem Nachfrageschock

Bisher wurde angenommen, der externe Schock sei permanent. I n diesem Fall sollte die Fiskalpolitik nicht i n den Anpassungsprozeß eingrei-

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fen, u m keine Verschuldungsdynamik i n Gang zu setzen. I m Gegensatz dazu w i r d bei temporären Schocks eine wichtige Rolle für die Finanzpol i t i k vermutet, wenn der Wechselkurs als Anpassungsinstrument ausfällt. Abbildung 2 zeigt noch einmal den gleichen Schock wie i n A b b i l dung 1, d. h. einen Rückgang der internationalen Nachfrage nach regionalen Produkten. Bei festem Wechselkurs und festem Nominallohn würde ein Devisenabfluß für eine Bewegung nach A sorgen. Dies könnte i m Gegenzug durch eine expansive Fiskalpolitik ausgeglichen werden, wenn der Staat sich entweder direkt i m Ausland verschuldet und damit den Devisenabfluß kompensiert oder wenn eine steigende Inlandsverschuldung des Staates die privaten Kreditnehmer auf den internationalen Kreditmarkt verdrängt. Die Volkswirtschaft würde dann i m Idealfall i n Gleichgewicht G stabilisiert. Als Idealfall ist dies deshalb zu bezeichnen, weil angenommen werden muß, daß der Staat entweder i m gleichen Verhältnis gehandelte und nicht gehandelte Güter nachfragt wie die Privaten oder die aufgenommenen finanziellen M i t t e l als lump-sum Transfers an die Privaten verteilt und daß die private Kreditnachfrage nicht abnimmt. Steigt die internationale Nachfrage nach heimischen Produkten wieder an, so würde zunächst eine Expansion nach Β erfolgen bis die fiskalische Maßnahme wieder zurückgenommen wird. I m Falle eines perfekten und vollständigen Finanzausgleichs zwischen den Regionen einer Währungsunion würden diese Anpassungen regelgebunden ablaufen. I n der Realität wäre jedoch sowohl bei diskretionärer als auch bei regelgebundener fiskalpolitischer Reaktion mit einer erheblichen Zeitverzögerung zu rechnen, da die Auswirkungen des realen Schocks zunächst eintreten und dann beobachtet werden müssen. Tatsächlich würde die A b sorption also zwischen αϊ und a2 schwanken. Dies verdeutlicht, daß fiskalische Kompensation zu deutlich größeren Schwankungen führen kann als dies bei Lohnflexibilität oder ohne jede Anpassung der Fall wäre. Bei Lohnflexibilität läge die Schwankungsbreite zwischen a0' und a 0 ; ohne lohn- und fiskalpolitische Anpassung zwischen αϊ und a 0 . Außerdem ist zu befürchten, daß der i n Punkt Β (Überschußnachfrage nach nicht gehandelten Gütern) entstandene Preiserhöhungsspielraum bei nicht gehandelten Gütern genutzt wird. Dies würde eine Bewegung nach Punkt C und - nach Rücknahme der fiskalischen Maßnahme - nach Punkt D implizieren. Sind die Löhne nicht nach unten flexibel, so würde eine Überbewertungssituation geschaffen und das Ergebnis des fiskalischen Eingriffs wäre dauerhafte Arbeitslosigkeit.

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Abbildung 3 zeigt den Fall eines negativen Angebotsschocks, der das heimische Angebot nach links verschiebt. Wie i n Abbildung 1 von C nach G' wäre zunächst die Anpassung von G nach A unproblematisch, da sie steigende Löhne impliziert. Eine zunehmende externe Verschuldung könnte nun das externe Gleichgewicht nach rechts verschieben, die Löhne könnten wiederum steigen, ein neues Gleichgewicht G' könnte erreicht werden und die reale Absorption würde bei a 0 stabilisiert. Während die fiskalische Maßnahme i m Falle eines negativen Nachfrageschocks eine reale Abwertung verhindert bzw. eine spätere reale Aufwertung begünstigt, verstärkt sie nun eine reale Aufwertung. Folglich w i r d auch die reale Überbewertung nach Überwindung des temporären Schocks maximiert. Das neue Gleichgewicht wäre nun i n Punkt Β und nach Rücknahme der fiskalischen Maßnahme wiederum i m Ausgangspunkt G. Bei fehlender Lohnflexibilität wäre ein Devisenabfluß und ein Verharren der Volkswirtschaft i n Punkt C zu erwarten. I m Vergleich zu

Abbildung 3: Regionale Konjunkturpolitik bei negativem Angebotsschock

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einer passiven Fiskalpolitik erhöht sich also die Arbeitslosigkeit, da sonst das Unterbeschäftigungsgleichgewicht A realisiert würde. Außerdem zeigt sich auch i m Falle eines Angebotsrückgangs die Überlegenheit der Lohnanpassung gegenüber der aktiven Fiskalpolitik. Während die aktive Fiskalpolitik die reale Absorption zwischen a\ und 0,2 schwanken läßt, würde die Auswirkung des temporären Schocks auf die reale A b sorption auf den Bereich zwischen a\ und a 0 beschränkt; dies wäre auch der Schwankungsbereich bei nach unten starren Löhnen. Insgesamt läßt sich also festhalten, daß eine aktive Fiskalpolitik zum Ausgleich temporärer realer Schocks die Schwankungen der realen A b sorption noch erhöhen und eine dauerhafte Überbewertung bewirken kann. Auch i m Falle einer fehlenden Lohnflexibilität kann dann nicht automatisch die Notwendigkeit einer aktiven Fiskalpolitik abgeleitet werden. I m Falle von Lohnflexibilität entfällt diese Notwendigkeit vollkommen, da die Lohnanpassung Absorptionsschwankungen und Aufwertungsrisiken vermeidet. Für die Frage der finanzpolitischen Harmonisierung i n einer Währungsunion bedeutet dies, daß die finanzpolitische Integration i n Form eines Finanzausgleichs nicht eindeutig den realen Anpassungsprozeß begünstigt, da sie die beschriebene aktive Fiskalpolitik fest implementiert und somit zu erheblichen und permanenten Ungleichgewichten führen kann. Es bleibt jedoch zu untersuchen, ob sich Gründe für eine fiskalische Harmonisierung i n einer europäischen Währungsunion ergeben, die aus dem bisher diskutierten Modell nicht abzuleiten sind (Abschnitt 2.3.).

2.2. Harmonisierung der Lohnpolitik?

Gegen das auf der Grundlage eines einfachen Zwei-Sektoren-Modells entwickelte Ergebnis, eine Harmonisierung der Lohnpolitik i n der E U sei kritisch zu betrachten, könnte eingewandt werden, daß das verwendete Modell den trade-off zwischen regionaler Strukturanpassung und gesamtwirtschaftlicher, d. h. europäischer Stabilität, nicht abbilden kann. So zeigen Modelle, die strategisches Gewerkschaftsverhalten abbilden, einen u-förmigen Zusammenhang zwischen Lohnhöhe und dem Zentralisierungsgrad der Lohnverhandlungen (ZG) (Calmfors/Driffill 1988; Danthine/Hunt 1992; Driffill/van der Ploeg 1992; 1993). Dieser Zusammenhang ist grundsätzlich das Ergebnis zweier gegenläufiger Effekte (Fitzenberger 1995: 80-86). Einerseits sind bei dezentraler Lohnbildung nur eingeschränkt Lohnerhöhungen möglich, wenn U n -

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ternehmen der gleichen Industriebranche auf ihrem Absatzmarkt i n einer starken Konkurrenzbeziehung stehen. Sowohl Gewerkschaften als auch Unternehmen haben dann einen Anreiz, marktgerechte Löhne festzulegen und diese unmittelbar bei Veränderungen der externen Rahmenbedingungen anzupassen. M i t zunehmendem Z G schwindet dieser A n reiz, da die Gewerkschaften zunehmend das gesamte Arbeitsangebot kontrollieren. Andererseits besteht bei dezentraler Lohnfindung ein A n reiz zur Lohnerhöhung, da die Wirkungen auf das gesamte Preisniveau gering und die Erhöhung des Reallohns damit maximal ausfällt. Zusammengenommen ergeben sich daraus die niedrigsten Löhne (die höchste Beschäftigung) bei den Extremlösungen, da hier entweder die Wettbewerbs- oder die Preisniveaurestriktion bindend ist. Bei einem mittleren Z G besteht dagegen sowohl ein Anreiz als auch die Möglichkeit zur Lohnerhöhung. Da die Verwirklichung der E W U Reallohnanpassungen durch Wechselkursänderungen zwischen Regionen ausschließt und som i t den für die Nominallohnfindung relevanten Raum auf die europäische Ebene ausdehnt, sinkt tendenziell der Z G bei Beibehaltung der bisherigen Lohnfindungsstrukturen. U m nun eine Verschiebung von einem hohen Z G zu einem mittleren Z G zu verhindern, der die Beschäftigungssituation verschlechtern würde, könnte man nun eine verstärkte Zentralisierung der Lohnverhandlungen für die E U ableiten. Dagegen ist einzuwenden, daß der u-förmige Zusammenhang zwischen Lohnhöhe und Z G wesentlich von den gemachten Annahmen abhängt. Bei einer offenen Volkswirtschaft entfällt der Wettbewerbsdruck nicht bei zunehmendem ZG; hohe Löhne implizieren entweder eine A b wertung zur Korrektur des Reallohnes oder ein Beschäftigungsproblem bei überbewerteter Währung (s. o.). Außerdem ist die Lohnpolitik bei vollständiger Zentralisierung dann nicht mehr neutral i n bezug auf den Reallohn, wenn das Geldangebot konstant bleibt. Unter der Annahme einer offenen Volkswirtschaft und einer an der Stabilität des Preisniveaus orientierten Geldpolitik müßte man dann erwarten, daß die Lohnhöhe unabhängig vom Z G der Lohnfindung ist. Tatsächlich zeigen Schätzungen der sektoralen Lohnfunktionen für sieben EU-Mitglieder, „ . . . daß für die aggregierte Lohnbildung . . . vor allem der reine Phillipskurveneffekt i n Form eines signifikant negativen Zusammenhangs zwischen sektoralem Lohnwachstum und gesamtwirtschaftlicher Arbeitslosigkeit i n Verbindung m i t einer Tendenz h i n zu einer festen intersektoralen Lohnstruktur von Bedeutung i s t . . . " , ohne daß sich signifikante U n terschiede zwischen Ländern mit eher zentralisierter bzw. dezentraler Lohnfindung feststellen lassen (Fitzenberger/Franz 1994: 348-349).

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Der empirische Befund paßt allerdings zur Vermutung, daß Gewerkschaften allgemein eine geringe Bereitschaft zeigen, auf regionale Unterschiede i n der wirtschaftlichen Entwicklung mit einer regional differenzierten (Tarif-)Lohnpolitik zu reagieren. Dieses Verhalten kann die politische Ökonomie erklären 8 (Molitor 1995: 153-162). Geht man gemäß dem Medianwähler-Theorem davon aus, daß die Gewerkschaftsführung eine Politik betreibt, die den Interessen der Mitgliedermehrheit entspricht, so lassen sich leicht Koalitionen gegen niedrigere Löhne i n einzelnen Branchen bzw. Regionen bilden. Diese Koalitionen verhindern, daß ihre Wettbewerbsposition geschwächt wird, und votieren demgemäß für relativ hohe Löhne i n konkurrierenden Regionen. Bedenklich wäre ein solches Gewerkschaftskartell i m europäischen Währungsraum vor allem für die weniger entwickelten Länder (Hofmann 1993: 127; Görgens 1990). Bei einem europäischen Tarifverbund bestünde für sie - wie für die ostdeutschen Bundesländer nach Beginn der Wiedervereinigung - die Gefahr eines zu schnellen Reallohnanstiegs, der ihre komparativen Vorteile i m Standortwettbewerb zunichte machen würde. 9 Daß eine solche Situation eintritt, ist derzeit recht unwahrscheinlich (IW 1994: 94). Gegen die Möglichkeit, ein stabiles Kartell zu etablieren, spricht vor allem, daß die Interessen der nationalen Gewerkschaften aufgrund des unterschiedlichen Entwicklungsniveaus der E U Länder sehr heterogen sind und somit die Wahrscheinlichkeit von abweichenden Strategien einzelner Gewerkschaften sehr groß ist. Außerdem weisen die europäischen Gewerkschaften erhebliche Unterschiede i n bezug auf institutionelle Merkmale wie Arbeitsbeziehungssystem, rechtliche Verankerung, Verbandsorganisation und Organisationsgrad auf, die eine Einigung auf europäischer Ebene erschweren (Lecher 1994: 97-98; Molitor 1995: 175-182). Eine Kartellisierung des europäischen Arbeitsangebots ist also bei den zu vermutenden Nachteilen der Zentralisierung von Lohnverhandlungen nicht wünschenswert und aufgrund wirtschaftlicher und institutioneller Heterogenitäten gegenwärtig auch nicht zu erwarten. Aller8

Die Tatsache allein, daß die Gewerkschaft das Arbeitsangebot monopolisiert, ist nicht hinreichend für das Ergebnis starrer Lohnstrukturen, da ein preisdiskriminierender Monopolist genau wie regional autonome Gewerkschaften den Reallohn i n Abhängigkeit von der Elastizität der Arbeitsnachfrage und der Alternativeinkommen setzt (vgl. Burda/Funke 1993). 9 Dabei bestehen für diese Länder durchaus Spielräume für größere Reallohnzuwächse i m Vergleich zu den weiter entwickelten EU-Staaten, wenn sie i m Aufholprozeß (unter Ausnutzung ihrer komparativen Vorteile) stärker wachsen als die weiter entwickelten Länder. 13 Konjunkturpolitik, Beiheft 44

