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German Pages 327 [328] Year 2019
Sozialwissenschaftliche Schriften Band 51
Geschichte der Sozialwissenschaften im 19. und 20. Jahrhundert Idiome – Praktiken – Strukturen
Herausgegeben von
Uwe Dörk und Fabian Link
Duncker & Humblot · Berlin
Uwe Dörk / Fabian Link (Hrsg.)
Geschichte der Sozialwissenschaften im 19. und 20. Jahrhundert
Sozialwissenschaftliche Schriften Band 51
Geschichte der Sozialwissenschaften im 19. und 20. Jahrhundert Idiome – Praktiken – Strukturen
Herausgegeben von
Uwe Dörk und Fabian Link
Duncker & Humblot · Berlin
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2019 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: 3w+p GmbH, Ochsenfurt-Hohestadt Druck: CPI buchbücher.de gmbh, Birkach Printed in Germany ISSN 0935-4808 ISBN 978-3-428-15657-3 (Print) ISBN 978-3-428-55657-1 (E-Book) ISBN 978-3-428-85657-2 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706
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Inhaltsverzeichnis
I. Einleitung Uwe Dörk Geschichte der Sozialwissenschaften im 19. und 20. Jahrhundert: Idiome – Praktiken – Strukturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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II. Theorie Andreas Langenohl Der voranalytische Moment der Analyse. Zugänge zu ,Idiomen der Gesellschaftsanalyse‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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III. Fallstudien zur Institutionalisierung von Soziologie Katharina Neef Die Internationalität und Transnationalität soziologischer Netzwerke nach 1900, mit besonderem Blick auf das Institut International de Sociologie . . . . . . . . . . .
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Roberto Sala Ein schwaches Etikett? Die deutschsprachige Soziologie im frühen 20. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Niall Bond Ferdinand Tönnies, französisch gelesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113
IV. Langzeitstudien zur Methodenund Disziplinevolution Serge Reubi Die Enthüllung der Welt? Luftfotografie und die Sozialwissenschaften im Frankreich der Zwischenkriegszeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139
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Inhaltsverzeichnis
Benno Nietzel Zur politischen Geschichte der Kommunikationsforschung als empirischer Sozialwissenschaft. Die Vereinigten Staaten und Deutschland in transatlantischer Perspektive von den 1920er bis 1960er Jahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 V. Strukturelle und idiomatische Neuprägungen nach 1945 Martina Mösslinger Die UNESCO und ihr Einfluss auf die Sozialwissenschaften anhand des Beispiels der sozialwissenschaftlichen Assimilationsforschung (1945 – 1962) . . . . . 203 Norbert Grube und Fabian Link Kooperation, Konkurrenz, Konflikt: Das Allensbacher Institut für Demoskopie und das Frankfurter Institut für Sozialforschung in den 1950er Jahren . . . . . . . . 227 Christian Dayé Die Blindheit der Auguren: Delphi, Political Gaming und das Phänomen der wechselseitigen Nichtbeachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 Verena Halsmayer und Eric Hounshell Inszenierungen von ökonomischer Methodik, Interventionswissen und wissenschaftlichen Personae. John K. Galbraith und Robert M. Solow zu Methode und Politik in der Industriegesellschaft (1967) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 VI. Schluss Fabian Link Idiomatische, praxeologische und institutionelle Aspekte in der Geschichte der Sozialwissenschaften: Setzungs-, Umbesetzungs- und Absetzungsdynamiken . . 317 Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323
I. Einleitung
Geschichte der Sozialwissenschaften im 19. und 20. Jahrhundert: Idiome – Praktiken – Strukturen Von Uwe Dörk Die Geschichte der Sozialwissenschaften lässt sich schwer fixieren. Sie könnte mit der Entstehung des Begriffs im 19. Jahrhundert oder schon mit der rig vedischen Begründung von Kasten beginnen, sie könnte sowohl mit einer Kartographie einiger gegenwärtig dominierender akademischer Stammeskulturen in den Geistes- und Kulturwissenschaften als auch mit den Praktiken des Netzwerkens in jenen Wissenschaften enden, die sich heute in irgendeiner Weise auf Gesellschaft beziehen. Schon die Frage, ob der Terminus je mehr als nur ein Sammelbegriff war, der faute de mieux je nach Kontext unterschiedlich gebraucht wurde, lässt sich nicht abschließend beantworten. Der vorliegende Sammelband setzt diese Unschärfe und Heterogenität voraus und versucht nicht, dem etwas entgegenzusetzen, und zwar schon deshalb nicht, weil es sich um einen Sammelband handelt. Stattdessen präsentiert er die Vielfalt selektiv und auf je unterschiedliche Weise, wie schon der Plural der Begriffe ,Idiome‘, ,Praktiken‘, ,Strukturen‘ im Titel ankündigt. Und selbst diese drei Termini werden in den Texten unterschiedlich verwendet, so dass der Titel lediglich drei verschiedene Themenschwerpunkte bezeichnet. Trotzdem liegt dem vorliegenden Buch eine durchaus konsistente Vorstellung von seinem Thema zugrunde, die im Folgenden als Leitmotiv kurz dar- und vorangestellt werden soll, bevor auch die je individuelle Aneignung der Beitragenden des Bands zur Sprache kommt. Am Beginn soll das Konzept ,Idiome‘ stehen, da es den häufigsten Bezug der Aufsätze markiert. Lexikalisch wird der Begriff zumeist als „eigentümliche Sprache, Sprechweise einer regional oder sozial abgegrenzten Gruppe (Synonym: Jargon)“ genannt.1 Das griechische Wort Idiom bzw. Idioma – abgeleitet von griech. Idios, eigentümlich, eigen – bezeichnet jede Spracheigenheit sowie die Gesamtheit solcher Spracheigentümlichkeiten innerhalb einer Sprache.2 Idiome, Spracheigentümlichkeiten, zeichnen, so die Grundidee des Sammelbands, auch die Wissenschaften aus, insbesondere die Sozialwissenschaften, und sind als strukturierende Strukturen Elemente wissenschaftlicher Wissens- und Gruppenbildung sowie wissenschaftlicher Individuation.
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Etwa: Duden, S. 570. Eberhard, S. 180 f.
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I. Idiome der Gesellschaftsanalyse Die Wahl dieses Begriffs respektive Konzepts ,Idiom‘ zur Beschreibung wissenschaftssoziologischer bzw. epistemischer Konstellationen entspringt keineswegs nur einem akademischen Sprachspiel. Vielmehr versteht sie sich als Reaktion auf eine grundlegende Infragestellung von Wissenschaft im Allgemeinen und von ,sozialen‘ Wissenschaften im Besonderen, die durch einen gesellschaftlichen Strukturwandel bedingt ist.3 Der Idiome-Begriff trägt der Erfahrung Rechnung, dass sich der gesellschaftliche Status von Sozialwissenschaften infolge der Konkurrenz durch finanzstarke datensammelnde IT-Unternehmen, ,soziale‘ Medien und deren (universitätsähnliche) Firmensitze und Denklabore sowie durch neumediale soziopolitische Bewegungen verändert hat: Entgegen ihres Anspruchs auf universale Geltung werden gerade die ,sozialen‘ Wissenschaft mit der Provinzialisierung ihres Sinnbereichs konfrontiert. Wenn schließlich Unternehmen, die Kommunikationsstrukturen schaffen, Daten sammeln, verarbeiten und verkaufen, und wenn andere Unternehmen, Parteien, Bewegungen, Massenmedien etc. ihr Wissen primär aus solchen Daten beziehen, dann findet der Austausch von Wissen über Gesellschaft weitgehend außerhalb von Wissenschaft statt und beruht überdies auf anderen Codes. Denn nicht der kritisch geprüfte, durch wissenschaftliche Standards garantierte Wahrheitsgehalt, sondern der aktuell gegebene monetäre, politische, etc. Nutzen und Effekt (etwa Aufmerksamkeit) von ,Informationen‘ ist hier gefragt, wohingegen die Frage nach ihrer epistemischen Gewissheit und ihrer Qualität in den Hintergrund gedrängt oder auch durch den Hinweis auf die Masse an Daten für obsolet erklärt wird. Zugleich wird den ,Gesellschaftswissenschaften‘ im Spiegel dieses außeruniversitären Wissens die Eigenart jener Codes bewusst, mit denen sie Erkenntnisse über Gesellschaft kommuniziert. Ohnehin provoziert der Bedeutungsverlust des wissenschaftlichen Sozialwissens gegenüber dem außeruniversitären ein verstärktes Nachdenken darüber, was dieses Wissen ausmacht und worin seine Relevanz liegt. Das Konzept ,Idiome der Gesellschaftsanalyse‘ leistet eine solche Reflexion, indem es die basalen Voraussetzungen sprachlich-habitueller Art fokussiert, unter denen Gesellschaftsanalyse überhaupt möglich ist. Hierbei richtet es sich weniger auf eine bestimmte kognitive Haltung zur sozialen Welt, als vielmehr auf eine Aktivität: Es rückt jene Positionierungs- respektive Konstituierungsleistungen ins Zentrum, mit der ein Subjekt sich von Gesellschaft unterscheidet und ein soziales Territorium außerhalb seiner selbst markiert, um es als (zumindest partiell) Unbekanntes zu erkunden, zu beschreiben und sprachlich verfügbar zu machen. Durch die analytische Konfrontation mit dem ,Fremden‘ entsteht zugleich ein neues Wissen, das sich 3 Becher/Trowler. Das radikale Infragestellen von Wissenschaft selbst ist nicht neu wie etwa Edmund Husserls in den Zwischenkriegsjahren verfasste „Die Krisis der Europäischen Wissenschaften und die Transzendentale Phänomenologie“ oder Paul Feyerabends 1975 im Zeichen der sich durchsetzenden Postmoderne geschriebene „Against Method: Outline of an Anarchist Theory of Knowledge“ für unterschiedliche historische Konstellationen belegen. Vgl. Feyerabend. Neu ist aber die Konkurrenz durch außeruniversitäres Wissen und der dadurch eingetretene Bedeutungsverlust der Geistes- und Sozialwissenschaften.
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sachlich zwar auf dieses ,Andere‘ bezieht, aber durch den Wissensgewinn auf diskrete Weise auch das Selbst und seine Umwelt verändert; es modifiziert die innere Haltung und die äußeren Rahmenbedingungen, unter denen gehandelt und kommuniziert wird.4 Solche Akte der Positionierung und Konstituierung liegen allerdings weitgehend außerhalb des Horizontes der Analysierenden, obgleich sie Bedingung der Fähigkeit zur Analyse von sozialen Erscheinungen sind.5 Die Rede von Idiomen der Sozialanalyse im Plural setzt eine vergleichende Perspektive voraus, nicht nur – wie hier im Buch – zwischen unterschiedlichen Analysestilen in den Sozialwissenschaften, sondern auch zwischen Literatur, Film, Versicherungswesen, Journalismus, IT-Unternehmen etc. Doch macht das Konzept ,Idiome der Gesellschaftsanalyse‘ zugleich auf die Schwierigkeit solcher Vergleiche aufmerksam. Denn mit ihm verbunden ist nicht nur die Preisgabe eines privilegierten Beobachterstandpunktes, sondern auch die eines ,Tertium comparationis‘. Der Vergleich zwischen verschiedenartigen Sozialanalysen kann schließlich nicht von einem vermeintlich neutralen dritten Standpunkt aus geschehen, da ein solcher angesichts der Pluralität von Analyseperspektiven nur eine weitere unter vielen bedeutet. Dieser Verzicht hat auch mit einer der Inspirationsquellen dieses Konzepts zu tun, die in diesem Band von vielen Autorinnen und Autoren zitiert wird und gerade die Unsinnigkeit jener Komparatistik pointiert, die im Fall von Sprachvergleichen auf ein ,Tertium‘ setzen: In Idiome des Denkens beschreibt Bernhard Waldenfels das Phänomen Idiom mit der Metapher der Muttersprache und pointiert ihre Inkommensurabilität mit sekundär erlernten „Fremdsprachen“. Die „Muttersprache“ sei eine „Stiftungssprache“, die in die Welt der Sprache einführt, mithin einen fraglosen Sinnhorizont stiftet, der, ohne erkannt zu werden, Denken erst ermöglicht und Weltorientierung vermittelt. Im Gegensatz zur Muttersprache führe der Erwerb einer Fremdsprache besonders dann zu Fehlverständnissen, wenn sie formalistisch angeeignet und dadurch überprägnant, künstlich und starr verwendet werde. Da aber die Differenz zwischen unterschiedlichen Sprachen „durch keine dritte“ überbrückt werden könne, bleibe nichts Anderes übrig, als „in mehreren Sprachen zugleich Fuß zu fassen“. Aus demselben Grund sei auch kein neutrales, sondern nur „endloses Dolmetschen“ möglich.6 Folglich ist auch kein neutrales Vergleichen möglich, sondern nur Wahrnehmen und Kennenlernen der jeweils anderen Seite. Vergleichen muss, so betrachtet, als ein offener Prozess gestaltet werden, der sich zwischen der Suche nach Ähnlichkeiten und Vergleichspunkten einerseits und dem Markieren von Differenz andererseits hin und her bewegt – potentiell unbegrenzt und mit offenem Ausgang.
4 Dilthey, S. 5 f. Mit Michel Foucault anthropologisierend mit antianthropozentrischer Absicht formuliert: „Der Mensch ist ein Erfahrungstier: er tritt ständig in einen Prozess ein, der ihn als Objekt konstituiert und ihn dabei gleichzeitig verschiebt, verformt, verwandelt – und der ihn als Subjekt umgestaltet.“ s. Foucault, S. 85. 5 Siehe Langenohl in diesem Band. 6 Waldenfels, S. 319 – 323.
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Soziolinguistisch werden Idiome „als Abweichung von einer als Regel gesetzten Sprachvarietät“ definiert und mit den Synonymen wie Jargon, Argot, Idiolekt und Soziolekt assoziiert. Ungewollt aber indiziert die hier gebrauchte Unterscheidung von Regel und Abweichung, dass Idiome am Maßstab kulturell durchgesetzter Sprachnormen, mithin aus einer hegemonialen Perspektive und als lokale soziale Devianzen wahrgenommen werden. Machtstrukturen und -dynamiken spielen somit eine wichtige Rolle. Diese sind aber nicht nur das Produkt nationaler Bildungspolitiken und transnationaler Sprachhegemonien, sondern stets auch Ergebnis von Kräftekonstellationen verschiedener sozialer Systeme wie Wirtschaft, Politik, Massenmedien, Technik, Wissenschaft. Eine solche inner- und intersystemische Kräftekonstellation gehört zu den entscheidenden Strukturbedingungen, die einer Sprachvarietät hegemonialen Status verleihen oder zu ihrer Marginalisierung und Erosion beitragen können. So ergibt sich einerseits je nach politischer Konstellation eine andere Dynamik, eine andere Geschichte: Das historische Verhältnis des westfriesischen Frysk zum Hochdeutschen gestaltete sich anders als das Maltesische zum Hocharabischen, dieses wiederum anders als das Latein zu den europäischen Regionalsprachen etc. Andererseits prägen auch Funktionssysteme entsprechend des eigenen Handlungs- und Kommunikationsbedarfs bestimmte Idiome aus, so etwa die Verwaltungssprache, das frömmelnde ,Altkanaanäisch‘, das Kirchenlatein, die Techniksprache, das ,Juristendeutsch‘ oder die unterschiedlichen Arten zu soziologisieren oder psychologisieren. Oft kritisiert und parodiert, bleiben solche spezifischen Codes dennoch in Gebrauch, weil sie je nach Anforderung Konventionalität, Komplexität, Genauigkeit, rhetorische Wirksamkeit etc. garantieren und somit funktional sind, aber auch zur Schließung opaker Machtzentren, Praxis- und Analysefeldern beitragen.7 Wie aber funktioniert ein Idiom genau, woraus besteht es? Andreas Langenohls Konzept nennt drei ineinandergreifende Elemente: Arretieren, Gestikulieren und Annähern. Während Arretieren sich, formal betrachtet, als Fixieren einer syntagmatischen respektive paradigmatischen8 Variabilität von Satzgliedern (etwa in Form von Tropen) beschreiben lässt, wird es wissenschaftstheoretisch als Anhalten einer unaufhaltsamen Reflexionsbewegung zugunsten erkenntnisleitender Standpunkte begriffen; erst die Fixierung zentraler Erkenntnisbegriffe und ihre Immunisierung gegenüber dem Vorwärtsdrang kritischer Selbstreflexion9 schafft die Grundlage dafür, dass eine Erscheinung als soziale Entität fassbar und analysierbar wird. Das zweite Element wird als Gestikulieren beschrieben: Das Arretieren von Satzelementen und Festlegen eines abgegrenzten Beobachterstandpunkts komme einer 7
In verschiedensten Facetten, siehe etwa Besch et al., S. 87 – 284. Syntagmatisch meint Zusammenstellen etwa eine Wortgruppe oder von Ausdrücken, die in linearer Folge einem Satz (auch Teilsatz oder Satzglied) bilden und – vor allem – als einzelne nicht durch andere ersetzt werden können. Ein Paradigma bezeichnet in der strukturellen Linguistik dagegen Satzelemente, die austauschbar sind (z. B. sie reflektiert über das Analysieren/denkt darüber nach). 9 Vgl. Oakshott, S. 16 f.: „Idiom of inquiry“. 8
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Geste gleich, die zwar noch nichts über die soziale Welt aussagt, aber schon einen symbolischen Raum ausweist, in dem sich ein analytisches Sprachspiel entfalten kann. Dieses analytische Sprachspiel vollzieht sich drittens als Versuch, sich mithilfe erkenntnisleitender Begriffe sukzessiv dem Gegenstand anzunähern, was nach Langenohl auf verschiedene Weisen geschehen kann. Ein Satz wie „Empirische Wissenschaft verfolgt das Ziel, gesicherte Erkenntnis über die ,Wirklichkeit‘ zu gewinnen“ und setzt somit „die Existenz einer realen […] Welt […] unabhängig von ihrer Wahrnehmung durch einen Beobachter voraus“,10 markiert als Geste einen anderen Beobachtungsraum als die Aussage, dass „[m]enschliches Wahrnehmen und Handeln […] grundsätzlich von Deutung begleitet“ und „geformt durch die fehlende biologische Eindeutigkeit menschlichen Verhaltens“ sei, so dass „nichts anderes als der permanente Vergleich zwischen verschiedenen Deutungsmöglichkeiten“ bleibe.11 Er zieht auch eine völlig andere Methode und ein völlig anderes Verhältnis von sozialem Feld und Wissenschaft nach sich: Steht der erste Satz für ein hypothesengeleitetes, nach Möglichkeit quantifizierendes Beobachten einer als gegeben betrachteten sozialen Realität aus der Distanz, präferiert die zweite Aussage ein Beobachten, das durch ein möglichst tiefes Eindringen in das zu untersuchende soziale Feld ermöglicht wird und die gewonnenen Daten (Records) anschließend durch ein kollektives Interpretationsverfahren auswertet. Jedes Analyseidiom prägt also nicht nur andere analytische Möglichkeiten und Beobachtungshaltungen gegenüber der sozialen Welt. Sie begründet auch gänzlich andere analytische Praktiken, wie in diesem Band an unterschiedlichen Fallbeispielen gezeigt wird.
II. Praktiken der Gesellschaftsanalyse Da Idiome als Vorbedingungen sozialer Analysen sprachliche Phänomene in den Blick rücken, Gesellschaftsanalysen aber nicht nur auf Sprache beruhen, erschien es sinnvoll, das Konzept ,Idiome‘ mit dem einer Praxeologie zu verbinden und zu ergänzen. Ohnehin harmonieren beide Konzepte insofern, als sie jeweils einen Bereich des Voranalytischen in den Blick nehmen und Erkenntnisbedingungen thematisieren, die weitgehend außerhalb des Horizonts der Analysierenden liegen. Während aber im Idiome-Konzept der je spezifische Zusammenschluss syntagmatischer oder paradigmatischer Satzglieder die Letzteinheit des Analytischen bilden, besteht eine Praxis im Kern aus routinisierten Bewegungen, aus einem „nexus of doings and says“ (Theodore R. Schatzki). Im Zentrum steht ein (weitgehend fragloses) körperliches Routinehandeln, das durch die lebensweltliche, zeit-räumliche Ordnung der Dinge und des sozialen Umfeldes strukturiert wird und auf dieses ebenso strukturierend einwirkt.12 10
Kromrey, S. 24. Soeffner, S. 114. 12 Schütz/Luckmann, S. 29, 32 f. Das Konzept hatte erstmals Ludwig von Mises in den 1930er Jahren des vorigen Jahrhunderts formuliert. Es sollte eine apriorische Wissenschaft 11
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In der Theorie beruht eine Praxis auf inkorporiertem, (meist) implizitem Wissen im Sinnes eines eines ,know-how‘, das im Handlungsablauf aufgerufen und situationsspezifisch aktualisiert wird.13 Ein solcher praktischer Sinn äußert sich nach Pierre Bourdieu im Handeln einerseits „als leibliche Absicht auf die Welt“ und realisiert sich andererseits als „Innewohnendes (immanence) der Welt, durch das die Welt ihr Bevorstehendes (imminence) durchsetzt.“ Es handelt sich somit um ein Verhalten, das zwischen zukunftsstiftender Intention und vergangenheitsbedingter Struktur changiert, und ex post aber mal diesem oder jenem sinnhaft zugeschrieben wird, ohne nur einem von beidem gänzlich anzugehören. Der praktische Sinn beherrsche „Gebärde und Sprache unmittelbar“, wenn er über ein Verhalten entscheidet, dann „zwar nicht überlegt, doch durchaus systematisch, […] nicht zweckgerichtet“, im rückblickenden Urteil aber trotzdem zweckmäßig. Er leistet ferner die „Anpassung an die Erfordernisse eines Feldes“ oder einer Institution und reguliert das „Zusammentreffen von Habitus und Feld“,14 von einverleibter und objektivierter Geschichte; er sei „die fast perfekte Vorwegnahme der Zukunft in allen konkreten Spielsituationen.“15 Im Gegensatz zu Handeln infolge eines subjektiv gemeinten Sinns bezeichnet Praxis ein sinnvolles, aber nicht-sinnhaftes, relativ dauerhaftes Verhalten. Im Normalfall bleibt der Sinn hinter der alltäglichen Routine der Praxis verborgen und wird nicht expliziert, um den Handlungsablauf nicht zu irritieren; nur bei extraordinärem Reflexionsbedarf, etwa bei Neuaneignung oder Veränderungsnotwendigkeit wird er gesucht und ausgesprochen. Doch weder der ausgesprochene noch der implizierte Sinn garantieren den Handlungsvollzug. Vielmehr ist es die Materialität der Dinge, des Raums und der Körper, die den Handelnden Struktur und Gedächtnis geben, und den Ablauf einer Handlung bestimmen.16 Da aber jede Praxis körperlich – etwa in Form von Prosodie, Mimik, Gestik, Proxemik – performiert wird, wird sie vom sozialen Umfeld als Habitus der ausführenden Person lesbar und nicht zuletzt auch im Hinblick auf ihre soziale Position im Feld bewertbar.17 So werden am Phänomen der Praxis zwei völlig unterschiedliche Aspekte sichtbar, die dennoch unabdingbar miteinander verbunden sind: Einerseits handelt es sich um ein Verhalten, das mit sozialer Schätzung und sozialen Hierarchien korresponvom menschlichen Handeln sein, die wie die Logik der Mathematik als eine universale Kategorie das Soziale beschreibbar und erfassbar macht: s. von Mises. 13 Vgl. Reckwitz, S. 282 – 301; Schatzki, Social practices, S. 1 – 18; ders., The Site of the social, S. 59 – 123. 14 Habitus wird dabei verstanden als ein System von erworbenen, übertragbaren, dauerhaften und zugleich erzeugenden Verhaltensdispositionen, die sich durch wechselseitige Orientierung der Körper und Subjekte formen, formieren und immer wieder neu formen. Als Produkt der Geschichte erzeuge der Habitus individuelle und kollektive Praktiken. Insofern ist er Movens und Ergebnis von Geschichte; er sei einverleibte, zur Natur gewordene und damit als solche vergessene Geschichte, s. Bourdieu, S. 101, 105. 15 Ebd., S. 122, Herv. i. Orig., vgl. auch ebd., S. 98 – 101. 16 Halbwachs, S. 127 – 161. Vgl. Foucault 1994, S. 175 – 177; Reckwitz, S. 284. 17 Quintilianus I 11, S. 1 – 19; ders., II 17, S. 1 – 18.
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diert, andererseits geht es um eine notwendige soziale Kompetenz, damit bestimmte Funktionen und Leistungen ausgeführt werden. Während der Habitus sich etwa in der Sonorität der Stimme, der Ruhe und Gravität der Aussprache ausdrückt, die sich selbstsicher den Raum und die Zeit nimmt, ohne dass das Publikum seine Einwilligung geben muss, und mit der souveränen Bewegung innerhalb eines elitären geistigen Felds als Charisma wirkt, das unerwartete, unorthodoxe Gedanken äußern darf und muss. Obwohl eine solche Performanz als Gabe oder gar als außeralltägliches Charisma geschätzt wird, gilt sie zugleich als eine alltägliche, funktional notwendige Kompetenz, als ob sie für die ,professionelle‘ Vermittlung von Wissen unabdingbar ist – und die aufgrund ihrer Kontingenz durch Routinen gesichert werden darf, etwa durch häufiges Wiederholen und kontrolliertes Variieren des identischen Stoffes und der Redesituation, durch rhetorische Regeln und ihre Einübung, durch räumlich-zeitliche Serialität der Veranstaltungen. Das Gegenteilige aber, etwa das nervöse sichVerhaspeln im Vortrag, das zeitliche sich-Verkleinern durch schnelle Rede, das räumliche sich-Verringern durch Erhöhen der Stimme und das Begrenzen des Blicks auf das Vortragsmanuskript wird als Inkompetenz geächtet – ungeachtet der individuellen und situativen Umstände einer Person, wie mangelnde Übung, mangelndes Selbstbewusstsein, Erziehung zur Selbstbescheidung und zu Schweigsamkeit, die prekäre akademische Situation etc.
III. Institution, Institutionalisierung Institutionen bzw. Institutionalisierung spielen, wie Andreas Langenohl in diesem Band hervorhebt, für Idiome eine wichtige Rolle: Sie „katalysieren und moderieren“ nicht nur den Vorgang des Arretierens einer epistemologischen Suchbewegung und das Fixieren epistemologischer Positionalitäten. Vielmehr garantieren Institutionen auch die Reproduktion von Gegenstandskontinuität und bieten ein Feld, auf dem sich differenzierte Habitusformen ausbilden können. Für das Konzept der Praxeologie hat Andreas Reckwitz wiederum die These vertreten, dass gerade informelle Praktiken – etwa in Form von Netzwerken, Routinen oder Organisationsmythen – Institutionen formen. Zudem hat er für die makrotheoretische Weiterentwicklung des PraxeologieKonzepts den Hinweis gegeben, dass Praktiken und Institutionen lose gekoppelt sind: Institutionen verleihen Praktiken zwar keine innere Homogenität und feste Sinngrenzen nach außen, stellen aber einen sozialen Raum dar, der die Verbindung durch miteinander verbundene, aber auch miteinander konkurrierende und konfligierende Praktiken möglich macht.18 Was aber ist von einem Begriff zu halten und wie kann er definiert werden, wenn er alles bezeichnen kann, was einem beliebigen Personenkreis erhaltenswert und wichtig erscheint: ein Kult, das Rechtssystem, eine Person, die Freundschaft, ein Kiosk etc.? Institution ist zweifellos „ein problematischer Begriff“ (Karl-Siegbert 18
Reckwitz, S. 285, 294 f.
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Rehberg). Zum einen ist er von „kaum zu präzisierbarer Allgemeinheit“, zum anderen hat er durch Arnold Gehlens Anthropologie eine konservative „apologetische, ontologische und ordnungsfixierte“ Prägung erhalten.19 Gleichwohl hat der hohe Grad an begrifflicher Allgemeinheit und Offenheit in diesem Zusammenhang den Vorteil, dass er eine sehr elastische Anwendung auf so unterschiedliche Phänomene wie Disziplinbildung, Methodenetablierung, transnationale Strukturbildung, idiomatische Arretierung und Festigung von Routinen zulässt, die allesamt Thema in diesem Band sind. Auch kann der apologetische Charakter von vorneherein vermieden werden, indem die Funktion von Institutionen an konkreten empirischen Fallbeispielen beschrieben wird, statt sie durch Rückprojektion auf einen vorgeschichtlichen Zustand normativ zu hypostasieren.20 Es bleibt die Notwendigkeit einer begrifflichen Schärfung. Diese lässt sich zumindest für den vorliegenden Zweck dann hinreichend präzise formulieren, wenn der Begriff ,Institution‘ – in Abgrenzung von der alltagssprachlichen Praxis, die vielgestaltigen informellen Zusammenschlüsse miteinzubeziehen – auf jene „Sozialregulationen“ begrenzt wird, deren ordnungsstiftende „Prinzipien und Geltungsansprüche symbolisch zum Ausdruck“ gebracht werden. Dieser Ausdruck kann rein ikonisch sein, wie bei der überhöhenden Darstellung von Familie durch ein Bildnis der Heiligen Familie, oder auch rituell-liturgischen Charakter annehmen, wie beim Abhalten einer Totenmesse am Familienaltar, er kann ferner literal erfolgen, wie durch juristische Verfassungen und Satzungen oder durch kanonisierte Texte, wie heilige Bücher, soziologische Klassiker, Bewährungs- und Gründungsnarrative, und er kann durch performative Praktiken erzeugt werden, etwa durch Jubiläen, Gründungsfeste und Feiertage. Denn in solchen symbolischen Kristallisationen manifestiert sich der „Normenbestand“ und das Wissen der Institution über sich selbst, so dass sich Kommunikations- und Verhaltenserwartungen sowie -erwartungserwartungen dauerhaft einspuren können.21 Eine weitere Eigenschaft von Institutionen ist, dass sie „Synthesen zwischen personellen und sozialstrukturellen Ordnungsarrangements“ bilden, die durch jene beschriebenen Selbstsymbolisierungen mit Ordnungsansprüchen und -behauptungen zustande kommen und nicht zuletzt durch die Anerkennung ihrer Legitimität stabilisiert werden.22 Der frühe Niklas Luhmann hat „Institutionalisierung“ dementsprechend als eine Stabilisierung von Verhaltenserwartungen bezeichnet, die im Fall des Institutionstypus Organisation durch Rollendifferenzierung geleistet werde. Rollen werden hierbei als „Typen zusammenhängender Verhaltensweisen“ verstanden, „die allgemein erwartet“, aber je nach Situation der involvierten Personen „unterschiedlich durchgeführt werden“. Sie werden lediglich auf ein „vages Leitbild hin geordnet 19
Rehberg, S. 13, 43. Und das in unbestreitbar virtuoser Form: Gehlen, Der Mensch, S. 56 f.; ders., Urmensch und Spätkultur, S. 5 – 11. 21 Rehberg, S. 53. 22 Ebd., S. 33, 53. 20
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und durch Erwartung allgemeiner Grundeinstellungen so generalisiert“, dass „verschiedene[n] Ausführungsmöglichkeiten nicht mehr als widerspruchsvoll oder zusammenhangslos erscheinen.“ Werden solche Rollenbilder kollektiv anerkannt, können sie, so Luhmann, als „institutionalisiert bezeichnet werden.“ Institutionalisierung ist somit ein Prozess, „der die Normwirkung über die unmittelbar Beteiligten und Interessierten hinaus“ auf Personen ausdehnt, „die gar nicht mithandeln, sondern nur als zensierendes Publikum dienen, an dessen Meinung sich die Handelnden orientieren“.23 Speziell für wissenschaftliche Disziplinen sind Organisationen wichtig, weil sie, so Rudolf Stichweh im Anschluss an Luhmann, durch den „für sie charakteristischen Formalisierungen des Ein- und Austritts“ Personal selektieren und diesem wiederum „Garanten der Realität der von ihnen verfolgten Interessen“ sind. Denn den Wissenschaftstreibenden vergeben Organisationen „identifizierbare Positionen im Sozialsystem“ und gegebenenfalls auch vergütete „Beschäftigungsrollen“, die allesamt eine disziplinierende Wirkung ausüben. Zudem garantieren Institutionen aufgrund des stetigen „Wechsels der Personen und Generationen […] Kontinuität“. Institutionenbildung stellt somit eine koevolutionäre Bedingung der Entstehung des Systems wissenschaftlicher Disziplinen dar, die Stichweh wiederum als „Kommunikationsgemeinschaften von Spezialisten“ definiert, die eine „gemeinsame disziplinkonstituierende Problemstellung“ verfolgen.24
IV. Gliederung und Inhalt der Beiträge: Umrisse einer Geschichte der Sozialwissenschaften im 19. und 20 Jahrhundert Wenn betont wurde, dass die einzelnen Beiträge in dem vorliegenden Band die Vielfalt der Sozialwissenschaften selektiv und auf je unterschiedliche Weise präsentieren, dann trifft das auch auf die Verwendung der Begriffe ,Idiom‘, ,Praktiken‘ und ,Strukturen‘ zu. Auch lassen sich die einzelnen Artikel nicht nach diesen drei Termini gliedern, sondern nach thematischen und epochalen Gemeinsamkeiten. Andreas Langenohls theoretische Überlegungen zu Idiomen der Gesellschaftsanalyse, die sich seiner Arbeit im Exzellenzcluster „Kulturelle Grundlagen der Integration“ (Universität Konstanz) verdanken, wurden indes an den Anfang gestellt. Der Grund dafür liegt jedoch nicht im vermeintlich apriorischen Charakter erkenntnistheoretischer Aussagen, sondern in der Tatsache, dass der Idiom-Begriff von den einzelnen Beiträgen sehr häufig aufgegriffen wird und einen zentralen Bezugspunkt bildet. Auf die theoretische Arbeit folgen die historischen Beiträge, die nach drei unterschiedlichen Schwerpunkten zusammengestellt wurden: Am Anfang stehen drei 23 Hier noch deutlich von Talcott Parsons Institutionentheorie beeinflusst, s. Luhmann, S. 57 f. 24 Stichweh, S. 50.
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Fallstudien zur Institutionalisierung von Soziologie im Sinne von Strukturierung, die einen exemplarischen Einblick in die Schwierigkeiten und Eigenarten der Etablierung einer Sozialwissenschaft bieten, die später die Rolle einer sozialwissenschaftlichen Leitwissenschaft zugesprochen bekommen sollte.25 Daran schließen zwei Studien an, die mit einer jeweils vergleichenden Perspektive über einen längeren Zeitraum die Evolution einer bestimmten Methode in den Sozialwissenschaften (Luftfotografie) zum einen und die Disziplinwerdung und -veränderung einer Sozialwissenschaft zum anderen hinweg verfolgen; beide Texte nehmen auch die sich wandelnden epistemischen und politischen Kontexte in den Blick, die mit oft überraschenden Brüchen verbunden waren. Im letzten Abschnitt versammeln sich hingegen Arbeiten, die zentrale, oft konfliktreiche Prägemomente von Strukturen und Methoden in den Sozialwissenschaften nach 1945 behandeln. Welche Geschichten der Sozialwissenschaften werden präsentiert und welche übergreifende Geschichte lässt sich ihnen entnehmen? Katharina Neef fokussiert eine sozialwissenschaftliche Territorialbildung: Sie beschreibt die Institutionalisierung von Soziologie als ein „virtueller“ wie „realer Raum“, der sich in den 1890er Jahren formierte, sich bis 1910 „über den gesamten europäischen Kontinent“ erstreckte und gerade in den multilingualen Grenzzonen eine hohe kommunikative Verdichtung erreichte. In diese frühe Boomzeit der Soziologie fiel die Gründung zahlreicher Gesellschaften, Periodika und Kongresse, so dass sich die zunächst unregelmäßigen Kommunikationen, die sich vor allem aus dem Interesse an einer wissenschaftlichen Reflexion von Sozialpolitik und -reform speisten, transnational vernetzen und verstetigen konnten. Interessanterweise sei es aber „nicht zur Formation einer“ – hinzuzufügen ist: einheitlichen – „transnationalen Soziologie“ gekommen, da die „Transfer- und Übersetzungsleistungen wie etwa eine Vermittlung verschiedener nationaler oder disziplinär verhandelter Idiome marginal“ geblieben sei, wie Neef anhand des Instituts International de Sociologie (IIS) in Paris und des Instituts Solvay in Brüssel zeigt. Dennoch sei die transnationale Vernetzung nicht ohne Wirkung geblieben. Zumindest habe sie die je nationale Etablierung von Soziologie befördert und nationale Soziologiediskurse (etwa durch Werkübersetzungen) mit dem Wissen um andere Soziologien bereichert. Neef insistiert darauf, dass sich das gesellschaftsanalytische Idiom der frühen Soziologie fast durchgängig von Empathie und nicht von Werturteilsdistanz – wie dies im Deutschen von einigen wichtigen Mitgliedern der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS) gefordert wurde – gegenüber sozialen Konfliktlagen ausgezeichnet habe. Somit dürfte das Interesse an Sozialpolitik und Sozialreform ein wichtiger Stimulus bei der Formierung von Soziologie gewesen sein. Ferner macht sie deutlich, dass unterschiedliche nationalsprachliche Prägungen des soziologischen Idioms bestehen blieben, die den Transfer von Konzepten und Begriffen erschwerten und der Etablierung eines gemeinsam geteilten transnationalen Idioms entgegenstanden. Undurchlässig war die sprachliche Trennwand jedoch keineswegs, wie der Artikel Niall 25
Kaesler, S. 39 – 58.
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Bonds in diesem Sammelband detailliert zeigt. Immerhin lässt sich resümierend formulieren, dass sozialwissenschaftliche Idiome der Gesellschaftsanalyse eines muttersprachlichen Mediums bedürfen, das in den meisten Fällen (aber nicht immer) nationalsprachlich geprägt ist. Was in Neefs Arbeit unbehandelt bleibt, ist eine genaue Beschreibung der idiomatischen Prozesse des Arretierens, Gestikulierens und Annäherns an den Gegenstand, die ein Idiom charakterisieren und Institutionalisierungsvorgänge begleiten. Für die Institutionalisierung von bestimmten Gesellschaftsanalysen unter dem einheitlichen „Etikett Soziologie“, wie es Roberto Sala im nächsten zu behandelnden Artikel nennt, ist dieser Vorgang insofern erstaunlich, als er äußerst heterogene Idiome erfasst, die sich keineswegs nur nach nationalen Eigenarten unterscheiden. So stehen sich der antitherapeutische Gestus eines Ludwig Gumplowics und Gustav Ratzenhofers dem organologisch-therapeutischen Anliegen von Gelehrten wie Albert Schäffle, René Worms, Rudolf Goldscheid, Franz Müller-Lyer oder Ernest Burgess diametral entgegen; beide unterscheiden sich wiederum von genuin soziologisch-aufklärerischen Richtungen, wie sie auf sehr unterschiedliche Weise Émile Durkheim, Gabriel Tarde, Max Weber, Georg Simmel oder Ferdinand Tönnies vertreten haben. Ebenso klar stehen sich die nomothetisch geprägten Idiome Gabriel Tardes, François Simiands, Émile Waxweilers, Gumplowiczs, Sydney und Beatrice Webbs den primär idiografischen26 Arbeiten Max Webers, Georg Simmels, Werner Sombarts, Thorstein Vebblens, Tomásˇ Garrigue Masaryks u. a. entgegen. Wie war angesichts der Fülle gegenläufiger Programme und daraus resultierend gegensätzlicher Forschungspraktiken die disziplinäre Institutionalisierung von Soziologie möglich? Rudolf Stichwehs Modell geht von einer kommunikativen Verdichtung und Ausdifferenzierung von Spezialistendiskursen aus, die zunehmend komplexer werden und sich auf eine weitgehend horizontale Weise (z. B. durch Kongresse, Zeitschriften-, Fachvereins-, Seminar- und Institutsgründungen) differenzieren; auf diese Weise verstärken sich die Prozesse der disziplinären Aus- und Binnendifferenzierung wechselseitig; die Fachcommunity orientiert sich zunehmend an sich selbst und gewinnt an Autonomie nach außen. Neefs Darstellung weist aber auf etwas hin, das aus systemtheoretischer Sicht unterbelichtet bleibt: Die Vernetzung von Wissenschaft und Politik spielte bei der Institutionalisierung von Soziologie als Disziplin eine wichtige Rolle, und zwar aus einem einfachen Grund: Politik musste erst überzeugt werden, Lehrstühle für Soziologie einzurichten und zu finanzieren.27 Deshalb war die Beschäftigung mit und das Engagement an den Brennpunkten sozialer Fragen in der frühen Soziologie in dieser Hinsicht ein wichtiges Argu26 Die Unterscheidung nomothetisch versus idiografisch hatte Wilhelm Windelband in seiner Antrittsrede als Rektor der Universität Straßburg 1884 geprägt. Nomothetisch werden gesetzeswissenschaftlich verfahrende Untersuchungen genannt, idiografisch solche, die auf Singularitäten gerichtet sind. Tatsächlich ist es aber schwer, die oben Genannten hier trennscharf einzuordnen, da alle Autoren stets nach epochenübergreifenden Mustern (etwa Idealtypen) des Sozialen suchten und deshalb kaum idiografisch genannt werden dürfen. 27 Dasselbe zeigt für die Weimarer Republik Dörk.
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ment. Denn Politik verband nicht ohne Grund mit der Förderung dieses noch im Entstehen begriffenen, ungefestigten Fachs zugleich eine politische wie „epistemische Hoffnung“.28 Der Verweis auf den Etablierungsvorsprung in anderen Ländern und die Wahrnehmung der Anderen als Konkurrenz war hierbei ein weiteres hilfreiches Argument.29 Eine andere Perspektive auf die Institutionalisierung von Soziologie bietet der Aufsatz von Roberto Sala, indem er sozialphilosophische Diskurse und die universitäre Lehrpraxis von Themen untersucht, die entweder explizit unter dem Titel Soziologie behandelt wurden oder darunter hätten behandelt werden können, aber anderen Rubriken wie „Staatswissenschaften“, „Nationalökonomie“, „Socialwissenschaft“ oder „Socialpolitik“ zugeordnet wurden. An der Differenz zwischen der faktischen und möglichen Etikettierung des Begriffs ,Soziologie‘ wird deutlich, wie attraktiv („stark“) oder unattraktiv („schwach“) das „Etikett Soziologie“ war. Auf diese Weise soll „die im internationalen Vergleich späte Verankerung“ von Soziologie als Disziplin an deutschen Universitäten“ beleuchtet und erklärt werden. Im Fokus steht somit die „Laufbahn des Soziologiebegriffs als Bezugsgröße“ für ein neues „sich im wilhelminischen Deutschland herauskristallisierendes Idiom“ einer Gesellschaftsanalyse. Dabei fällt nicht nur die Diskrepanz zwischen dem Grand der Gelehrten im deutschen Kaiserreich einerseits auf, die den Begriff ,Soziologie‘ nicht oder kaum als Etikett verwendeten, „um soziale Phänomene zum Gegenstand von Forschung und Lehre“ zu machen, und jenen transnational gut vernetzten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern andererseits, die dieses Etikett nahezu emphatisch verwendeten. Vielmehr weist Sala nach, dass Soziologie speziell im universitären Unterricht – wie sich zumindest an der Lehrpraxis der staatswissenschaftlichen und philosophischen Fakultäten der Universitäten Gießen, Kiel, Leipzig und Freiburg i. Br. beobachten lässt – immerhin schon so weit verbreitet war, dass man von einer Protoinstitutionalisierung dieses neuen Fachs sprechen muss. Der Blick auf die Lehrpraxis von Soziologie verdeutlicht aber noch etwas Anderes: Unter diesem Etikett wurden primär sozialtheoretische Fragen verhandelt und weniger empirische Sachverhalte, da diese in der Regel unter dem Rubrum „Socialpolitik“ subsumiert und mit entsprechender praktischer Nähe zu ihren gesellschaftlichen Anwendungsbereichen diskutiert wurden. Das trifft jedenfalls noch auf die theoretischen Diskurse um die Bestimmung von Soziologie zu, wie sie sich auf dem ersten Soziologentag der DGS von 1910 beobachten lassen. Insofern besaß das Etikett Soziologie noch eine begrenzte Reichweite, die erst durch eine „empirische Wende“ nach 1911 durchstoßen wurde. Bis dahin aber war Soziologie auf die theoretische Reflexion des Sozialen limitiert, beschränkt auf wenige Gelehrte und 28
Zu Begriff und Konzept siehe Christian Dayés Artikel in diesem Band. Wie es sich etwa in der von Ferdinand Tönnies zum 5.6. 1914 verfassten (SAK-B1 – 141) und vom Vorstand der DGS unterzeichneten „Eingabe zur Förderung der Soziologie als Lehrfach“ an die Hochschulen in Österreichs, Deutschem Reich und der Schweiz findet. Abgedruckt in: Matthes, S. 215 – 217. 29
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konzentriert auf die Lehre – alle drei Aspekte veranlassen Sala, von Soziologie als einem „schwachen Etikett“ zu sprechen, das gleichwohl eine Protoinstitutionalisierung eingeleitet hatte, die den plötzlichen Aufstieg des Fachs nach 1918 ermöglicht habe. Auch Sala beschreibt nicht die für die Bildung von Idiomen entscheidenden Prozesse des Arretierens, Gestikulierens und Annäherns an den Gegenstand, auch wenn der Begriff in seinem Aufsatz Verwendung findet. Idiome erscheinen hier als die Hervorbringung semantischer Variationen, die zunächst auf einer rein theoretischen Ebene soziale Fragen versuchsweise beantworten und sich bewusst von empirischen sozialpolitischen Diskursen abheben. Für die Institutionalisierung entscheidend erwies sich die praxeologische Ebene der Lehre, da sie einen Kristallisationspunkt bildete, der eine Vielzahl sozialtheoretischer Reflexionen und programmatischer Texte zusammenführte. Vor allem bot sie einen Raum, in dem die wiederkehrende und rollendifferenzierte Aneignung von als soziologisch bezeichneten Texten eingeübt, veralltäglicht und einritualisiert werden konnte. Dabei reagierten soziologische Idiome zunächst auf die vorhandenen Bedürfnisse schon etablierter Fächer und Lehrzusammenhänge wie Staatswissenschaften, Kameralwissenschaften, Philosophie, Recht und Ökonomie, erst in einem weiteren Schritt verselbstständigten sie sich. Mit der Gründung der DGS im Jahr 1909 kam eine neue, diesen Emanzipationsprozess beschleunigende Institution hinzu, in der mit größerer Reichweite soziologische Konzepte debattiert, auf beliebige empirische Sachverhalte übertragen und methodisch verfestigt wurden. Darüber hinaus setzte nun auch, obgleich im Kaiserreich noch sehr zaghaft, ein erstes akademisches und politisches Lobbying ein, das Soziologie zu einer etablierten akademischen Disziplin erheben wollte. So betrachtet, unterschied sich das Institutionalisierungsbeispiel des Deutschen Kaiserreichs von anderen Staaten, in denen es – wie Neef schildert – ebenfalls soziologische Etablierungsversuche gab: Auch die Entthematisierung von Sozialpolitik und das bewusste Vermeiden politischer Einflussnahme konnte ein Weg zur erfolgreichen Institutionalisierung sein, der aber offenbar mehr Zeit beanspruchte. Einen anderen Ansatz bietet der Aufsatz von Niall Bond. Er untersucht die bisher eher unterbelichtet gebliebene französischsprachige Rezeption soziologischer Texte von Tönnies und dessen eigene Wahrnehmung dieser Rezeption. Hierbei geht Bond von der Beobachtung aus, dass Tönnies’ eigenwilliges Idiom nicht nur von „der deutschen Philosophietradition“ beeinflusst war, da es sich von anderen wissenschaftlichen Schreibstilen seiner Zeit“ signifikant unterschied. Er vertritt die These, dass sich diese idiomatische Eigenart nicht zuletzt seinen Kontakten mit französischen Zeitgenossen und seinen Kenntnissen der französischen Literatur verdankte, wie Tönnies auch umgekehrt die französischsprachige Sozialphilosophie beeinflusste. So wurde sein Werk schon sehr früh im Französischen – beginnend mit den Einladungen von René Worms im Rahmen des IIS und der intensiven Auseinandersetzung Émile Durkheims mit „Gemeinschaft und Gesellschaft“ in seiner Rezension von 1888 – langanhaltend rezipiert, obwohl seine beiden soziologischen Grundbegriffe kaum übersetzbar sind, wie schon Durkheim mit Verweis auf die unzureichende Wie-
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dergabe durch Communauté et Société vermerkte. Im Deutschen wurde das Werk Tönnies’, der bei der Etablierung dieses Fachs in den Weimarer Jahren noch die unbestrittene Rolle eines Doyens gespielt hatte, dagegen weitgehend marginalisiert. Als politischen Kontext, in den die Entstehung dieses Werks fällt, markiert Bond das Bewusstsein um die Konkurrenz nationaler Wissenschaftskulturen und das Wissen über die soziokulturelle Spezifik von Ideen, die den einst dominierenden aufklärerischen Universalismus hinter sich ließ. Tönnies aber habe sich durch Aufgeschlossenheit und Neugier für persönliche und literarische Kontakte mit der französischsprachigen Welt ausgezeichnet und sich intensiv mit ihrer sozialphilosophischen Literatur beschäftigt. Auch umgekehrt wurde dort sein Werk aufmerksam registriert und bekam eine universale Bedeutung zugesprochen. Da diese Offenheit Tönnies’ zu einem guten Teil seiner Distanz gegenüber Preußen zu verdanken war, schlug sie sich allerdings auch in massive Vorbehalte gegenüber der zentristischen politischen Kultur Frankreichs nieder. Vor allem lehnte er dort, besonders nach der Erfahrung des Ersten Weltkriegs, die herausgehobene Stellung der öffentlichen Meinung ab. Tönnies’ Verhältnis zu Frankreich – nicht gleichzusetzen mit dem französischsprachigen Raum – war mithin ambivalent und schwankte zwischen Faszination und Ressentiment. Trotzdem hatte Tönnies zahlreiche französischsprachige Korrespondenzpartner, die Bond ausführlich bespricht und dabei auch seine Rolle als Vermittler für französische Literatur oder als Gatekeeper für persönliche Kontakte thematisiert. Offen bleibt lediglich, welche Konzepte und Topoi Tönnies aus der französischsprachigen Literatur übernommen und inwiefern diese sein Idiom geprägt hatten. Dasselbe gilt zu einem guten Teil auch für die französische Rezeption seines Werks. Der Aufsatz bietet jedoch wesentliche Hinweise, indem er die wechselseitige Wahrnehmung von Werken, thematische Parallelen und konzeptionelle Transfers beleuchtet. So teilten Tönnies und Worms die Organismusmetapher, nutzten sie aber auf eine sehr differente Weise. Den Terminus ,fait sociale‘ übernahm Tönnies von Durkheim, baute ihn aber in seine eigene Begriffsarchitektur ein, sodass er eine andere Bedeutung bekam. Umgekehrt eignete sich Durkheim Theorieelemente aus Tönniesschen Überlegungen zur „Arbeitsteilung“ oder zur „quantitativen Bestimmtheit der Gruppe“ an, außerdem entnahm er dem Oppositionspaar „Gemeinschaft und Gesellschaft“ die Gegenüberstellung von „mechanische“ und „organische Solidarität“, auch wenn hierbei womöglich ein (produktives) Missverständnis vorlag. Darüber hinaus weist die Darstellung Bonds darauf hin, dass Tönnies, Worms, Durkheim und andere mit dem Begriff ,Soziologie‘ eine grundlegende Geste respektive einen bestimmten Positionierungsstil teilten. Es ist zum einen der Versuch, dem Handlungsdruck sozialer Fragen und ihrem normativen Appellcharakter durch analytische Verfremdung zu entgehen, um neue Sichtweisen und neue Antworten zu entwickeln und Politik aufzuklären. Zum anderen wollten sie einen Beitrag dazu leisten, dass Wissenschaft sozialisiert und soziale Fragen verwissenschaftlicht wurden. Dieser geteilte idiomatische Ansatz war aber nicht das einzige transnationale Produkt: Auch in institutioneller Hinsicht war die Einladung von Personen aus dem deutschsprachigen Raum fol-
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genreich, da sowohl die DGS als auch die Wiener Gesellschaft für Soziologie unter dem Einfluss des Wormsschen IIS gegründet und sich auch in der organisatorischen Form von diesem inspirieren ließen.30 Das nächste Themensegment gilt den langfristigen Entwicklungen einer bestimmten Methode, konkret der Luftfotografie durch französische Sozialwissenschaftler, und einer spezifischen Disziplin, der Kommunikationswissenschaft, im deutsch-amerikanischen Vergleich. Den Beginn markiert Serge Reubi, der die relativ späte Aneignung und dann rasche, aber kurze Konjunktur von Luftfotografien in den französischen Sozialwissenschaften behandelt. Auf diese Weise beleuchtet dieser Aufsatz einen bisher unbehandelten Aspekt der Vor- und Frühgeschichte des Strukturalismus: Er dreht sich um die wissenschaftliche Praxis, Strukturen sichtbar zu machen, die das Soziale formen, aber nur durch luftfotografische Repräsentation entdeckt werden können. Die Luftfotografie war, zumal im Kontext der Sozialwissenschaften, sehr voraussetzungsvoll und technikintensiv, da hier sehr Unterschiedliches wie Luftfahrt, Fotografie, wissenschaftlicher Objektivitätsdiskurs, Kriegsmobilisierung und -schulung, kolonialer Katasterbedarf etc. zusammenkam. Und sie war, zumindest nach den Beispielen Reubis zu urteilen, eine rein maskuline Domäne, obgleich es seit den 1930er Jahren – somit am Ausgang des Untersuchungszeitraums dieses Artikels – auch ein paar Pilotinnen gab, die Luftaufnahmen durchführten.31 Im Fokus des Artikels stehen zunächst jene Rhetoriken, die den Einsatz von Luftfotografien in den Sozialwissenschaften begründeten, so die „Rhetorik des Aufdeckens“ von Strukturen, der Objektivität und der Exklusion von Subjektivität im Darstellungs- und Erkenntnisprozess. Reubi verfolgt die unterschiedlichen Begründungsansätze und interpretiert sie im Rekurs auf das Konzept der „epistemischen Tugenden“ von Lorraine Daston und Peter Galison. Da dieses Konzept primär mit Blick auf die Naturwissenschaften im 19. Jahrhunderts entwickelt wurde, die hier aber herausgearbeiteten drei Kategorien – „Wahrheit zur Natur“, „mechanische Objektivität“ und „geschultes Auge“ – ebenso gut auf die hier behandelte sozialwissenschaftliche Praxis passen, war die Konfrontation vielversprechend. Reubi arbeitet drei Varianten der luftfotografischen Begründungsrhetorik heraus: 1. die Erwartung, dass Luftfotografien „die Erdoberfläche als Palimpsest präsentieren, das Spuren früherer Zustände konservierte und ihr ursprüngliches Wesen, ihre immanente Wahrheit entzifferbar machte“; 2. der Wunsch, „große Objekte und Strukturen“ zu „identifizieren […], die vom Boden aus nicht erkennbar waren“; 3. die Hoffnung, dass hier „eine Realität […] frei von theoretischen Vorannahmen durch Beobachter, Beobachtete und menschlichen Wesen“ repräsentiert werden kann; durch das fotografische Objektiv hindurch und aus der Distanz von oben sollten also die Strukturen der Lebenswelt 30
Dörk. Im Deutschen ist etwa Elly Beinhorn zu nennen, die 1931 im Rahmen der WestafrikaExpedition des österreichischen Forschers Hugo Bernatzik und des deutschen Forschers Bernhard Struck vom Dresdner Museums für Völkerkunde (wo die Luftaufnahmen heute noch liegen) Luftaufnahmen anfertigte. Auch die amerikanische Pilotin Amelia Earhart fertigte in den 1930er Jahren Luftfotografien an (z. B. 1937, New Guinea). 31
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objektiv –„ohne Effekte und Affekte“ forschender Subjekte – wiedergegeben werden. Im Kontrast dazu zeigt Reubi auf, dass diese Begründungsidiome durchaus disparat zu den Publikationspraktiken standen. Denn das „Narrativ“, die luftfotografische „Sichtbarmachung von Welt“ gehe mit der „Tilgung“ von Subjektivität einher, widersprach der Praxis gelebter und legitimierter Autorschaft. Die veröffentlichten Luftaufnahmen verdeutlichen im Gegenteil, dass sie von den ästhetischen und anders motivierten Entscheidungen der Fotografierenden abhingen und überdies erklärender Bildunterschriften bedurften, um verstanden zu werden. Die Luftbilder und ihre Bildunterschriften aber waren Antworten auf je spezifische Fragen, so dass der vermeintlich getilgte Autor im Bilde höchst präsent war. Im Kontext der hier versammelten Aufsätze behandelt Reubi eine Besonderheit: Die Konjunktur der luftfotografischen Repräsentation lebensweltlicher Strukturen nach 1914 verdankte sich nicht der Förderung wissenschaftlicher Institutionen. Die Verwendung der Luftfotografie durch einzelne Wissenschaftler wurde – nicht zuletzt im Horizont der Kriegserfahrung – vielmehr als Hazard gedeutet und wurde u. a. auch durch den Überhang an Piloten, Fotografen und Flugzeugen nach dem Ersten Weltkrieg stimuliert. Die deutlich an den Naturwissenschaften orientierte Legitimationsrhetorik dieser Praxis hatte wohl primär den Zweck, wissenschaftliche und politische Institutionen zu überzeugen und zur Förderung zu bewegen. Insofern ist die von Reubi herausgearbeitete Diskrepanz zwischen wissenschaftlicher Legitimationsrhetorik, die auf Objektivität und Subjektivitätseliminierung setzte, und der publizistischen Praxis, in der das Subjekt der Autoren durch Selektion und Kommentierung von Bildern produktiv war, weniger verwunderlich. Deutlich wird aber, dass die Kombination aus einroutinisierter (in außerwissenschaftlichen Kontexten erarbeiteter) Praxis und rekursiv verfestigte Theoriearbeit (der epistemisches Potential und symbolisches Kapital entlehnt wurde) wissenschaftlich äußerst produktiv sein kann, solange das erkenntnisleitende Idiom arretiert und von kritischer Grundlagenreflexion unbehelligt blieb. Dass die kritische Selbstreflexion dann aber tatsächlich eine epistemisch durchgreifende Irritation nach sich zog, dürfte jedoch nicht nur an der neuen Selbsterkenntnis um die Rolle der eigenen Autorschaft gelegen haben. Schließlich war die Objektivitätsrhetorik auch in den Naturwissenschaften nicht mehr alternativlos, nachdem Werner Heisenberg das Problem der Unschärferelation (1927) formuliert hatte. Auch hier war der Beobachter in die Epistemologie zurückgekehrt. Reubis Darstellung der Luftfotografie in den Sozialwissenschaften konzentriert sich auf eine Praxis französischer Wissenschaftler, bietet aber immer wieder Hinweise auf Vergleichsmomente im Deutschen Reich oder in Großbritannien. Benno Nietzel verfolgt dagegen die Geschichte einer ganzen Disziplin, und dies aus einer dezidiert vergleichenden Perspektive: Im Zentrum steht die disziplinäre Evolution der Kommunikationswissenschaft (im Deutschen zunächst als Zeitungs- und Publikationswissenschaft) zwischen den 1920er und den 1950er Jahren in Deutschland und den Vereinigten Staaten im Vergleich. Dieser Vergleich richtet sich nicht nur auf analoge und differente Strukturbildungen; vielmehr werden diese einerseits im Hinblick
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auf transatlantische Transfer- und Aneignungsprozesse und andererseits auf transdisziplinäre und politisch-mediale Einflüsse und Rückwirkungen interpretiert. Der Fokus ist somit transnational, transdisziplinär und transsystemisch: Gerade die außer- und nichtwissenschaftlichen Aktivitäten, die Verwendung, Weiterverarbeitung und Übersetzung wissenschaftlichen Wissens in nichtwissenschaftliche Kontexten finden Beachtung, ebenso werden jene transnationalen politischen Hintergründe, „Erwartungs-, Nachfrage- und Förderkonjunkturen“ in den Blick genommen, die auf die Entwicklung wissenschaftlicher Forschungspraktiken und Themen einwirkten. Konkret benennt Nietzel das „Zeitalters der Extreme mit seinen entgrenzten Massenkriegen und ,imaginären Kriegen‘ totalitärer Propagandaregime, das für die Entwicklung wissenschaftlicher Kommunikationsforschung“ entscheidend gewesen sei. Dementsprechend lassen sich trotz der Differenz zwischen einem demokratischen und einem totalitären politischen System auch überraschende Übereinstimmungen feststellen, wie Nietzel mit dem Hinweis auf die Formel eines Memorandums aus den 1940er Jahren zeigt: Sowohl in den Vereinigten Staaten als auch im NS-Regime habe Kommunikationswissenschaft ihre Aufgabe darin gesehen, aufzuzeigen „Who said what to whom with what effect?“ Beiderseits des Atlantiks habe das Idiom dieser Wissenschaft seine analytische Arretierung in einem Konzept gefunden, das eine „aus Myriaden einzelner Kommunikationsakte sich aufsummierende[n] Gesamtheit“ zu beobachten versuchte. Hierbei habe sie sich analytisch auf „die kleinsten Einheiten“, die „einzelne Botschaft und ihre feststellbare kurzfristige Wirkung“ gerichtet. Dann aber werden auch Unterschiede deutlich: In den Vereinigten Staaten formierte sich ein analytisches Idiom, das auf dem Feld der Massenkommunikation „unidirektionale Kommunikationsakte“ zu isolieren versuchte, die sich nochmals in einzelne Teilaspekte zergliedern ließen. Auf diese Weise konnte das Phänomen Massenkommunikation „aus den gesellschafts- und demokratietheoretischen Diskussionen der Zwischenkriegszeit“ herausgelöst und der Forschung mittels empirisch-statistischer Datenerhebungen zugänglich gemacht werden. Im NS-Regime sollten die vielzähligen „Kommunikationsakte“ dagegen in einen gleichschwingenden Takt versetzt werden, um eine „genuin nationalsozialistische Öffentlichkeit“ ideologisch zu mobilisieren, um „jederzeit abweichende und feindliche Einzeläußerungen zu identifizieren“ und als Dissonantes bekämpfen zu können; in dieser Öffentlichkeit sollte jeder von der politischen Führung formulierte propagandistische „Input eine unmittelbare Wirkung entfalten“. Ob das auch „objektiv“ der Fall war, sollte die Zeitungswissenschaft empirisch überprüfen. Das Problem einer solchen Forschung bestand allein darin, dass sie nicht nur ein Instrument des Regimes war, sondern auch eine „Ressource“ im internen Kampf der „Macht-Polykratie“ und damit Spielball widerstreitender Kräfte. Eine unabhängige oder ausdifferenzierte Forschung war unter diesen Bedingungen nicht möglich, so dass das NS-Regime im Unklaren darüber blieb, ob und wie die eigene Propaganda wirkte. Nach dem Zweiten Krieg und den damit verbundenen Propagandaschlachten transformierte sich die Kommunikationswissenschaft in den Vereinigten Staaten
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zu einer breitgefächerten universitären Disziplin mit einem eigenen Kanon von Theorien und Methoden. In Deutschland erfuhr das Fach dagegen zunächst eine Restauration als Zeitungswissenschaft Weimarer Prägung, wurde aber auch durch die Einbeziehung von Rundfunk und Film thematisch erweitert. Da sich dort in der Soziologie zeitgleich eine empirisch verfahrende Massenkommunikationsforschung etablierte, gab es für die sich auf niedrigem Förderniveau reformierende Publikationswissenschaft zunächst wenig Anlass, sich der in den Vereinigten Staaten der Zwischenkriegsjahre entwickelten quantitativen Methodenpraxis zu befleißigen, sieht man von der „Hörerforschung“ ab, die zu einem Einfallstor solcher Methoden wurde. Der Vergleich der unterschiedlichen Fachentwicklung in den Vereinigten Staaten und Deutschland ist insofern aufschlussreich, als dass er Einblick in die abweichenden idiomatischen, praxeologischen und institutionellen Dynamiken zwischen einem liberalen und einem totalitären politischen Kontext gibt. So lässt ein demokratisch-liberaler politischer Kontext ein hohes Maß an wissenschaftlicher Variationsbildung zu; politische Entscheidungen nehmen hier keinen direkten Einfluss, sondern wirken allenfalls stimulierend, so die Kolonial- und Rüstungspolitik im Ersten Weltkrieg für die Luftfotografie (Reubi) oder die demokratische Bildungsreform für die Soziologie der Weimarer Republik.32 Auch ist es hier die theoretische Reflexion selbst, die die Variation von Idiomen durch Kanonisierung und Arretierung begrenzt oder aber durch Grundlagenkritik neue Variationsbildung anstößt. Anders sieht die Lage bei Institutionalisierungsprozessen aus. Für die Institutionalisierung wissenschaftlicher Idiome und Praktiken ist die Förderung durch die Politik entscheidend, auch wenn Politik hier in der Regel nur dann epistemische Novitäten fördert, wenn die etablierten Fächer ihre Zustimmung signalisieren oder zumindest in der Förderung keinen Eingriff in die wissenschaftliche Autonomie sehen; die zu fördernde Sache muss also über ein innerwissenschaftliches Renommee verfügen. Demgegenüber versuchen totalitäre Systeme idiomatische und praxeologische Variationsbildung von vorneherein zu kontrollieren, sei es durch personelle und epistemische Förderung politisch konformer Personen, Disziplinen und Idiome oder durch drastische Grenzsetzungen und Sanktionen. Es gilt der Primat des Politischen. Jede idiomatische Geste, jede Praxis und jede institutionelle Verfestigung muss politische Befindlichkeiten berücksichtigen oder wird von solchen konfrontiert. Selbst der Prozess des Annäherns an den gestisch markierten Gegenstand wird, wie Nietzel am Gegenstand der Zeitungswissenschaft im Nationalsozialismus gezeigt hat, zu einer Frage politischer Machtprozesse. Gegenstandsrepräsentation und politische Repräsentation, epistemische und politische Aussagen werden ununterscheidbar. Die Folge einer solchen Entdifferenzierung bestanden im Verlust der Fähigkeit, sich mittels kritisch geprüften Wissens zu beobachten, und Wissenschaft büßte ihre Funktion ein, wahre und falsche Aussagen ohne politische Autorisierung treffen zu können. Der letzte Block in diesem Band ist institutionellen und idiomatischen Neuprägungen nach 1945 gewidmet. Martina Mösslinger beschreibt am Beispiel der Förde32
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rung von Assimilations- und Integrationsforschung durch die UNESCO (United Nations Educational, Scientific and Cultural Organisation) die erneut einsetzende Interund Transnationalisierung sozialwissenschaftlicher Kooperationsbeziehungen und Wissenstransfers. Norbert Grube und Fabian Link zeigen dagegen mithilfe eines Vergleichs zweier Institutionen die unterschiedlichen Wege und Transferweisen einer transatlantisch geprägten Methodologie auf nationaler Ebene: Die Institutionalisierung von empirischer Sozialforschung durch das Institut für Sozialforschung (IfS) in Frankfurt und das Allensbacher Instituts für Demoskopie (IfD). Christian Dayé beleuchtet wiederum das nicht seltene, aber selten beachtete Phänomen eines Nichttransfers zwischen zwei sozialwissenschaftlichen Forschungsteams, die an derselben Institution, an der RAND Corporation, angesiedelt waren und überdies zwei äußerst nahestehende Themen behandelten: Das Projekt „Delphi“, das per Fragebogen die Zukunftseinschätzung von Experten zu erfassen versuchte, und das Projekt „Political Gaming“, das mithilfe von Planspielen Zukunft simulierte. Schließlich folgt der Aufsatz von Verena Halsmayer und Eric Hounshell, die das Inszenieren von ökonomischer Methodik und wissenschaftliche Personae anhand einer Kontroverse zwischen John K. Galbraith und Robert M. Solow aufzeigen und an diesem Fall eine folgenreiche idiomatische Weichenstellung in den Wirtschaftswissenschaften um 1967 thematisieren. Wie sich nach dem Zweiten Weltkrieg die sozialwissenschaftliche Forschungslandschaft änderte, lässt an dem Beispiel der Assimilationsforschung des UNESCO-Departments für Social Sciences gut nachvollziehen: Mit dem Ziel einer nachhaltigen Pazifizierung internationaler Beziehungen sollte sozialwissenschaftliches Wissen gefördert und seine transdisziplinäre sowie internationale Vernetzung vorangetrieben werden, wie Martina Mösslinger in ihrem Artikel zeigt. Beides, globale Vernetzung von Eliten und globale Verbreitung von sozialwissenschaftlichem Wissen, wurde offenbar für geeignet gehalten, internationale und innergesellschaftliche Spannungen abzubauen. Besonders im Fokus stehen bei Mösslinger die – inzwischen problematisch gewordenen – Konzepte ,Integration‘, ,Assimilation‘ und ,Adaption‘ von immigrierten Gruppen und Individuen. Das Neue an der UNESCO war die ausdrückliche Förderung der Internationalisierung33 von Sozialwissenschaften. Zwar hatten schon zuvor – Mösslinger weist hier auf das Internationale Komitee für Intellektuelle Kooperation (ICIC, Genf 1922 – 1946), das Internationale Institut für Intellektuelle Kooperation (IIIC, Paris 1925 – 1946), das Internationale Bureau für Bildung (IBE, Genf 1925 – 1968) und die Conference of Allied Ministers of Education (CAME, 1942 – 1945) sowie den Völkerbund (League of Nations) hin – international operierende Organisationen bestanden, die auch den internationalen wissenschaftlichen Austausch befördert hatten. Diese wären aber, so Mösslinger, nicht explizit den Sozialwissenschaften verpflichtet gewesen. 33 In diesem Fall muss von „international“ gesprochen werden, da es hier um die Kooperation von Nationen ging und die Organisationsmitglieder sich selbst und untereinander als Repräsentanten ihrer Nation begriffen.
