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German Pages 240 [241] Year 1980
Heinrich Olschowsky Lyrik in Polen
Literatur und Gesellschaft Herausgegeben von der Akademie der Wissenschaften der DDR Zentralinstitut für Literaturgeschichte
Heinrich Olschowsky
Lyrik in Polen Strukturen und Traditionen im 20. Jahrhundert
Akademie-Verlag • Berlin !979
Erschienen im Akademie-Verlag, DDR — 108 Berlin, Leipziger Str. 3—4 Lektor: Elzbieta Mischke © Akademie-Verlag Berlin 1979 Lizenznummer: 202 • 100/147/79 Gesamtherstellung: IV/2/14 VEB Druckerei »Gottfried Wilhelm Leibniz«, 445 Gräfenhainichen • 5377 Bestellnummer: 753 206 3 (2150/53) • LSV 8043 Printed in GDR DDR 7,50 M
Inhalt
Vorbemerkung
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Im Rhythmus der neuen Zeit. Programmatische und praktische Versuche zur Erneuerung der Lyrik (1917/18-1930) . . . . Das literaturgeschichtliche Vorfeld Poetische Gruppen und Programme Das neue lyrische Subjekt als Problem der poetischen Praxis Ein Modell proletarischer Poesie: Wladyslaw Broniewski Im Banne des Proletkults Dichterisches Selbstverständnis: Prophet oder Arbeiter Wortes Kommunikativität als Problem revolutionärer Lyrik . Funktionen der Lyrik Die inhaltliche Seite der romantischen Tradition Das poetische Subjekt und der Adressat Ideelle und poetologische Kritik an der Tradition . . Am Vorabend des zweiten Weltkriegs Lyrik und Widerstand
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64 65
des . .
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69 72 74 75 80 82 89 93
(1939-1945)
Die Auseinandersetzung mit Krieg und revolutionärer Umwälzung in der Lyrik (1945-1955) Die poetische Szene nach dem Krieg Kulturpolitik und Literaturprogrammatik. Ein Exkurs . . Das Modell Rözewicz Funktionswandel der Lyrik seit Mitte der fünfziger Jahre Zeugnis der Herkunft Wie schön darf Lyrik sein?
13 14 19 44
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109 110 118 126 163 170 175 5
Im Zeichen der klassischen Antike Die geschichtlichen Möglichkeiten des Individuums . . . . Natur und Kultur Die Poetik und ihre Leistung
185 193 205 209
Anmerkungen
216
Personenregister
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Vorbemerkung
D e r vorliegende Band stellt einige grundlegende Erscheinungen und Entwicklungslinien der polnischen Lyrik im 20. Jahrhundert vor. Bei der Arbeit war der Umstand zu berücksichtigen, daß bisher in der D D R weder monographische Untersuchungen zur polnischen Literatur überhaupt noch speziell zur Poesie in unserem Jahrhundert erschienen sind. 1 * Daraus ergaben sich bestimmte informatorische Pflichten, denen der Band genügen mußte und die auch die Darstellungsweise beeinflußten. Manches Problem, das sich zu eingehender und ausführlicher Erörterung anbot, mußte kurz gefaßt werden, um Raum für notwendige Auskünfte über Namen und literarische Fakten, kulturelle und geschichtliche Zusammenhänge zu schaffen. D i e Anlage der Arbeit erlaubte es nicht, alle wesentlichen Erscheinungen gleichermaßen ausführlich zu behandeln; so verdienten z. B. die Skamandriten oder die sogenannten Katastrophisten der dreißiger Jahre zweifellos eine differenziertere Darstellung, als es hier geschehen ist. Dasselbe gilt für so originelle Dichter wie Lesmian, Galczynski oder Jastrun. D e r Verfasser erhebt jedoch keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit, denn es war nicht seine Absicht, einen geschichtlichen Abriß der polnischen Lyrik im 20. Jahrhundert zu liefern. Es ging ihm vielmehr um zweierlei: Erstens sollte das herangezogene Material möglichst repräsentativ sein und so interpretiert werden, daß es einen tieferen Einblick in die nationalliterarische Eigenart der gesamten Entwicklung gewährt. D a bei mußte in Rechnung gestellt werden, daß die Wurzeln mancher Besonderheit weit in vergangene Jahrhunderte zurückreichen und folglich außerhalb der eigentlichen Untersuchung bleiben. Beispielsweise sei nur auf einige Momente hingewiesen, die die Eigenart der * D i e mit einem Stern gekennzeichneten Anmerkungsziffern verweisen auf Sachanmerkungen.
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polnischen Lyrik mitgeprägt haben: Innerhalb der von der Reformation im Grunde unberührt gebliebenen, also konfessionell homogenen polnischen Kultur entfaltete sich die poetische Phantasie (im Unterschied zu Deutschland) ohne die logisch-begriffliche Disziplin der protestantischen Theologie und erreichte eine besonders starke Ausprägung im Barock. Die polnische Romantik, die das 19. Jahrhundert beherrschte, machte - unter Berufung auf die Volksüberlieferung - das Phantastische, Visionäre, die wirklichkeitsstiftende Macht des ursprünglichen und starken Gefühls zur ersten Quelle ihrer Inspiration. Da sie damit zu poetischen Hochleistungen gelangte und als Stimme der nationalen Befreiungsbewegung zugleich hohes gesellschaftliches Ansehen gewann, drängte sie die etwa gleichzeitige klassizistische Strömung samt ihrem vernunftbetonten, objektivierenden Kanon in Randbezirke der Literaturentwicklung ab. Dies alles - neben vielen anderen Faktoren - prägte insofern auch die Lage der Lyrik im 20. Jahrhundert, als der Verlauf charakteristischer Oppositionslinien und Konflikte durch die Vorgeschichte gewissermaßen abgesteckt worden war. Zweitens: Den Schwerpunkt der Darstellung bilden poetische Lösungen bzw. programmatische Vorschläge, die m. E. besonderen Anteil an der Erneuerung der polnischen Lyrik im 20. Jahrhundert haben. Gemeint sind damit einmal die Bestrebungen, die künstlerischen Mittel und Verfahren auf der Höhe der Zeit zu halten, zum anderen die Versuche, die gesellschaftliche Funktion der Poesie - den epochalen Veränderungen des Jahrhunderts gemäß - neu zu begründen. Und schließlich der Zusammenhang, der sich zwischen beiden Tendenzen immer wieder herstellte. Die Konzentration auf diesen Vorgang rückte folgerichtig Strukturen ins Blickfeld, die durch ein besonders spannungsreiches Verhältnis zur Tradition ausgezeichnet sind und ihrerseits traditionsbildend gewirkt haben. Somit zielt die Untersuchung darauf, das jeweils neue Verhältnis der beiden wesentlichen Größen der Literaturentwicklung - Struktur und Tradition zueinander zu bestimmen, und zwar in entscheidenden literarhistorischen Konstellationen, die wiederum auf geschichtlich-gesellschaftlichen Einschnitten basieren: zwanziger Jahre, zweiter Weltkrieg und Nachkriegszeit, Übergang von den fünfziger zu den sechziger Jahren. Wenn von poetischer Struktur die Rede war, so ist ein ästhetisch organisiertes sprachliches Gefüge gemeint, das die Daseinsweise des lyrischen Subjekts in seinem Bezug zum Autor, zum Adressaten und 8
zum Gegenstand der Aussage festlegt. Sie organisiert den spezifischen, über den sprachlichen Usus hinausreichenden Bedeutungszuwachs des Gedichts und seine vielfältigen funktionalen Potenzen. Von der Erkenntnis ausgehend, daß sich das literarische Werk „am Prozeß als partielle Realisierung eines Systems und zugleich als dessen minimale Innovation" 2 beteiligt, läßt sich die Neuerung einer synchron beschriebenen Struktur nur ausmachen, wenn sie als Teil der Diachronie betrachtet wird, d. h. in Beziehung gesetzt wird zur Tradition. Es erscheint sinnvoll, bei der Handhabung der Kategorie Tradition jenen Anregungen zu folgen, die eine Unterscheidung von Tradition und Erbe empfehlen. Demnach würde das literarische Erbe die Gesamtheit des überlieferten schöngeistigen Schrifttums darstellen, in dem künstlerische und ideelle Leistungen der Vergangenheit objektiviert sind. Aus diesem Potential, das der Gesellschaft zur Pflege und Bewahrung anheimgestellt ist und zu dem im wesentlichen ein passives Verhältnis besteht, werden - durch unterschiedliches soziales und künstlerisches Interesse geleitet - Traditionen gebildet. Das Verhältnis von Erbe und Tradition könnte man also, in Analogie zur sprachwissenschaftlichen Relation von Sprachsystem (langue) und Redeakt (parole), als Möglichkeit und Wirklichkeit einer produktiven gegenwärtig-geschichtlichen Beziehung zu literarischen Werten der Vergangenheit bestimmen. 3 Als eine Verhältniskategorie läßt sich Tradition sinnvoll nur in bezug auf einen Autor und ein Publikum in einem bestimmten historischen Moment beschreiben. Sie ist dabei nicht beschränkt auf „den schaffenden Künstler und sein Verhältnis zu den g r o ß e n (Hervorhebung - H. O.) Werken der Vergangenheit'"1, vielmehr umgreift sie den gesamten kommunikativen Zusammenhang der Literatur. In jedem geschichtlichen Augenblick bietet sie sich „den Literaturproduzenten und dem literarischen Publikum einmal als ein Bestand an Werken der Vergangenheit und zum anderen als ein mehr oder weniger systematisierter Normenkatalog an" 5 . Aus der prinzipiell zweifachen Existenzweise der Tradition (als Summe von Werken und als Normensystem) ergibt sich ein dialektischer Zusammenhang zwischen Autor und Rezipient. Die schwer zu isolierende einzelne literarische Norm, gleichviel ob im Werk immanent enthalten oder in der poetologischen Konvention fixiert, verbindet Autor und Leser in der Weise, daß sie dem einen sich als Produktionsanweisung darbietet, dem anderen wiederum als Regel der Rezeption. 9
D i e Art, wie ein Autor den Normenkatalog der Tradition verwendet, situiert ihn von vornherein gegenüber der Rezeptionsgewohnheit des Publikums. Und umgekehrt: der tatsächliche Zustand der Tradition - deren ästhetische Verfahren durch wiederholte Verwendung verbraucht werden, deren geistige Inhalte im Klischee erstarren können - nötigt den Schriftsteller möglicherweise dazu, traditionskritische Strukturen zu entwickeln, die nach einer anderen Sensibilität des Empfängers verlangen. D a s Interesse des Autors am Durchsetzen einer bestimmten Wirkungsstrategie in der aktuellen literarischen Kommunikation entscheidet folglich darüber, wie mit dem Material der Tradition verfahren wird, und diese aktuelle Entscheidung definiert ihren Zustand jeweils neu. Ehrerbietung gegenüber großen Vorbildern oder Treue zu klassisch gewordenen Mustern und Normen der Vergangenheit garantieren allein keine fruchtbare Traditionsbeziehung, ebensowenig wie voraussetzungsloser Innovationsdrang mit künstlerischer Originalität belohnt wird. Ein anregendes wie nützliches Verhältnis zur Vergangenheit stellt sich vielmehr dar als Problem der gesellschaftlichen Funktion jeder unter gegenwärtigen literarischen und historischen Umständen neu sich kristallisierenden poetischen Struktur. D a s lebendige Fortwirken der Tradition hat die minimale Diskontinuität, den größeren oder kleineren Bruch mit der Tradition zur Voraussetzung - ein Bruch, der sich im einzelnen Werk geltend macht. Demnach ist Nichtübereinstimmung mit der Tradition, Kritik an ihr und Abweichen von ihr, kein sensationeller Befund, sondern notwendige Bedingung der Originalität des einzelnen Werkes wie der Dynamik des literarhistorischen Prozesses. Eine bejahende oder ablehnende Einstellung zu bedeutenden Werken der Vergangenheit begründet, für sich genommen, noch kein Werturteil. D a sich die Funktion einer bestimmten Traditionsbeziehung im Laufe der Literaturgeschichte wandelt, muß sie in einer historisch-funktionalen Betrachtung auch unterschiedlichen Wertungen unterliegen. Für unser Vorhaben ergibt sich aus dem oben skizzierten Zusammenhang von Werkstruktur und Tradition der Schluß, daß zur Erörterung der ästhetischen Leistungsfähigkeit einzelner poetischer Strukturen vor allem historisch-funktionale Gesichtspunkte herangezogen werden müssen. D a eine breite Kenntnis der polnischen Lyrik in der Öffentlichkeit nicht vorausgesetzt werden konnte, war ein methodisches Verfahren zu wählen, das dem Leser Gelegenheit bot, möglichst viele fremde 10
Gedichttexte zunächst einmal kennenzulernen, um dann die analytischen Ausführungen des Verfassers daran zu verifizieren. Aus diesem Grunde wurde der textgebundenen Interpretation ein relativ breiter Platz eingeräumt. Dabei bereitete es - nicht unabhängig von der Qualität der Nachdichtungen - erhebliche Schwierigkeiten, am übersetzten Material die formale Strukturierung der Texte überzeugend nachzuweisen. Die Interpretation ist ein Verfahren, dessen methodische Brauchbarkeit von der marxistischen Literaturwissenschaft in der D D R noch wenig gewürdigt wurde, weil es - trotz gegenteiliger Versicherungen in aller Regel auf die philosophische (existentialistische oder phänomenologische) Motivierung reduziert wurde, mit der sein Auftreten im deutschsprachigen Raum gekoppelt war (Staigers Stichwort von der „Kunst der Interpretation" verdeckte den rationalen Ansatz des Verfahrens 6 ). Die Aufmerksamkeit für den literarischen Text, die Nähe zum einzelnen Werk und der Mut zur Subjektivität, den dieses Verfahren verlangt, machen die Interpretation in stärkerem Maße mit der Situation des „normalen" Lesers verwandt. Der Interpret muß sich vor allem als Leser ausweisen, allerdings als ein mit methodischen Instrumenten und literaturhistorischer Erfahrung ausgestatteter Leser. So verdeutlicht die Interpretation die literaturkritischen Verpflichtungen des Literaturhistorikers und tritt der gelegentlich drohenden Hypertrophie allgemeiner historischer Prozeßkategorien entgegen. Eine dialektisch gehandhabte Interpretation erweist sich als notwendige Ergänzung einer literaturgeschichtlichen Betrachtungsweise, die auf größere Einheiten als das einzelne Werk aus ist: auf Strömung, Periode oder Prozeß - Einheiten, die der unmittelbaren Lesererfahrung zumeist unzugänglich bleiben. Interpretationsbände, wie sie von polnischen oder sowjetischen Literaturwissenschaftlern zusammengestellt worden sind, vermitteln in dieser Beziehung wichtige Erfahrungen, die der Verfasser des vorliegenden Buches zu nutzen bemüht war. In ihnen sind individuell verschiedene Varianten der Analyse mustergültig vorgeführt, werden Prinzipien der Interpretation erarbeitet und veranschaulicht, die sich dafür anbieten, kritisch verallgemeinert und angewendet zu werden.
Für die wohlwollende Unterstützung bei der Aufarbeitung des Materials sowie für manche anregende Idee und manchen kritischen 11
Hinweis danke ich den Kollegen des Instituts für Literaturforschung (IBL) der Polnischen Akademie der Wissenschaften in Warschau. Dank sagen möchte ich auch den Mitgliedern der Forschungsgruppe im Zentralinstitut für Literaturgeschichte, die durch ihre Diskussion einzelner Textteile den Fortgang der Arbeit gefördert haben. Für die technische Einrichtung des Bandes und die Herstellung des Registers danke ich Fräulein Heidemarie Jahnke.
Im Rhythmus der neuen Zeit. Programmatische und praktische Versuche zur Erneuerung der Lyrik (1917/18-1930)
In der gesamten Geschichte der polnischen Literatur markiert das Jahr 1918 einen wichtigen Einschnitt. Es schließt die lange Periode nationaler Fremdherrschaft ab, die 1795 mit der dritten und endgültigen Aufteilung Polens unter Rußland, Preußen und Österreich begonnen hatte. Innerhalb der Literaturentwicklung des 20. Jahrhunderts kennzeichnet es den Beginn eines tiefgreifenden Wandels insbesondere der Literaturverhältnisse und bald auch der gesellschaftlichen Problematik der Literatur. Auch wenn die nationale Unabhängigkeit von den Zeitgenossen als wunderbare Überraschung aufgenommen wurde, vollzog sie sich doch nicht geschichtlich voraussetzungslos. Die Oktoberrevolution in Rußland und der Ausgang des ersten Weltkrieges, die beiden weltgeschichtlichen Ereignisse, kulminierten in Polen wie auch in einigen anderen osteuropäischen Ländern in einer nationalgeschichtlichen Wende: der Wiederherstellung des eigenen Staates. Begünstigt durch die Niederlage, die die Teilungsmächte im Kriege erlitten hatten, und durch die revolutionären Impulse, die von Rußland aus durch ganz Europa gingen, kam es im November 1918 zur Gründung eines unabhängigen polnischen Staates. Im August 1918 erließ der Rat der Volkskommissare ein Dekret, welches die zaristischen Verträge mit dritten Regierungen zu Lasten Polens aufhob und erklärte ausdrücklich: „Das russische Volk erkennt das unstrittige Recht des polnischen Volkes auf Unabhängigkeit und Einheit an." Somit war erreicht, was einhundertdreiundzwanzig Jahre lang das Ziel politischer Kämpfe und patriotischer Hoffnungen der Nation gewesen war. Freude, patriotische Begeisterung griffen um sich, zugleich aber beschleunigte die Beseitigung des äußeren Zwanges zu nationaler Solidarität die soziale Differenzierung der Standpunkte im politischen und kulturellen Leben. Auch für die Stellung der Lite13
ratur innerhalb der eigenen Gesellschaft und für ihr Verhältnis zu anderen europäischen Kulturen waren damit neue Voraussetzungen geschaffen.
Das literaturgescbicbtliche Vorfeld Bisher, d. h. im 19. Jahrhundert, hatte sich die polnische Kultur und insbesondere die Literatur hauptsächlich vom Ausnahmecharakter des historischen Schicksals ihres dreigeteilten Landes her definiert. Unter den Bedingungen nationaler Unfreiheit waren die vielfältigen Funktionen der Literatur vornehmlich an einem Kriterium gemessen worden: wie sie dazu beitragen könne, der Nation ihre Eigenständigkeit zu bewahren und ihr ein freies Dasein zu erringen. Dieses Modell nationaler Anwaltschaft hatte in der polnischen Romantik, der führenden literarischen Strömung der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, eine konsequente und künstlerisch überzeugende Ausprägung erfahren. Angesichts fehlender staatlicher Einrichtungen mußte die Literatur stellvertretend deren Aufgabe übernehmen; sie war Hort nationalen Selbstbewußtseins, Erzieher der Nation und ihr politisches Organ. So erlangte sie außerordentliches Ansehen in der Gesellschaft. Im Stichwort von der „Seelenregentschaft" des Dichters (Mickiewicz) kamen das prophetische Selbstverständnis des romantischen Schriftstellers und die Erwartung des Publikums, die in ihm den nationalen Repräsentanten erblickte, auf einen Nenner. Der darin ausgedrückte geistige Führungsanspruch der Poesie weitete sich auch auf den politischen Bereich aus, denn die Ansprüche der Unterdrückungsmächte konnten von der polnischen Gesellschaft nicht akzeptiert werden. Die prophetische Auffassung des Dichteramtes wurde zudem gestützt durch die zu jener Zeit in Polen einflußreiche messianistische Philosophie. Es war eine Art Kompensationsideologie, welche der politischen Ohnmacht, dem Leiden Polens eine besondere heilsgeschichtliche Rolle in dem Befreiungswerk der Völker Europas von Tyrannei und Unterdrückung zusprach. All dies trug dazu bei, daß die Romantik eine eigentümliche „Herrschaft" der Literatur über das Leben errichten konnte, die bis zum Ende des 19. Jahrhunderts nachgewirkt hat. In der Phase des modernistischen Umbruchs (1890-1914) (auch Neoromantik genannt), die von der Formation des Jungen Polen beherrscht wurde, ist der nationale „Dienst" der Literatur von den 14
Schriftstellern zum ersten Mal als problematisch reflektiert worden, als etwas Beengendes, das den Blick auf die Veränderungen in der eigenen Gesellschaft eher verstellte als schärfte und sie von den geistigen Bewegungen im übrigen Europa isolierte. Was der Romantik gelungen war - den nationalen Auftrag als Bedingung für den universalen Fortschritt der Menschheit zu fassen (indem sie ihn mit dem revolutionären Impuls der Napoleonischen Kriege bzw. mit der Befreiungsbewegung des europäischen „Völkerfrühlings" um 1848 verband) - und was die Positivisten der siebziger und achtziger Jahre durch Zurückstellung der Unabhängigkeitsidee zugunsten positiver Arbeit an der Vervollkommnung des gesellschaftlichen Organismus zu umgehen versuchten, das geriet nun zu einem bisher unbekannten Gegensatz: künstlerische Selbstbehauptung der Literatur contra gesellschaftliche Verwertungsansprüche; ästhetische Universalität contra patriotisch-nationaler Partikularismus. Woher dieser Gegensatz? D i e Generation des Jungen Polen, in der Lyrik repräsentiert z. B . durch Jan Kasprowicz, Kazimierz Przerwa-Tetmajer, Tadeusz Micinski, Waclaw Rolicz-Lieder, Leopold Staff, befand sich in einer paradoxen Konfliktsituation; sie erlebte das Scheitern der positivistischen Ideale und hatte nun mit der wachsenden Bindungslosigkeit des Künstlers in der kapitalistischen Gesellschaft ebenso fertig zu werden wie mit der als lästig empfundenen national-utilitaristischen Bindung. Der universale Vorgang der Freisetzung des Künstlers vom persönlichen Mäzenatentum durch den anonymen kapitalistischen Kunstmarkt vermittelte ihm ein Gefühl der Unabhängigkeit von jeglichen gesellschaftlichen Verwertungsansprüchen. In Polen mußte ihm vor allem das nationale Protektorat über die Literatur als unerträglich erscheinen, das von den politischen Bedingungen nach wie vor erzwungen wurde. Stanislaw Przybyszewski (1868-1927), der in Kreisen der deutschen und skandinavischen Boheme (Dehmel, Münch, Vigeland, Strindberg) als „genialer Pole" bekannt wurde, sprach am deutlichsten aus, daß die patriotische Kunst keine echte Kunst sei. Dies bedeutete zugleich, echte Kunst müsse universal sein und ihre eigenen Zwecke verfolgen können. Die Kehrseite der neu gewonnenen Freiheit war allerdings der Zwang zur Anpassung an den Markt, d. h. an den Geschmack des durchschnittlichen Massenpublikums und, damit verbunden, der Verlust bisheriger gesellschaftlicher Autorität des Dichters. Seine eigene gesellschaftliche Unsicherheit überspielend, begreift sich der Dichter nun höchst ambivalent: als gottähnlichen Schöpfer und zugleich als Narren und Paria.
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Dieser Konflikt trieb den modernistischen Künstler zu antibürgerlicher Empörung, veranlaßte ihn schließlich zur Sezession aus der Gesellschaft schlechthin ins Reich der reinen Kunst. Gleichviel ob die Forderung nach Autonomie der Kunst unter eigenen oder westeuropäischen Losungen vorgetragen wurde, wie l'art pour l'art, Suche nach dem Absoluten, nach dem Ausdruck für die „nackte Seele", sie besaß etwas Notwendiges, wirkte sich erfrischend auf die polnische Literatur aus. Bekräftigt hat das bezeichnenderweise Stefan Zeromski, ein Epiker, der in exemplarischer Weise gerade das romantische Modell des Dienstes an der Nation fortsetzte. Er würdigte (1915) die Bemühungen Przybyszewskis und anderer, das europäische Recht auf Selbstbehauptung der Literatur auch in Polen durchzusetzen, und legte dar, daß bis dahin der polnische Schriftsteller neben der äußeren Zensur noch ein Tribunal in sich trug, das „jeder .Eingebung' die Flügel stutzte und alles verwarf, was durch Erotik, Pessimismus, Unglaube oder Trauer sündigte — was den anerkannten Grundsätzen der Pädagogik, der moralischen Gesundheit des Volkes oder der geistigen Rüstigkeit der Nation nicht entsprach"1. Die andere Seite der modernistischen Bewegung hielt in Verlängerung des romantischen Modells am nationalen Engagement der Literatur fest. Für Stanislaw Wyspianski (1869-1907), den Autor der Dramen Hochzeit und Novembernacht, lautete die Hauptfrage nach wie vor: Wie und durch welche Kraft kann die nationale Unabhängigkeit erreicht werden? Künstlerisch erbrachte das eine gleichfalls gegen den Positivismus gerichtete Verquickung heidnisch-polnischer und griechisch-antiker Elemente, womit der romantische Mythos nationaler Erneuerung fortgesetzt oder die aktuelle Handlungsunfähigkeit im Sinne der nationalen Mission kritisiert wurde. Ob mit nationaler oder antibürgerlicher Motivation, das Junge Polen neigte dazu, den Bauern als urwüchsige Kraft zu mythisieren, während die Stadt, der Ort hemmungsloser Industrialisierung und schärfster sozialer Kontraste, als düster-verlockender Bereich sittlichen Verderbens und materiellen Elends gezeichnet wurde. Unter dem Gesichtspunkt einer notwendigen Modernisierung der polnischen Kultur und der Dialektik dieses Prozesses ist das Urteil von Karol Irzykowski, dem Kritiker des Jungen Polen, zu verstehen, der 1913 feststellte, daß von den beiden Flügeln, in die die Bewegung auseinanderfiel, Wyspianski gewissermaßen eine nicht notwendige, reaktionäre Erscheinung war.2 Unterstrichen wurde damit, daß sich in der modernistischen Sezession, wie Przybyszewski oder Kazi16
mierz Tetmajer in der Lyrik sie vertraten, ein objektiver Konflikt zwischen der bürgerlichen Gesellschaft und der Kunst geltend machte, der nicht im Namen nationaler Aufgaben zugedeckt, sondern der ausgetragen werden mußte und der die polnische Kultur den geistigen Strömungen Europas öffnen würde. Aber nicht nur das. Der Ruf der Künstler, niemandem dienen zu wollen, ihre Behauptung der Universalität besaß auch eine deutlich politische Seite. Sie richtete sich gegen die „nationale Idee", die seit dem politisch organisierten Auftreten der Arbeiterbewegung von der Bourgeoisie nationalistisch verengt und mit einigem Erfolg gegen die Internationalität sozialistischer Vorstellungen ins Feld geführt wurde. 3 * Auf der anderen Seite hatte die tatsächlich noch nicht aufgehobene nationale Unfreiheit in Polen dem Konzept Wyspianskis Berechtigung gegeben, während Przybyszewskis Auflehnung (von der subjektiven künstlerischen Potenz einmal abgesehen) weder zu konsequenter Entfaltung noch zu großer Wirksamkeit gelangen konnte. Eine Wende brachte die Revolution von 1905. Im Verlauf dieser geschichtlichen Kraftprobe hat sich eine ideologische und politische Umschichtung im Gefüge der Nation vollzogen; die Arbeiterklasse meldete sich als neuer Träger der vom Bürgertum verzerrten oder verworfenen Unabhängigkeitsidee zu Wort. In ihrem geschichtlichen Handeln war die soziale Revolution und die nationale Befreiung, also der universale und der nationale Aspekt, zur Einheit verschmolzen. „Wir, die Arbeiterklasse, sind heute in Polen die Führer der Nation . . . Wir haben in den faulen Sumpf des bourgeoisen zarenhörigen Polen den Sturm der Revolution getragen." So hieß es im Aufruf der Sozialdemokratie (SDKPiL) /' Die kulturelle Bedeutung der Revolution war vielfältig. Sie erschöpft sich nicht darin, daß modernistische Autoren wie Tetmajer oder Micinski in Gedichten bzw. Dramen die Revolution positiv thematisierten, obwohl dies beachtenswert ist angesichts der reaktionären Wendung, die die Revolution bei bürgerlichen Realisten wie Prus und Sienkiewicz auslöste. Von da an datierten auch der Aufschwung des Arbeiterliedes und die Anfänge proletarischer Agitationspoesie. In allen Fällen wurde die bekannte romantisch-heroische Symbolik, mehr oder minder kunstvoll, auf die tagespolitische Aktualität angewendet. Die grundlegende kulturelle Bedeutung der Revolution von 1905 erweist sich aber in einem anderen Kontext. Die Revolution trug dazu bei, daß ein neues Literaturmodell umrissen werden konnte, 2
Olschowsky, Lyrik
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worin der neuromantische Horizont, bestimmt durch den starren Gegensatz der skizzierten Positionen (europäisch oder polnisch; Autonomie oder Dienstfunktion der Kunst), überschritten wurde. Formuliert hat diese Perspektive Irzykowski in einem Aufsatz, in dem das Verhältnis der beiden Revolutionen, der literarischen und politischen, zueinander erörtert wird: „Gegenwärtig brauchen wir Poeten und Denker, die in der Lage wären, eine scheinbar paradoxe Aufgabe zu übernehmen, nämlich die geheime Beziehung nachzuweisen, die zwischen dem gesellschaftsfeindlichen Ideal ,1'art pour l'art' und den Losungen der politisch-sozialen Revolution besteht." 5 Dies war eine Aufforderung; die geschichtlichen Ereignisse hatten den Zusammenhang zwar auf die Tagesordnung gesetzt, seine literarische Realisierung jedoch blieb aus. Die Überzeugung, daß er existiere, teilten viele. In der literarischen Publizistik und in Essays von Stanislaw Brzozowski, Wactaw Nalkowski sowie bei den marxistischen Kritikern des modernistischen Programms, Julian Marchlewski, Ludwik Krzywicki oder Kazimierz Kelles-Krauz, wurde ihr Ausdruck verliehen. 6 Für die weitere Entwicklung der Lyrik waren die praktische Leistung und der lyriktheoretische Ertrag des Symbolismus das wichtigste Ergebnis des Jungen Polen. Der Symbolismus hat die poetische Sprache hauptsächlich durch Lockerung der Bezüge zwischen dem Zeichen, dem Begriffs- und dem Gegenstandsbereich umstrukturiert und ihre Möglichkeiten erweitert. Der Grundsatz der Autonomie löste eine Spezialisierung aus, die sich in verschiedenen Bereichen auswirkte: Die poetische Sprache hob sich schroff von der Alltagssprache, insbesondere von der Sprache der Presse ab; als gattungsmäßig reine Lyrik galt nur, was die Momente der Schilderung, der erzählenden Poesie weitgehend abgestreift hat; das mimetische Gestaltungsprinzip wurde als naturalistisches Kopieren gedeutet und durch das Postulat einer originären Kreativität verdrängt. Die tendenzielle Verschiebung der Wortfunktionen von der darstellenden zur appellativen Funktion, und damit von der Information zur Evokation, kristallisierte sich am deutlichsten im symbolischen Äquivalent. Dies bedeutet: Der sprachliche Ausdruck sollte so transformiert werden, daß er, statt Empfindungen und Vorstellungen zu schildern, diese gewissermaßen in statu nascendi vorführte. Vor allem kraft seiner musikalisch-suggestiven Eigenschaften sollte dieses Sprachbild beim Empfänger unwillkürliche Wirkungen erzielen. In der Praxis der polnischen Symbolisten zerfiel die sprachliche Konstruk18
tion allerdings häufig in das Bild und den emotionalen Autorenkommentar. 7 * Die Beziehung zwischen dem symbolischen Zeichen und seinem verborgenen vagen Gehalt wurde unterschiedlich, aber in verwandten dualistischen Oppositionen gedeutet; als Verhältnis des Sagbaren zum Unsagbaren, des Sinnlichen zum Geist, des Zeitlichen zum Unendlichen. Ungeachtet der weltanschaulichen Implikationen sind die vom Symbolismus ausgebildeten Verfahren und Grundsätze zum unverzichtbaren poetologischen Bezugsfeld der Lyrik folgender Jahrzehnte geworden. Das Modell der Literatur, dessen Umrisse um 1905 sichtbar wurden, unterschied sich von der modernistischen Sezession ebenso wie von der sogenannten politischen Romantik. Das national-utilitäre Konzept gelangte, indem es sich in einer scheinbar partikularen Sprache mit der sozialen Erschütterung auseinandersetzte, zur europäischen Problematik der Revolution. Und umgekehrt: Universal war das modernistische Konzept nicht nur, weil es die modernen geistigen Strömungen Europas aufnahm (Bergson, Schopenhauer, Nietzsche, die französische décadence), sondern weil es sich nationalistischen Verengungen widersetzte, weil es einen allgemeinen Konflikt der bürgerlichen Kultur artikulierte und weil seine emanzipatorischen Vorstellungen mit dem sozialistischen Programm korrespondierten. So wuchs das Bewußtsein für das komplizierte Geflecht von Spannungen, Widersprüchen und Verbindungen zwischen der modernen Kultur und dem Proletariat, das Bewußtsein eines historischen Zusammenhangs zwischen einer breit gefaßten literarischen Modernität und den Idealen einer sozialistischen Gesellschaft. Insofern - was das soziale Problemfeld anlangt - ist das Jahr 1905 die Geburtsstunde der modernen polnischen Literatur im 20. Jahrhundert und ein entscheidender Umschlagpunkt in ihren Beziehungen zur romantischen Literatur des 19. Jahrhunderts. 8 *
Poetische Gruppen und Programme Seit der Gründung der Polnischen Republik brauchte die Literatur nicht mehr Substitut fehlender staatlicher Einrichtungen zu sein. Befreit von national-utilitären Rücksichten, konnte sich die Poesie nunmehr unter vergleichbaren Bedingungen entfalten wie die Lyrik in Westeuropa. Noch während des ersten Weltkrieges war infolge der 2*
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besonderen nationalen Situation die polnische Literatur von westeuropäischen Bewegungen getrennt gewesen. Die Hoffnungen, die die unterdrückte Nation an den Konflikt der Teilungsmächte knüpfte, ließ für eine pazifistische Dichtung, wie sie z. B. in Frankreich und Deutschland entstand, hier keine gesellschaftliche Motivation aufkommen. Welchen politischen Verhältnissen sah sich die Poesie gegenüber? Der unabhängige polnische Staat konstituierte sich als eine bürgerlich-parlamentarische Republik, in der anfangs sozialdemokratische und linke bäuerliche Kräfte tonangebend waren. In dieser Phase wurde eine Reihe demokratischer Reformen in Angriff genommen; man verabschiedete die Grundsätze einer gemäßigten Bodenreform (ohne daß praktische Schritte getan wurden!), eine neue Sozialgesetzgebung für die Arbeiter, die rechtliche Gleichstellung der Frau, den Abbau von Standesprivilegien, eine Grundschulreform u. ä. Diese fortschrittlichen Entscheidungen, die dem Großgrundbesitz und dem Großkapital angesichts der revolutionären Stimmung im In- und Ausland abgerungen wurden, sollten zugleich das Heranreifen einer revolutionären Situation im Lande verhindern. Der junge bürgerliche Staat sah sich ernsthaften Schwierigkeiten gegenüber; er mußte die wirtschaftliche, rechtliche und administrative Vereinheitlichung der drei Teilungsgebiete herbeiführen, hatte mit einer agrarischen, vom feudalen Großgrundbesitz beherrschten Wirtschaftsstruktur fertig zu werden und mußte die Kriegszerstörungen sowie die Inflation bewältigen. Hinzu kamen außenpolitische Spannungen um die Anerkennung der Grenzen. Zahlreiche Regierungskrisen, wirtschaftliche Stagnation und soziale Unsicherheit führten zu Streiks und politischen Massenaktionen der Arbeiter, wovon die größte der Generalstreik 1923 war. Dieses System blieb aber für demokratische Entwicklungen immer noch offen. Im Mai 1926 unternahm Piisudski, unter dem Vorwand, das öffentliche Leben einer politischen, wirtschaftlichen und moralischen Gesundung („sanacja") zuzuführen, einen Staatsstreich, mit dem er den Parlamentarismus faktisch ausschaltete und ein autokratisches Regime an die Macht brachte. Trotz des Bemühens, den Putsch als einen Schritt zur Stabilisierung und einen Schlag gegen die Rechte auszugeben, zeigte die Praxis bald das antidemokratische Wesen des neuen Regimes, dem sich am Übergang zu den dreißiger Jahren eine breite Opposition entgegenstellte. Sosehr die staatliche Unabhängigkeit erträumt und schließlich gefeiert wurde, der verwirklichte Traum brachte für viele eine Ent-
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täuschung. Die Konservativen hofften auf die alten historischen Grenzen, auf einen Staat „von Meer zu Meer" (von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer), der Ansprüchen einer Großmacht genügen sollte, und mußten sich mit einem mittleren Staatsgebilde abfinden, das wirtschaftlich auf ausländisches Kapital angewiesen und politisch von London und Paris abhängig war und dessen Bevölkerung zu dreißig Prozent aus unzufriedenen nationalen Minderheiten bestand. Die fortschrittliche und patriotische Intelligenz hing der Vision an, das freie Polen werde sich in „die strahlendste Arbeitsstätte des Fortschritts"9 verwandeln, und mußte erkennen, daß das Elend sozialer Zerklüftung bestehen blieb. Zwar würdigte sie die parlamentarische Demokratie, die Garantien bürgerlicher Freiheiten, die neue soziale Gesetzgebung, die günstigeren Entfaltungsmöglichkeiten für Bildung und Kultur, übersah aber nicht, daß sich im sozialen Dasein der Mehrheit des Volkes kein grundlegender Wandel vollzogen hatte. Für die Bauern, siebzig Prozent der Bevölkerung, blieb die demokratische Bodenreform nach wie vor Forderung und unerfülltes Versprechen, ebenso wie die proklamierte Vergesellschaftung von Großindustrie und Banken über Absichtserklärungen nicht hinauslangte. Enttäuscht waren auch die Kommunisten. Ob als Teilnehmer der Oktoberrevolution oder als Organisatoren der Arbeiterräte im Lande, sie hatten große Verdienste um die politische Mobilisierung der Arbeiter. Sie hatten auf einen baldigen Sieg der sozialistischen Revolution in ganz Europa gesetzt, in dem auch Polen seinen Platz finden sollte. Diese Hoffnung erfüllte sich nicht. In der Frage des nationalen Selbstbestimmungsrechts den Auffassungen Rosa Luxemburgs folgend (jedenfalls bis zum II. Parteitag 1923), verurteilten sie das Streben nach nationaler Unabhängigkeit, wollten sich nicht mit dem eigenen Nationalstaat, wie er nun mal entstanden war, abfinden. Seit 1919 mußte die KPP in der Illegalität arbeiten. Vom bürgerlichen Machtapparat verfolgt und durch antikommunistische Stimmungen in der Gesellschaft isoliert, ist es ihr auf Grund verschiedener Fehlorientierungen (unter anderem auch in der Agrarfrage) geraume Zeit nicht gelungen, eine Massenbasis zu gewinnen und eine effektive Bündnispolitik zu entwickeln. Dies blieb auch nicht folgenlos für die kulturellen Auffassungen der KPP. 10 * Die nationale Unabhängigkeit hatte die sozialen Gegensätze zwischen den Klassen unverhüllter hervortreten lassen, und die bewegte politische und soziale Wirklichkeit forderte zu radikaleren Träumen von der Veränderung der Welt heraus, zumal kein entlastendes Ar21
gument mehr zur Verfügung stand, die dringlich gewordene Analyse der tatsächlichen Zustände im eigenen bürgerlichen Staat zu vertagen. Das führte innerhalb der Literatur zu einer sichtbaren Polarisierung auch der politischen Standpunkte. Jetzt erst kam der enorme wissenschaftliche und technisch-zivilisatorische Fortschritt des Jahrhunderts der polnischen Intelligenz voll zu Bewußtsein, unter ihr Hoffnung nährend, daß es mit seiner Hilfe dem Land gelingen würde, den Anschluß an die moderne Zeit rasch zu gewinnen. Eine Zivilisationsbegeisterung, die in der Zurückgebliebenheit des Landes ihre Wurzeln hatte, breitete sich aus und wurde kulturell fruchtbar. Vertreter verschiedener Generationen und literarischer Richtungen begrüßten unbeschadet ihrer Differenzen - die Unabhängigkeit als eine geschichtliche Wende, als Eröffnung einer neuen Zukunft. Die allgemeine Überzeugung, daß die neue Gegenwart auch einer ihr gemäßen Poesie bedürfe, setzte eine Suche nach Neuerungen in Gang, bei der es vor allem um die Erarbeitung eines zeitgemäßen Verständnisses von der Funktion der Poesie in der Gesellschaft ging. Der nationale Auftrag kam dafür nicht mehr in Betracht; einmal war er geschichtlich abgegolten, zum anderen empfand man die eigene Staatlichkeit gerade als Befreiung der Literatur von dem durch Teilung und Unterdrückung verursachten Zwang, stets das p o l n i s c h e Schicksal vorzuführen, statt das m e n s c h l i c h e zu gestalten. Demnach mußte nun die Frage akut werden: Wie kann die polnische Poesie überwinden, was sie als partikulare Beschränkung empfunden hatte? Wodurch erlangt ein Werk die ersehnte Weite menschheitlicher Problematik? Daran knüpften sich weitere Fragen: nach dem geschichtlichen Charakter und den bestimmenden sozialen Kräften des neuen Zeitalters, dem im allgemeinen mit Begeisterung entgegengesehen wurde. Schließlich hatte der Dichter seine Rolle in der veränderten Umwelt neu zu bestimmen und damit das tradierte Selbstverständnis zu überprüfen. Einhelligkeit war da nicht zu erwarten. Die Antworten reflektierten das unterschiedliche Verständnis der sich vollziehenden Wandlungen, und sie fielen so vielgestaltig aus, wie die in den zwanziger Jahren nebeneinander angetretenen poetischen Generationen, Gruppen und Richtungen verschieden waren. Von den Dichtern, deren Werk noch in der Atmosphäre des Jungen Polen wurzelte, können zwei als Dichter des Übergangs bezeichnet werden: Leopold Staff (1878-1957) und Boleslaw Lesmian (1878 bis 1937). Ihre nach 1918 erschienenen Gedichtsammlungen spielten 22
in dem lyrischen Geschehen der neuen Phase eine erhebliche Rolle. Lesmians magische Naturdichtung schöpfte aus der volkstümlichen Phantastik und baute daraus eine poetische Welt, die Wirkliches und Unwirkliches vereinte. Seine tiefenpsychologisch beeinflußte Symbolik, die tragisch-grotesken Effekte, die an surrealistische Verfahren erinnern, und schließlich seine eigenwillige wortschöpferische Leistung beeindruckten die jungen Dichter, insbesondere die Avantgardisten. Staff hingegen erstrebte eine klassische Harmonie, indem er sich von der dramatischen Seite seiner Zeit abwandte. Sein Verfahren, alltägliche Dinge dadurch zu poetisieren, daß er sie in kostbare Wortrahmen setzte und ihnen so ihre Gewöhnlichkeit nahm, hat- bei den Skamandriten Anklang und Fortsetzung gefunden. Von der Generation, die sich schon im eigenen Staat entfaltete, war es den Skamandriten am frühesten gelungen, einen festen Platz im literarischen Leben einzunehmen. Der lockere Kreis befreundeter Dichter, der sich seit 1920 um die Monatsschrift Skamander (benannt nach dem Fluß vor dem antiken Troja) bildete, war hauptsächlich darauf bedacht, ohne theoretische Festlegungen der allgemeinen Zeitstimmung positiv zu entsprechen. Es war eine Vereinigung bedeutender Talente bürgerlich-liberaler Provenienz (Julian Tuwim, Antoni Slonimski, Jan Lechori, Kazimierz Wierzynski und Jaroslaw Iwaszkiewicz), die später verschiedene Wege gegangen sind, aber immer wieder unter dem gemeinsamen Stichwort zusammengefaßt werden. Vorsätzliche Programmlosigkeit, mangelnder Sinn für die Notwendigkeit, poetische Strukturen zu erneuern, Betonung des Talents und des Niveaus statt theoretischer Erörterungen, Harmonisierung alter und neuer Kunstmittel, schließlich die Zurückhaltung gegenüber ästhetisch wie gesellschaftlich radikalen Veränderungsvorschlägen - das alles und ihre anhaltende Popularität bei einem breiten Publikum, wozu in nicht geringem Maße ihre Monopolstellung in dem erfolgreichsten literarischen Magazin Wiadomo'sci Literackie beitrug, machte die gemäßigten Skamandriten zum Gegenspieler der Avantgarde. Obwohl hinzugefügt werden muß, daß beim Gebrauch bestimmter gestalterischer Mittel die Grenzen durchaus fließend waren. Die avantgardistischen Gruppen, wie sie sich selber bezeichneten oder von der Kritik zusammenfassend genannt wurden, entstanden in Polen erst gegen Ende des Weltkrieges. Es war eine breite, ideologisch und ästhetisch in sich differenzierte Bewegung, deren gemeinsame Merkmale sich wie folgt zusammenfassen lassen: Streben nach 23
neuen semantischen Möglichkeiten im Hinblick auf den vorgefundenen und eingebürgerten Kanon künstlerischer Mittel und Verfahren, und zwar als Folge der wahrgenommenen geschichtlichen Veränderungen und der dringlich empfundenen Notwendigkeit, eine neue gesellschaftliche Funktion der Literatur zu begründen und durchzusetzen. Am frühesten traten die Expressionisten auf den Plan, deren Organ Zdroj zwischen 1917 und 1920 von Jerzy Hulewicz, dem Bruder des Rilke-Freundes und Übersetzers Witold Hulewicz, in Poznan herausgegeben wurde. Von der geistigen Spielart des deutschen Expressionismus spürbar beeinflußt, erwählten sie bezeichnenderweise eine Schlüsselfigur des Modernismus, Stanislaw Przybyszewski, zum Verfasser ihres Programms. Damit haben sie viele modernistische Vorstellungen samt ihren Aporien nahezu unverändert übernommen. Außer den Brüdern Hulewicz gehörten dem Kreis noch Emil Zegadlowicz und Jözef Wittlin an. Gleichzeitig mit den Expressionisten starteten an zwei verschiedenen Orten die Futuristen, die vom italienischen und besonders vom russischen Futurismus beeinflußt waren. 1917 gründeten Tytus Czyzewski, Bruno Jasienski und Stanislaw Mlodozeniec in Krakau den Futuristen-Klub „Katarynka" (Leierkasten), in Warschau wirkten Anatol Stern und Aleksander Wat. Als Höhepunkt gemeinsamer Aktivität gilt das 1921 erschienene Flugblatt mit dem programmatischen Text von Jasienski Manifest an die polnische Nation für eine sofortige Futurisierung des Lebens. Ab 1924 begann die Auflösung der Bewegung; Wat, Jasienski und Stern, die beiden letzten mit dem Gedichtband Ziemia na lewo! (Linksrum erde!), gliedern sich, unterschiedlich konsequent, in die proletarische Poesieströmung ein. In der ersten Hälfte der zwanziger Jahre war das Stichwort der proletarischen Poesie vor allem eine programmatische Losung der linken Kulturblätter Kultura Robotnicza (1922/23) und Nowa Kultura (1923/24). Die poetische Praxis kam über plakative Agitationslyrik oder Rückgriffe auf eine romantisch unbestimmte Symbolik nicht hinaus. Ein qualitativer Wandel der revolutionären Lyrik erfolgte zwischen 1924 und 1926; als Stichdatum gilt allgemein das Erscheinungsjahr des Bandes Trzy salwy (Drei Salven) der Autoren Wtadystaw Broniewski, Witold Wandurski und Stanislaw R. Stande. Politischer Anspruch und künstlerische Realisierung hielten sich darin in überzeugender Weise die Waage. In Korrespondenz sowohl zu den Futuristen, einer Gruppe klein24
bürgerlicher Herkunft und linker, anarchistischer Orientierung, wie zur revolutionären Poesie stand die sogenannte Krakauer Avantgarde. Ihr Organ war die Zeitschrift Zwrotnica, die in zwei Folgen - 1922/23 und 1926/27 - in Krakau erschien. In der Gruppe fanden sich folgende Dichter zusammen: Julian Przybos, Jan Brz?kowski, Jalu Kurek, Adam Wazyk und Tadeusz Peiper. Peiper, der während des ersten Weltkriegs in Spanien lebte und erst 1921 nach Polen zurückkehrte, war der Organisator und das theoretische Haupt der Gruppe, deren konstruktivistisches Programm die größte Kohärenz ästhetischer und gesellschaftlicher Vorstellungen in den zwanziger Jahren erreichte. Seine Auffassungen legte Peiper in seiner Zeitschrift und später in zwei Sammlungen nieder: Nowe usta (Neuer Mund) 1925 und T$dy (Hierherum) 1930. Damit ist das Feld abgesteckt, auf dem sich nach 1918 die wichtigsten Wandlungen in der Lyrik vollzogen. Jene Perspektive der Literatur, die aus den Erfahrungen von 1905 abgeleitet worden war, erhielt nun neue Aktualität. Hinfällig wurden die nationalen Beschränkungen, die die notwendige künstlerische Reflexion der Modernisten zur Inkonsequenz verurteilt hatten. In diesem Bereich war nun noch viel aufzuarbeiten und zu entdecken. Die von der Oktoberrevolution ausgelöste Erschütterung der bürgerlichen Ordnung erschloß auf der anderen Seite neue Möglichkeiten, die unumgängliche Erneuerung literarischer Strukturen nicht losgelöst von dem geschichtlichen Ringen um eine neue Welt zu betreiben. Und in der Tat sind perspektivisch fruchtbare Innovationen dort gelungen, wo der spannungsreiche Zusammenhang von gesellschaftlicher Veränderung und ästhetischer Erneuerung nicht aus den Augen verloren wurde. In der polnischen Lyrik haben das Problem doppelter Revolutionierung am intensivsten die avantgardistischen Gruppen (mit Ausnahme der Expressionisten, die nicht zufällig, wie es scheint, in der gesamten Lyrikentwicklung wirkungslos blieben) und die proletarische Poesie bewegt. Natürlich schloß das den Streit gegensätzlicher Konzepte, die Forcierung einseitiger Lösungen, den Holzweg und die Korrektur mit ein. So lassen sich, grob gesehen, zwei Tendenzen im Herangehen an die integrale Aufgabe der Erneuerung ausmachen. Der avantgardistische Flügel rückte die schöpferische Originalität der technisch-formalen Gestaltung in den Mittelpunkt, während die proletarische Poesie die unmittelbare, sofortige Wirkung des Gedichts zu agitatorischen Zwekken stark betonte. Im Hinblick auf den Gesamtprozeß arbeiteten beide Einstellungen wichtige Seiten des dialektischen Ganzen heraus, und
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beide sahen sich im Laufe der Entwicklung genötigt, ihre Einseitigkeiten zu korrigieren. Das allgemeine Bewußtsein, daß es mit dem Vorrang des nationalen Dienstes nun vorbei sei, führte zu einer großen Aufrechnung der Gegenwart gegen die Vergangenheit, insbesondere gegen die Romantik, die als überragende ästhetische Leistung des 19. Jahrhunderts und literarische Repräsentantin der nationalen Befreiungsideologie enorme Ausstrahlung besaß. Vom Jungen Polen auf sehr spezielle Weise rezipiert, behielt die romantische Tradition auch für die Lyrik nach 1918 die Fähigkeit, konträre Verhaltensweisen hervorzurufen: vorbehaltlose Bejahung und Nachfolge ebenso wie grundsätzliche Ablehnung. So eben, bekämpft und positiv fortgeführt, erwies sie sich als Schlüsseltradition, d. h. als unentbehrliches Bezugs- und Integrationsfeld für sehr verschiedene poetische Unternehmungen. 11 Über die Literatur hinaus besaß die Romantik auch in den ideologischen Auseinandersetzungen jener Jahre besonderes Gewicht, weil verschiedene politische Gruppierungen ihre künstlerische Autorität und national integrierende Kraft für sich beanspruchten. In der gesellschaftlichen Debatte ging es um die Frage, ob die Zukunftsbilder, die die romantische Literatur als Sachwalter der Nation entworfen hatte, ob die Postulate ihrer Ideologie, ein freies Vaterland sozialer Gerechtigkeit zu errichten, mit der Schaffung des eigenen Staats bereits eingelöst worden waren oder ob ihre volle Verwirklichung noch ausstand. Das Bedürfnis der jungen Dichtergeneration, sich über die Möglichkeiten der Lyrik unter den veränderten gesellschaftlichen und kulturellen Bedingungen zu verständigen, fand in den frühen zwanziger Jahren in einer Flut von Programmen seinen Niederschlag. Im folgenden werden zunächst aus den relevanten programmatischen Äußerungen der Avantgarde jene Positionen herauskristallisiert, mit deren Hilfe die wichtigsten neuen Ideen entwickelt wurden. Anschließend soll das vielfach komplizierte Verhältnis zwischen theoretischen Postulaten und poetischer Praxis näher betrachtet werden, bevor im nächsten Kapitel - die Vorstellung eines repräsentativen Modells der proletarischen Poesie erfolgt.
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Weltoffenheit
und nationale
Eigenart
Die zentrale Kategorie der Programme, auf die alle künstlerische Tätigkeit zu beziehen war, hieß: Gegenwart oder spezifischer „Jetztzeit". Ihr zu entsprechen, zu ihrer „Umarmung" fähig zu werden, war das allgemeine Ziel der Vorschläge, die die Futuristen und die Krakauer Avantgarde unterbreiteten. Nicht als bloße kalendarische Größe, sondern historisch als „physiognomische Qualität" wollte man die „Jetztzeit" aufgefaßt wissen. Ihre bestimmenden Merkmale wurden aus dem Gegensatz zum n a t i o n a l e n P a r t i k u l a r i s m u s heraus entwickelt. Um die kulturellen Aufgaben im eigenen Lande zu umreißen, beschränkte man sich nicht länger auf die nationalgeschichtlichen Gegebenheiten, sondern nahm die durch Krieg und revolutionäre Ereignisse veränderte Lage Europas zum Ausgangspunkt. „Die große Verschiebung der Schichten in Ost und West dauert an. Eine neue Kraft meldet sich zu Wort - das bewußt gewordene Proletariat. Es beginnt die große Umwertung der Werte. Gemessen wird alles Recht und alles Unrecht einer tausendjährigen, hinter seinem Rücken und auf seine Kosten geschaffenen Kultur", so hieß es 1921 in Bruno Jasienskis Manifest an die polnische Nation für eine sofortige Futurisierung des Lebens. Damit wurde das Proletariat als Gesetzgeber einer anzustrebenden Kultur ins Auge gefaßt. Nun gelte es, so hieß es weiter, ohne Zögern aus dem Gefallen an der eigenen Zurückgebliebenheit herauszutreten, um sich mit „kurzen, synthetischen Schritten in den Wettlauf der Zivilisation" einzugliedern.12 Die beschleunigte Entwicklung auf allen Gebieten verlange auch größte kulturelle Dynamik, um Anschluß an die moderne Zeit zu gewinnen. Das romantische Problem, was Polens Schicksal für die Freiheit Europas bedeute, kehrte sich zu der Frage um, wie Polen an den europäischen Mustern gesellschaftlicher Entwicklung am raschesten teilhaben könne. An futuristische Losungen anknüpfend, entwickelte Tadeusz Peiper seine Theorie, in der Analyse und Postulat Hand in Hand gingen. Die wichtigsten Attribute der Gegenwart hießen bei ihm „Stadt. Masse. Maschine". Die beschleunigte Industrialisierung und Urbanisierung wurden als ein positiver Vorgang beschrieben, dem die städtische Kultur ihre prägende Kraft verdanke. Die Bejahung der Urbanen Umwelt sowie des Siegeszugs der Maschine besaß unter den polnischen Verhältnissen einen deutlich postulativen Charakter. Das Stichwort Masse meinte eine arbeitsteilige Gesellschaft, die Peiper unter positivistischem Einfluß als den „wunder27
barsten Organismus, schöner als alles, was die Natur hervorbrachte; kompliziert und präzise zugleich" begreift. 13 Diese funktional geordnete und deshalb harmonische und konfliktfreie Gesellschaft sieht er in einen Demokratisierungsprozeß hineingerissen, der einen „wachsenden politischen Einfluß des Volkes" mit sich bringt. 14 Schließlich konstatiert er, daß sich unter dem Einfluß der Oktoberrevolution überall die Formen des Zusammenlebens der Menschen verändert hätten. Die „soziale Geologie" erfahre überall eine Umschichtung, die für das 20. Jahrhundert charakteristisch sei. Die Folgen dieser Veränderung würden auch das gesamte polnische Leben ergreifen müssen.15 Die Bejahung der sozialen Veränderung, des technisch-zivilisatorischen Fortschritts und die Unterstützung aller Bestrebungen, deren Ziel eine vernünftig und gerecht organisierte, eine sozialistische Ordnung der Gesellschaft ist, umriß Peiper als Notwendigkeit einer modernen kulturellen Entwicklung Polens. Im Gegensatz zu solcher positiven Einstellung traten die Expressionisten einen verächtlichen Rückzug aus der lärmenden, niedrigen materiellen Gegenwart an. Die Seele sahen sie durch das Pfeifen der Lokomotiven vertrieben, ja getötet durch die schrecklichen Götter die Maschinen. 16 Unter spürbarem Einfluß des deutschen Expressionismus argumentierten sie, die technische Zivilisation habe sich in den Materialschlachten des Weltkriegs als verderblicher Materialismus bloßgestellt und somit den idealistischen Aufstand des Geistes heraufbeschworen. Die Demokratisierung der Gesellschaft vermochten sie lediglich als bedrohliche Vermassung wahrzunehmen. Die Skamandriten wiederum bejahten die Gegenwart, die sie eher als Metapher faßten, auf eine ziemlich unverbindliche Weise. „Wir wollen Dichter des heutigen Tages sein, darin liegt unser ganzer Glaube und unser ganzes .Programm'." 17 Das Wort Programm wurde bereits in Anführung gesetzt! Die unerschütterliche Liebe, die sie für den „heutigen Tag" empfanden, spiegelt etwas von der allgemeinen optimistischen Grundstimmung der ersten Jahre nach der Unabhängigkeit. Nicht auf Analyse und Kritik, sondern auf Ausgleich war diese Liebe aus, in ihr waren alte und neue poetische Requisiten miteinander vereint: Resedaduft im Mondlicht und der wilde Marsch eiserner Züge, Großstadtlärm und die verträumte Stille der adeligen Landsitze. Die demokratische Überzeugung der Skamandriten, die sich später - besonders bei Tuwim und Slonimski - politisch schärfen sollte, äußerte sich vorerst im Lob des einfachen Mannes (nach dem Vorbild Walt Whitmans) und in der faszinierten Beschwörung 28
der Masse als einer undifferenzierten Größe, die zugleich bewundert und gefürchtet wurde. Die Vorstellungen der Avantgarde waren von großer Weltoffenheit und starkem Empfinden der eigenen Zeitgenossenschaft geprägt. Das schärfte ihre Sensibilität für jene Aufgaben der Kunsterneuerung, mit denen die historische Epoche alle europäischen Kulturen konfrontierte, brachte sie aber zugleich in Konflikt mit den Verteidigern der nationalen Eigenart der Kunst, die auf der Opposition europäischpolnisch beharrten. Diesen Standpunkt vertrat wirkungsvoll u. a. Stefan Zeromski. Hatte er früher den Mangel an menschheitlicher Problematik in der polnischen Literatur beklagt, so richtete sich nun, nach Erlangung der Unabhängigkeit, sein Augenmerk vor allem auf die nationale Eigenständigkeit der von fremdem Druck befreiten Kultur. Von daher kritisierte er die orthographischen Experimente der Futuristen als schädlich für die nationale Kultur, weil sie die Anstrengungen zur Alphabetisierung unterliefen. Furcht vor snobistischer Überfremdung und Zweifel an den kulturbildenden Potenzen des Proletariats führten Zeromski zu der Auffassung, der nationale Charakter der Kultur sei durch die Bindung an das Dorf und die bäuerliche Kultur garantiert. 18 In die aus solcher Sicht erwachsende Alternative - willfährige Anlehnung an fremde Muster oder Verteidigung der nationalen Eigenart - ließ Peiper sich nicht zwängen. Der Blick auf Europa bedeutete für ihn keineswegs kritikloses Nachahmen, sondern vor allem: lernen. Auf die Entfaltung einer modernen polnischen Kultur bedacht, verlor er den Unterschied der historischen Ausgangspunkte nie aus den Augen, der bewirkte, daß gesamteuropäische Tendenzen in Osteuropa eine besondere historische Funktion erhielten. So warnte er vor der unbesehenen Übernahme der antizivilisatorischen Tendenzen des deutschen Expressionismus, weil ein deutscher Dichter die Zivilisation verdammen könne, ohne damit den tatsächlichen technologischen Rausch in seinem Lande im geringsten zu behindern. In Polen dagegen gebe es noch überlieferte Vorurteile gegenüber der Technik, Hindernisse in der Struktur der Gesellschaft, Rückstände, die die Teilungen verursacht haben („wir verfügen über zu schwache Muskeln der Technik, als daß es den Künstlern erlaubt wäre, von ihrer Kasteiung zu träumen" 19 ). Aus ähnlichen Erwägungen lehnte er Marinettis intuitive Welterkenntnis und seinen Antipsychologismus ab. Peipers Interesse für bestimmte Kulturerscheinungen im Ausland fußte darauf, daß er die polnische Avantgarde in eine gesamteuro29
päische Erneuerungsbewegung eingebettet sah, folglich stellte er in seiner Zeitschrift analoge Erscheinungen vor. D i e Verteidiger der nationalen Besonderheit versuchten alle heimischen Bemühungen um Innovation dadurch einzuschüchtern, daß sie deren „Identität" mit ausländischen Ideen hervorkehrten und ihnen damit Unselbständigkeit unterstellten. Wenn Peiper aber über neue spanische Lyrik (Vicente Huidobro, Miguel de Unamuno) und den französischen Purismus (Ozenfant, Jeanneret) berichtete oder die Verwandtschaft seiner poetologischen Grundsätze mit der zeitbezogenen, materialgemäßen und funktionalen Gestaltungsweise des Bauhauses in Deutschland darstellte, so ging es ihm nicht darum, neue Ideen „einzukaufen", sondern um die Modernisierung der eigenen Kultur. 2 0 * Von dieser Position aus polemisierte er gegen Zeromskis Auffassung vom r e a listischen Charakter der polnischen Kultur, worin eine falsche Sicht des Verhältnisses von Kultur und Rasse zutage trete, die politisch überholt und kulturell unfruchtbar sei. Ihr folgen hieße nicht, nationale Eigenart zu bewahren, sondern vielmehr nationale, ja provinzielle Absonderung zu betreiben. Auf der anderen Seite widersprach Peiper auch universalistischen Konzepten (Jan N. Miller), die die geschichtlich gewordenen nationalen Gegebenheiten überspringen wollten. So schälte sich ein dialektischer Ansatz heraus: D i e Produzenten von Literatur wurden aufgefordert, die frischesten internationalen Leistungen des Denkens und der Kunst, die neuesten Materialien und Verfahren aufzugreifen, dabei aber die Bedürfnisse und Voraussetzungen des eigenen Landes nicht aus den Augen zu verlieren. Auf diesem Wege sollte eine moderne und national eigenständige Literatur hervorgebracht werden. Tradition und
Zeitgenossenschaft
D i e Avantgarde faßte die Eigenstaatlichkeit als Chance auf, die polnische Kultur entschlossen an der „Jetztzeit", an den Besonderheiten des 20. Jahrhunderts auszurichten. Dieser gegenwarts- und zukunftsbezogene Impetus bestimmte die Einstellung zur Tradition, deren Normen und Leistungen daran geprüft wurden, ob sie die Lösung gegenwärtiger Aufgaben voranbrachten oder nicht. Es war der genaue Gegensatz jener Betrachtungsweise, die z. B . Zeromski vertrat, der geneigt war, die aktuelle Kultursituation danach zu befragen, ob sie sich angemessen zu den kanonischen Werten der nationalen Tradition verhielt.
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Gemeinsam war den Futuristen und der Krakauer Avantgarde die Absage an fruchtlose Bewunderung vergangener Leistungen und die generell kritische Einstellung zur modernistischen Formation des Jungen Polen. Im einzelnen gingen sie dabei unterschiedlich vor. Die Futuristen waren geneigt, jegliche Tradition gleich Null zu setzen. Sie sahen deutlich, daß bisher die einseitige Bindung kultureller Energien in Polen einen Geschichtskult gefördert hatte, der den Mangel an aktuellen Wirkungsmöglichkeiten gewissermaßen ersetzen sollte. Das Ergebnis war ein Schwelgen in Glanz und Leiden der Vergangenheit, das in den neuen Verhältnissen hinderlich schien und als Ballast abgeworfen werden mußte. „Die ranzigen Mumien der Mickiewicz und Slowacki sind von den Plätzen und Straßen zu karren", heißt es im Manifest von Jasienski, 21 verkündet wurde der große Ausverkauf „alter Traditionen, Gewohnheiten, Bilder und Fetische". Wiederum war die Romantik gemeint, deren nationales Engagement zwar ausdrücklich gewürdigt wurde, die rigorose Verneinung eines „Ewigkeitswertes" der Kunst legte aber einen Tabula-rasa-Standpunkt gegenüber der Vergangenheit nahe. Der Antitraditionalismus war ein allgemeines Kennzeichen des europäischen Futurismus. In Polen und in einigen anderen osteuropäischen Ländern stand ihm allerdings ein Traditionalismus von besonderer gesellschaftlicher Autorität gegenüber, der zu seiner Rechtfertigung stets das Argument ins Feld führen konnte, Veränderungen am Althergebrachten nur deshalb nicht zu dulden, um die nationale Identität und Kontinuität vor drohender Überfremdung zu bewahren. Noch in unserem Jahrhundert besaß die Kultur in der polnischen Gesellschaft eine enge Bindung an den „Kult": den Kult der Geschichte, der nationalen Kontinuität mit einer glanzvollen Vergangenheit, was ihr den feiertäglichen Charakter eines „nationalen Heiligtums" verlieh. Entsprechend rigoros und unduldsam waren die Mechanismen dieser Kultur, wenn es darum ging, alles abzuwehren und auszuschließen, was den nationalen Kult anzutasten drohte.22 So war neben der politischen Zensur die „Sittenzensur" überaus beschwerlich, sie tabuierte bestimmte gesellschaftliche Bereiche - von der Religion über die Ästhetik bis zur Orthographie. 23 Unter diesen Umständen richteten sich die Attacken der Futuristen, die vorsätzlich den Skandal mit einbezogen, n i c h t vorrangig g e g e n die G e g e n s t ä n d e der Tradition als v i e l m e h r g e g e n die A r t ihrer Vergegenwärtigung durch die bürgerliche Gesellschaft. Die Gesellschaft antwortete 31
darauf mit politischen Maßnahmen. Die „polnische Psyche" - so schilderte es Jasienski in seiner Bilanz des Futurismus 1923 - fühlte sich in ihren traditionellen Gewohnheiten und Lastern herausgefordert, also schloß sie sich in Kirchen und Redaktionen wie in Festungen ein, um von dort kübelweise Spülicht über die unbotmäßigen Partisanen der Kultur zu schütten. Zunächst versuchte man die ganze Richtung als unbrauchbares Plagiat ausländischer Ideen hinzustellen; als das nicht half, wurde der bolschewistische Buhmann beschworen, worauf dann administrative Eingriffe folgten: Verbot, Beschlagnahmung, Ausweisung. In dieser Hinsicht hält es Jasienski für symptomatisch, daß der erste futuristische Klub - Leierkasten - 1917 in Krakau entstand, in der Stadt, die ein „Panoptikum nationaler Mumien" war.2'1 Das von den Futuristen häufig gebrauchte Stichwort „Mumien" verweist auf den offiziellen Krakauer Romantik-Kult, der zu einem rituellen Schauspiel der Emotionen verkommen war und den schon die Modernisten „Polnisches Oberammergau" genannt hatten. Nach 1918 stellte sich dieser kulturpolitische Tatbestand lediglich in modifizierter Gestalt wieder her. Die verschiedenen machtausübenden politischen Kräfte der bürgerlichen Republik verfolgten kein näher umrissenes Literaturprogramm. Gemeinsam war ihnen jedoch die Intoleranz gegenüber revolutionärer Kritik der gesellschaftlichen Zustände in der Literatur wie auch ein bissiger Argwohn gegenüber jeglichem avantgardistischen Neuerertum. Kunsterneuerung hatte für sie einen notorisch linken, revolutionären Einschlag. In Sorge um die ideologische Stabilisierung des Systems war man bemüht, die politisch konservative Stoßkraft des überkommenen kulturellen Traditionalismus zu verstärken und zu nutzen. Dazu mußte die Autorität der Klassiker kultisch eingeschreint, d. h. enthistorisiert werden. Nicht die zwiespältigen Anstrengungen eines schöpferischen Menschen, die Widersprüchlichkeit von künstlerischer Leistung und ihrem Preis bedienten die Wünsche der Machthaber, sondern die auf hohen Sockel gestellten Objekte allgemeiner Anbetung. Von daher ihr Interesse an einer „bronzierenden" Interpretation der großen Romantiker, an der Festlegung ihrer Werke auf eine möglichst monolithe Formel, in der Art derer, die auf Mickiewicz gemünzt wurden: „Katechismus nationaler Tugenden"; „von der Frauenliebe zur Vaterlandsliebe"; „vom prometheischen Aufruhr zur Ruhe in Gott". 25 Erst in solcher mumifizierten Gestalt eigneten sie sich zu Kronzeugen der „Staatsgründungsidee", womit das revolutionär-demokratische Gesellschaftsprogramm der nationalen Befreiungsbewegung entkräftet 32
und die staatliche Unabhängigkeit zu ihrem einzigen Endzweck gesetzt werden sollte. Der Versuch, über einen offiziell gesteuerten Traditionalismus die soziale Struktur des neuen Staates aus der ideologischen Debatte herauszuhalten, weist dem futuristischen Traditionsbruch eine gesellschaftskritische Funktion zu. Für die Expressionisten, deren Programm keinerlei Zukunft anvisierte, sondern die Rückkehr zum ewigen Urgrund der polnischen Seele empfahl, wurde das Traditionsproblem nicht akut. Ihr Schaffen betrachteten sie als Fortsetzung der Romantik, allerdings nur insoweit diese sich als „geniale Intuition und prophetisches Sehertum" fassen ließ.26 Das nationale Engagement der Romantik galt ihnen als Joch, welches der ewigen Kunst in ihrem Drang nach absoluter Freiheit gänzlich unzumutbar sei. So postulierten die Expressionisten die Entpflichtung der Poesie aus jeder bewußt wahrgenommenen außerliterarischen Aufgabe. Eine konsequente Auseinandersetzung mit der Tradition leisteten auch die Skamandriten nicht. Sie feierten im Gedicht die Befreiung der Poesie von den alten Beschränkungen und legten, wie Slonimski in Czartia wiosna (Schwarzer Frühling), die romantischen Symbole nationalen Freiheitsstrebens demonstrativ ab: „Mein Vaterland ist frei, ist frei . . . / So werf ich Konrads Mantel ab."27 Aber welche Konsequenzen für die Funktion der Lyrik daraus zu ziehen waren, blieb eher unklar. Tuwim erklärte sich in Poezja (Poesie) 1918 zum ersten polnischen Futuristen, verwahrte sich aber mit polemischem Seitenblick auf die Futuristen gegen jede Mißachtung der Vergangenheit und auch gegen die Umfunktionierung der Poesie in Sport. Lechon ruft in seinem berühmt gewordenen Gedicht Herostratos dazu auf, die allmächtige und allgegenwärtige Vergangenheit aus Polen endlich zu vertreiben, und schrieb daneben Gedichte, in denen jene Vergangenheit mit wehmütiger Anhänglichkeit besungen wird. Ein launischer, gewissermaßen herostratischer Gestus prägt das Verhältnis der Skamandriten zur Tradition; ungeachtet aller rhetorischen Geplänkel bleibt ihre Praxis bei einer vorsichtig ergänzenden Kontinuität. Ihr ästhetischer Synkretismus faßt Erneuerung als modisches Requisit und fügt mühelos futuristische Elemente in eine romantische bzw. neuromantische Struktur ein. Das Verhältnis der Krakauer Avantgarde zur Romantik war differenzierter und konstruktiver als das der Futuristen. Peipers Programm bestätigte nicht das allenthalben aufgerichtete Dilemma, zielstrebig betriebene Erneuerung müsse unweigerlich das Verwerfen 3
OUchowalcy, Lyrik
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aller Tradition zur Folge haben. Die oft beschworene Traditionsfeindlichkeit der Avantgarde erweist sich beim näheren Hinsehen als kritisch-konstruktive Auseinandersetzung mit ihr. „Die Nachkriegszeit offenbarte das Bedürfnis, die romantischen Werte grundlegend zu destillieren." 28 Nicht das Verwerfen bestimmter Werte steht hier am Anfang der Debatte (1923), sondern deren Reinigung. Im Rahmen eines veränderten Funktionsmodells sollen sie einer kritischen Prozedur unterworfen und so neu gewonnen werden. Der Rationalist Peiper vergröberte zwecks Verdeutlichung des eigenen Standpunkts durchaus, wenn er die romantische Flucht aus der Welt der Menschen in das Reich der Schatten kritisierte, die Erhebung des Gefühls üb«r die intellektuelle Konstruktion, die Eingebungstheorie, mit der die Kunst mystifiziert und der Künstler dämonisiert werde. Aber alle diese Merkmale bildeten zugleich die Reibungsfläche, den oppositionellen Hintergrund für die Formulierung der eigenen poetologischen Programmsätze. Die Kritik, indem sie die Romantik zum unentbehrlichen, wenn auch polemischen Bezugsfeld eines neuen Programms machte, legte deren verschüttete Wirkungskraft frei und bestätigte so den hohen Rang dieser vergangenen Kunstleistung. Peipers Vorgehen gegenüber der literarischen Überlieferung ist historisch und funktional. „Groß ist nur jene Vergangenheit zu nennen, die zu ihrer Zeit ganz gegenwärtig zu sein verstand und von der wir lernen können, wie unsere Gegenwart einzurichten sei. Und das ist die wertvollste Rolle der Tradition", formulierte er 1925. 29 Dies bezog sich auch auf das Junge Polen. Griff er den manieriert-mystischen Ton, die ausschweifende Subjektivität an, die in den „Träumen" und „Sehnsüchten" jener Lyrik schluchzte, so übernahm er andrerseits vom Symbolismus (und gab es auch offen zu) das poetische Verfahren, Empfindungen sprachlich äquivalent auszudrücken. Den Sinn der Tradition erblickt Peiper in der Freiheit, die Überlieferung kritisch zu sichten und daraus zu wählen - gemäß den Aufgaben der Jetztzeit. Sobald die Tradition aber mit dem Anspruch auftritt, ein Speicher ewig gültiger, klassischer Kunstleistungen zu sein, der jegliches neue Kunstbedürfnis zu bedienen vermag, sobald sie sich als Vorbild zur Nachahmung und nicht als ein Beispiel zum Lernen empfiehlt, fordert sie die „schöpferische Lästerung" der Avantgarde heraus. „Wir haben also die Möglichkeit der Wahl. Wenn das so ist, so laßt uns die glänzendste Tradition dieses Landes, die kopernikanische wählen, das heißt die Tradition des Widerspruchs gegen die Tradition - sobald diese tot ist." 30
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Revolutionierung
der Poesie
und Revolutionierung
der
Gesellschaft
Die Auseinandersetzung mit der Tradition war stets von der Frage bewegt, auf welche Weise soll die Literatur ihren Gegenwartsbezug ausdrücken, wie kann sie am besten verändernd auf die Gesellschaft wirken? Denn die Gegenwartsbejahung der Avantgarde bedeutete keine Zustimmung zur vorgefundenen sozialen Wirklichkeit, sondern schloß die Überzeugung ein, daß Erneuerung der Poesie integraler Bestandteil der revolutionären Umgestaltung der Welt ist. Das geschichtliche Subjekt dieser Umgestaltung benennt der „futuristische Mythos": „Blau sind die Augen des Proletariats . . . I so wie der Morgen über Polen blau ist!" 31 Im Unterschied aber zum Mythos vom „heiligen Proletarier", den insbesondere Zeromski um die Jahrhundertwende entwickelte und der seinem gebrochenen Verhältnis zur Arbeiterklasse als einer verheißungsvollen und gefürchteten Kraft Ausdruck gab, rückten die Futuristen das Proletariat als den „verborgenen Helden der Geschichte"32, der nun handelnd hervortritt, ins Blickfeld. Fortan ist es der feste Bezugspunkt aller ästhetischen Überlegungen der Avantgarde, denn nur die „Einsiedler der Kunst", so Peiper, hielten sich Augen und Ohren zu, um den schweren und anwachsenden Tritt der Proletarierstiefel nicht zu vernehmen. Auf diesem Wege aber, d. h. ohne die bestimmenden gesellschaftlichen Faktoren zu Wort kommen zu lassen, sei die Kunst der Gegenwart weder hinreichend zu erklären noch gar zu schaffen. Die Avantgardisten strebten beharrlich danach, ihre künstlerischen Experimente weltanschaulich zu motivieren, faßten also die Kunsterneuerung nicht als etwas Zufälliges, Äußerliches in bezug auf ihre revolutionär-antibürgerliche Intention, sondern als den zwingend folgerichtigen Ausdruck dieser Intention und das effektivste Instrument ihrer Verwirklichung. Das Stichwort Revolution, das in den Manifesten vorkommt, ist nicht nur politisch gemeint, es bezeichnet eine Umwälzung in Wissenschaft, Kunst, Technik, in den Moralauffassungen, im kollektiven Bewußtsein überhaupt. Ihr utopisch gezeichnetes Ergebnis ist eine allgemeine, menschheitliche Gesellschaft ohne Klassen, Rassen und Grenzen, nicht länger durch das Prinzip der Ichbezogenheit atomisiert, sondern durch ein Netz intakter Beziehungen zu einem Kollektiv zusammengeschlossen. Die frühen Auffassungen der Avantgardisten decken sich mit keiner der damals konkret vorhandenen politischen Ideologien, obwohl festgehalten werden kann, daß Peipers politische Anschauung der reformistischen Ideologie der polnischen Sozialdemo3*
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kratie (PPS) verwandt war, während Jasienski sich ab Mitte der zwanziger Jahre an der Seite der Kommunisten politisch engagierte. Über diese bloße Feststellung hinaus scheinen die Gemeinsamkeiten des Entwurfs einer sozialistischen Zukunftsgesellschaft wichtig zu sein und die Unterschiede der Literaturkonzepte, die daran teilhaben sollten. Ein wesentlicher weltanschaulicher Unterschied zwischen den Futuristen und der Krakauer Avantgarde zeigte sich in der Art, wie sie die grundlegende Opposition von Kultur und Natur, die der technisch-industrielle Fortschritt auf die Tagesordnung setzte, deuteten. In der Diskussion um das Verhältnis von Mensch und Maschine (1921-1923) trat die Differenz deutlich zutage. Peiper begreift die Kultur vor allem unter dem Aspekt der Zivilisation: als den Bereich der Produktion und der Produkte, und er bestimmt sie als einen besonderen Anwendungsbereich allgemeiner ökonomischer Gesetze. So erreicht er eine einheitliche, weithin in technologischen Termini ausgedrückte Vorstellung von Kultur, die er der Natur dann gegenüberstellt. Natur bedeutet ihm Chaos, Rohstoff, Elementargewalt, die in der Kunst wie in der gesellschaftlichen Praxis vom Menschen geordnet, bearbeitet, bezwungen werden muß. Fortschritt ist die stetige Unterwerfung der Natur durch Kultur. Die Futuristen fassen Kultur stärker als den Bereich menschlicher Werte, der keineswegs der Natur schroff entgegensteht. Natur erscheint ihnen nicht nur als Chaos, ihre ursprüngliche Kraft wird besungen; ländliche Naturbilder oder exotische Motive ferner Länder sind Verkörperungen ersehnter menschlicher Werte: Spontanität, Ungebundenheit, Schaffensfreude selbst am Nonsens, Glück des Zufalls und des Spiels. Aus dieser Sicht wird die verdinglichte Welt, werden alle verkrusteten Gewohnheiten kritisiert. Für Peiper ist die Maschine nur ein Instrument, nicht sie verdient Bewunderung, sondern der Mensch, der sie schuf. Sie braucht auch nicht gefürchtet zu werden; Zweifel an ihrer Beherrschbarkeit kommen nie auf. Die Futuristen erhoben die Maschine gar zum erotischen Ideal und sahen in ihr ein neu gewonnenes menschliches Organ, das ihn bereichert. So läßt sich bei der Krakauer Avantgarde ein Zug zur Versachlichung der menschlichen Beziehungen beobachten, während die futuristische Vermenschlichung der Sachen sich aufspaltet in anarchische Furcht und Bewunderung sowie konstruktivistische Disziplin. Über die Aufhebung des Konflikts zwischen der Welt der Werte und der Sachen entschied die gesellschaftliche Praxis, die Revolution.