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dings enthält der Vertrag von Maastricht Elemente, wie das sozialpolitische Abkommen und die Kriterien zur Zulassung zur Währungsunion, die eine Kartellisierung des europäischen Arbeitsmarktes begünstigen. Das sozialpolitische Abkommen sieht vor, daß der Rat der Europäischen Union (Ministerrat) auf Vorschlag der Kommission (mit qualifizierter Mehrheit) Mindestvorschriften für die Arbeitsbedingungen und die berufliche Eingliederung erlassen sowie EU-weite Tarifverträge einführen und durchsetzen kann. Bestimmungen zur sozialen Sicherheit der Arbeitnehmer, zur Vertretung von Arbeitnehmer- und Arbeitgeberinteressen, zu den Beschäftigungsbedingungen von Ausländern aus Drittstaaten und zur finanziellen Förderung der Beschäftigung erfordern einstimmige Entscheidungen durch den Ministerrat. Darin sind der Kündigungsschutz und die Mitbestimmung eingeschlossen (Vaubel 1993a: 108). 10 Nutzt der Ministerrat seinen Handlungsspielraum, so werden die weniger entwickelten Mitgliedsstaaten der E U Wettbewerbsvorteile verlieren (Paqué 1995; Nienhaus 1994; Vaubel 1993a). Diese bestehen gegenwärtig aufgrund einer geringeren Präferenz für soziale Sicherheit, die zu einem niedrigeren Absicherungsniveau und niedrigeren Arbeitskosten f ü h r t . 1 1 Die sozialpolitischen Initiativen sind deshalb nicht durch moralische Überlegungen gedeckt, sondern stellen eine Strategie des ,raising rivals' costs' seitens der hochregulierten E U - L ä n der dar (Vaubel 1992). Außerdem w i r d eine Harmonisierung der institutionellen Rahmenbedingungen der Lohnverhandlungen die Chancen für eine gemeinsame Arbeitsangebotspolitik durch die europäischen Gewerkschaften verbessern. Die strikte Anwendung der Maastricht-Kriterien w i r d ebenfalls die weniger entwickelten Länder der E U (mit Ausnahme Irlands) treffen. Gegenwärtig erfüllen Portugal, Spanien und Griechenland keines der Kriterien, über die i n Abschnitt I I I noch zu diskutieren sein wird. Aus der Sicht der Gewerkschaften ist diese Perspektive einer kleinen Währungsunion von EU-Mitgliedern m i t ähnlichem Entwicklungsniveau durchaus attraktiv (Busch 1994; 1993; Heise 1994). I n einem solchen Währungsraum wären die wirtschaftlichen und institutionellen Heterogenitäten zwischen den Volkswirtschaften bzw. Arbeitsmärkten wesent10 Ausdrücklich ausgeschlossen sind Regelungen des Arbeitsentgelts, des Koalitionsrechts, des Streikrechts und des Aussperrungsrechts. 11 Man könnte einwenden, daß z.B. Spanien ein recht hohes Niveau regulierender Eingriffe i n den Arbeitsmarkt aufweist. Dies wurde jedoch schon als Nachteil i m Standortwettbewerb identifiziert und Maßnahmen zur Deregulierung des Arbeitsmarktes bereits eingeleitet (vgl. Schweickert 1996a).

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lieh geringer und somit die Chancen, das Arbeitsangebot i n einem stabilen Kartell zu organisieren, wesentlich besser. Dadurch ginge die Möglichkeit verloren, einen Währungsraum zu schaffen, der größer ist als der Wirtschaftsraum für den man ein stabiles Kartell des Arbeitsangebots errichten kann (Sievert 1993), d. h. i n dem die Gewerkschaften härteren Budgetrestriktionen unterliegen. Unsicher bleibt dabei, wie groß der Beitrag einer Einheitswährung zur Härtung von gewerkschaftlichen Budgetrestriktionen sein kann. So w i r d die Tarifpolitik auch bei Beibehaltung nationaler Währungen i m Zuge einer zunehmenden Freizügigkeit des Güter-, Geld- und Kapital Verkehrs zum zentralen Standortfaktor (Rohde 1995; Pohl 1992).

2.3. Harmonisierung der Fiskalpolitik?

I m einfachen Zwei-Sektoren-Modell wurde gezeigt, daß eine aktive Fiskalpolitik zwar grundsätzlich die Wirkung temporärer, asymmetrischer Schocks auf das Einkommen ausgleichen kann, daß der Einsatz der Fiskalpolitik zur Einkommensstabilisierung jedoch auch kontraproduktiv sein kann und die Gefahr einer dauerhaften Überbewertung i n sich birgt. Z u klären ist nun, ob i n einer europäischen Währungsunion die Notwendigkeit einer solchen Konjunkturpolitik besteht, ob eine nationale Fiskalpolitik diese Aufgabe übernehmen kann bzw. ob sich eine Harmonisierung der Fiskalpolitik i n Form einer Koordination, einer Zentralisierung oder eines Finanzausgleichs begründen läßt. I n bezug auf die Wahrscheinlichkeit des Auftretens asymmetrischer Schocks, die Anlaß zu einer nationalen Konjunkturpolitik geben, ist die Evidenz nicht einheitlich. Auf der einen Seite zeigt sich, daß Nachfrage und Angebotsschocks für die Hocheinkommensländer der E U stärker positiv korreliert sind als zwischen Hoch- und Niedrigeinkommensländern (Bayoumi/Eichengreen 1992). Folglich wäre i n einer Währungsunion, die alle EU-Mitgliedsländer umfaßt, m i t länderspezifischen Schocks zu rechnen, die nicht durch Wechselkursanpassungen abgefedert werden könnten. Auf der anderen Seite zeigt eine sektorale Betrachtung, daß der sektorale Diversifikationsgrad der europäischen Länder höher ist als der amerikanischer Staaten. 1 2 Außerdem dürfte die EU-Agrarpolitik i n den mehr agrarisch strukturierten Ländern Südeuropas dazu beitra-

12 E i n hoher Diversifikationsgrad eines Landes bedeutet, daß bei asymmetrischen Schocks die Notwendigkeit einer Strukturanpassung abgemildert wird.

1

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gen, daß spezifische Störungen i n diesem Bereich abgefedert werden (.Bofinger 1994: 129). Grundsätzlich ist eine nationale K o n j u n k t u r p o l i t i k zur Abfederung realer Schocks u m so eher möglich, je geringer die Mobilität der Produktionsfaktoren ist (Hutchinson/Kletzer 1995). Dies ergibt sich dadurch, daß für mobile Produktionsfaktoren ein Anreiz entsteht, i n Erwartung einer höheren zukünftigen Besteuerung i n andere Regionen abzuwandern, wenn sich der Staat verschuldet, u m ein Konjunkturprogramm zu finanzieren. Analysen zur Optimalität eines europäischen Währungssystems, die auf einen Vergleich zwischen den Regionen der USA und den europäischen Staaten abstellen, zeigen eindeutig, daß insbesondere die Mobilität des Faktors Arbeit i n Europa erheblich geringer ist als i n den USA (Eichengreen 1992). Dies bedeutet nun, daß eine regionale Finanzp o l i t i k - und damit eine regionale Konjunkturpolitik - i n einer europäischen Währungsunion eher möglich ist als i n den USA. Unterschiedliche Ergebnisse liegen wiederum für den Bedarf an fiskalpolitischer Harmonisierung i n einer Währungsunion vor. So w i r d gezeigt, daß der zentrale Haushalt der USA regionale Schwankungen bei den Staatseinnahmen und -ausgaben der Regionen zu einem erheblichen Teil ausgleicht, während dies für Europa aufgrund eines weitgehend fehlenden zentralen Haushalts nicht der Fall ist (Eichengreen 1992; Sala-i-Martin/Sachs 1989). Andere Arbeiten zeigen, daß der implizite Finanzausgleich i m US-Finanzsystem eher darauf angelegt ist, Unterschiede i n den Einkommensniveaus auszugleichen und nicht besonders stark auf Einkommensveränderungen reagiert (Gros/ Thy gesen 1992: 286-288). Der Finanzausgleich dient also i n erster Linie der Umverteilung und nicht dem Ausgleich konjunktureller Einkommensschwankungen. Insgesamt widerlegen die empirischen Befunde nicht die Ausgangsthese, daß i n Europa temporäre Schocks durch nationale Fiskalpolitiken ausgeglichen werden können, wenn dies von einzelnen Ländern als sinnvoll erachtet wird. Dies schließt Wohlfahrtsgewinne durch Harmonisierung jedoch nicht grundsätzlich aus. Es w i r d bereits i m einfachen ZweiSektoren-Modell deutlich, daß die Finanzpolitik i n einer Region der Währungsunion nicht nur die Absorption i n der Region selbst, sondern durch eine Stabilisierung der Importnachfrage auch die Absorption i n den anderen Regionen der Währungsunion stabilisiert. Aus spieltheoretischen Ansätzen läßt sich daraus ein Koordinationsbedarf für die nationalen Finanzpolitiken ableiten, da eine Koordination grundsätzlich er-

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laubt, einen positiven spillover-Effekt stärker zu internalisieren. Dies geschieht ζ. B. dadurch, daß sich andere Länder an einer fiskalischen Expansion beteiligen. Allerdings ist das Ausmaß und die Richtung der spillovers durchaus unsicher und hängt stark von der Annahme über die Struktur der beteiligten Regionen und die A r t des strategischen Verhaltens ab (De Grauwe 1990; Jarchow 1993; Berthold 1994: 11-13; Scheide/ Sinn 1987). Außerdem werden i m oben diskutierten Modell Zins- und Wechselkurseffekte nicht berücksichtigt. N i m m t man an, die höhere Verschuldung i n einer Region erhöhe den Realzins i n der Union und die einheitliche Währung werte auf, so könnte dies zu einem Rückgang der Investitionstätigkeit und der Exportnachfrage i n den anderen Regionen führen. Der spillover wäre dann negativ, und die nationale fiskalische Expansion würde eher zu stark als zu schwach ausfallen. Geht man dennoch von Koordinations vorteilen aus, so bleiben die Koordinationskosten zu betrachten. Diese entstehen schon durch die Auswahl der Koordinationsvariable (Neumann 1994: 11-13). So w i r d eine Koordination von Ausgaben und Einnahmen i n der Regel zu suboptimalen Lösungen führen, die nicht den regionalen Präferenzen entsprechen. Außerdem können Koordinationskosten nur minimiert werden, wenn gleichzeitig ein Konsens über das zugrundeliegende Modell erzielt wird, die bilateralen spillovers richtig gemessen werden und die Präferenzen richtig angegeben werden. Eine Zentralisierung der Finanzpolitik durch eine Verlagerung von Einnahme- und Ausgabenkompetenzen auf die europäische Ebene würde die angesprochenen Probleme eher verschärfen (von Hagen 1991a). I m Vergleich zu einer Koordinationslösung würde die Möglichkeit regionale Probleme zu lösen weiter eingeschränkt. Schließlich würde der Politikwettbewerb, ein entscheidender Effizienzvorteil nicht-koordinierter Finanzpolitik (Caesar 1994: 245), weiter beeinträchtigt. Dies betrifft zum einen den Anreiz, nach der optimalen fiskalpolitischen Antwort auf externe Schocks zu suchen, als auch die Sanktionskosten für den Fall einer falschen Politik. Dadurch würden wesentliche Freiheitsgrade bei der Schaffung von Standortvorteilen i m Wettbewerb um mobile Ressourcen beseitigt. Effizienzverluste ergäben sich außerdem durch eine (Wieder-)Zusammenführung der Entscheidungsebenen für die Geldpolitik auf der einen und für die Finanzpolitik auf der anderen Seite. U m den institutionellen Wettbewerb zwischen Regierungen effizient zu gestalten, ist es notwendig, daß diese harten Budgetrestriktionen ausgesetzt sind. Dies ist gegenwärtig nur eingeschränkt der Fall, da die Kreditgeber davon ausgehen, daß die Zentralbank als lender-of-last-resort einen Staatsbankrott

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verhindern w i r d (McKinnon 1995). Durch die Verlagerung der Kompetenzen für die Geldpolitik auf die europäische Ebene würde die E W U die Budgetrestriktionen der Regierungen härten. Bedenklich ist deshalb aus polit-ökonomischer Sicht eine Zentralisierung der Finanzpolitik, da sie die Möglichkeit der zentralen Regierungen bzw. der nationalen Regierungen stärken würde, Einfluß auf die Politik der Zentralbank zu nehmen. Eine Zentralisierung der Finanzpolitik würde deshalb nicht nur die realwirtschaftlichen Anpassungsprozesse behindern, sondern auch die Stabilität der europäischen Währung gefährden (von Hagen/ Fratianni 1996). Es bleibt die Frage, ob nicht zumindest ein konjunktureller Ausgleich der Staatseinnahmen sinnvoll wäre. Eine solche Lösung würde grundsätzlich die regionale Autonomie auf der Einnahmen- bzw. Ausgabenseite beibehalten und könnte zudem auf einzelne Bereiche wie die Arbeitslosenunterstützung beschränkt werden (vgl. ζ. B. De Grauwe 1994: 208). Gegen eine solche Strategie spricht, daß sich spillover-Effekte nur schwer nachweisen lassen und zudem rein pekuniärer Natur sind. Eine wohlfahrtstheoretische Begründung automatischer Transfers an Regionen, die von einem temporären negativen externen Schock betroffen sind, entfällt damit. Ebenfalls entfallen w i r d die Begründung eines eingeschränkten Kapitalmarktzugangs, da die Währungsunion die Kapitalmarktintegration i n Europa weiter vorantreiben wird. Begründen lassen sich dagegen negative Anreizeffekte für die Finanz- und Lohnpolitik. Verglichen mit einer Kapitalmarktfinanzierung von Konjunkturprogrammen vermindert sich der Anreiz, die fiskalische Expansion zeitlich zu begrenzen bzw. die Reallöhne anzupassen. Insgesamt ergibt sich durch die Währungsunion die Chance, durch eine Zentralisierung der Geldpolitik bei weiter dezentraler Finanzpolit i k die Budgetrestriktionen der Staatshaushalte zu härten, den institutionellen Wettbewerb zu stärken und letztlich die Anpassungsflexibilität zu erhöhen. Eine Harmonisierung der Fiskalpolitik setzt diese Chance aufs Spiel.