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Trotz der Betonung des Neuen sollte hier die internationale positivistische Bewegung der sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts formierenden Sozialwissenschaften mit ihren zahlreichen Gesellschaftsgründungen nicht unerwähnt bleiben, auch wenn es dabei zugleich um die Stiftung einer Religion de l’Humanité ging. Ebenso darf nicht René Worms’ Gründung des IIS 1893 in Paris mit der zugehörigen Revue unterschlagen werden, da dieses Institut immerhin eine soziologische Internationale (Gerald Angermann-Mozetic) organisierte und die Gründung nationaler Soziologiedependancen förderte.34 Ferner bestanden das Institut International de Statistique, der Internationale Congress für Hygiene und Demographie und die Internationale Vereinigung für gesetzlichen Arbeiterschutz, die 1900 in Paris von Hans H. von Berlepsch, Gustav Schmoller und Werner Sombart und anderen gegründet wurde, sowie einige andere Institutionen, die allesamt den internationalen Austausch sozialwissenschaftlichen Wissens betrieben, auch wenn sie primär sozialpolitische Ziele verfolgten. Und nicht zuletzt darf die Einrichtung von korrespondierenden Mitgliedschaften an Akademien und wissenschaftlichen Gesellschaften nicht vergessen werden, da diese rund um den Globus für die wechselseitige Wahrnehmung von Forschungen sorgten. Dennoch wäre es falsch, die Arbeit der UNESCO auf die Restauration des in den Zwischenkriegsjahren erodierten internationalen (sozial-)wissenschaftlichen Austauschs zu verkürzen. Da dieser Austausch auch vor dem Ersten Weltkrieg unter dem Zeichen imperialistischer und revanchistischer Spannungen stand und dadurch limitiert war, vermochte die UNESCO die Gunst der Stunde zu nutzen, um der internationalen Kooperationsbereitschaft einen optimistischen Schub zu verleihen. Auch wies die UNESCO eine sehr ausgefeilte organisatorische Struktur auf, die politische Repräsentation und wissenschaftlichen Diskurs, nationale Souveränität und politisch-kulturelle Diversität ausbalancieren sollte, aber auch transnational operierende Non Governmental Organizations (NGOs) zu integrieren vermochte, wie Mösslingers Artikel detailliert beschreibt. Dadurch hatte die UNESCO unbestreitbar die Institutionalisierung von sozialwissenschaftlichem Wissen auf internationaler Ebene vorangetrieben. Unintendiert hat sie diesem Prozess aber auch einen Westernisierungsdrall verpasst und die Renationalisierung sozialwissenschaftlichen Wissens befördert, da die Souveränität von Nationen als Prinzip anerkannt blieb und als Grenzund Referenzmarkierung von Wissen verfestigt wurde. Und da die Nationen auch die Geldgeber waren, übten sie entsprechend ihrer finanziellen Potenz und dem sozialen Kapital ihrer Netzwerke Einfluss auf das zentrale Entscheidungsgremium (Executive Board) aus, so dass sie die Auswahl des forscherischen Personals, der sozialwissenschaftlichen Idiome und der Praktiken der Wissensimplementation mitbestimmten. Einen ganz anderen Blick auf die Veränderungen nach 1945 werfen Norbert Grube und Fabian Link, indem sie ein bestimmtes wissenschaftliches Forschungsidiom samt den zugehörigen Praktiken untersuchen, die schon Benno Nietzel im Bereich der Kommunikations- bzw. Zeitungswissenschaft thematisiert hatte: Die aka34
Rol, S. 367 – 400. Siehe hierzu auch den Artikel Katharina Neefs in diesem Band.
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demische Etablierung der empirischen Sozialforschung in Westdeutschland nach dem Zweiten Weltkrieg durch die Gründung von universitätsnahen sozialwissenschaftlichen Instituten. Grube und Link beobachten diesen Vorgang an zwei exemplarischen Fällen: An der Reetablierung des Frankfurter IfS 1950/51 und der Gründung des IfD 1947. Beide Institute kooperierten miteinander, gerieten aber auch in Konflikte, da sie sich auf je eigene Weise auf den Feldern Wissenschaft und Politik positionierten. Dass eine solche Kooperation zwischen dem einst vertriebenen und dann remigrierten Personal des IfS und dem nationalsozialistisch verstrickten des IfD überhaupt möglich war, verdankte sich nach Grube und Link einer idiomatischen Nähe: Beide Institute teilten die methodologischen Prämissen empirischer Sozialforschung, beide schrieben dem so hervorgebrachten Wissen die Funktion zu, gesellschaftliche Fehlentwicklungen zu korrigieren und Demokratisierung zu befördern. Auf dieser Grundlage haben das IfS und das IfD in zahlreichen Projekten kooperiert und gemeinsame Arbeiten hervorgebracht. Darüber hinaus wiesen die Institute auch strukturelle Affinitäten auf, da sich beide durch eine Konstellation auszeichneten, die hier als Kreis und Meister beschrieben wird: in Allensbach bzw. Mainz um Elisabeth Noelle-Neumann, in Frankfurt um Max Horkheimer. Dennoch haben sich beide Institute bekanntlich sehr unterschiedlich entwickelt und am Ende auch deutlich differierende Idiome und praxeologische Profile ausgeprägt. Grube und Link führen den konfliktträchtigen Prozess des Auseinanderdriftens nicht nur auf die unterschiedlichen Prägungen und Erfahrungen der jeweiligen Institutsmitglieder mit dem Nationalsozialismus und der daraus resultierenden divergierenden Rezeptionsweisen US-amerikanischer Ansätze empirischer Sozialforschung zurück. Vielmehr zeigen sie, dass auch historisch zurückreichende Konstellationen und ökonomische Strukturbedingungen eine wichtige Rolle spielten: Da etwa das IfD sich überwiegend durch Auftragsforschung finanzierte und sich in der Konkurrenz mit anderen Umfrage-Instituten – etwa dem Deutschen Institut für statistische Markt- und Meinungsforschung (DISMA) oder dem Institut zur Erforschung der öffentlichen Meinung, Marktforschung, Nachrichten, Informationen und Dienstleistungen (EMNID) – behaupten musste, war es einem starken Rationalisierungsdruck ausgesetzt. Deshalb wurde die Forschungspraxis am IfD immer standardisierter und quantitativer, wohingegen der ursprünglich stark ausgeprägte qualitative Aspekt immer mehr zurücktrat. Am IfS herrschte dagegen der Primat der Theorie, der trotz Annäherung an die Methodologie empirischer Sozialforschung niemals aufgegeben worden war. Und das IfS konnte sich den Absolutheitsanspruch der Theorie auch insofern leisten, als seine Substanz durch einen Privatmäzen, das Land Hessen und die Stadt Frankfurt abgesichert war. Ferner wurden Termini wie ,Durchschnitt‘, ,Querschnitt‘ und ,Meinung‘, die der Kreis um Noelle-Neumann ohne jeden Vorbehalt als rein analytische Kategorien bzw. Methodenbegriffe verwendete, von den Frankfurtern als problematisch bewertet. So stand etwa für Theodor W. Adorno der Begriff ,Meinung‘ für „Vagheit, Unschlüssigkeit, Nicht-Fixierbarkeit, Opportunismus und Ungebildetheit“, während er bei Noelle Neumann eine zentrale Analysekategorie bildete und modellartig (Schweigespirale, Meinungsführerschaft) ausge-
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baut wurde. Diese Divergenz, das darf nicht vergessen werden, lag allerdings auch in einer theoretischen Weichenstellung begründet, die auf die marxistische Ausrichtung des IfS seit seiner Gründung (1923) und auf dessen Finanzierung durch Hermann und Felix Weil zurückgeht, und die auch im Exil erhalten blieb, so dass sie die stets distanzierte Rezeption und Aneignung der empirischen Sozialforschung prägte. Die idiomatische Arretierung, die Horkheimer im Aufsatz „Traditionelle und kritische Theorie“ von 1936 programmatisch ausformuliert hatte, führte oft zu einer widersprüchlichen Sozialforschungspraxis, da sie mit der Theorie leicht in Konflikt geriet und so delegitimiert wurde. Zugleich beförderte diese theoretische Ausrichtung des Horkheimer-Kreises das Unbehagen an der Forschungspraxis des IfD. Die an diesem Institut beobachtbare Diskrepanz zwischen Raffiniertheit der quantitativen Methodik einerseits und mangelhafte Befähigung andererseits, das komplexe Verhältnis zwischen dem zu untersuchenden sozialen Feld und der sozialforscherischen Praxis zu reflektieren und methodisch einzufangen, markierte geradezu eine Sollbruchstelle im Verhältnis der beiden Institute. Die Reflexion dieser Beziehung zwischen Forschung und Gesellschaft bildete schließlich den entscheidenden Ansatzpunkt der Kritischen Theorie, da diese Reflexionsleistung zur Überwindung der für pathologisch gehaltenen ,gesellschaftlichen Verhältnisse‘ führen sollte. Je rationalisierter und je angepasster an die Auftraggeberwünsche das IfD um Noelle-Neumann also agierte, desto kritischer wurde das Verhältnis zu den (sehr männerbündischen) Anhängern der Kritischen Theorie – wie auch umgekehrt frustrierende Erfahrungen mit dem Forschungsfeld beim IfS Zweifel am Sinn der empirischen Sozialforschung nährte, den Drang zur Theorie und damit den Abstand zum IfD aber vergrößerte. So kam die Differenz zwischen einem Idiom, das einerseits per se die Abbildung der sozialen Realität durch wissenschaftliche Erkenntnis ablehnte und auf ein Wissen setzte, das die Realität überwinden sollte, und jenem Typ empirischer Sozialforschung andererseits, der gerade in der methodisch exakten Wiedergabe der Realität das Ideal sah, aber dem so hergestellten Wissen gleichwohl einen aufklärerischemanzipatorischen Wert zusprach, erst im Lauf der von Grube und Link geschilderten Beziehungsgeschichte voll zum Tragen. Einen gänzlich anderen Blick auf die Beziehungsformen ähnlich ausgerichteter sozialwissenschaftlicher Institutionen zeichnet Christian Dayés Darstellung aus. Im Zentrum stehen zwei Forschungsprojekte an der RAND Corporation im kalifornischen Santa Monica, die sich – im Kontext einer möglichen nuklearen Auseinandersetzung – für die Vorwegnahme künftiger politischer Entscheidungen interessierten. Beide Projekte sprachen dem Urteil von Experten einen hohen prognostischen Aufschlusswert zu, beide hatten sich überdies durch personelle Überschneidungen ausgezeichnet. Interessanterweise habe nach Dayé zwischen beiden Projekten nicht etwa ein Klima des intensiven Austauschs, sondern wechselseitiges (gar aktives) Nichtbeachten vorgeherrscht. Das eine Projekt, das unter dem Namen „Delphi“ mithilfe eines mehrstufigen Fragebogens die politische Zukunftseinschätzung von Experten einfangen wollte, zielte auf das Einschätzen künftiger außenpolitischer Entscheidungen. Das andere Projekt operierte hingegen mit Political Gaming: sozi-
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alwissenschaftliche Experten wurden in unterschiedliche Gruppen eingeteilt, die wiederum verschiedene nationale Regierungen repräsentierten und in Form eines Planspiels einen Konflikt simulieren sollten, von dessen Verlauf man Aufschluss über das reale Verhalten politischer Akteure in einem künftigen Konflikt erhoffte. Dayé versucht das Phänomen dieses Nichtbeachtens von sozialwissenschaftlichen Forschungsergebnissen zu erklären und geht davon aus, dass dieses Phänomen für die Sozialwissenschaften typisch ist und hier einen systematischen Wissensfortschritt verhindert – ein Ansatz der also deutlich von Kuhn geprägt ist und nach den Gründen fragt, warum diese Wissenschaften nicht wie die naturwissenschaftliche Normalwissenschaft funktionieren. Was sind also die Gründe für die Eigenart, dass Wissensbestände in den Sozialwissenschaften parallel koexistieren und nicht systematisch miteinander verbunden oder in schon vorhandene Wissensbestände integriert wurden und werden? Zur Beantwortung dieser Frage stellt Dayé einen Hypothesenkatalog zusammen, der das Phänomen zumindest auf der Ebene der Akteure potentiell erklären kann. Unter anderem werden folgende Hypothesen diskutiert: Idiome des Denkens nach Bernhard Waldenfels, idioms of inquiry nach Oakshott, akademische Stammeskulturen und ihre Territorien (Tony Becher/Paul Trowler) und vor allem auch das Konzept ,epistemische Hoffnungen‘, das Dayé in seiner Dissertation mit Blick auf den oben vorgestellten Untersuchungsgegenstand selbst entwickelt hat; dieses Konzept wird dann auch als das Angemessenste empfohlen. Interessant an Dayés Aufsatz ist für diesen Band insbesondere die Diskussion des Idiome-Konzepts, das er zunächst im Anschluss an Waldenfels’ Muttersprache-Konzept als primärsozialisatorisches Analyseschema verwendet. So zeigt er, dass dieses Konzept schon deshalb nicht als Erklärung dienen kann, da zwischen den Protagonisten keine muttersprachliche Differenz bestand: Sowohl Olaf Helmer (1910 – 2011), der für Delphi-Befragung zuständig war, als auch Hans Speier (1905 – 1990), der für das Political Gaming verantwortlich zeichnete, wurden in deutscher Muttersprache sozialisiert und hatten sich dann rasch die englische Sprache angeeignet. Muttersprache im übertragen Sinne für eine sekundäre, akademische Sozialisation wird hier jedoch nicht diskutiert. Der zweite von Dayé vorgestellte Ansatz entstammt Michael Oakshott, der sich für das Verstehen menschlichen Verhaltens generell interessiert. Unter dem Begriff ,idioms of inquiry‘ fasst Oakshott, wie oben im Zusammenhang mit Andreas Langenohls Ansatz angeklungen, die Facettierung exklusiver ,orders of inquiry‘, differierender und sich ausschließenden Verstehens- und Forschungsordnungen, die durch sprachliche Arretierungen zustande kommen, aber noch keine kategorialen Differenzen markieren. Sie stellen vielmehr ein konsistentes System an Theoremen dar, die Folge von sich unterscheidenden Disziplinen oder Wissensfeldern sind.35 Diese idiomspezifischen Arretierungen sind nach Oakshott aber nicht stabil, sondern einem permanenten Drang zur Reflexion ausgesetzt, so dass sie sich ändern und immer wieder neu fixiert werden müssen. Dayé formuliert nun dieses Konzept in eine Erklä35
Oakshott, bes. S. 1, 14 – 18.
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rungshypothese um: Die beiden Forschergruppen hätten die Unterschiede ihrer jeweiligen Konzeptualisierungen von Experten nicht beachtet, weil die unterschiedliche „Arretierungen notwendig für die Aufrechterhaltung der jeweiligen Untersuchungsordnungen waren. Hätten sie diese Unterschiede thematisiert, so wären sie in einen Reflexionsstrudel geraten.“ Da aber in „den Berichten und Memoranden […] jedenfalls keine Spuren“ zu finden seien, dass sich die Forscher vor einem Reflexionsstrudel fürchteten, sondern sogar vereinzelt nach weitergehenden Reflexionsmöglichkeiten suchten, scheint diese Erklärung untauglich für das wechselseitige Nichtbeachten der Forschungsteams. Aus diesem Grund favorisiert der Artikel eine andere Hypothese, die unter dem Titel der ,epistemischen Hoffnungen‘ firmiert. Im Vordergrund stehen jene Erwartungen, die Forscher mit der Entwicklung ihrer Methoden und Erkenntnisse verbinden, vornehmlich in Bezug auf Wissenschaft, Politik oder Gesellschaft generell. Die Forschergruppen beachteten sich demnach deshalb nicht, weil sie die „Sicht auf die normativen Grundlagen des eigenen Handelns“ weitgehend teilten, der Handlungsdruck angesichts der drohenden Nuklearkatastrophe Disziplin verlangte und den Drang zur theoretisch-methodologischen Reflexion hemmte. Es bleibt darauf hinzuweisen, dass wechselseitiges aktives Nichtbeachten bei gleichzeitigen institutionellen, personellen und inhaltlichen Überschneidungen im Sinne von Unwissen der Beteiligten nur in dem Sinne möglich ist (wenn nicht Achtlosigkeit oder gar Schizophrenie angenommen werden soll), dass ein strategisches Abschirmen zum Schutz der unabhängigen Ergebnisproduktion gewollt war. Denn später wurden die unterschiedlichen Ergebnisse tatsächlich miteinander verglichen und systematisch miteinander in Bezug gesetzt. So tritt etwa Olaf Helmer, den Dayé als Protagonisten des Fragebogenverfahrens Delphi anführt, in mehreren Artikeln auch als Entwickler von Spielen auf. Für das Militär entwickelte Helmer bei der RAND Corporation ein „Strategic gaming“36 und für Kaiser Aluminum und die Chemical Company vermittelte er das „Cross-Impact Gaming“;37 in der Darstellung des letzteren Spiels nimmt er auch auf die Fragebogenmethode Bezug und stellt beide Projekte in denselben prognostischen Zusammenhang. Schon in „Analysis of the Future: The Delphy Method“ von 196738 hatte er die Fragebogenmethode als eine von vielen Spielarten der Zukunftssimulation ausgewiesen, die lediglich in dem Versuch spezifisch sei, das „informed intuitv judgement“ für Prognosen fruchtbar zu machen. John Ludlow hatte beide Ansätze später in einem 1975 von Helmer eingeleiteten Sammelband besprochen und Delphi selbstverständlich als einen Beitrag für Political Gaming empfohlen.39 Dass trotz der wechselseitigen Bezugnahmen Differenzen und Widersprüche, wie sie Dayé hellsichtig registriert, dennoch unthematisiert blieben und diese dem gewünschten systematisch aufbauenden Erkenntnisfortschritt 36
RAND 2, Nr. 10/60. Helmer, Cross-Impact. 38 Helmer, Analysis. 39 Ludlow, S. 102 – 123. 37
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nicht zuträglich waren, soll mit diesem Einspruch nicht geleugnet werden. Mangelnde Sorgfalt und Systematik bei der Aufbereitung von Forschungsergebnissen aber ist kein Beleg für das grundsätzliche fortschrittsunterminierende Nichtrezipieren von Forschungsergebnissen in den Sozialwissenschaften. Dieser Einwand tangiert selbstverständlich nicht den Wert des Konzepts ,epistemische Hoffnungen‘.Gleichwohl sollte darauf hingewiesen werden, dass auch epistemische Erwartungen das Ergebnis sprachlicher Arretierungen sind, wie sich auch das Political Gaming oder die Fragebogenmethode mit den Konzeptelementen Arretieren, Gestikulieren und Annähern beschreiben lassen. Die Konzepte ,Idiome der Gesellschaftsanalyse‘ und ,epistemische Erwartungen‘ lassen sich also in keine klare Opposition bringen und sich ebenso wenig gegeneinander in Stellung bringen, da sie Unterschiedliches fokussieren und unterschiedlich funktionieren. Das Idiome-Konzept erfordert letztlich ein linguistisch-formales Beschreiben syntagmatischer oder paradigmatischer Arretierungen von Sprachelementen (wie Buchstaben zu Wörtern, Wörter zu Phrasen, Phrasen zu Sätzen verknüpft werden), die in ihrer Art als Abweichung von einer als Regel gesetzten Normalität oder als Varietät erkannt werden. Epistemische Hoffnungen richten sich dagegen auf sprachlich artikulierte Erwartungen gegenüber wissenschaftlichen Praktiken oder Theorien in der Art, dass mit ihnen eine Verbesserung des Bestehenden erhofft wird. Gleichwohl lassen sich beide Ansätze, wie Dayé zeigt, in ihrer Anwendbarkeit und ihrem Aufschlusswert für ein bestimmtes Phänomen unabhängig voneinander diskutieren und fallspezifisch durchspielen. Wesentlich ist, dass Dayé einen zentralen Aspekt sozialwissenschaftlicher Neuorientierung in den Fokus rückt: Es handelt sich um den Versuch, sozialwissenschaftliche Methoden in Orientierung an den Naturwissenschaften zu formulieren, um sie dadurch prognosefest zu machen. Von der UNESCO unterstützt kam es zu einer regelrechten Welle unterschiedlichster sozialwissenschaftlicher Unternehmungen, die allesamt nomothetisch ausgerichtet waren und Zukunft verfügbar machen wollten. So entstand auch im liberalen Westen ein Klima der Planungseuphorie und ein umfassender Trend zum Social Engineering. Diese Tendenz zu einer nomothetischen und vor allem auch mathematisierten Methodologie in den Sozialwissenschaften ist auch Thema des Artikels von Verena Halsmayer und Eric Hounshel. Anhand einer polemisch geführten Kontroverse zweier Galionsfiguren der Wirtschaftswissenschaften, John Kenneth Galbraith und Robert M. Solow, diskutieren Halsmeyer und Hounshell insbesondere die Rhetorik des auf sozialgestalterische Wirksamkeit zielenden „Interventionswissens“ und die unterschiedlichen „Vorstellungen von gesellschaftlicher Steuerung“ sowie die angemessene Form von Politikberatung. Den Beginn der Kontroverse markiert die Rezension Solows von Galbraiths Werk „New industrial State“, die 1967 in The Public Interest veröffentlicht wurde. Dieser thematische Fokus macht somit von vorneherein klar, dass es sich um eine Mikrostudie handelt, die im Kleinen einen großen Trend von paradigmatischen Ausmaßen unter die Lupe nimmt: Die Durchsetzung der am
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homo oeconomicus orientierten und mit mathematischen Modellkonstruktionen operierenden Ökonomie, die alles, was jenseits dieser numerischen modellierten Konstruktion liegt, ausblendet. Indem Halsmeyer und Hounshell aber eine Kontroverse ins Zentrum rücken, bringen sie aber auch die Gegenposition zur Sprache: ein ökonomisches Idiom, das gerade die dunklen Seiten einer Wirtschaft zur Sprache bringt, die mit Kundenmanipulation, Marktmonopolbildung und -manipulation, sozial abgewälzten Allokationskosten etc. arbeitet und somit in ihrer Disfunktionalität entlarvt wird. Für letztere Position stand der linksliberale Keynesianer Galbraith, für die erstgenannte der hochdekorierte MIT-Ökonom Solow. Halsmeyer und Hounshell interessieren sich nicht für historisch eventuell verpasste Chancen, sondern analysieren diesen Vorgang als einen offenen historischen Prozess, in dem unterschiedliche „Vorstellungen von gesellschaftlicher Steuerung“, angemessener Politikberatung sowie die damit verbundenen Selbst- und Fremdentwürfe einer wissenschaftlichen Persona miteinander konkurrierten. Auch die unterschiedlichen „Forschungs- und Schreibpraktiken“ sowie wirtschaftswissenschaftliche Methodenideale werden beleuchtet. Im Kern standen sich zwei Forschungsidiome gegenüber: Wenn für Solow, so Halsmeyer und Hounshell, „mathematische Modellierungsmethoden und ökonometrische Messungen der Inbegriff von Evidenz und Klarheit“ waren, akzeptierte Galbraith das jeder Empirie enthobene „as if“-Argument“ nicht, das aber die Voraussetzung für eine mathematische Modellierbarkeit war. Zwar teilten beide Ökonomen im Groben dieselben Vorstellungen von der Rolle des wirtschaftswissenschaftlichen Wissens in der Gesellschaft, doch habe Galbraith gerade das technische Idiom Solows für eine „Verschleierungsstrategie“ gehalten, mit der die eigene Disziplin sich von jedem kritischen Diskurs verabschiedete, ihre „Basisannahmen“ vor Einwänden immunisierte und sie einer weitergehenden Reflexion entzog. Solow warf dagegen seinem Kontrahenten vor, die mühselige, kleinteilige technische Arbeit zu scheuen und statt mathematischer Daten lieber die Parties der High Society zu frequentieren, um dort als „big thinker“ beim Abendessen mit den Mächtigen seine eigenen Ansichten durchzusetzen. Galbraiths Idiom beruhte dagegen auf dem Selbstbild eines „public intellectual“, der seine vielfältigen praktischen ökonomischen Erfahrungen durch persönliche Kontakte geltend machte oder sie in Form professioneller Beratertätigkeit in politische Entscheidungsprozesse einbrachte. Es mag sein, dass gerade die Möglichkeit, die Antwort auf Fragen politisch-ökonomische Entscheidungen an mathematische Modelle delegieren zu können, diese auch für das politische Personal attraktiv werden ließ. Jedenfalls hatte sich letztlich ausgerechnet dieses (mitunter von Solow geprägte) Idiom am Ende durchgesetzt.
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II. Theorie
Der voranalytische Moment der Analyse Zugänge zu ,Idiomen der Gesellschaftsanalyse‘ Von Andreas Langenohl
I. Einleitung Die Wortfügung ,Idiome der Gesellschaftsanalyse‘ steht für ein Forschungsprogramm, das als Teil des Konstanzer Exzellenzclusters „Kulturelle Grundlagen der Integration“ entwickelt wurde. Institutionell war es am Cluster in Form einer Forschungsgruppe angesiedelt, die ich von 2007 bis 2010 leitete.1 Gemäß dem Einrichtungsantrag des Clusters sollte sich die Arbeit der Gruppe auf die voranalytischen Grundlagen von Gesellschaftsanalysen richten, die diesen Analysen konstitutionslogisch vorgängig sind. Der Begriff des ,Idioms‘ bezog sich dabei lose auf Bernhard Waldenfels’2 Konzeption der ,Idiome des Denkens‘, mittels der er eine phänomenologisch gewendete Lesart der Dekonstruktion Jacques Derridas fasste. Ihr zufolge weisen Analysen von Kultur und Gesellschaft einen voranalytischen Moment im Sinne einer Positionierung und gar einer Konstitution des analysierenden Subjekts auf, welches die Analyse ermöglicht, ihren eigenen Kategorien aber notwendigerweise unzugänglich bleibt. Damit stand die Begriffsfügung ,Idiome der Gesellschaftsanalyse‘ von Beginn an im Kontext epistemologischer und wissenschaftsgeschichtlicher Positionen, die, entgegen korrespondenztheoretischen oder progressivistischen Positionen, von einer Bedingtheit von Gesellschaftsanalysen und gewissermaßen auch ihrer zumindest teilweisen Unverfügbarkeit sich selbst gegenüber ausgingen.3 1 Damit kein Missverständnis aufkommt, möchte ich sogleich betonen, dass diese Begriffsfügung nicht aus meiner Hand stammt – vielmehr wurde mir die Stelle in der Erwartung angeboten, dass ich, zusammen mit den Mitgliedern der Gruppe, jene Fügung semantisch füllen möge. Daran haben wir einige Jahre lang gearbeitet, und ich möchte an dieser Stelle den Mitgliedern der Gruppe meinen Dank aussprechen: Konstanze Baron, Nicole Falkenhayner, Michael Nau, Johannes Scheu, Doris Schweitzer, die nach mir die Leitung der Gruppe übernahm, und Kacper Szulecki. 2 s. Waldenfels. 3 Hier lassen sich, ohne Anspruch auf Vollständigkeit, sondern eher unter Betonung ihrer Aktualität im gegenwärtigen epistemologischen Diskurs, die Arbeiten Flecks (vgl. Griesecke/ Graf), Foucaults, Die Ordnung, Latours, Die Hoffnung, und Luhmanns sowie die Debatte um „Gründungsszenen“ der Soziologie nennen (vgl. Farzin/Laux).
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Ausgehend hiervon begann die Forschungsgruppe mit der Arbeit an einem stärker systematisierten, epistemologischen Konzept des ,Idioms‘. Der hier vorgelegte Beitrag fasst die Ergebnisse dieser Diskussionen zusammen und führt sie teilweise weiter.4 Über den Begriff ,Gesellschaftsanalyse‘ herrschte relativ schnell Einigkeit. Selbiger bezog sich nicht nur auf Gesellschaftswissenschaften im soziologisch-disziplinären Sinne, sondern auch auf literarische, journalistische, politische und politikwissenschaftliche, filmische und andere Repräsentationen der Gesellschaft.5 Dies wirkte sich allerdings indirekt auch auf das Verständnis dessen aus, was unter einem Idiom verstanden werden mochte. Denn wenn der Begriff ,Gesellschaftsanalyse‘ nicht so sehr aus der Perspektive einer bestimmten Herangehensweise, Theorie oder Methodologie, sondern aus der Perspektive des Referenzgegenstandes der Analyse bestimmt wird, bedeutet dies, dass ,Idiome‘ das Verhältnis zwischen Analyse und analysiertem Gegenstand betreffen. Bevor ich zu diesen Überlegungen komme, gebe ich einen Überblick über diejenigen konzeptuellen und epistemologischen Kontexte, die unsere Diskussionen informierten.
II. Referenzkontexte des Idiome-Begriffs Der Begriff des Idioms wird bislang nicht in einer Weise genutzt, die man als kulturwissenschaftlich konsistent bezeichnen könnte, obwohl es einige Bezugskontexte gibt, in denen er konzeptuell eingeführt und entwickelt wurde. Diese Kontexte bilden daher auch einen Bezugsrahmen für den Versuch, ,Idiom‘ in epistemologischer Absicht einzuführen. Beginnen wir mit der Linguistik, jener Wissenschaft, in der die begriffliche Kohärenz des Idioms am weitesten vorangetrieben ist. Es können drei linguistische Kontexte unterschieden werden, in denen der Begriff Verwendung findet. Erstens – auf soziolinguistischem Gebiet – indiziert er eine Abweichung von einer als Regel gesetzten Sprachvarietät und steht damit in einer Reihe mit anderen Begriffen wie Jargon, Argot, Idiolekt und Soziolekt. Zweitens – auf syntaktischem Gebiet – kennzeichnet er eine Arretierung der syntagmatischen und paradigmatischen Variabilität von Satzgliedern und verweist damit auf andere Begriffe wie Phraseologie, Sprichwort etc. Drittens – auf semantischem Gebiet – zeichnet sich das Idiom durch eine Bedeutungsstruktur aus, die nicht auf die lexematische Einzelbedeutung seiner Bestandteile zurückführbar sind; und dieser Bedeutungsmehrwert wird gerade aus der Unveränderbarkeit der sprachlich-lexikalischen Struktur des Idioms heraus gene4 Vgl. Langenohl, Divided Time; ders., Between Engaged Science; Falkenhayner, Making; dies., The English; dies. et al.; Scheu, Dangerous; ders., Stability; Schweitzer; Szulecki, Order; vgl. auch Kleeberg. 5 Zur Nähe bzw. wechselseitigen Abgrenzung zwischen Soziologie und Literatur vgl. Lepenies; zum Film als Medium der Gesellschaftsanalyse Ahrens; zu Literatur und Film in dieser Funktion Falkenhayner, Making; zur Angrenzung von Soziologie und Journalismus Lindner.
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riert. Linguistinnen und Linguisten machen darauf aufmerksam, dass dieser, wenn man so will, symbolische Exzess nur durch eine historische Semantik erklärbar ist, d. h. aus einer Rekonstruktion der Entstehung jener Idiome in früheren Sprachschichten.6 Genau hier, wenn auch nicht in primär historischer Absicht, setzt die Dekonstruktion Derrida’scher Prägung an. Derrida führt den Begriff des Idioms bei der Analyse einzelner Wortfelder – etwa desjenigen der „Gabe“ – innerhalb verschiedener Nationalsprachen ein, um historisch sedimentierte Paradoxien der Praxis des Gebens im gegenwärtigen semantischen Gebrauch der Glieder dieser Wortfelder nachzuweisen. Der von der Linguistik, wie oben erwähnt, festgestellte semantische Mehrwert, der aus der Arretierung idiomatischer Wendungen mit Blick auf den Bestand und die Abfolge von Lexemen erwächst, wird von Derrida gewissermaßen in den Rektions- und Flexionsregeln des gesamten Sprachsystems gesehen, nicht nur in einzelnen idiomatischen Wendungen. Die Tatsache etwa, dass das französische Verb für ,geben‘ (donner) nicht, wie im Deutschen, in grammatisch intransitiver Form, d. h. ohne grammatisches Objekt vorkommt (also als grammatisch-semantisch unmögliches objektloses ,il donne‘), verweist auf ein strukturelles Außen der Sprache mit Blick auf die möglichen Bedeutungen von ,geben‘. Durch dieses Außen, d. h. die Nichtaktualisierung faktischer Kombinationsmöglichkeiten sprachlicher Elemente, wird der Sprachgebrauch in seiner Idiomatik erkennbar und lässt in dieser Qualität Rückschlüsse auf die Verfasstheit gesellschaftlicher Denksysteme zu.7 Für einen der seltenen Momente eines echten Anschlusses innerhalb der Debatte um Idiomatizität ist Bernhard Waldenfels zu danken, der einer der bekanntesten Interpreten Derridas im deutschsprachigen Raum ist. Waldenfels’ Interpretation zufolge bildet die Dekonstruktion selbst ein „philosophisches Idiom, das sich durch Singularität auszeichnet und sich darin einer jeden Systematisierung verweigert.“8 Singularität verweist hier auf eine phänomenologische Unterströmung, die Waldenfels zufolge Derridas Denken kennzeichne: im Fortgang der Dekonstruktion als Durchgang durch und Durchstreichung von Texten bleibt sie sich selbst in actu undekonstruierbar und bildet genau deswegen eine Singularität, die nicht in eine Systematik, welche durch den Gang von einem durchgestrichenen Text zum nächsten erzeugt wird, eingestellt werden kann. Dem Textualismus-Vorwurf, der der Dekonstruktion häufig (und zu Unrecht)9 gemacht wird, ließe sich mit Waldenfels10 daher mit dem Argument begegnen, dass „die Sprache sich in der Erfahrung selbst vorausgeht“, d. h. dass vor jedem Text ein Sprechen stattfindet, das sich selbst nicht als Text adressieren
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Vgl. Jaeger, S. 245 – 251; Glück, S. 255. Derrida, Given Time. 8 Waldenfels, S. 303. Herv. i. Orig. 9 Ebd., S. 304. 10 Ebd., S. 305. 7
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kann, das aber dennoch „einen Textbezug aufweist, wie indirekt dieser auch immer aussehen mag.“11 Dies bereitet den Boden für Waldenfels’ Konzeption von ,Idiomen des Denkens‘. Hier steht der Begriff des Idioms für die phänomenologische Unterscheidung zwischen Eigen-Sinn und fremdem Sinn, exemplarisch ausgedrückt im Gegensatz zwischen Mutter- und Fremdsprache. Die Muttersprache stellt Sprechern einen fraglosen Sinnhorizont zur Verfügung, dessen Struktur nicht notwendigerweise durchschaut werden muss, um der Orientierung zu dienen, und führt gleichzeitig in die Weise der Orientierung in der Welt (nämlich durch Sprache) ein. Dagegen stellt der Erwerb einer Fremdsprache ein übersystematisiertes Verhältnis zum fremden Code her, welches zu systematischen Fehlverständnissen führt: das Wesen der Sprache wird genau dadurch verfehlt, dass sie als Sprache – d. h. als Struktur oder System – angeeignet wird. Dieser fundamentale Unterschied kann durch keine dritte Sprache überbrückt werden, sondern immer wieder nur in Sprachen, die füreinander Idiom und Fremdidiom bilden: es gibt „keinen neutralen Dolmetscher, sondern es erfolgt ein endloses Dolmetschen von beiden Seiten“.12 Schließlich gibt es einen Hinweis in der Wissenschaftstheorie. Nach Michael Oakeshott13 bildet die epistemische Grundbedingung wissenschaftlicher Erkenntnis ein Anhalten immer weiter gehender Theoretisierung, weil sich erst hierdurch ein Erkenntnis leitender Standpunkt bilden könne. Diese Erkenntnis leitenden Standpunkte nennt Oakeshott „idioms of inquiry“ und setzt sie mit wissenschaftlichen Disziplinen gleich. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass wissenschaftliche Erkenntnis konstitutiv durch eine Art Selbstbeschränkung in der immer weitergehenden Theoretisierung und Reflexion bedingt ist, weil diese Theoretisierung ansonsten nach und nach alle Erkenntnis leitenden Standpunkte annullieren würde. Wissenschaftliche Erkenntnis ist somit Resultat eines (mehr oder weniger kontrollierten) Reflexionsstopps oder Meta-Theoretisierungsverbots, die zur Kristallisierung von Idiomen führen.
III. Arretieren, Gestikulieren, Annähern: Konzeptelemente eines epistemologischen Idiome-Konzepts Was lässt sich aus dieser Bestandsaufnahme teils einander referenzierender, teils einander ignorierender Kontexte des Konzepts der Idiome gewinnen? Angesichts der oben erwähnten Überlegungen, dass der Begriff ,Gesellschaftsanalyse‘ die Analyseverfahren vom Untersuchungsgegenstand her perspektivierte, ist es naheliegend, in einem Idiom der Gesellschaftsanalyse das Resultat der Bildung eines analytischen Beobachtungsstandorts zu sehen, welcher nicht unabhängig von dem, was beobach11
Ebd., S. 304. Ebd., S. 321. 13 s. Oakeshott. 12
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tet wurde, zu denken ist, sondern sich anhand dessen, was zu beobachten ist, erst konstituiert. Es geht daher, wie man sagen könnte, um die Erzeugung analytischer Welten. Daher kommt dem Konzept des Idioms eine konstitutionstheoretische Bedeutung zu. Die Frage ist allerdings, was „konstitutionstheoretisch“ genau meint. Um dies genauer zu charakterisieren, kann man sich nun einige der bereits existierenden und oben referierten Überlegungen zum Idiom zunutze machen. 1. Arretierung der Reflexionsbewegung und Kristallisierung analytischer Idiome Mit Oakeshott lässt sich die Herausbildung analytischer Idiome als Anhalten einer immerzu suchenden, quasi zentrumslosen Reflexionsbewegung verstehen. Die Scharfstellung eines Untersuchungsgegenstands ist damit gleichbedeutend mit dem (zumindest temporären) Verzicht auf Metareflexionen. Allerdings handelt es sich hierbei nicht um eine Arretierung, die ein für allemal die Metareflexion stillstellt, sondern eher um eine, die immer wieder gegen den Sog jener Reflexion verteidigt werden muss. Beispielhaft sieht man anhand von Disziplinen wie etwa der Soziologie, welche die analytische Welt, die sie zusammen mit ihrem Gegenstand konstituieren, radikal unter Vorbehalt stellen (bzw. teilweise von außen unter solchen Vorbehalt gestellt bekommen) und unter immer wieder unternommener Rückkehr zu „den Klassikern“ ihre Gründungsgeste re-iterieren. Man sieht Ähnliches auch in Auseinandersetzungen zur Methodologie, in denen es letztlich niemals nur um die Angemessenheit von Messverfahren geht, sondern um die Haltbarkeit von Aussagen zur Ko-Konstitution von Analyse und Objektbereich. „Methodenstreit“ ist daher Teil der immer wieder auftretenden Spannung zwischen Meta-Reflexion und ihrer Arretierung. Diese epistemische Produktivität einer angehaltenen reflexiven Bewegung kann unter Bezugnahme auf die linguistischen Konzeptualisierungen von ,Idiom‘ in ihren strukturellen Konsequenzen verdeutlicht werden. Im Mittelpunkt steht hier die Frage, welche strukturellen Merkmale ein Zustand ,angehaltener‘ Reflexion aufweist. Hier findet der Begriff des Idioms abermals Verwendung: im linguistischen Sinne erzielen Idiome ihre figurative Bedeutung erstens durch eine Arretierung der Variabilität von Satzgliedern und Lexemen (genauer durch eine weitest gehende Fixierung der Reihenfolge von Wörtern und eine Vermeidung des Austauschs von Satzgliedern gegen andere mögliche) und zweitens durch eine Verschiebung der ursprünglich wörtlichen Bedeutung der idiomatischen Wendung ins Vorreflexive. An einem konkreten Beispiel verdeutlicht: die idiomatische Wendung „it’s raining cats and dogs“ erzeugt ihre figurale Bedeutung von dt. „es schüttet“, erstens, durch eine Arretierung der Satzglieder und Lexeme. *„It’s raining cats and mice“ oder *„it’s raining dogs and cats“ können zwar grundsätzlich verstanden werden, bringen aber zugleich die letztlich kontingente Struktur der Redewendung zur vollen Anschauung und ziehen daher neben der referenziellen Dimension des Ausdruck auch eine selbstreferenzielle Dimension ein,
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eben diejenige der Dekonstruktion, die die Unmittelbarkeitsunterstellung zwischen Signifikant und Signifikat unterbricht. Somit beruht, zweitens, die idiomatische Wendung auf einem ,Vergessen‘ der wörtlichen Bedeutung der Phraseologie, die, wörtlich betrachtet, wenig Sinn ergibt. Kombiniert man die wissenschaftsphilosophische mit der linguistischen Perspektive, ergibt sich folgendes Bild der Vorbedingungen von wissenschaftlicher Erkenntnis: sie ist konstitutiv durch einen Stopp immer weiter führender Theoretisierung und Reflexion bedingt, welcher strukturell durch die Aushärtung von Verhältnissen zwischen Bedeutungsträgern hervorgebracht wird, welche wiederum selektiv bestimmte Bedeutungen aktualisieren und andere abschattieren. Auf diesen drei Charakteristika beruht die Produktivität des idiomatischen, arretierenden Momentes, der der Kristallisation einer Erkenntnisperspektive vorausgeht: 1. Analytische Idiome sind produktiv, indem sie Erkenntnis leitende Standpunkte erzeugen. Diese Produktivität kann als konstitutive Produktivität bezeichnet werden, weil sie mit der Möglichkeit der Analyse selbst zusammenhängt. Mehan und Wood14 fassen in ethnomethodologischem Register den Begriff des Idioms als „self-preservative reflexive process“, in dem eine (zu analysierende) Realität durch eine (analysierende) Betrachtungsposition hervorgebracht wird, jene Realität aber im Fortgang zum Ausgangspunkt der fortgesetzten Begründung eben dieser Betrachtungsposition genommen wird.15 2. Konstitutive Produktivität manifestiert sich nie als solche, sondern nimmt die empirische und historische Gestalt je unterschiedlicher Arretierungskonstellationen an, die in spezifischen sozialen, kulturellen etc. Kontexten gelagert sind. Analytische Idiome manifestieren sich somit kraft einer strukturellen Produktivität, die sich aus der spezifischen Konstellation und Konjunktur der Bedingung des Reflexionsstopps ergeben. 3. Ein dritter Aspekt analytischer Idiome kann als Selektionsproduktivität bezeichnet werden. Dieser Aspekt hängt ebenso mit der konstitutiven wie der strukturellen Produktivität analytischer Idiome zusammen. In konstitutiver Hinsicht muss ein Reflexionsstopp, der Erkenntnis erst ermöglicht, notwendig mit der Konstitution eines Außen einhergehen. Dieses notwendige Außen ist vielleicht am ehesten durch Konzepte, die die für Repräsentation konstitutive Unabdingbarkeit des Nicht-Repräsentierbaren in den Blick nehmen, zu fassen. In struktureller Hinsicht – d. h. auf der Ebene des konkreten Anhaltens der Reflexion und seiner Rahmenbedingungen – äußert sich diese konstitutive Selektivität analytischer Idiome in einer Abschattierung anderer Perspektiven und latenter Bedeutungen.
14 15
Mehan/Wood, S. 12. Vgl. auch Garfinkel und Pollner.
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2. Analytische Verfahren als Gestikulation So wie Waldenfels Sprachlichkeit in erster Linie als die Erzeugung eines partikularen Standortes im Verhältnis zur Welt sieht, der jeder inhaltlichen Aussage notwendig vorausgehen muss, liegt der idiomatische Moment der Gesellschaftsanalyse in einem Bereich des Voranalytischen. Der idiomatische Moment ähnelt daher eher einer Geste denn einer Aussage: so wie eine Geste nichts beschreibt, sondern einen Raum umschreibt und damit das Subjekt zugleich in selbigem und im Verhältnis zur Welt positioniert, umschreiben analytische Idiome ,ihren‘ Ort und positionieren sich damit zur Welt, d. h., zum Untersuchungsgegenstand. Man kann hier die Konzeptualisierung von Idiom durch Joshua Gunn16 als „lived language game“ heranziehen, um den Punkt zu verdeutlichen, dass der idiomatische Moment sich auf einen gestischen oder auch mimischen Ausdruck bezieht „that eludes linguistic representation.“17 Ganz konkret mag man hier beispielsweise an die allmähliche Einübung einer modernisierungstheoretischen Geste in der Konstitution der soziologischen Theorie denken, d. h. die Einübung einer Perspektive auf die Geschichtlichkeit menschlichen Zusammenlebens durch radikale Generalisierungen gesellschaftlicher Stadien.18 Die Erzeugung analytischer Welten findet daher in einem Moment der Erkenntnisbahnung vor jeder inhaltlichen Analyse und vor jeder Methode statt. Analysen beruhen auf einer ,Haltung‘, die selbst noch nicht Analyse ist; und solche Haltungen sind häufig nicht selbstverständlich, sondern müssen als Haltungen Mal um Mal durchexerziert werden. Der Begriff des Idioms im Sinne eines Gestikulierens verweist somit auf die zentrale Bedeutung der Selbstpositionierung, und Positioniertheit, analytischer Verfahren, die nicht im Vorfeld durch eine bestimmte Theorie, Methodologie oder Epistemologie gerechtfertigt und abgesichert werden kann, weil diese dem Moment der Positionierung immer nachgängig sind.19 Zugleich ist die Positionierung nicht ein für alle Mal vollzogen, sondern bleibt herausforderbar, reaktivierbar und modifizierbar. Betont somit das Konzeptelement der Arretierung der mäandernden Reflexionsbewegung den Vorgang der Kristallisierung analytischer Idiome, der, folgt man der linguistischen Konzeptualisierung von ,Idiom‘, analytischen Mehrwert durch eine Verdunkelung eben jenes Vorgangs der Arretierung erzielt, bezieht sich das Konzeptele16
Gunn, S. 370. Herv. i. Orig. Ebd., S. 372. 18 Dies betrifft nicht nur das bekannte Dreistadiengesetz von Auguste Comte, sondern ebenso die Dichotomisierung von mechanischer und organischer Solidarität nach Durkheim und zahlreiche differenzierungstheoretische Vorschläge wie etwa die Luhmannsche Unterscheidung zwischen segmentärer, stratifikatorischer und funktionaler Differenzierung. s. für eine Kritik der impliziten Teleologie und Prophetie auch der neuesten modernisierungstheoretischen Vorschläge Langenohl, Divided Time. 19 s. als Beispiele für die Konstitution einer gesellschaftsanalytischen Positionalität im Kontext der polnischen Dissidenzbewegung Szulecki, Hijacked Ideas, anhand der Herausbildung des analytischen Vokabulars der frühen empirischen Sozialwissenschaft Scheu, Dangerous, und mit Blick auf die soziologische Modernisierungstheorie Langenohl, Divided Time. 17
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ment der Gestikulation auf die Tatsache, dass jener Vorgang reiterierbar ist, bleibt, und als solcher grundsätzlich auch der Modifikation und Kritik ausgesetzt werden kann. Plastischer gesagt: die analytische Geste, die einen Raum umschreibt und eine Positionalität determiniert, bevor sie etwas ,bedeutet‘, kann gestört, sozusagen aus dem souveränen Gleichgewicht gebracht werden. Insofern idiomatisches Gestikulieren nicht nur einen Raum umschreibt, sondern einen Ort beansprucht, steht es in Beziehung zu anderen Gesten, mit denen es sich in Konkordanz, aber auch in Konkurrenz befinden kann. Konkordanz verweist dabei auf die Arbeitsteilung der Wissenschaften vom Menschen und von der Gesellschaft, Konkurrenz auf miteinander widerstreitende Ansätze. Solche Auseinandersetzungen, die oftmals im Gewand theoretischer, methodologischer oder konzeptueller Konkurrenzen auftreten, sind durch Diskussionen auf theoretischer, methodologischer oder konzeptueller Ebene deswegen kaum auflösbar, weil, wie gesagt, die positionierende Geste der analytischen Aussage vorausgeht und sie begründet. Ein Weg der Auseinandersetzung mag daher der von Waldenfels ins Spiel gebrachte Versuch sein, zwischen unterschiedlichen analytischen Idiomen zu übersetzen und so ihr Gestikulieren anders als agonal aufeinander zu beziehen. Es sind aber auch hin und wieder Argumente anzutreffen, die nahelegen, dass der agonale Modus idiomatischer Konkurrenz unter bestimmten Bedingungen nicht vermieden, sondern gesucht werden sollte, was dann zumeist politisch begründet wird.20 Widerstreit zwischen idiomatischen Gesten kann daher unter Umständen kraft ihrer voranalytischen, positionierenden Effekte durch epistemologische Argumentationen allein nicht immer aufgelöst werden.
3. Kontinuitäten zwischen Analysegegenstand und analytischem Verfahren Schließlich bildet ein drittes Konzeptelement analytischer Idiome ihre Kontinuität zu ihren Erkenntnisgegenständen. Dieses Konzeptelement antwortet auf die Frage nach der relationalen Dimension der Positionierungsleistung, die Idiome, verstanden als Gestikulation, erbringen. Wenn sich analytische Idiome daher stets in Selbstrelationierung zu Untersuchungsgegenständen bilden, lassen sich grundsätzlich verschiedene Weisen dieser Selbstrelationierung unterscheiden. Das Idiome-Konzept macht hierin darauf aufmerksam, dass Analyseverfahren nicht nur eine ,objektivierende‘ Distanz zum Untersuchungsgegenstand herstellen, sondern zuvörderst eine Nähe zu ihm etablieren müssen, um sich selbst zu konstituieren und zu stabilisieren (Arretierung) sowie eine Positionalität einnehmen zu können (Gestikulation). Es teilt darin die Kritik Pierre Bourdieus21 an solchen analytischen Verfahren, die die Salienz ihrer Erkenntnisse über eine postulierte Distanzierung vom Untersuchungsgegenstand zu untermauern versuchen, dabei aber übersehen, dass das Verfahren der Ana20 21
Etwa Rancière. Bourdieu.
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lyse und der untersuchte Gegenstand Teil derselben Welt sind. Es können dabei die folgenden drei Kontinuitätsmodi unterschieden werden:22 Erstens kann eine Kontinuität zwischen Analyse und analysiertem Gegenstand in Form von Kontiguität, also Angrenzung, bestehen. Die Analyse und ihr Objekt sind sozusagen Nachbarn zu- und füreinander. Dies trifft beispielsweise auf verschiedene politische bzw. politikwissenschaftliche Analysen und ihren Erkenntnisgegenstand, die Politik (meist im Sinne von politics), zu. Kontiguität kann hier in einem sehr plastischen Sinne verstanden werden, da Politikanalystinnen und -analysten tatsächlich häufig die Nähe derjenigen politischen Akteure suchen, die sie analysieren, welche wiederum häufig, nämlich bei der Politikberatung, die Klientinnen und Klienten Ersterer sind. Kontinuität im Sinne von Angrenzung zeigt jedoch ebenso ein bestimmtes analytischen Register an, welches dazu tendiert, die ,emischen‘ Kategorien der untersuchten Welt zu replizieren. Im Gegensatz zu politischer Philosophie oder politischer Theorie operiert die Politikanalyse daher oftmals mit den in-vivo-Codes der Politik, um ihr analytisches Potenzial zu entfalten. Man findet weitere Beispiele für Angrenzung zwischen Analyse und Analysierten auch in bestimmten Verzweigungen des literarischen Diskurses, beispielsweise im realistischen Roman des 19. Jahrhunderts, der den Anspruch erhob, Gesellschaftsanalyse zu sein.23 Dieses Beispiel zeigt zugleich, dass Kontiguität nicht unbedingt Konkordanz oder Augenhöhe meint, selbst wenn die Kategorien, literarischen Figuren und Repräsentationen der Gesellschaft, die den Realistischen Roman bevölkern, aus der außerliterarischen Realität zu stammen scheinen. Mary Poovey24 zufolge beruht der Geltungsanspruch des Romans – also sein ,Realismus‘ – nicht auf einem Wahrheitsanspruch, sondern auf einem Möglichkeitsanspruch (den sie ,verisimilitude‘ nennt) bei der Repräsentation der außerliterarischen Realität.25 Die idiomatische Kontinuität der Analyse mit ihrem Gegenstand ist in diesem Falle sozusagen doppelbödig, weil die Angrenzung zwischen Darstellung und Repräsentiertem durch den Möglichkeitscharakter der Darstellung einerseits unterstrichen, andererseits in Frage gestellt wird.26 Ein zweiter Fall von Kontinuität zwischen Analyse und Analysierten liegt durch Ähnlichkeit oder Nachahmung vor. Dies ist in analytischen Strategien anzutreffen, welche die theoretischen und konzeptuellen Grundgesten ihrer Analyse als im Untersuchungsgegenstand angelegt, aber noch nicht voll entfaltet betrachten. In der postkolonialen Literaturtheorie beispielsweise ist die Ansicht vertreten worden, dass die theoretischen und konzeptuellen Rahmungen, mittels derer bestimmte literarische Werke mit Blick auf die ihnen eingeschriebene Kritik an Imperialismus und Kolonialismus analysiert werden können, in diesen Werken selbst enthalten sind, sie also gewissermaßen den kritisch-konzeptuellen Schlüssel zu ihrer eigenen Lektüre 22
s. für die folgenden Abschnitte Falkenhayner et al. Lepenies. 24 Poovey. 25 Vgl. Assmann. 26 Vgl. Boy. 23
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bei sich tragen.27 Solche Literatur kann somit quasi theoretischen Status für sich beanspruchen – und erzeugt damit eine Kontinuität zur Analyse, welche sich einer Nähe zu jener Literatur befleißigen muss, um die Nuancen der Kritik möglichst umfassend herauszupräparieren. Die Analyse ist somit eher eine Umformulierung des Analysierten – und vollzieht eben darin eine Bewegung der Imitation. Eine ähnliche Auffassung der Beziehung zwischen Analyse und Analysiertem wird von der ActantNetwork-Theorie vertreten, die mit der vergleichenden, insbesondere postkolonialen, Literaturtheorie einige wichtige Aspekte teilt, beispielsweise ein Verständnis von Übersetzung als Artikulation und Assoziierung, weniger als Bedeutungsübertragung.28 Bruno Latour beispielsweise, dessen ANT-Entwurf sich ganz explizit auf die Kategorie der Imitation nach Gabriel Tarde bezieht,29 gab folgende Losung aus: „We want to learn our sociology from the scientists and we want to teach the scientists their science from our own sociology.“30 Die Devise, den ,Objekten zu folgen‘, ist ein direkter Ruf zu ihrer Nachahmung – in der Hoffnung, dass sich durch eine genaue Analyse ihrer Bewegungen durch unterschiedliche Artikulationsweisen Aufschlüsse über ihren ,Realitätsgehalt‘, d. h. ihre Artikulierbarkeit mit anderen Entitäten ergeben möge.31 Drittens lässt sich idiomatische Kontinuität in Beziehungen der Performativität zwischen Analyse und Untersuchungsgegenstand beobachten. Eine in dieser Hinsicht wichtige Unterscheidung ist von Hans-Jörg Rheinberger32 in die Diskussion gebracht worden, der in seiner Studie zur Entwicklung der DNA-Analyse auf die Interaktionen zwischen Untersuchungsmethoden und „epistemischen Dingen“ eingeht. Seiner Analyse zufolge wirken die Untersuchungsmethoden auf ihre Objekte dahin gehend ein, dass sie diese repräsentieren, singularisieren und auf bestimmte Eigenschaften hin festlegen. Im Bereich gesellschaftsanalytischer Idiome lassen sich solche ,Wirkungen‘ auf die Untersuchungsgegenstände indes nicht nur auf dem Gebiet der Repräsentation beobachten – vielmehr können solche Idiome tatsächlich Wirkungen entfalten, die die Untersuchungsgegenstände verändern oder gar konstituieren. Ein gutes Beispiel hierfür ist die Performativität finanzwissenschaftlicher Modellierungen der Finanzökonomie, die, wie in der Finanzsoziologie und -anthropologie (bzw. den Social Studies of Finance) gezeigt wurde, unter bestimmten historischen Umständen die Praktiken von Finanzmarktprofessionellen anleiten können und auf diesem Wege sich quasi ihre eigene korrespondierende Realität erschaffen können.33 Je mehr Handelnde sich eines bestimmten Gleichungssets bedienen, um die Marktangemessenheit der Preise einer bestimmten Finanzprodukt27
Ashcroft/Griffiths/Tiffin, S. 49 – 51; s. zur Einordnung Langenohl, Tradition, S. 128. Vgl. Langenohl, Börsenhandel. 29 Vgl. Latour, Is Re-modernization Occurring. 30 Latour, The Politics, S. 175. 31 Latour, Die Hoffnung. 32 Rheinberger. 33 s. Callon. 28
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gruppe zu bestimmen, desto genauer ,beschreiben‘ jene Gleichungen die Marktrealität. Die Frage ist, ob sich solche performativen Effekte auch auf anderen Gebieten der Wirklichkeitskonstitution finden lassen. Es wäre beispielsweise denkbar, dass das Genre der soziologischen Zeitdiagnose, indem es gesellschaftliche Entwicklungen unter griffige Kategorien fasst, dazu beiträgt, dass diese Begriffe innerhalb der Gesellschaft eine operative Bedeutung annehmen. Ulrich Becks berühmtes Theorem der ,Risikogesellschaft‘34 könnte hierauf hin befragt werden. Allgemeiner lässt sich sagen, dass Gesellschaftsanalysen dazu beitragen, bestimmte gesellschaftliche Aspekte, etwa Problematiken, auf die gesellschaftliche Agenda zu setzen und auf diese Weise wirklichkeitskonstitutiv werden zu lassen. Wenn daher analytische Idiome dazu tendieren mögen, ihre Untersuchungsgegenstände in der epistemischen Geste zu imitieren (s. o.), trifft doch ebenso zu, dass sie dazu beitragen können, jene Untersuchungsgegenstände durch Dissemination heuristischer Kategorien und Problemwahrnehmungen zu konstituieren.
IV. Die Historizität analytischer Idiome Im Kontext des vorliegenden Bands, der sich mit der Wissens- und Wissenschaftsgeschichte der Sozialwissenschaften befasst, ist die Frage nach der Historisierbarkeit der hier umrissenen idiomatischen Epistemologie unausweichlich. Eine idiomatische Perspektive fokussiert auf diejenigen Aspekte der Generierung von Analysen des Sozialen, die konstitutionslogisch vor der eigentlichen Analyse liegen. Wie ist dieses konstitutionslogische ,vor‘ historisch vor- und darstellbar? Die idiomatische Ebene der Gesellschaftsanalyse ist nicht mit einem historischen Gründungsmoment gleichzusetzen, wenngleich sie in solchen Momenten besonders gut zu beobachten sein mag. Es handelt sich auch nicht genau um eine ,Gründungsszene‘ im Sinne von Sina Farzin und Henning Laux, obwohl gewisse Parallelitäten hierzu existieren. Dies betrifft insbesondere die Suche nach „konstitutiven Konstellationen“ der Produktion von Wissen über die Gesellschaft wie auch die keinesfalls korrespondenztheoretisch zu verkürzende Herstellung eines „Weltbezugs“ solchen Wissens35 – Fragen, denen sich die Beiträge in dem von Farzin und Laux herausgegebenen Sammelband vor allem am Beispiel einzelner solcher Gründungsszenen widmen. Über diesen Ansatz hinausweisend wäre hier indes zu betonen, dass die Temporalität – und damit auch unter anderem Historizität – einer idiomatischen Analyse expliziter konzeptualisiert wird, als es bisher im Gründungsszenen-Ansatz der Fall ist, und damit auch Aufschlüsse über die Verfestigung, oder im Gegenteil Verflüssigung, analytischer Idiome zulässt. Denn der idiomatische Moment steht gewissermaßen immer der Rückkehr offen – eine Rückkehr, die zwischen Affirmation und Kritik oszilliert. Der Moment, da die ungerichtete Suchbewegung arretiert, kann wie34 35
Beck. Farzin/Laux, S. 10, 6.
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deraufgerufen oder in Zweifel gezogen werden. Die Gestikulation, die der Analyse eine Positionalität verschafft, kann erneut vollzogen oder gestört werden. Die Kontinuität, die die analytische Geste zu ihren Erkenntnisgegenständen unterhält, kann bestätigt oder unterbrochen werden.36 Daher steht das epistemologische Konzept des Idioms nur schwer einer klassischen historischen Kontextualisierung offen, jedenfalls nicht in dem Sinne einer Analyse von historischen Gründungsmomenten von Disziplinen, Forschungsprogrammen oder Methodologien. Eher legt es eine genealogische Arbeit nahe, d. h., vereinfacht gesagt, die Rekonstruktion historisierbarer Konstitutions- und Rekonstitutionsmomente der Generierung voranalytischer Momente der Analyse. Diese können, entlang der oben geführten Kategorisierung, der Ort des Reflexionsstopps, die Choreografie der voranalytischen Geste und die voranalytische Herstellung von Kontinuität zum Gegenstand der Erkenntnis betreffen. Immer beibehalten werden muss indes die Perspektive der konstitutiven Bedeutung analytischer Idiomatik zu jedem Zeitpunkt, unabhängig davon, ob die Idiomatik auf eher reflektierte oder eher unreflektierte Weise aufgerufen, herausgefordert und modifiziert wird. Ich kann dieses Vorgehen hier nur sehr allgemein anhand einiger Bemerkungen zu demjenigen gesellschaftsanalytischen Idiom, das ,Soziologie‘ genannt wird und dem ein Fokus des vorliegenden Bandes gilt, exemplifizieren. Die Soziologie ist eine Wissenschaft, die sich mit ihren historischen Gründungsmomenten in ungewöhnlich intensiver Weise auseinandersetzet, was man an dem immer wieder erfolgenden Aufruf der soziologischen ,Klassiker‘ ablesen kann. Jedoch referenziert dieses Aufrufen oftmals weniger die historische Gründungsszene der Soziologie im Sinne einer historischen Konstellation ihrer Etablierung als eigenständige Wissenschaft, sondern eher die Genealogie von in der Vergangenheit bereits erfolgten, und sich akkumulierenden wie auch immer aufs Neue angeordneten, Auf- und Anrufungen der ,Klassiker‘ (meist ,Interpretationen‘ oder ,Rekonstruktionen‘ genannt).37 Man könnte auch sagen: Je weiter die Soziologie sich von ihrem historisch-institutionellen Gründungsmoment, d. h. ihrer institutionellen Kristallisation als eigenständige Wissenschaft, entfernt, desto genealogischer wird ihr Verhältnis zu jenen ,Klassikern‘.38 Dies hin36
Vgl. Langenohl, Divided Time; ders., Börsenhandel. Als Beispiele für eine solche Vorgehensweise ließen sich beispielsweise Talcott Parsons’ The Structure of Social Action, Anthony Giddens’ The Constitution of Society oder Jürgen Habermas‘ (ohne ihn einseitig für die Soziologie reklamieren zu wollen) Theorie des kommunikativen Handelns nennen. 38 Wenn Foucault, In Verteidigung, S. 26, Genealogie als „Taktik, ausgehend von den solchermaßen [durch Archäologie] beschrieben lokalen Diskursivitäten, die sich auftuenden und aus der Unterwerfung befreiten Wissen spielen zu lassen“, charakterisiert, kann man sich im Rahmen der vorliegender Untersuchung dieser Charakterisierung insofern anschließen, als das Argument Foucaults auf eine Dezentrierungsbewegung hin abzielt, d. h. gerade nicht auf die ruhige Akkumulierung wissenschaftlicher Dignität durch Traditionspflege, sondern auf einen den soziologischen Mainstream herausfordernden Gegendiskurs. Stellt man allerdings in Rechnung, dass sich wissenschaftliche Paradigmen und Disziplinen gerade auch durch Selbstkritik und ihre Institutionalisierung konstituieren (vgl. Langenohl, Tradition), sieht man, 37
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dert sie jedoch keinesfalls daran, immer wieder dieselbe Frage zu stellen, nämlich die, worin eine genuin soziologische Perspektive bestehe, was sich zumeist mit der Frage verbindet, wie Gesellschaft, das Soziale, Sozialität etc. zu konzipieren sei. Im Gegenteil kann man hierin ein Beispiel dafür sehen, dass gerade die genealogische Positionierung der Soziologie gegenüber ihrem Gegenstand alle drei Aspekte der idiomatischen Konstitution der Soziologie befördert: die Arretierung der Suchbewegung in der Frage danach, was Soziologie sei; das voranalytische Gestikulieren, welches einen Raum umschreibt und beansprucht, der nur von der Soziologie einzunehmen sei; und die Herstellung einer Beziehung zum Untersuchungsgegenstand, materialisiert in der Frage, welcher Art das Soziale sei, sodass es der Soziologie in den Blick kommen kann. In dieser, wenn man so will, ,konstitutiv gelebten‘ Genealogie der Soziologie als gesellschaftsanalytischem Idiom spielen Institutionalisierungsprozesse eine nicht zu vernachlässigende Rolle. Aus einer idiomatischen Sicht kommt ihnen insbesondere die Rolle zu, die Prozesse der Arretierung der epistemologischen Suchbewegung, der Erzeugung epistemologischer Positionalitäten und der Herstellung einer Kontinuität mit dem Untersuchungsgegenstand zu moderieren und zu katalysieren. Nicht zuletzt hängt es von den Institutionalisierungsformen analytischer Idiome ab, ob die idiomatische Ebene, als der Analyse vorgelagerte, konstitutive Ebene, thematisiert wird, was nicht zuletzt mit der Frage zu tun hat, wie mit unterschiedlichen Idiomen umgegangen wird. Hier bestehen gravierende Unterschiede zwischen wissenschaftlichen, literarischen, politischen, journalistischen und anderen Idiomen der Gesellschaftsanalyse. Dennoch würde eine idiomatische Analyse vermutlich zunächst von den inneren, inhaltlichen Dynamiken von erneuter Arretierung, re-choreografierter Gestikulation und modifizierter Annäherungen an die Untersuchungsgegenstände ausgehen. Mit anderen Worten, ihr Ausgangspunkt wäre die analytische Geste selbst, also das analytische ,Artefakt‘ (in einem konstitutionstheoretischen, nicht einem korrespondenztheoretischen Sinne), d. h. das semiotische Material (zumeist, aber nicht immer, Texte), von dem aus rückverfolgend die idiomatische Dimension sowohl in ihren diskursiven wie nichtdiskursiven Dimensionen zu erschließen ist.
V. Zur Methodologie idiomatischer Analysen Als konstitutionstheoretischer Begriff der Epistemologie erlaubt die Verwendung des Idiome-Konzepts unterschiedliche Methodologien aus dem Repertoire der Wissensgeschichte, Wissenssoziologie und angrenzender epistemologischer Ansätze. Auf einer meta-methodologischen Ebene liegen insbesondere Fragen nach der jeweiligen Besonderheit der Kristallisierung analytischer Idiome nahe. In konstitutiver Hinsicht muss ein Reflexionsstopp, der Erkenntnis erst ermöglicht, notwendig mit dass diese Charakterisierung von Genealogie allzu offensichtlich die potenziell affirmativen Wirkungen (selbst-)kritischer Genealogie ausblendet.
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der Konstitution eines Außen einhergehen. Dieses notwendige Außen ist vielleicht am ehesten durch Konzepte, die die für Repräsentation konstitutive Bedeutung des Nicht-Repräsentierten in den Blick nehmen, zu fassen.39 In struktureller Hinsicht – d. h. auf der Ebene des konkreten Anhaltens der Reflexion und seiner Rahmenbedingungen – kristallisiert sich diese konstitutive Selektivität wissenschaftlicher Idiome in eine konkrete Abschattierung von Perspektiven und möglichen Bedeutungen. Die Wahl einer Methodologie steht ferner in Abhängigkeit zum konkreten Erkenntnisinteresse: richtet sich die Rekonstruktion auf das Changieren zwischen Reflexionsstopp und dem Sog der Meta-Reflexion; auf das Trainieren einer analytischen Haltung, die analytische Verfahren ermöglicht, weil sie eine Positionalität umschreibt und einen Ort beansprucht; oder auf der Nachzeichnung der Annäherung zwischen Analyse und ihrem Gegenstand? Festzuhalten wäre schließlich, dass der Begriff des Idioms weder für eine ,relativistische‘ noch für eine ausschließlich ,philologische‘ Sicht auf wissenschaftliche Erkenntnis steht. Wissenschaftliche Erkenntnis ist erstens nicht schon deshalb relativ, weil sie konstitutiv, strukturell und selektiv hervorgebracht ist – vielmehr wird ihre eigentliche historische Signifikanz nur dann verstehbar, wenn man die Rahmenbedingungen dieser Konstitution, Strukturierung und Selektion wissenschaftlicher Erkenntnis in Betracht zieht.40 Daher ist, zweitens, auch der häufig mit philologisch angeleiteten Zugängen in Verbindung gebrachte Begriff der ,Konstruktion‘ von Erkenntnis streng genommen irreführend. Wissenschaftliche Erkenntnis prozessiert nicht einfach narrative Muster oder ,Diskurse‘, sondern macht sich mithilfe solcher Muster und ihrer Festschreibungen die Welt zum Objekt – mit sehr realen Konsequenzen. Dies gilt auch in institutioneller Hinsicht: da wissenschaftliche Erkenntnis und wissenschaftliche Institutionen bzw. Organisationen gesellschaftlicher Legitimität bedürfen, hat die idiomatische Perspektive unmittelbaren Widerhall auf dem Gebiet von Wissenschaftsorganisation, -diffusion und institutionellen Ordnungen im weitesten Sinne. Literatur Ahrens, Jörn: Wie aus Wildnis Gesellschaft wird. Kulturelle Selbstverständigung und populäre Kultur am Beispiel von John Fords Film „The Man Who Shot Liberty Valance“, Wiesbaden 2012. Ashcroft, Bill/Griffiths, Gareth/Tiffin, Helen: The Empire Writes Back. Theory and Practice in Post-Colonial Literatures, London, New York 1989. Assmann, Aleida: Die Legitimität der Fiktion. Ein Beitrag zur Geschichte der literarischen Kommunikation, München 1980. 39 Diese epistemologische Strategie findet sich beispielsweise in Foucaults Diskursbegriff, s. Foucault, Die Ordnung, in Derridas Methodologie der Dekonstruktion, s. Derrida, Signature, sowie in postkolonialen Analyseansätzen (vgl. zusammenfassend Langenohl, Tradition, S. 116 – 249). 40 Bourdieu.
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Andreas Langenohl
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III. Fallstudien zur Institutionalisierung von Soziologie
Die Internationalität und Transnationalität soziologischer Netzwerke nach 1900, mit besonderem Blick auf das Institut International de Sociologie Von Katharina Neef Wissenschaftsgeschichte, besonders wenn sie von Fachwissenschaftlern des betreffenden Fachs verantwortet wird, ist oft eine akkumulative oder Erfolgsgeschichte. Eine gängige Erzählung ist hierbei die Organisationsgeschichte. Sie bietet die Möglichkeit, disziplinäre Verstetigungserfolge klar und anschaulich zu erfassen, zu quantifizieren und zu chronologisieren. Als solche Erfolge gelten etwa das Lehrangebot, die Erteilung der Lehrbefähigung im entsprechenden Fachgebiet, die Einrichtung und Besetzung von Lehrstühlen, die Gründung universitärer (und mit geringerem Interesse auch außeruniversitärer) Institute, die Begründung und Redaktion von Zeitschriften oder die Publikation von Lehrbüchern und Überblickswerken. Daneben haben sich in der wissenschaftsgeschichtlichen Literatur gerade der Geistesund Sozialwissenschaften ideengeschichtliche Überblickswerke etabliert, die oft in einer zeitlichen Abfolge verschiedene, mitunter antagonistische Entwürfe aufeinander folgen lassen, um im jüngsten beziehungsweise im eigenen Paradigma zu enden. Die Soziologie bildet hierbei keine Ausnahme. Einführende Fachgeschichten spannen den zeitlichen Bogen von der Antike bis zur Jetztzeit, historische Ansatzpunkte vor 1900 bemühen dazu gewöhnlich eher ideenhistorische Narrative, wohingegen ab dem 20. Jahrhundert tendenziell auf die organisatorische Einbettung der Disziplin innerhalb eines akademischen Zusammenhangs hingewiesen wird. Nebenher hat sich eine Wissenschaftsgeschichte etabliert, die sich dem teleologischen Zugriff der Disziplingeschichte zu entziehen und akademische Disziplinen als kontingente historische Phänomene zu betrachten sucht. Wissenschaft als soziale Praxis und gesellschaftliche Formation wird so zum Ergebnis eines historisch rekonstruierbaren, aber nicht prognostizierbaren Prozesses, in dem sich bestimmte Positionen, Akteure oder Inhalte in konkreten Situationen und gesellschaftlichen Lagen durchsetzen und etablieren konnten, während dies anderen nicht gelang. Die so entstandene Situation ist wiederum nicht statisch zu verstehen, sondern unterliegt einem Wandel – langfristige wie plötzliche gesellschaftliche Veränderungen, situative und individuelle Faktoren transformieren die Gestalt wissenschaftlicher Disziplinen kontinuierlich. Die Soziologie unterliegt diesem Prozess ebenso, die
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Katharina Neef
Einführung des vorliegenden Sammelbands verweist mehrfach darauf.1 Um diese Kontingenz und Fragilität aufzuzeigen, erweist sich besonders mit Blick auf die Etablierung der akademischen Soziologie zu Beginn des 20. Jahrhunderts die erweiterte Dimension der Organisation als äußerst fruchtbar. Denn die Entstehung einer distinkten wissenschaftlichen Perspektive, wie sie die akademische Soziologie pflegt, verdankt sich eben nicht der Publikation eines Klassikers oder der Einrichtung einer Professur, sondern fand in einem sozialen Feld statt, das als Entstehungsmilieu und als Adressat beziehungsweise Publikum sowohl für Theorien als auch für persönliche Exponenten steht. Dieses Feld war als soziale Verdichtung ein virtueller wie auch ein realer Raum, in dem sinnvoll über konkrete Zusammenhänge – in diesem Fall eben die Formation gesellschaftlicher Phänomene – gesprochen werden konnte. Um 1900 existierten bereits solche Diskursräume und verteilten sich über den gesamten europäischen Kontinent. Dabei kam es insbesondere zwischen 1900 und 1910 zu einem regelrechten Boom, in dem sowohl soziologische Gesellschaften und Vereine als auch Periodika entstanden, welche die unregelmäßige Kommunikation zu verstetigen und durch Publikationen und Kongresse eine (Scientific) Community zu generieren trachteten. Gegenstand der folgenden Überlegungen sind solche dezidiert soziologischen Vergemeinschaftungen, wobei besonderes Augenmerk auf den Aspekt ihrer Internationalität beziehungsweise ihr Fokus auf transnationale Vernetzung und Kommunikationsräume gelegt wird. Gezeigt werden kann so zweierlei: zum einen die Existenz eines übernationalen Kommunikationsraums um 1900, der sich jenseits der sich sporadisch aufeinander beziehenden Klassiker in sozialen und organisatorischen Parametern konstituierte. Zum anderen lassen sich innerhalb dieses Raumes konkrete Erwartungen an Form und Inhalt der Soziologie identifizieren, die noch nicht als kanonisch regulierte Horizonte, aber als relativ häufig verbalisierte und somit durchaus feste Kristallisationspunkte der werdenden Disziplin erscheinen.