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An diesem Punkt gingen, als Konsequenz des aufgezeigten Unterschieds, die Wege Jasienskis und Peipets auseinander. Die futuristische Weltanschauung verriet bereits durch ihre Art, in der sie das Traditionsproblem zu lösen trachtete, eine radikale Ungeduld. So tendierte sie auch zu einer anarchischen Sicht der Revolution. Für Jasienski gibt es in der Phase bis 1923 zwischen der Gesellschaft der Zukunft und der gegenwärtigen Welt keinerlei Kontinuität - die Revolution stellt sich ihm als drastische Zerstörung aller vorgefundenen Ordnung dar und als ein freudiges Fest der Wiedergeburt. Peipers Doktrin, größtenteils in einer Zeit gesellschaftlicher Stabilisierung entstanden, trug indessen gewisse „postrevolutionäre" Züge. Er vermeinte den Prozeß der Sozialisierung bereits eingeleitet und konzentrierte sich hauptsächlich auf jene Aufgaben, die Lenin 1918, nach dem Sieg der Revolution, als „die positive oder schöpferische Arbeit, die neue Gesellschaft zu organisieren", bezeichnet hat. 33 Unter anderem deshalb erhielten seine Ideen in den Debatten nach 1945 erneute Aktualität. Die „negative oder zerstörende Arbeit" der Revolution fand in seinen Überlegungen hingegen kaum Beachtung.
Autonomie der Poesie und gesellschaftliches Engagement Die Futuristen entdeckten die proletarische Masse als Publikum, das den Künstler verpflichtet und die Kunst verändert. Im Gegensatz zum modernistischen l'art pour l'art und dem Streben der Expressionisten nach dem Absoluten postulierten sie eine „für den Menschen gemachte, massenhafte, demokratische und allgemeine Kunst" 34 . Die proletarische Masse wird nicht nur als neuer Rezipient der Kunst erkannt, alle bisherige Trennung zwischen Künstler und Publikum soll aufgehoben werden. Auf der Suche nach Möglichkeiten, die spontane künstlerische Aktivität der Massen zu wecken, rückt das futuristische Programm Formen wie Straßentheater, Film und Zirkus in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit; Poesie hat sich im Alltag aufzulösen, die Straße selber wird zum künstlerischen Arrangement. Das Postulat der Demokratisierung hatte weitreichende Folgen für die Beantwortung der Frage: Wie soll man schreiben? Anliegen des futuristischen Programms war es einerseits, den modernen Menschen mit einer Flut von wunderbaren Überraschungen aus dem Ghetto der Logik und der eingefahrenen Gewohnheiten zu befreien. Auf der anderen Seite aber wurde die Maschine wegen ihrer vollkommenen
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Verbindung von Ökonomie, Effektivität: und Dynamik als mustergültiges Kunstwerk gepriesen. Lob der Spontanität, des Nonsens und Lob der konstruktiven Disziplin. Diesen Widerspruch, der in der zweifachen Auffassung der Materie gründete, versuchten die futuristischen Gedichte aufzulösen, die Poetik indessen stand vor allem im Zeichen der Spontanität. Das Prinzip der „Worte in Freiheit", das die Ablehnung des Satzes als eines „antipoetischen Ungetüms" einschließt, war die poetologische Umsetzung des von den Futuristen jedermann zugebilligten Rechts, sein Inneres ohne Rücksicht auf Konventionen auszudrücken. An die Stelle des Satzes, dieser durch „kleinbürgerliche Logik zusammengeklebten Zufallskomposition", wurde eine assoziative Reihe gesetzt, die insbesondere die Klangqualität des Wortes hervorhob. Denn die Wörter sollten nur ihrer natürlichen, d. h. lautlichen Verwandtschaft gehorchen, nicht den verfälschenden Regeln der Syntax, Grammatik und Logik. 35 Gesellschaftskritik artikulierte sich hier als Kritik an der Sprache, erschöpfte sich aber nicht darin. Daneben zielte die futuristische „Strategie des Skandals" darauf, eingewurzelte Gewohnheiten in Literatur und gesellschaftlichem Brauch zu zerstören. Sie bediente sich dazu verschiedener Mittel: Verulkung des Pathos, respektlose Selbstreklame und Selbstironie, Einsatz schockierender und turpistischer Elemente (bezeichnend sind die folgenden Titel: Stiefel im Knopfloch, football aller heiligen, Kotzende Denkmäler, Leichen mit Kaviar). Sie brachte auch eine vorsätzliche Inkonsequenz in der Realisierung der eignen Programme mit sich, denn der Leser sollte immerfort auf falsche Fährte gesetzt werden. So nutzte der Traditionsgegner Jasienski nicht nur den vom Symbolismus kultivierten Wohlklang, er hielt sich auch strikt ans syllabotonische oder tonische System der Metrik und realisierte mitunter mustergültig klassische Versmuster. In der futuristischen Interpretation bedeutete die Forderung, die Kunst zu demokratisieren, also folgendes: Dehierarchisierung der überlieferten ästhetischen Rangordnung, Abbau aller Privilegien des Dichters gegenüber dem Publikum, Beseitigung aller besonderen Unterschiede zwischen Poesie und Leben und letztlich zwischen Kunst und Nicht-Kunst. Die Krakauer Avantgarde verfocht demgegenüber - von den ersten programmatischen Verlautbarungen 1922 an bis zur Lyrik und Poetik von Przybos in den dreißiger und vierziger Jahren den Grundsatz der hochgradigen Besonderheit und inneren Homogenität der einzelnen Künste. „Das wesentlichste und wichtigste Element einer jeden Kunst ist das, was eine andere Kunst nicht zu leisten
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vermag", schrieb Peiper 1923. 36 Der Nachdruck auf das jeweils Spezifische und Einmalige strich den Unterschied zwischen den künstlerischen und den anderen Arten sprachlicher Kommunikation, zwischen Lyrik und den übrigen Gattungen gerade heraus. Danach wurde die Lyrik als eine in höchstem Maße intensivierte, als umgestaltete Rede aufgefaßt, oder anders gesprochen: als „Sprache in der Sprache". Als anzustrebendes Ideal galt eine integrale Poesie, die ihre eigenen Gattungsmittel bewußt handhabt und eine unreflektierte Vermischung mit fremden Elementen - der Musik (in der metrischen Gestaltung, im Reim) oder der bildenden Kunst (in der Bildhaftigkeit) möglichst vermeidet. Peiper, Przybos und Brz?kowski durchbrachen in ihren Gedichten zum ersten Mal bewußt die Allmacht des Reims und des rhythmischen Gleichmaßes in der polnischen Verstradition. Die aufgeführten Merkmale bekräftigen alle den autonomen Charakter der Poesie. Begründet wurde die Autonomie allerdings mit dem Grundsatz der Effektivität im Rahmen gesellschaftlicher Arbeitsteilung. Die Besonderheit der poetischen Arbeit voranzutreiben, das also, wodurch Lyrik durch nichts zu ersetzen ist, macht ihre gesellschaftliche Aufgabe aus. Autonomie und gesellschaftlicher Auftrag sind hier in einen funktionalen Zusammenhang gebracht. Insgesamt war die Krakauer Avantgarde weder darauf aus, sich von den modernen sozialen, ökonomischen und technischen Entwicklungen abzuwenden, noch sich ihnen anzugleichen. Ihrer Poetik legte sie Prinzipien zugrunde, die aus der Gegenwart abgeleitet waren: Ökonomie der Mittel, Funktionalität, Dynamik, Effektivität, Zunahme der gesellschaftlichen Bindungen bei stärkerer Differenzierung der Elemente. Was die gesellschaftlichen Abläufe beherrschte, sollte nicht nur am Thema, sondern auch an der Aufbauweise zeitgemäßer Poesie abgelesen werden können. Das Kunstwerk sollte ein Modell jener funktionalen Bindungen abgeben, wie sie zwischen dem Einzelnen und dem Ganzen in der Gesellschaft bestehen, d. h., zwischen Realität und poetischer Struktur wurde kein kausales, sondern ein homologes Verhältnis angenommen. An die Stelle der romantischen Ausdrucksästhetik tritt eine Werkund Produktionsästhetik, die mit der Vorstellung aufräumt, Lyrik sei einzig Sprache der Gefühle und die Unmittelbarkeit des Ausdrucks ihre wichtigste Kategorie. Bekämpft wird die Eingebungstheorie, weil sie eine vernünftige Reflexion über künstlerische Mittel und Verfahren versperrt und den Leser außer acht läßt. Peiper nimmt dem Dichten jeden Anflug von Weihe und Geheimnis, ihm gilt es als eine Form
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gesellschaftlicher Arbeit vernünftig, erfinderisch und verantwortlich wie die des Handwerkers. Produktion und schöpferischer Einfall, Präzision und Phantasie werden miteinander gekoppelt. Przybos formuliert: „Es gibt keinen einleuchtenden Grund dafür, die Poesie aus dem Kreis der erfinderischen und anstrengenden Berufe, wie Elektrotechnik und Akrobatik, auszuschließen."37 Was den Poeten auszeichnet, ist nicht Gefühlsüberschwang, nicht mystisches Auserwähltsein oder patriotisch-prophetisches Sendungsbewußtsein, sondern die kreative Anstrengung eines hochgradig spezialisierten Individuums. Seine Aufgabe ist es, im Bereich poetischer Artikulation neue, zeitgemäße Lösungen zu entdecken und in gesellschaftlichen Umlauf zu bringen. Neuheit ist hierfür Bedingung. Ein Werk, das Vorbilder nachbildet, ist als originelles Kommunikat überflüssig und bleibt aus diesem Modell ausgeschlossen. Das Drängen auf Neuheit und Originalität, vor allem der poetischen Sprache, äußerte sich in Gestalt einer eigenen Metapherntheorie. Als Ausweg aus dem kompositorischen Ungleichgewicht zwischen sprachlicher Konstruktion von Welt und Selbstaussage des Subjekts, die besonders in der modernistischen Lyrik in Wirklichkeitszitat und emotionale Deklaration auseinandergefallen war, wobei sich die Konfession des Subjekts zunehmend verselbständigte, schlägt Peiper das Verfahren des Äquivalents vor. Er hat es vom Symbolismus übernommen, verändert und bis 1925 systematisch ausgebaut. Das wichtigste Instrument dieses Verfahrens ist die Metapher, die Peiper in seinem Aufsatz Metafora terazntejszosci (1922) als „willkürliche Vermählung von Begriffen" definiert.38 So entstehen begriffliche Verbindungen, die in der wirklichen Welt keine Entsprechung haben und in denen die Realität der Empfindungen zu einer neuen, rein poetischen Realität umgearbeitet wird. Sowohl in der Beziehung der Metapher zur Außenwelt wie auch zur Innenwelt, d. h. unter gnoseologisch-konstruktivem und lyrisch-expressivem Aspekt, wird ein Äquivalenzverhältnis angestrebt. Im ersten Fall bedeutet dies, daß die Gegenstände semiotisch, nämlich als Zeichen anderer Gegenstände, behandelt werden. Damit ist das poetische Bild nicht auf eine graphisch verifizierbare Wiedergabe aus, sucht den Gegenstand nicht in endgültig ruhender Gestalt abzubilden, sondern führt ihn im Werden vor, zeigt ihn als Resultante bestimmter Möglichkeiten. Mit Hilfe der anti-mimetisch begriffenen Metapher bringt das dichterische Subjekt neue kausale Beziehungen zwischen nicht zusammenhängenden Objekten hervor, so erscheint die Welt nicht als fertig, sondern als Auf40
gäbe, die vom Ich zu leisten ist. Die poetische Erkenntnis realisiert sich mithin nicht als Beschreibung dessen, was ist, sondern als kreativer Akt der Veränderung, als Eingriff in die natürliche Ordnung der Dinge, als Gestaltung der Natur durch Kultur. Nicht passive Meditation, sondern eine erfinderisch-produktive Haltung sichert dem Subjekt Erkenntnis. In der Poesie wird die Realität neu entworfen und damit verändert. Unter lyrisch-expressivem Aspekt verschiebt die Metapher die Aufmerksamkeit von der Unmittelbarkeit der Gefühle auf ihre sprachliche Vergegenständlichung. Ihre Aufgabe ist es nicht, die natürliche Unmittelbarkeit psychischer Vorgänge zu benennen oder nachzuahmen, sondern die Ordnung der gegenständlichen Welt so zu verändern, daß sie zur Repräsentantin einer bestimmten Gefühlssituation wird. Indem die Metapher in die Objektwelt eingreift, befähigt sie diese, bestimmte emotionale Inhalte und Zustände des Subjekts zu evozieren. „Die Verschiebung . . . der schöpferischen Anstrengung vom Subjekt auf den Gegenstand ist die grundlegende Revolution des modernen Empfindens", stellte Przybos 1931 fest. 39 Mit dieser Metaphorik soll statt der sentimentalen Ichbezogenheit der Stimmungspoesie ein disziplinierter, mittelbarer, gegenständlicher Ausdruck des lyrischen Subjekts erreicht werden, der sich im polnischen Symbolismus zwar als Möglichkeit angedeutet, aber noch kaum verwirklicht hat. Die antimimetische Metapherntheorie und, allgemeiner gesprochen, das Beharren auf einer besonderen poetischen Sprachlichkeit führten dazu, daß die dialektische Spannung zwischen Umgangssprache und poetischer Sprache, zwischen den an überkommenen Mustern ausgebildeten Lesegewohnheiten des Publikums und dem individuellen poetischen Ausdruck überanstrengt wurde - zu Lasten der Kommunikativität dieses oder jenes Gedichts. Daraus folgten zwangsläufig Schwierigkeiten bei der Aufnahme, insbesondere durch ein breites Publikum, das die Avantgarde doch gerade erreichen wollte, weil sie die umfassende Demokratisierung der Kunst zu einem der Ausgangspunkte ihrer Überlegungen gemacht hatte. Vor der Krakauer Avantgarde stand also die Alternative: weniger entschieden die sprachkünstlerischen Neuerungen zu betreiben oder auf eine breite Leserschaft zu verzichten, die - ob bürgerlicher oder proletarischer Provenienz - vor allem mit der romantischen Konvention vertraut war. Der erste Weg war nicht gangbar, weil er bedeutet hätte, das grundlegende Verständnis der Avantgardisten von der Lyrik als Ausdruck bisher unbekannter Empfindungen zu verleugnen. 41
Die Tatsache, daß Poesie nicht nur durch die Aussage des Inhalts, sondern unauffälliger und womöglich nachhaltiger noch durch die Aussagekraft der Form zu wirken vermag, lege, so meinte Peiper, dem Dichter die Pflicht zur höchsten formalen Sorgfalt auf. „Ein Künstler, der auf die Formen seiner Werke nicht achtet, verdirbt die Sitten." 40 Deswegen müsse einem Autor, der die poetischen Mittel auf der Höhe seiner Zeit halten will, die Möglichkeit eingeräumt werden, auch schwierig und unverständlich zu sein, also nicht für alle, sondern nur „für zwölf" zu schreiben. Andrerseits hatte Peiper wiederholt bekräftigt, daß das sozialistische Programm zur schöpferischen Umgestaltung der Gesellschaft der kreativen Leidenschaft des Künstlers entgegenkomme und das Proletariat somit der geschichtliche Partner des Künstlers sei. Es tat sich also ein Konflikt auf zwischen dem Postulat der Autonomie und dem sozialen Engagement der Poesie. Zugespitzt und konkretisiert hat sich dieser Konflikt in der Debatte um das Verhältnis von Literatur und Proletariat 1928/29. Darin unternahm Peiper den Versuch, der Avantgarde über den Tag hinaus einen Platz an der Seite der linken Kräfte zu sichern, ohne sich proletkultistischen Auffassungen anzuschließen. Er argumentierte so: Die Literatur diene der Gesellschaft und aus sozialistischer Überzeugung heraus geschriebene Lyrik diene dem Proletariat nicht nur durch Verbreitung jedermann verständlicher Losungen und Themen, sondern auch anders nämlich durch die unauffällig prägende Kraft neuer Formen. An die Stelle inhaltlich-thematischer Agitation trat eine langfristige Wirkungsstrategie, die auf die „Didaktik der Form" setzte. „Die Nützlichkeit eines Kunstwerkes ist mit weitergreifenden Fragen zu prüfen, als es der Gestus des Aushändigens ist . . ." 41 Gute sozialistische Literatur kopiere nicht die Politik, sondern stütze sie mit Einsichten, die sie aus eigenständiger Beobachtung gewinnt. Diese Eigenständigkeit mache den Schriftsteller der Arbeiterbewegung unentbehrlich. Das Thema allein könne nicht entscheiden, sondern wie die Dichter damit umzugehen verstehen, denn auch in der Bauweise drücke sich eine Haltung aus. Zwar sei es der natürliche Wunsch jedes Dichters, der sich mit dem Proletariat solidarisiert, so zu schreiben, daß er heute schon vom Proletariat verstanden werde, es müsse aber auch Raum geben für die Erprobung neuer künstlerischer Mittel in der Auseinandersetzung mit neuen Lebensformen. Die mit ihrer Hilfe hervorgebrachte neuartige, schwierige Schönheit vertraue auf das künftige, gewachsene Rezeptionsvermögen des Proletariats in 42
einer sozialistischen Gesellschaft, auch wenn sie gegenwärtig nur „für zwölf" geschrieben sei. Dabei war Peiper bemüht, allen Schriftstellern und Schreibweisen, die sich mit dem Kampf des Proletariats solidarisierten, gerecht zu werden. So verteidigte er 1933 die proletarische Poesie (Broniewski, Wandurski, Stande) gegen den Vorwurf des linksradikalen Avantgardisten Czuchnowski, sie leiste „miese soziale Agitation" und sei gänzlich „auf unmittelbare Verständlichkeit" ausgerichtet, was für ihn (Czuchnowski) ein Zeichen „völliger literarischer Vertrottelung" sei. Dem hielt Peiper entgegen, daß die Effektivität einer Lyrik mit agitatorischem Anliegen an ihrer Wirkung in den Arbeiterversammlungen zu messen sei. Die proletarische Poesie habe dort ihre Bewährungsprobe gut bestanden. Sie erfülle also neben der Lyrik, die durch neue Formen das Leserbewußtsein zu sozialisieren trachtet, ihre besonderen Aufgaben im Rahmen einer gemeinsamen Zielsetzung. 42 Peipers Losung, „für zwölf" zu schreiben, war von dem Bestreben getragen, daß daraus eines Tages „zwölf Millionen" werden mögen. Nicht elitäre Absonderung bedeutete diese Losung; sie war ein dramatischer Versuch, mit der eigenen sozialistischen Ideologie, dem künstlerischen Selbstverständnis und der ausbleibenden, wiewohl gewünschten Leserresonanz theoretisch fertig zu werden. Sie wollte den Anfang eines Weges beschreiben, nicht den gesamten Weg. Mit der Formel von den „zwölf", aus denen „zwölf Millionen" werden, erhob höchster künstlerischer Ehrgeiz den Anspruch auf größte gesellschaftliche Brauchbarkeit - auch wenn dieser nicht sofort einzulösen war. Die avantgardistische Dichtung müsse, in größerer Perspektive betrachtet, eben als „Ernährerin der Ernährer" fungieren. Es gibt Werke, so resümierte Peiper, die nicht für das Proletariat und doch die des Proletariats sind. 43 Der Konflikt war nicht entschieden, aber die Argumentation, daß nicht Thema und politische Losung allein über Wert und Wirkung engagierter Literatur entscheiden, sondern daß sich das Engagement auch in der Werkstruktur niederschlagen müsse, hat sich - langfristig betrachtet - durchgesetzt. Die verschiedenen programmatischen Entwürfe der Avantgarde haben sich der seit 1905 umrissenen Problematik in einer Weise gestellt, die wesentliche Chancen und Konflikte deutlich machte. Dabei leisteten die Futuristen - in der relativ kurzen Phase ihrer konzeptionellen Geschlossenheit 1920-1922 - so etwas wie Flurbereinigung, woran dann die Krakauer Avantgarde mit ihren konstruktiven Ideen anknüpfen konnte. Diese hat sich der Ästhetik des Jungen Polen 43
widersetzt, d. h. der einseitigen Bindung der Literatur an die nationale Aufgabe ebenso wie dem l'art-pour-l'art-Standpunkt. Das Postulat der Autonomie, das sie einführte, sollte die Literatur nicht von der Gesellschaft entfernen, sondern ihre vielfältigen, originär künstlerischen Potenzen gesellschaftlich wirksam werden lassen. Trotz mancher Überspitzungen und Verzeichnungen trugen die Programme doch erheblich zur Modernisierung des theoretischen Bewußtseins der Literatur bei. Ging die poetische Praxis auch eigene Wege, sie bestätigte noch durch die Korrektur des Programms die Bedeutung der weit ausgreifenden Entwürfe zur Veränderung von Poesie und Leben.
Das neue lyrische Subjekt als Problem der poetischen Praxis Zugespitzt formuliert, läßt sich von den zwanziger Jahren sagen, daß der erneuernde Schwung und das theoretische Gewicht der avantgardistischen Programme zwar einige Beachtung fanden, von einem breiten Publikum gelesen wurde indessen die Lyrik der Skamandriten. Sie erreichten große Popularität, weil sie die herkömmlichen und verbreiteten Vorstellungen, daß Poesie Sache der unmittelbaren Empfindung, des Sentiments und des „Herzens" sei, im Grunde nicht antasteten, sondern mit neuen Wirklichkeitselementen und einem Schuß sinnlicher Daseinsfreude auffrischten. Damit entsprachen ihre Gedichte der optimistischen Grundstimmung, die nach dem Krieg in den ersten Jahren der Unabhängigkeit die polnische Gesellschaft beherrschte. Czyhanie na Boga (Lauern auf Gott) heißt bezeichnenderweise der 1918 erschienene Erstlingsband von Julian Tuwim. Diese Lyrik war also nach wie vor auf mystische Offenbarung aus, nur hatte diese nicht mehr Vergeistigung zur Voraussetzung, sondern die biologische Urwüchsigkeit des Primitiven: „POESIE - meine Herren, DAS IST EIN SPRUNG / EIN SPRUNG DES BARBAREN ALS ER GOTT VERSPÜRTE!" 44 Der Demokratismus von Tuwim, Slonimski oder Wierzynski, der die ästhetische Gleichberechtigung aller Lebensbereiche einschloß, sowie ihre übermütige Lebensfreude vertrugen sich schlecht mit der feiertäglich-kultischen Erhöhung bisheriger Poesie über den gewöhnlichen Alltag. Darum zielte Wierzynskis spöttische Attacke auf das Priestergebaren der modernistischen Dichter: 44
Laßt doch die Skribifaxe verrecken! Längst lacht das Volk darüber sich krumm, Tanzt nach Belieben mit Gänsen und Gecken Auf der Nase den Klassikern rum I 45 Die allgemeine Hinwendung zur Gegenwart und der Wunsch, ihr mit einer neuen Poesie zu entsprechen, kristallisierten sich praktisch im Problem des lyrischen Subjekts. In seiner sprachlichen Ausgestaltung kamen Poetik und Weltanschauung zusammen, entschieden sich das Verhältnis des Autors zum virtuellen Empfänger und die gegenständlichen Beziehungen zur Welt. Was letzteres anbelangt, so zeichnete sich eine für die Avantgarde gültige Gruppe bevorzugter Themen ab, die im einzelnen verschieden behandelt wurden: die Stadt als zivilisatorisches und soziales Phänomen, der Mensch im Arbeitsprozeß, der einzelne und das Kollektiv bzw. die Masse, Verhältnis von Zivilisation und Natur, soziale Konflikte der Gesellschaft.
Ansichten über die Stadt Hatte man um die Jahrhundertwende in der Lyrik das dörfliche Dasein mythisiert, die Stadt hingegen kaum wahrgenommen, so wandte man sich nun vorzugsweise dem Stadtleben zu. Von den Skamandriten wählte insbesondere Tuwim den Mann von der Straße, triviale, kleinbürgerlich-plebejische Figuren als lyrische Helden, verfolgte ihr Geschick mit sentimentaler Anteilnahme und trachtete danach, sich ihnen anzuverwandeln. Solcherart wurde das jungpolnische Subjekt vom Parnaß herabgeholt und konsequent verbürgerlicht. Die Gestaltung des städtischen Alltags führte die Umgangssprache ins Gedicht ein, womit die Skamandriten beträchtlich zur Erneuerung des poetischen Wortschatzes beigetragen haben. Für Tuwim ist die Stadt einmal „poetische Geometrie", Anlaß, ihre schöne Ordnung und Bewegtheit zu genießen. Als soziales Gebilde erscheint sie ihm als Sammelbecken einer Masse gefährlicher und ausgestoßener Randexistenzen der bürgerlichen Gesellschaft. Das Lumpenproletariat, das Getümmel „der wunderbaren Verbrecher", bekommt einen exotischen Wert und hält den Dichter in einer Art Haßliebe in seinem Bann. „Der Menschenhaufen ist heut zu loben / Zu loben ist der Auflauf / Und die Stadt." Andrerseits fürchtet er die Gewalt der sozial undifferenziert gesehenen, unberechenbaren Masse,
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deren bloßes Dasein alle Bewertung außer Kraft setzt: „Masse, sei wild! / Masse! Du hast recht! ! !"46 Aufs Ganze gesehen, versuchten die Skamandriten sich in der bürgerlichen Wirklichkeit des eigenen Staates einzurichten und diese mit vertrauten Mitteln in der Poesie heimisch zu machen. 1922 entwirft Bruno Jasienski im Lied über den Hunger gleichfalls eine Vision der Stadt - aber wie anders ist sie aufgebaut. Da ist keine Spur von der jubelnden Bewunderung Tuwims, und es fehlt auch der technisch-kreative Rausch, mit dem Przybos sein Subjekt ausstattet. Eine düstere, gespenstische Stimmung prägt das Bild: auf dem gehsteig schlurrten mit flackernden äugen seltsame fahle gestalten, und alles war seltsam trüb, wie im fieber. Nicht eine Menschenmasse schlechthin, sondern hungernde Menschen bevölkern diese Stadt. Der Nachdruck, den Jasienski bei der Schilderung auf die materiellen, körperlichen Bedürfnisse dieser Menschen legt, bringt ihn einerseits in Gegensatz zur Vergeistigung des Expressionismus, qualifiziert aber auch die Masse sozial stärker, als das z. B. bei Tuwim geschieht, bei dem sie eine lumpenproletarische Menge von Krüppeln, Huren und Ganoven ist. Für Jasienski ist die Stadt nicht Glanzstück des zivilisatorischen Fortschritts, der Futurist erkennt nur die Ansammlung nackten menschlichen Elends. Und ein zweites ist die Stadt noch: Poesie. Mit der Zeitungschronik der laufenden Ereignisse bringt sie „lange vierzigspaltige poeme" hervor, die dem Futuristen als wahre „vierundzwanzigstündige Poesie" gelten. Nicht Weltanschauung und Überzeugung, brutale Not treibt die Menschen mit unbändiger Gewalt zum Aufruhr. eines morgens wälzten sich ströme hungernder menschen aus dem stickigen bett der gassen heraus auf die plätze, und ein schrei riß die Stadt aus dem schlaf: das pack! betrügt uns durch macht, die es nicht abtreten will! wir scheißen auf ihre macht, wir scheißen auf recht wir brauchen brot, wir hungern! wir leiden not!47 46
Diesen Hungernden aller Rassen und Erdteile ist der Dichter Bruder und Anführer zugleich. Dabei scheut er sich nicht, auf das Beispiel des romantischen Helden Gustav (aus Mickiewicz' Totenfeier) zu verweisen. So wie dort der heidnische „Guslar" die Geister rief, denen einst Ungerechtigkeit geschah, will er die Hungerarmeen rufen und in ein exotisch fernes Paradies führen, „wo überseeische raubtiere prassen!". An anderer Stelle aber erklärt das lyrische Ich alle Dichter für überflüssig, leugnet die Gültigkeit jeglichen Erbes. Berufung auf Tradition und Verwerfung der Tradition stehen unvermittelt nebeneinander. So überwiegt die herausfordernde Inkonsequenz des Futuristen, der Anstoß erregen will durch seinen Umgang mit den „sakralen" Werten der Tradition. Um die Welt künftigen Glücks zu erreichen oder zu errichten, muß geschehen, wofür die Zeit reif ist: Die gegenwärtige Welt muß „die roten weihen empfangen". Die revolutionären Erschütterungen der bürgerlichen Ordnung und das Empfinden der Zeitenwende als Reflex der nationalen Selbständigkeit bringen eine Mischung von Endzeiterwartung und Zukunftsgläubigkeit hervor. Bedingt durch den anarchischen Grundzug des futuristischen Konzepts wird die Revolution als dramatischer Akt der Zerstörung und als großes Freudenfest gefaßt. Die Zerstörung ist radikal, sie gilt sämtlichen Werten der alten Welt und beherrscht mit bewußt übersteigerter Brutalität das Bild: Der Sonne wird die Gurgel aufgeschnitten, die Welt selber wird als dürres, blasses Männlein an die Wand gestellt, und Gott, der dem Menschen die gestohlenen Paradiese vorenthält, wird entmachtet. Sein Werk wird von „neuen heiligen" vollendet: „brave schlichte ruhige leute / erlösten längst im tanz diese weit".48 In provokanter Wendung gegen die Tradition des messianischen Gedankens in Polen wird in Jasienskis Gedicht die Welt nicht durch Leid, sondern durch Tanz erlöst. Jasienski schreibt das Lied über den Hunger noch nicht von sozialistischer Position, sondern als Dichter, der dem Pulsschlag der Gegenwart lauscht; so entdeckt er die Stadt als den Ballungsraum des elementaren Konflikts zwischen den Hungernden und den Schlemmern. Damit ist eine wichtige, in den futuristischen Auffassungen angelegte Alternative angezeigt und zugleich eine Entscheidung vorbereitet, die den Dichter 1926 mit dem Jakub-Szela-Lied an die Seite der kommunistischen Bewegung bringen wird. Peiper ist als Theoretiker zweifellos bedeutender denn als Lyriker. Dennoch darf seine poetische Leistung Eigenständigkeit beanspruchen, 47
sie ist auch von Interesse als Beleg für ein konfliktreiches Verhältnis zwischen poetischer Theorie und Praxis. Hatte Peiper in seinem Programm empfohlen, die Gegenwart nicht thematisch abzubilden, sondern ihre hervorstechenden Prinzipien zur Grundlage der poetischen Konstruktion zu machen, so zeigten die Gedichte seiner Sammlungen A und Zywe linie (Lebendige Linien) von 1924 doch zunächst eine Expansion des Themas Stadt und Industrielandschaft. Aber nicht Elend und Aufruhr rücken ins Bild, sondern sinnliches Behagen an der gleißenden, modernen Stadt. Der Nachkriegsaufruf wendet sich an seine Landsleute, das nun freie Vaterland durch friedliche produktive Anstrengung stark und modern zu machen; bloßer Freiheitsenthusiasmus, den er an anderer Stelle den Skamandriten bestätigte, reiche dazu nicht aus. Eine moderne Zivilisation müsse errichtet werden, dabei zähle nicht das nationale Pathos, das sich an vergangener Macht und historischer Größe Polens berausche. Unwichtig sei es, daß Polens Grenzen sich einst „von Meer zu Meer" erstrecken, denn heute werde es Wirklichkeit nur „von Hand zu Hand". Seinen rhetorischen Neigungen folgend, wendet sich Peiper zumeist mit einem Appell an die arbeitende Gemeinschaft, aber das lyrische Subjekt identifiziert sich zugleich mit dem heroisch gezeichneten Kollektiv, mit dem „wir", das die Natur und das eigene Leben umgestaltet: Gehn wir, eine Front von eisernen Stirnen, voran! Unser Schritt beflügelt den Schritt aller andern, jede rührige Hand treibt die anderen Hände an. Mit reißt uns der Strom des Öls, das quillt aus des Tages Adern. Meißeln wir in die Quadern der alten Kirchen unseren neuen Tanz ! 49 Die Veränderung der Welt ist das Ergebnis kollektiver Arbeit. Dabei überwiegt Freude. Bezeichnete der Tanz bei Jasienski den Ausbruch eines elementaren Konflikts, der zur Destruktion der alten Welt führt, so steht dieses Motiv bei Peiper für die freudige Konstruktion einer neuen Welt. Nichts kann die Zuversicht trüben, daß dem kollektiven Heros gelingt, was er sich vornimmt, denn ein unbeugsamer Wille und kosmische Kraft stehen ihm zu Gebote: „Die Sonne fleht, vor den Pflug sie zu spannen." 48
Diese Wendung zeigt übrigens, wie sehr Peiper ein Dichter der Begriffe ist. Er verzichtet auf die Qualität des Bildhaften, auf die assoziative Potenz des Klanges und baut vor allem auf die logische Schlüssigkeit seiner Metaphern; sie müssen rational situationsgemäß begriffen werden, bevor sie sich dem Leser erschließen. Diese Neigung zur arbiträren Sprachverwendung führt gelegentlich zu intellektuellen Rätselspielen. Dichten ist ein Akt souveräner Willensentfaltung, der alle sinnlich wahrnehmbare Wirklichkeit in eine Qualität anderer Ordnung, in Kunst, verwandelt. Folgerichtig erfüllt sich auch die Liebesbeziehung erst dank der künstlerischen Umformung in „schöne Sätze". Die Art der Metaphorik, in der sich die erotische Erfahrung „pseudonymisch" ausdrückt, macht deutlich, daß die Frau als Gegenstand erotischen Hingerissenseins der schöpferischen und willkürlichen Verfügung des Dichter-Partners ausgeliefert bleibt: Nackte, in den Wolken aus Linnen, hineingezeichnet in die Stille, In der Wiege aus Nacht, aus Nacht von der Form eines Mundes, Getragen vom Echo meiner Worte, der Werke des schwarzen Wunders, Nackte, getragen vom Echo, wenn du zu glänzen beginnst, Ein goldenes Becken voll Perlenstaub, Du, Blatt Papier, das ich erfüllen Oder wegwerfen werde als Zunder, auf den Scheit, Nackte, gepreßt in die Stille, schweige nur und dampfe. 50 Dieses Gedicht illustriert zugleich Peipers Erfindung, die „aufblühende Komposition", die darin bestand, ein Element des eingangs gegebenen Satzes wiederholend aufzugreifen und um weitere Bestimmungen zu ergänzen, woraus sich dann eine Kette von Periphrasen ergab. Die strikte Ausführung des Musters in mehreren Gedichten führte bald zu detaillierter epischer Ausmalung, schließlich zu überflüssigen Wiederholungen und Redundanz. Dadurch, daß Peiper eine sozial wie beruflich nicht unterschiedene Produktivität zum Maßstab aller Beziehungen macht, neigt er dazu, das Verhältnis von Individuum und Kollektiv als eine von vornherein gegebene Harmonie herauszustellen, während die Schärfe der gesellschaftlichen Konflikte in seinen Gedichten verblaßt oder auf den Kampf des arbeitenden Menschen mit dem Widerstand des Materials reduziert wird. Sein lyrischer Massenheld steht in einem poetischen Mythos riesenhafter physischer und geistiger Kraftentfaltung, in einem 4
Olschowaky, Lyrik
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universalen Wunschbild, das den Dichter und die Arbeiter vereint. Die Aufgaben, die dem „wir" bevorstehen, werden bezeichnenderweise in den Kategorien dichterischer Tätigkeit gefaßt: „Leer sind die Blätter der Welt, harrend der neuen Federn, die sie beschreiben." 51 Welt beschreiben und Welt gestalten wird gleichgesetzt, wie es dem optimistischen Glauben an die konstruktive Macht der Poesie entsprach. Darin findet die heroische und illusionäre Hoffnung Ausdruck, daß es gelingen könnte, allein mit künstlerischen Mitteln die Welt zu revolutionieren. Der poetische Mythos vom zivilisatorischen Paradies auf Erden wird hymnisch vorgetragen und bekommt, sonstigem Bemühen des Verfassers um Desakralisierung zum Trotz, einen eigentümlich sakralen Zug. Er entwirft eine Utopie, allerdings eine, die orientiert ist an den wirklichen Notwendigkeiten der polnischen Gesellschaft. Überdies kehrt dieser Mythos die tief verwurzelten und seit dem Modernismus verbreiteten Vorstellungen von einem gefühlsbetonten, passiven, ich-bezogenen lyrischen Subjekt um und macht die Aktivität, die zweckmäßige und verantwortliche Arbeit zur Grundlage poetischer Reflexion überhaupt. Peipers Paradies wird nicht im Hader mit Gott erstritten, nicht durch heroisches Leiden erkauft und nicht aus bloßer Verneinung der Gegenwart im Herzen erträumt es ist konsequent diesseitig, und es erscheint herstellbar. Die radikale Verbesserung der Welt ist keine metaphysische Verheißung, im Gedicht Oberschlesien ist sie der Anstrengung schlesischer Bergleute zu danken: „Wir werden Kohle ins Gold übersetzen, / und das Gold ins Märchen." 52 Peiper neigte zum strikten Festhalten an eigenen Programmsätzen, dies ging aber nicht so weit, daß er die sozialen und politischen Veränderungen, die in der Gesellschaft vorgingen, nicht berücksichtigt hätte. Die optimistische Aufbruchstimmung der zwanziger Jahre, von der u. a. auch seine Poesie getragen war, schlug spürbar um, als Piisudskis Staatsstreich 1926 das antidemokratische „Sanacja"-Regime ans Ruder brachte und die Wirtschaftskrise die sozialen Spannungen verschärfte. Einen spektakulären Höhepunkt politischer Willkür stellte die Verhaftung oppositioneller Parlamentarier im Wahlkampf von 1930 dar, sie wurden in der Festung Brzesc festgehalten, mißhandelt und gefoltert. Der breiten Welle des Protestes und der Solidarität mit den Gefangenen, die diese Affäre auslöste, schloß sich Peiper mit dem 1931 erschienenen „aktuellen Poem" Na przyklad, (Zum Beispiel) an. Die politische Absicht des Dichters, unmit50
telbar etwas auszurichten gegen Abbau demokratischer Rechte, machte die Adressatenbeziehung akut, wobei Peiper insbesondere auf die Arbeiterschaft abzielte. Dies bewog ihn zur Korrektur seiner Poetik: Hatte er bisher das Erzählen in der Lyrik stets bekämpft, so versuchte er nun epische Elemente (fiktive Fabel) mit einer faktographischen Montage (Zeitungsnachrichten) zu verschmelzen, um die Stimmung und die Bewußtseinslage von Arbeitern während einer MaiDemonstration zu gestalten. Das aus sozialistischer Überzeugung angestrebte politische Engagement stellte die bisherige poetische Doktrin in Frage. Der ästhetische Wert der gefundenen Lösung konnte nicht überzeugen, dennoch verdient dieser Vorgang Beachtung als ein Beispiel, wie der Abbau illusionärer Hoffnungen über den gesellschaftlichen Gang der Dinge Hand in Hand ging mit einer Korrektur avantgardistischer Konzepte und Verfahren. Peiper, dessen poetologische Position bisher zwischen dem surrealistischen Prinzip des Bewußtseinsstroms und der futuristischen Losung der „Worte in Freiheit" angesiedelt war, griff auf die sogenannte Literatur des Fakts vor. Er eröffnete einen Weg, den er selber nicht gehen konnte, dessen Möglichkeiten sich später aber, u. a. bei Rözewicz, als fruchtbar erwiesen. Erschienen Peipers Gedichte in manchem als angestrengte Illustration seiner Ansichten, so setzte die Lyrik von Julian Przybos (1901 bis 1970) das avantgardistische Programm auf künstlerisch überzeugende Weise um, gerade indem sie nicht sklavisch daran festhielt. In seinen theoretischen Erörterungen gelangte Przybos - vor allem als maßgeblicher Mitarbeiter der Zeitschrift Lima (1931-1933) - zu einer kritischen Einstellung gegenüber Peipers puristischer Doktrin. Gegen die begrifflichen Konstruktionen, die zwar den Intellekt, aber nicht die Vorstellungskraft ansprechen, verteidigte Przybos die Bildhaftigkeit der Metapher und die Möglichkeiten der lautlich-musikalischen Assoziation. Die fundamentalen Gemeinsamkeiten der Avantgarde indessen erhielten in seiner poetischen Umsetzung große Ausstrahlung. In den dreißiger Jahren galt Przybos als d e r avantgardistische Dichter. Die ersten Gedichtsammlungen Sruby (Schrauben, 1925) und Oburqcz (Beidhändig, 1926) zeigen einen gemeinsamen Grundzug der zwanziger Jahre: wie gefesselt der Dichter von der Szenerie der modernen Stadt ist. Diese Faszination entsprach durchaus dem Urbanismus der Avantgarde und war überdies durch die bäuerliche Herkunft von Przybos, der aus einem südostpolnischen Dorf in der 4»
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Gegend von Rzeszöw stammte, zusätzlich biographisch begründet. So steht am Anfang der Lobpreis der Wolkenkratzer, der „dröhnenden Bohrtürme", der Schwungräder und des Kranarms, mit deren Hilfe die „luftigen Riesenstädte" entstehen.53 All die Zeichen neuzeitlicher Technik und industrieller Expansion waren einem poetischen Reservoir, nicht der gängigen Wirklichkeit Polens entnommen. Auch Przybos teilt den Grundsatz avantgardistischer Weltanschauung, daß menschlicher Fortschritt die fortwährende Unterwerfung der Natur durch die Kultur verlange, wobei er Kultur vor allem in technisch-instrumentalen Kategorien faßt. Danach vollziehe sich in der rationalen Produktion die Befreiung des Menschen von den ahumanen Zwängen der ungeordnet chaotischen Natur. Beherrschen lassen sich die Gegenstände nicht, indem man sich von ihnen abwendet oder sie verehrt, sondern indem man sie hervorbringt. In den materiellen Produkten betätigt und bestätigt der Mensch - nach Auffassung von Przybos - seine schöpferische Macht, folglich mußte die poetische Ansicht der Urbanen Welt diese als hervorgebracht kennzeichnen. Beispiel dafür ist das Gedicht Bauten: Poet Ausrufungszeichen der Straße! Halbangehaltene Massen, aus denen der Baumeister die Bewegung entführt hat: erstarrte Etagen. Dächer unterbrochen im Gefälle. Genau gefolgerte Mauern. Mit menschlicher Mühe beladene Berge: Bauten. Man denke: jeder Ziegel ruht auf gezückter Hand. 54 Alles Angeschaute wird vorgestellt, als befände es sich im Vorgang der Produktion, der für einen Augenblick unterbrochen wurde. Die Reihung von Periphrasen definiert Dächer, Etagen, Gebäude nicht als etwas endgültig Gegebenes, sondern als gegensätzliche Energiepotentiale, die durch den Eingriff des lyrischen Subjekts, das Arbeiter, Ingenieur und Dichter in einem ist, in einem empfindlichen Gleichgewicht gehalten werden, das in jedem Augenblick zusammenbrechen kann. Es ist für Przybos durchaus charakteristisch, daß der Schlüssel52
Vorgang der poetischen Produktion das Gedicht einleitet; im Original mobilisiert das Wort „Ausrufungszeichen" durch die Analogie einer Wortbildungsregel auch noch die Bedeutung: Rufer, Ausrufer. Der Dichter ruft also die Straße aus. Er beschreibt sie nicht einfach, sondern rekonstruiert in der Sprache die nicht abgeschlossene Mühe des Erbauens: „ . . . jeder Ziegel ruht auf gezückter Hand". Schreiben heißt: Neues hervorbringen, kreativ sein, noch nie Dagewesenes produzieren. Gegenstand und poetisches Verfahren erreichen so Dekkungsgleichheit. Das kreative Subjekt verlängert sich in die Gegenstände hinein, die es poetisch hervorbringt, aber Przybos vermeidet die anthropomorphe Verlebendigung unbelebter Objekte. Sein Wunsch nach weitgehendem Einssein mit der sirnlich wahrnehmbaren Fülle der Erscheinungen wird gezügelt durch die Tendenz, erkennend die Welt bewußt nach eigenem Maß zu reorganisieren, d. h. auch neue, poetisch-subjektiv motivierte Kausalbeziehungen herzustellen. Das Verhältnis des Dichters zur modernen Gegenwart, die nicht als etwas Fertiges, sondern als Aufgabe begriffen wird, hört auf, nur thematisch zu sein, und schlägt sich auch in der poetischen Sprache nieder; es soll eine Sprache immerwährender Erneuerung sein, die keine Wiederholungen von schon Gesagtem kennt. In Die neue Rose heißt es: Klopf zweimal auf den Tisch, und einmal dahinter um alle jemals gebrauchten Worte zu vergessen, damit die unbekannte Sprache beginnt, deren erstes Wort stets das letzte i s t . . ,55 Zusammengerafft sind hier die Probleme der Publikumsbeziehung und des Zeit- bzw. Traditionsverständnisses von Przybos' Lyrik enthalten. Denn es drängt sich die Frage auf, wie kommuniziert werden soll in einer Sprache purer subjektiver Erfindung, deren erstes Wort immer bereits das letzte wäre? Und was fängt ein solcher zeitloser Präsentismus mit der kulturellen Vergangenheit an als der Voraussetzung künstlerischer Produktion von heute? Für diese Fragen wird Przybos ständig nach praktischen Lösungen suchen. Eine davon war die dialogische Anlage seiner Metapher in bezug auf den Empfänger (wie sie Peiper fremd war). Das heißt, die metaphorische Konstruktion mutet dem Leser nicht nur subjektive Bedeutungsverschiebung zu, sie mobilisiert zugleich sprachliche Muster ihrer Interpretation, die allen Mitgliedern einer Sprachgemeinschaft geläufig sind, wie 53
feste syntaktische Verbindungen, Analogien der Wortbildung, lautliche Verwandtschaft. Auf diese Weise widerspricht die Metapher von Przybos den Erwartungen der Empfänger und liefert ihnen zugleich die im System der Sprache enthaltenen Anhaltspunkte zu ihrer intersubjektiven Verifizierung.
Die Natur als Werkstatt Die Natur als poetischer Gegenstand erfuhr durch die Avantgardisten innerhalb der Opposition Natur-Kultur eine gründliche Umwertung und war das bevorzugte Feld heftiger Auseinandersetzung mit der romantischen bzw. neuromantischen Naturauffassung. 1926 schrieb Przybos in seinen Thesen Czlow'tek nad przyrodq (Der Mensch über der Natur): „Die Zivilisation gestaltet den formlosen Körper der Natur zäh und zielstrebig um . . . Die Flucht in den Schoß der Wiese ist Verrat an der Ordnung des Straßenpiasters. Den Naturkult, wie ihn Kulturmarodeure noch pflegen, hat die Romantik eingeführt, jene Strömung, die eine Schule der Schwachheit war. Die Abkehr von der Romantik und von ihren ideellen Verlängerungen, der Bruch mit jeglicher Kontemplation des Unendlichen gründete das Verhältnis des Menschen zur Natur auf das Prinzip der schöpferischen Mächtigkeit . . . Die neue Poesie, die sich die Mittel der modernen Arbeit aneignet, schafft neue Formen einer Ästhetik der Produktion und der Anstrengung. Es verändert sich die bourgeoise, ausschließlich konsumtive Auffassung von der Schönheit der Natur." 56 Das „Prinzip der schöpferischen Mächtigkeit" verwirklicht sich in den Gedichten in einem eigentümlichen Ringen des lyrischen Subjekts mit der Landschaft, denn auch sie wird, wie zuvor Häuser und Maschinen, als vom Menschen gemacht gesehen. Nicht nur die mittelbare sprachbildnerische Initiative des Dichters unterwirft die Landschaft bemerkenswerten Veränderungen; oben und unten wird vertauscht, neue Kausalbeziehungen werden hergestellt, unter kubistischem Einfluß setzt sich eine Geometrisierung durch: „Mit der Sonne auf erhobener Hand / ging das Feld . . . unter." Darüber hinaus greift das lyrische Ich unmittelbar ein: „Dort - betteten meine Augen den Tälern Gründe in Granit, / dort - sprach mein Mund die Almen aus."57 An die Stelle kreatürlicher Naturanbetung rückt Przybos die kreatorische Naturbearbeitung. In Bildern gigantischer Anstrengung zeichnet er die Siege über die Natur, die im übrigen von vornherein feststehen: 54
Ich bin's, der mit ausgestreckter Hand die Ferne herbeilockt. Und den Himmelssaum fassend reiß ich die nächste Landschaft hinab. 58 Hier ist kein Zerstörer, hier ist ein schöpferischer Demiurg am Werk, der über die Natur verfügt. Von der dialektischen Bestimmung des Naturverhältnisses, wie es Marx vorgenommen hat und wonach die Natur dem Menschen „als sein Werk und seine Wirklichkeit" erscheint, zugleich aber auch dessen „anorganischer Leib" 5 9 ist - von dieser Bestimmung schenkte Przybos nur dem ersten Aspekt Beachtung. Natur gilt ihm als Werkstatt des Menschen. Welche literarhistorische Funktion kam dieser Auffassung in den zwanziger und dreißiger Jahren zu? Die Präzisierung des eigenen kreatorischen Standpunkts gehörte in die allgemeine Auseinandersetzung mit der Romantik, die in diesem Falle unter dem Aspekt einer kreatürlichen Naturseligkeit pauschal subsumiert wurde. Eine genauere Betrachtung der einschlägigen Beispiele von Mickiewicz und Slowacki, die an anderer Stelle vorgenommen wurde, zeigt jedoch, daß Przybos' Kritik in eigentümlicher Weise an seinem Gegenstand vorbeiging, weil bei den großen Romantikern für sein Verfahren mehr Einklang als Widerspruch zu finden war. 60 Die summarische Kritik an der Romantik bezog sich jedoch insbesondere auf die einseitige Interpretation romantischer Muster durch die modernistische Formation des Jungen Polen. Im modernistischen Naturgedicht ist die ebenbürtige Partnerschaft von Mensch und Natur, wie sie von der romantischen Lyrik in Polen entwickelt wurde, nicht mehr zu finden. Die pessimistische Entzauberung der Gesellschaft als Welt der Philister, die ihre Bitterkeit aus der Enttäuschung über den Zusammenbruch der positivistischen Ideale der siebziger und achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts bezog, ging Hand in Hand mit einer neuartigen Verzauberung der Natur, z. B. bei Kazimierz Tetmajer: Leise, leise, wir wolln das Wasser im Schlaf nicht wecken, Tanzen wir leicht mit dem Wind zwischen den Wolkenhecken, Schweben wir um den Mond als durchsichtige Hülle, Damit er unsern Schleier mit buntem Glanz erfülle . . . 6 1
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Je trister und beengender die Gesellschaft empfunden wurde, um so metaphysisch offener wurde die Natur konzipiert. Zufluchtsort des sezessionistischen Individuums, wird sie so radikal zur Gegenwelt aufgebaut, daß auch die Menschen aus ihr verschwinden; es herrscht die entvölkerte Landschaft vor. Das ambivalente Schwanken im Selbstverständnis des modernistischen Dichters zwischen Halbgott und Verstoßenem korrespondiert mit der Art und Weise, wie er seine Naturbeziehung gestaltet. Einmal erscheint die Bergwelt, das bevorzugte Motiv, als Verneinung der stickigen Täler und Hort stolzer Kraftentfaltung des Individuums. Zum anderen ist sie für das Subjekt Gegenstand ohnmächtiger Versenkung, Anstoß zu schmachtender Trauer und bitter-seliger Einsamkeit. Da der Künstler seine bürgerliche Existenz als verstümmelnden Zwang erfährt, kompensiert und idealisiert er diese seine Ohnmacht im Naturerlebnis; die gesellschaftliche Entfremdung macht ihm die Landschaft zum Fetisch. Dagegen wendet sich Przybos und forciert die Entfetischisierung der Natur. Auch da, wo er den tödlichen Absturz einer Bergsteigerin lyrisch gestaltet, z. B. im Gedicht Z Tatr (Aus der Tatra), hält er daran fest, daß die Natur den Menschen im Grunde nicht zu überwältigen vermag. In all ihrer Großartigkeit reicht die Bergwelt an die Erschütterung eines m e n s c h l i c h e n Todes nicht heran, sie kann ihn nicht in ihre Ordnung hereinnehmen und besänftigen, das kann nur der Mensch selber. Die offenkundige, wenn auch partielle Niederlage des Menschen im unablässigen Ringen mit der Natur kann den Dichter nicht dazu bewegen, die durch das kreatorische Prinzip diktierte überlegene Souveränität des Subjekts in Frage zu stellen. Seine poetische Figur in der Krise zu zeigen, scheint Przybos' poetologische und weltanschauliche Möglichkeiten zu überschreiten. Weil er Kultur vorwiegend in technisch-instrumentalen Kategorien begreift, bleibt ihm die Herrschaft über die Gegenstände die vornehmste Bestimmung des Menschen. Folglich fällt es ihm schwer, Anfechtung, Niederlage, Trauer als humane Qualitäten zu interpretieren, die Überwindung herausfordern und so Entwicklung fördern. Menschliches scheint bei ihm immer nur Entäußerung unangefochtener Souveränität zu heißen. In der individuellen Entwicklung von Przybos steht das Naturverhältnis in einem wichtigen Zusammenhang mit seiner bäuerlichen Herkunft. Soweit sich seine zivilisatorische Begeisterung auf die Stadt richtete, entzündete sie sich nicht an deren buntem Erscheinungsbild, sondern faßte sie vor allem als Ballungsraum fortgeschrittener Pro56
duktivität auf. Produktivität als Signum der Zeit war auch das Kriterium aller zeitgemäßen Poesie. Im Verhältnis des Städters zur Natur, der sie in der Sommerfrische passiv genießt, sieht Przybos diesen Grundsatz verletzt, also denunziert er die unschöpferische, bourgeoise Auffassung von der Schönheit der Natur und hält ihr die produktive Einstellung des Bauern zur Natur entgegen. Die antibürgerliche Attitüde ist nicht zu übersehen, wenn auch die Vorstellung von der modernen Zivilisation und ihren Grundprinzipien - Produktivität und Zweckmäßigkeit - noch wenig sozial differenziert war. An den romantischen Mustern zeigte Przybos auf, wozu sie benutzt wurden: zur Rechtfertigung einer sentimentalen Konsumtion der Natur. Die gesellschaftliche Kehrseite dieser Erscheinung, der bedenkenlose Raubbau an der Natur in der kapitalistischen Produktion, beunruhigte die Avantgardisten noch nicht.
Soziale
Erfahrungen
Die Situation des lyrischen Ich, das im Frühwerk auf eindeutige und unproblematische Weise über seine Gegenstände herrschte, fällt in den dreißiger Jahren, in denen Przybos* Gestaltungskraft zur vollen Reife gelangt, komplizierter aus. Beträchtlichen Anteil haben daran die spezifischen sozialen Erfahrungen, die mit der Herkunft des Dichters zusammenhängen und sich in unterschiedlicher Weise geltend machen. Das stilistisch auffällige Merkmal der Steigerung, der extensive Gebrauch des Komparativs, der zahlreiche Gedichte kennzeichnet, verweist auf eine Grundfigur der lyrischen Vorstellungswelt von Przybos - das Überschreiten vorgegebener Grenzen. Die Grundfigur konkretisiert sich immer wieder im Bezug auf ein Schlüsselwort und Lieblingsbild des Autors: den Horizont. Die Anstrengung zum Überschreiten eines vorgegebenen Horizonts ist ein häufiges Motiv, in dem sich der Ausbruch des Dichters aus dem Gesichtskreis seines Heimatdorfes Gwoinica stets aufs neue zu wiederholen scheint; als prägende Erfahrung und als unvollendete Aufgabe seines Lebens. Die Rückkehr zum Ursprung und der ständige Versuch, über diesen hinauszugelangen - beides liegt darin beschlossen. Mit Hilfe des biographisch-poetischen Grundmusters werden unterschiedliche Erfahrungen geordnet und gedeutet. Im Gedicht Odjazd Z wakacji (Abreise aus den Ferien), geschrieben 1934, zu einer Zeit 57
massenhafter Bauernstreiks und Demonstrationen, die vom Militär mitunter blutig zerschlagen wurden, erweist sich der v e r g e b l i c h e Versuch, das väterliche Dorf hinter sich zu lassen, als ein Akt der Solidarität. Der Dichter hätte die Möglichkeit, als unbeteiligter Sommergast das belagerte Dorf zu verlassen, aber unbeteiligt, so zeigt sich, ist er nicht: Vergeblich reiste ich ab. Tagtäglich in der Früh, kräht flammender des Vaters Bauerntum in mir: der rote Hahn! Jener Anblick der durchschossnen Rücken sticht und schlägt das Herz in mir zum Aufruhr: fünfzigfaches Sterben der Getöteten von Rzeszöw. So muß ich denn vor Haß und vor Verzweiflung beben. 62 Das Bekenntnis zum Vater schließt das zur Klasse seiner Herkunft und zu ihrem Kampf mit ein. Die elliptisch verschränkten Metaphern zeigen immer beides an: Sie stellen die soziale Empörung der Bauern zwingend vor und objektivieren sprachlich die innerste Anteilnahme des Subjekts. Das Bild des „roten Hahns", Zeichen der Feuerbrunst und der Brandstiftung, wie auch die Doppelbedeutung von „schlagen" drücken Betroffenheit des Subjekts aus und mobilisieren zugleich dessen kämpferische Energie. An anderer Stelle konfrontiert der Dichter den nationalen Enthusiasmus seiner Generation, die vor 1918 ausgezogen war, ein freies Vaterland zu erstreiten, mit der Realität des Jahres 1931, da eine Arbeiterdemonstration zusammengeschossen wird. Der „schmächtige Junge - mit Polen im schweren Tornister", der einst „in Ehren" kämpfte, sieht sich heute in einer zwiespältigen Lage: als Opfer an der Seite der Arbeiter und als unfreiwilliger Helfer der Unterdrücker, denn: 58
Derselbe Karabiner, gereinigt von Phantasie, schießt heut fürs Vaterland auf dem Purpurträger, Hochwohlgeborene Bäuche und Ärsche sitzen - O siegreicher Junge aus dem Jahre achtzehn! 63 Durch das poetische Verfahren des Rückgriffs auf den Ursprung wird die Erkenntnis zutage gefördert, daß der Patriotismus zur Phrase verkommen ist und unverhohlen zur Aufrechterhaltung einer Klassenherrschaft mißbraucht wird. Eine wichtige Erfahrung bedeutet für Przybos sein Aufenthalt 1937 in Paris. Er fühlt sich herausgefordert, die kleine Welt seiner Herkunft mit dem steingewordenen Inbegriff europäischer Kultur und Zivilisation zu messen. Das bringt mit sich, daß die frühere Konstellation, wo Natur von der Kultur immer nur besiegt wurde, jetzt nahezu umgekehrt erscheint: metner
Mutter
Kein Brief, vielmehr eine Flocke Flug im Umschlag schoß aus dem klappenden Briefsack heraus. Der Briefträger, ein Franzose, flink wie ein Rädchen, wirbelte die verschneite Nachricht von Zuhaus. Die krummen Zeilen, wie mit der Sichel geschrieben . . . Zerschnitt der Degen vor der Musikkapelle, der Ton glomm im Fensterglas - leuchtete heller und auf der neonbunten Straße von einem Auto zum andern und höher flog die Marseillaise in Daunen aus Regenbogen, in Blitzen! Ich versuch's. Tag für Tag von hundert Pariser Denkmälern niedergeschlagen, Bäuerin aus Gwoznica,
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such ich ein Gleichnis für dein Herz. Noch einmal wieg ich die Wahrheit in deinen zerquälten Händen. Ruhm schnitzt Steine mit Fahnen im Winde, die Marseillaise erweckt in ihnen den Unbekannten Soldaten, sie gehen, den Kranz - keine Lunte - niederzulegen auf den zertretenen Menschenstaub. Ich warte auf das Zeichen, das entscheiden wird wie eine Explosion, und zähle . . . Wie ein Ertrinkender, dem die Wellen den Atem rauben, plötzlich, endgültig, hebt der Offizier den Säbel - und salutiert in geballtem Schweigen . . . . . . vor der Armseligen, die an der Mauer umsonst den kleinen Strauß der Schneeglocken hinhält. Wie leicht gewandelt hat sich die Welt. Ihr Eitlen! Ihr habt ein Siegestor gebaut - für Tauben.64 Zwei Vorgänge werden in Are de Triomphe miteinander verschränkt: eine Militärparade und die Ankunft eines Briefes von der Mutter, dessen „krumme Zeilen, wie mit der Sichel geschrieben" sind. Hier ist die gewaltige Stadt nicht von vornherein Sieger; ihre Wahrheit wird geprüft, sie hat zu bestehen in den Händen einer polnischen Bäuerin. Glanz, militärischer Ruhm und kulturelle Tradition der Stadt werden aufgeboten und geprüft, ob sie zum „Gleichnis" eines gänzlich anderen Wertes taugen. Das Schauspiel der Militärparade bringt die Entscheidung. An ihrem Höhepunkt „hebt der Offizier den Säbel - und salutiert in geballtem Schweigen . . . " , diesen stolzen Gestus kontrastiert der Dichter mit der Armseligkeit der Blumenverkäuferin an der Mauer. Das verwandelt seine Sicht auf die „Hauptstadt der Welt": „Ihr Eitlen! Ihr habt ein Siegestor gebaut - für Tauben." Die soziale und humane Wertskala setzt sich entschieden gegen die technisch-rationalistische durch, aber es ist auch ein Sieg der „geschichtslosen" Wahrheit der Bäuerin über eine große Tradition. 60
Waren Przybos' Gedichte von einem naturwissenschaftlichen Rationalismus geprägt, so hatte seine poetische Vorstellungskraft andererseits auch viel der tiefverwurzelten bäuerlichen Wahrnehmungs- und Denkstruktur zu danken: so den sinnlich-bildhaften und nicht abstrakt-logischen Umgang mit der Sprache, die zuversichtliche Gewißheit, daß sich die Welt, die Materie und die Sprache beherrschen lassen, schließlich seinen kindlich anmutenden Optimismus. Die bäuerliche Kultur bestimmte auch seine unhistorischen Zeitvorstellungen, denn seine gegenwartsbezogene Phantasie sparte offenkundig die Vergangenheit aus. Viel später stellte er in einer Notiz fest: „Nein, ich besitze keinen geschichtlichen Sinn. Ich entstamme einer ahistorischen Schicht, den namenlosen Bauern."65 Der mangelnde Geschichtssinn, aber auch der Anti-Psychologismus von Przybos, sein Bemühen um Reinheit der poetischen Sprache, das zur Abneigung gegen alles Häßliche und Vulgäre in der Lexik führte, ja zur Absage an jede Art von Mischung, der strenge Ernst jenseits von Humor, Groteske und Spiel - dies alles bot sich der Generation, die in den dreißiger Jahren in die Poesie eintrat, als Angriffsfläche an. In diesen Auseinandersetzungen unterlag seine Poesie aber auch einer weiteren Evolution. Die Leistung der poetischen Avantgarde läßt sich in einigen Punkten zusammenfassen. Mit ihrer Ausrichtung auf die Gegenwart, der rationalen Weltauffassung und dem Konzept eines aktiven und schöpferischen lyrischen Subjekts leitete sie eine Wende in der polnischen Lyrik ein, die später als „antisentimentale Reaktion" (A. Lam) bezeichnet wurde. 66 Die Suche nach künstlerischen Formen, die den charakteristischen Veränderungen der Gesellschaft entsprächen, verlagerte den Weltbezug des Gedichts vom Thema auf die Konstruktionsweise. Der urbane Charakter avantgardistischer Ideen erschloß der Poesie auch thematisch einen neuen Bereich und trug so zu ihrer Modernisierung bei. Die Auffassung schließlich, daß sich in der langfristig umgestaltenden Wirkung neuer poetischer Strukturen auf das gesellschaftliche Bewußtsein auch soziales Engagement geltend macht, ist in den folgenden Jahrzehnten zur allgemeinen Überzeugung geworden. An ihren Anfängen gab die Avantgarde das Modell einer hochentwickelten Zivilisation, das ein Zukunftsbild war, für greifbar aus. Der Gedanke, daß dieses Modell allein mit künstlerischen Mitteln zu erreichen sei, motivierte zwar den Ausbau einer konstruktiven 61
Poetik, erwies sich aber als eine Illusion, die angesichts politischer und ökonomischer Krisen der bürgerlichen Gesellschaft am Übergang zu den dreißiger Jahren unhaltbar geworden ist. Aus dem Bewußtwerden dieser Illusion allerdings wurde Gewinn gezogen, der sich u. a. in der Einsicht von Przybos niederschlug, daß es „keine ästhetische Revolution gibt, die nicht das Resultat oder die Vorahnung der Revolution wäre" 67 . Es ist zweifellos so, daß die erneuernden Postulate und die Praxis von Peiper, Przybos und anderen den Bestrebungen der aufsteigenden Klasse entgegenkamen, die - nicht belastet von althergebrachten hemmenden Gewohnheiten - interessiert war an einem partnerschaftlichen Verhältnis zwischen der präzisen Arbeit der Hände und der ebenso genauen des Verstandes und der Phantasie. Das unsentimentale, kreativ vernünftige Poesiemodell korrespondierte mit Vorstellungen des sozialistischen Gesellschaftsprogramms, das auf eine zweckmäßige Nutzung menschlicher Energie abzielt und getragen ist von der Überzeugung vom humanen Sinn der menschlichen Zivilisation. Der gelegentlich erhobene Vorwurf, die polnische Avantgarde habe keine gültige Synthese von Poesieerneuerung und gesellschaftlicher Revolutionierung geliefert, geht zum einen an dem Charakter und dem Selbstverständnis der Bewegung, die nicht auf Synthesen aus war, vorbei. 68 * Zum anderen unterschlägt ein lediglich auf das Ergebnis zielendes Kriterium die geschichtliche Dynamik der von der Avantgarde bewegten Probleme und bewußt gemachten Konflikte, die, im Spannungsfeld der Epoche wurzelnd, zu den latenten Fragen der Literaturentwicklung im 20. Jahrhundert gehören. Ohne Zweifel bewegte sich das Denken der Avantgarde im Horizont des Epochenereignisses - der Oktoberrevolution; die Avantgarde vermied es jedoch, ihre Dichtung einer strikten politischen Funktionalisierung zu unterwerfen. Als Material ihrer lyrischen Subjektivität kam die reale Revolutionierung auf Grund der subjektiven Sehweisen und der tatsächlichen historischen Gegebenheiten Polens aus einer gewissen Abstraktheit nicht heraus. Dabei bezogen sich einzelne Dichter durchaus auf die Gesellschaftskämpfe im Lande, reagierten auf deren Zuspitzung mit ideologischem und poetologischem Wandel: so Jasienski auf die Straßenkämpfe in Krakau 1923, Peiper auf den politischen Prozeß 1931, Przybos auf die Bauernstreiks der dreißiger Jahre. Die gestalterische Allgemeinheit, die einen Mangel an sozialer und ästhetischer Gegenständlichkeit anzeigte, enthielt zugleich die Chance, für die Zukunft offen zu sein. Gerade in dieser Beziehung erscheint das
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Urteil von Ignacy Fik, der die Avantgarde in einer kulturrevolutionären Perspektive sah, vorausschauend und fruchtbar. Der marxistische polnische Kritiker sah 1938 das Verdienst der Avantgarde darin, daß sie Fundamente für eine neue, der sich verändernden Gesellschaftsstruktur angepaßte Ästhetik gelegt habe. Die noch ausstehende Synthese dieser formal-künstlerischen mit der gesellschaftlichen, der sozialistischen Avantgarde könne Bedingungen für eine große Literaturperiode schaffen.69
Ein Modell proletarischer Poesie : Wladyslaw Broniewski
Mitte der zwanziger Jahre erreichte die revolutionäre oder proletarische Lyrik - beide Termini werden in Polen synonym gebraucht ihr eigenes künstlerisches Profil. 1924 erschien der Gedichtband Ziemia na lewo! der vom Futurismus herkommenden Dichter Bruno Jasienski und Anatol Stern, und zwei Jahre darauf schrieb Jasieüski sein großes Poem über einen Bauernführer des 19. Jahrhunderts, das Jakub-Szela-Lied. Als ein Wendepunkt der proletarischen Lyrik gilt im allgemeinen das Erscheinungsjahr des „poetischen Bulletins" Trzy salwy (1925) der Autoren Wladyslaw Broniewski, Stanislaw Ryszard Stande und Witold Wandurski, weil sich damit eine Gruppe auf gemeinsamen ideologischen Grundlagen konstituiert hatte, die ihre Wirkungsabsichten deutlich aussprach und in Broniewski ein überragendes Talent besaß. Die Tendenzen allerdings, die in diesem Bändchen zur Sprache kamen, waren in einem breiten Feld vorangegangener Entwicklungen und Debatten verwurzelt. Anfang der zwanziger Jahre bezeichnete das Stichwort „proletarische Poesie" weniger eine eigenständige Lyrik als den Gegenstand theoretischer Erörterung in den marxistischen Kulturblättern, und zwar im Rahmen der allgemeinen Bemühungen um die Grundlagen einer proletarischen Kultur. Entwickelt wurden die programmatischen Vorstellungen in den von der Kommunistischen Partei inspirierten Kulturzeitschriften wie Kultura Robotnicza (1922/23) und Nowa Kultura (1923/24), später folgten andere wie Dzwignia (1927/28) und Miesi^cznik Literacki (1929-1931). Unausgesetzt von Eingriffen der Zensur, behördlicher Beschlagnahme und Verboten bedroht, war jede einzelne kurzlebig. Zu ihren wichtigsten Literaturkritikern und kulturellen Publizisten gehörten: Jan Hempel, Andrzej Stawar, Stefan Rudnianski, Antonina Sokolicz sowie die Lyriker Stande, Wandurski, Broniewski und Aleksander Wat.
