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German Pages 301 Year 1994
Beihefte der Konjunkturpolitik Zeitschrift für angewandte Wirtschaftsforschung Applied Economics Quarterly
Heft 42
Wachstumsperspektiven in den neunziger Jahren Tagungsband zur Jahresversammlung der Arbeitsgemeinschaft deutscher wirtschaftswissenschaftlicher Forschungsinstitute e. V. im April 1994 in Bonn
Duncker & Humblot · Berlin
Wachstumsperspektiven in den neunziger Jahren
Zeitschrift für angewandte Wirtschaftsforschung Applied Economics Quarterly Heft 42
Wachstumsperspektiven in den neunziger Jahren Tagungsband zur Jahresversammlung der Arbeitsgemeinschaft deutscher wirtschaftswissenschaftlicher Forschungsinstitute e.V. im April 1994 in Bonn
Duncker & Humblot · Berlin
Die Zeitschrift Konjunkturpolitik wurde 1954 von Albert Wissler begründet.
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme [Konjunkturpolitik / Beihefte] Beihefte der Konjunkturpolitik : Zeitschrift für angewandte Wirtschaftsforschung. - Berlin : Duncker und Humblot. Früher Schriftenreihe Reihe Beihefte zu: Konjunkturpolitik NE: HST H. 42. Arbeitsgemeinschaft Deutscher Wirtschaftswissenschaftlicher Forschungsinstitute : Tagungsband zur Jahrestagung der Arbeitsgemeinschaft Deutscher Wirtschaftswissenschaftlicher Forschungsinstitute e.V. . . . 1994. Wachstumsperspektiven in den neunziger Jahren. - 1994 Arbeitsgemeinschaft Deutscher Wirtschaftswissenschaftlicher Forschungsinstitute: Tagungsband zur Jahrestagung der Arbeitsgemeinschaft Deutscher Wirtschaftswissenschaftlicher Forschungsinstitute e.V. . . . - Berlin : Duncker und Humblot (Beihefte der Konjunkturpolitik ; . . .) Früher Schriftenreihe NE: HST 1994. Wachstumsperspektiven i n den neunziger Jahren. - 1994 Wachstumsperspektiven in den neunziger Jahren : im A p r i l 1994 i n Bonn. - Berlin : Duncker und Humblot, 1994 (Tagungsband zur Jahrestagung der Arbeitsgemeinschaft Deutscher Wirtschaftswissenschaftlicher Forschungsinsitute e.V. . . . ; 1994) (Beihefte der Konjunkturpolitik ; H. 42) ISBN 3-428-08104-8 Schriftleiter: Herbert Wilkens Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 1994 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübername und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed i n Germany ISSN 0452-4780 ISBN 3-428-08104-8 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier gemäß der ANSI-Norm für Bibliotheken
Vorwort I n diesem Beiheft w i r d über den wissenschaftlichen Teil der 57. Mitgliederversammlung der Arbeitsgemeinschaft deutscher wirtschaftswissenschaftlicher Forschungsinstitute berichtet, die am 28. und 29. A p r i l 1994 i n Bonn stattfand und das Thema Wachstumsperspektiven
in den neunziger Jahren
zum Gegenstand hatte. Für die wissenschaftliche Vorbereitung der Tagung ist Klaus Lobbe (Essen) und Marlies Hummel (München) zu danken. Referate hielten Stefan Bach (Berlin), Alfons Barth und Wolfgang Klauder (Nürnberg), Johann Eekhoff (Bonn), M a r t i n Gornig (Berlin), Anneliese Herrmann (München), Bernd Hillebrand (Essen)*, Jens Horbach und M a r t i n Junkernheinrich (Halle), Marlies Hummel (München)*, Dieter Lösch und Eckhardt Wohlers (Hamburg), Henning K l o d t (Kiel), Manfred Neumann (Nürnberg), Rüdiger Pohl (Halle) und Klaus Dieter Schmidt (Kiel). Die Schriftleitung sowie die Zusammenfassung der Diskussionen besorgte Herbert Wilkens (Berlin). Die 58. Mitgliederversammlung soll am 11. und 12. M a i 1995 i n Bonn stattfinden und das Thema Wege aus der Arbeitslosigkeit behandeln. Berlin, i m August 1994 Lutz Hoffmann Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft
* Referat i n diesem Tagungsband nicht dokumentiert.
Inhalt
Erster Teil Fortentwicklung der Wachstumstheorie — neue Aufgaben für die empirische Wirtschaftsforschung und die Wirtschaftspolitik Manfred
Neumann
Wirtschaftswachstum durch Innovationen und Investitionen. Zusammenhänge und wirtschaftspolitische Perspektiven
11
Johann Eekhoff Fragen der Wirtschaftspolitik an die empirische Wirtschaftsforschung ... Zusammenfassung der Diskussion Martin
23 32
Gornig
Szenarien zur Entwicklung i n der Bundesrepublik Deutschland bis zum Jahr 2000
39
Alfons Barth und Wolfgang Klauder Arbeitsmarkttendenzen bis zum Jahr 2000. Ergebnisse auf Basis eines makroökonometrischen Modells
55
Zusammenfassung der Diskussion
84
Zweiter Teil Problemfelder der deutschen Wirtschaft in den neunziger Jahren Jens Horbach und Martin
Junkernheinrich
Wachstum i n den neuen Bundesländern: räumliche Entwicklungshemmnisse und -potentiale
93
Dieter Lösch und Eckhardt Wohlers Auswirkungen der Transformationsprozesse i n M i t t e l - und Osteuropa auf die deutsche Wirtschaft Zusammenfassung der Diskussion
131 173
8
Inhalt
Anneliese
Herrmann
Außenhandelspolitische Rahmenbedingungen nach der Uruguay-Runde Henning
177
Klodt
Deindustrialisierung als Wachstumsbremse? Zusammenfassung der Diskussion
199 214
Dritter
Teil
Optionen für die Wirtschaftspolitik Stefan Bach Wachstumspolitische Fragen der Steuerpolitik i n den neunziger Jahren . 223 Klaus-Dieter
Schmidt
Verschärfter weltwirtschaftlicher Strukturwandel und Arbeitsmarkt: Welche Optionen hat die Beschäftigungspolitik? 257 Zusammenfassung der Diskussion
273
Rüdiger Pohl Wirtschaftspolitik für die neuen Bundesländer
Teilnehmerverzeichnis
281
298
I. Teil
Fortentwicklung der Wachstumstheorie — neue Aufgaben für die empirische Wirtschaftsforschung und die Wirtschaftspolitik
Wirtschaftswachstum durch Innovationen u n d Investitionen Zusammenhänge und wirtschaftspolitische Perspektiven Von Manfred Neumann, Nürnberg
Zwischen Innovationen und Investitionen besteht ein enger Zusammenhang, und beide zusammen sind ausschlaggebend für wirtschaftliches Wachstum. I m Querschnitt der OECD-Länder kann gezeigt werden, daß die Wachstumsrate der Arbeitsproduktivität u m so höher ist, je größer die gesamtwirtschaftliche Sparquote ist (vgl. Neumann 1990, S. 77 f.) und daß die Wachstumsrate der totalen Faktorproduktivität u m so höher ist je größer die Investitionsquote ist (Grossman und Helpman 1994). Aus diesem Grunde stehen Innovationen und Investitionen zu Recht i m Vordergrund des Interesses, wenn es um die Frage der k ü n f t i gen Wirtschaftsentwicklung und ihrer wirtschaftspolitischen Beeinflussung geht. U m den Rahmen wirtschaftspolitischer Möglichkeiten abzustecken, bedarf es aber einer genaueren Analyse der Zusammenhänge sowohl i n langfristiger Perspektive als auch i n konjunktureller Hinsicht. M i t beiden Aspekten werde ich mich i m folgenden beschäftigen.
I. Die langfristige Entwicklung von Innovationen und Investitionen Tatsächlich hat sich der Prozeß der Innovationen und des daraus resultierenden Wachstums nicht stetig vollzogen, sondern unterlag Schwankungen kurzfristiger, d. h. konjunktureller, aber auch langfristiger Natur. Die Erfahrung der zurückliegenden Dekaden genügt, u m das zu verdeutlichen. Nach dem stürmischen Wirtschaftswachstum i n den ersten beiden Nachkriegsdekaden setzte i n den siebziger Jahren eine Verlangsamung des Produktivitätswachstums ein, und zwar weltweit, wenn auch i n den einzelnen Ländern i n unterschiedlichem Maße. Diese Abschwächung des Wachstums — i n manchen Ländern gar eine Stagnation der Produktivitätsentwicklung — wurde vielfach auf die dramatischen Ölpreissteigerungen der siebziger Jahre zurückgeführt. Diese
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Manfred Neumann
Erklärung greift aber w o h l zu kurz, denn vermutlich war die Ölpreiskrise selbst endogener Natur. Schumpeter hatte i n seinem Werk über die Konjunkturzyklen w i r t schaftliche Aufschwungsphasen durch ein schwarmweises Auftreten von Unternehmen begründet, die Innovationen durchführen, und w i r t schaftliche Stagnation und Niedergang durch das Ausbleiben unternehmerischer A k t i v i t ä t . So sehr diese Erklärung durch Anschaulichkeit besticht und deswegen auch wohl populär ist, so wenig kann sie letztlich befriedigen, denn das Auftreten oder Ausbleiben unternehmerischer Innovationen w i r d als deus ex machina eingeführt. Insoweit besteht überhaupt kein Unterschied zur alten , vielfach kritisierten neoklassischen Wachstumstheorie, i n der technischer Fortschritt wie Manna vom Himmel fällt — oder auch nicht. Daher ist dieser Ansatz wenig fruchtbar. I n einer Phase der Wachstumsschwäche kann das Ausbleiben von Innovationen nur beklagt werden, was zur Zeit ausgiebig geschieht, Ansatzpunkte zur Überwindung des beklagten Zustandes liefert die Schumpetersche Theorie aber nicht. Eine Abhilfe kann nur dadurch geschaffen werden, daß Innovationen als endogener Vorgang i n die Wachstumsmodelle eingebaut werden. Nur auf diese Weise lassen sich Ursachen der Innovationstätigkeit identifizieren und nur so können wirtschaftspolitische Ansatzpunkte gefunden werden. I n der Tat wurde die neoklassische Wachstumstheorie i n dieser Richtung weiterentwickelt. Während die alte neoklassische Wachstumstheorie allein die Angebotsseite durch eine Analyse der makroökonomischen Produktionsfunktion betrachtete, wurde i n der neuen Wachstumstheorie die Nachfrageseite m i t i n die Analyse einbezogen, so daß Marktgleichgewichte beschrieben werden, die durch wirtschaftspolitische Maßnahmen beeinflußt werden können.
II. Ein theoretisches Modell der neuen Wachstumstheorie 1. Endogener technischer Fortschritt
Der Markt w i r d als Selektionsmechanismus aufgefaßt, der auf ein Gleichgewicht h i n tendiert, i n dem unter gegebenen Rahmenbedingungen die jeweils besten Techniken überleben und die für die Konsumenten bestmögliche Versorgung realisiert wird. Unter den erwähnten Rahmenbedingungen spielen staatliche Vorgaben, Steuern und Subventionen, Wettbewerbspolitik und Regulierungen, eine wichtige Rolle. Der Evolutionsprozeß, der sich an den Märkten einer Volkswirtschaft ab-
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spielt, kann vom Ergebnis her als ein Maximierungskalkül interpretiert werden. Da man i n diesem Zusammenhang nicht daran interessiert ist, das Verhalten konkreter Individuen zu beschreiben, sondern die Eigenschaften des Ergebnisses von Marktprozessen zu analysieren, kann man die Konzeption eines repräsentativen Individuums verwenden, das den Nutzen der eigenen Familie maximiert. Die zu maximierende intertemporale Nutzenfunktion sei
ο wobei L die Größe der Familie angibt, ρ die Zeitpräferenzrate ist und für den Nutzen der einzelnen Periode die funktionale Form u(c) = c 1 _ e / (l-e) vorausgesetzt wird. Die Produktionstechnologie sei durch eine linear-homogene Produktionsfunktion Y=F(K, AL) beschrieben, i n der Y die Nettoproduktion (Bruttosozialprodukt minus Abschreibungen) bezeichnet, Κ den K a p i talstock und A einen Effizienzparameter, der durch Innovationen verändert werden kann. Die Produktionsfunktion soll die üblichen neoklassischen Eigenschaften aufweisen, also insbesondere durch positive, aber abnehmende Grenzproduktivitäten der Faktoren gekennzeichnet sein. Die Verwendungsgleichung der Nettoproduktion lautet Y = C + R + G + Κ . D a r i n ist C der private Konsum, G der staatliche Konsum, Κ sind die Nettoinvestitionen, und R sind Aufwendungen für Ausbildung, Forschung und Entwicklung. Es sei weiter angenommen, daß der Staatshaushalt ausgeglichen ist, so daß G = Τ ist, der staatliche Konsum — die einzigen Ausgaben des Staates i n diesem Modell — m i t den Steuereinnahmen übereinstimmt. Bezieht man alle Variablen auf AL, so erhält man bei Y /AL = f(x),x: = K/AL,c: - C/AL, die Nebenbedingungen χ - f(x) - Τ /AL
- r(a) - c - (n + a)x
À = aA
unter denen die intertemporale Nutzenfunktion zu maximieren ist. Angenommen w i r d dabei daß die Ausgaben für Ausbildung, Forschung und Entwicklung je Effizienzeinheit Arbeit, r(a), u m so größer sein müssen, je höher die angestrebte Zuwachsrate a des Effizienzparameters A ist. I m einzelnen sei r(0) > 0, r'(0) = 0 und r'(a) > 0, r"(a) > 0 für
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Manfred Neumann
alle a > 0. Steuern können entweder vom Einkommen oder vom Konsum erhoben werden. Bei einer Einkommensteuer mag Τ /AL = rf(x) sein. Die Lösung des Problems, die sich für den Fall einer Einkommensteuer i m Steady State-Gleichgewicht ergibt, kann durch die Gleichungen (1)
(1 - τ)/(χ) - r(a) -c-{n
(2)
(1 -τ)Γ{χ)-εα
(3)
[(1 - τ) f (χ) -η-a]
+ a)x = 0
=ρ r'(a) + r(a) - (1 - τ) [f(x)
- xf'(x)]
=0
beschrieben werden (vgl. Näheres i n Neumann 1990, S. 71 ff.), die i n der folgenden Figur dargestellt sind. I n der Figur w i r d die Gleichung (2) durch eine fallende X X ' - K u r v e beschrieben und die Gleichung (3) durch eine ansteigende AA'-Kurve. Die nutzenmaximierenden Werte x* und α* werden durch den Schnittpunkt dieser Kurven bestimmt. Läßt man die Steuern zunächst außer Betracht, so hängt die Lage des Optimums von der Zeitpräferenzrate ρ ab. Bei einer Zunahme der Zeitpräferenzrate verschiebt sich, wie i n Figur 1 a dargestellt, die XX'Kurve nach unten, so daß x* und α* abnehmen. Eine Zunahme der Zeitpräferenzrate führt also zu einer Verminderung der Rate des technischen Fortschritts und damit auch zu einer Verringerung der Wachstumsrate der Produktion. Der damit beschriebene Zusammenhang leuchtet unmittelbar ein: Die Produktionskapazität einer Periode w i r d zum Teil zur Produktion von Konsumgütern verwendet und zum anderen Teil zur Kapitalbildung und zwar i n Höhe der Nettoinvestition Κ zur Bildung von Sachkapital und durch die Aufwendungen R für Ausbildung, Forschung und Entwicklung zur Humankapitalbildung. Je höher die Nettoinvestition ist, u m so größer ist die Wachstumsrate des Sachkapitalbestandes, und je höher die Aufwendungen für die Humankapitalbildung sind, u m so großer ist die Rate des technischen Fortschritts. Beide Arten der Kapitalbildung konkurrieren m i t dem Konsum. Je stärker der gegenwärtige Konsum präferiert w i r d — weil die Zeitpräferenzrate hoch ist, um so geringer ist die Bereitschaft zur Kapitalbildung, und demzufolge ist sowohl die Wachstumsrate des Sachkapitalbestandes als auch die Rate des technischen Fortschritts geringer.
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(lb)
Figur 1
Bei einer Zunahme des Satzes τ der Einkommensteuer verschiebt sich, wie i n Figur l b dargestellt, die X X ' - K u r v e nach unten, während sich die A A ' - K u r v e nach oben verschiebt. Infolgedessen sinkt die Rate des technischen Fortschritts, während der Einfluß auf x* und damit auch auf den Realzins f'(x*) indeterminiert ist. Der negative Effekt auf die Rate des technischen Fortschritts beruht darauf, daß durch die Einkommensteuer der Anreiz zur Kapitalbildung vermindert wird. Das bezieht
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sich aber nur auf den technischen Fortschritt. Wie man aus Gleichung (2) sehen kann, w i r d das Grenzprodukt des Kapitals auch von der realisierten Fortschrittsrate beeinflußt. Je geringer diese ist, um so kleiner ist ceteris paribus das Grenzprodukt des Kapitals. Dieser Effekt steht dem die Kapitalbildung direkt hemmenden Einfluß der Einkommensteuer gegenüber, so daß der Gesamteffekt indeterminiert ist. Empirisch läßt sich ein negativer Effekt der Einkommensteuer auf die Rate des technischen Fortschritts klar nachweisen. Zur Illustration mag die folgende Graphik dienen, die i m Querschnitt der OECD-Länder für die Zeit von 1960 bis 1987 einen deutlich inversen Zusammenhang zwischen den Steuern auf Einkommen und Gewinn i n Relation zum BIP einerseits und der Zuwachsrate des realen BIP pro Erwerbstätigen zeigt.
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Steuern auf Einkommen und Gewinn (v.H. de· BIP)
Figur 2: Steuern und Wachstum der Arbeitsproduktivität 1960-1987 Quelle: OECD Historical Statistics 1960-1987, Paris 1989, S. 47; OECD Revenue Statistics 1965-1986, Paris 1987, S. 86 (Wachstumsrate: Durchschnitt 1960-1987; Steuern: Durchschnittswerte der Jahre 1965, 1970, 1975, 1980, 1985)
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Würde die Steuer auf den Konsum erhoben, so würde dadurch i n Figur 1 weder die Lage der X X ' - K u r v e noch die der A A ' - K u r v e berührt. Eine Konsumsteuer hat also i m Rahmen dieses Modells keinen Einfluß auf den technischen Fortschritt. 2. Lange Wellen wirtschaftlicher Aktivität bei endogener Zeitpräferenzrate
Anzunehmen ist nun, daß die Zeitpräferenzrate, durch die technischer Fortschritt und Wirtschaftswachstum beeinflußt wird, endogener Natur ist und vom jeweiligen Wohlstandsniveau bestimmt wird. Man kann diesen Zusammenhang als Gesetz vom abnehmenden Grenznutzen der Kapitalakkumulation bezeichnen. Je höher das durch Kapitalakkumulation erreichte Wohlstandsniveau ist, je höher der Konsum pro Kopf ist und für die Zukunft erwartet werden kann, u m so weniger dringlich erscheint eine zusätzliche Kapitalakkumulation zur weiteren Erhöhung des Konsums pro Kopf. Z u berücksichtigen ist dabei freilich einerseits, daß bei technischem Fortschritt der Kapitalstock pro Kopf und der Konsum pro Kopf ständig wachsen. Andererseits aber w i r d m i t steigendem Konsum pro Kopf auch das Anspruchsniveau der Menschen ständig zunehmen, denn technischer Fortschritt, an den man sich gewöhnt hat, w i r d extrapoliert. Trägt man diesen Zusammenhängen Rechnung, so kann angenommen werden, daß die Zeitpräferenzrate m i t der Größe des Kapitalstocks pro Effizienzeinheit Arbeit, also m i t x * , zunimmt; E i n solcher Einstellungswandel — oder Wertewandel — vollzieht sich vermutlich i n der Hauptsache i m Wechsel der Generationen. Eine i m Wohlstand aufgewachsene Generation w i r d eine höhere Zeitpräferenzrate haben als eine Generation, die i m Elternhaus Entbehrungen erfahren und die Notwendigkeit des Sparens erlebt hat. Der Zusammenhang zwischen Wohlstandsniveau und Zeitpräferenzrate manifestiert sich deshalb i n wirtschaftlichen Entscheidungen über Investitionen und Innovationen m i t einer durch die Abfolge von Generationen bedingten zeitlichen Verzögerung. Demgegenüber w i r k t sich die jeweilige Zeitpräferenzrate auf Kapitalbildung und technischen Fortschritt vergleichsweise schnell aus. Auf der Grundlage dieser Zusammenhänge läßt sich ein mathematisches Modell formulieren, nach dem Kapitalbildung und Innovationen Zyklen von verhältnismäßig langer Dauer durchlaufen (vgl. i m einzelnen Neumann 1990, S. 101 ff.).
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Manfred Neumann 3. Wertewandel
M i t dem Fortgang einer wirtschaftlichen Aufschwungsphase nimmt die Zeitpräferenzrate allmählich zu, und die Antriebskräfte der w i r t schaftlichen Entwicklung schwächen sich sukzessive ab, so daß sich das Wirtschaftswachstum verlangsamt und i n eine Stagnation einmünden kann. Da das Anspruchsniveau — i n Extrapolation der zurückliegenden Erfahrungen — weiter steigt, entsteht trotz objektiv höheren Konsumniveaus subjektiv das Gefühl des Mangels und der Entbehrung. Das wahrgenommene Wohlstandsniveau sinkt und allmählich sinkt auch die Zeitpräferenzrate, so daß sich eine neue Aufschwungsphase anbahnt. I n diesem Wechsel der Befindlichkeit, der sich i n den langen Wellen wirtschaftlicher A k t i v i t ä t manifestiert, ändern sich auch die Einstellungen gegenüber wirtschaftlichem Wachstum. M i t steigendem Wohlstandsniveau vermindert sich die wahrgenommene Dringlichkeit des Wirtschaftswachstum, und andere Ziele, wie das der sozialen Gerechtigkeit, treten i n den Vordergrund des Interesses. Man sucht das Erreichte zu sichern und neigt dazu, den Status Quo zu verteidigen. Die Bereitschaft, wirtschaftliche Wagnisse einzugehen, u m i n der Zukunft einen noch höheren Wohlstand zu erlangen, nimmt ab. Die Gewichtsverlagerung zugunsten sozialer Gerechtigkeit mag dazu führen, daß die Steuersätze erhöht werden, u m Umverteilungsmaßnahmen zugunsten weniger begüterter Bevölkerungskreise oder Subventionen zum Schutz bedrohter Wirtschaftszweige zu finanzieren. Soweit das durch eine Erhöhung der Einkommensteuersätze geschieht, ergeben sich wachstumshemmende Effekte Wachstumshemmende Effekte ergeben sich auch aus statischen Wohlfahrtsverlusten, mögen diese durch Steuern oder Subventionen bedingt sein, durch Außenhandelsprotektion oder durch Wettbewerbsbeschränkungen. Das liegt daran, daß statische Wohlfahrtsverluste wie eine Einkommensteuer wirken, indem sie das — für Investitionen i n Sachkapital und Humankapital — verfügbare Sozialprodukt gegenüber dem bei effizientem Faktoreinsatz möglichen Niveau reduzieren. Abgesehen davon, daß eine Zunahme der Zeitpräferenzrate an sich Kapitalbildung und Innovationen beeinträchtigt, treten durch daraus folgende w i r t schaftspolitische Maßnahmen wachstumshemmende Sekundäreffekte auf. E i n Prozeß des Wertewandels, wie er auf Grund des dargelegten Modells zu erwarten ist, war seit dem Ende der sechziger Jahre i n den westlichen Industrieländern — und möglicherweise auch darüber hin-
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aus — zu beobachten. Auch für eine Umkehr des Prozesses gibt es Anzeichen. Wirtschaftswachstum ist wieder auf der Agenda der W i r t schaftspolitik — auch der Wirtschaftstheorie — und das Interesse an Verteilungsfragen hat tendenziell abgenommen. Möglich ist freilich, daß die Zeitpräferenzrate i n den einzelnen Ländern i n unterschiedlichem Maße sinkt, so daß eine beginnende Aufschwungsphase i n den einzelnen Ländern zu unterschiedlich hohen Wachstumsraten führt.
m . Wirtschaftspolitische Perspektiven 1. Institutioneller Rahmen und politische Führung
Wirtschaftspolitisch w i r d es für Deutschland deshalb darauf ankommen, den sich nach meinem Eindruck seit den achtziger Jahren abzeichnenden Aufschwungstendenzen Raum zu geben und eine Senkung der gesellschaftlichen Zeitpräferenzrate zu fördern, mindestens aber einem vorzeitigen Wiederanstieg der Zeitpräferenzrate entgegenzuwirken. Das ist keine leicht zu erfüllende Forderung, denn ein Wertewandel, der sich i n Veränderungen der gesellschaftlichen Zeitpräferenzrate zeigt und i n Veränderungen der Kapitalbildung und des technischen Fortschritts manifestiert, erfaßt alle Kreise der Bevölkerung, nicht nur private Sparer und Investoren, sondern ebenso die Politiker. Gleichwohl besteht Raum für politische Führung. Da die gesellschaftliche Zeitpräferenzrate Resultat individueller Einstellungen ist, w i r d sie niedrig sein, wenn jene Individuen Chancen zur Verwirklichung ihrer wirtschaftlichen Vorhaben erhalten, deren Zeitpräferenzrate niedrig ist, die zukunftsorientiert handeln und bereit sind, Risiken zu übernehmen. Politische Führung durch diejenigen, die die Zusammenhänge durchschauen, muß daher i n erster Linie darin bestehen, wirtschaftliche Rahmenbedingungen zu schaffen, die für unternehmerische Tätigkeit förderlich sind, Bedingungen zu schaffen, die Kapitalbildung und Innovationen begünstigen. Bedauerlicherweise beobachtet man, daß angesichts der nur schleppenden Erholung der deutschen Wirtschaft aus der konjunkturellen Rezession das Verlangen nach sozialer Gerechtigkeit vermehrt artikuliert wird. Obgleich langfristig vermutlich — nach dem Gesetz vom abnehmenden Grenznutzen der Kapitalakkumulation — eine Phase wirtschaftlicher Schwierigkeiten zur Senkung der gesellschaftlichen Zeitpräferenzrate beiträgt u n d damit Kapitalbildung begünstigt, können wirtschaftspolitische Weichenstellungen verzerrend wirken. A l l z u 2*
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groß ist die Versuchung, u m kurzfristiger Wahlerfolge w i l l e n langfristige Chancen aufs Spiel zu setzen. 2. Am aktuellen Rand
Tatsächlich erzeugt eine Verminderung der gesellschaftlichen Zeitpräferenzrate eine konjunkturell kritische Situation. Eine m i t der Senkung der Zeitpräferenzrate einhergehende Zunahme der Sparquote bedeutet, daß Konsumnachfrage ausfällt. Gäbe es vollkommene Voraussicht und stets ein gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht, so würde die entstehende Lücke i n der Nachfrage nach Konsumgütern durch eine vermehrte Nachfrage nach Investitionsgütern kompensiert werden. Bei unvollkommener Voraussicht jedoch werden viele Unternehmer die zunächst eintretende Nachfragelücke zum Anlaß nehmen, sich bei Investitionen Zurückhaltung aufzuerlegen und stattdessen liquide Anlagen zu bevorzugen. Die erhöhte Liquiditätsneigung kann, wie Keynes i n den dreißiger Jahren zu Recht feststellte, ein Sinken des Zinses verhindern und damit die Investitionstätigkeit hemmen. I n der Tat ist der Realzins, wie er sich für das verarbeitende Gewerbe, dessen Preise eher sinken als steigen, darstellt, zur Zeit m i t rund 6 % sehr hoch. Einer erhöhten Liquiditätsneigung, die sich u. a. i n einer verstärkten Haltung von Geld und geldnahen Vermögenstiteln zeigt, kann die Zentralbank durch eine expansive Geldpolitik erfolgreich begegnen. M. E. sollte sich die Bundesbank deshalb auch nicht aus der Konjunkturpolit i k völlig verabschieden. Faßt man diese Zusammenhänge ins Auge, so w i r d klar, daß w i r uns gegenwärtig i n einer Lage befinden, die große Ähnlichkeit m i t der Situation der dreißiger Jahre besitzt. Es ist strittig, welche Rolle das Sparen spielt, ist es eine Tugend oder eher von Nachteil? Strittig sind auch die Ursachen der Arbeitslosigkeit, ist sie struktureller oder konjunktureller Natur? I n nicht unerheblichem Ausmaß ist die Zunahme < der Arbeitslosigkeit sicher konjunktureller Natur. Schwerwiegender als die konjunkturellen sind jedoch die langfristigen und strukturellen Probleme. Vorrangig ist deshalb die Aufgabe, wirtschaftliche Rahmenbedingungen zu schaffen, die Innovationen und Investitionen begünstigen. Ist das Wachstumsklima gut, lassen sich auch konjunkturelle Probleme leichter lösen.
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IV. Schluß Die deutsche Wirtschaft befindet sich also i n einer kritischen Phase, i n der — zumal i n einem Jahr m i t vielen Wahlen — politische Weichenstellungen von größter Bedeutung sind. Einerseits gibt es Anzeichen dafür, daß nach der Verlangsamung des Wirtschaftswachstums i n den siebziger und achtziger Jahren das Gesetz vom abnehmenden Grenznutzen der Kapitalakkumulation Geltung verschafft und zu einer Senkung der gesellschaftlichen Zeitpräferenzrate führt, so daß der Boden für eine neue Wachstumsphase bereitet ist. Andererseits schafft die jüngste Rezession politische Versuchungen, das Blatt durch kurzatmige Maßnahmen der Wirtschaftspolitik und einen Rückfall i n Verteilungskämpfe zu wenden. Hinzu kommen Äußerungen zahlreicher Bedenkenträger, die häufig unter Berufung auf ökologische Aspekte sich gegen Neues sperren und dem Status Quo das Wort reden oder gar einem nostalgisch verklärten Status Quo Ante nachtrauern. Gleichwohl möchte ich m i t der Prognose schließen, daß sich die Welt vor einer neuen Aufschwungsphase befindet, und die Hoffnung zum Ausdruck bringen, daß Deutschland daran i n vorderer Front teilnimmt.
Literatur Grossman , Gene M. / Helpman, Elhanan: Endogenous Innovation i n the Theory of Growth, Journal of Economic Perspectives 8, 1994, 23-44 Neumann, Manfred: Zukunftsperspektiven i m Wandel. Lange Wellen i n W i r t schaft und Politik, Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck), 1990 Schumpeter, Jospeh Α.: Business Cycles, New York 1939 (deutsch: K o n j u n k t u r zyklen, Göttingen 1961)
Fragen der Wirtschaftspolitik an die empirische Wirtschaftsforschung Von Johann Eekhoff, Bonn Für die wissenschaftliche Beratung der Wirtschaftspolitik besteht i n Deutschland ein guter institutioneller Rahmen. Seit 1963 gibt es das Gesetz über die Bildung des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung. Danach hat der Sachverständigenrat mindestens einmal jährlich die gesamtwirtschaftliche Lage und die absehbare Entwicklung zu untersuchen und darzustellen, wie die Ziele des „magischen Vierecks" erreicht werden können. Beim Bundeswirtschaftsministerium besteht ein wissenschaftlicher Beirat, der autonom wirtschaftspolitische Themen aufgreift und Gutachten vorlegt, die jeweils veröffentlicht werden. Inzwischen gibt es sechs wirtschaftswissenschaftliche Forschungsinstitute, die von der Bundesregierung und dem jeweiligen Sitzland gefördert werden. Diese Institute decken ein breites Forschungsfeld ab, befassen sich m i t aktuellen wirtschaftspolitischen Fragen und legen zweimal i m Jahr eine Gemeinschaftsprognose zur wirtschaftlichen E n t wicklung vor. Zwischen dem Bundeswirtschaftsministerium und elf Forschungsinstituten bestehen grundsätzliche Vereinbarungen — die sog. Rahmenvereinbarung — zur Bearbeitung von Forschungsaufträgen und über die finanzielle Abgeltung. Generell werden die Forschungsaufträge des Ministeriums ausgeschrieben, so daß sich alle Forschungseinrichtungen daran beteiligen können. Diese breite Forschungs- und Beratungsinfrastruktur sichert einen Ideenwettbewerb. Sie gibt die Grundlage für längerfristig angelegte Forschungsarbeiten, die nicht vom aktuellen Tagesgeschehen bestimmt werden, und sie sichert den Wissenschaftlern und Instituten ein Höchstmaß an wissenschaftlicher Freiheit. Selbstverständlich bieten auch die Universitäten und Fachhochschulen eine breite Basis, insbesondere für die Forschung.