1 Vgl. Dörk, Die frühe Deutsche Gesellschaft; ders., Geschichte und die Einleitung dieses Sammelbands.
Paris (1872/1893/1895)
Brüssel (1889/1903)
Graz (1908) Györ (1908)
Wien (1907)
Czernowitz (~1909)
Großwardein (1908)5 Budapest (1901/1907)
Breslau (~1895)
Berlin (1895/1909)
Abbildung 1: Europäische Standorte mit mehr als einer Vereinigung sind dunkel abgesetzt. Mit weißer Schrift finden sich Standorte, an denen sich zusätzlich ein soziologisches Institut befand
London (1904)
Manchester (1904)
Internationalität und Transnationalität soziologischer Netzwerke 59
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Katharina Neef Tabelle 1 Soziologische Gesellschaften nach Sitz2
Berlin
1895: 1909:
Sozialwissenschaftlicher Studentenverein Deutsche Gesellschaft für Soziologie
Bern
~ 1900
Socialwissenschaftlicher Studentenverein
Breslau
~ 1895: Sozialwissenschaftlicher Studentenverein
Brüssel
1889: 1903:
Budapest
1901: 1907:
Institut des Sciences Sociales (ab 1901: Institut de Sociologie de Solvay) Société Belge de Sociologie Társadalomtudományi Társaság (Soziologische Gesellschaft) Magyar Társadalomtudományi Egyesület (Ungarischer Soziologischer Verein)
Czernowitz 1909:
Akademischer Sozialwissenschaftlicher Verein
Graz
1908:
Soziologische Gesellschaft
Györ
1908
Ortsgruppe des Magyar Társadalomtudományi Egyesület
Leipzig
~ 1896
Sozial-Wissenschaftliche Vereinigung
London
1904:
Sociological Society
Manchester 1904:
Sociological Society
München
~ 1909
Sozialwissenschaftlicher Verein
Nagyvarad 1908:
Ortsgruppe des Magyar Társadalomtudományi Egyesület
Paris
1872: 1893: 1895:
Société de Sociologie Institut International de Sociologie (IIS) Société de Sociologie
Wien
1907:
Soziologische Gesellschaft
I. Soziologische Gesellschaften in Europa um 1900 Nachdem die erste soziologische Gesellschaft Europas mit einigem zeitlichen Vorlauf in Westeuropa – in Paris – gegründet worden war,3 betraf der Boom der Neugründungen nach 1900 gerade nicht (oder nicht nur) die vermeintlich wissenschaftsaffinen westeuropäischen Nationen, sondern gerade auch die sogenannte Peripherie (Abb. 1 und Tabelle 1). Zudem wurden in Paris und Brüssel soziologische Institute gegründet, deren Tätigkeiten dem Anspruch nach über die reine Repräsentanz der Wissenschaft ,Soziologie‘ und die Kommunikation hinausgingen, indem sie auch 2 Vgl. Müller, S. 3 f.; Köhnke; Neef, Die Entstehung, S. 159 – 162, und Müller, S. 72. Die Vereinigungen in Leipzig und München lassen sich über ihre Publikationen im KVK recherchieren. 3 Dabei war der 1872 begründeten Société de Sociologie de Paris offenbar kein langes Leben beschieden – zumindest bezieht sich ein historischer Rückblick nur auf die direkte Gründungszeit und grenzt sich von der zu jenem Zeitpunkt bestehenden Société ab, s. Worms, La première Société.
Internationalität und Transnationalität soziologischer Netzwerke
61
Orte der Forschung sein wollten. Struktur und Gründungskontext dieser beiden Einrichtungen sind verschieden, verweisen auf unterschiedliche Ambitionen ihrer Gründer und korrelieren mit ihrer jeweiligen Programmatik. Die enorme Dichte soziologischer Vereine in der Doppelmonarchie ist bemerkenswert und wird von der Existenz der Société Belge de Sociologie flankiert: Besonders in multilingualen und multiethnischen Regionen entwickelte sich um 1900 ein soziologisches Interesse, das sich auch auf sozialer Ebene manifestierte. Keimzellen solchen Interesses waren meist Gelehrtenzirkel an örtlichen Universitäten, etwa in Graz oder Czernowitz (dem heutigen ukrainischen Tschernizwi), doch fungierte gelegentlich auch die „örtliche Intelligenz“ als Träger solcher Vereine, wie in Nagyvarad/Großwardein (dem heutigen rumänischen Oradea) und Györ/Raab. Dass die beiden Letztgenannten unter ihrem ungarischen Namen als Zweigvereine des Magyar Társadalomtudományi Egyesület (Ungarischer Soziologischer Verein) firmierten, offenbart ihre konkrete soziale Verortung. Regionen mit multiethnischen, multireligiösen oder multikulturellen Spannungen stellten ganz bewusst Fragen nach den Regeln menschlichen Zusammenlebens; ihre Fragen waren konflikttheoretischer beziehungsweise praktisch an einer Vermittlung orientierter als in kulturell und ethnisch homogenen Gegenden oder in Metropolen, deren Multikulturalität durch die schiere Varianz nivelliert wurde. „Praktisch orientiert“ heißt in diesem Zusammenhang nicht nur, dass man in der Soziologie eine Beraterin für ein weniger konfliktuöses Zusammenleben sah, sondern auch, dass man die Position der Soziologie grundsätzlich in der Nähe der administrativen Politik verortete. Diese Politikaffinität ist dabei kein Merkmal der Peripherie beziehungsweise der spannungsinduzierten Soziologievereine, sondern findet sich mit anderem Fokus auch in den Gesellschaften der Hauptstädte – zum einen, weil man sich hier als Repräsentanz der Nation verstand und also auch periphere Spannungen (in einer dem politischen Zentrum eigenen Perspektive) aufnahm, zum anderen, weil man sich lokale oder fundamentale soziale Spannungen, etwa zwischen gesellschaftlichen Gruppen, zum Gegenstand machte. Die Nähe zur Politik legte auch die bewusste Ablehnung einer ostentativen Distanz oder Objektivität (im Weberschen Sinne) als Arbeitsvoraussetzung nahe. Im Gegenteil kamen Betroffenheit beziehungsweise Empathie eher als Prestigemarker denn als einschränkender Makel daher. Die Würdenträger der meisten Gesellschaften waren oft auch Mitglieder oder Funktionäre sozialpolitischer oder sozialreformerischer Vereine, im deutschsprachigen Raum etwa dem Institut für den internationalen Austausch fortschrittlicher Erfahrungen, der Deutschen Gesellschaft für Ethische Kultur, dem Bund für Mutterschutz, der Gesellschaft für soziale Reform, dem Deutschen Monistenbund, den verschiedenen Vereinigungen für Frauenrechte oder der Sozialdemokratie. Dass dadurch Spannungen zwischen extensiver, empathischer Betroffenheit beziehungsweise politischer Programmatik und reduktiver, nomothetischer Methode entstanden, wurde zwar zeitgenössisch wahrgenommen, aber als me-
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Katharina Neef
thodologisches Problem negiert und in der eigenen Handlungslogik zu einem auflösbaren Dissens banalisiert.4 Mit Blick auf die Trägerschaft der soziologischen Vereine offenbart sich noch eine weitere Diversität innerhalb des Spektrums, die auf ein Motiv soziologischer Vergemeinschaftung hinweist. Neben den städtischen Eliten traten Studierende als Kristallationspunkte und maßgebende Akteure bei der Bündelung soziologischer Geselligkeit auf. So rekrutierten sich die Studentenvereine in Berlin und Breslau maßgeblich aus Studenten der Nationalökonomie. Ihre Aktivitäten waren politisch durchaus brisant; der Berliner Sozialwissenschaftliche Studentenverein etwa lud als Referenten für Abendvorträge den Gründer der Deutschen Gesellschaft für Ethische Kultur Moritz von Egidy, den freireligiösen Publizisten und Prediger Bruno Wille und den Sozialdemokraten Karl Kautsky ein. Diese deutliche Positionierung im linksprogressiven Feld war zeitgenössisch problematisch, denn der Status der Studierenden als subjunkte Angehörige der Universität setzte sie nicht nur einer möglichen gesellschaftlichen Sanktion, sondern auch der direkten Opposition von Seiten der Professorenschaft aus. So wurde der Verein 1902 kurzerhand durch die Universität aufgelöst, da man ihn für eine sozialdemokratische Tarnorganisation hielt.5 Dabei finden sich weder unter den Referenten noch unter den hervortretenden Studierenden eine besonders große Anzahl von SPD-Mitgliedern, wohl aber typische Reformerbiografien, was sich in der sukzessiven Partizipation vieler Mitglieder an den bereits genannten sozialreformerischen Vereinigungen zeigt. Dabei waren im direkten Vergleich die Berliner Studenten bei der Referentenakquise erfolgreicher als etwa die Czernowitzer Professoren, und dies sowohl hinsichtlich der Zahl als auch der Prominenz der Referenten. Hierbei bleibt es vorerst unerheblich, ob die Berliner Studenten bei ihrer Referentenauswahl provokant-offensiver waren, ob dies dem in der Metropole deutlich höheren Konkurrenzdruck hinsichtlich öffentlicher Veranstaltungen geschuldet war oder ob sie einfach von ihrer infrastrukturell günstigeren Lage profitierten; man entschied sich sicherlich leichter für einen Vortrag in Berlin als in Czernowitz, was einerseits mit ungleich höheren Reisekosten verbunden war, andererseits trotz des guten Rufs von Stadt und Universität als „östlichster Vorposten deutscher Kultur“ eine lange Reise in die Peripherie bedeutete.6 4 Gut zu verdeutlichen ist dieser Konflikt (innerhalb des Feldes wie auch in der Sekundärliteratur) anhand des Monismus. Apologetisch etwa Seidel oder Beck. Vgl. auch „Substanzmonismus“. Die Frage nach dem Kern des Monismus stellt sich seither vor allem in der philosophischen bzw. philosophiegeschichtlichen Literatur: Herzberg; Lübbe, S. 127 – 172, Dorber/Plesse. Vgl. ferner und jünger Pilick; Weber. 5 Köhnke, S. 314. 6 So können als Referenten der Czernowitzer Gesellschaft lediglich der dort ansässige Jurist Eugen Ehrlich und der Wiener Ludo Moritz Hartmann verifiziert werden. Hartmann war ein einschlägig bekannter Sozialreformer und Volksbildner und wartete aufgrund seiner Nähe zur Sozialdemokratie lang auf einen Ruf. Die Czernowitzer Universität war als Erstberufungsuniversität im Vielvölkerstaat etabliert und so mag ein Vortrag hier als Strategie zur akademischen Karriereplanung erschienen sein. Zu Czernowitz und seiner kulturpolitischen Bedeutung s. Heppner sowie speziell zur Universität Weczerka, S. 80.
Internationalität und Transnationalität soziologischer Netzwerke
63
II. Vergemeinschaftungsformen soziologischer Vereine Weiterhin unterscheiden sich die Vereine in der Reichweite, die sie sich selbst zumaßen. Dieser Aspekt ist insofern relevant, als dass sich daraus programmatische, strategische und organisatorische Entscheidungen ergaben: Die jeweilige Zielsetzung beeinflusste das konkrete Vereinsgeschehen maßgeblich, etwa hinsichtlich Vereinsform und -hierarchie, Präsentations- und Publikationswegen oder Mitgliederakquise. Wie bereits anklang, fokussierten einige Vereine vorrangig die lokale gebildete Öffentlichkeit und weniger eine akademische Fachgemeinschaft. Das gilt durchweg für die Vereine in der Peripherie: Czernowitz, Graz, Manchester, Györ, Nagyvarad und Breslau. Diese Vereine adressierten wohl auch die städtische oder regionale Obrigkeit, doch war der primäre Adressat die interessierte (beziehungsweise zu interessierende) Öffentlichkeit. Die Referenten dieser Vereine rekrutierten sich häufig aus dem Mitgliederstamm, oft waren sie Funktionäre des Vereins oder gehörten zum Gründerkreis. Abhängig von den finanziellen Mitteln und der geografischen Lage wurden weiterhin als externe Sachverständige Gastredner eingeladen. Hier lassen sich sowohl erste Diskurskanalisierungen als auch erste Vernetzungsphänomene nachzeichnen. Zunächst konnten einzelne Akteure zumindest eine lokale Diskurshoheit erringen und das Denken über Soziologie und die Erwartungen an diese Wissenschaft in engen geografischen und sozialen Grenzen beeinflussen. Die Frage der überlokalen Einflussmöglichkeit berührt dies vorerst nicht. Zunächst entstanden so direkte soziale Beziehungen, etwa innerhalb des Vereins bei der Auswahl der Referenten, bei der Kontaktanbahnung (durch persönliche oder indirekte publizistische und referenzielle7 Bekanntschaft) und letztlich bei der Reaktion des erkorenen Redners; auf jeder Ebene entstanden (vorerst schwache) Verbindlichkeiten. Der Vortrag selbst, sein Inhalt, seine vereinsinterne wie auch öffentliche Rezeption, ist ein weiterer Aspekt, der vor dem Hintergrund der Diversität von wissenschaftlichen sozialen Praktiken von Interesse ist, denn durch die Mobilität der Redner wie auch durch die allgegenwärtige Publizistik trafen unterschiedliche Idiome aufeinander. Unterschiede aufgrund disziplinärer Herkunft, aber auch durch lokale Sozialisation oder durch unterschiedliche gesellschaftliche Einbindung wurden bei der Lektüre, mehr aber noch bei Vorträgen mit anschließender Diskussion erkennbar. Doch bei aller Streitbarkeit: Mangels Institutionalisierung und damit auch mangels Kanonisierung standen sich notwendigerweise verschiedene Sprechweisen und Vorstellungen von Soziologie gegenüber, die um den Diskurseinfluss konkurrierten. Ohne distinktes akademisches Prestige – im Sinne einer universitären Anbindung an ein Fach ,Soziologie‘ als formale Anerkennung von Diskursmacht – mussten andere Formen sozialen Kapitals instrumentalisiert werden, etwa politische
7 Gemeint ist hier die Praxis, in brieflichen Anschreiben auf gemeinsame Bekannte zu rekurrieren, die – ohne explizit als solche benannt zu sein – als Referenz bzw. Rückfragepunkt dienen können. Umgekehrte Fälle sind das direkte Empfehlungsschreiben oder das Einschalten eines gemeinsamen Bekannten als Kontaktvermittler.
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Katharina Neef
oder publizistische Vernetzung, Möglichkeiten der Verfügbarmachung von finanziellen Ressourcen8 und letztlich auch persönliches Charisma. Das Sprechen über Soziologie wurde auch dadurch diversifiziert, dass die unterschiedlichen fachlichen Provenienzen, die beruflich oder politisch bestimmten Perspektiven der Akteure und die asymmetrische Sprechsituation vor einem vermeintlich homogenen Publikum auf einen lokal fremden Sprecher und Gast zusätzlich entfremdend wirkten. Dabei zeichneten sich weder die akademischen Referenten noch die Referenten eher praktischen Hintergrunds durch einen Mangel an Selbstbewusstsein in dieser distinkten Situation aus. Für die professoralen „Monaden“ war es ohnehin Ausdruck habitueller Vollkommenheit, ein „originelles, vollständiges und geschlossenes System [ihrer] Disziplin vorzulegen“ und dabei dem möglichst starken Gegenwind der rivalisierenden Kollegen standzuhalten.9 Den Praktikern andererseits mangelte es zwar an diesem akademischen Prestige, obgleich auch sie fast gänzlich Universitätsabsolventen waren, doch kompensierten sie diesen Mangel durch autodidaktische Expertise, Erfahrungskompetenz und vor allem durch politisch oder weltanschaulich motiviertes Sendungsbewusstsein, das ihren Rednertätigkeiten einen geradezu missionarischen Charakter verlieh.10 Ein weiterer Aspekt, der hier nur erwähnt werden kann, der aber bei der Etablierung differierender Idiome in der frühen deutschsprachigen Soziologie ebenfalls eine Rolle spielte, sind die verschiedenen Transfer- und Übersetzungsleistungen, welche die Diskussionen und geselligen Gespräche im Nachgang beziehungsweise die Berichte in der Tagespresse darstellen. Besonders die letztgenannte Schnittstelle gelehrten Redens und öffentlichen Interesses wirkte maßgeblich popularisierend auf das nicht-akademische Publikum und dessen (politisch durchaus instrumentalisierbaren) Erwartungshorizont an die verhandelte Soziologie. Gleichzeitig offenbarten sich in der Presse typische idiomatische Verschiebungen wie vom Akademischen ins Praktische – ein Prozess, den das politikaffine Lager innerhalb des soziologischen Felds durchaus unterstützte und gern wie dankbar replizierte.11 8
Der Zugang zu finanziellen Ressourcen stellt an sich kein ökonomisches Kapital dar. Vielmehr handelt es sich um ein soziales Kapital, nämlich die Zuschreibung, potentiell in der Lage zu sein, Mittel verfügbar zu machen. Vgl. dazu am Beispiel von Migrantengemeinden Nagel, S. 19. 9 Fremde Theorien „in toto zu ,übernehmen‘ wäre dem Eingeständnis der eigenen Inferiorität gleichgekommen.“ Alle Zitate aus Fogt, S. 247. 10 Als Beispiele seien hier nur die Galionsfigur des Genossenschaftswesens Franz Staudinger oder der Internationalist Rudolph Broda genannt. Staudinger war neben seiner beruflichen Tätigkeit als Gymnasiallehrer, Broda hauptberuflich als Referent für verschiedenste Veranstalter bereit, sozialpolitische, -reformerische und/oder soziologische Themen an das lokale bis internationale Publikum zu bringen. Ergänzt wurde die rednerische Tätigkeit durch massive publizistische Aktivitäten. Zu beiden fehlt bislang eine wissenschaftliche Biografie. 11 Die diskursiven Einflüsse der Tagespresse im Kaiserreich sind nicht systematisch erforscht. Zwar gibt es einzelne Studien zu konkreten Themen und im biografischen Kontext einzelner Koryphäen, doch fehlt hier aus nachvollziehbaren methodischen Gründen die gesamte Rezeptionsseite.
Internationalität und Transnationalität soziologischer Netzwerke
65
Das proaktive, politische Lager versuchte verschiedentlich, seine inhaltlichen wie auch organisatorischen Vorstellungen im Diskurs zu etablieren und damit die akademische Entwicklung der Soziologie zu lenken.12 Die frühe Entstehungsphase der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS) exemplifiziert die hierbei motivierende wie handlungsleitende Interkonnektivität von Lebenswelt, Epistemen und (Inter) Aktion: Die sozialreformerisch Aktiven unter den Gründern der Gesellschaft favorisierten die Organisation der DGS als Dachverband. Dabei sollte der so entstehende Reichsverband sich vor allem der internationalen Vernetzung13 und der Kommunikation mit der Politik und anderen gesellschaftlichen Akteuren widmen. Unterhalb dieser repräsentativen Ebene sollten sich hernach Ortsgruppen gründen, die das lokale Engagement und die lokale Vernetzung durch Ausrichtung öffentlicher Vorträge und Diskussionsabende, Einrichtung von Lesezimmern und Diskussionsgruppen oder Kooperation mit anderen lokalen Gesellschaften und Akteuren weiter zu fördern und zu nutzen hätten. Das repliziert deutlich die Struktur lebens- und sozialreformerischer Geselligkeit, viele Befürworter einer solchen soziologischen Vergesellschaftung waren gleichzeitig Mitglieder oder Funktionäre solcher Verbände.14 Die Organisation von Ortsgruppen und Dachverband sowie regelmäßigen Delegiertentreffen entsprach nicht zuletzt auch der Parteienstruktur; unter den parteipolitisch aktiven Begründern der DGS finden sich etliche Liberale und Sozialdemokraten. Der beständig versuchte Import lebensweltlicher sozialer Erfahrung in die wissenschaftliche Formation replizierte einen spezifischen reformerischen modus operandi, der klassisch szientistisch die optimale, prestigeträchtigste und sicherste Anerkennung der (eigenen) Reformarbeit in ihrer Begründung innerhalb des wissenschaftlichen Systems identifizierte.15 Der sozialreformerische Flügel der DGS zielte ganz bewusst auf die Verwissenschaftlichung der Grundlage seiner Arbeit – die Bearbeitung der Phänomene zwischenmenschlichen Interagierens und Zusammenlebens. „Verwissenschaftlichung“ wurde dabei im Sinne einer positivistischen Weltsicht in den Parametern einer vermeintlich empirischen Nomothetik verstanden.16 Robert Michels berichtete hochdiplomatisch von dem internen fundamentalen Widerstreit beider Positionen: „Devait-elle être, comme certains de ses membres le voulaient, une société de propagation, ayant comme but de faire pénétrer les éléments de la sociologie dans la mentalité du peuple lui-même? Ou devait-elle être, au contraire, une société purement scientifique et tendant uniquement à fixer les bases mêmes de la nouvelle science? Ce qui prévalut dans cette
12
Vgl. dazu und zum folgenden: Neef, Die Entstehung, S. 182 – 192. Die frühe DGS hat sich ausnehmend mit der Frage ihrer organisatorischen internationalen Einbindung befasst. Vgl. Rol, S. 387 – 390. 14 Vgl. Dörk, Die frühe deutsche Gesellschaft, sowie ferner Kaesler und Neef, Die Entstehung. 15 Vgl. Randeraad; Verbruggen/Carlier. 16 Schmidt-Lux. 13
66
Katharina Neef lutte, qui d’ailleurs est loin d’être terminée, ce fut un courant intermédiaire, mais qui tient certainement plus de la dernière conception énumérée.“17
Gleichzeitig zeigten die intensiven Debatten der Frühphase den Widerstand gegen dieses Verständnis von Vergesellschaftung. Gegen die maßgeblich außeruniversitär agierenden Sozialreformer formierte sich die von Berufsakademikern getragene Akzeptanz des gegenteiligen Entwurfs, nämlich einer deutlichen sozialen Trennung wissenschaftlicher und politischer Arbeit, die man als zwei voneinander völlig verschiedene Praxisformen identifizierte, was letztlich zu einer sozialen Trennung beider Akteursgruppen bei der Wiedergründung der DGS im Jahre 1922 durch die Vorschaltung von Bürgen für Beitrittsaspiranten führen sollte. Der Wunsch nach kognitiver wie biografischer Trennung beider Sphären, der auch den bis 1914 schwelenden Werturteilsstreit trug, begleitete nicht nur die Formierung der sozialwissenschaftlichen Disziplinen (etwa in den Auseinandersetzungen um den Kathedersozialismus des Vereins für Socialpolitik), sondern beeinflusste auch den Historismusstreit; auch hier finden sich Positionsgrenzen, die gleichsam (doch nicht nur) entlang der generationellen Grenzen verliefen.
III. Kongressorganisation (inter)nationaler Gesellschaften Die vordringlichste Vergesellschaftungsform stellten neben den öffentlichen Vorträgen die deutlich seltener veranstalteten Tagungen und die ubiquitären Periodika dar. Auch sie sind institutionalisierte Vernetzungsformen und maßgeblich relevante protodisziplinäre Diskursarenen. Doch anders als die lokal fokussierenden Abendvorträge führten die beiden letztgenannten Formen weg von den lokalen und hin zu nationalen beziehungsweise internationalen Fachgesellschaften.18 Die Veränderung der Reichweite, welche die Vereinigungen avisierten, verdeutlichte dabei nicht nur den Wechsel der Kommunikationsform, sondern damit einhergehend auch den Wechsel des Anspruchs an diese Treffen beziehungsweise den virtuellen Kommunikationsraum einer Zeitschrift. Dabei stellte zum einen das umfangreiche publizistische Berichtgeschehen (wie auch schon auf lokaler Ebene bei den Vorträgen in der Tagespresse) einen Faktor sowohl der Popularisierung wie auch der maßgeblichen Diffusion intellektueller Debatten um Soziologie dar. Zum anderen etablierte sich gerade im sozialreformerischen Milieu mit der bibliografischen Bewegung ein Instrument, das dieses breite nationale und internationale publizistische Geschehen zu kanalisieren und zu systematisieren gedachte, um eine optimale und zeitökonomische Rezeption zu gewährleisten. Dass sich die deutschen Vorreiter der Bibliografisierung unter den Sozialreformern fanden – allen voran der Herausgeber der Bibliographie der Sozialwissenschaften und der Dokumente des Fort17
Michels, La Société Allemande, S. 811. Auf eine genauere Betrachtung der Zeitschriften muss an dieser Stelle verzichtet werden. Vgl. dazu Neef, Die Entstehung, S. 210 – 235. 18
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schritts sowie Schriftleiter der DGS Hermann Beck – verwundert wenig, denn das Bemühen, wissenschaftliches Arbeiten und den Austausch von Ergebnissen besser zu organisieren, durchzog zwar sämtliche Disziplinen, setzte aber naturgemäß dort an, wo es die Akteure selbst betraf.19 Die bibliografische Bewegung war zuerst ein direkter Reflex auf das schiere quantitative Wachstum universitären Arbeitens seit dem frühen 19. Jahrhundert, das um 1900 noch einmal einen europaweiten Schub erfuhr, gleichzeitig reagierte sie auch auf die qualitativen Veränderungen intellektueller Arbeit, etwa die disziplinäre Diversifikation und die Blüte der Publizistik, die zu einer individuell unüberblickbaren Vielfalt hochspezialisierter Fachdiskurse führten. Die verschiedenen Bibliografisierungsbestrebungen nach 1900 spiegelten die akademischen wie intellektuellen Verlustängste diskursiver Anschlussfähigkeit ebenso wie den Unwillen, unnötige Ressourcen z. B. in Recherchearbeiten zu investieren. Ziele der Bibliografen waren sowohl die technische Verbesserung der Informationssituation als auch die Unterstützung sozialen Fortschritts.20 Während das abendliche Vortragsgeschehen und Teile der Publizistik auf den Dialog mit politischen und anderen gesellschaftlichen Kräften zielten, orientierte sich das Kongressgeschehen dagegen eher am akademischen Tagungsgebaren. Das heißt, die Organisatoren und das gesamte Prozedere trugen für die Selektion der Partizipierenden Sorge, etwa durch die gemeinschaftliche Praxis eher akademischer als politischer Modi der Kommunikation. Die Referenten wurden eingeladen,21 in den Diskussionen waren nur Mitglieder redeberechtigt, die dann eher korreferierten, und Texte wurden zum Teil vorzirkuliert, um die Diskussion zu schärfen. Das gesamte Tagungsgeschehen replizierte dabei deutlich die hierarchischen Gefälle der Ordinarienuniversität, wenn auch die Debatten zum Teil als tumultuös beschrieben wurden. Dass trotzdem Habitus und Hierarchie gewahrt blieben, obgleich die Nichtordinarien in allen Gesellschaften personell stärker aufgestellt waren, zeigt zweierlei: zum einen die enorme Normativität des akademischen Habitus als Referenzkultur, zum anderen, dass die Soziologie, in der sich trotz der verschiedenen Verteilung
19
Hermann Becks Impetus beschränkte sich hierbei nicht auf die sozialwissenschaftliche Literatur. Dem Institut für Sozial-Bibliographie, das als Herausgeber der Bibliographie der Sozialwissenschaften und der Kritischen Blätter für die gesamten Sozialwissenschaften fungierte, gesellte er ein Institut für Techno-Bibliographie und ein Institut für die Bibliographie der Rechtswissenschaften bei, die eine entsprechende Sammlungsleistung in ihren Gebieten vollbringen sollten. Alle drei Institute vereinte Beck 1913 zum Deutschen Archiv der Weltliteratur. Vgl. Rol, S. 38 und Hapke, 144 f. 20 Vgl. Behrends. 21 Die Praxis der angefragten und eingeladenen Referenten findet sich wie beschrieben selbstverständlich auch in politisch aktiven und sozialreformerischen Kreisen. Doch treten hier neben diese eben auch die Praktiken offensiver Bewerbung, d. h. Redner machten interessierten Gruppen Angebote, bei ihnen sprechen zu wollen, organisierten regelrechte Tourneen oder finden sich auf Rednerlisten, in denen potentielle Veranstalter ausgewiesene Experten für bestimmte Themengebiete nachschlagen und kontaktieren konnten. Vgl. etwa Hasse; Henning.
68
Katharina Neef
von Prestige die konkreten Hierarchien noch im Aushandlungsprozess befanden, nicht etabliert war.22 Dabei offenbarten sich innerhalb der verschiedenen Gesellschaften gänzlich unterschiedliche Strategien im Umgang mit Dissonanzen beziehungsweise generell Differenzen im Konfliktpotential. So konstituieren sich die Verhandlungen der Deutschen Soziologentage geradezu aus grundlegenden Kontroversen über die Definition etwaiger Grundbegriffe und um methodologische und praktische Fragen soziologischen Arbeitens. Der Werturteilsstreit war dabei nur das prominenteste Beispiel einer Reihe von Kontroversen in einer nationalen Gesellschaft, die sich aus mehreren Lagern konstituierte, die miteinander um verschiedene Programmatiken, Agenden und Formen der Soziologie rangen.23 Tabelle 2 Kongresse des Institut International de Sociologie24 1.
1894
Paris
2.
1895
Paris
3.
1897
Paris
4.
1900
Paris
5.
1903
Paris
6.
1906
London
Les Luttes Sociales
7.
1909
Bern
La Solidarité Sociale
8.
1912
Rom
Le Progrès
9.
1915
Wien
L’autorité
IV. Tagungsgeschehen des Institut International de Sociologie Diesem Gebaren diametral gegenüber standen die internationalen Kongresse des Institut International de Sociologie (IIS), die seit 1893 jährlich in Paris und ab 1900 in dreijährlichem Rhythmus an wechselnden europäischen Gastorten stattfanden (Tabelle 2). Ab 1906 stellte man die Tagungen zudem unter generelle Themen, die ganz bewusst die Auseinandersetzung mit politischen und sozialen Zeitfragen suchten. Auffallend an dem Institut und den ihm beigesellten Kongressen ist dabei die programmatische Offenheit. Obgleich der Geschäftsführer und spiritus rector des Instituts, René Worms, über dreißig Jahre hinweg im Amt war, verschrieb sich das Institut keiner soziologischen Richtung, sondern versuchte, eine Bühne für einen offenen Diskurs über Soziologie und soziologische Fragen zu bieten. Die Kongresse 22
Den Hinweis auf die Ambivalenz von Tumult/Unetabliertheit und Hierarchie verdanke ich Uwe Dörk. 23 Vgl. u. a. Mikl-Horke. 24 Der neunte Kongress fand kriegsbedingt nicht statt und wurde letztlich 1927 in Paris veranstaltet.
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waren zeitlich großzügig geplant, es wechselten Referate und Diskussionen, bei denen alle Teilnehmer Rederecht hatten.25 Zudem bot das Programm genügend Möglichkeiten, um Netzwerke zu bilden oder bereits bestehende Netzwerke auszuweiten. Robert Michels charakterisierte nicht ohne Seitenhieb den Deutschen Soziologentag als Kontrastfolie: „A celui qui venait, comme l’auteur de ces lignes, du congrès que notre Institut venait de tenir à Rome, ne pouvait pas échapper la différence fondamentale de tournure qui séparait ces deux assemblées. Le Congrès de Berlin était le prototype du Congrès travailleur, de l’Arbeitskongress, comme disent les allemands: aucune note choréographique, aucune harangue, aucune participation de corporations publiques […], aucune salutation de la part de qui que ce soit; de plus: aucune fête, aucune réception, aucune banquet, aucune excursion. Rien, rien que du travail, concentré, absorbant.“26
Es offenbaren sich zwei völlig verschiedene Auffassungen davon, was ein Kongress sei und wozu er diente. Während sich in der DGS, korrespondierend mit der satzungsmäßigen Etablierung des Werturteilsparagrafen, ein dezidiert objektivierender Habitus durchsetzte, waren die Kongresse des IIS, vergleichbar mit den Tagungen der Reformvereinigungen und Kulturgesellschaften, als Vergemeinschaftungsorte angelegt – wichtiger als die Referate waren die Treffen als Räume des Kennenlernens, der direkten Kommunikation und des Netzwerkens. Dadurch hoffte Worms, ein stabiles Beziehungsgeflecht zu fabrizieren, das europaweit die Etablierung der Soziologie vorantreiben könnte. Paris kam hierbei die Rolle des Zentrums zu. Allerdings wehrten sich einige Teilnehmer gegen eine allzu starke Vereinnahmung für Worms’ Agenda.27 Dabei lassen sich im Laufe der Jahre bei aller programmatischen Offenheit trotzdem deutliche Verlagerungen erkennen. So ließ nach 1900 die aktive Tagungsteilnahme deutscher hauptamtlicher Akademiker28 sichtbar nach – Mitglieder der ersten Ge25
Gänzlich demokratisch war auch dieses Gebaren nicht: Teilnehmer mussten dem Institut als Mitglied angehören oder assoziiert sein, doch scheint dies eine mit der Zahlung des Entrée verbundene Formalie gewesen zu sein. Kulturell klafft hier allerdings eine enorme Lücke, denn Werner Sombart trat umgehend von seiner Kooptation zurück, als er erfuhr, dass er ,nur‘ Mitglied zweiter Klasse war, vgl. Rol, S. 380, vgl. ferner Schuerkens. 26 Michels, Le 2e congrès, S. 829. Soziologentag und IIS-Kongress erscheinen Michels offenbar als Gegensatz – auch im Hinblick auf die Publikationsform: hier die Verhandlungen des Soziologentags mit den wenigen Vorträgen und den teilweise ausufernden Koreferaten, dort die Annales de l’Institut International de Sociologie mit einer Fülle von Referaten und meist kurzen Diskussionen. Allerdings stellt der Soziologentag 1912 insofern eine Ausnahme dar, als dass Empfänge, politische Gastredner und Kulturprogramm auch die anderen Soziologentage prägte (Hinweis von Uwe Dörk). Inwieweit Michels hier also auch einen Kontrast konstruierte, muss vorerst dahingestellt bleiben. 27 Rol, S. 379 – 381. Rol rekurriert dabei auch auf ein Bonmot Gabriel Tardes, der – obgleich wohlmeinend – von Worms als einem „omnivoren Agitator“ sprach, s. ebd., S. 368. 28 Hauptamtliche Akademiker meint hier vor allem Professoren deutscher Universitäten, die (im Gegensatz zu Honorarprofessoren) ihren Lebensunterhalt von universitärer Tätigkeit bestritten. Diese sind zu scheiden von anderen Akademikern, die zwar samt und sonders eine universitäre Ausbildung absolviert hatten, aber eben beruflich in der freien Wirtschaft oder der
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neration wie Georg Simmel und Ferdinand Tönnies nahmen nicht mehr an den Kongressen teil und publizierten auch nicht mehr in den Institutsreihen, obgleich z. B. Georg Simmel noch 1900 um Mitglieder warb: „Herr René Worms in Paris hat sehr eindringlich um meine Vermittlung bei Ihnen gebeten, um Sie zur Mitgliedschaft des Instituts International de Sociologie zu bewegen. […] Thatsächlich zählt das Institut […] eine Anzahl ausgezeichneter internationaler Namen. Aus Deutschland z. B. Brentano, Wagner, Conrad, Bücher u. a. – also doch immerhin Leute, mit denen man, trotz wissenschaftlicher Gegnerschaft, in einer Vereinigung zusammen sein kann, ohne sich zu kompromittiren“.29
Zugleich wurde die avancierende soziologische Kohorte30 nicht Mitglied des Instituts, wenngleich sie sich unter den Assoziierten fand. Ob hierfür allerdings der Unwille zur Vollmitgliedschaft oder der Umstand der Mitgliederbegrenzung entscheidend waren, ist unklar. In jedem Fall ging die deutsche Kongressteilnahme massiv zurück. Im Zuge der Polarisierung der deutschen Debatte um die Positionierung der Soziologie im Werturteilsstreit verschwanden die Verfechter einer wertneutralen oder zurückhaltenden Position zunehmend aus dem offenen soziologischen Forum. Dabei handelte es sich weniger um eine aktive Marginalisierung, denn um einen Rückzug aus Desinteresse. Die so entstandene Lücke wurde bereitwillig von wertpositiven, politiknahen Vertretern ausgefüllt. Die Tagung, die für den Herbst 1915 in Wien geplant war, hätte eine direkte Zusammenarbeit des Pariser Instituts mit der örtlichen Soziologischen Gesellschaft, mit Rudolf Goldscheid und mit dem Wiener spätaufklärerischen Milieu bedeutet und den Verein wie auch Goldscheid persönlich europaweit als intime Teile des Netzwerks und damit als professionelle Soziologen legitimiert. Der direkte Nexus der Wiener Soziologen mit der „Spätaufklärung“31 verweist unmittelbar auf Uwe Dörks Typen sozialwissenschaftlicher Distanz: Die politikaffinen Soziologen, wie sie sich vornehmlich, aber nicht nur in der Wiener Gesellschaft fanden, waren Vertreter des ersten Typus, wenngleich sie im Rahmen der Typologisierung Dörks verhältnismäßig spät auftraten. Während die Objektivität fordernden Soziologen mit dem aufklärerischen, letztlich pädagogischen Verständnis bewusst brachen, stellte man sich hier ostentativ in eine kontinuierliche Tradition und abstrahierte aus der Reflexion über eigenes oder beobachtetes Denken und Handeln konkrete soziale Praxis zu anthropologischen Grundmustern. Ebenfalls genuin aufklärerisch waren einerseits der Wille zur Diffusion der Erkenntnis, d. h. zur pädagogischen Anleitung beziehungsweise zur Popularisierung, und andererseits die Verwaltung tätig waren. Deren auch internationales akademisches Prestige war durchaus geringer einzuschätzen. Vgl. dazu im Kontext von Wilhelm Ostwalds wissenschaftsorganisatorischem Engagement: Neef, Sozialwissenschaft, S. 326 f.; dies., Die Entstehung. 29 Georg Simmel an Gustav Schmoller am 28. 07. 1900, zitiert in: Simmel, S. 351 f. 30 Vgl. Kaesler. Die betreffende Soziologengruppe sind die „Väter“ und „Söhne“ (während Tönnies und Simmel die „Großväter“ im Übergang zu den „Vätern“ repräsentieren). 31 Stadler.
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Identifikation der Wissenschaft als maßgeblichem Stichwortgeber und Anleiter hierbei und bei der Implementierung in politische Handlungsabläufe (Szientismus).
V. Ergänzung oder Gegenpol: Die Revue International de Sociologie Ein etwas anderes Bild ergibt eine Analyse der ebenfalls von René Worms herausgegebenen Revue Internationale de Sociologie, die sich aber nicht als Organ des Instituts verstand, sondern der Société de Sociologie de Paris diente, deren Generalsekretär ebenfalls René Worms zeitweilig war. Obgleich auch der Titel dieser Zeitschrift einen internationalen Fokus versprach, wurde dieser nur zur Hälfte eingelöst. Zwar publizierten häufig internationale Gelehrte in französischer Übersetzung (die Überschneidungen mit neuberufenen Institutsmitgliedern beziehungsweise Assoziierten sind frappant), doch scheint der Leserfokus deutlich im Inland gelegen zu haben – Information über die Welt, aber nicht für die Welt. Davon zeugen etwa die umfangreichen Sitzungs- und Diskussionsprotokolle der Société de Sociologie de Paris, die Pariser Theaterkritiken (die sich hinter der Rubrik „La vie sociale au théatre“ verbergen) oder der Umstand, dass der Rezensionsteil zwar umfangreich und international wie fachlich breit aufgestellt, aber letztlich von einem sehr kleinen Personenkreis aus dem direkten Umfeld Worms’, der Société und des Instituts verantwortet wurde. Zudem lässt sich eine Vielzahl der Artikel französischer Autoren auf einen ebenfalls verhältnismäßig kleinen Stamm eingrenzen, die oft gleichzeitig Mitglieder oder Assoziierte des Instituts, Mitglieder der Pariser Gesellschaft und/ oder regelmäßige Kongressreferenten waren.32 Und so ist es wohl dem letztlich auf den nationalen Diskurs abzielenden Fokus zu verdanken, dass sich die Revue zwar einer enormen Bandbreite soziologischer Vorverständnisse öffnete, der produktive Diskurs, d. h. die direkte Bezugnahme aufeinander, und die Debatten aber maßgeblich unter Franzosen stattfanden, ein Umstand, der sicherlich auch den spezifischen Voraussetzungen der Soziologie in Frankreich geschuldet war.33 Besonders deutlich wird dies im Rezensionsteil, in dem diskutable Werke mitunter nur angezeigt und grob inhaltlich verortet werden – ganz anders im binnenfranzösischen beziehungsweise frankophonen Diskurs, in dem durchaus Ansprüche auf Deutungshoheit und Kritik an Diskursverhalten erhoben wurden.34 Ob dieses Verhalten nur dem 32 Prominente Autoren bzw. Stammpersonal der Kongresse sind etwa Arthur Bochard, Raoul de la Grasserie, Paul Grimanelli, Yves Guyot, Maxime Kovalewsky, Casimir de KellesKrauz, Alfred Lambert, Achille Loria, Charles-M. Limousin, Henri Monin, Jacques Novikow, Eugene de Roberty, Ludwig Stein oder Gabriel Tarde. Dieser Eindruck verstärkt sich dadurch, dass einige der Genannten über Jahre hinweg regelmäßig, teilweise mehrmals jährlich in der Revue publizierten. 33 Einschätzungen zur Situation der französischen Soziologie verdanke ich Judith Zimmermann, Leipzig, und Zimmermann. 34 Vgl. etwa Worms, Rezension (Herv. i. Orig.). Worms beschreibt darin grob Ostwalds Idee einer monistischen Generaltheorie und meint dann konziliant: „Ce n’est pas ici le lieu de la juger.“ Zu den französischen bzw. belgischen Kollegen heißt es dagegen: „Nous n’avons pas
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französischen Fokus und Leserstamm geschuldet war oder ob es sich um einen Beleg für die Differenziertheit des internationalen soziologischen Idioms in Form nationalsprachlicher Idiolekte und damit die mangelnde inhaltliche Auseinandersetzung mit fremd(sprachlich)en Theorien beziehungsweise ihre rein koloniale Aneignung im eigenen Begriffshorizont handelte, sei an dieser Stelle dahingestellt.35 Die dem binnenfranzösischen Revue-Diskurs gegenüberstehende programmatische Offenheit von Institut und Annales positionierte sich als Strategie personeller, institutioneller wie theoretischer Integrativität und stellte einen allgegenwärtigen Aspekt reformerischer Praxis dar, nämlich die Tendenz zur „Synthese“, den man zeitgenössisch „Kartellierung“ nannte.36 In der Offenheit, mit der Mitglieder und Assoziierte eingeladen und gewonnen wurden, zeigt sich der Wille Worms’ und seiner Mitstreiter, alle möglichen Ressourcen im Dienste der Etablierung und Voranbringung der Soziologie zu mobilisieren, miteinander in Diskussion zu bringen und vermittelnd zu einem Diskurs zu synthetisieren. In dieser Offenheit des Versuchs der Formation eines gesamteuropäischen soziologischen Diskurses lagen zugleich die Gründe seines Scheiterns. Zum einen wirkte der moderierende Anspruch auf einige Teilnehmer hegemonial und vereinnahmend, sodass sich einzelne Akteure zurückzogen. Zum anderen kam es auf den Kongressen ebenso wie in den Publikationen des Instituts trotz aller Versuche nicht zu konstruktiven Debatten um Ziele und Begriffe der Soziologie, stattdessen redeten in der Weite des Kongresses beziehungsweise schrieben in den letztlich additiven Bänden alle nebeneinander her – jeder durfte sich positionieren, doch musste keiner Bezug auf andere Entwürfe nehmen. Das heißt nicht, dass kein Wissenstransfer stattgefunden hätte; das Institut mit seiner Publizistik und Sozialität war ein zentraler Kristallationspunkt europäischen soziologischen Austauschs. Doch sind diese Austauschprozesse inhaltlich nicht so intensiv und nachhaltig gewesen, wie sie dem Selbstverständnis nach hätten sein sollen: Es kam eben nicht zur Formation einer transnationalen Soziologie. Die Kongresse des IIS standen damit eher in der Reihe der damals blühenden Weltausstellungen, die eher als internationale Leistungsschauen fungierten denn „Arbeitskongresse“ waren. Die beeindruckende Teilnehmerliste bildete so letztlich weniger eine internationale Kommunikation als den Wunsch nach möglichst prestigeträchtiger Repräsentation ab. So blieben Transfer- und Übersetzungsleistungen wie etwa eine Vermittlung verschiedener nationaler oder disziplinär verhandelter Idiome marginal. à critiquer ici cette attitude théorétique, parfaitement admissible. Nous ne croyons pas cependant que, dans l’état rudimentaire où est actuellement la sociologie, il soit très profitable de défendre dans une Revue une tendance doctrinale nettement définie, qui, dans l’état actuel de la science, ne peut être que conjecturale, comme le fait ce Bulletin à l’exemple de l’Année Sociologique; cela ne peut que contribuer à accroître les divergences entre savants, qui sont le plus grand mal dont souffre présentement la sociologie.“ Vgl. Maunier. 35 Den Hinweis verdanke ich Uwe Dörk. 36 Während man den ökonomischen Vorgang des nordamerikanischen trust building negativ beurteilte, stellte die Handlungsoption im Reformermilieu eine erfolgversprechende Option dar. Vgl. Dokumente des Fortschritts und Henning. Vgl. zur Imagination einer transnationalen freidenkerischen bzw. antiklerikalen Bewegung Dittrich.
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Tabelle 3 Präsidien des Institut International de Sociologie zwischen 1894 und 191337 Jahr
Präsident
Vizepräsidenten
1894
John Lubbock
E. Ferri
J. Novikow
A. Schäffle
G. Tarde
1895
Albert Schäffle
D. Gallon
L. Gumplowicz
M. Kowalewsky
Ch. Letoumeau
1896
Alfred Fouillée
G. de Azcarate
L. Courtney
P. de Lilienfeld
C. Menger
1897
Paul de Lilienfeld
L. Brentano
A. Espinas
R. Gilfen
F. Giner de los Rios
1898
Gumersindo de Azcarate
J. Conrad
R. Garofalo
Ad. Prins
H. Sidgwigk
1899
Achille Loria
E. Goblet d’Alviella
N. Kareiev
A. Marshall
F. Tönnies
1900
Guillaume De Greef
V. Bogisic
F. Harrison
M. Sales y Feite
G. Simmel
1901
Carl Menger
C. Fr. Gabba
F. H. Giddings
J. L. Tavares de Medeiros
E. van der Rest
1902
Valtazar Bogisic
K. Bücher
J. Costa
H. S. Foxwell
E. Worms
1903
Lester F. Ward
H. Denis
L. Luzzatti
E. de Roberty
Ad. Wagner
1904
Edward B. Tylor
E. Levasseur
A. Menger
N. Mikhailovsky
V. Santamaria de Paredes
1905
Gustav Schmoller
L. Bodio
A. Dicey
P. Heger
I. lanschul
1906
Emile Levasseur
E. von BölunBawerk
Ed. Sanz y Escartin
A. Tchouprov
C.D. Wright
1907
Maxime Kowalewsky
E. Delbet
J. S. Nicholson
G. Sergi
W. Wundt
1908
Francisco Giner de los Rios
J. Dallemagne
T. G. Masaryk
A. W. Small
Ed. Westermarck
1909
Raffaele Garofalo
L. Bourgeois
B. Földes
C. S. Loch
L. Stein
1910
Hector Denis
J. M. Baldwin
E. Grosse
L. Manouvrier
1911
Ludwig Stein
G. Arcoleo
Ch. Gide
J. S. Mackenzie
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Bureaux successifs.
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Katharina Neef Tabelle 3 Präsidien des Institut International de Sociologie (Fortsetzung)
1912
Eugen BöhmBawerk
F. Buisson
A. Buylla
L. Loutchisky
1913
Franklin H. Giddings
Th. Braga
E. Vandervelde
R. Worms
VI. Die Präsidien des IIS Die Liste der Vorstände des Instituts (Tabelle 3) ist aufschlussreich: Sie zeigt das Interesse Worms’, in seinem Institut einen möglichst breiten, internationalen und prestigeträchtigen Mitgliederstamm repräsentiert zu sehen. Eine Analyse der Zusammensetzung der jährlich wechselnden Präsidien offenbart die beeindruckende Internationalität, die neben einer starken Besetzung der mittel- und westeuropäischen Staaten sowie der Vereinigten Staaten auch die Peripherie Ost- und Südeuropas zu integrieren wusste – mit (Vize)Präsidenten aus Russland, Montenegro, den österreichisch-ungarischen Kronprovinzen, Italien, Spanien und Portugal. Zudem wurde bei der Auswahl der Mitglieder auch streng auf deren Abwechslung geachtet; kein Mitglied gehörte dem Präsidium mehr als zweimal und nur in verschiedenen Funktionen an. Worms selbst, ab 1910 ein hinzugewählter Schatzmeister und ein Prüfer hatten demgegenüber feste Positionen im Institut.38 Gleichzeitig ergibt ein Blick auf die beruflichen Provenienzen, dass die Präsidien sich nur zum Teil aus Professoren zusammensetzten (die mehrheitlich nicht für Soziologie berufen waren) – regelmäßig fungierten Staatssekretäre, Minister, Juristen und Honorarprofessoren als Mitglieder des Präsidiums. Dies muss mit einer weiteren Beobachtung zusammengebracht werden: Die Zusammensetzung sowohl der einzelnen Präsidien als auch ihre Abfolge erweist sich als in inhaltlicher Hinsicht völlig arbiträr, es gehörten nie zwei Vertreter eines Landes einem Präsidium gemeinsam an und die Nationalität des Präsidenten wechselte im Jahrzehntrhythmus.39 Geografische Disparität (und eventuell Verfügbarkeit) 38 1910 wurden beide Ämter für zehn Jahre besetzt, allerdings starb der gewählte Kassenprüfer Emile Levasseur bereits 1911. Ab 1913 fungierte der Ökonom Charles Gide als Kassenprüfer, ab 1916 war der Anthropologe Léonce Manouvrier Schatzmeister. Nach dem Tod Worms’ 1926 übernahm Gaston Richard das Generalsekretariat. Vgl. Bureaux successifs. Gaston Richard ist eine interessante Persönlichkeit der frühen französischen Soziologie: Ursprünglich Mitarbeiter Durkheims in der Année sociologique, trennte er sich bald und wurde Mitarbeiter Worms’. Seit 1905 Nachfolger Durkheims in Bordeaux, beerbte er 1926 dann Worms mit dessen Institut. In den 1920er Jahren trieb er die akademische Institutionalisierung der Soziologie voran. Vgl. Koolwaay, S. 111. 39 Das IIS hatte zwischen 1894 und 1913 insgesamt 20 Präsidenten – je zwei britische, deutsche, französische, russische, spanische, belgische, österreichische und amerikanische mit einem jeweiligen zeitlichen Abstand von zehn Jahren, in den übrigen beiden Jahren präsidierten der Montenegriner Valtasar Bogisic (1902) und der Schweizer Ludwig Stein (1911).
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scheint das vorrangige Kriterium für die Komposition der Präsidien gewesen zu sein. Konsequenterweise war dies für die Idee des Instituts auch wenig notwendig, denn das Verwaltungsgeschäft lag in der Hand des Generalsekretärs Worms, der bis 1903 auch die Kongressorganisation übernahm und sie ab 1906 in die Hände lokaler Komitees oder Verantwortlicher übergab, so dass die maßgebliche Aufgabe der Präsidenten und Vizepräsidenten in der nationalen wie internationalen Repräsentation lag. Abgesehen von den Jahren, in denen ein Kongress stattfand, traf sich das Präsidium wohl nicht persönlich, sodass eine direkte Diskussion über das Fach innerhalb des Präsidiums ausblieb. Allerdings erwies sich diese Strategie in einer Hinsicht als erfolgreich: Das Institut arbeitete auf diese Weise intensiv dem werdenden akademischen Unternehmen Soziologie zu. Die Mitgliederliste weist über die Funktionäre hinaus namhafte (zukünftige) Politiker auf. Nach 1916 verstärkte sich dieser Zug und die Präsidien wurden vorrangig politisch besetzt, während sich unter den Vizepräsidenten weiterhin auch die wissenschaftliche Klientel repräsentiert findet – von 1920 an saßen durchweg hochrangige Politiker dem IIS vor, so der ehemalige portugiesische Präsident Teófilo Braga (1920), der amtierende tschechische Präsident Tomasˇ G. Masaryk (1921), der ehemalige französische Präsident Georges Clemenceau (1922/23), der englische Minister Arthur James Lord Balfour (1924), der französische Abgeordnete und Präsident der Liga für Menschenrechte Ferdinand Buisson (1925/27) und der peruanische Delegierte des Völkerbunds Mariano Cornejo (1928).40 Die weltweite akademische Etablierung der Soziologie im Laufe der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts wurde zumindest unterstützt durch die Diffusion einer Erwartungshaltung in politischen Kreisen, nämlich der (sozial)politischen beziehungsweise gesellschaftlichen Nützlichkeit dieser werdenden Wissenschaft. Worms und sein Institut wirkten an der Beständigkeit dieser Erwartungshaltung auf internationaler Ebene mit.41 Wenig überraschend traf diese bereits vor 1914 (allerdings nicht so dominant) verfolgte politische Stoßrichtung für ein gemeinsames Unternehmen Soziologie ebenso wie die diskursive Offenheit nicht den Nerv aller Beteiligten und so ergab sich durchaus Kritik am Institut und seinen Veranstaltungen: es werde nur geschwätzt und weder eine irgendwie geartete fachliche Identität reflektiert noch über ein mögliches 40
Bureaux successifs. Der Nexus zur pazifistischen und internationalistischen Szene ist mehr als deutlich. Mit Blick auf die Präsidien zeigen sich außerdem größere Einschnitte hinsichtlich der geografischen Verteilung: Mit Ausnahme Masaryks und des polnischen Soziologen Leon Petrazycki bricht der Kontakt zum osteuropäischen Raum nahezu völlig ein, stattdessen finden sich immerhin vier südamerikanische Funktionäre. Am auffälligsten für die Zwischenkriegszeit ist aber das gänzliche Fehlen deutschsprachiger Teilnehmer und die enorme Präsenz französischer Amtsträger: Sie stellen 30 Prozent der IIS-Funktionäre zwischen 1916 und 1928. 41 Für den deutschen Kontext ist der Zusammenhang von politischer Erwartungshaltung und Einrichtung soziologischer Lehrstühle anhand der Person des Ministerialbeamten Carl Heinrich Becker greifbar; vgl. Müller; Reif; Prahl, S. 48 ff.
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gemeinsames Konzept verhandelt. Doch blieb solche gelegentlich in Fachzeitschriften publizierte Kritik seltsam unrezipiert.42 Ebenso unreflektiert blieb offenbar die Mitgliedschaft im Institut, selbst unter Funktionären – man wurde mit verschiedenen Erwartungshaltungen Mitglied und blieb es, egal ob diese Erwartungen sich erfüllten oder nicht. So schrieb Georg Simmel, immerhin Gründungsmitglied und Vizepräsident des Jahres 1900, an Hermann Beck: „Es ist richtig, dass dem Institut International allerhand ernsthafte Leute angehören. Wenn ich mich selbst zu diesen rechnen darf, so will ich feststellen, dass mein Beitritt in der allerersten Zeit des Instituts erfolgte, als seine Charakterentwicklung noch nicht zu übersehen war; und dies wird wohl auch bei den meisten der beteiligten Kollegen der Fall sein.“ 43
Gleichzeitig heißt es aber auch resignativ: „Man tritt aus solchen Verbindungen dann nicht leicht offiziell aus, wenn sie einen nicht beanspruchen und nichts Flagrantes vorfällt.“ Und so empfahl er, dass die DGS keine allzu intensive Zusammenarbeit mit dem Pariser Institut suchen solle, da es nichts zu gewinnen gebe.44 René Worms verstand sein Institut als internationale Plattform für den gelehrten Austausch über Soziologie und soziologische Themen. Dabei sollte trotz aller Bemühungen der Umfang dieses Austauschs nicht überschätzt werden; Cécile Rol sprach mit Blick auf das IIS von einem „hinkende[n] Internationalismus“.45 Zwar nutzten nicht wenige Gelehrte die zur Verfügung gestellte internationale Bühne, um sich und ihr Werk zu positionieren, doch scheint man von der Möglichkeit der Rezeption weniger Gebrauch gemacht zu haben. Dennoch lassen sich durchaus Impulse für die nationalen soziologischen Diskurse und Idiome identifizieren, etwa über die Publikationsreihe und die Vermittlung von Werksübersetzungen. Die Revue Internationale erfüllte diese Rolle allerdings nur in eingeschränktem Maße. Sowohl internationale Autoren wie auch die Rezension nicht-französischer Literatur bereicherten durchaus den nationalen soziologischen Diskurs, allerdings wirkte dies nur geringfügig, zum einen aufgrund einer mangelnden reziproken Rezeption,46 zum anderen aufgrund der gängigen Interpretation und Übersetzung fremder Theoreme und Perspektiven in die bekannten französischen. So meinte René Maunier etwa, in der Programmatik des belgischen Institut de Sociologie de Solvay die Arbeitsweise Gabriel
42 Eleutheropulos, S. VII. Die gelegentlichen Besprechungen in der Année sociologique kritisieren die konkreten Beiträge wie auch Worms, doch bleibt ihre Rezeption auf den französischen Raum beschränkt und wenig dialoghaft. 43 Georg Simmel an Hermann Beck (DGS) am 16. 07. 1909, zitiert in: Simmel, S. 708 – 710. Hier auch das folgende Zitat. 44 Cécile Rol sieht Simmel und Worms über Jahre hinweg in einem schärferen Konflikt, vgl. Rol. 45 Ebd., S. 377. 46 Vgl. etwa die ungarische Huszadik Szazad, die immerhin als Organ der Budapester Soziologischen Gesellschaft geführt wurde, die aber letztlich auch bei knappen Inhaltsangaben verharrte. Vgl. ferner Goldscheid.
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Tardes wiederzufinden (wenn auch mit anderem Fokus), so dass sich eine weitere inhaltliche Auseinandersetzung für ihn erübrigte.47
VII. Das Institut de Sociologie Solvay in Brüssel Ein vergleichbarer Befund kann für das Institut de Sociologie Solvay (ISS) nur angedeutet werden.48 Im Gegensatz zum Pariser Institut verfügte das Institut in Brüssel über gesicherte finanzielle Mittel: Es handelte sich um eine Stiftung des sozialpolitisch und soziologisch hochinteressierten Industriellen Ernest Solvay. Damit konnte ein kontinuierlicher Forschungs- und Arbeitsbetrieb gewährleistet werden – hierzu zählen maßgeblich Enqueten und Erhebungen zu Arbeits-, Wohn- und Lebensbedingungen sowie deren Auswertung über den sozialstatistischen Rahmen hinaus. Zudem erschienen im Kontext des Instituts Studien zu Themen wie Arbeiterbildung, Gewerkschaften und Steuerpolitik. Das Grundverständnis soziologischen Arbeitens ähnelt also dem Worms’schen Ansatz durchaus, wenn auch die Kontakte zwischen beiden Instituten dürftig waren: Die Pariser kritisierten deutlich den von Ernest Solvay implizierten Bezug auf die von ihm erträumte Sozialenergetik, einer spezifisch nomothetischen Grundlegung der Soziologie auf naturwissenschaftlicher, namentlich chemischer, Basis. Dabei gelang es Solvay tatsächlich, im Umfeld seines Instituts eine Schulenbildung zu initiieren, d. h. die Mitarbeiter methodisch wie auch theoretisch in (s)einen Arbeits- und Forschungszusammenhang einzubinden. Konkret verband sich mit dem Programm Solvays die Bereitschaft, Expertenempfehlungen abzugeben, aufklärerische Arbeit zu leisten und zu legitimieren sowie für politische Veränderungen zu agitieren. Es handelte sich also um einen wertpositiven soziologischen Habitus, der am ISS gepflegt wurde. Der genuine, im Kontext des Instituts entstandene Theoriezusammenhang war eine spezifische Form der Anthroposoziologie, die sich zwar als biologisch fundierte Soziologie, aber gerade nicht entlang der sozialdarwinistischen Logik verstand und im Kontext des linken sozialreformerischen Milieus zu verorten ist.49 Ohne ihr damit etwaige unausgeschöpfte theoretische Potenziale attestieren zu wollen, birgt ihr Scheitern Antworten auf Fragen der Durchsetzung respektive Marginalisierung wissenschaftlicher Schulen, Diskurse und Idiome. Allerdings zeigten sich frühzeitig individuelle Absetzungsbewegungen, zudem war die Schule in dem Sinne erfolglos, als dass es keinem Angehörigen des Instituts gelang, andernorts Karriere zu machen, sodass sich das Brüsseler Institut vor allem aus sich selbst und sozialreformerischen Kreisen rekrutierte. Worms und die Seinen lehnten eine solche Spezifik ebenso ab, wie sie dies im Falle Durkheims taten.50 47
Maunier. Zum ISS vgl. van Acker; Neef, Die Entstehung, S. 168 – 172. 49 Vgl. dazu Witrisal; Mocek. 50 Vgl. Fußnote 34.
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VIII. Schluss Die Existenz von Fachvereinigungen und Gelehrtengesellschaften, die sich der Soziologie widmeten, und damit verbunden das Vorhandensein eines spezifischen Fachdiskurses auf internationaler Ebene gingen der Etablierung der Wissenschaft als akademischer Disziplin voraus. Das eigensprachlich oft genutzte „international“, welches sich metasprachlich als „transnational“ konkretisiert, bezeichnete dabei mehrheitlich einen kommunikativen Raum, der sich zwischen Vertretern der führenden Industrienationen etablierte. Allerdings beschränkte sich dieser Raum nicht auf den europäischen Westen, vielmehr partizipierten auch süd- und osteuropäische sowie nord- und südamerikanische Gelehrte aktiv am Diskurs, Wissenschaftler also, die aus Regionen stammten, in denen binnengesellschaftliche Konflikte entlang kultureller, ethnischer, religiöser oder sozialer Grenzen zu den Motoren intellektuellen wie auch politischen Interesses an Soziologie im Sinne einer Wissenschaft vom Funktionieren der menschlicher Gesellschaft zählten. Obgleich sich die Sozialwissenschaften inklusive der Soziologie mehrheitlich im Rahmen einer dritten Kultur51 formierten, in der sich nicht ein Paradigma als verbindlich durchzusetzen vermochte und auch heute nicht vermag, führt die im vorliegenden Aufsatz geleistete wissenschaftsgeschichtliche Einbeziehung ihrer präakademischen, „dilettantischen“ Phase zu einer nochmaligen Zunahme von Heterogenität an Positionen und Strategien. Zur deutlichen zeitgenössischen Ausdifferenzierung und zugleich geringen wechselseitigen Bezugnahme der unterschiedlichen Standpunkte im Feld trug auch die verbreitete Überzeugung bei, dass der multiparadigmatische Zustand kein dauerhafter Zustand bliebe, sondern dass sich (möglichst bald) ein Leitbild von Soziologie – in der Akteursperspektive möglichst das eigene – durchgesetzt haben würde. Diese Hoffnung zeichnete dabei nicht nur die Vertreter nomothetischer Soziologieentwürfe aus, sondern die geisteswissenschaftliche, verstehende Soziologie verstand sich auch grundsätzlich monoparadigmatisch. Die Rekonstruktion eines polyvalenten, multiplen intellektuellen soziologischen Diskurses führt sodann zu einer perspektivischen Veränderung: So fruchtbar der Fokus auf die vielfältigen Idiome der zeitgenössischen internationalen Soziologie sein mag, suggerierte er doch als Konzept ein fehlendes Potential, nämlich die Bereitschaft zur Vermittlung, Übersetzung und zum Kompromiss. Helmut Fogt und Christian Fleck haben auf die Sterilität speziell der deutschen Soziologie vor 1945 hingewiesen, eine Unfruchtbarkeit, die auch aus der Unfähigkeit zur Kooperation resultierte.52 Zeitgenössisch entsprach die Idee einer gemeinschaftlich, kommunikativ zu erlangenden gemeinsamen, gleichsam globalen Diskurssprache nicht den Erwartungen und Vorstellungshorizonten. Weder den politikabstinenten Akademikern noch den soziologischen Politikberatern ging es um Koexistenz und Vermittlung ihrer Vorstellung von Soziologie. Vielmehr entsprach das Handlungsmuster, das 51 52
Lepenies. Fleck, S. 46 f.; Fogt, S. 246 f.
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man individuell wie kollektiv umsetzte, dem Thema des IIS-Kongresses von 1906 in London: dem sozialen Kampf. Literatur Beck, Paul: Was ist Monismus?, Hamburg 1924. Behrends, Elke: Technisch-wissenschaftliche Dokumentation in Deutschland von 1900 bis 1945. Unter besonderer Berücksichtigung des Verhältnisses von Bibliothek und Dokumentation, Wiesbaden 1995. Bureaux successifs de l’Institut, in: Annales de l’Institut International de Sociologie, 15 (1928), S. 8 – 13. Dittrich, Lisa: Antiklerikalismus in Europa. Öffentlichkeit und Säkularisierung in Frankreich, Spanien und Deutschland (1848 – 1914), Göttingen 2014. Dokumente des Fortschritts/Les Documents du Pogrès, Paris/Berlin 1908 ff. Dorber, Heribert/Plesse, Werner: Zur philosophischen und politischen Position des von Ernst Haeckel begründeten Monismus, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 16 (1968), S. 1325 – 1339. Dörk, Uwe: Die frühe Deutsche Gesellschaft für Soziologie: Zum organisatorischen, epistemischen und sozialen Profil einer Fachgesellschaft, in: Stephan Moebius/Andrea Ploder (Hrsg.), Handbuch Geschichte der deutschsprachigen Soziologie, 2 Bde., Wiesbaden 2017, S. 809 – 828. Eleutheropulos, Virgile Barbat: Der VII. Kongress des Internationalen Instituts für Soziologie (institut international de sociologie), in: Monatsschrift für Soziologie, 1 (1909), S. 664 – 690. Fleck, Christian: Transatlantische Bereicherungen. Zur Erfindung der empirischen Sozialforschung, Frankfurt am Main 2007. Fogt, Helmut: Max Weber und die deutsche Soziologie der Weimarer Republik: Außenseiter oder Gründervater?, in: M. Rainer Lepsius (Hrsg.), Soziologie in Deutschland und Österreich 1918 – 1945, Opladen 1981, S. 245 – 272. Goldscheid, Rudolf: Soziologie, in: David Sarason (Hrsg.), Das Jahr 1913. Ein Gesamtbild der Kulturentwicklung, Leipzig/Berlin 1914, S. 422 – 433. Hapke, Thomas: Wilhelm Ostwald, the „Brücke“ (Bridge), and connections to other bibliographic activities at the beginning of the 20th century, in: M. E. Bowden et al. (Hrsg.), Proceedings of the 1998 Conference on the History and Heritage of Science Information Systems, Medford 1999, S. 139 – 147. Hasse, Hermann: Jahrbuch für sozialen Fortschritt und freiheitliche Weltanschauung. Reformers Yearbook. Guide social, Gautzsch 1910/11. Henning, Max: Handbuch der freigeistigen Bewegung Deutschlands, Österreichs und der Schweiz, 2. Aufl., Frankfurt am Main 1914. Heppner, Harald (Hrsg.): Czernowitz. Die Geschichte einer ungewöhnlichen Stadt, Köln et al. 2009.
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Ein schwaches Etikett? Die deutschsprachige Soziologie im frühen 20. Jahrhundert Von Roberto Sala* Für den Doyen der frühen amerikanischen Soziologie Albion W. Small – wie für eine ganze Generation von Sozialwissenschaftlern in den Vereinigten Staaten um 1900 – war die deutsche Sozialtheorie ein Modell, das eine immense Anziehungskraft besaß.1 Das von Small herausgegebene American Journal of Sociology ist in der Retrospektive als ein „outlet for the latest German social thought“ charakterisiert worden.2 Um die vielschichtigen Wissensbestände aus dem Kaiserreich für sein disziplinäres Projekt der Soziologie zugänglich zu machen, war jedoch eine Übersetzungsleistung nötig, wie er in dieser Passage aus dem Jahr 1906 erklärte: „Many German political scientists apparently mean just what I do by sociology when they use the term Staatswissenschaft. Literally translated, the term would be the ,science of the state‘ or ,civic science,‘ or simply ,civics.‘ Interpreted by what some of them actually put into the term, it leaves out of the schedule nothing that occurs in human experience. The same is much more evidently true of another term which is used in much the same way by writers who start rather from the economic point of view, viz., Socialwissenschaft. There is nothing in a mere name, one way or other.“3
Aus Smalls Sicht generierten deutsche Gelehrten soziologisches Wissen, bezeichneten es aber vornehmlich als Staats- oder der Sozialwissenschaft. Sie nutzten demnach die zwei damals gängigen Sammelbegriffe zur Umschreibung all jener Themen, Methoden und Theorien, mit denen Wissenschaftler menschliche Gesellschaften untersuchten. Das Problem löste Small dadurch, dass er die Abweichung zwischen beiden Wissenschaftstraditionen als eine bloße Frage der Etikettierung definierte. Allerdings macht seine Feststellung ein wissenschaftshistorisches Rätsel fassbar: Um 1900 stellten Gelehrte aus dem deutschsprachigen Raum ein Vorbild für Schlüsselfiguren der US-amerikanischen Soziologie dar,4 während im Kaiserreich ein unter * Dieser Aufsatz basiert auf meiner Monografie Sala, Theorie versus Praxis? 1 Zu Smalls Verhältnis zu Deutschland s. Christakes, S. 97 – 107. Die Bedeutung deutscher Wissenschaft für US-amerikanische Gelehrte wird an der vor dem Ersten Weltkrieg weit verbreiteten Praxis, in Deutschland zu studieren. Vgl. Jarausch; Shils, Die Beziehungen. 2 Bannister, S. 60. 3 Small. Herv. i. Orig. 4 Man denke neben Small beispielsweise an Robert E. Park und Talcott Parsons, vgl. Gerhardt; Shils, The Sociology, S. 89 – 94.