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Im Barne des Proletkults Der Versuch, programmatische Grundlagen einer klassenmäßig eigenen „proletarischen Kunst" zu skizzieren, knüpft im nationalliterarischen Zusammenhang an das Arbeiterlied und die kulturellen Erfahrungen der Revolution von 1905 an, besaß aber zugleich ein wesentliches Bezugssystem in der gesamteuropäischen sozialistischen Literaturbewegung, die mit der Oktoberrevolution und der Herausbildung der Sowjetliteratur neue Voraussetzungen erhielt. Nicht ohne Einfluß auf die kulturellen Vorstellungen waren allerdings auch der Entwicklungsstand der Arbeiterbewegung in Polen sowie die damalige theoretische Orientierung der KPP in Fragen der Bündnispolitik und der nationalen Problematik. Welches waren die wichtigsten positiven Postulate des Programms ? Werke, die den Maßstäben der „proletarischen Kunst" entsprechen wollten, mußten drei Merkmale aufweisen: mit der Weltanschauung, den Erlebnissen und emanzipatorischen Bestrebungen der Arbeiterklasse verbunden sein, ihre Themen aus dem Leben des Arbeiters beziehen und von Künstlern proletarischer Herkunft geschaffen sein. Bei der näheren Bestimmung der Ideale und der Erlebniswelt des Arbeiters ging die linke Literaturkritik allerdings nicht von wirklichen Beobachtungen aus, sondern entwarf einen mythischen Proletarier eine Figur voll kraftstrotzender, knorriger Frische. Sein wahres Element, so hieß es, sei die Fabrik, und die menschheitlichen Ideale des Proletariats der einzige Antrieb seiner Handlungen. Als integraler Teil des Kollektivs lasse er kein anderes Bedürfnis gelten, als sich für die „geliebte Sache" aufzuopfern. 1 * Die Auffassung, Kunst sei „der reinste Ausdruck der Ideologie der herrschenden Klasse", äußerte sich in der Tendenz, eine rein proletarische, von allem abgesonderte Kunst herauszuarbeiten. Darin zeigte sich nachdrücklich der Einfluß des russischen Proletkults, dessen Vertreter A. Gastew und A. Bogdanow u. a. in der Nowa Kultura gedruckt wurden. Zunächst konzentrierten sich die Bemühungen, programmatische Grundsätze einer Literatur zu formulieren, die neu und mit der Arbeiterklasse verbunden wäre, auf die Lyrik. Die Ausrichtung der marxistischen Literaturkritik auf die Zukunft lenkte ihre Aufmerksamkeit zwangsläufig auf alle literarischen Erneuerungsversuche, also auch auf die Avantgarde. Über den ästhetischen Geschmack des Proletariats schreibend, skizzierte Wandurski auch das Verhältnis zu den avantgardistischen Künstlern. Er führte aus, daß die avantgardisti5
Olschowsky, Lyrik
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sehe Kunst, die von der bürgerlichen Welt abgelehnt werde, ein mittelbarer und auch unmittelbarer Ausdruck der gegenwärtigen ökonomischen und politischen Erschütterungen in Europa sei und revolutionäre Impulse enthalte. „Dem Proletariat als einer jungen, von jahrhundertealten Traditionen unbelasteten Klasse, die es nach freier, freudiger und ungezwungener Arbeit drängt, dürfen die Anstrengungen jener nicht gleichgültig bleiben, die in künstlerischen Symbolen ihren Traum von einem Morgen zu entwerfen trachten." 2 Deshalb sei die gegenseitige Verständigung, wie sie sich im Westen und Osten bereits angebahnt hat, ein „geschichtlicher Zwang". Die These von der Verwandtschaft der Kunstrevolution und der sozialen Revolution gewann in den linken Kulturblättern stärkere Anhängerschaft, so daß 1924 der Versuch einer praktischen Zusammenarbeit mit den Futuristen Jasieriski, Stern, Wat und anderen unternommen werden konnte. Die Nowa Kultura druckte Gedichte der Futuristen ab sowie ihre Äußerungen zur Frage, was die neue Poesie mit der Arbeiterklasse verbinde; mit kritischem Wohlwollen kommentierte sie einzelne futuristische Gedichtbände und das Erscheinen der Zwrotnica, des Organs der Krakauer Avantgarde. Die Zusammenarbeit war nicht von langer Dauer. Sie führte zu Meinungsverschiedenheiten zwischen Redaktion und Partei, scheiterte aber auch aus einer Reihe weiterer Gründe. Auf der einen Seite stand der künstlerische Individualismus der Futuristen, ihre anarchische, durch den geschichtlichen Materialismus kaum fundierte Revolutionsbejahung. Auf der anderen Seite die Enge linkssektiererischer Literaturkritik Künstlern gegenüber, die sich in einer antibürgerlichen Revolte befanden, sowie ihr mangelndes Verständnis für die progressiven Potenzen künstlerischer Formen. 3 Ein tiefer liegender Grund der gegenseitigen Mißverständnisse war die unterschiedliche Sicht auf das Publikum. In dem erwähnten Aufsatz Die ästhetischen Neigungen des Proletariats untersuchte Wandurski die sich aus den tatsächlichen Lebensbedingungen der Arbeiter ergebenden kulturellen Gewohnheiten und kam zu dem Schluß, „daß das Proletariat von heute . . . im Bereich der geistigen Interessen und kulturellen Gewohnheiten sehr kleinbürgerlich eingestellt sei"4. Auch ihre in gesellschaftspolitischen Belangen sehr radikalen ideologischen Führer teilten seltsamerweise häufig die Meinung der kleinbürgerlichen Spießer über die Neue Kunst. Diese Tatsache hatte die proletarische Poesie in zweifacher Hinsicht zu berücksichtigen: als einen Zustand, von dem realistischerweise auszugehen war, und als Herausforderung, diesen Zustand nicht hinzu-
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nehmen, sondern an seiner Überwindung zu arbeiten. Geradezu gestoßen wurde man auf diese Spannung, als Arbeiterleser in Briefen' an die Redaktion die Unverständlichkeit futuristischer Texte beklagten. Ihre Stellung zu diesem Problem hatten Jasienski und Stern im Vorwort zum Gedichtband klar formuliert: „Linksrum erde! ist der erste Gedichtband bei uns, der dem Massenmenschen, dem verborgenen Helden der Geschichte gewidmet ist. Wir haben keineswegs die Absicht, unseren Gedichten eine primitive Form zu geben, in der sie wie in Schuhen sitzen, die dem Gebrauch angepaßt sind; einzig die Form, die wir geben, ist in der Lage, die ungeahnten Kontinente seiner üppigen, komplizierten Seele zu entdecken und zu singen."5 Also waren die Futuristen überzeugt, daß die Form, die sie ihren Werken verliehen, die Kompliziertheit der Seele des Menschen aus der Masse am besten auszudrücken vermag. Die marxistischen Kritiker fanden keine brauchbare Vermittlung zwischen Publikum und neuer Kunst, sie beharrten auf dem Konzept des Proletkults, das, von einem mythischen Bild des Proletariats ausgehend, in der Praxis zu politischen Deklarationen führte oder zur Verwendung bereits abgegriffener Natursymbolik (Sturm, Gewitter, Adlerflug und Morgenrot - als Ausdruck revolutionärer Intention), gelegentlich aufgefrischt mit technischen Vokabeln. Als Vorbilder solcher Lyrik galten die Vertreter des Proletkults Kasin und Gastew, während Majakowski und Toller als „dem Proletariat fremd" bezeichnet wurden, weil es ihren Werken an „suggestiver Ausstrahlung auf die Masse gebricht, sie wirken nicht unmittelbar - erwecken eher gewisse Verwunderung".6 Das Prinzip der Mittelbarkeit, d. h. der Überwindung von Schwierigkeiten als ein Weg, die ästhetische Wahrnehmung zu bereichern, wurde nicht akzeptiert. Der Konflikt zwischen Bestätigung und Veränderung der Rezeptionsgewohnheiten wurde theoretisch einseitig entschieden - er blieb aber in der lyrischen Praxis ungelöst und wirkte als dynamisches Moment der weiteren Poesieentwicklung. Die Sorge um einen möglichst kommunikativen lyrischen Ausdruck verwies mithin die Autoren auf tradierte Strukturen. Wollte man revolutionäre Ideen in poetisch ansprechender und allgemein zugänglicher Weise gestalten, so konnte das in der polnischen Lyrik der zwanziger Jahre - nach Meinung von Maria Janion - nur bedeuten, an die von der Romantik ausgebildete Poetik des Liedes, die revolutionäre Symbolik und das tyrtäische Dichtungsmodell anzuknüpfen.7 In diesem Punkt aber traf sich der Proletkult mit den Futuristen 5*
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in der negativen - wenn auch verschieden begründeten - Einstellung zum Erbe. Die gesamte Literatur der Vergangenheit wurde als adlig bzw. bürgerlich aufgefaßt und pauschal einer ideologischen Kritik unterworfen. Die angekündigte „kritische Durchleuchtung" des kulturellen Erbes beschränkte sich in der Regel darauf, an den Leistungen vergangener Literatur den Schein der Klassenlosigkeit zu denunzieren, Auf die Literatur der Gegenwart schlüssig übertragen, bedeutete dies, daß gerade dort Unterschiede herausgestellt wurden, wo die Gemeinsamkeit einer antibürgerlichen Haltung am offenkundige sten schien. Die proletkultistische Vorstellung einer kulturellen Autarkie des Proletariats förderte nicht ein dialektisches „Destillieren" vergangener Werte, wie es Peiper vorgeschlagen hatte, sondern betonte den Bruch und den völligen Neubeginn. Jan Hempel schrieb dazu: „Man kann dem Industrieproletariat nicht zumuten, es soll in Entzücken geraten über die Lyrik des antiken Griechenland, die mittelalterlichen Ritterlegenden oder die Produkte moderner bürgerlicher Dichter, weil diese Werke seine geistigen Bedürfnisse gänzlich unbefriedigt lassen." 8 Als Beschreibung eines prekären Zustands traf diese Feststellung durchaus etwas Richtiges, als Programm war sie in ihrer Starrheit untauglich, weil sie keinen Weg zur Veränderung des Zustands ins Auge faßte. Besondere Widerstände rief die romantische Tradition als künstlerischer Ausdruck und als Bestandteil der nationalen Befreiungsideologie hervor. In diesem Punkt hielten die linken Literaturkritiker, wie auch die 1918 gegründete Kommunistische Partei insgesamt, an den Auffassungen der Sozialdemokratie (SDKPiL) fest, die gegen einen von der bürgerlichen Rechten geschürten „tollen, krankhaften Nationalismus kämpfen mußte" 9 und dabei nicht vermochte, den berechtigten nationalen Anspruch gegen die nationalistische Anmaßung zu verteidigen. Folglich hatte sie das Programm der nationalen Selbstbestimmung verworfen. Die mit dem Namen Rosa Luxemburgs verbundene These, daß der Kampf um nationale Befreiung das Proletariat nur von den Aufgaben der sozialen Emanzipation ablenke, hat in der kommunistischen Bewegung Polens nach 1918 lange nachgewirkt, hat ihre Bündnispolitik behindert und die Literaturkonzepte einseitig und eng gemacht. Herausgefordert durch die Politik der „staatstragenden" Kräfte, die mit allen Mitteln die romantisch-patriotische Tradition der eigenen Ideologie dienstbar zu machen suchten und sich damit auch Einfluß sicherten, beurteilte die linke Literaturkritik die Romantik 68
vor allem nach dem Gebrauch ihrer Stereotypen. Daher beharrte sie auf einem „rein klassenmäßigen", tatsächlich aber vulgärsoziologischen und abstrakten Standpunkt bei der Beurteilung der Tradition. Das Für und Wider die Romantik sollte - später mit differenzierteren Argumenten geführt - in der sozialistischen Literaturströmung nie gänzlich aufhören. Vorerst verbaute die rigorose Ablehnung die Möglichkeit, den moralischen und gesellschaftlichen revolutionären Impuls der romantischen Literatur für sich zu entdecken. Wenn mit Recht gesagt werden kann, daß der Band Trzy salwy Indiz eines qualitativ neuen Stadiums der proletarischen Poesie ist, so ist dies insbesondere Broniewskis Talent zu danken - der beeindrukkenden Einheit eines schwierig bewegten Lebens und eines eigenwilligen Werks. Aus diesem Grund wird er gemeinhin für den Inbegriff polnischer revolutionärer Poesie gehalten - was in dieser Verallgemeinerung nicht unwidersprochen bleiben kann. Wollte man ein synthetisches Modell der revolutionären Poesie zwischen 1918 und 1939 entwerfen, so müßte neben Broniewski der avantgardistische Flügel mit Jasieñski, Przybos, Czuchnowski, die vom Proletkult inspirierte Lyrik eines Stande und Wandurski und schließlich der klassizisierende Flügel mit Szenwald und Szymariski in die Betrachtung miteinbezogen werden. Im folgenden wird Broniewskis Lyrik als ein Modell vorgestellt, das in den zwanziger und dreißiger Jahren die Interessen des Proletariats zweifellos auf populärste und wirkungsvollste Art verfocht. Einige Gesichtspunkte stehen dabei im Mittelpunkt: das Selbstverständnis des Dichters, die Auffassung von den Funktionen der Lyrik, das Verhältnis des lyrischen Subjekts zum Adressaten als Leser und als strukturelles „Du" des Gedichts, die ideelle und poetologische Seite der Traditionsbeziehung.
Dichterisches Selbstverständnis: Prophet oder Arbeiter des Wortes In der Vorbemerkung zum Band Trzy Salwy erklären die Verfasser ihr Selbstverständnis und die Wirkungsabsichten ihrer Poesie: „Nicht über uns schreiben wir. Wir sind Arbeiter des Wortes. Wir müssen aussprechen, was die Menschen von der Werkbank auszusprechen nicht in der Lage sind. Im gnadenlosen Kampf des Proletariats gegen die Bourgeoisie stehen wir entschieden auf der linken Seite der Barri-
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kade. Zorn, Glaube an den Sieg und Freude, Kampfesfreude, heißen uns schreiben. Unsere Worte mögen wie Salven in die Straßen der City fallen und als Echo aus den Fabrikvierteln zurückschlagen. W i r kämpfen um eine neue Ordnung der Gesellschaft. Dieser Kampf ist der höchste Inhalt unseres Schaffens." 10 Im Vorspruch klingen einige Grundsätze des Proletkults an. Er setzt andere Akzente, als es Jasienski und Stern in der Einleitung zu ihrem Band taten. Für die Autoren von Ziemia na lewo stand vor allem der Haß auf den Bourgeois („der uns heute mit der lappigen Banknote seiner Visage die Welt verstellt") und die Zerstörung aller alten Werte im Vordergrund, während die Dichter des Bandes Trzy salwy in der Identifizierung mit dem Proletariat und im stellvertretenden Aussprechen seiner Empfindungs- und Ideenwelt ihren Auftrag erblicken. Daher kritisieren sie indirekt die Ichbezogenheit des Dichters, seine Erhebung als Priester und Auserwählten; sie räumen dem Künstler keinerlei Sonderstellung ein. Wichtig ist nicht der Ausdruck seiner Subjektivität, sondern das stellvertretende Sprechen für andere. Für alle Autoren des Bandes gilt, daß sie den Kampfwert des Gedichts für das Entscheidende halten, in der Praxis knüpften sie daran jedoch sehr verschiedene poetische Strategien. Die Ankündigung, „Wir sind Arbeiter des Wortes", die an Peipers Leitbild vom Dichter als Handwerker erinnert, läßt eine säkulare Auffassung der Poesie und ein gleichberechtigtes Verhältnis zwischen dem Dichter und seinem proletarischen Publikum erwarten. Broniewskis Programmgedicht An die Poesie zeigt indessen ein von diesem Postulat stark abweichendes B i l d : Gleich einer Mainacht nahst du unsrer Pforte, gleich weißer Nacht, die in Jasminen wohnt, und wie Jasminduft wehts um deine Worte, und silbern fließt du wie ein Traum vom Mond. Still fließt du durch die Nächte, reich an Staunen, durch Nächte, nur vom leisen Laub erfüllt, und deine Worte, die Geheimnis raunen, sind wie in einen Regen e i n g e h ü l l t . . . Doch halt! Nur keinen Dunst! Nur keine Lügen! Das ist uns nicht genug! Nein, nicht genug! Verleih Begeisterung den Atemzügen, hauch in die Herzen Kraft zu kühnem Flug!
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Denn nicht genügen uns die leisen Worte. Hohl sind sie. Leere Worte. Klein und kalt. Ruf uns als Trommelwirbel zur Kohorte! So peitsche! Dröhne! Sei im Lied Gewalt! Und daß der Quell der Freude, wo er dorrte, aufs neu ins Leben sprudle, klar und echt, gib du uns unser täglich Brot der Worte, zieh mit uns und gib Order - ins Gefecht! Wir tragen dich als Waffe und Verpflichtung, wir kämpfen bis das Dunkel unterliegt. Es gibt ein Leben, schöner als die Dichtung. Es gibt die Liebe. Und die Liebe siegt! Dann, Poesie, halte die schlichten, weichen, die leisesten der Worte uns bereit, die Toten aber, sturmzerfetzte Zeichen, heb hoch hinauf ins Wehn der Ewigkeit. 11 Die Poesie ist zu einer erhabenen Person, Muse und Göttin, stilisiert. Man kann sie anrufen, um Eingebung bitten, aber jeglicher Vorstellung von Arbeit bleibt sie unzugänglich. Nun könnte eingewendet werden, daß es sich hier um zweierlei Art Poesie handele: um die vom Dichter abgelehnte alte und um die herbeigewünschte neue. Die alte charakterisieren Wendungen wie „Jasminduft", „Traum vom Mond", „Geheimnis raunen" und andere, die neue hingegen wird in Formeln gefaßt wie „Trommelwirbel", „kühner Flug", „Banner und Fackel". Zwar unterscheiden sich die Losungsworte, was den fordernden und kämpferischen Charakter betrifft, erheblich voneinander aber weder die einen noch die anderen können einen Arbeitsvorgang formulieren. Die sentimentale Stimmungsdichtung wird im Namen der pathetisch engagierten zurückgewiesen, beide Dichtungskonzepte bleiben jedoch im Rahmen romantischer Imponderabilien. D a die Abrechnung mit der alten Poesie und der Entwurf einer neuen mit Hilfe derselben romantischen Mittel erfolgt, wird ein rigoroser Bruch zwischen beiden Varianten vermieden; die neue tritt gewissermaßen ergänzend zur alten hinzu. Für Broniewski blieb Poesie zeitlebens a u c h Silbertraum, Jasminduft und ein nicht rationalisierbares Geheimnis. 71
Zwischen dem ideellen und auch poetologischen Postulat eines „Arbeiters der Worte" und der Praxis herrscht also ein offenkundiger Widerspruch. Broniewski selber hat ihn erkannt, indem er von der Lyrik, die sich auf seiten des Proletariats engagiert, sagte: „. . . sie steckt, was die Form anlangt, noch in dem, was ihrer Ideologie widerspricht. Das trifft auch auf mich zu. Mit der weiteren Entwicklung wird sich dieses Problem in den Bereich der Form verlagern." 12
Kommunikativität als Problem revolutionärer Lyrik Die Tatsache, daß Broniewski allgemein verbreitete romantische Muster in ihrer modernistischen Abwandlung aufnahm (im analysierten Gedicht finden sich Zitate von Slowacki und Ujejski; insgesamt steht seine Lyrik unter dem Eindruck des zweitrangigen Dichters M. Romanowski, der im Januaraufstand 1863 gefallen ist), war für den Adressatenbezug seiner Gedichte von Bedeutung. Mit dieser Symbolik und der Konvention, innerhalb deren sie galt, war ein breites Publikum in Polen vertraut. Als grundlegendes Strukturprinzip wird die Allusion eingesetzt, d. h., überlieferte poetische Formeln mit fixiertem Bedeutungsfeld und entsprechender emotionaler Aura werden zitiert und abgewandelt, um derart eine neue Weltsicht auszudrücken. Dieses Verfahren war in poetologischer Hinsicht mit dem avantgardistischen Grundsatz der Neuheit und Originalität unvereinbar und setzte sich thematisch-inhaltlich auch über proletkultistische Einschränkungen hinweg. Dadurch sicherte Broniewski seinem Poesiekonzept ein Einvernehmen mit jenen Lesern, die Lyrik hauptsächlich zu begreifen gewohnt waren als Worte, die „Geheimnis raunen" - und das war die Mehrheit des Publikums, auch des proletarischen. Dieses Einvernehmen kam dem agitatorischen Anliegen des Dichters zugute, ohne daß es angestrengt und vordergründig erschien. Der Anklang, den Broniewski beim Arbeiterpublikum fand, ist schwer zu erklären, ohne auf die proletarische Kulturpraxis der zwanziger Jahre einzugehen. Sie wurde von der KPP und ihr nahestehenden Intellektuellen unter großen Schwierigkeiten organisiert. Mit unzureichenden Kräften, bei erschwerten Kontakten, z. B. zur IVRS, immer an der Grenze zur Illegalität, mußte eine Kulturarbeit unter den Arbeitern in Gang gebracht werden. Am lebendigsten entfalteten sich - neben der Buchpropaganda innerhalb der Bauernbewegung - die Theaterzirkel der Arbeiterjugend. Unter dem Einfluß 72
proletkultistischer Ideen waren ihre Organisatoren bestrebt, allein die politische Agitation, das belehrende Moment zu betonen. Ähnliches taten Wandurski und Stande, indem sie die Gegenstände ihrer Gedichte zumeist auf Episoden der sozialen Not und des politischen Kampfes von Parteiarbeitern beschränkten und jede andere Art Lyrik als untauglichen „Kanarienvogelgesang" verwarfen. Eine solche Einstellung fand beim Publikum wie bei den Teilnehmern der Theaterarbeit wenig Anklang, denn sie erwarteten von der Begegnung mit dem Theater Ablenkung von der tristen Wirklichkeit. Diese Situation veranlaßte einen der Theaterorganisatoren zu der enttäuschten und ratlosen Bemerkung: „Die Zirkel wollen spielen, aber nicht lernen." 13 Der Satz beleuchtet nicht nur die kulturelle Lage der Arbeiter, er zeigt auch, daß das proletkultistische Konzept diesem Dilemma nicht beikommen konnte, solange es aus der unfruchtbaren Alternative: Spielen o d e r Lernen; ästhetischer Genuß o d e r politische Agitation nicht herausfand. Hier kam Broniewski dem Publikum mit einem vertrauten Poesiemodell romantisch-modernistischer Herkunft entgegen. In den glücklichsten Fällen erreicht sein Gedicht eine Einfachheit, die sich als Ergebnis hoher poetischer Kunstfertigkeit und des bewußten Einsatzes bestimmter Verfahren herstellt. Er übernahm die geschlossene Strophe, ging vom silbisch-tonischen metrischen System auf eine konsequent tonische Gliederung über, behielt den Reim bei, ohne die Natürlichkeit der Phrase zu zerstören, und bereicherte ihn um Assonanzen. Statt der Vieldeutigkeit des Wortes strebte er Eindeutigkeit an, die er durch die Einschränkung der Metapher zugunsten des Vergleichs erreichte. Von überflüssigen Epitheta befreit, gerät der Satz häufig zum Aufruf, Befehl oder zur einprägsamen Gnome. Mit Vorliebe kontrastiert der Dichter lyrisch zarte oder erhabene Momente mit der Brutalität sachlicher Beobachtung, verspannt die stilistisch gehobenen poetischen Zitate bzw. Anspielungen mit geläufigen Wendungen der Umgangssprache zu eigenwilligen Ganzheiten. Damit sicherte sich Broniewski ein hohes Maß an Kommunikativität. Erreicht wurde es um den Preis einer sich kurzfristig einstellenden, die literarischen Gewohnheiten der Empfänger bestätigenden Wirkung. Der Widerspruch zwischen Spielen oder Lernen, Bestätigung oder Veränderung der Rezeptionsgewohnheiten bekam aus Broniewskis Perspektive einen anderen Akzent, an seiner Lösung mußte aber gearbeitet werden.
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Funktionen der Lyrik Das Gedicht An die Poesie formuliert den Auftrag der Dichtung in nahezu konträrer Weise; einmal heißt es: „So peitsche! Dröhne! Sei im Lied Gewalt!", zum anderen werden ihr „die schlichten, weichen, die leisesten der Worte" abverlangt. Diese antinomische Struktur der Aufgaben repräsentiert einen für Broniewskis gesamte Lyrik grundlegenden Konflikt zwischen der visionär-pathetischen (Fackel im Wind) und der analytisch-konstruktiven (täglich Brot) Funktion. 14 * Die erste stützt sich auf die Tragfähigkeit romantischer Symbole, deren Vieldeutigkeit und Unbestimmtheit durch Steigerung des appellativen Moments eingeschränkt werden soll. So entsteht eine lyrische Vision, die, angewiesen auf bereits vielfach verwendete Muster, zwar bestimmte Gefühle evoziert, aber unkonkret bleibt und an argumentativer Kraft einbüßt. Die analytisch-konstruktive Funktion war nicht gleichbedeutend mit einer veristischen Chronik des Alltags eines Proletariers, mit Versammlungen, Spitzeln, Agitatoren, Demonstrationen und Verhören, •wie andere Dichter sie schrieben. Sie kam einmal in den erzählenden, balladesken Gedichten zur Geltung (Der Mond von der Pawia Straße, Die Nette Straße, Magnitogorsk oder Das Gespräch mit Jan), wo sich die Intention des Verfassers nicht auf den imperativen Appell verläßt, sondern durch sozial genaue Beobachtungen, die zu entsprechenden Handlungsabläufen gefügt werden, die Kraft poetischer Überredung einsetzt. Des weiteren näherte sich diese Funktionsvorstellung den Bestrebungen der Krakauer Avantgarde. Als Beleg dafür kann Broniewskis Vorschlag aus dem Jahr 1928 gelten, die soziale Poesie solle einen „literarischen Konstruktivismus" entwickeln und mehr an Nüchternheit und Bewußtheit gewinnen.15 Auch die Rezension zu Przybos' erstem Gedichtband Sruby macht deutlich, was Broniewski an der Poetik des Avantgardisten beeindruckte: „Die harte, kantige Wirklichkeit aus Stahlbeton, das Polen der organisierten Materie ist in seinem poetischen Traum erschienen. Das ist kein dekadenter Urbanismus, keine Maschinen-Manie - es ist die Schönheit der Arbeit, die Schönheit des menschlichen Genius, worüber die Dichter bisher zu wenig geschrieben haben . . . Wie nötig hat die polnische Poesie jene Tüchtigkeit, die uns aus jeder Zeile von Przybos entgegenschlägt. In ihr ist eine neue, lebendige, untrügliche Schönheit." 16 Der Konflikt beider Funktionen war für Broniewskis Lyrik kon74
stitutiv. Ihre größte Leistung erreichte sie dort, wo es gelang, beide Funktionssetzungen in einen fruchtbaren Ausgleich zu bringen, was in der Regel bedeutete, das Wuchern der Vision einzudämmen. Theoretisch, gewissermaßen ein für allemal, war der Konflikt nicht zu lösen, er dynamisierte die Struktur seiner Poesie und war daher stets aufs neue anzugehen.
Die inhaltliche Seite der romantischen Tradition Selbstverständlich beschränkte sich die romantische Tradition für Broniewski nicht auf ein bloßes Reservoir kommunikativer poetischer Mittel und Verfahren, sie repräsentierte vor allem die Erfahrungen, Ideen und Legenden der nationalen Befreiungsbewegung. Damit sind wir bei ihrem eigentlichen Inhalt angelangt: der Verquickung von revolutionärer und nationaler Problematik. Von Herkunft und Erziehung war Broniewski - 1897 in einer Beamtenfamilie adliger Abstammung geboren - mit den nationalen Befreiungskämpfen verbunden und mit ihrer romantischen Lesart vertraut. Unter seinen Vorfahren gab es Teilnehmer am Novemberaufstand 1830 und am Januaraufstand 1863. Er selber kämpfte während des ersten Weltkriegs als Freiwilliger in den polnischen Legionen, die Pilsudski an der Seite Österreichs gegründet hatte. 17 Er erlebte auch die Intervention gegen die Sowjetukraine (1919/20). Die Realität dieses Feldzuges, während dessen dem jungen Offizier zum ersten Mal Lenins Schriften in die Hände fielen, strafte seine Überzeugung, noch immer für das „Vaterland in Gefahr" zu kämpfen, Lügen. Hier lag der entscheidende Ausgangspunkt seines weiteren Werdegangs, den er 1920 in einer Tagebuchnotiz fixierte: „Der Krieg ist zu Ende, die Unabhängigkeit erreicht, also stehen wir vor Fragen, die früher durch die Forderung nach Unabhängigkeit verdeckt waren. Heut verblassen die politischen Probleme zugunsten der sozialen." 18 Von da an beginnt die Suche nach einer politischen und poetischen Alternative; sozialistische Ideen greifen Platz in seinem Denken; die symbolistische Manier wird unter futuristischem Einfluß schrittweise abgetan. Die Frage, bei wem die Zukunft der Nation in den besten Händen sei, führt ihn an die Seite des Proletariats, das er als den Vollstrecker des gesamten Vermächtnisses der Befreiungsbewegung - der Unabhängigkeit und der sozialen Gerechtigkeit - begreift. Anzumerken ist, daß die Romantik für Broniewski
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und für viele seiner Generation nicht nur die wichtigste Erfahrung der Vergangenheit war, sondern auch ein Katalysator der gegenwärtigen moralischen, künstlerischen, politischen und gesellschaftlichen Probleme. Daraus ergaben sich politische und literarische Konsequenzen. Obwohl ideell den Kommunisten nahestehend, konnte sich Broniewski mit deren Haltung zur nationalen Frage nicht einverstanden erklären. Zudem war er geraume Zeit von der Gestalt Pilsudskis, des Kommandanten der Legionen, und dessen romantisch-sozialistischem Nimbus fasziniert, so daß dieser ihm als Garant der Verschmelzung der patriotischen Tradition und des sozialistischen Programms erscheinen konnte. Bereits das bloße Festhalten an der Tradition mußte den Widerstand der Anhänger des Proletkults hervorrufen. Broniewski seinerseits empfand die Atmosphäre in der Redaktion der Nowa Kultura, mit der er seit 1923 zusammenarbeitete, als zu „eng und unangenehm", jedenfalls wollte er dort nicht debütieren. Von der Krakauer Avantgarde und ihrer Zwrotnica, die er wiederum für zu theoretisch hielt, unterschied ihn nicht der Umstand, d a ß er an die Romantik anknüpfte, sondern w i e er es tat. Als bewußtes und kritisches Wählen, wie es Peiper vorschwebte, war es in der Anfangsphase schwerlich zu bezeichnen. Es war zunächst eher ein Nachgeben der übermächtigen Tradition, die durch persönliche wie politische Umstände als „natürliche" wahrgenommen wurde, verknüpft allerdings mit dem Bestreben, sie für die eigenen Zwecke zu modifizieren. Am überzeugendsten gelang dies immer dann, wenn der Zustand der „natürlichen" Nachfolge abgelöst wurde durch eine selbstbewußte, kritische Reflexion des Erbes. Betrachten wir die ersten beiden Gedichtbände Wiatraki (Windmühlen, 1925) und Dymy nad miastem (Rauch über der Stadt, 1927), so zeigt sich, daß Broniewski unablässig an Muster und Ideen anknüpft, wie sie die Literatur im Dienste der nationalen Befreiung hervorgebracht hatte. Wenn das Gedicht Die Rose 1927 in einen Dialog mit Zeromskis gleichnamigem symbolischen Drama eintritt, in dem dieser - bezogen auf die Revolution von 1905 - danach fragte, wer das Vermächtnis der nationalen Aufstände aufgreifen und verwirklichen wird, so sicherte Broniewski seinem Werk damit eine gtoße Vorgeschichte, die ihn, den revolutionären Dichter, zum Nationalautor machte. Zugleich partizipiert aber seine Betrachtungsweise an dem „büßerischen Masochismus'' (Stawar), dem romantisch76
utopischen Komplex, welcher den Verhältnissen nach 1918 nicht gerecht werden konnte. Die Leichtigkeit, mit der sich die tradierten Muster 2ur Reproduktion anboten, erschwerte es dem Dichter, die neue Gegenwart zur Sprache zu bringen. Am Anfang stehen die Antikriegsgedichte. Ganz im Banne des soldatischen Patriotismus, wie die Romantik ihn verherrlichte, ging Broniewski daran, seine Gegnerschaft zum Krieg, gespeist aus eigenem Erleben und pazifistischer Lektüre (Barbusse: Das Feuer), auszudrücken. Dies fiel in Polen besonders schwer, da es in den ersten Weltkrieg noch als geteiltes Land hineingezogen wurde und füglich den Konflikt der imperialistischen Teilungsmächte als Chance zur eigenen Unabhängigkeit betrachten konnte. Für eine pazifistische Literatur wie in Deutschland oder Frankreich gab es hier kein gesellschaftliches Motiv, eher umgekehrt. So bleibt das Gedicht Mlodosc (Jugend), das des Dichters eigene Kriegserlebnisse und ideelle Zweifel in der konkreten polnischen Situation reflektiert, was die Grausamkeit der Kriegsvision und die Radikalität angebotener Konklusion betrifft, hinter den Aufzeichnungen seines Tagebuches zurück. Bitter zwar und illusionslos, aber nicht ohne Sentimentalität für das eigene „dumme siebzehnjährige Herz", gelangt das Gedicht zu keiner frontalen Anklage des Krieges. Die soldatische Pflicht dem Vaterland gegenüber, das sich die Staatlichkeit erst noch erringen muß, soll offenbar nicht unterlaufen werden - also bleibt die Enthüllung des sozialen Mechanismus des Krieges aus. In Soldat inconnu und Ostatrtia wojna (Der letzte Krieg) dagegen, die bezeichnenderweise in Frankreich bzw. irgendwo in Europa angesiedelt sind, antworten die Soldaten auf das ihnen zugefügte Unrecht mit dem Aufstand gegen das e i g e n e Vaterland. Dem Vaterland, das nach Blut und Qual giert, wird das Bajonett ins Herz gestoßen, und eine Heimat siegreicher Liebe wird angekündigt. Die Gedichte eröffnen den Ausblick auf ein großes Anderswerden. „Anderswerden" - das Stichwort, unter dem die patriotische Hoffnung voraufgegangener Generationen in Polen stand, wird von Broniewski aufgegriffen und mit einem revolutionären Vorzeichen versehen. Der Weg dorthin wird reduziert auf die Haltung heroischer Selbstaufopferung und ekstatischen Aufbruchs: „Mit dem Kopf durch die Wand! Das Herz in die Bresche! / Durch die Festung der Tage unser siegreicher Marsch." So lautet die Aufforderung aus dem Gedicht Pionierom (Den Pionieren).19 Von den zwei Strängen revolutionärer Strategie - Kämpfen und Bauen, Destruktion und Konstruktion - , deren ungleichgewichtige 77
Stellung in der polnischen Kultur Irzykowski in seinem Aufsatz Zwei Revolutionen (1908) aufgewiesen hat, vertrat Broniewski, seinem soldatischen Naturell folgend, entschieden den ersten. (Auf derselben Linie ist, nur aus anderen Motiven, auch Jasienski zu finden, während Peiper und Przybos deutlich den konstruktiven Strang verfolgen.) Der Kampf war für ihn die Situation, in der menschliche Würde, Stolz, Standhaftigkeit, Opferbereitschaft und Solidarität unverhüllt hervortreten, in der sie geprüft und gestärkt werden. Von pragmatischen Erwägungen ließ sich sein Humanismus nicht einschränken. In der kommunistischen Ideologie sah er hauptsächlich die Quelle einer solchen revolutionären Ethik; die Beweggründe revolutionären Handelns in den frühen Gedichten sind vor allem subjektiver und emotionaler Natur: Stolz, Zorn über Unrecht, Aufbegehren. Seine lyrischen Helden sind vorzugsweise herausragende Persönlichkeiten; Revolutionäre, Kämpfer, Dichter - Gestalten, die gegen den Strom schwimmen, wie der Gründer der ersten revolutionären Arbeiterpartei in Polen, Ludwik Warynski, wie Bakunin, Rimbaud oder Bürger Delescluze, aus dem 1928 von der Zensur beschlagnahmten Poem Komuna Paryska (Die Pariser Kommune). Sie werden in Ausnahmesituationen und vor dem Hintergrund der proletarischen Masse vorgeführt. Was sie auszeichnet, ist individueller Heroismus, in aller Regel der tragische Heroismus einer einsamen Niederlage oder eines einsamen Todes. Dabei wird der Weg nicht ausgeschritten, der einen durchschnittlichen Menschen zum Helden werden läßt, auch der Preis an Menschlichkeit, der dafür abverlangt wird, bleibt ungenannt. Die romantische Kunst des schönen Sterbens wird so zur moralischen Rechtfertigung der Revolution: „Sterbe in Schönheit und sterbe gelassen, / Aufrecht und kühn vor dem Wall der Gewehre." Selbst der Zwang, sein Leben in die Schanze zu werfen, erscheint nicht als die alleräußerste und schwierigste menschliche Entscheidung, vielmehr wird die Leichtigkeit dieses Schrittes schlicht behauptet: „Ach, selbst das Sterben ist ohne Schwere, / Hat auch dein Herz zwanzig Jahr nur geschlagen."20 Die Vorstellung der romantischen Geschichtsphilosophie von der bevorstehenden „großen Wende", die das Reich des Lichtes eröffnet, deckte sich in Broniewskis Verständnis mit der sozialen Revolution. Unter diesem Einfluß bildete seine Lyrik eine revolutionäre Eschatologie aus, deren strukturelle Entsprechung eine eigentümliche Fern78
sichtigkeit ist. Mit Vorliebe benutzt Broniewski das modernistische Modewort „dal" = Ferne und versieht es mit dem Adjektiv „sozialistische". Die Mehrzahl der Gedichte, die das geschichtliche Ringen zum Gegenstand hat, ist aus der unerschütterlichen Gewißheit des nicht allzu fernen Sieges konzipiert und vernachlässigt dabei die augenblickliche Gestalt der großen und kleinen Konflikte, der politischen und persönlichen Widrigkeiten, die den Weg zum Ziel ausmachen. Nicht der dialektische Zusammenhang bestimmt das Verhältnis von Weg und Ziel; es herrscht die Mechanik des persönlichen Opfers vor, der Glaube an die Wiedergeburt aus den Trümmern der Niederlage. Es dürfe mehr der romantischen Optik und der Nietzsche-Lektüre als einer nüchternen Analyse geschuldet sein, wenn Broniewski 1928 meinte, in der Psyche des Proletariers dominiere „das heroische Element, das ihn den Kampf an die erste Stelle setzen" lasse. 21 An der allzu romantischen Gestaltungsweise des proletarischen Revolutionärs entzündete sich unter anderem ein Streit zwischen dem Dichter und den linken Kritikern, die Anhänger des Proletkults bzw. des LEF-Programms waren. Dazu gehörten auch seine Freunde Wandurski und Stande. Die einzelnen Kritiker argumentierten unterschiedlich und nicht gleichermaßen überzeugend. Stanislaw Ryszard Stande und Witold Wandurski, die Mitautoren des gemeinsamen Bändchens, vertraten einfach ein anderes Poesiekonzept. Beide - der Parteiarbeiter Stande, seit 1927 Redaktionsmitglied des IVRS-Organs Vestnik inostrannoj literatury, und der Praktiker des Arbeitertheaters Wandurski, der 1933 zusammen mit Piscator die Sektion Dramatik der IVRS leitete - betonten ihre schroffe Abkehr von der Tradition und ordneten die Funktion der Poesie rigoros der tagespolitischen Agitation unter. Darum nahm z. B. Stande, für den das poetische Wort jenseits des politischen Kampfes jeglichen Sinn verlor, Anstoß daran, daß Broniewski eine unbegrenzte Fülle von Themen, Motiven und Stimmungen gestaltete, ohne bei ihrer Auswahl den engherzig utilitär gefaßten Kriterien des Kampfes zu gehorchen. Verkannt wurde hierbei, daß Broniewski mit der Romantik ein Modell politisch funktionierender Dichtung zur Verfügung hatte, das ästhetisch reich entfaltet und keineswegs asketisch war. Dies ermöglichte ihm eine ungezwungene, ja intime Sprechweise auch über politische, öffentliche Gegenstände. Standes Kritik berührte also etwas, was als besondere Leistung Broniewskis gilt und was man die lyrische Interiorisierung des öffentlichen nennen könnte. Der Kritiker Andrzej Stawar indessen monierte 79
nicht die private Stimmungslyrik des Dichters, sondern wies darauf hin, daß die romantische Herkunft seines revolutionären Gestus zu einem selbstquälerisch vernunftlosen Heroismus verleite. 22 Von den Feststellungen, daß Broniewski dem Einfluß der Skamandriten erliege und darum zu überflüssiger Weichheit und Sentimentalität neige, gelangten die Kritiker zu den grundsätzlichen Vorwürfen: Ihm mangele es an sozialem Sinn, er sei gar nur ein „Mitläufer" der proletarischen Literatur. 23 In Abwehr solcher Angriffe auf seine Dichtung, „der nichts Menschliches fremd ist", kehrte er gerade die individualistische Haltung provokant hervor, bekräftigte das Spielerisch-Unwillkürliche seines Gedichts und verteidigte die unveräußerliche Berufung des Dichters: „Niemand soll an meiner Harfe rühren, / der hundertsaitigen aus hundert Adern." 2 '' Die Kritik machte aber durchaus richtig (wenn auch mit übertriebenen Schlußfolgerungen) auf bestimmte Behinderungen aufmerksam, die sich aus der relativ unkritischen Verlängerung der romantischen Poetik für ein zeitgemäßes revolutionäres Lyrikmodell ergaben. Die Spannung zwischen Gegenwartsbezogenheit und Traditionsverpflichtung läßt sich am Selbstverständnis des Dichters sowie am Verhältnis des lyrischen Ich zum Adressaten ablesen.
Das poetische Subjekt und der Adressat Von dem Konflikt beider Funktionen der Lyrik bei Broniewski ist gesagt worden, daß die visionär-pathetische zumeist die Oberhand behielt. Ihr ordnete sich ein entsprechendes Rollenverständnis des Dichters zu. Die zum erhabenen D u stilisierte Poesie weist den lyrischen Sprecher als begnadetes Individuum aus, dem Eingebung geschieht. Eingeweiht in das Geheimnis des Liedes, ist das poetische Subjekt weit entfernt vom Selbstverständnis eines angestrengt tätigen „Arbeiters des Wortes". Zwar wiederholen sich auffällig häufig die Wörter Lied, Gedicht, Dichter usw., die metapoetischen Erwägungen aber bleiben auf der Ebene des Symbols, diskutieren das Sendungsbewußtsein, nicht den Charakter des sprachlichen Handwerks. Manchmal entsteht der Eindruck, nicht der Dichter verfüge über das Wort, sondern das böse, geheimnisvolle „Lied" sei ein autonomes Wesen, das ihn mit fataler Kraft in seiner Gewalt hält. Von dem „Lied" heimgesucht zu werden, mit ihm zu ringen, seine Geheimnisse zu
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kennen und um seinetwillen zu leiden, ist das Vorrecht des DichterPropheten. Selbst da, wo er diese Rolle von sich weist, wie in Leichtathletik, zeigt das oppositionelle Element noch an, welches der wichtige Bezugspunkt des Subjekts ist: Ich will nicht krächzen nicht unken und nicht orakeln, auch nicht wie ein Mime spektakeln aber ich höre das Ächzen, spüre der Flamme Lechzen und weiß, der Vulkan wird erwachen.25 Eine doppelte Auffassung von Poesie zeichnet sich ab: Als psychologisch-expressive Aktivität soll sie das Innenleben des Dichters ausdrücken und erhellen, Konfession seines Lebens sein, Zeugnis und Ergebnis seiner Schaffensqual; als Aktivität, die sich nach außen richtet, ist das poetische Wort mit der politischen Tat gleichgesetzt, und zwar so, daß unmittelbare Wirkung erwartet wird. Beide Auffassungen überlagern sich laufend. Wenn das Wort unvermittelt materielle Wirkung hervorbringt, so ist ein solches Verständnis abgedeckt durch das romantische Konzept einer Dichtung, die fähig ist, „mit Gedanken zu schlagen", ohne daß jedoch der ursprüngliche Zusammenhang eines religiösen Synkretismus noch intakt wäre 26 *: „ . . . das Lied, wie den Stein hebs und wirf es mit Macht!" Oder: Doch erst muß das Lied noch viel Feuer und Blut im Herzen verspinnen zu schwarzem Rauch, eh als Funke auf Lodz fällt sein zündender Hauch.27 Die häufig wiederholte Symbolreihe: Lied, Feuer, Blut, Herz - ist seit dem Modernismus zum Klischee verblaßt. Das romantische Verständnis von der „Seelenregierung" der Literatur hat ihre unmittelbare politische Wirkungsmacht kodifiziert. Der veränderte funktionale Rahmen der bürgerlichen Gesellschaft des 20. Jahrhunderts konfrontierte diese Auffassung mit der praktischen Folgenlosigkeit der Literatur wie auch mit dem durch die Avantgarde geschärften Bewußtsein für die vielfachen Vermittlungen zwischen poetischem Zeichen, ästhetischer Konvention, sprachlichem System und der Welt der Dinge und sozialen Beziehungen. Broniewskis 6 Oltchoviky, Lyrik
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Praxis mutet gelegentlich wie ein Versuch an, jenseits aller dieser Differenzierungen auch heute noch an einem unmittelbaren Umgang mit der romantischen Literatur und der einstigen Unmittelbarkeit ihrer Wirkungsweise festzuhalten. Gelingen konnte dies nur im romantischen Stereotyp. Das klanglich-rhythmische, metrische, symbolische und ideengeschichtliche Klischee unterstellte, daß alles schon dagewesen sei, daß heute wie einst die gleichen Wirkungen möglich seien. An diesem Punkt drohte epigonale Gefährdung. Der psychologisch-expressive Aspekt kam vor allem in dem messianischen Motiv des Opferlamms zum Tragen. Der Dichter gibt Lied und Leben für die Masse hin, ohne auf Verständnis rechnen zu können: Wer weiß, wie schwer es ist, wer weiß, welche Qual, auf dem Herzen zu trommeln vor der Menschenmasse? die mich überrolln wird, zertreten die Lieder und das Herz den Hungernden zur Nahrung überlassen. 28 Der Dichter solidarisiert sich ideell und emotional mit dem Proletariat, seine Poetik weist dem lyrischen Subjekt aber eine Stellung nicht „inmitten der Welt", sondern „über der Welt" zu, d. h. über dem Erfahrungshorizont des anvisierten Adressaten. Das pathetische Konzept der Poesie als Banner und Fackel charakterisiert den Dichter konsequent als jenen, der stets allen vorangeht, der über den Dingen steht, der allein anderen etwas zu geben hat. Es war nicht zuletzt die politische Überzeugung, die Broniewski dazu anhielt, das Verhältnis des poetischen Subjekts zum Adressaten gleichberechtigt zu gestalten, es zu demokratisieren. Auf diesem Weg erreichte er seine besten poetischen Leistungen. Notwendig geworden war das auch auf Grund der ambivalenten Funktion, die das romantische Erbe im bürgerlichen Staat, insbesondere nach dem Staatsstreich Pilsudskis 1926 erhielt.
Ideelle und poetologiscbe Kritik an der Tradition Was Broniewski als Werte der progressiven Tradition konnte - Patriotismus, verstanden als Zusammenhalt mehr oder minder scharf umrissene Vorstellungen von rechtigkeit, die Haltung heroischer Auflehnung - , das 82
übernehmen der Nation, sozialer Gewurde nach
1918 mehr und mehr zum Stereotyp, den insbesondere Pilsudskis „Sanacja" bewußt zu nutzen versuchte. Ihr Ideologe Adam Skwarczynski schrieb: „Wenn d i e l d e o l o g i e d e r n a t i o n a l e n S e n d u n g , wie sie sich in vielfältiger Gestalt in unserer Romantik darstellt, nicht in konkrete politische, gesellschaftliche, kulturelle Aufgaben umgeschmiedet wird . . . kann sie zur schädlichen Chimäre werden."® Die „Sanacja" machte sich an die Arbeit des „Umschmiedens". Das Ideal der Einheit der Nation wurde zur Kaschierung der sozialen Zerklüftung im eigenen Staat benutzt; der Messianismus wurde von der offiziellen Doktrin nicht kritisiert, sondern zur Verbrämung aktueller Machtverhältnisse benutzt. Mit Blick auf den Staatsstreich von 1926 schrieb wiederum Skwarczynski: „Nicht das Volk und schon gar nicht die Demokratie müssen in Polen das Subjekt des Handelns, der verantwortliche Schöpfer unseres Bauens sein . . . Die Grundlage für seinen [des Staates - H. O.] Ausbau ist heute die Sehnsucht nach der starken Macht."30 Angesichts dieses ideologischen Kontextes war eine kritische Prüfung der romantischen Tradition, insbesondere für die linken Schriftsteller, unumgänglich geworden. Dabei traten unterschiedliche poetische Grundsätze zutage: Przybos verfolgte z. B. andere als St. R. Dobrowolski mit seinem Gedicht Auf das Vaterland, der Romantiker. Den ideellen Streit mit der Tradition hatte Broniewski stets immanent geführt. Besondere Zuspitzung erfuhr er dort, wo die unterschiedlichen politischen Konsequenzen reflektiert wurden, die der Dichter und seine einstigen Kampfgefährten, die Legionäre, aus den gemeinsamen Idealen romantischer Provenienz gezogen haben. Im Gedicht Do towarzyszy broni (An die Kampfgefährten, 1927) legte er ihnen die Frage vor: „Warum sind heute schon wieder bei euch / und mästen mit Blut sich dieselben Kanaillen?"31 Anfang der dreißiger Jahre erreicht der Streit größere politische und poetische Bewußtheit und Broniewskis Lyrik insgesamt größere Gegenständlichkeit. Davor lag die ausführliche Debatte über das Verhältnis von Literatur und Sozialismus, die 1928 ihren Höhepunkt gefunden hatte. Sie wurde von namhaften Kritikern aller Orientierungen in verschiedenen Blättern geführt und trug zu einer beträchtlichen Erweiterung der Vorstellungen von „proletarischer Poesie" bei. Auch Broniewski hatte daran seinen Anteil, während seine politischen Freunde Wandurski und Stawar zu Verfechtern der utilitaristischen Losungen des L E F geworden sind. 1929 mußte Wandurski, zwei Jahre später Stande in die Sowjetunion emigrieren. Nicht zu übersehen ist auch, 6»
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daß die in den zwanziger Jahren eher zuversichtliche gesellschaftliche Grundstimmung unter dem Eindruck der Wirtschaftskrise und der Zunahme innenpolitischer Spannungen rapide umschlug. Das „Sanacja'VRegime, das mit brutaler Repression gegen Arbeiterdemonstrationen, Bauernstreiks (1932/33) und oppositionelle Parlamentarier (Prozeß von Brzesc, 1931-1933) vorging, offenbarte nun unverhohlen sein diktatorisches, antidemokratisches Wesen. Unter den vielen, die sich für ein freies Vaterland eingesetzt hatten, verbreitete sich die Empfindung, nicht dort angekommen zu sein, wohin man aufgebrochen war. Aus dieser Stimmung heraus entstand die 1932 veröffentlichte Ballada o Placu Teatralnym (Ballade vom Theaterplatz). Sie ist nicht einfach eine politische Polemik mit den Kameraden von einst. Broniewski nimmt hier die Auseinandersetzung mit der geistigen Aura seiner gesamten Lyrik und der innersten Leidenschaft seines Lebens auf - mit der romantischen Tradition und deren politischer Rolle. Auf dem Theaterplatz, wo 1905 zaristische Kosakentrupps die revolutionären Freiheitskämpfer niederwalzten und 1927 polnische Polizei unter demonstrierenden Arbeitern ein Massaker anrichtete - dort führt der Dichter mit seinem Schatten einen dramatischen Dialog. Dabei macht der Schatten überraschende Wandlungen durch; er ist Spitzel und zugleich Herrscher über die Herzen und Gewissen der Nation, verräterisches Gespenst, das dem Dichter die Welt verstellt, und zugleich sein von alters her vertrauter Freund. Hinter der schillernden Erscheinung verbirgt sich der romantische Mythos, dessen unterschiedliche Elemente (Slowacki, Wyspiariski, Brzozowski) die Struktur des Gedichts ins Spiel bringt. Angegriffen wird der Mythos, weil er, zur ideologischen Rechtfertigung der Herrschenden geworden, das in ihn gesetzte Vertrauen - auch des Dichters - veruntreut hat. Als häßliche Karikatur erscheint plötzlich die Idee, mit der man sein Leben aufs innigste verbunden hatte. Gerade weil Broniewski im Proletariat den Vollstrecker des gesamten progressiven Vermächtnisses des 19. Jahrhunderts erblickt, bekommt er eine Handhabe, Pitsudskis Abkehr vom Sozialismus als Verrat an den Zielen anzuklagen, für die zwischen 1905 und 1918 gemeinsam ein selbständiger Staat erstrebt wurde. Mit der konservativen ideologischen Funktion des romantischen Mythos wird abgerechnet, auf die romantische Poetik kann Broniewski dabei aber nicht verzichten. Das auf der thematischen Ebene Bekämpfte schleicht sich über die Mittel der Gestaltung unversehens wieder ein. Als Ausdruck der Persönlichkeitsstruktur umreißt die Ballade das Verhältnis 84
des Dichters zur Romantik als untrennbare Zweieinigkeit von Körper und Schatten. Auch aus dem Geleise der romantischen Poetik herauszukommen bedeutete, das Postulat vom „Arbeiter des Wortes" als p o e t o l o g i s c h e Anweisung ernst zu nehmen und die analytisch-konstruktive Funktion stärker gegen die visionäre zur Geltung zu bringen. Dieser Bemühung kamen die verschiedensten Erfahrungen zugute. Schon früh war Broniewski von den Futuristen Stern, Wat und Braun auf Majakowski aufmerksam gemacht worden. Mit Majakowskis Gedicht Poet rabocij (Der Dichter als Arbeiter) startete Broniewski 1924 als Übersetzer. Nach dem Krieg äußerte er, dieses Gedicht sei zum Programm seines Lebens und seiner Dichtung geworden, es habe seine oberflächliche Lektion des Marxismus erst vervollständigt. Bezeichnenderweise stellt das Gedicht gerade das Verbindende und Gleichrangige der schöpferischen Prozeduren des Arbeiters und des Poeten heraus. Die späteren utilitaristischen Postulate Majakowskis oder Tretjakows aus der Phase des L E F fanden Broniewskis Zustimmung nicht mehr. 32 Nicht ohne Wirkung dürfte gewiß auch die Beschäftigung mit Brecht gewesen sein, dessen gänzlich unpathetische Songs aus der Dreigroschenoper Broniewski vortrefflich ins Polnische übertrug. Sie lieferten ein Beispiel kritischer Solidarität mit den Unterdrückten, indem die Niedrigkeit der in Erniedrigung Lebenden nicht verschwiegen wurde. Ein ähnlich unpathetischer Tonfall findet sich bei Broniewski am ehesten in den balladesken, sehr genauen Bildern aus dem Alltag der Arbeiterviertel Der Mond in der Pawiastraße oder Die Nette Straße. Schließlich hatte die Krakauer Avantgarde etwas bereitgestellt, was Broniewskis Gedicht gebrauchen konnte: die Behandlung des Wortes, den objektivierten Gefühlsausdruck und die partnerschaftliche Einstellung zum Adressaten. Im Gedicht Zagl$bie Dqbrowskie (Kohlenbecken von D^browa) aus dem Band Troska i piesn (Sorge und Lied, 1932) sind solche Anregungen und Angebote umgesetzt in eine Aussageweise, die dem dynamischen Gegenstand adäquat ist. Schweigender, schwarzer Schacht, belebt, wirst du erzählen. Zorn zu holen steinern wie Kohle, des bösen Lieds Förderkorb - abwärts! 85
Zorn zu holen, bohre mein Lied dich ins Herz der Erde! Kohle fördert Zagl^bie, Zagl?bie fördert den Tod. Abwärts und aufwärts abgründiges Dunkel, schwarze Arbeit und schwarze Not, auf der Erde - weit und breit nur Häusergespenster und schlammiger Kot. Zagl^bie fördert Kohle, hier gibt es kein andres Gesetz. Nachts über den Horizonten schwarz-blutiger Feuerschein, die Aufzüge ächzen in diesem Schein und krächzen die eisernen Kräne, es fahren und fahren die Züge zu Brei zermalmtes Gestein. Mit Kalk die Waggons besprengen, mit Kalk - oder menschlichem Blut? Der Atem der Loks ist beschleunigt, sie stampfen in Horden davon. Zagl^bie jagt nach Profit, Zagl^bie jagt nach Brot, unter dem schwarzen Himmel fegen die Funkenschweife rot. Zagt^bie fördert Kohle, schickt sie nach West und nach Ost und tauscht die schwarzen Schätze gegen Krankheit und Hunger und Frost.
Kohle fördert Zagl^bie, Zaglijbie fördert den Tod. Zorn zu fördern bohre, mein Lied, dich ins Herz der Erde, daß so mancher die Worte mitnehme, 86
wie den Funken zum trockenen Scheit, in die Bank-Hütte und nach Reden Feuer! Bereit? - Bereit! 33 Hier erhält das dichterische Wort instrumentellen Charakter, nicht anders wie Arbeitsgeräte auch. Keine alten Symbole, die die moderne Wirklichkeit der Wirtschaftskrise überlagern. In dem Zweizeiler „Kohle fördert Zagt^bie, / Zagt^bie fördert den Tod" wächst durch den Austausch des Satzobjektes die Deutung aus der Beschreibung, der symbolische Entwurf aus dem realistischen Detail fast unmerklich heraus. Aufeinander verwiesen und zur Einheit verklammert bleiben sie durch den syntaktischen Parallelismus. So können in der Schlußsequenz die beiden verschlungenen Linien „Kohlenförderung" und; „Zornförderung", Produktionsprozeß und Dichtungsvorgang gleichermaßen kulminieren. Daraus erwächst die Wucht der abschließenden Aufforderung. In diesem Gedicht verbalisiert das dichterische Subjekt nicht Eingebung, sondern die künstlerische Leistung erscheint als Ergebnis einer konzentrierten Anstrengung, die den Vergleich mit der körperlichen Arbeit bewußt herausfordert und besteht. Die w o r t s c h ö p f e r i s c h e Aktivität des Poeten steht nicht über der s a c h s c h ö p f e r i s c h e n des Arbeiters, sie steht gleichberechtigt daneben. Die Arbeit am Wort ist als das poetische Äquivalent der Arbeit in der Kohle glaubhaft gemacht. Auch die Beziehung zum Adressaten gestaltet sich hier partnerschaftlich. Die vorsichtige Formulierung, „daß so mancher die Worte mitnehme / wie den Funken zum trockenen Scheit", behandelt den, der gibt, und den, der nimmt, gleichrangig. Das ist bei Broniewski nicht immer so. Häufig wurde der Adressat der Perspektive des privilegierten lyrischen Ichs untergeordnet. Ein Kerkergenosse z. B. wird in einem Gedicht aus demselben Band folgendermaßen angesprochen: Die Zähne zusammengepreßt, Bezwinge im Herzen das Bangen! Was raubt dir den nächtlichen Schlaf, Genosse, du, mit mir gefangen? 34 Über die Gründe der Schlaflosigkeit, über die Art der Nöte und Zweifel, die den Genossen quälen, sagt das Gedicht nichts aus. Der lyrische Sprecher argumentiert „ein Stockwerk höher"; er führt die 87
Zukunft an, die Ferne, die Welt außerhalb der Gitter: „Da draußen die kämpfende Welt . . . / Warum stehst du nicht mit im Kampfe?" Er appelliert an Willenskraft, Ausdauer, Hoffnung, agitiert mit Losungen, die dem Genossen bekannt gewesen sein durften, ohne daß sie seine Sorgen zu zerstreuen, seinen Schmerz zu annullieren vermochten. Auch in dieser Beziehung muß Broniewski die Unkosten seines romantisch-visionären Heroismus tragen. Ein wenn auch flüchtiger Seitenblick darauf, wie die Dialektik von Gegenwart und Zukunft, Weg und Ziel bei anderen sozialistischen Dichtern gestaltet wurde, z. B. bei Attila Jözsef oder Brecht, macht es möglich, die Eigenart Broniewskis Lyrik genauer zu sehen. Aus dem Jahr 1931 stammt ein thematisch verwandtes Gedicht Solidarität von Attila Jözsef, das die Lage eines politischen Gefangenen reflektiert, sich aber - anders als bei Broniewski - an die „draußen" um solidarische Anteilnahme wendet. Über die unterschiedliche Intention der Gedichte (hier Zuspruch - da Bitte) hinaus ist die Differenz des Gestus bezeichnend, sofern es darum geht, Schwierigkeiten, Kampfverluste, Tragisches wahrzunehmen, zu sichten und mit Zukunftsvorstellungen zu verknüpfen. Auch bei Jözsef ist von dem mobilisierenden Ziel, von der Zuversicht in die Zukunft die Rede: „Es wartet unser eine ganze Welt." Zuvor jedoch werden die zermürbenden Fakten aus dem Alltag des Gefangenen genau und schonungslos benannt, ohne die Bedeutung der quälenden Kleinigkeiten geringzuschätzen oder die eigene Schwäche mit heroischer Geste vorschnell zuzudecken: Denkt an den Kübel, den verfluchten Stank, Die Kränke qualmt aus ihm in unser Loch. Schickt Seife, Pferdefleisch. Es sei euch Dank, Habt ihr für uns auch was zum Anziehn noch. Schickt Bücher, sein sie noch so dumm, weil doch Die rattenweiche Nacht voll Wahnsinn ist, Weil uns die Sehnsucht nach der Frau zerfrißt Ihr, die ihr in Betrieben steht zusammen, Du, der du unsre Rote Hilfe bist, Hilf, Bruder, denen, die zu Falle kamen.35 Hier, wie auch in manchen Gedichten Brechts, bricht die Erfüllung des Ziels nicht plötzlich herein, an ihr wird in harten und verlustreichen Mühen des Alltags gearbeitet, die darum wichtig sind und zäh88
len. Broniewskis Gedichte drücken eher die Uberzeugung aus, die Revolution sei eine Sache des heroischen Aufbruchs, ein einmaliges Spiel um alles oder nichts. Nach der großen Wende kommt das Reich des Lichts und der Freude, in Hinblick darauf werden die Schwierigkeiten des heutigen Tages nicht wahrgenommen. Verhielt sich bei Broniewski die Gegenwart zur Zukunft der siegreichen Revolution wie „Kampf" zu „Gesang" oder wie „Dunkelheit" zu „Licht", so realisiert sich bei Brecht und Jözsef die Dialektik der Revolution in schmerzlichen, langwierigen Kämpfen, deren Etappen sich zueinander verhalten wie eine Art der Anstrengung zu einer Anstrengung anderer Art.