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Kontakte zwischen empirischer Wirtschaftsforschung und Politik intensivieren M i t dem beschriebenen institutionellen Rahmen sind viele Kontakte zwischen Wissenschaft und Politik fest programmiert. Dadurch w i r d der Informationsaustausch wesentlich erleichert. Allerdings ist darauf zu achten, daß es nicht zur Routine und zu Ritualen kommt. So hat nach meinem Geschmack der „Schönheitswettbewerb" zwischen den Instituten anläßlich der Frühjahrs- und Herbstprognosen zur wirtschaftlichen Entwicklung einen zu hohen Stellenwert. Der Streit darüber, welches Institut aus welchen Gründen das Wachstum um einen halben Prozentpunkt höher oder niedriger einschätzt und vor allem wer sich i n der Vergangenheit aus welchen Gründen verschätzt hat, dient manchmal nicht nur dem Erkenntnisfortschritt. Ich würde es begrüßen, wenn die Gemeinschaftsdiagnosen mehr über Möglichkeiten zur Verbesserung der wirtschaftlichen Situation aussagen würden — auch wenn die Medien häufig nur die Prognosezahlen aufnehmen. E i n zweites Anliegen besteht darin, daß die Forschungsinstitute noch stärker auf die Politik zugehen könnten. Insbesondere i n aktuellen wirtschaftspolitischen Fragen könnte noch mehr von unmittelbaren Arbeitskontakten m i t den Ministerien Gebrauch gemacht werden. Über eine „Brain-storming-Runde" kann manchmal mehr i n Entscheidungsprozesse eingebracht werden als über Gutachten, die sich nur schwer zeitlich richtig einpassen lassen. E i n Vereinnahmen von Instituten oder Wissenschaftlern durch die Ministerien ist nicht zu befürchten.
Themenumfrage im Bundesministerium für Wirtschaft Eine Kurzumfrage i m Bundesministerium für Wirtschaft nach Fragen an die Wissenschaft zu wirtschaftspolitischen Problemen ergab folgende Nennungen: — Gewicht verschiedener Einflußgrößen auf die Beschäftigung, — wirtschaftspolitische Strategien und Szenarien für den Abbau von Arbeitslosigkeit, insbesondere über Konjunkturzyklen hinaus (Sokkelarbeitslosigkeit), — Zusammenhänge zwischen Ökologie und Ökonomie einschließlich Handel, — Grenzen der makroökonomischen K o n j u n k t u r - und Wachstumsmodelle,
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— Möglichkeiten für einen gesellschaftspolitischen Konsens für eine (differenzierte) Lohnbildung, — plausible Darstellung der Zusammenhänge zwischen Gewinnen, I n vestitionen und Beschäftigung, — bessere Vergleichbarkeit internationaler wirtschaftsrelevanter Daten, — Probleme der getrennten Darstellung der wirtschaftlichen E n t w i c k lung i n West- und Ostdeutschland noch über mehrere Jahre, — Wege zum Abbau der Staatsverschuldung und zur Einhaltung des Maastricht-Kriteriums, — gesamtwirtschaftliche Wirkungen einer Verbilligung des Faktors Arbeit — kurz- und mittelfristig, — wirtschaftliche Ungleichgewichte und Konfliktpotentiale zwischen Ländern auf verschiedenen Entwicklungsstufen. A u f ein besonderes Problem wurde mehrfach hingewiesen: Für die Bearbeitung von Forschungsprojekten werden immer mehr Befragungen durchgeführt. Daraus ergibt sich ein K o n f l i k t m i t dem Ziel, die Unternehmen und die übrige Wirtschaft möglichst von statistischen Aufgaben freizuhalten bzw. den statistischen Befragungsaufwand zu verringern. Es stellt sich die Frage, ob solche Umfragen zwischen den Instituten nicht besser koordiniert und dadurch erheblich eingeschränkt werden könnten. Vielfach dürfte es hilfreich sein, zuerst die theoretischen Möglichkeiten und das vorliegende Datenmaterial auszuschöpfen sowie eine genaue Vorstellung darüber zu entwickeln, welche empirischen Zusatzinformationen w i r k l i c h einen wesentlichen Beitrag zur Beantwortung der relevanten Fragen oder zur Verbesserung der Entscheidungsgrundlagen leisten können. I n manchen Fällen w i r d sich herausstellen, daß einzelne Befragungsergebnisse unerheblich für die zu treffenden Schlußfolgerungen, für Handlungsempfehlungen sind. Ich gehe davon aus, daß sich die Arbeitsgemeinschaft dieser Frage i n nächster Zeit m i t Nachdruck zuwenden w i r d und angemessene Lösungen empfehlen bzw. vorlegen wird.
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Konzepte der Wettbewerbsfähigkeit und wirtschaftspolitische Folgerungen I m Bericht der Bundesregierung zur Zukunftssicherung des Standortes Deutschland, i m Weißbuch der Europäischen Kommission, i n Reden und Aufsätzen taucht immer wieder der Begriff der Wettbewerbsfähigkeit auf. Es w i r d davon gesprochen, die Wettbewerbsfähigkeit der Europäischen Union bzw. ihrer Mitgliedstaaten gegenüber den USA, Japan und anderen asiatischen Ländern müsse gestärkt werden, d. h. die Exportfähigkeit müsse verbessert und der heimische M a r k t dürfe nicht den ausländischen Unternehmen überlassen werden. Als Maßnahmen werden vorgeschlagen oder praktiziert: Selbstbeschränkungsabkommen (ζ. B. Automobile), Industriepolitik, strategische Allianzen, Wechselkurspolitik, Sicherung von „home-markets", Schutz vor unfairem Wettbewerb (Anti-Dumping), Zusammenschluß i n Handelsblöcken. Eine andere Wettbewerbskonzeption bezieht sich auf die Unternehmen statt auf Nationen bzw. Handelsblöcke. Ziel ist es, die Wettbewerbsfähigkeit nationaler Unternehmen zu stärken. Als Maßnahmen werden praktiziert und diskutiert: Umschulungsu n d Forschungsförderung, Investitionshilfen, Wettbewerbshilfen, E x portförderung u. a. m. Schließlich w i r d darüber gesprochen, die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands bzw. der E U als Standort für Investitionen inländischer und ausländischer Kapitalanleger und Unternehmen zu verbessern. Man könnte auch sagen, die Wettbewerbsfähigkeit der Arbeitnehmer solle gestärkt werden. Die Engpaßfaktoren sind Unternehmer und Investitionen. Es zeigt sich schon deutlich, daß unter dem Begriff Verbesserung des Standortes sehr unterschiedliche Konzepte verstanden werden. Der Bericht zur Zukunftssicherung des Standortes Deutschland befaßt sich sehr intensiv m i t einer Palette von Maßnahmen, die u. a. durch Lohnmoderation und -flexibilität, flexible Arbeitszeiten, Ausbildung, Senkung der Abgabenlast schwerpunktmäßig thematisiert sind. Üblicherweise bezieht man den Begriff Wettbewerbsfähigkeit auf einzelne Unternehmen. Die Frage ist aber, ob hier auch der Ansatzpunkt für die Wirtschaftspolitik liegen sollte. Meines Erachtens lohnt es sich, den Wettbewerbsbegriff genau abzugrenzen und zu überlegen, welches
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Wettbewerbskonzept für die Ziele der Unternehmen u n d welches für die Ziele des Staates geeignet ist.
Globalisierung Der weltweite Warenaustausch w i r d seit langer Zeit als selbstverständlich angesehen. Die Mobilität von K a p i t a l hat immer stärker zugenommen. I n den letzten Jahren hat sich auch der Austausch von Dienstleistungen erheblich verstärkt. Hinzu kommt eine Entwicklung, auch die Produktion eines Unternehmens verstärkt unter internationalen Aspekten zu sehen. Nicht nur die Großkonzerne, also die traditionellen „global players", sondern zunehmend auch mittelständische Unternehmen können daher heute weltweit Produktionsstandorte für neue Betriebsstätten i n ihre Überlegungen einbeziehen. Viele Länder stellen sich auf diese Entwicklung ein und versuchen, Investoren zu attrahieren, ζ. B. durch Investitionsschutzabkommen, Förderangebote, Joint ventures. I n vielen Fällen gibt es i n diesen Ländern Arbeitnehmer mit einem hohen Ausbildungsniveau bzw. der Bereitschaft, sich innerhalb kurzer Zeit zusätzliche Kenntnisse und Fähigkeiten anzueignen. Die moderne Kommunikationstechnik und die Miniaturisierung von Produkten erlauben den Unternehmen immer stärker eine weltweite Diversifizierung der Produktionsstandorte und damit auch eine marktnahe Präsenz vor allem i m Service-Bereich. Die Öffnung der Grenzen nach Osten zur bisher weitgehend versperrten „Zweiten Welt" und das hohe Wirtschaftswachstum i n vielen Ländern der „ D r i t t e n Welt", insbesondere i m asiatischen, aber auch i m südamerikanischen Raum, beschleunigen die Globalisierungstendenzen. Einige der alten Industrieländer bzw. einige Gruppen i n diesen Ländern empfinden diese Entwicklung als Bedrohung und rufen nach Schutz durch staatliche Maßnahmen. Welche Konsequenzen ergeben sich aus diesen Entwicklungen für Deutschland und Europa? K o m m t es zu einer starken Angleichung des Lohnniveaus (Faktorpreisausgleichstheorem)? Muß das Tempo des Strukturwandels gesteigert werden, und welche Folgen ergeben sich daraus für die Arbeitnehmer (Flexibilität, Fortbildung), für die Unternehmen (Wachstum und Schrumpfung bis zur Betriebsaufgabe versus interner Strukturwandel) und für die Wirtschaftspolitik (Zwang zum Abbau von Erhaltungssubventionen, Stärkung des Wettbewerbs, Abbau
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von Flexibilitätshindernissen)? Wo ist m i t Fehlreaktionen und Schwierigkeiten zu rechnen? Welche Möglichkeiten haben die einzelnen Arbeitnehmer und die Staaten, ein hohes Einkommensniveau zu sichern und die Realeinkommen weiter zu steigern?
Vorteile aus internationalem Handel Die Grundthese, wonach der freie internationale Handel Vorteile für alle Beteiligten bringe, w i r d immer wieder i n Frage gestellt. Es w i r d behauptet, die eigene Position könne durch eine strategische Handelsp o l i t i k verbessert werden. Einzelne Sektoren behaupten, sie seien einem unfairen Wettbewerb ausgesetzt oder sie brauchten einen vorübergehenden Schutz, u m neue Produkte entwickeln zu können. I n wirtschaftlichen Kripensituationen werden Dumpingvorwürfe i n allen Spielarten erhoben. Die jüngste GATT-Runde ist von den Gewerkschaften k r i t i siert worden, weil keine Klauseln gegen das sogenannte Sozialdumping aufgenommen wurden. Wie läßt sich der Vorteil aus internationalem Handel i n einfach nachvollziehbarer Form, an einfachen Beispielen erläutern, so wie ζ. B. zwischen zwei autonomen privaten Haushalten oder Betrieben — i m realen Bereich, also ohne die Komplizierung durch Geldströme und Wechselkursänderungen? Wo liegen die „Übersetzungsprobleme" für den Nachweis eines positiven Saldos: Verteilungsfragen, Differenzierung nach Sektoren und Fähigkeiten, Bedrohung von Marktpositionen, hohen Margen, zeitlichen Vorsprüngen auf der Negativseite — Expansionschancen, neue Berufe, Ausbau vorhandener Spezialiserungsvorteile und insbesondere Kostensenkung für Produzenten u n d Konsumenten auf der Positivseite?
Strukturwandel und Sockelarbeitslosigkeit infolge von Konjunkturzyklen Europaweit ist bereits über mehrere Konjunkturzyklen hinweg ein deutlicher Anstieg der Sockelarbeitslosigkeit zu beobachten, d. h. die Arbeitslosenquote geht i n der Aufschwungphase nicht wieder auf das Niveau zurück, das vor der Rezession bestand, sondern bewegt sich über die Konjunkturzyklen wellenförmig nach oben. Die Erklärungsmuster u n d damit auch die Folgerungen für die W i r t schaftspolitik gehen weit auseinander. Sie reichen von Thesen über eine
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zu geringe Gesamtnachfrage, über ein begrenztes Arbeitsvolumen bis h i n zu Thesen der zu weitgehenden Verrechtlichung und Verkrustung des Arbeitsmarktes und einer Überlastung der Beschäftigungsverhältnisse m i t Sozialabgaben und Steuern. I n Deutschland waren die Unternehmen i n den letzten Jahre gezwungen, sich an ein sehr hohes Kosten- und Abgabeniveau anzupassen. Sie haben das getan und t u n das noch, indem sie rationalisieren, die Produktionspalette ändern, Produktkomponenten bzw. Produkte i n anderen Ländern produzieren oder kaufen oder indem sie die Produktion einstellen. A u f diese Weise entsteht innerhalb weniger Jahre eine stark veränderte Produktionsstruktur m i t höherer Kapitalintensität und weniger Beschäftigten. Das Ergebnis für die Unternehmen ist die Sicherung oder Wiedererlangung der Wettbewerbsfähigkeit. Das Ergebnis für die Gesellschaft ist eine auf hohem Niveau verharrende Arbeitslosigkeit. I n den Tarifrunden kämpfen die Unternehmen dafür, bestehende Betriebe nicht zu gefährden. Die Frage ist aber, ob ein Anreiz besteht, für ein höheres Beschäftigungsniveau zu kämpfen. Müßten die Impulse für mehr Beschäftigung von Betrieben ausgehen, die es noch gar nicht gibt, die also erst bei einem geringeren Lohnniveau entstehen würden? Wer vertritt tatsächlich die Interessen der Arbeitslosen? Sind die Gewerkschaften praktisch gezwungen, auf Lohnerhöhungsforderungen der Beschäftigten einzugehen, bevor die Arbeitslosen eine Chance erhalten, wieder einen Arbeitsplatz zu erhalten? Sichert der Staat das Kartell der Beschäftigten gegen die Arbeitslosen ab, indem er das sogenannte Zusätzlichkeitskriterium bei der Beschäftigung von Sozialhilfeempfängern und von anderen Arbeitslosen i n Arbeitsmarktprogrammen akzeptiert? Welche sonstigen Hemmnisse erschweren den Arbeitslosen den Z u t r i t t zum normalen Arbeitsmarkt (zuwenig Einstiegstarife, Tarifstaffelung nach dem Alter)?
Wettbewerb versus Sicherheit auf dem Arbeitsmarkt Ähnlich wie auf dem Wohnungsmarkt w i r d meist argumentiert, der Arbeitsmarkt sei kein Markt, der m i t einem M a r k t für Kühlschränke oder Bananen verglichen werden könne. Vielmehr sei es notwendig, die Wirkungen von Angebot und Nachfrage durch soziale Regeln einzuschränken, ζ. B. durch Kündigungsschutzregeln, Arbeitszeitvorschriften und besondere Lohnvereinbarungen zwischen Tarifvertragsparteien.
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Läßt es sich rechtfertigen, daß der einzelne Arbeitnehmer seine Wochen· oder Jahresarbeitszeit nicht selbst m i t dem Arbeitgeber aushandeln darf? Warum sollte nicht der 35jährige Arbeitnehmer wie ein freiberuflich Tätiger 50 oder 55 Stunden arbeiten dürfen? Welche institutionellen Hindernisse stehen einer freien Wahl der Arbeitszeit entgegen? Warum w i r d befürchtet, daß der einzelne Arbeitnehmer zuwenig Urlaub, Kündigungsschutz, Lohnfortzahlung i m Krankheitsfall vereinbart, wenn er dies eigenverantwortlich aushandeln dürfte? Inwieweit könnten Standardverträge eine Hilfe sein? Inwieweit w i r d die Ausschöpfung des Arbeitskräftepotentials bzw. der Beschäftigungsmöglichkeiten durch gesetzliche, tarifrechtliche und sozialrechtliche Regelungen verhindert?
Zusammenhänge zwischen den sozialen Sicherungssystemen und der wirtschaftlichen Entwicklung I n der Vergangenheit sind sozialpolitische Entscheidungen weitgehend losgelöst von den wirtschaftlichen Rückwirkungen gefällt worden. Erst i m Zusammenhang m i t der vorgesehenen Pflegeversicherung wurde eine intensive Diskussion u m die sogenannte Kompensation geführt. Leider hat sich die Auseinandersetzung auf einen Nebenaspekt konzentriert; denn letztlich ist es unumgänglich, daß die Arbeitnehmer die Kosten tragen auch wenn keine Kompensation für den Arbeitgeberanteil beschlossen worden wäre. Eine echte Kompensation kann nur i n der Verringerung sozialer Leistungen an anderer Stelle sein. Dies ist der Kern der zu erwartenden Probleme aufgrund der demographischen Entwicklung. Dabei stellen sich viele Fragen, die unmittelbare Wechselbeziehungen zwischen Sozialsystemen und Wirtschaftsentwicklung betreffen: Wie lassen sich die sozialen Sicherungssysteme trotz der sich ändernden Altersstruktur so stabilisieren, daß sie die wirtschaftliche Basis und damit letztlich die Sozialleistungen nicht gefährden? Wie läßt sich die Eigenverantwortung wieder stärker mobilisieren? Welche Maßnahmen sind erforderlich, damit die Vorteile des privaten Eigentums sowohl bei der Vermögensbildung als auch bei der sparsamen Vermögensverwendung stärker für die Altersversorgung genutzt werden können? Wie lassen sich die Ausweichreaktionen aufgrund der hohen Abgaben auf Beschäftigungsverhältnisse und damit die Gefahr kumulativer Prozesse m i t ständig steigenden Beitragssätzen und sinkender Basis abbauen?
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Weitere Fragen Neben den hier angesprochenen Themen gibt es noch eine Reihe von offenen Fragen zu verständlichen Erklärungsmustern, die es erlauben, Kenntnisse über Zusammenhänge stärker i n die politische Diskussion einzuführen. So bestehen häufig sehr diffuse Vorstellungen über die Wirkungen einer Nachfragestärkung, also über staatliche Ausgabenprogramme verschiedener Art, über den Zusammenhang zwischen Erhaltungssubventionen und Mittelstandspolitik oder über die Wirkungen der europäischen Regionalpolitik. Es mangelt nicht an politiknahen Themen, m i t denen die Wirtschaftswissenschaftler sich befassen können. Der Reiz der Fragen liegt nicht nur darin, neue Erkenntnisse zu gewinnen, sondern auch die Voraussetzungen für eine rationale Wirtschaftspolitik zu verbessern.
Zusammenfassung der Diskussion Referate Neumann u n d Eekhoff Siebert wendet sich an Eekhoff: Er habe die Möglichkeit angesprochen, Ad-hoc-Gespräche zwischen Ministerien und Instituten zu führen, u m i m Vorfeld von Entscheidungen den Sachverstand' der Institute abzufragen. Das könnte aber möglicherweise negative Wirkungen haben. Es sei der Wissenschaft w o h l nicht dienlich, zu einem verlängerten A r m des Ministeriums zu werden. Die Wissenschaftler würden dann sehr früh i n die Entscheidung eingebunden werden. Sie brauchten aber i n der Regel ein bißchen Zeit, um kompliziertere Fragen zu reflektieren. Auch könne eine Verwischung der Verantwortlichkeit eintreten. Für die Wirtschaftswissenschaft könne es schwieriger werden, von einem neutralen Standpunkt aus ihrer Rolle gerecht zu werden und i n Unabhängigkeit — ohne Vorwegnahme all der politischen Schwierigkeiten — ein U r t e i l zu fällen. Kantzenbach geht auf die von Eekhoff aufgeworfene Frage der Sockelarbeitslosigkeit — und wie man diese bekämpfen könne — ein. Die Diskussion werde i n dieser Hinsicht oft einseitig geführt. Auch Kantzenbach ist der Ansicht, die von den meisten Ökonomen vorgetragen werde, daß nämlich der Arbeitsmarkt dereguliert werden müsse, u m die Beschäftigung zu erhöhen. Insbesondere blieben i m Konjunkturaufschwung diejenigen noch arbeitslos, deren Löhne nicht der Grenzproduktivität entsprechen. Dieses Problem müsse man aber i n einem größeren Zusammenhang sehen. M a n könne eine Deregulierung nur durchführen, wenn man die Konsequenzen der Einkommensverteilung, die damit verbunden sind, nicht voll durchschlagen läßt. Eine unabgefederte Deregulierung sei gesellschaftspolitisch nicht hinnehmbar. Er hält es deshalb für politisch ausgesprochen kontraproduktiv, wenn die Verteilungsdiskussion i n der Ökonomie diffamiert wird. Effizienzpolitik und Verteilungspolitik müßten Hand i n Hand gehen, u m i m produktiven Sektor größere Effizienz erzielen zu können. Z u dem von Neumann vorgetragenen Modell schlägt ein Teilnehmer zwei Ergänzungen vor: E i n erster Aspekt betrifft die steuerlichen Effekte. I n Neumanns Modell sei herausgekommen, daß eine Erhöhung des
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Einkommensteuersatzes eher dämpfend auf das Wachstum und den technischen Fortschritt w i r k t . Aber es müsse berücksichtigt werden, daß i n diesem Modell nur staatlicher Konsum berücksichtigt war. Staatliche Investitionen könnten jedoch, bei geschickter Anwendung, auch wachstumsfördernd wirken. Wenn die Einkommensteuer erhöht würde, u m sinnvolle staatliche Infrastrukturinvestitionen durchzuführen, könnte das möglicherweise zu einem positiven Wachstumseffekt führen. Denn wenn die staatlichen Investitionen allzu gering seien, wie es i n Ostdeutschland bislang der Fall war, werde auch das wirtschaftliche Wachstum gehemmt. Eine zweite Ergänzung betrifft die Betrachtung einer offenen Volkswirtschaft. Neumanns Modell sei auf eine geschlossene Volkswirtschaft h i n ausgerichtet gewesen. Eine Volkswirtschaft müsse aber den technischen Fortschritt nicht nur aus eigener Kraft bewältigen, sondern man könne auch technische Neuerungen oder K n o w - H o w importieren. Man könne ja von dem technischen Fortschritt i n anderen Ländern profitieren, indem man das eigene L a n d für Direktinvestitionen attraktiv macht, die den technischen Fortschritt hereinbringen. Diese Betrachtung der offenen Volkswirtschaft sei auch i n bezug auf den Nachfrageausfall wichtig, der zum Schluß angesprochen worden sei: wenn die Ersparnis anstiege, könnte das zu einem Nachfrageausfall führen, und dann würden die Unternehmen weniger investieren und liquide M i t t e l oder Terminanlagen halten. Das müsse aber nicht sein, denn wenn die inländische Nachfrage sich einmal abschwächt, könnte die Lücke durch zusätzliche Exporte geschlossen werden. Auch Gerstenberger geht auf das Modell von Neumann ein. Es habe sehr beeindruckt und es stimme i n seinen Folgerungen durchaus m i t empirischen Beobachtungen überein. E i n paar Punkte müsse man jedoch kritisch hinterfragen. Zunächst sei wieder m i t dem nutzenmaximierenden, repräsentativen Wirtschaftssubjekt gearbeitet worden. I n der Realität sei aber zu beobachten, daß i n einer Gesellschaft durchaus immer unterschiedliche Gruppen handeln, und auch Eekhoff habe dies berücksichtigt, indem er sagte, daß sich oft Verlierer und Gewinner gegenüberstünden. Es sei deshalb die Frage, ob man m i t der Hypothese vom repräsentativen Wirtschaftssubjekt w i r k l i c h empirisch relevante Aussagen treffen könne. I m hier untersuchten Zusammenhang stelle sich die Frage noch schärfer, weil tatsächlich die Unternehmer, die i m marktwirtschaftlichen Suchprozeß eine zentrale Rolle spielen, immer eine Minorität seien. Generell würde bei der Modellbildung die Tatsache zu wenig beachtet, daß es sich i n Wirklichkeit u m Ausnahmen handele. 3 Konjunkturpolitik, Beiheft 42
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Gerstenbergers zweite Bemerkung bezieht sich auf den Wertewandel, der i n Neumanns Modell praktisch eine Funktion der wirtschaftlichen und Wohlstandsentwicklung geworden sei. I n der Zeitpräferenz kondensierten sich die Wertvorstellungen. Die Frage sei aber, ob der Einfluß der Werte nicht zu variabel gesehen werde. Andere Ansätze machten ja gerade die Werte und die Wertestrukturen zum zentralen Erklärungsmuster für wirtschaftliche Entwicklungen. Schmidt wendet sich ebenfalls an Neumann: Er gehöre zu den älteren Jahrgängen, die die Ablösung eines Paradigmas durch ein sogenanntes neues schon öfter erlebt haben. Zur Zeit seiner ersten Gehversuche i n der ökonomischen Wissenschaft habe gerade der Übergang von der postkeynes'schen Wachstumstheorie zur neoklassischen stattgefunden. Vorher sei es auf die Investitionen angekommen, dann nicht mehr — bis man allenthalben merkte, daß man nicht ständig i m goldenen Zeitalter lebte, und die Investitionen doch wieder einführte. Neumann habe eine Bemerkung gemacht, über die er — Schmidt — ständig nachgrüble, seit es die „neue Wachstumstheorie" gibt: Nämlich, das Neue an dieser Theorie sei die Endogenisierung des technischen Fortschritts. Dem sei vielleicht insoweit zuzustimmen, daß das vielleicht bisher nicht i n formalisierter Form gelungen sei, aber auch i n der neoklassischen Wachstumstheorie sei ja der technische Fortschritt nicht vom Himmel gefallen: Man habe m i t dem Humankapital-Ansatz gearbeitet, m i t verschiedenen Arten von nicht-neutralen technischen Fortschritten, die über De-fakto-Preise endogenisiert wurden. So sei denn zu fragen, was eigentlich das w i r k l i c h Neue an diesem Ansatz sei und welche die politischen Implikationen. Aus dem Neumann-Modell würde man herleiten, man sollte die Ausgaben für Forschung und Entwicklung maximieren. Das erinnere an die Zeit der neoklassischen Wachstumstheorie, als die Einbeziehung des Humankapitalansatzes zu dem Schluß führte, es ginge darum, die Zahl der Schüler und Studenten zu maximieren. Pohl geht auf den von Eekhoff vorgelegten Katalog ein, der sehr beeindrukend gewesen sei und bei jedem Punkt die Frage provoziert habe, „Wer i n meinem Institut kann das machen?" Es sei jedoch eine andere Frage aufgekommen, als die Liste immer länger wurde. Hat es einen Mangel an Ideen gegeben zu all diesen Fragen? A l l die angesprochenen Fragen würden doch schon seit Jahren diskutiert. Z u jeder gebe es Positionen oder kontroverse Diskussionen. Sein Eindruck sei, daß man nicht so sehr m i t einem Mangel an Ideen zu kämpfen habe, sondern m i t der Umsetzung der Ideen.
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Eekhoff nimmt zu den Bemerkungen aus dem A u d i t o r i u m Stellung, indem er die einzelnen Punkte weitgehend zusammenfaßt. Zunächst die Anmerkung, es gebe keinen Mangel an Ideen: Er habe i m Grunde nur dazu beigetragen ein paar Ideen wieder aufzunehmen. Aber i h m komme es auf die wirtschaftspolitische Beratung an. I n der weiten Forschungslandschaft könne man alles lesen, was es an Ideen gibt, aber gefragt seien Aussagen für relevante wirtschaftspolitische Fragen, Aussagen, die wirtschaftlich fundiert sind und zusammenpassen. Man könne natürlich zu jedem Thema vier, fünf Ideen auflisten und feststellen, daß die eine genau das Gegenteil von der anderen sagt. N u n stünden die armen Politiker, die sich ζ. T. noch nicht einmal den Luxus erlauben könnten, sich intensiver m i t den Ideen der Forscher zu befassen, davor und fragten sich, wie sie damit fertig werden sollten. N u n könnten manche sagen, das sei ein Umsetzungsproblem. Das stimme auch zum Teil, aber oft würden die Aussagen, selbst wenn sie nach außen gemacht werden, nicht hinreichend präzisiert — so bei der Frage der Wettbewerbsfähigkeit. Oft müsse also erst einmal übersetzt werden. Daran liege i h m sehr viel. Es gelte, i n eine Situation hineinzukommen, i n der man nach einer längeren Diskussion, ζ. B. m i t den sechs Forschungsinstituten, nicht nur i n der Sache einig ist, sondern auch i n der Art, wie man das jemandem einigermaßen erklären kann, der bereit ist kurz zuzuhören. Diese Bereitschaft müsse man i n der Regel voraussetzen. Z u Sieberts Frage zur Politik-Beratung merkt Eekhoff an, er habe nicht die Sorge, daß die Wirtschaftsforschungsinstitute sich vereinnahmen ließen. Auch gebe das Vorgehen dazu gar keinen Ansatz: Vereinnahmung setze ja voraus, daß andere schon vorher das Ergebnis des Denk- und Diskussionsprozesses wüßten. Dieses Ergebnis müßte dann wohl schon öffentlich bekannt gemacht worden sein, damit jemand sagen könnte, an diesem oder jenem Punkt hätte sich jemand festgelegt und sich i n das Ministerium einbinden lassen. Er denke mehr daran, sich ohne Anwesenheit der Medien einmal zusammenzusetzen, um vielleicht drei bis vier Stunden ein Thema zu diskutieren. Die Forscher würden dann vielleicht wieder nach Hause gehen m i t dem Eindruck, die Politiker verstünden das alles nicht, aber man würde doch an der einen oder anderen Stelle ein bißchen weiterkommen m i t den Überlegungen, für die es dringenden Diskussionsbedarf gibt. Man werde i m übrigen immer das Problem haben, daß politische Entscheidungen getroffen werden, die bei einigen Wissenschaftlern Kopfschütteln hervorrufen. Entscheidungen auch, m i t denen Wissenschaftler nicht identifiziert werden wollten. Da sieht Eekhoff aber nicht 3*
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das Problem, sondern es liege i m Vorfeld, bei denjenigen, die die Papiere dafür schreiben, was empfohlen und gemacht werden soll. Für diese Ebene solle die gedankliche Klarheit etwas verbessert werden, ζ. B. dadurch, daß man die Entscheidungsstruktur deutlicher macht, daß man sich vielleicht etwas länger über die Wirkungen i n der zweiten und dritten Runde und nicht nur auf den ersten Blick unterhält. Z u m Thema Sockelarbeitslosigkeit u n d der Anmerkung von Kantzenbach erwidert Eekhoff, er hätte hierzu gerne noch einige Ausführungen gemacht. Vor allem Fragen zum Wettbewerb auf dem Arbeitsmarkt gelte es zu stellen. So stehe die Frage i m Raum, wem all die Wettbewerbshindernisse zugute kommen. Auch frage sich, wer denn tatsächlich die Interessen der Arbeitslosen vertritt. Z u m Problem der Einkommensverteilung stellt Eekhoff fest, er habe eher den Eindruck, i n den letzten Jahren sei die Verteilungsfrage viel zu sehr hochgespielt worden. Die meisten Probleme, die sich Deutschland eingehandelt habe, kämen daher, daß Verteilung gemacht worden sei, ohne die andere Seite anzuschauen. Dies sei eines der Themen, zu denen w i r k l i c h Diskussion notwendig sei, und zwar ohne Tabus auch auf Seiten der Politiker, die tatsächlich m i t vielen Tabus an das System herangingen. Neumann geht zunächst auf die Forderung ein, die öffentlichen Investitionen i n das Modell einzubeziehen. Damit habe er gar keine Probleme. Überhaupt sei sein Modell eher ein Anfang und zu vielen Ergänzungen fähig. Außerdem habe er es aus Zeitmangel nicht vollständig vortragen können. Allerdings könne man öffentliche Investitionsausgaben auf verschiedene Weise finanzieren, durch Einkommensteuern oder durch Konsumsteuern. Wenn man es durch Konsumsteuern machte, richte man weniger Schaden an als bei Finanzierung durch Einkommensteuer. Z u der Anmerkung über die offene Wirtschaft bemerkt er, auf diesem weiten Feld müsse sicher noch manches getan werden. Er arbeite selbst auf diesem Gebiet, aber nicht i m Rahmen dieses Modells. Z u der K r i t i k an der Reduktion des Modells auf das repräsentative rationale Individuum erwidert Neumann, man müsse sich klarmachen, daß ein Modell die Funktion hat, auf bestimmte Fragestellungen einzugehen und bestimmte Punkte herauszuarbeiten. Man könne die Welt nicht so abbilden, wie sie ist, so wie ein Geograph auch nicht die Landkarte 1 : 1 zeichne. Wenn man bestimmte Sachverhalte sehen wolle, müsse man schon Vereinfachungen vornehmen.