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diesem Namen vorangeführtes disziplinäres Projekt Schwierigkeiten hatte, Fuß zu fassen. Letzteres spiegelte sich auch und vor allem in der Tatsache wider, dass sich das Fach Soziologie in Deutschland erst nach dem Ersten Weltkrieg und auch dann nur schleppend akademisch institutionalisierte. Studien zur Geschichte der Soziologie haben wiederholt die im internationalen Vergleich späte Verankerung der Disziplin an deutschen Universitäten thematisiert und hierbei insbesondere die Frage diskutiert, ob die intensivierte akademische Institutionalisierung während der Weimarer Republik rechtfertigt, von einer Etablierung des Faches zu reden.5 Einschlägige Thesen zu den Gründen der mehr oder minder großen Verzögerung – insbesondere im Vergleich zu den Vereinigten Staaten – wurden jedoch selten formuliert. Es ist beispielsweise hervorgehoben worden, dass die deutsche Soziologie aufgrund ihrer Praxisferne Schwierigkeiten hatte, in einem immer mehr auf praktische Ausbildung ausgerichteten akademischen System einen Platz zu finden.6 Zudem wurde auf die mangelnde Dynamik universitärer Strukturen hingewiesen, welche die Etablierung neuer Disziplinen erschwert hätte.7 Diese Hypothesen bieten Teilerklärungen, verstellen jedoch den Blick dafür, dass die späte Entwicklung entsprechender universitärer Strukturen auch damit einherging, dass im Kaiserreich der Diskurs einer eigenständigen Disziplin unter dem Namen ,Soziologie‘ wenig verbreitet war. Mit anderen Worten: Es war die kognitive Institutionalisierung8 der Soziologie, die im deutschen Kontext über eine längere Zeitspanne nicht an Fahrt gewann. An deutschen Universitäten mangelte es nicht an wissenschaftlichen Inhalten, Forschungsmethoden und Perspektiven, die in der Retrospektive als soziologisch zu beurteilen sind, sondern an dem sprachlichen Usus, diese epistemischen Zusammenhänge einer Soziologie zuzuordnen. Dieser Aufsatz blickt auf die Laufbahn des Soziologiebegriffs als Bezugsgröße für das sich im wilhelminischen Deutschland herauskristallisierende Idiom der Gesellschaftsanalyse. Wie im ersten Abschnitt argumentiert wird, zeichnete sich jener Begriff bis ins späte Kaiserreich durch eine prinzipielle Schwäche aus, weil deutsche Gelehrte das Etikett ,Soziologie‘ nicht oder nur bedingt verwendeten, um soziologische Inhalte zum Gegenstand von Forschung und Lehre zu machen. Misst man die Intensität des Diskurses um die Soziologie als eigenständige Disziplin an dessen allgemeinen Verbreitung in den akademischen Kontexten des Kaiserreichs, erscheint dieser Diskurs als schwach. Dies wird umso deutlicher, wenn man andere Sprachräume als Vergleichsebene einbezieht, wie gerade der durchschlagende Erfolg von So5
Für eine Übersicht dieser Debatten s. Scherke, S. 182 – 184. Stölting, Akademische Soziologie, S. 221 – 226; ders., Die Soziologie. 7 Shils, Tradition, S. 779. 8 Der Begriff geht auf den Wissenschaftssoziologen Richard Whitley zurück, der zwischen einer kognitiven Institutionalisierung – im Sinne der Verbreitung von Normen, Vorstellungen und Inhalten in Bezug auf ein disziplinäres Projekt – und einer sozialer Institutionalisierung – im Sinne der Formalisierung disziplinärer Strukturen innerhalb von Universitäten und wissenschaftlichen Netzwerken – unterscheidet, vgl. Whitley. 6
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ziologie als Etikett für die unterschiedlichsten sozialtheoretischen Entwürfe und empirischen Herangehensweisen an US-amerikanischen Hochschulen an der Schwelle vom 19. zum 20. Jahrhundert veranschaulicht.9 Die relative Schwäche, die nicht mit der Gleichsetzung der Termini ,Sozialwissenschaft‘ und ,Soziologie‘ weggewischt werden kann,10 bedeutet jedoch nicht die Absenz jenes Diskurses. Vielmehr wurde der Soziologiebegriff von zwar wenigen, aber prominenten und international vernetzten deutschen Gelehrten propagiert und stand im Kontext einer Protoinstitutionalisierung soziologischer Lehrinhalte – diese Dynamik steht im Mittelpunkt des zweiten Abschnitts.11 Dass Soziologie in den Jahren unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg plötzlich an Konjunktur gewann, kann in diesem Zusammenhang nicht allein auf die Gründung der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS) zurückgeführt werden; eher war der schnelle Aufstieg der DGS mit dem Durchbruch des Terminus ,Soziologie‘ als Bezeichnung eines spezifischen Wissens verbunden. Wie im dritten Abschnitt thematisiert wird, wurde die Karriere von Soziologie auch und insbesondere von ihrem diskursiven Verhältnis zur Sozialreform geprägt. Hierbei bildete Sozialpolitik ein quasi-epistemisches Feld für eine Vielzahl empirischer Studien und Inhalte, was es dem Soziologiebegriff erschwerte, als integrative Kategorie für Sozialtheorie und für die dem politischen Tagesgeschehen nahe empirische Sozialforschung zu dienen.
I. Ein Projekt ohne Anhänger? Der soziologische Diskurs im Kaiserreich war wirkungsmächtig, mündete er doch in die Gründung der DGS 1909, einer Vereinigung, die die Etablierung einer Einzelwissenschaft verfolgte und hierbei von der Beteiligung prominenter Gelehrter jener Zeit profitierte. Allerdings hatte die Debatte rund um Soziologie als Disziplin um die Jahrhundertwende eine verhältnismäßig geringe Verbreitung. Zu den Akteuren, welche die methodologische Reflexion in Bezug auf die Soziologie vorantrieben, zählte bekanntlich Georg Simmel.12 Aufgrund seiner Stellung9
Luther L. Bernard zählte beispielsweise 1909 hunderte von Lehrveranstaltungen der Soziologie in den Vereinigten Staaten, wobei eine Vielzahl von ihnen an Departements unterrichtet wurden, die den Terminus ,Sociology‘ im Titel trugen, s. Bernard. 10 Katharina Neef plädiert dafür, beide Begriffe als Synonyme zu betrachten, s. Neef, S. 23. Eine ähnliche Perspektive verfolgt Gisela Wallgärtner bei ihrer Analyse eines „soziologischen Diskurses“ in zeitgenössischen Fachzeitschriften, s. Wallgärtner. Diese Betrachtungsweise kann zur Erkenntnis beitragen, dass sich im Kaiserreich rund um den Gesellschaftsbegriff Wissensbestände herauskristallisierten, die im engen Zusammenhang mit der Sozialreform standen. Allerdings ist sie im Hinblick auf die Entwicklung eines disziplinären Diskurses unter dem Namen ,Soziologie‘ irreführend. 11 Wie auch Andreas Langenohl in seinem Beitrag für diesen Band hervorhebt, stand die „Genealogie der Soziologie als gesellschaftsanalytisches Idiom“ auch und gerade in Wechselbeziehung mit Institutionalisierungsprozessen. 12 Als Übersicht zur Rolle Simmels für die deutschsprachige Soziologie s. Härpfer.
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nahmen wurde er über den deutschsprachigen Raum hinaus und besonders in den Vereinigten Staaten als zentraler Vertreter der Soziologie rezipiert.13 In frühen Schriften verfolgte Simmel ein Konzept, das noch keine eindeutigen Konturen hatte und sich mit anderen von ihm verwendeten Begrifflichkeiten wie ,Sozialwissenschaft‘ und ,Psychologie‘ überlappte,14 oder wandte sich sogar gegen die Hypostasierung von Soziologie zu einer Wissenschaft.15 Spätestens 1908, als er Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung vorlegte, formulierte Simmel aber das Konzept einer neuen Disziplin in Abgrenzung zu den bestehenden Sozialwissenschaften: Simmel wandte sich gegen die Vorstellung, Soziologie sei „Wissenschaft von allem Menschlichem überhaupt“; die Nutzung von Soziologie als allumfassende Bezeichnung leite sich vom Erfolg des Gesellschaftsbegriffs ab, der sich allmählich als Konsequenz der Klassenkämpfe des 19. Jahrhunderts durchgesetzt habe.16 Infolgedessen sei Soziologie zu einem Sammeltopf für bereits bestehende Wissensformen geworden.17 Simmel betonte, dass die Soziologie in dieser, von ihm nicht geteilten Auffassung lediglich eine Methode bestehender Wissenschaften darstellte, so ähnlich wie sich die Induktion als ein Hilfsmittel für eine Reihe unterschiedlicher Disziplinen durchgesetzt hatte. Als solche sei aber Soziologie keine selbständige Wissenschaft, denn ihr fehle ein eigenes Objekt.18 Das Objekt der Soziologie wollte Simmel nicht durch die Erschließung neuer konkreter Inhalte, sondern durch die Untersuchung bestimmter Formen konstituieren: Mit letzteren implizierte er die Möglichkeit, Grundmuster sozialer Vergesellschaftung zu erkennen.19 Dadurch ließ sich das „soziologische Problem“ so legitimieren, „dass [es] die Feststellung, systematische Ordnung, psychologische Begründung und historische Entwicklung der reinen Formen der Vergesellschaftung fordert“; im Gegensatz dazu habe die Arbeitsteilung der „bisherigen einzelnen Sozialwissenschaften“ auf der „Verschiedenheit der Inhalte basiert“.20 Es lässt sich subsumieren, dass der Forschungsgegenstand des neuen Fachs nach Simmel nicht von einem spezifischen empirischen Bereich ausgehen, sondern theoretisch begründet werden sollte. Innerhalb dieser komplexen erkenntnistheoretischen Argumentation lassen sich einige Kernaspekte isolieren, die für die diskursive Konnotation von Soziologie im Kaiserreich von Bedeutung sind. Indem sich Simmel gegen ein zu breites Verständnis von Soziologie ausspricht und hierbei deren Nutzung als unscharfes Etikett für bereits bestehende Disziplinen, die generell gesellschaftliche Phänomene zum Gegenstand haben, kritisierte, machte er deutlich, dass im damaligen deutschsprachi13
Jaworski. Simmel, Über sociale Differenzierung, S. 1 – 20. 15 Simmel, Das Problem, S. 52 – 61. Vgl. Rol, S. 373 – 376. 16 Simmel, Untersuchungen. Zum Entstehungskontext dieses Werkes s. Tyrell. 17 Simmel, Untersuchungen, S. 2. 18 Ebd., S. 4. 19 Zur Unterscheidung zwischen Form und Inhalt bei Simmel s. Schwinn, S. 85 – 90. 20 Simmel, Untersuchungen, S. 9. Herv. i. Orig. 14
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gen Diskurs der Begriff mit einer gewissen Häufigkeit eine ähnliche Funktion wie Sozialwissenschaft(en) einnahm:21 Er bezeichnete eine Vielzahl unterschiedlicher epistemischer Zusammenhänge, die im Kontext von Sozialreform und sozialer Frage von Relevanz waren, ohne dem Verständnis einer eng gefassten, geschlossenen Disziplin zu entsprechen. Simmels polemische Bemerkungen sind Ausdruck dafür, dass der Begriff ,Soziologie‘ um die Jahrhundertwende zwar rege im Umlauf war, aber keine klaren Konturen besaß und dementsprechend einen schwachen Status hatte. Simmels Gegenentwurf ging dagegen – unabhängig von den Details seiner erkenntnistheoretischen Konstruktion – mit einem ausgereiften Spezialisierungsdiskurs einher, der nicht lediglich auf die Konstitution einer Einzelwissenschaft abzielte, sondern auch auf deren Einordnung in eine Familie von Disziplinen. Er legte für die Soziologie ein in seinen Augen klar abgegrenztes Forschungsobjekt fest und ordnete ihr eine eigene Rolle innerhalb der Arbeitsteilung der Sozialwissenschaften zu. Auch andere deutschsprachige Autoren formulierten um die Jahrhundertwende Stellungnahmen zu Soziologie und disziplinärer Spezialisierung. Der Zürcher Professor Abroteles Eleutheropulos bekräftigte beispielsweise die Vorstellung, Soziologie sei eine Einzelwissenschaft, die sich von anderen Sozialwissenschaften wie Geschichte und Nationalökonomie unterscheide und auf keinen Fall mit Philosophie übereinstimme.22 Der ungarische Intellektuelle Ludwig Stein, Philosophieprofessor an der Universität Bern, fokussierte hingegen auf die Stellung der Soziologie innerhalb des Spannungsverhältnisses zwischen Natur- und Geisteswissenschaften und die metatheoretische Kontroverse zwischen Gegnern und Befürwortern von positivistischen und organizistischen Perspektiven.23 Einen ähnlichen Zugang verfolgten die in Österreich arbeitenden Gustav Ratzenhofer und Albert Schäffle, wobei sie ganz anders als Stein die Vorzüge des Organizismus und des Biologismus priesen.24 Auch der Österreicher Othmar Spann, der sein Studium in der Schweiz absolviert und dann in Tübingen promoviert hatte, setzte sich mit den Debatten rund um monistische und positivistische Ansichten sowie mit den Nachwehen des Methodenstreits auseinander, als er seinen „Entwurf einer Einleitung in die Soziologie“ vorlegte.25 Es sticht hervor, dass eine Vielzahl der vor dem Ersten Weltkrieg erschienenen deutschsprachigen Werke, die einen methodologischen Beitrag zur Soziologie leisten sollten, von an schweizerischen oder österreichischen Universitäten tätigen Autoren vorgelegt wurden.26 Dies deutet darauf hin, dass der Terminus ,Soziologie‘ in beiden Alpenländern auf weniger Widerstände als im wilhelminischen Deutschland stieß, obwohl er auch dort etwa mit dem Begriff ,Staatswissenschaften‘ konkurrieren 21
Vgl. Neef, S. 23. Eleutheropulos, Soziologie, S. 9 – 10. Die erste Auflage ging auf das Jahr 1904 zurück. Zur Soziologie in der Schweiz s. Zürcher. Zur österreichischen Entwicklung s. Knoll et al. 23 Stein. 24 Käsler, Schäffle; Oberhuber. Vgl. von Kardorff; Heil. 25 Spann. 26 s. auch Neitcheff; Reichesberg; Schweiger. 22
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musste.27 Die Impulse aus der Schweiz und aus Österreich trugen erheblich dazu bei, den Spezialisierungsdiskurs rund um die Soziologie auch im Kaiserreich zu etablieren; speziell Wien – man denke an den besonderen Einfluss Rudolf Goldscheids28 – entpuppte sich als ein zentraler Ort für dessen Entwicklung. Man bedenke zum Beispiel, dass eine Schlüsselfigur wie Simmel enge Kontakte zu Gelehrten der österreichischen Hauptstadt pflegte29 oder dass die Initiatoren der DGS aus Wien kamen und diese nach dem Modell einer dort erprobten soziologischen Vereinigung konzipierten.30 Im Hintergrund wirkten zudem die internationalen, unter französischer Federführung stehenden Bestrebungen zur Etablierung der Soziologie als Fach auf die deutschsprachigen Gelehrten.31 Auch wenn man die epistemischen Netzwerke und Austauschprozesse im deutschsprachigen Raum – wie sie etwa Katharina Neef beschrieben hat32 – bedenkt, hatten die Debatten über die Soziologie als disziplinäres Projekt im Kaiserreich nur eine begrenzte Reichweite. Viele der Monografien, die als „Lehrbücher“ der deutschen Soziologie galten,33 beinhalteten eine übergreifende, aber zugleich in ihrer Spannweite begrenzte Gesellschaftslehre, ohne ein disziplinäres Vorhaben im Wettbewerb zu akademisch etablierten Disziplinen zu formulieren. Dies betraf die Werke oben zitierter Autoren wie Schäffle und Ratzenhofer, aber auch weitere in Deutschland erschienene Monografien.34 Übergreifend waren diese Entwürfe deshalb, weil sie Grundfragen zur Erkenntnis menschlicher Gesellschaften klären sollten; eine begrenzte Reichweite hatten sie, weil sie sich auf einen relativ kompakten Kanon sozialphilosophischer Theorien bezogen. Diese Entwürfe schlossen sich an eine sich im Laufe des 19. Jahrhunderts herauskristallisierte Tradition an. In diesem Zusammenhang hatte der Leipziger Philosophieprofessor Paul Barth eine ambivalente Stellung inne. Zum einen setzte er Soziologie mit Geschichtsphilosophie gleich und verwendete den Terminus vor allem dafür, sozialphilosophische Konstrukte zu bezeichnen.35 Zum anderen konnotierte er seine als Teilbereich der Philosophie aufgefasste, ethisch ausgerichtete und eindeutig in der Tradition des Historismus stehende Soziologie in Abgrenzung zu bestehenden akademischen Fächern, wie das Vorwort zur neuen Folge der von ihm herausgegebenen und 1902 umbenannten Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie und Soziologie, deutlich macht: 27
Zur schweizerischen Entwicklung s. Jost. Exner. 29 s. Frisby. 30 Vgl. Exner. 31 Rol, S. 369 – 381. Vgl. den Aufsatz von Katharina Neef in diesem Band. 32 Neef, S. 159 – 193. 33 s. Käslers „Liste von ,Lehrbüchern‘ der Soziologie im Bereich der deutschen Soziologie 1909 – 1934“, s. Käsler, Die frühe deutsche Soziologie, S. 613 – 617. 34 Als Beispiel s. Müller-Lyer, Phasen der Kultur. 35 Barth, Die Philosophie. 28
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„Um […] das Wesen und die Entwicklung der Gesellschaft und damit die Bedingungen des eigentlich menschlichen Lebens zu erkennen, wird es nötig sein, die bestehenden Wissenschaften der Teilgebiete des socialen Lebens, Sitten-, Wirtschafts-, Rechts-, Kunst-, Religions- und Litteraturgeschichte, zu Hilfe zu nehmen […] Denn die Sociologie hat eine umfassendere Aufgabe als die Nationalökonomie, mit der sie so häufig verwechselt wird. […] Die Sociologie gleicht […] der Geographie, die ebenfalls bei vielen Einzelwissenschaften Anleihen machen muß […] Und sie ist auch ebenso notwendig wie die Erdbeschreibung. Denn keine der bestehenden Wissenschaften vermag auf die die Gegenwart bewegenden Fragen zu antworten: Wie ist das friedliche Zusammenleben der Menschen aufrecht zu erhalten? Was ist Socialismus, was Individualismus? […] Indem die Sociologie solche Fragen behandelt, wird sie identisch mit der Philosophie der Geschichte […], mit einem Zweige der Philosophie […].“36
Wenn auch sein Konzept nicht eindeutig dem Vorhaben einer Einzeldisziplin entsprach, dürfte Barth mit der Umbenennung des Blattes teilweise dazu beigetragen haben, Soziologie als Bezugskategorie für eine eigenständige Disziplin voranzutreiben und dabei das Verständnis derselben als spekulativen Erkenntniszugang zu stärken. Dennoch entwickelte sich die Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie und Soziologie keineswegs zu einem Organ, das durch systematische methodologische Stellungnahmen als Sprachrohr eines disziplinären Projekts diente. Erkenntnistheoretische Fragen bildeten den Gegenstand einer Vielzahl von Aufsätzen, bezogen sich jedoch vor allem auf Debatten rund um den Positivismus. Ein Aufsatz des niederländischen Gelehrten Sebald Rudolf Steinmetz setzte sich mit den Grenzen und Eigenschaften der Soziologie als Einzeldisziplin auseinander, blieb jedoch die Ausnahme.37 Anders war der Fall der Monatsschrift für Soziologie, die 1909 vom bereits genannten Zürcher Professor Abroteles Euletheropulos mitherausgegeben wurde und zahlreiche Beiträge zur Soziologie als Einzeldisziplin publizierte. Das erste Heft beinhaltete eine Art zusammengesetztes Manifest über Wesen und Aufgaben der Soziologie. Einem einleitenden Aufsatz von Euletheropulos, der insbesondere das Verhältnis der Soziologie zu anderen Disziplinen thematisierte, folgten methodologische Gastbeiträge internationaler Autoren – René Worms, Lester J. Ward und Achille Loria – sowie ein ideengeschichtlicher Artikel von Ferdinand Tönnies.38 Die Zeitschrift wurde jedoch nach nur wenigen Heften eingestellt, sodass sie nicht zu einem deutschsprachigen Forum methodologischer Reflexion avancieren konnte. Diese Rolle wurde auch von anderen Fachzeitschriften nicht übernommen. Das Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik beispielsweise veröffentlichte nur ein paar wenige Aufsätze, die Grenzen, Ziele und Aufgaben der Soziologie im Sinne einer Einzeldisziplin thematisierten.39 Ähnliches galt für die Zeitschrift für Sozialwissenschaft.40 36
Barth, Zur Einführung. Steinmetz. 38 Eleutheropulos, Die Bedeutung der Soziologie; Worms; Ward; Tönnies, Comtes Begriff. 39 Vgl. Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Register zu Bd. 1 – 50 (1888 – 1923).
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Es lässt sich festhalten, dass zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein Diskurs zur disziplinären Spezialisierung der Soziologie im Kaiserreich existierte, dass dieser aber im Vergleich zu epistemischen Kontroversen wie Natur- versus Geisteswissenschaften schwach ausgeprägt war. Der Begriff ,Soziologie‘ wurde vermehrt verwendet, nahm aber nur bedingt die Gestalt einer Einheit innerhalb der diskursiven Arbeitsteilung zwischen akademischen Fächern ein. Über die Thematisierung des Verhältnisses zu anderen Disziplinen hinausgehend, spiegelte sich dies nicht zuletzt darin, dass vor dem Ersten Weltkrieg nur einzelne deutschsprachige methodologische Schriften zur Soziologie als Einzeldisziplin erschienen.
II. Und doch: die Protoinstitutionalisierung soziologischer Inhalte Die geringe Intensität eines auf Soziologie bezogenen Spezialisierungsdiskurses zeigte sich nicht zuletzt darin, dass dessen Vertreter keine Ansprüche an die systematische strukturelle Institutionalisierung ihres Faches stellten. Bereits im Vorfeld der Gründung der DGS wurde die Forderung von Lehrstühlen nicht als programmatisches Ziel formuliert. Für einen entsprechenden Passus in der Satzung hatten Rudolf Goldscheid und Hermann Beck plädiert – die zwei Sozialreformer, Publizisten und Initiatoren der DGS, die den Anstoß für die Gründung der Vereinigung nach dem Modell einer 1907 in Wien etablierten Soziologischen Gesellschaft gegeben hatten.41 Dennoch wurde dieses Anliegen unter anderem auf Anraten Simmels nicht verwirklicht, der aufgrund seines wissenschaftlichen Renommees in das Projekt einbezogen war. Seiner Ansicht nach musste sich die Soziologie zunächst als Methode bestehender Wissenschaften durchsetzen, bevor sie als eigene Wissenschaft um Anerkennung ringen konnte.42 Somit wird deutlich, dass die Unterscheidung zwischen Methode und Wissenschaft die wissenschaftspolitischen Kräfteverhältnisse des Kaiserreichs prägten. Aus entgegengesetzter Perspektive ist die geringe Verbreitung eines Soziologiediskurses nicht als Ursache, sondern als Ergebnis ausbleibender Institutionalisierungsprozesse zu betrachten, da fehlende Konflikte innerhalb universitärer Entscheidungsprozesse sich auch auf die methodologische Selbstreflexion von Gelehrten auswirkten. Es bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass die Schaffung von auf Soziologie bezogenen akademischen Strukturen im Kaiserreich ein relevantes Thema innerhalb der ministeriellen Gremien darstellte, die im Rahmen eines staatlich geregelten Universitätssystems die wissenschaftspolitischen Entwicklungen bestimmten.43 40
Vgl. Käsler, Die frühe deutsche Soziologie, S. 613 – 617. s. Exner. 42 Rammstedt, S. 836. 43 Zu den Dynamiken disziplinärer Ausdifferenzierung im deutschen Universitätssystem um 1900 s. Paletschek. 41
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Wesentlicher war die Tatsache, dass die Aufnahme von Soziologie als Bezugsgröße für universitäre Einheiten keine Voraussetzung dafür darstellte, die mit ihr verbundenen Inhalte in die akademische Praxis zu integrieren. Staatswissenschaftliche oder analog bezeichnete Seminare und Lehrstühle boten einen funktionierenden institutionellen Rahmen für einen gewichtigen Teil der Themen und Probleme, die die Zeitgenossen in Zusammenhang mit Soziologie brachten.44 Anders gesagt: In der universitären Praxis konnten die „Staatswissenschaften“ epistemische Ausdifferenzierungstendenzen auffangen und ein Stück weit ermöglichen, ohne dass dies institutionelle Konsequenzen nach sich gezogen hätte. Dies galt nach der Jahrhundertwende zum Teil auch für die Nationalökonomie, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einer festen Größe innerhalb der deutschsprachigen Universitätslandschaft geworden war.45 Die allmähliche Herauskristallisierung der Nationalökonomie als autonomes Feld zeugte nicht zuletzt vom fortschreitenden Bedeutungsverlust von bloß auf Staat und Recht fixierten akademischen Fächern. Dieser Prozess verlief langsam und nicht widerspruchslos, zumal im Hintergrund derartiger akademischer Kontroversen auch die Emanzipationsbestrebungen der sich im Kaiserreich rasch pluralisierenden Gesellschaft standen.46 Noch im späten Kaiserreich wurde ökonomisches Wissen weitgehend als ein Bereich der Staatswissenschaften betrachtet, auch und vor allem im Rahmen einer institutionalisierten Praxis. Obwohl zahlreiche Professuren für Nationalökonomie existierten, war es nicht unüblich, dass anerkannte Vertreter des Faches Lehrstühle für Staatswissenschaften inne hatten und in dieser Funktion an wirtschaftswissenschaftlichen Themen arbeiteten, wie beispielsweise Werner Sombart.47 Dass die Nationalökonomie innerhalb institutioneller Strukturen eine konsolidierte, aber weiterhin im Schatten der Staatswissenschaften stehende Einheit darstellte, erklärt auch, aus welchem Grund die diskursive Abgrenzung der Soziologie gegenüber ihrer Schwesterdisziplin verhältnismäßig selten vorkam.48 Die Symbiose und zugleich Ausdifferenzierungsdynamik zwischen beiden epistemischen Zusammenhängen äußerte sich nicht zuletzt darin, dass zahlreiche Vertreter der Soziologie Ökonomen waren49 und würde auf den ersten Blick einen Kampf um symbolische Ressourcen rund um das Verhältnis zwischen alter und neuer Disziplin erwarten lassen. Die noch wenig gefestigte Stellung der Nationalökonomie als institutionelle Bezugsgröße implizierte jedoch, 44
s. hierzu vom Bruch, Gelehrtenrepublik, S. 283 – 310. Waszek. 46 Vgl. Nolte, S. 30 – 60. 47 Vgl. Lenger; vom Bruch, Die Staatswissenschaftliche Gesellschaft, S. 9 – 29. 48 s. Tönnies, Wege und Ziele. 49 Als Beispiel lassen sich die ersten zehn Personen, die auf den Kongressen der Deutschen Gesellschaft für Soziologie am meisten genannt wurden, s. Käsler, Die frühe deutsche Soziologie, S. 609. Nur zwei von ihnen, Max Adler und Erich Rothacker, hatten keine umfassende ökonomische Ausbildung. Alle weitere hatten Nationalökonomie studiert bzw. waren als Nationalökonomen tätig: Carl Brinkmann, Franz Oppenheimer, Werner Sombart, Hans Lorenz Stoltenberg, Ferdinand Tönnies, Alfred Weber, Max Weber, Leopold von Wiese. 45
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dass deren Angriffsfläche begrenzt war und die Vertreter der Soziologie zudem wenig Interesse haben konnten, einen Bereich zu schwächen, in dem eine Mehrheit von ihnen tätig war. Das Spannungsverhältnis zwischen Soziologie und Nationalökonomie einerseits und Staatswissenschaften andererseits spiegelte sich darin, dass im Spezialisierungsdiskurs das Verhältnis beider Disziplinen zur Rechtswissenschaft zu Tage kam,50 zu einem Bereich also, der lange als übereinstimmend mit den Staatswissenschaften galt, obwohl er sich ebenfalls allmählich als eigenständige Disziplin konstituiert hatte. Zu einer Zeit, als das sogenannte Juristenmonopol – d. h. das Vorweisen einer juristischen Ausbildung – noch eine Voraussetzung für die Beamtenlaufbahn darstellte, spielten staatswissenschaftliche Seminare und somit die dort angesiedelten Kurse in Nationalökonomie und Soziologie eine wichtige Rolle im juristischen Curriculum.51 Die komplexe diskursive Wechselbeziehung zwischen Rechtswissenschaft und Soziologie schlug sich dabei nicht zuletzt in den programmatischen Bemühungen nieder, eine Rechtssoziologie als eigenständigen epistemischen Bereich zu begründen.52 Obwohl Soziologie als epistemische Bezugsgröße keine direkte Anerkennung innerhalb der akademischen Strukturen des Kaiserreichs erhielt, lässt sich beobachten, dass sie sehr wohl eine Rolle im universitären Alltag spielte. Nützliche Einblicke bietet die Unterrichtspraxis, die exemplarisch am Beispiel der Universitäten Berlin, Freiburg, Heidelberg, Gießen, Kiel, Leipzig und München berücksichtigt worden ist.53 Anhand der Vorlesungsverzeichnisse sind die Bezeichnungen der Kurse ausgewertet worden, die zwischen dem Wintersemester 1905/1906 und dem Sommersemester 1910 gehalten wurden, für eine Dauer also von insgesamt 10 Semestern (s. Anhang 1).54 Bei der Analyse zählte alleine das äußerliche Kriterium, inwiefern die Titel der Lehrveranstaltungen den Begriff ,Soziologie‘ sowie – um breitere semantische Zusammenhänge sichtbar zu machen – weitere Ausdrücke, die auf dem Terminus ,sozial‘ aufbauten, beinhalteten. Für den Terminus ,Soziologie‘ ist seitens akademischer Institutionen eine grundsätzliche Akzeptanz auszumachen; davon zeugt, dass an allen genannten Hochschu50
Dies kam auf dem ersten Soziogentag deutlich zum Vorschein, s. Voigt; Kantorowicz. Zu den sozialtheoretischen Ansprüchen der Rechtwissenschaft im Kaiserreich s. Haney. 51 Vgl. Bleek. 52 s. insbesondere Ehrlich. 53 Die berücksichtigten Hochschulen spiegeln unterschiedliche geographisch-politische Kontexte des Kaiserreichs wider: Preußen (3), Baden (2), Bayern (1) und Sachsen (1). 54 Großherzoglich Badische Albert-Ludwigs-Universität zu Freiburg im Breisgau: Ankündigung der Vorlesungen; Universität Leipzig: Verzeichnis der an der Universität Leipzig zu haltenden Vorlesungen; Badische Ruprecht-Karls-Universität zu Heidelberg: Anzeige der Vorlesungen; Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin: Verzeichnis der Vorlesungen; ChristianAlbrechts-Universität zu Kiel: Verzeichnis der Vorlesungen; Ludwig-Maximilians-Universität München: Verzeichnis der Vorlesungen; Großherzoglich Hessische Ludewigs-Universität zu Gießen: Verzeichnis der Vorlesungen. Für die Universität Berlin konnte das Sommersemester 1910 nicht berücksichtigt werden. Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird bei der Auswertung nicht auf die einzelnen Quellen hingewiesen.
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len im berücksichtigten Zeitraum mindestens eine Lehrveranstaltung stattfand, deren Titel den Begriff beinhaltete (s. Anhang 1). Dennoch war die Verwendung des Begriffs an den Universitäten Gießen, Kiel und Leipzig auf einen, an der Universität Freiburg auf drei einzelne Fälle begrenzt, sodass nicht von einem systematischen Lehrangebot für Soziologie gesprochen werden kann. Hervorzuheben ist, dass diese unregelmäßig gehaltenen Kurse – mit Ausnahme von Leipzig – im Bereich Philosophie und Pädagogik angeboten wurden. Dies weist darauf hin, dass die Verwendung des Terminus von Vertretern von Wissenschaften mit spekulativen Inhalten vorangetrieben wurde. Anders war der Fall der Universitäten Berlin, Heidelberg und München: Hier diente Soziologie zur Bezeichnung von Seminaren, die jährlich oder gar jedes Semester angeboten wurden und somit regelmäßig abgehaltene Unterrichtseinheiten darstellten. In München und Heidelberg wurden die Kurse hauptsächlich unter dem Dach der Staatswissenschaften und ihr nahestehenden Instituten unterrichtet. An der Friederich-Wilhelm-Universität zu Berlin gehörten die Lehrveranstaltungen über „Soziologie“ beziehungsweise die „Soziologischen Übungen“ zum regelmäßigen Angebot der Philosophischen Fakultät und wurden abwechselnd der Philosophie und den Staats-, Kameral- und Gewerbewissenschaften zugeordnet (was entsprechende Konflikte und Kontroversen innerhalb der Fakultät vermuten lässt). Wie ein Eintrag aus dem Sommersemester 1907 zeigt (vgl. Anhang 1), bestand jedoch die Tendenz, die Kurse als Bestandteil der staatswissenschaftlichen Lehre anzubieten, auch wenn sie formell der Philosophischen Fakultät zugerechnet wurden. Vor diesem Hintergrund lässt sich die These bekräftigen, dass a) Formalisierungstendenzen rund um den Begriff ,Soziologie‘ an vielen Universitäten im Hintergrund blieben, sie aber dennoch in beinahe institutionalisierte Unterrichtspraktiken münden konnten, und dass b) besagte Tendenzen, sofern sie sich konkretisierten, weitgehend innerhalb der bestehenden staatswissenschaftlichen akademischen Strukturen erfolgten beziehungsweise von diesen aufgefangen wurden.55 Lehrveranstaltungen mit der Bezeichnung ,Soziologie‘ wurden zwar auch im philosophischen Bereich angeboten, aber sie machten nur einen kleineren Teil des gesamten philosophischen Angebots aus. Das Bild lässt sich jedoch nur unter Berücksichtigung weiterer Wörter, die den Gesellschaftsbegriff in sich trugen, vervollständigen. In dieser Perspektive lässt sich zunächst eine ins Auge springende Abwesenheit feststellen: Bis auf eine Ausnahme gab es in Freiburg, Heidelberg, Gießen, Kiel, Leipzig und München zwischen 1905 und 1910 keine Lehrveranstaltung, deren Titel den Begriff ,Sozialwissenschaft(en)‘ trug. In der Unterrichtspraxis scheint sich dieser Begriff also nicht etabliert zu haben. Weitere Termini wie ,Gesellschaftswissenschaft‘ beziehungsweise ,Gesellschaftslehre‘ spielten in Berlin eine nicht unerhebliche Rolle und wurden
55 Dies, obwohl das Konzept der Staatswissenschaften seit der Mitte des 19. Jahrhunderts zunehmend von Alternativkonzepten wie ,Gesellschafts‘- und ,Sozialwissenschaften‘ erodiert wurde – man denke an die Entwürfe eines Robert von Mohls. Vgl. Nolte, S. 52 – 54.
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dort als Alternative für ,Soziologie‘ verwendet,56 nicht jedoch an den anderen untersuchten Hochschulen. Der Terminus ,Sozialpolitik‘ erhielt hingegen eine erhebliche Bedeutung. Kam er in Heidelberg und Kiel nur unsystematisch zum Einsatz,57 erschien er an anderen Universitäten im Titel von zahlreichen Kursen. An der Ludwig-Maximilian-Universität zu München fand jedes Wintersemester eine Lehrveranstaltung zum Thema „System der gesamten Sozialpolitik mit Einschluss der Sozialversicherung und der Armenpflege“ und jedes Sommersemester eine über „Grundzüge der Sozialpolitik“ statt. Unter letzterem Namen wurden auch an der Universität Leipzig (WS 1906, WS 1908, WS 1909) regelmäßig Kurse angeboten, während in Gießen entsprechende Lehrveranstaltungen den Titel „Agrarpolitisches und sozialpolitisches Konversatorium“ (WS 1908, WS 1909) und in Freiburg einfach „Sozialpolitik“ (WS 1905, SS 1907, SS 1909) hatten.58 In Berlin fanden zahlreiche Seminare statt, die den Begriff ,Sozialpolitik‘ im Titel trugen, unter anderem in Verbindung mit Termini wie ,Sozialreform‘, ,Sozialismus‘ und ,Arbeiterklasse‘.59 Wie diese Bezeichnungen verdeutlichen, deckten die Kurse über „Sozialpolitik“, die ebenfalls vorwiegend unter dem institutionellen Dach der Staatswissenschaften stattfanden, Kernbereiche sozialreformerischer Debatten ab, wie beispielsweise die karitative Fürsorge und die Lage der Arbeitnehmerschaft. In der Unterrichtspraxis 56 Berlin: Philosophische Fakultät: Staats-, Kameral- und Gewerbe-Wissenschaften: Gesellschaftswissenschaft, besonderer Teil (Familie, Rasse, Volk, Klasse) (WS 1905); Gesellschaftswissenschaft, allgemeiner Teil (WS 1906); Gesellschaftslehre, besonderer Teil (Formenlehre vornehmlich der Familie (WS 1907); Gesellschaftslehre (WS 1908); Gesellschaftslehre, allgemeiner Teil (Seelenkunde des Gesellschaftslebens) (SS 1909) // Philosophische Fakultät: Philosophische Wissenschaften: Gesellschaftslehre (als Anwendung der Psychologie) (SS 1907, Phil.). 57 Kiel: Praktische Nationalökonomie II. Teil: Sozialpolitik, Gewerbe- und Agrarpolitik (WS 1907), Praktische Nationalökonomie (Sozial-, Gewerbe-, Handels-, Kolonial- und Agrarpolitik) (SS 1908) / Heidelberg: Arbeiterfrage und Sozialpolitik (SS 1906) / Gemeindliche Sozialpolitik (unter besonderer Berücksichtigung Englands und Australiens) (SS 1908). 58 Freiburg: Englands Handels-·und Sozialpolitik (SS 1906); Gießen: Repetitorium in der Gewerbe- und Sozialpolitik (WS 1907); Leipzig: Sozialpolitik und Sozialphilosophie (WS 1905). 59 Berlin: Philosophische Fakultät: Staats-, Kameral- und Gewerbe-Wissenschaften: Sozialpolitik und Sozialismus (mit Diskussionen) WS 1905, Sozialpolitik SS 1906, Sozialpolitik und Sozialismus WS 1906, Die Sozialpolitik und auswärtige Handelspolitik des Deutschen Reichs SS 1907, Volkswirtschaft und Sozialpolitik in den Vereinigten Staaten WS 1907, Sozialpolitik (die soziale Frage, die Sozialreform und der Sozialismus), mit Besichtigungen SS 1908, Spezielle oder praktische Nationalökonomie II. Teil (Sozialpolitik, Gewerbe- und Agrarpolitik) WS 1908, Sozialpolitik (die Arbeiterklasse, die Sozialreform und der Sozialismus), mit Besichtigungen WS 1908, Übungen auf dem Gebiet der Sozial- und Gewerbepolitik (besonders Heimarbeit und Fabrik), mit Besichtigungen WS 1908, Geschichte und Theorie der Sozialpolitik SS 1909, Sozialpolitische und sozialrechtliche Übungen SS 1909, Vergleichende Darstellung der praktischen Sozialpolitik in den Kulturstaaten (Arbeitsvertrag, Arbeiterschutz, Arbeiterversicherung, Selbsthilfe) WS 1909. Weitere Lehrveranstaltungen fanden auch an anderen Fakultäten statt, insbesondere der juristischen.
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betraf der Begriff nicht lediglich eng gefasste Inhalte, sondern auch und insbesondere vielfältige empirische Zusammenhänge. Gerade diese Funktion wies der Terminus ,Soziologie‘ nicht auf, der zwar in einem engen Zusammenhang mit der Sozialreform stand, aber vor allem in Bezug auf die sozialtheoretische Auseinandersetzung mit derselben verwendet wurde. Die Bipolarität zwischen beiden Begriffen wird am Lehrangebot der Universität München besonders deutlich, wo die Lehrveranstaltungen zu „Soziologie und Sozialreform“ speziell geschichtsphilosophische beziehungsweise sozialphilosophische Perspektiven berücksichtigten, während diejenigen über „Sozialpolitik“ unter anderem der „Armenpflege“ gewidmet waren. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass im Kaiserreich eine Protoinstitutionalisierung der soziologischen universitären Lehre stattfand, diese aber eine begrenzte Verbreitung fand und vor allem den sozialtheoretischen Bereich berührte, ohne breitere empirische Inhalte einzubeziehen. Letztere wurden insbesondere unter dem Begriff ,Sozialpolitik‘ subsumiert. Mit anderen Worten: Zwischen „Soziologie“ und „Sozialpolitik“60 zeichnete sich dasselbe diskursive Spannungsverhältnis ab, das zwischen letzterem Terminus und „Sozialwissenschaften“ herrschte.
III. Das ambivalente Verhältnis zur Sozialreform und Sozialpolitik In einem Aufsatz aus dem Jahr 1909 stilisierte Ferdinand Tönnies „angewandte Soziologie“ zum logischen Pendant der „reinen Soziologie“.61 Das Begriffspaar ,rein‘ – ,angewandt‘ charakterisierte die Soziologie als ein epistemisches Feld, das sowohl theoretische Entwürfe als auch praktisch-empirische Studien beinhaltete; somit bot jenes Paar die Möglichkeit, diese zwei Pole trotz deren Spannungsverhältnis in einem integrativen Konzept zusammenzufassen.62 Vor diesem Hintergrund verwundert zunächst, dass Tönnies zu Beginn seiner Eröffnungsrede auf dem Ersten Soziologentag von 1910 Soziologie als primär philosophische Wissenschaft definierte. Erst im Laufe des Vortrags holte er das Empirische durch die Hintertür wieder herein, nicht zuletzt, indem er auf die besondere Bedeutung statistischer Verfahren hinwies.63 Dieser Widerspruch erklärt sich aus der Tatsache, dass Tönnies die konkurrierenden Ansichten und Perspektiven der Mitglieder der DGS mit besonderer Vorsicht bedienen musste.64 Doch aus welchen Gründen gestaltete sich das diskursive Verhältnis zwischen Theorie und Empirie als potentieller Streitgegenstand? 60
Als Beispiel früher Nutzung dieser Unterscheidung s. Waentig. Tönnies, Die Aufgabe. 62 Diese Unterscheidung wurde zur Säule seines Denkens und bildete den Titel einer der ihr gewidmeten Festschriften. Vgl. Jurkat. 63 Tönnies, Wege und Ziele, S. 17, 24, 32 – 37. 64 Das gab Tönnies auf dem Dritten Soziologentag auch explizit zu, s. Tönnies, Ansprache, S. 3. 61
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Als einziger Teilnehmer des Kongresses verwendete Hermann Kantorowicz die Bezeichnung „angewandte Soziologie“ und nutzte sie im Rahmen seiner Überlegungen zur Rechtssoziologie: „[…] [Die Untersuchung der] Einzelgebiete des sozialen Lebens – die Wirtschaft, die Technik, die Sitte, die Kunst, die Religion, die biologisch-psychologischen Grundlagen usw. – […] unter dem Gesichtspunkt ihrer Beziehung zum Rechte […] gehört meinem Sprachgebrauche nach zu den soziologischen Beziehungen; […] [sie] würde also ein Thema der Soziologie bilden. Und zwar der reinen ,Soziologie‘; unter,angewandter‘ Soziologie65 verstehe ich die Anwendung dieser Lehren auf die Betrachtung der gleichmäßig mehreren Seiten des sozialen Lebens angehörigen Erscheinungen, z. B. auf die Familie, die Großstadt, die öffentliche Meinung, die Presse, den Klassenkampf, die politischen Parteien, die Frauenfrage, den Sozialismus, das Vereinswesen usw., vor allen Dingen auf ,die Gesellschaft‘ selber. Die Soziologie ist also die Wissenschaft, die die Gesamtheit des sozialen Lebens in seiner ungebrochenen Fülle betrachtet, und, weit entfernt von mechanischer Summierung der Ergebnisse der einzelnen Sozialwissenschaften, in eigenartiger synthetischer Untersuchung wieder vereinigt, was jene aus technischen Gründen isolieren müssen. Sie verhält sich also zu den einzelnen Gebieten der theoretischen Sozialwissenschaften wie zu den einzelnen Gebieten der Geschichtsschreibung sich die Kulturgeschichtsschreibung verhält (die in der Tat das historische Korrelat der Soziologie ist; ihr praktisches ist die Sozialpolitik im weitesten Sinne).“66
Die spezifische Frage nach dem Verhältnis zwischen Soziologie und Recht ist hier zweitrangig. Bedeutsam ist der Widerspruch, der obige Ausführungen prägte und der vielleicht nur auf den zweiten Blick erkennbar wird: Kantorowicz griff zwar die Unterscheidung zwischen reiner und angewandter Soziologie auf, aber nur um klarzustellen, dass lediglich Erstere die eigentliche Soziologie sei. Sieht man von der Hervorhebung des synthetischen Charakters soziologischer Erkenntnis, der auch die damals diskursiv höchst aufgeladene Kulturgeschichte prägte, ab, läuft die Passage auf eine Gegenüberstellung zwischen der (echten, reinen) Soziologie und der (weite Gebiete praktischen Wissens umfassenden) Sozialpolitik hinaus. Max Weber, der ebenfalls auf dem Soziologentag sprach, vertrat hingegen offensiv sein Anliegen, Empirie zum soziologischen Untersuchungsgegenstand zu machen. Er legte die „Soziologie des Zeitungswesens“67 und die „Soziologie des Vereinswesens“ als zwei wesentliche Forschungsschwerpunkte fest, die die Publikationsprojekte der neuen Vereinigung ausmachen sollten.68 Webers Sprachduktus verdient Aufmerksamkeit: Die Nutzung von Soziologie in Verbindung mit einem konkreten Forschungsbereich – im Sinne einer „Soziologie des“ – entsprach einem Gebrauch, der noch in den Jahren vor dem Ersten Soziologentag kaum zu be-
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Anführungszeichen sind korrekt wiedergeben. Kantorowicz, S. 276. Eigene Hervorhebungen. 67 Zu den Hintergründen der Presse-Enquete der DGS s. Weischenberg, S. 78 – 109. 68 Weber, S. 42, 52. 66
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obachten war.69 Durch diese Formulierungen erreichte Weber zweierlei: Zum einen verlieh er jenen Untersuchungsgegenständen die Dignität theoretischer Forschung.70 Zum anderen entkräftete er das lange Zeit prägende Verständnis von Soziologie als bloß spekulative Sozialtheorie. Die hier deutlich sichtbare theoretisch-empirische Konnotation soziologischer Objekte, die in den Jahren darauf zu einem Hauptmerkmal disziplinärer Identität werden sollte, macht deutlich, dass Theorie und Empirie nicht zwangsläufig in einem diskursiven Gegensatz zueinander standen.71 Blickt man aus dieser Perspektive auf Webers Ausführungen, lässt sich festhalten, dass zur Behauptung der theoretisch-wissenschaftlichen Dignität der Soziologie nicht die Nutzung beziehungsweise Nicht-Nutzung empirischer Methoden, sondern die Wahl der konkreten Forschungsgegenstände maßgeblich war. Beide Untersuchungsgegenstände, die sich nach Weber und seinen Mitstreitern für die Soziologie besonders eigneten, entsprachen nicht den Kernthemen der Sozialreform, die im Mittelpunkt unzähliger Studien gestanden hatten, wie etwa die Arbeitsverhältnisse. Zugleich zeichneten sie sich nicht als bloß gelehrte Objekte aus, sondern berührten Fragen, die in der Öffentlichkeit große Aufmerksamkeit auf sich zogen. Presse und Vereinswesen entzogen sich klassischen sozialreformerischen Wissensbeständen und festigten dabei die Unterscheidung zwischen Soziologie und Sozialpolitik. Sie drückten jedoch gleichzeitig auch das Spannungsverhältnis zwischen akademischem und politischem Feld aus. Dies wurde unter anderem dadurch deutlich, dass sich Weber in seiner Rede dem Vorwurf stellen musste, die DGS sei Praktikern gegenüber, sprich Nichtgelehrten beziehungsweise nicht akademisch angebundenen Mitgliedern, verschlossen. Besonders bei seinen Aufführungen zur Presseforschung bestritt er mit rhetorischem Pathos, die DGS habe einen rein akademischen Charakter, und betonte, Praktiker seien herzlich willkommen. Die Kontroverse über die akademische Ausprägung der Vereinigung stand dabei in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Werturteilstreit und ist in der Forschung viel diskutiert worden, besonders in Bezug auf die Rolle der einzelnen Beteiligten darin.72 In dieser Hinsicht ist beispielsweise hervorgehoben worden, dass Weber sein Wissenschaftsverständnis und hierbei insbesondere das Werturteilspostulat zunächst als Leitprinzip der DGS durchsetzen konnte und 69 Georg Simmel war einer der ersten, der diesen Begriff verwendete, wenn auch tendenziell nur in Bezug auf spekulative Objekte. Vgl. Simmel, Soziologie des Raumes; ders., Zur Soziologie der Armut; ders., Soziologie der Über- und Unterordnung. Für seine Geldstudie bevorzugte er die Wendung ,Philosophie des‘, wobei mutmaßlich auch der im Vergleich frühere Publikationszeitpunkt eine Rolle gespielt haben dürfte, s. ders., Philosophie. 70 Weber, S. 43. 71 Die Dichotomie zwischen induktiven und deduktiven Perspektiven, die in den 1880er Jahren den Methodenstreit der Nationalökonomie geprägt hatte, gehörte zumindest zum Teil der Vergangenheit an. Empirisch gesättigte Forschung konnte in mehrfacher Hinsicht einen theoretischen Charakter erhalten: im Sinne der Gültigkeit von deren Ergebnissen, in Anlehnung an wissenschaftliche Normen und nicht zuletzt in Abgrenzung zu nichtakademischer Wissensproduktion. 72 Vgl. Rammstedt, S. 850.
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dadurch in einen offenen Konflikt mit Goldscheid trat, der, wie erwähnt, einer der Initiatoren der DGS-Gründung war.73 Die besondere Aufmerksamkeit für das von Weber explizierte Objektivitätsideal hat dazu verleitet, das disziplinäre Projekt der Soziologie im Kaiserreich als Gegenmodell zu einer politiknahen Wissenschaft zu deuten.74 Dies allerdings verstellt den Blick dafür, dass die diskursive Trennung zwischen akademischem und politischem Feld nicht bedeutete, dass es zu einer faktischen Abkopplung beider Sphären voneinander kam. Vielmehr festigte das Objektivitätsideal den Autoritätsanspruch der Wissenschaft gegenüber der Politik. Anders formuliert: Der erklärte Verzicht auf unmittelbare sozialreformerische Militanz resultierte nicht aus dem Rückzug aus jeglichen Einflussmöglichkeiten auf das politische Geschehen, sondern entsprach einer der möglichen Legitimationsstrategien der Sozialwissenschaften. Hierbei stellten die Debatten innerhalb der DGS ein Parallelszenario für den Werturteilsstreit unter den Nationalökonomen im Verein für Socialpolitik dar, sodass die Gründung der DGS sogar als Ergebnis jener Kontroverse gedeutet worden ist.75 Der Austritt von Max Weber, und mit ihm von Alfred Vierkandt und Georg Simmel, aus dem Vorstand 1913 gilt als Reaktion auf das Scheitern ihres Plans, das Gebot der Werturteilsfreiheit innerhalb der Gesellschaft durchzusetzen.76 Ein Gegenentwurf zur Werturteilsfreiheit war zumindest teilweise die Tendenz, Soziologie als integrative Kategorie für sozialtheoretische Entwürfe einerseits und die dem politischen Tagesgeschehen nahe Empirie andererseits auszulegen. ,Reine‘ und ,angewandte‘ Soziologie als komplementäre Bestandteile eines gemeinsamen Bezugsrahmens zu verstehen, bildete im Kaiserreich noch eine Minderheitsposition, die aber von Vertretern des Soziologiediskurses auch über Ferdinand Tönnies hinaus stark gemacht wurde. Im Geleitwort zum ersten Heft der Monatsschrift für Soziologie brachten beispielsweise die Herausgeber zum Ausdruck, dass ,praktische‘ Aspekte zur neuen Disziplin gehören sollten: „Es ist klar, daß auch die praktischen Folgen der soziologischen Bestimmungen hier erörtert werden können und erörtert werden müssen; d. h. die Monatsschrift für Soziologie wird auch das soziologische Verständnis der praktischen Fragen der Sozialität (das soziologische Verständnis der Politik) anstreben. Die Monatsschrift für Soziologie steht nicht im Dienste irgend einer politischen Partei; sie steht aber jeder politischen Partei offen, die sich soziologisch begründen und rechtfertigen will.“77
Dass sozialreformerische Themen einen Aspekt von Soziologie darstellen sollten, machte auch der engagierte Sozialreformer und Psychiater Franz Müller-Lyer stark. Er legte mehrere Schriften vor, die sich durch intensive Nutzung des Soziologiebe73 Fritz/Mikl-Horke, S. 191 – 199; Peukert, S. 49 – 54. Eine erste, aber immer noch maßgebende Darstellung ist Roth, S. 202 – 204. 74 s. insbesondere Gräser, S. 209. 75 Albert. 76 Mikl-Horke; Lepsius; vgl. Neef, S. 44 – 46. 77 Eleutheropulos/Engelhardt.
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griffs auszeichneten.78 Nach den Soziologischen Überblicken aus dem Jahr 1908, einem grundsätzlich klassischen sozialtheoretischen Entwurf im Stil des 19. Jahrhunderts, in dem er „Soziologie“ teilweise in Klammern als Alternativbegriff nach „Gesellschaftslehre“ einfügte, legte Müller-Lyer 1913 in seiner Soziologie des Verhältnisses der Geschlechter eine metahistorische Analyse vor, welche die Entwicklung von familiären Strukturen und Geschlechterverhältnissen von den „primitiven“ zu den kapitalistischen Gesellschaften nachzeichnete und sich hierbei an evolutionshistorischen Gedanken marxistischer Prägung orientierte.79 War diese Monografie zwar weitgehend von einer breiten sozialtheoretischen beziehungsweise sozialphilosophischen Perspektive her inspiriert, bezog sich Müller-Lyer auch explizit auf aktuelle sozialpolitische Fragen. Er brachte klar zum Ausdruck, dass er die Positionen der Frauenbewegung befürwortete, und bezeichnete die „Differenzierung der Frauen“ als einen „gesetzmäßigen Vorgang“ beziehungsweise als „Entwicklungsgesetz“.80 Ferner beteuerte er die Notwendigkeit der Eugenik, d. h. einer „künstlichen oder kultürlichen Zuchtwahl“; diese sei infolge der endgültigen Ausschaltung der „natürliche[n] Auslese durch die Kultur“ unvermeidlich, um die „Entartung“ der Kulturvölker zu vermeiden beziehungsweise die „qualitative Steigerung der Rasse“ zu sichern.81 In seiner 1914 publizierten Soziologie der Leiden, in der er sich der „soziologischen Pathologie“ widmete, ging er ein Stück weiter und bezeichnete Soziologie als Mittel zur „Kulturbeherrschung“, sprich als eine Wissenschaft, welche die aktive Gestaltung des Gesellschaftskörpers ermögliche.82 In diesem Zusammenhang verstand Müller-Lyer die „Leiden des Einzelnen als soziale Krankheiten“ und suchte nach Wegen zu deren Bekämpfung. Eugenik, Erziehung, Erbschafts- und Bodenreform oder sogar die Entscheidung zwischen Krieg oder Frieden, all diese Handlungen erschienen als Optionen zur Linderung sozialer Schmerzen. Müller-Lyer fügte sich in die Reihe deutscher Gelehrter ein, die nach Antworten auf die soziale Frage an der Schnittstelle von spekulativer Sozialtheorie und sozialtechnokratischer Vision suchten und die in den im späten Kaiserreich wieder aufblühenden positivistischen und monistischen Diskursen einen starken Referenzrahmen fanden.83 Doch unterschied sich Müller-Lyer – darin Rudolf Goldscheid und Wilhelm Ostwald ähnlich84 – von vielen Gleichgesinnten dadurch, dass er ,Soziologie‘ zum Schlüsselbegriff seiner Entwürfe, die er eindeutig als wissenschaftliche Schriften verstand, machte. An keiner Stelle der genannten Monografien verwendete er hingegen den Ausdruck ,Sozialpolitik‘. Die Polarität zwischen wissenschaftlicher Abstraktion und politischer Handlung mündete bei Müller-Lyer in einen integrativen 78
Vgl. Curth; Neef, S. 146 – 154. Müller-Lyer, Phasen, S. 208 – 221. 80 Ebd., S. 162. 81 Dabei betonte Müller-Lyer, dass die „Differenzierung“ der Frauen den Zielen der Eugenik entgegenkommen würde. s. ebd., S. 176, 179. 82 Müller-Lyer, Soziologie, S. 129. 83 Vgl. Bernart; Neef. 84 Vgl. Neef, S. 106 – 156. 79
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Soziologiebegriff, im Rahmen dessen spekulative Sozialtheorie als Pendant zu sozialtechnokratischen Modellen diente. Diese Auslegung baute zwar nicht auf einem konsolidierten Usus des Begriffs, den Müller-Lyer selbst noch 1908 in Klammern nach ,Gesellschaftslehre‘ verwendete, antizipierte aber die in der Weimarer Republik entflammende Auseinandersetzung um die Frage, ob das (Sozial-)Politische der Soziologie angehöre. Resümierend lässt sich festhalten, dass nach dem Ersten und Zweiten Soziologentag der Soziologiebegriff zu einem Etikett geworden war, um das Vertreter und Vertreterinnen unterschiedlicher epistemischer Inhalte und Konzepte zu ringen begannen. Davon zeugt die allgemeinere Publikationspraxis und hierbei speziell die Nutzung des Soziologiebegriffs zur expliziten Kennzeichnung deutschsprachiger Monografien. Generell lässt sich festhalten, dass Soziologie als Identifikationsmerkmal von Studien und Enqueten im Kaiserreich aus rein quantitativer Sicht nur selten Verwendung fand. Vergleicht man jedoch die Zeitspanne vor und nach dem im Oktober 1910 stattgefundenen Ersten Soziologentag, der zwar nicht eine scharfe Zäsur, aber angesichts seiner Rolle bei der Propagierung des Soziologiebegriffs einen zentralen zeitlichen Bezugspunkt darstellte, lassen sich wichtige Erkenntnisse gewinnen. Zunächst prägte der Soziologiebegriff in den Jahren unmittelbar vor und nach dem Ausbruch des Kriegs deutlich mehr Schriften als davor. Zwischen 1911 und 1918 wurden mindestens dreißig deutschsprachige Monografien, die sich der Soziologie widmeten, veröffentlicht.85 Diese Menge wurde davor im Zeitraum von 20 Jahren, d. h. zwischen 1892 und 1910, veröffentlicht.86 Bedenkt man die auf das Publikationswesen dämpfende Wirkung des Kriegs, sticht die intensivere Nutzung des Soziologiebegriffs zur Bezeichnung wissenschaftlicher Schriften noch mehr ins Auge. Nebst der quantitativen Entwicklung ist ein weiterer wesentlicher Unterschied zwischen den Publikationen in beiden Zeiträumen hervorzuheben. Obwohl oder gerade weil der Status der Disziplin im Spannungsverhältnis zwischen Theorie und Empirie noch umstritten war, lässt sich nach dem Ersten Soziologentag eine „empirische Wende“ bei der Nutzung des Soziologiebegriffs zur Bezeichnung von Publikationen feststellen. Fast alle bis 1910 veröffentlichten Monografien zeichneten sich durch einen ausgeprägten spekulativen Charakter aus, entsprachen übergreifenden sozialtheoretischen Entwürfen und/oder – in geringerem Maße – erkenntnistheoretischen Reflexionen. Mindestens die Hälfte der zwischen 1911 und 1918 erschienenen Bücher hatten spezifische thematische Schwerpunkte, die sich von einer stark abstrahierenden und breit angelegten Gesellschaftslehre unterschieden. Unter dem Dach der Soziologie wurden nun Makrophänomene wie Staatskrisen und der Krieg, aber auch Geschlechterverhältnisse oder das Bevölkerungswesen im Hinblick auf demografisch-soziale Zusammenhänge untersucht. Das Witzblatt oder das Kino gehörten als Erscheinungen der medialisierten Gesellschaft ebenso zu potentiellen soziologischen Themen wie die literarischen Werke eines skandinavischen Autors oder die 85 86
s. Anhang 2. Es lassen sich 29 Monografien ausmachen, s. Anhang 3.
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psychologischen Eigenschaften politischer Eliten. Dass die über den Soziologiebegriff konnotierten Forschungsgegenstände sehr mannigfaltig waren, zeigt nicht zuletzt die Erscheinung einer „Soziologie des Polentums“ und einer „Soziologie des Handelsagenturwesens“. Bereits in den Jahren nach dem Ersten Soziologentag etablierte sich die Formel „Soziologie des“ als ein klares Identifikationsmerkmal,87 wenn sie auch nicht mit der Bildung eines einheitlichen disziplinären Korpus einherging.
IV. Fazit Versteht man unter Soziologie eine Kategorie, die von den Zeitgenossen zur Identifikation von epistemischen Inhalten eingesetzt wurde und die speziell von den Vertretern eines disziplinären Projektes beansprucht wurde, fällt die begrenzte Reichweite des Soziologiebegriffes im Kaiserreich auf. Diese resultierte im Wesentlichen aus der Rivalität mit anderen epistemischen Kategorien. Zum einen boten die Staatswissenschaften einen stabilen Bezugsrahmen, der in Forschung und Lehre die Erörterung mannigfaltiger Inhalte bezüglich gesellschaftlicher Verhältnisse ermöglichte. Zum anderen stand Soziologie in Konkurrenz mit Sozialpolitik, die als epistemische Kategorie zur Bestimmung eines wissenschaftlichen Feldes und dabei speziell der in der Sozialreform brisanten Untersuchungsobjekte diente. Während Soziologie häufig eher in Verbindung mit abstrahierenden Perspektiven gebracht wurde, assoziierten die Gelehrten Sozialpolitik eher mit praktisch-empirischen Gegenständen. Versteht man unter Soziologie einen zusammenhängenden Bereich der Wissensproduktion rund um den Gesellschaftsbegriff, der sich in jener Phase brisanter sozialpolitischer Debatten im Zeichen der Sozialreform allmählich von anderen epistemischen Kontexten, insbesondere den Wirtschaftswissenschaften und der Philosophie, ablöste, dann lässt sich kaum bestreiten, dass der soziologische Diskurs im Kaiserreich stark war. In Deutschland kristallisierten sich akademische Lehrpraktiken, Forschungsinhalte und Netzwerke heraus, die einerseits einen ausgehend vom Gesellschaftsbegriff zusammenhängenden, kohärenten Bereich bildeten und sich andererseits durch eine starke Heterogenität auszeichneten. Das Zusammenspiel zwischen Kohärenz und Heterogenität resultierte aus der Polarität, die sich zwischen abstrahierender Sozialtheorie und dem Politikgeschehen beziehungsweise den öffentlichen Debatten nahe dem praktischen Wissen abzeichnete; sie dienten jeweils der Schließung und der Öffnung des akademischen gegenüber dem politischen Feld und legitimierten sich gegenseitig. Sowohl die diskursive Konkurrenz zwischen Soziologie und Sozialpolitik als auch der hohe Stellenwert der Werturteilsfrage zeigen die Bedeutung der Wechselbeziehung zwischen Wissenschaft und Politik für die Etablierung der neuen Disziplin. Hierbei fügte sich der fortschreitende Soziologiedis87 s. auch Publikationen im Archiv: Mondolfo; Oncken; Simmel, Zur Soziologie der Armut; ders., Soziologie der Über- und Unterordnung.
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kurs – ähnlich wie die Entwicklung der Nationalökonomie sowie die Entstehung der Kategorie Sozialwissenschaften – in jene Dynamik ein, die allmählich zur Erodierung der Staatswissenschaften als dominierendem diskursiven Paradigma führte.88 Als 1918 das Kaiserreich infolge der Novemberrevolution kollabierte, stellte Soziologie eine Kategorie dar, die zu einer wichtigen Bezugsgröße für epistemische Zusammenhänge geworden war. Zwar war Soziologie nur bedingt zu einer integrativen Projektionsfläche der sozialtheoretischen als auch praktisch-empirischen Inhalte rund um die Sozialreform avanciert, und nicht zufällig blieb das Verhältnis zur Sozialpolitik auch in den 1920er Jahren eine der umstrittensten fachidentitären Debatten.89 Dennoch hatte Soziologie seit der Jahrhundertwende eine beachtliche Entwicklung durchlaufen, die ihr zunehmend Attraktivität verschaffte, und prägte immer mehr das sich verdichtende Idiom der Gesellschaftsanalyse. In der Weimarer Republik diente sie nicht nur als Etikett für unzählige Studien, sondern wurde auch endgültig zu einem Label für ein disziplinäres Projekt, das sich zunehmend akademisch zu etablieren begann. Anhang 1 ,Soziologische‘ Kurse an den Universitäten Berlin, Freiburg, Gießen, Heidelberg, Kiel, Leipzig und München im Zeitraum 1905 bis 1910 Berlin
Philosophische Fakultät: Staats-, Kameral- und Gewerbe-Wissenschaften
WS 1905
Soziologische Übungen
Berlin
Philosophische Fakultät: Staats-, Kameral- und Gewerbe-Wissenschaften
SS 1906
Soziologische Übungen
Berlin
Philosophische Fakultät: Staats-, Kameral- und Gewerbe-Wissenschaften
WS 1906
Soziologie als Lehre von den Formen der Gesellschaft
Berlin
Philosophische Fakultät: Philosophische Wissenschaften
SS 1907
Soziologische Übungen, im Anschluß an seine „Soziale Differenzierung“
Berlin
Philosophische Fakultät: Philosophische Wissenschaften
SS 1907
Soziologische Übungen
Berlin
Philosophische Fakultät: Staats-, Kameral- und Gewerbe-Wissenschaften
SS 1907
Eintrag: Soziologische Übungen siehe auch unter Philosophische Wissenschaften
Berlin
Philosophische Fakultät: Philosophische Wissenschaften
WS 1907
Soziologische Übungen, im Anschluß an seine „Soziale Differenzierung“
88 89
s. Sala, One, Two or Three Cultures, S. 90 – 94. Vgl. Stölting, S. 20 – 21.
Ein schwaches Etikett? Deutschsprachige Soziologie im frühen 20. Jh.
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Berlin
Philosophische Fakultät: Philosophische Wissenschaften
WS 1907
Soziologische Übungen
Berlin
Philosophische Fakultät: Staats-, Kameral- und Gewerbe-Wissenschaften
SS 1908
Soziologie
Berlin
Philosophische Fakultät: Staats-, Kameral- und Gewerbe-Wissenschaften
WS 1909
Soziologie
Berlin
Philosophische Fakultät: Staats-, Kameral- und Gewerbe-Wissenschaften
WS 1909
Hauptprobleme der Soziologie
Freiburg
Philos. Fakultät: Philologisch-Historische Abteilung: 1 Philosophie und Pädagogik
SS 1906
Probleme der Geschichtsphilosophie und Soziologie
Freiburg
Philos. Fakultät: Philologisch-Historische Abteilung: 1 Philosophie und Pädagogik
WS 1906
Einführung in das Studium der Sociologie
Freiburg
Philos. Fakultät: Philologisch-Historische Abteilung: 1 Philosophie und Pädagogik
SS 1909
Übungen zur Geschichtsphilosophie und Soziologie
Gießen
Philosophische Fakultät: Philosophie und Pädagogik
SS 1908
Soziologie und Philosophie des Staats
Heidelberg
IV. Philosophische Fakultät: D. Staats- und Kameralwissenschaften.
SS 1906
Einfu¨ hrung in die Soziologie
Heidelberg
IV. Philosophische Fakultät: D. Staats- und Kameralwissenschaften.
SS 1906
Grundsätze der Soziologie
Heidelberg
IV. Philosophische Fakultät: D. Staats- und Kameralwissenschaften.
WS 1906
Grundsätze der Soziologie
Heidelberg
IV. Philosophische Fakultät: D. Staats- und Kameralwissenschaften.
WS 1907
Grundsätze der Soziologie
Heidelberg
IV. Philosophische Fakultät: D. Staats- und Kameralwissenschaften.
SS 1908
Einführung in die Soziologie
Heidelberg
IV. Philosophische Fakultät: D. Staats- und Kameralwissenschaften.
WS 1908
Grundsätze der Soziologie
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Roberto Sala
Heidelberg
IV. Philosophische Fakultät: D. Staats- und Kameralwissenschaften.
SS 1909
Grundsätze der Soziologie
Heidelberg
IV. Philosophische Fakultät: D. Staats- und Kameralwissenschaften.
SS 1909
Soziologie (Allgemeine Gesellschaftslehre)
Kiel
Philosophie und Pädagogik
WS 1905
Anfangsgründe der Soziologie
Leipzig
IV. Philosophische Fakultät: E. Staats- und Kameralwissenschaften
SS 1906
Soziologie als Einleitung in die Sozialwissenschaft
München
III. Staatswirtschaftliche Fakultät
WS 1905
Soziologie und soziale Frage (mit besonderer Ru¨ cksicht auf die Gegenwart)
München
III. Staatswirtschaftliche Fakultät
WS 1906
Soziologie und soziale Frage (systematische Darstellung auf sozialphilosophischem Grunde, mit besonderer Ru¨ cksicht auf die Gegenwart)
München
III. Staatswirtschaftliche Fakultät
SS 1907
Soziologie und soziale Frage (geschichtsphilosophischer Teil)
München
III. Staatswirtschaftliche Fakultät
WS 1907
Soziologie und soziale Frage (sozialphilosophisch-systematischer Teil)
München
III. Staatswirtschaftliche Fakultät
SS 1908
Soziologie und soziale Frage (geschichtsphilosophischer Teil)
München
III. Staatswirtschaftliche Fakultät
WS 1908
Soziologie und soziale Frage (sozialphilosophisch-systematischer Teil mit besonderer Ru¨ cksicht auf die Gegenwart)
München
III. Staatswirtschaftliche Fakultät
SS 1909
Soziologie und soziale Frage (geschichtsphilosophischer Teil)
München
III. Staatswirtschaftliche Fakultät
WS 1909
Soziologie und soziale Frage (sozialphilosophischer Teil, im Zusammenhang mit den Rechts- und Staatswissenschaften)
München
III. Staatswirtschaftliche Fakultät
SS 1910
Soziologie und soziale Frage (geschichtsphilosophischer Teil)
München
V. Philosophische Fakultät: 1. Sektion
SS 1906
Grundfragen der Philosophie und Soziologie (Kulturtheorie)
Ein schwaches Etikett? Deutschsprachige Soziologie im frühen 20. Jh. München
V. Philosophische Fakultät: 1. Sektion
SS 1909
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Einfu¨ hrung in die Probleme der Soziologie
V. Philosophische Fakultät: SS 1910 Grundzu¨ ge der Soziologie 1. Sektion Quelle: Vorlesungsverzeichnisse der Universitäten (vgl. Inhaltsverzeichnis) München
Anhang 2 Deutschsprachige Monografien zur Soziologie im Zeitraum 1911 bis 1918 Achelis, Thomas: Soziologie, Berlin/Leipzig 1912. Altaraz, Isaak: Reine Soziologie, Berlin 1918. Altenloh, Emilie: Zur Soziologie des Kino: die Kino-Unternehmung und die sozialen Schichten ihrer Besucher, Jena 1914. Barth, Paul: Die Philosophie der Geschichte als Soziologie, Leipzig 1915. Behm, Paul: Soziologie des Handelsagenturwesens, Greifswald 1912. Breit, Ernst: Ibsens Soziologie und Ethik: auf Grund seiner Dramen dargestellt und gewürdigt, Mönchengladbach 1912. Bührer, Julius: Der Wechsel der Staatsauffassung unter dem Einfluss von Nationalökonomie und Soziologie, Greifswald 1917. Cohn, Georg: Ethik und Soziologie, Leipzig 1916. Düwell, Wilhelm: Vom inneren Gesicht des Krieges: Beiträge zur Psychologie und Soziologie des Krieges, Jena 1917. Ehrlich, Eugen: Grundlegung der Soziologie des Rechts, München/Leipzig 1913. Escherich, Karl: Termitenleben auf Ceylon: neue Studien zur Soziologie der Tiere; zugleich ein Kapitel kolonialer Forstentomologie, Jena 1911. Goldscheid, Rudolf: Das Verhältnis der äusseren Politik zur inneren: ein Beitrag zur Soziologie des Weltkrieges und Weltfriedens, Wien 1914. Lederer, Emil: Einige Gedanken zur Soziologie der Revolutionen, Leipzig 1918. Leonhard, Rudolf: Zur Soziologie des Polentums, Stuttgart 1917. Maas, Fritz: Über die Herkunftsbedingungen der geistigen Führer: ein Beitrag zur Soziologie der Begabung, Tübingen 1915. Melik Allachwerdoff, Grigor von: Der Begriff des Sozialen und der Soziologie bei Comte und Marx und der Psychologismus in der Soziologie, Liebertwolkwitz 1914. Menzel, Adolf: Naturrecht und Soziologie, Wien 1912. Merbach, Paul A.: Lester F. Wards philosophisches System der Soziologie. In seinen Grundzügen dargestellt, Hamburg 1912. Michels, Robert: Zur Soziologie des Parteiwesens in der modernen Demokratie: Untersuchungen über die oligarichischen Tendenzen des Gruppenlebens, Leipzig 1911.