3. Harmonisierung und monetäre Stabilität Der Vertrag von Maastricht nennt fünf Kriterien für den E i n t r i t t eines Landes i n die Währungsunion, die sicherstellen sollen, daß eine stabile Einheitswährung entsteht:

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- die Inflationsrate gemessen am Konsumentenpreisindex darf den Durchschnitt der drei EU-Länder mit der niedrigsten Inflationsrate höchstens u m 1,5 Prozentpunkte übersteigen (Inflationskriterium); - der durchschnittliche langfristige Zinssatz darf den Durchschnitt der drei EU-Länder mit der niedrigsten Inflationsrate höchstens u m 2 Prozentpunkte übersteigen (Zinskriterium); - i n den letzten 2 Jahren darf die Parität i m EWS nicht einseitig angepaßt worden sein (Wechselkurskriterium); 13 - das gesamte Staatsdefizit darf 3 Prozent, die gesamte Staatsverschuldung darf 60 Prozent des BIP nicht übersteigen (finanzpolitische K r i terien). Grundsätzlich zielen die drei ersten Kriterien auf eine ex-ante Stabilisierung des Preisniveaus ab, während die finanzpolitischen Kriterien auf eine - wenn auch ,weiche' - ex-ante Harmonisierung wichtiger Kennzahlen der Finanzpolitik abzielen. Für die hier behandelte Fragestellung sind also vor allem die finanzpolitischen Kriterien relevant und sollen i m folgenden kritisch gewürdigt werden. 1 4 Begründet w i r d die Harmonisierung durch eine Begrenzung der Staatsverschuldung mit der Befürchtung, Staaten mit einem hohen Schuldenstand könnten auf eine eher weiche Geldpolitik drängen, u m durch einen unerwarteten Anstieg der Inflationsrate eine Senkung der Zinslast und eine Entwertung der Altschulden zu erreichen (vgl. ζ. B. SVR 1995: 247, 250). Die Intention ist es dehalb, den stabilitätspolitischen Kurs einer zukünftigen Europäischen Zentralbank (EZB), die zu Beginn noch über keine Reputation verfügt, dadurch zu stützen, daß möglichst jedes Interesse von Seiten der Finanzpolitik ausgeschlossen wird, die Notenbank zu einem expansiven Kurs zu zwingen. Eine solche Strategie der Risikominimierung ist dann optimal, wenn sie auch die gesamtwirtschaftliche Effizienz erhöht. So w i r d i n der Literatur der Standpunkt vertreten, daß die Staatsverschuldung schon deshalb zu begrenzen sei, u m einer weiteren wohlfahrtsmindernden Ausweitung der Staatstätigkeit vorzubeugen (vgl. ζ. B. von Weizsäcker 1992). Andererseits vermindert die Regulierung von Defiziten und Schuldenquoten den Handlungsspielraum des Staates. Verhindert würde ζ. B., daß Regierungen die Investitionstätigkeit durch 13 Grundlage sind die normalen Bandbreiten und nicht die engeren Bandbreiten, die zur Zeit der Vertragsunterzeichnung galten. 14 Für eine kritische Würdigung der ex-ante Stabilisierung des Preisniveaus, siehe De Grauwe (1995), Bofinger (1994) und Schweickert (1996b).

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Steuersenkungen und Infrastrukturinvestitionen fördern und dies durch höhere Defizite finanzieren (Scheide/Trapp 1990: 36). Z u befürchten ist dann, daß eine solche Harmonisierung zu Lasten der Wettbewerbsfähigkeit i n den weniger entwickelten Regionen geht. Dies zeigt, daß gesamtwirtschaftliche Kosten einer Harmonisierung der Staatsverschuldung i n den Teilnehmerstaaten einer Währungsunion zumindest nicht auszuschließen sind. 1 5 Z u prüfen ist deshalb, ob diese Harmonisierung tatsächlich notwendig und hinreichend ist, u m eine stabile europäische Währung zu garantieren. Der grundsätzliche Anreiz, bei Solvenzproblemen auf eine expansive Geldpolitik zu drängen, wurde bereits dargeteilt. Allerdings ist zu bezweifeln, ob ein Solvenzproblem durch geldpolitische Maßnahmen gelöst werden kann (Pfadt/Schröder 1994: 188 ff.). So w i r d eine unerwartete Inflationserhöhung zwar den Schuldendienst entlasten, gleichzeitig aber die Refinanzierungskosten erhöhen. Hierbei ist nicht nur der Zins sondern auch die Laufzeitenstruktur der Staatsverschuldung zu betrachten. Z u erwarten sind dann nicht nur steigende Realzinsen, sondern auch eine Verkürzung der Laufzeiten bei Neu Verschuldung. Insofern w i r d es nationalen Regierungen mit Schuldenproblemen schwer fallen, eine Forderung nach einer,weichen' Geldpolitik zu begründen. Es dürfte außerdem unmittelbar plausibel sein, daß eine nationale Regierung eine Inflationspolitik erheblich leichter bei einer nationalen Zentralbank durchsetzen kann als bei einer europäischen Zentralbank. Wie relevant das Problem der Beeinflussung durch nationale Regierungen auf europäischer Ebene tatsächlich ist, verdeutlicht Tabelle 1. Sie führt die Länder auf, die auf der Grundlage der Daten für 1995 an einer E W U teilnehmen könnten, würde man bei der Festlegung der Teilnehmer nur auf die Inflations-, Zins- und Wechselkurskriterien abstellen. Es handelt sich dabei um die europäischen Kernländer Deutschland, Frankreich und die Benelux-Staaten plus Dänemark, Österreich und Irland. Tabelle 1 zeigt, daß eine solche Währungsunion mit 8 Teilnehmern (EWU8) (Gesamt-)Schulden- und Defizitquoten aufweisen würde, die nur knapp über den Maastrichtnormen lägen; die Inflationsrate der EWU8 entspräche genau der deutschen Inflationsrate; m i t Ausnahme Irlands handelte es sich außerdem um die Länder, für die realwirtschaftliche Schocks weitgehend symmetrischer Natur sind (vgl. ζ. B. von Ha15 Die regionale Abweichung der Inflationsraten hängen von Änderungen des realen Wechselkurses ab. Dies ist aber ein grundsätzlicher Einwand gegen die Währungsunion (Vaubel 1988).

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gen/Neumann 1994). Sowohl unter dem Stabilitätsaspekt als auch unter dem Gesichtspunkt realwirtschaftlicher Anpassung wäre diese EWU8 wohl schwer abzulehnen. 1 6 Tabelle 1 Eine Europäische Währungsunion mit 8 Ländern (EWU8) Erfüllung der Inflations-, Zins- und Wechselkurskriterien, 1995 Land

Verschuldungsquote 3

Defizitquote

Belgien Irland

134,5 (11,1) 86,0 (1,4)

Niederlande Dänemark Österreich Deutschland Frankreich Luxemburg

78,5 (9,5) 73,5 (3,4) 67,5 (4,8) 59,2 (44,4) 51,5 (25,3) 5,0 (0,0)

4,5 2,5 3,0 2,0 5,5 3,1 5,0 -1,5

Summe Einfacher Durchschnitt BSP-gewichteter Durchschnitt

-

Inflationsrate

Stimmen Ministerrat

-

1,5 2,6 2,1 2,2 2,4 1,9 1,7 2,2 -

(MR) 5 3 5 3 4 10 10 2 42

A n t e i l am BSP

Europäischer Zentralbankrat (EZBR) 1 1 2 2 2 2 2 2 14

5,2 1,1 7,7 2,9 4,5 47,3 31,0 0,3 100

69,5

3,0

2,1

-

-

-

63,2

3,8

1,9

-

-

-

a

Anteil an der staatlichen Gesamtverschuldung der EWU8 (in Klammern). Quelle: SVR 1995: Tabelle 53; eigene Berechnungen.

Für die geldpolitischen Entscheidungen der EZB ist außerdem die Stimmenverteilung i m Zentralbankrat (EZBR) entscheidend. Hier sind die 6 Mitglieder des Direktoriums und die nationalen Zentralbankengouverneure vertreten. Für EWU8 ergäben sich daraus 14 Stimmen. I n Tabelle 1 ist nun angenommen, daß die 6 Länder mit den niedrigsten Schuldenquoten die Direktoren stellen, also über jeweils 2 Stimmen i m EZBR verfügen. Da die geldpolitischen Entscheidungen mit einfacher Mehrheit getroffen werden, ergibt sich hieraus, daß die 4 Länder mit den niedrigsten Schuldenquoten die Politik der EZB bestimmen würden. M i t Ausnahme von Österreich liegen die Schuldenquoten für dieses Quartett unter der 60 Prozent Grenze. Würde man schließlich alle Mitgliedsländer !6 Allerdings verfügen die Länder über keine qualifizierte Mehrheit i m M i n i sterrat (62 Stimmen), um eine solche Lösung gegen den Willen der übrigen E U Mitgliedsländer durchzusetzen.

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der E U zur Währungsunion zulassen so würden die Länder, die das D i rektorium stellen, immer noch die geldpolitischen Entscheidungen kontrollieren können. Dabei w i r d zugunsten einer möglichen Beeinflussung der EZB angenommen, daß die Vertreter aus den Mitgliedsländern weiterhin nationale Interessen vertreten (vgl. ζ. B. Vaubel 1993; 1994). Auch dies kann man bezweifeln (Bofinger 1993). So besteht zwar auch auf europäischer Ebene die Möglichkeit, Wahlzyklen zu synchronisieren und dadurch strategische Mehrheiten i m EZBR zu formieren. Grundsätzlich dürfte dies aber erheblich schwieriger sein als bei nationalen Entscheidungen. A u ßerdem ist der Beckett-Effekt zu beachten, d. h. die Verwandlung der individuellen Zielfunktion aus der Sicht der entsendenden Instanz (Issing 1993). Hierbei kann sich die (noch) fehlende stabilitätspolitische Reputation der EZB i n einen Vorteil verwandeln. Die Mitglieder des EZBR könnten erhebliches persönliches Renommee daraus schöpfen, diesen Rückstand gegenüber der Deutschen Bundesbank wieder wettzumachen. Dies gilt gerade für Ratsmitglieder aus Ländern m i t (zuvor) hoher Inflationsrate und hohem Schuldenstand. Schließlich ist auch der Wettbewerb zwischen einer europäischen Währung und internationalen Reservewährungen, wie ζ. B. dem US-Dollar, zu beachten. Die EZB könnte es sich kaum leisten, bei der Preisstabilität wesentlich schlechter abzuschneiden als der US-Dollar. Notwendig wäre eine Harmonisierung der Schuldenpolitik der beteiligten Länder demnach, wenn der Kapitalmarkt nicht i n der Lage wäre, staatliche Insolvenzen zu verhindern, indem er nicht ausreichend zwischen staatlichen Schuldnern unterschiedlicher Bonität differenziert und somit schlechte Schuldner nicht frühzeitig zur Konsolidierung zwingt. Die EZB könnte dann versucht bzw. gezwungen sein, eine Insolvenz zu verhindern. Es ist allerdings zu erwarten, daß die Signalfunktion des Kapitalmarktes durch die Währungsunion eher gefördert als geschwächt w i r d (Scheide/Trapp 1990: 434-435). So entfällt der Anreiz zu wechselkursbedingten Spekulationen, und die Zinsniveaus der Teilnehmerländer würden vor allem die Bonität des Schuldners widerspiegeln. Dadurch dürfte sich die Kapitalmobilität i m europäischen Währungsraum erhöhen und die Kontrollfunktion des Kapitalmarktes bei nationalen Schuldenproblemen verbessern. Diese Argumentation führt zum Schluß, daß die finanzpolitischen Kriterien, die den Zugang zur Währungsunion regeln sollen, nur dann notwendig für die Geldwertstabilität der Einheitswährung sind,

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- wenn der Kapitalmarkt Schuldenprobleme nicht hinreichend sanktioniert, - wenn i n den Teilnehmerstaaten eine Präferenz zur Lösung des Schuldenproblems über eine Geldentwertung, d. h. eine ,Schuldenillusion', besteht, - wenn die nationalen Zentralbankgoverneure i m EZBR diese Präferenzen durchsetzen wollen und - wenn sie aufgrund der Mehrheitsverhältnisse i m EZBR dazu auch i n der Lage sind. Für eine EWU8 ist dies zumindest sehr viel unwahrscheinlicher als für eine E W U unter Beteiligung aller EU-Mitgliedsstaaten. Hält man aber das pessimistische Szenario grundsätzlich für realistisch, so können die finanzpolitischen Kriterien nur dann hinreichend sein, wenn ihre Einhaltung auch nach einem E i n t r i t t i n die E W U garantiert ist. Außerdem ist zu bedenken, daß der Schuldenstand lediglich einen Teilaspekt staatlicher Bonität darstellt. Entscheidend für die Bonität ist neben diesem Bestandsgrößenvergleich ein Stromgrößenvergleich zwischen Neuverschuldung und Nettoinvestitionen sowie zwischen Zinslast und Steueraufkommenspotential (Giersch 1994). Schließlich ist zu beachten, daß die Vermutung von Hilfsmaßnahmen für insolvente staatliche Schuldner nicht i n erster Linie durch einen E i n t r i t t i n die Währungsunion, sondern durch den Solidaritätsgrundsatz begründet w i r d (Eichengreen/von Hagen 1995; Heinemann 1995: 197198). Art. 103a Abs. 2 des Vertrages von Maastricht erlaubt der Gemeinschaft auf einstimmigen Ratsbeschluß den finanziellen Beistand i n einer Krisensituation. E i n sog. Bailout-Mechanismus ist hier also grundsätzlich vorgesehen, während er i m Statut der EZB ausdrücklich ausgeschlossen wird. Die unterschiedliche Differenzierung zwischen staatlichen Schuldnern i n Ländern m i t föderativem Staatsaufbau und unabhängiger Zentralbank deuten darauf hin, daß die Bailout-Vermutung positiv mit dem Zentralisierungsgrad finanzpolitischer Verantwortung korreliert ist (Eichengreen/von Hagen 1995). So w i r d das Risiko öffentlicher Schuldverschreibungen der (alten) Länder der Bundesrepublik, deren Finanzkraft durch den Finanzausgleich angenähert wird, vom K a p i talmarkt ungefähr gleich bewertet, obwohl die Gesamtverschuldung sich erheblich unterscheidet (Nürk 1993: 241-242). Insgesamt läßt sich schließen, daß die finanzpolitischen Kriterien zum Zugang zur E W U als ,weiche' Form der Harmonisierung durchaus zu be-

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gründen sind. Zur Sicherung der Geldwertstabilität sind sie jedoch als Eintrittsbedingungen nicht hinreichend und nur eingeschränkt notwendig. Bei strikter Anwendung der Verschuldungskriterien besteht also zumindest die Gefahr, daß durch den Versuch der Risikominimierung gesamtwirtschaftliche Kosten entstehen, 17 ohne daß die Stabilitätsbedingungen für die europäische Geldpolitik verbessert werden. Diese gesamteuropäische Betrachtung schließt nicht aus, daß die Strategie der Risikominimierung, die de-facto eine Verschiebung des Projektes Währungsunion impliziert, da nur Luxemburg die finanzpolitischen Kriterien erfüllt, aus deutscher Sicht rational ist. Plausibler ist dagegen die dauerhafte Einhaltung der finanzpolitischen Kriterien zur Beschränkung der negativen Anreize, die sich aus der finanzpolitischen Solidarhaftung ergeben. Allerdings empfiehlt es sich zu überdenken, ob der Preis einer fortschreitenden Harmonisierung der Finanzpolitik gerechtfertigt ist oder ob nicht ein finanzpolitischer Bailout hinreichend unattraktiv zu gestalten oder glaubwürdig auszuschließen ist.