Zusammenfassung der Diskussion
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Die Idee des repräsentativen Individuums bestehe einfach darin, von der Voraussetzung auszugehen, der M a r k t sei ein Selektionsmechanismus. Dieser Selektionsmechanismus führe zum Survival of the Fittest, eine A r t Maximierungsproblem, das i m Evolutionsprozeß gelöst wird. Das sei durch ein mathematisches Modell abzubilden, m i t allen Problemen, die i n der Vereinfachung stecken. Die einfachste Form der A b b i l dung sei die Annahme der Nutzenmaximierung oder Gewinnmaximierung durch ein repräsentatives Individuum. Man könne das ohne Schwierigkeit erweitern. Haushalte, die sparen, maximierten ihren N u t zen. Unternehmer maximierten ihren Gewinn oder ihren Kapitalwert. Beides werde über den Kapitalmarkt zusammengeführt. Auch das sei i m Rahmen dieses Modells möglich gemacht worden. Er habe aber der Zeit wegen die einfachste und sparsamste Form vorgetragen. Z u dem Zweifel von Schmidt, was denn das Neue an der neuen Wachstumstheorie sei, erwidert Neumann, es sei das w i r k l i c h Neue, daß man das Prinzip verlassen habe, nur die makroökonomische Produktionsfunktion zu betrachten. Viele Erkenntnisse der heutigen neuen Wachstumstheorie seien bereits früher i n Ansätzen vorhanden gewesen. Heute interpretiere man aber diese normativen Vorstellungen auch i m Sinne einer positiven Theorie. Man betrachte das vom Standpunkt der mikroökonomischen Seite als Markt, und auf dem M a r k t handelten Leute so, daß Sie ihren Nutzen maximieren. Ob dabei Wachstum herauskommt, könne man den Märkten überlassen, das werde nicht vorgegeben. Deshalb stelle es sich als Mißverständnis heraus zu glauben, i n diesem Modell entstünde die Forderung nach einer Maximierung der Ausgaben für Forschung und Entwicklung. Die Idee, daß es einen optimalen technischen Fortschritt gibt, basiere darauf, daß der technische Fortschritt Kosten verursacht; Kosten für Forschungs- und Entwicklungsausgaben, aber auch Kosten insofern, als ein technischer Fortschritt nur auf dem Weg über Kapitalbildung realisierbar ist. Kapitalbildung verlange Konsumverzicht, sie sei nicht umsonst zu haben. Somit gebe es eine optimale Fortschrittsrate, und das sei keineswegs die maximale. Ihr Niveau resultiere vielmehr aus dem mikroökonomischen Entscheidungskalkül der Individuen, hier dargestellt durch das repräsentative Individuum. Das sei das eigentlich Neue an der neuen Wachstumstheorie. Die Endogenisierung des technischen Fortschritts sei nur eine Implikation dieses Prozesses. Es sei natürlich auch eine wichtige Entscheidung für künftiges Wachstum, welche Ausgaben man für Forschung und Entwicklung aufwendet und was dann daraus gemacht wird.
Szenarien zur Entwicklung i n der Bundesrepublik Deutschland bis zum Jahr 2000 Von M a r t i n Gornig, Berlin
1. Neue Anforderungen an das Prognoseinstrumentarium Die Verhältnisse i n Europa und vor allem auch i n Deutschland haben sich m i t dem Beginn der neunziger Jahre wesentlich geändert. Z u nennen sind i n diesem Zusammenhang insbesondere die Öffnung der Staaten M i t t e l - und Osteuropas und die Vereinigung Deutschlands. Nicht zu vernachlässigen sind aber auch die Herausforderungen durch die Vollendung des EG-Binnenmarktes und durch den technologischen und organisatorischen Wandel der Wirtschaft. I n einer solchen Situation sind begründete Vorstellungen über künftige wirtschaftliche und demographische Prozesse notwendiger denn je. Die Ausarbeitung gesamtwirtschaftlicher Prognosen gestaltet sich jedoch gerade i n der jetzigen Phase äußerst schwierig. Quantitative Vorausschätzungen basieren traditionell zumeist auf langen Zeitreihen. Diese bilden die Verhaltensmuster der Unternehmen und Haushalte ab und lassen mittels Trendfortschreibung oder ähnlicher Verfahren quantitative Abschätzungen der künftigen wirtschaftlichen Verhältnisse zu. E i n solches Vorgehen setzt allerdings voraus, daß die Rahmenbedingungen für die Akteure i m wesentlichen stabil sind und lange Reihen zur Wirtschaftsentwicklung vorliegen. Beides ist zur Zeit für Deutschland nicht gegeben. Zweifelsfrei gilt dies zunächst für Ostdeutschland. Die Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion und die spätere Eingliederung i n die Bundesrepublik hat i n Ostdeutschland zu völlig veränderten ökonomischen, rechtlichen und gesellschaftlichen Entwicklungsbedingungen geführt. Aus den E n t w i c k lungstrends i n der ehemaligen DDR lassen sich daher keine Rückschlüsse auf künftige Entwicklungen ziehen. Ebenso wenig möglich ist es, angesichts der völlig andersartigen Ausgangssituation unreflektiert bestimmte Verhaltensmuster aus Westdeutschland auf Ostdeutschland zu übertragen. Aber auch für Westdeutschland haben sich die Rahmenbe-
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dingungen der ökonomischen Entwicklung einschneidend verändert. Die sprunghafte Erhöhung der Staatsverschuldung oder die starke Zunahme der Bevölkerungszahl sind Beispiele hierfür. Es ist daher unerläßlich, über mögliche Trendbrüche, die sich aus solchen Veränderungen i n den Entwicklungsmustern ergeben, auch für Westdeutschland nachzudenken. Traditionellen Prognoseverfahren fehlt somit ihr wichtigstes Instrument: der „stabile Trend". Darüber hinaus zeichnen sich die traditionellen quantitativen Prognosetechniken häufig dadurch aus, daß zwar die binnenwirtschaftlichen Entwicklungsmuster sehr detailliert erfaßt werden, die außenwirtschaftlichen Beziehungen jedoch nur i n wenigen Aggregaten abgebildet werden. Die quantitative Bedeutung der außenwirtschaftlichen Beziehungen ist für Länder wie die Bundesrepublik sehr hoch und w i r d i m Zuge der Integrationsprozesse i n Europa und dem technologisch-organisatorischen Wandel eher noch zunehmen. So erreichten 1992 für die Bundesrepublik insgesamt die Importe und die Exporte jeweils einen Anteil von mehr als 22 v H an der Gesamtnachfrage. Bezogen auf die einzelnen Landesteile betrugen die Import- und Exportanteile an der Gesamtnachfrage sogar i n Westdeutschland 25 v H bzw. 30 v H und i n Ostdeutschland 55 v H bzw. 15 vH. Anpassungen und Ergänzungen des Prognoseinstrumentariums sind daher unerläßlich. Welcher A r t diese Modifikationen allerdings sein müssen und welches die erfolgversprechendsten Ansätze sind, ist noch unklar und w i r d sich erst nach einem längeren wissenschaftlichen Diskussionsprozeß entscheiden lassen. Das D I W hat i m Rahmen seiner mittelfristigen Projektionen, die als Baustein der Raumordnungsprognose i m Auftrag und i n Abstimmung m i t der Bundesforschungsanstalt für Landeskunde und Raumordnung erstellt wurden, vor allem m i t der Szenariotechnik gearbeitet. Hierbei werden die wesentlichen E n t w i c k lungsbedingungen alternativ gesetzt und auf deren Basis unterschiedliche wirtschaftliche Entwicklungspfade quantitativ beschrieben 1 . Für ein solches Vorgehen spricht, daß es für alle wichtigen E n t w i c k lungsfelder — sei es die technologische Entwicklung, die Entwicklung des Staatshaushaltes oder der Veränderungen i m Welthandel — i n der wissenschaftlichen Diskussion durchaus konkrete Vorstellungen gibt. Woran es i m Regelfall fehlt, ist die Gewichtung der einzelnen E n t w i c k 1 Vgl.: Görzig, B. / Gornig, M. / Schulz, E.: Quantitative Szenarien zur Bevölkerungs- und Wirtschaftsentwicklung i n Deutschland bis zum Jahr 2000. D I W Beiträge zur Strukturforschung, Heft 150, Berlin 1994.
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lungsprozesse u n d die konsistente Abstimmung der einzelnen Überlegungen. Für die Bewertung und Abstimmung der einzelnen Annahmen bietet sich als quantitatives Raster die Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung an. Durch den Bezug zu den jeweiligen Teilaggregaten lassen sich hier zunächst Vorstellungen zum Einfluß bestimmter Veränderungen auf die gesamtwirtschaftlichen Entwicklungstendenzen abgreifen. Gleichzeitig bietet die Einbindung i n das gesamtwirtschaftliche Kreislaufmodell die Möglichkeit, die Folgewirkungen eines Pakets unterschiedlicher Annahmen auf ihre Plausibilität h i n zu überprüfen. E i n wesentliches Glied der Projektionskette stellen die Interdependenzen zwischen den Entwicklungen der Stromgrößen der Sozialproduktsberechnung und den Sach- und Geldvermögensbeständen dar. I n das Szenarienmodell integriert ist das Bevölkerungsmodell des DIW. Anders als zumeist üblich w i r d die Bevölkerungsentwicklung hierbei nicht als exogene Größe behandelt, die als fest vorgegeben i n das wirtschaftliche Modell integriert wird. I m Gegenteil: I n einem iterativen Prozeß werden sowohl Wirtschafts- als auch Bevölkerungsentwicklung gemeinsam vorausgeschätzt. I m Mittelpunkt des Abstimmungsprozesses stehen die potentiellen Auswirkungen auf die Arbeitsmärkte. Die Quantifizierungen werden aufgrund der extrem unterschiedlichen Ausgangsbedingungen i m West- und Ostteil Deutschlands i n einem Zwei-Regionen-Modell vorgenommen. Die räumliche Abgrenzung w u r de i n der Weise vorgenommen, daß Ostdeutschland dem Beitrittsgebiet entspricht und Westdeutschland das frühere Bundesgebiet einschließlich des Westteils von Berlin umfaßt. Die Entwicklung i m jeweils anderen Teil w i r d entsprechend als exogene Einflußgröße i n der betrachteten Region wirksam. Dies gilt nicht nur für die realen Warenströme, Wanderungen oder Pendlerbewegungen, sondern auch für Transfers und Vermögensübertragungen. Der Prognosezeitraum erstreckt sich auf die Periode 1992 bis 2000.
2. Wichtige Entwicklungsfelder Das hier skizzierte Vorgehen verlangt i n besonderer Weise eine sorgfältige Betrachtung der Veränderung wichtiger Rahmenbedingungen der künftigen Wirtschaftsentwicklung. Was zu den wichtigen Rahmenbedingungen zu rechnen ist, kann allerdings aufgrund der Fülle möglicher Einflußgrößen i m Einzelfall unterschiedlich bewertet werden.
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Handhabbar ist eine quantitative Szenariotechnik jedoch nur, wenn man sich bei der Ausarbeitung des Rahmengerüsts auf einige Felder beschränkt. Auswahlkriterien für die hier durchgeführten Szenarien war, daß zum einen eine spürbare Veränderung der Rahmenbedingungen eingetreten bzw. absehbar ist, und zum anderen potentiell bedeutende ökonomische Folgewirkungen zu erwarten sind. Die konkrete Bewertung hängt dabei wesentlich vom Zeithorizont der Projektionen ab. Für die mittelfristigen Szenarien wurden hier vor allem folgende Felder betrachtet: — die Außenwanderungen der Bundesrepublik — die Integrationsprozesse i n Europa — die Fortentwicklung des Welthandels — der technologisch-organisatorische Wandel Bei den Konsequenzen z . B . der natürlichen Bevölkerungsentwicklung oder der Verstärkung des Umweltschutzes wurde dagegen davon ausgegangen, daß einschneidende Veränderungen erst nach der Jahrtausendwende wirksam werden. Auf mittlere Frist ist darüber hinaus die Integration Ostdeutschlands eine besondere wirtschaftspolitische Herausforderung. Inwieweit ein erfolgreicher wirtschaftlicher Neuaufbau i n den neuen Ländern gelingt oder nicht, beeinflußt dabei nicht unerheblich auch die Wachstumsperspektiven der deutschen Wirtschaft insgesamt. So besteht die Gefahr, daß durch die starken Belastungen des Staatshaushalts oder eine überzogene Orientierung der Wirtschaft und der Wirtschaftspolitik auf die Innenentwicklung die gesamtwirtschaftlichen Wachstumsspielräume eingeschränkt werden. Umgekehrt können sich aber auch durch Anstöße für eine Verbesserung privater und staatlicher Organisationsformen neue gesamtwirtschaftliche Entwicklungschancen bieten. Z u welcher Einschätzung man hier kommt, hängt entscheidend davon ab, ob und wann i n Ostdeutschland eine selbsttragende Wirtschaftsentwicklung i n Gang kommt. Dies w i r d wiederum letztlich vom Aufbau eines wettbewerbsfähigen Kapitalstocks und damit durch den Investitionsprozeß und seine Determinanten bestimmt. Anhaltspunkte über den Umfang der künftigen Investitionen i n Ostdeutschland liegen dabei i n vielen Feldern vor. Dies gilt beispielsweise für die Bundesunternehmen. Aber auch i m Bereich privater Unternehmen lassen sich auf der Basis von Treuhandinvestitionszusagen oder von Unternehmensbefragungen Vorstellungen über den Umfang des Investitionsprozesses gewinnen 2 .
Entwicklung i n der Bundesrepublik Deutschland bis zum Jahr 2000
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Auf dieser Grundlage sind vom D I W zwei unterschiedliche Investitionspfade für den Unternehmensbereich i n Ostdeutschland quantifiziert worden. I m ersten Fall des sogenannten Integrationsszenarios w i r d davon ausgegangen, daß das heute erreichte Investitionsvolumen i m Jahresdurchschnitt bis 2000 gehalten werden kann. I m zweiten sogenannten Stagnationsszenario w i r d dagegen eine starke Abnahme der Investitionen i n Ostdeutschland nach 1995 erwartet, so daß auch das Investitionsvolumen i m Jahr 2000 deutlich unter dem für 1994 erwarteten Niveau bleibt. Neben dem Investitionsprozeß sind zur Abschätzung der Auswirkungen auf Beschäftigung und Einkommen realistische Annahmen zur Lohnentwicklung erforderlich. Die Entwicklungen der jüngsten Zeit weisen darauf hin, daß sich zwar der Angleichungsprozeß an das westdeutsche Tariflohnniveau etwas langsamer gestalten wird. Dennoch dürften bis zur Jahrtausendwende die Tariflöhne i n den einzelnen Lohn- und Gehaltsstufen 100 v H des westdeutschen Vergleichswertes erreichen. Selbst dann w i r d jedoch aufgrund struktureller Unterschiede i m Arbeitskräfteeinsatz das durchschnittliche Tariflohnniveau vermutlich unter dem i n Westdeutschland bleiben. Zudem ist damit zu rechnen, daß sich die ostdeutsche Lohndrift eher am unteren Bereich westdeutscher Regionen orientieren wird. Unter Berücksichtigung der Annahmen zum Investitionsprozeß und zur Lohnentwicklung sind Simulationsrechnungen zur Entwicklung des Produktionspotentials durchgeführt worden, u m die Plausibilität der Größenordnungen für die Entwicklung von Investitionen, Löhnen und Beschäftigung i m Unternehmensbereich Ostdeutschlands bis zum Jahr 2000 zu überprüfen. I n beiden Szenarien zeichnen sich m i t dem Investitionsprozeß deutliche Steigerungen i m Produktionspotential und der Produktivität ab, wenn auch auf unterschiedlichen Entwicklungspfaden (vgl. Tabelle 1). I m Integrationsszenario schlägt sich der Investitionsprozeß i n einem Wachstum des Bruttoanlagevermögens von knapp 9 v H nieder. Da aufgrund des starken Anstiegs der Kapitalintensität allerdings die Kapitalproduktivität weiter sinken dürfte, wächst das Produktionspotential deutlich langsamer. Berücksichtigt man zusätzlich jedoch die Produktionsspielräume bei einer Anpassung des Auslastungsgrades an westdeutsche Größenordnungen bei Normalauslastung, dürften angebotsseitig Produktionszuwächse von mehr als 10 v H jähr2 Vgl. ζ. B. Treuhandanstalt (Hrsg.): Zentrales Controlling, Privatisierung Stand: 31.9.1993, Berlin 1993. Neumann, F: Investitionen i n den neuen Bundesländern bis 1994. In: Ifo-Schnelldienst, Heft 11 — 12/1993.
M a r t i n Gornig
Tabelle 1 Entwicklung des Produktionspotentials der Unternehmen1 in Ostdeutschland 2000 1992
1994
IntegrationsStagnationsszenario szenario in Mrd D M 2) [>zw. Mio Personen
Brut toa η lagevermögen Kapitalproduktivität Produktionspotential
463 0,50 232
512 0,47 241
919 0,43 399
813 0,35 287
Bruttowertschöpfung Auslastungsgrad in vH
166 72
183 76
363 91
262 91
Kapitalintensität Arbeitsplatzproduktivität Arbeitsplätze
76 38 6,1
91 43 5,6
1% 85 4,7
194 68 4,2
Erwerbstätige 3) Besetzungsgrad invH
4,7 77
4,6 82
4,6 98
4,1 98
Arbeitsproduktivität
35
40
79
64
Veränderung in vH zu 1992 4) Bru 11 oa η läge vermögen Kapitalproduktivität Produktionspotential
5,2 -3,1 1,9
8,9 -1,8 7,0
7,3 -4,3 2,7
5,0
10,3
5,9
Kapitalintensität Arbeitsplatzproduktivität Arbeitsplätze
9,8 6,4 -4,2
12,6 10,6 -3,2
12,4 7,6 -4,6
Erwerbstätige 3)
-1,1
-0,3
-1,7
6,1
10,6
7,7
Bruttowertschöpfung
Arbeitsproduktivität
in vH Westdeutschland 9 116 10
9 109 10
14 107 15
13 90 12
8
9
15
12
Kapitalintensität Arbeitsplatzproduktivität Arbeitsplätze
35 41 25
40 44 23
75 81 19
75 67 17
Erwerbstätige 3)
20
20
19
17
Arbeitsproduktivität
40
46
81
68
Bruttoanlagevermögen Kapitalproduktivität Produktionspotential Bruttowertschöpf ung
1) Unternehmen ohne Wohnungsvermietung.· 2) in ostdeutschen bzw. westdeutschen Preisen von 1991.- 3) auf Vollbeschäftigteneinheiten umgerechnet.· 4) Jahresdurchschnittliche Wachstumsrate. Quellen: Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung; Potentialrechnung und Szenarienmodell des PIW.
Entwicklung i n der Bundesrepublik Deutschland bis zum Jahr 2000
45
lieh i m Unternehmensbereich ohne Wohnungsvermietung möglich sein. I m Stagnationsszenario dagegen ist m i t knapp 3 v H eine vergleichsweise nur schwache Ausweitung des effizient einsetzbaren Produktionspotentials zu erwarten. Dennoch dürften auch hier von der Produktionsseite her bei einer Anpassung des Auslastungsgrades Produktionszuwächse von fast 6 v H möglich sein. I m Zuge der Erneuerung des Anlagevermögens w i r d es zu einer kräftigen Erhöhung der Kapitalintensität und der Arbeitsplatzproduktivität i m ostdeutschen Unternehmensbereich kommen. Bei den hier unterstellten Quantitäten dürfte sich i m ersten Szenario die Kapitalintensität gegenüber 1994 fast verdoppeln und die Arbeitsplatzproduktivität von etwa 45 v H 1994 auf rund 80 v H des Westniveaus i m Jahr 2000 erhöhen. I m zweiten Szenario erreicht die Arbeitsplatzproduktivität i m Jahr 2000 immerhin noch knapp 70 v H des westdeutschen Niveaus. Unter den günstigeren Bedingungen des Integrationsszenarios könnten damit zur Jahrtausendwende wieder etwa soviele Menschen i m ostdeutschen Unternehmensbereich Beschäftigung finden wie heute. I m Stagnationsszenario würde die Beschäftigung nur einen Umfang von knapp 4,1 Mio. Personen erreichen und läge damit u m mehr als 500 000 Personen niedriger als i m Integrationsszenario. Zusammengenommen machen diese Modellrechnungen deutlich, daß die wirtschaftliche Entwicklung i n Ostdeutschland i m Verlaufe der zweiten Hälfte der neunziger Jahre Schritt für Schritt an Eigendynamik gewinnen kann. Vor allem dann, wenn das gegenwärtige Investitionsvolumen i n seiner Größenordnung aufrechterhalten werden kann, ist zu erwarten, daß die Unternehmen i n Ostdeutschland um die Jahrtausendwende weitgehend wettbewerbsfähige Strukturen aufgebaut haben werden. Betrachtet man allerdings den Infrastrukturnachholbedarf oder die Notwendigkeit der sozialen Abfederung des Umstrukturierungsprozesses, bedeutet dies nicht, daß diese Entwicklung ohne Hilfestellungen möglich sein wird. Selbst unter den günstigen Bedingungen des ersten Szenarios geht es nicht um einen kurzfristigen Anschub, sondern u m die fördernde Begleitung des wirtschaftlichen Erholungsprozesses i n Ostdeutschland auf mittlere Frist.
3. Gesamtwirtschaftliche Entwicklungspfade Für die gesamtwirtschaftliche Entwicklung i n der Bundesrepublik stellt der Entwicklungsprozeß i n Ostdeutschland eine wichtige Kompo-
46
M a r t i n Gornig
nente dar. Der gesamtwirtschaftliche Wachstumspfad w i r d allerdings entscheidend auch von anderen Größen abhängen. Hierzu zählen vor allem die Veränderungen i m Welthandel und insbesondere die Auswirkungen der Integration i n Westeuropa und der Öffnung Osteuropas. E i n klares B i l d darüber ergibt sich hierzu noch nicht, zumal auch i m politischen Bereich noch viele Entscheidungen zur Konkretisierung der neuen Rahmenbedingungen anstehen. Die beiden bereits erwähnten Szenarien enthalten daher nicht nur unterschiedliche Annahmen zum Investitionsprozeß i n Ostdeutschland, sondern auch zu den E n t w i c k l u n gen der außenwirtschaftlichen Beziehungen und der Außenwanderungen. I m „Integrationsszenario" w i r d damit gerechnet, daß eine Sicherung und Weiterentwicklung des liberalen Welthandels gelingt und i n Osteuropa eine Stabilisierung der Wirtschaft einsetzt, die allmählich eine stärkere Einbindung dieser Länder i n den Welthandel ermöglicht. Die hiermit erfahrungsgemäß verbundenen Impulse lassen erwarten, daß die weltwirtschaftliche Dynamik überwiegend hoch ist. M i t der Besserung der wirtschaftlichen Lage i n den Ländern M i t t e l - und Osteuropas dürfte gleichzeitig der enorme Auswanderungsdruck leicht abnehmen. Entsprechend ist m i t einer abnehmenden Zahl von Zuzügen nach Deutschland zu rechnen. Das „Stagnationsszenario" ist dagegen eher durch weiterhin bestehende Behinderungen des Welthandels und starker Belastungen i m Zuge des wirtschaftlichen Umstellungsprozesses i n Osteuropa gekennzeichnet. Hier ist anzunehmen, daß dies auch negative Folgen für die wirtschaftliche Entwicklung weltweit besitzt. Stabilisierend auf die Wirtschaftsentwicklung w i r k t sich aber auch unter diesen Bedingungen der Integrationsprozeß i n Westeuropa aus. Der Einwanderungsdruck auf Deutschland w i r d angesichts der schlechten Wirtschaftslage i n M i t t e l - und Osteuropa sehr hoch bleiben. Für die Abschätzung der daraus resultierenden Wachstumsperspektiven für die Bundesrepublik nehmen Überlegungen zur internationalen Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft i m internationalen Handel eine zentrale Rolle ein. I n Verbindung m i t der schwierigen konjunkturellen Situation häufen sich hierbei i n jüngster Zeit wieder Zweifel an der Vorteilhaftigkeit Deutschlands als Produktionsstandort. Angeführt werden hierbei höhere staatliche Abgaben, stärkere Umweltschutzauflagen und engere Regulierungen i n wichtigen Forschungsfeldern wie ζ. B. der Gentechnologie. I n diesem Zusammenhang w i r d auch auf die Verschlechterung der preislichen Wettbewerbsfähigkeit der
Entwicklung i n der Bundesrepublik Deutschland bis zum Jahr 2000
47
deutschen Wirtschaft zu wichtigen westeuropäischen Konkurrenzländern verwiesen. M i t statistischen Kennziffern läßt sich freilich eine solche Diagnose kaum belegen, sieht man von dem teils konjunkturell, teils wechselkursbedingten stärkeren Anstieg der Lohnstückkosten i n letzter Zeit einmal ab 3 . Die Standortqualität und damit die internationale Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands läßt sich allein an Einzelindikatoren wie Lohn-, Steuer- und Abgabesätzen ohnehin nicht festmachen. Entscheidend ist letztlich die Effizienz des Gesamtsystems i m Preis- und Qualitätswettbewerb. Angesichts einer der bestentwickelten Infrastrukturen und eines breit gefächerten, hohen Qualifikationsniveaus der Beschäftigten ist eine gravierende und dauerhafte Verschlechterung der Wettbewerbsposition Deutschlands innerhalb Westeuropas nicht i n Sicht. Entsprechend muß auch der zu erwartende zusätzliche Konkurrenzdruck, der durch die Öffnung M i t t e l - und Osteuropas und durch den technologisch-organisatorischen Wandel entsteht, nicht nur als Gefahr für die heimische Produktion angesehen werden. Hier w i r d es durchaus Bereiche geben, i n denen deutsche Produzenten unter erheblichen A n passungsdruck geraten werden, aber auch solche, i n denen sich neue Entwicklungsperspektiven auftun. I n diesem Zusammenhang kann die räumliche Nähe zu den Staaten Mittel- und Osteuropas als Chance verstanden werden, durch die Nutzung des Bezugsmarktes Osteuropa die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft zu verbessern. Die außenwirtschaftlichen Herausforderungen der neunziger Jahre dürften damit insgesamt mehr i n der Notwendigkeit struktureller A n passungsprozesse bestehen und weniger der Ausdruck einer generellen Wettbewerbsschwäche der deutschen Wirtschaft sein. Es ist zu erwarten, daß bei einer Belebung der Weltkonjunktur deutlich positive Impulse auf die Wirtschaftsentwicklung i n Deutschland ausgehen. Unter diesen Bedingungen kann i m Integrationsszenario damit gerechnet werden, daß die deutsche Wirtschaft i m weiteren Verlauf der neunziger Jahre wieder einen hohen mittelfristigen Wachstumspfad erreicht (vgl. Tabelle 2). Die jahresdurchschnittlichen Zuwachsraten des Bruttosozialprodukts gegenüber 1992 könnten i n diesem Fall bis zum Jahr 2000 Werte von über 2,5 v H für Deutschland insgesamt erreichen. Insbesondere bei den Exporten und Importen liegen die jahresdurch3 Vgl. ζ. B. Stille u. a.: Strukturwandel i m Prozeß der deutschen Vereinigung. Analyse der strukturellen Entwicklung. DIW-Beiträge zur Strukturforschung, Heft 136, Berlin 1992.
48
M a r t i n Gornig Tabelle 2
Kennziffern der Wirtschaftsentwicklung in Deutschland bis zum Jahre 2000 2000
2000 1992
1994
Integrationsszenario
Stagnations-
1994
Integrationsszenario
szenario
in Mrd DM 1)
Stagnationsszenario
Veränderung in vH zu 1992 2) Deutschland
Privater Verbrauch Staatsverbrauch Anlageinvestitionen Unternehmen 3) Wohnungsbau Staat Lagerveränderungen Export Importe Bruttosozialprodukt
1645 573 679 418 180 81 -3
1632 571 668 384 206 78 -2
2002 620 849 486 261 102 20
1840 602 748 415 240 92 20
-0,4 -0.2 -0,8 -4,2 7,0 -1,9
2,5 1,0 2,8 1,9 4,8 2,9
1,4 0,6 1,2 -0,1 3,7 1,6
840 844
778 812
1223 1160
1087 1064
-3,8 -1,9
4,8 4,1
3,3 2,9
2891
2835
3554
3233
-1,0
2,6
1,4
Westdeutschland Privater Verbrauch Staatsverbrauch Anlageinvestitionen Unternehmen 3) Wohnungsbau Staat Lagerveränderungen
1452 481 571 346 162 63 -2
1436 479 532 296 177 59 -5
1700 530 684 388 220 76 15
1589 514 615 342 204 68 15
-0,6 -0,2 -3,5 -7,5 4,5 -3,2
2,0 1,2 2,3 1,4 3,9 2,4
1,1 0,8 0,9 -0,1 2,9 1,0
Export Importe
1054 877
1012 850
1462 1271
1320 1138
-2,0 -1,5
4,2 4,8
2,9 3,3
Bruttosozialprodukt
2681
2604
3119
2915
-1,4
1,9
1,1
Ostdeutschland Privater Verbrauch Staatsverbrauch Anlagei η vest i t ionen Unternehmen 3) Wohnungsbau Staat Lagerveränderungen
193 92 108 72 18 18 -1
196 92 136 88 29 19 3
302 90 165 98 41 26 5
251 88 133 73 36 24 5
0,8 0,0 12,2 10,6 26,9 2,7
5,8 -0,3 5,4 3,9 10,8 4,7
3,3 -0,6 2,6 0,2 9,1 3,7
Export Importe
74 256
77 272
166 294
122 280
2,0 3,1
10,6 1,7
6,4 1,1
Bruttosozialprodukt
210
231
435
318
4,9
9,5
5,3
1) In westdeutschen bzw. ostdeutschen Preisen von 1991.· Quellen: Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung;
2) Jahresdurchschnittliche Wachstumsrate.-
1994: DIW(1993d); 2000: Szenarienmodell des DIW.