Am Vorabend des \weiten Weltkriegs Scheint es, als habe das starke Verpflichtetsein gegenüber der Tradition eine umfassende Demokratisierung der poetischen Struktur, vor allem des lyrischen Sprechers eher behindert, so begünstigte es andrerseits die fruchtbare Verbindung der patriotischen mit der proletarischen Ideologie. Eindrucksvolles Zeugnis dessen ist Broniewskis Kampfauf ruf vom April 1939 Bajonett aufgesetzt mit der weit bekannt gewordenen mittleren Strophe: Rechnungen des Unrechts gibt es zu Haus, kein Fremder wird sie begleichen. Doch unser Blut verweigern wir nicht: es quillt aus der Brust und dem Lied. Gewiß, oft schmeckte bitter in diesem Land das Gefängnisbrot, doch für die Faust über Polen erhoben Kugel und Tod l36* Die sozialistischen Autoren der zwanziger und dreißiger Jahre hatten im allgemeinen ihr Augenmerk darauf gerichtet, den manipulatorischen Gebrauch der Losung vom Zusammenhalt der Nation zu entschleiern. Dem darin kaschierten Klassenwiderspruch begegneten sie mit einer zugespitzt sozialen Betrachtungsweise, was später wiederum Korrekturen nötig machte. Gerade angesichts der Schwierigkeiten linker Literatur mit der nationalen Problematik hebt sich Broniewskis Leistung deutlich ab. Die in seinem Werk stets lebendige Verquik89
kung des revolutionären mit dem patriotischen Engagement bestand am Vorabend des Krieges auf überzeugende Weise die geschichtliche Probe. Frei von nationalistischen Anwandlungen und von sozialem Sektierertum formulierte er die Treue des Sozialisten zum Vaterland, ohne die Augen davor zu verschließen, daß noch Rechnungen sozialen Unrechts unbeglichen geblieben sind, die jedoch nicht jetzt zur Entscheidung anstehen. Diese Art Kritik verhinderte nicht die Identifizierung mit der eigenen Nation, sie warf vielmehr die Frage nach ihrer neuartigen Gestalt in der Zukunft auf. Das einleuchtende Bild des gemeinsamen Hauses, das der Feind zu zerstören droht, weckte das Zusammengehörigkeitsgefühl aller Polen, der soldatische Appell an ihren Stolz und ihre Würde rief sie zum Verteidigungskampf. In einer Zeit politischer Verwirrung, der Unsicherheit und Verzagtheit stellte Broniewskis Gedicht so etwas wie ein integrierendes nationales Programm dar. So jedenfalls hat die Nation es aufgenommen und verstanden. Seine Popularität über Grenzen ideologischer Orientierung hinweg bestätigte die enorme geschichtliche Wirkungskraft von Broniewskis Poesie. Die dreißiger Jahre, Broniewskis reifste Schaffensperiode, waren überschattet von der Faschisierung in Europa. Die Reaktion der polnischen Literatur insgesamt darauf erfolgte auf zweierlei Art: In organisatorischer Hinsicht kam es zu bedeutenden antifaschistischen Veranstaltungen, so z. B. fand 1936 in Lwöw der Kongreß der Kulturarbeiter statt, zu dem sich radikale demokratische und linke Schriftsteller im Zeichen einer antifaschistischen Sammlungsbewegung zusammengefunden haben. Im Schaffen selbst differenzierte sich das Bild. Der zivilisatorische Optimismus der Krakauer Avantgarde blieb jetzt ohne gesellschaftliche Resonanz und trat in den Hintergrund. Von den Skamandriten verschärften Tuwim und Slonimski, zumeist in satirischer Form, ihren militanten Demokratismus, während Wierzyriski der wachsenden Resignation sich nicht zu wehren vermochte. Bestimmt wurde die lyrische Szene von einer neuen Generation, für die folgende Namen stehen: Jözef Czechowicz, Czeslaw Mitosz, Jerzy Zagörski, Mieczyslaw Jastrun. Auf die Krise der Zeit antworteten sie mit der Reflexion moralischer und existentieller Problematik, und zwar unter katastrophistischem Vorzeichen. Sie übernahmen und verwendeten auf eigene Weise die poetologischen Neuerungen der Avantgarde, aber nicht deren optimistisches Weltbild. Die allgemein verbreitete Ahnung von der heraufziehenden geschichtlichen Katastrophe brachte
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eine Haltung des Protests und der Ohnmacht hervor. Die Logik geschichtlichen Handelns ist nicht mehr einsichtig, also wird der Auszug aus der politisch-sozialen Verstrickung in die Natur vollzogen, die, idyllisch und elementar zugleich, Schutz vor dem Moloch Geschichte verspricht: der mond wäscht silbertücher in schobern zirpen grillen keine angst denn heu riecht nach schlaf und träum und seine verborgene weise berührt mich mit kinderwangen schützt vor dem graun37 So malt Czechowicz die Zuflucht aus. Die rationale konstruktive Gestaltung wird von einer symbolisch-mythischen verdrängt, nicht Zivilisation und Ästhetik binden mehr die Aufmerksamkeit der Dichter, wichtig werden Ethik und Metaphysik. Dabei gelingen bei Milosz und Czechowicz Lösungen von - historisch betrachtet - bestürzender Hellsichtigkeit. Auch Broniewski war von der katastrophistischen Stimmung nicht frei. In seinem letzten Band vor dem Kriege ist sie deutlich zu spüren, obwohl er sie nachdrücklicher historisierte und auch die Ursachen sich aus seinem Blickwinkel anders ausnahmen. Dazu gehörte neben dem spanischen Bürgerkrieg und dem Vormarsch des Nationalsozialismus in Deutschland die Verfolgung der Linken und Demokraten im eigenen Lande. Auf andere Art schmerzlich waren die beunruhigenden Nachrichten über provokatorische Anschuldigungen, die gegen polnische Kommunisten (darunter seine Freunde Wandurski und Stande) in der Sowjetunion erhoben wurden, und schließlich die auf Beschluß der Komintern vollzogene Auflösung der Kommunistischen Partei Polens 1938. Alle diese Bedrängnisse haben Spuren hinterlassen, brechen konnten sie weder seine revolutionäre Überzeugung noch sein poetisches Sendungsbewußtsein. Meines Liedes tapfere Seele Tiefe Sorge wie Rost zerriß, Nur der Schrei aus gewürgter Kehle Schneidet dumpf durch die Finsternis. 91
Doch der Schrei überwindet Schwächen. Zuckt ein Blitz - so schlage er ein! Diese Welt wird mich niemals brechen, Dieser Welt sag ich lauthals: nein I38 Broniewski als einen „klassischen" Vertreter der proletarischen Poesie zu bezeichnen fällt schwer. E r war ein revolutionärer Dichter, der, mit dem Proletariat und seiner Ideologie solidarisch, die Schönheit der ritterlichen Geste schätzte und die patriotische Tradition, aus der jene ihren Sinn bezog. Die Auffassungen des Proletkults, soweit sie darauf hinausliefen, den Kunstcharakter der Lyrik bis zu seiner völligen Vernachlässigung den tagespolitischen Aufgaben unterzuordnen, hat er nie akzeptiert. Seine Leistung war es, daß er auf der Basis der romantischen Poetik ein kommunikatives Modell revolutionärer Poesie geschaffen hat und einen Modus ungezwungen persönlichen Sprechens über politische, öffentliche Angelegenheiten. Die marxistische Geschichtsauffassung erwies sich in seiner Handhabung als effektives Instrument, die nationalen Gegebenheiten so zu fassen, daß darin die universale Problematik der Epoche sichtbar wurde, etwas, was die Avantgarde zwar abstrakt postuliert, lyrisch aber viel weniger geleistet hat. Der Preis, den Broniewski für seine Weise, Kommunikativität zu erreichen, zahlen mußte, erweist sich bei genauerem Hinsehen als die Unmöglichkeit, sein poetisches Modell fortzuführen. Mit dem Verfahren der Allusion hat er die Potenzen des romantischen Systems für seine Absichten maximal ausgeschöpft und damit in bestimmter Weise vollendet. Es war ein Endpunkt. Wie die Lyrikentwicklung nach 1945 zeigt und eine Umfrage unter jungen Lyrikern 1972 erneut bestätigt, wird der Haltung des Dichters Bewunderung und Respekt entgegengebracht, aber sein Werk eröffnete keinen neuen poetischen Weg. 3 9 *
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Lyrik und Widerstand (1939-1945)
Der Überfall des faschistischen Deutschlands auf Polen im September 1939 stellte jede weitere Entwicklung unter neue Vorzeichen. Die Aggression und die Unterdrückung betrafen das polnische Volk in allen seinen Klassen und Schichten nahezu gleichermaßen, so daß über die sozialen Unterschiede hinweg ein solidarischer Widerstandswille herausgefordert wurde. Nach dem Abschluß des eigentlichen Feldzuges im Oktober 1939, in dessen Verlauf die regulären polnischen Streitkräfte zerschlagen worden waren und die Regierung samt der militärischen Führung sich nach Rumänien abgesetzt hatte, wurde das gesamte ethnisch-polnische Gebiet von der faschistischen Wehrmacht besetzt. Einige Gebiete wurden ans Reich angeschlossen, die übrigen als sogenanntes „Generalgouvernement" einem Besatzungsregime unterstellt. In die von Ukrainern und Belorussen bewohnten östlichen Gebiete war aus taktischen Gründen die Sowjetarmee bis zur ehemaligen Curzon-Linie vorgerückt. Die fünf Jahre währende Okkupation („Okupacja"; ein Begriff, der in Polen häufig stellvertretend für „zweiter Weltkrieg" gebraucht wird) kostete das polnische Volk neunzig Prozent von der Gesamtzahl seiner Kriegsopfer. Nicht Krieg, sondern Ausrottungspolitik bestimmte das Bild, und die Stationen hießen: Deportation zur Zwangsarbeit, Konzentrationslager, Massenvernichtung. Schon 1939 bildeten sich spontan die ersten Widerstandsgruppen, die sich dann zu größeren Kampforganisationen zusammenschlössen. In dem Maße, wie der Widerstand im Verlauf des Krieges auf verschiedenen Ebenen organisierte Formen annahm, mußten auch politische Vorstellungen über die Zukunft der Nation entworfen werden. Dabei schälten sich vor allem zwei Richtungen heraus. Die restaurative folgte den politischen Ideen der Exilregierung, die von den Oppositionsparteien der Vorkriegszeit und einigen Vertretern des kompromittierten SanacjaRegimes in London gebildet worden war. Ihre militärische Basis besaß 93
die Exilregierung bzw. ihre „Delegatur" im Lande in der zahlenmäßig stärksten Organisation, der in sich politisch durchaus differenzierten Landesarmee (AK). Auf der anderen Seite gab es die linke revolutionäre Richtung, deren Kern die Kommunisten bildeten. Seit Auflösung der K P P J * durch die Komintern 1938 ohne eigene Organisation, gründeten sie 1942 die polnische Arbeiterpartei (PPR) und bald darauf auch ihre militärische Formation, die Volksgarde (GL), aus der später die Volksarmee (AL) hervorging. Mit ihr kooperierten die Verbände sozialistischer Gruppierungen (PAL), die Bauernbataillone (BCh) und andere Verbände. Von den extrem reaktionären Kräften (NSZ) abgesehen, konnten die unterschiedlichen Kampfmethoden und die manchmal sogar gegensätzlichen politischen Ziele der zahlreichen militärischen Widerstandsorganisationen eines nicht verdecken: die gemeinsame Aufgabe, das Vaterland von der Fremdherrschaft zu befreien. Schwankte die außenpolitische Haltung der Exilregierung vor allem im Verhältnis zur Sowjetunion zwischen Bereitschaft zur realistischen Kooperation (1941 wurde mit der Sowjetregierung ein Abkommen über die Aufnahme diplomatischer Beziehungen und gegenseitige militärische Hilfeleistung geschlossen) und Feindseligkeit (1943 provozierte die Exilregierung den Abbruch der Beziehungen zur Sowjetunion), so konnte es am restaurativen Charakter ihres gesellschaftlichen Programms kaum Zweifel geben. In der aktuell lebenswichtigen Frage des Widerstandes gegen den Okkupanten empfahl sie lange Zeit statt entschiedenen Kampfes lediglich bewaffnete Bereitschaft für die zu erwartende innenpolitische Kraftprobe. Dagegen unterbreitete die polnische Arbeiterpartei in ihrem Aufruf 'Worum wir kämpfen von 1943 ein doppeltes Kampfziel: durch Zusammenschluß aller patriotischen Kräfte und im Bündnis mit der Sowjetunion das Vaterland vom fremden Joch zu befreien und zu einem Staat der Volksherrschaft umzugestalten.2 Zu der von der PPR angebotenen und angestrebten Zusammenarbeit mit der Exilregierung ist es nicht gekommen. Mit der spürbaren Kräfteverschiebung innerhalb der polnischen Gesellschaft spitzten sich gegen Ende des Krieges auch die politischen Kontroversen zu. Als ihr verdichteter Ausdruck kann in bestimmter Hinsicht der Warschauer Aufstand (1. August-2. Oktober 1944) gelten, dessen Nachwirkungen weit in die Gegenwart Volkspolens hineinreichen. Ausgelöst wurde der Aufstand durch die Exilregierung bzw. den Oberbefehlshaber der Landesarmee. Als der Kampf ausgebrochen
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war, beteiligten sich daran auch Abteilungen der Volksarmee und weitere linke Widerstandsgruppen sowie die Bevölkerung von Warschau. So entwickelte er sich zu einem Volksaufstand, der von der patriotischen Begeisterung, dem Freiheitswillen und der Kampfbereitschaft aller Beteiligten getragen wurde. Unübersehbar war dabei die Rolle der Jugend, die zum offenen Kampf drängte. Sie ließ sich von dem romantischen Heldenideal anspornen, daß es alles zu wagen gelte, wenn das Vaterland ruft, und daß kleinmütig gescholten wird, wer zuvor nach den Erfolgschancen oder Hintergründen fragt. Zu den politischen Zielen dieser militärischen Aktion, deren Termin mit den Alliierten nicht abgestimmt und über die die Sowjetunion nicht in Kenntnis gesetzt worden war, gehörte es unter anderem, dem auf den bereits befreiten Gebieten wirkenden Polnischen Komitee für Nationale Befreiung, das am 22. Juli 1944 sein Manifest veröffentlichte, zuvorzukommen und die Hauptstadt unter den Einfluß der Exilregierung zu bringen. Unzulänglich gerüstet und vorbereitet, ohne die Sicherung eines ausreichenden Nachschubs wurden die Aufständischen nach langen und zähen Kämpfen um jede Straße und jedes Haus von den deutschen Truppen bezwungen. Dabei ging der Okkupant mit rabiater Gründlichkeit vor. Nach Beendigung der Kämpfe wurde die gesamte Bevölkerung des linken Weichselufers evakuiert und die heil gebliebenen Beste der Stadt systematisch zerstört. Unter den Kämpfern gab es etwa 16000 Tote, unter der Zivilbevölkerung über 1 5 0 0 0 0 ! Die in ihren Folgen tragische Verstrickung nationaler und sozialer, politischer und psychologischer Antriebe hinterließ tiefe Spuren im Bewußtsein der polnischen Gesellschaft. Die polnische Kultur als eine Quelle nationaler Identität zu vernichten war eines der Ziele des Aggressors. So wurde das gesamte öffentliche kulturelle Leben unterbrochen und seine Träger ständiger Verfolgung ausgesetzt. Sämtliche Oberschulen und Universitäten wurden geschlossen; in den wenigen Grundschulen, die ihre Tätigkeit fortsetzten, waren die Unterrichtsfächer Literatur, Geschichte und Geographie verboten. Polen verlor insgesamt 43 Prozent seines Besitzstandes an Schulen, wissenschaftlichen Einrichtungen und Kunstwerken. Weit schwerwiegender waren die menschlichen Verluste: 40 Prozent der Wissenschaftler und etwa 250 Schriftsteller sind den verschiedenen Formen des Terrors zum Opfer gefallen. 3 Trotz der gezielten Vernichtungspraxis gegen die polnische Intelligenz, wodurch jegliche kulturelle Betätigung mit äußerster Gefährdung erkauft wer-
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den mußte, gelang es den faschistischen Machthabers weder die schulische, noch insbesondere die literarische Aktivität im Untergrund zu unterbinden. Während der Okkupation erschienen in Polen etwa 1400 illegale Zeitschriften, darunter 20 mit literarisch-kulturellem Profil. Unter den illegalen literarischen Blättern, die zumeist von jungen Leuten gemacht wurden, erlangten einige besondere Bedeutung. Um die nationalistisch orientierte Zeitschrift Sztuka i Narod gruppierten sich einige talentierte junge Dichter wie Tadeusz Gajcy, Zdzislaw Stroinski, Waclaw Bojarski und Andrzej Trzebinski, die im Kampf gefallen sind. Marxistische Intellektuelle, die mit der PPR verbunden waren, redigierten das Blatt Przelom. Sozialistisch orientiert war Lewq marsz• An keine bestimmte politische Richtung war die Zeitschrift Droga gebunden, die Tadeusz Borowski und Krzysztof Kamil Baczyriski zu ihren Mitarbeitern zählte. Der Presse, die von den verschiedenen Widerstandsorganisationen herausgegeben und verbreitet wurde, kam, angesichts geringer Möglichkeiten, Bücher herzustellen, eine außerordentliche Bedeutung zu. Daneben wurden insgesamt etwa 130 Gedichtbände einzelner Autoren bzw. Gedichtsammlungen gedruckt. Schon diese Zahlen allein zeigen, wie dringend das Bedürfnis nach Literatur und insbesondere, ihrer operativen Form wegen, nach Lyrik gewesen ist. Woraus sich die polnische Literatur seit 1918 endgültig entlassen glaubte - aus der Verpflichtung, Anwalt der Nation zu sein - , dazu wurde sie durch den zweiten Weltkrieg erneut berufen. Sie versagte sich diesem Ruf nicht. Auf verschiedenen Schauplätzen setzten die Dichter ihr Wort kämpfend ein: an allen Fronten des Krieges, im kulturellen Untergrund des Landes, in den militärischen Widerstandsorganisationen und Partisanengruppen, in Lagern für Kriegsgefangene und in den Konzentrationslagern. Der Krieg hat einzelne Autoren in verschiedene Gegenden verschlagen: Tuwim und Lechon verbrachten die Okkupationszeit im brasilianischen bzw. nordamerikanischen Exil, Slonimski in England, Wazyk, Peiper und andere in der Sowjetunion. Broniewskis Weg führte über die Sowjetunion und Iran nach Palästina; Galczynski und Flukowski wurden in Kriegsgefangenenlagern festgehalten. Im kulturellen Untergrund des Landes betätigten sich Iwaszkiewicz, Przybos, Milosz, Jastrun und andere. Von den jungen Dichtern, die erst während des Krieges debütierten, beteiligten sich die meisten am militärischen Widerstand, sei es in einer Partisanenabteilung wie Rözewicz, sei es am Warschauer Aufstand wie Baczynski und Gajcy. Tadeusz Borowski kam mit einundzwanzig
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Jahren nach Auschwitz und später nach Dachau. Unterschiede der Generation, des poetischen Profils, der ideologischen Orientierung traten zurück vor dem als gemeinsamen und verbindlich akzeptierten Auftrag, den Lebens- und Kampfeswillen des Volkes zu stärken und den Nachgeborenen Zeugnis zu geben von dieser Zeit. Die politische Lage des niedergeworfenen und besetzten Landes wurde allgemein in Analogie zur Periode der Teilungen des ausgehenden 18. und des 19. Jahrhunderts wahrgenommen. Als dominierende gesellschaftliche Funktion der Literatur kristallisierte sich mehr und mehr der nationale Auftrag heraus, der sich mit dem antifaschistischen deckte. Die Literatur suchte ihm u. a. dadurch gerecht zu werden, daß sie sich dem von der Romantik ausgebildeten „tyrtäischen Modell" des Dichters zuwandte. In diesem Kanon wurde Tyrtäus „zum Muster des Dichters, der Soldat indes zum Muster des Menschen überhaupt"4*. Läßt sich in der Lyrik der Kriegszeit im allgemeinen eine Fortsetzung der künstlerischen Bestrebungen des voraufgegangenen Jahrzehnts feststellen, so geschah das doch in intensiver Korrespondenz mit der romantischen Tradition. Unbesehen und problemlos konnte sich das Anknüpfen allerdings nicht vollziehen. Zu berücksichtigen war, daß der romantische Kanon vor dem Kriege vom Regierungslager zur Vorbereitung einer staatserhaltenden Ideologie eingesetzt und so offiziell verfestigt worden war. Die nationale Selbstüberschätzung dieser Ideologie zerbrach im September 1939, der von der Romantik entliehene pathetische Gestus wurde mit dem Makel behaftet, anachronistisch und wirklichkeitsfremd zu sein. Damit war das bisher verbindliche Reservoir patriotischer Haltungen zur Disposition gestellt. Die Septemberniederlage bedeutete das Ende einer bestimmten Art zu denken und zu leben. Was national sei, war nur in einer Hinsicht, in der praktischen Abwehr der Aggression, eindeutig umrissen. Erst nach und nach war zu prüfen, ob die tradierten nationalen Verhaltensmuster, z. B. das der Ritterlichkeit, der soldatischen Aufopferung als Sache persönlicher Ehre und Lebenserfüllung, der neuen Lage angemessen waren. Die politische Unterschiedlichkeit der Führungszentren des nationalen Widerstandes hatte u. a. zur Folge, daß die Schriftsteller die Pragmatik des Kampfes nicht zum letzten Kriterium ihrer Beschreibung und Bewertung machen konnten. Der Gestaltungsspielraum mußte für notwendige Differenzierungen offengehalten werden. Das Verhältnis zwischen dem zivilen Leben als dem normalen und dem Zwang zum Soldatendasein behielten sie durchaus als einen Konflikt 7
Olschowaky, Lyrik
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im Auge. Angesichts der komplizierten Situation blieb ihre Reflexion auch nicht bei den einfachen Gegenüberstellungen stehen: gerechter ungerechter Krieg, Tapferkeit - Feigheit, Held - Versager, sondern suchte das geschichtsphilosophische, soziale und moralische Muster der Kriegserfahrungen zu enthüllen. Die praktische Ausgestaltung der Traditionsbeziehung und die Schlußfolgerungen, die der einzelne Dichter für die Deutung der gegenwärtigen Ereignisse und seiner eigenen Rolle daraus zog, fielen durchaus unterschiedlich aus. Die linke, revolutionäre Poesie hatte in den dreißiger Jahren auf die romantische Verbrämung der offiziellen Ideologie mit antiromantischer Polemik geantwortet. Nun galt es, eine Haltung zu finden, die nichts von der sozialen Kritik aufgab und doch das Eintreten für die bedrohte Nation nicht behinderte. Broniewskis Bajonett aufgesetzt, geschrieben im April 1939, wurde in dieser Beziehung zum Programmgedicht der linken Kräfte und wirkte weit darüber hinaus. Das TraditionsVerhältnis jener Dichter, die aus dem Umkreis des Skamander kamen, wurde durch den Krieg gewissermaßen bestätigt. Lechon machte verstärkt den Befreiungskampf des 19. Jahrhunderts und das Schicksal der polnischen Romantiker zum Thema seiner Gedichte. Tuwim unternahm mit den Kwiaty polskie (Polnische Blumen) einen insgesamt wenig geglückten Versuch, das romantische Poem für die Gestaltung wichtiger Erfahrungen unseres Jahrhunderts nutzbar zu machen. Auch Broniewskis Poetik wurde nach 1939 in auffälliger Weise von romantischen Mustern beherrscht. Nicht ohne Bedeutung dürfte dabei sein persönliches Schicksal in jenen Jahren gewesen sein. Nach dem deutschen Überfall auf Polen geriet Broniewski als polnischer Offizier in die Sowjetunion. Hier verfaßte er Gedichte voller Hoffnung auf einen gemeinsamen polnisch-sowjetischen Kampf zur Befreiung seiner Heimat. 1940 wurde er mit unbegründeten Anschuldigungen verhaftet. Ein Jahr darauf entlassen, trat er, nach kurzer Mitarbeit an der polnischen Botschaft in Kuibyschew, in die auf sowjetischem Territorium gebildete polnische Armee des Generals Anders ein, die bald auf Geheiß der polnischen Exilregierung in London über Iran in den Nahen Osten abgezogen wurde. Da die bitteren Erlebnisse den Dichter nicht geneigt gemacht hatten, mit seiner sozialistischen Überzeugung zu brechen, wurde er, der sich stets als Soldat begriff, aus der Armee praktisch ausgeschlossen und auf einen Presseposten in Palästina abgeschoben. Von dort kehrte er 98
nach dem Kriege über London nach Polen zurück. Die Parallelität dieses Weges zu dem Los der Romantiker in der Verbannung drängte Broniewski förmlich dazu, sein Erleben in den Kategorien von Pilgerschaft und Heimatsuche zu interpretieren, die von Mickiewicz und Siowacki in der sogenannten „Großen Emigration" (1830-1855) literarisch kodifiziert worden waren. Die in Broniewskis Sammlungen Bajonett aufgesetzt! (1943) und Drzewo rozpaczajqce (Der klagende Baum, 1945) offenkundige, gelegentlich abgewandelte Reproduktion überkommener lyrischer Strukturen schöpfte die national einigende und anspornende Kraft der romantischen Tradition aus. Insofern bewährte sich dieses Verfahren im Krieg, als der soldatischen Haltung des Subjekts die Anleihen beim heroisch-ritterlichen Ethos zustatten kamen und die Gedichte große emotionale Ausstrahlung gewannen. Zugleich läßt sich beobachten, daß in den früheren Gedichten die Spannung zwischen Konstruktion und Selbstaussage, Analyse und Vision einseitig zugunsten der Vision aufgelöst wird. Die Romantik-Kritik verbleibt in verbaler Verneinung einzelner, zumeist metaphysischer Ideen (Gottsuche, Erlösungsgedanke), berührt aber nicht den Gestus, d. h. das Verhältnis des poetischen Subjekts zum Adressaten und die Struktur. Die eigene Lage als Dichter, Heimatloser und Soldat im Einklang mit der geschichtlich-literarischen Legende des romantischen Pilgers zu sehen garantiert Broniewski die Kontinuität des Nationalschicksals: „Gefährte bin ich heut den Pilgern / trete in die Spur der Verbannten". 5 Das rechtfertigt dann auch die Verlängerung der romantischen Sprechweise, die Übernahme der privilegierten Stellung des lyrischen Sprechers dem Adressaten gegenüber. Die Differenz zwischen einst und jetzt wird mehr behauptet als herausgearbeitet, die Gegenwart b e s t ä t i g t s i c h anscheinend deckungsgleich in der Vergangenheit: Unsere Grenzen? . . . - Wir müssen sie suchen im Takt der MG-s, im Groll der Granaten. Wir wissen's schon immer, eine alte Lehre polnischer Heimatloser und Soldaten.6 Das letzte Beispiel stellt Art und Ziel des Kampfes als von alters her gleichbleibend heraus. Solcherart konnten gegenwärtige Erfahrungen als in der nationalen Geschichte bereits vorgeformt erkannt werden, woraus zusätzliche Bestärkung im Widerstand zu gewinnen 7»
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war. Es wurde damit auch einem Geschichtskult Tribut gezollt, welcher Geschichte nicht sosehr als Ablauf wirtschaftlicher und politischer Vorgänge begriff, sondern als Kette militärisch-moralischer Siege und Tragödien verehrte. Auf der anderen Seite führte die Überzeugung, alles sei wie „schon immer", dazu, die näheren Ursachen der Niederlage und die unterschiedlichen Ziele des Kampfes zu vernachlässigen. Das Herausstellen der nationalen Kontinuität ermöglichte breite Identifikation aller Patrioten, trat aber messianistischen Deutungen der Lage Polens nicht entgegen, die sich etwa folgender verbreiteter Denkmuster bedienten: Polen sei von der Geschichte schnöde verraten worden, sein Unglück und Leiden gäben ihm das Recht, die Rolle des Auserwählten zu beanspruchen, worin sich übrigens das absolut unvergleichliche, gleichbleibende „polnische Schicksal" ausdrücke.7* Insgesamt läßt sich sagen, daß der Krieg den konstruktiv-analytisch-sozialen Strang in Broniewskis Werk zugunsten des romantisch-visionär-nationalen abgeblockt hat. Gemessen an den geschichtlichen Aufgaben jener Jahre hat sich seine Poesie damit durchaus bewähren können; der Preis, den sie dafür zu zahlen hatte, zeigte sich deutlich erst im Nachkriegsschaffen. Der Krieg brachte Przybos' Poetik samt ihren weltanschaulichen Voraussetzungen in eine gewisse Krise. Sie offenbart sich deutlich im Gedicht Nalot nocny (Nächtlicher Luftangriff, 1941), wo der lyrische Held, inmitten des Maschinengewehrfeuers auf den Feldern liegend, eine schwer begreifliche Steigerung seines Lebensgefühls erfährt: Für alle in diesem Angriff Getöteten lebendig erheb ich mich unter den Geschossen, bebend vor Kraft. Die Erde verstrickt in vierzig Ekliptiken, explodierend, schleudre ich hoch . . .8 Die schier gigantomane Souveränität des Ich nimmt sich in der Situation des Luftangriffs paradox aus. Die alte poetologische Konstellation, in der das lyrische Subjekt zum Urheber, Produzenten aller Vorgänge wird, sperrte sich gegen die Aufnahme ganz anders gearteter Erlebnisse und Empfindungen. Die unentwegte, aber pure, nicht näher bestimmte Aktivität des Subjekts bringt das Gedicht in Ge100
fahr, seine humanistische Wirkungsabsicht zu verfehlen. Dem Dichter bereitet es sichtlich Schwierigkeit, eine elegische Haltung sprachlich zu realisieren. Ähnlich verhielt es sich mit der Traditionsbeziehung. Die rigorose Kritik der Romantik, die Przybos in den zwanziger und dreißiger Jahren produktive Originalität gesichert hatte, geriet nun in Widerspruch zum gesellschaftlichen Interesse, das die bedrohte nationale Identität in der Vergangenheit zu bekräftigen suchte. Also war Korrektur vonnöten. Rückblickend (1945) äußerte sich der Dichter, welche gesteigerte Aktualität z. B. dem Werk Mickiewicz* während des Krieges zukam: „ . . . er, der mit dem innersten Wesen des nationalen Daseins gerungen hatte, war in dieser grausamen Zeit auf die wirklichste Weise gegenwärtig."9 Die neue Sicht auf Mickiewicz war aber auch von der Erkenntnis begleitet, daß der vielfach beweihräucherte und vielseitig benutzte Klassiker als Dichter im Grunde ein Unbekannter geblieben sei. Zu entdecken war Mickiewicz als der „neben Slowacki größte Neuerer, der Revolutionär der poetischen Mittel, ein vielfacher Revolutionär zudem"10. Dieses Programm skizzierte Przybos 1940 in einer Vorlesung in Lwöw. Für seine Praxis bedeutete dies nicht Rückkehr zu romantischen Verfahren oder Reproduktion ihrer Motive, sondern Nachfolge in dem Grundsatz revolutionärer Erneuerung des poetischen Ausdrucks. Wenn Przybos das Motiv der Dichtung als Rüstung und Waffe (wie es bei Slowacki vorkommt und in Anknüpfung an diesen auch bei Broniewski) 1943 aufgreift, so wiederholt er nicht nur einen Stoff, sondern baut ihn auch gründlich um. In Noc listopadowa (Novembernacht) heißt es: Weckt die Waffen in den Waldechos, die vergrabenen, toten . . . Wehrlose, für euch erträumt ich den Stern, der von der Hand aufgeht: die Granate! 11 Durch Anspielung auf Wyspianski und Zeromski, zwei Autoren, die die Lebendigkeit der romantischen Tradition im 20. Jahrhundert bezeugen,12* ist der Zusammenhang vorgegeben; die in literarischen Zeichen festgehaltene Kampfbereitschaft des 19. Jahrhunderts, die aber nicht ohne weiteres handhabbar ist (weil eben vergraben, tot), soll für die Gegenwart mobilisiert werden. Die Frage ist: wie? Bei Broniewski - z. B. in O sobie samym (Über sich selbst) - wurden 101
„Wort" und „Patrone", also poetische und militärische Tat, gleichgesetzt, womit die romantische Vorstellung, daß Literatur mehr sei als eine sprachliche Prozedur, verlängert wurde und damit mehr oder minder deutlich auch die Überzeugung, geistige Waffen könnten die tatsächlichen ersetzen. Przybos kaschiert nicht den Unterschied zwischen poetischer Fiktion und Wirklichkeit, er zeigt ihn durch das „erträumt" deutlich an. Das poetische Subjekt gibt nicht vor, die Wehrlosen wirklich bewaffnen zu können, sein Angebot heißt: Zuspruch, der Wehrlose aufrichtet. Ausgedrückt ist das in der metaphorisch erkannten Identität der explodierenden Granate mit dem aufgehenden Stern, dessen Symbolgehalt die konkrete Kampfepisode zum Anzeichen einer geschichtlichen Wende macht. Przybos' rationalistischer, zivilisatorischer Optimismus und die darauf gegründete Poetik sind durch die Okkupation einer Kritik unterzogen worden, ebenso seine bisherige Beziehung zur Tradition. Als Ergebnis der fälligen Korrektur setzte sich bei ihm nicht das verehrend nachahmende, sondern das kritisch produktive Moment durch. Von den Vertretern der katastrophistischen Strömung der dreißiger Jahre wurde Czechowicz im ersten Monat des Krieges durch eine Bombe getötet. Andere, wie Milosz, Zagörski, sahen ihre apokalyptischen Geschichtsvisionen von der realen Gewalt des Faschismus überboten und entkräftet. Auch hier zeichnete sich Wandel ab, und zwar in zweierlei Richtung. Mitosz z. B. klärte das unmittelbare Erlebnis des Grauens mit dem klassizisierenden Gestus einer „poesia docta" ab. Der Aufstand im jüdischen Ghetto und seine Niederschlagung im April/Mai 1943, gewissermaßen vor den Augen Warschaus, drängte dem Dichter das Bild der Verbrennung Giordano Brunos auf dem römischen Campo di Fiori auf. Was jetzt geschieht, hat in der Vergangenheit seine Muster. Welches ist der Punkt, der den Dichter bewog, beide Situationen zusammenzubringen? „Ich aber damals dachte / An das Alleinsein der Opfer." 13 Es ist die Einsamkeit Giordanos gegenüber der „Neugier der Gaffer", die - kaum waren die Flammen erloschen - fortliefen. . . . Wein zu trinken Seesterne zu verkaufen, Körbe Oliven, Zitronen Zu tragen mit lustigem Lärmen. 102
So ist es damals gewesen. Und heute? Auch diese Opfer sind einsam, Bereits von der Welt vergessen, Und fremd ist uns ihre Sprache, Als kam sie vom andern Planeten. Bis alles dann zur Legende Erkaltet und später nach Jahren Auf neuem Campo di Fiori Ein Dichterwort aufruft zum Aufruhr. Das schreckliche Geschehen von heute erweist sich als Neuauflage von schon Dagewesenem - und Muster eines künftigen neuen Campo di Fiori. Die Geschichte, so sieht es Milosz, ist nicht sonderlich erfinderisch; sie reproduziert bei den Opfern die gleichbleibende existentielle Befindlichkeit. Gegen diese fatalistische Anschauung der Geschichte steht die winzige Hoffnung auf den künftigen Dichter, der zum Aufruhr ruft. Und selbst die ungeheure Katastrophe, die sich viele nur durch Zeichen und Donnerschlag angekündigt vorzustellen vermögen; das Weltende selbst - es geschieht alltäglich. 14 Anders verfährt der jüngere, von der katastrophistischen Symbolik beeinflußte Tadeusz Gajcy (1922-1944). Er steigert eine wuchernde Bildfülle zu bedrohlichen Gesichtern, die an Paul Celans Todesfuge erinnern: Kennst du das Land unter den Eiszapfen heißer schwarzer Totenkerzen, das einst knisterte von balsamischen Harzen, heut mit den Flughäuten riesiger Fledermäuse Kennst du das Land, wo auf Seufzerpfaden schlierig tote, verkohlte Blumengehäuse schwimmen und Gebein der Wald-, der Wiesentiere. 15 Nicht die einzelnen Bildinhalte, sondern das Inkommensurable ihrer Beziehung zueinander, das Unvereinbare als Ordnungsprinzip dieser Vision vermittelt Wirklichkeit. Dies und die bohrende Wiederkehr assoziationsträchtiger Schlüsselwörter, wie Fledermaus, Totenkerze, verkohlt, Falter, Gebein und andere verweisen darauf, wie gespea103
stisch verwandelt dem Dichter die Wirklichkeit seines Landes erscheint. Das Chaos der äußeren und der inneren Welt entzieht sich bei Gajcy jedem „verständigeren" Ausdruck. Besonderes Merkmal der literarischen Situation im besetzten Polen und Kennzeichen ihrer Anomalie war der erzwungene frühe Start jener Autoren, die um 1920 geboren worden sind. Repräsentativ dafür ist der Kreis der Warschauer Dichter, die nahezu alle Opfer des faschistischen Terrors wurden oder im Warschauer Aufstand fielen: Krzysztof Kamil Baczynski, Tadeusz Gajcy, Andrzej Trzebinski, Tadeusz Borowski und andere. Ihr beträchtliches Gewicht in den Literaturverhältnissen der Jahre 1939 bis 1945 erklärt sich durch die Rolle, die sie in der risikoreichen illegalen Kulturarbeit, im politischen wie militärischen Widerstand spielten. Anfangs knüpften sie zumeist an die poetologischen Muster der unmittelbaren Vorkriegszeit an. Ihr Reifungsprozeß vollzog sich beschleunigt und unter dem Druck extremer Umstände. In dem Maße, wie sie ihre Weltanschauung präzisierten und in dem verwirrenden Spiel der politischen Kräfte ihre häufig konträren Standpunkte zu klären suchten - was den Irrtum aus gutem Glauben einschloß erarbeiteten sie sich für ihre eigene Erfahrungswelt einen originellen und differenzierten poetischen Ausdruck. Als zwei deutlich unterschiedene Modelle läßt sich die Lyrik von Baczynski und Borowski betrachten. Baczynskis (1921-1944) Schicksal ist paradox. Das Millieu, in dem er sich bewegte, war auf nicht nationalistische Art von strenger patriotischer Gesinnung durchdrungen und zugleich von linken Überzeugungen geprägt. Der empfindsame und hochbegabte Sohn eines linken Literaturkritikers, eher der verinnerlichten Reflexion zugeneigt als der äußeren Aktion, gilt in Polen gemeinhin - nicht zuletzt wegen seines Soldatentodes im Warschauer Aufstand - als der Dichter des Widerstandes. Seine Gedichte indessen zeigen keinerlei Ansätze zur Chronik; die Umstände des Okkupationsalltags sind zwar Anlaß und Hintergrund, werden aber kaum zum Thema. Einer bestimmten romantischen und der symbolistischen Inspiration folgend, löst er die poetische Sprache aus der Bindung an alltägliche Bedeutungen und Sinnzusammenhänge, macht sie erhaben, baut Phantasiegebilde auf, die eine Gegenwelt geistiger Werte symbolisieren sollen. Sein enormes Gestaltungsvermögen zog ihn zu einer autarken Poesie hin, deren einziger Antrieb die Schönheit und einziges Ergebnis ein überzeitlicher Mythos wäre. Aber solche Schönheit war zugleich ein Vergehen am tyrtäischen Modell des Dichters, wie es die andere Seite der 104
romantischen Tradition und der geschichtliche Augenblick nahelegten. Baczynski war sich bewußt, daß der Herausforderung der Geschichte standgehalten werden mußte; der patriotische Imperativ des Kampfes stand fraglos über allem: „Sie prägten dir die Heimat ein, mein Sohn, mit toten Schritten." Die Antwort darauf lautete: „Du gingst, mein heller Sohn, die schwarze Waffe in den Händen, / Erlebtest jenen Stundenschlag, mit dem die Übel enden."16 Die moralische Sensibilität, die Vorstellungskraft des Dichters sträubte sich aber dagegen, jener Pflicht nachzukommen, die Hassen und Töten bedeutete: Ich seh die Zeit: Akropolis, versunken im Gräserurwald. Stürze dich, letzter Kain, über den letzten Abel, Würge!17 Die Kultur droht ins Barbarische, Vor-Menschliche zurückzusinken. So ließ sich Baczynski auf die geschichtlichen Gegebenheiten ein, um sich ihrem Druck zu entwinden. Er tat es, indem er bewußt eine reiche Form kultivierte. Er setzte sein Vertrauen in die Kraft des gestaltenden Wortes, in die Wichtigkeit der poetischen Phantasie, um den lähmenden Sog, der von der unablässigen Bedrohung ausging, zu verfremden, um dem Selbstmitleid nicht zu erliegen und sich vor der Verflachung im vaterländischen Verbalismus zu hüten. Das Ethos der Ritterlichkeit, der patriotischen Aufopferung bejaht Baczynski als eine Weise, die gesellschaftliche Verantwortung in der persönlichen Entscheidung wahrzunehmen; seine Gedichte stellen aber nirgends heroischen Stolz aus. Sie sind geprägt von der tragischen Überzeugung, durch die Geschichte in eine zwiespältige Lage geraten zu sein, in der man dem Vaterland und dem persönlichen Lebensanspruch bzw. der Kunst etwas schuldig bleibe. In Dunkle Liebe heißt es: Und dann eine lange Nacht. Auf schnelle ich taumelnd im Finstern, nackt und unbewehrt von der Erde mich hebend, die Stauden unserer unerfüllten Körper ganz zu entflechten, Soldat eines Glaubens ohne Mitleid zu sein. Und ehe ich gehe, ehe die Waffe im Kampf sich erhitzt, seh ich die Wolke deines Leibs sich beklagen.18 105
Auch mit Hilfe gänzlich unorthodoxer Religiosität sucht Baczyriski geistige Ausgeglichenheit ohne Bitterkeit oder Spott zu erlangen. Sein Bestreben, in der Poesie Halt zu finden, um der Herausforderung durch Willkür und Zwang würdig begegnen zu können, läßt ihm Rilkes gesteigerte Innerlichkeit als willkommene Möglichkeit erscheinen. Seit 1940 mit dem Rilke-Übersetzer Jerzy K. Weintraub befreundet, lernt Baczynski den deutschen Dichter kennen und schätzen. Von geistiger Aufgeschlossenheit jenseits nationaler Vorbehalte zeugt die Absicht Baczynskis, in der von ihm betreuten Poesiebeilage der illegalen Zeitschrift Droga Rilkes Gedichte herauszubringen ein Plan, dessen Verwirklichung der Aufstand verhinderte. Rilkes poetisch vielfach durchgespielte Haltung, „das Seiende anzuerkennen als .großen Gang', es innerlich zu .leisten', emotionalgeistig zu bewältigen, nicht aber in den historischen Gang praktisch einzugreifen"19, kam dem polnischen Dichter nur in ihrem ersten Teil entgegen, sofern er nämlich danach trachtete, den wirklichen Schrekken als bereits vollzogen in das Ich hereinzunehmen und damit zu überwinden. Baczynskis von den realen Umständen diktierte Sorge um die geistige Bewältigung der Niederlage, des Todes konnte sich auf Rilkes Haltung stützen, wie sie in der bekannten Schlußsentenz des Requiem für Wolf Graf von Kalchreuth ausgedrückt ist oder auch in den Sonetten an Orpheus (Zweiter Teil, XIII): Sei allem Abschied voran, als wäre er hinter dir wie der Winter, der eben geht. Denn unter Wintern ist einer so endlos Winter, daß, überwinternd, dein Herz überhaupt übersteht.20 Im Kontext der polnischen Kultur, in einem Moment extremer Gefährdung, als es um die Verteidigung des humanen Geistes ging, erwies Rilkes Poesie also ihre Produktivität. Es zeigte sich aber auch deutlich, daß der Verzicht auf praktisches Handeln, den sie nahelegte, hier von vornherein unannehmbar war. Baczynskis Originalität sieht der Kritiker Jan Blonski darin, daß er inmitten des Kampfes, an dem er bis zur letzten Konsequenz teilnahm, sich dessen pragmatischem Kalkül nicht rückhaltlos anvertraute, sondern eine moralische Distanz aufrecht hielt, die seine Lyrik vor den Irrtümern der Politik und vor der Verzweiflung angesichts hämischer Übermacht der Gewalt bewahrte.21 106
Tadeusz Borowski (1922-1951) teilte mit Baczynski die Überzeugung, durch den Krieg in eine zwiespältige Lage gekommen zu sein, akzentuierte aber vor allem die Ohnmacht und das Elend der von Staats wegen Versklavten, der „Heloten'-Massen, denen der göttliche Funke ausgetrieben wurde. Ihren Schrei und ihr Klagen wird die „künft'ge Zeit der Sieger" einfach vergessen. Als tragisch nimmt Borowski das anscheinend Fruchtlose aller Auflehnung wahr: die Ohnmacht der europäischen Kultur angesichts der schier unaufhaltsam sich voranwälzenden Maschinerie des deutschen Faschismus. Aus dieser Perspektive Zukunft vorwegnehmend, vermag Borowski keine romantische Eschatologie und Erlösungshoffnung zu artikulieren. Darum die drohend sarkastische Voraussicht: „. . . von uns bleibt nichts als Schrott am Ende / und späterer Geschlechter Spott" 22 . Hatte Baczynski versucht, die autonome dichterische Phantasie als Hort menschlicher Ideale gegen den Okkupationsalltag auszubauen, um zu erreichen, daß das Herz die geschichtliche Herausforderung „überhaupt übersteht", so konnte der Auschwitz-Häftling Borowski ihm darin nicht folgen. Ihm dient das Gedicht als Chronik der praktischen Versklavung. Der „Rühmer des menschlichen Lebens" sucht vergebens „nach einem Zeichen in Menschenaugen"; was die KZUmstände, die er mit unerbittlicher Genauigkeit vorführt, ihm aufdrängen, ist die Reduktion des Menschen auf den Körper und seine systematische Zerstörung: Siehe - Phlegmone und Typhus, Gaskammer, Folter und Leid, Feuer und Asche, der Leib im Wind - siehe, ich zeige, hier wird ein Epos geboren, hier ruft die tragische Zeit. Ich hebe die Hand zum Gesicht - so leb ich, Maria, und schweige. 23 Die Auschwitz-Erfahrung entkräftete bei dem jungen Dichter alle Axiome einer idealistischen, ästhetisierenden Weltanschauung und trieb einen radikalen (noch undialektisch gehandhabten) Materialismus hervor. Ansatzweise kristallisierte sich die Erkenntnis, daß der Faschismus nicht das Inferno an sich sei, sondern das Produkt eines umfassenderen Systems ökonomischer Ausbeutung. Die poetische Konsequenz ist der Abbau früher gepflegter katastrophistischer Symbolik zugunsten eines lyrischen Lakonismus, der weder eine Heroisierung der Opfer noch eine Dämonisierung der Verfolger zuläßt. Am eindrucksvollsten bewährte sich diese Sehweise in den Erzählungen, die Borowski nach dem Kriege schrieb. 107
Alles was in den Jahren 1939 bis 1945 geschrieben wurde und in Umlauf gebracht werden konnte, gliederte sich, ungeachtet poetologischer und weltanschaulicher Unterschiede, in den Funktionszusammenhang des nationalen Befreiungskampfes ein. Die literarischen Werke wurden in eine spezifisch veränderte Wertungsskala eingefügt, welche den künstlerischen Valeurs eine eingreifende, mobilisierende Bedeutung verlieh und sie für einen breiten Empfängerkreis wichtig und notwendig machte. Die Literatur reagierte darauf mit Veränderungen im Genreensemble zugunsten der operativen Formen. In diesem Kontext bekam die Poesie einen besonderen Stellenwert; sie öffnete sich der gesellschaftlichen Realität, und stärker als bisher machte sich geschichtliches Denken im Gedicht geltend. Die Autoren nahmen diesen Wandel lebhaft wahr, auch wenn sie sich erst später darüber äußerten, wie z. B. Przybos: „Der Krieg prüfte alle unsere Worte und brachte uns bei, daß noch der flüchtigste, kaum mehr faßliche Akt des künstlerischen Willens an seiner gesellschaftlichen Verantwortung zu messen ist." 24 Die Gleichstellung von kultureller und militärischer Aktivität brachte eine Politisierung und Demokratisierung auch der Literatur mit sich, ohne daß Abstriche von dem künstlerischen Ehrgeiz gemacht werden mußten. Denn jede diffizile ästhetische Leistung funktionierte als Akt kultureller Selbstbehauptung gegen die technische und militärische Übermacht des Okkupanten. Während der faschistischen Besetzung wurden die Mechanismen der bürgerlichen Literaturverhältnisse wenn nicht völlig außer Kraft gesetzt, so doch stark eingeschränkt, was eine Demokratisierung der Inhalte und der Formen des gesellschaftlichen Umlaufs von Literatur begünstigte.25 Damit ist ein wichtiges Merkmal der Ausgangssituation nach dem Kriege benannt.
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Die Auseinandersetzung mit Krieg und revolutionärer Umwälzung in der Lyrik (1945-1955)
Der Ausgang des zweiten Weltkrieges hat die Situation des polnischen Volkes und seiner Kultur erneut gründlich verändert. Was sich daraus für die Literatur insgesamt ergab, kann hier nicht ausführlich dargestellt werden, es sei nur auf einige Tatsachen verwiesen, die den gesellschaftlichen Funktionszusammenhang der Literatur nach dem Krieg absteckten. Da war der gemeinsam mit allen Kräften der Anti-Hitler-Koalition errungene Sieg über den deutschen Okkupanten. Polens äußere Lage war gekennzeichnet durch die territoriale Verschiebung und die außenpolitischen Veränderungen, die sich aus den Beschlüssen der Potsdamer Konferenz ergaben. Das neue Kräfteverhältnis im Inneren führte zur Konstituierung der Volksmacht, deren Programm, angekündigt im Manifest des Polnischen Komitees für Nationale Befreiung (PKWN) vom 22. Juli 1944, schrittweise durchgesetzt wurde: Nationalisierung von Industrie und Banken, Bodenreform, demokratische Schulreform und kulturrevolutionäre Maßnahmen. In diesem geschichtlichen Kontext machte sich die Literatur zunächst daran, das für den Fortbestand der Nation so einschneidende Erlebnis der Okkupation - samt ihren Ursachen und Folgen - künstlerisch zu deuten. Sie griff damit an zentraler Stelle in die weltanschaulichen und ideologischen Auseinandersetzungen ein, wie sie während der revolutionären Neugestaltung der Gesellschaftsstruktur unausbleiblich waren. Nicht erst seit Kriegsende wandte sich die Literatur diesem Gegenstand zu, insbesondere die Lyrik hatte den jahrelangen antifaschistischen Widerstandskampf des Volkes mit Lied, Appell und Satire bestärkt. Nun aber, da die Freiheit errungen war, war auch die Zeit gekommen, sich vielseitiger und differenzierter mit dem faschistischen Krieg auseinanderzusetzen. Dieser Gegenstand dominierte dann auch in den vierziger Jahren. Die literarische Situation damals war charakterisiert durch Werke wie Tadeusz Brezas 109
Die Mauern von Jericho (1946), Wojciech 2ukrowski Z kraju milczenia (Aus dem Laad des Schweigens, 1946), Tadeusz Borowskis Auscbwitz-Erzäblungen (1948), Zofia Nalkowskas Die Medaillons (1946), Leon Kruczkowskis Die Sonnenbrucks (1949), Jerzy Andrzejewskis Asche und Diamant (1948) und die Lyrik von Tadeusz Rózewicz. Die tiefe, ja verzweifelte Verwirrung der Menschen angesichts der Zerstörungen, des Leids, zerrissener familiärer und geistiger Bande, fraglich gewordener moralischer Normen bedeutete für die Schriftsteller eine Herausforderung. Die Literatur nicht zuletzt unternahm es, die humanistischen Gründe menschlichen Zusammenlebens zu behaupten, den Riß zwischen Gestern und Morgen, den der Krieg bedeutete, als Impuls für eine geschichtliche Wende zu deuten und künftige Wege zu markieren. Die Konfrontation des künstlerischen Bewußtseins mit Praktiken der Menschenverachtung und Menschenvernichtung, wie sie bisher als unvorstellbar galten, brachte viele Autoren dazu, die Tauglichkeit überlieferter literarischer Mittel und Verfahren, ja der Literatur überhaupt radikal in Frage zu stellen. In besonderem Maße schien das die Lyrik zu betreffen. Der nach dem Krieg vielerorts geäußerte Zweifel, ob die Vorgänge in Auschwitz, Buchenwald oder im Warschauer Ghetto literarisch darstellbar seien (Brecht, Enzensberger, Adorno) und ob insbesondere die lyrische Phantasie hier nicht der Sprachlosigkeit ausgeliefert sei, war polnischen Autoren nicht fremd.1* Als fundamentales Problem erwies sich das besonders für jene, die im Krieg und durch ihn biographisch wie literarisch zur Reife gelangt sind.
Die poetische S^ene nach dem Krieg Zahlreiche Äußerungen von Autoren aus den ersten Nachkriegsjahren belegen, wie verbreitet das Bewußtsein war, daß - nach allem, was geschehen ist - Bruch und Neubeginn die Voraussetzungen für das Entstehen einer zeitgemäßen Literatur seien. Eine Welt war unwiederbringlich dahin, und tiefgreifende Veränderungen bahnten sich an. Dieselben geschichtlichen Umstände weckten zugleich das gesellschaftliche Bedürfnis nach Bewahrung und Fortsetzung der Tradition, um den Fortbestand der Nationalkultur überhaupt gesichert zu sehen. Insbesondere mußte dies das zentrale Traditionsfeld der polnischen Kultur betreffen - die Romantik. 110
Ihre national integrierende Rolle, die weit über die Literatur hinausreichte, hatte sie im Krieg erwiesen. Nach 1945 stellte sich insbesondere ihre politische Funktion diffiziler dar. In den publizistischen Auseinandersetzungen der Nachkriegszeit tauchte die Frage auf, wem die romantische Legende zufalle, den durch die Geschichte bestätigten linken Kräften oder ihren gescheiterten Widersachern?2 Wenn - wie es nicht selten geschah - das geschichtliche Einst und Jetzt gleichgesetzt wurde, so mußte der romantische Lobpreis der Gescheiterten, wofür die Literatur die Formel „Gloria victis"3* (Ruhm den Besiegten) geprägt hatte, jenen Konzepten Glanz verleihen, die sich als geschichtlich perspektivlos erwiesen hatten. Damit war eine kritische Sichtung der romantischen Tradition unter verschiedenen Aspekten herausgefordert. So ging es in der 1945/46 geführten Debatte um das Werk des in Polen populären Joseph Conrad im Grunde um eine politische Frage, nämlich um die Beurteilung jener Mitglieder der Landesarmee (AK), die aus patriotischem Antrieb (insbesondere im Warschauer Aufstand) gekämpft hatten, ohne die politischen Ziele der Führung zu teilen. Der aus dem Werk Conrads herausgelesene Konflikt zwischen rein moralischen Idealen - wie Treue zu sich selbst, Ehre, Würde, Pflicht und dem Zwang zum Kompromiß mit der gegebenen Wirklichkeit erschien den vom geschichtlichen Gang der Dinge Enttäuschten als Möglichkeit, das Vergebliche ihrer Aufopferung als irrationale tragische Notwendigkeit hinzustellen und so moralisch zu rechtfertigen. Unter anderem wurde diese Deutung vorgenommen in Abwehr einer pauschalen, politisch kurzsichtigen Behandlung dieser Problematik. Andere Diskutanten (z. B. Maria D^browska) waren bemüht, den Wert des menschlichen und patriotischen Einsatzes aus der einseitigen politischen Einfunktionierung zu lösen. Dabei konnten sie allerdings den Anschein nicht verhindern, bestimmte Werte, die sie vor einer allzu pragmatischen geschichtlichen Betrachtung bewahren wollten, ihrerseits ahistorisch zu verewigen. Auf jeden Fall kam hier der Konflikt zwischen moralischer Entscheidung und der geschichtlichen Chance ihrer Verwirklichung zur Sprache, der allgemein als zur Tradition der polnischen Romantik zugehörig empfunden wurde. Von einer „natürlichen" Fortsetzung der Tradition konnte also in Anbetracht der Auseinandersetzungen um eine sozialistische Gesellschaftsperspektive keine Rede sein. Unter diesem Gesichtspunkt griff Konstanty Ildefons Galczynski in seiner grotesken Szenenfolge Die Grüne Gans (1946-1950) die am 111
meisten verbreiteten wie verflachten Denk- und Verhaltensmuster an. Ihm war es nicht um eine heitere Versöhnung von alt und neu zu tun, sondern um den Nachweis, wie anachronistisch sich das messianistischheroisch-patriotische Pathos in der neuen Gegenwart ausnimmt. Dadurch, daß man über sie lachte, wurde die verfestigte Tradition für ungültig erklärt. Die Groteske brachte dabei ihre verdächtige Bindung an nationale Dummheit oder borniertes Klasseninteresse an den Tag. Freilich ging es Galczynski nicht um Könige und Feldherren, Heroenkult und Prophetie als solche, sondern um die Vergangenheit als geistig-emotionale Motivation aktueller Haltungen.4 Ein Beispiel. In der 2. Szene der Grünen Gans, einer lockeren Folge satirischer Sketche, werden dein Intelligenzler Gellgelle von zwei „Sternlein" verschiedene Wege gewiesen. „Erstes Sternlein (solo): Ich führe direkt nach Moskau. Zweites Sternlein (solo): Und ich nach London - my friend." Der Held beschwört das „Pathos", den „historischen Augenblick" und blättert, um die Entscheidung hinauszuschieben, inzwischen im Wörterbuch für Englisch und Russisch. In den Regieanweisungen heißt es: „Bei dem Wort .Kotelett' wird Gellgelle sehr nachdenklich." Aus der Not, sich überhaupt entscheiden zu müssen, befreit ihn das Dritte Sternlein (erscheint und singt): Komm, ich bin das dritte und ich geleite dich gern in die vergoldete Mitte in die Kneipe ,Zum Stern'. Gellgelle (lallt): Liebes, liebstes Sternlein. Dein Liedchen packt mich am tiefsten. Küßchen, Königin. Die Hauptsache ist die Tradition. Und Tradition, Martyrologie und Schwermut sind meine historische Mission. Und die Gedankenlosigkeit natürlich auch. Und der Skandal. Und das Abenteuer. Hörst du, Europa? 5 Indem Galczynski bestimmte Haltungen seiner Zeitgenossen verspottete - die Neigung zur Exaltation und zum Pathos, die Leidseligkeit, „den Heldenkult als Ersatz für ausbleibende Eigenleistung, die Lust an Legenden als politisches Programm, schließlich die Rückwärtsgewandtheit als Narkotikum gegen die Gegenwart und als Flucht vor der Zukunft" 6 griff er auch die tradierten Muster an, die solches vorbereitet hatten. Zieht man in Betracht, daß die Romantik die Überzeugung genährt 112
hatte, Poesie könne die Realität ungültig machen oder neu errichten, so läßt sich das Verhängnis einer romantischen Stilisierung der Politik als Nachahmung der Poesie leicht ermessen. Gegen alles Mythische gewandt, bekräftigte Galczynski den Wert des humanen und rationalen Elements. Damit legte er kein verneinendes oder affirmatives Verhältnis zur Vergangenheit an den Tag, sondern ein aktives und kritisches, welches Tradition als Aufgabe begreift. Die zwiespältige Funktionsweise der romantischen Tradition stellte die marxistische Literaturprogrammatik, wie sie in der Zeitschrift Kuznica (1945-1950, seit 1948 mit veränderter Redaktion) entwickelt wurde, vor ein schwieriges Problem. Das Bedürfnis nach Geborgenheit in einer kulturellen Kontinuität war nach den Zerstörungen des Krieges und der massenhaften Entwurzelung der Menschen verständlicherweise groß. Dem mußte Rechnung getragen werden. Zugleich aber war die Romantik im landläufigen Verständnis zum Zeichen einer traditionalistischen Haltung geworden, die nationales Pathos und moralisches Heldentum über die nüchterne Einsicht in die geschichtlichen Gegebenheiten und ihre sozialen Triebkräfte stellte. Da sich die marxistische Literaturkritik nicht in der Lage sah, den nationalmessianistischen Komplex der romantischen Kultur von den aktuellen konservativen politischen Implikationen zu trennen, versuchte sie eine Gegentradition mit den Schwerpunkten: Renaissance, Aufklärung, Positivismus (siebziger und achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts) unter Umgehung der Romantik aufzubauen. Von da bemühte man sich auch - allerdings wenig konsequent - den Realismusbegriff historisch zu fundieren. Diese betont rationalistisch und universalistisch angelegte Folge korrespondierte auffällig mit jenem Entwicklungsstrang, in den vor dem Kriege die Krakauer Avantgarde ihre Wirksamkeit eingeordnet sah. Der Versuch brachte zweifellos produktive Korrekturen in die Sicht der Vergangenheit ein, auf die Dauer kam man jedoch an der lebendigen kulturstiftenden Kraft des romantischen Modells, an seinen Leistungen und dem daran geknüpften Wirkungsvermögen nicht vorbei. Sobald beispielsweise das Postulat des Realismus auf die Poesie angewendet wurde und Traditionen benannt werden sollten, ging dies schwerlich ohne die Romantik. In der Praxis half man sich damit, daß man die Romantik rationalistisch umdeutete. Die Neigung der Kuznica-Kritiker ging spürbar in Richtung der klassizistischen Muster, während sie dem Expressionismus und Symbolismus eher ablehnend gegenüberstanden. Sie begrüßten die stilistische Disziplin, forderten 8
Olachowikf, Lyrik
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eine diskursiv-rhetorische und intellektuelle Lyrik - nannten das aber überraschenderweise „Erneuerung des romantischen Poesiekanons" 7 . Eine andere Möglichkeit, sich auf die Romantik zu berufen und dabei möglichst ihre Ambivalenz auszuschalten, war die Einschränkung dieser vielschichtigen Erscheinung auf einen formalen Katalog von Tropen, Strophenmustern, Metrik- und Reimschemata. Erst später wurden diese Merkmale zum allein gültigen nationalen Kanon erklärt, welcher der zeitgenössischen Lyrik ein hohes Maß an Kommunikativität ohne Niveauverlust gewissermaßen garantieren sollte. Welche poetischen Entwürfe hatten den Krieg überdauert, und woran konnte angeknüpft werden? Die früheren strengen Trennungslinien zwischen avantgardistischer und traditionsorientierter Lyrik hatten ihre Aktualität verloren, wenn auch die Problematik keineswegs aufgehoben war. Der polnische Futurismus war mit Ausnahme seiner revolutionären Spielart, wie sie z. B. Bruno Jasienski vertrat, der bereits 1938 verstarb, früh verebbt. Zu klassischen Mustern hin wandelte sich die surrealistische Lyrik von Adam Wazyk. Auch mit Gedichten, die während der Okkupation entstanden und verbreitet wurden, bestätigten die ehemaligen Skamandriten ihre Popularität. Jene von ihnen, die nach Kriegsende im Lande weiterwirkten, wie Julian Tuwim, Antoni Slonimski und Jaroslaw Iwaszkiewicz, standen der gesellschaftlichen Entwicklung aufgeschlossen gegenüber, fanden aber nicht zu neuem poetischem Ausdruck. 8 * Eine Ausnahme in dieser Beziehung bildete Leopold Staff, der Nestor unter den Dichtern, dessen literarische Anfänge noch in die Zeit des Modernismus fielen. Seine späten Gedichte zeigen eine bisher bei ihm unbekannte schmucklose Strenge und gedankliche Knappheit, so daß eine überraschende wie auffällige Verwandtschaft mit dem Nachkriegsdebütanten Rözewicz mehrfach festgestellt werden konnte. Als Programmangebot spielten die Skamandriten schon in den Debatten der dreißiger Jahre kaum mehr eine Rolle. Der Glaube an das Talent ersetzte ihnen das Streben nach einem genauer umrissenen gemeinsamen Programm in Poetik oder Ideologie. Entsprechend gering achteten sie die Notwendigkeit der Veränderungen in der Lyrik; sie waren eher geneigt, Widersprüche poetisch zu versöhnen, denn als treibende Kraft des Schaffens anzuerkennen. Aus diesen Gründen bezweifelte die Kritik im allgemeinen die Möglichkeit, das theoretische Skamander-Modell nach dem Krieg fortzusetzen, ohne daß seine praktischen Lösungen gering geschätzt wurden. Von der revolutionären Strömung der Vorkriegszeit blieb allein 114
Broniewski übrig, dessen Werk poetologisch mit den Skamandriten verwandt war und durch den Krieg eine besondere Entwicklung genommen hatte. Galczynski, der mit vielen poetischen Systemen gleichermaßen vertraut gewesen war, ohne sich einem einzigen gänzlich anzuvertrauen, behauptete seine Verbindung aus Sentiment und Satire und damit seine eigentümliche Position. Das Spielerische, Naive in seinen Gedichten machte die Nachkriegswirklichkeit umgänglicher, besänftigte ihre Härten. Entschiedener als früher brachte die spöttische Schärfe seiner Grotesken den Standpunkt eines Freundes einfacher Vernunft und einfacher Empfindungen zur Geltung, gleichviel ob Vergangenheit oder Gegenwart betrachtet wurden. Die Opposition zwischen Avantgarde und Skamander, die die zwanziger Jahre bestimmt hatte, hörte u. a. deshalb auf, eine gültige Alternative zu sein, weil schon in den dreißiger Jahren an die Stelle der Skamandriten die sogenannten Katastrophisten getreten waren. Ihre moralische und existentielle Betrachtung der Geschichte, die insbesondere deren bedrohliche Gewalt gegenüber dem Individuum akzentuierte (z. B. bei Czechowicz u. a.), hatte verschiedene Wandlungen erfahren. Die symbolistische Manier wird zurückgedrängt durch eine klassizisierende geschichtsphilosophische Reflexion; bei Miiosz trägt sie bitter-ironische, bei Jastrun pathetisch-rhetorische Züge. In der Auseinandersetzung mit dem Krieg wurden im Rahmen dieses Modells Erfahrungen gemacht, die der Nachkriegsdichtung zur Verfügung standen. Allerdings: Die von den Katastrophisten (im weitesten Sinne des Wortes) betriebene dämonische Fetischisierung der Geschichte, häufig abgeleitet aus dem Gegensatz zur idyllisch gesehenen Natur, stand dem Interesse nach soziologisch-historischer Erkenntnis der Wirklichkeit entgegen und stieß deshalb auf Kritik. In bezug auf jenes spezielle Aufgabenverständnis, auf dessen Grundlage die Lyrik in den Aufbau- und revolutionären Umgestaltungsprozeß im Lande direkter einzugreifen gedachte, bot sich das Modell der Krakauer Avantgarde durchaus als mögliches Anknüpfungsfeld an. Ein Konzept, dessen Grundlage konstruktive Arbeit war, das dem Dichter künstlerische Originalität zur gesellschaftlichen Pflicht machte und seine ästhetisch-gestalterische Tätigkeit jenseits thematischer Zwänge und pathetischen Sendungsbewußtseins als gesellschaftlich nützlich beschrieb - ein solches Konzept konnte gebraucht werden. Die Überzeugung der Avantgardisten freilich, daß der Aufschwung der technischen Zivilisation zwangsläufig auch hu8*
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manen Fortschritt mit sich bringe, wurde durch den Krieg untergraben. Ihre kreative Ästhetik, die sich geschichtsphilosophischer Kritik und moralischer Klage gegenüber unempfindlich zeigte, offenbarte folgerichtig am Kriegsgegenstand deutlich ihre Schwächen. Dennoch war es kein Zufall, daß Przybos, den stets großes theoretisches Interesse auszeichnete, in den Debatten der Jahre 1945/46 die Vorschläge der marxistischen Literaturkritik lebhaft aufgriff und produktiv diskutierte. Dabei erwies sich, daß eine bestimmte Affinität zwischen den von ihm vertretenen Prinzipien der Avantgarde und manchen programmatischen Vorstellungen der sozialistischen Kulturrevolution bestand. Drei Probleme seien vorgestellt, die in den damaligen Diskussionen um ein neues Selbstverständnis der Literatur und eine neue Vorstellung von ihrer Funktion eine wichtige Rolle spielten. 1. Zum Thema der nationalen Eigenart der Kunst äußerte Przybos, man müsse vermeiden, die Maßstäbe dafür aus einem mystifizierten Nationalcharakter abzuleiten, und verwies auf die in der Regel konservative Funktionsweise des Prädikats „nationaler Dichter" 9 . Brauchbare Anhaltspunkte liefere auch die Folklore kaum, denn ihre Strukturen enthalten durchaus nicht, wie häufig angenommen, die reine Ursprünglichkeit, sondern zeigen vielmehr internationale Einflüsse und Wechselbeziehungen. National werde die Kunst demnach nicht durch Selbstbescheidung ihrer Ausdrucksformen auf Althergebrachtes (so werde sie höchstens provinziell!), sondern dadurch, daß sie inmitten der Kunst anderer Völker höchsten künstlerischen Rang, größte Vollkommenheit erstrebt. Dazu müsse sie auf den fortgeschrittensten Errungenschaften der Gegenwart aufbauen. Für die Literatur, die zeitgemäß sein will, bedeute dies, in ideeller Hinsicht die gleiche gesellschaftliche Verantwortung für das Wort wahrzunehmen, wie sie die Sowjetliteratur praktiziert (dabei solle man aber von ihren Fehlern lernen!), und zugleich sich die Präzision und technische Brillanz westeuropäischer literarischer Leistungen zu eigen zu machen. 2. Den aus der programmatischen Losung „Poesie für alle" gezogenen Schluß, in der Demokratie sei der ein besserer Dichter, dessen Gedichte schlechthin zugänglicher sind, hielt Przybos für demagogisch. Es gebe keinen Poeten, von Dekadenten und Snobs abgesehen so argumentierte er - , der es sich nicht sehnlichst wünschte, von jedermann zu jeder Zeit gelesen und verstanden zu werden. Nicht zuletzt der Krieg habe die elementare Wahrheit ins Bewußtsein gerückt, daß ein Dichter, der nur für sich singt, „einem Taubstummen gleicht, der 116
von der Tribüne herab gestikuliert" 10 . Aber unter den historisch gegebenen Umständen müsse sich das Postulat „schreiben für alle" die Gegenfrage gefallen lassen, wie viele Analphabeten es noch in Polen gebe. Die erste gesellschaftliche Verpflichtung des Künstlers als Künstler sei die Pflicht der Kunst gegenüber. Dies schließe insbesondere in der Lyrik den Auftrag zum bewußten Überschreiten alter Schablonen ein. Es gehe dabei keineswegs darum, „nur" zu experimentieren; aber die ständige Erprobung neuer Materialien und Verfahren, um neue Sensibilität zu entdecken und zu ermöglichen, sei eines der Antriebe poetischer Arbeit überhaupt. Die gesellschaftliche Funktion der Erneuerung? Sie zeuge von einem moralischen Wandel oder von einem solchen Eindringen in die geschichtlichen Prozesse, daß deren Beurteilung zwangsläufig nach einer anderen Kunst verlange als jener, die die alten Verhältnisse bejahte. Przybos erinnerte an Majakowskis Vergleich der poetischen Energie mit der Elektroenergie, in dem es heißt, daß es der wenigen Kraftwerke und der vielen Verteilerstationen bedürfe, damit der Strom jedes Haus erreiche. In der Zukunft, so resümierte er, (also unter entfalteten sozialistischen Verhältnissen) möge das Problem der Kommunikativität allein vom Dichter abhängen, unter den gegenwärtigen Bedingungen bestehender kultureller Niveauunterschiede zwischen einer kleinen Schicht und den Massen, bei noch vorhandenem Analphabetismus und einem mangelhaften Schulsystem müsse an zwei Fronten vorgegangen werden: die demokratische Bildungsreform und eine „verständige Kritik" der Literatur müßten das ihre dazu beitragen. 11 3. Auch zum Problem Realismus und Tradition nahm Przybos Stellung. Er akzeptierte die Kurzformel: Realismus heiße Rückkehr zur Wirklichkeit, gab aber zu bedenken, daß ihre Allgemeinheit in der Anwendung auf die Lyrik dazu führen könnte, daß die Wirklichkeit auf die politischen Tagesereignisse und der Wirklichkeitsbezug des Gedichts auf das Thema eingeengt würden. Das Ergebnis wären dann Reportagen in Versen und gereimte Leitartikel. Im Gedicht, wo das lyrische Ich immer der „Held" ist, „kommt es auf die Art dieses lyrischen Ichs, auf seine gesellschaftliche Legitimation an", und nicht primär auf das Thema. 12 Was die Tradition betrifft, so zeigte er Verständnis für das Verlangen nach kultureller Kontinuität, betonte aber, man könne die letzten hundert Jahre der Entwicklung nicht einfach überspringen und einen Rückzug auf die Romantik praktizieren wollen. Deshalb 117
lehnte er die Forderung nach „großen" epischen Formen in der Lyrik als für das 20. Jahrhundert anachronistisch ab. Man könne eine künstlerische Idee, die ihren vollständigen Entwicklungsgrad bereits erreicht hat (wie das lyrische Poem in der polnischen Poesie des 19. Jahrhunderts), nicht weiter entwickeln wollen. Die Anlehnung an realistische Beispiele „garantiert" für Przybos noch keine realistische Lyrik. E r unterstrich die Bedürftigkeit des klassischen Erbes nach einer kritischen Interpretation, indem er daran erinnerte, was die Modernisten aus Slowacki herausgelesen hätten bzw. für welche reaktionäre Argumentation Norwid oder Mickiewicz herhalten mußten. Voraussetzung einer fruchtbaren Traditionsbeziehung sei „eine starke, gegenwartsbezogene schöpferische Haltung" 13 . Damit rückte er nicht die Nachahmung, sondern die Umarbeitung in den Mittelpunkt der Traditionsproblematik. Was aus der Konstellation poetischer Entwürfe, wie sie sich nach 1945 als Feld möglicher Anknüpfung darbot, tatsächlich genutzt wurde oder nicht und auf welche Weise dies geschah, hing nicht zuletzt vom Stellenwert der einzelnen Angebote in den kulturpolitischen Zusammenhängen ab.