4. Zusammenfassung und Schlußfolgerungen Als allgemeines Ergebnis läßt sich festhalten: die Arbeitshypothese, daß die Europäische Währungsunion (EWU) keine Harmonisierung der Lohn- und Finanzpolitik erfordert, kann durch die zugunsten einer Harmonisierung vorgebrachten Argumente nicht entkräftet werden. I n bezug auf die realwirtschaftliche Anpassung ergibt sich durch eine Währungsunion ohne komplementäre Harmonisierungen sogar die Chance, die Budgetrestriktionen der Tarifparteien bzw. der Regierungen zu härten und somit Anreize für eine effizientere realwirtschaftliche Anpassung zu setzen. Die Entnationalisierung der Geld- und Währungspolitik würde durch europäische Tarifverhandlungen und ein zentralisiertes europäisches Finanzsystem wieder aufgehoben. I n bezug auf die Geldwertstabilität läßt sich eine Harmonisierung der staatlichen Verschuldungsp o l i t i k dann zweifelsfrei rechtfertigen, wenn man der Risikovermeidung beim Übergang von einem stabilitätsorientierten Kartell zu einer europäischen Monopolwährung oberste Priorität einräumt. Entscheidend für die Stabilität der europäischen Geld- und Finanz Verfassung sind jedoch 17

Kosten können auch dadurch entstehen, daß versucht wird, Verschuldungsrestriktionen durch bilanztechnische Maßnahmen zu umgehen (vgl. ζ. B. von Hagen 1991b). Die Transparenz der staatlichen Schuldenpolitik und deren Bewertung durch den Kapitalmarkt würde darunter erheblich leiden.

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vor allem die geldpolitischen Spielregeln i n der Währungsunion, Stichwort Stimmrecht i m Europäischen Zentralbankrat (EZBR), und die finanzpolitischen Spielregeln i n der Europäischen Union (EU), Stichwort Solidarhaftung. Aus diesen Schlußfolgerungen ergeben sich folgende Politikempfehlungen: - Einer weiteren Zentralisierungstendenz i n der E U ist vorzubeugen (Vaubel 1993a). Der A r t i k e l 3b des Maastrichter Vertrages, der das Subsidiaritätsgesetz festschreibt, kann durch den Europäischen Gerichtshof - eine Zentralinstanz - interpretiert werden. Er dürfte, wie auch das europäische Parlament, an einer weiteren Zentralisierung der Entscheidungsprozesse interessiert sein. Hilfreich wäre demnach eine Vertragsrevision, die bei konkurrierender Gesetzgebung die Z u stimmung der nationalen Parlamente erfordert. Dadurch wäre sichergestellt, daß Harmonisierungen i m tarif-, sozial-, fiskal- und geldpolitischen Bereich nicht zu Lasten einer Minderheit durchgesetzt werden können und daß das Subsidiaritätsprinzip tatsächlich Vorrang hat (Stehn 1993). - Die Bedeutung der Maastrichter Defizit- und Verschuldungskriterien w i r d relativiert, wenn man sich die Ländergruppe ansieht, die alle anderen Kriterien erfüllt: Deutschland, Frankreich, die Benelux-Staaten, Dänemark, Österreich und Irland (EWU8). I m wesentlichen handelt es sich dabei u m Länder, die man von Anfang an als Kerngruppe einer Währungsunion vermutet hätte. Zusätzliche Maßnahmen könnten helfen, verbleibende Risiken auszuräumen. • Die Effizienz der Kapitalmärkte bei der Beurteilung staatlicher Bonität könnte durch ein Verbot kurzfristiger Finanzierung gestärkt werden (Bishop 1989). Dadurch würden Bonitätsverschlechterungen stärker auf die Zinsen durchschlagen und eine Kreditrationierung würde früher einsetzen. Außerdem könnte die Transparenz und Vergleichbarkeit der Regierungsverschuldung i n den Mitgliedsstaaten verbessert werden. So dürfte die Einschätzung einer zukünftigen Schuldenproblematik wesentlich von Informationen über die implizite Staatsverschuldung durch unterschiedliche soziale Sicherungssysteme abhängen (Gandenberger 1993: 74-75). • Die teilnehmenden Länder mit einer Verschuldungsquote von über 60 v.H. des BIP könnten verpflichtet werden, ihr Defizit deutlich unter 3 v.H. des BIP zu senken (Lehment/Scheide 1995). So würde

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ein maximales Defizit von 2 v.H. bei einem durchschnittlichen Wachstum des BSP von 5 v.H. zu einem stetigen Schuldenabbau beitragen. Eine solche Regel würde bei einem Wachstumseinbruch einen vorübergehenden Anstieg der Schuldenquote tolerieren, d. h. eine prozyklische Finanzpolitik würde vermieden. • Kann ein Bailout für notleidende Staatskredite nicht glaubwürdig ausgeschlossen werden bzw. ist eine No-Bailout-Ankündigung zeitinkonsistent (Hutchinson/Kletzer 1995), so ist sicherzustellen, daß ein solcher Bailout nicht von der Europäischen Zentralbank (EZB), sondern von den nationalen Haushalten zu finanzieren ist. Außerdem sind die Kosten eines solchen fiskalischen' Bailout zu maximieren, indem regelgebundene Transfers i n einem umfassenden Finanzausgleich vermieden werden und weitgehende Eingriffe i n die nationale bzw. regionale Souveränität vorgesehen werden. • Die Rolle des Währungswettbewerbes könnte gestärkt werden, um eine marktmäßige Kontrolle der Geldpolitik der EZB zu gewährleisten. Je enger die Substitutionsbeziehungen zwischen der europäischen Währung und anderen stabilen Währungen wie dem US Dollar, dem Schweizer Franken und dem Yen sind, um so geringer ist der Spielraum der EZB für eine expansive Geldpolitik. • Eine institutionelle Kontrolle könnte eine stabilitätsorientierte Geldpolitik garantieren, wenn der EZBR zurücktreten müßte, wenn eine bestimmte Zielzone für die Inflationsrate mittelfristig verlassen würde und Ausnahmen von dieser Regel vom Ministerrat nur einstimmig beschlossen werden könnten (Vaubel 1996). Dadurch hätte jedes Mitgliedsland ein Vetorecht gegen eine destabilisierende Geldpolitik. Insgesamt unterstreichen diese Vorschläge die Notwendigkeit einer politischen Integration (vgl. hierzu Siebert 1992). Sie stehen allerdings i m Widerspruch zu einer Integrationsphilosophie à la Maastricht, die eine zunehmende Zentralisierung und Harmonisierung politischer Instrumente vorschreibt oder zumindest i n Kauf nimmt. - Die Europäische Währungsunion bedarf klarer Regeln für den institutionellen Wettbewerb und nicht der Harmonisierung der Lohn- und Finanzpolitik sowie eines europäischen Finanzausgleichs. Ob Europa überhaupt eine Währungsunion braucht, sei dahingestellt.

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Historische E r f a h r u n g u n d theoretische Erkenntnisse z u r Frage einer H a r m o n i s i e r u n g der Finanz- u n d L o h n p o l i t i k u n d eines e u r o p a w e i t e n F i n a n z a u s g l e i c h s i n d e r europäischen Währungsunion Korreferat zu Rainer Schweickert Von R o l f

H. D u m k e , München

1. Einleitung Das hier zu diskutierende Thema „Die Europäische Währungsunion: Bedarf sie der Harmonisierung der Finanz- und Lohnpolitik und eines europaweiten Finanzausgleichs" ist höchst aktuell. M i t aller Wahrscheinlichkeit w i r d Anfang 1999 eine Währungsunion zwischen einer Gruppe von bis zu acht stabilitätsorientierten Ländern stattfinden können und tatsächlich stattfinden, nachdem die Maastricht-Konvergenzkriterien i m flexibleren Sinne des Vertragstexts angewendet werden. Damit bekommt die Europäische Union einen Stabilitätskern m i t eigener Währung, welche nunmehr Transaktionskosten und Wechselkursrisiken für Unternehmer und private Haushalte eliminiert. Risiken und Kosten, die den Handel und internationale Investitionen i m EU-Binnenmarkt belasten, werden wegfallen 1 . Die Planungssicherheit für Unternehmerentscheidungen, die Markttransparenz und der Wettbewerb i n dieser Kernregion werden steigen. Daher w i r d die Europäische Währungsunion (EWU) sowohl einen Antrieb für die Gestaltung effizienter Märkte geben als auch eine Herausforderung an die Ordnungspolitik i m Falle von noch schlecht integrierten Märkten, insbes. des Arbeitsmarkts, sein. Nichtsdestotrotz w i r d von Herrn Schweickert aus der Perspektive des institutionellen Wettbewerbs die Entscheidung für die E W U selbst schon als ein „orchmngspolitischer Sündenfall" dargestellt, „da sie den 1

Vgl. Dumke/Herrmann/Juchems

/ Sherman (1996).

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Wettbewerb zwischen den europäischen Staaten als Anbieter von nationalen Währungen und dadurch auch die stabilitätspolitische Führungsrolle der Deutschen Bundesbank abschafft." Dabei ist offensichtlich vergessen worden, daß die Frage der Geldwertstabilität des zukünftigen Euros schon längst und weitgehend i m Sinne der Bundesbank geregelt worden ist: die Europäische Zentralbank w i r d vornehmlich auf das Ziel der Preisstabilität ausgerichtet sein und w i r d eine stärkere juristische Unabhängigkeit besitzen als sie die Bundesbank je hatte. Das Referat von Dr. Schweickert ist gekennzeichnet durch die Übernahme eines aktuell i n Deutschland diskutierten Ansatzes von Manfred E. Streit 2 und die Anwendung auf einen Teilaspekt des europäischen Integrationsprozesses, die EWU. Streit vertritt dezidiert die Auffassung, daß das Konzept der Harmonisierung dem Konzept des Systemwettbewerbs nachzuordnen ist und daß die gängigen ökonomischen Argumente für eine Harmonisierung keineswegs unanfechtbar sind. Genau das ist die These Schweickerts, der davon ausgeht, „daß die Harmonisierungsstrategie verglichen mit einer Strategie institutionellen Wettbewerbs zu Wohlfahrtsverlusten führt." Der institutionelle Wettbewerb ist eine „public choice"-Idee, welche einerseits den regionalen Präferenzen für Regulierungsmaßnahmen und für die Höhe und Form der Staatsausgaben großen Stellenwert gibt, andererseits das Interesse von Regierungen darstellt, durch ein attraktives Angebot an Regulierungen, Staatsausgaben und Steuern die Wähler und das mobile Kapital von der Qualität des Standortes zu überzeugen. Stimmt das Angebot, dann fließt Kapital zu, gibt es Firmengründungen und erhöhte Steuereinnahmen, und es steigen die Chancen einer Wiederwahl. Somit prämiert die relative A t t r a k t i o n von Kapital ein bestimmtes Politikbündel. Der Suchprozeß w i r d als wohlfahrtsmaximierend dargestellt. Ohne Zweifel sind solche Gedanken - die auf dem bekannten Ansatz von Tiebout (1956) aufbauen - interessant, aber sie beinhalten schon i m vorhinein eine entscheidende Prämisse: Disaggregation ist optimal, „small is beautiful." M i t der Theorie des institutionellen Wettbewerbs w i l l man sich wappnen gegenüber den Ansprüchen einer allzu zentrali2 Streit (1996) und Streit Referat (1995) vor dem Ausschuß zum Vergleich von Wirtschaftssystemen des Vereins für Socialpolitik. Vgl. Tagungsbericht, Zeitschrift für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, 111. Jg. H.4, 1995, S. 672.

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stischen EU-Politik. Dagegen argumentiert Hans-Werner Sinn (1994, 1996), daß der Versuch, das Wettbewerbsmodell auf die Politik anzuwenden, zum Scheitern verdammt ist. Nach tradierten Ideen der Finanzwissenschaft besteht eine wichtige Rolle des Staates daraus, öffentliche Güter i n optimaler Menge anzubieten, weil für diese Güter Marktversagen vorliegt. Aus diesem Grund allein kann man bereits die Tieboutsche Theorie von „local public finance" verwerfen; vor allem aber ist die A n wendung des Systemwettbewerbs auf Zentralstaaten, die viel mehr öffentliche Güter und Dienste anbieten, problematisch. Implizit i n der Theorie des Systemwettbewerbs ist die etwas blauäugige Idee, daß internationale Kapitalströme stabile Gleichgewichte schaffen. Dieser Gedanke w i r d von den meisten Analysten von Wechselkursen i n den letzten Jahrzehnten verworfen. Lange Perioden von „misalignments," also Abweichungen von Gleichgewichtskursen, sind vorzufinden.

2. Lehren aus der deutschen Geschichte? 2.1 Die deutsche Währungsunion

Viele deutsche Ökonomen haben i m Falle der deutschen Währungsunion seit 1990 einen bedeutenden Lernprozeß durchgemacht (vgl. Grauwe 1992 als Übersicht). I m Vollzug der deutsch-deutschen Währungsunion wurde eine „harmonisierte" Lohnpolitik durchgeführt mit schnellem Angleich der Ost-Löhne an das Westniveau und einer Verhinderung der Lohnflexibilität sowie einer Eindämmung der Ost-West-Wanderung von Arbeitsuchenden (Sinn 1995). Andererseits wurde der Anpassungsschock i n den neuen Bundesländern mit einem massiven Finanzausgleich z.T. wieder ausgeglichen. Dabei wurde klar, daß die fehlende Flex i b i l i t ä t auf dem Arbeitsmarkt durch fiskalische Transfers ausgeglichen werden mußte. „Revealed preferences" i n Deutschland i m Jahre 1990 liegen also diametral zu den heute vorherrschenden Meinungen über die richtige W i r t schaftspolitik für die Europäische Währungsunion. I m Fall der E W U erscheint es weder möglich noch ratsam, die damalige deutsche Politik zu wiederholen. Jetzt ist die Ordnungspolitik gefragt, jetzt sollen die Märkte i n Europa flexibler werden, jetzt ist ein europaweiter Finanzausgleich nicht sinnvoll, jetzt ist stattdessen der institutionelle Wettbewerb angebracht.

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Man kann diese Änderung entweder als Lerneffekt erklären oder durch andere Präferenzen, d. h. einen mangelnden Solidareffekt auf der Europa-Ebene i m Vergleich zur Nation, begründen. Susan Collins (1995) versuchte i n einem Regressionsansatz die Ergebnisse von Eurobarometerumfragen seit 1973 auszuwerten. I n Wahlanalysen auf der Ebene von Nationen ist der Wahlerfolg von Parteien stark mit aggregiertem Wachstum, Arbeitslosigkeit und Preisentwicklung korreliert und weniger mit lokalen Wirtschaftsdaten. Dies w i r d als Indikator für nationale Kohäsion gesehen: der Wähler ist vornehmlich „soziotroph," ist motiviert von seiner Sicht der kollektiven Wohlfahrt und nicht nur von seinem privaten Wohlergehen. I m Gegensatz dazu spielen EU-Aggregatdaten keine Rolle i n der Erklärung von EU-Sympathien; nur die nationalen Datenkränze sind m i t den jeweiligen Europameinungen korreliert. „ L i t t l e cross-national evidence of the type of cohesion that appears to exist w i t h i n nations can be found" (S. 310).