3) Ohne Wohnungsbau.
Entwicklung i n der Bundesrepublik Deutschland bis zum Jahr 2000
49
schnittlichen Zuwächse sogar deutlich höher. I m Stagnationsszenario ist dagegen m i t einem deutlich niedrigeren mittelfristigen Wachstumspfad i n Deutschland insgesamt zu rechnen. Aufgrund der geringen außenwirtschaftlichen Impulse, aber auch i m Zuge stärkerer Umstrukturierungsprobleme der ostdeutschen Betriebe dürften die jahresdurchschnittlichen Wachstumsraten des Sozialprodukts zwischen 1992 und 2000 nur Werte von rund 1,5 v H erreichen. Betrachtet man die Entwicklung des Bruttosozialprodukts getrennt für West- und Ostdeutschland, ist i n den neuen Bundesländern auf mittlere Frist i n beiden Szenarien m i t einer deutlich höheren Wachstumsdynamik zu rechnen. Allerdings kommt i n den hohen Wachstumsraten von jahresdurchschnittlich gut 9 v H (Integrationsszenario) bzw. etwa 5 v H (Stagnationsszenario) i m wesentlichen eine Normalisierung der wirtschaftlichen Verhältnisse zum Ausdruck. So dürfte i m Integrationsszenario der Importanteil der Gesamtnachfrage von 55 v H 1992 auf 40 v H i m Jahr 2000 zurückgehen und damit schon fast Werte erreichen, wie sie für kleinere europäische Staaten durchaus üblich sind. I m Stagnationsszenario reduziert sich diese Relation bis zur Jahrtausendwende immerhin auf rund 45 vH. Quantitativ bedeutender für den gesamtwirtschaftlichen Wachstumsprozeß ist die Erholung der westdeutschen Wirtschaft. So w i r d i m Integrationsszenario erwartet, daß i m mittelfristigen Trend bis zum Jahr 2000 das Bruttosozialprodukt Westdeutschland u m jahresdurchschnittlich knapp 2 v H steigt. Umgekehrt ist i m Stagnationsszenario der niedrigere Wachstumspfad für Deutschland insgesamt vor allem durch eine vergleichsweise geringe Wachstumsdynamik i m früheren Bundesgebiet bestimmt. Allerdings dürften hierzu auch die stärkeren staatlichen Belastungen durch die Umstrukturierungsprobleme i n Ostdeutschland m i t verantwortlich sein, da insbesondere negative Auswirkungen auf den privaten und öffentlichen Verbrauch zu erwarten sind.
4. Konsequenzen für die Arbeitsmärkte Die hier i n Szenarioform beschriebene Wirtschaftsentwicklung für die Bundesrepublik Deutschland basiert sicherlich nicht auf übermäßig pessimistischen Einschätzungen. I n beiden Szenarien w i r d für die zweite Hälfte der neunziger Jahre m i t einer Rückkehr auf einen mittelfristigen Wachstumspfad gerechnet, wie er auch i n vergleichbaren Perioden i n der Vergangenheit beobachtet werden konnte. Dennoch bleibt die 4 Konjunkturpolitik, Beiheft 42
50
M a r t i n Gornig
Zunahme der Gesamtbeschäftigung insgesamt bescheiden. E i n Grund hierfür sind die erwarteten hohen Arbeitsproduktivitätszuwächse i n Ostdeutschland. Aber auch i n Westdeutschland dürfte mittelfristig wieder ein höherer Produktivitätsanstieg wahrscheinlich sein. Für Deutschland insgesamt ist damit selbst unter den günstigeren Bedingungen des Integrationsszenarios i m Jahr 2000 nur m i t einer Gesamtbeschäftigung von rund 36,6 Mio. Personen zu rechnen. Dies sind gerade einmal 800 000 Personen mehr als 1992. I m Stagnationsszenario dürften sogar i n Deutschland insgesamt etwa 1 Mio. Menschen weniger beschäftigt sein als 1992, und nur rund 200 000 Personen mehr als für 1994 erwartet (vgl. Tabelle 3). Von der Nachfrageseite her sind daher nur geringe Entlastungen des Arbeitsmarktes zu erwarten. Gleichzeitig dürfte i m weiteren Verlauf der neunziger Jahre der Angebotsdruck noch zunehmen. Hierfür spricht zunächst der weiterhin starke Wunsch vieler Menschen i n M i t t e l - und Osteuropa, nach Deutschland einzuwandern. Darüber hinaus sind aufgrund der demographischen Entwicklungen und dem i m Durchschnitt West- und Ostdeutschlands stärker werdenden Erwerbswunsch vieler Frauen höhere potentielle Erwerbsquoten wahrscheinlich. Beim Erwerbspersonenpotential wurde daher i m ersten Szenario m i t einem Anstieg von 41,4 Mio. Menschen 1992 auf 42, 1 Mio. i m Jahr 2000 gerechnet. I m Stagnationsszenario bei einer ungünstigen Entwicklung i n den mittel- und osteuropäischen Staaten könnte das Erwerbspersonenpotential i n Deutschland aufgrund der Zuwanderungen sogar auf fast 43 Mio. Menschen steigen. Dies entspricht gegenüber 1992 einem Zuwachs von rund 1,5 Mio. Personen. Die gesamtdeutsche Arbeitsmarktbilanz dürfte damit auch weiterhin stark negativ bleiben. Selbst i m Integrationsszenario m i t hohen Zuwachsraten des Sozialprodukts zeichnet sich unter den hier genannten Bedingungen keine durchgreifende Besserung ab. Zwar dürfte der A n gebotsüberschuß am Arbeitsmarkt gegenüber der gegenwärtigen Situation wieder zurückgehen, m i t rund 5,5 Mio. Erwerbslosen dürften aber fast genauso viel Menschen ohne Beschäftigung sein wie 1992. Unter den Bedingungen des Stagnationsszenarios w i r d das Defizit der A r beitsmarktbilanz vermutlich sogar noch deutlich höher ausfallen. Nach den hier vorgenommenen Berechnungen steigt die Zahl der Erwerbslosen i n Deutschland auf über 8 Mio. Dies wären nochmals rund 1 Mio. Personen mehr als für dieses Jahr i m Durchschnitt erwartet wird. Betrachtet man nur die Zahl der registrierten Arbeitlosen, fällt auch hier die Entwicklung kaum besser aus. I m Integrationsszenario wäre
Entwicklung i n der Bundesrepublik Deutschland bis zum Jahr 2000
51
Tabelle 3 Kennziffern der Arbeitsmarktenwicklung in Deutschland bis zum jähre 2000 2000 1992
1994
Integrations-
Stagnations-
szenario
szenario
in Mio Personen Deutschland Erwerbstätige
35,8
34,6
36,6
34,9
Erwerbspersonenpotential Pendicrsaldo
41,5 -0,0
41,6 0,0
42,1 0,1
43,0 0,1
Angebotsüberschuß Registrierte Arbeitslose Stille Reserve
5,6 3,0 2,6
7,0 3,8 3,3
5,6 2,9 2,7
8,2 4,3 3,9
Arbeitslosenquote in vH
7,7
9,8
7,4
11,0
Westdeutschland Erwerbstätige
29,5
28,5
30,6
29,5
Erwerbspersonenpotential Pendlersaldo
32,8 0,3
33,2 0,4
34,2 0,3
35,1 0,4
Angebotsüberschuß Registrierte Arbeitslose Stille Reserve
3,7 1.8 1,9
5,0 2,6 2,4
4,0 2,0 2,0
6,0 3,0 3,1
Arbeitslosenquote in vH
5,8
8,5
6,2
9,2
Ostdeutschland Erwerbstätige
6,3
6,1
6,1
5,4
Erwerbspersonenpotential Pendlersaldo
8,7 -0,4
8,4 -0.4
8,0 -0,2
7,9 -0,3
Angebotsüberschuß Registrierte Arbeitslose Stille Reserve
1.9 1,2 0,8
2,0 1.2 0,8
1.6 0,9 0,7
2,2 1.4 0,8
14,8
15,2
12,9
19,4
Arbeitslosenquote in vH Quellen:
Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung;
1994: Schätzungen des DIW;
Erwerbspersonenpotentialrechnung des IAB;
2000: Szenarienmodell des DIW.
bezogen auf den gegenwärtigen Stand lediglich m i t einer Reduktion der Arbeitslosenzahl auf rund 3 Mio. zu rechnen. I m Stagnationsszenario würde die Arbeitslosenzahl sogar nochmals steigen und könnte i m Jahr 2000 i m Durchschnitt deutlich über 4 Mio. liegen. Die gesamtdeutsche Arbeitslosenquote würde dann etwa 11 v H betragen. Die Hauptlast der 4*
52
M a r t i n Gornig
Arbeitslosigkeit w i r d dabei weiterhin Ostdeutschland tragen. I n beiden Szenarien dürfte der Anteil Ostdeutschlands an allen Arbeitslosen bei jeweils knapp einem D r i t t e l liegen. Anzumerken ist hierbei allerdings, daß i n beiden Szenarien keine Verstärkung solcher wirtschaftspolitischer Strategien angenommen worden ist, die auf eine Reduzierung der Arbeitsmarktprobleme ausgerichtet sind. Dies bezieht sich sowohl auf die Einwanderungspolitik als auch auf besondere Strategien zur Entwicklung des Lohnniveaus und der Lohndifferenzierung oder der Geld- und Finanzpolitik. Ebenso wurden keine besonderen Annahmen zu einer weiteren Reduzierung der Arbeitszeiten getroffen. I n all diesen Feldern wurden vielmehr die bisherigen Entwicklungstrends weitgehend fortgeschrieben. Insofern stellen die hier vorgestellten Trends sicherlich keine unabwendbaren Entwicklungen dar. 5. Finanzierungsspielräume im Staatshaushalt I m Bereich der Finanzpolitik sind die Spielräume für eine aktive Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik ganz wesentlich von der Entwicklung der Finanzlage der öffentlichen Haushalte abhängig, wie sie sich bei der wirtschaftlichen Entwicklung i n den beiden Szenarien abzeichnet. Für die Einnahmeentwicklung des Staates bis zum Jahr 2000 ist dabei i m Integrationsszenario zunächst angenommen worden, daß die Steuer- und Abgabenbelastung nach den vorgenommenen und angekündigten Erhöhungen für 1993 und 1994 bis zum Jahr 2000 wieder etwa auf das Niveau von 1992 zurückgeführt wird. I m Stagnationsszenario w i r d dagegen damit gerechnet, daß die anstehenden Steuer- und Abgabenerhöhungen auf mittlere Frist nicht wieder abgebaut werden. E i n Grund hierfür ist, daß — i n nomineller Betrachtung — eine Rückführung des Transfervolumens von West- nach Ostdeutschland zur Finanzierung des Infrastrukturnachholbedarfs und der sozialen Abfederung des Umstrukturierungsprozesses nicht möglich erscheint. I m Stagnationsszenario ist sogar damit zu rechnen, daß der Transferbetrag gegenüber 1992 nochmals u m rund 40 Mrd. D M auf 180 Mrd. D M steigt. I m Integrationsszenario verharren die Transferzahlungen an Ostdeutschland auf dem 1992 erreichten Niveau. Trotz der i m ersten Szenario günstigen wirtschaftlichen Entwicklung bzw. der i m zweiten Szenario unterstellten höheren Steuer- und Abgabenquoten dürften die öffentlichen Haushalte insgesamt i n Deutschland auch i m Jahr 2000 hohe Defizite aufweisen (Tabelle 4). Die Nettoneu-
Entwicklung i n der Bundesrepublik Deutschland bis zum Jahr 2000
53
Tabelle 4 Kennziffern zur Enwicklung des Staatahaushalts in West- und Ostdeutschland 2000 1992
1994
Integrations-
Stagnations-
szenario
szenario
in Mrd D M Deutschland Einnahmen
1164
1238
1805
1759
Ausgaben
1243
1347
1939
1900
607
642
888
883
Nettoinvestitionen
62
64
105
94
Transferzahlungen
574
641
946
923
-79
-109
-134
-141
2,7
3,4
2,7
3,1
Staatsverbrauch
Finanzierungssaldo nachrichtlich: Finanzierungssaldo in vH des Bruttosozialprodukts
Westdeutschland Einnahmen
1067
1114
1548
1564
Ausgaben
1132
1203
1642
1661
501
521
715
710
46
44
72
64
Transferzahlungen 1)
447
490
715
707
Übertragungen an Ostdeutschland
138
148
140
180
-65
-89
-94
-97
Staatsverbrauch Nettoinvestitionen
Finanzierungssaldo
Ostdeutschland 235
272
397
375
97
124
257
195
138
148
140
180
249
292
437
419
106
121
173
173
Nettoinvestitionen
16
20
33
30
Transferzahlungen
127
151
231
216
-14
-20
-40
-44
Einnahmen Eigene Einnahmen Übertragung aus Westdeutschland Ausgaben Staatsverbrauch
Finanzierungssaldo
1) Ohne Übertragungen an Ostdeutschland.
Quellen:
Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung;
1994: DIW (1993 d);
2000: Szenarienmodell des DIW.
54
M a r t i n Gornig
Verschuldung w i r d sogar eher noch etwas höher liegen als für 1994 erwartet. Finanzielle Spielräume für große ausgabewirksame w i r t schaftspolitische Maßnahmen zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit ergeben sich damit i m weiteren Verlauf der neunziger Jahre kaum. Dies gilt zumindest dann, wenn man dem Ziel einer Normalisierung der Haushaltslage wieder näher kommen w i l l . I n den hier quantifizierten Szenarien n i m m t die Quote der Neuverschuldung i n Relation zum Bruttosozialprodukt trotz des weiteren Anstiegs der nominellen Nettoneuverschuldung leicht ab. Die für dieses Jahr errechnete Quote von 3,4 v H reduziert sich auf 2,7 v H i m Integrationsszenario bzw. 3,1 v H i m Stagnationsszenario. I m Vergleich zu anderen westlichen Industrieländern dürfte die Bundesrepublik damit immer noch i m unteren Bereich liegen.
Arbeitsmarkttendenzen bis zum Jahr 2000 Ergebnisse auf Basis eines makroökonometrischen Modells Von Alfons Barth und Wolfgang Klauder, Nürnberg*
1. Ausmaß der Unterbeschäftigung I n der Bundesrepublik hat i m Zuge der derzeitigen Rezession die Arbeitslosigkeit eine Rekordhöhe erreicht. Rechnet man zu den registrierten Arbeitslosen noch die Stille Reserve sowie die i n arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen befindlichen Erwerbspersonen hinzu, so waren i m letzten Jahr i m vereinten Deutschland sogar ca. 7,4 Mio Erwerbspersonen ohne regulären Arbeitsplatz (Tab. 1). Das bedeutet bei einem gesamtdeutschen Erwerbspersonenpotential von fast 42 Mio, daß nicht nur jeder Zwölfte des Potentials arbeitslos registriert, sondern sogar etwa jeder Sechste ohne regulären Arbeitsplatz war. Für dieses Jahr w i r d allgemein ein weiterer Anstieg der Arbeitslosenzahlen erwartet. N u n kann man freilich einwenden, daß manche Personen i n der Stillen Reserve nicht unbedingt auf eine Erwerbstätigkeit angewiesen sind, daß es sich beim Vorruhestand u m einen von der Gesellschaft weitgehend akzeptierten Alternativ-Status zur Erwerbstätigkeit handelt und daß es auch unechte Arbeitslose gibt, die es sich lediglich i m sozialen Netz bequem gemacht haben. Hätten letztere tatsächlich nicht nur einen Anteil von wenigen Prozent, müßten allerdings i n manchen Orten extrem viele unwillige und i n anderen fast nur fleißige Leute wohnen, da die Arbeitslosigkeit regional i n Abhängigkeit vom Angebot an Arbeitsplätzen enorm streut. Andererseits beschreiben die genannten Zahlen noch nicht das gesamte Ausmaß des Arbeitsmarktproblems, denn auch eine nicht ganz gerin* Die Autoren danken den Herren Dr. Fuchs und Schnur vom I A B sowie Herrn Prof. Westphal und Herrn Wiswe, Hamburg, für die tatkräftige Zusammenarbeit bei der Szenarioerstellung. Der Beitrag liegt i n der persönlichen Verantwortung der Autoren.
56
Alfons Barth und Wolfgang Klauder
ge Anzahl der regulären Arbeitsplätze wäre i n Ost und West ohne staatliche Subventionen nicht international wettbewerbsfähig. Ferner drohen zu den bisherigen Krisenbranchen wie Landwirtschaft, Bergbau, Eisen- und Stahlindustrie, Schiffbau weitere Branchen hinzuzustoßen, die bisher sogar Hauptträger des Wachstums waren.
Tabelle 1 Ausmaß der Unterbeschäftigung 1993 i n Mio Personen
West-D
Ost-D
insgesamt
1. Erwerbslose registrierte Arbeitslose
2,3
1,1
3, α
S t i l l e Reserve i . eng. Sinne
1/6
0,2
1,8
Rechnerische Arbeitsplatzlücke i . eng. Sinne
3,9
1,3
5,2
ABM
0,07
0,36
0,43
Kurzarbeit (Arbeitsausfall in Pers.)
0,23
0,09
0,32
Full
0,23
0,35
0,58
Vorruhestand
0,01
0,21
0,22
-
0,64
0,64
o,5a
1,65
2,19
4,4
3,0
7,4
Erwerbstätige
29,0
6,1
35,1
Erwerbspersonenpotential
33,1
8,6
41,7
Arbeitsmarktentlastung durch Arbeitsmarktpolitlk
Altersübergangsgeld Entlastung insgesamt +2.: Rechnerische Arbeitsplatzlücke i . weit. Sinne
Fazit: Jeder Sechste des Potentials ohne regulären Arbeitsplatz Jeder Zwölfte des Potentials arbeitslos registriert Abweichungen in den Summen durch Runden der Zahlen. Datenquelle: I A B - V n / 2 — I A B - V I I / l - K l - 4 / 9 4 .
Arbeitsmarkttendenzen bis zum Jahr 2000
57
2. Zu den Ursachen der Unterbeschäftigung Die verbreitete rein konjunkturell orientierte oder nur an der Beschäftigungsseite ansetzende Erklärung der Arbeitslosigkeit — man denke ζ. B. auch an das sog. Okun'sche Gesetz — und die Vernachlässigung der längerfristigen Potential-Wellen und Bevölkerungstendenzen greifen zu kurz und verleiten zu Fehlschlüssen. 1 Die Arbeitslosigkeit ist eine Saldogröße aus Bedarf und Angebot. Stellt man ferner wie das LAB auf der Angebotsseite nicht auf das jeweilige effektive Angebot, sondern auf das bei guter Arbeitsmarktlage zu erwartende Angebot, also das konjunkturbereinigte Potential 2 ab, so resultiert nur der Bedarf u n m i t telbar aus der Entwicklung von Wirtschaftswachstum und Produktivitätsfortschritt, deren Grundtendenzen allerdings wiederum auch von den längerfristigen Bevölkerungs- und Erwerbsbeteiligungstrends beeinflußt zu sein scheinen.
2.1 Westdeutschland
Werfen w i r einen Blick zurück auf die westdeutsche Arbeitsmarktbilanz der Vergangenheit (Abb. 1), so sieht man viererlei: 4 1. Die früher i n der Bundesrepublik erlittenen drei Beschäftigungseinbrüche der Jahre 1966-67 ( - 0,95 Mio Erwerbstätige), 1974-76 ( - 1,2 Mio Erwerbstätige) und 1981-83 ( - 0,7 Mio Erwerbstätige) waren trotz sehr unterschiedlicher Politiken jeweils i n etwa vier Jahren wieder aufgeholt. 2. 1992 gab es sogar 2,4 Mio mehr Erwerbstätige als 1987 bzw. als i m letzten Vollbeschäftigungsjahr 1973. Von einem jobless-growth kann bisher keine Rede sein. 3. Auch der jetzige Beschäftigungseinbruch hält sich m i t einem Rückgang der Erwerbstätigenzahl i m Durchschnitt der Jahre 1993 ( - 0,5 Mio) 1 Vgl. Klauder, W.: Bevölkerungsentwicklung, Erwerbsbeteiligung und Beschäftigung. In: Scherf, Harald (Hrsg.): Beschäftigungsprobleme hochentwickelter Volkswirtschaften. Schriften des Vereins für Socialpolitik, N F Bd. 178, Berlin 1989; Klauder, W.: Z u den demographischen und ökonomischen Auswirkungen der Zuwanderung i n die Bundesrepublik i n Vergangenheit und Zukunft. In: M i t t A B 4 / 1 9 9 3 , S. 480 ( M i t t A B = Mitteilungen aus der Arbeitsmarkt- und Berufsforschung). 2 Z u m Potentialkonzept des I A B vgl. u. a. Klauder, W.: Zielsetzung, Methodik und Ergebnisse der empirischen Arbeitsmarktforschung des IAB. In: Allgemeines Statistisches Archiv, 1 / 1990, S. 48-51.
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Arbeitsmarkttendenzen bis zum Jahr 2000
59
und 1994 (ca. - 0,4 Mio) von zusammen 0,9 Mio durchaus i m Rahmen der drei früheren Rezessionen. 4. Der Beschäftigungsentwicklung stand jedoch seit dem letzten Vollbeschäftigungsjahr 1973 ein Anstieg des Erwerbspersonenpotentials u m rd. 6 Mio gegenüber. Die Ursachen für den Potentialzuwachs waren zunächst stark besetzte Nachwuchsjahrgänge und zunehmende Frauenerwerbsneigung, i n den letzten Jahren vor allem die Zuwanderung von Ostdeutschen, Aussiedlern und Ausländern sowie ostdeutsche Einpendler. Dadurch gab es i n Westdeutschland 1992, dem Jahr m i t dem bisher höchsten Beschäftigungsstand, ca. 2,3 Mio potentielle Erwerbspersonen mehr als 1987 und ca. 5,4 Mio mehr als i m letzten Vollbeschäftigungsjahr 1973. Der Potentialanstieg übertraf folglich bereits bis 1992 den Beschäftigungszuwachs insgesamt u m rd. 3 Mio, wodurch sich i m Vergleich zu 1973 per Saldo die registrierte Arbeitslosigkeit u m rd. 2 Mio und die Stille Reserve u m rd. 1 Mio erhöhte. Zur Integration eines solchen Potentialzuwachses hätte es i n der Wirtschaft und auf dem Arbeitsmarkt einer Dynamik und Flexibilität wie i n den 50er Jahren bedurft, i n denen sich i m Zuge eines Wirtschaftswachstums von 8 % p. a. die Zahl der Erwerbstätigen u m 5 Mio erhöht hatte. Ohne den Potentialanstieg hätte bei sonst gleichen Umständen vermutlich sowohl 1980 als auch 1987 wieder Vollbeschäftigung geherrscht. Die durch die Nichtabsorption des Potentialzuwachses entstandene große Lücke zwischen Potentialentwicklung und Beschäftigung generell — wie es häufig geschieht — als Sockelarbeitslosigkeit zu bezeichnen, ist zumindest nicht glücklich oder problemgerecht, wenn nicht sogar irreführend, da der Begriff Sockelarbeitslosigkeit auch für den Restbestand an Arbeitslosen gebräuchlich ist, der sich wegen altersmäßiger, qualifikatorischer, gesundheitlicher und anderer Mängel nur schwer wieder i n das Arbeitsleben integrieren läßt. Zweifellos hat der Ausleseprozeß während der nunmehr fast 20 Jahre anhaltenden hohen Unterbeschäftigung diesen Sockel schwer vermittelbarer Arbeitsloser erhöht, jedoch ist nach wie vor nur ein Teil der Arbeitslosen aus Gründen, die i n ihrer Person liegen, als schwer vermittelbar zu bezeichnen. 3 Immer3
Den größten Einfluß auf die Dauer der Arbeitslosigkeit haben nach I A B Untersuchungen die Merkmale, die auf eine geringere individuelle Leistungsfähigkeit schließen lassen, wie Alter und gesundheitliche Einschränkungen. Vgl. Buttler, F. / Cramer, U.: Entwicklung und Ursachen von mis-match-Arbeitslosigkeit i n Westdeutschland. In: M i t t A B 3 / 1 9 9 1 , S. 483-500. I m Hochkonjunktur-
60
Alfons Barth und Wolfgang Klauder
h i n g e l a n g es a u c h i n d e n d r e i J a h r e n 1989 b i s 1991 i m Z u g e des W i e d e r v e r e i n i g u n g s b o o m s — t r o t z eines g l e i c h z e i t i g e n P o t e n t i a l a n s t i e g s v o n 1,5 M i o u n d eines e r h ö h t e n Sockels s c h w e r v e r m i t t e l b a r e r A r b e i t s loser — d i e A r b e i t s l o s i g k e i t u m 550 000 P e r s o n e n z u v e r r i n g e r n . A u f der Beschäftigungsseite sollte schließlich n i c h t übersehen werden, daß n i c h t n u r d e r U m f a n g , s o n d e r n ebenfalls d i e u n m i t t e l b a r e n U r s a c h e n f ü r d i e j ü n g s t e Rezession — n i c h t d i e d a h i n t e r s t e h e n d e n l e t z t l i c h e n Ursachen — i m Grunde nicht von denen früherer K o n j u n k t u r e i n b r ü c h e a b w i c h e n , n ä m l i c h u. a. K o n j u n k t u r a b s c h w ä c h u n g i n w i c h t i g e n portländern, Nachfrageüberhitzung
i m Inland, Lohnerhöhungen,
Exdie
d e n P r o d u k t i v i t ä t s f o r t s c h r i t t w e i t ü b e r t r a f e n , eine B u n d e s b a n k , d i e z u r Wiederherstellung der Preisniveaustabilität massiv auf die Bremse trat. D a r ü b e r h i n a u s h a t d i e Rezession a l l e r d i n g s a u c h P r o d u k t i v i t ä t s - u n d S t r u k t u r s c h w ä c h e n i n t e i l w e i s e d r a m a t i s c h e r Weise offengelegt. O f f e n sichtlich ist der bei Verfahren u n d P r o d u k t e n erforderliche
Struktur-
w a n d e l w ä h r e n d des l e t z t e n K o n j u n k t u r - A u f s c h w u n g e s u n d i n s b e s o n dere des W i e d e r v e r e i n i g u n g s b o o m s n i c h t g e n ü g e n d i n A n g r i f f g e n o m m e n w o r d e n . 4 D i e s e V e r s ä u m n i s s e s i n d eine ernste H y p o t h e k f ü r d i e jähr 1992 ζ. B. betrug der A n t e i l der als schwer vermittelbar geltenden über 54jährigen Arbeitslosen m i t gesundheitlichen Einschränkungen und ohne Ausbildung am Arbeitslosenbestand 6 % (bzw. an den Abgängen 2 %) und der Anteil aller älteren Arbeitslosen m i t mindestens einem weiteren Problemmerkmal insgesamt 39% (bzw. 23%). E i n D r i t t e l des Arbeitslosenbestandes (bzw. 42% der Abgänge) wies sogar keinerlei Problemmerkmale auf i m Vergleich zu 38 % (bzw. 52%) i m Jahre 1985. Vgl. Rudolph, H. / G o m m l i c h , H.: Arbeitslosigkeit konzentriert sich immer mehr auf Problemgruppen. IAB-Kurzbericht Nr. 6/3.6.1993; Cramer, U. / Karr, W. / Rudolph, H.: Über den richtigen Umgang m i t der Arbeitslosenstatistik. In: M i t t A B 3 / 1 9 8 6 , S. 409-421, insbes. S. 419. Diese Autoren verweisen u. a. auch auf die große Bedeutung der Bewegungsvorgänge bei den Arbeitslosen. Vgl. ferner Grassinger, R.: Verfestigte Arbeitslosigkeit. Das Hysteresis-Phänomen unter besonderer Berücksichtigung des Humankapitalansatzes. BeitrAB 174, Nürnberg 1993 (BeitrAB = Beiträge zur Arbeitsmarkt- und Berufsforschung). 4
Der Produktivitätsfortschritt hat sich dadurch i n Relation zum Wirtschaftswachstum sogar stärker verlangsamt als i n den 80er Jahren ζ. Β. vom I A B und von Prognos vorausgeschätzt worden war. Vgl. Prognos A G (Hofer, P. / Weidig, I . / W o l f f , Η.): Arbeitslandschaft bis 2010 nach Umfang und Tätigkeitsprofilen. BeitrAB 131, Nürnberg 1989; Klauder, W.: Z u r Entwicklung von Produktion und Beschäftigungsschwelle. In: M i t t A B 1 / 1990, S. 86-99. A u f der Absatzseite w u r den ferner zweifellos zu wenig neue Produkte entwickelt und neue Märkte erschlossen. I n den Kernbereichen der Informationstechnik übernahmen ζ. B. die USA und Japan die Führung. I n den 80er Jahren lag dadurch der A n t e i l der gesamten europäischen Industrie an der Weltproduktion i n der Mikroelektronik und Computertechnologie — bezogen auf den Bruttoproduktions wert — bei 10 %, bezogen auf die Bruttowertschöpfung sogar unter 5%. Vgl. Nefiodow, L. Α.: Informationsgesellschaft — Arbeitsplatzvernichtung oder Arbeitsplatzgewinne? In: Ifo-Schnelldienst, 1 2 / 9 4 , S. 16.
Arbeitsmarkttendenzen bis zum Jahr 2000
61
Dynamik einer neuen Aufwärtsbewegung und damit die Erholung der Beschäftigung. Immerhin dürften die Industrieländer i n der Anfangsphase eines grundlegenden Strukturwandels der gesamten Wirtschaftsund Arbeitswelt stehen, wie er vielleicht nur m i t dem Übergang von der Agrar- zur Industriegesellschaft zu vergleichen ist. 5 2.2. Ostdeutschland
Während sich i n Westdeutschland konjunkturelle und strukturelle Tendenzen überlagern, handelt es sich i n Ostdeutschland zweifellos u m eine tiefgreifende Strukturkrise aufgrund des Übergangs von der früheren abgeschütteten und abgewirtschafteten, wenig produktiven Planwirtschaft m i t veralteter und nicht marktgerechter, schwerindustrielastiger Wirtschaftsstruktur und Technik zu einer offenen, i n den Westen integrierten Marktwirtschaft. Nach Schätzungen der Prognos A G 6 hätten 1991 i n Ostdeutschland unter marktnahen Wettbewerbsbedingungen nur gut 4 Mio Arbeitsplätze Bestand und demzufolge an die 6 Mio der 1989 vorhanden gewesenen 10 Mio Arbeitsplätze ohne Subventionen i n der bisherigen Form keine Zukunftschancen gehabt. Tatsächlich ist es i m Zuge des historisch einmaligen gesellschaftlichen und ökonomischen Umwälzungsprozesses i n den Jahren 1990 bis 1993 bereits zu einem raschen Arbeitsplatzabbau u m rd. 3,6 Mio — also etwa einem D r i t t e l — auf rd. 6,1 Mio gekommen. Ohne die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und das Kurzarbeitergeld der Bundesanstalt für A r beit hätte es i n den beiden letzten Jahren sogar wahrscheinlich nur noch ca. 5,6 Mio Erwerbstätige gegeben. Trotz des Beschäftigungsrückganges u m 3,6 Mio 1989 / 93 hat sich die Zahl der registrierten Arbeitslosen i m Jahresdurchschnitt jedoch bislang nur auf Werte zwischen 1,1 und 1,2 Mio erhöht, da zugleich das effektive Arbeitsangebot deutlich abnahm. Letzteres ist vor allem auf Abwanderungen und Westpendeln sowie Vorruhestandsregelungen und Weiterbildungsmaßnahmen zurückzuführen, jedoch noch nicht auf eine spürbare Abnahme der Erwerbsneigung (Abb. 2). Für 1994 ist unter den gegenwärtigen Bedingungen m i t einem nur noch geringfügigen weiteren Rückgang der Erwerbstätigenzahl, jedoch m i t einer unverändert hohen Arbeitslosenzahl von rd. 1,2 M i o zu rechnen. 5 Vgl. Klauder, W.: Ohne Fleiß kein Preis: Die Arbeitswelt der Zukunft, 2. Aufl., Zürich / Osnabrück 1991. 6 Prognos AG: Die Bundesrepublik Deutschland 2000-2005-2010, Basel, M a i 1993, S. 163 f.