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Roberto Sala
Moos, Henriette: Zur Soziologie des Witzblattes, München 1915. Müller-Lyer, Franz: Die Zähmung der Nornen 1: Soziologie der Zuchtwahl und des Bevölkerungswesens, München 1918 (Die Entwicklungsstufen der Menschheit). – Soziologie der Leiden, München 1914. – Phasen der Liebe: Eine Soziologie des Verhältnisses der Geschlechter, München 1913. Neitcheff, Mintcho: Zur Methodenlehre in der Soziologie, Zürich 1911. Scherrer, Hans: Soziologie und Entwicklungsgeschichte Teil III: Grundsätze und Gesetze der Soziologie, Innsbruck 1914. Simmel, Georg: Grundfragen der Soziologie: Individuum und Gesellschaft, Berlin 1917. Steffen, Gustaf F.: Die Grundlagen der Soziologie, Jena 1912. – Der Weg zu sozialer Erkenntnis, Jena 1912. Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft: Grundbegriffe der reinen Soziologie, Berlin 1912. Wiese, Leopold von: Strindberg: Ein Beitrag zur Soziologie der Geschlechter, München 1918. Ziegler, Heinrich E.: Die Vererbungslehre in der Biologie und in der Soziologie: ein Lehrbuch der naturwissenschaftlichen Vererbungslehre und ihrer Anwendung auf den Gebieten der Medizin, der Genealogie und der Politik, Jena 1918. Zizek, Franz: Soziologie und Statistik, München/Leipzig 1912. Anhang 3 Deutschsprachige Monografien zur Soziologie im Zeitraum 1892 bis 1910 Egger, Ludwig: Taine und die moderne Soziologie (Enthält ausserdem «Einführung in die Philosophie und Soziologie Herbert Spencers» von Ludwig Stein), Wien 1905. Eisler, Rudolf: Soziologie: die Lehre von der Entstehung und Entwicklung der menschlichen Gesellschaft, Leipzig 1903. Eleutheropulos, Abroteles: Rechtsphilosophie, Soziologie und Politik: zwei Abhandlungen, Innsbruck 1908. – Soziologie, Jena 1904. Ettinger, Samuel: Das Verbrecherproblem in anthropologischer und soziologischer Beleuchtung: ein historisch-kritischer Beitrag zur Kriminal-Soziologie; erster Teil, Bern 1909. Gersdorff, Hans von: Die Revision des Taktes: Freiheit, Persönlichkeit und Herrschaft des Geistes; Praktische Philosophie, Psychologie und Soziologie, Leipzig 1909. Gumplowicz, Ludwig: Grundriss der Soziologie, 2. Aufl., Wien 1905. – Sociologie et politique, Paris 1898. – Soziologie und Politik, Leipzig 1892. Hartmann, Ludo Moritz: Über historische Entwickelung: sechs Vorträge zur Einleitung in eine historische Soziologie, Gotha 1905.
Ein schwaches Etikett? Deutschsprachige Soziologie im frühen 20. Jh.
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Hesse, Albert: Der Begriff der Gesellschaft in Spencer’s Soziologie, Halle a. S. 1901. Hettler, August: Arbeiten zur Philosohie und ihrer Geschichte und zur Soziologie, Halle 1909. Mayer, Eduard von: Fürsten und Künstler: Zur Soziologie der Kunst, Berlin 1907. Müller-Lyer, Franz: Die Entwicklungsstufen der Menschheit: eine systematische Soziologie in Überblicken und Einzeldarstellungen, München 1910. Ratzenhofer, Gustav: Wesen und Zweck der Politik: als Theil der Sociologie und Grundlage der Staatswissenschaften, Leipzig 1893. Ratzenhofer, Gustav sen.: Soziologie, Leipzig 1907. Schäffle, Albert E. F.: Abriss der Soziologie von Dr. Albert E. F. Schäffle, Tübingen 1906. Scherrer, Hans: Soziologie und Entwicklungsgeschichte der Menschheit, Innsbruck 1905. Schweiger, Lazarus: Philosophie der Geschichte, Völkerpsychologie und Sociologie in ihren gegenseitigen Beziehungen, Bern 1899. Simmel, Georg: Soziologie: Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Leipzig 1908. Somlo, Felix: Zur Gründung einer beschreibenden Soziologie, Berlin/Leipzig 1909. Spann, Othmar: Untersuchungen über den Begriff der Gesellschaft zur Einleitung in die Soziologie, Tübingen 1905. – Untersuchungen über den Begriff der Gesellschaft zur Einleitung in die Soziologie. Teil I: Zur Kritik des Gesellschaftsbegriffes der modernen Soziologie, Tübingen 1905. Spencer, Herbert: System der synthetischen Philosophie: Professionelle und kirchliche Einrichtungen, Bd. 4, Abt. 2, Stuttgart 1897 (9). – Einleitung in das Studium der Sociologie, Leipzig 1896. – System der synthetischen Philosophie: Kirchliche Einrichtungen, Bd. 4, Abt. 1, Stuttgart 1891 (9). Stein, Ludwig: Die Anfänge der menschlichen Kultur: Einführung in die Soziologie, Leipzig 1906. Wernsdorf, Julius: Grundriss des Systems der Soziologie und die Theorie des Anarchismus, Jena 1906.
Literatur Albert, Gert: „Der Werturteilsstreit“, in: Georg Kneer/Stephan Moebius (Hrsg.), Soziologische Kontroversen. Beiträge zu einer anderen Geschichte der Wissenschaft vom Sozialen, Berlin 2010, S. 14 – 45. Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik: Register zu Bd. 1 – 50 (1888 – 1923), Tübingen 1925. Badische Ruprecht-Karls-Universität zu Heidelberg: Anzeige der Vorlesungen, Bd. WS 1905/ 1906–SS 1910, Heidelberg 1905 – 1910. Bannister, Robert C.: Sociology and Scientism. The American Quest for Objectivity, 1880 – 1950, Chapel Hill 1987.
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Barth, Paul: Zur Einführung der neuen Folge dieser Zeitschrift, in: Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie und Soziologie, 26 (1902) 1, S. 423 – 446. – Die Philosophie der Geschichte als Sociologie, Leipzig 1897. Bernard, Luther L.: The Teaching of Sociology in the United States, in: American Journal of Sociology, 15 (1909) 2, S. 164 – 213. Bernart, Yvonne: Der Beitrag des erfahrungswissenschaftlichen Positivismus in der Tradition Auguste Comtes zur Genese der Soziologie. Rekonstruktion exemplarischer Entwicklungslinien, Göttingen 2003. Bleek, Wilhelm: Von der Kameralausbildung zum Juristenprivileg. Studium, Prüfung und Ausbildung der höheren Beamten des allgemeinen Verwaltungsdienstes in Deutschland im 18. und 19. Jahrhundert, Berlin 1972. Bruch, Rüdiger vom: Gelehrtenpolitik, Sozialwissenschaften und akademische Diskurse in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart 2006. – Die Staatswissenschaftliche Gesellschaft. Bestimmungsfaktoren, Voraussetzungen und Grundzüge ihrer Entwicklung 1883 – 1919“, in: Vorstand der Staatswissenschaftlichen Gesellschaft (Hrsg.), Hundert Jahre Staatswissenschaftliche Gesellschaft zu Berlin, 1883 – 1983, Berlin 1983, S. 9 – 69. Christakes, George: Albion W. Small, Boston 1978. Christian-Albrechts-Universität zu Kiel: Verzeichnis der Vorlesungen, Bd. WS 1905/1906–SS 1910, Kiel 1905 – 1910. Curth, Sigrid: Soziologie als Programm sozialer Reform: Evolutionstheorie und demokratische Aktion. F. Müller-Lyer, Marburg 1986. Ehrlich, Eugen: Grundlegung der Soziologie des Rechts, München/Leipzig 1913. Eleutheropulos, Abroteles: Soziologie. Untersuchung des menschlichen sozialen Lebens, Jena 1923. – Die Bedeutung der Soziologie im System der Wissenschaften, in: Monatsschrift für Soziologie, 1 (1909) 1, S. 3 – 35. Eleutheropulos, Abroteles/Baron von Engelhardt, Alexis: Geleitwort, in: Monatsschrift für Soziologie, 1 (1909) 1, S. 1 – 2. Exner, Gudrun: Die ,Soziologische Gesellschaft in Wien‘ (1907 – 1934) und die Bedeutung Rudolf Goldscheids für ihre Vereinstätigkeit, Wien 2013. Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin: Verzeichnis der Vorlesungen, Bd. WS 105/1906 – WS 1909/1910, Berlin 1905 – 1910. Frisby, David: Einleitung, in: Ders. (Hrsg.), Georg Simmel in Wien. Texte und Kontexte aus dem Wien der Jahrhundertwende, Wien 2000, S. 11 – 28. Fritz, Wolfgang/Mikl-Horke, Gertraude: Rudolf Goldscheid – Finanzsoziologie und ethische Sozialwissenschaft, Wien 2007. Gerhardt, Uta: Doing the Intellectual Biography of Talcott Parsons, in: The American Sociologist, 38 (2007) 4, S. 330 – 332.
Ein schwaches Etikett? Deutschsprachige Soziologie im frühen 20. Jh.
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Gräser, Markus: Wolfahrtsgesellschaft und Wohlfahrtsstaat. Bürgerliche Sozialreform und Welfare State Building in den USA und in Deutschland, 1880 – 1940, Göttingen 2008. Großherzogliche Badische Albert-Ludwigs-Universität zu Freiburg im Breisgau: Ankündigung der Vorlesungen, Bd. WS 1905/1906–SS 1910, Freiburg im Breisgau 1905 – 1910. Großherzogliche Hessische Ludewigs-Universität zu Gießen: Verzeichnis der Vorlesungen, Bd. WS 1905/1906–SS 1910, Gießen 1905 – 1910. Haney, Gerhard: Soziologische Rechtswissenschaft am Beginn des 20. Jahrhunderts, in: Gerhard Sprenger (Hrsg.), Deutsche Rechts- und Sozialphilosophie um 1900, Stuttgart 1991, S. 29 – 45. Härper, Claudius: Georg Simmel und die Entstehung der Soziologie in Deutschland. Eine netzwerksoziologische Studie, Wiesbaden 2014. Heil, Peter M.: Protosoziologie. Wissenschaftliches Selbstverständnis und Beziehungen zur Biologie der deutschsprachigen Soziologie bis 1914 (= Lumis-Schriften, Bd. 52), Siegen 1998. Jarausch, Konrad H.: American Students in Germany, 1815 – 1914. The Structure of German and US Matriculants at Göttingen University, in: Henry Geitz/Jürgen Heideking/Jürgen Herbst (Hrsg.), German Influences on Education in the US to 1917, Cambridge 1995, S. 195 – 211. Jaworski, Gar D.: Georg Simmel and the American Prospect, Albany 1997. Jost, Hans-Ulrich: Sozialwissenschaften und Staat im 19. und frühen 20. Jahrhundert, in: Susanne Burren et al. (Hrsg.), Konkurrierende Deutungen des Soziale. Geschichts-, Sozial- und Wirtschaftswissenschaften im Spannungsfeld von Politik und Wissenschaft, Zürich 2007, S. 43 – 80. Jurkat, Ernst (Hrsg.): Reine und angewandte Soziologe. Eine Festgabe für Ferdinand Tönnies zu seinem achtzigsten Geburtstage am 26. Juli 1935, Leipzig 1946. Kantorowicz, Herman: Rechtswissenschaft und Soziologie, in: Deutscher Soziologentag (Hrsg.), Verhandlungen des Ersten Deutschen Soziologentages vom 19.–22. Oktober 1910 in Frankfurt a. M., Tübingen 1911, S. 275 – 309. Kardorff, Ernst von: Zum Biologismus und Organizismus in den Sozialwissenschaften, in: Josef Heilmeier et al. (Hrsg.), Gen-Ideologie. Biologie und Biologismus in den Sozialwissenschaften, Hamburg 1991, S. 53 – 79. Käsler, Dirk: Schäffle, Albert Eberhard Friedrich, in: Neue Deutsche Biographie, Berlin 2005, S. 521 – 522. – Die frühe deutsche Soziologie 1909 bis 1934 und ihre Entstehungs-Milieus. Eine wissenschaftssoziologische Untersuchung, Opladen 1984. Knoll, Reinhold et al.: Der österreichische Beitrag zur Soziologie von der Jahrhundertwende bis 1938, in: M. Rainer Lepsius (Hrsg.), Soziologie in Deutschland und Österreich 1918 – 1945. Materialien zur Entwicklung, Emigration und Wirkungsgeschichte, Wiesbaden 1981, S. 59 – 101. Lenger, Friedrich: Werner Sombart, 1863 – 1941. Eine Biographie, München 1994. Lepsius, M. Rainer: Max Weber und die Gründung der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, in: Hans-Georg Soeffner (Hrsg.), Transnationale Vergesellschaftungen. Verhandlungen des 35. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Frankfurt am Main 2010, Wiesbaden 2013, S. 775 – 785.
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Roberto Sala
Loria, Achille: Quell est la tâche de l’objet de la sociologie, in: Monatsschrift für Soziologie, 1 (1909) 1, S. 28 – 30. Ludwig-Maximilian-Universität München: Verzeichnis der Vorlesungen, Bd. WS 1905/1906–SS 1910, München 1905 – 1910. Mikl-Horke, Gertraude: Max Weber und Rudolf Goldscheid. Kontrahenten in der Wendezeit der Soziologie, in: Soziologica Internationalis, 42 (2003) 2, S. 265 – 286. Mondolfo, Rodolfo: Zur Soziologie der Geschlechtsmoral, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, 36 (1913), S. 920 – 926. Müller-Lyer, Franz: Soziologie der Leiden, München 1914. – Phasen der Liebe. Eine Soziologie des Verhältnisses der Geschlechter V, München 1913. – Phasen der Kultur und Richtungslinien des Fortschritts, München 1908. Neef, Katharina: Die Entstehung der Soziologie aus der Sozialreform. Eine Fachgeschichte, Frankfurt am Main, New York 2012. Neitcheff, Mintcho: Zur Methodenlehre in der Soziologie, Zürich 1911. Nolte, Paul: Die Ordnung der deutschen Gesellschaft. Selbstentwurf und Selbstbeschreibung im 20. Jahrhundert, München 2000. Oberhuber, Florian: Von der allgemeinen Kulturgeschichte zur soziologisch fundierten Politologie: Gustav Rathenhofer (1842 – 1904), in: Karl Acham (Hrsg.), Geschichte der österreichischen Humanwissenschaften, Bd. 6.2: Philosophie und Religion, Wien 2006, S. 353 – 372. Oncken, Hermann: Zur Soziologie des Parteiwesens der modernen Demokratie, in: Archiv für Sozialwissenschaften und Sozialpolitik, 36 (1913), S. 585 – 593. Paletschek, Sylvia: Was heißt ,Weltgeltung deutscher Wissenschaft‘? Modernisierungsleistungen und –defizite der Universitäten im Kaiserreich, in: Michael Grüttner et al. (Hrsg.), Gebrochene Wissenschaftskulturen. Universitäten und Politik im 20. Jahrhundert, Göttingen 2010, S. 29 – 54. Peukert, Helge: Rudolf Goldscheid. Menschenökonom und Finanzsoziologe, Frankfurt am Main 2009. Rammstedt, Otthein: Georg Simmel und die Anfänge der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, in: Hans-Georg Soeffner (Hrsg.), Transnationale Vergesellschaftungen. Verhandlungen des 35. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Frankfurt am Main 2010, Wiesbaden 2013, S. 829 – 855. Reichesberg, Naum: Die Sociologie, die Sociale Frage und der sogen. Rechtssocialismus. E. Auseinandersetzung m. Herrn Prof. Dr. Ludwig Stein, Vf. d. Buches: „Die soz. Frage im Lichte d. Philos.“, Bern 1899. Rol, Cécile: Die Soziologie, faute de mieux. Zwanzig Jahre Streit mit René Worms um die Fachinstitutionalisierung, in: Dies./Christian Papilloud (Hrsg.), Soziologie als Möglichkeit. 100 Jahre Georg Simmels Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Wiesbaden 2009, S. 367 – 400. Roth, Guenther: Max Weber’s Empirical Sociology in Germany and the United States: Tensions between Partisanship and Scholarship, in: Central European History, 2 (1969) 3, S. 196 – 215.
Ein schwaches Etikett? Deutschsprachige Soziologie im frühen 20. Jh.
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Sala, Roberto: One, Two, or Three Cultures? Humanities versus the Natural and Social Sciences in Modern Germany, in: Journal of the Knowledge Economy, 4 (2013), S. 83 – 97. – Theorie versus Praxis? Die deutsche und amerikanische Soziologie im frühen 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2019. Scherke, Katharina: Emotionen als Forschungsgegenstand der deutschsprachigen Soziologie, Wiesbaden 2009. Schweiger, Lazarus: Philosophie der Geschichte, Völkerpsychologie und Sociologie in ihren gegenseitigen Beziehungen, Bern 1899. Schwinn, Thomas: Makrosoziologie jenseits von Gesellschaftstheorie: Funktionalismuskritik nach Max Weber, in: Jens Jetzkowitz/Carsten Stark (Hrsg.), Soziologischer Funktionalismus. Zur Methodologie einer Theorietradition, Opladen 2003, S. 83 – 90. Shils, Edward: Tradition, Ecology, and Institution in the History of Sociology, in: Daedalus, 99 (1970) 4, S. 760 – 825. – The Sociology of Robert E. Park, in: The American Sociologist, 27 (1996) 4, S. 88 – 106. – Die Beziehungen zwischen deutschen und amerikanischen Universitäten, in: Wolfgang Hardtwig/Harm-Hinnrich Brandt (Hrsg.), Deutschlands Weg in die Moderne. Politik, Gesellschaft und Kultur im 19. Jahrhundert, München 1993, S. 185 – 200. Simmel, Georg: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Leipzig 1908. – Soziologie der Über- und Unterordnung, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, 24 (1907), S. 477 – 546. – Zur Soziologie der Armut, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, 22 (1906), S. 1 – 30. – Soziologie des Raumes, in: Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich, 27 (1903), S. 27 – 71. – Philosophie des Geldes, Leipzig 1900. – Das Problem der Sociologie (1894), in: Heinz-Jürgen Dahme/David P. Frisby (Hrsg.), Aufsätze und Abhandlungen 1894 – 1900. Georg Simmel – Gesamtausgabe, Bd. 5, Frankfurt am Main 1992, S. 52 – 61. – Über sociale Differenzierung. Sociologische und psychologische Untersuchungen, Leipzig 1890. Small, Albion W: The Relation between Sociology and Other Sciences, in: American Journal of Sociology, 12 (1906) 1, S. 11 – 31. Spann, Othmar: Untersuchungen über den Begriff der Gesellschaft zur Einleitung in die Soziologie, Tübingen 1905. Stein, Ludwig: Wesen und Aufgabe der Sociologie. Eine Kritik der ,organischen‘ Methode in der Sociologie, in: Archiv für systematische Philosophie, 4 (1898) 2, S. 191 – 226. Steinmetz, Sebald Rudolf: Die Bedeutung der Ethnologie für die Soziologie, in: Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie und Soziologie, 26 (1902) 4, S. 423 – 446.
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Roberto Sala
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Ferdinand Tönnies, französisch gelesen1 Von Niall Bond Zu den Sprachen, die Ferdinand Tönnies beherrschte, gehörte Französisch. Tönnies hatte von Auguste Comte mehr als den bloßen Terminus Soziologie übernommen;2 sein Denken und damit sein soziologisches Idiom waren durch französischsprachige Zeitgenossen geprägt, zugleich prägte er durch diese Verbindung die französischsprachige Philosophie und Soziologie. Tönnies’ maßgeblich von der Romantik und von Schopenhauer und insofern von er deutschen Philosophietradition beeinflusstes Idiom hob sich von anderen epistemischen Schreibstilen seiner Zeit ab; sein Freund Paulsen fluchte über seinen Stil3 und Gustav von Schmoller merkte an, der Leser fühlte sich in die Zeit von Hegel zurückgeworfen.4 Dennoch hinterließ Tönnies, der sowohl Sozialstatistik, die er als „Soziographie“ bezeichnete, als auch philosophisch-reflektierte Soziologie betrieb, Spuren, die bis nach Japan reichten.5 Die Wechselwirkungen zwischen Tönnies und der französischsprachigen Welt veranlassten Tönnies dazu, zeitgenössische und ausländische Referenzen miteinzubeziehen und trugen zu einer Internationalisierung seines zu Beginn seiner Laufbahn sehr eigenwilligen Idioms bei. So übernimmt Tönnies trotz seines Schulterschlusses mit René Worms bei der internationalen Institutionalisierung der Soziologie vor allem einige Leitideen von Émile Durkheim, namentlich die Idee der „sozialen Tatsache“.6 Die Veröffentlichung einer Reihe neuer Übersetzungen von Tönnies’ Werken auf Französisch7 ist Anlass zu einer Auseinandersetzung sowohl mit den Einflüssen der französischsprachigen Intellektuellenlandschaft auf Tönnies als auch mit seinem 1 Ich danke Uwe Dörk für die Anregung für diesen Artikel und ihm und Fabian Link für die Korrekturen. Für die materiellen Möglichkeiten, in Kiel zu forschen, danke ich Jan-Gerrit Tönnies, für den Zugang zum Tönnies-Nachlass der Landesbibliothek Schleswig-Holsteins, deren Handschriftenabteilung durch die ebenso effiziente wie zuvorkommende Archivarin Kornelia Küchmeister geleitet wird. Für den Hinweis auf Tönnies‘ Handexemplar der Rezension von Émil Durkheim danke ich ihrem Vorgänger, Jürgen Zander. Dieser Aufsatz ist dem Andenken an Jan-Gerrit Tönnies und Kornelia Küchmeister gewidmet. 2 Vgl. Bond, Ferdinand Tönnies and Western European Positivism. 3 Klose/Jacoby/Fischer. 4 Schmoller. 5 Kato. 6 Vgl. z. B. Tönnies, Einführung. 7 Zu den in den letzten Jahren erschienenen Veröffentlichungen neuer Übersetzungen gehören u. a.: Tönnies, Communauté, Critique; ders., Karl Marx; ders., Les fous de Nietzsche.
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Einfluss auf die französischsprachige Soziologie. Der vorliegende Aufsatz kann nur die inhaltlichen Auseinandersetzungen andeuten, die Tönnies geführt hat, sowie seine offenkundigen und verschwiegenen Rezeptionen verschiedener ideologischer Richtungen. Die Bandbreite der französischsprachigen Rezeption von Tönnies war zunächst eher konservativ und reichte von Victor Leemans über Julien Freund bis zu Raymond Aron. Es ist festzustellen, dass nach dem Tod von Tönnies französischsprachige Rezipienten wie Aron oder Freund seinem Denken oft gerechter wurden als viele deutschsprachige Fachhistoriker der europäischen Sozialwissenschaften, da die politischen Voraussetzungen neutraler zu sein schienen.8 Unterschiedliche soziologische Idiome anderssprachiger Länder haben unterschiedliche politische Implikationen. Doch die universale Bedeutung von Tönnies wurde in Frankreich selbst dann anerkannt, als Durkheim nicht ganz zu Unrecht seine Rezension von Tönnies’ Hauptwerk mit der Feststellung eröffnete, dass die Hauptbegriffe ,Gemeinschaft‘ und ,Gesellschaft‘ unübersetzbar seien. Heute sind die Sozialwissenschaften global vernetzt, was Tönnies’ Weltvergesellschaftungsprozess entsprechen würde. Bei ihren Anfängen in der Aufklärung erhoben Sozialwissenschaftler einen universalistischen, grenzübergreifenden Anspruch. Die Grenzen des Denkverkehrs waren offen, und sogar Fichte meinte, dass sich Ideen über die Grenzen geschlossener Handelsstaaten hinweg frei bewegen konnten. Erst der Historismus und die aufflammenden nationalen Hegemonien führten Denker unterschiedlicher sprachlicher Gemeinschaften zu Vorstellungen von national geprägten Wissenschaftskulturen und -verständnissen. Unterschiedliche thematische Gewichtungen von sich in der Öffentlichkeit zu Wort meldenden Denkern gingen einher mit unterschiedlichen wissenschaftlichen und ideologischen Präferenzen innerhalb unterschiedlicher Sphären sozialer Geltung – der Staat, die bürgerliche Gesellschaft oder der Markt. Denker, die später Geisteswissenschaftler genannt wurden, untersuchten die Rückbindung von Ideen an die Lebensbedingungen, in denen sie verwurzelt waren: dies war ja auch der ursprüngliche Sinn des von Tracy de Stutt geprägten und von Karl Marx mit einem spezifischeren Inhalt gefüllten Begriffs der Ideologie. Dass unterschiedliche Gesellschaftsmodelle zu unterschiedlichen Wissenschaftskulturen führten, lag für die historischen Schulen des 19. Jahrhunderts auf der Hand. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, besonders während der Entstehung von Tönnies’ epochemachendem Werk Gemeinschaft und Gesellschaft und in den Jahren danach, gehörte das Bewusstsein dieser unterschiedlichen Wissenschaftskulturen zu den führenden Paradigmata zeitgenössischer wissenschaftspolitischer Auseinandersetzungen. Wenn das Paradigma eines national gebundenen Geistes mit dem Historismus in Deutschland einen ersten Höhepunkt erreicht haben mag, so findet sich dieses Paradigma auch bei westeuropäischen Positivisten wie Henry Buckle. Die Vorstellung einer nationalen Kulturgebundenheit von geisteswissenschaftlichen Ideen, welche den Idiomen des Denkens9 entsprechen, reicht bis in un8 Zur ideologischen Spannweite von Tönnies’ Rezeption s. meine Arbeiten: Bond, Tönnies und die Politik; ders., Staatsanschauungen; ders., The politics; ders., Understanding. 9 Waldenfels.
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sere Zeit hinein. Vor der zu seiner Zeit immer markanter werdenden Tendenz der Verfemung ausländischer Einflüsse ist die bewusste Aufnahme durch Tönnies von Vorläufern wie Hobbes, Locke, Smith und Ferguson aus dem englischsprachigen Raum, aber auch Rousseau, Montesquieu, Fustel de Coulanges und insbesondere Auguste Comte aus dem französischsprachigen Raum als außerordentlich zu bewerten. Grund hierfür war ein für die Zeit überdurchschnittliches Maß an intellektueller Neugierde, Weltaufgeschlossenheit, Sprachgewandtheit, Unparteilichkeit, Redlichkeit und nicht zuletzt Zivilcourage und Risikobereitschaft – philosophisch wurde Tönnies von unterschiedlichen nationalen Traditionen geprägt, auf diese Offenheit legte er Wert. Dass seine Rezeptionen durch das Ausland und mitunter Frankreich auch durch die Ereignisse politisch bewegter Zeiten einem Wandel ausgesetzt war, zeigt sich aber vor allem während und nach dem Ersten Weltkrieg. Der vorliegende Aufsatz widmet sich der durch die Tönnies-Forschung weitgehend vernachlässigten wechselseitigen Verbindungen Tönnies’ zur französischsprachigen Welt. Tönnies’ Korrespondenz zeigt, dass sich seine Gesprächspartner im französischsprachigen Raum für den Sozialphilosophen und den Soziologen Tönnies schon sehr früh interessiert haben, während die englische und zum Teil amerikanische wissenschaftliche Korrespondenz von Tönnies vor der soziologischen Rezeption durch Parsons und Sorokin in erster Linie um seine ideenhistorischen Arbeiten über Hobbes kreiste. Obgleich die Auseinandersetzung mit Tönnies – von wenigen Ausnahmen wie etwa die Hundertjahrfeier der Erscheinung seines Jugendwerkes in Meran und Kiel oder eine von der Ferdinand Tönnies Gesellschaft veranstaltete Tagung in Paris sowie der von uns organisierten, im Mai 2018 an der ENS in Lyon abgehaltenen Tagung über „Gemeinschaft – Die Karriere eines Begriffs zwischen Mitgefühl, Tribalismus und Voluntarismus“ abgesehen – bislang in einem Rahmen nationaler Sprachgemeinschaften stattgefunden hat, ist die Weiterführung seiner Gedanken weitgehend Wissenschaftlern zu verdanken, die zum Teil infolge der nationalsozialistischen Verfolgung außerhalb von Deutschland wirkten: Zu denken ist an seine Schüler Werner Cahnman in Australien, Rudolf Heberle in den Vereinigten Staaten und Eduard Georg Jacoby in Neuseeland, aber auch an zeitgenössische französische Wissenschaftler wie René Worms, Durkheim, später Julien Freund, Raymond Aron und noch später Dominique Schnapper. Dies verwundert insofern, als Tönnies’ Gedanken in der Vergangenheit auch von extremen politischen Ideologien vereinnahmt wurden. In den Nachkriegsjahren wurde Tönnies vom Neugründer der deutschen Soziologie René König stark negativ bewertet, während ihn die „Frankfurter Schule“ ignorierte. In Frankreich dagegen stieß er auf positives Interesse. Die französische Auseinandersetzung mit Tönnies setzte früh ein: die Rezension von Durkheim wurde 1888, d. h. nur ein Jahr nach dem Erscheinen von Gemeinschaft und Gesellschaft veröffentlicht.10 Schon 1894 wurde Tönnies von Worms auf den Vorschlag von Georg Simmel hin aufgefordert, dem Institut International de Socio10
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logie (IIS) beizutreten, in dessen Revue Internationale de Sociologie er einige Arbeiten veröffentlichte. Während des Ersten Weltkrieges kam es zu einem Einbruch des internationalen wissenschaftlichen Verkehrs, der erst ein Jahrzehnt später, Mitte der zwanziger Jahre, wiederaufgenommen wurde. Danach rezipierten französischsprachige Wissenschaftler wie Victor Leemans oder Raymond Aron in dessen 1935 erschienenem Werk La sociologie allemande contemporaine Tönnies’ Soziologie.11 Eine erste Übersetzung von Tönnies’ Gemeinschaft und Gesellschaft fertigte Joseph Leif während der Besatzung Frankreichs an, die 1944 bei den Presses Universitaires de France erschien. Die Kapitalismuskritik Tönnies’, die auch die extreme Rechte schätzte, war im besetzten Frankreich, aber auch nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs rezeptionsfähig. Es genügt, die Rezeption durch Leemans oder die auf 1887 in Gemeinschaft und Gesellschaft zurückgehende Triade von der „Freiheit der Zusammenkunft, [der] Leichtigkeit, Geschäfte zu machen, und [der] Gleichheit der vernünftigen Menschen“,12 die Tönnies’ Aufnahme in die Gruppe um Johann Plenge im Ersten Weltkrieg den Weg wies, oder schließlich die von nationalsozialistischen Rechtstheoretikern proklamierte Idee eines „gemeinschaftlichen Naturrechts“13 zu berücksichtigen, um den Reiz von Tönnies für rechtsextreme Ideologen zu verstehen, und zwar ungeachtet Tönnies’ Engagements für die Sozialdemokratie. Eine Wahlverwandtschaft mit den gescheiterten Regimen, die Georg Lukacs in Ostberlin und Ralf Dahrendorf in der Bundesrepublik thematisierten, scheint in der französischen Rezeption allerdings nicht wahrgenommen worden zu sein. Grund dafür mag die Verdrängung der Diktaturerfahrung gewesen sein. Tönnies war sprachlich und fachlich gerüstet, um sich mit der französischen Soziologie auseinanderzusetzen. Seine sprachlichen Fähigkeiten waren für den schriftlichen Briefverkehr zureichend – zahlreiche französischsprachige Korrespondenten finden sich in seinem Nachlass –, aber die französischsprachigen Fassungen von Tönnies’ Aufsätzen und Artikeln wurden von Übersetzern angefertigt. Seine französischsprachigen Korrespondenten – unter anderem die zu ihrer Zeit exponierten Intellektuellen Felix Alcan, Émile Durkheim, Georges Duprat, Elie Halévy, Worms, André Morize und Celestin Bouglé – schrieben an Tönnies auf Französisch. Sogar die Ehefrau des deutschen Hirnforschers Oscar Vogt, Cécile Vogt, geborene Mugnier, schrieb Postkarten an Tönnies von der Magdeburger Strasse 16 in Berlin jeweils auf Französisch, so am 4. September 1914, wo sie ihrer Hoffnung Ausdruck gibt, dass aus den Trümmern und dem menschlichen Leid des Krieges etwas Großes entstehen würde. Wir dürfen daraus schließen, dass Tönnies wohl gut Französisch sprach, auch wenn er die Darstellung seiner Ideen Übersetzern überließ. Der von der belgischen Regierung mit einem Überblick über die soziologischen Arbeiten in Deutschland beauftragte Forscher Fernand Deschamps hat in einem am 26. Januar 1899 geschriebenen Brief Tönnies darum gebeten, ihn in die deutschsprachige Soziologie einzufüh11
Aron. Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft, Buch 3, § 16. Herv. i. Orig. 13 Bond, The Displacement.
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ren, da Deschamps’ Deutschkenntnisse für den Auftrag nicht ausreichten. Tönnies’ Haus stand für ausländischen Besuch immer offen, wie etwa für den jungen Bertrand Russell, der ab 1923 korrespondierendes Mitglied der DGS wurde, oder später, wie aus einem Brief von André Morizé hervorgeht, für den Bruder von Morizé, der eine Stelle als Hauslehrer suchte und den Tönnies 1907 an einen Neffen empfahl. Ein Schulzeugnis von Tönnies zeigt, dass der an der Husum Gelehrtenschule eingeschulte Vierzehnjährige in Französisch eine 2 erhielt, neben einer 1 in Englisch und guten Ergebnissen in Latein, Altgriechisch, Hebräisch und Dänisch.14 Sein jüngerer Bruder August war an der Ausarbeitung eines Deutsch-Französischen Lexikons beteiligt.15 Dieser französische Aspekt von Tönnies’ Bildung ist bislang vernachlässigt worden, da sich die Diaspora seiner Verwandtschaft und Schüler vor allem in den englischsprachigen Raum erstreckt und eine profilierte Tönnies-Forschung in Frankreich bis vor kurzem kaum existierte. Nach der Gründung der Universität Straßburg im annektierten Elsass 1870 gehörte Tönnies zu den ersten Studenten, die sich an dieser Universität eingeschrieben haben – nicht, um in französischer Gelehrtenkultur geschult zu werden, sondern um eine deutsche Universitätskultur aufzubauen.16 Ungeachtet der traditionellen Skepsis der Schleswig-Holsteiner gegenüber Preußen und der Herabwertung der Herzogtümer durch deren Einverleibung in das Deutsche Reich, die Tönnies als bedrückend empfand, gab Tönnies seiner Begeisterung für „das neue Reich“ Ausdruck – dies war der Titel, den er mit anderen Schülern für eine Schülerzeitschrift wählte. Tönnies war enttäuscht, dass sein Vater ihm verbot, in den Krieg zu ziehen. Als er einen Studienplatz aussuchen wollte, stand seine Entscheidung fest: „Die Hauptsache war mir Straßburg: Dahin rief mich meine Gesinnung.“17 Die Garnisonstadt Straßburg verließ er jedoch schnell wieder: „Die Wohnverhältnisse in der alten Reichstadt, die als französische Festung nicht sauberer geworden war, brachten mir eine Erfahrung, die meinen Abscheu erweckte, ich kam eben als blutjunger Mensch aus dem warmen elterlichen Nest.“18
Tönnies hatte eher Sympathien für Provinzen als für das Zentrum; er erinnerte sich, sich 1864 besser mit den Soldaten aus dem italienischen Piemont als mit den preußischen Soldaten verstanden zu haben.19 Später unterstützte er die Boer gegen die Briten in Südafrika. Frankreich (wie später Preußen) war für ihn eine Verkörperung arroganter Nationalstaatlichkeit, die regionale Kulturen und Sprachen überdeckte. Tönnies schilderte am Beispiel Roms, dass das gemeinsame Recht wie ein „Reagens in den Mischkessel [geworfen wurde], das alle verschiedenen Stoffe in ihre gleichen Elemente auflösen musste“:20 Seine Zeitgenossen konnten hier eine 14
Abgedruckt bei Carstens. Sachs/Villatte. 16 Tönnies, Selbstdarstellung, S. 199 – 234. 17 Polley, S. 208. 18 Ebd., S. 210. 19 Ebd., S. 211. 20 Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft, Buch III, Abschn. 16. 15
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auf Savigny zurückgehende Kritik am kodifizierten französischen Recht von Napoleon unschwer erkennen, das die regionalen Identitäten unterdrückte. Mit der Kritik am Imperialismus, die Tönnies später, während des Ersten Weltkriegs auch gegen Russland und Großbritannien richtete,21 ging eine Feindschaft mit Frankreich einher, die umso erstaunlicher war, da Tönnies Verbindungen zu französischen Akademikern, Intellektuellen und Freunden pflegte. An der Universität in Jena besuchte er im Sommersemester 1872 bei Wilhelm Adolf Schmidt eine Vorlesung über die Geschichte der Französischen Revolution,22 die ihm zu Einsichten in den Prozess der Verlagerung von Gemeinschaft auf Gesellschaft und zur Bedeutung der Öffentlichkeit in der Französischen Revolution verhalf.23 Diese Sympathie für die Provinz hielt Tönnies aber nicht davon ob, sich in eine internationale Gelehrtenweltrepublik einzufügen, als er Einladungen und Würdigungen westlich des Rheins, von den Vereinigten Staaten oder von Japan erhielt.24 Dass ein gegenseitiges deutsch-französisches Verständnis von der Tönnies-Forschung bislang unerforscht geblieben ist, zeugt von einer Unwissenheit um die gemeinsamen Wurzeln europäischer Sozialwissenschaften.
I. Tönnies’ Einführung in die internationalen Sozialwissenschaften durch René Worms Zu Tönnies’ Bekannten gehörten die konkurrierenden Wortführer der Soziologie in Frankreich, Gabriel Tarde, Durkheim und Worms. Durkheim verdankte Tönnies wesentliche Anregungen: Der von Durkheim aufgestellte Gegensatz zwischen der mechanischen vormodernen und der organischen Solidarität der modernen arbeitsteiligen Gesellschaft differenzierter, aufeinander angewiesener Individuen entstand etwa in einer Distanzierung zu Tönnies’ Gegenüberstellung von „organischer“ Gemeinschaft und „mechanistischer“ Gesellschaft. Der Austausch zwischen Tönnies und Worms zeugt dagegen vom gemeinsamen Versuch, eine europäische Soziologie zu institutionalisieren. Im Januar 1893 hatte Worms die Fachzeitschrift Revue Internationale de Sociologie und 1894 das IIS sowie die Veröffentlichungsreihe Bibliothèque Internationale de Sociologie gegründet. 1895 gründete Worms zudem die Société de Sociologie de Paris.25 Zu einer Zeit, da Durkheim seine Doktorarbeit De la Division du Travail Social 1893 veröffentlichte, war Worms einer der aktivsten, wenngleich kaum anerkannten institutionellen Macher der frühen europäischen Soziologie. Worms bemühte sich als Außenseiter um die Etablierung der Disziplin zu einer Zeit, da er als Jurist am Be21
Z. B. Tönnies, Schuldfrage; ders., Warlike England. Vgl. Carstens. 23 Vgl. Tönnies, Kritik. 24 Vgl. SHLB Kiel, Nachlass Tönnies. 25 Clark. 22
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rufungsgericht in Paris (1891 – 1894) arbeitete; 1895 bekam er einen Lehrauftrag in Politischer Ökonomie an der Juristischen Fakultät der Universität Paris, erst ein Jahr später promovierte er. Der erste eingegangene, am 15. April 1894 geschriebene Brief von Worm an Tönnies26 ist eine auf Empfehlung durch Simmel zurückgehende und in Anerkennung von Tönnies’ Arbeiten ausgesprochene Einladung, Mitglied im IIS zu werden. Wichtige Gelehrte aus Deutschland, Österreich, England, Italien, Russland und Frankreich waren bereits Mitglieder. Am 24. April 1894 dankte Worms Tönnies für seine Mitgliedschaft, lud ihn zum Kongress in Paris ein und bat ihn um Literaturhinweise über das Verhältnis zwischen Spinoza und Hobbes. Am 18. Mai bedankte sich Worms für Tönnies’ Hinweise auf Hobbes und forderte ihn dazu auf, etwas über die soziale Bewegung in Deutschland zu schreiben. Am 16. Oktober 1894 dankte er Tönnies für sein Schreiben und bedauerte, dass Tönnies bei einem Empfang im Élysée-Palast nicht anwesend sein konnte. Er schlug Tönnies einen Austausch mit Gabriel Tarde vor. Nach einem Glückwunsch zu Tönnies’ gerade geschlossener Ehe lud Worms ihn am 7. September 1894 zu einer Tagung in Paris ein. Am 25. November 1894 schrieb Worms vom Cabinet du Ministère du Commerce de l’Industrie, des Postes et des Télégraphes, um Tönnies daran zu erinnern, dass er eine Geschichte der sozialen Bewegung in Deutschland für die Revue Internationale de Sociologie versprochen hatte, und dass Tönnies einen Bericht über das Verbrechen als soziales Phänomen schreiben, während Tarde die Entwicklung politischer Formen behandeln sollte. 1895 war Albert Schäffle Präsident des Instituts.27 Am 2. März 1895 erinnerte Worms Tönnies an seine Zusage, eine Geschichte der sozialen Frage für seine Zeitschrift bis Ende März und den anderen Artikel über das Verbrechen als soziales Phänomen für den nächsten Kongress abzuliefern. Der Bericht über das Verbrechen ging im Juni ein, und der erste Teil von Tönnies’ zweiteiliger Geschichte der sozialen Frage wurde im August, der zweite Teil im November von einem Herrn de Krauz ins Französische übersetzt; die zwei Teile erschienen im Februar 1896. Die „soziale Frage“, ursprünglich eine deutsche Übersetzung des französischen Ausdrucks, „la question sociale“, von Heinrich Heine ins Deutsche eingeführt, blieb ein beständiger Gegenstand der deutsch-französischen Kooperation zwischen Worms und Tönnies. Am 4. Januar 1900 erinnerte Worms Tönnies daran, eine neue Veröffentlichung über die soziale Bewegung in Deutschland bis Ende des Jahres fertig zu schreiben; Tönnies schickte die Schrift aber nicht rechtzeitig, erst nach einer erneuten Anfrage am 8. Januar 1902 konnte Worms sich am 9. Februar bei Tönnies für dessen Manuskript bedanken. Schon am 22. Februar 1903 hatte Henri Schnerb den Text übersetzt. Da
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Der hier angeführte Briefverkehr zwischen Tönnies und Worms sowie sämtliche andere hier diskutierte Korrespondenzen befinden sich im Tönnies-Nachlass der schleswig-holsteinischen Landesbibliothek in Kiel unter der Bestandsnummer 56 (Briefeingang von privaten Personen). SHLB Kiel, Nachlass Tönnies Cb 56 (Briefeingang) und Cb 51 (Briefausgang). Vgl. dazu Zander. 27 Vgl. Worms, Annales.
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das Institut über wenige Mittel verfügte, bot Worms für Tönnies’ Arbeiten einen Tausch von Artikeln und Bänden der Annales an.28 Worms widmete dem Ausbau der internationalen Verbindungen und der internationalen Institutionalisierung der Soziologie sein Leben. Tönnies und Worms befanden sich in einer ähnlichen Situation; ihre Bemühungen um die Etablierung und Institutionalisierung der Soziologie wurden von den Universitäten nicht anerkannt. Am 13. März 1896 dankte Worms Tönnies dafür, ihn zu seiner Promotion an der Sorbonne in Lettres beglückwünscht und ihn mit Werner Sombart bekannt gemacht zu haben. Worms bedauerte 1895, dass Tönnies und Simmel zum Kongress nicht kommen konnten, und schlug vor, Werner Sombart könne von sich aus um die Mitgliedschaft werben. Am 19. Mai 1897 kündigte Worms den nächsten Kongress des IIS am 20. Juli 1897 in Paris an.29 Die Außenseiter pflegten einen sachlichen Austausch. Am 30. April dankte Worms für Tönnies’ Rezension von Worms’ Organisme et Société, in welcher Tönnies auf höfliche Weise seine Ablehnung von Worms’ Thesen zum Ausdruck brachte; in der Revue de Métaphysique et de Morale von 1897 wurde dagegen die Organismusanalogie vom jungen François Simiand (Seiten 491 – 499) rücksichtslos demontiert. Die Enttäuschung, die angesichts Tönnies’ häufigen Gebrauchs der Organismusanalogie wohl umso grösser ausfiel, hielt Worms nicht davon ab, Tönnies am 4. Januar 1899 mitzuteilen, dass er zum Vize-Präsident des IIS für das Jahr 1899 gewählt worden war. Am 7. Januar 1899 bat Worms um zwei Rezensionen von Büchern von Tarde und de Vaccaro für die Bibliothèque Sociologique. Im Februar 1899 tauschte er sich mit Tönnies über eine vom russischen Prinz Ténicheff finanzierte, konservativ formulierte Preisausschreibung über „Angriffe auf die soziale Ordnung“ (Atteintes à l’Ordre Social) aus, die unter französischer Federführung organisiert werden sollte.30 Am 14. Juni 1899 wiederholte Worms seine Einladung zum Kongress; nur müsse Tönnies auf Französisch schreiben, da das Institut nicht über die finanziellen Mittel verfügte, um Übersetzungen zu finanzieren, er werde aber versuchen, einen Kollegen aufzutreiben, der die Schrift umsonst übersetzte. Im Juli tauschten sich Worms und Tönnies über den Tod von Albert Schäffle aus, der neben Paul Lilienfeld eine Vorbildfunktion im Gebrauch der Organismusanalogie innehatte. Bald darauf brach die Korrespondenz ab. Erst 1927 nahm Tönnies den Austausch mit dem Institut wieder auf.31 Weitere Zeugnisse vom IIS in Tönnies’ Nachlass sind eine nach dem Tode Worms 1926, am 15. Dezember 1927 auf dem Briefkopf der Genfer Soziologiegesellschaft geschriebene Einladung von Georges Duprat, am zehnten Kongress des Instituts über 28
Vgl. Fußnote 26. Vgl. ebd. 30 Vgl. ebd. 31 Vgl. ebd. 29
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die Ursachen des Krieges und die Bedingungen eines Friedens in Genf im Juli 1929 teilzunehmen. Am 5. Februar 1929 schrieb Duprat an Leopold von Wiese, dass alle dem Institut vor 1914 angehörenden Soziologen als Mitglieder des Instituts wiederaufgenommen worden waren. Am 8. November 1930 schrieb er an Tönnies als Vorsitzenden der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS), dass das nun fast vierzig Jahre alte Institut einen Verband aller soziologischen Gesellschaften gründen wollte. Am 20. November des gleichen Jahres bat er Tönnies um Exemplare seiner sämtlichen Werke für die Institutsbibliothek und lud die DGS dazu ein, Verbandsmitglied zu werden.32 Durch den Kontakt zu Worms wurde Tönnies neben Simmel zu einer zentralen Vermittlerfigur auf dem Feld wissenschaftlicher Beziehungen zwischen dem deutsch- und dem französischsprachigen Raum. Ab 1894 wurde Tönnies auf Vorschlag von Paul Natorp Rezensent aller französischsprachigen soziologischen Veröffentlichungen für das Archiv für systematische Philosophie.33 So schrieb der führende Verleger der damaligen französischen Sozialwissenschaften Alcan am 7. September 1897, dass er Tönnies sämtliche neueren Veröffentlichungen auf dem Gebiet der Soziologie zuschicken würde, bot ihm am 21. Januar 1896 die Übersetzungsrechte von Louis Proals La criminalité politique zum Preis von 300 Francs an und schlug ihm am 4. September 1904 vor, Célestin Bouglés La démocratie devant la science34 zu rezensieren. Die Auseinandersetzung mit Worms und die Einführung von Tönnies in die internationale Wissenschaftsgesellschaft ging der Auseinandersetzung mit der „organischen“ Gesellschaftsauffassung voraus, so auch mit der ersten französischsprachigen Rezension von Tönnies’ Werk, die von Émile Durkheim verfasst worden war. Zum gemeinsamen Idiom von Tönnies und Worms gehörte die Organismusanalogie, welche die Grundlage von Worms’ Denken war und von der sich Durkheim distanzierte. Dabei spielte die Organismusanalogie eine sowohl analytische als auch normative Rolle im 1893 verabschiedeten Programm von Worms.
II. Die erste französischsprachige Rezension von Tönnies’ Gemeinschaft und Gesellschaft von Émile Durkheim Eines der wichtigsten Beispiele des deutsch-französischen Austausches in den frühen Sozialwissenschaften war die gegenseitige Auseinandersetzung zwischen Tönnies und Émile Durkheim (1858 – 1917). Das Handexemplar, das Tönnies von der sehr prägnanten Rezension Durkheims von Gemeinschaft und Gesellschaft besaß, hatte er an manchen Stellen angestrichen und kommentiert. Die Rezension gehört zu den klügsten und präzisesten Zusammenfassungen des Werkes.35 Sie 32
SHLB Kiel, Nl Tönnies, Cb 61. Vgl. Fußnote 26. 34 Bouglé. 35 Durkheim, Communauté. 33
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wurde von Ferdinand Tönnies auch später in seiner eigenen Rezension von Durkheims De la division du travail social kommentiert.36 Durkheim war philosophisch geschult und erkannte unschwer die Einflüsse von Schopenhauer, Marx, Kant, Sumner Maine und den Evolutionisten auf Tönnies. Durkheim meinte, dass aufgrund der synthetischen Eklektik die Lektüre des Buches besonders schwierig sei, was er wegen der sehr zahlreichen guten Ideen des Werks bedauerte; so beschränkte sich Durkheim auf die soziologischen Hauptaussagen des Werkes. Es gehe Tönnies um die Beschreibung von zwei Grundformen des sozialen Lebens des Menschen. Während Durkheim zustimmte, dass es zwei große Vergesellschaftungsformen gab, bedauerte er, dass die Termini ,Gemeinschaft‘ und ,Gesellschaft‘ „unübersetzbar“ seien; dies stand in nur scheinbarem Widerspruch zu seinem Satz, „La Gemeinschaft, c’est la communauté.“ Die Gesellschaft umschrieb Durkheim als eine in großen, modernen Städten geballte Form menschlichen Zusammenlebens. Die Gemeinschaft fasste er als eine auf „consensus“ („Verständnis“) beruhende Einheit mit ländlichdörflicher Struktur zusammen. Unabhängige Individuen und soziale Gruppen existierten innerhalb der Gemeinschaft bzw. im Kommunismus nicht. Der Grundkeim der Gemeinschaft sei die Familie, die Gemeinschaft zeichnete sich durch gemeinsamen Besitz aus. Alleine der individuelle Profit bewegte die Mitglieder der Gesellschaft dazu, ihr Eigentum zu veräußern und dadurch den gemeinsamen Besitz aufzubrechen. Während ,Gemeinschaft‘ am ehesten der Beschreibung Hegels entsprach, korrelierte ,Gesellschaft‘ am ehesten mit der Schilderung Jeremy Benthams. Durkheim erkannte sehr früh die Bedeutung der quantitativen Bestimmtheit der sozialen Gruppe bei Tönnies: bei steigerndem Volumen sank die, die auf die Individuen einwirkte. Fokussiert auf den Untertitel von Gemeinschaft und Gesellschaft „Abhandlung des Communismus und Sozialismus als empirische Kulturformen“ schloss Durkheim, dass der Kommunismus das Regime der Gemeinschaft, der Sozialismus dagegen das Regime der Gesellschaft sei: wie die Gesellschaft aus der Gemeinschaft hervorging, entfaltete sich der Sozialismus aus dem Kommunismus. Dazu schrieb Tönnies in einer Randbemerkung in seinem Handexemplar in Bleistift: „nicht gesagt“. Dennoch scheint Durkheims Deutung mit Tönnies’ Autobiografie von 1922 übereinzustimmen, in welcher er klarstellt, der Untertitel bedeute, dass der „Kommunismus“ und der „Sozialismus“ keine ausgeklügelten Utopien seien, sondern in der Geschichte wirklich existiert hätten.37 Auch Tönnies’ mit dem Marxismus nicht eigentlich zu vereinende Geschichtsphilosophie gab Durkheim getreu wieder: während die Sozialisten ihr Regime als die Verwirklichung allen Fortschritts ansahen, sah Tönnies nur ein unabdingbares Moment der sozialen Entwicklung, die auf ihre endgültige Auflösung hinauslief. Denn das Leben der Gesellschaften bestehe aus zwei großen Stadien, dem Kommunismus und dem Sozialismus. Letzterer ging aber dem Ende der Gesellschaft voraus, wofür Tönnies das Beispiel des Untergangs der römischen Gesellschaft zitierte. 36 37
Tönnies, Rezension. Tönnies, Selbstdarstellung.
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Es ist Tönnies’ Gesellschaftstheorie, an der sich die Geister am stärksten schieden. „Wenn ich seine Gedanken richtig verstanden habe“, schrieb Durkheim, „ist die Gesellschaft durch eine allmähliche Entwicklung des Individualismus bezeichnet, in welcher das staatliche Handeln nur vorübergehend und künstlich das Auseinandertreiben der Individuen aufhalten kann; die Gesellschaft ist ein im wesentlichen mechanisches Aggregat; das eigentliche Kollektivleben wird nicht von interner Spontaneität, sondern von den äußerlichen Triebkräften des Staates am Leben gehalten.“38
Dies kommentierte Tönnies am Rande mit: „falsch verstanden!“ Durkheim erkannte in Tönnies’ Gesellschaft den Utilitarismus Benthams. Dazu meinte allerdings Durkheim, dass das Gruppenleben in einer großen Gesellschaft ebenso natürlich sei wie in den früheren kleinen Gruppen. Hierzu schrieb Tönnies am Rande: „gar nicht!“ Durkheim ging davon aus, dass die beiden Formen unterschiedlich, aber dennoch zwei Arten des Zusammenlebens der gleichen Kategorie waren: so unterschiedlich ,Gemeinschaft‘ und ,Gesellschaft‘ auch waren, so gab es für Durkheim keinen qualitativen Unterschied. „Um dies zu beweisen, müsste ich ein Buch schreiben: hier kann ich nur die Frage stellen: ist es denn überhaupt wahrscheinlich, dass ein einziges Wesen organisch anfängt, um sich dann zu einem Mechanismus zu entwickeln?“ Durkheim beschrieb Tönnies’ Gegenüberstellung als ein einfaches Nebeneinander von Aristoteles und Bentham: wenn eine Gesellschaft als Organismus zu existieren begann, so blieb sie ein Organismus bis zu ihrem Ende. Es wird deutlich, dass Tönnies’ Theorie der Ausgangspunkt für Durkheims Gegenüberstellung von mechanischer und organischer Solidarität war. Doch distanzierte sich Durkheim von der „ideologischen“ Beschreibung der modernen Gesellschaft durch Tönnies, der in seiner Analyse des Rechts und der Sitten induktiv verfuhr. Gemeint war sicherlich die starke Anlehnung von Tönnies an Marx. Durkheims Rezension schloss mit der Feststellung, dass das Buch ungeachtet aller Vorbehalte von einer ungewöhnlichen Geistes- und Konstruktionskraft zeuge. Durkheim kondensierte seine Reflexionen über Tönnies’ Theorie in seinem Buch Über die soziale Arbeit, das auch Einsichten von Smith, Marx und Spencer aufnahm. Durkheims eigene intellektuelle Entwicklung bis hin zur Niederschrift seiner Doktorarbeit indiziert einen starken Einfluss von Tönnies und Spencer. Die Gesellschaft wurde dadurch modern, dass sie die Arbeit funktional teilte und sozial differenzierte: nicht das als „mechanische Solidarität“ von Durkheim bezeichnete vormoderne Gruppenleben bedingte die Interdependenz der Individuen in der modernen Gesellschaft und somit das, was Durkheim als „organische Solidarität“ bezeichnet, sondern die Verschiedenheit der Individuen. Es scheint sich hierbei um eine Gegenposition zu Tönnies zu handeln. Die durch Verschiedenheit bedingte Interdependenz einer arbeitsteiligen Gesellschaft schaffte ein Gefühl gegenseitiger Solidarität.39 Am Umstand, dass solche Vergesellschaftungen von einer Grundeinstellung der Instrumentalisierung abhingen, nahm Durkheim im Gegensatz zu Tönnies keinerlei An38 39
Durkheim, Communauté, S. 471. Durkheim, De la division, S. 19.
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stoß. Das vermischte sich bei Durkheim mit einer laizistisch-republikanischen und universalen Haltung.40 Ein weiterer Einfluss Tönnies’ auf Durkheim ist die Idee, dass sich das Soziale in Augenblicken zu Tage tretender Konflikte verflüchtigen konnte: dies nannte Durkheim „Anomie“.41 Doch der Einfluss war ein wechselseitiger. Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass Tönnies’ Gebrauch der Formel „soziale Tatsache“ auf den Einfluss von Durkheim zurückzuführen war. Eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit soziologischen Phänomenen bedurfte beim damaligen Stand der Sozialwissenschaften einer Legitimation, und zu dieser Legitimation gehörte die Behauptung, dass sich das Soziale aus dem „Tatsächlichen“ konstituierte. Der erhalten gebliebene briefliche Austausch zwischen Tönnies und Durkheim ist knapp; der erhaltene Briefstand im Tönnies-Nachlass beschränkt sich auf einen am 28. April 1898 von Durkheim verfassten Brief, in welchem er als Herausgeber der Zeitschrift L’Année Sociologique Tönnies dazu einlud, ihm ein Rezensionsexemplar von Tönnies’ Über die Grundthatsachen des sozialen Lebens zu schicken. Es muss eine weitere Korrespondenz gegeben haben, denn Tönnies scheint als Gesprächspartner Simmel ersetzt zu haben, nachdem sich Simmel und Durkheim im Schatten der Dreyfus-Affäre überworfen hatten.42
III. Philosophische Vernetzung durch soziale Kontakte Durkheims Assistent Célestin Bouglé (1870 – 1940), der bei Simmel studiert hatte, machte eher als Philosoph denn als Soziologe mit Tönnies Bekanntschaft. In einem undatierten Brief schreibt Bouglé an Tönnies, dass er eine Reihe von Artikeln über die Sozialwissenschaften für die Zeitschrift Revue de Métaphysique et de Morale geschrieben hatte und dass er sich mit den Quellen von Tönnies’ Denken auseinandersetzen wollte. Nachdem er Gemeinschaft und Gesellschaft gelobt hatte, fragte er, ob Tönnies nicht ein neues Werk veröffentlichen würde, das er durcharbeiten könnte. Schließlich stellte er die Frage, ob Tönnies das Werk von Tarde Logique Sociale rezensiert hätte. In einer zweiten, undatierten Karte wies Bouglé, der spätestens 1929 korrespondierendes Mitglied der DGS war,43 auf den Einfluss von Tönnies auf sein Buch Les Idées Égalitaires hin, das er Tönnies kurz nach dessen Veröffentlichung 1899 zukommen ließ.44 In seinem Werk Les Sciences Sociales en Allemagne. Les Méthodes Actuelles45 setzte sich Bouglé mit zwei Autoren, dem Nationalökonomen Adolf Wagner und dem Rechtsphilosophen Rudolf von Jhering, die Tönnies 40
Ebd., S. 91. Ebd., S. 36. 42 Rammstedt. 43 DGS-Projekt Uwe Dörk, KWI Essen. 44 Bouglé, Idées égalitaires. 45 Bouglé, Sciences sociales. 41
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stark beeinflusst hatten, auseinander. Zudem beschäftigte er sich mit Simmel, der seinerseits von Tönnies beeinflusst war. Aber Tönnies’ Synthese nahm Bouglé nicht zur Kenntnis. Über Bouglé kam Tönnies mit weiteren französischsprachigen Philosophen zusammen. Élie Halévy, ein Bekannter von Bouglé, erinnerte Tönnies am 22. September 1900 daran, dass er auf dem Internationalen Philosophenkongress einen Vortrag über die „schöpferische Synthese“ („La synthèse créatrice“) zu halten hatte. Am 15. Oktober 1900 schrieb Halévy, dass er die Druckfahnen von Tönnies’ Artikel an die Universität Kiel geschickt hatte. Ungefähr dreißig Jahre später lud Tönnies Halévy dazu ein, Mitglied der Societatis Hobbesianae zu werden, aber Halévy lehnte am 22. März 1930 mit der Begründung dankend ab, der Verein habe eine wissenschaftliche Gesamtausgabe der Werke von Hobbes nicht herausgebracht. Auf institutioneller Ebene erhielt Tönnies von Pierre André Lalande (1863 – 1967), Generalsekretär der Société Française de Philosophie und Initiator eines zunächst als Hefte des Bulletin de la Société Française de Philosophie zwischen 1902 und 1923 erscheinenden „technischen und kritischen Wortschatzes der Philosophie“,46 einen am 30. November 1903 geschriebenen Brief, in welchem der Franzose erklärte, dass die Auslassung der Begriffe ,Gemeinschaft‘ und ,Gesellschaft‘ im philosophischen Wortschatz darauf zurückzuführen war, dass die Vereinsmitglieder über unzulängliche Sprachkenntnisse verfügten, um eine Kritik fremdsprachiger Begriffe zu leisten.47 Am 22. März 1922 notierte Lalande, dass er Tönnies’ Vorschlag einarbeiten würde, den Begriff ,Voluntarismus‘ einzuführen. Und am 15. Januar 1931 schrieb Lalande, dass es ihm Leid tat, dass Tönnies das 1926 erschienene Werk Vocabulaire, zu dem er beitragen wollte, nicht erhalten habe. Allgemein gesehen, schien Tönnies von den französischen Philosophen geschätzt worden zu sein; so lobte der Comte- und Condorcet-Spezialist Franck Alengry, Inspecteur d’Académie, in einer undatierten Postkarte Tönnies’ „schöne“ Arbeit („belle étude“) über Condorcet. Bei aller Achtung vor Tönnies’ Gelehrsamkeit fanden französische Philosophen aber ebenso wenig Zugang zu Tönnies’ Willensformen wie die deutsche Philosophie insgesamt. Tönnies’ Rezensionstätigkeit bot weitere Gelegenheiten zum Austausch mit französischsprachigen Autoren, wie etwa Jean Bernard und Joachim Izoulet, der sich bei Tönnies Mitte 1895 für seine Rezension von Izoulets La Cité moderne, métaphysique de la sociologie in der Wiener Zeit bedankte. 1. Gabriel Tarde Der für seinen wissenschaftlichen Beitrag am explizitesten geschätzte französische Kollege nach August Comte (1798 – 1857), der Tönnies die geschichtsphiloso46
Lalande. Zum europäischen philosophischen Wortschatz gehörte Tönnies’ Begriffsdichotomie, denn schon 1904 wurde Tönnies’ Gemeinschaftsbegriff vom österreichischen Philosophen Rudolf Eisler als „sociales Zusammenleben, organisch-sociale Verbindung“ definiert: „TÖNNIES unterscheidet sie von der ,willkürlichen‘ Gesellschaft (Gem. u. Gesellsch. S. 27 ff.).“ s. Eisler, S. 370. 47
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phische Methode, den positivistischen Ansatz und selbstverständlich die Bezeichnung der Disziplin der Soziologie vermachte,48 war der um zwölf Jahre ältere Zeitgenosse Gabriel Tarde (1843 – 1904). Tarde suchte erst kurz vor seinem Tod im Jahre 1904 Kontakt zu Tönnies. In einem Schreiben vom 28. Dezember 1902 bedankte sich Tarde für eine wohlwollende und getreue Rezension seiner Schriften und betonte, dass die Hauptproblematik der Soziologie für ihn wie für Tönnies in der Aufstellung von Kausalgesetzen menschlicher Empfindungen und Initiativen lag, wie aus seiner Sozialen Logik hervorgehen würde.49 Tarde und Tönnies interessierten sich für vorrationale, leidenschaftliche, affektive soziale Kräfte. Seine Werke, ähnlich wie Tönnies’ soziografischen Arbeiten, setzten sich mit Kriminalität auseinander, boten aber auch eine ursprüngliche Erklärung der Soziabilität an, wie in Les Lois de l’Imitation (Die Gesetze der Nachahmung, 1890) oder La Logique Sociale (von 1895), ein Werk, das Tönnies rezensierte. Tönnies sah Tardes 1901 erschienenes Werk L’Opinion et la Foule als wesentlichen Anstoß für sein eigenes Werk über die Öffentliche Meinung.
2. Victor Leemans: Ein kosmopolitischer, nationalistischer Bote von Tönnies Der flämische Politologe und Politiker Victor Leemans (1901 – 1971), zunächst Student am Institut für Soziologie in Brüssel, danach in Paris – René Maunier bezeichnete ihn im Vorwort von Leemans Monografie über Tönnies als einen der brillantesten Schüler der Ecole des Hautes-Études Sociales de Paris – wurde Übersetzer der Theorie von Tönnies im niederländischen und im französischen Sprachraum.50 Maunier betonte Leemans’ interkulturelle Rolle als Botschafter und sah den Einfluss von Saint-Simon und Comte auf Tönnies. Leemans betonte, dass ihn Johann Plenge am Forschungsinstitut für Organisationslehre und Soziologie ab September 1930 in Plenges rigorosere wissenschaftliche Arbeitsweise eingeweiht habe; Plenge habe ihn auf seine Schwächen aufmerksam gemacht und davon überzeugt, den zu seiner Zeit so üblichen halb literarischen, halb wissenschaftlichen Dilettantismus zu überwinden. Er fokussierte auf einzelne Schriften von Tönnies und verglich dessen Ansätze mit anderen Ideen deutscher Soziologen, wobei er vor allem Plenges Hegel und die Weltgeschichte hervorhob.51 Leemans fand zu Tönnies über seine editorischen Tätigkeiten im Dienst katholischer flämischer Arbeiterzeitschriften, die antiwallonisch und stark an Deutschland orientiert waren. Am 24. Juli 1926 bat Leemans Tönnies um einen Beitrag für seine katholische Zeitschrift Stekene Belgien, in der er bereits Beiträge von Max Scheler, Paul Ludwig Landsberg und Carl Schmitt untergebracht hatte. Am 7. Dezember 1929 wollte er über Tönnies in Jong Dietschland, Weekblad voor Katholiek 48
Bond, Tönnies and western European positivism. SHLB Kiel, Nl Tönnies Cb 56. 50 Leemans, S. x, 121. 51 Plenge.