2.2 Solidarpakt Soziale Marktwirtschaft und Sozialunion in der E W U

I n der neueren europäischen Wirtschaftsgeschichte w i r d ein fundamentaler Ansatz von dem Harvard-Historiker Charles Maier (1987) eingesetzt, um die bemerkenswerte Produktivitätsentwicklung i n den meisten europäischen Staaten nach dem 2. Weltkrieg zu erklären. Maier argumentiert, daß es i m Gegensatz zur Epoche nach dem 1. Weltkrieg, wo eine brüchige Rekonstruktion der bürgerlichen Gesellschaft stattfand, die i m Spannungsfeld von Klassenkonflikten unterging, nach 1945 einen tragfähigen Ausgleich zwischen den Interessen der Kapitaleigner und der Arbeitnehmer gab. Dieser Ausgleich wurde durch den Staat sanktioniert. Somit wurde 1. ein Problem der Zeitinkonsistenz gelöst (z. B. Gewerkschaften konnten maßvolle Lohnforderungen stellen mit der Gewißheit, daß Profite wieder investiert würden und die Arbeitsnachfrage steigen würde; Unternehmen konnten investieren mit der Gewißheit, daß der Staat die Nachfrage stabilisieren würde). 2. wurde eine effiziente Lösung der Allokations- und der Verteilungsfrage gefunden: der M a r k t für die Unternehmer, und das soziale Netz für die Arbeiter. I n Deutschland war nach Maier die „Soziale Marktwirtschaft" der grundlegende Sozialpakt für Produktivität und Dynamik (the „politics of productivity) für die nächsten Jahrzehnte. Dieser gesellschaftliche Ausgleich korporatistischer Kräfte bescherte dem Land sowohl politische als auch ökonomische Stabilität und Wachstum.

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Es ist möglich, das Interesse der Gewerkschaften an einer Sozialunion i n Europa als Ergänzung zur Wirtschafts- und Währungsunion zu verstehen, die dem vorherigen Sozialpakt auf nationaler Ebene ähnelt. Verkürzt w i r d argumentiert, die E W U ist gut für die Unternehmer; Sozialausgaben und Mindestvorschriften für notwendige Arbeitsbedingungen sind gut für die Arbeiter. Dabei w i r d nicht verstanden, daß die Flexibilität des Arbeitsmarktes von grundsätzlicher Bedeutung für das reibungslose Funktionieren der Währungsunion ist.

3. Mundells Theorie eines optimalen Währungsraums Inwieweit eine Währungsunion relativ reibungslos funktionieren kann, w i r d durch die Theorie optimaler Währungsräume dargelegt. Nach Robert Mundell (1961) ist ein optimaler Währungsraum 1. eine Wirtschaftseinheit mit verschiedenen Regionen, die durch symmetrische Schocks gekennzeichnet sind, und 2. ein Raum mit Regionen, welche durch freie Faktormobilität, insbesondere der Arbeitskräfte, verbunden sind. Mundells klassisches Beispiel ist folgendes: zwei Regionen (A und B) produzieren je ein Gut (a und b); sie sind bevölkert mit Haushalten, welche beide Güter konsumieren; es gibt interregionalen Handel. Beginnend mit einem Vollbeschäftigungsgleichgewicht gibt es einen Schock, eine permanente Änderung der Präferenzen weg von Gut a zu Gut b. Falls sich die relativen Güterpreise nicht ändern (der reale Wechselkurs bleibt konstant), gibt es ein Handelsbilanzdefizit für A, einen Überschuß für B. Bei gegebenen Preisen kann das Gleichgewicht durch eine Änderung des Angebotes von a und b wiederhergestellt werden. Dieses Ergebnis ist möglich, wenn Arbeitskräfte von Region A nach Β wandern. E i n weiterer Weg zurück zum Gleichgewicht w i r d möglich durch Ä n derung der relativen Preise. Hier gibt es zwei Wege. Der erste bedarf der Änderung nominaler Wechselkurse - der Änderung der nominalen Preise. Wenn beide Regionen Teil einer W U sind, können reale Wechselkurse durch Preisänderungen bewirkt werden. Flexible Preise ermöglichen eine schnelle Reaktion des realen Wechselkurses, und das neue Gleichgewicht ist schnell erreicht. I n einer Welt inflexibler Preise w i r d das neue reale Wechselkursgleichgewicht jedoch erst mit Verzögerung erreicht; dies ist eine Verzögerung, welche Deflation und Arbeitslosigkeit i n A und Inflation i n Β

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verursacht. Je länger die Zeitspanne für Preisänderungen ist, je stärker w i r d sich die Rezession i n A auswirken. Falls Arbeitskräfte nicht wandern, ist es i n diesem Fall optimal, wenn A und Β eine eigene Währung besitzen. Somit können die Volkswirtschaften i n A und Β durch unterschiedliche Geldpolitik wieder stabilisiert werden. Fazit: N u r Regionen mit hoher Arbeitsmobilität taugen zu einer Währungsunion. Soll nun Europa eine eigene Währung besitzen? Die keynesianische Antwort hängt von der A r t der realen Schocks ab, ob sie symmetrisch oder region-spezifisch sind. Neuere Studien von Eichengreen (1991) und Bayoumi und Eichengreen (1993) untersuchen Schocks i n den EU-Staaten i m Vergleich zu den US-Regionen und kommen zu dem interessanten Ergebnis, daß symmetrische Schocks i n den USA öfter vorkommen als i n der EU. I m Vergleich zu Amerika ist das ein Nachteil für das reibungslose Funktionieren einer möglichen EWU. Darüber hinaus zeigen zwei bedeutende empirische Studien von Blanchard/ Kat ζ (1992) und Decressin/Fatds (1995) wichtige Unterschiede i n der Wanderung von Arbeitskräften i n amerikanischen und europäischen Regionen. I n Amerika ist die interregionale Wanderung ein bedeutender Faktor bei der Anpassung von Regionen an Schocks. Dagegen erscheint i n Europa die negative Schockeinwirkung ganz anders: die regionale Beschäftigung geht auch hier zurück, weil die Quote der Nicht-Erwerbstätigen steigt! Hiermit ergeben sich weitere Probleme für das gute Funktionieren einer WU. Letztlich zeigt der Vergleich mit den USA, daß dort die Kaufkraft negativ geschockter Regionen durch automatische Fiskaltransfers wieder erhöht w i r d (Sala-i-Martin, Sachs 1992). Dieser Versicherungseffekt trägt nach einhelliger Meinung der Forscher außerhalb Deutschlands dazu bei, die US-Währungsunion zu unterstützen. Es w i r d deshalb gefordert, i n Europa ein ähnliches System einzuführen (.Eichengreen 1994, Wyplosz 1991).

4. Schweickerts Modell realwirtschaftlicher Anpassungen N u n komme ich zu einem Überblick einiger zentraler Argumente von Rainer Schweickert. Nach der Einführung des Konzepts des institutionellen Wettbewerbs w i r d eine Arbeitshypothese vorgestellt: die E W U begründet keine weiteren Harmonisierungspolitiken.

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I n Teil I I werden die realwirtschaftlichen Anpassungen einer Region an Nachfrage- und Angebotsschocks dargestellt. Hier w i r d ein z.T. vereinfachtes Modell von Max Corden (1991) für kleine, offene Regionen benutzt und ausgebaut. I n der graphischen Darstellung des Modells werden Teilgleichgewichte (Kurven für das Handelsgleichgewicht und das interne Gleichgewicht) und das Gesamtgleichgewicht der Region i n A b hängigkeit von Absorption und dem realen Wechselkurs vorgestellt. 3 Das Interessante an der Darstellung von Schweickert ist die Einführung der Lohnänderungen i n die Analyse, welche das Modell so ausstattet, daß er die Rolle der Lohnflexibilität i n den möglichen Anpassungsmechanismen der Region bei flexiblen bzw. festen Wechselkursen anschaulich darstellen kann und zu einigen Schlußfolgerungen über die Rolle der Flexibilität der Real- und Nominallöhne kommen kann (vgl. Abbildung 1). Hierzu kommt die Warnung daß, i m Falle einer Einschränkung der Lohnflexibilität durch die Harmonisierung der Lohnpolitik i n der EU, die Gefahr eines Unterbeschäftigungsgleichgewichts besteht. I n den Abbildungen 2 und 3 w i r d die regionale Konjunkturpolitik bei temporären negativen Nachfrage- und Angebotsschocks anschaulich durchexerziert. Interessantes Ergebnis ist, daß die Fiskalpolitik zu „deutlich größeren Schwankungen der Absorption führt als dies bei Lohnflexibilität oder ohne jede Anpassung der Fall wäre." Somit hält Schweickert fest, daß i m „Gegensatz zu der These aus der Theorie der optimalen Währungsräume (der) Finanzausgleich nicht eindeutig den realen Anpassungsprozeß begünstigt, sondern daß vielmehr die Gefahr besteht, daß eine aktive Fiskalpolitik zum Ausgleich temporärer realer Schocks die Schwankungen der realen Absorption noch erhöht und eine mögliche Überbewertung noch verschärft." M i r erscheint diese Aussage zu apodiktisch. Letztendlich geht es hier nicht um einen empirischen Beweis, sondern um einige interessante Skizzen, die zum Nachdenken Anlaß geben. Das Ergebnis von A b b i l dung 2, die „deutlich größeren Schwankungen der Absorption" durch die Fiskalpolitik i m Vergleich zu den Alternativen, ist großteils auf eine einfache Annahme von einer zeitverzögerten fiskalpolitischen Reaktion zurückzuführen. Das Ausmaß dieser Schwankungen w i r d auch durch

3

Die Abbildungen sind der Textdarstellung i n Caves/ Jones (1973) (Fig. 18.1 Policies for Internal and External Balance, S. 368) recht ähnlich. Letztere können immer noch als Einstiegsbrücke benutzt werden. Z u m Verständnis der hier benutzten Definition des realen Wechselkurses vgl. Corden (1991).

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die Wechselkurselastizität der Handelsbilanzkurve bestimmt. Möglicherweise geht es dabei nur u m empirisch triviale Erhöhungen. Weiterhin muß auf eine analytische Schwäche hingewiesen werden. Der dynamische Zeitablauf mit Verzögerungen - welcher das Ausharren einer Region i n Rezession und erhöhter Arbeitslosigkeit als Reaktion auf einen Schock bedeuten kann - ist hier nicht i n die Analyse eingegangen. Dabei widmen sich neuere empirische Analysen von Regionen gerade den dynamischen Reaktionen auf Schocks - vgl. Bayoumi/Eichengreen (1993), Bayoumi/Thomas (1994), Blanchard/ Katz (1992), Decressin/Fatds (1995). Impakt-Diagramme von Produktion, Preisen und Beschäftigung i n den betroffenen US-amerikanischen und europäischen Regionen i n den letzten Jahrzehnten sind eine wichtige empirische Basis für das Verständnis regionaler Verarbeitung von Schocks.

5. Schlußfolgerungen Weil i n der Realität kurzfristig stabile Phillips-Kurven existieren, können keynesianische wirtschaftspolitische Eingriffe, ζ. B. fiskalpolitische Maßnahmen und automatische Stabilisatoren (Fiskaltransfers), sinnvollerweise zum Zweck der kurzfristigen Stabilisierung von geschockten Regionen benutzt werden. Dazu bestehen viererlei Bedenken. Erstens sollen solche Maßnahmen nur kurzfristig, nicht zur langfristigen Protektion von wettbewerbsschwachen Regionen, eingesetzt werden. 4 Zweitens bedingen zentral organisierte fiskalpolitische Reaktionen auf Schocks ähnliche regionale Präferenzen dafür, wie stark Arbeitslosigkeit bzw. Preisstabilität zu gewichten sind. Interessanterweise ist die Entscheidung, Mitglied der E W U zu werden und eine preisstabilitätsfördernde gemeinsame Geldpolitik zu tragen, ohnehin schon durch die Übereinstimmung solcher Präferenzen bedingt. Deshalb kann man erwarten, daß die Staatengemeinschaft i n der E W U ähnliche Präferenzen für Phillips-Kurven-"trade-off s " haben wird. Drittens bedeutet die noch mangelnde gemeinsame EU-Solidarität und das Defizit an demokratischer Legitimation der EU, daß fiskalpolitischen Transfers zwischen EU-Staaten zum Zweck regionaler Schock4 Es ist exne Schwäche des Aufsatzes von Konrad Lammers (1993), vorgetragen vor einer früheren ARGE Tagung, daß die kurzfristigen mit langfristigen Argumenten unzulässigerweise vermengt werden.

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b e k ä m p f u n g w e i t w e n i g e r B e d e u t u n g z u k o m m e n w i r d als s t a a t s - i n t e r n e n i n t e r r e g i o n a l e n Transfers. Viertens, w e n n d i e S t a a t e n i n d e r E W U s i c h gegen a s y m m e t r i s c h e Schocks m i t d e m s t ä r k e r e n E i n s a t z f i s k a l p o l i t i s c h e r n a t i o n a l e r I n s t r u m e n t e w e h r e n m ü s s e n - a u c h als E r s a t z f ü r d e n V e r l u s t e i n e r eigenen G e l d p o l i t i k - , k a n n diese K o n j u n k t u r p o l i t i k t e m p o r ä r e s t a a t l i c h e D e f i z i t e verursachen. Solche D e f i z i t e s i n d l e g i t i m u n d s o l l t e n n i c h t v e r b o t e n w e r d e n , w i e es gängige P l ä n e vorsehen. Schlüssige A r g u m e n t e f ü r

eine H a r m o n i s i e r u n g d e r

Finanzpolitik

bzw. f ü r d i e E n t w i c k l u n g eines e u r o p a w e i t e n F i n a n z a u s g l e i c h s s i n d w e n i g e r i n d e r A u ß e n h a n d e l s t h e o r i e v o r z u f i n d e n als i n der w i r t s c h a f t s h i s t o r i s c h e n E r f a h r u n g r e g i o n a l e r Schocks u n d i n d e n w i r t s c h a f t s p o l i t i schen P r ä f e r e n z e n d e r t e i l n e h m e n d e n S t a a t e n .