62
Alfons Barth und Wolfgang Klauder
Potential an ostdeutschen Erwerbspersonen 10 Rückgang der Erwerbsneigung
( Nettoabwanderung 9 Pendler PQtfntlal
Im Inland
Vorruhestand* 8 \ (
Vollzelt-FuU, eonet. Stille Reserve**)
Erwerfr?pm9n?n 7 registrierte Arbeltslose
Erwerbstätige in Ostdeutschland insgesamt
6
ab M (direkte und Indirekte Effekte)
Kurzarbslt·») * ) Vorruhestand unter Berücksichtigung der potentialmindernden Alterung Die "Stille Reserve im engeren Sinne" umfaßt Personen, die a) Arbeit suchen, ohne bei den Arbeitsbehörden arbeitslos gemeldet zu sein ("aktive Stille Reserve^ b) entmutigt, aber nur vorübergehend bis zu einer Besserung der Arbeltsmarktlage die Stellensuche autgegeben haben ("passive Stille Reserve").
5
*) Arbeitsausfall umgerechnet in Personen. 4 1989
— I 1990
1991
I
I
1992
1993
Quelle: IAB (VH/1, 2), Stand Mai 1994. A b b i l d u n g 2: O s t d e u t s c h e A r b e i t s m a r k t b i l a n z
1989-1993
Jahresdurchschnittsbestände i n M i o
3. P e r s p e k t i v e n des A r b e i t s k r ä f t e p o t e n t i a l s
Würde m a n nur den Einfluß
der natürlichen
Bevölkerungsentwick-
l u n g betrachten, die N e t t o - Z u w a n d e r u n g e n also auf N u l l setzen u n d die
Arbeitsmarkttendenzen bis zum Jahr 2000
63
Erwerbsquoten konstant halten, nähme das gesamtdeutsche Potential an Arbeitskräften ständig ab (unterste Kurve i n Abb. 3). Auch könnten sich i n Gesamtdeutschland der steigende Trend der westdeutschen Frauenerwerbsquoten und der erwartete Rückgang der ostdeutschen Frauenerwerbsquoten bis zum Jahr 2000 ungefähr kompensieren. Die weitere trendmäßige Fortschreibung der Erwerbsquoten bis 2010 sowie die Heraufsetzung der Altersgrenze auf 65 Jahre bis 2010 könnten allerdings den rein demographisch bedingten Rückgang des Erwerbspersonenpotentials nach 2000 etwas abschwächen. Von größerem Einfluß als die Erwerbsbeteiligung dürften die Zuwanderungen sein, deren zukünftige Höhe jedoch nicht einfach abzuschätzen ist. Das LAB hat i n seiner obersten Modellvariante für die Jahre 1991 bis 2010 ζ. B. einen Wanderungssaldo der Bevölkerung von 6 Mio unterstellt. Da aber bis 1993 netto bereits 2 Mio Zuwanderer i n die Bundesrepublik gekommen sind, bedürfte es bis 2010 per Saldo nur noch einer Zuwanderung von jährlich ca. 240 000 Personen, um diese Modellrechnung Realität werden zu lassen. E i n derartiger Zuwanderungssaldo dürfte schon wegen des Potentials an Aussiedlern i n den osteuropäischen Staaten als Untergrenze anzusehen sein. Berücksichtigt man sowohl die Trends der Erwerbsbeteiligung als auch die Wanderungseffekte, so dürfte es folglich zumindest bis 2010 i n der Bundesrepublik kaum weniger, eher mehr potentielle Erwerbspersonen geben als gegenwärtig. Von Seiten des Arbeitsangebotes ist bis auf weiteres kaum m i t einer Entlastung des Arbeitsmarktes zu rechnen. Noch sicherer als diese Aussage ist die zu erwartende rasche drastische Alterung des Erwerbspersonenpotentials, die bereits i n diesem Jahrzehnt relevant wird. Trotz Zuwanderung dürfte es bereits u m 2000 i n Deutschland etwa 4 Mio weniger Erwerbspersonen unter 30 Jahren geben als 1990 (Abb. 4). Bei rückläufiger Anzahl an Berufseinsteigern sind die notwendigen Innovationen der Wirtschaft und ζ. B. die Auswirkungen des verstärkten Einsatzes neuer Technologien, wie der M i k r o elektronik, zunehmend auch von älteren Arbeitnehmern zu bewältigen. Ohne massiven Ausbau der Weiterbildung und anderer bildungspolitischer Maßnahmen könnte die Alterung schon sehr bald die Anpassungs-, Innovations- und Leistungsfähigkeit der deutschen Wirtschaft beeinträchtigen. 7 Diese hingegen dürfte angesichts des notwendigen Struk-
7
Vgl. Bullinger, H.-J. u. a.: Alter und Erwerbsarbeit der Zukunft, BerlinHeidelberg-New York 1993.
Abbildung 3: Gesamtdeutsches Erwerbspersonenpotential 1990-2030 i n Mio * In den 90er Jahren kann der Rückgang der ostdeutschen Frauenerwerbsquoten den Anstieg der westdeutschen Quoten mehr oder weniger kompensieren. Da für die 90er Jahre besonders unsicher ist, wie schnell eine gewisse Anpassung an Westdeutschland erfolgt, wurde auf einen Ausweis des gesamtdeutschen Erwerbsbeteiligungseffektes in den 90er Jahren verzichtet. Quelle: IAB-Projektion 1991 (Thon, M., Perspektiven des Erwerbspersonenpotentials in Gesamtdeutschland bis zum Jahre 2030, in: MittAB 4/91) und IAB-VII/I-Berechnungen von 1993. Entnommen aus: Klauder, W., Zu den demographischen und ökonomischen Auswirkungen der Zuwanderung in die Bundesrepublik in Vergangenheit und Zukunft, in: MittAB 4/93, S. 487.
Arbeitsmarkttendenzen bis zum Jahr 2000
65
t u r w a n d e l s m e h r d e n n j e g e f o r d e r t sein, w e n n es g e l i n g e n soll, i n d e n nächsten Jahren die Arbeitslosigkeit dauerhaft abzubauen.
= bei: •Trendfortschreibung der Erwerbsbeteiligung (insbes. Frauen!) bis 2010 • Anstieg der Altersgrenze auf 65 J. bis 2010 • Wanderungssaldo 1991 - 2010: +4,6 Mio •nach 2010 nur natürlicher Bevölkerungseinfluß — — = bei: «konstanter Erwerbsbeteiligung •Wanderungssaldo Null
) d.h. nur natürlicher f Bevölkerungseinfluß
Quelle: IAB-Projektion 1991 (Thon, M., Perspektiven des Erwerbspersonenpotentials in Gesamtdeutschland bis zum Jahre 2030, in: MittAB 4/91).
Abbildung 4: Gesamtdeutsches Erwerbspersonenpotential 1990-2030 nach Alter und zwei Projektionsvarianten (Mio Personen, Anteile i n %) 5 Konjunkturpolitik, Beiheft 42
66
Alfons Barth und Wolfgang Klauder
4. Perspektiven des Arbeitskräftebedarfs und der Arbeitsmarktbilanz 4.1 Das verwendete makroökonometrische Modell
Für die Vorausschätzung und Simulation auf der Bedarfsseite des Arbeitsmarktes setzt das I A B seit 1990 das i n den Grundzügen von Hansen und Westphal entwickelte gesamtwirtschaftliche Modell SYSIFO ein (SYSIFO = System for Simulation and Forecasting) 8 . I n enger Kooperation zwischen dem I A B und Prof. Westphal wurde das Modell den Anforderungen der Arbeitsmarktprognostik angepaßt. Es besteht aus einem ökonometrischen, nach 14 Sektoren disaggregierten Teil für Westdeutschland und einem damit verknüpften nichtökonometrischen, primär von der Nachfrageseite ausgehenden Rumpfmodell für Ostdeutschland, das man weitgehend als Quotenmodell bezeichnen könnte. Das Modell ist explizit keinem theoretischen Regime verpflichtet. Vielmehr werden mehrere theoretische Ansätze i n die Spezifikation einbezogen. Welche Variablen i n die Gleichung eingehen, ihre Gewichtung und ihre Lag-Struktur ergibt sich aus der Empirie. 9 Das Modell basiert auf Quartalsdaten und umfaßt 2200 Zeitreihen. Bei jedem Simulationslauf werden pro Quartal rund 1350 Gleichungen abgearbeitet, d. h. das Modell enthält 1350 endogen zu ermittelnde Größen. Viele dieser Größen stellen allerdings modellinterne Zwischenaggregate dar. Vorgegeben werden müssen (ohne die Dummies) 784 Exogene sehr unterschiedlicher Bedeutung (incl. der 226 Residuen). Das Westmodell umfaßt 1000 Gleichungen. Davon sind 226 stochastische Verhaltensgleichungen, deren Parameter i n der Regel für den Stützzeitraum 1972 bis 2. Quartal 1993 geschätzt wurden. Eine größere Zahl von Definitionsgleichungen wurde eingeführt, um interessante gesamtwirtschaftliche Kennzahlen auszuweisen.
8 Z u m Modellaufbau vgl. Hansen, G./Westphal, U. (Hrsg.): SYSIFO, E i n ökonometrisches Konjunkturmodell für die Bundesrepublik Deutschland, Frankf u r t / M . 1983, und Westphal, U., unter Mitarbeit von Dieckmann, O. / Wiswe, J.: Arbeitsbuch zur angewandten MakroÖkonomik, 2. Auflage, Hamburg 1993; Die IAB-Version (Projekt 1-364D) wurde m i t M i t t e l n aus dem Europäischen Sozialfond (ESF) gefördert. 9 Diese Vorgehensweise ist exemplarisch erläutert für die makroökonomischen Investitionshypothesen i n Westphal, U.: MakroÖkonomik. Theorie, Empirie und Politikanalyse, Berlin u. a. 1988, S. 159 ff.
Arbeitsmarkttendenzen bis zum Jahr 2000
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Das Ostmodell enthält ca. 300 Gleichungen und 164 Exogene. Für die ostdeutsche Wirtschaft sind die gegenwärtig verfügbaren Zeitreihen sehr kurz; zudem ist infolge des Transformationsprozesses eine Konstanz der Verhaltensparameter nicht gegeben. Eine traditionelle ökonometrische Modellierung der ostdeutschen Wirtschaft ist somit noch nicht möglich. Das Submodell umfaßt deshalb zunächst die Identitäten der Volkswirtschaftlichen Gesamtrecbnungen und technische bzw. i n stitutionelle Gleichungen, ζ. B. für das Aufkommen verschiedener Steuern und Sozialbeiträge. Hinzu kommen nach Gütergruppen disaggregierte Konsum- und Importfunktionen, deren Parameter gesetzt werden. Dabei w i r d häufig ein Anpassungsprozeß an die entsprechenden Größen des Westmodells unterstellt und der zeitliche Anpassungspfad k a l i briert. Verhaltensvariable, die i n Ostdeutschland weitgehend politisch determiniert werden, wie die Investitionen, werden als Exogene gesetzt. Das Grundmodell für Westdeutschland umfaßt 6 Blöcke: — Produktionspotential Das Produktionspotential kann beschrieben werden als der Output unter Normalauslastung von Maschinen ohne Überstunden, der aber durch eine Veränderung der Maschinenlaufzeiten geändert werden könnte. Dabei w i r d davon ausgegangen, daß der Faktor Kapital der limitierende Produktionsfaktor ist. Das Verhältnis von Löhnen und Kapitalnutzungskosten determiniert über die Kapitalintensität die eingesetzte Produktionstechnik. — Gesamtwirtschaftliche Nachfrage und Wirtschaftskreislauf Die gesamtwirtschaftliche Nachfrage setzt sich aus dem privaten Verbrauch, den Investitionen, dem Staatsverbrauch und den Exporten zusammen — jeweils nach mehreren Gütergruppen disaggregiert. Das Modell berücksichtigt die M u l t i p l i k a t o r - und Akzeleratorprozesse, m i t deren Hilfe die gesamtwirtschaftliche Nachfrage bestimmt wird. Auf Basis einer auf Input / Output-Überlegungen beruhenden M a t r i x ist es möglich, aus der disaggregierten gesamtwirtschaftlichen Nachfrage Importe sowie Output und Beschäftigung nach 14 Sektoren abzuleiten. — Investitionen Investitionen haben eine Doppelnatur: Über ihren Einkommenseffekt tragen sie zur Auslastung der momentan existierenden Produktionsanlagen bei, zugleich erhöhen sie aber auch das Produktionspotential. Die Investitionen werden i m Modell hauptsächlich bestimmt durch den Auslastungsgrad des Kapitalstocks, die Abgänge (d. h. *
Alfons Barth und Wolfgang Klauder
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Ersatz für verschlissene Kapitalgüter) und die Differenz zwischen Sachkapitalrendite und langfristigem Zins. — Der Preis-Lohn-Mechanismus Die sektoral disaggregierten Erzeugerpreise werden bestimmt durch die Kapazitätsauslastung, die Produktionskosten sowie durch die Preise der ausländischen Konkurrenz auf dem deutschen Markt. Die Löhne hängen von der Beschäftigungssituation, der Inflationsrate und dem Produktivitätsfortschritt ab. — Zinsen u n d der Geldmarkt I m Modell w i r d angenommen, daß sich die Politik der Deutschen Bundesbank weiterhin am Ziel der Preisniveaustabilität orientiert. Die Entwicklung des Geldmarktzinssatzes w i r d deshalb durch eine empirisch geschätzte geldpolitische Reaktionsfunktion erklärt; die wichtigsten Einflußfaktoren sind die Inflationsrate und der Grad der Kapazitätsauslastung. — Internationale Wirtschaftsbeziehungen Die Exporte werden nach fünf Hauptregionen disaggregiert; ihre Entwicklung w i r d vor allem durch die Devisenkurse und durch das Wachstum des Sozialproduktes i n den wichtigsten Handelspartnerländern erklärt. Es werden die realen Bruttoinlandsprodukte, die Konsumentenpreisindices und die Devisenkurse der 18 wichtigsten Handelspartner explizit verwendet. Die Vorgaben dafür orientieren sich mittelfristig an den Prognosen der Länderexperten des ökonometrischen Weltmodellverbundes L I N K . Die nominalen Wechselkurse entwickeln sich weitgehend nach dem Kaufkraftparitätentheorem, da es bei dieser Szenarioerstellung u m längerfristige Tendenzen geht. Die realen Wechselkurse werden zunächst konstant gehalten, können aber ggf. i n einem späteren Schritt exogen geändert werden. 4.2 Annahmen über die Entwicklung der Exogenen
Bei den nachfolgenden Annahmen und Ergebnissen handelt es sich u m erste, noch vorläufige Aussagen, da die Szenario-Überlegungen noch nicht abgeschlossen sind. 1 0
10
Die endgültigen Ergebnisse werden voraussichtlich i n Heft 4 / 9 4 der Mitteilungen aus der Arbeitsmarkt- und Berufsforschung veröffentlicht werden.
Arbeitsmarkttendenzen bis zum Jahr 2000
69
Das Ergebnis der Modellierungen ist von der Einschätzung wichtiger exogener Variablen abhängig. Diese beeinflussen dann zusammen m i t den Reaktionsgleichungen, die aus den empirischen Werten der Vergangenheit gewonnen wurden, die endogenen Ergebnisse der Zielgrößen. Die Exogenen wurden von der IAB-Modellierungsgruppe unter Einbeziehung verfügbarer externer Projektionen festgelegt. Die Daten für die Entwicklung von Bevölkerungs- und Erwerbspersonenpotential werden von den LAB-Potentialprognosen übernommen. 1 1 Bei dieser noch vorläufigen Modellierung wurde von einer relativ moderaten Entwicklung der Weltwirtschaft ausgegangen (reales W i r t schaftswachstum i n den 18 wichtigsten Industrieländern ohne Deutschland 1992/2000 + 2,6%, Inflationsrate: +3,7%). Gewogen m i t ihrer Bedeutung für die deutsche Wirtschaft (Anteile an den Warenexporten) errechnen sich für die westlichen Industrieländer 1992 / 2000 ein unterdurchschnittliches Wirtschaftswachstum von 2,3 % und eine überdurchschnittliche Inflationsrate von 4,3%, beides auch ein Hinweis auf eine nicht optimale regionale deutsche Exportstruktur. Die realen Wechselkurse wurden als weitgehend konstant angesehen, die nominalen Wechselkurse folgen den Kaufkraftparitäten. Wegen der augenblicklich angespannten finanziellen Lage des Staates w i r d eine restriktive Ausgabenpolitik der öffentlichen Hände (einschl. Sozialversicherung) unterstellt, die bis 2000 durchgehalten werden kann. Es wurde allerdings nicht angenommen, daß es insgesamt zu einer Stagnation oder einer Kürzung kommt. Wichtige Sozialleistungen wachsen i n Anlehnung an das Nettoeinkommen der Arbeitnehmer. Die Zahl der i m öffentlichen Dienst Beschäftigten w i r d bis 1994 als konstant angenommen. Ab 1995 w i r d eine Personalmehrung i n Höhe von zwei D r i t t e l n der Jahresarbeitszeitverkürzung (incl. Teilzeiteffekt) berücksichtigt. Damit w i r d ein sinkendes Arbeitsvolumen unterstellt. Der Staatsverbrauch steigt real 92 / 2000 u m 0,5% p. a., die staatlichen Investitionen nehmen u m 0,8% p. a. zu. Auf der Einnahmeseite wurden die wichtigsten Steuer- und sozialpolitischen Maßnahmen — m i t Ausnahme der Pflegeversicherung, deren 11 Vgl. Thon, M.: Neue Modellrechnungen zur Entwicklung des Erwerbspersonenpotentials i m bisherigen Bundesgebiet bis 2010 m i t Ausblick auf 2030. In: M i t t A B 4 / 1991, S. 673-688; Fuchs, J. /Magvas, E. / Thon, M.: Erste Überlegungen zur zukünftigen Entwicklung des Erwerbspersonenpotentials i m Gebiet der neuen Bundesländer. Modellrechnungen bis 2010 und Ausblick bis 2030. In: M i t t A B 4 / 1991, S. 689-705; Thon, M.: Perspektiven des Erwerbspersonenpotentials i n Gesamtdeutschland bis zum Jahre 2030. In: M i t t A B 4 / 1991, S. 706-712.
70
Alfons Barth und Wolfgang Klauder
Ausgabewirkungen momentan noch nicht überschaubar sind — berücksichtigt, soweit sie i n Kraft getreten, beschlossen oder verfassungsrechtlich geboten sind, wie die Freistellung des Existenzminimums von der Einkommensteuer. Die Steuerquote wurde unter 25% gehalten, die Lohnsteuerquote unter 20%, was dazu führte, daß der Solidaritätszuschlag auf den Zeitraum 1995 bis 1996 begrenzt wurde und ab 1996 die Mehrwertsteuer u m einen Prozentpunkt angehoben wurde. Der Grundfreibetrag der Einkommensteuer wurde ab 1996 von D M 5.616 auf D M 10.000 erhöht. Bei der durchschnittlichen tariflichen Netto-Jahresarbeitszeit (d. h. incl. Teilzeiteffekt) geht das vorläufige Szenario von einer Verkürzung u m 0,75% p. a. aus. Die Teilzeitquote steigt dabei von 16% i n 1993 auf 20% i m Jahr 2000. Die Lohnentwicklung folgt den Verhaltensgleichungen der Vergangenheit und entwickelt sich endogen i n Abhängigkeit von Arbeitslosenquote, Produktivitäts- und Preisentwicklung. I m Angleichungsszenario für Ostdeutschland wurde versucht, das politische Ziel der Angleichung der Lebensverhältnisse zu modellieren. Dabei w i r d der i n sich konsistente Rahmen der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen herangezogen, u m einzelne Entwicklungen miteinander abzustimmen. Angenommen wurde, daß i m Jahr 2000 das Bruttolohneinkommen je Beschäftigten i m gesamtwirtschaftlichen Durchschnitt 86% des Lohneinkommens i m Westen erreicht, das Rentenniveau angeglichen ist und sich die spezifischen Konsumquoten nach Sachgüter- und Dienstleistungsgruppen, die augenblicklich wegen der noch anderen Einkommens-, Preis- und damit Ausgabenstruktur ostdeutscher Haushalte von den Westanteilen abweichen, bis 2005 vollständig angleichen. Die Vorgaben für die ostdeutschen Staatsausgaben lauten: Die Anzahl der Beschäftigten i m Staatssektor i n Relation zur Bevölkerung (Dichteziffer der Staatsbediensteten) sinkt bis 2010 auf das Westniveau. Die staatlichen Sachausgaben steigen real 1992 / 2000 u m 1,7 % p. a., wegen des dringenden Aufbaus der Infrastruktur liegen die realen durchschnittlich·jährlichen Wachstumsraten bei den Ausrüstungsinvestitionen bei 4,2% und bei den Bauinvestitionen bei 5 , 6 % . 1 2 Jedoch wurde eine zeitlich degressive Verteilung angenommen. Bei den privaten Anlageinvestitionen wurde unterstellt, daß der aus DDR-Zeiten übernommene Kapitalstock weiterhin technisch und öko12
Diese Vorgaben lehnen sich ebenfalls an die Annahmen der Prognos A G an. Vgl. Prognos AG, a. a. O. (Anm. 6).
Arbeitsmarkttendenzen bis zum Jahr 2000
71
nomisch rasch veraltet. Danach würde es 2010 nur noch einen Restbestand von 8% des übernommenen Kapitalstocks geben, der nahezu ausschließlich aus Bauten besteht. Die zum Aufbau des neuen Kapitalstocks notwendigen Bau- und Ausrüstungsinvestitionen erfolgen so, daß 2010 die ostdeutsche Kapitalintensität i m gesamtwirtschaftlichen Durchschnitt 90 % des westdeutschen Niveaus erreicht. 1 3 Bei den Wohnungsbauinvestitionen besteht ein enormer Nachholbedarf, der wegen der notwendigen Finanzierung auch bis 2010 nicht aufgeholt werden kann. Sie wurden m i t einer durchschnittlich-jährlichen Wachstumsrate von 6,4% fortgeschrieben, wobei die größten prozentualen Zuwächse i n den ersten Jahren zu verzeichnen sind. 1 4 Die Preise i n Ostdeutschland haben bereits weitgehend das Niveau der entsprechenden Westpreise angenommen, so daß die Preisentwicklung durch die westdeutsche Entwicklung determiniert wird. Die bedeutendste Ausnahme davon stellt die Entwicklung der Mieten dar. Hier werden für Ostdeutschland weiterhin weitaus höhere Mietsteigerungen angesetzt. Eine völlige Angleichung des Mietpreisniveaus erfolgt erst 2010. 4.3 Modellergebnisse des vorläufigen Basis-Szenarios
Diese Grundannahmen führen i m Modell zu folgenden Ergebnissen (Tab. 2): Gegenüber dem Basisjahr 1992 n i m m t das reale Bruttoinlandsprodukt i n Westdeutschland i m Durchschnitt u m 0,8% p. a., i n Ostdeutschland um 8,9% zu. Gegenüber 1993 belaufen sich die Wachstumsraten i m Modell auf 1,4% bzw. 9,2%. Die Produktivität je Erwerbstätigen erhöht sich i n der Basisvariante gegenüber 1992 i m Westen mit 0,7% p. a. schwächer, i m Osten dagegen m i t 9,4% p. a. stärker als die Produktion m i t jeweils entsprechend gegenläufigen Auswirkungen auf die Beschäftigung. Das relativ schwache westdeutsche Wirtschaftswachstum hat auch etwas zu t u n m i t den Anstrengungen für den Wiederaufbau Ostdeutschlands. Immerhin bleiben i m Modell die Übertragungen von West- nach Ostdeutschland noch bis zur Jahrtausendwende auf relativ hohem N i veau (2000: 150 M r d DM). Auch steigt das gesamtdeutsche Finanzie13 Auch i n Westdeutschland streut die Produktivität über die Länder erheblich. I n Ostdeutschland ist außerdem m i t einer moderneren Sektorstruktur zu rechnen, die i m gesamtwirtschaftlichen Durchschnitt zu einer niedrigeren K a p i talintensität führen dürfte. 14 Prognos ermittelte als durchschnittlich-]ährliche Steigerungsrate 6,9 %. Vgl. Prognos AG, a. a. O. (Anm. 6), S. 46*.
72
Alfons Barth und Wolfgang Klauder Tabelle 2 Ausgewählte Kennzahlen des Basis-Szenarios bis 2000 (vorläufige Werte)
Aggregat
West
Ost
Insgesamt
1992/2000 in % p.a.
Reales Bruttoinlandsprodukt (BIP) Reales BIP je Erwerbstätigen
+ 0,8 + 0,7
+ 8,9 + 9,4
Lebenshaitungskosten
+ 2,3
+ 3,5
Index der effektiven Stundenlöhne
+ 3,7 + 2,4
+ 6,4
Durchschnittliche Monatslöhne
.
+ 1,6 + 1,5 + 2,5 + 3,0
1993/2000 in % p.a.
Reales Bruttoinlandsprodukt Reales BIP je Erwerbstätigen
+ 1,4 + 1,0
+ 9,2 + 9,2
+ 2,1 + 1,8
1992/2000 in Mio Personen
Erwerbspersonenpotential
+ 0,8
+ 0,1
+ 0,9
+ 0,4
- 0,2
+ 0,2
(ohne "Vorruheständler")
Erwerbstätige 1992
"Unterbeschäftigung" in Mie» Personen* 1992 2000 1992 2000 2000
Arbeitslose (reg.) Stille Reserve
1,8
2,5
1,2
1,2
3,0
3,6
(einschl. "Vorruheständler")
1,5 3,3
hl
(L3 1,5
JL6 1,8
1,8 4,8
1,9 5,5
Rechnerische Arbeitsplatzlücke
3,7
West + Ost in Mrd. DM
Außenbeitrag
1992
+ 13
(Leistungsbilanz ohne Übertragungsbilanz)
1995
+ 29
2000
+ 48
1992 1995
- 79 - 94
2000
- 60
Finanzierungssaldo Staat
*Die Aufteilung der modellendogen ermittelten Arbeitsplatzlücke auf Arbeitslosigkeit und S t i l l e Reserve folgt einer aus der Vergangenheit abgeleiteten "Faustregel". Jedoch gibt es Anzeichen dafür, daß sich eventuell ein höherer Anteil in der Stillen Reserve niederschlägt, als in o.g. Zahlen ausgewiesen. Quelle: I A B - V I I / 1 -Simulationen mit der IAB-Version des Modells SYSIFO, Datenbasis: 2. Quartal 1993 — I A B - V I I / 1 - 4 / 9 4 .
Arbeitsmarkttendenzen bis zum Jahr 2000
73
rungsdefizit des öffentlichen Sektors noch bis 1995 erheblich an. Nach 1995 beginnt sich die staatliche Finanzlage aber zunehmend zu entspannen. Die gesamtdeutsche Leistungsbilanz bleibt zwar auch weiterhin negativ, jedoch m i t abnehmender Tendenz. Der 1992 m i t 13 M r d D M nur geringfügig positive gesamtdeutsche Außenbetrag kann sich bis 2000 immerhin auf fast 50 M r d D M erhöhen. Die positive Entwicklung der Leistungsbilanz und des staatlichen Finanzierungssaldos dürften sich nach der Jahrtausendwende verstärkt fortsetzen. Die Auswirkungen des vorläufigen Wirtschaftsszenarios auf den A r beitsmarkt veranschaulichen die Abb. 5 und 6: I n Westdeutschland würde sich die Beschäftigung der Basisversion zufolge ab 1995 wieder rasch von dem Konjunktureinbruch erholen und 2000 sogar m i t rd. 29,9 Mio den bisherigen Höchststand von 1992 u m 0,4 Mio übertreffen. Auffällig und überraschend ist der relativ rasche Wiederanstieg der Beschäftigung. Dies hängt natürlich damit zusammen, daß die Modellfunktionen das Verhalten der Vergangenheit widerspiegeln und damit auch die bis 1992 zu beobachtende Verlangsamung des Produktivitätsfortschrittes i n Relation zum Wirtschaftswachstum, m i t anderen Worten: das Absinken der Beschäftigungsschwelle 15 , abbilden. I n Ostdeutschland käme es dagegen erst ab 1996 und auch dann nur zu einem sehr langsamen Wiederanstieg der Beschäftigung. Diese läge selbst 2000 m i t rd. 6,1 Mio noch um 0,2 Mio unter dem Stand von 1992. Investitionsentwicklung und Produktivitätsfortschritt können sich bei der skizzierten Annahmekonstellation zu Kapitalstock und Löhnen erst nach 2000 so positiv auf die Wettbewerbsfähigkeit auswirken, daß ein stärkerer Beschäftigungsaufbau möglich wird.
15 Vgl. zur Beschäftigungsschwelle auch: Hof, B.: Beschäftigungsschwelle und Wachstum — Was besagt die Empirie? In: ifo-Studien 2/1994, S. 127-144; Hof, B.: Von der neuen Basis überrascht. Anmerkungen zur Prognos-Projektion „ A r beitslandschaft bis 2010 nach Umfang und Tätigkeitsprofilen". In: M i t t A B 1 / 1990, S. 122-131; Klauder, W.: Zur Entwicklung von Produktivität und Beschäftigungsschwelle. In: M i t t A B 1/1990, S. 86-99; Pusse, L.: Überlegungen zur formalen und empirischen Bestimmung der Beschäftigungsschwelle. In: M i t t A B 1 / 1990, S. 100-105; Schnur, P.: Investitionstätigkeit und Produktivitätsentwicklung. Empirische Analyse auf der Basis eines erweiterten Verdoorn-Ansatzes. In: M i t t A B 1/1990, S. 106-110.
76
Alfons Barth und Wolfgang Klauder
Dieses Ergebnis erscheint durchaus plausibel. Denn eine befriedigende Beschäftigungslage kann i n Ostdeutschland erst erwartet werden, wenn die Produktivität westdeutsches Niveau erreicht und das Güterund Dienstleistungsangebot einschl. der Infrastruktur den Bedürfnissen des Marktes entspricht. Hierzu ist auf jeden Fall die Angleichung der Wirtschaftsstruktur an westliche Trends und somit eine enorme U m schichtung der Arbeitsplätze erforderlich, ζ. B. von Wirtschaftszweigen wie Landwirtschaft, Bergbau, Eisen- und Stahlerzeugung, Schiffbau, Lederindustrie, Staat zu Zweigen wie Kunststoffverarbeitung, D r u k kereien, EBM-Waren sowie zu der ganzen Palette der privaten Dienstleistungsunternehmen und der Organisationen ohne Erwerbscharakter, außerdem von Großbetrieben zu kleinen und mittleren Unternehmen einschl. Handwerk und Freien Berufen. Dieser Mittelstand war i n der ehemaligen DDR kaum mehr vorhanden, beschäftigt i n den alten Ländern jedoch etwa zwei D r i t t e l der Arbeitnehmer u n d hat sich als wesentliches Element einer erfolgreichen Marktwirtschaft erwiesen. Auf jeden Fall sind derartige Umstrukturierungen nicht ohne erhebliche Freisetzungen denkbar und erfordern Zeit. Auch i n Westdeutschland benötigen größere Investitionen zumeist eine Vorlaufzeit von mehreren Jahren. A l l e i n schon aus diesen Gründen kann m i t einer Besserung der ostdeutschen Arbeitsmarktlage kaum vor M i t t e der 90er Jahre gerechnet werden.