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Vlaamsch Nationaal Leven einen Artikel veröffentlichen. Leemans beschloss, über Tönnies an der École des Hautes Études Sociales zu promovieren. Seine Doktorarbeit beruhte auf der Lektüre von Gemeinschaft und Gesellschaft, Kritik der Öffentlichen Meinung, Fortschritt und soziale Entwickelung, Das Sozialistengesetz und Die soziale Frage. Aber Leemans bat Tönnies auch um dessen Selbstdarstellung und darum, ihn in Deutschland besuchen zu dürfen. Leemans, den die Theorien von Tönnies faszinierten und der zugleich die „Auswirkung von der persönlichen Einstellung“ von Tönnies zu einem Bestandteil seiner Deutung machte, wurde zu einem jugendlichen Freund von Tönnies; sein letzter Brief an Tönnies trug das Datum des 14. Juli 1934.52 Am 4. Juli 1934 tauschte sich Tönnies mit Leemans über eine deutsche Übersetzung von Leemans Monografie über Tönnies aus: „Sie wird freilich nach den gegenwärtigen politischen Umständen meines Vaterlandes nicht gerade auf fruchtbaren Boden fallen, aber doch vielleicht eine ziemlich rege Erörterung der Probleme bewirken, an der ich dann selber mit Vergnügen teilzunehmen mich bereit finden lassen werde.“53
Leemans erkannte, dass Oswald Spengler dem deutschsprachigen Publikum eine modische Zuspitzung von Tönnies’ Zukunftsprognose anbot, die bei Tönnies allerdings nicht so katastrophisch-zyklisch gehalten war. Obwohl seine Anschauung hinsichtlich der Zukunft der Kultur „tragisch war“, leistete Tönnies heroischen Widerstand (une résistance héroique) gegen den von ihm beobachteten Kulturzerfall im Alltag. In seiner Arbeit erkannte Leemans Tönnies’ Einfluss auf führende deutschsprachige Wissenschaftler wie Theodor Geiger, Alfred Vierkandt, Hans Staudinger, Wilhelm Metzger, Plenger, Hermann Schmalenbach, Othmar Spann, Theodor Litt, Simmel, Helmuth Plessner und Hans Freyer.54 Leemans kritisierte vor allem Tönnies’ Werturteile: einerseits war Tönnies von ,Gemeinschaft‘ voreingenommen, andererseits hielten Tönnies’ Materialismus und Rationalismus ihn davon ab, die Religion, insbesondere die christliche, soziologisch objektiv zu beurteilen; Tönnies war ein Antiklerikaler und Leemans ein erzkonservativer Katholik.55 Leemans sah, dass die Schriften von Saint-Simon, Comte, Spencer, Lorenz von Stein, Marx und anderen Gründungsvätern der Soziologie verdeutlichten, dass soziologische Interessen oft aus praktischen Interessen hervorgingen. Die praktischen Ausrichtungen von Plenges und Freyers Soziologien schienen Leemans die vielversprechendsten zu sein;56 Plenge und Freyer rechneten sich beide zu den Vordenkern des Nationalsozialismus. Leemans war eine Gestalt, die zwischen einer kosmopolitischen wissenschaftlichen und einer nationalistischen politischen Karriere changierte. Er schrieb, dass er, wenn Tönnies zu den deutschen Soziologen gehörte, die sich am meisten mit ausländischen, namentlich englischen, 52
SHLB Kiel, Nl Tönnies Cb 56. Ebd., Cb 51. 54 Leemans, Fußnote 20, S. 37. 55 Ebd., S. 111. 56 Ebd., S. 114. 53
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amerikanischen und französischen Soziologen auseinandergesetzt hatten, an eine Synthese von deutschen und ausländischen Wissenschaftstraditionen nicht mehr glaubte.57 Leemans wurde nach dem Krieg als Kollaborateur amnestiert und machte sich danach für die europäische Einigung stark. Tönnies’ französischsprachige Rezeption gedieh nicht nur in der französischen Republik, sondern auch unter den deutschen Besatzern. Die erste Übersetzung von Gemeinschaft und Gesellschaft auf Französisch erschien erst nach dem Tod von Tönnies im Jahre 1944. Übersetzer war der Philosophielehrer Joseph Leif, der gleichzeitig Inspecteur Général de l’Instruction Publique war und eine Reihe eigener Werke hauptsächlich über die Pädagogik geschrieben hatte. Die Übersetzung erschien bei den Presses Universitaires de France unter dem Titel Communauté et Société: Catégories Fondamentales de la Sociologie Pure.58
III. Tönnies’ politische Einstellungen zu Frankreich Nachdem die Eckdaten des wissenschaftlichen Austausches zwischen Tönnies und französischsprachigen Sozialwissenschaftlern und Philosophen geklärt wurden – eine ausführlichere inhaltliche Auseinandersetzung ist hier nicht möglich – muss die Frage nach Tönnies’ politischer und persönlicher Einstellung zu Frankreich behandelt werden. Tönnies’ außenpolitische Einstellung zu Frankreich entsprach seinem grundsätzlich versöhnlichen Temperament und seinem Interesse an einem andauernden, sogar „ewigen Frieden“. In seiner Habilitationsschrift war der „ewige Friede“ – ein Ausdruck von Kant – die Steigerung von Tönnies’ Idee der ,Gemeinschaft‘, während Tönnies die unterdrückte Feindseligkeit der Gesellschaft mit einem Spruch von Hobbes – der Krieg Aller gegen Alle – zusammenfasste. Doch während des Ersten Weltkrieges schlug sich der sonst prinzipiell oppositionelle Tönnies ganz auf die Seite des Reichskanzlers Bethmann-Hollweg und suchte zu beweisen, dass die Entente-Eliten am Weltkrieg schuld waren, wobei er Frankreich eine besondere Kriegslust unterstellte. Angesichts seiner oppositionellen Grundhaltung und der Zivilcourage vor dem Ersten Weltkrieg und während des Nationalsozialismus ist die nationalistische publizistische Tätigkeit von Tönnies während und nach dem Ersten Weltkrieg für viele inkonsequent und nicht nachvollziehbar. Bei aller Bewunderung für Jean Jaurès stand Tönnies den Sozialisten und den Pazifisten im Ersten Weltkrieg fern; im Kontext der „Kriegssozialisten“ pflegte Tönnies im Ersten Weltkrieg die Nähe zu Plenge, der die Überlegenheit deutscher Kultur über französische Zivilisation und der Ideen von 1914 über den Ideen von 1789 proklamierte. Später, nach der Machtergreifung, verwies Tönnies auf diese nationalistischen Schriften, als er eine 57
Ebd., S. 113. Angesichts neuerer Kenntnisse über Tönnies und neuerer Übersetzungsverfahren hatte der Verlag 2008 bei Sylvie Mesure und dem Verfasser dieses Aufsatzes mit Unterstützung des Goethe-Instituts und des Centre National du Livre eine neue Übersetzung in Auftrag gegeben, die 2010 erschienen ist. 58
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Milderung der politischen Repressalien durch die Nationalsozialisten erreichen wollte. Während des Kriegs tauschte sich Tönnies sogar mit dem Reichskanzler Bethmann-Hollweg brieflich aus. Doch muss diese Entwicklung im Zusammenhang mit einem um etwa 1907 geschriebenen Plädoyer Tönnies’ für eine deutsch-französische Annäherung gesehen werden. So schrieb Tönnies: „Die Ansicht der Krieg sei notwendig ist ebenso wenig bewährt wie der Jahrhunderte alte Irrsinn des Glaubens an Geister, Hexen und Teufel, oder der Schrecken der Scheiterhaufen und der peinlichen Befragung. Wer vor zweihundert Jahren wagte, solche Gewissheiten anzuzweifeln wurde zum Häretiker oder ungläubigen Verbrecher, bestenfalls noch als verrückt oder als Träumer angesehen. Heutzutage sind die Rufer nach Frieden kaum weniger verschrien.“59
Einen anderen Eindruck von Tönnies’ Einstellung zu Frankreich liefert sein großes Werk Kritik der öffentlichen Meinung. Tönnies’ Buch ging auf drei Interessen zurück: sein Interesse für die Frage nach den Sozialistengesetzen zur Zeit der Entstehung von Gemeinschaft und Gesellschaft;60 sein am Ende seines Lebens im Widerstand gegen den Nationalsozialismus wieder bezeugtes Engagement für die Redefreiheit; schließlich sein Entsetzen über den Ersten Weltkrieg, dessen Gräuel von den öffentlichen Meinungen der beteiligten Länder akzeptiert wurden und den nach Tönnies Russland, das Vereinte Königreich und Frankreich verursacht hatten. Ein Vergleich von Tönnies’ und Durkheims Verhalten während des Ersten Weltkrieges verdiente eine besondere Abhandlung, denn Tönnies befasste sich in diesem Zusammenhang am intensivsten mit Frankreich. Das Werk entstand aus seiner Beschäftigung mit Tarde: „Ich schätze seit vielen Jahren Tardes Schriften hoch, wusste aber auch, dass unsere wissenschaftlichen Voraussetzungen, insbesondere die soziologischen, ziemlich weit voneinander entfernt waren.“61 Frankreich schien für Tönnies ein Paradebeispiel der guten und der schlimmen Wirkungen der Öffentlichen Meinung zu sein. Wenn Tönnies „Öffentliche Meinung“ groß schrieb, wollte er damit verdeutlichen, dass eine Meinung in einer Kultur derart vorherrschen kann, dass sie eine überwältigende politische Macht darstellte. In Tönnies’ Werk finden wir eine Reihe von Verallgemeinerungen über Frankreich, etwa wenn er Bismarcks Urteile über das westliche Nachbarland wiedergab: „er wisse recht wohl, dass die Anmaßung und Streitsucht der Franzosen … nicht von der arbeitenden und erwerbenden Bevölkerung ausgingen, sondern von den Journalisten und dem Pöbel; aber diese beherrschten und zwängen die öffentliche Meinung. ,Frankreich ist eine Nation von Nullen, eine Herde, sie haben Geld und Eleganz, aber keine Individuen, kein individuelles Selbstgefühl, nur in der Masse‘.“62
59
Tönnies, Notre Enquete. Ich danke Werner Hinz für die Übersetzung. Bond, Sozialstaat. 61 Tönnies, Kritik, S. v. 62 Ebd., S. 159. 60
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Solche Pauschalisierungen spitzten sich in Tönnies’ Kommentar über Frankreich während des Ersten Weltkrieges zu: „Der französische Geist weist eine Parallele zum Wesen der luftartigen Öffentlichen Meinung insofern auf, als beide der Idee nach rational, logisch, nüchtern urteilend sind, in Wirklichkeit aber von heftigen, sinnlich-übersinnlichen Leidenschaften inspiriert sich zeigen. So bedurfte die französische Öffentliche Meinung der Vorstellung, dass Deutschland das friedenliebende, friedensinnende Frankreich überfallen und aus eitel Bosheit und Machtbegierde ihm, wie dem unschuldigen Belgien den Krieg ins Land getragen habe. Obgleich Frankreich seit 44 Jahren den Rachekrieg geplant hatte, und sich in dieser Idee, die verlorenen Landesteile mit Gewalt zurückzuerobern, moralisch völlig gerechtfertigt fühlte, so dass der Öffentlichen Meinung jeder Krieg, der zur Vernichtung Deutschlands die Aussicht darbot, willkommen sein musste […].“63
Ein Teil dieser Stereotypen kam aus Frankreich selbst. So zitierte Tönnies den Philosophen Alfred Fouillée, der dem französischen Volk sowohl Realitätsferne als Obrigkeitshörigkeit unterstellte: „Der wesentliche Zug unseres Geistes in diesem Gebiete… ist der Glaube an die Allmacht des Staates und der Regierung…Wir glauben, dass es genügt, Prinzipien zu verkünden, um die Folgerungen daraus zu verwirklichen, die Verfassung mit einem Zauberschlage zu verändern, um auch Sitten und Gesetze zu verwandeln, Dekrete zu improvisieren, um den Gang der Zeit zu beschleunigen […].“64
Die Öffentliche Meinung in Frankreich war für Tönnies ein besonders prägnantes Beispiel der nationalen Gebundenheit von Öffentlichen Meinungen. So zitiert er den folgenden Austausch zwischen Wilhelm I. und Napoleon III. nach Wilhelms Erinnerung: Der deutsche habe dem französischen Kaiser erzählt, dass er wisse, dass Napoleon den Krieg nicht herbeiführen wollte; denn Napoleon habe auf die Öffentliche Meinung (l’opinion publique) verwiesen; die Öffentlichkeit sei von der Regierung und der Presse gehetzt worden, als der Minister erklärte, die nationale Ehre sei in Frage gestellt worden. Somit sei die Wahl des Ministers ein Risiko für die Dynastie und für das Land. Napoleon habe darauf geantwortet, Wilhelm habe nicht Unrecht.65 In Frankreich sei der Kampf der Meinungen „auch in der Literatur und der Tagespresse […] um den Streitpunkt ,Republik‘ oder ,Monarchie‘“66 zu Gunsten der Republik ausgegangen, die für die Franzosen „die beste, ja die ,einzig wahre‘ Staatsform darstellt […], obgleich dort der Sozialismus immerhin einen tieferen Einfluss auf die Öffentliche Meinung gewonnen hat als in den Vereinigten Staaten.“67 Für Tönnies gab Frankreich ein scharfes Bild einer national formierten oder deformierten Öffentlichen Meinung ab, die vom Staat zwar beeinflusst werden konnte, die staatliches Handeln aber auch mitbestimmte. Die Öffentliche Meinung in Frankreich 63
Ebd., S. 555. Fouillée, zit. ebd., S. 566. 65 Tönnies, Kritik, Fußnote 27, S. 160. 66 Ebd., S. 166. 67 Ebd., S. 271. 64
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könne nur begrenzt staatlich gelenkt werden; wenn Ludwig XIV. die Gunst der Öffentlichen Meinung für sich hatte, täuschten sich spätere Monarchen in der Vorstellung darüber, dass alle Könige die Öffentliche Meinung zu ihren Gunsten lenken könnten.68 Tönnies setzt sich ferner mit der Öffentlichen Meinung zu Zeiten der französischen Revolution auseinander. Die Revolution sei durch die Übertragung aufgeklärter Ideen von Aristokraten auf die Öffentlichkeit verursacht worden. Jakob Neckar sei 1797 von der „großen Kraft der Öffentlichen Meinung“ beeindruckt gewesen, als Schriftsteller die Fehler der Minister ungestraft tadeln konnten. Weiter habe er gezeigt, dass seit der letzten Ständeversammlung von 1614 die Furcht vor der königlichen Macht nachgelassen und die Autorität der Öffentlichen Meinung zugenommen hatte. Mireabeau sei nach der Revolution der Anicht gewesen, die Öffentliche Meinung habe alles zerstört, die Öffentliche Meinung müsse die Ordnung wiederherstellen.69 Diese Hoffnung sei an den optimistischen aufklärerischen Glauben an die Überwindung von Vorurteilen und Aberglauben gebunden. So habe Siéyès als Vorkämpfer der Pressefreiheit erklärt, dass die freie Presse „eine fruchtbare Quelle nationaler Wohlfahrt“ sei. Doch müsse hier um Einfluss gekämpft werden. Auch Frau de Staël habe in ihren Considérations sur les Principaux Évènements de la Révolution Française versucht, „der Bedeutung der öffentlichen Meinung als bewegender Kraft des politischen Lebens gerecht zu werden.“70 Robespierre habe am 13. Juni 1792 im Jakobinerklub erklärt: „das Mittel, um die Freiheit zu retten, ist Aufklärung der öffentlichen Meinung, das Mittel sie zugrunde zu richten ist: Verleumdung unter ihre eifrigsten Verteidiger zu säen.“71 Somit wurde er nach Tönnies’ Lesart von François-Alphonse Aulards Revolutionsdarstellung zum Dolmetscher und Regulator der Öffentlichen Meinung.72 In Auseinandersetzung mit der „Öffentlichen Meinung Frankreichs in neuerer Zeit“ vertrat Tönnies die These, dass das französische Volk friedfertig sei, obwohl es von der Presse manipuliert werde. Darstellungen der französischen Presse seien aber irreführend, sie seien durch andere Länder kolportiert worden.73 Laut Bertrand Russell wollte die britische Diplomatie um jeden Preis vermeiden, dass sich Deutschland und Frankreich auf eine Art verständigten, die britische Interessen kompromittierte.74 Während die Öffentliche Meinung um die Zeit der französischen Revolution eine Quelle der Erneuerung war, sei die Öffentliche Meinung Frankreichs vor dem Ersten Weltkrieg: „Chauvinismus, nämlich eine ungemessene und unmessbare Nationaleitelkeit und Begierde nach Ruhm. Aber nicht nur der Chauvinismus, auch das normale Nationalgefühl und der 68
Ebd., S. 374. Ebd., S. 379. 70 Ebd., S. 389. 71 Ebd., S. 384. 72 Aulard, Etudes, zit. ebd., S. 390. 73 Ebd., S. 400. 74 Ebd., S. 513. 69
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gerechte Stolz eines krieg- und sieggewohnten Volkes war tief gekränkt worden durch die Niederlagen von 1870 und durch den Frankfurter Frieden. So war es natürlich, dass die Generation, die dies erlitten hatte, nach Vergeltung lechzte.“75
Louis Veuillot zitierend, klagte Tönnies die französische Presse wiederholt an, sie sei „durch die verschiedensten Düfte der Literatur, Kunst, Wissenschaft und durch den siegreichen Reiz der Frivolität“ markiert.76 Ihre „Bestechlichkeit“ sei eine „offenkundige Tatsache“.77 Jean Jaurès, dessen Beredsamkeit und Redlichkeit nach Tönnies der Feindschaft gegen Deutschland entgegenwirkte, meinte, sie sei „verfault bis in die Wurzeln“, für Auguste Rodin war sie „verabscheuungswürdig“.78 Tönnies’ letztes Urteil über die Öffentliche Meinung in Frankreich in der Kritik der Öffentlichen Meinung ist bitter: „In Frankreich überwiegt das Triumphgefühl und mit ihm die fortdauernde Besorgnis, dass der zu Boden geschlagene Gegner, dessen Überlegenheit auch der ,Sieg‘ nicht verkennen ließ, von neuem sich erheben werde, und die Entschlossenheit, mit allen Gewaltmitteln ihn daran zu verhindern. Mit dieser Furcht und dem sie begleitenden unerbittlichen Hass verbindet sich, wie sonst bei dem Gallier, der nüchterne geschäftliche Sinn, der in dem Satze ,Le Boche paiera tout‘ seine sprechende Formel fand. Die Fähigkeit des Boche alles zu bezahlen, was der Franzmann verlangen würde, stand zunächst für das doktrinäre und rasch urteilende Bewusstsein der Nation fest.“79
IV. Aussicht Ungeachtet der Konflikte zwischen Deutschland und Frankreich stand Tönnies, ebenso sehr wie die französischen Soziologen Durkheim und Worms, ausländischen Wissenschaftlern offen gegenüber. Seine Begriffe und Fragestellungen entstammten zum Teil aus der Sozialtheorie französischer Autoren und gingen in die Ideenwelt der zeitgenössischen französischen Sozialwissenschaften über. Tönnies fand bei Worms und Durkheim Verbündete bei den internationalen Bemühungen, der Soziologie wissenschaftliche und soziale Anerkennung zu verschaffen. Die Repräsentation verschiedenartiger sprachbedingter Wissenskulturen erschwerte die grenzüberschreitende Institutionalisierung europäischer Sozialwissenschaften zu einer Zeit, da auch disziplinäre Hindernisse bei der Anerkennung der Soziologie existierten, gegen die Wissenschaftler wie Tönnies, Simmel, Durkheim und Worms einen internationalen Kampf führten. Der Erste Weltkrieg und der Frieden von Versailles bewirkten ein starkes Misstrauen zwischen den Gelehrten, welches das gegenseitige Verständnis unmöglich machte. Trotzdem hat aber die Nachkriegsgeschichte gezeigt, dass Tönnies ebenso sehr von französischen wie von deutschen Sozialtheore75
Ebd., S. 525. Ebd., S. 175. 77 Ebd., S. 181. 78 Ebd., S. 555. 79 Ebd., S. 565. Herv. i. Orig. 76
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tikern rezipiert wurde. Die Anpassung seines Idioms an internationale Debatten trug zum Umstand bei, dass sein Denken nicht nur als eine deutsche Gemeinschaftsverklärung in die Ideengeschichte eingegangen ist. Literatur Aron, Raymond: La sociologie allemande contemporaine, Paris 1935. Aulard, François-Alphonse: Etudes et leçons sur la révolution française, Paris 1893 – 1898. Bond, Niall: The Displacement of Normative Discourse from Legal Theory to Empirical Sociology: Ferdinand Tönnies, Natural Law, the Historical School, Rudolf von Jhering and Otto von Gierke, Forum Historiae Iuris, http://fhi.rg.mpg.de/articles/pdf-files/1109bond. pdf, 2011, S. 1 – 36. – Ferdinand Tönnies and Western European Positivism, in: Intellectual History Review, 19 (2009) 3, wiederabgedruckt in: Ders.: Understanding Ferdinand Tönnies’ Community and Society: Social Theory and Political Philosophy between Enlightened Liberal Individualism and Transfigured Community, Münster et al. 2013, S. 193 – 224. – Ferdinand Tönnies und der Sozialstaat, in: Ferdinand Tönnies Ges., e.V. (Hrsg.), Neuordnung der Sozialen Leistungen, Norderstedt 2006, S. 379 – 404. – Ferdinand Tönnies und die Politik, in: Uwe Carstens (Hrsg.), Ferdinand Tönnies. Der Sozialstaat zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft, Baden-Baden (= Staatsverständnisse, Bd. 70), Baden-Baden 2014, S. 171 – 182. – Die Gemeinschaft als Staatsauffassung im Denken von Ferdinand Tönnies, in: Tönnies Forum, Heft 2 (2014), S. 31 – 51. – The politics of Ferdinand Tönnies, in: Christopher Adair-Toteff (Hrsg.), The Anthem Companion to Ferdinand Tönnies, London/New York 2016, S. 181 – 204. – Understanding Ferdinand Tönnies’ Community and Society: Social Theory and Political Philosophy between Enlightened Liberal Individualism and Transfigured Community, Münster et al. 2013. Bouglé, Célestin: La démocratie devant la science. Études critiques sur l’hérédité, la concurrence et la différenciation, Paris 1904. – Les idées égalitaires. Étude sociologique, Paris 1899. – Les sciences sociales en Allemagne. Les méthodes actuelles, Paris 1896. Carstens, Uwe: Ferdinand Tönnies. Friese und Weltbürger. Ergänzte und völlig überarbeitete 2. Aufl., Bredstedt 2013. Clark, Terry Nichols: Marginality, Eclecticism and Innovation: René Worms and the Revue Internationale de Sociologie from 1893 to 1914, in: Revue internationale de sociologie, 3 (1967), S. 12 – 27. Durkheim, Émile: Communauté et société selon Tönnies, in: Revue philosophique, 27 (1889), S. 416 – 422, wiederabgedruckt in: Ders.: Textes. 1. Éléments d’une théorie sociale, Paris 1975, S. 383 – 390. – De la division du travail social, Paris 2007 [1893].
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Niall Bond
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IV. Langzeitstudien zur Methodenund Disziplinevolution
Die Enthüllung der Welt? Luftfotografie und die Sozialwissenschaften im Frankreich der Zwischenkriegszeit Von Serge Reubi Die Luftfotografie ist beinahe so alt wie die Fotografie selbst. Sie schloss sowohl an antike Traditionen wie Panoramen und Katoptik1 als auch an neue Perspektiven an, wie sie etwa Victor Navlets Vue de Paris en ballon (1855) einnahm. Als eine Möglichkeit, die Welt von oben zu repräsentieren, machte sie im späten 19. Jahrhundert eine steile Karriere. Aufgrund der damals hohen Bedeutung territorialer Visualisierungen – man denke an die Kartografie als eine mathematisch-physiologische, soziologische, geografische und politisch-militärische (Re)Definition von Raum – wäre zu erwarten, dass Luftfotografien in den Wissenschaften breit genutzt wurden. Das aber war nicht der Fall. Mit Ausnahme der Kolonialbotanik,2 Archäologie3 und Geografie4 wurde die Luftfotografie bis vor 1914 kaum genutzt. Zehn Jahre später aber hatte sich die Lage auf zweifache Weise verändert: Erstens interessierten sich nun viele Wissenschaftler vor allem aus den sozial- und geisteswissenschaftliche Disziplinen für diese Methode, wohingegen Naturwissenschaftler sie weitgehend ignorierten. Zweitens wurde die Luftfotografie vor 1914 zur Illustration benutzt und teilweise auch zur Beschleunigung des Aufzeichnens etwa für den archäologischen oder kartografischen Gebrauch verwendet; erst ihre Nutzung durch militärische Beobachtertruppen im Ersten Weltkrieg führte dazu, dass Sozial- und Geisteswissenschaftler ihre Bedeutung für das Sichtbarmachen essentieller, bis dato verborgener Eigenschaften der beobachtbaren Welt entdeckten. Diese „Rhetorik des Aufdeckens“5 und ihre Mobilisierung in den französischen Sozialwissenschaften der Zwischenkriegszeit soll im Mittelpunkt des vorliegenden Artikels stehen. Für die Wahl dieses Beispiels bestehen gute Gründe. Nach dem Ersten Weltkrieg interessierten sich besonders französische Sozialwissenschaftler für die Luftfotografie. Zwar teilten auch Gelehrte wie der englische Archäologe O. G. S. Crawford6 oder 1 Besse, S. 2 – 3. Die katoptische Sicht ist ein Bild in der Vogelperspektive, die durch die Berechnungen der Geometrie und die Perspektive die irdischen Objekten von oben (katá) wiedergibt. 2 Anker. 3 Barber, S. 28 – 31. 4 Vidal de la Blache. 5 Bondaz/Castro, S. 295. 6 s. Hauser.
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der Geograf Paul Perlewitz7 aus Deutschland dieses Interesse. Doch während dort die Luftfotografie auf eine oder zwei Disziplinen (primär auf Klassische und Prähistorische Archäologie sowie die Humangeografie) beschränkt blieb, verwendeten in Frankreich auch Sozialanthropologen, Historiker, Kunsthistoriker und Stadtplaner diese Technik. Sieht man von Wissenschaften wie Soziologie, Linguistik und Sozialpsychologie ab, die hier nicht Thema sein sollen, dann nutzten primär solche Disziplinen Luftfotografien, die menschliches Handeln, menschliche Organisationen und kollektive Repräsentationen in Vergangenheit und Gegenwart in den Blick nahmen.8 Hier verbreitete sich – im Groben bis 1930 – der Gebrauch von Luftfotografien weit und rasch.9 Mit Carlo Ginzburgs „evidential paradigm“10 betrachtet, wird an diesem raschen Erfolg mechanisch produzierter Luftbilder deutlich, wie Wissenschaftler, Gelehrte und ihre Praktiken damals bewertet wurden. So gingen zahlreiche Texte der 1920er und 1930er Jahre davon aus, dass Luftfotografien erstens zur Aufdeckung bislang verborgener Aspekte der Welt führen, was nur möglich war, weil die Subjektivität des Wissenschaftlers ausgeschaltet wurde. Es bietet sich daher an, diese Rhetorik des Aufdeckens durch die Linse von Lorraine Dastons und Peter Galisons Konzept der „epistemischen Tugenden“ und des „Selbst“ des Gelehrten zu analysieren.11 Zwei Gründe sprechen für die Wahl dieses Analyseschlüssels: Erstens ist die Beobachtung aufschlussreich, ob (und wie) Vertreter der Luftfotografie ihr neues Werkzeug durch Kategorien wie „Wahrheit-zur-Natur“, „mechanische Objektivität“ und „geschultes Auge“ charakterisierten, um zu verstehen, wie Wissenschaftler ihre Praktiken und ihr wissenschaftliches Selbst legitimierten. Zweitens stellt die Anwendung von Dastons und Galisons Konzept auf die Sozial- und Geisteswissenschaften noch ein Desiderat dar, wie beide Autoren in späteren Aufsätzen immer wieder betont haben.12 Zu diesem Zweck werden im Folgenden die Hypothesen Dastons und Galisons mit der Anwendung dieser Technik in der Praxis der französischen Sozial- und Geisteswissenschaften konfrontiert. Hierbei konzentriert sich der Aufsatz vor allem auf die Praxis des Publizierens und zeigt, dass das der Luftfotografie zugrunde liegende Narrativ, die Sichtbarmachung von Welt dank der Tilgung der Subjektivität des Wissenschaftlers, im Widerspruch zur Praxis gelebter und legitimierter Subjektivität stand. Der Artikel gliedert sich in drei Teile. Der erste Teil wird den raschen, breiten, 7
Perlewitz. In Frankreich gehört die prähistorische Archäologie zu den Humanwissenschaften (sciences humaines) und ist eng mit der Ethnologie und der Geschichtswissenschaft verbunden. Vgl. Laming, S. 12; Hurel, S. 103 – 104. Dieselbe disziplinäre Zuordnung gilt für die géographie humaine (Humangeografie) in der Tradition Vidal de la Blaches. Vgl. Jullian, S. 145. 9 s. Bondaz/Castro; Haffner; Robic. 10 Ginzburg. 11 Daston/Galison. 12 Daston. 8
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aber kurzen Erfolg der Luftfotografie in den französischen (mit Seitenblick auf die deutschen und britischen) Sozialwissenschaften knapp resümieren. Darauf aufbauend werden im zweiten Teil drei Varianten dieser verwickelten Rhetorik des Aufdeckens und der Objektivität behandelt: das Palimpsest,13 die Struktur und das enthumanisierte Wissen. Der dritte Teil schließlich konzentriert sich auf das Schreiben und die Praktiken des Publizierens in den Sozialwissenschaften sowie auf die Artikulation von Bildern und Bildunterschriften, um zu zeigen, wie die angeblich aus der Wissenschaft verbannte Subjektivität wieder Eingang in wissenschaftliche Arbeiten fand.
I. Eine kurze Erfolgsgeschichte Wie für viele wissenschaftliche Werkzeuge und Methoden markierte der Erste Weltkrieg auch für die Entwicklung und Verwendung der Luftfotografie eine Zäsur.14 Allerdings war die Kombination von Fotografie und Aviatik (Ballons, Drachen und Flugzeuge) um 1914 nicht neu. Gaspard-Félix Tournachon, mit Pseudonym Nadar, war vermutlich der erste, der in den späten 1850er Jahren Fotografien aus einem Ballon schoss.15 Diese Praxis entwickelte sich in den folgenden Jahren so rasant, dass schon 1890 die erste, umfassende Studie über die Anwendung und die Methoden der Luftfotografie erschien.16 Das Interesse an der Luftfotografie beschränkte sich nicht nur auf Öffentlichkeit im weiten Sinne.17 Auch unter Wissenschaftlern kam es von Anbeginn zu sporadischen Versuchen, sich die Luftfotografie anzueignen: Wie Thierry Gervais für Nadar und den Ingenieur Antoine Andraud gezeigt hat,18 nutzten beide Luftfotografien als Hilfsmittel zum Zeichnen von Katastern. In den folgenden Dezennien verwendeten Geografen19 und Archäologen20 die Luftfotografie für Forschungszwecke ihrer jeweiligen Disziplinen. Doch blieben solche Ansätze bis vor dem Ersten Weltkrieg selten. Erst der Krieg stimulierte ein massives Interesse an der Luftfahrttechnologie und beförderte somit die Entwicklung der Luftfotografie. Die so beflügelte Nachfrage am Fliegen führte dazu, dass zahlreiche französische Wissenschaftler, wie 13
Ich mache mir Raymond Chevalliers Metapher zu eigen und betrachte die Erdoberfläche als eine Schreibunterlage, die die verwickelten Spuren ihrer Geschichte sammelt, die für diejenigen, die ausgewählte Techniken und Methoden beherrschen, sichtbar und lesbar werden. s. Chevallier, S. 503. 14 Cosgrove/Fox, S. 33 – 35. 15 Gervais, Un basculement. 16 Batut. 17 Gervais, Voir en plangée. 18 Gervais, Experimentations, S. 56. 19 s. Bruhnes. 20 Capper.
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etwa der Hellenist Léon Rey oder der Geograf Jules Blache,21 und Wissenschaftler anderer Länder (Theodor Wiegand, George Beazeley, Eric Mjoberg u. a.) die Luftfotografie und ihre Qualitäten (wieder) entdeckten, nicht zuletzt in kolonialen oder parakolonialen Kontexten. Während die ersten Vorstöße immer noch von der Archäologie und Geografie ausgingen, sorgte der Überschuss an Flugzeugen und Piloten nach dem Ersten Weltkrieg22 dafür, dass das Interesse an Luftfotografien in andere Disziplinen diffundierte. Historiker wie Marc Bloch oder René Grousset,23 der Kunsthistoriker Pierre Lavedan,24 der Stadtplaner Henri Prost25 und Sozialanthropologen wie Marcel Griaule oder Pierre-Henry Chombart de Lauwe26 schlossen sich Geografen wie Emmanuel de Martonne oder Pierre Gourou27 und Archäologen wie Antoine Poidebard28 an. Die endlosen Versprechungen der Luftfotografie schienen nun in allen Disziplinen auf fruchtbaren Boden zu treffen. Diese Methode hatte in der Tat außerordentliche Bilder hervorgebracht:29 Das Flugzeug als revolutionäres Objekt veränderte nicht nur die Bewegung im Raum, sondern auch die Raumwahrnehmung. Es repräsentierte die höchst erstaunliche Form globalen Wissens30 und begünstigte in Kombination mit der Fotografie eine einfachere31 und anschaulichere32 Forschungspraxis. Doch die Hauptqualitäten der Luftfotografie lagen in einem anderen Bereich: Wie an der Kartografie gezeigt,33 stieß die Luftfotografie hier gerade deshalb auf Interesse, weil sie als mechanisch reproduzierte Draufsicht billig, schnell, exakt und leicht herzustellen war. Die ersten Debatten nach dem Krieg, die den Aufstieg der Luftfotografie begleiteten, gingen um Finanzielles. So drehten sich zahlreiche Diskussionen im Geographic Review, dem Journal of the American Geographical Society, um die Frage „what does it cost“? Denn Luftfotografien wurden primär für die Abbildung sehr weiter Gebiete verwendet: die riesigen Flächen des kanadischen Westens,34 die völlig zerstörten Gebiete im Osten Frankreichs nach dem Krieg, welche die Ka21 s. Rey, Observations sur les sites préhistoriques; ders., Observations sur les premiers habitats; s. Blache. 22 Asendorf, S. 37. 23 Bloch; Grousset. 24 Lavedan. 25 s. Frey. 26 Griaule, L’emploi; Chombart de Lauwe. 27 Martonne, La photographie; Gourou. 28 Poidebard, Reconnaissance. 29 Bloch, S. 557. 30 Deffontaines, S. 430 – 431. 31 Piganiol, S. 625. 32 Lebeuf, S. 216. 33 Martonne, La photographie, S. 486. 34 s. Baulig; Matthes.
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taster und Karten nicht mehr adäquat abbilden konnten,35 und vor allem große Teile der Kolonien.36 Die untersuchten Gebiete waren so umfangreich, dass die Frage nach der Wahl der Technik zugleich eine Skalenertragsfrage war. In den Vereinigten Staaten, aber auch in Frankreich, rangierte deswegen die Kostenfrage an erster Stelle.37 Doch ging es nicht nur um ökonomisches, sondern auch um symbolisches Kapital: Die Frage nach den Kosten wurde vor allem von jungen Wissenschaftlern gestellt, die wenig Erfahrung und einen unsicheren Status in ihrem Forschungsfeld hatten. Für sie waren Forschungsinstrumente und Methoden, gerade wenn sie als„revolutionär“ galten, ein geeignetes symbolisches Mittel, mit dem sich ein Forschungsfeld, seine Grenzen, Inhalte und Machtverhältnisse neu definieren ließ.38 Besonders lautstarke jüngere Wissenschaftler markierten so ihr Interesse an der Modifikation von Positionen und Dispositionen:39 Sie entfalteten das Narrativ von den geringen Kosten der Luftfotografie, weil sie mit dieser an der Kriegsfront – sei es als Piloten, Beobachter oder als deren Kontaktpersonen – erlernten Technik hofften, die Nachkriegsfronten auf ihrem Forschungsfeld verschieben und ihre eigene Karriere befördern zu können. Ein weiterer Grund, der für die Luftfotografie in Anschlag gebracht wurde, war der geringe Zeitaufwand für beeindruckende Resultate.40 Denn Effizienz und Schnelligkeit waren für eine so aufwendige Praxis wie z. B. die Erstellung des Katasters vom Osten Frankreichs von großer Bedeutung. Das Effizienz-Argument war derart schlagend, dass einige Wissenschaftler sogar die Idee entwickelten, die Luftfotografie könne, obwohl sie per se ein statisches Medium ist, dynamische Prozesse in der Landschaft aufnehmen.41 Schnelligkeit und Effizienz waren aber wieder nicht nur die faktischen Eigenschaften dieses neuen Instruments, sondern zugleich symbolische Resonanz seiner Qualitäten: die Mobilität des Flugzeugs und die Promptheit der Luftaufnahme übertrugen sich symbolisch auf die Luftfotografie; sie wurde zum Inbegriff von Modernität.42 Diese Zuschreibung war in den Sozial- und Geisteswissenschaften keineswegs von nebensächlicher Bedeutung, galten sie doch in den 1920er Jahren als methodologisch inkonsistent, idiografisch restringiert und auf handwerkliche Arbeitsweisen zurückgeworfen. Auch deshalb dürfte die Luftfotografie bei Zoologen und Physikern kein Interesse geweckt haben. Nur die Sozialwissenschaften erhofften sich von der Aneigung der Luftfotografie und ihrer realen und symbolischen Qualitäten wie Effizienz, Schnelligkeit und Nihilierung des Autors den Eingang ins Zeitalter wissenschaftlicher Modernität.43 35
Roussilhe. Crostwaith; Trochain; Martonne, Le congrès. 37 Hamshaw; Wintherbotham; Griaule, L’emploi. 38 Bourdieu, Questions, S. 113 – 120. 39 Bourdieu, Science, S. 71 – 77. 40 Poidebard, La trace, S. 14; Cholley, Communication, S. 5. 41 Perlewitz, S. 10; Cholley, Atlas; Griaule, Aviation, S. 849. 42 Robic, S. 168, 173. 43 Jolly, S. 11, 59, 108. 36
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Dieses zweite Argument hatte zugleich ein epistemisches Implikat. Für ihre Verfechter war diese Technik nicht nur billig und schnell, sie brachte auch einen neuen Wissenstyp hervor, und zwar aus drei Gründen: Sie unterschied sich erstens von den bisherigen gezeichneten und schriftlichen Weltdarstellungen, da sie mechanisch hergestellt wurde; zweitens zeigte sie die Welt aus einer unbelebten, nicht-humanen Perspektive;44 die Fiktion strikter Reproduzierbarkeit einer Weltsicht von oben, unabhängig vom Fotografen und Piloten, beförderte drittens ein beobachterunabhängiges Wissen. Luftfotografien erschienen frei von menschlichen Einmischungen. Diese Beobachtung kann, wie angedeutet, von Dastons und Galisons Vorschlägen zum Verhältnis von Objektivität, Subjektivität und Gelehrten-Selbst erheblich profitieren. Den beiden Autoren zufolge45 wurde der auf Universalien zielende Wissenstyp – vom Wissenschaftlertypus des Weisen mithilfe wohlbegründeter Bilder produziert – durch das Aufkommen der Fotografie um 1850 ersetzt. Von nun an nutzte der „Wissenschaftler-als-Arbeiter“ Bilder, die mechanisch hergestellt waren und auf automatisierte Weise die Identifikation des Einzelnen sicherten. Dieser Wissenschaftsund Wissenschaftler-Typus wurde um etwa 1930 wiederum durch den „Experten“ ersetzt, der auf Bildinterpretationen rekurrierte, um familiale Muster und Strukturen zu identifizieren. Die Luftfotografie spiegelte diesen Diskurs genau wider. Einerseits war sie primär Fotografie und repräsentierte mechanische Objektivität, die auch aufgrund des interdisziplinären Produktionsprozesses garantiert zu sein schien. Nach dem französischen Jesuiten Antoine Poidebard, der den Nutzen der Luftfotografie für die Archäologie Mitte der 1920er Jahre entdeckte, wurde das Instrumentarium am besten in zwei Schritten angewendet: Zuerst sollte der Pilot zusammen mit dem Wissenschaftler starten, damit dieser sich Notizen über Besonderheiten, Höhe, Winkel und Perspektiven machen kann. Sodann sollte der Pilot das Flugzeug mit dem Fotografen besteigen, um die vom Wissenschaftler identifizierten Objekte zu überfliegen und zu fotografieren. Diese Arbeitsteilung steigere die Objektivität von Erkenntnis, da derjenige, der die Objekte auswählte, und derjenige, der sie fotografierte, nicht derselbe war. Die Arbeitsteilung bewahre laut Poidebard vor dem Verdacht, dass „je faisais venir à dessein les teintes voulues sur mes clichés“,46 dass also der Wissenschaftler nur jene Strukturen fotografierte, die seiner subjektiven Sicht entsprachen: „Le chercheur serait tenté souvent de fixer sur la plaque un point de vue ou un détail qui ont à sa thèse, plutôt qu’une représentation brutale et impartiale du sujet. Cette méthode d’un équipage à trois, c’est-à-dire deux équipes avec un seul pilote, donne par expérience un résultat sérieux.“47 44
Cosgrove/Fox, S. 8. Daston/Galison, S. 371. 46 Manchon, Poidebard, S. 105. Deutsche Übersetzung: „ich gezielt die erwünschten Farben auf meinen Aufnahmen erscheinen ließ“. 47 Poidebard, S. 8 – 9. Deutsche Übersetzung: „Der Forscher wäre öfters versucht, auf die Fotoplatte einen Ansichtspunkt oder ein Detail zu setzen, die für seine Hypothese sprechen 45
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Auf der anderen Seite bestand seit dem Krieg kaum Zweifel daran, dass das Verstehen von Luftfotografien ein geschultes Auge voraussetzte.48 Von Beginn an war klar, dass Luftfotografien kein unmittelbares Wissen boten, sondern ein durch die Augen anerkannter Spezialisten vermitteltes.49 Dinge waren weder einfach gegeben noch der freien Imagination der Interpreten überlassen; Verstehen sollte vielmehr durch Ausbildung und Gegenkontrollen garantiert werden. Dem fügte der Geograf André Cholley eine dritte Eigenschaft hinzu: „une bonne vue exige non seulement du métier, mais encore de la science géographique et du talent afin de montrer les traits essentiels du paysage.“50 Die Vorstellungen von „métier“ (Beruf, Gewerbe), „talent“ (Begabung) und „essence“ (Wesen) verweisen darauf, dass das Verstehen von Luftfotografien auch im szientifischen Rahmen des truth-to-nature möglich war. Mit Daston und Galison gedeutet, war Luftfotografie gleichzeitig eine Technik, die für sich sprach (also unvermitteltes Wissen generierte), die durch Übung erlernt wurde (ähnlich interpretierter Bilder), und das Produkt eines Wissenschaftler-Talents (für das Erkennen transzendentaler Wahrheiten). Diesen drei Modalitäten des Lesens von Bildern indizierten einerseits die offensichtlichen Qualitäten dieser Technik und erklären ihren raschen Erfolg; andererseits speisten genau sie die Widerstände gegen die Luftfotografie, wie noch zu zeigen sein wird. Ihr Erfolg ist nach Marcel Griaule allerdings eher individueller Risikobereitschaft – sogar „selon le hasard des travaux ou l’état d’esprit des intéressés“ – als Institutionen zuzuschreiben. Denn die Verwendung der Luftfotografie war zwar weit verbreitet, aber kontingent, seit „l’idée vient aux chercheurs scientifiques de se servir de ce procédé lorsqu’ils appartiennent à l’armée de l’air.“51 Die Mobilität von Akademikern zwischen dem militärischen und dem wissenschaftlichen Feld dürfte also für die Entwicklung der Luftfotografie als Instrument für Sozialwissenschaftler (und die Verbreitung dieses Wissens) wichtiger gewesen sein als ihre vorgebliche Effizienz. Wie die meisten Verfechter der Luftfotografie hatten auch die Franzosen Griaule, Poidebard, Martonne, Rey, der Deutsche Theodor Wiegand oder die Briten Beazeley und Crawford zuerst die militärische Verwendung dieses Instruments kennengelernt. Ihre Doppelkarriere als Soldaten und Sozialwissenschaftler hatte die bemerkenswerte Konvergenz von Interessen herbeigeführt und weniger die Zirkulation von Wissen bzw. fachliche Diskurse. Dass die Luftfotografie das vielleicht erste und ein würden, anstatt die Fotografie als eine brutale und unbefangene Darstellung des Subjekts gelten zu lassen. Dieses Dreierverfahren – also zwei Mannschaften mit einem einzigen Pilot – bringt aus Erfahrung ernsthafte Resultate.“ 48 Carlier, S. 130 – 135. 49 Martonne, Le congrès. 50 Gourou. Deutsche Übersetzung: „Eine gute Sehkraft verlangt nicht nur Erfahrung, sondern auch geografisches Wissen und Begabung, um die Wesenszüge einer Landschaft darzustellen.“ 51 Griaule, L’emploi, S. 470. Deutsche Übersetzungen: „Dem Zufall der Forschungen oder der Gesinnung der Forscher zufolge“; „Die Forscher denken darüber nach, diese Methode zu benützen, wenn sie Angehörige der Luftwaffe sind.“
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seltenes Instrument darstellte, das von Historikern, Geografen, Kunsthistorikern, Stadtplanern, Prähistorikern und Anthropologen gleichermaßen verteidigt wurde, dürfte ebenfalls der gemeinsamen disziplinübergreifenden Erfahrung der Rekrutierung für den Wehrdienst geschuldet gewesen sein, und zwar einerlei, ob es sich um diachrone, synchrone, sammelnde oder um feldorientierte Wissenschaften handelte. Der Erfolg der Luftfotografie war zwar durchschlagend, doch aus den selben Gründen auch fragil. Außer in der Archäologie, Geografie und Stadtplanung blieb er auf die frühen Zwischenkriegsjahre begrenzt. Historiker bezweifelten zuerst die Versprechungen der Luftfotografie, indem sie an eine Argumentsweise anschlossen, die schon das Militär im Krieg geprägt hatte: Der Oberstleutnant André Carlier forderte, dass Luftbildinterpreten im Krieg alle verfügbaren Indizien ausschöpfen müssten, so auch z. B. die deutschen militärischen Reglements und Anweisungen, die das Defensivsystem organisierten. Luftbilder wurden also nicht als selbstevidente Quellen betrachtet, ihr korrektes Verständnis erforderte vielmehr kanalisierbare Imagination52 und weitere Instrumente wie Geländekenntnisse, Schriftquellen oder individuelle Wissensbestände. Marc Bloch teilte diese Ansicht 1930, als er unterstrich, dass Luftfotografien keineswegs so interessant seien, wie behauptet: „J’estime que, pour trancher d’aussi grandes questions, quelques photographies d’avions, si intéressantes soient-elles, ne sauraient suffire […]. Les photographies par avions peuvent être d’admirables documents […]. Mais pour l’amour de Dieu, ne compromettons pas l’emploi de ce nouvel instrument d’investigation en le prenant, sans désemparer […], pour point de départ de trop rapides élans d’imagination.“53
Hier wurden Fragen nach der Demonstrationskraft der Luftfotografie und nach den Bedingungen gestellt, unter denen sie die Welt zu enthüllen und für sich selbst zu sprechen vermag oder doch der Lektüre anderer bedarf. Nicht das GelehrtenSelbst stand also in Frage, sondern der Gegensatz von Selbstevidenz und Interpretationsbedürftigkeit. Die kurze Erfolgsgeschichte der Luftfotografie zeigt, dass ihre Konjunktur eng mit dem Interesse an einem autonomen und machtvollen Werkzeug zur Generierung objektiven Wissens verbunden war – und dieses schnell enttäuschte. Verallgemeinernd gewertet, indizierte diese nur kurz anhaltende Konvergenz von Interessen an der Luftfotografie, dass Eigenschaften wie Billigkeit, Schnelligkeit und Präzision für ihren Erfolg nicht ausschlaggebend waren. Was zählte, war ihre revolutionäre Dimension: Luftbilder zeigten mehr als eine andere beliebige Sichtweise. Um ihren raschen Erfolg und den ebenso raschen Niedergang in den französischen Sozialwissenschaften erklären zu können, müssen zwei zentrale Aspekte behandelt werden. Als erstes muss die Welt beschrieben werden, welche die Luftfotografie so 52
Carlier, S. 131 – 132. Bloch, S. 557 – 558. Deutsche Übersetzung: „Ich schätze, dass einige Luftfotografien, so interessant sie auch sein mögen, ungenügend sind, um solche Fragen zu beantworten […]. Luftfotografien können bewundernswerte Dokumente sein […]. Aber für die Liebe Gottes gefährden wir nicht die Anwendung dieser neuen Untersuchungsmittel, in dem wir sie als Ausgangspunkt zu schneller Vorstellungskraft nehmen.“ 53
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exakt in den Blick zu nehmen vermochte. Zweitens wird die Ambiguität zu behandeln sein, die von der passiven Stimme ermächtigt wurde, wenn von die „Welt wird enthüllt“ die Rede war,54 damit die Modalitäten des Enthüllens und die Akteure identifiziert werden können.
II. Was wurde enthüllt? Viele französische Sozialwissenschaftler der Zwischenkriegsjahre behaupteten, dass Fotografien von oben die Welt enthüllten. Doch darüber, was sie genau enthüllten, bestand keine Einigkeit. Drei unterschiedliche Lesarten lassen sich zeigen: Erstens sollten Luftfotografien die Erdoberfläche als Palimpsest präsentieren, das Spuren früherer Zustände konservierte und ihr ursprüngliches Wesen, ihre immanente Wahrheit entzifferbar machte; zweitens wurde von ihnen die Befähigung erwartet, große Objekte und Strukturen identifizieren zu können, die vom Boden aus nicht erkennbar waren; drittens sollten sie eine Realität offenbaren, die frei von theoretischen Vorannahmen durch Beobachter, Beobachtete und menschlichen Wesen überhaupt war. In allen drei Fällen sollten Luftfotografien die Welt zeigen, wie sie „wirklich“ war – ohne räumliche oder theoretische Grenzen, ohne Verzerrungen. 1. Palimpsest Mehr als jede andere Disziplin der Sozial- und Geisteswissenschaften verstand die Archäologie die Luftfotografie als Dechiffrierungsmittel für Spuren von Monumenten, Objekten oder antiken Landschaften auf der Erdoberfläche. Die Sicht von oben erlaubte Archäologen, Überreste zu entdecken, die unter der Erde begraben und nur von oben sichtbar waren. Der englische Oberstleutnant George Beazeley war vermutlich der erste, der dieses Spurenlesen beschrieb, das später viele Archäologen, Historiker und Geografen betrieben: „When riding as a passenger in an aeroplane en route for survey over enemy territory, I could clearly see on the desert area the outline of a series of detached forts […], whereas when walking over them on the ground no trace was visible.“55 Die Sicht von oben stellte einen bedeutenden Fortschritt gegenüber der Bodenperspektive dar. Die Perspektive alleine reichte jedoch nicht aus: „it became rapidly obvious that the cameras caught more detail than the mind could grasp“.56 Beazeley spezifizierte Fotografien deshalb wie folgt: 54
Bondaz/Castro, S. 295. Beazeley, S. 331 – 334. Deutsche Übersetzung: „Während des Flugs als Passagier in einem Flugzeug mit dem Ziel, feindliches Territorium zu überwachen, konnte ich im Wüstengebiet deutlich die Umrisse einer Reihe von getrennt voneinander stehender Festungen sehen […], wohingegen bei der Erkundung des Geländes auf dem Boden keine Spuren zu sehen waren.“ 56 Cosgrove/Fox, S. 35. Deutsche Übersetzung: „es wurde rasch offensichtlich, dass die Kameras mehr Details einfingen als der Geist erfassen konnte“. 55
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„Had I not been in possession of these aerial photographs, the city would probably have been merely shown by meaningless low mounds scattered here and there, for much of the detail was not recognizable on the ground but was well shown up in the photographs, as the slight difference in the colour of the soil came out with marked effect on the sensitive film […].“57
Antoine Poidebard teilt diese Sicht: „L’avion […] donne maintenant le moyen de fouiller et de voir sous le sol. La photographie aérienne ira plus loin et fixera avec précision les détails du sous-sol insaisissables par notre rétine.“58 Zwei Momente waren also wichtig: Die Flugzeug-Perspektive machte verborgene Objekte sichtbar, die Fotografie sorgte für deren Fixierung. In beiderlei Hinsicht waren, wie Poidebard betonte, keine Gelehrten involviert: Das Wissen wurde zunächst durch das Flugzeug und dann durch die Fotografie erzeugt. Die Letztere war aber wichtiger als das Flugzeug, da die Kamera die Realität präzise festhielt; das Flugzeug sorgte für den Blick, die Kamera für die Aufnahme, manchmal halfen auch Filter und Effekte nach; aber menschlicher Interventionen bedurfte es nicht. Die Fotografie war indes um so bedeutsamer, als sich ihre Sicht auf jedes andere visuelle Medium übertragen ließ, ohne erneut in die Luft aufsteigen zu müssen. Sie machte ihr deiktisches Wissen mobil. 2. Strukturen Die Luftfotografie konnte Dinge aufzeichnen, die im Boden verborgen lagen. Das galt auch für Strukturen. Der führende britische Archäologe und Gründer der Fachzeitschrift Antiquity O. G. S. Crawford vermochte zweifellos am besten, den Nutzen von Luftfotografien zur Erfassung von Systemen zu erklären. Beim Beschreiben von Überresten eines Dorfes in der Region von Dorset, stellte er folgenden Vergleich an: „Es liegt hier etwa derselbe Vorgang vor, wie wenn eine Katze aus ihrer geringen Bodenhöhe ein Teppichmuster betrachtet. Erst für den Menschen aus seiner größeren Blickhöhe fügen sich die für die Katze unverständlichen Linien zum Teppichmuster zusammen. So geht es schließlich wieder uns gegenüber diesen Feldergrenzen und ähnlichen Erscheinungen mit dem Luftbild.“59
Anders als Beazeley, der sich bei der Luftfotografie auf die Entdeckung des im Boden Verborgenen konzentrierte, präferierte Crawford das Beobachten aus großer Höhe, um Zugang zu großformatigen Strukturen zu erhalten. Dadurch ließen sich Elemente, die zuvor singulär erschienen waren, einem System zuordnen. Die 57 Beazeley, S. 330. Deutsche Übersetzung: „Wäre ich nicht im Besitz dieser Luftfotografien gewesen, hätte die Stadt nach nicht mehr ausgesehen, als nach einigen verstreut gelegenen Erdhügeln, denn vom Erdboden aus waren nicht sehr viele Details erkennbar. Aufgrund der Empfindlichkeit des Films waren auf den Fotografien allerdings leichte Unterschiede der Farben des Bodens zu erkennen […].“ 58 Poidebard, S. 12. Deutsche Übersetzung: „Das Flugzeug […] erlaubt jetzt, den Boden zu erkunden und unter die Erdfläche zu sehen. Die Luftfotografie wird weiter gehen und die für unsere Retina unsichtbare Details mit Präzision festhalten.“ Herv. durch den Verf. 59 Crawford, S. 16.
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Sicht von oben legte Strukturen frei, die vom Boden aus nicht erkennbar waren, und rückte Merkmale aneinander, die wie an einem unsichtbaren Faden zusammenhingen; sie ließ eher Beziehungen zwischen Objekten als Objekte erkennen. Der französische Anthropologe und noch aktive Luftwaffenpilot Marcel Griaule sah die Fähigkeit, mithilfe von Luftaufnahmen Strukturen zu entdecken, etwas komplexer. Auf seinen zahlreichen Reisen zu den Dogon in Westafrika nutzte er Luftfotografien, um zwei Dinge zu fixieren: Erstens erlaubte die Sicht von oben, die praktische Nutzung des von den Dogon bewohnten Landes zu erfassen. Wanderungen, Wege und Abkürzungen hatten sich in die erdige Oberfläche des Landes eingeschrieben, die Luftfotografie machte somit die diskreten Verhältnisse zwischen Individuen, Handelsplätzen und religiösen Räumen60 in einer kulturellen Landschaft, die von Geheimhaltung geprägt war, sichtbar.61 Was Ortsansässige nicht erzählten, Kolonialbeamte nicht sahen und koloniale Karten nicht verzeichneten, kam nun ans Licht. Zweitens und wichtiger war, dass Luftfotografien sogar „le tréfonds des consciences“ zu erfassen halfen.62 In seinen Studien der Dogon-Schilder konzentrierte sich Griaule auf geometrische Muster. Unter diesen war für ihn das Schachbrettmuster von größtem Interesse, da es vieldeutig war und alle männlichen Individuen der Gruppe sowie Felder und Umhänge repräsentierte. Während Griaule zwar durch die traditionellen ethnografischen Methoden über den Sinn der Musterungen informiert war, offenbarten ihm die Luftfotografien die Strukturen der Dogon-Äcker. Hierdurch sah er folgende Beziehungen: „Il est vrai que dans l’inconscient du Dogon, ces choses sont liées entre elles; la récolte du champ est toujours accolée, dans les prières, à la progéniture; le pouvoir fertilisant du culte funéraire est parfaitement conçu; il n’est donc pas étonnant que la couverture, accessoire important de ce culte et signe de richesse, qui remplace parfois le cadavre, soit liée aux hommes et aux champs.“63
Im Gegensatz zu Eric Jolly64 kam Griaule zum Schluss, dass Luftfotografien nicht nur physikalische Strukturen enthüllten, sondern auch verborgene Strukturen im Sinne Claude Lévi-Strauss’, wie sein Projekt zur Kartierung heiliger Städten zeigte. Die Luftfotografie bot nach Griaule eine neue Möglichkeit, um „repérer et mettre à plat, sur une carte, les mythes et les secrets fabuleux inscrits sur le sol“:65 Seit „le 60
Bondaz/Castro, S. 299. Jolly, S. 69 – 70. 62 Griaule, Les Saô, S. 62. 63 Griaule, Blasons, S. 71 – 72. Deutsche Übersetzung: „ Es stimmt aber, dass im Unbewussten der Dogon diese Dinge miteinander verbunden sind; im Gebet wird die Ernte immer mit den Sprösslingen verbunden; die Düngewirkung des Grabkults ist vollkommen konzipiert; es ist deswegen wenig erstaunlich, dass die Bettdecke, die als wichtiges Zubehör dieses Kults und als Zeichen des Reichstums manchmal die Leiche ersetzt, an Männer und Äcker gebunden wird.“ 64 Jolly, S. 61. 65 Jolly, S. 58. Deutsche Übersetzung: „Mythen und sagenhafte, im Boden eingetragene Geheimnisse erkennen und in eine Karte einzeichnen“. 61
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Dogon est accroché à son sol comme la fourmi […], les mythes sont inscrits sur le sol […], on marche dans le sacré“.66 Luftfotografien offenbarten etwa im Sinne Laszlo Moholy-Nagys67 unbewusste und unsichtbare Strukturen, die Glauben, Handeln und ihre Beziehungen untereinander bestimmten. Die Nähe zu Lévi-Strauss’ Strukturalismus ist offensichtlich, obgleich dieser die Perspektive von oben kaum erwähnte.68 Ebenso ist es naheliegend, dass der Strukturalismus teilweise seine Wurzeln in der russischen Avantgarde hatte, da gerade die Suprematisten sich für Luftbilder interessierten. Für ihren Kopf, Kasimir Malewitsch,war die Sicht von oben eine Form der Transzendenz, die eine „compréhension véritable des faits et des phénomènes“ offenbarte, „une dimension épistémologique qui délivrait une perception adéquate de l’histoire et de l’essence des choses“.69 Eine durch Luftbilder inspirierte Malerei vermochte nicht nur Realität zu repräsentieren, sondern auch Beziehungen aufzuzeigen, die Realität überhaupt erst ermöglichten70 – ein Gedanke, der anerkantermaßen von Lévi-Strauss’ Freund Roman Jakobson beeinflusst war. Deshalb liegt die Annahme nahe, der Gründer des französischen anthropologischen Strukturalismus sei ein später und indirekter Erbe des Glaubens an die weltoffenbarende Kraft der Luftfotografie russischer Formalisten, wie gerade sein Konzept von Kultur dies verdeutlichte.71 Auf dem Höhepunkt des Strukturalismus schrieb Roland Barthes: „semblable à M. Jourdain devant la prose, tout visiteur de la Tour [Eiffel] fait ainsi du structuralisme sans le savoir (…); dans Paris étendu sous lui, il distingue spontanément des points discrets – parce que connus – et cependant ne cesse de les relier, de les percevoir à l’intérieur d’un grand espace fonctionnel“.72
3. Menschenlos In den bisherigen Fällen sollten Luftfotografien große Strukturzusammenhänge oder den Palimpsestcharakter der Welt enthüllen. Diese Enthüllungsrhetorik speiste sich aber noch aus einer weiteren Erwartung: Luftfotografien versprachen, frei von theoretischen Vorannahmen oder subjektiven Beigaben der Gelehrten zu sein. Solche
66 Griaule, Au pays, S. 5. Deutsche Übersetzung: „der Dogon ist an seinen Boden wie die Ameise gebunden […], Mythen sind im Boden eingetragen […], man läuft im Heiligen.“ 67 Zitiert in: Asendorf, S. 83. 68 s. Lévi-Strauss, S. 60. 69 Shatskikh, S. 121 – 122. Deutsche Übersetzung: „ein wahrhaftes Verständnis der Tatsachen und Phänomene ermöglichte und als eine epistemologische Dimension zu sehen, die eine angemessene Wahrnehmung der Geschichte und der Essenz der Dinge erlaubt“. 70 Haftmann, S. 10. 71 Espagne, S. 185. 72 Barthes, S. 15. Deutsche Übersetzung: „Wie Herr Jourdain, der Prosa machte, ohne es zu wissen, ist jeder Besucher des Eiffelturms ein Strukturalist ohne es zu merken […]: im an seinen Füssen liegenden Paris unterscheidet er spontan diskrete, weil bekannte und erkennbare Punkte, die er ständig verbindet und als Teile eines großen funktionnellen Raums versteht“.
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unverzerrten Bilder sollten präzise, vollständig, gewissenhaft und darum fähig sein, Dinge so zu repräsentieren, wie sie „wirklich“ waren. Marcel Griaule nannte in seinem anthropologischen Handbuch Méthode de l’Ethnographie die Fotografie ein Werkzeug, das Realität ohne Effekte und Affekte wiedergebe.73 Zwar glaubte er nicht, dass Fotos ohne menschliches Handeln entstünden, doch war er der Ansicht, dass diese Technik bewusstseinstrübende Effekte tilgen und ihre Unabhängigkeit vom Fotografen wahren konnte. Andere Nutzer von Luftfotografien gingen hierin noch weiter. Wie oben erwähnt, arbeitete Poidebard mit Piloten und Fotografen arbeitsteilig zusammen, um zu zeigen, dass Fotografien nicht seine Wunschvorstellungen, sondern das, was wirklich gegeben war, abbildeten. Wenn aber Fotografien Realität präzise fixierten, dann spielte hierfür weder menschliches Handeln noch eine spezifische Persona eine Rolle. Crawford kontrastierte in seinem Fallbeispiel des Dorset-Dorfs das Geschehen auf Erden mit dem Blick von oben. „Am Boden“ schrieb er, „stehen wir vor einem verwirrenden durcheinander einzelner kaum kenntlicher Linien“.74 Auf der Erde stand der Wissenschaftler als kollektives Subjekt (wir) einem komplexen Ensemble von Linien gegenüber und wurde mit der unlösbaren Komplexität von Welt konfrontiert. Aus der Luft aber ordnete sich dieses Ensemble von selbst („die Linien ordnen sich zu einem System“). Die sprachliche Verschiebung im selben Satz, vom „wir“ am Boden zur Passivform in der Luft ist signifikant, denn sie hilft den Fotografen und den Gelehrten aus dem Geschehen zu exkludieren. Alles schien also genau auf die Abwesenheit des Menschen bzw. auf die Unmöglichkeit eines Eingriffs in den Pinsel der Natur durch den Gelehrten hinauszulaufen: „Photography from the air gives more complete information about the distribution of man on earth and constitutes an incomparable method for investigating the human race, presenting a true picture of its disposition“.75 Vollständigkeit, Wahrhaftigkeit und Präzision waren allerdings Tugenden, die nicht nur Luftfotografien, sondern Fotografien generell zukamen. Luftfotografien vermochten indes mehr zu leisten, als Vorurteile von Gelehrten zu minimieren: Sie ermöglichten auch einen Blick aus der Ferne. Wie das Mikroskop schuf auch die Luftfotografie eine Distanz zwischen Beobachter und Beobachtetem. Diese Metapher der Distanzierung, die auch Lazlo Moholy-Nagy nutzte,76 evozierte einen Gelehrten, der, von seinen Objekten getrennt, mit Luftfotografien arbeitete: „On travaille sur une photographie [aérienne] comme sur un pays en miniature“
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Griaule, Méthode, S. 81 – 83. Crawford, S. 16. Herv. durch den Verf. 75 Griaule, La géographie, S. 849. Deutsche Übersetzung: „Luftfotografie ermöglicht eine vollständigere Information über die Verteilung der Menschen auf die Erde und stellt eine unvergleichbare Methode dar, um die Menschheit zu erforschen und eine sichere Repräsentation von ihrer Anordnung darzustellen.“ 76 Zitiert in: Asendorf, S. 83. 74
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schrieb Griaule in Les Saô Légendaires.77 Dadurch entkräftete die Luftfotografie sowohl Vorbehalte gegenüber Forschungsobjekten als auch Vorurteile von Wissenschaftlern. „La photo est un pas de plus dans l’intimité de ces réticents; par-dessus leurs épaules, je lis dans leur vie privée“, so Griaule weiter.78 Luftbilder enthüllten verborgene Dinge auch deshalb, weil sie Einheimische auf Distanz hielten und deren Einflussnahme ausschlossen: „L’homme est stupide: il se méfie du voisin, jamais du ciel; entre les quatre murs […] d’un espace enclos, il se croit tout permis. Sur une photographie aérienne apparaissent ses petites et grandes intentions, ses sanctuaires, ses déchets, ses réparations mal faites, ses ambitions d’agrandissement. Dans un village que je connais bien du Soudan français, je me souviens avoir découvert à grand peine en me déplaçant au sol, quatre sanctuaires […]. Sur une photographie aérienne, dix-sept sanctuaires sont apparus.“79
Der Gelehrte konnte sich mithilfe von Luftfotografien dem Appellcharakter seiner Studienobjekte entziehen, der ihn am Zugang zur realen Welt hinderte. Griaule sah die zu beobachteten Menschen nicht als Zugang, sondern als Hindernis zu sozialem Wissen: „Un autre inconvenient de travailler au sol […] est de se voir entouré rapidement par tous les autochtones qui s’installent, eux aussi, entre les objets et vous.“80 Dieses Ausschließen des Menschen – des beobachtenden Wissenschaftlers ebenso wie der beobachteten Individuen oder Gruppen – verlieh dem Enthüllen Macht. Sichtbarkeit wurde wie im Panoptikon zu einer Falle, obwohl die Luftfotografie nicht unbeschränkt dem panoptischen Dispositiv zugerechnet werden darf.81 Luftfotografie vermochte „dissocier le couple voir-être vu“, aber nicht „induire un état concret et permanent de visibilité“,82 der menschlichem Handeln ein Folgemenagement und die Orientierung am Gesagten aufnötigte. Tatsächlich wussten die Auto77 Griaule, Les Saô, S. 67. Deutsche Übersetzung: „Man arbeitet mit Luftfotografien ähnlich wie mit Miniaturmodellen.“ 78 Ebd., S. 120. Deutsche Übersetzung: „Die Fotografie ist ein Schritt mehr, der erlaubt, die Intimsphäre dieser Zögernden zu verstehen; über die Schulter schauend lese ich ihr Privatleben“. Herv. durch den Verf. Dasselbe gilt für Dziga Vertov’s zeitgenössiges Cinema-vérité, das versucht, Leben ungeachtet zu erfassen, s. Hicks, S. 22 – 25. 79 Griaule, Les Saô, S. 62. Deutsche Übersetzung: „Der Mensch ist blöd: er misstraut seinem Nachbar, aber dem Himmel nicht; zwischen den vier Mauern […] eines Grundstücks glaubt er, dass er alles darf. Aber auf einer Luftfotografie tauchen seine kleinen und großen Absichten, seine Heiligtümer, sein Müll, seine schlecht gemachten Reparaturen, seine Vergrößerungsambitionen auf. Von einem von mir gut bekannten sudanesischen Dorf erinnere ich mich, dass ich wandernd die größte Mühe hatte, vier Heiligtümer zu finden […]. Auf einer einzigen Luftfotografie sind dann aber siebzehn Heiligtümer aufgetaucht.“ Zur Unwissenheit, wie man von oben aussieht, s. Sartre, S. 79. 80 Griaule, Les Saô, S. 62. Deutsche Übersetzung: „Ein anderer Nachteil der Arbeit am Boden […] besteht darin, dass man schnell von allen Einheimischen umringt wird, die sich auch zwischen den Objekten und Ihnen niederlassen.“ Herv. durch den Verf. 81 Foucault, S. 234. 82 Ebd., S. 234 – 235.
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chthonen nichts über die disziplinierende Macht von Luftfotografien. Insofern war sie eher ein Überwachungs- als ein Disziplinierungsinstrument.
III. Der Mann hinter dem Vorhang Das Verschwinden des Wissenschaftlers aus der Bildfläche der Luftaufnahmen war kein einfacher, sondern ein komplexer und widersprüchlicher Vorgang. Luftfotografien sollten zwar objektives Wissen generieren, doch hielten Wissenschaftler gleichzeitig ein starkes Subjekt für notwendig, um Luftfotografien herstellen und/ oder lesen zu können. Um solche Eigenarten und Widersprüche genau erfassen zu können, werden im folgenden Abschnitt publiziertes Kartenmaterial mit den konkreten Schreibpraktiken und Strategien der Nutzer und Produzenten von Luftfotografien konfrontiert. Publizierte Karten, die von Sozialwissenschaftlern hergestellt wurden, repräsentierten einen anderen Bildtypus als Luftfotografien und implizierten somit ein anderes Wissen, obwohl beide Typen die Welt von oben zeigten. Karten eignen sich somit besonders gut als Kontrastfall, an dem die Eigenheiten von Luftfotografien, des Wissenschaftler-Selbsts und von Objektivität aufzeigt werden können. Im Gegensatz zur Luftfotografie ist die Präsenz des Wissenschaftlers in Karten unverkennbar: Die Fotografie wurde als Archeiropoieta verstanden,83 ein Bild also, das ohne menschliches Zutun entstanden war. Karten waren dagegen viel augenscheinlicher das Produkt menschlichen Handelns. Zumindest in den Zwischenkriegsjahren von Hand gezeichnet, bildete die Karte eine Selektion an Merkmalen ab, die disziplinär und individuell begründet war. Sie stellte eine Wiederzusammensetzung der Subjektivität ihres Erschaffers in Kombination mit den allgemeinen Regeln der Kartografie dar: Die Karte war ein Mix aus subjektiven, wissenschaftlich aber gerechtfertigten Selektionen und konventionellen Zeichen, die nur von damit vertrauten Lesern verstanden wurden. Kartenlesen setzte somit Übung und einen geteilte Code voraus, während die Luftfotografie hier nichts verlangte, wie Raymond Chevalier glaubte: „Alors que la carte, là où elle existe, est forcément incomplète et peut comporter des erreurs, la photographie aérienne représente un document d’une authenticité et d’une objectivité indiscutables puisqu’elle est l’image même de la réalité; on prendra seulement garde aux erreurs toujours possibles dans l’interprétation des apparences. Mais l’absence de toute abstraction ou exagération d’échelle sur la photographie permet de saisir les liaisons réciproques des phénomènes situés dans leur contexte, ou de synthétiser, dans un cadre donné, des travaux fournis par des experts, souvent en ordre dispersé. Cette vertu est illustrée par une observation fréquente des explorateurs: le primitif, incapable de lire une carte, se repère facilement sur la vue d‘avion.“84 83
Barthes, S. 82. Chevallier, S. 695 – 696. Deutsche Übersetzung: „Während die Karte notwendigerweise unvollständig und fehlerhaft ist, bildet die Luftfotografie ein unbestreitbar authentisches und objektives Dokument, da das Bild selbst die Realität ist; man muss nur vorsichtig sein, dass 84
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Griaule war dagegen weniger optimistisch, da er während seiner Arbeit mit den Dogon bemerkt hatte, dass „certains [indigènes] apprennent à lire une photographie verticale ou oblique, alors qu’ils ne comprennent pas une carte“.85 Das Lesen von Luftfotografien musste also erlernt werden, auch wenn das Verstehen von Karten voraussetzungsreicher war. André Malraux ging einen Schritt weiter und vertrat die unmittelbare Zugänglichkeit von Luftfotografien noch radikaler. In seiner 1937 veröffentlichten Novelle über den spanischen Bürgerkrieg L’Espoir beschrieb er das Unvermögen, aus der Höhe zu sehen, für jene, die solches nicht zuvor gelernt haben. In einer berühmten Szene fliegt der Pilot Magnin zusammen mit einem Bauer über dessen Dorf. Bevor das Flugzeug abhebt, ist der Bauer sehr zuversichtlich, dass er seine eigenen Felder und sein Haus erkennen würde: „Ya vingt-huit ans que je suis du village. Et j’ai travaillé en ville. Tu me trouves la route de Saragosse, moi je te trouve le champ. Tranquillement.“86 Sobald er jedoch in der Luft ist, erkennt der Bauer sein Dorf nicht wieder87 und kann sich nicht orientieren. Auch wenn Luftfotografien für sich selbst sprachen, bedurften sie doch einer erklärenden Instanz. So zeigte die Untersuchung des Gebrauchs publizierter Luftbilder, dass der abwesende Wissenschaftler zugleich zugegen war. Denn seine Abwesenheit war zu offensichtlich, als dass er der Bildlektüre entgehen konnte, hier das Resultat einer bestimmten Entscheidung und einer entsprechenden Konzeption eines Gelehrten-Selbsts vor sich liegen zu haben. Aber auch vom Bildrand aus kehrte er durch seine Bilderklärungen in den Text zurück. Zwei Beispiele sollen dies verdeutlichen: Der Geograf Pierre Gourou, dessen Karriere von der Bedeutung der Luftfotografie in Französisch-Indochina profitierte,88 publizierte 1936 eine bahnbrechende Studie über das Tonkin-Delta, die auf eine Langzeit-Kooperation mit der französischen Luftwaffe zurückging. Diese Studie, die eine große Menge an Luftbildern und Karten verwendete, bietet einen Einblick in die Unterschiede beider Medien. In dem Buch wurden Karten durch eine Auswahl unterschiedlicher Muster und grauer Schattierungen lesbar gemacht, deren Bedeutung außerhalb des Kartenrahmens erklärt wurde. Die Erklärungen sind rein deskriptiver Art: „1. Bordure de monman dabei keine Interpretationsfehler macht. Aber das Fehlen jeglicher Abstraktion oder Übertreibung der Skala in der Fotografie erlaubt das Erfassen der gegenseitigen Beziehungen der Phänomene in ihrem jeweiligen Kontext; sie erlaubt auch, in einem gewissen Rahmen das Synthesieren der aufgeteilten und durch Experten geführten Studien. Dieses Potential kann man aufgrund einer Beobachtung ersehen: der Primitive findet sich auf einer Luftbildfotografie unproblematisch zurecht, kann aber eine Landkarte nicht lesen.“ 85 Griaule, La géographie, S. 55. Deutsche Übersetzung: „Einige [Einheimische] können eine vertikale oder schräge Luftfotografie lesen lernen, nicht aber eine Landkarte“. 86 Malraux, S. 534. Deutsche Übersetzung: „Ich wohne seit 28 Jahren im Dorf und habe auch in der Stadt gearbeitet. Findest du die Straße nach Saragossa, zeige ich dir das Feld. Mühelos.“ 87 Campion, S. 1239 ; Brenu, S. 50 – 51. 88 Manchon, L’aéronautique, S. 56, 392 – 395.