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Zusammenfassung der Diskussion Referate Schweickert u n d Dumke

Zunächst erhält Schweickert Gelegenheit, kurz auf das Korreferat von Dumke zu reagieren. Der erste Problembereich sei die Erwartung, die dem institutionellen Wettbewerbs entgegenzubringen sei. Dumke habe vermutet, unter der Ausgangshypothese, institutioneller Wettbewerb sei besser, hätte man überhaupt keinen EWG-Vertrag zustande gebracht. Dies sei zum einen nicht zwangsläufig richtig, weil die Ausgangsthese ja nur besage, daß der Staatseingriff begründet werden muß, und nicht umgekehrt. I m Falle einer Währungsunion für Bayern, dürfte es relativ leicht fallen, Transaktionskostenvorteile eindeutig nachzuweisen. Auch i m Falle der Handelspolitik sei theoretisch und empirisch hinreichend nachgewiesen worden, daß Protektion i n der Regel dem Land selbst schadet und auch allgemein zu Wohlfahrtsverlusten führt. Der Vergleich zwischen der Europäischen Union und Deutschland bezüglich Währungsunion und Sozialpakt sei interessant. I n bezug auf die Währungsunion habe es i n Deutschland aber einen eindeutigen Vertrag gegeben, der i m Falle der EG fehle. DDR-Bürger seien nach Grundgesetz stets Staatsbürger des deutschen Staates gewesen, und die Wiedervereinigung war zumindest formal das höchste Ziel deutscher Politik. Insofern sei die Frage gar nicht zu stellen gewesen, ob hier eventuell anders vorzugehen sei. Der Sozialpakt sei ein anderer Aspekt gewesen. Möglicherweise sei er eine gute Blaupause gewesen für das Vorgehen i n der Nachkriegszeit. Die Diskussion, die momentan i n Deutschland geführt werde, laufe aber darauf hinaus, dies als Modell für die neunziger Jahre oder für das nächste Jahrhundert aus guten Gründen sehr stark i n Zweifel zu ziehen. Gerade für Deutschland werde mehr Lohndifferenzierung, mehr regionale Differenzierung angemahnt. E i n anderer Komplex i n Dumkes Kommentaren habe i n dem Vergleich zwischen E U und USA bestanden. Das sei aber i.d.R. sehr problematisch. Man versuche natürlich gern, einen Anhaltspunkt zu gewinnen,

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wie eine recht große Währungsunion funktionieren könnte, die aus gut zu identifizierenden Einzelteilen besteht. Die Startphase beim E i n t r i t t i n die Währungsunion sei ein erster interessanter Punkt. Der institutionelle Umbruch, d. h. die größere Flexibilität der Kapital- und Arbeitsmärkte könne studiert werden. Allerdings könne von den aus Amerika gewonnenen Erfahrungen nur wenig auf Europa übertragen werden. Die Feststellung, daß die Arbeitsmobilität i n USA χ ist und der Finanzausgleich y und daß die Währungsunion funktioniere, erlaube nicht den Schluß, daß man den Finanzausgleich zwangsläufig braucht, damit die Währungsunion funktioniert. Zur Wechselkurspolitik der EU-Südstaaten habe Dumke i h m interessante Aussagen zugeschrieben, die er gar nicht gemacht habe. Er vermutet, sie sei weniger darauf ausgerichtet, ζ. B. zwischen Portugal oder Spanien eine Währungsunion einzuführen, sondern diese Länder würden weiterhin ihre Wechselkurspolitik sehr stark auf eine europäische Währung ausrichten. Es stelle sich also die Frage, die am Vortag für die Transformationsländer gestellt wurde, ζ. B. die Wahl zwischen festen oder flexiblen Wechselkursen. Wegen der knappen zur Verfügung stehenden Zeit sei er darauf nicht eingegangen. Hinsichtlich der Excessive Deficits stelle sich die Frage, was denn eigentlich exzessiv ist. Die Definition sei i n Maastricht ad hoc und i m politischen Entscheidungsprozeß festgelegt worden. Offen sei aber, ob der Kern des Problems mit 3 und mit 60 % getroffen wird, oder ob nicht noch andere Aggregate der Staatsaktivität, wie die Steuerlast oder die Investitionsfinanzierung des Staates i n Betracht zu ziehen wären. Ob die Zukunft der Europäischen Währungsunion schon so fixiert ist, wie es oft zu hören sei, bezweifelt Schweickert. Insbesondere die finanzpolitischen Kriterien seien zu Recht noch heftig i n der Diskussion, und das Europäische Währungsinstitut i n Frankfurt mache sich Gedanken, wie der Begriff der hinreichenden Anpassung zu operationalisieren sei. Die Diskussion habe schon eine gewisse Aufweichung gebracht. Interessant werde es auch, wenn die Abstimmung i m Europäischen Rat herannahe, wenn es dazu kommt, daß die Mitglieder der Europäischen Währungsunion bestimmt werden müssen. Dazu sei eine qualifizierte Mehrheit erforderlich, und selbst die acht Länder, die er aufgeführt hatte, verfügten nicht über eine qualifizierte Mehrheit, u m sozusagen aus eigener Kraft ihre Mitgliedaschaft zu begründen. Eine Sperrminorität sei nicht auszuschließen, die über hinreichend Stimmen verfügte, um zumindest eine Erhöhung von Transferzahlungen für sich selbst herauszuhandeln.

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Schweickert merkt schließlich an, daß er seine Bemerkungen zur Währungsunion nicht so verstanden wissen w i l l , daß er ein glühender Befürworter der Währungsunion wäre; er sehe die Angelegenheit vielmehr relativ neutral und wolle aus dieser Position heraus die finanzpolitischen Kriterien neutral diskutieren. Kantzenbach nimmt zu dem Gegensatz - Systemwettbewerb oder Harmonisierung - Stellung. Er stimmt Schweickert vorbehaltlos zu, daß Staatseingriffe i n unser Wirtschaftssystem begründet werden müssen. Es sei davon auszugehen, daß die Alternative zur Harmonisierung nicht ein unkoordiniertes Nebeneinander der nicht harmonisierten Regelkreise ist. Starke Einwände erhebt er dagegen, die sehr vagen und bisher überhaupt nicht ausgearbeiteten Modelle eines Systemwettbewerbs an die Stelle der unterlassenen Harmonisierung zu setzen. Es sei nicht anzunehmen, ein irgendwie gearteter institutioneller Systemwettbewerb werde die Beziehungen irgendwie schon regeln. Diese Vorstellungen von Systemwettbewerb erschienen i h m deshalb so ideologieverdächtig, weil an einen Wettbewerbsbegriff angeknüpft werde, für den eine ausführliche Theorie bereits existiere, wo Wettbewerbsprozesse identifiziert werden könnten, die i n bestimmten Rahmenbedingungen vor sich gehen, i n nerhalb von Wettbewerbsgesetzen, innerhalb von Eigentumsrechten, von Vertragsfreiheit, um nur die einfachsten zu nennen. Es gebe auf diesem Gebiet gesicherte Vorstellungen über Marktstrukturen und zu erwartende Marktergebnisse. Alles das gebe es für einen „Systemwettbewerb" nicht, und es sei sehr zweifelhaft, ob die genannten Mechanismen dort w i r k l i c h analog funktioniertet. So setze etwa die Vorstellung, daß die Wähler denjenigen Wirtschaftspolitikern ihre Zustimmung geben, die Gemeinwohlmaximierung betreiben, eine Transparenz der politischen Prozesse und vor allem ihrer kausalen Zusammenhänge voraus, die i n Wirklichkeit empirisch nicht belegt und auch nicht zu erwarten sei. Das gleiche gelte für die Kapitalströme, die eine große Rolle spielten, weil angenommen werde, das Kapital fließe dorthin, wo i m Sinne der Wähler eine Wohlstandsmaximierung eintritt - eine sehr fragwürdige Unterstellung. E i n Beispiel dazu: I n der Schweiz werde eine sehr stabile Währungspolitik betrieben, die i m Sinne des Systemwettbewerbs als ideal angesehen werden müßte. Dieses führe zu außerordentlich großen Kapitalzuströmen, zu einer Aufwertung. Ob die Schweizer Bevölkerung angesichts ihrer Tourismuswirtschaft dieses als Wohlfahrtsoptimierung betrachtet und die Partei weiter wählen wird, die zu einer weiteren Aufwertung des Schweizer Franken führt, sei sehr zu bezweifeln. 15 Konjunkturpolitik, Beiheft 43

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Kantzenbach plädiert deshalb für Harmonisierung, allerdings nur dort, wo sie begründet werden kann. Dagegen müsse Abstand genommen werden von der Unterstellung, wo man nicht harmonisierte, gäbe es so etwas wie einen Systemwettbewerb, der dann irgendwie zu einer prästabilisierten Harmonie führte. Dieses bezeichnet er schlicht als Ideologie. Die Nationalökonomie müsse sich davor hüten, a priori Märkte zu idealisieren und wirtschaftspolitische Eingriffe zu horrifizieren. Auch i m nationalökonomischen Denken seien Schwankungen zu beobachten, man könne Perioden feststellen, wo es genau umgekehrt war: Nach der Weltwirtschaftskrise seien i n der Theorie allgemein die Märkte horrifiziert und die wirtschaftspolitischen Eingriffe idealisiert worden. Dann sei die Theorie des funktionsfähigen Wettbewerbs gekommen, die das wieder geraderückte. I m Augenblick bewirkten die herrschenden nationalökonomischen Strömungen eine Idealisierung der Märkte und eine Horrifizierung der Politik. Die Theorie der Bürokratie habe ζ. B. dazu beigetragen, daß von vornherein unterstellt werde, Politik sei korrupt. Man müsse sich i n dieser Hinsicht vor Übertreibungen hüten, und man könne auf diesen abstrakten Theorien keine politischen Empfehlungen aufbauen. Diesen Gedankengang setzt Watrin fort: Bei Dumke liefen die Vorstellungen der Public Choice-Schule auf eine A r t Kirchspielökonomie hinaus. Jedes kleine Dorf, jeder Vorort würde zu einer eigenen Ökonomie mit eigener Währung und ähnlichem mehr. Übrigens habe es eine solche Situation i n Deutschland während der Hochinflationszeit des Jahres 1923 ja schon einmal gegeben. Daß das wieder beseitigt wurde, habe sicherlich gute Gründe gehabt. Der eigentliche K r i t i k p u n k t an Dumkes Auffassung sei jedoch, daß er übersehe, daß die Institutionenökonomie gleichzeitig eine massive K r i t i k an der Wohlfahrtsökonomie ist und eine Perspektivenänderung gegenüber der Wohlfahrtsökonomie. Die Wohlfahrtsökonomie sei prinzipiell institutionenleer. Das könne man am allerbesten erkennen, wenn man sich an die Wirtschaftssystemdiskussion erinnerte: Es sei ja gezeigt worden, daß ein idealer M a r k t und ein idealer Plan wohlfahrtsökonomisch völlig äquivalent sind, daß man sich eine Welt der idealen Pläne, der zentralen Steuerung vorstellen könnte, die genauso gut funktionierte wie der ideale Markt und umgekehrt. Eine solche rein formale Theorie ohne institutionellen Entwurf sei unbrauchbar. Deswegen hätten die Vertreter der Institutionenökonomie und der Public-Choice-Theorie immer betont, daß stets eine gegebene institutionelle Struktur existiere, daß man

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von einem Hier und Heute ausgehen müsse, und daß w i r i n einer institutionengeprägten Welt leben. Auch zu den Bemerkungen Kantzenbachs nimmt Watrin kritisch Stellung: Er habe die Dinge so dargestellt, als wäre Nicht-Harmonisierung das reine Chaos. Bei der Harmonisierungsdebatte fiabe er allerdings selbst den Eindruck, daß ein grundsätzlich positives Vorurteil - zumindest i n der wirtschaftspolitischen Diskussion - zugunsten der Harmonisierung besteht. Die europapolitische Diskussion sei immer geführt worden aus der Idee, die Regeln einer nationalen Wirtschaft auf den europäischen Raum zu übertragen, deswegen brauche man Rechtsharmonisierung, Steuerharmonisierung etc. Aus der institutionenökonomischen Perspektive werde der Vorwurf mangelnder Phantasie erhoben. Die ordnungspolitischen Alternativen seien sehr viel breiter als die voreingenomme Harmonisierungsperspektive. Politische Strukturen müßten i n ihren Abläufen genauso analysiert werden wie Marktabläufe. Es könne tatsächlich zu Ausbeutungssituationen kommen, und die Public-ChoiceSchule werde ja auch weiterentwickelt. Als Principal Agent-Problem modelliert, stelle sich die Frage, wie man die Agents, also die Politiker i n einen institutionellen Rahmen hineinbringen kann, der sie zwingt, sich an den Präferenzen der Bürger auszurichten und nicht an ihren eigenen Präferenzen. Es gebe bei der Organisation von Märkten institutionelle Vor- und Nachteile, und ebenso hätten politische Systeme ihre Vor- und Nachteile. Siebert meint, der institutionelle Wettbewerb könne durchaus Vorteile gegenüber der Harmonisierung bieten, man könne schon einmal institutionelle Regelungen nebeneinander stehen lassen und dann sehen, was dann dabei herauskommt. E i n Beispiel sei das Verfahren beim Crème de Cassis, hier zeige sich, wie nach einigem Durcheinander und Chaos schließlich de facto eine gewisse Harmonisierung Zustandekommen kann. Der Wettbewerb i n den institutionellen Regelungen könne durchaus positive Demonstrativeffekte haben. Völlig klar sei es, daß mittlerweile die Kapitalmobilität so groß sei, daß die einzelnen Staaten i m Wettbewerb stünden mit ihren beiden Instrumenten, der Bereitstellung öffentlicher Güter einerseits - natürlich auch meritorischer Güter wie Verteilungsziele - und auf der anderen Seite der Finanzierung dieser öffentlichen Güter. Hier werde es keine weltweite Harmonisierung geben, sondern Unterschiede i n der Kapitalbesteuerung und unterschiedliche Präferenzen. E i n Luxemburg stehe einem Hong Kong gegenüber - mit unterschiedlichen Präferenzen - ein 1