Kulturpolitik und Literaturprogrammatik. Ein Exkurs Bevor wir uns der Lyrik im einzelnen zuwenden, soll die kulturpolitische Problematik der vierziger und fünfziger Jahre kurz gestreift werden. Eine umfassende Darstellung wäre hier weder angebracht noch möglich; was angeboten werden kann, ist ein Exkurs über ein wichtiges Konzept sozialistischer Literaturprogrammatik (das partiell auch offizielle Geltung erlangte), wie es der Schriftsteller und Kulturpolitiker Leon Kruczkowski (1900-1962) vorlegte. Dieses Konzept kann nicht als allein repräsentativ für die gesamte kulturpolitische Orientierung der Polnischen Arbeiterpartei (PPR) und späteren (ab 1948) PVAP gelten, denn daneben wäre zumindest der gewichtige kulturtheoretische Beitrag der marxistischen Zeitschrift Kuznica und vieles mehr zu würdigen. Gewählt wurde es vielmehr aus Gründen der Übersichtlichkeit, der trotz schroffer Wendungen sichtbaren Kontinuität und der Nähe zur schriftstellerischen Praxis. 1946 formulierte Leon Kruczkowski in seiner Eigenschaft als stellvertretender Kulturminister (1945-1948) einige grundlegende Ziele und Aufgaben der neuen Kulturpolitik. Er betrachtete sie als Folge 118
und als integralen Bestandteil jener Wandlungen, die Gestalt und Gehalt des polnischen Staates seit 1944/45 in revolutionärer Weise verändert haben - als Element der Kulturrevolution. Zu dem unausgesprochenen Kontext seiner Überlegungen gehörten die durch die Volksmacht nach und nach verwirklichten kulturrevolutionären Maßnahmen: demokratische Schulreform zur Schaffung einer einheitlichen, allgemeinen, siebenklassigen Grundschule mit neuen Bildungs- und Erziehungszielen; Programm zur Bekämpfung des Analphabetismus (Anteil der Analphabeten an der Bevölkerung: 1931 = 22,6 Prozent; 1950 = 5,5 Prozent); Vereinheitlichung der Oberschulen und Reform des Berufsschulwesens; Erweiterung des Netzes öffentlicher Bibliotheken; Ausbau der Hochschulen, Schaffung neuer Bildungsmöglichkeiten für die Werktätigen durch die sogenannten Bauern-Universitäten und Arbeiter-Universitäten; schließlich Verstaatlichung der Einrichtungen kultureller Distribution (Verlage, Theater, Kinoindustrie, Rundfunk). In Anbetracht der Verluste, die der Krieg der polnischen Kultur zugefügt hatte, war es eine Sache höchster Dringlichkeit, die materiellen Voraussetzungen für ein neues kulturelles Leben wieder herzurichten. Dazu mußte ein Vertrauensverhältnis zur schöpferischen Intelligenz angestrebt werden, um alle, die die Entwicklungsrichtung des neuen Polen nicht verneinten, zu integrieren. Die soziale Umgestaltung rief neue Klassen und Schichten als Kunstrezipienten und -Produzenten auf den Plan. Ihre Kulturbedürfnisse mußten befriedigt, ihre Kulturpotenzen geweckt und entfaltet werden. Vor diesem Hintergrund und mit Blick auf die Literatur formulierte Kruczkowski fünf Grundsätze: 1. Als Ausdruck der Schöpferkraft des Volkes, als Medium des gesellschaftlichen Bewußtseins und starkes integratives Element bedürfe die Kunst der Fürsorge des demokratischen Staates. Sachwalter dieser Fürsorge sollte die führende politische Kraft, die Polnische Arbeiterpartei (PPR), sein. Das verlange von ihren Vertretern Verständnis und jegliches Entgegenkommen für die besonderen Belange derer, die das Werk des kulturellen Aufbaus betreiben. 2. Die Kulturpolitik der polnischen Demokratie sei in die Zukunft gerichtet, sie strebe neue Wege, Inhalte, Formen des Schaffens und damit schließlich neue Haltungen der Künstler an. Zugleich wende sie sich den Leistungen der Vergangenheit zu, die einem veränderten und erweiterten Empfängerkreis zu vermitteln seien. Um dem Volk einen breiten Zugang zu den humanistischen Werten vergangener Li119
teratur bleibend zu gewährleisten, sei es notwendig, den bisherigen verlagspolitischen und verlagsrechtlichen Zustand zu ändern (der Anteil privater Verlage an der Buchproduktion betrug 1945: 55 Prozent, 1949: 23 Prozent). Insbesondere solle den Klassikern der Nationalliteratur Aufmerksamkeit geschenkt werden. Ideologisch sei eine parvenühafte Einstellung zum E r b e grundsätzlich auszuschließen. D i e hohe Wertschätzung der nationalen Tradition, die auch in anderen kulturpolitischen Aussagen anzutreffen war, stellte vor allem deren mobilisierende Wirkung in der Zeit nationaler Unterdrückung heraus. Mit der Würdigung ging aber auch das Postulat einher, der Tradition nicht blindlings zu folgen, sondern diese funktional zu betrachten und zeitgemäß zu interpretieren (vgl. dazu Gomulkas Äußerungen von 1946 zur polnischen Romantik 1 4 ). Kruczkowski ergänzte dies um den Grundsatz der selektiven Traditionsbildung. Danach gelte ein positives Verhältnis insbesondere zu jenen Werken, „die entweder schöpferische Elemente fortschrittlicher Ideen enthalten oder sich durch hohen künstlerischen Wert ihre Daseinsberechtigung in der Menschheitskultur erworben haben" 1 5 . 3. Nicht die Konjunktur des Marktes, sondern der Staat als hauptsächlicher Disponent wirtschaftlicher K r ä f t e und Mittel müsse die materiellen Grundlagen f ü r die Entfaltung der Kunst künftig sichern. Dabei gehe es nicht um Subventionen als ein System von Almosen, sondern um kühne, konstruktive Lösungen, die gesetzlich formuliert und garantiert werden müssen. 4. Eine der wichtigsten ideell-erzieherischen Aufgaben, die der politischen Avantgarde der Demokratie bevorsteht, sei es, alle künstlerisch und schöpferisch Tätigen für die Idee und Wirklichkeit des gesellschaftlichen Fortschritts zu gewinnen. Es müsse ihnen geholfen werden, die bürgerliche Auffassung vom elitären Wesen der Kunst zu überwinden, um sie zu der Überzeugung zu führen, d a ß der Bezug auf die Mehrheit des Volkes wahre Entfaltung der Kunst gewährleisten könne. 5. „Eine kluge, langfristige Kulturpolitik, die grundsätzlich eine lebendige Bindung der Literatur und Kunst an das Leben der Gemeinschaft, an die alltäglichen Probleme des gesellschaftlichen A u f baus postuliert, kann nicht jene Kunsterscheinungen leichtfertig abtun, die - scheinbar ,vom Leben losgelöst', gan2 versenkt in ihre eigene streng künstlerische Problematik - doch eine überaus wichtige Bedeutung f ü r die Entwicklung der Kunst besitzen und in diesem Sinne, nämlich als Laboratorien der Formen und Werkzeuge, künst120
lerischer Mittel und Verfahren auch gesellschaftlich nützlich sind." 16 Kruczkowskis Vorschläge zielten darauf, die von der ersten Phase der Kulturrevolution aufgeworfenen Probleme realistisch, aber auch mit konstruktiver Weitsicht zu lösen. Folgende Probleme zeichneten sich ab: Es ging um das Verhältnis der angestrebten eigenständigen sozialistischen Kultur zu den Leistungen der zeitgenössischen Weltkultur und zur Tradition. Aus den Debatten um den Proletkult der zwanziger Jahre mußten nun praktisch-kritische Schlußfolgerungen gezogen werden. - Konnte die Kluft zwischen der Kultur der Volksmassen und der hochentwickelten Kultur der Elite durch nivellierende Angleichung nach der einen oder anderen Seite hin überbrückt werden? Bedeutete Demokratisierung der Kultur und Kunst Anpassung an das vorgefundene durchschnittliche Rezeptionsvermögen der Massen? Welcher Platz kam den Erfahrungen der künstlerischen Avantgarde zu? Gestützt auf die Erkenntnis von der Ungleichmäßigkeit künstlerisch-geistiger und ökonomisch-gesellschaftlicher Entwicklung, hob Kruczkowski die Langfristigkeit der Kulturprozesse als ein spezifisches Moment ihrer Eigengesetzlichkeit hervor. Das erlaubte ihm, das Verhältnis von gesellschaftlichem Wandel und künstlerischer Neuerung dialektisch zu fassen. Er würdigte die Verpflichtung des Schriftstellers, seine Ausdrucksmittel und Verfahren zu überprüfen und zu vervollkommnen, und brachte sie mit den Verpflichtungen dem Publikum gegenüber in Zusammenhang. Insgesamt betrachtet, knüpfte Kruczkowski an Vorstellungen an, die von der marxistischen Literaturkritik in den dreißiger Jahren im fruchtbaren Dialog mit der Avantgarde entwickelt worden waren (z. B. die von I. Fik, D. Hopensztand und anderen). Die Allgemeinheit der politischen Bestimmungen dieses Programms: Demokratie, Fortschritt, das Fehlen des Begriffs „Sozialismus", deutet auf die frühe Phase volksdemokratischer revolutionärer Umwälzung hin, in der es galt, alle patriotischen Kräfte zu sammeln. In dieser Beziehung waren also im Verlauf der weiteren gesellschaftlichen Entwicklung gewisse Korrekturen durchaus zu erwarten. Wichtige Punkte dieses Literaturkonzepts kamen im Streit mit verwandten und konträren Positionen bis etwa 1948 in den polnischen Literaturverhältnissen zum Tragen. Der Realismus-Begriff, den die marxistische Kritik (vor allem die der Zeitschrift Kuznica) in die damaligen Debatten einführte, war weit und historisch gefaßt. 121
E r zielte auf die Beförderung des Verständnisses, daß das Schicksal des Menschen und folglich auch sein Bild nicht allein von der Psychologie und Biologie geprägt werden, sondern vor allem von der Sozialgeschichte. 17 E s ging um eine Literatur, die sich in der L a g e sah zu begreifen, was sich geschichtlich ereignet hatte und noch ereignete, es ging keinesfalls um das Vorschreiben einer bestimmten Poetik. In den Jahren 1949-1955 wich die kulturpolitische Praxis erheblich von diesem Konzept ab, woran auch Kruczkowski als Vorsitzender des Schriftstellerverbandes (1949-1956) seinen Anteil hatte. Wie ist es dazu gekommen? Unmittelbar nach dem Krieg erkannten die Schriftsteller die Abrechnung mit dem Faschismus als ihre vorrangige Aufgabe, die sie im allgemeinen künstlerisch überzeugend lösten. Daneben blieb die in der Literaturkritik und in kulturpolitischen Postulaten nach wie vor herausgestellte Notwendigkeit bestehen, sich der neuen Realität zuzuwenden. Die Jahre 1948/49 brachten in dieser Beziehung eine gewisse Zäsur. Deren politische, kulturpolitische, theoretische und kunstpraktische Voraussetzungen, Zusammenhänge und Verwicklungen bedürfen einer gesonderten Untersuchung, können hier also nicht eingehend dargelegt werden. Lediglich einige wichtige Aspekte sollen zur Sprache kommen. Auf dem Schriftstellerkongreß in Szczecin (1949) wurden im Zusammenhang mit dem programmatischen Stichwort des sozialistischen Realismus folgende Grundsätze aufgestellt: 1. Engagement für den sozialistischen Aufbau; 2. Gestaltung der neuen Helden, d. h. des geistigen Wandels insbesondere jener Menschen, die mit der gesellschaftlichen Umwälzung heranwuchsen; 3. Ausstattung der Schriftsteller mit der marxistischen Theorie der Gesetzmäßigkeiten gesellschaftlicher Entwicklung. 18 So allgemein gefaßt, waren diese Postulate durch den inzwischen erreichten Entwicklungsstand gerechtfertigt, sie verrieten aber noch nichts von den enormen Schwierigkeiten ihrer Umsetzung. Ausgehend von der Annahme eines „Umbruchs", trat nun die Kritik und Publizistik der Literatur mit ungeduldigen Forderungen entgegen. Die Funktion sozialistischer Literatur wurde mit dem erzieherisch-agitatorischen Auftrag umrissen, der einzig auf die Vorbildwirkung zu bauen hatte, wobei der Gegenwart, dem Thema des sozialistischen Aufbaus absoluter Vorrang eingeräumt wurde. (Das aktuelle Thema wurde gar als hinreichendes Kriterium des sozialistischen Realismus genommen!) In der literarischen Praxis wurde weniger die widersprüchliche und konfliktreiche Herausbil122
dung neuer Verhältnisse verfolgt, vielmehr wurden als ideal gesehene zukünftige Zustände in die Gegenwart projiziert. Das Programm von Szczecin entstand in einer Zeit, in der unter dem Einfluß des Personenkults allgemein eine Dogmatisierung marxistischer Ideen zu beobachten war. Die Auswirkungen der von Shdanow 1948 in der Sowjetunion eröffneten Formalismus-Diskussion liefen auf eine abgewandelte Wiederaufnahme der isolationistischen Thesen des Proletkults hinaus. Hatte es in den zwanziger Jahren geheißen, die proletarische Kultur könne sich entwickeln, ohne auf die übrige Kultur zu schauen, so lautete nun die These: Sozialistische Kultur könne sich allein durch Anknüpfung an klassische Kunstnormen des 19. Jahrhunderts entfalten und müsse die „ N a b e l s c h n u r", die sie mit der „reifen Kultur der privilegierten Klassen", also mit dem 20. Jahrhundert verbindet, kappen. 19 Daß ein weites kulturpolitisches Programm nach 1948/49 nicht zum Zuge kam, hing auch mit innenpolitischen Auseinandersetzungen zusammen. Etwas davon beleuchtet Kruczkowskis Äußerung noch aus dem Jahre 1946. Darin spricht er von dem „sanften Charakter" der gesellschaftlichen Umwälzung in Polen. Die Bodenreform, Verstaatlichung von Industrie und Banken, die Maßnahmen zur Entkommerzialisierung der Kultur und die demokratische Reform des Schulwesens - dies alles faßt er in die Formel von der „unblutigen Revolution" zusammen. 20 Der weitere Lauf der Dinge zeigte jedoch, daß es dabei nicht blieb. Bis 1948 mußten heftige, bürgerkriegsähnliche Kämpfe mit dem reaktionären Untergrund geführt werden, als deren Folge allein auf seiten der Volksmacht 20 000 Opfer zu beklagen waren. 1948 kam es zu folgenschweren personalen Veränderungen in der Führung der Polnischen Arbeiterpartei. Nimmt man die internationalen Spannungen mit den Symptomen des einsetzenden „kalten Krieges" hinzu (z. B. das systematische In-Frage-Stellen der polnischen Westgrenze durch imperialistische Politiker), so wird klar, daß dies nicht ohne Auswirkungen auch auf die kulturelle Atmosphäre bleiben konnte. Über die tatsächliche Entwicklung der frühen fünfziger Jahre, ihre Leistungen und Grenzen reflektierte Kruczkowski in einer Rückschau auf dem VII. Kongreß des Polnischen Schriftstellerverbandes 1956 und in anderen Äußerungen aus dieser Zeit. Bleibende Gültigkeit sprach er vor allem den grundlegenden kulturrevolutionären Leistungen zu: neue Erschließung der klassischen Kulturwerte und ihre Verbreitung im Volk, Erweiterung der sozialen Basis derer, 123
die rezipierenden und schöpferischen Umgang mit der Literatur pflegen können. Unter den Schriftstellern seien bestimmte kulturpolitische Prinzipien des Sozialismus Allgemeingut geworden. Besonders wichtig wäre dabei die Überzeugung, daß die menschliche Arbeit zum zentralen Feld literarischer Bemühungen gehöre. Dies auch deshalb, weil der Bereich der produktiven Tätigkeit (vom bäuerlichen Gegenstand abgesehen) bisher in der polnischen Literatur und der deutlich durch ihre adlige Herkunft geprägten Kultur eher vernachlässigt worden sei und weil es im 20. Jahrhundert an einer starken proletarischen Tradition in der Prosa fehlte. Schließlich verwies Kruczkowski darauf, daß die Verbindung von künstlerischen und gesellschaftlichen Neuerungen, die Abkehr von einer jenseits oder über der Politik stehenden Literaturauffassung 1945 nicht selbstverständlich gewesen sei. D i e Einseitigkeiten und der Schematismus hätten sich vor allem in der administrativen Methode der Durchsetzung kulturpolitischer Prinzipien offenbart. Von der Literaturkritik sagte Kruczkowski z. B., sie habe die allgemein gehaltenen kulturpolitischen Postulate „in die Sprache des alltäglichen Schematismus, des Zensuren-Verteilens, der Vorschriften und Belehrungen" umgesetzt. 21 D i e schädlichen Folgen stellt er wie folgt dar: schlechtes K l i m a für ehrgeizige künstlerische Unternehmungen; Ermutigung zum billigen Durchschnitt, zur seichten Gefälligkeit, was u. a. zur Demoralisierung gerader junger, unerfahrener Autoren geführt habe, die sich zu einer zynischen Haltung gewissermaßen angehalten fühlten. Die oberflächliche Auffassung der didaktischen und agitatorischen Aufgaben entwertete die Glaubwürdigkeit des persönlichen Engagements eines Künstlers und ließe den Begriff der „kulturellen Bedürfnisse" der Gesellschaft verkümmern. D i e vulgäre Handhabung des Kriteriums „progressiv" und „reaktionär" erbrachte eine verengte Traditionswahl und eine Isolierung von den zeitgenössischen kulturellen Tendenzen der Welt, wodurch eine angemessene Aufnahme fremder Werte wie auch die Ausstrahlung der eigenen, sozialistischen verhindert worden sei. Aus Mangel an Geduld gegenüber der langfristigen literarischen Entwicklung würden kurzatmige, von politischen Zäsuren direkt abgeleitete „Umbrüche" verkündet. Indessen habe ein „gesunder Entwicklungsprozeß gefehlt, der im Streit der Anschauungen deren Evolution" ermöglicht hätte. 22 Bei aller notwendigen Kritik, so betonte Kruczkowski, dürfe jedoch all das nicht übersehen werden, was in den Jahren 1949-1955 geleistet worden sei. Darum sollte die kritische Auseinandersetzung 124
nicht „vor 1949" zurückkehren wollen. Genausowenig sei es jetzt von Nutzen, die abstrakte Antinomie von Idee und ihrer Verwirklichung zu pflegen oder Vorstellungen vom „Bösen, das jeglicher Macht innewohne", Raum zu geben - weil diese letztlich auf eine Abkehr des Schriftstellers von jedem ideellen Engagement hinausliefen. 23 Es gelte vielmehr, die Chance der neuen Perspektive zu ergreifen. Dies bedeute, literarische Arbeiten vorzulegen und eine kulturelle Atmosphäre zu schaffen, welche die neue Aufgabe der Gesellschaft - Festigung und Entfaltung der sozialistischen Demokratie als Form des Aufbaus des Sozialismus - voranbrächten. Kurz: Es gehe um den sozialistischen Inhalt der Kultur, und dazu braucht es vieler Meinungen und Ansichten derer, die die Entfaltung des Sozialismus wollen. „Eine Rückkehr ins Gestern wollen wir nicht, ungeachtet dessen, was wir uns heute vorzuhalten haben. Der Sozialismus in Polen ist nämlich nicht eine Angelegenheit der Staatsräson' oder der .geographischen Lage', wie auch einige unserer Schriftsteller anzunehmen geneigt sind. Er ist für uns heute nicht nur der einzige Weg nationaler Entwicklung, sondern auch einer, den wir für vernünftig und schön, wenn auch schwierig halten." 24 Die kulturpolitischen Grundsätze, die der III. Parteitag der PVAP (1959) formulierte, knüpften in manchem an Kruczkowskis Vorstellungen von 1946 an und konkretisierten sie auf die neue Situation hin: „ . . . befreit von den Fehlern des Dogmatismus sichert sie (die Kulturpolitik der Partei - H. O.) den Kunstschaffenden jegliche Entwicklungsmöglichkeiten, die materielle Fürsorge des Staates, die Freiheit der Suche nach künstlerischen Lösungen, ohne administrative Eingriffe in Fragen der schöpferischen Werkstatt. Die Meinungen und Bedürfnisse der Volksmassen ausdrückend, kämpft die Partei mit ideellen Mitteln um eine Kunst, insbesondere um eine Literatur, die den Werktätigen zugänglich, verständlich und nah ist und deren sozialistischen Bestrebungen Ausdruck gibt . . . Sie unterstützt auch alles fortschrittliche Schaffen, das die gedanklichen Horizonte des Menschen erweitert, sein moralisches Antlitz prägt und seinen Schönheitssinn ausbildet", desgleichen jene künstlerische Produktion, „die anderen gesunden Bedürfnissen des Menschen Rechnung trägt, wie dem Bedürfnis nach Erholung, kultureller Entspannung, Abwechslung usw." 25 Dieser Exkurs sollte Kontinuität und Diskontinuität literaturprogrammatischer Vorstellungen in den ersten zehn Jahren Volkspolens am „Werdegang" eines individuellen Konzepts erhellen. 125
Das Modell Rd&mcz Am Werk von Tadeusz Rözewicz, der bedeutendsten poetischen E r scheinung des ersten Jahrzehnts Volkspolens, lassen sich die tiefgreifenden Veränderungen überzeugend vorführen, zu denen sich die Lyrik, um der Bewältigung einer veränderten Realität willen, veranlaßt sah. Welcher Art diese Veränderungen waren, was mit ihnen geleistet werden konnte und wo sich ihre Grenzen zeigten - soll im folgenden untersucht werden. „Grund und Antrieb für meine Dichtung ist auch der H a ß gegen die Poesie. Ich rebellierte dagegen, d a ß sie das ,Ende der Welt' überlebt hat, als wäre nichts geschehen. Unerschütterlich in ihren Gesetzen, Gebrauchsanweisungen, Praktiken." „Ich weiß nicht, ob Poesie ohne Metapher möglich ist, und ich bin weit davon entfernt, irgendwem Ansichten dieser Art aufzuzwingen. Doch ich versuche es immer wieder aufs neue und greife das Bild die Metapher - von allen Seiten an, um sie als überflüssiges Dekor auszumerzen." 26 Zwei Aussagen eines Dichters. Die erste nennt einen der Gründe, die ihn zum Schreiben bewegen. Die zweite definiert die Folgen, die sich daraus für seine Art zu schreiben ergeben. Daran knüpfen sich Fragen. Welche menschliche, literarische und gesellschaftliche Situation kristallisiert sich in diesem Protest? Ist der vorgeschlagene Weg der Selbstaufhebung der Poesie als Verfahren ihrer Läuterung gangbar? Welcher Ausweg wird in der Praxis gefunden und was bleibt Utopie?
Zeugnis geben Überzeugt davon, daß das Erlebnis der Okkupation eine unvergleichliche Erfahrung im Leben des einzelnen und des gesamten Volkes bedeutete, fühlt sich Rözewicz verpflichtet, Zeugnis zu geben. In dem Bemühen, einen angemessenen sprachlichen Ausdruck für sein Grunderlebnis zu finden, stößt er auf die Unmöglichkeit, in hergebrachter Weise auszusprechen, was herkömmliches Begreifen überstieg: Nein - ich kann ihnen unmöglich sagen daß ein Mensch dem anderen an die Gurgel springt. 27 126
Aus diesem humanistischen Dilemma zieht er seine poetologischen Schlußfolgerungen. Er attackiert im Namen der geschichtlichen Realität und seines subjektiven Erlebnisstoffes die überlieferten ästhetischen Regeln und Gewohnheiten. Die Aufgabe, einen neuen poetischen Ausdruck zu gewinnen, rief sofort das Traditionsproblem auf den Plan, wobei für Rözewicz vor allem zwei Modelle von Belang waren: die konstruktivistische Poetik der Krakauer Avantgarde und die Lyrik der Katastrophisier. In Opposition, aber auch in Anknüpfung zu beiden umreißt Rözewicz die Verfassung des Menschen zwischen Krieg und Frieden, wie er sie sieht. Diese Bestandsaufnahme leisten im wesentlichen Gerettet und Lamento.28 Zusammengefaßt lautet ihr Befund so: Das lyrische Subjekt ist von der Überzeugung beherrscht, ein grundsätzlich zum Tode Verurteilter gewesen zu sein, der zufällig davongekommen ist „Ich bin vierundzwanzig / und entkam / als ich zum Schlachten geführt ward". Überkommene, darunter auch religiös fundierte moralische Kriterien und ihr sprachlicher Ausdruck sind ausgehöhlt worden ; ihre Eindeutigkeit behalten die Namen „Mensch und Tier / Liebe und Haß /Freund und Feind" oder die Kategorien „Tugend und Frevel / Wahrheit und Lüge / Schönheit und Häßlichkeit" nur, weil sie leer geworden sind. Mit ihnen ist die Wirklichkeit nicht mehr zu beschreiben, denn das Ich hat erfahren müssen, daß es tugendhafte Frevler gibt und Mörder, unschuldig wie ein blindes Werkzeug. Die Verpflichtung zum Zeugnis spitzt sich also auf das Problem einer neuen poetischen Sprache zu, die den wirklichen Erfahrungen angemessen wäre und mit deren Hilfe eine stabile Ordnung menschlicher Werte - ohne religiösen Trost - wiederhergestellt werden könnte. Welche geschichtlichen Realien reflektiert diese Bewußtseinslage? Zur Charakteristik faschistischer Exterminationspolitik in Polen gehörte es, daß jeder, nicht etwa nur der im bewaffneten Widerstand Stehende, tödlich gefährdet war. Von den 6 Millionen Bürgern, die Polen während des zweiten Weltkrieges verlor, sind allein 90 Prozent Opfer willkürlichen Terrors geworden. Am deutlichsten offenbarten dieses Vorgehen die Konzentrationslager. Dort war jeder Insasse grundsätzlich zum Tode verurteilt. Ob es eher oder später geschah, entschied der Zufall. Jedes Opfer hätte zufällig überleben können, jeder Überlebende ebenso zufällig sterben. Auch unter seinen Altersgenossen in der Literatur, dem Kreis junger Warschauer Dichter, erfuhr sich Rözewicz als Überlebender. Der deutsche Faschismus hatte ein ruchloses System der Ernie127
drigung geschaffen, in dem das Opfer von den Henkern für ihre Praktiken in Dienst genommen wurde. Ziel war die Herabwürdigung der unterjochten Völker zu Tieren. 1943 verkündete Himmler vor der SS: „Wir Deutschen, die wir als einzige auf der Welt eine anständige Einstellung zum Tier haben, werden ja auch zu diesen Menschentieren eine anständige Einstellung einnehmen."29 Hier sprach sich eine Ideologie jenseits aller Moral aus, deren Verwirklichung unter anderem Auschwitz war, eine Einrichtung, in der man systematisch die Erniedrigung des Menschen betrieb. Die Aufzeichnungen des Lagerkommandanten Rudolf Höß belegen zum Beispiel: Die Aushungerung der Häftlinge wurde soweit getrieben, daß es zu Fällen von Kannibalismus gekommen ist. Dadurch, daß der nationalsozialistische Rassenwahn mit dem ökonomischen Potential des deutschen Imperialismus sich verquickte und diesem Gewinne sicherte, wurde er zu einer menschheitsbedrohenden Realität. Dieses System besorgte die technologisch perfekte Ausbeutung seiner Opfer, gleichviel ob lebendig oder tot. Es bildeten sich auch die Todesverwalter heran, die ruhigen Gewissens nach optimalen Möglichkeiten des Mordens suchten. In dieser Hinsicht war Rudolf Höß eine beispielhafte Figur. Über die erste Anwendung von Cyclon B berichtete er: „Über die Tötung der russischen Kriegsgefangenen an und für sich machte ich mir damals keine Gedanken. Es war befohlen, ich hatte es durchzuführen. Doch ich muß offen sagen, auf mich wirkte diese Vergasung beruhigend, da ja in absehbarer Zeit mit der Massenvernichtung der Juden begonnen werden mußte, und noch war weder Eichmann noch mir die Art der Tötung dieser zu erwartenden Masse klar . . . Nun hatten wir das Gas und auch den Vorgang entdeckt." 30 Die Mischung aus kleinbürgerlicher Wohlanständigkeit, stumpfsinnigem Gehorsam und Zynismus empfand Rozewicz als eine Herausforderung. Zu dem letzten, borniert uneinsichtigen Satz aus Höß' Autobiographie, der Bitte nämlich, man möge seine „weichen Regungen, . . . geheimsten Zweifel der Öffentlichkeit nicht preisgeben", denn diese „würde doch nicht verstehen, daß er auch ein Herz hatte, daß er nicht schlecht war" - bemerkte Rozewicz später: „Ich halte diese Worte für die furchtbarste Anklage des modernen Menschen." 31 Auf diese Bezugspunkte hin ist das Subjekt in Rozewicz' Dichtung angelegt. Fragwürdig war auch der Komplex nationaler und soldatischer Tugenden geworden; die Begeisterung der Jugend, die in den Rei128
hen der Landesarmee (AK) gekämpft hatte, wurde zu politischen Ränkespielen mißbraucht. Vaterland, Patriotismus, Tapferkeit, Kameradschaft, Soldatenehre, Heldentum - was in der Kampfzeit eindeutig gewesen war, durch die romantische Legende bestätigt und erhoben, begann gegen Ende des Krieges und danach in der Handhabung Londoner Emigrationspolitiker zu schillern. Schon in dem ersten Gedichtband zieht Rozewicz zwischen sich und den Herrschenden von vor 1939, von denen er sich betrogen fühlt, einen Trennungsstrich. Auch hier also war eine neue Bestimmung nötig. Um zu erfassen, was der Krieg für den Überlebenden bedeutet, exponiert Rozewicz einige Relationen zwischen lyrischem Ich und Umwelt besonders stark, so z. B. das Verhältnis zur Natur, zu den gefallenen Kameraden, zum weiblichen Partner. Eine eingehende semantische Analyse des ersten soll zeigen, wie Rozewicz das Problem der Erneuerung seiner sprachlich-poetischen Struktur anpackt.
Sprechen lernen vom
Anfang
Rose 1 Rose - es ist eine Blume 2 oder der Name eines toten Mädchens 3 Rose - in die warme Hand zu legen 4 oder in die schwarze Erde 5 Die rote Rose schreit 6 die goldhaarige ging schweigend fort 7 Dem blassen Blütenblatt entwich das Blut 8 die Gestalt verließ des Mädchens Kleider 9 Sorgsam umhegt den Strauch der Gärtner 10 der Vater der überlebt hat verzweifelt 11 Fünf Jahre sind seit Deinem Tod vergangen 12 der Liebe Blüte die da ohne Dornen 13 Heute ist die Rose im Garten aufgeblüht 14 der Lebenden Gedächtnis und Glaube sind tot. 32 9
Olschowsky, Lyrik
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Schon ein flüchtiger Blick auf dieses „prosaische" Gedicht läßt erhebliche Unterschiede zur Lyrik von Przybos und zu anderen poetischen Mustern erkennen. Die lexikalische Metapher tritt zurück, im Vordergrund steht die direkte Aussage, sprachmusikalische Elemente sind weitgehend eliminiert, die Syntax ist usuell; die aufgenommene Wirklichkeit erscheint sprachlich nicht deformiert. So erhebt sich die Frage: Wie realisiert dieser Text seine poetische Funktion? Das zweigliedrige Modell der Definition, einer Worterklärung, liefert das kompositorische Gerüst und übernimmt weitere wichtige Funktionen. Erklärt werden die beiden Varianten des Homonyms „Rose": Die ungeraden Zeilen beziehen sich auf „Blume", die geraden auf „Mädchenname". Das geschieht in einer Folge syntaktisch paralleler, nicht erweiterter Hauptsätze, ohne Enjambement. Die emotionale Neutralität und der endgültige Charakter der Definition wirken den Elementen, die Träger von Gefühlswerten sind, entgegen und steigern zugleich kontrastisch ihre Aussage. Einer solchen Wirkung unterliegt in Zeile 2 das Adjektiv „toten". Was im Gedicht fortan mit Rose gemeint ist, ist nicht ein Mädchenname schlechthin, sondern der Name eines toten Mädchens. Die Spannung der Gefühlswerte zwischen Zeile 1 ( + ) und Zeile 2 (-) gibt ein: thematisches Element des Gedichts vor. Bis Zeile 5 kommt nur Lexik in eigentlicher Bedeutung vor, dort erst steht die erste metaphorische Konstruktion, deren Verb eine übertragene Bedeutung realisiert. Diese Konstruktion, ein Anthropomorphismus, wird gewonnen durch die wörtliche Auffassung einer phraseologisch verblaßten Metapher: schreiende Farbe. Die Blume erfährt starke Aktivierung, wird als handelndes Subjekt angesehen. Zur nächsten Zeile stellt sich der Kontrast durch die Farbbezeichnungen „rote" - „goldhaarige" und die Antonyme „schreit" - „schweigend" her. Hier werden Vorstellungen von aktiv und passiv, still und laut, wie sie natürlicherweise menschlichem und pflanzlichem Leben zugeordnet werden, umgekehrt. Im folgenden Zweizeiler ist die Konstruktion „entwich das Blut" kaum noch als metaphorisch anzusprechen, stützt sie sich doch auf eine verbreitete phraseologische Verbindung. Unter dem Einfluß des syntaktischen Parallelismus wird die Bedeutung von „Gestalt" in Funktionsanalogie zu „Blut" aktualisiert. Nicht mehr das Mädchen, nur noch ihr Umriß wird genannt; die Person entschwindet dem Vorgang, wird immer unsichtbarer - nur noch eine undeutlich wahrnehmbare Erscheinung. 130
Die Zeilen 9 und 10 nehmen wieder den semantischen Kontrast auf: „sorgsam umhegt" - „verzweifelt". Die Bestimmung „der überlebt hat" motiviert die starke Expressivität des folgenden Verbs, denn sie hebt das für Rözewicz bezeichnende paradoxe Schicksal des überlebenden Vaters einer toten Tochter hervor. Die Wendung „der Liebe Blüte" (wörtlich: Blume der Liebe) in Zeile 12 ist eine in der Hochsprache eingebürgerte verblaßte Metapher für die Blume: Rose. Im Kontext des Zweizeilers ist sie aber auf das Mädchen bezogen und wird durch diese Konkretisierung metaphorisch wirksam; Furcht und Objekt elterlicher Liebe. Die solcherart als übertragen aktualisierte Bedeutung von „Blume" gerät sofort in Spannung zur konkreten Bedeutung „Dornen", die das Rose-Dorn-Motiv ins Spiel bringt. Jedoch nicht der sprichwörtliche und lyrisch variierte Gedanke: Keine Rose ohne Dornen, sondern sein Gegenteil wird vorgeführt. Rose (das Mädchen) ist ohne Stacheln wehrlos, sie kann niemandem Schmerz zufügen, vermag sich nirgends mehr festzumachen, denn - damit sind wir bei den letzten Zeilen - sie ist selbst aus dem Gedächtnis der Lebenden gewichen. Noch einmal haben wir den Kontrast zwischen Lebenserneuerung auf der Ebene der Natur „Rose . . . aufgeblüht" ( + ) und dem Verlust, dem Tod im menschlichen Bereich: „Gedächtnis und Glaube sind tot" ( - ) . Gegenstand des Gedichts ist das Verhältnis von Mensch und Natur. In seiner Struktur, bestimmt vom Definitionsmodell, ist ein Vorgehen verwirklicht, das der Autor an anderer Stelle so beschrieben hat: „Ich schuf Poesie für Entsetzte. Für dem Gemetzel Preisgegebene. Für Überlebende. Wir lernten das Sprechen vom Anfang. Sie und ich." 33 Um die Nachkriegswirklichkeit adäquat zu benennen, mußte eine neue Sprache erlernt werden. Sprachliche Deformierung der Wirklichkeit, wie sie die Avantgarde bevorzugte, wäre hier fehl am Platze gewesen, denn die wirklichen Zerstörungen (eben auch Deformierungen!) schienen poetisch nicht überbietbar zu sein. Sie verlangten nach einem möglichst genauen Ausdruck. Eine solche Entsprechung zwischen Sprache und Realität herzustellen, unternimmt nun das lyrische Subjekt, darum ist Rose der Name eines t o t e n Mädchens. Von daher erhält auch das konsequente Bevorzugen eigentlicher Bedeutungen, das Streben nach der Eindeutigkeit sinnlich verifizierbarer Erfahrungen seine ästhetische Rechtfertigung. In der lyrisch-axiologischen Relation wird die Unmittelbarkeit des Gefühls durch die Definition gezügelt und sein 9«
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diskreter Ausdruck gefördert. In positiver, aber gewandelter Aufnahme avantgardistischer Forderungen werden Emotionen mit männlicher Zurückhaltung umschrieben, nicht benannt, ohne dadurch ihre Intensität zu vermindern. Mit Rose (Blume) und Rose (Mädchen) ist nicht nur ein phonetischer Parallelismus gegeben, der durch semantische Bestimmung immer wieder durchbrochen wird, sondern zugleich auch ein literarisch-traditioneller, in dem die Aussagen über Blume und Mädchen gleichgerichtet und in ihrem Gefühlswert positiv gefaßt sind. Damit liegt eine historisch relevante Struktur vor. Eine reiche Tradition der Liebeslyrik setzte beide Elemente symbolisch in eins. Diese Tradition wird von Rözewicz im Homonym gewissermaßen sprachlich objektiviert. Ihres literarhistorischen Wertes ist sich der Dichter dabei durchaus bewußt. In einem späteren Gedicht heißt es: eine Frau wie eine Blume leg den schönen alten Vergleich beiseite34 Dieses Zur-Seite-Legen eines schönen, aber heute nicht brauchbaren Vergleichs vollzieht das Gedicht praktisch. In einer Art negativer Allegorie wird der Nachweis geführt, daß die Schicksale von Rose und Mädchen nicht mehr konvergent sind, sondern divergent. Dieser Zustand wird nicht bejaht. Die Überzeugung von der natürlichen Berechtigung der Harmonie beider Schicksale bildet den Hintergrund für die Wirkung der elegischen Anklage. Das strukturelle Äquivalent dieser Überzeugung ist eine solche Aufnahme des Rosenmotivs, daß Mädchen und Blume als fraglos vergleichbar miteinander erscheinen. Die elegische Haltung stützt sich auf die Zuordnung der semantischen Elemente aktiv, laut, beschützt und des Gefühlswerts major ( + ) zum Bereich der Natur, während dem menschlichen Bereich, durch die Wahl eines Kindes als Repräsentanten motiviert, die Elemente passiv, wehrlos, unbeschützt und der Gefühlswelt minor (-) zugeordnet werden. Bisher von der Lyrik intimen Charakters bevorzugt, ermöglicht das nun umfunktionierte Motiv eine intensivere Anklage der Kriegszerstörungen, als es die bataillistischen Details vermöchten. Gerade durch konsequente Individuation hebt sich das Gedicht zum Allgemeinen. 132
Kann man den Akt des Spracherlernens als ästhetischen Schlüssel des Gedichts Rose bezeichnen und zugleich als ersten Schritt des dichterischen Subjekts auf die Wirklichkeit hin, so bemüht sich das Subjekt an anderer Stelle (Wie gut), die Wirklichkeit selbst neu zu erlernen, elementare Wahrnehmungen einzuüben. Wie gut Ich kann Beeren pflücken im Wald ich dachte Wald gibt es keinen und keine Beeren. Wie gut Ich kann ausruhen im Schatten des Baumes ich dachte Bäume geben nie wieder Schatten. Wie gut Ich bin bei dir da schlägt mein Herz und ich dachte der Mensch hat kein Herz mehr. Die strenge Komposition der drei Vierzeiler, unterstützt von einer klaren syntaktischen Gliederung (3 mal 3 Sätze: Satzellipse + Hauptsatz + Haupt- und Nebensatz), bereitet eine hierarchische Stufung der Aussage vor. Strophe 1 erfragt das grundsätzliche Vorhandensein der Naturdinge „Wald" und „Beeren". Aus der Perspektive erfahrener Verwüstung fühlt sich das Subjekt freudig zu alltäglichen Handlungen gedrängt. Dabei werden die Naturdinge wiederholt aufgezählt, ohne auf Pronomen auszuweichen. Dieser beschwörende Duktus, wie ihn der Psalm kennt, unterstreicht, daß wichtig ist, worüber gesprochen wird, daß die materielle Authentizität eingefangen und bejaht werden soll. Strophe 2 stellt nicht mehr das Dasein der Natur in Frage, sondern das Gesetz ihrer Lebensabläufe, der Jahreszeiten. Natur wird als Refugium für das Individuum beschrieben. Aber die subjektive Phantasie hat Gründe zu argwöhnen, daß dies nicht mehr so sei, denn sie beschwört die Vision eines toten Waldes entlaubter, abgebrannter Bäume. Erst die Frage, wie denn Natur ihr eigenes Gesetz verletzen sollte, läßt das schreckliche Ausmaß der Ereignisse ahnen, das eine Störung selbst der Naturabläufe denkbar erscheinen läßt. 133
Die Beziehung zwischen zwei Menschen vorstellend, bringt Strophe 3 eine entscheidende Horizonterweiterung. Es sind Liebende, die miteinander inne werden; das Herz schlägt. Nichts Außergewöhnliches, so scheint es, aber diese Wahrnehmung muß sich gegen die Befürchtung behaupten, der Mensch habe kein Herz mehr. Bei einem hierarchisch gegliederten Gedicht wie diesem, das auf die Pointe zustrebt, erscheint es berechtigt, die Struktur dieser Pointe näher zu betrachten, zumal es sich um eine für Rözewicz charakteristische Konstruktion handelt. Die Wendung „der Mensch / hat kein Herz mehr" fußt auf einer phraseologischen Verbindung der Alltagssprache. Dieser Verbindung liegt keine transgressive Sinnstreckung zugrunde, vom Dichter wird sie aber als solche behandelt. 35 Das heißt, der Ausgangspunkt dieser Verbindung ist nicht die Bedeutung Herz = anatomisches Organ, sondern die übertragene Bedeutung: Gemütsqualität. Das Gedicht benutzt diese Wendung, um den Tatbestand Tod auszudrücken, führt sie damit also auf einen vermeintlichen sinnlich-konkreten Ausgangspunkt zurück, wodurch ein metaphorischer Effekt erzielt wird. Die Überlagerung von freier und kontextualer Bedeutung führt zur einmaligen Qualitätsbereicherung; die Verbindung trägt nun zwei Aussagen: Der Mensch lebt, und der Mensch ist menschlich geblieben. Schlüssig gipfelt darin die Situation der dritten Strophe und die geistige Situation des gesamten Gedichts. Wir haben es hier mit einem prägnanten Fall von Periphrase zü tun. Der Komplex von Kriegserfahrungen tritt nirgends unmittelbar auf, was sich aber zwischen dem lyrischen Helden und der Natur abspielt, hat darin seine Ursache und kann nur vor diesem Hintergrund abgelesen werden. Der lyrische Vorgang ist ein Selbstüberzeugungsprozeß des Subjekts. An den Naturdingen in ihrer zuverlässigen sinnlich-konkreten Stofflichkeit, die das Individuum wie staunend benennt, ändert es seinen Sinn. Es entdeckt den unzerstörbaren Bestand der Natur und des Menschen in seinem ursprünglichen gesellschaftlichen Verwiesensein auf den anderen Menschen. Es sind dies „Elementarteilchen" menschlicher Erkenntnis, fundamentale Überzeugungen, die hier wiedergewonnen werden; ohne sie freilich ist ein humanes Weltbild nicht zu errichten. Dieser Prozeß wird nicht in der didaktischen Chronologie vorgeführt, sondern vom Ende her; sein Ergebnis ist in der jubelnden Bejahung des Eingangs schon vorweggenommen. War in Rose die Natur Ansatzpunkt einer elegischen Aussage, so liefert sie hier Anstoß für die Gesundung eines durch den Krieg de134
formierten Bewußtseins; in jedem Fall aber ist sie eine moralische Instanz. Damit wird der Gegensatz zur Naturauffassung der Krakauer Avantgarde offenbar. Die krisenhafte Entwicklung der dreißiger Jahre und der Krieg selber haben die rationalistische Utopie von Peiper und Przybos der Kritik unterworfen, so daß das Verhältnis: Mensch - Geschichte (Kultur, Zivilisation) - Natur nach neuer Bestimmung verlangte. Die allein auf Beherrschung der Dingwelt abzielende Kreativität, von der Przybos' Lyrik ausging, hat keine neue Humanität zu begründen vermocht, sondern hat sich, wie Walter Benjamin schrieb, in pervertierter Form gegen den Menschen gewendet. „Wird die natürliche Verwertung der Produktivkräfte durch die Eigentumsordnung hintangehalten, so drängt die Steigerung der technischen Behelfe, der Tempi, der Kraftquellen nach einer unnatürlichen. Sie findet sie im Kriege, der mit seinen Zerstörungen den Beweis dafür antritt, daß die Gesellschaft nicht reif genug war, sich die Technik zu ihrem Organ zu machen, daß die Technik nicht ausgebildet genug war, die gesellschaftlichen Elementarkräfte zu bewältigen. Der imperialistische Krieg ist ein Aufstand der Technik, die am Menschenmaterial die Ansprüche eintreibt, denen die Gesellschaft ihr natürliches Material entzogen hat."36 So desavouierte der zweite Weltkrieg die kreatorische Macht des Menschen als ahuman. Diesen Erfahrungen Rechnung tragend, belebte Rözewicz bestimmte (neu) romantische Motive zu neuer Funktion. Die Natur erschien wieder als heiler Bereich uad Refugium des bedrohten Menschen. Ihr unversehrtes Dasein offenbarte seine Kreatürlichkeit, provozierte Klage und Anklage. Aus dem Blickwinkel der Erfahrungen, die ein niedergeworfenes, zur Versklavung und Ausrottung verurteiltes Volk machte, erschien die Natur als mütterliche Instanz ausgleichender Gerechtigkeit, als letzter Hort humanen Verhaltens vor der zerstörerisch einherkommenden Geschichte. Insofern kann auch von einer Annäherung an die Katastrophisten gesprochen werden. Auf der anderen Seite ließ der Krieg gerade die kindliche Zuversicht eines Czechowicz in den Schutz der Natur nicht unangetastet. Rözewicz hatte erfahren müssen, daß auch sie in das zerstörerische Geschehen einbezogen war, dessen Gewalt ausreichte, ihre Ordnung außer Kraft zu setzen. So wurde bei ihm das Gespräch über Bäume zwingend zum Gespräch über den Krieg. Ein weiterer Vergleich der Gedichte Rose und Wie gut zeigt die Verflechtung zweier motivischer Linien, die wir mit symbolischen 135
Schlüsselfiguren als „Hölle" und „Arkadien" bezeichnen wollen. In Rose bildet „Arkadien" die Eintracht von Mensch und Natur, den Hintergrund, vor dem das höllische Drama der Vernichtung sich abspielt. In Wie gut hingegen heilt die paradiesische Natur das vom Kriegsinferno infizierte Bewußtsein. In beiden Fällen kommt die greifbare, authentische Wirklichkeit entgegen falschen, poetischen oder anderen abstrakten Vorstellungen von ihr zu Wort. Es sind dies selbstverständlich höchst synkretistische Chiffren, die sowohl mythologische, antike, christliche als auch säkulare Elemente in sich aufgenommen haben. Diese polare Weltanschauungsstruktur scheint uns eine wichtige Achse des Werkes zu sein. Auf dem lexikalischen Kontrast, dem vorherrschenden Ordnungsprinzip des Wortmaterials fußend, begründet sie Rözewicz' moralische Betrachtungsweise. Sie kann also dazu dienen, den Stoff zu analysieren und zu ordnen.
Das Vermächtnis der Toten - Last und
Verpflichtung
Rözewicz' Subjekt ist von dem Bewußtsein besessen, unverdientermaßen überlebt zu haben. Sein Verhältnis zu den toten Kameraden ist von Schuldgefühl bestimmt und bleibt daher ambivalent. Zunächst will es scheinen, der lyrische Held habe sich den notwendigen Geschäften des Alltags rückhaltlos zugewandt, und es falle ihm nicht schwer, seine Freunde gestorben zu wissen: „Meine Sache ist die Sache der Lebenden" (An den Toten). Ernste Dinge und Lappalien werden aufgezählt: die Marx-Lektüre, Tanzen mit der Rothaarigen und Lachen über die Atombombe. Erst die Selbstanklage des Schlußsatzes: „Ich lebe/ und nichts und niemand ist mir fremder / als du mein toter Freund", reißt den Konflikt auf. 37 Die Sache der Lebenden erscheint nun nicht als natürlicher Gang der Dinge, der den lyrischen Sprecher selbstverständlich beansprucht, sondern als etwas, was ihn umgarnt „weich und duftend / den Bärten assyrischer Kaufleute gleich" (Lebender Stern)38, verlockt und ablenkt von der Wahrnehmung des Vermächtnisses der Freunde. So wird er erneut schuldig. Andrerseits bedrängt den Dichter die Unruhe, er habe „zu lange geweidet auf den Wiesen / eurer Friedhöfe Tote", so will er sich auftun „für Bewegung und Wandel" (Ebene}®, daß ihn der Ozean des Lebens ausfülle. Der Konflikt und der Schuldkomplex verweisen zunächst auf das psychisch-biographische Befinden des Dichters, sie sind darüber hinaus aber auch Indiz einer gesellschaftlichen Proble136
matik, nämlich für das in den Nachkriegs jähren belastete und lange ungeklärte Verhältnis zu jenen, die nicht von sozialistischen Ideen inspiriert, im antifaschistischen Widerstandskampf gestanden haben. Das Gedicht Ich sehe die Besessener^0 thematisiert noch einmal dieses Problem. Die nicht aufkündbare Solidarität mit allen Gefallenen zwingt zur Stellvertretung. Der Lebende hat ihr Vermächtnis weiterzugeben, zu realisieren, damit ihr Tod gegen eine bessere Ordnung unter den Menschen eingelöst werde. Darum werden spießbürgerliche Typen, denen die Opfer der Kämpfe nur Anlaß zur sentimentalen Gefühligkeit sind, vom Dichter satirisch abgeführt in Rachunek (Die Rechnung). Rözewicz wendet sich gegen die Möglichkeit, daß der Lebenseinsatz einer Generation durch die alten gesellschaftlichen Kräfte nachträglich verspielt werden könnte. Auch die Liebesthematik wird in ambivalenter Weise aufgenommen. Sie läßt sich sowohl unter der Chiffre „Hölle" als auch „Arkadien" interpretieren. Betrachten wir die erste. In der Miniatur Milosc 1944 (Liebe 1944) ist von aller Gemeinsamkeit nur noch die des Leids übriggeblieben. Wehrlos und nackt Mund auf Mund gepreßt mit weit aufgerissenen Augen horchend sind wir geschwommen übers Meer aus Blut und Tränen. 41 Zwei auf die pure Körperlichkeit zurückgeworfene Menschen suchen darin verzweifelt Zuflucht vor der Gefahr, die sie rings umgibt. Der Inhalt steht zum Titel in Widerspruch, allein darin schon drückt sich Protest aus. Anders Besuch/12 Ein sachlicher, fast ein wenig nachlässiger Bericht über eine Begegnung d a n a c h , n a c h überstandener Hölle. Ein Mann begegnet einer Frau mit geschorenem Kopf. Die äußere Entfremdung zweier Liebenden hat hierin ihren Ausgangspunkt. Man erkennt einander nicht wieder. Was ein Zeichen der Zuneigung sein sollte, die mitgebrachten Blumen, sie werden benutzt, um den Schock 137
zu verbergen. Die Entstellte fühlt sich selbst durch liebende Blicke noch verletzt. Die Gebärde der Zärtlichkeit (Streicheln des Kopfes) macht nur aufs neue die erlittene Erniedrigung gegenwärtig. Trost kann sich nicht ausdrücken, denn selbst die Gesten scheinen ihre Eindeutigkeit verloren zu haben. Also gehen sie auseinander - schuldbewußt, erschüttert. Dieser lyrische Vorgang legt die geistigen Zerstörungen frei, die das Selbstverständliche im Umgang der Menschen untereinander unerreichbar gemacht haben. Neue Welterfahrung muß eingeübt werden, um zu gesunden. Dazu trägt Liebe bei, wie sie im Kraftfeld von „Arkadien" vorkommt: Umspannt umwoben von deiner Berührung der süßen Hülle aus Zärtlichkeiten liege ich wach.43 Schmerzen werden gelindert. Dem Subjekt, das sich geliebt weiß, füllt sich die Welt mit heiterer Natur, alles was es anblickt, wird hell und rein. So stellt sich auch der Glaube an die menschenverändernde Kraft der Liebe ein. Sie wird aber nicht idealistisch aufgebauscht, erhebt sich nicht über den Alltag, sondern nimmt ihren Platz neben Schönem und Häßlichem, Erhebendem und Dummem ein. Ein zusammenfassender Überblick zeigt, daß das Interesse des Dichters den elementaren Formen gesellschaftlichen Umgangs gilt, diese werden für gestört und für intakt befunden. Die Auskünfte darüber vermittelt eine vorwiegend reflektierende, moralisch empfindsame Subjektivität. Ihr Humanismus ist nicht von idealistischer Unschuld, sondern praktisch, den wirklichen Widersprüchen illusionslos zugewandt. Wissend geworden im Kampf gegen den Faschismus, ist der Dichter darauf bedacht, aus diesem Wissen Schlußfolgerungen zu ziehen: „Die geschichtlichen Erfahrungen, die ich während der Okkupation aus der unmittelbaren Begegnung mit dem Hitlerfaschismus gewonnen habe, drängten mich zum Materialismus, Realismus, Sozialismus und nicht zur Metaphysik." 44 Den noch unartikulierten kollektiven Empfindungen, Belastungen und Erfahrungen einen individuellen Ausdruck gebend, fügte sie Rózewicz in diesen Erkenntniszusammenhang ein und bekräftigte somit den politischen Charakter seiner Moral. Er ging nicht mit agitato138
rischer Vehemenz vor, sondern mit scheuer Zurückhaltung, die ihm Überzeugungskraft und Glaubwürdigkeit verlieh. So konnte seine Lyrik eine individuell und gesellschaftlich befreiende Funktion erfüllen. Mit welchen Mitteln wurde das geleistet?
Poetologisches Programm und lyrische Praxis Literatur als Zeugenstand - so vor allem begreift Rözewicz ihre Rolle. E r fühlt sich in besonderer Weise zur Aussage berufen, denn er besitzt die außerästhetische Autorität eines Gezeichneten, eines Zeugen, dem das Privileg einmaliger Einsicht in den Mechanismus der Geschichte zuteil wurde. Dieses Privileg teilt der 1921 geborene Sohn eines Gerichtsangestellten aus dem Provinzstädtchen Radomsko mit einer ganzen Generation. In diesem Bewußtsein Gedichte zu machen bedeutet für ihn folgerichtig nicht s c h ö n e s Sprechen, sondern a u t h e n t i s c h e s Sprechen; aller artistischer Aufwand wird der ethischen Verantwortung untergeordnet. Darum akzeptiert er keinen b e s o n d e r e n poetischen Gegenstand, keinen b e s o n d e r e n poetischen Wortschatz, keine Gattungsregel, die gewissermaßen in abstracto Qualitäten darstellen und vom Schreiber berücksichtigt werden müßten. Dagegen und gegen jegliche Form „poetischer Schauspielerei", d. h. Verkleiden, Maskieren, Sich-in-Pose-Stellen, entwikkelt Rözewicz ein Konzept, das, konsequent umgesetzt, auf eine ästhetische Utopie hinausläuft, in seiner Praxis aber durchaus elastisch gehandhabt wird. „Nach meinen Begriffen ist die Lyrik Ausdruck des Zusammenstoßes des Gefühls mit der Erscheinung, der Empfindung mit ihrem Gegenstand. Das Bild kann eine Hilfsrolle spielen, ist aber nicht notwendig." Eine eher konstatierende Poetik, die auf ein vorgegebenes Gefühl vertraut, denn eine sprachlich kreative oder intellektuell-analytische. Der Kern des Gedichts, das lyrische Ereignis, heißt: Zusammenstoß. Es wird als Ausdruck einer elementaren Erschütterung, einer „Grenzsituation" gesehen und bedarf daher nicht der komplizierten Metapher, des erlesenen Wortmaterials, des aufwendigen Ornaments. Das alles sei Ballast, Umweg, wenn „die Ereignisse in der Gefühlswelt . . sich plötzlich in ihrer ganzen Eindeutigkeit auftun, sich dem Leser stellen wollen" 45 . Paradoxerweise argumentiert hier Rözewicz romantisch. Und in der Tat kommt es in seinem Werk zur Konfrontation zweier „an sich" unvereinbarer Traditio139
nen - der romantischen und der avantgardistischen. Für die literarische Situation nach 1945 eine symptomatische Erscheinung. Die romantischen Gesten, Denkmuster, Legenden, die für die jungen Warschauer Dichter Baczynski, Gajcy und andere wie auch für Broniewski und Tuwim gleichermaßen wichtig waren, zählen für Rözewicz nicht mehr. Aber gegen die avantgardistische Auffassung von Lyrik als einer gattungsspezifischen „Sprache in der Sprache", gegen Przybos' Vertrauen in die sprachliche Erfindung als wirksamste Weise, gesellschaftliche Einbildungskraft zu verändern dagegen stellt er die Kraft und Unmittelbarkeit des Gefühls heraus, das keiner besonderen sprachlichen Prozeduren bedarf, um sich mitzuteilen. Dieses im Grunde expressionistische Prinzip des unmittelbaren Ausdrucks, das die Krakauer Avantgarde durch die Originalität der poetischen Anstrengung ersetzt hat, bringt Rözewicz in die Nähe der romantischen Eingebungstheorie, welche die sprachbildnerische Arbeit leugnete und den Schöpfer (z. B. Mickiewicz) zu der Überzeugung hat kommen lassen, eigentlich nicht Literat sein zu wollen. Davon überzeugt, daß das Wort mehr sei als Literatur, wollte der Romantiker - die literarischen Prozeduren gewissermaßen überspringend - zur Wirkung gelangen. Die prophetische Gabe gewährte ihm Macht über das „verborgene Wort", das die Völker erschüttern und zur Tat bewegen sollte. Deutliche Verwandtschaft mit der romantischen Wort-Tat-Problematik zeigt die Äußerung Rözewicz', daß es sein Anliegen sei zu agieren, und nicht, Gedichte zu schreiben. „Anstatt Gedichte - Tatsachen. . . . Auf bestimmte Ereignisse mit Tatsachen reagieren, die wie Gedichte gebildet sind, aber nicht mit .Poesie'." 46 Solche und ähnliche Äußerungen haben übrigens zu dem Mißverständnis geführt, seine Gedichte seien ein spontaner Schrei, ohne die Spuren bewußter formaler Anstrengung. Auf der anderen Seite steht Rözewicz im Inspirationskreis der Avantgarde nicht nur wegen der nachweisbaren Wirkung von Przybos' Poetik auf seine Gedichte. Er folgt der avantgardistischen Forderung nach Ökonomie des Ausdrucks, Zurückhaltung der Gefühle und - allgemeiner - nach ständig herzustellender Entsprechung von „neuer Zeit" und „neuer Poesie". Nur begreift er seine „neue Zeit" anders: nicht als Aktionsfeld für eine fortschrittsgläubige Zivilisationsbegeisterung, sondern als geschichtliche und menschliche Landschaft, die geprägt ist von der soeben überstandenen Katastrophe. Darum kann er seine „neue Poesie" nur g e g e n alle bisherige Vorstellung von schöner, effektvoller Lyrik schreiben. Zu ihrer Begrün140
dung konnte sich Rözewicz romantischer Argumente ohne epigonale Folgen bedienen, weil er sie in eine radikal veränderte Sicht der „Welt des Geistes" überhaupt einfügte. Diese besagt: Die menschliche Welt sei nicht länger am Maß von Kultur, Traditionen und Ideen zu messen, sondern am Maß der Natur, des elementar gefaßten Lebens, des Körpers. Diese Sicht schloß eine Kritik der Romantik mit ein. Auch im Gedicht (Poetik) begründet Rözewicz sein Verfahren. Einst - so heißt es - seien ihm die Worte leicht und gefügig erschienen, geeignet, daraus Bilder zu bauen, „deren Vieldeutigkeit Reichtum in sich birgt". In meinem Leben gab es Worte des Abschieds und Worte des Hasses und dann Worte der Liebe und dann sah ich eingekratzt in die Kerkermauer Worte der Hoffnung Alle waren sie eindeutig und zwischen ihnen weder Symbol noch Metapher Nicht Periphrase noch Hyperbole Aber in sich hatten sie die Stärke des Urteils und die Stärke des Wachstums und sie besaßen die Stärke der Schöpfung . . . 47 Auffallend ist die polemisch exponierte Stellung des Begriffes „eindeutig". Die Polyvalenz der Dinge bei Przybos, ausgedrückt durch die Fähigkeit des Wortes, in der Metapher dieses und ein anderes zugleich zu bezeichnen, war eine g n o s e o l o g i s c h - k r e a t i v e Angelegenheit. In Widerspruch zu solcher D y n a m i s i e r u n g unternimmt es Rözewicz, die Welt zu s t a b i l i s i e r e n , der Unordnung entgegenzuwirken. Die Vieldeutigkeit der avantgardistischen Lexik, mit der semantischen Inflation als eine ihrer Folgen, stellt sich ihm als m o r a l i s c h e Vieldeutigkeit dar, der er nun mit der Forderung nach Eindeutigkeit begegnet. Dem Wort sollen wieder feste Kon141
turen, soll Glaubwürdigkeit gegeben werden, damit das Gesagte auch das Gemeinte sicherstellt. Nun erhebt sich die Frage, wie funktioniert so rigoros geforderte antimetaphorische, im Grunde antilyrische Eindeutigkeit im Gedicht? Die Praxis der lexikalischen Eindeutigkeit kann sich auf die literarische Konvention stützen, lyrische Rede als übertragene Rede zu erwarten. Die eigentliche Bedeutung als poetische zu entdecken, schafft Überraschung und baut bisherige Lyrik-Modelle als oppositionellen Hintergrund aus. Das heißt, die poetische Subjektivität bestimmt sich durch starke Berufung auf herkömmliche Paradigmata (sowohl des Skamander, der Krakauer Avantgarde wie der Katastrophisten) und durch Abweichung von diesen. Die literarhistorische Opposition ist also in dem synchronischen Verhältnis des Autors zur sprachlichen Norm, der er sich öffnet, schon inbegriffen. Rözewicz ist auf geschichtliche Wirklichkeit in ihrer sinnlich-konkreten Gestalt aus. Um diese zu erfassen, bevorzugt er statt häufiger Bedeutungsübertragung und Bedeutungsverschiebung hinsichtlich der sprachlichen Norm gerade Wendungen der Stilnorm und lexischsemantische Varianten in eigentlicher Bedeutung. Ein statistischer Vergleich zweier Gedichte von Rozewicz und Przybos unter dem Aspekt, wie häufig e i g e n t l i c h e B e d e u t u n g e n in den jeweils wichtigsten drei Wortarten (Substantiv, Verb, Adjektiv bzw. Adverb) verwendet werden, ergab ein Verhältnis von 75 Prozent (Rozewicz) zu 45 Prozent (Przybos). 48 * Um der an dieser Stelle drohenden Gefahr platter Vordergründigkeit zu entgehen, die von der Kritik häufig unscharf als Prosaisierung bezeichnet wurde, setzt Rözewicz andere Mittel ein. Er baut den Kontrast aus, den begrifflichen und emotionalen, nutzt intensiv die Spannung zwischen Konkretem und Abstraktem. Die kompositorische Konsequenz heißt: Bevorzugung der Pointe, wodurch eine relativ häufige Verwendung des Rondos ermöglicht wird. In Rözewicz' formulierter Poetik macht sich zwar ein betont metaphernfeindlicher Zug bemerkbar („ich versuche es immer wieder . . . die Metapher . . . als überflüssiges Dekor auszumerzen"), seine Praxis aber sieht differenzierter aus. Freilich mißt man sie an Tadeusz Peipers anti-mimetischer Definition: „Die Metapher ist die willkürliche Vermählung von Begriffen, sie bringt begriffliche Verbindungen hervor, die in der wirklichen Welt keine Entsprechung haben" 49 , so gelangt man zu einem negativen Ergebnis. Faßt man sie aber nicht eng nur als eine bestimmte rhetorische Figur auf, sondern als ein semantisches Bauprinzip, wonach ein 142
sprachliches Zeichen (oder eine Zeichengruppe) durch ein anderes so re-interpretiert wird, daß es gleichzeitig auf mehreren Ebenen Bedeutung übernimmt (in Frage kommen lautliche, rhythmische, grammatische, logische, lexikalische und andere Re-Interpretationen), so zeigt sich, wie intensiv Rözewicz die sprachlich gegebenen Oppositionen metaphorisch nutzt. Da, wo die von Przybos z. B. kultivierte lexikalische Metapher auftaucht, dient sie in der Regel nicht der Überhöhung von Konkretem, sondern der R e k o n k r e t i s i e r u n g abstrakter und verblaßter Wendungen. Die schematische Darstellung eines Beispiels aus Wie gut, das für viele andere steht, soll das Prinzip verdeutlichen. Ebene
signifiant
Herz
kein Hera haben
Ebene
signifié
anatom. Organ
Gemütsqualität
(Die unterbrochene Linie zeigt die Bedeutungsfunktion, die eine Wendung bzw. ein Wort metaphorisch im Gedichtkontext übernimmt.) Diese Technik des Metaphorisierens geht mit denselben Zeichen um wie der sprachliche Usus. Nicht die waghalsige Wortkombination wird gesucht; im sprachlichen Stereotyp drückt sich eine neue Bedeutung aus und demontiert damit das Stereotype zugleich. Dieses ist der strukturelle Ausdruck des umfassenden Verhältnisses Rózewicz' zur Wirklichkeit, seiner poetischen Sensibilität. Das Alltägliche, Kleine, Unansehnliche, das, worüber wir gewöhnlich zur Tagesordnung übergehen und was doch die Basis unserer Existenz bildet, wird als einmalig, kostbar und beglückend entdeckt. Das Subjekt muß sich der moralisch unanfechtbaren Dinge versichern, muß das sensuelle Vertrauen zur Welt wiedergewinnen, um seine geistigen Kräfte dann neu zu mobilisieren. Rózewicz' Betrachtungsweise verleiht dem Alltäglichen eine extreme Tiefendimension, die ihm an sich nicht zukommt. Unter dem Druck der Frage, o b denn die Welt noch existiere, werden banale Begebenheiten zur radikalen Sinndeutung getrieben. Das geschieht einmal durch die Konfrontation mit hyperbolisierten Visionen materieller und geistiger Kriegszerstörung, zum anderen durch liturgische Anleihen, die dem Gewöhnlichen eine gewisse Weihe verleihen. Diese Poetik war auf einen historischen Zustand zugeschnitten, da das Bewußtsein vom Krieg besonders leben143
dig war und die polnische Gesellschaft daranging, die materiellen und geistigen Grundlagen menschlichen Zusammenlebens unter neuen politischen Voraussetzungen aufzubauen. Es gehört zur Leistung von Rözewicz, daß er sich einer Realität ohne Beispiel stellte und dabei Mittel entwickelte, die nicht eine verharmlosende Illusion nähren, sondern sich an ihrem Gegenstand bewähren.
Auf der Suche nach „Arkadien" Wir sahen an einigen Beispielen, wie sich aus dem Gegensatz zur Erfahrung des Krieges Elemente eines positiven Entwurfes menschlicher Verhältnisse herausschälten. Sie wurden unter der Chiffre „Arkadien" zusammengefaßt, die ihrerseits Geschichte hat. Mit Arkadien ist hier nicht der Topos in seiner klassischen Gestalt gemeint, sondern ein aus divergenten Teilen komponierter Entwurf harmonischer Entfaltung des Menschen in seiner gesellschaftlichen und natürlichen Umwelt. Allerdings wird auch seine klassische Fassung von Rözewicz auf ihre aktuelle Tauglichkeit geprüft, und zwar in dem lyrischen Bericht Et in Arcadia ego. Dieses Poem über eine Italienreise hebt in deutlicher Anlehnung an Goethe den Kunstaspekt des Topos hervor. Goethes Italienische Reise prägte in neuerer Zeit wesentlich die Legende von der südlichen Landschaft eines natürlichen, sinnlich unverbildeten Menschentums. Dort, so schien es, war das Leben voll lebendiger Harmonie, wie sie in nördlicheren Gefilden nur in der Kunst gedieh. Diese Tradition des arkadischen Motivs hat noch eine durch die Malerei des 17. Jahrhunderts ausgeprägte Gegenlinie, die Rözewicz gleichfalls aufgreift. Bei Nicolas Poussin finden sich zwei Fassungen einer großgeformten, arkadischen Landschaft mit einem Grabmal. Hirten umstehen es und lesen vom Stein die Aufschrift ab: „Et in Arcadia ego" - „Auch ich war in Arkadien." Der Tod macht selbst vor Arkadien nicht halt. Beide Auffassungen integrierend, setzt Rözewicz' lyrischer Erzähler sie zu seinen heutigen italienischen Erfahrungen in Beziehung. Einleitend steht das Goethe-Zitat: „Und wie man sagt, daß einer, dem ein Gespenst erschienen, nicht wieder froh wird, so konnte man umgekehrt von ihm sagen, daß er nie ganz unglücklich werden konnte, weil er sich immer wieder nach Neapel dachte."50 Nun widerlegt 144
Wirklichkeit die Legende; die Kleinlichkeit, Banalität und Häßlichkeit des neapolitanischen Alltags wird entdeckt. Die kapitalistische Zivilisation des 20. Jahrhunderts, Tourismus und kommerzialisierte Massenkultur haben aus den Kunstschätzen verwaltete Objekte eines Geschäfts gemacht. Bewunderung und Betroffenheit weichen der Sensation: „ . . . ist diese Pietä, die Pietä, die Pietä / das Original aus originalem Marmor / aber natürlich"51. Das lyrische Ich kann ungebrochenes Vertrauen in die menschenverändernde Kraft der Kunst nicht mehr aufbringen: dachtest du / ich kehre verwandelt zurück / wozu sich verstellen", kann sich andererseits aber auch dem Eindruck der Schönheit nicht entziehen: Das letzte Gericht ist das Schönheit wie soll ich ausdrücken den Schock ich mußte den Kopf auf die Bank stützen.52 Eine Militärparade ist es, die in ihm, dem Bewohner eines nördlicheren Landes, Erinnerungen an die „Hölle" weckt, so, daß er über Neapels klarer Bucht pompejanische Röte heraufziehen sieht, apokalyptisches Zeichen der Kriegsgefahr. Die Entdeckung des Paradieses gelingt dem lyrischen Erzähler aus objektiven und aus subjektiven Gründen seiner geistigen Biographie nicht. Aber darum war der Versuch doch nicht wertlos. Gerade das Eingangszitat (Goethe) bildet mit dem Epilog eine bezeichnende Klammer: Ich schäme mich nicht ich habe geweint in diesem Land Schönheit rührte mich an ich war wieder Kind im Schoß dieses Landes ich habe geweint und schäme mich nicht Ich versuchte ins Paradies heimzukehren.53 10
Olschowiky, Lyrik
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Das Paradies blieb aus. Kunstharmonie ist mit gesellschaftlicher nicht identisch. Aber sie hat die Kraft nicht verloren, das Individuum anzurühren - wenn auch unter Schwierigkeiten. Zwischen nicht akzeptierter Legende und der Vision universaler (nuklearer) Gefahr hat die Sehnsucht des Dichters doch ein Quentchen Schönheit für seinen Entwurf vom Menschen gewonnen. Nicht nur der Zugang zum klassischen Arkadien der Künstler, mithin die unproblematische Teilhabe am Kanon europäischer Kultur ist dem Rözewiczschen Helden verwehrt, auch die Heimkehr nach Haus, die Eingliederung in den normalen Alltag bereitet ihm Schwierigkeiten. Und das aus zweierlei Gründen. Der Dichter teilt mit seinen Altersgenossen das Los, durch den Krieg aus der Jugend vertrieben, zum Auszug aus dem (Vater) Haus gezwungen worden zu sein. So verwundert es nicht, daß er das Gleichnis vom verlorenen Sohn zum literarischen Ausdruck und Deutungsmuster des Kriegserlebnisses wählt. Geweitet und abgewandelt erweist es sich als wichtige Kristallisationsiigur seines Werkes überhaupt. Die einzelnen Elemente der dramatischen Spannung zwischen Haus und Welt Auszug, Abenteuer, Heimkehr - variierend, vermischt es sich mit dem Motiv des umhergetriebenen Heimatsuchers Odysseus. Darum ist Heimkehr, die Sehnsucht nach dem Ursprung, für ihn so wichtig. Der lyrische Held findet aber sein Haus nicht so vor, wie er es verlassen hatte; seinen Platz hat die Geschichte weder leer noch unverändert gelassen (Der verlorene Sohn). Ihm, der blutigen Regen übers Land kommen sah, erschien das Vaterhaus leuchtend wie ein Stern; was er indessen vorfindet, sind die mittelmäßigen, wenig erhebenden Wechselfälle praktischen Lebens. Die absolute Sehnsucht reibt sich an solcher wenig idealen Wirklichkeit, der Zurückkehrende will sich da nicht eingliedern. Auf der anderen Seite empfindet der Heimkehrende die alltägliche Geschäftigkeit des elterlichen Hauses als „Himmel" (Heimkehr): „Hier im himmel häkeln / die mütter grüne schals / / fliegen surren / / der vater schlummert am ofen / nach sechs tagen arbeit."54 Darum scheut sich der Held, auf die drängenden Fragen der Daheimgebliebenen zu antworten. Er müßte ihnen sagen, daß dort, wo er herkommt, ein Mensch dem anderen an die Kehle geht. Damit würde die paradiesisch empfundene Normalität unweigerlich zerstört, und das soll nicht sein. Hier kommt Rözewicz' zwiefaches Verhältnis zur Wirklichkeit zur Sprache. Er sucht nach einer menschlichen Ordnung von so idealer Intensität, daß sie imstande wäre, das Unmaß erlittener Ver146
wüstung aufzuwiegen und wettzumachen. Diese Sehnsucht, diese moralische Utopie begründen die kritische Funktion seiner Gedichte gegenüber der Wirklichkeit. Dieselben Erfahrungen des Krieges lassen ihn aber auch das Alltägliche, Gewöhnliche, Unscheinbare als einmalig kostbare, weil so extrem bedrohte Werte entdecken. So konstituiert sich der zweite Pol seiner Dichtung: Die Wirklichkeit, reduziert auf die Kleinwelt, wird als Ordnung einfacher und einsichtiger Beziehungen zwischen den Menschen idyllisch gefaßt, bejaht und - wenn es sein muß - verteidigt ( D i t h y r a m b u s auf die Schwiegermutter). Ein bemerkenswertes Beispiel jenes zweiten Verfahrens ist Ölzweig, ein Gedicht aus dem Jahr 1948, welches die idyllische Sicht auf gesamtgesellschaftliche Vorgänge des sozialistischen Aufbaus in Polen auszudehnen versucht. Eltern erwarten ein Kind. Damit ist der intime Ausgangspunkt der lyrischen Situation umrissen. Der Vater will dem Neugeborenen sagen: „Die Welt ist gut und schön." Er will dem Sohn Worte beibringen, die für ihn selber den exotischen Klang fremder Vokabeln haben: Liebe, Hoffnung, Brüderlichkeit. Er wird ihm erzählen von dem Freiheitskampf des Mahatma Gandhi, von den Webern, Bergleuten und Angestellten, die das Haus der neuen Ordnung gegen alle Rückschläge und Hindernisse errichteten und mit dem Dichter entschlossen waren, diesen Bau „mit dem Rauch aus dem Schornstein" zu beginnen.55* Die lyrische Konklusion lautet dann: Und wenn uns der Junge geboren wird dann sage ich ihm: Hier ist Licht da Dunkel hier Wahrheit da Lüge hier ist links da rechts Und er wird in Helligkeit leben Suchte einst das gezeichnete Subjekt „einen Lehrer und Meister . . . daß er mir scheide Licht von der Finsternis" (Gerettet), so scheint nun alles endgültig gelöst. Die moralische Ordnung ist (zumindest verbal) ein für allemal wiederhergestellt; das Reich der Helligkeit bricht an. Arkadien scheint bewohnbar - allerdings um den Preis, daß die wirklichen Widersprüche und Konflikte jener Jahre mit ihrer Dynamik nicht ins Bild kommen. 10»
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Rözewicz' positive Utopie entwirft einen Menschen, dem ein harmonisches Naturverhältnis, Liebe, Kunstgenuß, Fleiß, streitbare Solidarität und praktische Güte zur Normalität geworden sind. In lyrische Vorgänge umgesetzt, werden diese Vorstellungen, sofern sie nicht als kritischer Maßstab fungieren, allerdings nur in der kleinen Welt verwirklicht, in den „intimen" Strukturen gesellschaftlichen Umgangs: Familie, Freundschaft, Liebe u. ä. - alles Situationen, in denen das Verhältnis der Partner zueinander übersichtlich bleibt und ihre Verantwortung in moralischen Kategorien ohne weiteres faßbar ist. Das entspricht Rözewicz' poetischer Sensibilität, zumal sich auch in seiner Poetik eine strukturelle Disposition für eine dualistische Betrachtungsweise entwickelt hat. Sobald er eine globale gesellschaftliche Dimension einbezieht, hat er Schwierigkeiten, über die bloße lyrische Proklamation, über das verbale Behaupten hinauszukommen. Im obigen Beispiel werden die größeren gesellschaftlichen Vorgänge und Veränderungen bezeichnenderweise nicht gestaltet, sondern lediglich zitiert. Diese Schwierigkeiten verweisen über den besonderen Einzelfall hinaus auf die Lage der Lyrik in den frühen fünfziger Jahren. „Was ist es mit dem Realismus in der Lyrik . . .?" (Brecht) Ein Exkurs über die poetische Situation der frühen fünfziger ]ahre Die Verengung der literarischen Programmatik nach 1948/49 zeigte sich wohl am auffälligsten in der Neigung, vielschichtige literarische Vorgänge und Erscheinungen (selten mit Berufung auf Lukäcs, der zu dieser Zeit in Polen kaum rezipiert wurde) in die starre Alternative Realismus-Avantgarde, d. h. Realismus-Antirealismus bzw. Formalismus zu zwängen. Mit dieser Entgegensetzung wurde der dialektische Widerspruch auseinandergerissen, der die Dynamik sozialistischer Literatur im 20. Jahrhundert, ja der Kulturrevolution überhaupt ausmacht. Der Anspruch auf einen hohen ästhetischen Standard sozialistischer Kunst erschien plötzlich unvereinbar mit dem demokratischen Anspruch auf ihre möglichst massenhafte Zugänglichkeit und Wirksamkeit. Mit schon mehrfach apostrophierter Ungeduld wurde die pragmatisch-kurzfristige Bestätigung aktueller Rezeptionsgewohnheiten gegen die erzieherisch-langfristige Zielsetzung ausgespielt, das vorgefundene Rezeptionsvermögen des Massenpublikums durch Anstrengung neuer Ausdrucksformen zu erweitern. Nicht die historische Ver148
mittlung zwischen beiden Polen als konkrete kulturelle Aufgabe für die Gegenwart und die Zukunft stand im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, sondern der Rückgriff auf Muster des klassischen Realismus des 19. Jahrhunderts. „Eine neue Intelligenz kann man nicht an literarischen Mustern heranbilden, die aus der Periode zunehmender innerer Spannungen in der Kultur, aus der Periode des Imperialismus und des revolutionären Kampfes stammen. Nicht einmal revolutionäre Schriftsteller taugen dazu, es sei denn, sie haben sich, wie Gorki, nicht aus den Normen der großen realistischen Literatur drängen lassen." 56 In der Anwendung auf die Lyrik zeigte sich das Unangemessene eines Realismus-Begriffs, der an die Poetik der realistischen P r o s a des 19. Jahrhunderts gebunden war, naturgemäß besonders drastisch. Was sich aus ihm für die Poesie ableiten ließ, waren Stichworte, die wegen ihrer gattungsspezifischen Fremdheit sich mehr oder minder verlegen ausnahmen, z. B. mehr Objektivität, Pflege der Fabel im Gedicht, gedankliche Disziplin statt reicher Phantasie u. ä. Damit wurden einzelne Gestaltungselemente, die zuvor durchaus Gegenstand des literarischen Meinungsstreits gewesen waren, nun zur verbindlichen Norm erhoben, die eine zutreffende Beschreibung der neuen Wirklichkeit gewissermaßen garantieren sollte. Die Funktionen der Poesie umriß ein Kritiker jener Jahre wie folgt: „. . . sie muß mitreißen, rühren und überzeugen, einfach leserlich und unmittelbar sein, ohne formalistische Kunststücke, dafür aber mit vollem emotionalen Engagement die Wirklichkeit zeigen und zugleich der Sache ihrer Umgestaltung dienen." 57 Dieser Aufriß geht selber insofern formalistisch vor, als er einen ausführlichen Katalog äußerer Merkmale der Lyrik festhält, aber nichts darüber aussagt, welches Verhältnis der Poesie zur Wirklichkeit deren Umgestaltung am dienlichsten wäre. Deutlich wird weiter, daß in dieser Funktionsbeschreibung die affirmative Erhebung entschieden über die poetische Analyse dominiert - ganz abgesehen von der Mahnung, Warnung oder Kritik. In der literaturkritischen Anwendung zeigte sich dann der Schematismus; jegliche Abweichung vom Durchschnittlichen wurde Verzerrung genannt: die Liebesthematik - Privatisierung; ein erotisches Motiv - brutaler Naturalismus; jeder kritische Akzent Schwarzmalerei. 58 Von diesem Standpunkt aus entdeckte man bei Przybos, Rczewicz, Kamienska, Spiewak und anderen Dichtern „Ästhetizismus und formalistische Belastung", Einflüsse einer ideologisch fremden Ästhe149
tik, kurz: das Erbe der Avantgarde. Als eine Folge dieser Erbschaft wurde befürchtet, daß die Dichtung, anstatt „einfache Gedanken in leichten Versmustern anzubieten" (R. Matuszewski), schwieriger faßbare Prinzipien des Bildaufbaus und der Metaphorik bevorzugt, daß sie die Einheit von Bild und Handlung sprengt, damit „Chaos" ins Bildgefüge einführt und womöglich „expressionistischen Tendenzen" nachgibt, statt die Harmonie zu pflegen.59 Daß Rözewicz' Lyrik, weil sie neuartig war, auch zum Objekt heftigen Streits wurde, erscheint nicht verwunderlich. In einer Diskussionsrunde 1954 nannte Przybos Rözewicz' Gedichte „wirkliche sozialistische Poesie" und unterstrich, daß es viel Mut brauche, um so wie Rözewicz zu schreiben: „ . . . reimlos, ohne Interpunktion und traditionelle Rhythmen"60. Diese Äußerung würdigte nicht allein die Schwierigkeiten bei der Durchbrechung bestimmter literarischer Konventionen, sondern charakterisierte auch die Entschlossenheit, mit der Rözewicz die Leistungen und Möglichkeiten der überkommenen Poesie auf die jüngsten geschichtlichen Erfahrungen prüfend bezog. Ein anderer Lyriker, Jan Bolestaw Ozög, erklärte dagegen, Rözewicz sei für ihn schwer zu akzeptieren. Die zwei erworbenen Bändchen seiner Gedichte habe er verbrannt. Da die Kritik aber eine beschränkte Anzahl von Mitteln und Verfahren kanonisierte, war es nur folgerichtig, daß sie die tatsächlichen Gegebenheiten von Rözewicz' Dichtung, den Charakter seiner Auseinandersetzung mit der Avantgarde gründlich verkannte. Als Ausweg wurde seiner Dichtung eine ausschließlich thematisch begriffene Politisierung empfohlen. Bis zu einem gewissen Grade - teils seinen Dispositionen gemäß und teils gegen sie - versuchte der Autor, sol~ chen Vorstellungen nachzukommen. Das erbrachte u. a. auch die idyllische Szene Der Arbeiter sorgt sich um das gemeinsame Gut: Einstmals, als das große Kraftwerk in Banhida in den Taschen der Engländer stak, kam es vor: ein Arbeiter sieht einen Maschinenteil irgendwo liegen oder ein Kabelbund, das verkommt zwischen Abfall im Regen . . . Er zuckt die Achseln, geht weiter. 150
Stolpert er über etwas, blickt er nicht einmal hin, stößt es bös mit dem Fuß weg: „Rost soll es fressen! Was rührts mich!" Doch heute, mag er auch auf dem Hofe nur ein Schräubchen bemerken, oder es glänzt nur metallen, gleich hebt er es auf, wischt es ab mit dem Ärmel und schüttelt den Kopf über solche Vergeudung. Was er auch liegen sieht auf seinem Wege er bückt sich danach, als war es ein Kind das gefallen ist. So sagt mit freiem Lächeln Josef Riczu, einstmals Arbeiter, heute Direktor des Kraftwerks in Banhida. 61 Was läßt sich an diesem Text ablesen? Zunächst das Versagen des poetischen Verfahrens der Periphrase. Statt, wie bei der Kriegsthematik, durch einen kleinen Vorgang eine kollektive Erfahrung zu evozieren, ohne sie ausdrücklich zu nennen, muß hier der große Zusammenhang im Titel behauptet werden. Was der Autor poetisch „beweisen" möchte, nimmt er als gegeben vorweg. Angesichts der wirklichen Schwierigkeiten, die es in den fünfziger Jahren bereitete, eine hohe Arbeitsmoral mit der neuen Verantwortung der Eigentümer zu motivieren, illustriert dieses Gedicht Wunschdenken. Das agitatorische Klischee - schlimmes Einst, gutes Jetzt - läßt Entwicklung nicht zu. Alles ist fertig; die sozialistischen Eigentumsverhältnisse und ein neues gesellschaftliches Bewußtsein werden mechanisch gleichgesetzt. Die sprachlich eindimensionale Aussage bleibt künstlerisch taub, weil sie sich nicht um die konfliktreiche Dialektik des subjektiven Handelns der Arbeiter in objektiv eigenem Interesse bemüht, 151
sondern einen Mechanismus simpler Ableitungen vorführt, in dem es stimmig zugeht, der aber nicht stimmt. Die für jene Jahre bezeichnende Tendenz, solche idyllischen Bilder außerhalb Pokns anzusiedeln, nannte der Literaturwissenschaftler und Kritiker Kazimierz Wyka einen Auszug der Dichter in die „optimistische Emigration" 62 . Bei ähnlichen Versuchen, einen „Umbruch" der eigenen lyrischen Seh- und Ausdrucksweise herbeizuzwingen, erlitten auch erfahrene Dichter wie A. Wazyk oder M. Jastrun künstlerische Niederlagen. Wazyk z. B. versuchte dem Ruf nach politisch aktueller Thematik gerecht zu werden, indem er die Coca-Cola zum symbolischen Gegenstand einer Auseinandersetzung mit dem amerikanischen Imperialismus machte (Kleines Lied vom Coca-Coltfi3). Dem Gedicht, das kompositorisch dem Kontrast „Ihr" (2 Strophen) und „Wir" (2 Strophen) folgt, wird die dadurch herausgeforderte Ebenbürtigkeit des Gegenstandes zum Problem. Repräsentiert das Getränk Coca-Cola die imperialistische Seite, so steht ihm auf der sozialistischen „der Hoffnung lebendige Quelle" entgegen. Die Ungleichartigkeit produziert unfreiwillige Komik. Indem Wazyk Coca-Cola i nbesehen als Gleichnis für „american way of life" nimmt, ist er einem Reklameslogan aufgesessen, der ihn dann konsequent und unsinnig zur dämonischen Überforderung des vergleichsweise harmlosen Gegenstandes führt. Was vermag da nicht alles Coca-Cola; sie berauscht billig, bietet amerikanische Träume (Erfrischungsgetränk oder Rauschgift!?), verspricht gar unseren Atomtod. Die intellektuelle und emotionale Dürftigkeit solcher Auseinandersetzung ist eine Folge unkonkreter oder mangelnder Analyse und überstürzter Verallgemeinerung. Etwas wird zum Zeichen erhoben, bevor es als das begriffen worden ist, was es für sich darstellt. Folglich gerät, was als Symbol gemeint war, unversehens zum Etikett, zur Schablone, die die Wirklichkeit nicht enthüllt oder vertieft, sondern simplifiziert und verstellt. Die neuakzentuierten Aufgaben machten die Traditionsproblematik akut. Im allgemeinen hielt man dafür die Formel bereit, daß Lyrik revolutionären Inhalts ihrer Form nach nur national sein könne. Dies hatte bald die Kanonisierung des geläufigsten, d. h. des am stärksten eingebürgerten Vers- und Kompositionsschemas zur Folge. Da zudem die Möglichkeit, poetologische Impulse moderner revolutionärer Dichter zu verwerten (Neruda, Hikmet, Eluard, Aragon), von der Kritik mit äußerster Skepsis betrachtet wurde, prägte ein nationalliterarischer Traditionalismus das Formbewußtsein der Lyrik. Dem konnte auch der Hinweis auf das „Modell Majakowski", an 152
das unbedingt angeknüpft werden sollte, nicht begegnen, denn damit nahm wiederum ein Mißverständnis seinen Anfang. Die Ursache lag darin, daß einflußreiche Kritiker und mit ihnen viele junge Poeten die Gedichte Broniewskis als die polnische Entsprechung des „Modells Majakowski" betrachteten. Jene, die Broniewski einen „polnischen Majakowski" nannten, konnten sich zwar auf die Gemeinsamkeit der revolutionären Überzeugung beider Dichter berufen, ignorierten aber gänzlich deren unterschiedlich ausgeprägte Poetiken. Broniewskis Poetik hatte sich nicht aus dem heftigen Angriff auf Tradition entwickelt wie beim Futuristen Majakowski, sondern führte romantische und neoromantische Muster weithin positiv fort. Der Krieg hat die romantische Funktionssetzung der Poesie erneut aktualisiert und in diesem Sinn auch Broniewskis Arbeit zusätzlich geprägt. Das hatte Folgen für die Entwicklung nach dem Kriege. Das neue Polen begrüßte Broniewski ebenso enthusiartisch wie überzeugend in Bildern, die ihm die dualistische Geschichtsbetrachtung der Romantik an die Hand gab. Danach galt die Revolution als ein einmaliger heroischer Aufschwung, als Spiel um alles oder nichts. Für die neue Zeit, die danach begann, die Zeit des Gesanges und des Lichts, zählte der gestrige Tag der Dunkelheit und des Kampfes nicht. Die neue Gegenwart erschien Broniewski als die ein für allemal verwirklichte Vision von einst: „Es wird noch heller sein und schöner, / Freude wird sein und Gesang."64 Die romantische Geschichtsvorstellung bevorzugte vor allem die Vision der fernen lichten Zukunft. Unter ihrem Einfluß hatte Broniewski eine besondere poetische Fernsicht entwickelt. Während des Krieges hat diese Optik mobilisierend gewirkt, danach aber offenbarte sie ihre Schwächen. Der heroisch-perspektivische Gestus des Soldaten, ausgedrückt in der Formel „Ich pfeif auf die Sorgen", hieß die Bedrängnis und Not im Namen des künftigen freien Vaterlandes und der „sozialistischen Ferne" gering zu schätzen. Im Gedicht Das Sein bestimmt das Bewußtsein aus dem Jahre 1951 führt derselbe Gestus dazu, daß die wirklichen Widersprüche nicht zur Kenntnis genommen werden: Doch wozu diese alten Geschichten von Dingen, die nicht mehr sind? Von der Fröhlichkeit will ich berichten, die ringsum beginnt.65 153
Folgerichtig herrscht im Gedicht die Unverhältnismäßigkeit von Gegenwart und Zukunft; die Arbeit bereitet keine Erschöpfung mehr („dreihundertzwanzig über die Norm", aber „immer fröhlich, nichts kann dich ermüden"). Die Begründung, die der Verfasser dem Arbeiter in den Mund legt, zeugt von euphorischem Bewußtsein: weil ich gearbeitet hab / für den Sozialismus, für mich, für den Frühling."66* Die schwierige Hinterlassenschaft des Kapitalismus, von der in der ersten Strophe nicht gesprochen werden sollte, spielt in der Tat im Gedicht keine Rolle. So wird aus dem harten Arbeitsalltag der Aufbauzeit ein paradiesischer Zustand. Die poetischen Symbole, in die vor dem Krieg eine erhoffte Zukunft antizipatorisch gefaßt worden war, und die somit als Äquivalente sozialistischer Gesellschaftss'trätegie hatten gelten können, veränderten nun ihre Wirkungsweise. Zur Beschreibung der Nachkriegswirklichkeit eingesetzt, erwiesen sie sich als untauglich. Sie schöpften die neuartigen Widersprüche nicht aus, funktionierten nicht mehr analytisch, sondern wurden mehr und mehr zum Emblem. Das läßt sich an Details verfolgen. So fällt die zunehmende Allgemeinheit bei der Gestaltung der Arbeitsvorgänge auf. Wuchs in Kohlenbecken von Dqbrowa (1932) der symbolische Entwurf aus der Analyse genau gefaßter Details (Arbeitsvorgänge, Geräte, Material) heraus, so bezeichnen „Hammer, Kelle, Spindel, Hacke und Feder" in Pierwszy Maja (Erster Mai) (1950) 67 nicht primär Arbeitsgeräte, sondern stellen allegorische Attribute des sozialistischen Aufbaus überhaupt dar. An einem Punkt, da die Wirklichkeit der sozialistischen Revolution verlangte, „die Mühen der Ebenen" (Brecht) zu bewältigen, offenbarten sich die Grenzen eines Modells, das weithin auf unkritischer Verlängerung bzw. Abwandlung romantischer Poetik beruhte. Als individueller Fall künstlerischen Ausschöpfens der Romantik, mit besonderen biographischen und geschichtlichen Voraussetzungen, erreichte Broniewski imponierende Lösungen, die allerdings einen großen Schlußpunkt darstellen. Als Modell einer Traditionsbeziehung konnte sein Verfahren ebensowenig fortgesetzt werden, wie es sich zur Analyse der neuen Gegenwart eignete. Am Gegenstand Arbeit läßt sich deutlich das unterschiedliche Vorgehen von Przybos ablesen. Die Problematik beschäftigte ihn seit je. „Von Beginn meiner Poeterei an, von der ersten Sammlung ,Sruby' bewegte mich folgende Frage: Wie ist das künstlerische Schaffen mit dem handwerklichen Herstellen zu verbinden, wie knüpft man ein inniges Bündnis der Poesie und Plastik mit der Produktion, der 154
Arbeit mit der Kunst?" 68 Arbeit war für Przybos nicht lediglich poetischer Gegenstand, sondern Gestaltungsprinzip; als eine hochgradig besondere Tätigkeit im Rahmen der allgemeinen gesellschaftlichen Arbeitsteilung hatte er bisher das Wesen der Lyrik bestimmt. In der sozialistischen Revolution, die der Dichter als unaufhörliches Schöpfertum begriff, war die Lyrik aufgefordert, ihren Arbeitscharakter in jeglicher Hinsicht zu entfalten. „Künstlerisches Schöpfertum ist die in der Phantasie verwirklichte Freiheit, ist die Präfiguration befreiter Arbeit im Kommunismus", formulierte er 1956. 69 Von daher erschien die Arbeit innerhalb einer Gesellschaft, die den Sozialismus aufbaut, in seinen Gedichten als neuartige, schöpferische, aber nach wie vor anstrengende und bei weitem nicht paradiesische Wirklichkeit. Aufschlußreich ist bereits der genauere Gegenstand, den er wählt: Die Hände der Putzfrauen. In meinen glatten wird ihren groben, die rauh sind vom Scheuern, wird ihren schweren, die müd sind vom Graben, die Arbeit nicht leichter. Flüchtig nur nickend, senk ich die Augen, flüsternd: „Mich ruft meine P f l i c h t . . . " Sie aber fragen nicht, ob keine bessere Zeit für sie komme, wenn sie mich grüßen, mich, der nur eilige Arbeit vortäuscht.70 Die schwieligen, rissigen Hände der Arbeiterinnen sind nicht weggezaubert, sie bleiben eine moralische Herausforderung für den Dichter, der darüber hinaus erkennt, daß die harte Mühsal ihrer notwendigen Arbeit eine geschichtliche Herausforderung der sozialistischen Gesellschaft bedeutet. Nach wie vor hat für Przybos das Dichten mit dem Pflügen oder Stahlgießen ein ungleichartiges, aber brüderliches Ziel (Abwechselnd): was Dichter und Arbeiter miteinander verbindet, ist: beide „produzieren die Erfindung"71. Als schöpferische Menschen sind sie einander ebenbürtig. Die zahlreichen jungen, noch unerfahrenen Dichter, die in bester Absicht an das empfohlene „Modell Majakowski", d. h. praktisch an Broniewski anknüpften, um weitreichende Programmsätze zu rea155
lisieren, gerieten in eine Zwickmühle. Gegenüber ihrem Vorbild kamen sie zumeist über die epigonale Nachahmung einer bestimmten revolutionären Rhetorik bei deren gleichzeitiger Trivialisierung nicht hinaus. Die von ihnen angebotene Sicht der Wirklichkeit fiel entsprechend schematisch aus; das gilt für Andrzej Braun, Wiktor Woroszylski, Andrzej Mandalian ebenso wie für Henryk Gaworski, Edward Holda und andere. Die Schwäche jener Dichtung und ihrer Bedingungen faßte der Kritiker Jan Blonski 1955 zusammen und formulierte daraus einige charakteristische Haltungen. 72 1. Der Dichter erpreßt den Empfänger mit sogenannten Symbolen, im Grunde aber bloßen Requisiten der Gegenwart. Das heißt, je weniger echte Leidenschaft ihn bewegt, um so mehr Bergleute und Traktoren häuft er im Gedicht. 2. Oft vertauscht er den Gegenstand seiner Empfindung. Er gestaltet einen Gegenstand X, der ihn nicht bewegt, der aber aktuell ist und sich positiv ausnimmt. Also unterschiebt er dem Gegenstand X eine Empfindung Y und macht den Leser glauben, X habe sie hervorgerufen. 3. „Der Dichter klopft der Geschichte auf die Schulter." Die verschiedenen Varianten dieses Gestus haben eine gemeinsame Wurzel: das Minderwertigkeitsgefühl gegenüber der Geschichte. Wettgemacht wird es dadurch, daß der Autor mit hurrarevolutionärem Gebaren schockiert oder aber sich Personen und Ereignissen anbiedert, um jeden Preis unmittelbar und verständlich sein will. Ob Großmäuligkeit oder Unterwerfung - in beiden Fällen herrscht hohle Rhetorik vor. 4. „Der Dichter als Zyklop und als Höfling." Entweder er markiert als personifizierte Revolution den Riesen, dem Sechs-Jahr-Pläne ein Kinderspiel sind, oder er verwandelt sich in einen bescheidenen Bittsteller. Das Proletariat erscheint dann als gnädige Königin, der der Page rührende Hymnen darbringt. Damit verwandt ist die Haltung jener Dichter, die mit kindlichem Blick die Probleme der Gegenwart nur noch als Glück und Sorge des Paradieses fassen. Grundlage solcher schematischen Sicht in der Literatur scheint die Überzeugung gewesen zu sein, daß Geschichte nicht e n t s t e h t , sondern i s t , folglich wurde der Sozialismus statisch als das Ende aller Entwicklung betrachtet. Hierin waren bereits die zum Teil heftigen Korrekturen angelegt, die um die Mitte der fünfziger Jahre ausgefochten werden mußten.