5. Simulations-Ergebnisse ausgewählter alternativer Annahmen für Westdeutschland Die Setzung alternativer Annahmen erlaubt es, die Reagibilität der Szenarioergebnisse gegenüber Variationen der Annahmen zu untersuchen. Vor allem ist es möglich, zu prüfen, ob andere wirtschaftspolitische Maßnahmen geeignet sein könnten, die unbefriedigende E n t w i c k lung des Arbeitsmarktes zu verbessern. Allerdings wurden diese Alternativ-Annahmen wegen des Rumpf Charakters des „Ostmodells" zunächst nur i m ökonometrischen „Westmodell" durchgespielt. Einige ausgewählte Ergebnisse enthält die Tabelle 3. A u f eine umfassende Darstellung einschl. der Verlaufsergebnisse mußte verzichtet werden, da dies den Rahmen dieses Beitrages gesprengt hätte.
1,84
BIP je Stunde
2 484
29 884
- 59
2 476
29 897 29 789
2 829
29 314
- 82
2,08
2,64
1,49
1,90
1,40
2,19
1,93
1,04
1,69
2,14
1,87
1,68
0,81
2,01
2,56
- 47
2000 in Mrd DM
0,91
1,89
1,31
2 542
29 801
2 535
30 661
- 86
2 017
0,61
1,57
1,01
1,97
2,19
0,71
1,71
1,58
2,11
1,60
0,52
- 94
3 011
1,14
0,53
1,56
1,64
1,60
0,96
29 019
2000 in 1000 Personen
- 35
2,20
2,62
0,98
1,83
1,25
0,68
1,47
1,01
1,49
1,22
ohne insgesamt Löhne 2 % Arbeitszeitp.a. ab 95 Verkürzung
1995/2000 in % p.a.
2,26
1,91
0,69
1,65 0,64
Grundfreibetra g
Rücknahme der im Basis-Szenario jeweils ab 1996 unterstellten Mehrwertsteuererhöhung um 1 %-Punkt bzw. der unterstellten Anhebung des Grundfreibetrages von 5.616 DM auf 10.000 DM. Quelle: ΙΑΒ-ΥΠ/1-Simulationen mit der IAB-Version des Modells SYSIFO, Datenbasis: 2. Quartal 1993 — IAB-VII/1-4/94.
Arbeitslose
Erwerbstätige
- 48
1,71
Lebenshaltungskosten 2,27
Finanzierungssaldo Staat
1,78
2,70
Lohnstückkosten
0,92
1,55
1,33
BIP (real)
BIP je Erwerbstätigen
1,94
Lebenshaltungskosten 2,30
MWSt
ohne Erhöhung1^
1992/2000 in % p.a. 0,86 0,77
technischer Fortschritt erhöht
2,45
1,35
1,96
Lohnstückkosten
0,65
2,07
BIP je Stunde
BIP je Erwerbstätigen
0,96
BasisSzenario
Bruttoinlandsprodukt (BIP), real 0,82
1,66
Tabelle 3
Simulationsergebnisse für Westdeutschland bis 2000 (vorläufige Werte)
Arbeitsmarkttendenzen bis zum Jahr 2000 77
78
Alfons Barth und Wolfgang Klauder 5.1 Verstärkter Produktivitätsfortschritt
Wie bereits erwähnt, dürfte der i n Deutschland seit 1983 anhaltende und schließlich i n dem Wiedervereinigungsboom gipfelnde Wirtschaftsaufschwung zu einem Produktivitätsrückstand geführt haben, der i n der Rezession zu Tage getreten ist und i n den nächsten Jahren aufgelöst wird. Indessen ist statistisch noch nicht überschaubar, i n welcher Breite es i n der Wirtschaft tatsächlich zu einem Produktivitätsschub kommt. Aus den i n der Presse dargestellten singulären und teilweise spektakulären Beispielen u n d Absichten lassen sich noch keine allgemeingültigen Schlüsse ziehen. Auch ist zu bedenken, daß anstehende technischorganisatorische Rationalisierungen i n der Regel nur sukzessive und nicht schlagartig i n allen Abteilungen eines Unternehmens zugleich durchgeführt werden können. Zur exemplarischen Erfassung eines solchen möglichen und wahrscheinlichen Produktivitätsschubes wurden die Trendkomponenten, die i n den Produktivitätsfunktionen den faktorunabhängigen technischen Fortschritt abbilden, für die i m internationalen Wettbewerb stehenden Sektoren 1 6 für die Jahre 1994 bis 2000 so erhöht, daß i m Ergebnis die durchschnittlich-] ährliche Rate für den gesamtwirtschaftlichen Produktivitätsfortschritt je Erwerbstätigenstunde 1992/2000 u m 0,4 Prozentpunkte höher ausfällt (2,1% p. a. i m Vergleich zu 1,7% p. a. i m Basisszenario). Diese Anhebung der Fortschrittsrate w i r k t sich zwar positiv auf Wirtschaftswachstum und Kostenlage aus, kostet aber dennoch per Saldo i m Jahre 2000 fast 0,6 Mio Arbeitsplätze und hat bei sonst unveränderten Annahmen auch ein höheres Staatsdefizit zur Folge. Möglich erscheint, daß i n der Realität der Produktivitätsschub zu A n fang noch stärker ausfällt und m i t h i n gegebenenfalls m i t einer anderen zeitlichen Verteilung zu rechnen ist als i n dieser Modellrechnung unterstellt. Z u bedenken ist aber, daß i m statistisch erfaßten Produktivitätsfortschritt i m wesentlichen nur der Rationalisierungseffekt des technisch-organisatorischen Fortschrittes zum Ausdruck kommt. Der technische Fortschritt bringt aber auch neue Produkte m i t sich, die die Erschließung neuer Märkte ermöglicht. Dieser Aspekt müßte i m Modell durch zusätzliche Annahmen berücksichtigt werden.
16 Berücksichtigt wurden folgende Sektoren: Grundstoff-, Investitionsgüter-, Verbrauchsgüter-, Nahrungsmittel-Gewerbe, Banken und Versicherungen, Handel, Verkehr und Nachrichten, das sind 7 der i m Modell erfaßten 14 Sektoren.
Arbeitsmarkttendenzen bis zum Jahr 2000
79
5.2 Steuerpolitik
Bei den nächsten drei Simulationen werden die i m Basisszenario angenommenen Steueränderungen alternativ wieder zurückgenommen. Z u beachten ist, daß diese Maßnahmen erst ab 1996 relevant werden. Wie Tabelle 3 zeigt, ist der Erhöhung des Grundfreibetrages von D M 5.616 auf D M 10.000 vier Jahre später aufgrund des dadurch angeregten Wirtschaftswachstums ein positiver Beschäftigungseffekt von fast 0,1 Mio Erwerbstätigen zuzuordnen, während der kontraktive Beschäftigungseffekt der zur Kompensation angenommenen Mehrwertsteuererhöhung u m einen Prozentpunkt zu diesem Zeitpunkt praktisch ausgelaufen ist. Allerdings ist zu beachten, daß die Mehrwertsteuererhöhung bei einer Verlaufsbetrachtung i n der Modellrechnung zunächst durchaus zu Beschäftigungseinbußen führt, deren M a x i m u m i m zweiten Jahr nach der Einführung m i t rd. 70 000 Erwerbstätigen liegt. Dennoch w i r d bereits i n diesem zweiten Jahr der negative Beschäftigungseffekt der Mehrwertsteuererhöhung durch den positiven Beschäftigungseffekt der Heraufsetzung des Grundfreibetrages mehr als ausgeglichen. 17 5.3 Lohnpolitik
Die i n der Tabelle 3 angeführte alternative Simulation der Lohnpolit i k unterstellt, daß die Gewerkschaften bereit wären, die derzeitige Zurückhaltung bei den Lohnforderungen auch i n den nächsten Jahren fortzusetzen und angesichts des schwachen Wirtschaftswachstums, des geringen Produktivitätsfortschritts und der hohen Arbeitslosigkeit Lohnerhöhungen von jährlich 2 % zu akzeptieren, während sich endogen — auf Basis des früheren Verhaltens — i n der 2. Hälfte unseres Projektionszeitraumes eine durchschnittlich-jährliche Rate von rd. 4 % (für den gesamten Projektionszeitraum 1992/2000 + 3,7%) ergeben 17 I m I A B zur Frage einer alternativen Finanzierung der Arbeitsmarktpolitik durchgeführte zusätzliche Simulationen deuten ebenfalls darauf hin, daß Erhöhungen der indirekten Steuern und hier insbesondere der Mehrwertsteuer zu geringeren Wachstums- und Beschäftigungs- und damit Wohlstandseinbußen führen als Anhebungen der Einkommensteuer und daß bei dieser wiederum Verstärkungen der Progression die stärksten Einbußen auslösen. Z u prüfen wären allerdings noch die Verteilungswirkungen. Vgl. Buttler, F.: Finanzierung der Arbeitsmarktpolitik, IAB-Werkstattbericht Nr. 8/31.8.94. Z u ähnlichen Ergebnissen gelangen auch die Heidelberger Finanzwissenschaftler Rose, R. / Richter, H. i n einer für die Wirtschaftswoche ebenfalls auf Basis eines makroökonomischen Modells durchgeführten Untersuchung. Diese relativieren außerdem die oft behauptete Regressionswirkimg der Mehrwertsteuer. Vgl. Schütte, Chr.: Halbe Wahrheit, in: Wirtschaftswoche v. 22.4.1994, S. 26.
80
Alfons Barth und Wolfgang Klauder
würde. Die Annahme einer Halbierung der modellendogen zu erwartenden Lohnanhebungen führt i m Modell ab 1996 zu einer u m vier Fünftel niedrigeren Steigerung der Lohnstückkosten auf 0,5% p. a., einer Halbierung der Inflationsrate auf 1,1% p. a. sowie zu einem m i t gut 1,6% p. a. u m 0,3 Prozentpunkte höheren Wirtschaftswachstum. Der verringerte Lohnkostendruck dämpft andererseits das Tempo des Produktivitätsfortschrittes. Insgesamt würde eine solche Strategie zu einem Beschäftigungsplus i m Jahre 2000 von fast 0,8 Mio Erwerbstätigen und einer bis dahin u m 0,5 Mio niedrigeren Arbeitslosenzahl führen. Erwähnenswert ist schließlich noch, daß die Steigerung der tariflichen Stundenlohnsätze m i t + 2 % p. a. nach wie vor über den bei dieser Konstellation zu erwartenden Zuwachsraten sowohl der effektiven Arbeitsproduktivität als auch der Lebenshaltungskosten liegt, jedoch hinter der Summe beider Raten u m rd. 0,7 Prozentpunkte zurückbleibt. Nachteilig wirken sich die niedrigeren Steigerungen der Preise und Nominaleinkommen allerdings auf die Haushaltskonsolidierung aus: das Finanzierungsdefizit des staatlichen Sektors fiele i m Jahre 2000 bei sonst unveränderten Annahmen — auch ζ. B. hinsichtlich der realen Staatsausgaben — um fast 40 M r d D M höher aus.
5.4 Wirkung der Arbeitszeitverkürzung
Eine weitere Simulation stellt die Auswirkungen der i m Basisszenario unterstellten Arbeitszeitreduktion dar, wobei das Modell allerdings nicht zwischen schematischer und flexibler Arbeitszeitverkürzung und vermehrter Teilzeitarbeit differenziert. I n der Simulation wurde dazu der angenommene Rückgang der sektoral disaggregierten Nettojahresarbeitszeiten wieder aufgehoben. Es erfolgte keine explizite Anpassung der Stundenlöhne, die Löhne verändern sich nur modellendogen. Die Simulationsergebnisse bestätigen die positiven Beschäftigungseffekte einer Arbeitszeitreduktion ohne expliziten Lohnausgleich auf den A r beitsmarkt. 1 8 Ohne die unterstellte Abnahme der durchschnittlichen 18 Das I A B hat bereits seit den 70er Jahren immer wieder die These eines positiven Zusammenhanges zwischen Arbeitszeitverkürzung und Beschäftigung vertreten. Vgl. z. B. Reyher, L. / Bach, H.-U. / Kohler, H. / Tenet, B.: Arbeitszeit und Arbeitsmarkt. Volumenrechnung, Auslastungsgrad und Entlastungswirkung. In: M i t t A B 3 A1979, S. 381-402; Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (Hrsg.): Arbeitszeit und flexible Altersgrenze. Aspekte und Fakten zur aktuellen Diskussion. BeitrAB 75, 2. erweiterte Auflage, Nürnberg 1986; Bach, H. U. / Spitznagel, E . / T e r i e t , B.: Beschäftigungsorientierte Arbeitszeitregelungen — Chance oder Illusion? IAB-Werkstattbericht Nr. 2 / 25.1.1994.
Arbeitsmarkttendenzen bis zum Jahr 2000
81
Jahresarbeitszeit je Erwerbstätigen um knapp 0,6% p . a . 1992/2000, gäbe es fast 0,9 Mio Erwerbstätige weniger und gut 0,5 Mio Arbeitslose mehr. Allerdings zeigen die Simulationsergebnisse auch, daß die Entlastung des Arbeitsmarktes durch Arbeitszeitverkürzung selbst ohne Lohnausgleich zu höheren Lohnstückkosten und höheren Preisen führt und m i t einem niedrigeren Wirtschaftswachstum erkauft werden muß.
5.5 Höheres Weltwirtschaftswachstum und verstärkter Strukturwandel
Erst i m Anschluß an die Tagung der Arbeitsgemeinschaft konnten die folgenden zwei weiteren Simulationen fertiggestellt werden, deren Ergebnisse wegen ihrer Bedeutung und auch i m Hinblick auf die Diskussion während der Tagung hiermit nachgetragen werden:
5.5.1 Höheres Weltwirtschaftswachstum Die m i t unterschiedlichen weltwirtschaftlichen Expansionsraten durchgeführten Simulationen unterstreichen die ausgeprägte außenwirtschaftliche Abhängigkeit der Bundesrepublik. Unterstellt man ζ. B. ab 1994 ein um einen Prozentpunkt höheres Wirtschaftswachstum der westlichen Industrieländer, würde die westdeutsche Wirtschaft von 1994 bis 2000 real um durchschnittlich-jährlich rd. 0,7 Prozentpunkte schneller wachsen (1993/2000 statt + 1,4% gut 2,1% p. a.). Aufgrund dieses Effektes fielen i n Westdeutschland die Beschäftigung m i t knapp 31 Mio u m fast 1,1 Mio höher und die Arbeitslosenzahlen u m beinahe 0,7 Mio niedriger aus als i n der Basisversion. Auch die Lage der öffentlichen Haushalte würde sich bei sonst unveränderten Annahmen zusehends entspannen. I m Jahre 2000 könnte es sogar insgesamt bereits wieder zu einem Überschuß kommen.
5.5.2 Verstärkter
Strukturwandel
I m Basisszenärio ist der zu erwartende Strukturwandel noch unvollständig erfaßt. Zwar wurde durch die alternativen Setzungen der exogenen Variablen auf der Endnachfrage- und auf der Kostenseite sowie durch die alternative Produktivitätssimulation tendenziell berücksichtigt, daß sich die Zukunft nicht nur aus den i n den Modellgleichungen abgebildeten Beziehungen und Trends der Vergangenheit ergibt, sondern „Strukturbrüche" möglich sind. 1 9 6 Konjunkturpolitik, Beiheft 42
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Alfons Barth und Wolfgang Klauder
Jedoch berücksichtigt das Basisszenario bisher keine Strukturveränderungen bei der sektoralen Verflechtung, da es ungemein schwierig und aufwendig ist, i n derartigen Modellen m i t variablen statt konstanten Input-Output-Koeffizienten zu arbeiten. Die m i t konstanten Koeffizienten für die Vergangenheitsentwicklung hypothetisch ermittelte Produktionsstruktur weicht dadurch zwangsläufig von der tatsächlichen ab. I n einer zusätzlichen Simulation wurden nunmehr diese Abweichungen i n die Zukunft trendmäßig fortgeschrieben. Das Ergebnis ist ein deutlich verstärkter Strukturwandel von Produktion und Beschäftigimg zugunsten des Dienstleistungssektors. Für einige Jahre kommt es dadurch auch i m gesamtwirtschaftlichen Saldo zu deutlichen Arbeitsplatzverlusten, die jedoch i n dieser Simulation bis 2005 wieder ausgeglichen werden. Nach 2005 überwiegen schließlich positive Beschäftigungseffekte. 6. Schlußfolgerungen Bei den dargelegten Simulationsergebnissen handelt es sich zwar wegen des zwangsläufig relativ hohen Abstraktionsgrades eines gesamtwirtschaftlichen Modells und der zahlreichen Unzulänglichkeiten der Statistik u m hypothetische Ergebnisse, die grundsätzlich nicht überbewertet werden sollten. Anzumerken ist ferner, daß die skizzierten Auswirkungen alternativer Annahmen nur gegenüber dem dargestellten Basisszenario gelten und gegenüber einem deutlich anderen Basisszenario etwas anders ausfallen könnten. Dennoch dürfte die allgemeine Tendenz zutreffend angezeigt werden. So zeigen die Simulationen: Die Gefahr einer anhaltend hohen A r beitslosigkeit ist sehr groß. Keine Annahmevariation kann für sich allein genommen die Beschäftigung ausreichend steigern. Keine der angeführten Alternativen kann außerdem gleichzeitig alle betrachteten Größen i m Vergleich zum Basisszenario verbessern. Die günstigste Wirkung auf Wirtschaftswachstum und Arbeitsmarkt zugleich hätte von den politischen Maßnahmen zweifellos eine zurückhaltende Lohnpolit i k , diese würde allerdings bei sonst unveränderten Annahmen das Staatsdefizit merklich erhöhen. E i n Verzicht auf die unterstellten A r beitszeitverkürzungen käme dagegen zwar dem Wachstum zugute, w ü r 19
Das Modell ist außerdem an vielen Stellen für weitere derartige Strukturbrüche offen. Die entsprechenden Annahmen können allerdings sicherlich häufig nicht ohne nähere Untersuchungen getroffen werden. Bei den I A B / P r o g n o s Projektionen von 1989 griff die Prognos A G dazu ζ. B. auf Expertenbefragungen zurück. Vgl. Prognos A G (Hofer, P. / Weidig, I. / Wolff, H.), a. a. Ο. (Anm. 4).
Arbeitsmarkttendenzen bis zum Jahr 2000
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de aber den Arbeitsmarkt und den Staatshaushalt deutlich belasten. U m den Arbeitsmarkt unter Wahrung der übrigen gesamtwirtschaftlichen Ziele durchgreifend zu verbessern, bedarf es eines ganzen Bündels aufeinander abgestimmter Maßnahmen. Bedenkt man die durch neue Techniken, insbesondere die Mikroelektronik, ausgelöste technologische Revolution, die zunehmende Internationalisierung und Globalisierung des Wirtschaftens, die erforderliche Synthese von Ökonomie und Ökologie sowie den Wertewandel und die Alterung der Bevölkerung, w i r d klar, daß w i r uns i n der Anfangsphase eines grundlegenden Strukturwandels der gesamten Wirtschafts- und Arbeitswelt befinden. 2 0 U m diesen Strukturwandel zu bewältigen und u m die Arbeitsmarktlage dauerhaft und durchgreifend zu bessern, sind zusätzliche (im Sinne des Modells autonome) wachstumserhöhende p r i vate Investitionen notwendig, die nur durch deutlich mehr Innovationen induziert werden können. Eine Innovationsstrategie dürfte i m Bündel der nötigen wirtschaftspolitischen Maßnahmen m i t h i n der strukturell wichtigste wirtschaftspolitische Ansatzpunkt sein, ohne daß deswegen auf andere Maßnahmen verzichtet werden könnte. Insbesondere w i r d es auch i n absehbarer Zukunft zu einer aktiven Arbeitsmarktpolitik auf hohem Niveau keine Alternative geben. Z u warnen ist jedoch vor einer Überfrachtung der Arbeitsmarktpolitik m i t Aufgaben, die eigentlich andere Politikbereiche wie die Wirtschafts-, Finanz- und Geldpolitik zu lösen hätten. 2 1
20 Vgl. Klauder, W., a. a. O. (Anm. 5). 21
Vgl. u . a . Buttler, F . / K l a u d e r , W.: Investitionsförderung — Schlüssel zur Lösung des Beschäftigungsproblems. In: M i t t A B 3 / 1 9 9 2 , S. 252-259; ferner: Dieselben: Wie weit reicht die Brückenfunktion der Arbeitsmarktpolitik i n Ostdeutschland? MatA B 1/1993 (MatA B = Materialien aus der Arbeitsmarktund Berufsforschung); ferner: Blaschke, D. u. a.: Der Arbeitsmarkt i n den neuen Ländern — Zwischenbilanz und Herausforderungen. In: M i t t A B 2 / 1 9 9 2 , S . 1 1 9 135. 6*
Zusammenfassung der Diskussion Referate Gornig u n d B a r t h / Klauder Siebert beginnt die Diskussion m i t der Frage, ob es denn w i r k l i c h zutreffe, daß — wie beide dargestellten Ansätze zu belegen schienen — i n Ostdeutschland kaum zusätzliche Beschäftigung zu erwarten sei. Gleichzeitig sei dort ja ein Prozeß starker Kapitalakkumulation i m Gange, m i t einem beachtlichen Produktivitätsfortschritt. N u n könne man vielleicht argumentieren, daß dieser Produktivitätsfortschritt von 9 % gerade ausreichte um die Lücke zwischen dem Produktivitätsniveau und dem Lohnniveau zu schließen. Dann würde sich die Beschäftigung i n der Tat nicht stark verändern. Allerdings müßte i n jenen Unternehmen, i n denen die Kapitalakkumulation und der Produktivitätsfortschritt stattfinden, ein Anreiz bestehen, mehr Arbeitskräfte einzustellen. Wenn es gesamtwirtschaftlich bei einer Stagnation der Beschäftigung bliebe, müßten an anderen Stellen der Volkswirtschaft noch sehr viele Arbeitsplätze abgebaut werden. Das sei aber nicht zu erkennen. Vielmehr scheine es, daß der Beschäftigungsabbau i n Ostdeutschland jetzt i m wesentlichen vollzogen sei. Glass moniert, i n den beiden Referaten sei der Aspekt der Geldpolitik unzureichend berücksichtigt worden. Denn die Geldpolitik stelle i n der Bundesrepublik einen erheblichen Unsicherheitsfaktor für die Konj u n k t u r · und Wachstumspolitik dar. I m zweiten Referat sei sogar angenommen worden, die Bundesbank würde eine auf Preisniveaustabiltität bedachte Geldpolitik betreiben. Tatsächlich sei diese Annahme aber sehr unrealistisch, denn die Bundesbank setze von vornherein eine normative Inflationsrate von 2 % an, die sie aus nicht nachvollziehbaren Gründen für vertretbar oder gar sinnvoll halte. Sie habe sich auch ζ. B. i m Durchschnitt der Jahre von 1973 bis 1989 nicht darum bemüht, diese Rate einzuhalten, sondern die Inflationsrate des Bruttoinlandsprodukts habe i m Durchschnitt der genannten 15 Jahre ungefähr bei 3,5% gelegen. Nach der deutschen Wiedervereinigung mache die Bundesbank auch keine Anstalten, ihre Politik dahingehend zu verbessern; dies zeige sich auch daran, daß die Bundesbank ihre eigenen Geldmengenziele ständig deutlich überschreite. Dies deute darauf hin, daß sie es m i t den Geld-
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mengenzielen gar nicht ernst meine, sondern versuche, die Konjunktur durch eine Politik des leichten Geldes anzuheizen. Wenn das überhaupt wirkte, werde es zu einem Konjunkturaufschwung m i t Preisauftriebstendenzen kommen, und das werde die Bundesbank dann wieder dazu veranlassen, eine restriktivere Geldpolitik zu betreiben, mündend wieder i n eine Rezession. Wenn i n dieser Stabilisierungsrezession die A r beitslosigkeit wieder anstiege, sei zu befürchten, daß auch dauerhaft ein nochmals höherer Sockel an Arbeitslosigkeit verbleibe. Klemmer weist darauf hin, daß beide Modelle m i t hochaggregierten Annahmen arbeiten. Aber es seien Rahmenbedingungen angesprochen worden, die eine Beschleunigung des Strukturwandels erwarten ließen. Gornig habe i n seinen Modellannahmen die Erweiterung Europas berücksichtigt. Wenn man diese Erweiterung Europas auf die mitteleuropäischen Nachbarstaaten ausdehnte, dann hätte man dies m i t einer Beschleunigung des sektoralen Strukturwandels zu bezahlen. Die Sektoren, die dort eine Chance hätten, i n einer Arbeitsteilung i n ganz Europa mitzuwirken, seien ζ. B. die Nahrungs- und Genußmittelproduktion, die Ledererzeugung bzw. -Verarbeitung, die Textilerzeugung und -Verarbeitung, einfache Formen der Kunststoffverarbeitung. Klemmer fragt, ob es i n beiden Modellen einen Ansatz gibt, diese Tendenzen, die beachtliche Arbeitsmarkteffekte hätten, zu berücksichtigen. A n scheinend sei das bislang nicht der Fall. Klemmer wundert sich ferner, warum Gornig die Änderungen i n den ökologischen Rahmenbedingungen so sehr heruntergespielt habe. Zwar bestehe kaum ein Anlaß, an den Ergebnissen des gemeinsamen Gutachtens von D I W und R W I über die Auswirkungen von Umweltschutz auf die Standortfrage größere Korrekturen vorzunehmen, vielleicht höchstens i n Bezug auf die Einschätzung der Genehmigungsprozesse. Aber seit 1989 habe es eine beachtliche Änderung gegeben: die Explosion i m Gebührenhaushalt. Bei den i n der Diskussion befindlichen Formen einer Energiesteuer — ob C0 2 -Abgabe, ob Kombinationsmodelle — könnten sehr schnell Größenordnungen von 90 bis 120 Mrd. D M erreicht werden, und das bei einem Steuervolumen von rund 790 Mrd. D M . Strukturänderungen wären die Folge. Pohl wundert sich über eine Diskrepanz zwischen den Ergebnissen der beiden Referate: I n dem Modell von Gornig sei die Wachstumsrate höher als bei Klauder, aber der Beschäftigungseffekt negativer. Es sei auch nicht klar, warum die Erfahrung der 80-er Jahre i n den 90-ern nicht wiederholbar sein sollte, daß nämlich die Beschäftigung m i t dem Wachstum mitgezogen ist.
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Z u Klauders Darlegungen bemerkt Pohl, das Erwerbspersonenpotent i a l sei für Ostdeutschland als stagnierend angenommen worden, aber es sei doch sicherlich eine endogene Größe und reagiere auf Lohnbewegungen. Dabei stellt Pohl die These negativer Angebotselastizität i n den Raum: Heute sei wegen der niedrigen Löhne die Mitarbeit von Mann und Frau gang und gäbe, das werde aber m i t den stark steigenden Einkommen abnehmen. Der i m Modell dargestellte große Überhang an Arbeitsangebot sei also sozusagen exogen vorgegeben und möglicherweise nicht realistisch. Die dritte Bemerkung Pohls richtet sich ebenfalls an Klauder: Er habe implizit unterstellt, bei zunehmendem technischen Fortschritt nehme die Beschäftigung ab. Es sei aber nicht klar, ob womöglich nur der negative Beschäftigungseffekt steigender Produktivität einbezogen worden sei. Der technische Fortschritt bringe ja auch einen Wettbewerbsvorteil i m internationalen Bereich, d. h. steigenden Absatz u n d folglich positive Beschäftigungseffekte. Insofern müsse man froh sein, wenn man den technischen Fortschritt verstärken kann. Z u m Schluß habe Klauder auch genau das gewollt, nämlich verlangt, Innovationen zu fördern. Das sei allerdings keine Schlußfolgerung aus seinem eigenen Szenario gewesen. Gerstenberger merkt an, es habe i n allen Szenarien — aus der Distanz betrachtet — sehr geringe Polarisierungen gegeben. Die Unterschiede hätten sich i n einem Rahmen gehalten wie bei den Diskussionsen i n der Vergangenheit, als noch die alte Bundesrepublik m i t den alten Strukturen existierte. Für i h n ist fraglich, ob sich denn w i r k l i c h nicht mehr verändert. Radikale Veränderungen zeichneten sich ab. Die Wirkungen der Öffnung Osteuropas seien bereits mehrmals angeklungen. Gerstenberger unterstreicht den technisch-organisatorischen Wandel, der m i t dem Stichwort „Übergang zur Informationsgesellschaft" umschrieben w i r d und der auf einen völligen Umbau unserer Lebensverhältnisse hinauslaufe. Da stelle sich dann die Frage, ob man das noch m i t den Modellen abbilden kann, die für die 70er und 80er Jahre entwickelt und angepaßt wurden. Auch zu den von Klauder unterstellten Wachstumsannahmen meldet Gerstenberger Zweifel an: Sie könnten zu pessimistisch gewesen sein. Die Annahmen für die Welt habe er selbst zum Teil i n Frage gestellt. Aber wenn es richtig wäre, daß w i r vor großen Strukturwandlungen stünden, sei das primär immer als wachstumsfördernd einzuschätzen. Die Argumentationsketten seien einmal die üblichen Wirkungen des technischen Fortschritts, zum anderen seien die Investitionen zu be-
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rücksichtigen. U m Strukturwandel bewerkstelligen zu können, brauche man mehr Investitionen. Bei der Spezialisierung der deutschen W i r t schaft könne man sich schlecht vorstellen, daß Deutschland i n einem solchen Szenario, das auf mehr Investitionen hinausliefe, m i t so niedrigem Wachstum zurechtkommen müßte. Auch Neumann stellt Fragen zu Klauders Vortrag. Das Modell scheine eine ganze Menge an W i l l k ü r und Beliebigkeit zu enthalten. Bei 2250 Variablen und 1350 Gleichungen (mit 900 exogene Variablen) müsse immer ein großer Unsicherheitsspielraum bestehen hinsichtlich der Annahmen über die untereinander bestehenden Zusammenhänge. Ferner paßten die Modellergebnisse zur Kapitalintensität und zum relativen Einkommensniveau nicht zusammen. Sie seien zumindest m i t einer neoklassischen Produktionsfunktion nicht vereinbar; es müßte dort eigentlich viel mehr Kapitalakkumulation stattfinden, und es sei fraglich, ob die Diskrepanz sich aus den verschiedenartigen Ausgangsniveaus erkläre oder aus anderen zusätzlichen Annahmen, ζ. B. über abrupten technischen Wandel. Gornig geht zunächst auf die Frage nach dem Produktivitätsfortschritt und den neu stattfindenden Investitionen und deren positiven Beschäftigungswirkungen ein. Man dürfe dabei nicht die Felder aus dem Blickfeld verlieren, wo Beschäftigung abgebaut wird. Positive Effekte würden sich w o h l insbesondere i m verarbeitenden Gewerbe einstellen. Dort sei der Arbeitsplatzabbau auch bisher schon weiter getrieben worden als i n anderen Bereichen des Unternehmenssektors. Die Beschäftigungzahlen i m verarbeitenden Gewerbe könnten durchaus wieder zulegen. Das gelte auch für die Beschäftigungszahlen i m verarbeitenden Gewerbe Ostdeutschlands. Die Dienstleistungspotentiale hingen vom Einkommensniveau ab. I n Bereichen wie dem Verkehrssektor, dem Energiesektor und der Landwirtschaft sei eher ein Beschäftigungsabbau zu erwarten. Beim Staat werde es ebenfalls noch zu Abbau kommen. Gornig geht dann auf den sektoralen Strukturwandel ein, den vor allem Klemmer angesprochen hatte. Die Überlegungen i m D I W hinsichtlich des sektoralen Strukturwandels und seiner Dynamisierung bezögen sich insbesondere auf das erste Szenario: E i n außenwirtschaftlich geprägter Strukturwandel m i t neuen Tendenzen, einmal sektoral — ζ. B. i m Fall von Bereichen, die i n der alten Bundesrepublik durch einen hohen Transportkostenanteil geschützt waren und deswegen Lohnkostenvorteile i m Ausland nicht gesucht haben. Diese Bereiche würden i n starkem Maße unter Anpassungsdruck geraten. Auf der anderen Seite
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könne man Sektoren finden, die profitieren könnten — ζ. B. Infrastrukturbereiche angesichts des massiven nachholenden Infrastrukturaufbaus i n Osteuropa. Es gebe durchaus eher klassische Sektoren, die neue Entwicklungsimpulse enthielten, wo man gedacht hätte, sie wären am Ende. Z u den neuen Tendenzen gehöre aber auch eine andere Ebene, die anzusprechen versucht worden sei: Tendenzen, die sich aus der Veränderung von Organisationsstrukturen von Unternehmen ergäben. Insbesondere sei hier der Wandel i n den Beziehungen und die Arbeitsteilung, die sich m i t Osteuropa aufgrund der Nähe auch auf längere Perspektive ergeben könnte. Dies seien nicht mehr unbedingt sektorale Veränderungen. Künftig werde Funktionsteilung und nicht Sektorteilung den Handel m i t unseren Nachbarstaaten sehr stark beschreiben. Klauder nimmt zu den an i h n gerichteten Fragen und Bemerkungen Stellung und knüpft an die Erörterung des Strukturwandels an: Auch i m Modell des I A B gebe es durchaus i n einigen Sektoren einen Abbau von Arbeitsplätzen; dies sei auch tabellarisch belegt. Allerdings sei — wie auch ausdrücklich gesagt — die Szenarienbildung beim LAB noch nicht ganz abgeschlossen: gegenwärtig werde daran gearbeitet, den sektoralen Strukturwandel noch besser zu erfassen. I m Modell werde bisher noch eine Input-Output-Tabelle mit konstanten Koeffizienten verwendet. Inzwischen sei eine Möglichkeit gefunden worden, auch hier eine Fortschreibung vorzunehmen. I m endgültigen Szenario werde also der Strukturwandel noch stärker zum Ausdruck kommen. Es sei richtig, daß das Modell selbst auf Vergangenheitsdaten basiert. Es könnten also i m Grunde nur Tendenzen endogen aus dem Modell abgeleitet werden, die i n der Vergangenheit vorgelegen haben. Das Modell sei aber sehr offen für den Einbau von exogenen Maßnahmen und für die Simulation von Maßnahmen, um zu sehen, ob sie i n einem gesamtwirtschaftlichen Zusammenhang noch konsistent sind. Man werde i m endgültigen Szenario sicherlich auch von einigen Modellannahmen, von einigen Modellergebnissen abweichen müssen, die sich aus der Entwicklung i n der Vergangenheit ergaben, stattdessen würden dann exoge Vorgaben gemacht. Z. B. sei bei den I A B / Prognos-Projektionen von 1989 ein Expertenrating durchgeführt worden, u m absehbare „Strukturbrüche" beim technischen Fortschritt, der sich i n einzelnen Branchen vollzieht, exogen einzugeben und damit die Produktionsergebnisse, die aus der Vergangenheit abgeleitet worden waren, zu modifizieren. I n dieser Richtung werde weitergearbeitet.