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weltweiter institutioneller Wettbewerb. Dafür gebe es keine Regeln, kein Wettbewerbsgesetz, das sei nun einmal so. Vielleicht werde die Weltwirtschaft irgendwann einmal einen Subventionskodex i m Rahmen des GATT entwickeln, der auch diesen Wettbewerb zwischen Staaten i n Bahnen lenken könnte. Aber zunächst einmal müsse man mit dem ungeregelten Wettbewerb der Systeme leben. Auch Hoffmann sieht auf der europäischen Verwaltungsebene ein starkes Vorurteil, möglichst alles und jedes zu harmonisieren. Aber man dürfe auch nicht i n das andere Extrem fallen, sondern müsse versuchen, solche Bereiche zu identifizieren, i n denen Harmonisierung sinnvoll ist und davon jene Bereiche zu trennen, i n denen andere Lösungen besser wären. Hier hätten die Ökonomen ihre Hausarbeiten wohl noch nicht so ganz gemacht. Aber diese Tagung solle ja auch dazu beitragen. Kantzenbach geht auf die von Schweickert zur Lohnpolitik vorgetragenen Überlegungen ein, deren Ergebnis er unterstützt. Man brauche dazu jedoch wiederum das Modell des Systemwettbewerbs. Das auf dem nationalen Arbeitsmarkt bestehende bilaterale Kartell sei nicht f u n k t i onsfähig, wie empirisch zu zeigen sei. N u n bestünden i n anderen Staaten ähnliche Marktformen, aber sie übten gewissermaßen eine Außenseiterfunktion zu den nationalen Kartellen aus und erodierten diese Kartelle. M i t Systemwettbewerb habe dies nichts zu tun, sondern nur damit, daß die nationalen Kartelle nicht mehr den relevanten M a r k t umfaßten. Hoffmann gibt zu bedenken, ob nicht nicht die deutschen Gewerkschaften eine Harmonisierung der Lohnpolitik eher fürchten als w ü n schen müßten. Meist werde unterstellt, Harmonisierung werde eine A n passung der Löhne nach oben bewirken, und das wäre dann insgesamt schädlich. Aber dieses Ergebnis hänge von der jeweiligen Marktsituation ab, und gegenwärtig sei wohl eher eine Anpassung nach unten zu erwarten. Eekhoff weist darauf hin, daß eine Harmonisierung der Lohnpolitik innerhalb Europas oder i n einen kleineren Raum einer Anfangs-Währungsunion ein Problem verschärfen würde, das i n Deutschland diskutiert werde: Die Lohnpolitik werde sich wieder an Nominallöhnen mit überregionaler Geltung ausrichten, u n d es sei fraglich, ob eine einheitliche nominale Lohnpolitik i n den Ballungszentren und i n ländlichen Räumen überhaupt angemessen ist. Schon i n Deutschland sei das unvernünftig, und noch weit mehr auf europäischer Ebene. Der Vergleich des Bruttoinlandsprodukts pro Kopf spiegele ja den Wohlstandsunterschied nicht korrekt wider. Also gehe jeder Versuch, auf der nominellen Ebene

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Lohnpolitik zu harmonisieren, eigentlich am Thema vorbei, und die daraus resultierenden Systeme würden nicht funktionieren. Es sei ein ähnlicher Effekt zu befürchten wie bei der Sozialpolitik, nämlich daß niemand bereit ist, vom hohen Standard herunterzugehen, m i t der Folge eines massiven Drucks auf die Länder, die am unteren Ende stehen. Insofern könne man nur hoffen, daß es bei einer stark regionalisierten Lohnpolitik bleibt. Aus der Konzeption eines einheitlichen Währungsraumes ohne den Wechselkurs als Puffer und ohne erhebliche Mobilität der Menschen folge zwangsläufig, daß bei Schocks i n einzelnen Regionen die Löhne die Pufferfunktion übernehmen müssen, stellt Siebert fest. Andernfalls seien Transfers erforderlich. I n einer Währungsunion könne es deshalb keine Harmonisierung der Löhne geben, auch nicht der sozialen Bedingungen, jedenfalls nicht bei der absehbaren heterogenen Mitgliedschaft. Die entscheidende Frage sei nun, ob die Währungsunion selbst eine stärkere Lohndifferenzierung erzwingt oder ob sie eher zu einer Lohnangleichung führt. Das hänge davon ab, wie unabhängig die Europäischen Zentralbank sein werde. Eine Europäische Zentralbank die wie ein autonomer geldpolitischer Automat funktionierte, der die Geldmenge i n Europa i m Ausmaß der Zunahme des Produktionspotentials erhöht, erzwinge Anpassungsprozesse i n den einzelnen Ländern. Das sei die These von Olaf Sievert. Er glaube aber an diese These nicht. Die Europäischen Zentralbank werde diese Macht nicht haben, weil sie nicht i m politisch luftleeren Raum, i n einem institutionellen Vakuum operieren kann. Sie werde politischem D r u k ausgesetzt sein und bestimmte Rücksichten nehmen müssen. Das gleiche Problem stelle sich bei der Finanzpolitik. Eine Währungsunion - man müsse i n Zeiträumen von fünfzehn, zwanzig, dreißig Jahren denken - werde natürlich dazu führen, daß die Menschen ihre Löhne i n der einheitlichen Währung vergleichen. Es werde nicht einzusehen sein, warum auf lange Frist jemand, bei gleicher Tätigkeit i n Palermo weniger als i n Frankfurt verdienen sollte. Dann komme ein Druck auf Lohnangleichung zustande, und dann sei die Analogie zur deutsch-deutschen Währungsunion durchaus angemessen. Wenn weder die Mobilität noch die Lohnflexibilität i n ausreichendem Umfang gegeben wären, müßten alle asymmetrischen Schocks über Transfers ausgeglichen werden. Der politische Druck werde zu groß sein, u m dem auszuweichen. N u n könnte politisch gesagt werden, man sei dazu bereit. Aber die Wissenschaft

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müsse jetzt sagen, daß das hohe Ziel der politischen Einigung nur zu erreichen ist, wenn man bereit ist, diesen Transferbedarf zu decken. I n dieser Darstellung vermißt Hoffmann eine detailliertere Abschattierung. Sicherlich müßten Unterschiede zum Teil durch Lohndifferenzierung ausgeglichen werden, aber die Frage sei doch, i n welchem Maße. Auch Produktivitätsanreize und zusätzliche Mobilität leisteten Beiträge. Es sei auch zu erwarten, daß i n einer Europäischen Währungsunion die Mobilität zunimmt. Hoffmann läßt auch nicht gelten, die Europäische Zentralbank werde schwach sein, ganz i m Gegenteil. Sie werde allerdings eine Institution sein, die sich profilieren muß. Sie werde eher noch unabhängiger und restriktiver sein als die Deutsche Bundesbank. Watrin warnt davor, eine Dimension der Angelegenheit auszublenden, auf die u. a. Dumke zu recht hingewiesen habe, daß nämlich die Stabilität der Entwicklung i n der Bundesrepublik Deutschland nicht nur auf dem wirtschaftlichen, sondern ebenso auf dem sozialen Ausgleich beruhe. Er erinnert daran, daß auch die Arbeitgeber anstrebten, das Prinzip des Marktes mit dem Prinzip des sozialen Ausgleichs zu verbinden. Auch Kantzenbach teilt Sieberts Pessimismus bezüglich der Europäischen Notenbank nicht. Er kann i n keiner Weise erkennen, daß die Stabilitätsorientierung der Europäischen Notenbank i n irgendeiner Form geringer sein könnte als die der Bundesbank, jedenfalls vom institutionellen Design her. Die Zentralbank stehe allen Staaten gegenüber. Wenn eines der erwarteten sechs oder acht Mitgliedsländer versuchen sollte, Druck auf den Zentralbankrat der Europäischen Notenbank auszuüben, wären stets mehrere Staaten dagegen. Die außerordentlich großen Probleme verstärkter Mobilität der Arbeitskräfte i n Europa greift auch Kantzenbach auf. Das habe allerdings nicht nur m i t der Lohnpolitik zu tun. E i n gleichgewichtiges System würde darauf hinauslaufen, daß sich die Löhne an der örtlichen Produktivität orientierten. Wenn dies eine Wanderungsbewegung nach den Orten mit hoher Produktivität auslöste, seien massive Restriktionen unvermeidlich. Selbst bei streng produktivitätsorientierter Lohnpolitik werde eine erhebliche Lohndifferenz ζ. B. zwischen Deutschland und Griechenland bestehen bleiben. Wenn Freizügigkeit bestände, würden viele Griechen m i t Sack und Pack ins Ruhrgebiet ziehen. Es sei eine empirische Frage, inwieweit diese Freizügigkeit tatsächlich i n Anspruch ge-

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nommen werde. I m übrigen seien diese Bewegungen ganz unabhängig von der Politik der Gewerkschaften. Auf die Wahrscheinlichkeit, daß die Gewerkschaften dann i n der Gefahr stehen werden, ihre Basis zu verlieren und untereinander i n heftige Konkurrenzkämpfe verwickelt zu werden, gehen Hoffmann, Kantzenbach und Siebert kurz ein. Dazu bemerkt Eekhoff, es sei i n Europa damit zu rechnen, daß zwischen den Regionen nicht nur die Produktivität unterschiedlich sein werde, sondern auch die Knappheiten und die Kosten. Wenn es sich lohnte, i n Ballungsgebieten die Produktion zu bündeln, Wirtschaftskraft dort zu massieren, wäre es noch lange nicht selbstverständlich, daß das für die Arbeitskräfte genauso attraktiv wäre. Vielmehr müßten wahrscheinlich i n Ballungsräumen höhere Löhne bezahlt werden, um Arbeitskräfte dort hinzubekommen. I n den Steuer- und Verteilungssystemen i n Europa werde interpretiert, was zu beobachten ist, und das seien zum Teil nur nominelle Unterschiede. Diese würden voll als reale Unterschiede gewertet. Kostenunterschiede würden vernachlässigt, ζ. B. die Tatsache, daß die Wohnkosten i n Frankfurt um ein Mehrfaches höher sind als anderswo, und daß entsprechend höhere Löhne erforderlich seien und keineswegs einen insoweit höheren Wohlstand anzeigten. Folglich müsse man sich auch i n der Lohnpolitik darauf einstellen, daß gleiche Arbeit unterschiedlich bezahlt werden muß, entsprechend den unterschiedlich hohen Kosten. Demgegenüber weist Hoffmann auf institutionelle Vorteile der Ballungsgebiete hin. Der institutionelle Wettbewerb könne zu einem heilsamen Anpassungsdruck führen, und zwar gerade dann, wenn nicht alle Unterschiede über die Löhne ausgeglichen würden. Die Vorstellung von einem allgemeinen Trend zur Lohnanpassung nach oben relativiert auch Scharrer. I n Deutschland sei ja bereits zu beobachten, daß der Weg von den Flächentarifverträgen wegführe. I n einigen Jahren werde es i n Deutschland i n einzelnen Branchen kein einheitliches Lohnniveau mehr geben, vielleicht noch bestimmte einheitliche Löhne i n Großunternehmen, aber darunter ein sehr diffuses Muster von Löhnen, je nach der Konkurrenzfähigkeit des einzelnen Unternehmens. Die unmittelbare Vergleichbarkeit zwischen einzelnen Regionen i n Europa werde es vermutlich bald gar nicht mehr geben. Auch komme es wesentlich auf die Marktsituation des jeweiligen Unternehmens an. Der Müllwerker i n Palermo habe möglicherweise ein regionales Monopol mit relativ hohen Löhnen bei entsprechender Gewerkschaftsmilitanz. Der

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Fiat-Werker stehe i m internationalen Wettbewerb, nicht nur i m europäischen. Man müsse also die Risiken der Währungsunion für regionale Beschäftigungseffekte zurückhaltender werten. Ochel bezweifelt ebenfalls, daß es zu einer Harmonisierung der Lohnp o l i t i k innerhalb der Währungsunion kommen werde. Zwar gebe es eine Tendenz zu einer zunehmenden Anpassung und Flexibilität der Löhne i n den einzelnen Ländern, aber es gebe auch institutionelle Hemmnisse, die die Geschwindigkeit von Anpassungsprozessen begrenzten. Das HWWA sei i n einer sehr umfangreichen Studie über die Lohnfindungssysteme i n den einzelnen europäischen Ländern zu dem Ergebnis gekommen, daß die Beharrlichkeit groß und die Anpassungsfähigkeit eher begrenzt sei. Die Löhne würden also kaum die ganze Anpassungslast tragen können. Ochel kann nicht erkennen, daß es i n absehbarer Zeit zu den von Siebert angesprochenen Finanztransfers kommen könnte. Die Solidarität innerhalb Europas sei dazu nicht i n ausreichendem Maße gegeben. Das habe auch die Diskussion m i t Hoyer u m die stabilitätskonforme Finanzp o l i t i k ergeben. Es sei kein Konsens zu erzielen über die Aufgabe von Souveränität durch die Nationalstaaten. Auf die Politik der Europäischen Zentralbank geht Schultes nochmals ein. Es sei wohl nicht realistisch anzunehmen, die Unabhängigkeit der EZB werde dadurch gesichert, daß auf der einen Seite der EZB-Rat steht, auf der anderen Seite eine Vielzahl von Staaten mit entprechend aufgesplitterter Macht. Der EZB-Rat werde vielmehr ein wesentlich politischeres Gremium sein als der heute bestehende Zentralbankrat der Deutschen Bundesbank. Der politische Konflikt werde sich also i n die EZB verlagern. Es werde ein großer Unterschied sein, ob etwa Herr Krupp oder ein anderes Mitglied i m Zentralbankrat überstimmt würde oder ob der Vertreter Spaniens, auch wenn er persönlich unabhängig ist, immer wieder überstimmt wird. D.h., es werde - u m diesem Gremium einen Zusammenhalt zu verschaffen - eine Tendenz zum Kompromiß geben müssen und damit zu einer leichteren Geldpolitik. Fisch geht auf die Frage ein, ob es durch die W W U zu Lohnangleichungen oder zu Lohndifferenzierungen kommen werde. M i t dem Wegfall des Wechselkurses gebe es einen Anpassungsparameter weniger, und zu recht werde gesagt, dies erfordere mehr Flexibilisierung. Warum diese von uns geforderte Flexibilisierung dann zu Angleichung führen sollte, sei unklar. Eher sei das Gegenteil zu vermuten, denn der Wechsel-