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Bewegung und
Beständigkeit
Zurück zu Rözewicz und der kritischen Funktion seiner moralischen Utopie im Zeichen von „Arkadien". Das Individuum wird angehalten, die geschichtliche Chance des Sozialismus im Alltag zur persönlichen Chance zu machen. Im Zyklus Offenes Poem (1956) tritt deutlich das Pathos des Subjekts hervor, das nach dem Maß seiner extremen Erfahrungen sein positives Ideal als ein absolutes konzipiert. Darum besitzen die Gedichte immer höchste emotionale Intensität. Kleinste Konflikte werden auf ihre letzten Konsequenzen hin durchsichtig gemacht, auf Leben und Tod. Sie verletzen und quälen sich durch Schweigen und Worte als hätten sie noch ein zweites Leben vor sich Was zwischen zwei Menschen an Mißverständnis, Unempfindlichkeit, Verschweigen, Abstumpfung und Kontaktlosigkeit sich staut und ungelöst bleibt - das ist endgültiger Verlust (Mauer). Was hier verspielt wird, bleibt verloren, denn Leben ist unwiederbringlich eines und nur hier. Daraus resultiert auch die radikale Argumentation: rücksichtslos gegeneinander sind sie schwächer als pflanzen und tiere ein wort ein blick ein lächeln kann sie töten.73 Was den Menschen vor der übrigen belebten Natur auszeichnet, macht ihn zugleich reicher an Möglichkeiten der Anfechtung um die Kräfte des Gemüts und des moralischen Bewußtseins. Diese seine „Schwäche", die ihn adelt, sollte ihn zur besonderen Rücksichtnahme und Schonung gegenüber seinesgleichen anhalten. Mit gewisser Scheu, nur durch den Nachweis, daß die vermeintliche Stärke rücksichtsloser Selbstbehauptung tatsächlich Schwäche bedeutet, spricht Rözewicz positive Werte aus. Auffallend beunruhigt zeigt sich der Dichter durch die zunehmende Dynamik des Lebens. Seit 1955 wird in verschiedenen Gedichten 157
das hastige, oberflächliche, automatisch werdende Leben kritisch registriert. Der soziale Inhalt dieser Veränderungen bleibt außerhalb des Gedichts, nur die Gefährdung wird ausgedrückt, die hieraus erwachsen könnte, und die lautet: Verlust einer stabilen Ordnung der Werte. Sie kündigt sich an in den Schwierigkeiten des Subjekts, die beschleunigte Häufung von Handlungen und Zuständen sinnvoll zu integrieren. Tragen von Ringen Tragen von Schnurrbärten sich im Spiegel betrachten Zwinkern gute Miene machen Karriere machen machbar dies und jenes All das ergibt ein Sammelsurium das sich zu nichts zusammenfügt.7'* Das simultane Aufreihen betont es; die mechanisch ablaufenden Vorgänge fügen sich dem lyrischen Subjekt zu keiner Ganzheit. Es vermag ihnen keinen Sinn zu geben, wird also von ihnen beherrscht und damit selber anonym. Mit dem Auszug aus dem Idyll kommt es zu der Entdeckung, wie enorm beschleunigt gesellschaftliche Vorgänge ablaufen. Rözewicz versucht als erster die Urbanisierung in Polen als Bestandteil des langwierigen Umbaus der Kultur in einer synthetischen Ansicht zu fassen. War die soeben verlassene Harmonie auch trügerisch, weil ihr als bloßer Gegenentwurf zum Krieg viel Unwirkliches anhaftete, so hatte sie doch den Eindruck einer geordneten Ganzheit vermitteln können, wohingegen der neu entdeckte gesellschaftliche Zustand in seiner Bewegtheit sich eher disparat darstellte. So häuft sich beim lyrischen Subjekt das Empfinden, nicht mehr mit sich eins zu sein, in zahllose Ichs zerlegt zu werden. Die an sich begrüßenswerten Erscheinungen wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Stabilisierung beunruhigen Rözewicz, weil er den idealen Entwurf einer menschlichen Gemeinschaft in einer Atmosphäre moralischer Lauheit und Trägheit verschlissen sieht: „Liebe und Haß / haben ihre Ansprüche verringert / das Weiß ist nicht mehr so weiß / so blendend weiß" - heißt es in dem Stück mit dem bezeichnenden Titel Unsere kleine Stabilisierung75. Die beschleunig158
ten Veränderungen werden vor allem als das wahrgenommen, was den Menschen entwurzelt, ihm den bisherigen Halt einer vertrauten Lebensordnung entzieht, ohne daß sich eine neue schon ausgebildet hätte. In den neuen großen Städten, in denen man dicht beieinander wohnt, stellt sich die neue Art zu leben als Surrogat von Kultur dar, während das moderne Angebot an „höheren Werten" dem unbefangenen plebejischen Blick als Kultur der Surrogate erscheint. Menschlicher Reichtum erschöpft sich in einer bestimmten Praxis, im individuellen Besitz einer wachsenden Zahl „moderner" Verbrauchsgüter. Jeder geht in seine Richtung: nehmen Staubsauger mit schäbige bilder frauen kinder motorräder kühlschränke einen nachrichtenvorrat asche Pseudonyme beliebige reste der ästhetik des glaubens etwas in der art eines gottes etwas in der art einer Liebe Egoistische Abkapselung statt Solidarität, Halbheit und Beliebigkeit statt Leidenschaft für Ideale. Soweit die Diagnose der Gefahren. Als Ausweg verweist der Dichter auf die Vergangenheit, da es besser war: erinnert ihr euch einmal waren wir offen in der zeit größter Unterdrückung fremdes leid und fremde freude drangen leicht in uns ein 76 Die erzwungene Solidarität der Kriegszeit wird als vorbildliche Qualität und den neuen sozialen und kulturellen Verhältnissen gegenübergestellt. Die Schwierigkeiten des lyrischen Subjekts, dem die bewegte Realität als disparates Nebeneinander erscheint, deuten auf Schwierigkeiten des Dichters hin. Der moralische Maßstab und die ihm angemessene Poetik, an einem anderen Gegenstand ausgebildet, offen159
baren mangelnde Beweglichkeit angesichts der gesellschaftlichen Dynamik, weil sie den Prozeß und seine Widersprüche vorrangig in der statischen Polarität von Gut und Böse zu erfassen in der Lage sind. Daneben ist Rözewicz aber bemüht, den Absolutheitsanspruch des moralischen und ästhetischen Ideals zu relativieren. Er spricht zu den Politikern, Bischöfen, Generälen, den sogenannten einfachen Leuten, die ihn alle „nicht lesen / nicht hören / nicht kennen / nicht brauchen", er tut es dennoch, denn er braucht sie.77 Nur gemeinsam mit jenen, die die Gegenstände seiner Gedichte sind und zu ihren Adressaten werden, kann er „Schönes erschaffen", und wenn das mißlingt, so deshalb, weil doch mit euch mit eurer Vorstellungskraft mit eurer Angst Schrei und Schweigen wir uns kreuzen wir uns paaren erschaffen wir gemeinsam Wechselbälge 78 Die Kritik zielt hier auch auf das poetische Verfahren, Schönheit als ein von außen herangetragenes Ideal dem praktischen Leben entgegenzustellen. Der Dichter spricht sich nämlich nicht mehr ohne weiteres das Recht zu, den Bauern aufstören zu dürfen, damit er Anteil nehme am Drama des Ikarus. Er weiß inzwischen, „daß der Pflüger die Erde pflügen muß / und der Hirt Herden hüten / Ikarus' Abenteuer ist nicht das ihre"7'J. Die tragischen Aufschwünge und Erschütterungen können nicht das einzige Maß des praktischen Daseins sein. Das Stichwort praktisches Dasein nimmt für Rözewicz in dem Maße an Bedeutung zu, wie sich ihm die durch den Krieg verursachte Erschütterung zu einem kosmischen Weltzustand weitet, zu einer allgemeinen Krise der Kultur. Seit Et in Arcadia ego (1960/ 61) dient das Motiv der Bildungsreise, gestaltet als erste Begegnung eines Bewohners der polnischen Provinz mit Italien, dem klassischen Land europäischer Kultur, auch im Drama (Die Laokoongruppe, 1961) und in der Prosa (In der diplomatischen Vertretung, 1964) dazu, die Kultur des 20. Jahrhunderts zu kompromittieren, ihren Zivilisationsrausch und ihre Mythen zu entlarven. Dies geschieht von einem plebejischen Standpunkt aus. Volksgestalten mit der Fähig160
keit zu „überraschtem und sinnvollem Staunen"80 bringen die elementaren Belange des Körpers, der Physiologie, des praktischen Lebens gegenüber den hochmütigen und hohlen Einbildungen des Geistes zur Geltung, wie in der Erzählung von alten Frauen: Gott stirbt die alten Frauen stehn auf wie alle Tage kaufen im Morgengrauen Brot Wein Fisch die Zivilisation stirbt die alten Frauen stehn morgens auf öffnen die Fenster entfernen Unrat ein Mensch stirbt die alten Frauen waschen den Leichnam bergen die Toten pflanzen Blumen auf Gräbern ich liebe die alten Frauen die häßlichen Frauen die bösen Frauen81 Die landläufigen ästhetischen und moralischen Wertungen werden entkräftet. Die „häßlichen" und „bösen" Frauen sind für den Dichter der Maßstab uneigennütziger Menschlichkeit, beständiger Anteilnahme, Garantien für die Unzerstörbarkeit des Lebens. Und weil er das Leben selbst für den höchsten Wert hält, nicht die Idee von ihm, gilt seine Liebe den geschmähten Repräsentanten des praktischen Daseins. Das Vertrauen in einfache und universale Werte, die hinter vielgestaltiger Maskierung und verzerrender Abstraktion sichtbar gemacht werden müssen, ist für Rözewicz eine Quelle beständiger Zuversicht. Die oben genannten Schwierigkeiten wirken sich auch auf die Form aus. Die Poetik dramatischer Einfachheit gewann ihre Dichte bisher dadurch, daß sie das Konkrete, Alltägliche vor dem Hintergrund des Unerhörten betrachtete. In dem Augenblick, da die gesellschaftliche Erinnerung an den Krieg ihre Schärfe verliert und der sprachliche Vorgang den Bezug zu diesem nicht mehr evozieren kann oder aber ein neuer Gegenstand ins Spiel kommt, ist diese Poetik gefährdet. 11 Olschowsky, Lyrik
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Es häufen sich Texte von isomorpher sprachlicher Struktur, deren forcierte Vordergründigkeit keine weitere Dimension mehr einfängt. Damit verliert die lyrische Aussage zunehmend an Konkretheit. Die Fähigkeit, die vielgestaltige Umwelt intellektuell zu ordnen, wird geringer, denn das Subjekt bildet sich, noch immer auf der Suche nach Authentie, der Vielfalt lediglich nach. Es gibt seine Eigenständigkeit der Objektwelt gegenüber auf. Die Konsequenz heißt Anonymität: Ich und Welt fallen in unterschiedsloser Identität zusammen. So lange formte ich mich zum bild und ebenbild des nichts formte dieses antlitz zum bild und ebenbild von allem endlich verwischen sich die Züge meine worte bestaunen einander nicht mehr 82 Bei Przybos war die Verselbständigung der kreativen Subjektivität der Umwelt gegenüber kritisch zu vermerken, hier indessen geschieht das Gegenteil: die rückhaltlose Auslieferung der Subjektivität an den Gegenstand. An dieser Stelle meldete die Kritik zu Recht Einwände gegen die einseitige Emotionalität und den Mangel an intellektueller Beweglichkeit in Rözewicz' Lyrik an. Theoretisch stand der Dichter vor der Alternative, seine Poetik zu revidieren oder die Gattungsgrenzen zu überschreiten. Die Wechselbeziehung von poetischem Bewußtsein und poetologischem Verfahren ließ nicht ohne weiteres eine Änderung der Form zu. So beobachten wir, wie sich durch häufigere Verwendung des Poems und anderer zyklischer Formen (Didaktische Erzählung; Das Fallen; Acheron in der Mitte des Mittags) der Übergang Rözewicz' zur Prosa anbahnt. Daneben pflegt der Autor sein dramatisches Schaffen. Vor dem Hintergrund zunehmender gesellschaftlicher Dynamik zeichnet sich damit eine deutliche Zäsur in einem Werk und einer poetischen Entwicklungsphase ab. 162
Funktionswandel der Lyrik seit Mitte der fünfziger Jahre
Zur Kennzeichnung jener Wandlungen, die sich seit Mitte der fünfziger Jahre in der polnischen Literatur, besonders auffällig in der Lyrik, vollzogen, hat die Literaturkritik das Stichwort von der „Generation 56" geprägt. In mehreren Darstellungen der Lyrikentwicklung, so in den Arbeiten von J. Blonski, K. Wyka, R. Matuszewski, J. Slawinski, J. Kwiatkowski und A. Lam wie auch in den jüngsten Überblicken über die gesamte Literatur Volkspolens von W. Maciqg oder M. St^pien, sind die Erscheinungen, die das Stichwort meint, inzwischen beschrieben, interpretiert und versuchsweise literaturhistorisch eingeordnet worden. 1 Der Terminus „Generation 56" ist, für sich genommen, reichlich unscharf, denn die Erscheinungen und Vorgänge, die er andeutet, sind komplexer Natur und lassen sich keineswegs einer einzigen, im biographischen oder poetologischen Sinne einheitlichen Generation zuschreiben. Dem biographischen Aspekt kam dabei allerdings eine nicht unbeträchtliche Rolle zu; die fünfziger Jahre brachten nämlich eine sichtbare Umgruppierung in der Lyrik. Zwischen 1953 und 1962 verstarben Tuwim, Galczynski, Lechon, Staff und Broniewski - Dichter, die ihren Stil und ihre Fragestellung schon vor dem Krieg entfaltet hatten. Die jüngeren Lyriker, die nun hervortraten, waren, persönlich wie dichterisch, vor allem durch die Zeit Volkspolens geprägt. Ihre ersten Gedichtbände veröffentlichten Stanislaw Grochowiak, Jerzy Harasymowicz, Bohdan Drozdowski 1956, Ernest Bryll 1958. Daneben gab es „verspätete" Debüts von Dichtern, die bereits früher geschrieben hatten, vom Jahrgang her noch zur Kriegsgeneration zählen, aber erst jetzt mit eigenen Sammlungen an die Öffentlichkeit treten konnten, wie Zbigniew Herbert und Miron Bialoszewski. In den Umkreis der „Generation 56" gehören schließlich auch Wislawa Szymborska (1952) und Tadeusz Nowak (1953), die früher gestartet waren, deren Werk aber in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre eine deutliche Wendung erfuhr. 163
Das Stichwort bezeichnete also keine homogene literarische Gruppe mit gemeinsamer Poetik oder abgestimmtem Programm, sondern eine literarisch-gesellschaftliche Situation, die einen bestimmten Zusammenhang stiftet. Das Gemeinsame der ansonsten scharf profilierten poetischen Individualitäten läßt sich am ehesten an deren Auffassungen von der Funktion der Lyrik bestimmen. Der Rückblick auf das erste Jahrzehnt der Volksrepublik (1944-1954), der in Umfragen und literarische Debatten unternommen wurde, brachte die ersten Anzeichen eines gewandelten Funktionsverständnisses der Autoren. Faßt man das Allgemeinste der vielfältigen Stimmen zusammen, so fällt auf, wie vehement die künstlerische Eigenart der Gattung Lyrik gegenüber den anderen literarischen Gattungen und den außerkünstlerischen Formen sprachlicher Kommunikation behauptet wurde. Bezeichnenderweise wiederholten gleich drei kritische Abhandlungen zur neueren Lyrikentwicklung, die in der Folgezeit entstanden, das Wort „Phantasie, Einbildungskraft" in ihrem Titel, somit der von Dichtern und Kritikern weithin geteilten Überzeugung Ausdruck gebend, daß Lyrik vor allem „Sache der Einbildungskraft" (K. Wyka) sei. Verfochten wurde dies auf mannigfaltige Weise. Mit ernstem Eifer legte Julian Przybos in dem Aufsatz Poezja i rewoluqa (1955) dar, daß aus dieser Kraft die unverwechselbare Funktion der Lyrik zwischen Agitation und Unterhaltung erwachse. Wo das Gedicht durch den Zeitungsartikel oder den Schlager ersetzbar erscheint, dort hat es sein eigentümliches Wirkungsvermögen nicht entfaltet.2 In der provokant infantilen Manier eines Außenseiters, die allerdings eine fragwürdige Einengung seines poetischen Blickfeldes andeutet, formuliert Jerzy Harasymowicz: „Die Volksmacht ist sympathisch, aber wichtiger für mich ist die Macht der Poesie. Wirklicher als die Wirklichkeit ist mir meine phantastische Welt, und nur sie geht mich in Wahrheit etwas an."3 Die Neubestimmung erfolgte unter kritischer, gelegentlich polemischer Bezugnahme auf die literarische Praxis der frühen fünfziger Jahre, so daß, wie ein Kritiker später feststellte, selbst Harasymowicz' vorzügliche Beschäftigung mit Häschen und Zwergen als mutige Herausforderung empfunden werden konnte. Die Äußerungen jüngerer Dichter über die Funktion der Lyrik stammen in der Regel erst aus den Debatten der sechziger Jahre und beschreiben bereits eine veränderte Praxis. Wie lauteten die auffälligsten Akzente? Von der Pflicht des Schriftstellers, das konkrete Individuum stets im Auge zu behalten, spricht Zbigniew Herbert. Ohne einem me164
chanischen Fortschrittsglauben oder dem Idol einer statischen, konfliktlosen Gesellschaft zu verfallen, habe sich Literatur an der Errichtung einer die Menschen integrierenden Werthierarchie zu beteiligen, deren Überschreitung nicht folgenlos bleiben dürfe. Der Hunger nach Wirklichem, den der Dichter empfinde, sei nicht auf bestimmte Bereiche, Themen oder Zeiten beschränkt, er schließt Gegenwart und Vergangenheit des Menschen, seine Kultur und die Dingwelt mit ein. Lyrik nötige den Dichter zur Bescheidenheit, nämlich zum Bewußtsein seiner beschränkten Rolle und Kraft, die Geschicke der Welt u n m i t t e l b a r zu beeinflussen.4 Als „Zuwachs an Genauigkeit" will Wislawa Szymborska Wert und Wandel ihrer poetischen Arbeit in jüngster Zeit verstanden wissen. Diese Genauigkeit habe allerdings etwas mit Engagement zu tun, denn „je größer die Neugier eines Schriftstellers auf das Leben, je leidenschaftlicher sein Erkenntnisdrang, je umfassender sein Wissen, um so ernsthafter ist sein Engagement" 5 . Tadeusz Nowak nennt den von der Kindheit her bekannten Quell der Poesie (Psalmen und Folklore) die bleibende Inspiration seiner besten Leistungen. Das Stichwort Genauigkeit greift auch Stanislaw Grochowiak auf, wenn er das von Przybos geprägte, auf die jungen Dichter gemünzte Etikett „Turpisten" (lat. turpis = häßlich) in einer bestimmten Deutung akzeptiert: als Suche nach einer neuen realistischen Formel der Poesie. Realistisch bedeute hier vor allem, dem Menschen Wissen über sich selbst zu vermitteln, unbeschönigtes, gelegentlich grausames, aber dadurch eben „rettendes Wissen". Das setze eine innige Bindung der Lyrik an das durchschnittliche Dasein der Leute voraus, die nicht sehr wohlhabend, müde und oft genug gebrannte Kinder der Geschichte seien.® Ähnlich wie Herbert verwirft auch Grochowiak jeden mystifizierten Fortschrittsbegriff. In den Äußerungen von Bialoszewski, Bryll, Grochowiak und anderen ist die Tradition nicht länger Sache der Treue gegenüber einer fixen Zahl zur Nachahmung empfohlener Vorbilder und Muster, sondern Gegenstand spielerisch-ernsthafter, jedenfalls aber kritischer Reflexion über ihre funktionale Brauchbarkeit und Ansporn, geschichtlichen Sinn zu entwickeln und zu schärfen. Statt Pflege eines engen Kanons also - Entdeckung neuer Traditionsfelder; statt andächtiger Verehrung der Klassiker - Prüfung, ob, wie und wo von ihnen zu lernen sei. Die hier vorgeführten Fahnenworte individueller Funktionsauffassung verschiedener Dichter sind von Grochowiak, 165
gewissermaßen stellvertretend für andere, zusammengefaßt und entschieden in den gesellschaftlichen Kontext gestellt worden. Anlaß dazu war der Streit um den Namen Turpisten, mit dem Przybos 1962 die Vorliebe einiger junger Dichter für Krankes, Häßliches und Gebrechliches apostrophiert hatte. In dieser Debatte, so führte Grochowiak aus, gehe es nicht um das poetische Requisit, um häßliche Wörter, sondern um die gesellschaftliche Funktion der Poesie. D i e Debütanten des Jahres 1956 hätte dasselbe Motiv bewegt, das zehn Jahre zuvor Rözewicz ebenfalls zum „Turpisten" hat werden lassen, nämlich: die Dichtung zu entmythologisieren, sie mit dem wirklichen Leben und den wirklichen Sorgen der polnischen Gesellschaft zu erfüllen. Indem Grochowiak die Lyrik nach ihrem Verhältnis zu den entscheidenden Bereichen der Wirklichkeit befragt, enthüllt er die weltanschaulichen Grundlagen einer Haltung, die unabhängig davon, ob man sich mit der Bezeichnung Turpisten identifizierte oder nicht, den meisten Dichtern der „Generation 5 6 " gemeinsam war. Häßlichkeit, Gebrechen, Schmerz, die von Przybos inkriminierten Merkmale, sollen nicht als Anlässe zur Provokation oder Koketterie dienen, sondern als zutiefst menschliche Eigenschaften „ohne futuristische Verrenkungen und Baudelaires Abscheu" in der Lyrik gerechtfertigt werden. D i e Aufmerksamkeit für die üblicherweise schamhaft versteckte Kehrseite der Dinge führe die Turpisten nicht dazu, die Schönheit der Natur, des menschlichen Körpers, der Liebe zu verschweigen, nur sie fügten sogleich den präzisierenden Nachsatz hinzu: Für wen ist sie heute zugänglich, um welchen Preis und inwiefern ist sie bedroht? Gleiches gelte für die Leistungen der Wissenschaft, den Fortschritt der Technik und Zivilisation; das Raumschiff soll besungen sein, und berauschen mag manchen die Vorstellung von der Menschheit zukünftigen luftigen Häusern, dabei dürfe aber nicht übersehen werden, daß solche Zukunftsschau nur e i n e Alternative darstellt im gesamten Spiel der gegenwärtigen Widersprüche. D i e Mythisierung des Fortschritts als einer unentrinnbaren Zwangsläufigkeit, die „aus der Hölle geradewegs ins Märchenparadies führe", wird verworfen. Folgerichtig lehnt Grochowiak auch eine Vorstellung vom Sozialismus ab, worin er als „Dantes Himmel daherkommt", allen Leids und aller Konflikte ledig, so fertig, daß man nur die Hand nach ihm auszustrecken brauche. Bejaht wird dagegen „der Sozialismus als Realität, die heute schon heranwächst, langsam, mühevoll . . . mit nötigem und unnötigem Leid und unter schweren Opfern". Erst 166
eine solche genaue, dialektische Sicht auf die Gesamtheit der Dinge ermögliche dem Dichter Optimismus. 7 Die angeführten Stimmen lehnen sich gegen schematische Postulate einer normativen Poetik auf und gegen deren künstlerisches Ergebnis - Schönfärberei, Versimpelung, Langeweile. Sie opponieren weiter gegen die Überschätzung des Vermögens von Literatur, praktische Aufgaben (erwünschtes gesellschaftliches Verhalten zu erzeugen und bestimmtes Fehlverhalten zu korrigieren) unmittelbar erledigen Zu können. Mit solch übersteigerter Wirkungsvorstellung ging nicht selten die im Grunde abschätzige Annahme einher, „eine gesellschaftliche Funktion nehme die Literatur erst jenseits des Vergnügens, der subjektiven Erlebnisse, der ästhetischen Genüsse wahr", also jenseits ihrer strikt künstlerischen Wirkungspotenz. 8 Dagegen wird nun eine vorsätzliche poetische Vieldeutigkeit angestrengt, die gelegentlich auch nur ästhetischen und philosophischen Modetrends gehorcht. Der Wirklichkeit im subjektiven Erleben ohne thematische Beschränkungen zugewandt und alle semantischen Ebenen der Sprache nutzend, soll eine beziehungsreiche Lyrik einem Publikum, dessen Zuständigkeit gewachsen und differenzierter geworden ist, in demokratischer Partnerschaft gegenübertreten. Bekräftigt wird eine Haltung, die Empfänglichkeit für das Offene, Unabgeschlossene, für die Überraschungen der Zukunft einschließt, die Zweifel nicht unterdrückt und Fertiges nicht ungeprüft hinzunehmen oder zu behaupten geneigt ist. Somit werden die Aufgaben des Dichters neu umrissen; er soll nicht unerschütterliche Wahrheiten „verkünden", willkommene Überzeugungen lediglich deklarieren, belehren oder erziehen wollen, sondern zur Selbstverständigung der Individuen über die Widersprüche der sozialistischen Entwicklung als der eigenen Wirklichkeit beitragen. Mut zur Subjektivität wird verlangt, denn es galt, neue Fragen, die sich aus dem Gesamt der Entwicklung ergaben, aufzuspüren und ihnen einen authentischen wie originellen lyrischen Ausdruck zu geben. Dieses in seinen Grundzügen gemeinsame Funktionsverständnis einer größeren Anzahl von Lyrikern kann als Indiz und subjektives Korrelat einer veränderten gesellschaftlichen und kulturellen Situation genommen werden. Sie läßt sich kennzeichnen als Übergang zu einer neuen Phase gesellschaftlicher Entwicklung in Polen, deren politische Zäsuren durch Ereignisse wie den XX. Parteitag der KPdSU und seine internationale Ausstrahlung sowie das 8. Plenum des Z K der PVAP vom Oktober 1956 markiert sind. Die vom 8. Plenum 167
angenommenen politischen und ökonomischen Beschlüsse wirkten sich in der Folgezeit in allen Lebensbereichen der Gesellschaft aus. Sie erbrachten eine Bilanz der voraufgegangenen sechs, sieben Jahre, darunter eine kritische Bewertung der mit dem Personenkult zusammenhängenden Erscheinungen, die als Verletzung der Grundsätze sozialistischer Demokratie und als Abweichung von den Leninschen Normen des Parteilebens beurteilt wurden, sie enthielten Korrekturen und neue Orientierungen. Mit dem Sechs-Jahr-Plan (1950-1955) war ein entscheidender Schritt zur sozialistischen Industrialisierung des Landes getan worden, Einseitigkeiten und Mängel im Zuge seiner Realisierung sowie internationale Schwierigkeiten hatten es jedoch notwendig gemacht, die volkswirtschaftlichen Prioritäten und Proportionen neu festzulegen. Dem moralischen und politischen Zusammenschluß aller patriotischen Kräfte auf der Grundlage der sozialistischen Gesellschaftsstruktur diente die nun praktizierte positive Einstellung zu all denen, die von anderen als sozialistischen Positionen aus sich am Befreiungskampf gegen den faschistischen Okkupanten beteiligt hatten. D i e Rehabilitierung der 1938 auf Grund provokatorischer Anschuldigungen aufgelösten Kommunistischen Partei Polens belebte die linken und revolutionären Traditionen für die Gegenwart. 9 * Dieser Schritt ermöglichte auch die Rückkehr der Werke revolutionärer Schriftsteller wie Bruno Jasienski oder Witold Wandurski ins literarische Leben. Die Auswirkungen der neuen politischen Akzente auf die allgemeine kulturelle Atmosphäre, insbesondere die Literaturverhältnisse, sind jüngst in den einschlägigen Überblicken polnischer Autoren zusammenfassend beschrieben worden. Eine Dezentralisierung wurde eingeleitet, die zu einer gleichmäßigeren Entwicklung in allen Regionen des Landes führte. Die erweiterte Sicht auf Fragen des Ideengehalts und der formalen Gestaltungsmittel ermöglichte eine umfassende Einbeziehung alles Wertvollen aus der eignen Literatur der Jahre 1918 bis 1939 wie auch eine unbehinderte Prüfung herausragender Leistungen und bedeutsamer Erfahrungen der europäischen Literatur und der Weltliteratur. Kurz - die künstliche Isolierung der Literatur wurde aufgehoben. Verlegerisch „entdeckt" wurden in jener Zeit Camus, Sartre und Vercors, K a f k a , Musil, Broch, zum Teil Thomas Mann, J . Conrad, Hemingway, Steinbeck und Faulkner, aber auch Babel, Ehrenburg, Pilnjak und Bulgakow - wodurch fruchtbare Rezeption, aber auch unkritische Nachahmung in Gang gesetzt wurden. 1 0 Die literarische Auseinandersetzung mit dem verflossenen Jahrfünft 168
vollzog sich auf verschiedenen Bahnen. Es fehlte dabei nicht - so führt M. St^pien aus - „an heftigen, nervösen, ja manchmal möchte man sagen hysterischen Reaktionen", die sich darauf beschränkten, sämtliche Leistungen der jüngsten Vergangenheit eilfertig durchzustreichen.11 Enttäuschung, Verbitterung hätten gerade bei jungen Autoren Oberhand über eine nüchterne, rationale Analyse der Gegenwart bekommen, was gelegentlich zu antischematischem Schematismus führte. In der anfangs leidenschaftlich erhitzten Atmosphäre (1956-1958) verwischten sich hier und da die Grenzen zwischen Äußerungen, die, den Sozialismus prinzipiell bejahend, die begangenen Fehler aufdeckten und kritisierten, und anderen, die als gänzliches In-Frage-Stellen sozialistischer Ideologie aufgefaßt werden konnten. So manches Engagement zur Überwindung dogmatischer und vulgärer Auffassungen in der sozialistischen Kunstenwicklung und -theorie erhielt seinen Stellenwert durch die international zugespitzte Atmosphäre des ideologischen Kampfes; darum war besondere Sorgfalt vonnöten, um zwischen aufrichtiger, produktiver Kritik, oberflächlicher Anpassung an geistige Modetrends und revisionistischen Angriffen zu unterscheiden. Die geistige Bedeutung des Wandels, der sich Mitte der fünfziger Jahre vollzog, ist jedoch sowenig auf die politischen Ereignisse des Jahres 1956 allein zu beschränken, wie sie sich in bestimmten Erscheinungen der sogenannten „Abrechnungsliteratur" erschöpft. Es ging um mehr: um den Wandel der gesellschaftlichen Funktion von Literatur nach einem Jahrzehnt volksdemokratischer und sozialistischer Entwicklung. Im Zuge der politischen Veränderungen und Korrekturen, mit denen heftige geistige Erschütterungen einhergingen, hatte sich gezeigt, daß im allgemeinen Bewußtsein das Schicksal Polens von dem des Sozialismus nicht mehr zu trennen war, daß die Ideologie der neuen Gesellschaftsstruktur bereits ein integraler Bestandteil des Nationalbewußtseins geworden ist. Die Tatsache, daß der Sozialismus nun nicht mehr nur als postulierter, umkämpfter Gegensatz zum Kapitalismus, sondern stärker als die erfahrene eigene Wirklichkeit begriffen werden konnte, blieb nicht ohne Folgen. Eine neue Sehweise der Gegenwart war gefordert; die Literatur hatte ihre Beziehung zur Ideologie wie zum Adressaten neu zu bestimmen und sich somit ihrer unersetzbar eigenen Möglichkeiten als Kunst zu vergewissern. D a in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre offenkundig geworden war, daß die Alternative Sozialismus oder Kapitalismus in Polen keine offene Frage mehr war, stellte sich der 169
Literatur die Aufgabe, „die akzeptierte Wirklichkeit geistig zu bewirtschaften, ihre Entwicklungsmöglichkeiten aufzuzeigen, und das heißt, ihre Widersprüche aufzudecken"12. Im folgenden soll an einigen Beispielen gezeigt werden, in welch vielfältigen Strukturen und neuartigen Traditionsbeziehungen, wie differenziert und gegensätzlich im einzelnen sich das gewandelte Funktionsverständnis realisierte. Es ist nach den bevorzugten Motiven und Themen zu fragen, nach den sprachlich-poetischen Mitteln, mit denen die lyrische Subjektivität aufgebaut wird, nach ihrem Adressatenbezug und danach, welche Haltungen und Wertungen sich daran ablesen lassen.
Zeugnis der Herkunft Auffälliges Merkmal der literarischen Situation seit 1955/56 war die erneute Reflexion einiger Aspekte des zweiten Weltkrieges. Dabei ging es nicht mehr um die Bewältigung des Kriegserlebnisses im literarischen Zeugnis schlechthin, sondern um die Formulierung moralischer und historischer Ansprüche, die aus vergangenen Erfahrungen an die Gegenwart erwuchsen. In den Gedichten seines ersten Bandes Struna swiatla (Lichtsaite, 1956) wie auch in den weiteren stellt sich Zbigniew Herbert (Jahrgang 1924) - den Zusammenhang mit der Kriegsgeneration (Baczyriski, Rözewicz, Borowski) bekräftigend - als „Hüter der Gräber" vor. Erinnerungen aus dem Okkupationsalltag: Bilder des Widerstandes, der Flucht, der Angst, des Hungers, der Liebe und des Todes bleiben in seiner Lyrik stets anwesend (Unsere Angst, Zwei Tropfen) - Urkunden der Herkunft, Bestandteile unauslöschlicher Daseinserfahrung. Dieses Thema schafft Verbindungen zum literarischen Umfeld: zu Gedichten von Szymborska, Grochowiak, Bryll, zur Prosa von Roman Bratny, Tadeusz Konwicki oder J. S. Stawiriski und darüber hinaus z. B. zum Filmschaffen von Andrzej Wajda (Der Kanal, Asche und Diamant). Um welches Problem es dabei ging, deutet das Gedicht Warschauer Friedhof an, darin heißt es: Diese Wand der letzte prospekt ist fort kalk für häuser und gräber 170
erinnern ngskalk [ . . . ] bedrängt von den lebenden steigen die toten tiefer tiefer hinab13
Die Veränderung, Abriß und Aufbau der Stadt, bedrängt die Opfer des Krieges, die Errichtung von Neuem macht sie dem Leben entrückter. Der Kalk für die Häuser bedeutet zugleich „Erinnerungskalk" - ausgelöschtes Gedächtnis an die Toten, die nachts Klage darüber führen. Darum macht sich das lyrische Subjekt zum Fürsprecher jener, die um „ein winziges zeichen von oben" bitten. Welchen gesellschaftlichen Zusammenhang spricht dieses Gedicht an? Der Friedhof im Titel meint keinen abgesonderten Ort, es ist die Stadt Warschau selber, mit ihren überall anzutreffenden Gedenktafeln für die erschossene Zivilbevölkerung und die gefallenen Kämpfer des Warschauer Aufstandes. Das Schicksal der letzteren vor allem meint das Gedicht. Die Warschauer Jugend und darüber hinaus die junge Intelligenz des Landes, die sich in der Hauptstadt, dem Zentrum illegalen Bildungswesens während der Okkupationsjähre, aufhielt, hatte an der bewaffneten Erhebung der Stadt gegen den faschistischen Okkupanten im Spätsommer 1944 teilgenommen. Organisiert war sie zumeist in der AK, Landesarmee, der größten militärischen Widerstandsorganisation, die der polnischen Exilregierung in London unterstand. Das historische Urteil über den Warschauer Aufstand, formuliert von einem Teilnehmer aus den Reihen der linken AL, der Volksarmee, betont nachdrücklich den widersprüchlichen Charakter als b e w a f f n e t e Aktion und als p o l i t i s c h e s Unterfangen. Keine andere nationale Erhebung der Polen sei mit einem so tragischen inneren Widerspruch behaftet gewesen - „dem Widerspruch zwischen dem Heldenmut, dem Patriotismus, dem Kampfgeist der Volksmassen und der Verantwortungslosigkeit und klassenbedingten Borniertheit der politischen Führer des bürgerlichen Lagers, die das Heldentum des Volkes mißbrauchten und seine Blutopfer vergeblich werden ließen" 14 . Ungeachtet der politischen Absichten der Inspiratoren ist der Warschauer Aufstand zu einer Volkserhebung geworden. Seine Hauptkraft war die Bevölkerung der Stadt, „die auch die größten Verluste erlitt. Seine Armee wurde vor allem von der patriotischen Jugend Warschaus gestellt, die in dem Aufstand nur ein einziges Ziel sah: den Kampf mit dem Todfeind, den Kampf um die Freiheit und Unabhängigkeit der Heimat. Dieser Armee der Jugend . . . , die in allen Straßen und Winkeln der Stadt ihr Leben ließ, waren die politischen Machenschaften des Londoner Lagers fremd und unverständlich." 15 Die bürgerkriegsähnlichen Zusammenstöße um die Durchsetzung revolutionärer Veränderungen nach 1945 sowie die Spannungen, die
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der kalte Krieg in den internationalen Beziehungen mit sich brachte, erzeugten eine politische Atmosphäre, in der viele Patrioten aus den Reihen der AK „die Bitternis des Mißtrauens und des Unrechts erfahren mußten" 16 . Man identifizierte die Kampfbereitschaft der Aufständischen im nachhinein mit den Zielen und Absichten der politischen Führung, so daß jene, die ihr Leben für die Befreiung des Vaterlandes gewagt hatten, kurzerhand auf die Seite der historisch Besiegten geschlagen wurden. Neben Unrecht, Verdächtigung und Verfolgung, denen viele ausgesetzt waren, drohte der moralische und geschichtliche Wert des patriotischen Einsatzes einer Jugend verschüttet zu werden und verkannt zu bleiben. Den Soldaten und Partisanen aller politischen Orientierungen, die im antifaschistischen Kampf gestanden hatten, Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, war in der polnischen Gesellschaft zu einer schmerzlich empfundenen dringenden Notwendigkeit geworden. Die Literatur, darunter die Lyrik, beteiligte sich daran, indem sie gegen vergröbernde Formeln und Klischees ein politisch differenziertes Verständnis ins Feld führte, den Heldenmut der Aufständischen als zu bewahrenden Wert beschrieb und so den „älteren Brüdern" ein würdiges Gedächtnis im Bewußtsein der Gesellschaft stiftete. Dabei ging sie unterschiedlich zu Werke. Herbert spricht die Wechselbeziehung von fortschreitendem Leben und schwindendem Gedächtnis im Ton leiser Klage an. Es fehlt bei ihm die zornige Anteilnahme, die bei Wislawa Szymborska (Jahrgang 1923) aus der Selbstanklage erwächst {Rehabilitierung)11. Der Toten Ewigkeit besteht, solang wir an sie zu denken bereit. Unsichre Valuta, kein Tag vergeht, da nicht einer verliert an Ewigkeit. Weil das so ist, weil es in der Verfügung der Lebenden steht, „Ewigkeit" zu gewähren und zu entziehen, darum bedarf es redlicherer Sorgfalt, als blindes Vertrauen zur ungeprüften Wahrheit es ist. Die Macht, die uns über Tote gegeben, verlangt gute Waage, rechtes Gewicht. Nicht bei Nacht darf das Gericht sich erheben, und unbekleidet sei auch der Richter nicht. 172
In das „Wir" bezieht sich das lyrische Subjekt immer mit ein. Auch Szymborska hatte geglaubt, das Unkraut, das die Gräber verspottet, sei schon Beweis für den Verrat derer, die darunter liegen. Ansätze für die spätere Selbstkritik lassen sich in dem 1954 veröffentlichten Gedicht Von der Liebe zur Heimat finden. In der lyrischen Auseinandersetzung mit jenen, die sich der Heimat entfremdet haben, wird nicht nur deren Entscheidung verworfen, der Konflikt selber wird nirgends als der mögliche eigene erkannt. Wendungen wie „Ich gleich nicht dem gestürzten Holz - Ich bin kein abgerissener Faden - ich werde / kein flücht'ger Vogel, das steht fest, / und kein verlaßnes Vogelnest"18 zeugen von kurzsichtig-naiver Selbstsicherheit gegenüber der Möglichkeit, gesellschaftliche Konflikte durchstehen zu müssen. Darum spricht sich die Dichterin nun von der Verantwortung nicht frei. Zwar ist ihr Wort ohnmächtig, jemanden auch nur „zu halbem Atem" zu erwecken, aber sie macht dennoch vom „ältesten Vorrecht der Phantasie" Gebrauch, die Toten anzurufen, um ihnen so die Rückkehr aus den Bezirken des Verschweigens „zu des Volkes Gedenken" zu ebnen. Dies ist kein bloß administrativer Akt und keine nachträgliche Selbstrechtfertigung, sondern eine moralische Herausforderung, denn wie ein Diamant durchschneiden die Toten „rosa Brillen I Hirne und Herzen aus Glas"19. Gegen Pauschalurteile von gestern opponierend, verfiel die Lyrik ihrerseits nicht selten in einseitiges Heroisieren, welches allein die Entschlossenheit zur Selbstaufopferung feierte und nicht zugleich auch den nüchternen Realitätssinn, die um Wirkung bedachte Weitsicht als patriotische Tugenden empfahl. In Herberts und Szymborskas Gedicht ist davon wenig zu spüren, aber sie widmen sich dem Verhältnis der Zeitgenossen zum tragischen Komplex der AK-Jugend, ohne den Komplex selber näher zu untersuchen. Eine nähere Analyse aber mußte die Frage aufbringen, welches Bild gemeint sei, wenn von der heldenmütigen und verführten Jugend die Rede ging, und wie sich ihr Vermächtn's für die Gegenwart fassen ließ. Bezeichnenderweise greifen jüngere Dichter sie auf. In surrealistischer Montage fächert Stanislaw Grochowiak (Jahrgang 1934) auf, was sonst übereinandergelagert blieb. Die „kaum verstorbenen Brüder" sieht er im Netz mehrfacher Deutungen verfangen.20 Sie sind die elegischen Jungen, mit Schillerkragen und Stimmbruch, die aus der Hut zärtlicher Mütter ausgebrochen sind und noch immer ausbrechen müssen, begierig auf das Erwachsensein. Als draufgängerische Kerle geistern sie durch alkoholisierte Totenbeschwörun173
gen, werden sie durch die „Hölle der Legende" gezogen. Die „vom Nichtleben Ermüdeten" werden schließlich zum Verhör gebracht und man klagt sie der Verbrechen der Zeit an. Ihre einzige Schuld indes war es, daß ihnen statt des Rosenkranzes der rauchende Gewehrlauf die Hände fesselte. So erscheint ihr Tod als unwirkliches Reifen, zu dem ihnen die Wirklichkeit keine Zeit gelassen hatte. Diese Differenzierung objektiviert zum einen Grochowiaks eignes zwiespältiges Erlebnismuster von verfeinerter Empfindsamkeit und aufgesetzter Roheit und Härte. Zum anderen wendet sie sich gegen das einseitige Schlagwort, wehrt Überforderung ab und zeigt die verschiedenen Ebenen einer tragischen Verstrickung samt der Art und Weise, wie sie zum Mythos gemacht wird. Ernest Bryll (Jahrgang 1935) geht einen Schritt weiter, indem er vorsichtig (aus der angenommenen Perspektive eines ausländischen Betrachters) nach der Effektivität eines Heldentums fragt, das sich lediglich im Untergang erweist und bestätigt: „Denn wer würdigt es . . . wie wir, Gott weiß wofür, / mit dem schwächlichen Lorbeer ins Feuer tauchen."21 Bekräftigt wird die kritische Sicht einer solchen Haltung bereits durch die Eingangsforderung des Gedichts Angewandte Kunst: „. . . in diesem Witwensand etwas Besseres bauen / als korinthische Säulen" - , die statt auf die Schönheit der Ruinen auf etwas Brauchbares aus ist. Die erneute Auseinandersetzung mit der Widerstandsproblematik führte mehr und mehr zu Versuchen, eine den eigenen Aufgaben und der Zeit angemessene Formel des Patriotismus zu finden. Der äußerste Ernst, fern jeder sonst bevorzugten Ironie, mit dem Szymborska (Hungerlager bei Jaslo) oder Grochowiak das Kriegsthema aufgreifen, Herberts solidarische Verbundenheit, ja beklemmende Vertrautheit mit den gefallenen Kameraden (Unsere Angst) weisen unübersehbar Verwandtschaft mit Rözewicz auf. Die Art aber, wie die genannten Dichter die Kriegserfahrungen deuten, welche Schlußfolgerungen sie daraus für ihr poetisches Selbstverständnis ziehen, welche poetologischen Muster sie dazu mobilisieren - in alledem zeigen sich einschneidende Unterschiede. Während der Jahre 1939 bis 1945 hatte Rözewicz die Überzeugung gewonnen, einer tragisch gezeichneten Generation anzugehören, deren Erfahrungen mit keiner anderen vergleichbar sind. Seine Gedichte bekräftigen den Eindruck einer menschlichen Ausnahmesituation, die sich anderen nicht mitteilen läßt. Weder der überlieferte Humanismus noch die tradierten poetologischen Muster erwiesen sich den 174
extremen Erfahrungen als angemessen. Demnach sei Poesie fortan nur als Anti-Poesie möglich. So betreibt Rözewicz Lyrik mit einem schlechten Gewissen, weil mit der Absicht, keine „ästhetischen Werte" hervorzubringen, keinen „poetischen Sinn" zu beweisen, keine üppige Metaphorik zu kultivieren. Statt dessen die Demonstration der Unmöglichkeit, sich nach diesem Krieg in den (einst bewährten) überlieferten poetischen Formen äußern zu können. Sein poetologisches Programm ist eine moralisch fundierte anti-ästhetische Utopie. Solcherart stiftet Rözewicz' Lyrik auch einen Mythos von der unerhörten Andersartigkeit seiner Generation und der jüngsten polnischen Geschichte überhaupt. An diesem Punkt tritt nun Herberts ganz anders geartetes Geschichtsbewußtsein deutlich hervor. Welche Möglichkeiten er der Lyrik einräumt angesichts der Erfahrungen, die er mit Rözewicz teilt, läßt sich am Gedicht Die Fünf ablesen.
Wie schön darf Lyrik sein? 1 Man führt sie morgens auf den steinernen hof und stellt sie an die mauer fünf männer zwei sehr jung die übrigen reifen alters nichts mehr läßt sich von ihnen berichten 2 wenn das peloton in anschlag geht hält alles inne im grellen Licht der offensichtlichkeit 175
die gelbe wand das kalte blau der schwarze draht auf der mauer anstelle des horizonts das ist der augenblick der rebellion der fünf sinne die fliehen möchten wie ratten vom sinkenden Schiff bevor das geschoß sein ziel erreicht das auge die nahende kugel bemerkt das ohr das stählerne rauschen wahrnimmt die nase mit scharfem qualm sich füllt die flocke blut den gaumen streift und die finger sich krampfen und lockern schon sind sie hingestreckt bis an die Wimpern im schatten begraben nach dem kommando hört das leben auf litzen koppel und helme nicht auf das blut an der mauer 3 ich erfuhr es nicht heute ich weiß es nicht erst seit gestern also wozu habe ich unnütze verse von blumen geschrieben wovon redeten die fünf in der Nacht vor der Vollstreckung von prophetischen träumen vom abenteuer im bordell von fahrzeugteilen von der seereise davon daß er nur kreuze bekam daß man nicht hätte anfangen sollen
daß wodka das beste ist daß nach dem wein der köpf nur brummt von mädchen von früchten vom leben also darf man in der lyrik namen von griechischen hirten verwenden versucht sein die färbe des himmels am morgen festzuhalten von liebe schreiben sogar noch einmal mit sterblichem ernst der verratenen weit eine rose schenken22 Teil eins beschreibt protokollarisch nüchtern die Situation; fünf Widerstandskämpfer unterschiedlichen Alters werden zur Exekution geführt. Die karge Poetik dieses Teils (keine Metapher; Symmetrie von Syntax und Versbau) und die Haltung des Kommentators - der meint, daß es über die Mitteilung des Sachverhalts mehr nicht zu berichten gäbe - erinnern an Rözewicz. Der zweite Teil füllt die Schilderung des letzten Augenblicks vor der Erschießung, da alles „im grellen licht / der offensichtlichkeit" erscheint. Was sich als solche offensichtliche Gewißheit darbietet, sind die äußeren Gegebenheiten (Farbe der Wand, des Himmels, die Gefängnismauer) und die körperliche Reaktion der Verurteilten. Das lyrische Subjekt führt keine psychologische, sondern eine sensualistische Betrachtungsweise ein, also ist nicht von Todesangst die Rede, sondern von der Rebellion der Sinne, deren letzte präzise umrissene Wahrnehmungen festgehalten werden, vom Aufbäumen des Naturwüchsigen im Menschen gegen das drohende Ende. Hörbar bleiben Anklänge an Rözewicz' somatische Zwangsvorstellungen. Teil drei bringt die Reflexion über den gesamten Vorgang. Sie setzt mit der Frage ein, wozu der Dichter, der um die Offensichtlichkeit des Todes nicht erst seit gestern weiß, dennoch „unnütze verse von blumen geschrieben" habe? Die Frage reproduziert ziemlich genau Rözewicz' Haltung, daß nämlich der Krieg nur als unablässige Anklage der gesamten Kultur gedeutet werden könne. Angesichts dieser Tatsache müsse „schöne Poesie" ihren Bankrott erklären. 12 Olschowskjr, Lyrik
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Herbert stellt sich dieser Haltung. Er läßt sie als schlüssig gelten, solange wir uns im Bereich des Offensichtlichen, d. h. der physischen Zerstörung bewegen. Dann aber geht er einen Schritt weiter und fragt: „. . . wovon redeten die fünf / in der nacht vor der vollstrekkung", anders gesagt, wie begriffen und deuteten sie ihre Lage? Auf welche Weise wurden sie mit der so unwiderruflich ausweglosen Situation fertig? Redeten sie - so könnte man Herberts ungeschriebene Argumentation ausführen - nur über den Tod, blieben ihre Gedanken zwanghaft festgelegt auf das Unentrinnbare, das ihnen bevorstand, dann wäre ihr Menschsein reduziert worden auf die naturwüchsige, daher eindeutige Fluchtreaktion ihrer fünf Sinne. Dann gäbe es in der Tat weiteres über sie nicht zu berichten und die schöne Mühe des Gedichts über Blumen wäre unnütz. Die folgende Autzählung dessen, worüber die Männer reden, zeigt aber, daß es nicht so ist. Sie reden über alles, über Epochales und Lappalien gleichermaßen, sie erinnern Leben schlechthin. Mag sein, sie fliehen nur das Gespräch über den bevorstehenden Tod. Dennoch ist, was sie sind und denken, nicht aus der Lage abzuleiten, in der sie sich befinden. Der äußere Zwang, dem der hinfällige Körper ausgeliefert ist, vermag den ganzen Menschen nicht restlos zu unterwerfen. Also gsht das Zahlenspiel nicht auf; fünf ist nicht gleich fünf, fünf mal fünf Sinne sind nicht gleich fünf Menschen. Also - und dies „also" ist der Dreh- und Angelpunkt des Gedichts - ist es nicht von vornherein erwiesen, welche Art Gedicht unnütz oder unwichtig sei, angesichts der tödlichen Gefährdung. Mithin haben der Name des griechischen Hirten und das Bemühen, die Farbe des Himmels wiederzugeben, in der Lyrik Berechtigung. Wenn auch nicht ersichtlich ist, wie eine Rose den Zustand der verratenen Welt verändern sollte, sie darf ihr immer wieder geschenkt werden. Heil ist von der Poesie nicht zu erwarten, aber auch ihre radikale Selbstaufgabe als eines Schönheit bringenden Verfahrens erscheint keineswegs als zwingend. Herberts Lyrik behauptet das Vorrecht, der Welt Schönheit zu schenken, um sie zu vermenschlichen, um zur Errichtung einer neuen Ordnung der Werte beizutragen. Die Quelle, aus der sich seine Haltung speist, der humanistische Zusammenhang, aus dem sie sich begründet, ist mit dem Hinweis auf den griechischen Hirten benannt: die Kultur des klassischen Altertums und darüber hinaus die gesamte mediterrane bzw. abendländische Kultur. Anders als für Rözewicz hat der Krieg für Herbert keinesfalls den Zerfall vorher gültiger Ästhetik und Moral evident 178
gemacht. Leichtfertiges Verwerfen von Werten hält er für gefährlich, weil man dabei etwas zerstören kann, was verdiente, „angeeignet oder in einen anderen Wert übersetzt zu werden". In einer Art konstruktiver Vermittlung zwischen Vergangenheit und Gegenwart sieht er die Aufgabe seiner Lyrik. „Was ich versuche, könnte bezeichnet werden als Ausflüge der aktiven Phantasie auf der Suche nach einer Struktur, einer Ordnung, die durch ein bloßes Register der Wirklichkeit nicht ersetzt werden kann." 23 Dabei stößt er auf die schwierige Frage, wie die vorgegebene Ordnung klassischer Harmonie die Widersprüche, Konflikte und Sorgen unserer Zeit angemessen ausdrükken soll. Herbert prüft diese Frage, indem er den Sagenstoff von Apollo und Marsyas aufgreift und umdeutet. Den Wettkampf, den das Gedicht Apollo und Marsyas24 meint, entscheidet nicht das Urteil der Götter. Ihr Spruch galt dem sagenhaften Wettstreit der Instrumente - Marsyas' roh klingende Rohrpfeife gegen die Zither Apollos - und erklärte den schönen Anführer der Musen zum Sieger. Der Gott des Wohllauts strafte hart den waghalsigen phrygischen Hirten, indem er ihm bei lebendigem Leibe die Haut abzog. Über die Grausamkeit und Selbstgerechtigkeit Apolls geht die Sage wie selbstverständlich hinweg. Der ästhetische Wettstreit ist mit der Überlegenheit der göttlichen Begabung über das „angemaßte Kunsttalent", der griechischen über die orientalisch-arabische Kunst entschieden.25* Als Dichter des 20. Jahrhunderts konnte Herbert den mißhandelten Marsyas nicht einfach übersehen, er bildete vielmehr die eigentliche Herausforderung. So konfrontiert der Dichter den olympischen Schinder mit der Qual seines Opfers, den Inbegriff klassischen Kunstideals mit der rohen Wahrheit des Schmerzes. Marsyas' schriller, häßlicher Schrei erfüllt den Gott mit Schaudern, „von abscheu geschüttelt / putzt Apoll sein instrument". Er reagiert als n u r ästhetisch; ausdrucklos erscheint ihm die Klage des Satyr. Um zu verhindern, daß die Klage lediglich unter ästhetischem Blickwinkel - als unartikulierter Laut gegenüber dem geformten Ton - betrachtet wird, läßt der lyrische Sprecher sie von der vielfältig gegliederten Landschaft des Körpers und seiner Qual erzählen. In dieser Umsetzung des grellen Schreis in ein gegenständliches Bild steckt zugleich ein Hinweis auf Herberts Kunstauffassung, die der objektivierenden Darstellung den Vorrang vor der ungezügelten Expression gibt. Der Gott kapituliert vor dem Geschrei seines Opfers und flieht. Die grausame Wahrheit gefährdet Apollos Kunst, weil sie sich in das System klas12»
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sischer Schönheit nicht übersetzen läßt, aber auch ihr scheinbares Gegenteil, die zeitgenössische sogenannte „konkrete Kunst", wird kritisiert, weil sie aus dem Unvermögen, Wahrheit und ästhetische Regel zusammenzubringen, Materialien der Wirklichkeit selber zur Kunst erklärt, ohne die gestalterische und ethische Verantwortung des Künstlers zu beanspruchen. Als Apoll sich beruhigt wähnt (er hat den Schrei durch „kunstgerechte" Deutung verdrängt), da fällt eine versteinerte nachtigall vor seine Füße er wendet sich um und sieht daß der bäum an den Marsyas gefesselt war ergraut ist gänzlich Die unfühlende Natur fällt ein moralisches Urteil über den tauben Gott der Tonkunst. Als einen Holzweg weist dieses Gedicht eine Klassizität aus, die in autonomer und selbstgerechter Harmonie unempfindlich bleibt für das wirkliche Geschick der Menschen von heute. Schönheit, die sich selbst genügt, „die Hölle der Ästheten", ist Herbert zuwider. Auch die sogenannte „konkrete Kunst" ist keine Alternative dazu, sondern ein Ableger solcher Haltung. Festgehalten werden muß allerdings, daß der Dichter in dem Streit für den geschundenen Menschen Marsyas Partei ergreift, nicht für dessen Kunst. Also doch appolinischer Wohlklang als Ideal? Ja, nur möchte er die apollinische Kunst befähigen, sich der rauhen Wahrheit unserer Gegenwart zu stellen. Herbert sucht nach einem sprachlichen und geschichtlichen Zusammenhang, der eine erhellende Objektivierung der verworrenen Erlebnisse des Subjekts erlaubte. Wie sieht er seine Rolle als Dichter? Er spricht dem Poeten wieder ein öffentliches Amt und eine Autorität zu, aus denen Rözewicz ihn endgültig vertrieben sah. Gedichte machen erscheint nun nicht mehr als im Grunde moralisch
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fragwürdig, sondern als legitimes Bemühen, dem Leben Sinn, dem Menschen etwas Lebensnotwendiges zu geben. Trotz aller einschränkenden Distanzierung formuliert er einen hohen Anspruch mit der Frage: Was wäre die weit erfüllte sie nicht die ständige geschäftigkeit des dichters zwischen vögeln und steinen26 Mag Herbert an anderer Stelle, wie z. B. in Niepoprawnosc (Unverbesserlichkeit), das Hantieren mit der Schönheit unseriös und unverbesserlich nennen, es bleibt doch nur eine verlegen abwehrende Geste gegenüber der tiefen Überzeugung, daß die poetische Berufung etwas Erhabenes sei. Im genauen Gegensatz zu Herbert bekennt Grochowiak provokant: Häßliches mag ich es ist näher am Kreislauf Der Wörter wenn sie durchleuchtet Werden und gequält27, was ihn andererseits aber nicht daran hindert, sich in der Auseinandersetzung mit Przybos auf Herbert zu berufen. „Häßlichkeit" ist für Grochowiak das Synonym für alles Gebrechliche und Beschädigte, für den Wert des Alterns und der Niederlage, sie soll ihm den unverfälschten Zugang zu den Konflikten, den Schmerzen, der Roheit des Lebens garantieren. Das heißt, sie hält den Blick auf die Kehrseite der Dinge gerichtet, die üblicherweise aus dem Begriff des Schönen ausgesperrt wird. Der eigentliche Gegensatz einer so verstandenen Häßlichkeit ist aber nicht schlechthin Schönheit, sondern trügerische Reinheit, sterile Harmonie, falsche Ordnung. So gewinnt sie eine moralische Attitüde. Sie durchzusetzen bedeutet, die Ursprünglichkeit menschlicher Situationen von ihrer eingebildeten oder wirklichen Vermummung zu entkleiden. Entkleiden im wörtlichen und übertragenen Sinn ist folgerichtig auch Grochowiaks bevorzugtes Motiv (z. B. Küche). Dieser Haltung entsprechend, umreißt er auch sein dichterisches Selbstverständnis; er fühlt sich zur Rebellion berufen (Simon der Stylit), und er begreift sich als Enkel Sancho Pansas, von dem es heißt: 181
Doch dann begegnete der Ritter Ihr Hüften - Vollmonde. Augen - spitze Lanzen . . . Und Sancho fraß Gedärm mit Blut vom Tier Und sog an Knochen wie an Pomeranzen. 28 Die Verwandtschaft mit Pansa und auch mit Villon gibt der unbestimmten Auflehnung eine bezeichnende Richtung: Bindung an das Handgreifliche, das unfeierlich Irdische, an die Lust und die Not des Fleisches. So unfeierlich betrachtet der Dichter auch seine Produkte, wpnn er (nicht gänzlich ohne Koketterie) die Möglichkeit gelten läßt, daß seine gedruckten Gedichte zum Verpacken von Heringen verwendet werden. In der poetischen Praxis erstreckt sich Grochowiaks Anti-Ästhetentum auf Gegenstände, die allgemein als abstoßend und häßlich gelten, von ihm aber gewaltsam zum Beiwerk des Schönen gemacht werden. Auf das poetische Verfahren selber, wo sie die Absicht einschließen müßte, unschöne Lyrik zu machen, dehnt sich diese Haltung nicht aus. Häßliches wird dadurch moralisch gerechtfertigt, die glatte Harmonie dadurch grotesk gebrochen, daß sie in geschliffen kunstvolle Kompositionen hereingenommen werden. Die Die Der Der
Hände der Königin sind mit Schmalz beschmiert Ohren der Königin sind mit Watte verstopft Busen der Königin ist aus Holz gedrechselt Mund der Königin hat ein Gebiß aus Gips 29
Grochowiaks diskontinuierliche Montagen benutzen Stilmittel des Barock, des Symbolismus und Surrealismus zum Zwecke der Groteske. Häufig kommen dabei nur glänzende Stilisierungen überlieferter Motive unterschiedlicher Provenienz heraus. Seine Gedichte bauen nicht, dem rhetorischen Prinzip folgend, ein semantisches Kontinuum auf, sondern reihen Zeilen, Sätze, metaphorische Konstruktionen aneinander, die sich zu einer eher stimmungshaften Ganzheit fügen, welche gegenüber dem Dichter expressive, gegenüber der Objektwelt symbolische Funktionen wahrnimmt. So konstituiert sich eine vergleichsweise autonome, in sich abgeschlossene poetische Welt. Ein autothematischer Bezug, die Frage, wie Lyrik geschrieben sein soll, ist unabhängig vom Thema in den meisten Gedichten Jerzy Harasymowicz' (Jahrgang 1933) zu finden. Die Antworten darauf fallen zumeist ähnlich aus wie die folgende: 182
Die zuckerlüsternen Birkenschimmel fang ich ein Spanne sie an Und fahr in meine Berge Hol die langen Poeme Die seit Jahren Dort überwintern Heim 30 So einfach geht das. Hier herrscht das Prinzip des Märchens, die einfältige und unverwüstliche Lust am Anthropomorphismus. Die Verlebendigung des Unbelebten, die Vermenschlichung der Tierwelt, die Vergegenständlichung der Phantasie - der elementare Mechanismus poetischer Entdeckungen wird bei- Harasymowicz zum einzigen Verfahren seiner Poesie. Von den dramatischen Auseinandersetzungen darum, ob Lyrik nicht unnütz sei oder wie sich das schöne Spiel des Gedichts moralisch zu rechtfertigen vermag, ist hier nichts zu spüren. Heiter und wie beiläufig entfaltet Harasymowicz an vorsätzlich nichtigen Anlässen (seine kleinen lyrischen Vorgänge sind von Hasen, Bären und Eidechsen bevölkert) ein naturseliges Idyll, einen Mythos der Vorgebirgslandschaft. Sein Humor und seine freundliche Gelöstheit gedeihen allerdings nur im außerstädtischen Bereich, sie tragen deutlich antiurbane Züge. Die abseitigen Gegenstände übrigens sind durchaus als Widerspruch zu einer Lyrik gedacht, die ihrerseits ausschließlich gesellschaftliche Großtaten und „Staatsaktionen" der poetischen Behandlung für wert befand. Vertrauen in die Einfälle seiner skurrilen Phantasie, kindliche Entdeckerfreude, Urwüchsigkeit bis zum Außenseitertum - so begreift und porträtiert sich der Dichter: „Da bin ich, mit Haaren ohne Grenzen, in Schuhen, die von einem Ohr zum andern lächeln, stehe auf dem Grund von Fichten, in denen mein Herz nistet (daneben deutet ein lahmes Häschen leise den Takt auf der Flöte). Und das ist mein Herz: ein naives Kükchen im geöffneten Jäckchen. Doch meine Arbeit ist die Balzzeit der Zettel, deren elementarer Schrei die patriarchalen Redakteure tötet, wenn sie fliehen, engagiert in der Sache himmlischer Knödel . . . Da bin ich, und über mir mein Zeichen: die mächtige Flagge der Faulheit, grün und himmelhoch." 31 Noch anders sieht Szymborska die Rolle des Dichters. Mit Herbert teilt sie die Überzeugung, daß nüchterne Betrachtung seiner tatsäch183
liehen Wirkungsmöglichkeiten den Poeten zur Bescheidenheit anhalte. Das Pathos großer Gesten und Worte gilt ihr als schamlos; „danteske Szenen / und Himmelfahrt" gibt es beim Boxkampf. Der Dichter muß bei der öffentlichen Lesung mit zwölf Personen vorlieb nehmen, von denen „die Hälfte kam, weil es regnet, / der Rest ist Verwandtschaft". 32 Mit Ironie dämpft Szymborska jede Regung des Hochmuts, wenn es darum geht, den Platz der eigenen Gedichte in der Gunst des Publikums zu bestimmen. Welches Produzentenbewußtsein die Reflexion der eigenen literarischen Praxis bei Szymborska hervorbringt, läßt sich deutlich am Gedicht Freude am Schreiben ablesen. „Wohin läuft die geschriebene Ricke durch den geschriebenen Wald? / Etwa vom geschriebenen Wasser zu trinken . . Z'33 Der erste Doppelzeiler umreißt die lyrische Situation. Einem filmischen Verfahren folgend, das bestimmte Einstellungen in einem beliebigen Moment festzuhalten erlaubt, unterbricht die Autorin auf Schritt und Tritt das „Eigenleben" der von ihr hervorgebrachten Fiktion. Weder das Bild noch die assoziierte Stimmung sind selbständig, sie werden von der Dichterin gemacht: „Stille - auch diese Vokabel raschelt auf dem Papier / und streift / die vom Wörtchen ,Wald' verursachten Zweige." Mag es die Fiktion danach drängen, sich der eigenen Logik gemäß zu entfalten, für sie, die doch beständig Anleihen bei der Wirklichkeit macht, gilt nicht das Gesetz des Wirklichen, sondern der Wille des Autors. „Hier herrschen andere Gesetze, schwarz auf weiß. / Hier dauert jeder Moment so lange, wie ich es will I . . . I Ohne meinen Willen fällt kein Blatt, kein Grashalm beugt sich vor dem Punkt des Hufs." Biblische Anklänge suggerieren die Allmacht eines Schöpfer-Gottes; der Dichter als Demiurg. Mit ungläubigem Staunen prüft Szymborska ihr Vermögen, über eine Welt frei zu verfügen, den Fluß der Zeit festzuhalten, dem Sein Dauer zu geben. Hat der Dichter also unbeschränkte kreative Macht? Szymborska ist bereit, das zu bejahen und relativiert es doch sogleich. Nicht pathetischer Schöpferstolz - Freude am Schreiben erfüllt sie, d. h. Genugtuung über das eigene Geschick, mit künstlerischen Mitteln der Sterblichkeit etwas Dauer abzutrotzen. Dauer allerdings, wie sie allein in der poetischen Fiktion vorkommt und nur dieser zukommt. Die Demonstration schöpferischer Allmacht erweist sich im Grunde als Enthüllung der poetischen Kunstgriffe. Dieses bewußte Handhaben des sprachlich184
poetischen Materials war es wohl vor allem, was Przybos für dieses Gedicht einnahm, wenn auch nicht zu übersehen ist, daß er sein eigenes Schreiben erhabener gefaßt hätte. Das unerschütterliche Sendungsbewußtsein der Avantgarde, das Przybos unentwegt behauptete, macht ihn eher mit Broniewski verwandt, obwohl beide die Autorität, die sie dem Dichter fraglos zusprechen, unterschiedlich motivierten: Przybos mit der Ernsthaftigkeit und Spezialisierung seiner sprachlichen Tätigkeit, die ihn mit jeglicher Tätigkeit des Menschen verbindet; Broniewski mit dem romantisch-prophetischen Anspruch des Sehers und Barden. Szymborskas Lyrik veranlaßte Przybos, entgegen seiner bisherigen Auffassung, zu der Feststellung, daß epische Elemente und der gedankliche Diskurs zur Substanz moderner Lyrik werden können. Daneben mußte Przybos vor allem den sprachlich kreativen Zug, den er damit charakterisiert, daß „jeder Satz, von einem geistreichen Paradoxon bewegt, dahineilt", als ihm nahe empfinden. Dies um so mehr, als er andrerseits bei Rözewicz, Bialoszewski und Herbert einen Rückfall ins „Bildchen" des 19. Jahrhunderts, in das altmodische Erzählen in Versen feststellen zu können glaubte. 34 Szymborska, die gewiß von der Krakauer Avantgarde gelernt hat, beherzigte auch Rözewicz' Kritik an ihr. Die Kunst, einen philosophischen Diskurs in einen pointierten lyrischen Vorgang (zwischen Anekdote und Feuilleton) umzusetzen, die sie meisterlich beherrscht, weist aber noch in eine gänzlich andere Richtung - auf Tuwim und den „Skamander". Somit prägen Ironie und Selbstbescheidung ihre Weise, den Anspruch und die gesellschaftliche Rolle des Dichters zu fassen. Das Überdenken des dichterischen Selbstverständnisses war in der Lyrik der „Generation 56" ein Teil der verstärkten Aufmerksamkeit für das Individuelle überhaupt, das seinerseits ein gewandeltes Verhältnis zur Geschichte reflektierte.