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Z u der Frage der Geldpolitik erinnert Klauder daran, daß eine Inflationsrate von 2%, so wie sie gemessen wird, aus statistischen Gründen wahrscheinlich zu einem großen Teil unvermeidbar sei. Eine solche Kate könne man als weitgehende Preisniveaustabilität ansehen. I m Modell selbst sei das bisherige Verhalten der Bundesbank abgebildet. Z u der von Neumann aufgeworfenen Frage nach der Konsistenz der Ergebnisse zum Einkommensabstand einerseits und der Kapitalintensität auf der anderen Seite stellt Klauder fest, es handele sich offenbar um ein MißVerständnis: Die Annahme 60% Einkommensabstand bezog sich auf 2000, die Annahme 90% Kapitalintensität aber auf 2010. Daß die Zahl der Variablen i m Modell sehr groß ist, sei sicherlich richtig. Allerdings seien auch viele Zwischengleichungen enthalten, ζ. B. u m Gesamtdeutschland oder die Beziehungen zwischen Ost und West abzubilden. Die Zahl exogener Variablen sei also deutlich niedriger ist als hier angesprochen, als w i r k l i c h wichtige exogene Variable seien sicherlich nicht 900, sondern vielleicht 200 anzusehen. Eine große Zahl Exogener ermögliche es auch externe wirtschaftliche Überlegungen und Prognosen einfließen zu lassen, was insbesondere bei einem längerfristigen Szenario wünschenswert sei. Z u der Frage „technischer Fortschritt, Wettbewerbs vorteil, usw." bemerkt Klauder, es sei sicherlich richtig, daß der technische Fortschritt einen Wettbewerbsvorteil gegenüber dem Ausland bringe. Die Produktivitätserhöhung bringe auch ein höheres Wachstum, die Wirkung auf den Arbeitsmarkt sei aber nun zunächst einmal negativ. Er räumt ein, daß das Modell die vom Ausland möglichen Rückkoppelungseffekte noch nicht voll abbildet. Zwar seien die Preisrelationen zum Ausland enthalten, aber die Vorgabe des ausländischen Wachstums und damit der ausländischen Gesamtnachfrage werde exogen gesetzt. Eine bessere Berücksichtigung der außenwirtschaftlichen Impulse würde w o h l zu Ergebnissen führen, die denen des D I W näher lägen: Die vom W e l t w i r t schaftswachstum auf die Bundesrepublik wirkende Nachfrage wäre sicherlich etwas höher anzusetzen. Z u den Beziehungen zwischen Erwerbspersonenpotential und Lohnhöhe bemerkt Klauder, man habe für Westdeutschland keinen statistisch gesicherten Zusammenhang feststellen können, trotz aller möglichen Versuche. Für Ostdeutschland fehlten solche ökonometrischen Ergebnisse, weil es an den erforderlichen Zeitreihen mangele. Die Erwerbsbeteiligung sei auch von einer ganzen Reihe anderer Gründe als dem L o h n abhängig. Die effektiven Erwerbsquoten seien außerdem von
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der Konjunktur beeinflußt. Der entsprechende Konjunkturindikator werde i n den Schätzfunktionen für das Erwerbspersonenpotential auf Hochkonjunktur gesetzt, so daß eine durchgängige konjunkturbereinigte Potentialreihe abgebildet werde. Beim Erwerbspotential i m Osten könne man bis jetzt keinen wesentlichen Rückgang der Erwerbsbeteiligung feststellen. Dies sei auf zwei Ursachen zurückzuführen: Einmal sei bei der Einkommens- und Arbeitslosigkeitsentwicklung die Notwendigkeit, Einkommen zu erzielen, sehr hoch. Zweitens sei i n weiten Kreisen der Bevölkerung eine grundsätzlich andere Einstellung als i n Westdeutschland zur Erwerbsbeteiligung der Frauen festzustellen. Modellannahmen, die eine gewisse Angleichung der Frauenerwerbsbeteiligung an westdeutsche Verhältnisse unterstellen, würden i m Osten regelrecht angegriffen. Bei den jetzigen Modellannahmen sei unterstellt, daß bis zum Jahre 2000 durch eine teilweise Anpassung der Frauenerwerbsbeteiligung das ostdeutsche Potential u m etwa 1 Mio sinken werde. Darüber könnte man durchaus geteilter Meinung sein. Wenn die oft i n Ostdeutschland vertretene These von einer dort tendenziell noch höheren Frauenerwerbsbeteiligung zuträfe, dann würde die Arbeitsmarktlage i n Ostdeutschland noch ungünstiger. Oppenländer dankt den beiden Referenten und erinnert daran, daß es fast unmenschlich ist, solche ökonometrischen Modelle i n einer Stunde vorzustellen und auch noch die Ergebnisse zu kommentieren. Man brauchte eigentlich mindestens zwei oder drei Tage, u m die Annahmen, das Modell und die Ergebnisse zu diskutieren. Daß bei der Interpretation der Ergebnisse große Vorsicht geboten ist, zeige sich schon an den unterschiedlichen Ergebnissen der beiden unabhängig voneinander berechneten Modelle. So sei Pohls Frage noch nicht abschließend geklärt, warum i n einem Modell, das ein niedrigeres Wachstum ausweist, weniger Arbeitslosigkeit entsteht als i n einem Modell, dessen Ergebnis schnelleres Wachstum ist. Abschließend bemerkt Oppenländer, daß offensichtlich angesichts der dramatischen Veränderungen i n den 90er Jahren und darüber hinaus neue Methoden weiterentwickelt oder auch gänzlich neue Verfahren gefunden werden müssen. Selbstverständlich müsse man sich wie bisher zunächst an der Vergangenheit orientieren. Es seien aber darüber hinaus große Anstrengungen erforderlich, u m i n ökonometrischen Modellen den radikalen und umfassenden Strukturwandel i n mehr als bisher üblichem Maße berücksichtigen zu können.
IL Teil
Problemfelder der deutschen Wirtschaft in den neunziger Jahren
Wachstum i n den neuen Bundesländern: räumliche Entwicklungshemmnisse u n d -potentiale Von Jens Horbach und M a r t i n Junkernheinrich, Halle
1. Einführung Die Wachstumsaussichten für die neuen Bundesländer sind i n den letzten Jahren recht unterschiedlich eingeschätzt worden. Während man zunächst von einem schnellen und steil verlaufenden „selbsttragenden Aufschwung" ausging, haben sich die Wachstumserwartungen mittlerweile erheblich reduziert. Es ist deutlich geworden, daß die wirtschaftliche Entwicklung Ostdeutschlands nur als langfristiger Strukturwandel denkbar ist. Über die Breite, den zeitlichen Verlauf und den „ E n d p u n k t " dieses Prozesses bestehen nach wie vor stark divergierende Urteile. Barro und Sala-i-Martin schätzen auf der Grundlage von USamerikanischen und europäischen Konvergenzprozessen, daß es 35 Jahre dauern kann, bis die Hälfte der Disparitäten zwischen West- und Ostdeutschland beseitigt sein werden. 1 Sie schlußfolgern, daß „ . . . East Germany's achieving ,parity 4 i n the short r u n is unimaginable." 2 Burda und Funke kommen aufgrund der bereits i m Jahr 1992 stattgefundenen Produktivitätssteigerung der ostdeutschen Wirtschaft und der finanziellen Unterstützung des Transformationsprozesses zu einer deutlich positiveren Einschätzung. 3 Nach einer Projektion des Instituts für Wirtschaftsforschung Halle (IWH) dürfte bis zum Jahr 2000 (2005) lediglich 55 (65) v H der westdeutschen Wirtschaftskraft erreicht sein. 4 Dem sollen an dieser Stelle keine neuen und erst recht keine kleinräumigen Wachstumseinschätzungen hinzugefügt werden. Vielmehr w i r d 1 Vgl. dazu Barro , R. J./ Sala-i-Martin, X.: Convergence across States and Regions. In: Brooking Papers on Economic Activity. No. 1/1991, S. 152 ff. 2 Ebd., S. 154. 3 Vgl. Burda, M. / Funke, M.: Eastern Germany: Can't We Be More Optimistic? Manuskript. Berlin u. London (August) 1993. 4 Vgl. Institut für Wirtschaftsforschung Halle (IWH): Deutschland 1993 und 1994: Gegenläufigkeiten zwischen Ost und West. Herbstgutachten 1993. Halle u. Berlin 1993.
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Jens Horbach und M a r t i n Junkernheinrich
davon ausgegangen, daß es keine wissenschaftliche Methodik gibt, um die mittel- und langfristigen Wachstumsperspektiven Ostdeutschlands und seiner Regionen verläßlich zu quantifizieren. 5 Die Übernahme von Konvergenzraten aus anderen Länderstudien ist schon aufgrund der Besonderheiten des ostdeutschen Transformationsprozesses 6 sehr problematisch. Auch i n den alten Bundesländern sind trotz eines einheitlichen Wirtschaftssystems und eines stark nivellierenden Länderfinanzausgleichs noch immer ausgeprägte regionale Entwicklungsdisparitäten zu beobachten — man denke ζ. B. an die Wachstumsunterschiede zwischen Schleswig-Holstein und Baden-Württemberg. Trotz langjähriger Investitionsförderung haben viele ländliche Problemregionen i n peripherer Lage den Anschluß an die prosperierenden Regionen nicht gefunden. Es ist daher nicht nur eine „Frage der Zeit", bis wann die angestrebte Angleichung der Wirtschafts- und Lebensbedingungen zwischen Ostund Westdeutschland erwartet werden kann. Sofern die negativen Standortfaktoren nicht konsequent abgebaut werden können, ist es auch möglich, daß der ökonomische „Aufholprozeß" auf einem bestimmten Niveau verharrt. Die Abkoppelungsprozesse von altindustriellen Problemregionen i n den Industrienationen zeigen, daß die Konvergenzerwartung eine empirisch näher zu untermauernde Annahme ist. Vor diesem Hintergrund sollen i m folgenden einige für Ostdeutschland wachstumspolitisch relevante Probleme unter regionalökonomischen Aspekten aufgegriffen werden: — Z u m ersten w i r d gefragt, inwieweit die zentralen regionalpolitischen Konzeptionen über hinreichende Informationsgrundlagen für eine regionalisierte Wachstumspolitik verfügen (Abschnitt 2.). — Z u m zweiten werden ausgewählte Potentialfaktoren der regionalen Entwicklung i n den neuen Bundesländern einer empirischen Analyse unterzogen (Abschnitt 3.). — Z u m dritten werden die Grundlinien einer regionalpolitischen Wachstumsstrategie für Ostdeutschland zur Diskussion gestellt (Abschnitt 4.). 5
I n diesem Sinne auch Pohl, R.: Langfristige Wachstumsperpektiven für Ostdeutschland. In: Institut für Wirtschaftsforschung Halle (Hrsg.): Wirtschaft i m Systemschock. Z u r schwierigen Realität der ostdeutschen Transformation. Gewidmet Manfred Wegner. Berlin 1994, S. 199. 6 Vgl. dazu Institut für Wirtschaftsforschimg Halle (Hrsg.): Wirtschaft i m Systemschock.
Wachstum i n den neuen Bundesländern
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I n empirischer Hinsicht werden zwei Perspektiven miteinander verknüpft. Z u m einen w i r d Ostdeutschland als Gesarairaum betrachtet, der sich aufgrund des Transformationsschocks durch Gemeinsamkeiten (Deindustrialisierung, geringe Produktivität, hohe Arbeitslosigkeit, i n tensiver Strukturwandel etc.) auszeichnet. I n diesem Sinne w i r d geprüft, ob die räumliche Entwicklungsforschung wirtschaftspolitische Ansatzpunkte für eine Revitalisierung der neuen Bundesländer bietet. Zum anderen werden TeiZräume Ostdeutschlands auf ihre E n t w i c k lungshemmnisse und -potentiale h i n untersucht. Hieraus lassen sich Entwicklungsstrategien für unterschiedlich strukturierte Räume ableiten. 7
2. Informationsgrundlagen einer regionalisierten Wachstumspolitik Eine stärkere Beachtung des regionalpolitischen Wachstumsanliegens 8 w i r d seit Jahren gefordert. Die praktische Umsetzung einer räumlich orientierten Wachstumspolitik steht allgemein und i n Ostdeutschland ganz besonders vor einem erheblichen Informationsbedarf. Dieser unterscheidet sich i n Abhängigkeit von der gewählten regionalpolitischen Konzeption: — I m Rahmen einer am Ziel-Mittel-Denken ausgerichteten quantitativ interventionistischen Politikkonzeption, wie sie für die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur" charakteristisch ist, kann der Versuch unternommen werden, das räumliche Wirtschaftsgeschehen zentral zu beeinflussen. Eine derartige Regionalpolitik „von oben" benötigt eine alle Teilräume Ostdeutschlands umfassende Regionaldiagnose, die auf der Basis raumwirtschaftlicher Gesetzmäßigkeiten die wachstumsinteressantesten Regionen benennt. — I m Rahmen einer dezentralen Politikkonzeption kann die regionalpolitische Planungs- und Entscheidungskompetenz auf die ostdeut7
Angesichts des begrenzten Umfangs des vorliegenden Beitrags können hier selbstverständlich nur ausgewählte räumliche Besonderheiten behandelt werden. 8 Das Wachstumsanliegen ist i n der regionalpolitischen Diskussion durch eine gesamtwirtschaftliche Orientierung gekennzeichnet. Die Mobilisierung von Wachstumsreserven i n den Problemregionen ist i n diesem Sinne zunächst einmal als Ausgleichspolitik anzusehen. Erst wenn es sich bei den Problemregionen gleichzeitig u m Regionen handelt, die den höchsten Beitrag zum gesamtwirtschaftlichen Wachstum zu leisten vermögen, dient sie auch dem Wachstumsanliegen.
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sehen Regionen selbst übertragen werden. A u f diese Weise rückt die Politikgestaltung näher an die lokalen Probleme heran; regionsspezifische Engpaßfaktoren können früher und präziser ausgemacht werden. Bei wettbewerbsorientierten Rahmenbedingungen vermag eine solche „Regionalisierung der Regionalpolitik" das Eigeninteresse der Teilräume und die gesamtwirtschaftliche Effizienz miteinander i n Einklang zu bringen. 9 Der Informationsbedarf der regionalen Ebene konzentriert sich auf die Ansatzpunkte zur Verbesserung der lokalen S t andort qualität. Folgt man einer quantitativ-interventionistischen Politikkonzeption, so ist der Informationsbedarf für eine regionalisierte Wachstumspolitik besonders ausgeprägt. Die grenzproduktivitäts- und die potentialorientierte Regionalpolitik haben versucht, das Problem der Selektion wachstumsinteressanter Regionen empirisch zu lösen. Die grenzproduktivitätsorientierte Regionalpolitik orientiert sich an den Erträgen der zuletzt eingesetzten Faktoreinheiten und hält diejenigen Regionen, die die höchsten Grenzproduktivitäten aufweisen, für förderungswürdig. Die für eine Abschätzung der regionalen Grenzproduktivitäten notwendige Ermittlung (zukünftiger) regionaler Produktionsfunktionen 1 0 ist bislang jedoch nicht gelungen. Neben grundsätzlichen methodischen Problemen (Extrapolation von Vergangenheitsdaten, mangelnde Berücksichtigung des Nachfrageaspekts und des technischen Fortschritts) sind Schwierigkeiten bei der empirischen Umsetzung (unzureichende Datenbasis) zu nennen. Diese Probleme sind bei einer Wirtschaft i m Transformationsprozeß besonders ausgeprägt. Das Informationsdefizit hat man i n der Praxis dadurch zu umgehen versucht, daß man längerfristig für alle Teilgebiete die Existenz gleicher Produktionsfunktionen unterstellte, und zwar letztlich auf der Basis begrenzt substituierbarer Produktionsfaktoren Arbeit, Kapital und Boden. Damit sind die Grenzproduktivitäten der eingesetzten Faktoren nur noch von der Faktorausstattung abhängig. I n Regionen m i t brachliegenden Beständen des Faktors Arbeit und niedriger Durchschnittsentlohnung ist folglich die Realkapitalbildung zu fördern. 1 1 Durch die 9 Vgl. v. Suntum, U.: Regionalpolitik i n der Marktwirtschaft. Baden-Baden 1981. (= Monographien der List Gesellschaft e. V. N. F.; Bd. 5). 10 Vgl. Schalk, H. J.: Die Bestimmung regionaler und sektoraler Produktivitätsunterschiede durch die Schätzung von Produktionsfunktionen. Münster 1976. 11 Diese Überlegungen führten zur Berücksichtigung der Bruttolohn- und Gehaltssumme und des Arbeitskraftreservequotienten als Förderindikatoren der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur".
Wachstum i n den neuen Bundesländern
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Erhöhung der Kapitalintensität, und diese Überlegung könnte auch für viele ostdeutsche Regionen empirisch relevant sein, läßt sich i m interregionalen Vergleich ein überdurchschnittlicher Grenzertrag des Kapitals zum Bruttoinlandsprodukt erzielen. 12 Die entscheidende Schwäche dieser Überlegungen ist die Unterstellung weitgehend identischer regionaler Produktionsfunktionen. Berücksichtigt man, daß die naturräumliche Ausstattung sowie die historische Komponente, die Sektoral- und Betriebsgrößenstruktur, die Existenz von Agglomerationsvorteilen sowie die räumlich divergierende Intensität des technischen Fortschritts — gerade i n Ostdeutschland — regional unterschiedliche Produktions- und Produktivitätseffekte induzieren, so w i r d die Realitätsferne dieser A n nahme deutlich. Die potentialorientierte Regionalpolitik 13 geht davon aus, daß die Wirtschaftskraft einer Region durch die Ausstattung m i t sogenannten Potentialfaktoren (sektorale Wirtschaftsstruktur, Agglomerationstatbestände, Infrastrukturausstattung etc.) bestimmt wird. I n diesem Sinne prüft sie i n einem ersten Schritt regressionsanalytisch, inwieweit die regionale Streuung des Bruttoinlandsprodukts durch die Ausstattung mit Potentialfaktoren erklärt werden kann. Auf diese Weise erhält sie eine „Quasi-Produktionsfunktion", die die durchschnittlichen Produktionsgesetzmäßigkeiten zum Ausdruck bringt. M i t dieser Durchschnittsproduktionsfunktion können i n einem zweiten Schritt regionale Erwartungswerte berechnet werden, die darüber Auskunft geben, welches Bruttoinlandsprodukt eine Region angesichts ihrer Ausstattung m i t Potentialfaktoren hätte erwirtschaften können. Vergleicht man diese Erwartungswerte m i t den tatsächlichen Ausprägungen, so ergeben sich Anhaltspunkte über das unausgeschöpfte und damit förderungswürdige Wachstumspotential. Kritisch ist hier anzumerken, daß der Erwartungswert keineswegs als „äußere" Grenze des regionalen Entwicklungsspielraums, sondern lediglich als relativierende Größe verstanden werden kann, die angibt, was bei einer vorgegebenen Ausstattung m i t Potentialfaktoren i m Durchschnitt erreicht werden könnte. 1 4
12 Mögliche Konflikte zwischen Wachstums- und Ausgleichsanliegen treten somit nicht auf. Vgl. ζ. B. Thoss, R. u. a.: Zur Eignung des Einkommensniveaus als Zielindikator der regionalen Wirtschaftspolitik, Münster 1974, S. 50 ff. 13 Vgl. Biehl, D. u. a.: Bestimmungsgründe des regionalen Entwicklungspotentials. Tübingen 1975. (= Kieler Studien; Bd. 133). 14 Daneben w i r d die Aussagefähigkeit dieses Versuchs einer Bestimmung wachstumsinteressanter Regionen durch die statische Betrachtungsweise sowie die Vernachlässigung von Preis- und Nachfrageeffekten gemindert.
7 Konjunkturpolitik, Beiheft 42
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Zieht man an dieser Stelle ein erstes Resümee, so läßt sich feststellen, daß die vorliegenden Versuche, die wachstumsinteressantesten Regionen zu bestimmen, aufgrund erheblicher methodischer und empirischer Defizite kaum zu überzeugen vermögen. Die E r m i t t l u n g der optimalen räumlichen Verteilung wirtschaftlicher Aktivitäten i n Ostdeutschland dürfte, gleichgültig welche Indikatoren bemüht werden, nicht gelingen. Sofern man Wachstum als offenen Suchprozeß interpretiert, liegt es sogar nahe, die Quantifizierung von Wachstumspotentialen bzw. die amtliche Berechnung einer optimalen Wirtschaftsstruktur grundsätzlich als „Anmaßung von Wissen" 1 5 zu bezeichnen. Aber selbst wenn hinreichende Informationsgrundlagen vorliegen würden, legt der Hypothesenvorrat der ökonomischen Theorie der Politik nahe, daß politische Entscheidungsträger nicht unbedingt die „wachstumsinteressantesten" Regionen fördern würden. Vielmehr konzentriert sich der politische Konsens zumeist auf die regionalpolititische Unterstützung der vom Strukturwandel besonders hart betroffenen Regionen. Vor diesem Hintergrund w i r d i m folgenden die Auffassung vertreten, daß eine Stärkung des gesamtwirtschaftlichen Wachstumsprozesses verstärkt auf eine „Regionalisierung der Regionalpolitik" setzen sollte. 1 6 Räumliche Wachstumshemmnisse und Wachstumspotentiale können auf lokaler Ebene besser eingeschätzt werden. Daher sollen i m folgenden einige für die Regionalentwicklung i n den neuen Bundesländern zentrale Potentialfaktoren einer empirisch gerichteten Analyse unterzogen werden. Wo dies möglich ist, sollen die Ergebnisse an einzelnen Räumen bzw. Raumtypen konkretisiert werden. Auf diese Weise können Ansatzpunkte gefunden werden, welche belastenden Standortfaktoren und Flexibilitätshemmnisse abgebaut werden sollten, bzw. an welchen Stärken der Region angesetzt werden kann. I n empirischer Hinsicht w i r d dabei — ohne allerdings den wachstumspolitischen Anspruch zu teilen — am Potentialfaktoransatz angeknüpft. 1 7
is Vgl. v. Hayek , F. Α.: Die Anmaßung von Wissen. In: Ordo. Bd. 26. Stuttgart 1975, S. 12 ff. 16 Vgl. bereits Klemmer, P.: Regionalisierung der Regionalpolitik. In: Planung i n der regionalen Strukturpolitik. Berlin 1982, S. 140-153. 17 Vgl. zur Anwendung am Beispiel des Landes Sachsen-Anhalt und seiner Regionen auch Junkernheinrich, M . / Micosatt, G. / Wilke, G. u. a.: Strukturanalyse der Wirtschaft des Landes Sachsen-Anhalt. Halle 1993. (= Forschungsbericht des IWH).
Wachstum i n den neuen Bundesländern
99
3. Empirische Ansatzpunkte regionaler Wachstumspolitik in den neuen Bundesländern — ausgewählte Aspekte einer Potentialfaktoranalyse Die ökonomische Theorie der Raumentwicklung hat verschiedene Ausstattungstatbestände, Produktionsressourcen bzw. Potentialfaktoren als Bestimmungsgründe der regionalen Entwicklung eingestuft. Biehl hat i n seinen Untersuchungen ζ. B. die Bedeutung der regionalen Wohnbevölkerung, der Infrastrukturausstattung, der Agglomeration und der sektoralen Wirtschaftsstruktur herausgearbeitet. 18 I n späteren Untersuchungen sind auch Lage- und Umweltfaktoren i n die Analyse des regionalen Entwicklungspotentials einbezogen worden. 1 9 Vor diesem Hintergrund lassen sich folgende Komponenten i n den Mittelpunkt der Betrachtung stellen: — Defizite i n der Infrastruktur können ebenso wie die Ordnung der wirtschaftlichen Aktivitäten i m Raum (Lage, Agglomerationsgrad, Siedlungsstruktur, Bodenverfügbarkeit etc.) entwicklungslimitierende Schrankeneffekte erzeugen. — Die regionale Ausstattung m i t produktionsrelevanten Ressourcen kann durch wirtschaftsstrukturelle Probleme und / oder Humankapitaldefizite geprägt sein. 2 0 Bei allen Potentialfaktoren ist zu beachten, daß eine Wirtschaft i m Transformationsprozeß sich intensiv wandelt. Die Intensität des ostdeutschen Strukturwandels — allgemeiner: die Anpassungs- und Innovationsfähigkeit — ist von zentraler Bedeutung für die Initiierung regionaler Wachstumsprozesse. Daher darf die Betrachtung nicht auf einen statischen Vergleich von räumlichen Ausstattungskomponenten beschränkt bleiben, sondern muß die dynamische Seite i n die Betrachtung einbeziehen.
18
Vgl. Biehl, D. u. a.: Bestimmungsgründe des regionalen Entwicklungspoten-
tials. 19
Vgl. Adlung, R. u. a.: Konzeptionen und Instrumente einer potentialorientierten Regionalpolitik. Unveröffentlichter Endbericht zu einem Forschungsauftrag des Instituts für Kommunalwissenschaften der Konrad-Adenauer-Stiftung e. V. K i e l (Juni) 1977, S. 35 ff., 92 ff. 20 Zur Analyse des ostdeutschen „Umweltkapitals" sei verwiesen auf Horbach, J. / Komar, W.: Wirtschaftsentwicklung und Umweltsituation i n den neuen Bundesländern. In: I W H (Hrsg.): Wirtschaft i m Systemschock, S. 129-147. 7'
100
Jens Horbach und M a r t i n Junkernheinrich 3.1. Infrastruktur, Siedlungsstruktur und Bodenverfügbarkeit
Infrastrukturmängel zählen zu den wichtigsten Entwicklungshemmnissen einer Verbesserung der wirtschaftlichen Situation i n den neuen Bundesländern. Unter Infrastruktur kann man m i t Schrumpf „ . . . die für ein befriedigendes Funktionieren der räumlich-arbeitsteiligen W i r t schaft erforderlichen langlebigen Basiseinrichtungen materieller, institutioneller und personeller A r t " 2 1 verstehen. Hierzu zählen die Bereiche Telekommunikation, Verkehrswesen, technische Ver- und Entsorgung, Bildungswesen, Sozialwesen, Sport und Erholung, allgemeine Verwaltung und Wohnungswesen. Als ökonomisch besonders wichtig für den wirtschaftlichen Aufbau der neuen Länder kann die Telekommunikations- und die Verkehrsinfrastruktur angesehen werden: — Telekommunikation: Nach einer Befragung des Zentrums für europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) i m Frühjahr 1993 22 w i r d die Anbindung an das Telefonnetz von ca. einem Viertel der befragten ostdeutschen Unternehmen noch als sehr schlecht beurteilt, wobei die Bedeutung dieses Standortfaktors von 82 v H der Unternehmen als „groß" eingeschätzt wird. Für den Anschluß an Datenübertragungsnetze kommen sogar 36 v H der Unternehmen zu dem Urteil „sehr schlecht". Das oftmals als zu hoch bezeichnete Lohnniveau erlangt i n dieser Befragung als hemmender Standortfaktor dagegen eine viel geringere Bedeutung als die Telekommunikation. Darüber hinaus erreicht das Lohnniveau bei einem D r i t t e l der befragten Unternehmen für Ostdeutschland sogar eine gute Beurteilung. I n regionaler Sicht klagen vor allem Betriebe i n Sachsen-Anhalt und Ost-Berlin über eine unzureichende Telekommunikationsinfrastruktur, ein günstigeres B i l d ist i n Thüringen zu beobachten. 23 Die Telekommunikationsinfrastruktur erweist sich besonders bei Neugründungen kleiner Unternehmen als wichtiges Hemmnis. — Verkehrsinfrastruktur: Während vor der Wende die Hauptverkehrsadern i n den alten Bundesländern von Norden nach Süden verliefen, waren die West-Ost-Verbindungen bei Straße und Schiene stark unterentwickelt. Auch für diesen Standortfaktor sind ausgeprägte 21 Schrumpf, H.: Engpässe i n der Infrastruktur i n den neuen Bundesländern. In: Die deutsch-deutsche Integration. Ergebnisse, Aussichten und wirtschaftspolitische Herausforderungen. Berlin 1992, S. 131. (= Beihefte der Konjunkturpolitik, H. 39). 22 Vgl. Steil, F.: Telekommunikationsversorgung und Standortbedingungen i n Ostdeutschland. In: ZEW-Wirtschaftsanalysen. Jg. 1 (1993), Nr. 4, S. 424-440. 2 3 Vgl. ebd., S. 433.