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kursparameter sei möglicherweise genutzt worden, um mangelnde realwirtschaftliche Anpassungen zu vertuschen. Durch die W W U erhöhe sich der Druck auf die realwirtschaftliche Anpassung und insofern sehe er darin auch ein Instrument, das zu einer größeren Differenzierung führen kann. Von Loeffelholz greift die Frage auf, inwieweit die Währungsunion einen europaweiten Finanzausgleich braucht. Festzustellen sei zunächst, daß schon ein europaweiter Finanzausgleich existiere; Siebert habe i h n auf etwa 1 1/2 % des Sozialprodukts beziffert. Siebert habe hinzugefügt, daß der mögliche Transferbedarf bis zu 5% betragen könne und habe dafür das Beispiel Deutschland herangezogen. Dieser Vergleich sei aber problematisch, weil die ganz besondere deutsche Situation nicht auf die Währungsunion übertragen werden könne. I n der alten Bundesrepublik habe der Finanzausgleich zwischen den einzelnen Regionen 1 bis 2 % nicht überstiegen. Dafür, daß diese Quote nicht i n den Himmel wachsen werde, sorge auch die Tatsache, daß die Empfängerländer der Nettotransfers kaum Druckmittel zur Verfügung hätten, von den Zahlerländern einen erhöhten Transfer einzufordern. Bei der Lohnpolitik gelte es, den Langfristaspekt und die Frage der realwirtschaftlichen Entwicklung zu bedenken, betont Seidel. I n der Diskussion werde oft befürchtet, daß Lohnanpassungen den realwirtschaftlichen Rahmen sprengten. Wenn man aber, wie Siebert vorgeschlagen habe, über einen Zeitraum von zehn bis fünfzehn Jahren nachdächte, müßte auch berücksichtigt werden, wie die Gemeinschaft nach dieser Zeit aussehen werde. Möglicherweise hätte Italien dann w i r t schaftlich soweit aufgeholt, daß dort wesentlich höhere Löhne bezahlt werden könnten, die dann der allgemeinen Produktivitätsentwicklung nicht vorauseilten. Probleme ergäben sich doch offenbar nur dann, wenn eine überschießende Lohnangleichung stattfände. Somit sei Fisch zu w i dersprechen: Es sei eben nicht unbedingt so, daß die realwirtschaftliche Anpassung weitere Lohndifferenzierung innerhalb der Europäischen Gemeinschaft erforderte, sondern es könne durchaus eine Vereinheitlichung erfolgen, wenn diese realwirtschaftliche Anpassung i n die Richtung des regionalpolitischen Ziels der Gemeinschaft führte. Inwieweit die E W U tatsächlich dazu beitrage, sei eine ganz andere Frage. Z u der Frage des Finanzausgleichs weist Seidel auf einen Widerspruch hin, den er i n den Bemerkungen von Schweickert bemerkt hatte. Er habe die E W U als ordnungspolitischen Sündenfall dargestellt. I n seinen weiteren Ausführungen habe er jedoch deutlich gemacht, daß er von der

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Währungsunion durchaus einen Beitrag zu einer stärkeren Disziplinierung der nationalen Finanzpolitik erwarte. Es sei nicht klar, welcher Interpretation er eher zuneigte. I n diesem Zusammenhang sei nicht berücksichtigt worden, daß schon heute eine Gewaltenteilung i n der Finanzpolitik existiere: die Finanzpolitik auf europäischer Ebene, selbst wenn sie nicht i n dem Maße vollzogen werde wie i n jedem Nationalstaat. N u n müsse erörtert werden, ob die zur Verfügung stehende finanzpolitische Masse auf europäischer Ebene ausreicht, ob schon zuviel umverteilt werde, oder ob es mehr Finanzmasse geben müßte, möglicherweise auch m i t einer eigenen Steuer. Siebert stellt fest, die Vorstellungen, die Schweickert zur Finanzpolit i k und zu der Frage dargestellt hatte, inwieweit eine Harmonisierung der Finanzpolitik erforderlich sei, deckten sich mit der Position des Sachverständigenrats. Diese Frage werde i n zwei Aspekten behandelt: - Einmal müsse die Finanzpolitik bei einem Schock i n einer Region tät i g werden; das sei i m Prinzip Aufgabe der nationalen Finanzpolitik. Die Frage sei, ob der Wunsch, übermäßige Transfers zu vermeiden, sich durchsetzen werde oder ob - wenn andere Mechanismen - M o b i l i tät, Lohndifferenzierungen usw. - nicht greifen, nicht doch höhere Transfers unausweichlich wären. Dies wäre unter dem Rubrum Harmonisierung der Finanzpolitik zu behandeln. - Die zweite Seite berühre ein Grundproblem der Währungsunion, nämlich die Frage, ob von der Wirtschafts-, von der Finanzpolitik, von der Haushaltslage i n den einzelnen Ländern politischer Druck auf die Europäischen Zentralbank ausgehen kann. Einerseits könne man unterstellen, die Europäische Zentralbank funktioniere wie ein autonomer geldpolitischer Automat, der sich an der Entwicklung des europäischen Produktionspotentials ausrichte, dann die Korrektur der Umlaufgeschwindigkeit vornehme und schließlich noch 2 % Inflationsspielraum hinzugebe. Bei einer solchen Steuerung der Geldmenge - völlig unbeeinflußt von der Situation i n einzelnen Ländern, etwa vor Wahlen - gäbe es kein Problem, keinen Koordinierungsbedarf. Nationale Finanzpolitik würde i n die Schranken verwiesen. Siebert kann diese Einschätzung jedoch nicht teilen. Die Wirtschaftsgeschichte habe gezeigt, daß es stabile Währungsrelationen zwischen politisch autonomen Ländern nur gegeben habe, wenn diese Länder, auf einen Teil der Autonomie i n der Finanzpolitik verzichteten. Überdies müsse eine gesamteuropäische Geldpolitik von den nationalen politi-

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sehen Willensbildungsprozessen getragen werden, eine Geldpolitik könne an unzureichender Absicherung zerbrechen. Man könne sich beispielsweise leicht einen Fall vorstellen, bei dem neben zwei Problemländern ein sehr gewichtiges Land einer monetären Entscheidung nicht zustimmen könnte, etwa aus Gründen nationaler Probleme. Dann wäre die Zentralbank auf einen Kompromiß angewiesen, würde also ihre Linie nicht durchhalten können. Es gehe nicht u m die Frage einer direkten finanziellen Unterstützung durch die EZB, u m das deutlich zu sagen, sondern es gehe um die Frage einer loseren Geldpolitik, um auf diese Weise für ein Land eine Entlastung einer Schuldensituation zu Wege zu b r i n gen. Die Frage nach der Unabhängigkeit der EZB - i n diesem anderen politischen Umfeld als dem der Bundesbank i n Deutschland - sei i n der Tat eine zentrale Frage. Es sei erforderlich, die Freiräume der Finanzpolitik durch einen Stabilitätspakt zu beschränken. Eine Kegelbindung der Finanzpolitik sei eine andere Form der Harmonisierung, sozusagen die zweite Schiene der Harmonisierung. Länder mit hohen Schuldenständen hätten nicht von sich aus die gleiche Einstellung zur Geldpolitik wie Länder m i t niedrigen Schuldenständen. Daher werde ein Mechanismus gebraucht, der die Europäische Zentralbank gegen politischen Druck von der Finanzpolitik abschirmt. Wenn man diesen Stabilitätspakt nicht erreichte, sei nicht zu erkennen, wie die Europäische Währungsunion der deutschen Bevölkerung schmackhaft gemacht werden könnte. Kantzenbach versteht nicht, warum Siebert die Sorge um die Inflation so kultiviert. Es sei eine Unterstellung anzunehmen, daß die institutionellen Vorsorgen, die i n bezug auf die europäische Notenbank getroffen wurden, nicht griffen, oder - anders ausgedrückt - , daß der zu schaffende Gouverneursrat pflichtwidrig handelte. Es gäbe keine Möglichkeit, dies politisch zu ändern. Die Konsequenz könnte i n diesem Fall nur sein, generell anzuzweifeln, daß diese Institutionen überhaupt machbar sind, und vollends auf die Währungsunion zu verzichten. Sicherlich bestände politischer Spielraum, die nationalen Parlamente oder die europäischen Gremien könnten Transfers beschließen. Die Hemmschwelle liege aber bei der Europäischen Notenbank. Dort würde berücksichtigt, daß die Lockerung der Geldpolitik zum Ausgleich regionaler Unterschiede, räumlich begrenzter Arbeitslosigkeit, doch ein äußerst ineffizientes Instrument ist. Dagegen wäre der direkte Transfer i n die Regionen auf jeden Fall effizient, und er wäre institutionell möglich.

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Es sei desweiteren vom Sachverständigenrat gesprochen worden, der sich gegen die Transfergemeinschaft ausgesprochen habe. Man müsse realistischerweise davon ausgehen, daß eine stärkere Vergemeinschaftung auch zu einem Anstieg interregionaler Transfers führen werde. Das wäre auch innerhalb einer verstärkten Integration tragbar. I m übrigen sollte man eine Aversion gegen zunehmende Transfers besser nicht ausschließlich m i t der Effizienz begründen. Das sei i n dem Land mit dem höchsten Pro-Kopf-Einkommen, also i n dem Land, das als potentieller Netto-Transferzahler anzusehen ist, nicht ganz glaubwürdig, denn natürlich spiele das Verteilungsargument eine große Rolle. Boss merkt an, daß die durchschnittliche Inflationsrate i n Deutschland - rund 3 % - allgemein nicht als Verletzung des Stabilitätsziels gewertet werde. Das Bundesbankgesetz habe dies zugelassen. Das Statut der Europäischen Zentralbank sei sicherlich ähnlich interpretierbar, so daß man m i t 2 bis 5% Preisanstieg rechnen könne. Auch wenn es vergleichbar sei m i t dem Bundesbankgesetz, müsse man durchaus ein aus deutscher Sicht negativeres Ergebnis erwarten als i n der Vergangenheit. Die Angleichung der Inflationsraten i n den EU-Ländern besage wenig, denn die Nachbarländer seien i m herrschenden System gezwungen, der Bundesbank zu folgen. Dies hätten sie nicht immer freiwillig getan, und so sei zu bezweifeln, daß i n der EZB das gleiche Verhalten zu beobachten sein werde, wie das von einigen Ländern i n den vergangenen Jahren. Hoff mann lehnt den Gedanken ab, die deutschen Wertvorstellungen als Maxime für Geldwert und Geldmengensteuerung für ganz Europa durchzusetzen. Man müsse sich auf eine ganz bestimmte Politik einigen und diese Politik dann strikt durchhalten. Deutschland habe dabei nur eine Stimme von vielen. Bei der Frage, ob die EZB i n der Lage sein werde, die von ihr selbst einmal gesetzten Ziele auch durchzuhalten, ist Ho ff mann sehr optimistisch. Siebert stellt klar, er sei keineswegs ein Antieuropäer. Gerade deshalb gehe es i h m ja darum, der EZB den politischen Bruch zu ersparen, und deswegen benötige man eine institutionelle Regelung i n Form eines Stabilitätspakts. Man müsse Sorge u m die Funktionsfähigkeit dieses Systems haben, wenn ein solcher Stabilitätspakt, eine Selbstbindung der Länder i n Bezug auf die Finanzpolitik nicht vorläge. Dem unvermeidlich aufkommenden Druck könne die EZB dann nicht standhalten. Dumke weist darauf hin, daß es möglicherweise Konflikte geben könnte zwischen einem als sinnvoll betrachteten automatischen Fiskal-

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transfer und einer bestimmten Regelung, m i t der Budgetdefizite beschränkt werden. Schweickert erwidert, hier gelte, was vorher über E x cessive Deficits gesagt wurde. Die Beurteilung sei davon abhängig, was man als das normale Staatsdefizit ansieht.

T e i l n e h m e r v e r z e i c h n i s d e r 59. J a h r e s t a g u n g (wissenschaftlicher Teil)

Leiter der Tagung:

Lutz Hoff mann, Vorsitzender der ARGE

Mitgliedsinstitute: Berlin

Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) Georg Erber, Klaus-Peter Gaulke, Lutz Hoffmann, Ralf Messer (Generalsekretär der ARGE), Wolf gang Scheremet, Frank Stille, Herbert Wilkens

Berlin

Forschungsinstitut der IWVWW B. Wurm

Berlin

Osteuropa-Institut an der Freien Universität Berlin Manuach Messengießer

Bonn

I W G Bonn, Wissenschaftszentrum Adrian Ottnad

Essen

Rheinisch-Westfälisches Institut für Wirtschaftsforschung (RWI) U l l r i c h Heilemann, Hans Dietrich von Loeffelholz

Halle

Institut für Wirtschaftsforschung Halle (IWH) Vera Dietrich, Hubert Gabrisch, Rüdiger Pohl

Hamburg

HWWA-Institut für Wirtschaftsforschung Erhard Kantzenbach, W. Schaff, Hans-Ε. Scharrer

Kiel

Institut für Weltwirtschaft an der Universität K i e l (IFW) Alfred Boss, Rainer Schweickert, Horst Siebert

Köln

Institut der deutschen Wirtschaft Berthold Busch

Köln

Institut für Wirtschaftspolitik an der Universität zu K ö l n Juergen B. Dönges, Johann Eekhoff, Markus FredebeulKrein, Andreas Freytag, Christian Keller, Jörg Mallossek, Carolin Neriich, Angela Schürfeld, Jelena Stapf, Christian Watrin, Pia Weiß, Ralf Zimmermann

Mannheim

Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung Dietmar Starhoff

München

ifo-Institut für Wirtschaftsforschung Rolf Dumke, Wolfgang Ochel, K a r l Heinrich Oppenländer

Teilnehmerverzeichnis

239

München

Osteuropa-Institut München Hermann Clement

Nürnberg

GfK Nürnberg, Gesellschaft für Konsum-, M a r k t - und A b satzforschung Rolf Bürkl, Claudia Gaspar

Tübingen

Institut für Angewandte Wirtschaftsforschung Rolf Kleimann, Wolf gang Wiegard

Wiesbaden

Statistisches Bundesamt Hartmut Essig

Ministerien: Auswärtiges A m t Werner Hoyer, MdB Bundeskanzleramt Jochen Homann Bundesministerium für Wirtschaft Monika Maes-Baier, Michael Baron, Gerhard Fisch, Norbert Hoekstra, Ingrid Holm, Manfred Materne, Jürg Ter-Nedden, Hans-Dieter Unschel, Christian Zahn Bundesministerium der Verteidigung Thomas Richter Bundesministerium des Innern Ansgar Hollah Deutscher Bundestag Bernhard Krawietz Niedersächsisches Ministerium für Wirtschaft, Technologie und Verkehr, Hannover Ute Stahlmann Organisationen/

Universitäten: Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände Ottheinrich Frhr. von Weitershausen Deutsche Bundesbank Christine Gerberding Freie Universität Berlin, FB Politische Wissenschaften Martin Schulz Gemeinschaft zum Schutz der deutschen Sparer Dieter Schultes Geschäftsstelle des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung Iris Merten Universität Duisburg Dieter Cassel

15

240

Teilnehmerverzeichnis Universität Hamburg Gerold Krause-Junk Universität Hohenheim Ingo Schmidt Warsaw University of Technology Szymon Drabczyk Zentral verband des Deutschen Handwerks Rudolf Ridinger

Presse: Handelsblatt Patrick Welter manager magazin Thomas Fricke Wirtschaftswoche, Verlagsgruppe Handelsblatt Christian Schütte Private: Helene Gerschel Egon Neuthinger