Im Zeichen der klassischen Antike Die Hinwendung zur Geschichte - nicht mehr nur zur Nationalgeschichte, wie das vor dem Krieg mit unterschiedlichen Vorzeichen bei Lechori und Broniewski zu finden war, auch nicht allein zur jüngsten Vergangenheit der Okkupation, wie sie Rözewicz bevorzugt, sondern zur allgemeinen Geschichte - ist bei einer Reihe von Lyrikern augenfällig. Rözewicz und Herbert können hierbei gewisser185
maßen als Flügelmänner zweier unterschiedlicher Tendenzen gelten. Nach einer Phase entschlossener Behauptung eines neuen Bewußtseins gerade als Konsequenz e i n m a l i g e r nationaler Erfahrungen (Okkupation, einschneidende politische und soziale Veränderungen seit Kriegsende) schien nun die Zeit für eine universale Bestimmung gekommen. Es zeugt von gewachsener Souveränität der Lyrik, wenn sie Fragen der eigenen sozialistischen Entwicklung zu den urbildlichen Mustern der Menschheitsgeschichte und -kultur in Beziehung setzt. Das Anliegen ist ein doppeltes: durch den Bezug auf die weltgeschichtliche Kontinuität das eigene Gewordensein zu erfassen und die eigene Gegenwart im Spiegel des Vergangenen zu prüfen. Geschichte wird als Feld der Veränderung und der Wiederholung entdeckt. Von daher erklärt sich die Häufigkeit, mit der antike Motive von Herbert, Szymborska oder Bryll aufgegriffen werden. Sie waren Anlaß und Gelegenheit, die heutige gesellschaftliche Effizienz geschichtlich entstandener individueller Haltungen zu prüfen. Deutlich konträre Ausprägung bekommt in dieser Hinsicht die Rezeption der Stoffe des klassischen Altertums bei Herbert und Bryll, die hier näher betrachtet werden soll. Gemeinsam ist beiden die Überzeugung, daß ihre Ausflüge in die ferne Vergangenheit nicht Flucht vor der Gegenwart bedeuten, sondern eine Form „der Bejahung des menschlichen Reichtums"35 oder die Weise, „ein besseres Verständnis der gegenwärtigen Torheiten und Tragödien"36 zu gewinnen. Durch Studium und Neigung geprägt, wendet sich Herbert vorzugsweise der antiken Kultur, biblischen Stoffen und weltliterarischen Mustern zu und findet darin für sich v o r b i l d l i c h e Lösungen, wie die Ursprünglichkeit subjektiven Erlebens in eine erhellende Objektivität aufzuheben sei. In den Konflikten und tragischen Kollisionen, die zu verschiedenen Zeiten aus der Ungleichartigkeit der moralischen Werte und ihrer geschichtlichen Funktion resultieren, versucht er das konkrete Individuum zu verteidigen. Das kann unterschiedliche Formen annehmen, ein Beispiel dafür ist Nike wenn sie zögert Am schönsten ist Nike wenn sie zögert die rechte hand an die luft gelehnt herrlich wie ein befehl aber die flügel zittern 186
Sie sieht den einsamen jüngling der langen spur des kriegswagens folgen dem grauen weg in der grauen landschaft aus felsen und kahlem Wacholder bald wird der jüngling sterben schon senkt sich die Waagschale seines schicksals Nike hat große lust sich ihm zu nähern und seine stirn zu küssen aber sie fürchtet daß er der die süße der kosung nie empfunden wenn er sie kennenlernte fliehen könnte wie die andern während der Schlacht Also zögert Nike und entschließt sich doch in jener haltung zu verharren die ihr die bildhauer beibrachten beschämt ob dieses augenblicks der rührung sie weiß daß man im morgengrauen den jungen finden wird mit offener brüst geschlossenen lidern und mit dem herben geschmack des Vaterlands unter der steifen zunge 37 Unter den vielen Zusammenhängen, die zur Interpretation dieses Gedichtes herangezogen werden können, springt der Bezug auf eine doppelte Konvention - eine künstlerische und eine patriotische - ins Auge. Beide werden zunächst in Frage gestellt. Das Gedicht führt 187
die zum Symbol gewordene Skulptur der griechischen Siegesgöttin vor, mit der rechten Hand „an die luft gelehnt". Die eigenwillige, den ästhetischen Kanon der Plastik sprengende Behandlung belebt die Figur und ermöglicht es, an ihr ein bestimmtes Verhalten abzulesen. In der sechsten Versgruppe kehrt die Skulptur zu der ihrer künstlerischen Konvention angemessenen Haltung, „die ihr die bildhauer beibrachten", zurück. Die Kunstregel wird gerade durch das Bestreben, aus ihr auszubrechen, bekräftigt und damit fähig gemacht, einen aktuellen Konflikt zu bezeichnen. Die patriotische Konvention, die hier in Frage steht, ist das bedenkenlos gehandhabte Ideal soldatischer Tapferkeit. Der Jüngling, der das Leben noch nicht kennt, wird in der Schlacht fallen. Nike möchte ihm Zärtlichkeit erweisen, scheut aber davor zurück, weil sie befürchtet, er könnte dann seinem Auftrag untreu werden. Also verharrt die Göttin, von Verlangen und Einsicht zerrissen, zögernd - und ist eben darin für den Dichter am schönsten. Die zahlreichen Debatten vom Ende der fünfziger und aus den sechziger Jahren über die Komponenten eines modernen nationalen Selbstverständnisses offenbarten eine Neigung, den Platz des eigenen Volkes in der Welt von heute vornehmlich von dem „Ausnahmestatus her zu bestimmen, wie er aus dem riesigen Ausmaß an menschlichen, materiellen und moralischen Verlusten des letzten Krieges resultierte" 38 . Der Krieg hatte einem tradierten Geschichtskult Auftrieb gegeben, welcher Geschichte nicht sosehr als Ablauf wirtschaftlicher und politischer Prozesse begriff, sondern als Kette militärischmoralischer Siege oder Tragödien verehrte. Messianistische Vorstellungen des 19. Jahrhunderts von einer durch Leid erworbenen Erlöserfunktion Polens wurden vom zweiten Weltkrieg wiederbelebt und wirkten auch danach fort. Noch immer wirkungsvoll blieb das von der Adelskultur geprägte patriotische Ideal, als dessen höchste Erfüllung die Losung galt: „Eine Schlacht schlagen und ein Poem dichten." Sein mythisierender Charakter trat in den tragischen Folgen, die er im Krieg gezeitigt hatte, offen zutage. Solche Ideen beeinflußten natürlich auch die Wertvorstellungen, an denen sich ein moderner sozialistischer Patriotismus zu orientieren hatte. In einer wissenschaftlichen Arbeit über die Erziehungsmodelle der Generationen zwischen 1918 und 1968 heißt es z. B.: „In Anknüpfung an die polnischen soldatischen Traditionen, insbesondere an die jüngsten des Freiheitskampfes, der im Untergrund und an den europäischen Fronten des letzten Krieges geführt wurde, bildet und 188
festigt sich heute die patriotische Haltung aller Generationen." Im selben Text wird festgestellt, daß „die Probleme der Arbeit immer zu den .schwierigsten Problemen' der Polen gehörten" - ohne daß der Verfasser nach einer Vermittlung zwischen beiden Feststellungen Ausschau hält. 39 Herbert opponiert gegen die unbedingte, draufgängerische Opferbereitschaft als den einzigen Ausweis des Patriotismus. Damit trägt er den Erfahrungen einer opferbereiten und verführten Generation Rechnung. Das Gedicht schlägt aber keine radikal andere Haltung vor. Aus der Betrachtung des Konflikts zwischen individuellem Anspruch und gesellschaftlicher Bindung gewinnt es nur eine vertiefte Motivation für den Einsatz des Lebens als patriotische Pflicht. Denn am Ende geht es nicht mehr um die begeisterte und blinde Todesverachtung eines jungen Mannes, sondern darum, wie kostbar menschliches Leben ist und was es bedeutet, dieses kostbare Leben in Erwägung aller Zweifel, also b e w u ß t in die Waagschale zu werfen. Herbert schätzt die Weisheit der Tradition - im Leben und in der Literatur. Er kennt das Vermögen des durch Wiederholung und Brauch sanktionierten Zeichens, Übereinkunft zu stiften, und zwar gerade dann, wenn der einzelne außerstande ist, seiner ursprünglichen Empfindung angemessenen Ausdruck zu geben. Den kulturellen Mustern der Vergangenheit billigt er eine vorbildhafte Autorität gegenüber der amorphen Gegenwart zu, auch wenn diese Autorität nur durch den Zweifel auf den aktuellen Zustand des Bewußtseins bezogen werden kann. Die Bekräftigung der überlieferten Ordnung und Werte, der künstlerischen wie der moralischen Regel wird durch den Wunsch vermittelt, sie zu durchbrechen. Das Element der Dauer scheint in Herberts Geschichtsauffassung zu überwiegen, was seiner Haltung einen Anflug von Traditionalismus gibt. Er respektiert durchaus die e i n m a l i g e Prägekraft dessen, was Krieg und Nachkriegsentwicklung für die Zeitgenossen bedeuten, neigt aber dazu, diese neuen Erfahrungen als a b g e w a n d e l t e B e s t ä t i g u n g des von alters her Gewußten anzusehen. Hierin zeigt sich die Anknüpfung an Vorstellungen der Katastrophisten aus den dreißiger Jahren, insbesondere die Wirkung von Czeslaw Miiosz. Im klassischen Altertum einzig die makellose Harmonie menschlicher Verhältnisse zu erblicken, hält Ernest Bryll für eine Lüge. Daß die Antike der Gegenwart ein überlegenes Vorbild sein könne, dem der Zeitgenosse Ehrerbietung und Bewunderung unbedingt zu 189
erweisen habe, empfindet er als eine Zumutung und reagiert polemisch: „Seit Jahrhunderten lügt man uns ein Griechenland vor - / weiß und edel wie der Mäander von Piatos Reden . . ." 40 Sein selbstbewußtes, mit plebejischer Robustheit ausgestattetes lyrisches Subjekt ist nicht auf Bewunderung oder Nachahmung von Größe aus, sondern auf Erkenntnis der widersprüchlichen Realität, aus der sie erwuchs. Diese polemische Note bringt Bryll auch in die Auseinandersetzung um ein zeitgemäßes Modell des Patriotismus mit ein. Ikarus predigen alle - aber Däbalus kam ans Ziel. Als ob der nichtige Flaum, der dem Flügel entfiel, das magere Knabenbein, steil gereckt in den Himmel, schon alles wäre. Als stünde uns zur Wehr nur jener Heldenmut, wie ihn der Motten Gewimmel, an der Lampe verschmorend, b e w e i s t . . . Wenn es gelingt, erfahren in des Wachses Weichheit, die schon von fernher auserkornen Ufer zu erreichen - verschweigt uns das Lied. Wie es den Bauern nicht achtet oder nur staunt, daß er nicht aufschaut zu Ikarus . . . Brueghel, der ergraut ist überm Studium der Menschen, wendete ihre Augen von den luftigen Dramen, wissend: nicht gaffen nach dem Flieger tut not, noch seinen Sturz und Schrecken zu beklagen . . . Sondern unseres schaffen. Kehrte Dädalus um, Ikarus zu retten? 41 Nicht die Sage selber, sondern eine bestimmte Deutungsgeschichte, die Ikarus einseitig bevorzugt, steht in diesem Text zur Debatte. Das Gedicht nimmt Dädalus, den Tausendkünstler, das Ziehkind der Pallas Athene, den Erbauer des Labyrinths, der die „wunderbare Arbeit" des Flügelbaus vollbrachte, zum Ausgangspunkt. Dem einseitigen Lob für Ikarus wird entgegengetreten, indem seine Art, sich an Flug und Licht zu berauschen, mit der verhängnisvollen Unbewußtheit eines Mottenschwarmes verglichen wird. Sein Flug und Sturz erscheinen als Problem des Mutes gegen die Klugheit. Das „Lied", d. h. eine Deutungsweise, die Ikarus' tragischen Aufschwung und Sturz konsequent zum Blickfang macht, übergeht die geistige Anstrengung des Erfinders, seine Meisterschaft, das Wachs 190
zu fügen, ebenso wie die alltägliche Mühsal des Bauern. Für beide zeigt das lyrische Subjekt Interesse. So erscheint der Bauer als Parteigänger von Dädalus. Mit Brueghel kommt schließlich eine andere Deutungsweise ins Spiel, mit der sich zu identifizieren der lyrische Sprecher eher bereit ist. Brueghels Landschaft mit dem Sturz des Ikarus, worauf sich Bryll - wie übrigens auch Rözewicz - unverkennbar bezieht, enthält eine deutliche Kritik der vornehmlich verzückten Betrachtung des Sturzes. D a s Bild verschiebt die Proportionen zwischen der Normalität des tätigen Lebens und der außerordentlichen Tragik des Falls zugunsten der Normalität. Die Schlußfrage stellt noch einmal b e e i n d r u c k e n d e H a l t u n g und a u f Wirkungsbed a c h t e T ä t i g k e i t herausfordernd gegeneinander. Herberts Zweifel, ob der tradierte Wert der heroischen Moral mit der Wirklichkeit noch übereinstimme, bedeutet keine Zurücknahme des Wertes, die Skepsis des Dichters beglaubigt sein Engagement, macht es auf diese Weise zeitgemäß. Bryll sucht eine Vermittlung zwischen verpflichtendem Geschichtsbewußtsein und dem Verständnis der gegenwärtigen Aufgaben, ohne ein Votum für historische Gedächtnislosigkeit abzugeben. E r drängt auf keine endgültige Entscheidung zwischen den beiden Haltungen, der im tragischen Gestus ausgestellten großen Idealität und dem langen Atem produktiver Anstrengungen, durch die das Praktikable im Rahmen des Möglichen bewerkstelligt wird. Gefragt wird allerdings danach, welche Akzentuierung dem h e u t i g e n gesellschaftlichen Interesse Polens entspricht. Dieses heutige Interesse bekräftigend, bringt sich in Brylls Lyrik ein plebejisch-bäuerliches Subjekt zur Geltung, dem die selbstbewußte nüchterne Tüchtigkeit jener Schichten eigen ist, deren kulturelle Emanzipation sich in der Gegenwart vollzieht. Von daher rührt das Rastlose und Unersättliche seines Subjekts, sein geschichtlicher Hunger, der danach drängt, bei jedem geringsten Anlaß eine jahrhundertealte Zurücksetzung gewissermaßen im Sprung aufholen zu müssen: „Raffgier soll hier zur Tugend werden. / Auch nicht der Schatten einer Maus soll sich von den Resten / auf unseren Tischen sättigen können . . ," 4 2 Sprachlich durch bewußt eingesetzte Grobianismen und altertümlichen Wortschatz ausgezeichnet, ist diese Haltung durchaus zwiespältig. Die Merkmale dörflicher Mentalität von Unterdrückten: Schläue, Ausharrungsvermögen, Rücksichtslosigkeit, Eigennutz erfahren in der städtischen Umwelt, in einem veränderten
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gesellschaftlichen Rahmen überraschende Abwandlungen und demonstrieren das Unabgeschlossene der Verschmelzung zweier Kulturen. Nüchternes Durchsetzungsvermögen, Realismus empfehlen sich in einem Fall als kluge List (Lewiathan), welche aus der äußersten Bedrohung noch Nutzen zu ziehen versteht, um den eigenen Vorsatz, neues Leben zu erbauen, durchzusetzen. Im anderen Fall erweist sie sich als Klugheit des Opportunisten, als Anpassung und Selbsterniedrigung aus Taktik (Psalm über Hiob). Die dumpfe Unentschiedenheit, die solcher Einstellung anhaftet, unterstreicht Bryll durch die häufige Verwendung des Bildes vom Sumpf. Der Zweifel an den geschichtlichen Möglichkeiten des Individuums trieb unter anderem folgende Bilder hervor: Herbert beschreibt den Wunsch seiner Figur, des Herrn Cogito, mangels anderer Alternativen wenigstens in aufrechter Haltung zu sterben; Bryll sinniert über die „Kunst des Entwischens", die wirkungsvoll und doch nicht schändlich zu sein habe. Den durchaus schlüssigen Höhepunkt solcher für Bryll charakteristischen Erwägungen über Klugheit und opportunistische Anpassung stellt die sarkastische Empfehlung dar, „im Herzen der Scheiße, mitten auf dem Mist" sei es am besten, eine ungute Zeit abzuwarten, um danach über die Besiegten aufzusteigen, die solcher Verstellung nicht fähig waren.43 Brylls „angewandte Kunst", das pragmatische Sich-Einlassen auf die vorgefundene Realität, der zupackende und zähe, einzig auf Wirkung bedachte Umgang mit ihr beschert, so zeigt sich, dem Subjekt moralische Probleme, nicht anders wie Herberts Neigung, den Wert edler Gesten zu pflegen und zu bewahren, ihm Schwierigkeiten mit der Praxis heraufbeschwor. Nimmt man noch Szymborskas stärker psychologische und existentielle Ausschöpfung klassischer Stoffe hinzu, so wird deutlich, daß sich die Funktion des antiken Motivs in der polnischen Lyrik der Gegenwart aus den Schwierigkeiten ableitet, die Geschichte in Kritik und Bejahung umfassend auf die Gegenwart zu beziehen. Es fungiert nämlich als verfremdendes Medium, welches erlaubt, die partikulare Verstrickung von Leidenschaften und Widersprüchen in den Horizont einer vorbildlichen, menschheitlichen Grundsituation zu stellen. So wird rationale Prüfung, Distanz, schließlich Klärung möglich. Die lyrische Auseinandersetzung mit vergangenheitsgeschichtlichen Stoffen und ihrer Rezeptionsweise kann zur Entmythologisierung aktueller Bewußtseinsformen eingesetzt werden. 192
Die geschichtlichen Möglichkeiten des Individuums Erörterung der geschichtlichen Möglichkeiten des Individuums diesen Gesichtspunkt vor allem machte die Lyrik seit Mitte der fünfziger Jahre zum Angelpunkt ihrer Reflexion über die Dialektik der Geschichte. Von einer kurzen Phase 1956/57 publizistisch zugespitzter Auseinandersetzung mit Erscheinungsformen des Dogmatismus oder bürokratischer Willkür abgesehen, trat die gesellschaftlichöffentliche Problematik in der Lyrik eher in den Hintergrund. Nur selten wurde Geschichte im politischen Thema aktualisiert. Zum einen erklärt sich dies als Antwort auf die zuvor geübte und deutlich überzogene Praxis, den Wert eines Gedichts einzig nach der tagespolitischen Aktualität seines Themas zu messen. Das Bedichten jedweden Anlasses, den der Kalender politischer und gesellschaftlicher Ereignisse anbot, ohne daß nach dem zwingenden Bedürfnis des Autors und der künstlerischen Schlüssigkeit seiner „Stellungnahme" gefragt wurde, hatte dem politischen Gelegenheitsgedicht den Beigeschmack des Konjunkturellen gegeben und es damit suspekt gemacht. Als schlimme Folge jener Praxis bezeichnete es Kruczkowski, daß die moralische Glaubwürdigkeit des direkten poetischen politischen Engagements beeinträchtigt wurde. Das Gesagte betrifft einen speziellen thematischen Bereich, bedeutet jedoch nicht, daß die polnische Lyrik überhaupt einen Rückzug aus geschichtlich-gesellschaftlichen Zusammenhängen angetreten hätte. Gewandelt hat sich - und das ist ein weiterer und tiefer liegender Beweggrund für die Verschiebung des thematischen Interesses - ihr Verständnis von Geschichte. Es wurde gewonnen in der Auseinandersetzung mit statischen Vorstellungen vom Sozialismus und einem einseitig gehandhabten Historismus. Diese besondere Handhabung des Historismus bekräftigte vor allem die überindividuelle, objektive Zwangsläufigkeit geschichtlicher Vorgänge, brachte folglich wenig Aufmerksamkeit für das einzelne Individuum auf und ließ auch wenig Raum für die Erörterung seines Schicksals. In einem solchen Denkschema erschien alles, wofür sich rationale Gründe aus den großen Zusammenhängen ableiten ließen, bereits als gerechtfertigt, so daß im konkreten Fall auch offenkundiges Fehlverhalten, Unvermögen oder gar Willkür den Anschein objektiver Notwendigkeit erhalten konnten. Dagegen gewandt, brachte eine neue Betrachtungsweise die Gegenseite stärker zur Geltung: die Uberzeugung, daß Geschichte nicht nur in globalen überindividuellen Prozessen 13 Olschowsky, Lyrik
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sich ereignet, sondern sich ebenso im Alltag des einzelnen ausdrückt und von diesem bewegt wird. Poetisch ging man auf vielfältige Weise zu Werke. Lob des kleinen Alltags der Stadtbewohner spricht z. B. aus Miron Bialoszewskis Schilderung des Lebens in alten Hausfluren und auf Hinterhöfen, dessen Banalität üblicherweise schamhaft übergangen wird. Das geschieht in einer Sprache, die vorsätzlich die Gebrechlichkeit und Unvollständigkeit privater Kommunikation aufnimmt und dabei alle Klischees offizieller, unpersönlicher Sprachregelung außer Kraft setzt. Auch das System der Sprache selber wird in dieser Poesie ständig angegriffen. Gewonnen wird auf diese Weise ein grotesker poetischer Reiz, der sich allerdings im puren Rätselspiel der Worte zu erschöpfen droht, und ein erfrischend unkonventioneller Blick auf die Wirklichkeit. Den Alltag des polnischen Dorfes betrachtend, der von unübersehbaren gesellschaftlichen und zivilisatorischen Veränderungen ergriffen ist, erkennt Tadeusz Nowak darin vor allem Ritus, Brauchtum und Legende, die zeitlosen Muster einer noch lebendigen Volkskultur, aus denen er seinen poetischen Mythos gewinnt. Religiöse und heidnische Folklore, biblische Motive, adaptiert durch bäuerliche Sprache und Vorstellungen, bilden das Material einer poetischen Ordnung, die es erlaubt, Gewinn und Verlust des Fortschritts zu artikulieren, die neuen Werte entschieden zu benennen und den alten zärtlichen Abschied zu geben. Für einen Moment sei es so, wie es war in der großen und kreisenden Mär über mir noch schlafen die Menschen unter dem Baum, doch wenn sie erwachen und wahr wird ihr Traum, dann wird ihnen plötzlich für immer gewiß, daß alles so sein wird wie im Paradies. 44 Das Interesse der Lyrik für die geschichtliche Natur des Menschen kommt hauptsächlich zur Geltung in der Auseinandersetzung mit der Auffassung, Geschichte sei eine objektive Maschinerie, der sich das Subjekt nur anzupassen habe. Damit ist das Verhältnis von Politik und Moral gemeint, das am nachdrücklichsten bei Herbert und Szymborska thematisiert wird. Einen für Herbert bezeichnenden Zusammenstoß zweier geschicht194
licher Haltungen führt Fortinbras'Klage Muster von Shakespeares Tragödie 20. Jahrhunderts einschreibt.
vor, ein Gedicht, das in das politische Erfahrungen des
Allein geblieben prinz können wir jetzt von mann zu mann miteinander reden wenn du auch liegst auf der treppe und soviel wie eine tote ameise siehst das heißt die schwarze sonne mit den gebrochenen strahlen Niemals könnt ich an deine hände denken ohne zu lächeln und nun da sie auf dem stein wie abgeschüttelte nester liegen sind sie genauso schutzlos wie vorher Das ist das Ende die hände liegen gesondert Der degen gesondert Gesondert liegen köpf und beine des ritters in weichen pantoffeln Du wirst ein soldatenbegräbnis haben wenn du auch kein soldat warst das ist das einzige ritual auf das ich mich etwas verstehe E s wird keine kerzen geben und keinen gesang sondern lunten und donner des abends trauertuch über dem pflaster helme beschlagene Stiefel artilleriepferde trommelwirbel wirbel ich weiß schön ist das nicht das wird mein manöver sein vor der machtübernahme man muß diese Stadt an der gurgel fassen und leicht daran schütteln So oder anders du mußtest fallen Hamlet du taugtest nicht für das leben du glaubtest an die kristallbegriffe und nicht an den menschlichen lehm du lebtest von ständigen krämpfen und jagtest in träumen chimären 33*
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du schnapptest gierig nach luft und mußtest dich gleich erbrechen kein menschliches ding gelang dir nicht einmal das atmen Jetzt hast du ruhe Hamlet du tatest das deine und hast jetzt ruhe Der rest ist nicht schweigen doch mein du wähltest den leichteren teil den effektvollen stich aber was ist der heldentod gegen das ewige wachen mit kaltem apfel im griff auf erhöhtem stuhl mit sieht auf den ameisenhaufen und auf die scheibe der uhr Leb wohl mein prinz mich erwartet das kanalisationsprojekt und der erlaß in Sachen der dirnen und bettler Ich muß auch ein beßres gefängnissystem erfinden denn wie du richtig meintest Dänemark ist ein gefängnis Ich gehe zu meinen geschäften Heut nacht wird der stern namens Hamlet geboren Wir kommen nie mehr zusammen was von mir bleibt wird niemals stoff für eine tragödie Wir sollten uns weder willkommen noch abschied sagen wir leben auf inselmeeren und dieses wasser die worte was sollen was sollen sie prinz45 Hamlet ist tot. Fortinbras, den wir als kriegsfreudigen, wackeren Feldherrn aus dem Drama kennen, läßt ihn mit militärischen Ehren bestatten und hält Totenklage. Ein Punkt in der politischen Tagesordnung eines neuen Regenten. Die Tradition des Rituals und der poetischen Gattung der Klage gebieten, die Vorzüge und Verdienste des Toten zu rühmen und seinen Verlust zu beklagen. Was in dem versteckten Dialog des monologischen Rollengedichts indessen geschieht, widerspricht dem vollends; es ist eine rigorose Abrechnung mit Hamlets Haltung und Überzeugungen, so wie Fortinbras sie sieht. Denn alles, was wir über den Dänenprinzen erfahren, ist durch das Urteil seines Nachfolgers gegangen und enthüllt somit auch die Be196
weggründe seines eigenen Handelns. Fortinbras klagt Hamlet der Untauglichkeit zum praktischen Leben an, das Kernstück seiner Anklage lautet: „du glaubtest an die kristallbegriffe und nicht an den menschlichen lehm." Dieses Kontrastpaar ist durchaus zwiespältig. Jedes der Glieder, die sich den beiden Protagonisten zuordnen lassen, enthält Vorwurf und Rechtfertigung in einem. Mit dem Kompositum „kristallbegriffe" verfallen Hamlets Ideale als abstrakt, weltfremd und unpraktisch der Kritik, zugleich wird ihnen menschliche Reinheit, Erhabenheit, edler Sinn zugesprochen. Der Gegenbegriff „menschlicher lehm" charakterisiert Fortinbras einerseits als einen Herrscher, der im Menschen einzig den Untertan erblickt, willfähriges, niedriges, knetbares Material, macht ihn aber andrerseits (in Anlehnung an die biblische Schöpfungsgeschichte) zum Vertreter des positiven irdischen Daseins und seiner praktischen Bedürfnisse; Städtebau, Sozialerlasse und auch das Gefängnissystem gehören zu seinem Geschäft. Die gewählte semantisch-lexikalische Opposition (Kristall-Lehm) ist nicht zufällig, sie wiederholt sich fast formelhaft an anderer Stelle und bezeichnet eine für Herberts Werk zentrale und weitreichende Dialektik. 46 * Hamlets Versagen ruft Fortinbras auf den Plan. Wählte jener die effektvolle Geste des Todes als Bestätigung der Ohnmacht moralischer Ideale gegenüber der schnöden Welt, so muß dieser ausharren in der beschwerlichen Rolle des Herrschers, die es ihm auferlegt, wachsam Macht zu behaupten und zu verteidigen. Dabei möchte Fortinbras von Hamlets Idealen nicht behelligt werden; die nachdrückliche Wiederholung: „Jetzt hast du ruhe Hamlet du tatest das deine / und hast jetzt ruhe" und auch das: „Wir kommen nie mehr zusammen" drängt auf Trennung. Fortinbras will sein Handeln nicht dem moralischen Urteil ausgesetzt sehen. Hamlets Empörung, Dänemark sei ein Gefängnis, nimmt er als Beschreibung eines notwendigen Tatbestandes hin. Für ihn hat Politik mit Utopie, Prinzipien und Idealen wenig oder gar nichts zu tun. Darum bekräftigt er immer wieder ihrer beider NichtZusammengehörigkeit: „Wir sollten uns weder willkommen noch abschied sagen / wir leben auf inselmeeren." Desavouiert die Sympathie des Autors für den unterlegenen Hamlet in Fortinbras den berechnenden Despoten, so reicht seine Objektivität doch aus, um Hamlets edle weltentrückte Träume zu kritisieren und dem pragmatischen politischen Praktiker in Fortinbras Respekt zu erweisen. Wogegen Herbert entschieden opponiert, ist die Trennung 197
von Moral und Politik, das Zerreißen der dialektischen Bande von Utopie und Programm, Ideal und Praxis. Zustimmend betrachtet der Dichter daher Herrn Cogito (seine poetische Figur), dessen Beine so überaus unterschiedlich geartet sind: das linke „tänzelnd / zu sehr ins leben verliebt / als daß es sich gefahren aussetzte" - das rechte dagegen „vor Selbstlosigkeit starr / spottet jeder gefahr". Das hält Herrn Cogito aber nicht davon ab „auf b e i d e n beinen" (Hervorhebung - H. O.) durch die Welt zu gehen, wenn auch „ein wenig hinkend". 47 Die Auslegung des Shakespeareschen Musters sagt auch etwas über die unterschiedlichen Sehweisen der Wirklichkeit in Politik und Poesie aus. Herbert, der Rationalist aus Neigung, möchte die Lyrik fähig halten, den schwer rationalisierbaren Überschuß an menschlichen Bedürfnissen und Wünschen respektvoll auszusprechen. Die Literatur sieht er insofern stärker der Moral verpflichtet, als sie sich den konkreten Menschen zuwendet. Sache des Dichters sei es aber nicht, die Welt weinerlich anzuklagen, daß sie den guten Idealen nicht entspreche, sondern, mit ihr ringend, das konkrete Individuum zu verteidigen. An diesem Punkt tauchen in dem Dialog zwischen dem Schriftsteller und Politiker, wo immer er geführt wird, Spannungen auf. Der Politiker sei angehalten, in globalen gesellschaftlichen Kategorien zu denken, während es dem Schriftsteller obliege, das konkrete Einzelne nicht aus den Augen zu lassen. „Häufig erklärt der Politiker, ohne den menschlichen Einzelfall zu berühren: .leider, aber Opfer sind unvermeidlich' oder ,schön und gut, aber so ist die Richtung' . . . den Schriftsteller interessiert indessen die untypische, einzelne menschliche Situation, die der Lösung harrt. Das ganzheitliche Denken des Politikers ist unvermeidbar und notwendig, aber übersieht man dabei den konkreten einzelnen, droht Gefahr . . ." So Herbert in einem Interview. 48 Unbeschadet der Sympathie, die Herbert für Hamlets Ideale empfindet, ist das irdische, hiesige Dasein für ihn der höchste Wert. Seine Belange läßt er darum nicht nur durch Fortinbras vertreten, sondern auch durch das Volk, dessen Liebe zum Leben sich in der Entschlossenheit ausdrückt, gegen alle Widrigkeiten der Geschichte zäh und ausdauernd daran festzuhalten: die die karren schieben durch die schlecht gepflasterte Vorstadt die aus dem brand mit einer buttel voll sauersuppe fliehen die heimkehren zu den ruinen nicht um die toten zu rufen 198
sondern um dort das rohr vom eisernen öfchen zu finden ausgehungert - das leben liebend ins gesicht geschlagen - das leben liebend die man schwerlich blume nennen kann die aber da sind 49 Das Volk ehrt die wenigen, „die schöne worte mehr als fette gerüche schätzen", aber es ahmt sie nicht nach. Die „schönen verstorbenen" stehen im Zeichen von Hamlets tragischem Stern und sind Parteigänger jener Tugend, die „nicht die geliebte / wirklicher männer ist / der generale / minister / Staatsanwälte", weil sie es ablehnt, mit
dem Geist der Zeit zu gehn und nur unabänderlich ihre Ermahnungen wiederholt. 50 Was in den angeführten Gedichten den Konflikt ausmacht, sieht wie folgt aus: pragmatische Politik gegen edle Utopie; unheroisches Überleben gegen den Untergang aus Treue zu den Idealen; Macht verwalten oder der unveränderlichen Tugend gehorchen. Der Eindruck eines manichäischen Denkschemas drängt sich auf, den Herbert auf zweierlei Weise abzubauen trachtet: durch Objektivität und Ironie. Das vom Dichter Bejahte und das Abgelehnte wird nie aus nur einer ausschließlich positiven oder ausschließlich negativen Perspektive vorgeführt, vielmehr enthüllen immer neue überraschende Gegenüberstellungen die geschichtliche Mehrwertigkeit derselben Erscheinungen. Fortinbras wie das Volk (aus Substanz) stellen Entfaltungen desselben realistischen Wirklichkeitssinns dar. Die Ironie, die z. B. der allegorischen Figur der Tugend einen ärgerlich altjüngferlichen Habitus verleiht, kompromittiert den Träger eines Wertes, um den Wert selber zu retten. Die Idee, vermittelt durch einen individuellen Repräsentanten, bestätigt sich gegen dessen Beschränktheit: „Die Dichtung kompromittiert den Dichter, die Religion den Gläubigen, die Schönheit den Ästheten, die Moral schließlich kompromittiert - alle." 31 Aus dem Bewußtsein heraus, daß Geschichte Kampf um Freiheit und menschliche Selbstverwirklichung gegen Unfreiheit und Unterdrückung bedeutet, weist Herbert jegliche Vorstellungen einer vorgegebenen Harmonie ab, die diesen Konflikt außer Kraft setzen, darunter auch solche von der Konfliktlosigkeit im Sozialismus. Der vielfältigen Ausbildung dieses Kampfes in Vergangenheit und Gegenwart nachgehend, stellt er die fehlende Deckungsgleichheit zwischen der praktischen Existenzweise des Menschen und dem idealen Ausdruck seines Wesens fest. Er beklagt die aufgedeckte Differenz als Mangel, spricht aber nicht deutlich aus, 199
inwieweit er diesen Mangel auch als bewegenden Ansporn menschlicher Schöpferkraft zu begreifen und so zu bejahen vermag. Die bloße Einsicht in die Ungleichartigkeit der Dingwelt und der Welt menschlicher Ideale kann nämlich in lähmende Melancholie münden, eine Gefährdung, die seinen Gedichten nicht ganz fremd ist. Der Dialektiker Herbert weiß andrerseits, daß es des praktischen Engagements bedarf, um zwischen Ideal und Welt zu vermitteln. Die Möglichkeiten des Engagements sieht er allerdings in einer Weise eingeschränkt, welche die Titelfigur seines jüngsten Bandes Pari Cogito (1974) am besten verdeutlicht. Herr Cogito, das reflektierend vereinseitigte und ironisch gebrochene Medium der Absichten des Autors, wird in einer Vielzahl von Rollen vorgeführt. Dieser Herr „Denke" hat ein Lieblingsspiel: Gern spielt er die Geschichte der Befreiung des Anarchistenführers Pjotr Krapotkin aus der Peter-Pauls-Festung nach. Dabei schlüpft er mühelos in die Rollen sämtlicher an der Befreiung beteiligten Personen, nur die Hauptfigur lockt ihn nicht. Warum? Cogito möchte „vermittler der freiheit" sein, ihr praktischer Helfer, nicht ihr Tribun. Er möchte „seinem herzen vertrauen", der ursprünglichen Regung seiner Sympathie folgen können, nicht aber dafür verantwortlich gemacht werden, was phantasielose Nachfolger Krapotkins einmal in dessen Namen zu Papier bringen werden. Also wählt er die „untergeordnete rolle" und wird darum, wie es ironisch heißt, „nicht in der geschichte wohnen".52 Der Dichter scheint das politische Engagement so weit zu bejahen, wie es die moralische Unschuld des geschichtlich handelnden Individuums zu bewahren erlaubt. Folglich muß er seinen Helden daran glauben lassen, daß spontane Sympathie und Solidarität sich ihre Eindeutigkeit gegenüber dem funktionalen Zwang der gesellschaftlichen Kämpfe, gegenüber der Ideologie bewahren können. Die vielfachen Vermittlungen (Rollenspiel, ironische Stilisierung) zwischen Autor, poetischer Figur und deren Spiel erlauben keine einfache Gleichsetzung des Figurenstandpunkts mit dem des Verfassers. Für diesen gilt aber gewiß das Votum des Vorbehalts gegenüber der Neigung gesellschaftlicher Mechanismen und Institutionen, Fakten in Zusammenhänge zu rücken, welche die individuelle Absicht, der ein bestimmtes Faktum entsprungen ist, gänzlich außer acht lassen. Dagegen nicht zuletzt pointiert Herbert: „Es gibt den Menschen, seine Niederlagen und Opfer zählen, das ist keine Kleie, die aus der Schrotmühle der Geschichte fällt." 53 Die Tendenz, das Individuum vor bestimmten äußerlichen Ge200
fährdungen zu verteidigen, hat ihre Stütze im abwägenden Temperament des Dichters, in seiner philosophischen Bildung, speist sich aber zweifellos auch aus jenen folgenschweren Erfahrungen der vierziger und fünfziger Jahre, die Herberts verspäteten Eintritt in die literarische Öffentlichkeit verursacht und ihn unfreiwillig in eine gewisse Außenseiterposition gebracht hatten. Wenn aber in den mannigfaltigen Stoffen seine Gedichte das lyrische Ich in der Regel nicht beteiligt ist am unbefriedigenden Zustand der Welt, sondern immer als unschuldig und nicht mitverantwortlich erscheint, so geht das über einen bloßen biographischen Reflex hinaus. Es kommt darin eher die weltanschauliche Begleiterscheinung einer hochentwikkelten gesellschaftlichen Funktionsstruktur zur Sprache; das Empfinden des einzelnen, vom Ganzen beansprucht und verpflichtet zu werden, ohne dieses Ganze ebenso entschieden als Funktion des eigenen Lebens begreifen zu können. Herbert liegt es näher, Haltungen, die bestimmte Werte und Traditionen repräsentieren, als Vorbild oder Mahnung differenziert auszustellen, als den Modus praktischer Durchsetzung dieser Werte zu gestalten. Während Herbert dem komplexen Verhältnis von Moral und Geschichte durch eine Fülle wechselnder Einstellungen beizukommen sucht, dabei aber beide Bereiche im Grunde dualistisch faßt, denn er ordnet sie seinem Subjekt als innerliche bzw. äußerliche zu, geht Szymborska anders vor. Ihr lyrisches Subjekt ist unmittelbar in die geschichtlich-gesellschaftlichen Vorgänge verwickelt und das schließt Betroffenheit, Verantwortung und Mitschuld ein. Folglich werden auch die geschichtlichen Erfahrungen, deren Basis das erste Jahrzehnt der Entwicklung Volkspolens ist, poetisch vielschichtiger angeboten. Sofern die Dichterin sich zur Korrektur ihrer früheren Haltung veranlaßt sieht, tut sie das nicht als Selbstrechtfertigung, sondern als Selbstanklage: Ein Rufen breitet sich aus: Wir sind total unschuldig! Wer ruft denn da? Wir laufen, öffnen die Fenster zur Welt. Da stockt die Stimme plötzlich. Hinter den Fenstern fallen Sterne, wie nach einer Salve Tünche von Wänden fällt. 54 201
Die ersten beiden Bände Dlatego zyjemy (Deshalb leben wir, 1952) und Pytania zadawane sobie (Fragen, die ich mir stelle, 1954) reagieren auf die sozialen Veränderungen im Lande noch weitgehend mit rhetorischen Proklamationen. Ihnen lag ein naiver Glaube an die Geschichte zugrunde, die Überzeugung, Geschichte sei ein sicherer und gerader Weg in einen Idealzustand der Welt. Die neue Gegenwart wurde allein an der Vergangenheit gemessen und also mit verklärtem Blick betrachtet. Das führte zur Erschütterung und Krise. In den späteren Sammlungen Wolanie do Yeti (Rufe an Yeti, 1957), Söl (Salz, 1962) und Sto pociech (Hundert Freuden, 1967) ging sie vorsichtiger und mit größerer Genauigkeit vor. Die Überzeugung vom Sinn der Geschichte wurde zu einer dialektischen Geschichtsreflexion erweitert. Das frühe Gedicht Alte Arbeiterin versucht z. B. anhand der erinnerten Lebensgeschichte einer Dörflerin, die im Vorkriegspolen Arbeit in der Stadt suchte, die inzwischen eingetretene gesellschaftliche Veränderung sichtbar zu machen. Es ist ein Rollengedicht, in dem die Autorin nirgends ihre Identität mit der erzählenden Figur problematisiert. Der neue gesellschaftliche Zustand, den die zuhörenden Mädchen vertreten, wird im Gedicht nicht ausgeführt, kann also nur über die Verneinung der Vergangenheit erfaßt werden. Diese Unbestimmtheit fordert den Adressaten innerhalb und außerhalb des Gedichts heraus, den Vergleich mit eigenen Erfahrungen auszufüllen. Dies wird aber nicht durchgehalten. Der Zug zur didaktischen Eindeutigkeit setzt sich durch, am Schluß wird das wertende Ergebnis des Vergleichs ausdrücklich festgelegt, wenn auch in einem Bild, das um Natürlichkeit bemüht ist: Erwägt und vergleicht nun, das muß ich euch sagen, meine und eure Jugend - ihr seht, das ist, als ob man nach langen Krankheitstagen zum ersten Mal in den Garten geht.55 Später wird solches Bevormunden des Adressaten durch einleuchtende Bilder vermieden, die Autorin nähert sich ihren Gegenständen mit größter (gnoseologischer) Vorsicht, und zwar aus der Erfahrung heraus, wie schwer es ist, geschichtliche Gewißheit zu erlangen und Lehren daraus zu ziehen. Exemplarisch durchgespielt wird die Ungewißheit an der Anti-Geschichte der sagenhaften Atlantis. 202
Es gab sie oder es gab sie nicht. Auf einer Insel oder auf keiner. Der Ozean oder kein Ozean hat sie verschlungen oder auch nicht. Die Vermuteten. Die Bezweifelten. Die Unbewiesenen. Die nicht aus der Luft, dem Feuer, dem Wasser, der Erde Gegriffenen. Sie konnten nicht, im Ernst, für Warnungen Modell sein.50 Die sorglose Sicherheit, die sich dem Vorurteil leicht dienstbar macht, wird verdrängt durch einen cartesianischen „methodischen Zweifel", der alle Ebenen ihrer Lyrik durchzieht. Von nun an werden die Schwierigkeiten bei der Begegnung mit geschichtlichen Fakten ins poetische Kalkül mit einbezogen. Das Hungerlager bei Jaslo57 greift nicht nur einen grausigen Vorfall aus der Zeit der Okkupation Polens heraus, es reflektiert zugleich die Schwierigkeit, darüber „mit normaler Tinte / auf normalem Papier" zu schreiben. Die Verfasserin des Gedichts, die die Aussage zu ergründen versucht: „Man gab ihnen nichts zu essen, / sie verhungerten alle", bewegt sich im Bereich des Abnormen, das sich normalem Begreifen entzieht. Die Natur „ein bestochener Zeuge" - bleibt unbewegt, gibt keinerlei Auskunft über das vielfache Grauen. Nur die poetische Imagination, die Gras, Bäume und Vögel als Rationen Nahrung erkennt, läßt ahnen, was es bedeutet, zu verhungern. An dem Ort stehend, wo dies geschah, kann die Dichterin mit Gewißheit nur aufschreiben, „wie still es hier ist" (Totenstille und Ruhe der Natur in einem). Das literarische Vorrecht der Allwissenheit hat sie aufgegeben und beweist damit, daß der Dichter, der die Geschichte befragen will, um sie zu begreifen, sich in keiner bevorzugten Lage befindet. Schreiben bedeutet demnach, Anläufe machen zum Auffinden der konkreten Wahrheit und nicht ein im voraus gewußtes allgemeines Gesetz lediglich bestätigt zu finden. Die konkrete Wahrheit aufdecken heißt, sich der Allgemeinheit geschichtlicher Prozesse dort zu widersetzen, wo jedes persönlich besondere Schicksal nivelliert wird: 203
Die Geschichte rundet die Zahl der Skelette ab. Tausendundeiner gilt eben tausend. Und dieser eine ist wie nie dagewesen: Eingebildete Leibesfrucht, leere Wiege, Fibel aufgeschlagen für keinen Das Verhältnis von abstrakter Erkenntnis der Geschichte und der menschlichen Praxis wird auch nachdrücklich im Monolog für Kassandra bewegt: Ich bins, Und das Und das Und das
Kassandra. ist meine Stadt unter der Asche. hier ist mein Stock und meine Orakelbinde. hier ist mein Schädel voller Zweifel.
Es stimmt, ich triumphiere. Mein Recht schlug mit dem Feuerschein zum Himmel. Ich liebte sie. Aber ich liebte sie von oben, von oberhalb des Lebens. Aus der Zukunft. Wo es leer ist und wo nichts leichter ist, als in den Tod zu sehen. Sie lebten im Leben. Windig. in Vorurteilen. In Abschiedskörpern von Geburt an. Doch eine feuchte Hoffnung war in ihnen, ein Flämmchen, das vom eigenen Flackern sich ernährte. Sie wußten, was ein Augenblick bedeutet, ach, wärs nur einer, irgendeiner, bevor Es kam so, wie ich sagte. Nur daß daraus nichts folgt. Und das hier ist mein Kleid, versengt vom Feuer. Und das ist mein Prophetentand. Und das ist mein verzerrtes Gesicht; es hat nicht gewußt, daß es auch schön sein konnte. 58
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Kassandra hat recht behalten. Das von ihr vorausgesagte Unheil ist eingetroffen. Sie kann triumphieren, aber ihr Schädel ist voller Zweifel, weil ihre Vorhersage nichts genutzt hat. Ihrem Wissen und ihrer Zuneigung zu den Menschen fehlt die gleichberechtigte Erfahrung. Die immer nur von den Sternen auf die Menschen schaut, kann ihnen nicht sagen, wie der Augenblick zu gestalten sei. Ihr Triumph ist doppelte Verzweiflung: über das nicht abgewendete Unheil und über das versäumte Leben einer Frau, die nicht erfahren hat, „daß sie auch schön sein konnte". Geschichtliche Erkenntnis ohne persönliches Engagement und individuelle Teilhabe wird zur abstrakten Objektivität - ohne die Möglichkeit, in den Lauf der Dinge einzugreifen. Eine Wahrheit ohne Folgen. Oberhalb des Lebens, oberhalb der Dialektik von individueller Entscheidung und objektivem Prozeß können wahre, aber abstrakte Einsichten gewonnen werden, die das Leben selber nicht zu verändern vermögen. Szymborska plädiert für das Wagnis des individuellen Eingreifens in das geschichtliche Getriebe, das ohne Einsicht in die globalen Zusammenhänge blind bleibt, sie verteidigt aber zugleich das Individuum vor der nivellierenden Macht des Allgemeinen, vor der bloßen Unterordnung unter das Gesetz der großen Zahl, welches das einmalige menschliche Antlitz auf eine statistisch austauschbare Größe reduziert (Massenfoto). Standen bei Herbert Klage und Mahnung im Vordergrund, so führt Szymborska ein Engagement vor, das in dem Maße an Genauigkeit gewinnt, wie es den „methodischen Zweifel" zum Instrument und nicht zum Gegenspieler ihrer Leidenschaft macht.
Natur und Kultur Unter einem anderen Aspekt begreift Szymborska Geschichte als universales Heraustreten des Menschen aus der Geborgenheit der Natur, aus der bewußtlosen Sicherheit des Instinkts zur schwierigen Freiheit persönlicher Entscheidungsfähigkeit. Sie faßt das nicht als einen einmaligen, abgeschlossenen anthropologischen Vorgang, sondern als dramatischen Prozeß unablässiger Selbsterschaffung des Menschen, als stets gefährdetes Überschreiten der Grenze vom Unbelebten zum Leben, vom biologisch-natürlichen zum geschichtlich-menschlichen Dasein. Als Bild und Parabel dieses dramatischen Ringens kann das Gedicht Der Akrobat gelten. Die Übungen des Artisten auf dem 205
Trapez sieht die Verfasserin als einen Versuch, dem Zwang der Schwerkraft, dem die Last des Körpers natürlicherweise gehorcht, zu entrinnen. Durch „mühsame Leichtigkeit" muß der Körper überlistet werden, so daß er „das Fallen versäumt". Das Fliegen, der Versuch des Menschen, seine naturgegebenen Möglichkeiten zu überschreiten, offenbart ihn als Mangelwesen. E r kann seinen neuen Status (eines fliegenden Menschen) nur erreichen durch berechnende und phantasievolle Auflehnung gegen seine körperliche Beschaffenheit: Siehst du, wie er sich duckt zum Flug, weißt du, wie er sich auflehnt von Kopf zu Fuß gegen den, der er ist; weißt du, siehst du, wie listig er sich durch seine frühere Form fädelt und, um die wippende Welt in der Faust zu fassen, die aus sich neugeborenen Arme ausstreckt schöner als alles in diesem einen in diesem einen, der übrigens schon verging, Moment. 59 Durch die Wiederholung bestimmter Wörter in der Zeilenkadenz und im Auftakt erreicht die Autorin den sprachlich frappierenden Eindruck der schaukelnden, verzögerten Bewegung eines Trapez und kennzeichnet darüber hinaus die Mühsal wiederholter Anstrengung. Die sinnliche Genauigkeit drängt das Parabolische nicht in den Vordergrund, legt aber eine symbolische Deutung des Vorgangs nahe. Für den Augenblick des Gedichts, nicht ein für allemal, ist die Selbsterschaffung durch Überschreiten der Grenzen geglückt. Beruhigende Sicherheit, daß dies immer so sei, kann das Bewußtsein daraus nicht ziehen, denn das menschlich-geschichtliche Dasein bleibt stets durch Versagen und Rückschläge gefährdet. Es mag ihm da als ironischer Trost erscheinen, daß auch die Natur gelegentlich versagt: „In diesem Frühjahr kamen die Vögel wieder zu früh zurück. / Freu dich, Vernunft, auch der Instinkt also irrt." 60 Ungeachtet ihres präzis gegliederten Körperbaus kommen die Vögel um. D a ß der Mensch daraus ernsthaft Rechtfertigung und Trost zu gewinnen vermöchte, diese Möglichkeit wird schon durch den Ton billiger Schadenfreude als Trugschluß ausgemacht. Bei der Klage, die nun nahe läge, will die Autorin aber nicht stehenbleiben. Sie empört sich darüber, 206
daß ein Engel aus wahrem Eiweiß fällt und sich neben den Stein legt, der auf seine archaische Weise hinabblickt aufs Leben wie auf verschmähte Experimente. Leben als das riskante Wagnis, Möglichkeiten zu verwirklichen, erscheint dem unbelebten Stein als verächtliche, weil gescheiterte, unnütze Bewegung. Daran entzündet sich die Empörung der Dichterin. Richtete sich das Urteil des Subjekts im Monolog für Kassandra gegen den Blick von oberhalb des Lebens auf die menschlichen Geschicke, so wendet es sich hier gegen den Gleichmut des Darunterstehenden, der sich die Anstrengung des geschichtlichen Experiments, das menschliche Wesen differenziert herauszuarbeiten, erspart. Die bewußtlose Geborgenheit der Natur erscheint nicht als Gegensatz der schwierigen und gefährdeten Freiheit geschichtlicher Existenz, sondern als deren Voraussetzung und ständiges Bezugsfeld. Als ein Dichter, der deutlich an die Tradition der Katastrophisten (Milosz) anknüpft, ist Herbert geneigt, die gute Unschuld der Natur der blutigen und gewalttätigen Geschichte entgegenzustellen. Seine Naturbetrachtung enthält aber nicht nur eine moralische, sondern auch eine philosophische Dimension. Diese ist bestimmt durch die Spannung zwischen „Idee" und „Blatt" (Der Pfad), zwischen der Liebe zum sinnfälligen Ding und der Sehnsucht, daß sich einmal das Wesen der Dinge offenbare. Da keine vorgegebene Ordnung den Einklang von Idee und Objekt garantiert, ist es ein beständiger Ansporn der Dichtung - wie der menschlichen Erkenntnis überhaupt - , beide in eine Ordnung zu bringen und darin zu halten. Denn jedes für sich genommen und verabsolutiert gefährdet den Zusammenhalt der Persönlichkeit wie der menschlichen Welt. In der moralischen Dimension der Naturbetrachtung schlägt sich Herberts Beunruhigung nieder, die aus der Erfahrung beschleunigter Veränderungen des Lebens resultiert. Der vielfache Wandel, der mühsam errungene wie der opportunistisch leichthin angebotene, ruft den Wert der Beständigkeit auf den Plan. Als ihre Repräsentanten erscheinen einer bestimmten poetischen Optik Tisch, Stuhl oder Stein; die Art und Weise der Betrachtung macht die unbelebten Gegenstände fähig, dem Menschen „aus erzieherischen gründen" ein anderes Verhalten kontrastierend vorzuführen. Der Kiesel61, der „genau erfüllt / vom steinernen sinn" ist, unterstreicht die offene, auf Sinnsuche ausgerichtete menschliche 207
Existenz. Tische, die, selbst ermüdet, es nicht wagen niederzuknien, tun das möglicherweise, „um uns ständig unsere Unbeständigkeit vorzuhalten"62. Diese Art Naturmeditation - mag es auf den ersten Blick auch anders scheinen - ist kein Beharren auf einer Position, welche Natur lediglich als moralische Instanz hinnimmt. Den Anthropomorphismus handhabt Herbert ironisch: „Es ist mir niemals gelungen, einen stuhl ausfindig zu machen, der von einem bein auf das andere träte, oder ein bett, das kopfstünde" (Gegenstände). Es gehört nicht zur Eigenschaft des Kiesels, daß das Ich, das ihn in der H a n d hält, einen „schweren Vorwurf" empfindet. Als Sinnbild in sich selbst ruhender Vollkommenheit, des Ausgleichs von Eifer und Würde mag der Kiesel dem Betrachter vor Augen führen, daß Natur nicht n u r eine zu unterjochende Gewalt, der Rohstoff menschlichen Gestaltungsdranges ist, sondern darüber hinaus auch das ständige Gegenüber des Menschen, sein Partner. Sie ist nicht beliebig zuhanden. Vielmehr fordert sie zur Anerkennung ihrer Andersartigkeit und Eigengesetzlichkeit heraus. W o das nicht geschieht, bleibt sie undurchdringlich, fremd läßt sich das Bemühen des Menschen um sie als Anmaßung oder Anbiederung erscheinen. Das Konzept von Przybos und Peiper, die Natur nur als Objekt der Unterwerfung oder Bearbeitung durch die uneingeschränkte kreatorische Macht des Menschen zu begreifen, war Teil ihrer Zivilisationsutopie. Herberts moralische Meditation der Natur und auch Szymborskas Auffassung von der Natur als Voraussetzung und als Gefährdung der menschlichen Existenz unterscheiden sich davon erheblich. Die avantgardistische Alternative: Unterwerfung oder Anbetung der Natur - wird nicht mehr akzeptiert. Verändert hat sich das Verhältnis von Aktion und Reflexion in bezug auf die Natur. Zwischen beiden Auffassungen und der Krakauer Avantgarde hat, literarhistorisch gesehen, Rözewicz kritisch vermittelt, der die Natur wieder positiv zu sehen gelehrt hat, als Ort geistiger Genesung des Menschen nach dem Krieg. Das nun zu beobachtende relative Gleichgewicht der Tendenzen, sich von dem Zwang der Natur zu befreien und ihr als aufmerksam Betrachtender (vielleicht sogar Lernender) zu begegnen, erhält durch die philosophische, technologische und ökologische Problematik unserer Tage einen weitreichenden Deutungs- und Funktionszusammenhang.
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Die Poetik und ihre Leistung Bei dem Versuch, die strukturelle Vielfalt der Lyrik seit Mitte der fünfziger Jahre hinsichtlich ihrer poetologischen Neuerungen zu beschreiben, gelangte Janusz Slawinski 1965 zu der Feststellung, daß das poetische Modell der Krakauer Avantgarde das gemeinsame Bezugssystem der neueren Lyrikentwicklung, ihre Schlüsseltradition bildet. 63 Diese später vielfach bestätigte Feststellung muß um weitere Erläuterungen ergänzt werden. Die Anknüpfung der „Generation 56" an die Avantgarde geschah nicht unmittelbar, d. h. nicht an dem Werk jenes Dichters vorbei, der das meiste für eine kritische Vermittlung zwischen der Avantgarde und der Lyrik nach 1945 getan hat: Tadeusz Rözewicz. Seine Poetik der asketischen Einfachheit wurde insbesondere in Polemik mit dem Grundsatz der Krakauer Avantgarde entwickelt, Lyrik sei maximal verdichtete schöne Rede, die sich radikal von der Prosa und allen anderen Arten der Sprachverwendung unterscheide. Für Rözewicz stand nicht schönes Sprechen, sondern authentisches Sprechen im Mittelpunkt. Gegen die semantische Vieldeutigkeit als Ergebnis der von Przybos kultivierten lexikalischen Metapher führte er die moralisch begriffene Eindeutigkeit ins Feld, deren Funktion es war, Ausdruck einer exemplarisch gezeichneten Existenz zu sein und glaubwürdiges Zeugnis einer beispiellosen Zeit zu geben. Was bei Rözewicz einen moralisch-ästhetischen Auftrag bedeutete, wurde in der Praxis der frühen fünfziger Jahre zunehmend auf die ideologische und thematische Eindeutigkeit des Slogans reduziert, der weiterer Deutung nicht bedarf, weil er sich zu keiner Vielschichtigkeit aufschwingt. In der Auseinandersetzung mit dem Zustand einer Dichtung, die sich in formalem und ideellem unisono äußerte, suchte die „Generation 56" nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten und knüpfte dabei an das gesamte Feld der Avantgarde der zwanziger und dreißiger Jahre an. Starken Eindruck machte auf die nun startenden Dichter die Konsequenz, mit der Przybos seinen künstlerischen Grundsätzen treu geblieben ist und sie zugleich entfaltet hat. Sie übernahmen durchaus nicht seine Poetik, aber er galt ihnen als überzeugendes Beispiel für das, was ihr gemeinsames ungeschriebenes Gesetz war: Bekräftigung der individuellen poetischen Phantasie und Anstrengung der ästhetischen Qualität poetischer Äußerung. Aus der Perspektive der ausgehenden fünfziger Jahre erschien das 14 Olschovsky, Lyrik
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Traditionsfeld der Vorkriegszeit neu gegliedert. Nicht mehr die Skamandriten bildeten den hauptsächlichen Gegenpol zur Krakauer Avantgarde, sondern die Katastrophisten der dreißiger Jahre; Przybos und Mitosz hießen nun die beiden bestimmenden poetischen Protagonisten. Diese Opposition wird jedoch nicht geradlinig fortgesetzt, der Dialog mit der avantgardistischen Tradition bringt weitere und neue Polarisierungen hervor. Die Kritik (Slawinski und Matuszewski 64 ) unterscheidet drei bzw. vier Orientierungen, die als Tendenzen im Werk eines Dichters nebeneinander auftreten können, von denen jede aber einem besonderen Poesiemodell zustrebt. 1. Als p o e t i s c h e M o r a l i s t i k wird ein Typ lyrischer Äußerung moralischer Inhalte und Wertungen bezeichnet, dessen prägnantes Extrem Rözewicz repräsentiert. Darin wiederholt sich die Situation eines Menschen, der Schwierigkeiten hat, seine psychischen, sozialen und weltanschaulichen Erfahrungen zu einer geordneten und bedeutenden Ganzheit zusammenzufügen, der aber zugleich an der Möglichkeit einer moralisch eindeutigen Ordnung festhält. Von daher das Oszillieren des lyrischen Subjekts zwischen Desintegration und dem Willen zur Form. Es steht in einem polemischen Verhältnis zur unbedingten, unangefochtenen Aktivität des avantgardistischen Subjekts und verneint die Notwendigkeit einer besonderen gattungsspezifischen Sprache, um sich auszudrücken. Zu dem Umkreis der skeptischen Moralisten gehören gewiß auch Herbert und Szymborska. 2. Den Vertretern der l i n g u i s t i s c h e n P o e s i e , Bialoszewski, Karpowicz, Bienkowski, ist die Überzeugung gemeinsam, daß die Übereinkunft sprachlicher Normen dem Sprecher nicht nur dient, sondern ihn auch ihren Regeln unterwirft und ihm damit vorgefaßte Urteile und Meinungen aufzwingt. Die Sprache wird von ihnen nicht als Instrument behandelt, sondern als ein bestimmter Zustand der Welt, den die Lyrik prüft, entlarvt oder feiert; so ist sie das eigentliche Bezugsfeld ihrer Lyrik. Zumeist werden Konventionen der Umgangssprache kritisch-grotesken Prozeduren unterworfen, um zu enthüllen, was von ihnen verborgen oder verdrängt wird. Diese Orientierung führt das Paradoxe der sprachlichen Ökonomie vor Augen. Was der avantgardistische Grundsatz als unstrittigen Wert faßte, ein Maximum an Ausdruck bei einem Minimum an Worten, das führt, so zeigt sich, nicht zur größeren Genauigkeit, sondern zu mehr Unbestimmtheit. 3. Der Typus m y t h e n b i l d e n d e r P h a n t a s i e kennzeichnet 210
die Ausschließlichkeit einer metaphorischen, poetisch autonomen Weltsicht. Hier gilt die poetische Einbildungskraft als höchste Instanz, die alle „Inkonsequenzen" der verwendeten Mittel rechtfertigt. Mit verschiedenem Material unterschiedlich arbeitend, wären hierzu Nowak und Grochowiak zu zählen. Im Extremfall, bei Harasymowicz, streift die entfesselte Phantasie alle bewußten Verpflichtungen gegenüber poetischen Regeln wie gegenüber der Realität ab. 4. Als A n r u f u n g d e r T r a d i t i o n wird eine Richtung charakterisiert, die am deutlichsten Herbert repräsentiert, und die intensiv mit Zeichen und Symbolen der universalen Kulturtradition arbeitet. Das Gedicht operiert mit sprachlichen Einheiten, an die bestimmte Werte und Inhalte gebunden sind, diese werden aber nicht nur passiv betrachtet, sondern aktiv umgedeutet. Diese Lyrik drängt zu einer formelhaften Sprache. Ihren Mangel an sprachlicher Kreativität macht sie durch die kompositorische Vielschichtigkeit des Rollengedichts, der Stilisierung, des Pastiche wett. Neben den Klassizisten Jaroslaw M. Rymkiewicz und Jerzy S. Sito wäre hierzu auf der anderen Seite auch Bryll zu rechnen. Diese Einteilung stellt idealisierte Typen dar, die individuelle Originalität des einzelnen Dichters läßt sich häufig nur als Schnittpunkt mehrerer Tendenzen beschreiben. In die sprachliche Aktivität der neueren Poesie sind folgende avantgardistische Erfahrungen eingegangen: die originelle Metapher, die weit entfernte Begriffe und Gegenstände miteinander assoziiert; der Kunstgriff der Ellipse als Mittel der sprachlichen Ökonomie; das bildliche Äquivalent der subjektiven Emotion und des Urteils. Sie wurden sehr eigenständig gehandhabt. Dadurch, daß Rözewicz' Kritik an der Avantgarde immer bereits miteinbezogen und das Traditionsfeld um Milosz und Czechowicz sowie die Skamandriten (bei Szymborska) erweitert worden ist, kam es seltener zur Verselbständigung der sprachlichen Kreativität gegenüber der lyrischen Situation. Dem puristischen Bemühen der Avantgarde um eine reine Gattungssprache der Lyrik folgten Szymborskas Fabelgedichte, Herberts Geschichtsparabeln und auch Grochowiaks Montagen nicht. Durchaus in der Nachfolge der Avantgarde verließen die Lyriker der „Generation 5 6 " die mechanisch-zahlenmäßige Gliederung des Verses, wie sie dem silbisch-intonatorischen System (gleiche Silbenzahl plus gleiche Zahl von Sprechtakten) zugrunde lag. Sie stützten sich auf die syntaktischintonatorische Struktur bzw. strebten eine intonatorisch-expressive Gliederung des Verses an. Brachte die originelle Metaphorik kommu14*
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nikative Schwierigkeiten mit sich, so war die Tendenz zur inhaltlichen Gliederung des Textes dazu angetan, die Lesbarkeit der Gedichte zu erleichtern. Sie ist vorherrschend in den Gedichten von Przybos und Rözewicz, von Herbert, Karpowicz, Bialoszewski, Grochowiak und anderen. Die traditionellen Systeme sind aber nicht gänzlich abgetan, sie finden sich bei Szymborska wie in Grochowiaks Sonetten. Der volle Reim wird nicht mehr so rigoros bekämpft wie bei Przybos und Peiper, verliert aber durch die Verwendung von Assonanzen bzw. Blankversen doch seine dominierende Rolle. Die Musikalität wird sublimer durch stärkere Verwendung des Binnenreims und der Alliteration. Die kritische Abrechnung der Avantgarde mit dem Vorrang der romantischen Tradition in der polnischen Literatur eröffnete den Nachfolgern einen Zugang zu anderen Schichten der literarischen Vergangenheit, die von der klassizistischen Rhetorik über den Barock bis zum Renaissancegedicht reicht. Sie bieten sich den Dichtern der Gegenwart als neue Inspirationsquellen an, die souverän genutzt werden. Was die thematische Vielfalt anbelangt, folgte die Lyrik nach 1956 nicht der in dieser Hinsicht armen Krakauer Avantgarde, die, gänzlich auf die sprachliche Erfindung konzentriert, das Thema vernachlässigte. Man hielt sich eher an die von Tuwim, Lesmian oder den Futuristen geleistete Erkundung des Alltags, die nicht selten den tradierten Rahmen poetischer Gegenstände sprengte. Unter dem Stichwort „Turpismus" werden Bereiche, die bisher als poesiewidrig, ja anti-ästhetisch galten, der Lyrik einverleibt: der menschliche Körper (samt seinen Häßlichkeiten und Verkrüppelungen), Möbel und Geräte des Haushalts und das Leben zwischen Souterrain und Mansarde, Kulturgegenstände, alte Fabeln und unattraktive Natur (Distel, Kartoffelfeld, Sumpf), bäuerliche Mythen, philosophische Fragen und politische Ereignisse. Die überlieferte Wertskala dessen, was schön und häßlich, was würdig und niedrig sei, wird überprüft im Namen der Solidarität mit allen benachteiligten, unreflektiert aus unserer Aufmerksamkeit ausgestoßenen Dingen des praktischen Alltags. Zugleich wird ihre Häßlichkeit als Teil unserer Wirklichkeit kritisch zur Sprache gebracht. Den verschmähten Gegenständen und Themen unter beiden Aspekten poetisch gerecht zu werden wird als ein Stück Aneignung der sozialistischen Wirklichkeit verstanden und als Versuch, den großen geschichtlichen Rahmen mit dem Gewebe menschlicher Erfahrung auszufüllen. 212
Alle Dichter, die Mitte der fünfziger Jahre an die Öffentlichkeit getreten sind, bestimmen heute (bis auf Grochowiak, der 1976 verstarb) mit ihrem Werk wesentlich die poetische Szene in Polen. Sie haben ihre poetischen Anlagen auf unterschiedliche Weise entfaltet, so daß die gemeinsamen Antriebe ihres literarischen Beginns immer weiter in den Hintergrund getreten sind. Es versteht sich, daß zusammenfassende Würdigungen der literarischen Produktion einzelner Dichter ausbleiben müssen, solange die Entwicklung selber unabgeschlossen ist. Inzwischen ist aber der Versuch unternommen worden, Chancen und Wirklichkeit der „Generation 56" als einer poetischen Formation insgesamt kritisch zu beleuchten. Der Versuch geht auf das Konto von Lyrikern, deren erste Veröffentlichungen sich zumeist um das Jahr 1970 gruppieren und deren Auftreten eine unübersehbare Zäsur in der polnischen Poesie bedeutet. Zu den wichtigsten Namen gehören: Ewa Lipska, Stanislaw Baranczak, Wit Jaworski, Krzysztof Karasek, Ryszard Krynicki, Julian Kornhauser, Jaroslaw Markiewicz und Adam Zagajewski. Ihre Lyrik ist nicht mehr Gegenstand unserer Betrachtung, es sollen aber die wesentlichen Punkte genannt werden, unter denen die jungen Dichter in programmatischen und kritischen Äußerungen die Formation ihrer Vorgänger betrachten.65 Aus der Perspektive von 1970 zeigen sich deutlicher die ästhetischen Voraussetzungen der Lyrik von 1956, die - obwohl von gesellschaftlichen politischen Ereignissen ausgelöst - vor allem eine (aversionsgeladene) Reaktion auf die didaktische Eindeutigkeit und den uniformen Traditionalismus der frühen fünfziger Jahre war. Ins Zentrum ihrer Rezeption der Avantgarde rückte darum das Konzept der poetischen Autonomie, die diffizile Metaphorik, die Originalität der poetischen Mittel - nicht jedoch das von Peiper entworfene ganzheitliche Kulturmodell, in dem Poesie und gesellschaftliche Praxis sowie die Veränderungen der einen und der anderen funktional verzahnt worden waren. Peipers im engeren Sinne poetologische Prinzipien, die im Kampf gegen neoromantische Einflüsse entwickelt worden sind - der pseudonymische Charakter der Lyrik, die Ausschließlichkeit der sprachlich-poetischen Aktivität, die Abkehr von einem unmittelbaren Ausdruck der Persönlichkeit - , seien, nach Meinung von Adam Zagajewski und Julian Kornhauser, den Autoren einer kritischen Bestandsaufnahme, inzwischen zu den drei „Krankheiten" der gegenwärtigen Lyrik geworden. Diese heißen: Wucherung der Allusion, wodurch die Lyrik nur noch über die Anspielung auf Anspielungen Kontakt mit der Realität pflege; rätselhafte Unbe213
stimmtheit, die sich gegenüber der Sprache der Massenmedien, die ihrerseits voll umschreibender Floskeln steckt, nicht durchsetzen könne - aus dem ursprünglichen Ausloten sei ein Auszug in die Vieldeutigkeit geworden; schließlich die Anonymität der Poesie, erreicht durch die Gleichsetzung der poetischen Werkstatt mit der Weltanschauung. Der Rückzug in eine unpersönliche Sprache erlaube weder die Empfindungen und Überzeugungen des Subjekts noch die Dinge der Welt deutlich beim Namen zu nennen. Diese kritische Diagnose kann nicht als literarhistorisches Urteil gelten, weil ihre Schärfe zu einem guten Teil die Funktion der notwendig polemischen Standortbestimmung einer neuen Dichtergeneration ist. Sie erhellt aber selbst durch die Verzeichnung die Situation ihrer Vorgänger. Es zeigt sich nun, daß das Verbindende der „Generation 5 6 " weniger ein positives Programm gewesen ist als vielmehr die gemeinsame Erfahrung des Wandels der politischen und kulturellen Umstände. Gemeinsame Programme, Manifeste wurden vermieden, weil beargwöhnt als kollektive Uniformierung. Damit wurde, langfristig gesehen, auf ein Instrument verzichtet, sich über die eigene Gegenwart und ihre Dynamik zu verständigen sowie die eigenen Werke in dem gesellschaftlichen Funktionszusammenhang genauer zu placieren. Es lassen sich kaum Äußerungen jener Generation finden, die belegen würden, daß sie die fortschreitenden Urbanisierungsprozesse der polnischen Gesellschaft in ihren Auswirkungen auf die Demokratisierung der Kultur bewußt wahrgenommen und reflektiert hätte. Gerade die sechziger Jahre konfrontierten die Literatur mit der immensen Ausweitung der Massenmedien, die die Wirkungsbedingungen der Literatur veränderten. Es stellte sich die Frage, welches Verhältnis die Poesie zu einer Massenkultur, deren sozialistischer Stil zu gestalten war, einzunehmen gedenkt. Diese Phänomene machten die jungen Lyriker der siebziger Jahre zu einem ihrer Ausgangspunkte. Von daher bescheinigten sie der „Generation 56" große ästhetische Opulenz, hielten ihr aber vor, daß sie sich mit der Eroberung eines Freiraumes für die künstlerische Phantasie begnügt habe. Als eine Formation hätte sie wenig Ehrgeiz gezeigt, die Phantasie intellektuell zu beherrschen und durch genaueren Bezug auf die vielfältigen gesellschaftlichen Kontexte kulturbildend Zu wirken. Bezeichnend für die Kritik der Generation 1970 an ihren Vorgängern sind die veränderten Kriterien, die ins Feld geführt werden. Die Lyrik gilt nicht mehr hauptsächlich als origineller Ausdruck der künstlerischen Einbildungskraft, sondern wird stärker als Erkenntnis- und Organisa214
tionsweise individueller wie gesellschaftlicher Erfahrungen betrachtet. Damit versuchen die Dichter der siebziger Jahre kritisch an zweierlei Konzepte anzuknüpfen: an den streng ideell-erzieherischen Impetus der frühen fünfziger Jahre sowie an den sprachlich reichen und authentischen Ausdruck der Subjektivität, den hohen künstlerischen Standard der „Generation 56". Als integrierendes Element erweist sich hierbei die neuerlich repizierte komplexe Vorstellung des Avantgardisten Peiper über den Zusammenhang von Kunst und Gesellschaft, insbesondere seine Idee von der Funktion neuartiger poetischer Strukturen als Ausdruck und Agens gesellschaftlicher Veränderungen. Die erneute Debatte um die Stellung der Lyrik in der Gesamtheit der sozialistischen Kultur Polens signalisiert offensichtlich eine Spannung, die zwischen der Literatur und dem Zustand der Gesellschaft eingetreten ist. Sie markiert eine Zäsur, von der aus sich ein neuer Blick auf die bisherige Entwicklung ergibt und für die Zukunft neue Fragen und Lösungen abzeichnen.