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tagne ou de colline à forte pente; 2. Limite de terrasse; 3. Limite du Delta; 4. Trias, Rhétien, Alluvion ou Latérites non séparables […]“.89 Luftfotografien wurden dagegen meistens in einer Form präsentiert, in der Bildunterschriften das benannten, was auf dem Bild zu sehen war. Auf Tafel XII besagt der Untertitel zu Luftfotografie 15 Folgendes: „Village de lit majeur. Lu’õ’ng Quàn. Le Fleuve Rouge au sud; maisons dispersées; chaque maison est entourée d’un jardin. Division en bandes étroites où l’on reconnaît plusieurs orientations qui témoignent de déplacement du lit mineur en Fleuve Rouge“.90 Die Differenzen zwischen den beiden Medien sind offensichtlich. Drei sind zu nennen: Erstens duplizierte die Beschreibung die Fotografie durch sich selbst, und zwar Element (der Fluss) für Element (die Häuser), ähnlich wie Borges’ 1:1-Karte das kartierte Territorium schlicht verdoppelte.91 Würden Luftfotografien wirklich für sich selbst sprechen, wäre diese Praxis rein redundant. Bilderklärungen indizierten somit, dass Luftfotografien nicht lesbar waren, nicht einmal hinsichtlich ihrer gröbsten Merkmale (wie ein Fluss). Zweitens beschrieben Bildunterschriften Dinge, die auf Fotografien nicht zu sehen waren, wie etwa die Bewegungen eines Flussbetts. Fotos, die vorgeblich dem Nachweis dienen sollten, wurden interessanter Weise nicht zu Demonstrationszwecken eingesetzt; sie dienten vielmehr der Geltendmachung einer Behauptung über eine vergangene oder künftige Realität. Fotos waren demnach nicht nur ohne Anleitung unlesbar, sondern wurden auch zur Evokation von Dingen verwendet, die nicht mehr oder noch nicht da waren. Drittens waren die Bilderklärungen der Karten nicht vollständig mit dem Autor-Narrativ verwoben. Zwar ist die Frage, wie Sinn selektiert wurde, mit der nach den Produzierenden verbunden; doch innerhalb dieser Grenzen war die Selektion wie ein Werkzeugkasten, der den Lesenden frei zur Verfügung stand. Darin unterschieden sich Luftfotografien grundlegend. In Bildunterschriften fanden sich vor allem Appelle, die zum Sehen aufforderten und im Offensichtlichen das schwer Erkennbare markierten: „Man bemerkt“ schreibt Gourou etwa auf Tafel XII; anderswo ist „un talus bien visible“ zu lesen.92 Die deutliche Neutralität der Formeln („on“, „bien visible“) setzte nicht nur auf eine anonyme, austauschbare, abstrakte, nicht-subjektive Leserschaft, alles wurde vielmehr so formuliert, als ob nichts anderes zu sehen war, wie das, was der Schreibende seiner Leserschaft vorschrieb. Diese geriet dadurch in eine paradoxe Situation. Ihr wurde einerseits gesagt, worauf zu achten sei, anderseits, dass das völlig selbstevident sei; wer nichts erkennen kann, so die 89
Gourou, S. 12. Deutsche Übersetzung: „1. Berg- oder steile Hügelkante; 2. Terrassegrenze; 3. Deltagrenze; 4. Trias, Rhätiun, Alluvionen oder untrennbare Laterite.“ 90 Ebd., Taf. XII. Deutsche Übersetzung: „Hauptflussbettdorf. Lu’õ’ng Quàn. Der Rote Fluss im Süden; Streusiedlungen; jedes Haus ist von einem Garten umgeben. Aufteilung in schmale Streifen, in welchen mehrere in eine Richtung verlaufende Strukturen zu erkennen sind, die die Auslagerungen des Nebenflussbettes im Roten Fluss beweisen.“ Herv. durch den Verf. 91 Borges, S. 199. 92 Gourou, Taf. XIII.
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Unterstellung, war selber schuld oder unfähig. Die Erklärungen von Luftbildern teilten die Leser ein in jene, die verstanden, und jene, die unverständig blieben; sie separierten allerdings nicht Wissenschaftler von Nichtwissenschaftlern. Das Lesen von Karten verlangte hingegen eine genrespezifische Vorbildung, ermöglichte dafür aber ein unreglementiertes Verstehen. Luftfotografien benötigen kein spezifisches Vorwissen und keine beliebig verfügbare Werkzeugkiste, mit der die Leserschaft verstehen könnte, was sie möchte. Im Gegenteil benötigen Luftfotografien spezifische Anweisungen, weil sie deiktischer Art waren. Nur der kann sie lesen, der auch oben war. Der Autor musste also jedem Bild eine lokale Erläuterung beifügen – und schlich sich so literarisch in die Fotografie ein – weniger als disziplinär anerkannter Autor, denn als Autorität, die begrenzt wie der Ort und der Fotograf war. Und darin mag eine Erklärung für die kurze Erfolgsdauer der Luftfotografie liegen: Da sie an eine Person und ihre Erfahrung gebunden war, hatte sie einen geringen Demonstrationswert. Und weil sie eher auf Erfahrung als auf Kompetenz beruhte, eignete sie sich kaum als Distinktionsmarker; selbst ihre Meister gewannen kaum symbolisches Kapital auf dem Feld akademischer Disziplinen. Der oben gezeigte Gebrauch von Luftbildern war in sozialwissenschaftlichen Publikationen der häufigste. Doch muss noch auf einen Weiteren verwiesen werden, wie er am Atlas Photographique du Rhône des Geografen André Cholley von 1931 gut aufgezeigt werden kann. Dieses Werk stellt zwar nur den singulären Fall einer intensiven Nutzung metropoler Luftbilder und für die Zwischenkriegsjahre nur einen Hapax Legomenon dar. Doch weist Cholleys Kollektivarbeit auf eine bisher noch nicht beschriebene Art des Lesens hin, die für einige, hier diskutierte Aspekte aufschlussreich ist: „L’Atlas photographique du Rhône correspond […] à une conception nouvelle dans l’application de la photographie aérienne à la représentation de la surface du sol“,93 stellt Cholley in der Einleitung fest. Denn er war sich im Klaren darüber, dass ein großes Maß an Subjektivität und individueller Technik nötig war, um Luftfotografien etwas abzugewinnen: „La valeur de ces vues […] dépend aussi, plus qu’on ne le croit, de l’habileté de l’opérateur et de sa science du terrain, c’est-à-dire en somme de ses compétences géographiques. L’angle de la prise de vue, le ,point de vue‘, doivent en effet varier avec chaque paysage. Et le meilleur est celui qui peut traduire avec le maximum d’expression les traits essentiels de la région. […] Quant aux détails, tout technicien de la photographie aérienne sait bien que leur rendu dépend des contrastes fournis par les ombres et les zones en pleine lumière.“94
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Cholley, Atlas. Deutsche Übersetzung: „L’Atlas photographique du Rhône entspricht […] einer neuen Vorstellung des Einsatzes der Luftfotografie für die Darstellung der Erdoberfläche“. Herv. i. Orig. 94 Cholley, Atlas. Deutsche Übersetzung: „Der Wert dieser Fotografien […] hängt auch – und mehr als man denken würde – von den Qualitäten und dem geografischen Wissen des Fotografen ab. Der Aufnahmewinkel, der Punkt, von dem aus der Fotograf sieht, müssen sich in der Tat für jede Landschaft ändern. Und die Besten sind die, die mit dem höchsten Ausdruck die wesentlichen Merkmale der Gegend abbilden können. […] Jeder Luftfotografietechniker weiß auch, dass die Details der Bilder von den Schatten- und Lichtspielen abhängen.“
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Zudem gab Cholley an, dass die publizierten Fotos das Resultat einer Auswahl zum Zweck der Illustration waren: „les formes les plus expressives du relief de la vallée, les paysages rhodaniens caractéristiques, les types de villages, de bourgs, les villes, les cultures et les usines.“95 Kurzum, hier kehrte der Schreiber als Autor zurück. Es bedurfte seiner Fähigkeit, die markantesten Fotografien identifizieren und die Eigenheit des Rhonetals fixieren zu können. Und das sind auch die Worte, mit denen Daston und Galison die epistemischen Tugenden einer Persona beschreiben.96 Zugleich liegt hier wohl auch der Grund dafür, dass sich Cholley für eine andere Art von Bildunterschriften zur Beschreibung seiner von ihm ausgewählten Luftbilder entschied. Denn die Luftfotografie war für ihn keine ideale Repräsentationsform, da sich der Betrachter „dans l’incertitude […] de l’angle sous lequel [la photographie] a été prise“97 befand. So entschied er sich, jede Fotografie mit einer entfernbaren und transparenten Folie zu bedecken, die im Durchschlag auf der jeweiligen Fotografie „les indications d’échelles et d’orientation, les cotes d’altitude et les repères de planimétrie“98 anzeigte. Luftfotografie und darüber liegendes Papier waren somit zwei voneinander getrennte Medien, was dem Leser erlaubte, die Fotografie unabhängig von den Markierungen und Betrachtungsanweisungen Cholleys zu lesen und womöglich ganz andere Schlüsse daraus zu ziehen als der Autor selbst. Die durchsichtige Seite markierte „le nom des villages, des hameaux, des fermes les plus importants; le numéro et la dénomination des routes nationales; les indications de direction pour les routes, chemins et voies ferrées; les cotes principales d’altitude; les cotes d’altitude de l’étiage du fleuve et les distances kilométriques […]; on a aussi signalé les particularités du fleuve: îles, anciens bras, gués, etc. ainsi que les traits remarquables de la topographie.“99
Als ob hier alles die Bedeutung des Gelehrten für die Auswahl und Publikation von Luftfotografien kenntlich machen sollte, hob Cholly zwei Dimensionen hervor: die Fotografie selbst, die sich einem klar nachvollziehbaren Selektionsprozess verdankte, und die Bildunterschrift als Antworten auf je spezifische Fragen. Cholley scheint bemerkt zu haben, dass das Portraitieren des einen durch das andere ungenau war und zur Objektivation von lokalen und subjektiven Idiosynkrasien einlud, und 95
Ebd., Deutsche Übersetzung: „die aussagekräftigsten Formen des Talreliefs, die charakteristischsten Rhonelandschaften, die Dorf-, Städtchen-, und Stadttypen, der Anbau und die Fabriken.“ 96 Daston/Galison, S. 371. 97 Cholley, Atlas. Deutsche Übersetzung: „in der Ungewissheit des Aufnahmewinkels“. 98 Ebd., Deutsche Übersetzung: „die Skala- und Orientierungshinweise, die Höhenangaben und die Planimetriepunkte“. 99 Ebd. Deutsche Übersetzung: „der Name der wichtigsten Dörfer, Weiler, Bauernhöfe; die Nummer und der Name der Landstrassen; der Richtungsverlauf der Strassen, Pfade, und Eisenbahnlien; die Höhenangaben des Niederwasserabflusses und die kilometrischen Entfernungen […]; man hat auch die Besonderheiten des Flusses hervorgehoben: Inseln, alte Arme, Furten sowie die Merkmale der Topografie.“
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dies zu einem Zeitpunkt, als sich die französischen Sozialwissenschaften auf konkrete Fragestellungen konzentrierten.100 Auch deshalb trennte er in seinem Buch Luftbilder und Bilderklärungen physisch. So schied er zugleich das Phantasma eines reinen Dokumentes, das undeutlich und unbrauchbar war, von einem hybriden Bild, das mittels Gebrauch mechanisch reproduzierter Zeichnungen und Bilder das Dokumentarische mit disziplinären Problemen vermischte. Wie Lucien Febvre zur Geschichtsschreibung – und das gilt für viele sozialwissenschaftliche Disziplinen Frankreichs dieser Zeit – schrieb: „poser un problème, c’est précisément le commencement et la fin de toute histoire. Pas de problèmes, pas d’histoire. Des narrations, des compilations. Or, rappelez-vous : si je n’ai point parlé de „science“ de l’histoire, j’ai parlé „d’étude scientifiquement conduite“. Ces deux mots n’étaient point là pour faire riche. „Scientifiquement conduite“, la formule implique deux opérations, celles-là mêmes qui se trouvent à la base de tout travail scientifique moderne : poser des problèmes et formuler des hypothèses. Deux opérations qu’aux hommes de mon âge on dénonçait déjà comme périlleuses entre toutes. Car poser des problèmes, ou formuler des hypothèses, c’était tout simplement trahir. Faire pénétrer dans la cité de l’objectivité le cheval de Troie de la subjectivité […].“101
Luftfotografien perpetuierten den Wunschtraum, dass so etwas wie ein Dokument per se existierte. Doch glaubten im Frankreich der Zwischenkriegszeit immer weniger der gelehrten Pioniere daran, die einst auf das neue Instrument gesetzt hatten, um neue Fragen zu beantworten. Dokumente wurden nun eher als Produkte von Selektionen und Entscheidungen gesehen. Dass dies in der Luftfotografie übersehen wurde, erklärt sowohl ihren raschen Erfolg als auch ihr rasches Ende im Sinne eines reines Dokumentes. Febvre schrieb 1933, dass sogar die Geschichte selbst ein Produkt der Auswahl („choix“) sei. Denn Geschichte „l’est du fait de l’homme. Dire: ,Ce n’est pas une attitude scientifique‘ n’est-ce pas montrer […] que de la science, de ses conditions, de ses méthodes, on ne sait pas grand’chose? L’histologiste mettant l’oeil à l’oculaire de son microscope saisirait-il d’une prise immediate des faits bruts? [Non], l’essentiel de son travail consiste à créer […] les objets de son observation […]. Et ces objets acquis, à lire ses coupes et ses préparations. Tâche singulièrement ardue. Car décrire ce que l’on voit, passe encore; voir ce qu’il faut décrire, voilà la difficulté.“102 100
Febvre, De 1892 à 1933, S. 13. Febvre, Vivre l’histoire, S. 21. Deutsche Übersetzung: „Ein Problem zu stellen: das ist der Anfang und das Ende aller Geschichtsschreibung. Keine Probleme, keine Geschichtsschreibung, sondern eher Erzählungen und Zusammenstellungen. Aber, erinnern Sie sich: ich habe nicht von ,Geschichtswissenschaft‘, sondern von einer ,wissenschaftlich ausgeführten Forschung‘ gesprochen. Diese Wörter wählte ich nicht umsonst: ,wissenschaftlich ausgeführt‘ impliziert zwei Arbeitsgänge, die jede moderne wissenschaftlichen Arbeit anleiten: Probleme stellen und Hypothesen aufstellen. Schon Menschen meiner Generation wurde erzählt, dass diese zwei Arbeitsschritte die gefährlichsten seien. Probleme stellen oder Hypothesen aufstellen ist ganz einfach Verrat: das trojanische Pferd der Subjektivität in die Stadt der Objektivität hineinlassen […]“. 102 Febvre, De 1892 à 1933, S. 6 – 7. Deutsche Übersetzung: „Die Geschichte existiert aufgrund des Menschen. Wer sagt: ,Das ist keine wissenschaftliche Haltung‘, zeigt, dass er von der Wissenschaft, ihren Bedingungen, Methoden, wenig weiß. Sieht der Histolog, der 101
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IV. Schluss Dieser Artikel behandelte drei Aspekte: erstens die Vielfalt und Komplexität der Nutzung von Luftfotografien durch französische Sozialwissenschaftler verschiedener Disziplinen sowie die Gründe, die das Werkzeug für sie attraktiv machte (niedrige Kosten, Effizienz und Präzision). Zweitens wurden Eigenschaften der Luftfotografie traktiert, die von damaligen Wissenschaftlern selten und nur dann ins Feld geführt wurden, wenn Wissenschaftspolitiker und Wissenschaftsinstitutionen (Gelehrtengesellschaften, Universitäten etc.) dafür interessiert werden sollten. Von diesen wurden drei Eigenschaften unter dem „Evidenz-Paradigma“ Carlo Ginzburgs behandelt: Der Luftfotografie wurde 1. die Macht zugeschrieben, Komplexität von Welt durch Identifikation von Spuren zu enthüllen, 2. Strukturen sichtbar zu machen und 3. die Welt ohne menschliche Vorannahmen zu zeigen. Der historisch kurze Erfolg dieser Technik wurzelt schließlich in dem Glauben, sie biete den unter Metaphysikverdacht stehenden Sozialwissenschaften ein neues Instrument objektiver Erkenntnis. Der letzte Abschnitt des Artikels konfrontierte diese Annahmen mit Schreibpraktiken und Publikationsstrategien. Im ersten Fall wurde das Fingieren von Objektivität durch Bildunterschriften entlarvt, da diese ungewollt die unvermeidliche Anwesenheit des Autors enthüllten, dessen Autorität weniger disziplinärer als kontingenter Art war. Im zweiten Fall wurde der Selektionsprozess der Luftfotografie-Herstellung vom Autor vorausgesetzt; es entstand ein hybrides Artefakt, das das Dokumentarische mit disziplinären Problemen verband. Im Hintergrund dieses Artikels standen Dastons und Galisons epistemische Tugenden und deren Gültigkeit für die Sozial- und Geisteswissenschaften. Allein diese Fallstudie über Luftfotografien in den Sozialwissenschaften verunklart eher als dass sie Klarheit schafft. Die behandelten drei epistemischen Tugenden – Persona, Bild, Praxis – scheinen untrennbar voneinander gewesen zu sein. Die meisten der hier zitierten Sozialwissenschaftler hatten offenbar geglaubt, dass die korrekte Herstellung von Luftfotografien zwar eine hohe Kunstfertigkeit verlangte und sowohl ihre Herstellung als auch Nutzung Übung benötigte. Doch erst die Tilgung des Autors (und der Beobachteten) verlieh diesem Werkzeug eine höheren Demonstrationskraft. Daston und Galison räumen indes ein, dass jene epistemischen Tugenden koexistieren und sich überschneiden konnten. Hier fielen sie aber in einem einzigen Instrument zusammen. Es ist, als ob eine epistemische Tugend (Persona) zur Produktion des Objektes notwendig war, die andere (Praxis) zur Lektüre und die dritte (Bild) zur Identifikation dessen, was anhand von Luftbildern erst aufgezeigt werden sollte. Diese Eigenart der Luftfotografie führt zu der noch unbeantworteten Frage, ob die unter einem Mikroskop etwas betrachtet, unmittelbar reine Fakten? [Nein] seine Arbeit besteht in der Erschaffung […] der Objekte seiner Untersuchung […]. Und dann erst wird er seine Präparate und Schnellschnitte beschreiben. Das ist die schwierige Aufgabe. Denn das Beschreiben dessen, was man sieht ist machbar; aber sehen, was man beobachten soll, das ist die echte Schwierigkeit.“
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Luftfotografie ein besonderer Fall in der Geschichte wissenschaftlicher Techniken und Instrumente darstellt (und wenn ja, in welcher Hinsicht) oder ob sie eher einer Ordnung nebeneinander existierender epistemischer Tugenden entspricht, die verschiedene Momente und Segmente wissenschaftlicher Aktivitäten umfasste. Literatur Anker, Pedar: Imperial Ecology. Environmental Order in the British Empire, 1895 – 1945, Cambridge (Mass.) 2001. Asendorf, Christoph: Super Constellation. L’influence de l’aéronautique sur les arts et la culture, Paris 2013. Barber, Martyn: A History of Aerial Photography and Archaeology. Mata Hari’s Glass Eye and Other Stories, Swindon 2011. Barthes, Roland: Camera Lucida. Reflexions on Photography, London 1984. Batut, Arthur: La photographie aérienne par cerf-volant, Paris 1890. Baulig, Henri: Application nouvelle de la photographie aérienne au Canada, in: Annales de Géographie, 38 (1929), S. 94 – 96. Beazeley, George A.: Air Photography and Archaeology, in: The Geographical Journal, 53 (1919), S. 330 – 335. Besse, Jean-Marc: Catoptique: vue à vol d’oiseau et construction géométrique, Mitteilung gehalten auf der Tagung „La vue aérienne: savoirs et pratiques de l’espace“ (CNRS/British Academy), Paris Juni 2007, [https://halshs.archives-ouvertes.fr/halshs-00191932]. Blache, Jules: De Meknès aux sources de la Moulouya [Essai d’exploration aérienne au Maroc], in: Annales de Géographie, 28 (1919), S. 293 – 314. Bloch, Marc: Les plans parcellaires. L’avion au service de l’histoire agraire, in: Annales d’histoire économique et sociale, 2 (1930), S. 557 – 558. Bondaz, Julien/Castro, Teresa: Le terrain vu du ciel. Photographie aérienne et sciences sociales (d’une guerre à l’autre), in: Angela Lampe (Hrsg.), Vues d’en haut, Metz 2013, S. 292 – 299. Borges, Jorge Luis: L’auteur et autres textes, Paris 1982. Bourdieu, Pierre: Questions de sociologie, Paris, 1984. – Science de la science et réflexivité. Cours au Collège de France 2000 – 2001, Paris, 2001. Brenu, Lison: La guerre d’Espagne à travers L’Espoir de Malraux et Le Palace de Simon, Mémoire de Master, Université Stendhal, Grenoble 2010. Bruhnes, Jean: La géographie humaine. Essai de classification positive. Principes et exemples, Paris 1910. Campion, Pierre: Ecrire l’événement. L’Espoir de Malraux dans la guerre d’Espagne, in: Revue d’histoire littéraire de la France, 101 (2001), S. 1233 – 1253. Capper, John Edward: Photographs of Stonehenge as seen from a War Balloon, in: Archaeologia, 60 (1907) 2, S. 571. Carlier, André-H.: La photographie aérienne pendant la guerre, Paris 1921.
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Zur politischen Geschichte der Kommunikationsforschung als empirischer Sozialwissenschaft Die Vereinigten Staaten und Deutschland in transatlantischer Perspektive von den 1920er bis 1960er Jahren Von Benno Nietzel
I. Einleitung Spätestens seit den Propagandaschlachten des Ersten Weltkriegs erschienen die Massenmedien als tragender Faktor politischer Prozesse und damit auch als eine Wissensherausforderung für die sich formierenden Gesellschaftswissenschaften.1 Die Auseinandersetzung mit massenmedialer Kommunikation wurde zu einem Schlüsselthema der Sozialwissenschaften im 20. Jahrhundert. Insbesondere im Zeitraum von den 1920er Jahren bis in die 1950er Jahre verwissenschaftlichte sich das Nachdenken über die Zusammenhänge von Medien und Politik, und die Kommunikationswissenschaft als akademische Disziplin bildete sich in der mehr oder weniger heute noch existierenden Form heraus. Dieser Entstehungsprozess war allerdings verschlungen und von Retardationen, Blockaden, aber auch Schüben und Sprüngen geprägt. Die systematische Beschäftigung mit Phänomenen moderner Massenmedienkommunikation war nicht auf eine universitäre Disziplin beschränkt, sondern fand in vielfältigen akademischen und außeruniversitären Kontexten statt. Auch die Leitbegriffe solcher Forschungen waren uneinheitlich und Veränderungen unterworfen: In den Vereinigten Staaten spielte lange Zeit der Propagandabegriff als Analysebegriff eine zentrale Rolle, ehe sich das Forschungsfeld semantisch über den Begriff der Mass Communication(s) in Gestalt der Communication Study/Research als universitäres Fach konstituierte.2 In Deutschland führte der Weg von der Zeitungskunde über die Zeitungswissenschaft zur Publizistik – und schließlich, im Nachvollzug der USamerikanischen Entwicklung, über den Begriff der Massenkommunikation zur Kommunikationswissenschaft.3 Die moderne Kommunikationswissenschaft war deutlich von transatlantischen Transfer- und Austauschprozessen geprägt. Für die historische Reflexion des For1
Taylor; Messinger. Zur amerikanischen Begriffsentwicklung Simonson, Mass Communication, S. 9 – 28. 3 Vgl. Bruch/Roegele; Glotz.
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schungsfelds und seiner Genese gilt das weniger. Zwar haben sich FachvertreterInnen der Kommunikationswissenschaft auf beiden Seiten des Atlantiks intensiv mit der Geschichte ihrer Disziplin beschäftigt; zur reinen Personen-, Instituts- und Theoriegeschichte scheint nicht mehr viel gesagt werden zu können. Doch die Forschungen zur Geschichte der Kommunikationswissenschaft in den Vereinigten Staaten4 und in Deutschland5 sind bisher kaum in einen übergreifenden Dialog eingebettet worden. Innerhalb der US-amerikanischen Disziplin ist in den letzten Jahren in diesem Zusammenhang lautstarke Kritik am Stand der fachhistorischen Forschung geäußert worden. Die führenden Exponenten dieser Kritik, Jefferson Pooley und David Park, haben in mehreren Beiträgen beklagt, wie eng der Aufmerksamkeitshorizont der US-amerikanischen Fachhistoriker bemessen sei.6 Nicht nur bleibe die Wissenschaftsgeschichte außerhalb der Vereinigten Staaten, insbesondere im globalen Süden, fast völlig außerhalb des Blickfeldes. Auch die Erforschung der US-amerikanischen Wissenschaftsentwicklung leide an einer Fehlallokation von Aufmerksamkeit sowie unter der Fortschreibung eingängiger Narrative, die von Autor zu Autor weitergereicht, aber kaum noch hinterfragt würden: „Core storylines are repeated, over and over, through uncited mnemonic hand-me-downs.“7 In den letzten Jahren sind als partielle Antwort auf solche Befunde verstärkte Bemühungen unternommen geworden, die Fachgeschichtsschreibung der Kommunikationswissenschaft zu internationalisieren.8 Dabei ist für den deutschen Fall spezifisch, dass die inter- und transnationale Dimension der Fachgeschichte besonders eng mit einigen dichotomen Narrativen verknüpft ist. Aus deutscher Sicht wurde seit jeher besonders betont, dass der Durchbruch der Kommunikationsforschung als einem sozialwissenschaftlichen Forschungsfeld in den Vereinigten Staaten der 1930er und 1940er Jahre maßgeblich von deutschsprachigen Emigranten mitgetragen wurde.9 Diesem Transfer von Akteuren folgte nach landläufiger Darstellung nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in umgekehrter Richtung ein umfassender Ideen- und Methodentransfer, der innerhalb eines längeren Anpassungsprozesses die deutsche Publizistik- und Kommunikationswissenschaft weitgehend dem USamerikanischen Modell anglich. Überspitzt dargestellt, steht in dieser Erzählung eine nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten verfemte wissenschaftliche Tradition, die jenseits des Atlantiks von Emigranten weitergeführt und zum Durchbruch gebracht wurde, einer intellektuell paralysierten und in die akademische Be4
Wichtig u. a. Delia; Rogers; Dennis/Wartella; Simonson, Politics; Park/Pooley, History. Kutsch, Zeitungswissenschaft; Hachmeister, Publizistik; Averbeck, Kommunikation; Averbeck/Kutsch, Thesen; Duchkowitsch et al.; Averbeck/Kutsch, Zeitung; Wilke; zur Fachgeschichte seit 1945: Holtz-Bacha et al.; Löblich, Wende; Wiedemann; Scheu. 6 Pooley/Park, Communication Research; dies., Introduction. 7 Pooley/Park, Introduction, S. 3. 8 Simonson/Park; Averbeck-Lietz, Kommunikationswissenschaft. Ansätze einer vergleichenden Perspektive auch bereits bei Haas. 9 Zur Emigration deutschsprachiger Sozialwissenschaftler in die USA zuletzt ausführlich Fleck, Bereicherungen. 5
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deutungslosigkeit absteigenden Zeitungswissenschaft in Deutschland und Österreich gegenüber.10 Partielle Kongruenz weist diese Erzählung mit dem Narrativ einer unaufhaltsamen Erfolgsgeschichte empirisch-sozialwissenschaftlicher Forschungsansätze auf, die auf lange Sicht über veraltete, dogmatische und normative geisteswissenschaftliche Fachtraditionen triumphierten. Reduktionistische massenpsychologische Denkweisen hielten in dieser Sicht der Erkenntnis der tatsächlichen, mittels empirischer Verfahren freigelegten Mechanismen medialer Wirkungsprozesse langfristig nicht stand.11 Diese Narrative werden bisweilen über das Deutungskonzept der „Amerikanisierung“ verknüpft, das die Erfolgsgeschichte des Fachs als eine Angleichung europäischer Wissenschaftsdisziplinen an einen US-amerikanischen Goldstandard empirischer Sozialwissenschaft versteht.12 Und eben diese Geschichte lässt sich komplementär auch von der anderen Seite her erzählen, ohne ihre Grundstruktur zu verändern: als eine Verdrängungs- und Verlustgeschichte „kritischer“ Ansätze, die im Mainstream eines sozialtechnologischen Positivismus untergingen.13 Es geht in diesem Beitrag nicht darum, diese Narrative auf ihre empirische Stichhaltigkeit hin zu prüfen. Versucht werden soll jedoch, hinter eingefahrene Sichtweisen zurückzutreten und eine historische Perspektive auf die transatlantische Geschichte der Kommunikationsforschung schlaglichtartig zu skizzieren, indem einige Akzentverschiebungen vorgenommen werden. Dabei weist dieser Beitrag eine dreifache Stoßrichtung auf: Er versteht sich erstens als Versuch, den Blick auf die kommunikationswissenschaftliche Fachgeschichte noch einmal weiter zu öffnen und damit möglicherweise neue Fragen und Hypothesen aufzuwerfen. Hierzu erscheint es allerdings sinnvoll, den Fokus nicht von vornherein von akademischen Fachgrenzen einengen zu lassen, sondern empirische Kommunikationsforschung als ein offenes Feld interdisziplinärer Praxis zu verstehen. Es erscheint darüber hinaus geboten, im Anschluss an neuere wissensgeschichtliche Ansätze, den Blickwinkel auch auf außerwissenschaftliche und nicht-wissenschaftliche Aktivitäten auszuweiten sowie die Verwendung, Weiterverarbeitung und Übersetzung wissenschaftlichen Wissens in nicht-wissenschaftlichen Kontexten zu beleuchten.14 Zweitens sollen transnationale Bezüge und Verflechtungen hier stärker betont werden. Darunter sind nicht nur direkte Austausch- und Rezeptionsprozesse zu verstehen, sondern auch gegenseitige Beobachtungen, Abgrenzungen und Projektionen. Nicht nur Personen, Methoden und Theorien befanden sich in transatlantischer Be10 Vgl. Averbeck, Emigration; es existieren freilich auch Beiträge, die stärker das zumindest institutionell erfolgreiche Fortleben der Zeitungswissenschaft im Nationalsozialismus betonen: siehe etwa Haas; im weiteren soziologiegeschichtlichen Kontext auch Klingemann. 11 Hierzu auch Bussemer. 12 Hier bewegt sich die Literatur im weiteren Rahmen der Soziologiegeschichte, in der das Konzept der „Amerikanisierung“ längere Zeit eine große Rolle gespielt hat; vgl. Weyer; Plé; Weischer; Gerhardt, Denken; dies., Soziologie, S. 179 – 230. 13 So etwa Scheu; im amerikanischen Kontext auch Hardt. 14 Wegweisend hierzu Vogel.
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wegung, sondern auch Fördergelder und Netzwerkstrukturen.15 Damit liefert der Beitrag auch Material, welches in wissenschaftstheoretischer Perspektive dazu dienen kann, das im vorliegenden Band heuristisch leitende Konzept des ,Idioms‘ hinsichtlich seiner Potentiale und Grenzen zu diskutieren. Das Konzept kann dabei in einem ersten Schritt helfen, über nationale, disziplinäre und systemische Grenzen hinweg scheinbar Unverbundenes zueinander in Beziehung zu setzen, ohne aber eine Homogenisierung von Diskursen und Praktiken zu unterstellen. Damit ist drittens ein Fokus auf die politischen Kontexte von Kommunikationsforschung angesprochen, die ebenfalls eine transnationale Dimension bergen. Der Blick richtet sich insbesondere auf die Erwartungs-, Nachfrage- und Förderkonjunkturen, die auf die Entwicklung wissenschaftlicher Interessen und Forschungspraktiken einwirkten, aber auch auf die Anwendungs- und Praxisfelder, auf die jene zurückwirkten. Wie gezeigt werden soll, waren die politischen Verwerfungen des Zeitalters der Extreme – entgrenzte Massenkriege, totalitäre Propagandaregime, „imaginäre Kriege“ – in vieler Hinsicht entscheidend für die Entwicklung der wissenschaftlichen Kommunikationsforschung.16 Eine solche Perspektive einer politischen Wissenschaftsgeschichte17 vermeidet die Fixierung auf ein bestimmtes methodisch-theoretisches Setting als Maßstab, an dem die Fachgeschichte evaluativ gemessen wird. Die Dominanz einer empirisch-sozialwissenschaftlich operierenden Kommunikationsforschung wird so historisiert und in ihrer Kontingenz greifbar. Gleichzeitig kann damit das Beispiel der Kommunikationswissenschaft in die andauernde Diskussion um die Beziehungen von Wissenschaft und Politik im 20. Jahrhundert eingebracht werden,18 in der es bisher noch keine größere Rolle gespielt hat.19
II. Die Weltkriegserfahrung als Entstehungskontext dies- und jenseits des Atlantiks Die Anfänge dessen, was in Deutschland zunächst ,Zeitungskunde‘ genannt wurde, gehen auf Bestrebungen zur Verbesserung der Journalistenausbildung durch die Gründung universitärer Lehreinrichtungen zurück. Da die von Max Weber angestoßene großangelegte Zeitungsenquete der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS) nicht zustande kam, blieb dies wissenschaftsgeschichtlich 15
Vgl. Heilbron/Guilhot/Jeanpierre, S. 402. Vgl. Daniel, S. 56. 17 Vgl. auch Szöllösi-Janze, Wissensgesellschaft; Ash, Ressourcen. 18 Ash, Wissenschaft und Politik. 19 Vgl. auch die Kritik aus US-amerikanischer Sicht bei Pooley/Park, Communication Research, S. 85, kommunikationswissenschaftliche Fachhistoriker seien „notably absent“ etwa in der neueren Forschungsdiskussion um die Rolle der Sozialwissenschaften im Kalten Krieg. Entsprechende Beiträge kamen in der Tat eher von außerhalb des Faches, genügen aber in vieler Hinsicht dem gegenwärtigen Diskussionsstand um die Beziehungen von Wissenschaft und Politik nicht mehr: Simpson; Glander; in einer breiteren ideengeschichtlichen Perspektive auch Gary, Nervous Liberals. 16
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der primäre Entwicklungsstrang. 1916 wurde das erste eigenständige Institut dieser Art in Leipzig unter der Leitung des Nationalökonomen Karl Bücher eröffnet.20 Doch die Erfahrungen des Ersten Weltkriegs veränderten die Erwartungen an das erst im Entstehen befindliche Fach. Die Frage der Journalistenausbildung wurde nun verstärkt im Rahmen der Debatten um die deutsche Niederlage und die Rolle der Kriegspropaganda diskutiert und erhielt damit eine neue politische Virulenz und eine veränderte Bedeutung. In der Weimarer Republik entstand ein ganzes Genre von Publikationen, die über Leistungen und Versäumnisse der alliierten wie der deutschen Propaganda im Weltkrieg reflektierten. Dass die Deutschen nicht der Macht der gegnerischen Armeen, sondern letztlich den Tücken der Feindpropaganda erlegen waren, galt den Autoren dieser Schriften als ausgemacht.21 Nun ging es darum, analytischen Aufschluss über die Gründe der Niederlage an der Propagandafront zu gewinnen und daraus Schlussfolgerungen für die politische Zukunft Deutschlands zu ziehen. Der Publizist Edgar Stern-Rubarth legte 1921 eine erste ausführliche Untersuchung der Propagandapolitik der ehemaligen Kriegsgegner Großbritannien, Frankreich und der Vereinigten Staaten vor, aus der er eine Reihe von Forderungen ableitete, die nicht zuletzt auf die Einrichtung einer zentralen Reichspropagandastelle hinausliefen.22 Der Soziologe Johann Plenge arbeitete ein ganzes System der Propagandalehre aus, das ebenfalls auf die gesellschaftliche Praxis zielte. Propaganda sollte die innere Zerrissenheit des deutschen Volkes aufheben und ein nationales Gemeinschaftsgefühl stiften, das als Vorbedingung für den Wiederaufstieg Deutschlands erschien.23 Plenge, immer auf der Suche nach öffentlicher Unterstützung für sein Münsteraner Institut, war dabei nur eine besonders laute unter vielen Stimmen, die der Reichsregierung Experten-Ratschläge für ihre Kommunikationspolitik erteilten.24 Die Auseinandersetzungen mit der Weltkriegspropaganda weisen mehrere Berührungspunkte mit den Anfängen der deutschen Zeitungskunde auf. So wurde das 1927 mit Unterstützung des pfälzischen Verlegers Wilhelm Waldkirch gegründete Institut für Zeitungswissenschaft in Heidelberg ganz explizit mit der Erforschung und Aufarbeitung der gegen Deutschland gerichteten Propaganda des Auslandes beauftragt.25 Auch die Diskussionen um die Journalistenausbildung wurden von der Erfahrung des Weltkriegs geprägt. Bereits 1915 hatte Bücher auf die fatalen Auswirkungen des Massenkriegs auf die Medienkultur hingewiesen. Insbesondere die englische und französische Presse habe ihre Verantwortung als unparteiliche gesellschaftliche Instanz vollkommen aufgegeben und ergehe sich allein in Hetze gegen den Gegner und das Aufpeitschen nationaler Leidenschaften. Aber auch die deutschen Zeitungen 20
Straetz, Institut, S. 75 f. Verhey. 22 Stern-Rubarth. 23 Plenge. 24 Vgl. Ross. 25 Ackermann. 21
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wurden in diese Kritik miteinbezogen.26 Mit dieser Meinung zog der Nestor der deutschen Zeitungswissenschaft jedoch heftigen Widerspruch auf sich,27 und in den Nachkriegsjahren etablierte sich eher die gegenteilige Auffassung von einer Presse, die ihrer nationalen Verantwortung in der Kriegssituation nicht gerecht geworden und daher mitverantwortlich für die Niederlage sei. Vor diesem diskursiven Hintergrund erklärt sich eine wesentliche Stoßrichtung zur Gründung zeitungswissenschaftlicher Institute während der 1920er Jahre, die auf eine Indienstnahme der deutschen Presse für nationale Interessen zielte. So stellte sich der Leiter der zeitungswissenschaftlichen Kommission des Reichsverbands der deutschen Presse, Martin Mohr, in der unmittelbaren Nachkriegszeit als Aufgaben eines solchen Instituts unter anderem die Beobachtung der öffentlichen Meinung im In- und Ausland und die behutsame Koordinierung und Lenkung der Auslandsberichterstattung in der deutschen Presse vor, um internationale PR-Desaster wie im Weltkrieg künftig zu vermeiden.28 Auch die Vorstellungen zur Journalistenausbildung des wichtigsten Protagonisten der deutschen Zeitungswissenschaft während der Weimarer Republik, des Berliner Professors Emil Dovifat, waren von der Weltkriegserfahrung geprägt, die als Subtext in seinen Texten mitschwang. Orientiert am Ideal der traditionellen deutschen Gesinnungspresse, zielten sie weniger auf eine technisch-handwerkliche Ausbildung, sondern vor allem auf eine allgemeine Charakterbildung, um den zukünftigen Zeitungsmann „die Größe und Gefährlichkeit des Instruments erkennen zu lassen, das ihm anvertraut ist, und ihm die Plichten zu bezeichnen, die er zu erfüllen hat.“29 Transatlantische Wahrnehmungen und Abgrenzungen waren für die deutsche Diskussion um Propaganda und Medien konstitutiv, erst über das Vorbild oder aber das Gegenmodell der Vereinigten Staaten definierte sich für viele Autoren, was Deutschland und die deutsche Presse ausmache oder jedenfalls ausmachen sollte. Der Amerikaspezialist Friedrich Schönemann bündelte 1924 in seiner Darstellung der USamerikanischen Medienkultur einige der umlaufenden Sichtweisen in prägnanter Weise.30 Auch er verwies einmal mehr auf die entscheidende Rolle politischer Propaganda im Weltkrieg, die es daher wissenschaftlich zu ergründen gelte, um praktische Schlussfolgerungen für ihre Handhabung in Deutschland zu gewinnen. Die Vereinigten Staaten beschrieb Schönemann als politischen Raum, in dem die Medienöffentlichkeit eine entscheidende Rolle spiele und daher der Umgang mit den Massenmedien für politische Akteure seit langer Zeit vertraut sei und zum alltäglichen Geschäft gehöre. In der US-amerikanischen Einwanderungsgesellschaft komme den Massenmedien, neben den Schulen und den Kirchen, eine entscheidende Rolle als Sozialisationsinstanz zu, die die Bevölkerungsmassen auf die nationale 26
Bücher. Straetz, Institut, S. 76. 28 Mohr, S. 72. 29 Dovifat, Wege, S. 13. 30 Schönemann. 27
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Einheit einschwöre und eine patriotische Grundstimmung generiere, die den Deutschen fehle. In eigenwilliger Aneignung des US-amerikanischen Beispiels forderte Schönemann daher auch für Deutschland eine Besinnung der Presse auf ihre Verantwortung für die politische Erziehung als einer „Erziehung zum Handeln für den Staat“ und zu einer politischen Reife, „die ihrerseits auf dem wachsenden Verständnis für das nationale Wohl beruht.“31 Emil Dovifat, der sich vor seiner Berufung auf den Berliner Lehrstuhl für Zeitungskunde auf einer längeren Studienreise intensiv mit dem Journalismus in den Vereinigten Staaten auseinandergesetzt hatte, teilte Schönemanns Sicht auf die US-Presse als einer auf Sensationen und Emotionen hin orientierten „Spieglerin aller Masseninstinkte“.32 Als solche war sie für ihn auch keineswegs ein Vorbild, sondern eher das idealtypische Gegenbild des eigenen Ideals eines Journalismus, der seine Berufung in der geistigen Auseinandersetzung und der Meinungsführerschaft, allerdings abseits des für Deutschland bezeichnenden „Parteikrakeel“, finden sollte.33 Für Dovifat waren daher die in den Vereinigten Staaten schon seit längerem existierenden Journalistenschulen auch kein nachahmenswertes Modell; als ein „Vorservieren präparierten Wissensstoffes“34 grenzte er diese Form der professionellen Ausbildung vielmehr von seiner eigenen Vorstellung einer Zeitungskunde ab, die vor allem „auf die geistigen und moralischen Qualitäten des Berufsnachwuchses“ einwirken wollte.35 In der Tat war die Journalistenausbildung in den Vereinigten Staaten stärker ,handwerklich’ orientiert und stand deshalb in einer weniger engen Beziehung zur wissenschaftlichen Beschäftigung mit Medienkommunikation als in Deutschland. So tritt hier die Erfahrung der Weltkriegspropaganda noch wesentlich klarer als Entstehungskontext hervor. Während in Deutschland der Begriff der Propaganda klar auf den politischen Bereich und insbesondere die Kriegspropaganda bezogen blieb, war die Begriffsverwendung in der Diskussion der US-amerikanischen Nachkriegszeit breiter und diffuser. Während der 1920er Jahre entstand hier mit der Propagandakritik eine Bewegung, die um das Verhältnis von Demokratie und moderner Massenmedienkultur besorgt war.36 Vor allem Walter Lippmann bettete das Problem von Propaganda in einen breiteren kulturkritischen Rahmen ein, in dem es um die Fähigkeit des Medienpublikums zum Räsonnement und das Problem des Zugangs zu objektiver Information ging. Propaganda war in dieser Sichtweise eng mit anderen Phänomenen der modernen Medienwelt wie dem Sensationsjournalismus, dem Lobbyismus und der kommerziellen Werbung assoziiert.37 Spätere Autoren wie Frederick 31
Ebd., S. 111 f. Dovifat, Journalismus, S. 214. 33 Ebd., S. 213. 34 Ebd., S. 240. 35 Ebd., S. 239. 36 Vgl. Sproule, S. 22 – 52. 37 Lippmann. 32
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Lumley weiteten die Bedeutung des Begriffs noch weiter aus und thematisierten jede Art ,verzerrter‘ Medieninhalte als Propaganda und damit als Gefahr für die Demokratie.38 Es ging darum, dem US-amerikanischen Publikum die Omnipräsenz und die Struktur von Propaganda vor Augen zu führen, um deren schädliche Wirkung zu neutralisieren. Organisationsgeschichtlich führte dieser Diskursstrang einer politisch progressiv orientierten Propagandakritik bis zur Gründung des Institute for Propaganda Analysis 1937, einem als Verein organisierten, interdisziplinären Institut, das sich der Enthüllung von Propagandatendenzen in den US-amerikanischen Medien durch systematisches Monitoring und der pädagogischen Aufklärung verschrieben hatte.39 Widerspruch ernteten die Propagandakritiker von PR-Praktikern wie Edward Bernays, der sein 1928 erschienenes Hauptwerk provokativ „Propaganda“ betitelte. Was diese für eine potentielle Gefährdung der modernen Demokratie hielten – eine nur noch über Medien vermittelte Beziehung der Menschen zur Welt und ihre unbewusste Lenkung durch anonyme Akteure –, galt dem erfolgreichen Öffentlichkeitsarbeiter Bernays gerade als ihre konstitutiven und keineswegs negativen Merkmale. Propaganda war in dieser Lesart für moderne Gesellschaften ein lebensnotwendiges Medium der Reduzierung von Komplexität und der wechselseitigen Vermittlung von Interessen und Bedürfnissen.40 Seine Auffassung bedeutete eine spiegelverkehrte Umdeutung der kulturkritischen Propagandakritik, die damit aber im gleichen Denkrahmen verblieb. Es war somit erst die Verbindung US-amerikanischer und europäischer Diskurse bei Harold D. Lasswell, die die Entwicklung der Kommunikationsforschung als empirische Sozialwissenschaft einleitete. Der Politikwissenschaftler Lasswell richtete in seiner 1927 erschienenen Studie zu Propagandatechniken den Blick noch einmal zurück auf die politische Propaganda des Ersten Weltkriegs, wie sie insbesondere die deutsche Diskussion noch immer bestimmte. Intensiv rezipierte er die Literatur zum Thema aus Deutschland, „where the best work has been done“,41 und übernahm die darin vorherrschende Perspektive auf die Organisation und die technisch-inhaltlichen Strategien von Propaganda bei den einzelnen Kriegsparteien. Gleichzeitig entkleidete er diese Perspektive der politisch-moralischen Bezüge, die sie im Nachkriegseuropa besaß, und kultivierte einen demonstrativ kühlanalytischen Blick auf das Phänomen Propaganda. Auch Lasswell ging davon aus, dass Propaganda mittlerweile ein konstitutives Element moderner Gesellschaftsorganisation über Phasen des Kriegs hinaus geworden sei und es deswegen darauf ankomme, durch empirische Beobachtung ihre Funktionsmechanismen zu ergründen. Diese Art der Forschung richtete sich also nicht auf die Aufdeckung und Abwehr von Propaganda, sondern darauf, diese durch Erkenntnis ihrer Funktionsweisen kontrollieren und beherrschen zu können. Propaganda wurde auf diese Weise als diffuse Be38
Lumley. Sproule, S. 129 – 177. 40 Bernays. 41 Lasswell, Propaganda, S. 1.
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drohung entmystifiziert und konnte damit zum Gegenstand sozialwissenschaftlicher Forschung werden.42
III. Propaganda und Medienwirkungen als Forschungsgegenstände Die Strömungen einer progressiv-politischen Propagandakritik und einer wertfreien sozialwissenschaftlichen Propagandaforschung, für die Lasswell stand, lassen sich nur idealtypisch auseinanderhalten, tatsächlich waren sie vielfältig ineinander verwoben. Die weitere Entwicklung wurde auch in diesem Fall weniger von Dynamiken des wissenschaftlichen Felds, sondern vor allem von den Vorgängen der internationalen Politik sowie der massiven finanziellen Förderung privater und staatlicher Einrichtungen vorangetrieben. Lasswell hatte sich seit Ende der 1920er Jahre zunächst von der empirischen Propagandaforschung wegbewegt und einer tiefenpsychologisch inspirierten Analyse politischer Strukturen zugewandt. Erst als seine Karriere an der Universität Chicago 1937 in eine Sackgasse geriet, setzte er ganz auf eine drittmittelfinanzierte und zunehmend praxisorientierte Forschungs- und Beratungstätigkeit im Bereich der Propagandakunde.43 Eine solche Karrierestrategie wurde durch die zunehmende Intensivierung und Politisierung des Diskurses um die Gefährdung der US-amerikanischen Gesellschaft durch das Eindringen totalitärer Propaganda ermöglicht, in dem der Ruf nach Fachexpertise immer lauter geworden war. Es ging um die Identifizierung und Analyse antidemokratischer, insbesondere auch ausländischer Propaganda, die in die US-amerikanische Gesellschaft einzudringen drohte. Diese Propaganda sollte durch quantitative Analysen zunächst überhaupt erst als Propaganda sichtbar gemacht und dann auf ihre inneren Konstruktionsprinzipien hin durchleuchtet werden. Über eine empirische Auftragsstudie zu kommunistischer, von der Sowjetunion inspirierter Propaganda in Chicago während der Weltwirtschaftskrise44 führte diese Forschung Lasswell schließlich zur Rockefeller Foundation, die sich in den 1930er Jahren dem Thema der Massenkommunikation zugewandt hatte und ihre Projektförderung nach dem Ausbruch des Kriegs in Europa massiv ausbaute. Das finanzielle Engagement der Rockefeller Foundation war für den Durchbruch wissenschaftlicher Kommunikationsforschung entscheidend.45 Die Stiftung förderte nicht nur zentrale Projekte und Personen, sondern half auch dabei, deren Forschungen zu einem Themenzusammenhang zu bündeln. Neben Lasswell kam vor allem der österreichische Emigrant Paul F. Lazarsfeld in den Genuss der Förderung. Zunächst erhielt Lazarfeld in den frühen 1930er Jahren ein Rockefeller Fellowship, emigrierte nach der NS-Machtübernahme in Österreich 1938 ganz in die Vereinigten Staaten und baute dort, wie hinlänglich bekannt, erst in Princeton und dann an der Columbia 42
Collins, S. 591 – 594. Smith, S 243 f. 44 Lasswell/Blumenstock. 45 Vgl. Gary, Communication Research.
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University das Office of Radio Research auf.46 Lazarsfeld brachte seine Erfahrungen und Kompetenzen aus der Arbeit der Sozialpsychologischen Forschungsstelle Wien in die Vereinigten Staaten, was in der Literatur bisweilen als Import „Wiener“ Forschungstraditionen gedeutet wurde.47 Es erscheint jedoch angemessener, sowohl die Arbeit der Forschungsstelle als auch das spätere Princeton-Projekt nicht als Ausdruck einer genuin „nationalen“ Wissenschaftstradition anzusehen, die durch Migration transferiert oder verpflanzt wurde, sondern eher als Ergebnis einer kontinuierlichen transnationalen Zirkulation von Ideen und Forschungsperspektiven. So hatten Lazarsfeld und seine Mitarbeiter bei der Ausarbeitung ihres methodischen Arsenals bereits Bezug auf die berühmte Middletown-Studie von Robert und Helen Lynd genommen. Lazarsfelds Einstieg in das Radio-Projekt gelang auch deswegen so leicht, weil sich wissenschaftliche Ansätze und Interessen auf beiden Seiten des Atlantiks nicht zuletzt durch die Fellowship-Förderung der Rockefeller Foundation seit längerem im Austausch befanden.48 Die Rockefeller Foundation förderte ihrem Selbstverständnis nach wissenschaftliche Forschung, die gesamtgesellschaftlichen Nutzen stiften konnte. Sich dabei auf kontroverse politische Themen einzulassen, vermied sie eher. Es ging um die Zurverfügungstellung von Grundlagenwissen für politische oder gesellschaftliche Akteure und Institutionen. In diesem Sinne wurde auch das Forschungsprojekt zum US-amerikanischen Radiopublikum gefördert, in das Lazarsfeld als Leiter eintrat. Hier ging es zunächst nicht um Propagandaforschung; der Hintergrund war vor allem die in den Vereinigten Staaten stark diskutierte Frage, wie man den Rundfunk besser für Bildungszwecke einsetzen könnte.49 Bei anfangs noch nicht ganz klarer analytischer Zielstellung sollten zunächst grundlegende Daten zum Rundfunkpublikum und zur Nutzung des Rundfunks erhoben werden. Die Projektergebnisse, die in der ersten englischsprachigen Monografie Lazarsfelds 1940 veröffentlicht wurden, drehten sich um ebendiese Fragen und lieferte einen der ersten empirisch gesicherten Überblicke über das US-amerikanische Radiopublikum und sein Hörverhalten.50 Die Diskussion um die Bildungsfunktion des Rundfunks brachte den Leiter der Humanities Division (und nicht der Social Science Division) der Stiftung, John Marshall, dazu, 1939 eine Studiengruppe zur Kommunikationsforschung, die Communications Study Group, ins Leben zu rufen. Bei der ersten Sitzung der Gruppe im September 1939 waren unter anderem Lasswell, Robert Lynd und Donald Schlesinger anwesend.51 Lazarsfeld war zunächst nicht eingeladen worden, stieß aber dann später 46
Zuletzt ausführlich hierzu Fleck, Bereicherungen, S. 264 – 352. Vgl. etwa Langenbucher. 48 Fleck, Bereicherungen. 49 Zum rundfunkgeschichtlichen Kontext Chesney. 50 Lazarsfeld, Radio. 51 Memo John Marshall, o.D. [April 1939], Rockefeller Archives Center (RAC), Rockefeller Foundation Archive (RFA), RG 1.1, Series 200 R, Box 223, Folder 2672; vgl. zum Folgenden auch Buxton und Gary, Communication Research. 47
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zur Gruppe dazu. Die ursprüngliche Zielstellung, Perspektiven für die weitere Grundlagenforschung zur Massenkommunikation und zu den Möglichkeiten des educational broadcasting zu entwerfen, wurde aber angesichts des Kriegsausbruchs in Europa sehr bald modifiziert. Teilnehmer wie Robert Lynd, der gerade Knowledge for what? veröffentlicht hatte, gerieten dadurch schon früh in eine marginale Position. Lynd hatte in der Gruppe die Minderheitenauffassung vertreten, es müsse vor allem um die Frage gehen, wie sich erwünschte sozialpolitische Ziele mithilfe der Massenkommunikationsmedien verwirklichen ließen.52 Es dominierten in der Folge aber die Impulse von Lasswell, der von Anfang an dafür plädierte, vor allem entscheidungsrelevantes Tatsachenwissen für Regierungsstellen zu generieren,53 sowie von Lazarsfeld, der seine bereits laufenden Forschungsplanungen zur Wirkung von Massenkommunikation in die Gruppe einbrachte. In einem ihrer Abschlussdokumente, dem Memorandum Research in Mass Communication vom Juli 1940, entwickelte die Gruppe zur Bezeichnung der Aufgaben und Perspektiven von Massenkommunikationsforschung die eingängige Formel „Who said what to whom with what effect?“54 Damit war sowohl ein arbeitsteiliges Forschungsprogramm entworfen, das sich den verschiedenen angesprochenen Teilgebieten von Massenkommunikation gesondert widmen sollte, aber auch ein spezifisches Verständnis davon formulierte, was Massenkommunikation im Kern ausmache. Dieses Verständnis mündete in ein äußerst wirkmächtiges Idiom der Massenkommunikation: Indem Massenkommunikation als Summe einer Vielzahl individueller, isolierbarer Kommunikationsakte begriffen wurde, konnte sie als Phänomen in wissenschaftlich handhabbare Grundeinheiten zerlegt und damit gewissermaßen als empirischer Forschungsgegenstand erst hervorgebracht werden. Deutlich tritt dabei die „Arretierung der Reflexionsbewegung“55 vor Augen. Das Modell des isolierten, weitgehend unidirektionalen Kommunikationsaktes, der sich nochmals in einzelne Teilaspekte zergliedern ließ, löste das Thema der Massenkommunikation aus den gesellschafts- und demokratietheoretischen Diskussionen der Zwischenkriegszeit heraus und machte jeden dieser Teilaspekte einer Bestimmung mittels empirisch-statistischer Datenerhebungen zugänglich. Damit folgte die Kommunikationsforschung dem Trend zu quantitativen Methoden in den US-amerikanischen Sozialwissenschaften der 1930er und 1940er Jahre.56 Auch der Förderpolitik der Rockefeller Foundation war eine empirisch-sozialwissenschaftliche Herangehensweise in vieler Hinsicht adäquat. Sie vermied Positionsbestimmungen innerhalb der polarisierten 52
Ebd.: Robert S. Lynd an John Marshall, vom 9. 12. 1939. Summary of Discussions of Communications Seminar May 8, 1940, RAC, RFA, RG 1.1, Series 200 R, Box 224, Folder 2678. 54 Research in Mass Communication, Juli 1940, RAC, RFA, RG 1.1, Series 200 R, Box 224, Folder 2677. Die Formel wird vor allem Harold Lasswell zugeschrieben und ist daher auch als „Lasswell-Formel“ bekannt; erst 1948 erschien sie in leicht veränderter Form gedruckt in Lasswell, Structure, S. 37. 55 Siehe hierzu den Beitrag von Andreas Langenohl. 56 Platt, S. 142 – 199. 53
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Diskussion um Massenmedien und Propaganda und gewährte weitgehende politische Neutralität, indem sie Forschungsgegenstand und Methoden mit dem Nimbus sachlicher Objektivität ausstattete.57 Das Idiom der Massenkommunikation konnte als Ausgangspunkt ganz unterschiedlicher Forschungs- und Positionierungsstrategien fungieren. Lazarsfeld schien zunächst ebenfalls auf den Zug einer Forschung aufspringen zu wollen, die Grundlagenwissen für die Bedürfnisse der Administration liefern sollte. In einem Antragspapier zur Verlängerung der finanziellen Förderung des mittlerweile an die Columbia University transferierten Radioprojekts war noch von einem neuen Teilprojekt die Rede, das die Wirkung von Kommunikationskampagnen der Regierung testen sollte.58 Hierzu wurden zunächst die Radiosendungen des publizistisch besonders aktiven Departments of Agriculture ins Augenmerk genommen. Doch im Verlauf der Planung kam man darin überein, dass deren beobachtbare Wirkung wahrscheinlich nicht stark genug sein werde; stattdessen sollte eine Situation in den Fokus genommen werden, in der die öffentliche Kommunikation von massiven persuasiven Kampagnen geprägt war, und hierfür schien die nahende Präsidentschaftswahl im Herbst 1940 besonders geeignet. Als methodisches Instrument sollte die noch vergleichsweise junge Technik der Panelstudie zur Anwendung kommen.59 Das in Planung befindliche Forschungsvorhaben sollte als Erie County Study schließlich zu einem Meilenstein der sozialwissenschaftlichen Medienwirkungsforschung werden.60 Fachgeschichtliche Arbeiten der letzten Jahre haben allerdings gezeigt, dass das Bild der Erie County-Studie als eines bahnbrechenden Wendepunkts der Kommunikationsforschung vor allem durch die geschickte Selbstdarstellung der beteiligten Autoren entstanden ist. Diesen gelang es, aus einer Ex-Post-Perspektive alle vorhergehende wissenschaftliche Beschäftigung mit Massenkommunikation als von der Vorstellung atomisierter Individuen und direkter Medienstimuli beherrscht darzustellen, um sich von diesen reduktionistischen Denkweisen umso deutlicher abgrenzen und ihre ursprünglich ganz anders erwarteten Ergebnisse als entscheidenden Durchbruch verkaufen zu können.61 Diese wirkmächtige und seitdem in unzähligen Publikationen wiederholte Version der Fachgeschichte verdeckt jedoch unter anderem den Blick darauf, dass Lazarsfeld mit den Projekten zur Wirkungsforschung nur eine unter mehreren zeitgenössischen Forschungsperspektiven repräsentierte und seine Ergebnisse auch erst mit einiger Verzögerung wirksam rezipiert wurden. Das Gros der von der Rockefeller Foundation und nach dem Kriegsausbruch auch 57
Vgl. Gary, Communication Research, S. 138. Proposal for Continuation of Radio Research Project for a Final Three Years at Columbia University, o.D. [Ende 1939], RAC, RFA, RG 1.1, Series 200 R, Box 223, Folder 2668. 59 Bericht über Diskussion mit Paul Lazarsfeld und Robert Lynd, 5. 1. 1940, RAC, RFA, RG 1.1, Series 200 R, Box 224, Folder 2678; Memorandum: Suggested Panel Study, 15. 1. 1940, RAC, RFA, RG 1.1, Series 200 R, Box 222, Folder 2661. 60 So Lowery/DeFleur, S. 69 – 92. 61 Brosius/Esser; Lubken; Simonson, Rise and Fall; Pooley, Fifteen Pages; ders., Mnemonic Multiples, S. 12 – 15. 58
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von der US-Administration geförderten Forschungen der 1940er Jahre beschäftigte sich nicht mit Medienwirkungen, sondern ging eine enge Verbindung mit den Bereichen der Feindbeobachtung und der geheimdienstlichen Intelligence-Arbeit ein. Damit war eine Beziehung zwischen Politik und Kommunikationsforschung etabliert, die vom Zweiten Weltkrieg bis weit in die 1950er Jahre hinein prägend bleiben sollte. Nach landläufiger Darstellung war während der Durchbruchphase für die empirische Kommunikationsforschung in den Vereinigten Staaten die akademische Situation der deutschen Zeitungswissenschaft von Stagnation und Verfall geprägt. Dies galt vor allem für die theoretische und methodische Ebene, besonders, wenn man die während der Endphase der Weimarer Republik erkennbaren Ansätze einer Entwicklung des Fachs hin zu einer empirischen Sozialwissenschaft zum Beurteilungsmaßstab macht.62 In institutioneller Hinsicht wurde die Zeitungswissenschaft hingegen nicht unwesentlich gestärkt. Der Exodus der Fachvertreter war bei weitem nicht so umfassend wie etwa in der ebenfalls noch um Anerkennung ringenden Soziologie, einige der wichtigsten Protagonisten wie Karl d’Ester und Emil Dovifat konnten ihre Karriere auch unter veränderten politischen Bedingungen fortsetzen. Nach dem Gründungsschub der 1920er Jahre wurde 1935 in Königsberg unter Leitung des SS-Führers Franz Six erstmals wieder ein neues zeitungswissenschaftliches Institut neu errichtet,63 mit der Expansion des deutschen Machtbereichs kamen während des Krieges noch weitere Institute in Prag und Wien hinzu. Mit dem 1933 gegründeten Deutschen Zeitungswissenschaftlichen Verband entstand erstmals eine reichsweite zentrale Organisation des Fachs, die seine Interessen gegenüber politischen Stellen nachdrücklich wahrnehmen konnte. In der Folge gelang es dem Verbandsvorsitzenden Walther Heide, in erheblichem Maße Reichsmittel zur Finanzierung der bestehenden Institute zu akquirieren.64 Die institutionelle und symbolische Aufwertung und eine inhaltlich-methodische Stagnation waren kein Widerspruch, sondern bedingten sich gegenseitig. Denn die straffe und autoritäre Führung der Disziplin durch den von Propagandaminister Goebbels protegierten Heide hielt deren wissenschaftliche Dynamik in engen Grenzen. Dies betraf zwei Streitpunkte, die sich kaum als inhaltlich-wissenschaftliche, sondern nur als politische Fragen verstehen lassen. Zum einen ging es den herrschenden Dogmatikern der Disziplin darum, Presse und Zeitung als ihre exklusiven Forschungsgegenstände zu reservieren und damit Film und Rundfunk als Analyseobjekte gleichsam strafbewehrt auszuschließen. Dieses wissenschaftlich gesehen bizarre Ansinnen war indes organisationspolitischen Überlegungen geschuldet, indem es die enge Anbindung des Zeitungswissenschaftlichen Verbands an das Propagandaministeriums sicherte und Interferenzen mit anderen politischen Stellen verhinderte.65 Der 62
Averbeck, Emigration. Hachmeister, Gegnerforscher, S. 77 – 82. 64 Kutsch, Entstehung, S. 130 – 134. 65 Kutsch, Rundfunkwissenschaft.
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zweite Streitpunkt war stärker wissenschaftlicher Natur, jedoch ebenfalls eng an die politischen Rahmenbedingungen gebunden. Während der zeitungswissenschaftliche Mainstream der 1930er Jahre klar philologisch-historisch ausgerichtet war, richtete die sogenannte Leipziger Schule unter Leitung des noch in der Weimarer Republik bei Emil Dovifat ausgebildeten Hans Amandus Münster ihren Blick verstärkt auch auf die Medienrezipienten, wodurch sie nicht nur gegen die genannte Beschränkung auf die Presse verstieß, sondern auch in methodischer Hinsicht abweichende Wege ging. Mittels empirischer Befragungen hatten Münster und seine Schüler Studien zum deutschen Medienpublikum und den unterschiedlichen Rezeptionsweisen einzelner Medien im lokalen Rahmen durchgeführt, die den frühen US-amerikanischen Grundlagenerhebungen zum Radiopublikum nicht unähnlich waren.66 Insbesondere diese sozialwissenschaftlich-empirische Herangehensweise wurde jedoch von führenden Vertretern der Zunft dezidiert abgelehnt.67 Die scharfe Ablehnung änderte jedoch nichts daran, dass die Leipziger Forscher, allen voran Münster, ihre Ideen einer integrierten Publizistikwissenschaft und einer empirischen Publikumsforschung weiterhin offensiv vertraten. Die im Diskursklima des Nationalsozialismus naheliegende Strategie, dies als eine ideologische Abweichung zu brandmarken, stand den zeitungswissenschaftlichen Dogmatikern nicht zur Verfügung, da an Münsters wiederholt vorgetragener nationalsozialistischer Gesinnung und Überzeugung kein Zweifel bestand. Somit blieb es bei mit harten Bandagen ausgetragenen Konkurrenzkämpfen verschiedener Ansätze, in denen den Befürwortern einer empirischen Kommunikationsforschung trotz ihrer institutionellen Marginalisierung, doch ganz im Gegensatz zu ihren Widersachern, das Argument praktischer Verwertbarkeit ihrer Ergebnisse zu Gebote stand. Sowohl Münster als auch sein Leipziger Kollege Walter Schöne machten mit Vehemenz geltend, dass „die Kenntnis der Presse und ihrer Wirkungsmöglichkeiten“ zentral seien für das Ziel, „Menschen zu führen und Menschen zu verstehen, die tägliche geistige Kost so zu gestalten, daß sie willig aufgenommen wird.“ Das „Werben um die Seele des Volkes“ sei, so Schöne weiter, „im Rahmen des Vierjahresplanes von nicht geringerer Bedeutung als etwa die Erfindungen zur Verwendung der Zellwolle oder des synthetischen Gummis.“68 Diese Versuche, Anschlüsse an wissenschaftspolitische Sprechweisen herzustellen und die Rhetorik einer strengen Praxisorientierung jeder Wissenschaft zu kultivieren, konnten im NS-Propagandastaat durchaus prinzipiell plausibel erscheinen. In methodischer Hinsicht lagen die Angebote auf dem Tisch, und auch die transatlantische Rezeption der in der gleichen Richtung viel weiter entwickelten US-amerikanischen Forschungen war keineswegs grundsätzlich blockiert. Auf den Seiten des zentralen Fachjournals Zeitungswissenschaft wurden wissenschaftliche Entwicklun-
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Straetz, Hans A. Münster; Hachmeister, Publizistik, S. 42 – 68. Vgl. Kurth. 68 Schöne. 67
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gen in den Vereinigten Staaten durchaus genau und interessiert verfolgt.69 Spätestens mit Erscheinen der Dissertation Elisabeth Noelles über die US-amerikanischen Methoden der Umfrageforschung konnte man sich über die Ansätze und epistemologischen Perspektiven der sich in den Vereinigten Staaten formierenden Kommunikationswissenschaft in Deutschland umfassend informieren. Die junge Journalistin und Wissenschaftlerin sprach bei allen symbolischen Abgrenzungen und genau kalkulierten Zugeständnissen an die Schriften der zeitungswissenschaftlichen Verbandsführer klar davon, der Einsatz empirischer Forschungsmethoden könne sich mit Blick auf die propagandistische Lenkung und Führung der deutschen Öffentlichkeit „nicht nur wertvoll als eine Kontrolle der eigenen Wirksamkeit, sondern auch als ein Hilfsmittel der Einfühlung in das wahre Wesen des Geführten“ erweisen.70 Propaganda und Medienwirkungen waren in der deutschen Zeitungswissenschaft im Nationalsozialismus als Forschungsgegenstände und -perspektiven also durchaus präsent, es existierte im Unterschied zu den Vereinigten Staaten aber kein politischer Resonanzboden für solche Forschungen.71 Zwar rekrutierten das Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda und andere Behörden in erheblichem Maße akademisch ausgebildetes zeitungswissenschaftliches Personal. Gebraucht wurden aber insbesondere Praxisexperten, die sich mit dem internationalen Pressewesen auskannten und über gute Verbindungen zu ausländischen Organen verfügten.72 Die Interaktionskanäle zwischen der universitären Disziplin und der Politik beschränkten sich hingegen fast ausschließlich auf wissenschaftsorganisatorische Fragen.73 Statt auf akademische Beratungsressourcen setzte die NS-Propagandaleitung auf protowissenschaftliche Annäherungen an die Frage der Wirkung der eigenen Propaganda und verlagerte diesbezügliche Erhebungen in außerwissenschaftliche Bereiche. Während des Zweiten Weltkriegs verschwammen allerdings die Grenzen zwischen Wissenschaft und Nicht-Wissenschaft auf beiden Seiten des Atlantiks.