Wachstum i n den neuen Bundesländern
101
regionale Unterschiede zu beobachten. Mißt man die Güte der Straßenverbindungen anhand des Konzeptes der Luftliniengeschwindigkeiten 2 4 ergeben sich besonders gravierende Verkehrsprobleme für das nordöstliche Mecklenburg, Teile Brandenburgs westlich von Berlin, ein großes Gebiet innerhalb Sachsen-Anhalts, das vor allem die Harzregion beinhaltet, sowie Südthüringen. Straßenverkehrsmäßig wesentlich besser sind dagegen die Ballungsräume Berlin, Magdeburg, Leipzig, Dresden und Erfurt erschlossen. Für den Schienenverkehr ergibt sich ein etwas anderes Bild. Hier zeigt sich i n den neuen Bundesländern ein deutliches Süd-Nord-Gefälle. Vor allem die Ballungsräume Erfurt, Chemnitz und Dresden und m i t Abstrichen auch Leipzig sind durch die Schiene nur m i t einem sehr hohen Zeitaufwand erreichbar, was ein deutliches Entwicklungshemmnis für diese Gebiete darstellt. E i n gleichmäßiger Ausbau der Infrastruktur i n den neuen Bundesländern ist unter wachstumspolitischen Überlegungen nicht sinnvoll, da vor allem die peripheren Teilräume sowie ländlich geprägte Gebiete zumeist nicht die dazu erforderlichen siedlungsstrukturellen Ausgangsbedingungen aufweisen. Nach einer Untersuchung von Klemmer u. a . 2 5 liegt die optimale Wachstumspolgröße für den gesamten Industriebereich bei 200 000 Einwohnern und der Durchschnittswert für die erforderliche Mindestgröße bei 40 000 Einwohnern. Sie fordern daher den Ausbau der Infrastruktur vor allem i n den Regionen, die von der Einwohnerzahl her über ein attraktives Zentrum verfügen. I n den neuen Ländern sind vor diesem Hintergrund vor allem die Regionen Berlin, Leipzig, Dresden, Chemnitz, Magdeburg, Rostock, H a l l e / S . , Erfurt, Potsdam, Gera, Schwerin, Cottbus, Zwickau, Jena, Dessau zu fördern. Siedlungsstrukturelle Defizite treten nach dieser ortsgrößenorientierten Definition von Entwicklungszentren vor allem i n Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern auf. Diese Gebiete werden sich vermutlich 24 Eine Bewertung der ostdeutschen Verkehrsinfrastruktur anhand von L u f t l i niengeschwindigkeiten hat Eckey durchgeführt. So ist eine Verkehrsverbindung zwischen zwei Raumpunkten dann gut, wenn man von einem Punkt zum anderen ohne größere Umwege m i t relativ hoher Geschwindigkeit fahren kann. Dies kann durch die Luftliniengeschwindigkeit gemessen werden, die als Verhältnis von Luftlinienentfernung und Fahrzeit definiert ist. Vgl. Eckey, H.-F.: Komponenten einer Neuordnung der Raumordnungspolitik angesichts veränderter Rahmenbedingungen. Folgerungen aus dem Raumordnungsbericht 1991. In: Informationen zur Raumentwicklung. H. 11/12.1991, S. 634. 2 5 Vgl. Klemmer, P. / Eckey, H.-F. / H L T Gesellschaft für Forschung Planung Entwicklung u. a.: Überprüfung des Systems der Schwerpunktorte i m Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur. Sprockhövel, Schauenburg-Elmshagen u. Wiesbaden 1985.
102
Jens Horbach und Martin Junkernheinrich
auch k ü n f t i g nicht als die zentralen Wachstumspole der neuen Bundesländer erweisen können. Hier ist vielmehr i m Rahmen eines Disparitätenausgleichs für eine soziale Abfederung der Auswirkungen der w i r t schaftlichen Schwierigkeiten zu sorgen. Darüber hinaus können die endogenen Entwicklungspotentiale dieser Räume, die ζ. B. i m Tourismus liegen, durch geeignete Fördermaßnahmen genutzt werden. E i n transformationsspezifisches Problem ergibt sich aus den durch die hohe Zahl der Restitutionsansprüche bedingten Eigentumsvorbehalten u n d den daraus folgenden Flächenengpässen. Dieses Problem ist i n räumlicher Hinsicht differenziert zu betrachten. So kann festgestellt werden, daß angesichts der großen Zahl von (nicht voll besetzten) Gewerbegebieten kein genereller Gewerbeflächenengpaß besteht. E i n flächenbedingtes Entwicklungshemmnis ist jedoch innerhalb der Städte zu beobachten. Angesichts des für einen wachstumsorientierten Strukturwandel erforderlichen Flächenbedarfs ist das verfügbare Flächenangebot i n den Zentren bei weitem zu gering; viele ökonomomische A k t i v i t ä t e n werden deshalb auf die „grüne Wiese" verlagert. Daraus folgt ein Attraktivitätsverlust der Innenstädte, die ja auch als Standorte für gehobene tertiäre Funktionen dienen sollen. 3.2. Wirtschaftsstruktur
Die Dynamik von räumlichen Wachstumspolen 2 6 hängt insbesondere von der Existenz „motorischer Branchen" ab, die ζ. B. über entsprechende Vorleistungsverflechtungen weitere Produktionsaktivitäten bzw. Dienstleistungen i n eine Region „locken" können. Historisch gesehen waren es zumeist Schlüsselbranchen des sekundären Sektors, die zu einer zusätzlichen Ansiedlung des tertiären Bereichs („produktionsorientierte Dienstleistungen") bzw. zu komplementären Produktionsaktivitäten führten. 2 7 I m Verlauf des Transformationsprozesses waren i n Ostdeutschland sehr starke Produktionseinbrüche i n den Schlüsselbranchen zu beobachten, so daß man mittlerweile von einer Deindustrialisierung 2 8 spre26 Vgl. zur Theorie der Entwicklungs- oder Wachstumspole ζ. B. Klemmer, P.: Die Theorie der Entwicklungspole — strategisches Konzept für die Raumordnung. In: Raumforschung und Raumordnung. Jg. 30 (1972), H. 3, S. 102-107. 27 Vgl. ζ. B. Klaus, J.: Raumwirtschaft III: Ordnung. In: Handwörterbuch der Wirtschaftswissenschaft (HdWW). Stuttgart u. New York 1988, S. 446. 28 Vgl. ζ. B. Ludwig, U.: Konjunkturprognosen für Ostdeutschland. E i n Rückblick. In: I W H (Hrsg.): Wirtschaft i m Systemschock, S. 34.
Wachstum i n den neuen Bundesländern
103
chen kann. Vor allem i m stärker exportorientierten Investitionsgüter produzierenden Gewerbe sanken der Umsatz bzw. die Nettoproduktion von 1990 gegenüber 1992 u m weit über 50 v H . 2 9 Z u den bis heute stark schrumpfenden Branchen gehören die Ledererzeugung (Rückgang der Nettoproduktion von 84 v H von 1990 bis 1993, jeweils 2. Halbjahr), das Textilgewerbe (68 vH) und der Schiffbau (60 vH). Vor allem Branchen, die stark von der Bauindustrie abhängen, konnten dagegen sehr hohe Zuwächse verzeichnen. Hierzu gehören u. a. die Kunststoffverarbeitung (127 vH), der Stahl- u n d Leichtmetallbau (82 vH) sowie die Steine- und Erdenindustrie (58 v H ) . 3 0 Tabelle 1 zeigt die Anteile der verschiedenen Wirtschaftsbereiche an der unbereinigten Bruttowertschöpfung für das Jahr 1992 i n vH. Die sehr grobe sektorale Gliederung läßt nur wenige gravierende Unterschiede zwischen den einzelnen Bundesländern erkennen. Das Produzierende Gewerbe, i n dem verstärkt „motorische Branchen" zu vermuten sind, konzentriert sich auf die südlichen neuen Bundesländer sowie Teile Brandenburgs. Trotz der massiven Produktionseinbrüche ist die Tertiärisierung der Wirtschaft i n den neuen Bundesländern noch nicht so weit fortgeschritten wie i n den alten Ländern. Genauere Einblicke i n das großräumige Wachstumspotential der neuen Länder erhält man, wenn man eine tiefergehende Branchengliederung zugrundelegt. Es ist dann allerdings aus Datengründen nicht mehr möglich, die Anteile der einzelnen Branchen an der Bruttowertschöpfung zu berechnen, sondern es sind lediglich Umsatzzahlen verfügbar: — Berlin / Ost ist geprägt durch einen hohen Umsatzanteil der Elektrotechnik am Gesamtumsatz i m Verarbeitenden Gewerbe inkl. Bergbau (33 v H i m Jahre 1992). Weitere wichtige Branchen sind die Chemische Industrie (Umsatzanteil 6,8 vH) sowie der Maschinenbau (10,8 vH). — I n Brandenburg wies i m Jahr 1992 die Eisenschaffende Industrie m i t rund 11 v H einen sehr hohen Umsatzanteil auf (vgl. Tab. 2). Gegenüber den anderen Branchen lag der Umsatz pro Beschäftigte, der hier als Hilfsindikator für die Produktivität dienen m u ß 3 1 , i m Jahr 29 Vgl. Institut für Wirtschaftsforschung Halle: Ostdeutschland 1992 und 1993: Zwischen Skepsis und Hoffnung. Herbstgutachten 1992. Halle 1992, S. 65. so Vgl. Institut der Deutschen Wirtschaft (IW): i w d (Informationsdienst des IW), Nr. 12 v. 24.3.1994, S. 2. 31 Die Hilfsgröße Umsatz pro Beschäftigte zur Messung der Produktivität überschätzt die tatsächliche Produktivität i n Ostdeutschland, da i n vielen Bran-
104
Jens Horbach und M a r t i n Junkernheinrich
Tabelle 1 Bruttowertschöpfung der Wirtschaftsbereiche in den neuen Bundesländern im Vergleich zu den alten Ländern im Jahre 1992 Bruttowertschöpfung
Land-und Forstwirtschaft, Fischerei Produzierendes Gewerbe Handel und Verkehr Dienstleistungsunternehmen Staat, priv.HH, priv. Org. oh. Erwerbsz. Gesamt
Berlin Ost
0,0
Brandenburg
Mecklenb.
Sachsen
SachsenAnhalt
Thüringen
Vorp.
Gesamt neue Länder
alte Länder
Anteile der Wirtschaftsbereiche an der Bruttowertschöpfung in vH 1,8 2,7 1,0 1,6 1,5 1,3 1,8
25,6
38,8
28,0
35,8
39,6
33,9
34,9
39,0
11,9
13,0
13,2
12,8
12,3
11,3
12,5
14,8
38,6
22,4
26,2
28,7
23,3
27,7
27,1
31,6
23,9
24,0
29,9
21,7
23,0
25,5
24,0
13,3
100
100
100
100
100
100
100
100
Quelle: Arbeitsgemeinschaft Volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen 1994.
1992 bei 147 TDM, was ungefähr 56 v H des westdeutschen Niveaus entspricht. Dies darf jedoch nicht vorschnell als besonders hohe wirtschaftliche Leistungskraft interpretiert werden, da sich gerade innerhalb der Eisenschaffenden Industrie Unternehmen wie die EKO Stahl A G befinden, die besonders stark etwa durch eine Absicherung der Nachfrage (Stahlquoten) gefördert werden. — Mecklenburg-Vorpommerns wichtigste Branche ist der Schiffbau mit einem Anteil von über 20 v H am gesamten Verarbeitenden Gewerbe inkl. Bergbau — ein Sektor, der schon i n den alten Bundesländern nur durch massive Fördermaßnahmen „am Leben" erhalten werden kann. Gerade i n diesem Bundesland zeigt sich die Notwendigkeit einer stärkeren Diversifikation der Branchenstruktur bzw. einer Erweiterung der Produktprogramme der Unternehmen. 3 2 chen die Vorleistungen vermutlich noch höher sind als i n Westdeutschland. Außerdem ergeben sich starke Verzerrungen durch den Einfluß von Subventionen. Vgl. auch Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung: Zeit zum Handeln — Antriebskräfte stärken. Jahresgutachten 1993/94. Stuttgart 1993, S. 81 f. 32 Als positives Beispiel kann ζ. B. der Schiffsanlagenbau Barth angeführt werden, der neuerdings auch umwelttechnische Güter fertigt.
Wachstum i n den neuen Bundesländern
105
Tabelle 2 Umsatzanteile und Umsatz pro Beschäftigte der Schlüsselbranchen in den neuen Bundesländern im Jahre 1992 Regionen/Branchen
„Produktivität"
Umsatzanteil am Gesamtumsatz im Verarbeitenden Gewerbe/Bergbau
Umsatz/Beschäftigte 1992 in TDM
in vH des westdeutschen Niveaus
Berlin/Ost
Chemische Industrie Maschinenbau Elektrotechnik
6,8 10,8 33,0
148 69 93
43 34 42
10,7 5,7
147 68
56 35
7,8
70
34
7,4 20,3 5,9
66 96 83
32 41 38
7,3
81
42
15,6 9,9
65 84
32 39
19,8 12,0
111 107
32 55
11,9
75
36
11,6 8,1 8,6
60 125 63
29 38 29
Brandenburg
Eisenschaffende Industrie Stahl-, Leichtmetall- u. Schienenfahrzeugbau Maschinenbau Mecklenburg- Vorpommern
Maschinenbau Schiffbau Elektrotechnik Sachsen
Stahl-, Leichtmetall- u. Schienenfahrzeugbau Maschinenbau Elektrotechnik Sachsen-Anhalt
Chemische Industrie Stahl-, Leichtmetall- u. Schienenfahrzeugbau Maschinenbau Thüringen
Maschinenbau Straßenfahrzeugbau Elektrotechnik
Quelle: Statistische Jahrbücher der Statistischen Landesämter, jeweils Jahrgang 1993
— Sachsen
und
Thüringen
s i n d g e p r ä g t v o n sehr h o h e n A n t e i l e n des
M a s c h i n e n b a u s , d e r i m J a h r e 1992 a l l e r d i n g s n o c h d u r c h eine sehr geringe Wettbewerbsfähigkeit
g e k e n n z e i c h n e t w a r . So b e t r u g d e r
106
Jens Horbach und M a r t i n Junkernheinrich
Umsatz pro Beschäftigte i n Sachsen (Thüringen) lediglich 65 T D M (60 TDM) und erreichte nur 32 v H (29 vH) des westdeutschen Niveaus. Auch Sachsen-Anhalt besaß hohe Anteile i m Maschinenbau (z. B. SKET Magdeburg). Hier dominiert jedoch die Chemische Industrie und der Schienenfahrzeugbau. Wie Abbildung 1 zeigt, konzentrieren sich i n den südlichen neuen Bundesländern und i n Teilen Brandenburgs auch die Branchen m i t vergleichsweise hohen Auslandsumsätzen.
Abbildung 1: Anteile der Auslandsumsätze am Gesamtumsatz i m Bergbau und Verarbeitenden Gewerbe 1992 i n v H
Wachstum i n den neuen Bundesländern
107
Folgt man der Exportbasistheorie, so hat eine Region insbesondere dann gute Wachstumschancen, wenn es ihr gelingt, i n hohem Maße außerregionale Nachfrage an sich zu binden. 3 3 Die Bedeutung des Außenhandels für die Schlüsselbranchen der neuen Bundesländer ist i n Abbildung 2 anhand der Auslandsumsätze i m Jahre 1992 nach Branchen und Bundesländern dargestellt. Eine genauere regionale Differenzierung nach Kreisen und kreisfreien Städten ist Abbildung 1 zu entnehmen. I m Durchschnitt des Verarbeitenden Gewerbes inkl. Bergbau zeigt sich eine deutliche Exportschwäche der neuen gegenüber der alten Bundesländer: Der entsprechende Wert des durchschnittlichen Auslandsumsatzes erreicht lediglich knapp 50 v H des westdeutschen Niveaus. Aus regionaler und sektoraler Sicht sind große Unterschiede zu beobachten. Für die Branchen, die deutlich überdurchschnittliche E x portquoten aufweisen (Eisenschaffende Industrie, Chemische Industrie, Stahl-, Leichtmetallbau und Schienenfahrzeugbau, Maschinenbau und Elektrotechnik) und die gemessen an ihrem Umsatzanteil innerhalb des Verarbeitenden Gewerbes i n Ostdeutschland eine hohe Bedeutung besitzen, ergibt sich das folgende B i l d (vgl. Abb. 2): Auslandsumsätze in v H der Gesamtumsätze im Jahre 1992 Eisenschaffende Industrie
Chemische Industrie
E3 Brandenburg •Sachsen E3 Sachsen-Anhalt
Stahl-, Leichtmet.- u. Schienenfzb.
^Thüringen •
Maschinenbau
Westdeutschland
Elektrotechnik 0
10
20
30
40
50
vH Abbildung 2: Exportorientierte Branchen i n ausgewählten Bundesländern i m Vergleich zu Westdeutschland 33 Vgl. ζ. B. Langosch, R.: Theoretische Grundlagen für die Analyse von innovationsbedingten Unterschieden des wirtschaftlichen Wachstums i n ländlichen Räumen. F r a n k f u r t / M . 1993, S. 18.
108
Jens Horbach und M a r t i n Junkernheinrich
I n der Chemischen Industrie und i n der Elektrotechnik liegen die Exportquoten deutlich unter dem westdeutschen Niveau. M i t Ausnahme der „Exportschwäche" Brandenburgs i n der Elektrotechnik sind keine großen regionalen Unterschiede zu beobachten. Das i n Abbildung 1 zu erkennende Nord-Süd-Gefälle i n den Anteilen der Auslandsumsätze am Gesamtumsatz ist i m wesentlichen auf Unterschiede i n den regionalen Branchenstrukturen zurückzuführen, dagegen weniger auf Abweichungen innerhalb der Branchen. I n den Sektoren Stahl-, Leichtmetall- und Schienenfahrzeugbau sowie i m Maschinenbau fallen die sehr hohen, sogar deutlich über dem westdeutschen Niveau liegenden Auslandsumsatzanteile auf. I n etwas abgeschwächten Maße gilt dies auch für die Eisenschaffende Industrie i n Brandenburg. Die Merkmalsausprägungen bedeuten i n diesen Fällen jedoch nicht, daß die betreffenden Industrien auf dem Weltmarkt besonders wettbewerbsfähig sind, sondern hier zeigt sich die mittels HermesBürgschaften aus der Vorwendezeit „hinübergerettete" Verflechtung m i t den Ostmärkten des ehemaligen COMECON. E i n besonders treffendes Beispiel ist etwa der Waggonbau Ammendorf, der Abteilwagen für die transsibirische Eisenbahn liefert. Die trotz der hohen Exportquoten noch immer geringe Wettbewerbsfähigkeit dieser Schlüsselbranchen i n den neuen Ländern zeigt sich, wenn man die Produktivitätsniveaus mit dem Westen vergleicht. So erreicht der Umsatz pro Beschäftigte i n bezug auf das westdeutsche Niveau i n der Chemischen Industrie i n Sachsen-Anhalt i m Jahr 1992 einen Wert von lediglich 32 vH. Nicht zuletzt wegen der hohen Investitionen des Waggonwerkes Ammendorf i n Verbindung m i t den entsprechenden Subventionen fällt der Wert für den Stahl-, Leichtmetall- und Schienenfahrzeugbau m i t 54 v H günstiger aus. Insgesamt sind viele exportorientierte Branchen i n den neuen Bundesländern noch immer durch eine relativ geringe Wettbewerbsfähigkeit gekennzeichnet 34 — zumal die durch den Einfluß von Subventionen „verzerrten" Statistiken die Situation besser darstellen als sie tatsächl i c h ist. Das Nahrungs- und Genußmittelgewerbe — eine Branche, die überwiegend den regionalen Bedarf befriedigt — erreichte 1992 ζ. B. einen doppelt bis dreieinhalbmal so hohen Umsatz pro Beschäftigte wie die stärker exportorientierten Branchen (vgl. Tab. 2). 34 Dies gilt natürlich nur für die Durchschnittswerte der einzelnen Branchen. Auf einzelwirtschaftlicher Ebene können viele Beispiele für Unternehmen angeführt werden, die aufgrund ihres völlig neuen Kapitalstocks eine sehr hohe Wettbewerbsfähigkeit auf weisen (ζ. B. Opel Eisenach).
Wachstum i n den neuen Bundesländern
109
Die bestehende Exportbasis i n den neuen Bundesländern ist zur Zeit noch stark von „Problembetrieben" geprägt, die zum Teil nur m i t staatlichen Hilfen überleben können. Mögliche Kriterien, nach denen Betriebe als noch „förderungswürdig" einzustufen sind, können an dieser Stelle nicht diskutiert werden. Grundsätzlich kann aber festgehalten werden, daß die Hilfen zeitlich nur befristet gewährt werden dürfen und degressiv auszugestalten sind. Dauersubventionen für Überkapazitäten bei alten und absehbar nicht wettbewerbsfähigen Industrien müssen vermieden werden. Diese sind i m Rahmen eines marktwirtschaftlichen Systems auch durch regionalpolitische Ziele nicht zu begründen. Neben Qualitätsproblemen ihrer Produkte fehlen den ostdeutschen Unternehmen ζ. B. auch wichtige Kenntnisse über die Absatzbedingungen auf den Weltmärkten. Es mangelt an den ausländischen Märkten angepaßten Marketingkonzeptionen. Sprachbarrieren erschweren die Etablierung auf diesen Märkten zusätzlich. Die Wirtschaftsförderung darf sich daher nicht auf die Zuweisung von finanziellen Hilfen beschränken, sondern sie muß auch entsprechende Beratungsleistungen anbieten. Besonders gefragt sind hier kommunale und regionale W i r t schaftsförderungsämter / -agenturen, da ihnen die spezifischen Probleme der ortsansässigen Unternehmen besser bekannt sind. Neben dem Ausbau der verbliebenen Exportbasis gilt es i n mittelund langfristiger Sicht Unternehmen zu stärken, die zwar zur Zeit noch sehr stark von der regionalen Nachfrage abhängen, aber ihre A k t i v i t ä ten zukünftig auf Auslandsmärkte ausdehnen können. E i n Beispiel für derartige Unternehmen sind Produzenten von Umwelttechnik, die wegen des hohen Nachholbedarfs (ζ. B. an Abwasserreinigungsanlagen) i n den neuen Bundesländern derzeit hauptsächlich auf dem Inlandsmarkt tätig sind, bei einer sich verschärfenden Umweltschutzgesetzgebung i m Ausland jedoch aufgrund ihres zumindest temporären Know-how-Vorsprunges Wettbewerbsvorteile gegenüber ihren ausländischen K o n k u r renten besitzen können. I n den neuen Bundesländern konzentrieren sich die überwiegend noch kleinen bis mittleren Unternehmen auf die Ballungsräume i n Sachsen-Anhalt, Sachsen und Thüringen. 3 5 Inwieweit regionale Entwicklungspotentiale genutzt werden, könnte eine Analyse der Investitionstätigkeit i n den neuen Bundesländern zeigen. Eine umfassende und statistisch abgesicherte Analyse der regio35
Vgl. Horbach, J.: Der Umweltschutzmarkt i n den neuen Bundesländern. In: IWH-Kurzinformationen. Nr. 23 v. 10.12.1993, S. 3.
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nalen Bestimmungsfaktoren der Investitionstätigkeit kann an dieser Stelle mangels geeigneter Daten allerdings nicht erfolgen. I n ausreichend tiefer regionaler Gliederung stehen lediglich die Investitionen des Verarbeitenden Gewerbes inkl. Bergbau für das Jahr 1991 sowie das durch die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen W i r t schaftsstruktur" geförderte Investitionsvolumen von 1990 bis 1992 zur Verfügung. Eine räumliche Analyse beider Indikatoren zeigt, daß Investitionen u. a. aufgrund von Infrastrukturvorteilen und vorhandenem Humankap i t a l vor allem i n solchen Regionen getätigt worden sind, i n denen schon zu DDR-Zeiten ein hoher Anteil an industrieller Produktion bestand. Hieraus resultiert m i t Ausnahme des Großraumes Berlin ein deutliches Nord-Süd-Gefälle der Investitionstätigkeit. Es zeigt sich außerdem die Bedeutung der Lage und der Verkehrsanbindung einer Region (vgl. auch Abschnitt 3.1.). Vor allem die Randlagen zur polnischen und tschechischen Grenze weisen eine deutlich unterdurchschnittliche Investitionstätigkeit pro Einwohner auf. Dagegen w i r d i n der Umgebung von „Wachstumspolen" wie etwa Dresden, Leipzig, Halle oder Berlin deutlich mehr investiert. I n den Kernstädten selbst w i r d nicht zuletzt aufgrund der ungeklärten Eigentumsverhältnisse deutlich weniger investiert. 3 6 Da die Investitionsförderung der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur" derzeit noch eine flächendeckende Förderung darstellt, können die räumlichen Verteilungsmuster i n hohem Maße als Ausdruck der unternehmerischen Standortpräferenzen angesehen werden.
3.3. Humankapital
Vor allem die sogenannte neue Wachstumstheorie 3 7 stellt das i n einer Region verfügbare Humankapital als eine wichtige Determinante des regionalen wirtschaftlichen Wachstums heraus. Einige Modelle innerhalb dieses Erklärungsansatzes wirtschaftlichen Wachstums 3 8 behan36 Vgl. dazu näher Heimpold, G.: Förderung der gewerblichen Wirtschaft i n den neuen Bundesländern durch die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur". Eine Zwischenbilanz. In: Institut für W i r t schaftsforschung Halle (Hrsg.): Abflauende Geschäftsaussichten i m Ausbaugewerbe. Konjunkturbericht 1 - 2 / 9 4 . Halle 1994, S. 20 ff. 37 Vgl. z. B. Gundlach, E.: Determinanten des Wirtschaftswachstums: Hypothesen und empirische Evidenz. In: Die Weltwirtschaft. H. 4/1993, S. 466-498. 38 Vgl. Arrow y Κ . J.: The Economic Implications of Learning by Doing. In: Review of Economic Studies. Vol. X X I X / 1 9 6 2 , S. 155-173. — Römer , P.: Increa-
Wachstum i n den neuen Bundesländern
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dein Wissen als eigenen Produktionsfaktor. Investiert ein Unternehmen i n seinen Kapitalstock, dann ist damit i n der Regel auch eine Erweiterung des Wissensstandes verbunden. Nicht jedes zusätzliche Wissen kann sich das investierende Unternehmen jedoch etwa i n Form von Patenten aneignen. 39 Vielmehr steht es anderen Unternehmen quasi wie ein öffentliches Gut als Produktionsfaktor zur Verfügung. Aus dem Öffentlichen-Guts-Charakter des Wissens folgt, daß die Produktivität eines Beschäftigten unabhängig von seiner Qualifikation steigt, wenn er i n eine Umgebung m i t einem hohen durchschnittlichen Bestand an Humankapital wechselt. Das „Rad" muß so nicht ständig m i t hohem Forschungs- und Entwicklungsaufwand neu erfunden werden, sondern es ergeben sich Vorteile durch die A k k u m u l a t i o n von Wissen. Fallen diese positiven externen Effekte tatsächlich spürbar ins Gewicht, ließe sich — wie u. a. Romer gezeigt hat — ζ. B. durch staatliche Forschungsförderung auch die langfristige Wachstumsrate des Pro-Kopf-Einkommens erhöhen. Ostdeutschland verfügte vor der „Wende" entsprechend seiner Industriestruktur über ein i n Teilbereichen auch international wettbewerbsfähiges Humankapital. Dies galt ζ. B. für die chemische Verfahrenstechnik, die Optik oder die Biochemie. Allerdings hat sich die „Ausstattung" der neuen Länder m i t Humankapital inzwischen aus drei Gründen verschlechtert: — Erstens sind deutliche Wanderungsverluste, die regional stark divergieren, i n Richtung der alten Bundesländer zu beobachten; — zweitens sind Qualifikationen aufgrund von langdauernder Arbeitslosigkeit oder geänderter Produktionsbedingungen m i t den damit verbundenen modifizierten Qualifikationsanforderungen „entwertet" worden; — drittens ist der Verlust forschungsnaher Arbeitsplätze besonders stark ausgeprägt (Abbau der Industrieforschung). 4 0
sing Returns and Long-Run Growth. In: Journal of Political Economy. Vol. 94/ 1986, S. 1002-1037. 39 Vgl. Kösters, W.: Neue Wachstumstheorie und neue Außenhandelstheorie. Frische Argumente für eine staatliche Industriepolitik. In: Wirtschaftswissenschaftliches Studium (WiSt). Jg. 23 (1994), H. 3, S. 118. 40 Vgl. ζ. B. Wöl fling, M.: Nachholende Modernisierung i n der ostdeutschen Industrie: das Beispiel Sachsen-Anhalt. In: I W H (Hrsg.): Wirtschaft i m Systemschock, S. 101-117.
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Jens Horbach und M a r t i n Junkernheinrich
Die regionale Verteilung der Differenz aus Wanderungsgewinnen bzw. -Verlusten läßt sich aus der Abbildung 3 ablesen. 41 Dabei treten zunächst drei Gebietstypen hervor: — Ländlich strukturierte Gebiete m i t einer hohen Arbeitslosenquote; betroffen sind hiervon besonders große Teile Brandenburgs und die „Randlagen" Mecklenburg-Vorpommerns; — „altindustrialisierte" Gebiete vor allem i m Südosten der neuen Bundesländer, die neben dem Wegfall vieler Industriearbeitsplätze zusätzlich durch ihre periphere Lage gekennzeichnet sind; — ein großer „Ring" um Berlin, der aufgrund der vor allem im Jahr 1991 noch relativ hohen Absorptionsfähigkeit des Berliner Arbeitsmarktes geringe A b wanderungs Verluste auf wies. Anhand einer multiplen Regressionsanalyse über alle kreisfreien Städte u n d Kreise i n den neuen Bundesländern lassen sich die Ursachen für Abwanderungen genauer aufzeigen. Es wurde dabei der Tabelle 3 zu entnehmende Ansatz geschätzt. Wie auch der optische Eindruck beim Betrachten der Abbildung 3 nahelegt, ist die Abwanderung i n starker Weise davon abhängig, welche Einkommenserzielungschancen i n den Regionen bestehen. So hat die Arbeitslosenquote einen signifikant hohen Einfluß auf die regionalen Abwanderungsverluste der neuen Bundesländer. Besonders große Verluste zeigen sich jedoch auch i n Regionen, die stark von „altindustriellen" Strukturen gekennzeichnet sind. I n diesen Gebieten w i r d ein Ursachenbündel wirksam, das statistisch nur schwer trennbar ist. Es handelt sich u m Regionen, die eine hohe Bevölkerungsdichte aufweisen und gleichzeitig von einer schlechten Umweltsituation geprägt sind, was sich gut durch den Indikator „Schwefeldioxiddichte pro m 2 " beschreiben läßt. Dazu t r i t t aufgrund der starken Industrialisierung ein ungünstiges Wohnumfeld, das als weicher Standortfaktor die Abwanderung begünstigt bzw. die Anwerbung hochqualifizierter Mitarbeiter erschwert. Dagegen sind i m Großraum Berlin vor allem wegen der i m Jahre 1991 noch guten Einkommenserzielungsmöglichkeiten i m Westteil der Stadt unterdurchschnittlich niedrige Abwanderungen zu beobachten. 41 Es wurden die Werte für das Jahr 1991 verwendet, da i n diesem Jahr zahlenmäßig sehr hohe Abwanderungen i n die alten Bundesländer beobachtet wurden. Dies überrascht nicht, da i n diesem Zeitraum der westdeutsche Arbeitsmarkt noch aufnahmefähig war und außerdem i n Ostdeutschland sehr deutliche Produktionseinbrüche stattfanden.
Wachstum i n den neuen Bundesländern
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