215
Anmerkungen
Abkürzungen Gesichter und Masken
Lichodzicjewska. Materiaiy
Linia i gwar Literatura i polityka
Literatura wobec wojny . . .
MEW
Polnische Lyrik
Polska awangarda
Wiersze i poematy T?dy
216
Tadeusz Rózewicz: Gesichter und Masken. Gedichte. Ausgewählt von Jutta Janke. Übers, v. Günter Kunert u. Karl Dedecius. Berlin 1969. Wladyslaw Broniewski. Wstqp, wybór materiaiów i przypisy (Einleitung, Materialauswahl und Anmerkungen von) Feliksa Lichodzicjewska. Warszawa 1966. Julian Przybos: Linia i gwar. Szkice (Linie und Lärm. Skizzen). Bd. 1 u. 2. Krakow 1959. Leon Kruczkowski: Literatura i polityka (Literatur und Politik). Textauswahl: Zenona Macuzanka. Bd. 1 u. 2. Warszawa 1971. Literatura wobec wojny i okupacji (Das Verhältnis der Literatur zu Krieg und Okkupation). Hg. v. Michal GJowinski u. Janusz Stawiñski. Wroclaw-Warszawa 1976. Karl Marx/Friedrich Engels: Werke. Hg. v. Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. (Bd. 1 - 3 9 u. 2 Erg.-Bde.) Berlin 1956 bis 1971. Polnische Lyrik aus fünf Jahrzehnten. Hg. v. Henryk Bereska u. Heinrich Olschowsky. Berlin-Weimar 1975. Andrzej Lam: Polska awangarda poetycka lat 1917-1922 (Die polnische poetische Avantgarde der Jahre 1917-1922). Bd. 1. Instynkt i Jad (Instinkt und Ordnung). Bd. 2. Manifesty i protesty (Manifeste und Proteste). Krakow 1969. Wladyslaw Broniewski: Wiersze i poematy (Gedichte und Poeme). Warszawa 1973. Tadeusz Peiper: T^dy. Nowe usta (Hierherum. Neuer Mund). Eingeleitet u. kommentiert v. Stanislaw Jaworski. Krakow 1972.
Zitate ohne deutschen Nachweis sind vom Verfasser übersetzt. Deutsch angegebene Titel liegen in deutschen Ausgaben vor. Stehen deutsche Angaben lediglich in Klammern, fehlt die deutsche Ausgabe.
Einleitung 1 Die einzige Ausnahme bildet die sprachwissenschaftlich orientierte Arbeit von Eugenie Rechtsiegel: Die poetische Funktion der Wortverbindungen in der Sprache Wladyslaw Broniewskis. Abhandlungen der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Klasse für Sprache, Literatur und Kunst. Berlin 1968. 2 Janusz Slawiiiski: Synchronie und Diachronie im literarhistorischen Prozeß. In: Positionen polnischer Literaturwissenschaft der Gegenwart. Hg. v. Eberhard Dieckmann u. Maria Janion. Berlin 1976, S. 138 (Literatur und Gesellschaft). 3 Vgl. Michal Glowiriski: Tradycja literacka (Literarische Tradition). In: Problemy teorii literatury (Probleme der Literaturtheorie). Warszawa - Wroclaw - Krakow 1967, S. 3 4 3 - 3 5 9 ; Joachim Streisand: Begegnung mit der Geschichte. Gedanken zu einigen Grundfragen der Geschichts- und Kulturtheorie. In: Neue Deutsche Literatur 19 (1972) 2 ; Siegfried Wollgast: Tradition und Philosophie. Über die Tradition in Vergangenheit und Zukunft. Berlin 1975; Dialog über Tradition und Erbe. Ein interdisziplinäres Kolloquium des Forschungsbereichs Gesellschaftswissenschaften der Akademie der Wissenschaften der D D R . Hg. v. Dieter Schiller u. Helmut Bock. Berlin 1976. 4 Robert Weimann: Das Traditionsproblem und die Krise der Literaturgeschichte. In: Tradition in der Literaturgeschichte. Beiträge zur Kritik des bürgerlichen Traditionsbegriffs bei Croce, Ortega, Eliot, Leavis, Barthes u. a. Hg. v. Robert Weimann. Berlin 1972, S. 10 (Literatur und Gesellschaft). 5 Janusz Slawifiski: Synchronie und Diachronie im literarhistorischen Prozeß. In: Positionen polnischer Literaturwissenschaft der Gegenwart. Hg. v. Eberhard Dieckmann u. Maria Janion. Berlin 1976, S. 151-152 (Literatur und Gesellschaft). 6 Vgl. Claus Träger: Zwischen Interpretationskunst und „Materialistischer" Literaturwissenschaft. In: Studien zur Realismustheorie und Methodologie der Literaturwissenschaft. Leipzig 1972.
Im Rhythmus der neuen Zeit 1 Stefan Zeromski: Literatura a zycie polskie (Die Literatur und das polnische Leben). In: Dziela (Werke). Bd. 4. Warszawa 1957, S. 40.
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2 Karol
Irzykowski:
Dwie rewolucje
(Zwei Revolutionen).
In:
Ci^zszy i
lzejszy kaliber. Krytyki i eseje (Schwereres und leichteres Kaliber. Kritiken und Essays). Hg. u. eingel. v. Andrzej Stawar. Warszawa 1957, S. 77. 3 Aufschlußreich ist in dieser Hinsicht die Parallelität der Parteiengründung: 1882 entsteht die erste polnische Arbeiterpartei I Proletariat, und 1887 wird die nationalistische Liga Polska (Polnische Liga) gegründet. 4 Zit. nach: Rok 1905 w literaturze polskiej (Das Jahr 1905 in der polnischen Literatur). Hg. v. Stefan Klonowski. Warszawa 1955, S. 5 - 6 . 5 Karol Irzykowski: Dwie rewolucje (Zwei Revolutionen). In: Ci^zszy i lzejszy kaliber. Krytyki i eseje (Schwereres und leichteres Kaliber. Kritiken und Essays). Hg. u. eingel. v. Andrzej Stawar. Warszawa 1957, S. 79. 6 Vgl. Wladyslaw Loranc: Sztuka i spoleczenstwo w programie artystycznym polskiego modernizmu (Kunst und Gesellschaft im ästhetischen Programm des polnischen Modernismus). Krakow 1973, S. 9 3 - 1 1 0 . 7 Eine ausführliche Darstellung der symbolistischen Poetik und Poesie in Polen sowie eine erhellende Studie über das Selbstverständnis des modernistischen Künstlers lieferte Maria Podraza-Kwiatkowska in: Symbolizm i symbolika w poezji Mtodej Polski (Symbolismus und Symbolik in der Lyrik des Jungen Polen). Krakow 1975. 8 D i e Anregung zur obigen Überlegung verdanke ich der originellen Studie von Tomasz Burek: Lekcja rewolueji. O znaczeniu rewolueji 1905 roku w procesie historyczno-literackim (Lektion der Revolution. Zur Bedeutung der Revolution von 1905 im literarhistorischen Prozeß). I n : Literatura polska wobec rewolueji (Das Verhältnis der polnischen Literatur zur Revolution). Hg. v. Maria Janion. Warszawa 1971, S. 1 4 6 - 1 9 1 . 9 Stefan Zeromski: Snobizm i postsp (Snobismus und Fortschritt). WarszawaKraköw 1929, S. 55. 10 Zur Entstehungsgeschichte und Entwicklung der sog. II. Republik liegen inzwischen umfassende Untersuchungen der Historiker vor. - Vgl. Stefan Kieniewiez: Drogi wiodqce do niepodleglosci (Wege in die Unabhängigkeit); Czeslaw Madajczyk: Odrodzenie Polski w 1918 roku (Polens Wiedergeburt im Jahre 1 9 1 8 ) ; Tadeusz J?druszczak: Spory o genez? I I Rezeczpospolitej (Der Streit um die Entstehung der II. Republik). In: Droga przez pöhwieeze. O Polsce lat 1 9 1 8 - 1 9 6 8 ( D e r Weg durch ein halbes Jahrhundert. Über Polen der Jahre 1 9 1 8 - 1 9 6 8 ) . Warszawa 1969. 11 Unter
Verwendung
unterschiedlicher
moderner
literaturwissenschaftlicher
Ideen hat Janusz Slawiüski den Begriff der Schlüsseltradition theoretisch entwickelt und praktisch erprobt. - Vgl. Janusz StawiAski: Synchronie und Diachronie . . . , I n : Positionen polnischer Literaturwissenschaft der Gegenwart. Hg. v. Eberhard Dieckmann u. Maria Janion. Berlin 1976, S. 1 4 8 (Literatur und Gesellschaft). 12 Bruno Jasiefiski: D o narodu polskiego. Manifest w sprawie natychmiastowej futuryzaeji zycia (An das polnische Volk. Manifest für die sofortige Futurisierung des Lebens). Abgedr. in: Polska awangarda. Bd. 2, S. 209.
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13 Tadeusz Peiper: Miasto. Masa. Maszyna (Stadt. Masse. Maschine). In: T s dy, S. 38-39. 14 Ebenda, S. 36. 15 Vgl. Tadeusz Peiper: Punkt wyjscia (Der Ausgangspunkt). In: Ebenda, S. 27. 16 Vgl. Jan Stur: Czego chcemy (Was wir wollen). In: Polska awangarda. Bd. 2, S. 137. 17 Slowo wstfpne do „Skamandra" (Einleitung zum „Skamander"). In: Polska awangarda. Bd. 2, S. 107. 18 Vgl. Stefan Zeromski: Snobizm i postep (Snobismus und Fortschritt). Warszawa-Kraköw 1929, S. 73. 19 Tadeusz Peiper: Radio adwokat (Radio Advokat). In: T?dy, S. 244-245. 20 1927 besuchte Peiper gemeinsam mit dem Maler und Begründer des russischen Suprematismus K. Malewitsch das Bauhaus in Dessau. Er traf dort mit Gropius, Hannes Meyer, Moholy-Nagy und Kandinsky zusammen. Beeindruckt von den Bemühungen, die Kluft zwischen „schöner" und „angewandter" Kunst zu beseitigen, notierte Peiper, daß er mit Genugtuung eine unabweisliche Verwandtschaft zwischen dem Rhythmus dieser Architektur und dem Rhythmus seiner Poesie wahrgenommen habe. - Vgl. Tadeusz Peiper: W Bauhausie (Im Bauhaus). In: T?dy, S. 170. 21 Polska awangarda. Bd. 2, S. 209. 22 Vgl. Tomasz Burek: Krytyka literacka i „duch nowoczesnosci" (Die Literaturkritik und der „moderne Geist"). In: Literatura polska (Polnische Literatur) 1918-1975. Bd. 1: 1918-1932. Hg. v. Alina Brodzka, Helena Zaworska, Stefan Zotkiewski. Warszawa 1975, S. 138. 23 Vgl. Stefan Zölkiewski: Kultura literacka. In: Ebenda, S. 42-43. 24 Bruno Jasieliski: Futuryzm polski. Bilans (Der polnische Futurismus. Eine Bilanz). In: Polska awangarda. Bd. 2, S. 391. 25 Maria Janion: Rozwöj marksistowskiej koncepcji romantyzmu w Polsce (Entwicklung einer marxistischen Romantik-Konzeption in Polen). In: Z problemöw literatury polskiej XX wieku (Probleme der polnischen Literatur im 20. Jahrhundert). Hg. v. Stefan Zölkiewski, Henryk Wölpe u. Henryk Markiewicz. Bd. 3. Warszawa 1965, S. 375. 26 Slowo wst^pne do „Zdroju" (Einleitung zum „Born"). In: Polska awangarda. Bd. 2, S. 18. 27 Antoni Sionimski: Czarna wiosna. In: Ebenda, S. 76. 28 Tadeusz Peiper: Futuryzm (Futurismus). In: T^dy, S. 170. 29 Tadeusz Peiper: Nowe usta (Neuer Mund). In: Ebenda, S. 365. 30 Ebenda, S. 356. 31 Jerzy Jankowski: Tram wpoprzek ulicy (Die Tram quer über die Straße). In: Polska awangarda. Bd. 2, S. 99. 32 Bruno Jasieliski: Wstqp do „Ziemia na lewo!" (Vorwort zu „Linksrum erdet"). In: Utwory poetyckie. Manifesty. Szkice (Poetische Werke. Manifeste. Ski2zen). Bearb. v. Edward Balcerzan. Wroclaw-Warszawa-Krakow 1972, S. 240.
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3 3 W . I. Lenin: D i e nächsten Aufgaben der Sowjetmacht. I n : Werke, B d . 27. Berlin 1 9 6 0 , S. 2 3 0 - 2 3 1 . 3 4 Bruno Jasienski: Manifest . . . I n : Polska awangarda. B d . 2, S. 2 1 0 . 35 Vgl. ebenda, S. 2 1 7 . 3 6 Tadeusz Peiper: K u specyficznosci kina (Um die Spezifik des Kinos). I n : T ¥ d y , S. 2 2 3 . 37 Julian Przybos: Idea rygoru ( D i e Idee der Strenge). I n : Linia i gwar. B d . 1, S. 13. 3 8 Tadeusz Peiper: Metafora terazniejszosci ( D i e Metapher der Jetztzeit). I n : T s d y , S. 5 4 - 5 5 . 3 9 Julian Przybos: Forma nowej liryki ( D i e Form der neuen Lyrik). I n : Linia i gwar. B d . 1, S. 5 4 . 4 0 Tadeusz Peiper: T a k z e inaczej (Auch noch anders). I n : T?dy, S. 116. 4 1 Tadeusz Peiper: Sztuka a Proletariat
(Kunst und Proletariat). I n : T^dy,
S. 141. 4 2 Vgl. Tadeusz Peiper: Odröznienia
(Unterscheidungen). I n : O
wszystkim
i jeszcze o czyms. Artykuly, eseje, wywiady (Über alles und noch etwas mehr. Aufsätze, Essays,
Interviews)
1918-1939.
Eingeleitet u. kommentiert
v.
Stanislaw Jaworski. Krakow 1 9 7 4 , S. 2 8 3 - 2 9 1 . 4 3 Vgl. Tadeusz Peiper: Sztuka a Proletariat (Kunst und Proletariat). I n : T^dy, S. 139.
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4 4 Julian Tuwim: Poezja (Poesie). I n : Dziela (Werke). B d . 1. Warszawa 1 9 5 5 , S. 113. 4 5 Kazimierz Wierzynski: Verrücktes Manifest. I n : Polnische Lyrik, S. 71. 4 6 Julian Tuwim: Wiosna (Frühling). I n : Polska awangarda. B d . 2, S. 4 2 . 47 Bruno Jasiefiski: Lied über den Hunger (Ausschnitt). I n : Polnische Lyrik, S. 1 3 3 - 1 3 4 . 4 8 Bruno Jasienski: Prolog zum „football aller heiligen". I n : Polnische Lyrik, S. 141. 4 9 Tadeusz Peiper: Nachkriegsaufruf. I n : Ebenda, S. 2 9 - 3 0 . 5 0 Tadeusz Peiper: Nackte. I n : Ebenda, S. 2 8 . 51 Tadeusz Peiper: Nachkriegsaufruf. I n : Ebenda, S. 29. 5 2 Tadeusz Peiper: Oberschlesien. I n : Ebenda, S. 31. 5 3 Julian Przybos: Perpetuum mobile. I n : Ebenda, S. 1 2 3 . 5 4 Julian Przybos: Gedichte. Übers, v. K a r l Dedecius. München 1 9 6 3 , S. 9. 5 5 Julian Przybos: D i e neue Rose. I n : Polnische Lyrik, S. 1 2 5 . 5 6 Julian Przybos: Czlowiek nad przrod^ ( D e r Mensch über der Natur). I n : Linia i gwar. B d . 1, S. 1 7 - 1 9 . 57 Julian Przybos: Regen. I n : Gedichte. Übers, v. K a r l Dedecius. München 1 9 6 3 , S. 13. 5 8 Julian Przybos: Begegnung. I n : Ebenda, S. 2 3 . 5 9 K a r l M a r x : Ökonomisch-philosophische Manuskripte. I n : M E W ,
Erg.-Bd„
Erster Teil, S: 5 1 7 ; vgl. auch ders.: Deutsche Ideologie. I n : M E W , B d . 3, S. 4 3 - 4 4 .
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60 Vgl. Heinrich Olschowsky: Natur als Tempel und Werkstatt. Zur romantischen Tradition des polnischen Naturgedichts im 20. Jahrhundert. In: Zeitschrift für Slawistik 17 (1973) 1, S. 37-49. 61 Kazimierz Przerwa-Tetmajer: Gesang der nächtlichen Nebel. In: Polnische Poesie des 20. Jahrhunderts. Hg. u. übers, v. Karl Dedecius. München 1964, S. 9. 62 Julian Przybos: Odjazd z wakacji (Abreise aus den Ferien). In: Poezje zebrane (Gesammelte Gedichte). Warszawa 1959, S. 119-120. 63 Julian Przybos: Droga powrotna (Der Rückweg). In: Ebenda, S. 102. 64 Julian Przybos: Are de Triomphe. In: Gedichte. Übers, v. Karl Dedecius. München 1963, S. 29. 65 Julian Przybos: Zapiski bez daty (Notizen ohne Datum). Warszawa 1970, S. 38. 66 Vgl. Andrzej Lam: Reakcja antysentymentalna (Antisentimentale Reaktion). In: Wyobraznia ujarzmiona (Gezügelte Phantasie). Krakow 1967, S. 118 bis 140. 67 Julian Przybos: Przygody awangardy (Die Abenteuer der Avantgarde). In: Linia i gwar. Bd. 1, S. 64. 68 In seiner Untersuchung der polnischen avantgardistischen Poesie hat Endre Bojtär, offenbar unter dem Eindruck des ungarischen Modells, das Kriterium der Synthese überaus stark exponiert. - Endre Bojtär: Razvitie poezii pol'skogo avangarda. In: Studia Slavica Hungarica 13 (1972), S. 91. 69 Vgl. Ignacy Fik: Dwadziescia lat literatury polskiej (Zwanzig Jahre polnische Literatur). In: Wybör pism krytycznych (Auswahl kritischer Schriften). Warszawa 1961, S. 441-443.
Ein Modell proletarischer Poesie: Wtadystaw Broniewski 1 Zu den grundlegenden Arbeiten über die Entwicklung der linken Literaturprogrammatik und -kritik gehören: Tadeusz Bujnicki, Marian St;pieú: Rozwój pojfcia „literatura proletariacka" w krytyce dwudziestolecia migdzywojennego (Entwicklung des Begriffs „proletarische Literatur" in der Kritik der Zwischenkriegszeit). In: Rocznik Komisji Historyczno-Literackiej PAN (Jahrbuch der Literaturgeschichtlichen Kommission der PAN) 1964, II, S. 31-82; Tadeusz Bujnicki/Mariian St?pién: Dyskusje o poezji i prozie w lewicowej prasie kulturalnej dwudziestolecia (Debatten über Poesie und Prosa in den linken Kulturblättern der Zwischenkriegszeit). In: Z problemöw literatury polskiej XX wieku (Probleme der polnischen Literatur des 20. Jahrhunderts). Bd. 2. Hg. v. Alina Brodzka u. Zbigniew Zabicki. Warszawa 1965, S. 410 bis 426; Marian Stapien: Ze stanowiska lewicy. Studium jednego z nurtów polskiej krytyki literackiej 1919-1939 (Vom Standpunkt der Linken. Studium einer Strömung der polnischen Literaturkritik). Krakow 1974. 2 Witold Wandurski: Upodobania estetyczne proletariatu (Die ästhetischen
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Neigungen des Proletariats). Zit. nach: Witold Filier: Na lewym torze (Auf dem linken Gleis). Warszawa 1967, S. 31. Vgl. Aleksander Wat: Wspomnienia o futuryzmie (Erinnerungen an den Futurismus) In: Miesi^cznik Litecacki (1930) 2. Witold Wandurski: Upodobania estetyczne proletariatu (Die ästhetischen Neigungen des Proletariats). Zit. nach: Witold Filier: Na lewym torze (Auf dem linken Gleis). Warszawa 1967, S. 28-29. Bruno Jasienski/Anatol Stern: Wsty> do „Ziemia na lewo!" (Vorwort zu „Linksrum erdel"). In: Bruno Jasiefiski: Utwory poetyckie, manifesty, szkice (Poetische Werke, Manifeste, Skizzen). Hg. v. Edward Balcerzan. WroclawWarszawa-Kraköw 1972, S. 240-241. Witold Wandurski: Zdobycze artystyczne poezji proletariackiej (Die künstlerischen Errungenschaften der proletarischen Poesie). Zit. nach: Tadeusz Bujnicki: Wladislaw Broniewski. Warszawa 1972, S. 41. Vgl. Maria Janion: Broniewskiego „morze zjawisk" (Broniewskis „Meer von Erscheinungen") In: Broniewski w poezji polskiej (Broniewski in der polnischen Poesie). Warszawa 1976, S. 7; - zu dieser Problematik vgl. auch: Heinrich Olschowsky: Romantische Traditionen in der polnischen Lyrik des 20. Jahrhunderts. Julian Przybos und Wladyslaw Broniewski. In: Zeitschrift für Slawistik 20 (1975) 1, S. 98-113. Jan Hempel: O sztuk? proletariack^ (Für die proletarische Kunst). Zit. nach: T. Bujnicki: Wladyslaw Broniewski. Warszawa 1972, S. 40. W. I. Lenin: Werke. Bd. 24, Berlin 1959, S. 290. Wladyslaw Broniewski, Witold Wandurski, Stanislaw R. Stande: Trzy salwy. Biuletyn poetycki (Drei Salven. Ein poetisches Bulletin). 3. Aufl. Warszawa 1967, S. 5. Wladyslaw Broniewski: An die Poesie. In: Polnische Lyrik. Berlin 1953, S. 42-43. Wladyslaw Broniewski: O idei spolecznej w poezji (Die soziale Idee in der Lyrik). Ein Interview für Glos Literacki (1928) 12. Abgedr. bei: Lichodziejewska. Materialy, S. 155. Witold Filier: Na lewym torze (Auf dem linken Gleis).Warszawa 1967,S.25. Dieser Konflikt ist nicht gleichbedeutend mit dem häufig auf Broniewski gemünzten Gegensatz: romantische Haltung gleich persönliche Stimmungspoesie und revolutionäre Haltung gleich sozial engagierte Lyrik - wie ihn auch Artur Sandauer aufstellt: Od romantyzmu do poezji proletariackiej (Von der Romantik zur proletarischen Poesie). In: Poeci trzech pokolen (Dichter dreier Generationen). 2. Aufl. Warszawa 1962, S. 102. Romantisch ist Broniewski in beiden Varianten. Das Problem lautet: Welche Folgen haben die romantischen Implikationen für seine revolutionäre Lyrik? Vgl. Lichodziejewska. Materialy, S. 154. Ebenda, S. 134. Vgl. Heinz Lemke: Allianz und Rivalität. Die Mittelmächte und Polen im ersten Weltkrieg. Berlin 1977.
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18 Wladysiaw Broniewski: Z pami?tnika (Aus dem Tagebuch). In: Lichodziejewska. Materialy, S. 115. 19 Wladysiaw Broniewski: Pionierom (Den Pionieren). In: Wiersze i poematy, S. 39. 20 Wladysiaw Broniewski: Auf den Tod eines Revolutionärs. In: Hoffnung. Ausgewählte Gedichte. Übers, v. Max Zimmering. Berlin 1953, S. 62. 21 Wladysiaw Broniewski: Wczoraj i jutro poezji w Polsce (Das Gestern und das Morgen der Poesie in Polen). In: Lichodziejewska. Materialy, S. 150. 22 Vgl. die Rezensionen Witold Wandurskis zu W'tatrahi und Andrzej Stawars zu Trzy salwy. In: Ebenda, S. 162-168; Stanislaw Ryszard Standes polemisches Gedicht Do poety (An den Dichter) bringt die Studie von Feliksa Lichodziejewska: O r?kopisach W. Broniewskiego (Über die Handschriften W. Broniewskis). In: Z problemöw literatury polskiej XX wieku (Probleme der polnischen Literatur des 20. Jahrhunderts). Bd. 2. Hg. v. Alina Brodzka u. Zbigniew Zabicki. Warszawa 1965, S. 458-459. 23 Vgl. Viktor Chorev: Pol'skaja marksistskaja literaturnaja kritika. 20-30 gody. In: Formirovanie marksistskoj literaturnoj kritiki v zarubeznych slavianskich stranach. Redaktionskollegium: D. Markov, V. Chorev, S. Serlaimova. Moskva 1972, S. 67-136. 24 Wladysiaw Broniewski: Przyjacielu, los nasporöznil . . . (Freund, das Schicksal hat uns entzweit . . .). In: Wiersze i poematy, S. 107. 25 Wladysiaw Broniewski: Leichtathletik. In: Polnische Lyrik, S. 90. 26 Vgl. Maria Janion: Romantyzm. Studia o ideach i stylu (Romantik. Ideen- und stilgeschichtliche Studien). Warszawa 1969, S. 177-196. M. Janion verweist darauf, daß der religiöse Synkretismus die Grundlage der romantischen „Freiheitsreligion" war. Für Slowacki ist die wahre Dichtung Ausdruck der Träume des Volkes und Offenbarung göttlichen Geistes; ihre visionäre Gewalt durchbricht alle Argumentation. 27 Wladysiaw Broniewski: Lodz. In: Polnische Lyrik. Berlin 1953, S. 30. 28 Wladysiaw Broniewski: O sobie samym (Über mich selber). In: Wiersze i poematy, S. 52. 29 Adam Skwarczynski: Mysli o nowej Polsce (Gedanken über das neue Polen). Warszawa 1931, S. 62. 30 Ebenda, S. 142; vgl. auch S. 144. 31 Wladysiaw Broniewski: Do towarzyszy broni (An die Kampfgefährten). In: Wiersze i poematy, S. 40. 32 Vgl. Wiktor Choriew: Broniewski i kultura radziecka (Broniewski und die sowjetische Kultur). In: Wladysiaw Broniewski w poezji polskiej (Wladysiaw Broniewski in der polnischen Poesie). Warszawa 1976, S. 251. - In einem Bericht über die sowjetische Lyrik in den Wiadomoici Literackie (1927) 10 schrieb Broniewski: „Es ist bezeichnend, daß, obwohl Lyriker die Gruppe (LEF - H. O.) gebildet haben, die von ihnen vertretenen Losungen sich nicht im geringsten dazu eignen, auch auf die Poesie angewendet zu werden . . . Majakowski reduziert den Konstruktivis-
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mus zum Utilitarisinus, indem er Feuilletons in Versen macht. Tretjakow agitiert ziemlich vulgär mit dem Gedicht." 33 Wladyslaw Broniiewski: Kohlenbecken von D^browa. In: Wiersze i poematy, S. 79-80. 34 Wladyslaw Broniewski: An den Kerkergenossen. In: Hoffnung. Berlin 1953, S. 52. 35 Attila Jozsef: Gedichte. Hg. v. Stephan Hermlin. Berlin Budapest 1960, S. 40. 36 Wladyslaw Broniewski: Bagnet na bron (Bajonett aufgesetzt). In: Wiersze i poematy, S. 159. - Um den semantisch-rhythmischen Gestus hervorzuheben, habe ich nicht auf die Fassung der Anthologie Polnische Lyrik aus fünf Jahrzehnten zurückgegriffen. 37 Jözef Czechowicz: dorf. In: Polnische Lyrik, S. 142. 38 Wladyslaw Broniewski: Nein. In: Polnische Poesie des 20. Jahrhunderts. Hg. u. übers, v. Karl Dedecius. München 1964, S. 53. 39 Ein Punkt der Umfrage lautete: „Hat Broniewskis Lyrik gegenwärtig Fortsetzer?" Die Antworten verneinten das, und zwar hauptsächlich mit dem Hinweis auf sein poetisches Verfahren, des weiteren auf die veränderten literarischen Verhältnisse und den gesellschaftlichen Funktionswandel der Literatur. Das Verfahren der Allusion ist es auch, das eine angemessene Übertragung Broniewskis ins Deutsche ungemein erschwert, weil es im Grunde bei Nachdichter und Leser die Kenntnis der polnischen romantischen Poesie voraussetzt. Ohne diese kann eine Übersetzung zumeist nur den Eindruck einer plakativen Agitationslyrik vermitteln.
Lyrik und Widerstand
(1939-1945)
1 Dieser Beschluß wurde 1956 von ehemaligen Mitgliedern der Komintern, den Kommunistischen bzw. Arbeiterparteien der Sowjetunion, Polens, Italiens, Finnlands und Bulgariens als ungerechtfertigt bezeichnet. Die KPP und ihre Führer wurden voll rehabilitiert. Pravda v. 21. 2. 1956. 2 Vgl. Heinrich Olschowsky: Sozialistische Entscheidung aus nationaler Verantwortung. Polnische Literatur in der Auseinandersetzung mit Krieg und Okkupation. In: Literaturen europäischer sozialistischer Länder. Redaktion: Heinrich Olschowsky, Ludwig Richter. Berlin-Weimar 1975, S. 421-422. 3 Vgl. Stefan Zolkiewski: Model polskiej konspiracyjnej kultury literackiej (Modell der polnischen Literaturverhältnisse im Untergrund). In: Literatura wobec wojny . . ., S. 19-20; 26-27. 4 Genauer untersucht die Funktion des tyrtäischen Kanons der polnischen Romantik während des zweiten Weltkrieges Maria Janion: Krieg und Form. In: Verteidigung der Menschheit. Hg. v. Edward Kowalski. Berlin 1975, S. 536-538. 5 Wladyslaw Broniewski: List z wiszienia (Brief aus dem Gefängnis). In: Wiersze i poematy, S. 164.
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6 Wíadyslaw Broniewski: Monte Cassino. In: Ebenda, S. 193. 7 Vgl. Stanislaw Balbus/Tadeusz Bujnicki: Pielgrzym i zolnierz-tuiacz. Restytucja motywu pielgrzyma w wojennej poezji W. Broniewskiego (Pilger und heimatloser Soldat. Die Restitution des Pilger-Motivs in der Kriegsdichtung von W. Broniewski). In: Literatura wobec wojny . . ., S. 103-119. - Das Problem der romantischen Tradition in Broniewskis Lyrik wurde hier einfühlend dargelegt und breit dokumentiert. Die Argumentation der Verfasser bestätigt aber vor allem die positive Verwendung romantischer Motive durch Broniewski. Nicht überzeugend belegen konnten sie indessen die „polemischen Akzente gegenüber der romantischen Tradition" (S. 108). Zwar nimmt Broniewski den romantischen Geschichtsvorstellungen ihre metaphysische Dimension, aber die Figuren messianistischen Denkens: Tod und Auferstehung, Unfreiheit und Erlösung, Auserwählung durch Leid - leben in seinen Gedichten fort. Sie werden lediglich ergänzt um die soldatische Komponente des Weges zum Sieg durch Kampf. So kommt es gelegentlich zum Konflikt zwischen dem benutzten Reservoir an Motiven und Symbolen und der verbalen Verneinung ihres Ideengehalts. 8 Julian Przybos: Nalot nocny (Nächtlicher Luftangriff). In: Poezje zebrane (Gesammelte Dichtung). Warszawa 1959, S. 222. 9 Julian Przybos: Czytajqc Mickiewicza (Mickiewicz lesend). 2. erw. Aufl. Warszawa 1956, S. 9. 10 Ebenda, S. 23. 11 Julian Przybos: Noc listopadowa (Novembernacht) In: Poezje zebrane (Gesammelte Dichtung). Warszawa 1959, S. 241. 12 Novembernacht - 1904 geschriebenes Drama von Stanislaw Wyspiaúski über den Aufstand von 1830/31. Stefan Zeromskis Erzählung Reha lesne (Waldechos) greift das Thema des Januaraufstandes von 1863 auf. 13 Czeslaw Milosz: Campo di Fiori. In: Polnische Poesie des 20. Jahrhunderts. Hg. u. übers, v. Karl Dedecius. München 1964, S. 99-101. 14 Czeslaw Milosz: Lied vom Weltende. In: Ebenda, S. 103. 15 Tadeusz Gajcy: Gespenster. In: Polnische Lyrik, S. 271. 16 Krzysztof Baczyñski: Elegie von . . . (einem polnischen Jungen). In: Ebenda, S. 266. 17 Krzysztof Baczyñski: Miserere. In: Polnische Poesie des 20. Jahrhunderts. Hg. u. übers, v. Karl Dedecius. München 1969, S. 117. 18 Krzysztof Baczyñski: Dunkle Liebe. In: Polnische Lyrik, S. 265. 19 Rainer Maria Rilke: Gedichte. Hg. von Silvia Schlenstedt. Leipzig 1975, Vorwort S. 13 (Reclams Universal-Bibliothek). 20 Rainer Maria Rilke: Werke. Auswahl in zwei Bänden. Bd. 1. Leipzig 1959, S. 292. 21 Vgl. Jan BJoñski: Pami^ci aniola (Zum Gedenken an einen Engel). In: Literatura wobec wojny . . , S. 101-102. 22 Tadeusz Borowski: Lied. In: Polnische Lyrik, S. 302. 23 Tadeusz Borowski: An die Verlobte. In: Ebenda, S. 307. 15 OUchowsky, Lyrik
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24 Julian Przybos: Przygody awangardy (Die Abenteuer der Avantgarde). In: Linia i gwar. Bd. 1, S. 57. 25 Vgl. Stefan Zötkiewski: Model polskiej konspiracyjnej kultury literackiej. (Modell der polnischen Literaturverhältnisse im Untergrund). In: Literatura wobec wojny . . ., S. 44-46. Die Auseinandersetzung mit Krieg und revolutionärer (1945-1955) Umwälzung in der Lyrik 1 „Die Vorgänge in Auschwitz, im Warschauer Getto, in Buchenwald vertrügen zweifellos keine Beschreibung in literarischer Form. Die Literatur war nicht vorbereitet auf und hat keine Mittel entwickelt für solche Vorgänge." Bertolt Brecht: Schriften zur Politik und Gesellschaft. Bd. 2. BerlinWeimar 1968, S. 204. „Den Satz, nach Auschwitz noch Lyrik zu schreiben sei barbarisch, möchte ich nicht mildern; negativ ist darin der Impuls ausgesprochen, der die engagierte Dichtung beseelt. Die Frage . . ., ob Kunst überhaupt noch sein dürfe, ob nicht geistige Regression im Begriff engagierter Literatur anbefohlen wird von der Regression der Gesellschaft selber." Theodor W. Adorno: Engagement. In: Noten zur Literatur III. Frankfurt a. M. 1966, S. 125-126. 2 Vgl. Marta Piwiñska: Legenda romantyczna i szydercy (Die romantische Legende und die Spötter). Warszawa 1973, S. 7-49. 3 Unter dem Titel Gloria victis veröffentlichte Eliza Orzeszkowa 1910 eine Novellensammlung, die die Aufständischen von 1863 verherrlichte. 4 Vgl. Marta Piwiúska: Legenda romantyczna i szydercy (Die romantische Legende und die Spötter). Warszawa 1973, S. 14. 5 Konstanty Ildefons Galczyñski: Drei Sternlein am Himmel. In: Die Grüne Gans. Das kleinste Theater der Welt deutsch aufgeführt von Karl Dedecius. Frankfurt a. M. 1969, S. 10-11. 6 Ebenda, Nachwort S. 167. 7 Jan Kott: Wstijp do poezji ludzkiej (Einführung in die Poesie des Menschen). In: Kuznica (1946) 27. Zit. nach: Zbigniew Zabicki: „Kuznica" i jej program literacki („Kuznica" und ihr literarisches Programm). Krakow 1966, S. 216. 8 Nach dem Kriege sind im Ausland geblieben: Jan Lechon und Kazimierz Wierzyñski; Maria Pawlikowska-Jasnorzewska verstarb 1945 in Manchester. 9 Julian Przybos: Na temat sztuki narodowej (Zum Thema nationale Kunst). In: Linia i gwar. Bd. 1, S. 91. 10 Julian Przybos: Z teorii i praktyki poetyckiej (Aus der poetischen Theorie und Praxis). In: Ebenda, S. 85. 11 Vgl. Julian Przybos: Obowigzek artysty (Die Pflicht des Künstlers). In: Ebenda, S. 96-101. 12 Julian Przybos: Z teorii i praktyki poetyckiej (Aus der poetischen Theorie und Praxis). In: Ebenda, S. 88.
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13 Ebenda, S. 87. 14 Vgl. Wlodzimierz Kaczocha: Polityka kulturalna P P R w latach 1 9 4 5 - 1 9 4 8 (Die Kulturpolitik der PPR in den Jahren 1 9 4 5 - 1 9 4 8 ) . I n : Miesicjcznik Literacki 9 (1974) 10, S. 4 3 - 5 3 . 15 Leon Kruczkowski: O nowy program polityki kulturalnej (Für ein neues Programm der Kulturpolitik). In: Literatura i polityka. Bd. 2, S. 4 2 . 16 Ebenda, S. 49. 17 Vgl. Jerzy Kossak: Kultura, pisarz, spoleczeústwo (Kultur,
Schriftsteller,
Gesellschaft). Warszawa 1964, S. 111. 18 Vgl. Ebenda, S. 125. 19 Jerzy Borejsza: List jubileuszowy (Jubiläumsschreiben). Kuznica (1947) 31/ 32. Zit. nach: Zbigniew Zabicki: „Kuznica i jej program literacki
(„Kuz-
nica" und ihr literarisches Programm). Krakow 1966, S. 2 3 8 . 20 Leon Kruczkowski: „ T a k " i „Nie" („Ja" und „Nein") I n : Literatura i polityka. Bd. 2, S. 27. 21 Leon Kruczkowski: Obrachunki z przeszlosci% (Abrechnung mit der Vergangenheit). I n : Ebenda, S. 169. 22 Ebenda, S. 172. 23 Leon Kruczkowski: Sprzymierzeniec trudny i niezbgdny (Ein
schwieriger
und unersetzlicher Verbündeter). I n : Ebenda, S. 192. 24 Leon Kruczkowski: Czas podj^c próby oceny ( E s ist Zeit für einen Bewertungsversuch). I n : Ebenda, S. 208. 25 I I I Zjazd PZPR. Stenogram (III. Parteitag der PVAP, Stenogramm). Warszawa 1959, S. 1058. Zit. nach: Literatura i polityka. Bd. 2, S. 2 1 9 - 2 2 0 . 26 Tadeusz Rózewicz: I n : Walter Höllerer: Theorie der modernen Lyrik. Dokumente zur Poetik I. Reinbeck bei Hamburg 1965, S. 417. 27 Tadeusz Rózewicz: Heimkehr. In: Formen der Unruhe. Gedichte. Hg. u. übers, von Karl Dedecius. München 1965, S. 33. 28 Tadeusz Rózewicz: Gerettet. I n : Gesichter und Masken, S. 1 1 - 1 2 ; ders.: Lamento. I n : Ebenda, S. 1 6 - 1 7 . 29 Walter Hofer: Der Nationalsozialismus. Dokumente 1 9 3 3 - 1 9 4 5 . Frankfurt a. M. 1957, S. 113. 30 Kommandant in Auschwitz: Autobiographische Aufzeichnungen des Rudolf Höß. Hg. V. Martin Broszat. München 1964, S. 1 2 6 - 1 2 7 . 31 Ebenda, S. 1 5 6 ; Tadeusz Rózewicz: Neue philosophische Schule: I n : In der schönsten Stadt der Welt. Berlin 1971, S. 52. 32 Tadeusz Rózewicz: Rose. I n : Polnische Lyrik, S. 276. 33 Walter Höllerer: Theorie der modernen Lyrik. Dokumente zur Poetik I. Reinbeck bei Hamburg 1965, S. 418. 34 Tadeusz Rózewicz: E t in Arcadia ego. I n : Poezje zebrane
(Gesammelte
Gedichte). Wroclaw-Warszawa 1971, S. 544. 35 Vgl. Heinz Kronasser: Handbuch der Semasiologie. Heidelberg 1952, S. 144. 36 Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. I n : Lesezeichen. Leipzig 1970, S. 404. 15*
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Tadeusz Rözewicz: An den Taten. In: Gesichter und Masken, S. 15. Tadeusz Rözewicz: Lebender Stern. In: Ebenda, S. 22. Tadeusz Rözewicz: Ebene. In: Polnische Lyrik, S. 292. Tadeusz Rözewicz: Ich sehe die Besessenen. In: Gesichter und Masken, S. 23. 41 Tadeusz Rözewicz: Mitose 1944 (Liebe 1944). In: Poezje zebrane (Gesammelte Gedichte). Wrociaw-Warszawa 1971, S. 279. 42 Tadeusz Rözewicz: Besuch. In: Formen der Unruhe. Gedichte. Hg. u. übers, v. Karl Dedecius. München 1965, S. 27. 43 Tadeusz Rözewicz: Wenn du gehst. In: Gesichter und Masken, S. 21. 44 Tadeusz Rözewicz: „Ich suche einen Lehrer und Meister . . . " In: Verteidigung der Menschheit. Hg. v. Edward Kowalski. Berlin 1975, S. 582. 45 Walter Höllerer: Theorie der modernen Lyrik: Dokumente zur Poetik I. Reinbeck bei Hamburg 1965, S. 417. 46 Tadeusz Rözewicz: „Ich suche einen Lehrer und Meister . . " In: Verteidigung der Menschheit. Hg. v. Edward Kowalski. Berlin 1975, S. 579. 47 Tadeusz Rözewicz: Poetik. In: Gesichter und Masken, S. 31. 48 Ausgewertet wurden folgende Gedichte: Przybos: Z dloni (Von der Hand) und Notre Dame; Rözewicz: Rose und Wie gut. Nicht die genauen Zahlen, wohl aber die Proportionen wurden durch weitere Gedichte bestätigt. 49 Tadeusz Peiper: Metafora terazniejszosci (Die Metapher der Jetztzeit). In: Tgdy, S. 54-55. 50 Johann Wolfgang Goethe: Italienische Reise. In: Gesammelte Werke. Hamburger Ausgabe 1954, Bd. 1, S. 186. 51 Tadeusz Rözewicz: Et in Arcadia ego. In: Poezje zebrane (Gesammelte Gedichte). Wrociaw-Warszawa 1971, S. 547. 52 Ebenda, S. 548. 53 Ebenda, S. 548. 54 Tadeusz Rözewicz: Heimkehr. In: Formen der Unruhe. Gedichte. Hg. u. übers, von Karl Dedecius. München 1965, S. 33. 55 Tadeusz Rözewicz: Er wird in Helligkeit leben. [Teil IV des Zyklus Ölzweig.] In: Polnische Lyrik, S. 290-291. - Rözewicz zitiert darin die Schlußzeile des Gedichts Podwaliny (Basis) von Leopold Staff, das von Jerzy Kwiatkowski als Verkörperung des Prinzips „contra spem spero" bezeichnet wurde. Der Text: Ich habe auf Sand gebaut, Es stürzte ein. Ich habe auf Fels gebaut, Es stürzte ein. Nun fang ich zu bauen an Vom Rauch überm Schornstein. Leopold Staff: Wiersze zebrane (Gesammelte Gedichte). Warszawa 1955, Bd. 5, S. 313.
228
56 Adam Wazyk: Niedobry klimat (Ungutes Klima). In: Kuinica (1947) 42. Zit. nach: Zbigniew Zabicki: „Kuinica" i jej program literacki („Kuznica" und ihr literarisches Programm). Krakow 1966, S. 239-240. 57 Ryszard Matuszewski: Literatura na przelomie (Literatur im Umbruch). Warszawa 1951, S. 133. 58 Vgl. Jerzy Kossak: Kultura, pisarz, spoleczeñstwo (Kultur, Schriftsteller, Gesellschaft). Warszawa 1964, S. 133-135. 59 Ryszard Matuszewski: Literatura na przelomie (Literatur im Umbruch). Warszawa 1951, S. 130-131. 60 Dyskusja o poezji T. Rózewicza (Diskussion über die Lyrik T. Rózewicz'). In: Zycie Literackie (1954) 31. 61 Tadeusz Rózewicz: Der Arbeiter sorgt sich um das gemeinsame Gut. In: Polnische Lyrik. Berlin 1953, S. 135-136. 62 Kazimierz Wyka: Zalegte tomy Rózewicza (Die unerledigten Bände von Rózewicz). In: Rzecz wyobraini (Sache der Einbildungskraft). Warszawa 1959, S. 380. 63 Adam Wazyk: Kleines Lied vom Coca-Cola. In: Polnische Lyrik. Berlin 1953, S. 165; vgl. auch Mieczyslaw Jastrun: Versammlung. In: Ebenda, S. 73-75. 64 Wladyslaw Broniewski: Pionierom. In: Wiersze i poematy, S. 39. 65 Wladyslaw Broniewski: Das Sein bestimmt das Bewußtsein. In: Polnische Lyrik. Nachdichtungen v. Helene Lahr. Wien 1953, S. 75. 66 Um möglichst adäquat den Ausdruck des Originals wiederzugeben, wurde nur die zweite Strophe in der Übers, v. Helene Lahr zitiert. Die übrigen Belege stammen aus: Polnische Lyrik. Berlin 1953, S. 19. Übers, v. Alfred Thoß. Das Wort „Frühling" wurde gemäß dem Original vom Verf. eingesetzt. 67 Wladyslaw Broniewski: Pierwszy Maja (Erster Mai). In: Wiersze i poematy, S. 275. 68 Julian Przybos: Sens poetycki (Poetischer Sinn). 2. erw. Aufl. Krakow 1967. Bd. 2, S. 260. 69 Julian Przybos: Nawi^zujmy do tradycji (Laßt uns an die Tradition anknüpfen). In: Linia i gwar. Bd. 1, S. 187. 70 Julian Przybos: Die Hände der Putzfrauen. In: Polnische Lyrik, S. 127. 71 Julian Przybos: Abwechselnd. In: Ebenda, S. 129. 72 Vgl. Jan Btonski: Za pi?c dwunasta Czyli o warunkach poezji (Fünf vor zwölf oder Über die Bedingungen der Lyrik). In: Poeci i inni (Die Poeten und die anderen). Kraków 1956, S. 12-20. 73 Tadeusz Rózewicz: Stimme. In: Offene Gedichte. Übers, v. Karl Dedecius. München 1969, S. 58. 74 Tadeusz Rózewicz: Das läßt sich nicht zusammenfügen. In: Gesichter und Masken, S. 50 u. 52. 75 Tadeusz Rózewicz: Die Zeugen oder Unsere kleine Stabilisierung. In: Stücke. Berlin 1974, S. 99.
229
76 Tadeusz Rözewicz: Grüne Rose: In: Offene Gedichte. Übers, v. Karl Dedecius. München 1969, S. 81; die Schlußzeilen übers, v. Verf. 77 Tadeusz Rözewicz: Pathetischer Scherz. In: Gesichter und Masken, S. 74-75. 78 Tadeusz Rözewicz: Unklares Gedicht: In: Ebenda, S. 71. 79 Tadeusz Rözewicz: Rechte und Pflichten. [Teil V der Didaktischen Erzählung.] In: Ebenda, S. 96. 80 Kazimierz Wyka: Rözewicza droga do prozy (Rözewicz' Weg zur Prosa). In: Odra (1974) 5, S. 59. 81 Tadeusz Rözewicz: Erzählung von alten Frauen. In: Gesichter und Masken, S. 101. 82 Tadeusz Rözewicz: Die Stimme des Anonymus. In: Formen der Unruhe. Gedichte. Hg. u. übers, v. Karl Dedecius. München 1965, S. 74.
Funktionswandel
der Lyrik seit Mitte der fünfziger
]ahre
1 Vgl. Jan Bloúski: Poeci i inni (Die Dichter und die anderen). Krakow 1956; Kazimierz Wyka: Rzecz wyobrazni (Sache der Einbildungskraft). Warszawa 1959; Ryszard Matuszewski: Doswiadczenia i mity (Erfahrungen und Mythen). Warszawa 1964; Jerzy Kwiatkowski: Klucze do wyobrazni (Schlüssel zur Phantasie). Warszawa 1964; Andrzej Lam: Wyobraznia ujarzmiona (Die gebändigte Phantasie). Krakow 1967. Des weiteren die Überblicke von Wlodzimierz Maci%g: Literatura Polski Ludowej 1944-1964 (Literatur der Volksrepublik Polen). Warszawa 1974 und Marian St?pieñ: Literatura polska po 1939 roku (Die polnische Literatur seit 1939). Krakow 1975. 2 Vgl. Julian Przybos: Poezja i rewolucja (Poesie und Revolution). In: Linia i gwar. Bd. 1, S. 331-335. 3 Jerzy Harasymowicz: Autointerpretacja (Selbstinterpretation). In: Debiuty poetyckie 1944-1960. Wiersze, autointerpretacje, opinie krytyczne (Poetische Debüts 1944-1964. Gedichte, Selbstinterpretationen, Kritiken). Hg. u. bearb. v. Jacek Kajtoch, Jerzy Skörnicki. Warszawa 1972, S. 400. 4 Vgl. Zbigniew Herbert: Za nami przepaáó historii (Hinter uns der Abgrund der Geschichte). Interview in: Argumenty (1971) 48; Diskussionsbeitrag in: Nowy Wyraz 2 (1973) 1/2, S. 9-10. 5 Wislawa Szymborska: Interview in: Poglqdy 1963, 13. 6 Vgl. Stanislaw Grochowiak: Turpizm - realizm - mistycyzm (Turpismus Realismus - Mystizismus). In: Debiuty poetyckie (Poetische Debüts) 1944 bis 1960. Warszawa 1972, S. 370. 7 Ebenda, S. 371. 8 Manfred Naumann: Probleme geschichtlichen Funktionswandels der Literatur. In: Funktion der Literatur. Aspekte - Probleme - Aufgaben. Berlin 1975, S. 35-36. 9 Die Rehabilitierung der KPP erfolgte 1956. Vgl. Anm. 1 zum Kapitel Lyrik und Widerstand (1939-1945).
230
10 Vgl. Marian Stepien: Literatura polska po roku 1939 (Die polnische Literatur seit 1939). Krakow 1975, S. 65. 11 Ebenda, S. 6 5 - 6 6 . 12 Wlodzimierz Maciqg: Literatura Polski Ludowej 1944-1964 (Literatur der Volksrepublik Polen 1944-1964). Warszawa 1974, S. 99. 13 Zbigniew Herbert: Warschauer Friedhof. In: Gedichte. Übers, u. mit einem Nachwort versehen v. Karl Dedecius. Frankfurt a. M. 1964, S. 13-14. 14 Zenon Kliszko: Der Warschauer Aufstand. Erinnerungen und Betrachtungen. Berlin 1969, S. 59. 15 Ebenda, S. 69. 16 Ebenda, S. 75. 17 Wislawa Szymborska: Rehabilitierung. In: Polnische Lyrik, S. 322-323. 18 Wislawa Szymborska: Von der Liebe zur Heimat. In: Ebenda, S. 320-321. 19 WisJawa Szymborska: Rehabilitierung. I n : Ebenda, S. 322-323. 20 Vgl. Stanislaw Grochowiak: Mamy tych braci . . . (Wir haben Brüder . . .). In: Kanon. Warszawa 1965, S. 12-14. 21 Ernest Bryll: Angewandte Kunst. In: Polnische Lyrik, S. 390, 22 Zbigniew Herbert: Die Fünf. In: Poesiealbum 86. Berlin 1974, S. 18-20. 23 Zbigniew Herbert: Interview in:Argumenty (1971) 48;Polityka 1 6 ( 1 9 7 2 ) 9 . 24 Zbigniew Herbert: Apollo und Marsyas. In: Poesiealbum 86. Berlin 1974, S. 6 - 7 . 25 Karl Philipp Moritz hebt ganz im Sinne der klassischen deutschen Antikerezeption an dem Wettstreit vor allem den ästhetischen Aspekt von Talent und Talentlosigkeit hervor: „Überhaupt lassen die alten Dichtungen gegen angemaßte Kunsttalente immer ein sehr strenges Urteil ergehen. D e r Satyr Marsyas wurde von Apollo geschunden, weil er auf ein zu hohes Kunsttalent Anspruch machte und es wagte, mit dem Gott der Tonkunst selber in einem Wettstreit auf der Flöte es aufzunehmen. Diese Dichtungen selber scheinen bei den Alten eine Art von Erbitterung gegen alles Mittelmäßige und Schlechte in der Kunst vorauszusetzen." Götterlehre oder Mythologische Dichtungen der Alten. 2. Aufl. Leipzig 1972, S. 239. 26 Zbigniew Herbert: Przypowiesd (Parabel). In: Wiersze zebrane melte Gedichte). Warszawa 1971, S. 93.
(Gesam-
27 Stanislaw Grochowiak: Czysci (Die Reinen). I n : Kolumbowie i wspölczesni. Antologia poezji polskiej po roku 1939 (Die Kolumbus-Generation und die Zeitgenossen. Anthologie polnischer Poesie nach 1939). Zusammengestellt v. Andrzej Lam. Warszawa 1972, S. 353. 28 Stanislaw Grochowiak: Don Quichotte. In: Polnische Poesie des 20. Jahrhunderts. Hg. u. übers, v. Karl Dedecius. München 1964, S. 155. 29 Stanislaw Grochowiak: Busen der Königin aus Holz gedrechselt. I n : Ebenda, S. 153. 30 Jerzy Harasymowicz: Aufwachen im Gebirge. In: Polnische Lyrik, S. 369. 31 Jerzy Harasymowicz: Das wahre Bildnis des Autors. In: Neue polnische Lyrik. Ausgewählt u. übers, v. Karl Dedecius. Darmstadt 1965, S. 75.
231
32 WisJawa Szymborska: Dichterlesung. In: Polnische Lyrik, S. 330. 33 Wislawa Szymborska: Freude am Schreiben. In: Salz. Gedichte. Übers, u. hg. v. Karl Dedecius. Frankfurt a. M. 1973, S. 5 7 - 5 8 . 34 Vgl. Julian PrzyboS: Poezje Szymborskiej (Die Lyrik der Szymborska). In: Nowe Ksiqzki (1968) 6. 35 Zbigniew Herbert: Interview. In: Argumenty (1971) 48. 36 Poeci o sobie (Dichter über sich). Ernest Bryll. In: Wspölczesnosc (1963) 6. 37 Zbigniew Herbert: Nike wenn sie zögert. In: Poesiealbum 86. Berlin 1974, S. 5 - 6 . 38 Kultura 10 (1972) 26. 39 Bogdan Suchodolski: Wychowanie pokolefi w okresie 1918-1969 (Erziehung der Generationen zwischen 1918-1969). I n : Droga przez pölwiecze (Der Weg durch das halbe Jahrhundert). Warszawa 1969, S. 144-145. 40 Ernest Bryll: Seit Jahrhunderten lügt man . . . In: Polnische Lyrik, S. 389. 41 Ernest Bryll: Ikarus predigen alle . . . In: Ebenda, S. 387. 42 Ernest Bryll: Lewiathan. In: Ebenda, S. 386. 43 Ernest Bryll: Tam, w samym sercu göwna (Dort, im Herzen der Scheiße) In: Zwierzqtko (Das Tierchen). Warszawa 1975, S. 69. 44 Tadeusz N o w a k : Vaterland. In: Polnische Lyrik, S. 352. 45 Zbigniew Herbert: Fortinbras' Klage. In: Ebenda, S. 335-336. 46 Im Gedicht Sprawozdante z ra)u (Bericht aus dem Paradies) heißt es, man müsse „das korn des absoluten mit dem körnchen lehm vermischen". In: Zbigniew Herbert: Wiersze zebrane (Gesammelte Gedichte). Warszawa 1971, S. 309. 47 Zbigniew Herbert: Über die beiden Beine des Herrn Cogito. I n : Poesiealbum 86. Berlin 1974, S. 31. 48 Zbigniew Herbert: Interview. In: Argumenty (1971) 48. 49 Zbigniew Herbert: Substanz. In: Gedichte. Übers, u. mit einem Nachwort v. Karl Dedecius. Frankfurt a. M. 1964, S. 39. 50 Zbigniew Herbert: Herr Cogito über die Tugend. In: Poesiealbum 86. Berlin 1974, S. 29-30. 51 Jan Biofiski: Tradycja, ironia i gl^bsze znaczenie (Tradition, Ironie und tiefere Bedeutung). In: Poezja (1970) 3, S. 32. 52 Zbigniew Herbert: Gra pana Cogito (Herrn Cogitos Spiel). In: Pan Cogito (Herr Cogito). Warszawa 1974, S. 70-73. 53 Zbigniew Herbert: Czym bylby swiat (Was wäre die Welt). Interview. In: Wiadomosci (1972) 20. 54 Wislawa Szymborska: Den Freunden. In: Salz. Gedichte. Übers, u. hg. v. Karl Dedecius. Frankfurt a. M. 1973, S. 94. 55 Wislawa Szymborska: Alte Arbeiterin. In: Polnische Lyrik, S. 318. 56 Wislawa Szymborska: Atlantis. In: Salz. Gedichte. Übers, u. hg. v. Karl Dedecius. Frankfurt a. M. 1973, S. 92. 57 Wislawa Szymborska: Hungerlager bei Jasio. In: Polnische Lyrik, S. 328 bis 329.
232
58 Wislawa Szymborska: Monolog für Kassandia. In: Salz. Gedichte. Übers, u. hg. v. Karl Dedecius. Frankfurt a. M. 1973, S. 52-53. 59 Wislawa Szymborska: Der Akrobat. In: Ebenda, S. 54. 60 Wislawa Szymborska: Anflug. In: Ebenda, S. 59. 61 Zbigniew Herbert: Kiesel. In: Poesiealbum 86. Berlin 1974, S. 3. 62 Zbigniew Herbert: Gegenstände. In: Ebenda, S. 3-4. 63 Vgl. Janusz Slawinski: Pröba porzqdkowania doswiadczen (Ein Versuch, Erfahrungen zu ordnen). In: Z problemöw literatury polskiej XX wieku (Probleme der polnischen Literatur des 20. Jahrhunderts). Bd. 3. Hg. v. Alina Brodzka, Zbigniew Zabicki. Warszawa 1965, S'. 263. 64 Vgl. Ryszard Matuszewski: Morali£ci, „slowiarze" i mitotwörcy (Die Moralisten, die „Wortbesessenen" und die Mythenbildner). In: Doswiadczenia i mity (Erfahrungen und Mythen). Warszawa 1964, S. 418-451. 65 Vgl. Adam Zagajewski/Julian Kornhauser: Swiat nie przedstawiony (Die nicht dargestellte Welt). Krakow 1974; Demokratyzacja poezji - mtodzi poeci wsrod nowej publicznosci (Demokratisierung der Poesie - junge Dichter inmitten eines neuen Publikums). In: Polityka 18 (1974) 19.
233
Personenregister Adorno, Theodor
110
Anders, Wtadysfaw
Bryll, Ernest
(poln.
General)
96
Brz^kowski, Jan
Andrzejewski, Jerzy Aragon, Louis Babel, I. E .
163 165 170 174 186
189 192 211
110
152
Bulgakow, M. A.
168
Baczynski, Krzysztof Katnil
96 104
bis 107 140 170 Bakunin, M. A.
Bergson, Henri Bialoszewski,
Czechowicz, Jözef
77
Czyzewski, Tytus
19 Miron
163
Bienkowski, Zbigniew
165
185
210
106 156 163
Bogdanow, A. A.
65
Bojarski, Waclaw
96
111 168
90 91
Czuchnowski, Marian
135
Borowski, Tadeusz
103
102
115
135 211
166
194 210 212 Blonski, Jan
168
Celan (eigentl. Antschel), Paul Konrad Korzeniowski)
213
Baudelaire, Charles Benjamin, Walter
Camus, Albert
18 84
168
Conrad, Joseph (eigentl. Teodor Jözef
78
Baranczak, Stanislaw Barbusse, Henri
25 39
Brzozowski, Stanislaw
43 69
24
Dqbrowska, Maria
111
Dante, Alighieri
166
Dehmel, Richard
15
Delescluze, Louis Charles
78
Dobrowolski, Stanislaw Ryszard
96 104 107 110
170
Drozdowski, Bohdan
83
163
Ehrenburg, I. G.
168
Eichmann, Adolf
128
Bratny, Roman
170
Braun, Andrzej
85 156
Brecht, Bertolt
85 8 8 - 8 9 110 148
Enzensberger, Hans Magnus
110
109
Faulkner, William Harrison
168
154 Breza, Tadeusz Broch, Hermann
168
Broniewski, Wiadyslaw
Eluard, Paul
Fik, Ignacy 24
43
69
152
63 121
Flukowski, Stefan
96
bis 85 8 7 - 9 2 96 9 8 - 1 0 1 115 140 1 5 3 - 1 5 5 163 185 2 2 3 - 2 2 5 Brueghel, Pieter d. Ä. Bruno, Giordano
234
102
190 191
Gajcy, Tadeusz
96 103 104 140
Gatczynski, Konstanty Ildefons 1 1 1 - 1 1 3 115 163
7 96
Gandhi, Mahatma 147 Gastew, A. K. 65 67 Gaworski, Henryk 156 Goethe, J. W. 144 145 Gorki, M. 149 Grochowiak, Stanislaw 163 165 166 170 173 174 181 182 211-213 Gropius, Walter 219 Harasymowicz, Jerzy 163 164 182 183 211 Hemingway, Ernest Miller 168 Hempel, Jan 64 68 Herbert, Zbigniew 163-165 170 172 bis 175 178-181 183 185 186 189 191 192 194 197-201 205 207 208 210-212 Hikmet s. u. Nazim Hikmet (Ran) Himmler, Heinrich 128 Holda, Edward 156 Hopensztand, Dawid 121 Höß, Rudolf 128 Huidobro, Vicente 30 Hulewicz, Jerzy 24 Hulewicz, Witold 24 Irzykowski, Karol 16 18 78 Iwaszkiewicz, Jarostaw 23 96 114 Janion, Maria 67 223 Jasienski, Bruno 24 27 31 36-38 46-48 62 64 66 67 69 70 114 168 Jastrun, Mieczyslaw 7 90 96 115 152 Jaworski, Wit 213 Jeanneret, Charles Edouard (Pseud. Le Corbusier) 30 Jözsef, Attila 88 89 Kafka, Franz 168 Kalckreuth, Wolf Graf von Kamienska, Anna 149 Kandinsky, W. W. 219
106
Karasek, Krzysztof 213 Karpowicz, Tymoteusz 210 212 Kasin, W. W. 67 Kasprowicz, Jan 15 Kelles-Krauz, Kazimierz 18 Konwicki, Tadeusz 170 Kornhauser, Julian 213 Krapotkin, Pjotr 200 Kruczkowski, Leon 118-125 193 Krynicki, Ryszard 213 Krzywicki, Ludwik 18 Kurek, Jalu 25 Kwiatkowski, Jerzy 163 228 Lam, Andrzej 61 163 Lechon, Jan 23 33 96 98 163 185 Lenin, W. I. 37 75 Lesmian, Boleslaw 7 23 212 Lipska, Ewa 213 Lukäcs, Georg 148 Luxemburg, Rosa 21 68 Maciqg, Wiodzimierz 163 Majakowski, W. W. 67 85 117 152 153 155 223 Malewitsch, Kasimir S. 219 Mandalian, Andrzej 156 Mann, Thomas 168 Marchlewski, Julian 18 Markiewicz, Jarostaw 213 Marx, Karl 55 Matuszewski, Ryszard 150 163 210 Meyer, Hannes 219 Micinski, Tadeusz 15 17 Mickiewicz, Adam 14 31 47 55 99 101 118 Miller, Jan N. 30 Milosz, Czeslaw 90 91 96 102 103 115 189 207 210 211 Mlodozeniec, Stanislaw 24 Moholy-Nagy, Laszlo 219 Moritz, Karl Philipp 231 Münch, Edvard 15 Musil, Robert 168
235
Nalkowska, Zofia 110 Nalkowski, WacJaw 18 Nazira Hikmet (Ran) 152 Neruda, Pablo 152 Nietzsche, Friedrich 19 79 Norwid, Cyprian Kamil 118 Nowak, Tadeusz 163 165 194 211
Ozenfant, Amedee 30 Ozog, Jan Bolesiaw 150
Peiper, Tadeusz 25 27-30 33-37 40 42 43 47-51 53 62 68 70 76 78 96 135 142 208 212 213 215 219 Pilnjak, B. A. 168 Pilsudski, Jözef Klemens 20 50 75 76 82-84 Piscator, Erwin 79 Poussin, Nicolas 144 Prus, Bolesiaw (eigentl. Aleksander Glowacki) 17 Przerwa-Tetmajer, Kazimierz 15 17 55 Przybos, Julian 25 38-41 46 51-57 59 61 62 69 74 78 83 96 100-102 108 116-118 130 135 140-143 149 150 154 155 162 164-166 180 185 208-210 212 Przybyszewski, Stanislaw 15-17 24
Rilke, Rainer Maria 106 Rimbaud, Jean Nicolas Arthur 78 Rolicz-Lieder, Waclaw 15 Romanowski, Mieczyslaw 72 Rözewicz, Tadeusz 51 96 110 114 126-129 131 134-144 146 148 bis 150 157 158 160-162 166 170 174 175 177-180 185 191 208 bis 212 Rudnianski, Stefan 64 Rymkiewicz, Jaroslaw Marek 211
236
Sartre, Jean Paul 168 Schopenhauer, Arthur 19 Shakespeare, William 195 Sienkiewicz, Henryk 17 Sito, Jerzy S. 211 Skwarczynski, Adam 83 Slawinski, Janusz 163 209 210 Slonimski, Antoni 23 28 33 44 90 96 114 Slowacki, Juliusz 31 55 72 84 101 118 223 Sokolicz, Antonina 64 Spiewak, Jan 149 Staff, Leopold 15 22 23 114 163 228 Staiger, Emil 11 Stande, Stanislaw Ryszard 24 43 64 69 73 79 91 Stawar, Andrzej 64 79 83 Stawinski, Jerzy Stefan 170 Steinbeck, John Ernst 168 Stepien, Marian 163 169 Stern, Anatol 24 64 66 67 70 85 Strindberg, August 15 Strodnski, Zdzislaw 96 Szela, Jakub 64 Szenwald, Lucjan 69 Szymanski, Edward 69 Szymborska, Wislawa 163 165 170 172-174 183-186 192 194 201 205 208 210 211 Toller, Ernst 67 Tretjakow, S. M. 85 224 Trzebinski, Andrzej 96 104 Tuwim, Julian 23 28 33 44-46 90 96 98 114 140 163 185 212 Ujejski, Kornel 72 Unamuno, Miguel de
30
Vercors (eigentl. Jean Bruller) Vigeland, Gustav 15
168
Wajda, Andrzej 170 Wandurski, Witold 24 43 64-66 69 73 79 83 91 168 Warynski, Ludwik 78 Wat, Aleksander 24 64 66 85 Wazyk, Adam 25 96 114 152 Weintraub, Jerzy Kamil 106 Whitman, Walt 28 Wierzyäski, Kazimierz 23 44 90 Wittlin, Jözef 24
Woroszylski, Wiktor 156 Wyka, Kazimierz 152 163 164 Wyspianski, Stanislaw 16 17 84 101 Zagajewski, Adam 213 Zagörski, Jerzy 90 102 Zegadlowicz, Emil 24 Zeromski, Stefan 16 29 30 35 76 101 Zukrowski, Wojciech 110
237
In der gleichen Schriftenreihe sind u. a. erschienen: Positionen polnischer Literaturwissenschaft der Gegenwart Herausgegeben von Eberhard Dieckmann und Maria Janion Methodenfragen der Literaturgeschichtsschreibung 1976 • 293 Seiten . 9,50 M
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Streitpunkt Vormärz
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