69 Etwa Rubrik „Vereinigte Staaten von Amerika“, in: Zeitungswissenschaft, 12 (1937), S. 251 – 254. 70 Noelle, S. 134. 71 In der vom Buchmarkt zurückgezogenen Darstellung von Becker, S. 29 – 71 werden einige Spekulationen über die Beteiligung des Propagandaministeriums an der Studie von Elisabeth Noelle sowie über berufliche Verbindungen zum SD angestellt, deren empirische Grundlage aber dünn ist. 72 Hierfür stehen exemplarisch sowohl der bereits seit den 1920er Jahren als Pressereferent für die Reichsregierung tätige Walther Heide als auch der Zeitungswissenschaftler Karl Bömer, ab 1938 Leiter der Abteilung Auslandspresse im Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda und eine der wichtigsten Figuren der auswärtigen Pressepolitik des NSRegimes; vgl. Kutsch, Entstehung; Herzer, S. 165 – 171. 73 Hachmeister, Gegnerforscher, S. 97 – 103.
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IV. Kommunikationsforschung, Feindbeobachtung und Intelligence im Zweiten Weltkrieg und frühen Kalten Krieg Der Ausbruch des Kriegs in Europa schuf in den Vereinigten Staaten eine neue wissenschaftspolitische Situation. Die direkte Förderung von wissenschaftlicher Forschung zu Propagandazwecken durch politische Stellen war innerhalb der USamerikanischen politischen Kultur bis 1939 praktisch nicht möglich gewesen, weil solche Förderung immer in dem Ruf stehen musste, die Regierung verschaffe sich durch sie Geheimwissen über Techniken der Herrschaftssicherung. Nachdem die Communications Study Group der Rockefeller Foundation ihre Diskussionen abgeschlossen und im Oktober 1940 in dem Memorandum zu „Needed Research in Communication“ Perspektiven einer auch politikrelevanten zukünftigen Kommunikationsforschung entworfen hatte,74 wurden unter Verweis auf die Kriegssituation nun gezielt Kontakte zwischen Wissenschaftlern und der Administration angebahnt. Im Januar 1941 fand in Princeton eine informelle Konferenz statt, auf der Kommunikationswissenschaftler mit Vertretern von Ministerien und Regierungsbehörden ins Gespräch kamen. Besonderes Interesse wurde dort an den Umfragedaten des Princeton Institute for Public Opinion unter Hadley Cantril geäußert. Der Vertreter des Justizministeriums gab hingegen an, durch häufige Beschwerden von Bürgern über feindliche oder anti-demokratische Tendenzen in der Medienberichterstattung sei das Department zur laufenden Beobachtung der Medienwelt gezwungen und daher an wissenschaftlichen Herangehensweisen interessiert.75 In eben diese Interessenrichtung zielten die Aktivitäten von Harold Lasswell in der Folgezeit. In einem weiteren Memorandum mit dem Titel The Present State of Communications Intelligence vom Februar 1941 schilderte er laufende Projekte zur systematischen Aufzeichnung und Auswertung von Medieninhalten und entwickelte Pläne einer umfassenden Überwachung aller existierenden Kommunikationskanäle hinsichtlich politisch relevanter, insbesondere kriegsbezogener Inhalte. Vor allem Medieninhalte ausländischen Ursprungs sollten dabei im Fokus stehen, das entworfene Programm lief auf ein dauerhaftes und systematisches Monitoring aller eingehenden Medienbotschaften hinaus und erscheint damit zumindest vom Anspruch her den umfassenden Überwachungsaktivitäten heutiger Nachrichtendienste durchaus ähnlich.76 Und dieses Programm wurde noch auf die ausländische Medienwelt ausgeweitet. Die Rockefeller Foundation, die sich während des Kriegs immer stärker in der National Defense-Forschung engagierte, finanzierte in der Folgezeit im Verbund mit der Library of Congress das großangelegte Wartime Communications Project, in dem Trends der weltweiten Berichterstattung über den Krieg aufgezeichnet und kategoriengestützt
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Memorandum: Needed Research in Communication, 10. 10. 1940, RAC, RFA, RG 1.1, Series 200 R, Box 224, Folder 2677. 75 Bericht über Conference on Communication Research in Princeton, 18. 1. 1941, RAC, RFA, RG 1.1, Series 200 R, Box 224, Folder 2675. 76 Ebd.: Harold Lasswell: The Present State of Communications Intelligence, o.D.
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analysiert werden sollten.77 Die Kongressbibliothek bot sich als gastgebende Institution deswegen an, weil von Seiten des Parlaments noch immer mit Vorbehalten gegen eine direkte Forschungsförderung von Regierungsbehörden zu rechnen war. Lasswell baute seine Forschungsstelle in der Bibliothek zu einer zentralen Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Politik aus, auch wenn der unmittelbare Nutzen der gigantomanischen Erfassungs- und Auswertungspläne nicht für jeden klar erkennbar war. Es handelte sich zu großen Teilen um eine Tätigkeit proaktiven und zunächst eher richtungslosen Datensammelns, von dem man sich Aufschluss über erst ad hoc aufgeworfene Fragestellungen, aber auch eine Einsicht in grundlegende Trends und Regelmäßigkeiten in der öffentlichen Kommunikation über den Krieg erhoffte, über die noch kaum Hypothesen möglich waren. Nachdem auch die Vereinigten Staaten Ende 1941 in den Krieg eingetreten waren, wurden die erhobenen Daten und das wissenschaftliche Kommunikations-Monitoring innenpolitisch genutzt, um scheinbar antiamerikanische und zersetzende Kommunikationsakteure zum Schweigen zu bringen. Das Department of Justice führte mehrere Gerichtsverfahren gegen inländische Publizisten und Verlage, deren Veröffentlichungen politisch konsistent zur Propaganda-Linie ausländischer Regierungen erschienen. Diese politische Konsistenz konnten Lasswell und seine Mitarbeiter in mehreren Fällen durch quantitative Inhaltsanalysen nachweisen, die Gemeinsamkeiten in den Themenschwerpunkten und Wertungen der inkriminierten Veröffentlichungen mit ausländischem Propagandamaterial scheinbar objektiv belegten.78 Die Verflechtungen zwischen empirischer Kommunikationsforschung und politischen sowie geheimdienstlichen Intelligence-Aktivitäten werden besonders deutlich im Fall des Totalitarian Communications Project, das seit 1941 von der Rockefeller Foundation finanziert wurde. Projektmitarbeiter waren zwei politische Emigranten an der New Yorker New School for Social Research, der deutsche Politikwissenschaftler Hans Speier und der österreichische Kunsthistoriker und Psychologe Ernst Kris. Über die British Broadcasting Corporation sowie den Foreign Broadcast Monitoring Service der US Federal Communications Commission erhielten sie Aufzeichnungen deutscher inländischer Radiosendungen, mittels derer sie systematisch an die Erforschung der nationalsozialistischen Propaganda herangingen. Speier, der in der Nachkriegszeit zu einem der wichtigsten US-amerikanischen Experten für ,Psychological Warfare‘ werden sollte, übte parallel zu dieser Forschungstätigkeit die Funktion eines Senior Political Analyst für den Foreign Broadcast Intelligence Service aus und erwarb sich in dieser Position den Ruf eines der ersten Experten für alle Fragen der deutschen Propaganda und Volksstimmung.79 Bereits vor Kriegsende legten Kris und Speier ihre Forschungsergebnisse zur NS-Propaganda in Buch-
77 Bewilligung der Rockefeller Foundation, 15. 11. 1940, RFC, RFA, RG 1.1, Series 200 R, Box 239, Folder 2852; Gary, Nervous Liberals, S. 122 – 129. 78 Gary, Nervous Liberals, S. 207 – 242; vgl. auch Blumenauer. 79 Bessner, Night Watchman.
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form vor.80 Zu dieser Zeit befand sich die deutsche Propaganda angesichts der nahenden Kriegsniederlage schon längst in der Defensive. Durch frühere Voraussagen, Versprechungen und Verkündungen inhaltlich gebunden, blieben den deutschen Propagandisten immer geringere Sagbarkeitsspielräume in ihren Bemühungen, sich nicht in Selbstwidersprüche zu verstricken. Hatte die nationalsozialistische Propagandamaschinerie vielen bisher als Inbegriff der dämonischen Allmacht von Propaganda gegolten,81 so geriet die NS-Propaganda den Autoren nun gerade zu einem Beispiel für die begrenzten Möglichkeiten von Propaganda überhaupt. Auch bei der Errichtung des Office of Strategic Services (OSS), aus dem 1947 die CIA hervorgehen sollte, spielte das systematische Interesse an der gegnerischen Propaganda eine große Rolle. Am Beispiel britischer Geheimdienstpraxis orientiert, argumentierte die wichtigste Gründerfigur William Donovan, dass der moderne Krieg nicht mehr nur auf dem Schlachtfeld stattfinde. Es gehe den Kriegsgegnern auch darum, „the whole field of communications“, wie es noch etwas vage in den ersten konzeptuellen Überlegungen hieß, zu dominieren. Dies bedeute vor allem, feindliche Kommunikationsbotschaften auf allen erdenklichen Kanälen abzufangen und auszuwerten sowie umgekehrt mit eigenen Propagandaaktivitäten hinter die feindlichen Linien vorzustoßen und diese aufzubrechen.82 Das OSS baute nach seiner Gründung 1941 tatsächlich mit der Research & Analysis Branch eine eigene Forschungsabteilung auf, in der führende Wissenschaftler sich unter anderem mit der öffentlichen Stimmung im nationalsozialistischen Deutschland beschäftigten und auch Berichte zur NS-Propaganda anfertigten.83 Das Bureau of Research and Analysis im Office of War Information sammelte währenddessen Daten zur Rezeption der US-amerikanischen Rundfunkpropaganda durch die Voice of America, die allerdings nur fragmentarisch verfügbar waren.84 Im US-amerikanischen Communications Intelligence-Komplex verschwammen während des Weltkriegs zu einem gewissen Teil die Grenzen zwischen wissenschaftlicher Erforschung und geheimdienstlicher Auswertung von Propaganda. Viele der quantitativen Inhaltsanalysen wurden eher mit dem Ziel unternommen, über die Propagandainhalte Aufschluss über politische Vorgänge und Entscheidungsprozesse hinter den Kulissen zu gewinnen, dienten also eher „klassischen“ geheimdienstlichen Zwecken, als dass sie dem Phänomen Propaganda als solchem gegolten hätten. In diesem Punkt ähneln sich die Entwicklungen in den Vereinigten Staaten und denen im nationalsozialistischen Deutschland in mancher Hinsicht. Was Feindbeobachtung und Gegnerforschung angeht, rührt man im Fall des nationalsozialistischen Deutschlands an ein komplexes Feld, nicht zuletzt, da diese so80
Kris/Speier. Laurie, S. 8 – 28. 82 Brief William J. Donovan an Secretary of Navy Frank Knox, 26. 4. 1941, abgedruckt in: Troy, S. 417 f.; vgl. auch Marquardt-Bigman; Mauch. 83 Katz, S. 35 – 41. 84 Doob; Shulman, S. 116 f. 81
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wohl im klassischen außenpolitischen Sinne als auch nach innen, in die deutsche Gesellschaft hinein, betrieben wurde.85 Im nationalsozialistischen Machtapparat war die nachrichtendienstliche Überwachung feindlicher Bewegungen und Strömungen schon sehr früh präsent. In der Tätigkeit des Sicherheitsdiensts des Reichsführers SS (SD) etwa findet man von Anfang an Bemühungen um eine spezifische Fachexpertise, die ihren Gegenstand aus seiner eigenen Logik heraus zu verstehen suchte. Der SD formulierte durchaus den Anspruch, Gegnerforschung auf eine wissenschaftliche Weise zu betreiben und damit sozusagen eine neue Form wissenschaftlicher Praxis außerhalb akademischer Strukturen zu etablieren.86 Der wichtigste Vorstoß in das akademische Feld war die Gründung der Auslandswissenschaftlichen Fakultät und des Deutschen Instituts für Auslandswissenschaften an der Berliner Universität 1940. Das Institut repräsentierte eine Art nationalsozialistischer Area Studies avant la lettre, die verschiedene Disziplinen integrierten und auf die epistemologischen Bedürfnisse des deutschen Imperiums in Europa ausgerichtet waren. Die Erfahrungen aus der nachrichtendienstlichen Arbeit des SD flossen dabei ein, publizistisches Schrifttum und die ausländische Presse waren unter den wichtigsten Nachrichtenquellen. Das Institut etablierte neue Formen der Beschaffung, Auswertung und Aufbereitung von Material, das in einem Karteisystem organisiert wurde.87 Die gegnerische Medienkommunikation und Kriegspropaganda als solche spielte dabei aber keine prominente Rolle. Die Propaganda etwa der Sowjetunion und auch der Vereinigten Staaten war im Zwischenbereich zwischen Wissenschaft und Nachrichtendienst, wie ihn der SD und die Auslandswissenschaften repräsentierten, aus verschiedenen Gründen kein genuiner Forschungsgegenstand. Der Blick auf den sowjetischen Gegner war von vornherein zu stark ideologisch vorgeformt, um die kommunistische Propaganda überhaupt als Erkenntnisobjekt anzuerkennen.88 Expertise zu Russland und der Sowjetunion war im NS-Staat in einer Vielzahl unterschiedlicher Stellen organisiert, die sich untereinander erbittert bekriegten.89 Schließlich waren Informationen aus dem abgeschotteten Sowjetreich ohnehin nur äußerst schwer zu erlangen. Die Vereinigten Staaten wurden von Wissenschaft und Nachrichtendiensten von vornherein nur sehr schwach bearbeitet.90 Hier verblieb die deutsche Seite eher in einem hergebrachten Modus der Auseinandersetzung. Das Reichspropagandaministerium beobachtete die gegnerische Propaganda und ihre Inhalte intensiv; Goebbels persönlich, vor allem aber der populäre Rundfunkkommentator 85
Geyer, S. 310. Wildt, Einleitung; Hachtmeister, Gegnerforscher, S. 179 – 216. 87 Hachtmeister, Gegnerforscher, 112 – 143; Botsch, v. a. S. 89 – 103. 88 Vgl. Greife, S. 41; Darstellungen zur sowjetischen Propaganda wie etwa Just, Sowjetpresse blieben stark auf die technische Organisation beschränkt, wobei die graduelle Verschiebung der Perspektive im Vergleich zur vor 1933 veröffentlichten Arbeit Just, Presse charakteristisch erscheint. 89 Vom Niveau dieser Debatten zeugt Greif; einige Hinweise zum Propagandapparat bei Buchbender, S. 33 – 51; vgl. auch Laqueur, S. 176 – 195 sowie zuletzt Clark/Schlögel. 90 Gassert, Amerika. 86
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Hans Fritzsche traten während des Kriegs geradezu in einen tagesaktuellen Dialog mit der ausländischen Berichterstattung.91 Auch das NS-Regime baute an verschiedenen Stellen umfangreiche Kapazitäten auf, um systematisch ausländische Medieninhalte abzufangen und zu sammeln. Geregelte Verfahren einer analytischen Auswertung wurden allerdings nicht entwickelt,92 zu einer Systematisierung der Auseinandersetzung mit der ausländischen Feindpropaganda drang die NS-Politik deswegen nie vor und verblieb ganz auf dem Niveau von ad-hoc-Maßnahmen und kurzfristigen Reaktionen. Was die Wirkung der eigenen Propaganda im Inland anging, setzte die NS-Führung mit den bekannten „Stimmungsberichten“ des SD auf diejenigen nachrichtendienstlichen Erhebungsformen, die zeitgenössisch wie auch in der Forschung bisweilen als proto-wissenschaftlicher Ersatz für eine kritische Öffentlichkeit respektive für eine empirisch-statistische Meinungsforschung gedeutet worden sind.93 Für die NSPropagandaleitung waren die SD-Berichte neben den Berichten der Gaupropagandaämter eine der wichtigsten Quellen für die Abschätzung öffentlicher Reaktionen auf die Kriegspropaganda, und sie enthielten punktuell auch detaillierte Ausführungen zur Rezeption einzelner Rundfunksendungen oder Pressenachrichten.94 In dieser Praxis der Erfassung öffentlicher Äußerungen wird erkennbar, dass auch die Akteure des NS-Regimes das Idiom der Massenkommunikation in einer spezifischen Gestalt zur Geltung brachten. Auch die nationalsozialistischen Beobachtungsstellen hingen der Vorstellung an, dass die öffentliche Kommunikation in eine Vielzahl einzelner Kommunikationsakte zerlegbar sei, von denen ein gleichschwingender Großteil eine ideologisch mobilisierte, genuin nationalsozialistische Öffentlichkeit konstituierte, unter denen aber auch jederzeit abweichende und feindliche Einzeläußerungen zu identifizieren und als solche sichtbar zu machen seien. Die Akteure der Propagandapolitik gingen darüber hinaus davon aus, dass jeder ,von oben‘ in die deutsche Öffentlichkeit eingespeiste kommunikative Input eine unmittelbare Wirkung entfalten werde, die sich als solche empirisch erfassen und benennen ließ. Ebenso schrieben sie allen abweichenden Botschaften eine schädliche Wirkung zu, die es zu ermitteln und zu neutralisieren galt. Der so konstituierte Raum der massenkommunikativen Öffentlichkeit konnte allerdings nicht als gegenüber dem forschenden Blick nationalsozialistischer Beobachtungsstellen objektivierter, von ihnen unabhängiger Gegenstand entworfen werden. Denn den beobachtenden Akteuren war das Ziel aufgegeben, die nationalsozialistische Öffentlichkeit nicht nur zu überwachen, sondern aktiv herzustellen und zu regulieren, indem sie feindliche Stimmen eliminierten.95 Empirisch-statistischen Herangehensweisen war die NS-Öffentlichkeit somit grundsätzlich nicht zugänglich. Trotz des proklamierten Anspruchs unbedingter Ob91
Vgl. Gassert, Fritzsche. Boelcke; Gellermann; Geyer, S. 322 – 329. 93 Boberach; Steinert; Herbst, S. 103 – 111. 94 Vgl. Stahr, S. 16 – 55; Longerich, S. 37. 95 Hierzu Longerich, S. 38 – 50.
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jektivität und nüchterner Wiedergabe des Faktischen, waren die NS-Stimmungsberichte daher von vornherein alles andere als unpolitisch und neutral. Ohne anerkannte Methode und ohne die Prinzipien ihres Zustandekommens überhaupt offenzulegen, blieben sie darüber hinaus innerhalb der Macht-Polykratie eine Ressource im internen Machtkampf verschiedener Protagonisten und Richtungen innerhalb der NSFührung und wurden auch als solche verstanden und verhandelt. Eine Sphäre politisch nicht disponibler wissenschaftlicher Praxis, die nicht hinterfragbare Erkenntnisse produziert hätte, erkannte das NS-Regime zumindest in den Sozialwissenschaften nicht an. Während die Rolle von Wissenschaftlern und Experten im NS-Staat in den letzten Jahren sehr stark betont worden ist,96 zeigt der Blick auf die kommunikationswissenschaftliche Rezipienten- und Wirkungsforschung einen klaren Entkopplungsprozess zwischen Wissenschaft und Politik und die Hinwendung zu vor- und proto-wissenschaftlichen Formen von Wissen als Ressource politischer Strategiebildung. Eine Ironie dieser Geschichte war es, dass die US-amerikanischen Bemühungen um eine Auswertung und Entschlüsselung der NS-Propaganda gerade aus dem Glauben heraus unternommen wurden, man habe es auf der Gegenseite mit einem gigantischen System der systematischen Erforschung der diabolischen Kräfte von Propaganda zu tun.97 Diese Projektion übertrug sich innerhalb kurzer Zeit auf die Sowjetunion als weltpolitischen Gegenspieler im beginnenden Kalten Krieg. Während der 1950er Jahre entstand eine ganze Landschaft von Förder- und Forschungseinrichtungen, die im Zeichen des neuen Begriffs ,Psychological Warfare‘ in verschiedenster Weise auch kommunikationswissenschaftliche Forschung förderten oder selbst betrieben.98 Darunter waren vor allem das Militär, aber auch Think Tanks wie die Rand Corporation, das State Department, die 1953 gegründete United States Information Agency und die Auslandsradiosender Voice of America, Radio Free Europe und Radio Liberation. Obwohl weiterhin auch quantitative Inhaltsanalysen der sowjetischen Propaganda erstellt wurden,99 verschob sich der Schwerpunkt der Forschung nun auf die Frage der Wirkungen und der Effektivität der US-Auslandspropaganda. Während das Bureau of Applied Social Research unter Lazarsfeld für das State Department auf Umfragedaten beruhende Forschungen zum Publikum der Voice of America in den Ländern des Nahen Ostens unternahm und die etablierten empirischen Untersuchungsmethoden dabei weiterentwickelte,100 war es erheblich schwieriger, Erkenntnisse über das Publikum in den ostmittel- und osteuropäischen 96 Vgl. etwa Szöllösi-Janze, Science. Insbesondere die Beteiligung der Wissenschaft an der nationalsozialistischen Bevölkerungs-, Vertreibungs- und Vernichtungspolitik stand dabei im Mittelpunkt des Interesses. Hierzu aus der Fülle der Literatur Raphael sowie Heinemann/ Wagner. 97 Vgl. Hachmeister, Gegnerforscher, S. 278 – 281. 98 Simpson, S. 53 – 57; Robin, 38 – 56; zum politischen Kontext auch Osgood. 99 Siehe etwa Lasswell, May Day Slogans. 100 Shah, S. 79 – 100.
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Staaten hinter dem Eisernen Vorhang zu gewinnen, wo diese Methoden nicht angewandt werden konnten. Es entstand ein Spezialzweig der politiknahen Kommunikationsforschung, in dem Kommunikationswissenschaft eine enge Verbindung mit den zielstrebig ausgebauten Area Studies einging.101 Die Wirkungsforschung zur Sowjetunion, erneut im Zwischenbereich von Wissenschaft und Nachrichtendiensten angesiedelt, entwickelte ein spezielles Methodenarsenal, das sich von der allgemeinen sozialwissenschaftlichen Kommunikationsforschung weitgehend abkoppelte.102 Mit der Konjunktur des Begriffs ,Psychological Warfare‘ erreichten auch die Erwartungen an den Beitrag der Wissenschaften für den Cold War Effort einen Höhepunkt. Als der Begriff in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre seine Strahlkraft wieder einbüßte, setzte ein Prozess der Entkopplung von Politik und Kommunikationsforschung und der Akademisierung der Kommunikationswissenschaften ein. Im Laufe der 1950er Jahre hatte sich die Disziplin zunehmend in universitären Departments institutionalisiert, die politische Förderung war nun nicht mehr so wichtig. An den Universitäten wurde für Jahrzehnte das während der 1940er Jahre entwickelte Standardmodell von Kommunikation gelehrt, das in zahlreichen Lehrbüchern kanonisiert wurde.103
V. Zeitungswissenschaft, Soziologie und Demoskopie in der BRD nach 1945 Während sich in den Vereinigten Staaten die Kommunikationswissenschaft in den 1950er Jahren von einem mit Erwartungen überfrachteten Forschungsfeld in eine universitäre Disziplin mit ihrem eigenen Kanon von Theorien und Modellen transformierte, lag die deutsche Zeitungswissenschaft in Trümmern. Wie das Fach sich aus einer kümmerlichen Ausgangslage zu einem anerkannten Universitätsfach entwickelte und dabei zu einer empirischen Sozialwissenschaft umwandelte, ist in den letzten Jahren vielfach dargestellt worden.104 In diesen Forschungen von Fachvertretern und Fachvertreterinnen ging es vorwiegend darum, in einem Prozess der Selbstvergewisserung zu erklären, wie das eigene Fach zu dem wurde, was es ist.105 Aus einer allgemeinen wissenschaftshistorischen Perspektive erscheint es aber durchaus sinnvoll, diese Frage eher andersherum zu stellen und die Gründe dafür zu suchen, warum sich die Publizistik- und Kommunikationswissenschaft in der Nachkriegszeit dem Sog der US-amerikanischen Fachentwicklung als dem internationalen Standardmodell vergleichsweise lange entziehen konnte und nach den Widerständen und retardierenden Faktoren zu fragen, die dabei wirksam waren. Dabei geht es gerade nicht darum, die Entwicklung hin zu einem empirisch-sozialwissenschaftlichen Methodenkanon zu einer letztlich unausweichlichen Fortschrittsentwicklung zu erheben. Den empirischen Vergleichs101
Hierzu ausführlicher Nietzel, Kampf. Schwartz, S. 136 – 141; Parta. 103 Siehe z. B. Schramm, Mass Communications; ders., Process; Nafziger/White; Klapper. 104 Siehe die Literatur in Fußnote 5 sowie u. a. Bohrmann. 105 So Löblich, Wende, S. 15.
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maßstab bilden vielmehr sowohl die Soziologie wie auch die außeruniversitäre Umfrageforschung als Forschungszusammenhänge, in denen empirische Forschungsmethoden wesentlich rascher Einzug erhielten und die in Teilen geradezu zu Synonymen für transatlantische Transferprozesse wurden.106 In einer solchen vergleichenden Sicht springt zunächst vor allem die entscheidende Rolle der US-amerikanischen Besatzungsmacht ins Auge. Diese war an der Situation der akademischen Soziologie im Nachkriegsdeutschland höchst interessiert. Deutschlandexperten und ehemalige Emigranten wie Max Horkheimer und Hans Speier bereisten die US-Zone, um nach politisch unbelasteten Fachvertretern Ausschau zu halten und den Wiederaufbau der Disziplin zu befördern.107 Die US-amerikanische Militärregierung führte selbst zahlreiche Umfragestudien unter der deutschen Bevölkerung durch, war darüber hinaus aber auch daran beteiligt, die Methoden der Survey-Forschung in Deutschland bekannter zu machen und ihre Anwendung zu verbreiten.108 Während die Soziologie den Besatzern geradezu als „Demokratiewissenschaft“ galt und ihre Förderung integrales Element des Reorientation-Ansatzes war,109 traf das auf die Zeitungswissenschaft in keiner Weise zu. Soweit bisher bekannt, unternahm die US-Militärregierung keine Versuche, das Fach durch die Vermittlung von Ansätzen und Methoden der mittlerweile etablierten US-amerikanischen Kommunikationsforschung zu fördern. Personell schien es dazu auch wenig Anknüpfungspunkte zu geben, waren doch viele und gerade führende deutsche Zeitungswissenschaftler eng mit dem NS-Herrschafts- und Propagandaapparat verbunden. Anders als in der Soziologie spielten politische Emigranten im Dienst der Besatzungsmächte für den Wiederaufbau des Faches keine Rolle. Stattdessen setzten mit Emil Dovifat in Berlin und Karl d’Ester in München Fachvertreter ihre Karriere fort, die schon in der Weimarer Republik in ihre Positionen gelangt waren und ihre Arbeit im Nationalsozialismus weiterführen konnten, ohne sich über Gebühr politisch zu kompromittieren.110 Der 1933 aus politischen Gründen ausgeschiedene Hans von Eckardt wurde in Heidelberg wieder in sein Professorenamt eingesetzt, wandte sich aber in der Folge der Soziologie zu, die er ohnehin zeitlebens vertreten hatte. Mit Walter Hagemann kam in Münster ein Seiteneinsteiger als Institutsleiter zum Zuge, der als Journalist die Hochzeit seiner Karriere ebenfalls während der Weimarer Republik erlebt hatte.111 Angesichts dieser Personalsituation war es nicht überraschend, dass die Fachtradition zunächst an die Weimarer Zeit anknüpfte. Die schon recht betagten Dovifat und d’Ester sahen keinen Anlass, ihr Fachverständnis 106
Plé; Weischer; Gerhardt, Denken; vgl. mit anderer Akzentsetzung auch Lepsius. Horkheimer; die Zeitungswissenschaft wird in dem Bericht nicht berücksichtigt; vgl. auch Tent. 108 Merritt/Merritt. 109 Gerhardt, Denken, S. 33 – 97. 110 Stöber. 111 Wiedemann, S. 147 – 268. 107
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zu reformieren. Insbesondere Emil Dovifat hielt zeitlebens am Ideal des Gesinnungsjournalismus als Richtschnur für die Begriffs- und Modellbildung der Zeitungswissenschaft fest und sah sich durch die Erfahrung totalitärer Propaganda im nationalsozialistischen Deutschland und in der Sowjetunion hierin gerade bestätigt. Vor allem von dem in Münster lehrenden Walter Hagemann gingen neue Impulse für die Konsolidierung und Weiterentwicklung der Disziplin aus. Nicht nur setzte er die im Nationalsozialismus unterdrückte Erweiterung der Zeitungswissenschaft zur Rundfunk und Film mitbehandelnden Publizistikwissenschaft durch. Auch wurden unter seiner Leitung in Münster zahlreiche Forschungsprojekte durchgeführt, in denen Methoden empirischer Sozialforschung zum Einsatz kamen. Die US-amerikanischen Ansätze und Methoden wurden dabei aber nur wenig rezipiert, personelle Kontakte in die Vereinigten Staaten von dem amerikakritisch eingestellten Hagemann nicht hergestellt. Als dieser sich seit Ende der 1950er Jahre zunehmend politisch exponierte, dabei in den Fallstricken des bundesrepublikanischen Antikommunismus verhedderte und schließlich in die DDR übersiedelte,112 bedeutete dies einen Bruch in der Entwicklung eines Faches, das nur noch an drei Universitäten in der Bundesrepublik studiert werden konnte. Einzelne personelle Schicksale und individuelle Richtungsentscheidungen hatten vor diesem Hintergrund entscheidende wissenschaftsgeschichtliche Auswirkungen. Der Blick auf das in der Nachkriegszeit zur Nische zusammengeschrumpfte Universitätsfach verdeckt die Sachlage, dass Ansätze empirischer Kommunikationsforschung zunächst außerhalb des Fachs und auch außerhalb des Universitätsbetriebs Einzug hielten. In der Soziologie war es vor allem der aus dem Schweizer Exil zurückgekehrte René König, der die Disziplin hin zur empirischen Sozialforschung öffnete und auch für das Feld der Kommunikationsforschung US-amerikanische Konzepte und Begriffe einführte und popularisierte.113 Neben König besetzte vor allem der akademische Quereinsteiger Alphons Silbermann, der 1933 nach Australien emigriert war und sich nach 1945 zwischen Frankreich und Deutschland hin- und her bewegte, das Feld der soziologischen Massenkommunikationsforschung.114 Silbermann initiierte in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre einen Fachausschuss Massenkommunikation innerhalb der DGS, der das Feld der empirischen Kommunikationsforschung koordinieren und nach außen vertreten sollte.115 Waren bei der Gründungssitzung zunächst nur Soziologen anwesend, stießen im Verlauf der weiteren Arbeit noch die Publizistikwissenschaftler Wilmont Haake und Otto Roegele hinzu, die die zweite Professorengeneration ihres Faches nach 1945 und noch immer eher eine geisteswissenschaftliche Orientierung repräsentierten. Dem Fachausschuss gelang es, das Recht zur Nominierung von Gutachtern für Forschungsanträge zum Thema Mas112
Ebd., S. 268 – 358. König. 114 Silbermann/Luthe. 115 Protokoll der konstituierenden Sitzung des Fachausschusses für Soziologie der Massenkommunikation in Frankfurt am Main am 18. April 1966, Sozialwissenschaftliches Archiv Konstanz, Digitales Archiv der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, SAK-B1 – 3575. 113
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senkommunikation bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft an sich zu ziehen.116 Des Weiteren ging der Ausschuss unter Führung von Silbermann daran, eine Reihe von Studienreadern mit grundlegenden historischen und aktuellen Texten zur Kommunikationsforschung zusammenzustellen und zu veröffentlichen, da das Fachgebiet noch immer zu wenig bekannt sei.117 Nach wenigen Jahren erlahmte die Tätigkeit des Ausschusses allerdings wieder. Die Entwicklungen in der Soziologie zeigen, mit welcher zeitlichen Verzögerung und mit welchen Brechungen die in den Vereinigten Staaten entwickelten Ansätze und Perspektiven der Kommunikationsforschung in Deutschland aufgegriffen wurden, nicht zuletzt, weil ihnen im Namen deutscher Fachtraditionen beträchtliche Widerstände entgegengebracht wurden.118 Auch König, einer der zentralen Akteure der Einführung empirisch-quantitativer Methoden in der westdeutschen Soziologie, machte sich das in der „Lasswell-Formel“ eingefangene Idiom der Massenkommunikation keineswegs zu eigen, sondern referierte es nur, um die existierenden Forschungsrichtungen grob zu sortieren. Gegenüber der US-amerikanischen Kommunikationswissenschaft zeigte er sich insofern skeptisch, als diese aufgrund der politischen Förderung „an Tagesprobleme gebunden“ und daher theoriearm sei.119 Währenddessen wurde noch in den späten 1960er Jahren innerhalb der deutschen Wissenschaftslandschaft die mittlerweile in Veränderung begriffene und seit 1956 in einer Dachgesellschaft organisierte Zeitungs- und Publizistikwissenschaft kaum als exklusiver Ort von Forschungen zur modernen Medienkommunikation angesehen. Die medienpolitischen Debatten der 1960er Jahre zeigen zudem, dass auch hier die Expertise von Publizistikwissenschaftlern wenig gefragt war.120 Dass Alphons Silbermann von der Rundfunksoziologie zur soziologischen Massenkommunikationsforschung gekommen war,121 erscheint bezeichnend. Denn während die erste Nachkriegsgeneration der Publizistikwissenschaftler zum Teil noch immer primär auf Presse und Zeitung fixiert blieben, erhielten insbesondere in der Rundfunkforschung empirisch-statistische Ansätze früh Einzug. Nach den Bevölkerungswanderungen und den Zerstörungen des Kriegs war die Struktur des deutschen Radiopublikums weitgehend unbekannt. Hier setzte die Hörerforschung an, die die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten in den 1950er Jahren in eigenen Forschungsabteilungen betrieben. Die US-amerikanischen Rundfunkforschungen, aber auch die Hörerforschung der britischen BBC waren dabei explizites Vorbild.122 116 Protokoll der Sitzung des Fachausschusses für Soziologie der Massenkommunikation in Köln am 27. April 1967, ebd. 117 Silbermann, Reader. Weitere Bände der Reihe erschienen nicht mehr. 118 Vgl. Lepsius, S. 42. 119 König, S. 176. 120 Löblich, Michel-Kommission. 121 Vgl. Silbermann, Musik. 122 Ernst, Rundfunkwirkungsforschung, S. 55 – 59; ders., Hörerforschung; Bessler, S. 46 – 119.
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Die empirische Hörerforschung, insbesondere die Erforschung von Hörgewohnheiten und -präferenzen, entwickelte sich indes nicht ungebrochen, da sie bei den bildungsbürgerlichen Rundfunkverantwortlichen dieser Zeit nicht auf Gegenliebe stieß und von manchem sogar als Gefahr für eine verantwortungsvolle Programmgestaltung im Sinne einer „Diktatur des Hörers“ gesehen wurde.123 Dennoch war es kein Zufall, dass der Sozialpsychologe Gerhard Maletzke, ein Vertreter der außeruniversitären Rundfunkforschung, eine der wegweisenden Darstellungen zur Massenkommunikationsforschung in der Bundesrepublik vorlegte, die die US-amerikanischen Modelle und Begriffe rezipierte und zu deren Verbreitung maßgeblich beitrug.124 Neben Soziologie und außeruniversitärer Rundfunkforschung war es drittens vor allem die empirische Umfrageforschung, von der wichtige Impulse für die Erforschung von Massenkommunikationsprozessen ausgingen. Von der US-Besatzungsmacht gezielt gefördert, entwickelte sich die sogenannte Demoskopie in der Bundesrepublik in einem Zwischenbereich von Wissenschaft, Wirtschaft und Politik – anders als in den Vereinigten Staaten aber eher in Konkurrenz zur akademischen Sozialwissenschaft.125 Einrichtungen wie das Allensbacher Institut für Demoskopie, das von Peter Neumann und seiner Frau, der schon erwähnten Elisabeth Noelle-Neumann, betrieben wurde, suchten ihre Expertise anfangs sehr offensiv politischen Entscheidungsträgern anzutragen. Der Kalte Krieg als politischer Kontext wurde dabei intensiv beschworen.126 Mit der im Jahr 1965 erfolgten Übernahme des Mainzer Lehrstuhls für Publizistik durch Elisabeth Noelle-Neumann, die sich für die Entwicklung der Disziplin als richtungsweisend herausstellen sollte, ergab sich eine enge Verschränkung von Kommunikationsforschung und Demoskopie, die für die Bundesrepublik typisch bleiben sollte.127 Obwohl die empirische Herangehensweise dieser demoskopischen Kommunikationsforschung an das in den Vereinigten Staaten formulierte Idiom der Massenkommunikation durchaus anschlussfähig war, beschränkten sich die transatlantischen Anleihen doch auf die reine Methodenpraxis. Das Verständnis von Massenkommunikation war bei Elisabeth Noelle-Neumann dagegen ganz vom Konzept der „öffentlichen Meinung“ beherrscht,128 die später formulierte Theorie der „Schweigespirale“ blieb in der internationalen Kommunikationswissenschaft ein Solitär.129 Erst die massive Förderung des Fachs im Rahmen der kommunikationspolitischen Programme der Bundesregierung im Verlauf der 1970er Jahre sowie die Etablierung einer jüngeren Generation von Kommunikationswissenschaftlern an den deutschen Universitäten sorgten für eine breitere Transformation,
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Vgl. Nietzel, Culture. Maletzke; vgl. zu Maletzke auch Meyen/Löblich. 125 Empirische Sozialforschung; Weischer, S. 130 – 146. 126 Vgl. Kruke, S. 61 – 86. 127 Löblich, Wende, S. 151 – 211. 128 Vgl. Noelle-Neumann. 129 Vgl. auch Kramer.
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welche die ältere Zeitungswissenschaft endgültig zur heute gängigen empirisch-sozialwissenschaftlich ausgerichteten Kommunikationsforschung umgestaltete.130
VI. Resümee und Ausblick Die politischen Verwerfungen des 20. Jahrhunderts haben die moderne Kommunikationswissenschaft mit hervorgebracht und entscheidend geprägt. Wie diese Prägung ausfiel, hing keineswegs nur von wissenschaftsinternen Fachtraditionen ab, sondern ganz wesentlich auch von den Interaktionen und Wechselwirkungen zwischen wissenschaftlichem und politischem Feld. Eine transnationale Perspektive auf die Entwicklung empirischer Kommunikationsforschung öffnet den Blick dafür, dass die politische Institutionalisierung solcher Forschung auf unterschiedlichen Ebenen sowohl vorantreibend, als auch hemmend wirken konnte. Das Idiom der Massenkommunikation, wie es in diesem Beitrag als eine heuristische Kategorie herausgearbeitet wurde, ist im Zentrum dieser mehrdimensionalen Spannungsfelder zu verorten. Auf beiden Seiten des Atlantiks lässt sich in den 1940er Jahren die Konzeptualisierung von Massenkommunikation als einer aus Myriaden einzelner Kommunikationsakte sich aufsummierenden Gesamtheit beobachten. Der Fokus der Aufmerksamkeit richtete sich damit auf die kleinsten Einheiten der Massenkommunikation, die einzelne Botschaft und ihre feststellbare kurzfristige Wirkung. Diese Arretierung der Reflexion entsprach den Anwendungszusammenhängen, aus denen das Idiom hervorgegangen war. Die Zerlegung in kleinste Einheiten machte den Gegenstand der Massenkommunikation empirisch handhabbar, erschloss ihn für quantitative Erhebungen und ermöglichte eine eingängige Vermittlung der so erzielbaren Forschungsergebnisse für deren Abnehmer in Politik und Wirtschaft. Im nationalsozialistischen Deutschland, wo das Idiom der Massenkommunikation eher implizit aufscheint, verschloss eine politisch induzierte, gleichsam „doppelte“ Arretierung die damit verbundenen empirischen Potentiale gleich wieder. Die ideologisch mobilisierte Massenöffentlichkeit war als Beobachtungsgegenstand nicht objektivierbar, ergebnisoffene Erkundungen dazu politisch nicht anschlussfähig. Das Paradoxe dieser doppelten Arretierung schreibt sich in langfristigen transatlantischen Gegenläufigkeiten in der empirischen Kommunikationsforschung als Disziplin und als Praxis fort. Während das Idiom der Massenkommunikation im nationalsozialistischen Deutschland ohne empirisch-sozialwissenschaftlichen Unterbau auflebte, hielt in der westdeutschen Bundesrepublik schließlich die Praxis empirischer Kommunikationsforschung allmählich Einzug, ohne aber dem Idiom den Weg zu bahnen oder umgekehrt in dessen Sog mitgeführt zu werden. Hieran erweist sich nicht zuletzt, dass der Fokus auf die Praxis empirisch-sozialwissenschaftlicher Forschungsmethoden allein kaum aussagekräftig ist, um wissenschaftliche Felder und Disziplinen zu charakterisieren. In verschiedenen Nachfrage- und Anwendungs-
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Ebd., S. 258 – 275; Meyen.
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kontexten konnten sich im Rahmen empirischer Praxis ganz verschiedene Interessensfelder und Forschungsrichtungen ergeben. Stärker als reine Transferprozesse stechen in der transnationalen institutionellen Formierung von Kommunikationsforschung als Wissenschaft Pfadabhängigkeiten, Ungleichzeitigen und Kontingenzen hervor. In den Vereinigten Staaten begann die Kommunikationsforschung als ein offenes und kaum disziplinär begrenztes Feld, das erst im Anschluss an eine theoretisch-methodische Findungs- und Formationsphase zur akademischen Disziplin wurde. Diese Entwicklung verlief in Deutschland eher umgekehrt: Auf die Tradition historisch-philologischer Beschäftigung mit der Zeitung zurückgehend, institutionalisierte sich die deutsche Zeitungswissenschaft bereits in den 1920er Jahren, scheiterte an diversen Öffnungsversuchen und kapselte sich als Disziplin derartig ein, dass wesentliche Impulse in Richtung einer empirischen Sozialwissenschaft von innerhalb und außerhalb des wissenschaftlichen Feldes lange an ihr vorbeigingen. Die frühere Institutionalisierung wirkte hier letztlich als Retardierungselement, weil sie die Festlegung auf die Zeitung und die auch organisatorische Nähe zu Journalistenausbildung und Verlegerwirtschaft fixierte, von der die Disziplin nur noch schwer und in einem langen Veränderungsprozess loskam. Die US-amerikanische Kommunikationsforschung entwickelte sich hingegen maßgeblich aus der Beschäftigung mit dem Rundfunk und dem Phänomen der „öffentlichen Meinung“ heraus, so dass ihre Ansätze zunächst vor allem in der bundesrepublikanischen Rundfunkforschung und Rundfunksoziologie sowie in der Demoskopie rezipiert wurden. Diese Teilströmungen, über die eine empirische Praxis Einzug erhielt, waren indes stark anwendungsbezogen und erhoben nicht den Anspruch, Massenkommunikation als solche zu konzeptualisieren. Die deutsche Publizistikwissenschaft zog gegenüber diesen breiteren wissenschaftsgeschichtlichen Wirkungsprozessen erst mit einiger Verzögerung nach. Man könnte daher versucht sein, von einem Two-Step-Flow der „Amerikanisierung“ in der deutschen Kommunikationsforschung zu sprechen. Doch wäre auch diese Vorstellung zu statisch. Denn als die „amerikanischen“ Einflüsse die Disziplin in den 1970er Jahren grundlegend umgestalteten, hatte sich Kommunikationswissenschaft jenseits des Atlantiks selbst schon wieder grundlegend gewandelt. Während sich das empirische Paradigma in der Bundesrepublik durchsetzte, wurde es in der US-amerikanischen Disziplin bereits fundamental in Frage gestellt.131
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Vgl. z. B. Gitlin.
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V. Strukturelle und idiomatische Neuprägungen nach 1945
Die UNESCO und ihr Einfluss auf die Sozialwissenschaften anhand des Beispiels der sozialwissenschaftlichen Assimilationsforschung (1945 – 1962)1 Von Martina Mösslinger Ausgehend vom Beispiel der Assimilations- und Integrationsforschung2 am sozialwissenschaftlichen Institut3 der UNESCO (United Nations Educational, Scientific and Cultural Organisation; UNESCO Preparatory Commission mit Sitz in London von 1945 bis 1946; seit 1946 Hauptsitz in Paris/Frankreich) möchte der folgende Artikel einen Beitrag zur internationalen und transdisziplinären Distribution sozialwissenschaftlichen Wissens leisten. Anhand internationaler Organisationen lässt sich der globale und internationale Vernetzungsprozess in den Sozialwissenschaften aufzeigen und ihr transdisziplinäres Umfeld näher beschreiben.4 In diesem Rahmen kann die Arbeit internationaler Organisationen auf dem Gebiet der Sozialwissenschaften in zweifacher Hinsicht interpretiert werden: Entweder als zielgerichtete politische Einflussnahme auf sozialwissenschaftliche Forschungsbereiche, die nationale und internationale Interessen bedienen sollten, oder als Positionierung von Theorien und Konzepten sozialwissenschaftlicher Teilbereiche im politischen Diskurs. Internationale Organisationen und ihr Einfluss auf die Sozialwissenschaften beziehungsweise auf Teilbereiche der Sozialwissenschaften sind bisher in historischen Forschungsarbeiten allerdings weitgehend vernachlässigt worden,5 obwohl 1 Ich möchte an dieser Stelle auch darauf hinweisen, dass die zwei Arbeitssprachen der UNESCO in den ersten beiden Dekaden nach 1945 Englisch und Französisch waren. Folgende Arbeitssprachen kamen später hinzu: Spanisch, Russisch, Arabisch. Die primären Quellentexte, auf denen dieser Artikel aufbaut, sind ausschließlich in Englisch und Französisch verfasst. Es wird daher von einer Übersetzung der Originalzitate ins Deutsche abgesehen. 2 Beginnend in den 1890er Jahren mit Forschungen von Simons und Mayo, wurde das Forschungsgebiet erstmals in den 1920ern in der Chicagoer School durch Robert E. Park weiterentwickelt. Auf seine Forschungsarbeit verweisen die meisten zukünftigen, im englischsprachigen Raum repräsentativen und fortführenden Forschungsansätze. Neben ihm sind aber noch jene zu nennen, die Park stark beeinflussten oder wichtige Vorarbeit leisteten: Richmond Mayo-Smith, Sarah E. Simons, Albert Ernest Jenks, John R. Commons, Fayette Avery McKenzie, Lester F. Ward, Ulysses G. Weatherly, Florian Znaniecki, W. I. Thomas. 3 „Department of Social Sciences“, weiterhin im Artikel kurz: „DSS“. 4 Zu internationalen Organisationen als aktiv gestaltende Akteure und soziale Gebilde mit globaler und transdisziplinärer Relevanz, siehe Kott, S. 446 – 450. Für eine kurze Einführung s. Herren und Iriye. Weiter ein Augenzeugenbericht des ehemaligen UNESCO-DSS Mitarbeiters Peter Lengyel, s. Lengyel. 5 Eines der wenigen Beispiele ist Lengyel.
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an ihnen grenzüberscheitende Verbindungen und Netzwerke, Institutionen und persönliche Beziehungen und damit auch transdisziplinäre Dimensionen der sozialwissenschaftlichen Wissensproduktion sichtbar werden.6 Transdisziplinär bedeutet in diesem Zusammenhang mehr als eine einfache disziplinüberschreitende wissenschaftliche Kollaboration – dies wäre als interdisziplinär zu beschreiben. Vielmehr benennt transdisziplinär das gegenseitige Einwirken von wissenschaftlich-disziplinären und nicht-wissenschaftlichen Akteuren, seien dies nun Personen oder Institutionen. Zu nicht-wissenschaftlichen Akteuren zählen beispielsweise Regierungsvertreter oder Diplomaten. Diese werden in bestimmten Kontexten auch als „Experten“7 bezeichnet. Netzwerk meint in diesem Artikel nicht im klassischen, netzwerktheoretischen Sinn nur ein personenbezogenes Netzwerk mit direkten und indirekten Kontakten, sondern darüber hinaus auch Verbindungen zwischen Institutionen und ihrem (als Expertise akzeptierten) Wissen, im Zentrum dessen das UNESCO-Department für Sozialwissenschaften (Department of Social Sciences, DSS) steht.8 Von der bisherigen internationalen Wissenschaftsgeschichte weitgehend unbeachtet blieb, dass die UNESCO in den ersten beiden Dekaden nach 1945 sozialwissenschaftliche Forschung in den Fokus nahm und ihre Verbreitung global förderte. Ihre Vorgängerorganisationen, das Internationale Komitee für Intellektuelle Kooperation (ICIC, Genf 1922 – 1946), das Internationale Institut für Intellektuelle Kooperation (IIIC, Paris 1925 – 1946) und das Internationale Bureau für Bildung (IBE, Genf 1925 – 1968) sowie die Conference of Allied Ministers of Education (CAME, 1942 – 1945) und der Völkerbund (League of Nations) waren zwar unter anderem intellektuelle Thinktanks, man schenkte aber sozialwissenschaftlichen Forschungen wenig Aufmerksamkeit. Der stellvertretende Generalsekretär der UNESCO-Preparatory Commission, Dr. Howard Wilson,9 berichtete 1946 von Dr. Shotwell, der, so Wilson, „extremely active on the work of the Commission on Intellectual Co-operation“ die Unmöglichkeit kritisierte, die Sozialwissenschaften vor die Kommission zu bringen.10 Innerhalb des UNESCO-DSS wurden Forschungsprogramme eingerichtet, darunter das „Tensions Project“. Unter dem offiziellen Titel „Tensions Affecting Interna6
Herren, S. 9. Im Zusammenhang mit den Bedeutungsdimensionen des Begriffs vgl. Collins/Evans. 8 Vgl. ebd. In Bezug auf die durch die Autorin herangezogenen Netzwerktheorien, vgl. Gamper/Reschke; Unfried/Mittag/Van der Linden. 9 Howard Wilson war in seiner Funktion als zweiter „Deputy Executive Secretary“ der UNESCO Preparatory Commission in der Arbeit der UNESCO involviert, in der zweiten General Conference (Mexiko 1947) fungierte er als Alternate Delegate der US-amerikanischen Delegation. Für das DSS nahm er außerdem die Funktion des Direktors des Seminar for Teachers, on Education for International Understanding ein. Über dieses UNESCO-bezogene Netzwerk hinaus war Wilson 1947 assoziierter Direktor der Carnegie Foundation for Peace. 10 Paris, UNESCO Archive, S. 3: UNESCO, Preparatory Commission, Social Sciences Committee. Minutes of Proceedings of the Committee on Social Sciences held at 47, Belgrave Square, S.W. 1., 13. 6. 1946, Preparatory Commission, London-Paris, 1945 – 1946, Vol.V Programme Commitees. 7
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tional Understanding“ (kurz: Tensions Projekt, TP) war das Projekt in eine Reihe von investigativen Teilprojekten11 untergliedert, darunter Forschungen zur kulturellen Assimilation und Integration von Immigranten. Wie auch andere Sub-Projekte des TP kam die Forschung zur kulturellen Assimilation von Immigranten einem Versuch gleich, sich mit sozialen Spannungen auseinanderzusetzten, die man durch Migration ausgelöst sah. Kulturelle Assimilation wurde also als Lösung vorgeschlagen. Die UNESCO präsentierte ihren Mitgliedsstaaten, den UN-Partnerorganisationen sowie wissenschaftlichen Instituten ihr Programm und versuchte es ebendort zu implementieren. Der vorliegende Artikel wird sich, nach einer kurzen Einführung in das Konzept der Assimilation im Rahmen der internationalen Forschungsarbeit durch das UNESCO-DSS, vornehmlich mit der Struktur der UNESCO als Organisation beschäftigten, um einen Überblick über die Wissensproduktion und Netzwerkbildung zu geben. Zugleich werden mit einer dezidiert internationalen und transdisziplinären Perspektive die wichtigsten Akteure samt ihrem jeweiligen biografischen und institutionellen Hintergrund vorgestellt und die organisationsbezogenen Netzwerke beschrieben. Der vorliegende Beitrag wird darlegen, wie die involvierten Personen – als Experten definiert und jeweils sprachberechtigt – und Institutionen in einem wachsenden Netzwerk des UNESCO-DSS den sozialwissenschaftlichen und politischen Assimilations- und Integrationsdiskurs aushandelten, re-produzierten und in unterschiedlichen wissenschaftlichen wie nicht-wissenschaftlichen Bereichen vorstellten, oder dort förderten und unterstützten, wo eine Beschäftigung mit dem Thema bereits stattfand. Der Artikel beabsichtigt nicht, eine Definition oder Beschreibung der historischen Begriffs- oder Konzeptentwicklung zu entwerfen.12 ,Assimilation‘ und ,Integration‘ werden im vorliegenden Aufsatz als diskursiv gefestigte Konzepte politischer Prägung interpretiert, die im Bereich der internationalen Beziehungen nach 1945 auch als solche verstanden wurden. Die sozialen, politischen und wirtschaftlichen Dimensionen, denen die Konzepte unterworfen wurden, sind in diesem Artikel daher immer transdisziplinär zu verstehen. 1. Assimilation/Integration/Adaption Eine eingehende Diskursanalyse der Konzepte ,Assimilation‘ und ,Integration‘ hat gezeigt, dass die Begriffe in den ersten beiden Jahrzehnten nach 1945 ein und demselben Diskursphänomen unterworfen waren.13 Neben diesen beiden Begriffen etablierte sich der Terminus ,Adaption‘, der, vorwiegend von israelischen Forschern angewandt, ebenso zur Benennung des Konzepts der kulturellen, sozialen und wirt11
Näheres zu den Teilprojekten siehe weiter unten im Text. Für allgemeine Übersichten vgl. Aumüller; Han. Eine recht gute Zusammenfassung über die frühen Konzeptdimensionen findet sich in: Kivisto, S. 149 – 163. 13 Mösslinger. 12
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schaftlichen Assimilation benutzt wurde. Es muss an der Stelle betont werden, dass wissenschaftshistorisch betrachtet alle drei Begriffe gleichberechtigt verwendet wurden und daher austauschbar waren. Die Entscheidung für oder gegen einen der drei Begriffe basierte auf der historischen Kontextualisierung – beispielsweise wurde der Begriff ,Assimilation‘ zur Beschreibung des Konzeptes im deutschsprachigen Raum nach 1945 vollständig entfernt und durch ,Integration‘ ersetzt. Dies lag an der Konzeptualisierung der Assimilations- und Dissimilationspolitik im NS-Regime.14 Daher war nach 1945 die unterschiedliche Begriffsverwendung nicht nur den unterschiedlichen disziplinären Zugängen geschuldet – rechtliche/staatsbürgerschaftliche, wirtschaftliche und politische Eingliederung von Nicht-Staatsbürgern vs. soziale und kulturelle Assimilation/Integration/Adaption, sondern auch dem im politischen Feld etablierten Diskurs. Ein repräsentatives Beispiel dafür ist ein im Juli 1948 publiziertes Statement, das acht Sozialwissenschaftler aufführt, die – im Auftrag der UNESCO – dazu aufgefordert wurden, eine gemeinsame Linie im Hinblick auf Lösungsvorschläge der Sozialwissenschaften für die zuvor definierten Problemstellungen zu präsentieren.15 Dies gelang nur bedingt, die gemeinsame Richtlinie, die von den acht Sozialwissenschaftlern herausgearbeitet wurde, blieb oberflächlich. 2. Die strukturelle Organisation der UNESCO und die Vernetzung von Experten Basis der Bemühungen um Friedenserhaltung durch die UN-Organisationen nach 1945 war die „promotion of internationalism“.16 Sie war und ist „central to the whole work of UNESCO“.17 Ein Ziel der UNESCO – ähnlich ihren Vorgängerorganisationen – war, Internationalismus zu fördern, um nationalen und internationalen Frieden 14
Vgl. Pinwinkler, S. 23 – 48. s. „We, the undersigned …“, in: UNESDOC, Signature: UNESCO/SS/TAIU/3, Paris, 13 July 1948. Acht Autoren präsentierten ein 12-Punkte Statement, darunter Gordon W. Allport (zu dem Zeitpunkt Professor der Psychologie an der Harvard Universität), Gilberto Freyre (Professor für Soziologie an der Universität von Bahia in Brasilien und Professor am Institut für Soziologie an der Universität von Buenos Aires in Argentinien), Georges Gurvitch (Professor der Soziologie an der Universität von Strasbourg und Mitarbeiter des Centre d’Études Sociologiques in Paris), Max Horkheimer (zu dem Zeitpunkt Direktor des Institutes für Sozialforschung in NYC), Arne Naess (Professor der Philosohpie an der Universität von Oslo), John Rickman (zu dem Zeitpunkt Editor des British Journal of Medical Psychology), Harry Stack Sullivan (zum Zeitpunkt des Erscheinens des Statements Vorsitzender des Council of Fellows an der Washington School of Psychiatry sowie Editor des Psychiatry, Journal for the Operational Statement of Interpersonal Relations) und Alexander Szalai (Professor für Soziologie an der Universität von Budapest und Präsident des Ungarischen Institutes für Auswärtige Angelegenheiten). Das Statement ist der Output des ersten UNESCO-Expertenmeetings vom 28.06. bis 09. 07. 1948, das in Paris abgehalten wurde. 16 Paris, UNESCO Archive: Projects in the Social Sciences. 1946 – 1947, Box 3287, X07.55 SS Pt.I, Folder: X07.55 SS Programme Budget & Organization Department of Social Sciences, Part I – up to 31/XII/47. 17 Ebd. 15
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zu sichern. Die UNESCO war (und ist) eine internationale Organisation mit dem Mandat zur Kooperation ihrer Mitgliedsstaaten. Seit der Gründung der UNESCO 1945, der Preparatory Commission mit Sitz in London bis 1946, seit 1946 mit Hauptsitz in Paris, setzte sich die Organisation mit der Etablierung, Förderung und Verbreitung sozialwissenschaftlichen Wissens auseinander. Im Hintergrund dieser Förderung und Verbreitung von international anwendbaren sozialwissenschaftlichen Forschungstechniken und -konzepten stand die von der UNESCO intendierte Minderung nationaler Divergenzen innerhalb der Sozialwissenschaften.18 Das DSS verkündete 1947, die Sozialwissenschaften müssten „everywhere […] be developed and brought together into an international force fit to deal with the great issues of our time.“19 Eine internationale und globale Zusammenarbeit sollte durch eine Vereinheitlichung der Arbeitstechniken und Methoden sowie der verwendeten Begriffe und Konzepte vereinfacht werden.20 Das hatte mehrere Folgen: Zum Ersten wurde das Thema der kulturellen Assimilation und Integration nach 1945 revitalisiert, zum Zweiten wurde das Konzept international zu einer Standardtheorie im Bereich der sozialen Migrationsforschung in unterschiedlichen sozialwissenschaftlichen Teildisziplinen und bis in die Gegenwart weitertradiert.21 Die UNESCO ist formal in drei konstitutionelle Organe organisiert: der Generalkonferenz (General Conference, kurz GC), dem Exekutiv Gremium (Executive Board, kurz EXB), und dem Sekretariat (Sekretariat, kurz S). Auf allen drei Ebenen arbeiteten Institutionen, Regierungen und Individuen international und transdisziplinär zusammen, wobei: 1. die GC die zyklisch letzte Entscheidungsebene bildete, auf der die Regierungsvertreter der Mitgliedsstaaten über Beschlüsse betreffend das Budget und das Programm entschieden. Zu beachten ist hier, dass Regierungsvertreter auf dieser Entscheidungsebene auch Vertreter in den Experten-Gremien des EXB und des Sekretariats sein konnten. Es handelte sich also um Personen, die sowohl die Rolle als politische Repräsentanten einnahmen wie auch als Experten wahrgenommen wurden und in dieser Rolle auch auf anderen Ebenen tätig waren, beispielsweise als Autoren von Artikeln und Reporten in ihren Wissensgebieten und im Auftrag des Sekretariats. Die Arbeitsbereiche wurden allerdings im Detail vom 2. EXB und ihren Mitgliedern erarbeitet, bevor sie der GC vorzulegen waren. Die Mitglieder des EXB waren Individuen, die wiederum von den Mitgliedstaaten 18 Ebd.: International Standards in Social Sciences, 14. 10. 1947, Box 3287, X 07.55 SS Pt. I, Folder: X 07.55 SS Programme Budget & Organization Department of Social Sciences, Part I – up to 31/XII/47, Signature: 20/73. 19 Ohne Nennung eines spezifischen Autors ebd., S. 1 – 2. 20 Ebd.: Social Sciences – Monitor, 13. 1. 1948, Box 3288, X07.55 SS Part IV, Folder: X07.55 SS Programme Budget of Organization Department of Social Sciences, Part II – from 1/I/48 up to 31/XII/50. 21 Vgl. einige Vertreter von Assimilations- und Integrationsmodellen: Robert E. Park, Shmuel N. Eisenstadt, Milton M. Gordon, Hartmut Esser, Richard D. Alba, Rainer Bauböck, Rogers Brubaker, Terri E. Givens, Charles Price (eine begrenzte Auswahl).
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entsandt wurden, wenngleich sie nicht als Repräsentanten des Nationalstaates gelten sollten. Vielmehr wurden sie aufgrund ihrer Rolle als intellektuell herausragende Individuen bestimmt. Die UNESCO legte ihre Position als „intellectuals chosen for their outstanding abilities and their independent outlook“22 fest. Diese Personen sollten vor allem durch ihr eigenständiges und unabhängiges Zutun den jeweiligen Mitgliedsstaat repräsentieren. Inhaltliche Vorgaben und Direktive durch ihre jeweiligen Entsendestaaten konnten davon aber nicht ausgeschlossen werden. Die Mitglieder des EXB wurden und werden auch heute noch von der GC bestimmt. Der Ablauf der Programm- und Budgetbestimmung zeichnete und zeichnet sich wie folgt ab: zuerst werden in den EXB-Sessions Arbeitsgruppen zu den unterschiedlichen Themen respektive Sektoren der UNESCO gebildet, wie etwa Arbeitsgruppen für das Department of Natural Sciences, für das DSS usw.23 Dort werden die Programmpunkte und Projekte behandelt, die vom Sekretariat und den einzelnen Departments als Entwürfe dem EXB vorgelegt worden sind. Programmpunkte, Finanz- sowie die allgemeine organisatorische Planung werden im EXB vorbereitet und in festgelegten Papieren der GC vorgestellt. In der Regel werden diese dann durch die GC und wie vom EXB vorgegeben verabschiedet. 3. Die Projektausarbeitung oblag dem Sekretariat (S). Auf dieser Ebene fand und findet die „Feldarbeit“ statt und die Vorschläge der Programmlinien und Projekte werden vorbereitet. Projekte werden durchgeführt und Sozialwissenschaftler beziehungsweise Individuen in ihrer Rolle als Experten auf einem bestimmten Gebiet für die Leitung und Mitarbeit an den durch das EXB und die GC bestimmten Projekten ernannt. Das Sekretariat untergliederte sich in den Jahren 1945 bis 1962 in verschiedene „Sektoren“ oder „Departments“. Geführt durch das Büro des Generaldirektors, bestand das Sekretariat 1947 aus den Programm-Sektoren Bildung, Naturwissenschaften, Philosophie und Humanwissenschaften, Museen, Bibliotheken, Sozialwissenschaften, Kunst und Literatur, Massenkommunikation. Die Sektoren waren je nach Fall in den dem Sekretariat unterstellten „General Program-Projects“ involviert. Für die wissenschaftliche Arbeit der UNESCO waren 1947 drei Programmlinien tragend: internationales Verständnis und Friedenssicherung („International Understanding“), Wiederaufbau und Entwicklung („Reconstruction and Rehabilitation“) und der Einsatz der Organisation für Bildung breiter Schichten („Fundamental Education“). Neben diesen wissenschaftlichen und semi-wissenschaftlichen Arbeitsbereichen, die dem dritten konstitutiven Organ der UNESCO untergliedert waren, befanden sich 1947 noch die „General Services“, zu denen die Organisation der Bibliothek und des Archivs gehörten, wie auch die Planung von Konferenzen und Workshops sowie die Administration. In den Jahren bis 1967 änderte sich die Struktur mehrmals, manche Sektoren kamen hinzu, andere wurden gestrichen. Mit Bezug auf den in die22 http://atom.archives.unesco.org/ag-5-executive-board-documents-ex;isad. Zuletzt eingesehen am: 31. 03. 2012. 23 s. nächsten Punkt: Sekretariat.
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sem Artikel relevanten Sektor, das DSS, änderte sich in organisatorischer Hinsicht allerdings nichts. Die Arbeitsschwerpunkte blieben von 1945 bis in die späten 1950er Jahre weitgehend bestehen. Die Mitarbeiter des DSS legten die inhaltlichen Schwerpunkte fest, wobei dies in enger Zusammenarbeit mit dem Büro des Generaldirektors erfolgte. Vorschläge für Sub-Projekte und zur inhaltlichen Umsetzung zirkulierten zuerst in-house, Memoranden und Sitzungsberichte wurden intern zur Besprechung verteilt und einzelne Punkte daraus diskutiert. Nachdem Vorschläge durch die UNESCO-Mitarbeiter eingearbeitet wurden – sofern von den Leitern der Projekte akzeptiert – ließ man ein offizielles Statement den Partner-Institutionen vorlegen, darunter einzelne individuelle Akteure, Ministeriumsabteilungen, Universitätsinstitute, Non-Governmental Organizations (NGOs) oder andere internationale Organisationen. Diese waren nun wiederum in der Position, ihre Ansichten und Ideen der UNESCO zukommen zu lassen. Innerhalb der Organisation war es über das EXB möglich, direkten Einfluss auf die Programmauswahl zu nehmen. Dem EXB wurden, wie bereits oben dargestellt, die Projektentwürfe einzelner Programmlinien vorgestellt, die Komitees und Unterausschüsse des EXB diskutierten diese dann und modifizierten die Details. Die Aufgabe der Mitglieder der Arbeitsgruppen, die ihrerseits aus Individuen in ihrer Rolle als Experten in bestimmten sozialwissenschaftlichen Fächern bestanden, war, die Entwürfe für die GC vorzubereiten. Am Ende des Ausarbeitungszyklus wurden die offiziellen Statements und Programmentwürfe der GC präsentiert: die GC, also die Vertreter der Mitgliedsstaaten, beschlossen in weiterer Folge das vorgelegte Programm und die Projektentwürfe. Der Ablauf zur Bestimmung von Programmen und Projekten stellte demnach einen Prozess der Verhandlung und des Netzwerkens dar. Die UNESCO war und ist vordergründig eine soziale Entität in sich, und die Themen, die zu Schwerpunkten ernannt wurden, stützten sich auf das Wissen und die Herangehensweise der auf den zwei Ebenen, dem EXB und dem Sekretariat, agierenden Teilnehmern. Wessen Input erfragt wurde, war auch abhängig von den Kontakten nach außen, denn Wissen, das Eingang in die Verhandlungen innerhalb der UNESCO fand, entwickelte sich aufgrund transdisziplinärer Zusammenarbeit. Dieser Prozess der Entwicklung von Forschungsprogrammen ist internationalen Organisationen inhärent. Unter dem Dach der UNESCO wurde wissenschaftliches Wissen zur Ausarbeitung von Programmen herangezogen, nicht zuletzt, um diesen und dem veranschlagten Output Legitimation zu verleihen. Internationalisierung gehörte, wie oben erwähnt, zum Selbstverständnis der UNESCO und betraf alle Bereiche, so auch die Sozialwissenschaften und ihre transdisziplinäre Vernetzung. Die Organisation garantiert, aufgrund ihres organisatorischen und mandatorischen Grundprinzips, die nationale Souveränität ihrer Mitgliedsstaaten, um das Konzept der kulturellen Eigenständigkeit und Unabhängigkeit zu legitimieren und die außenpolitischen Interessen ihrer Mitgliedsstaaten nicht zu unterminieren. Ausgehend von der Vorstellung einer aus Nationalstaaten bestehenden Welt, imaginierte die UNESCO Internationalismus als ein Konzept mit einem
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Weltparlament, geschützt durch eine World Security Force.24 Vor allem die politische Ideologie zu Gunsten einer World Community und die Förderung internationalen Verständnisses zwischen den Communities, machte für die UNESCO von Beginn an die Sozialwissenschaften zum wesentlichen Träger eines Wissens, das internationale Gültigkeit besaß. So setzte die Organisation zeithistorische soziale Problemstellungen von Immigrations- und Emigrationsländern in einen globalen und internationalen Kontext. Formuliert von Mohamed Awad25 als internes provisorisches Statement zu den Sozialwissenschaften, war die Förderung der Sozialwissenschaften und deren Wissensproduktion in allen Ländern ein Ziel der UNESCO. „Underdeveloped countries“ oder „less developed countries“ sollten dabei unterstützt werden, um „higher standards of knowledge“ zu erreichen „by bringing within their approach the results of research and thought achieved in the more developed countries.“26 Im Rahmen eines Verhandlungsprozesses, der auf allen drei Ebenen – GC, EXB, S – stattfand, verständigte man sich auf bestimmte Forschungsschwerpunkte. Sozialwissenschaftliche Fragestellungen und die Entscheidung über die Projektumsetzung, das zugeteilte Budget und die Auswahl über respektive die Anzahl der externen Projektmitarbeiter wurden von den Mitarbeitern und vom Direktor des DSS in Absprache mit dem Generaldirektor getroffen. Die Preparatory Commission der UNESCO (1945 – 1946) positionierte das sozialwissenschaftliche Forschungsprogramm bereits 1946 und unterteilte dieses in die Sub-Gruppen (1) Nationalismus und Internationalismus, (2) Internationale Verständigung, (3) Internationale Kooperation, (4) Public Opinion Surveys, (5) Kulturelle Aspekte von Bevölkerungsproblemen, und (6) Die Effekte der Mechanisierung auf die Zivilisation.27 Zu Punkt fünf zählten Forschungsprojekte zur kulturellen Assimilation und Integration, die insgesamt zum Sub-Projekt „Tensions affecting international Understanding“ oder, wie es ebenso genannt wurde, „Tensions crucial to Peace“ (kurz: TP) gerechnet wurde. Insgesamt wurde das Programm des DSS von 24 Ein Vorschlag des britischen Politikers der Labour Party Ernest Bevin eines „World Parliament“ wurde vom DSS in ihre Überlegungen miteinbezogen. Die UNESCO adaptierte seinen Vorschlag in ihren frühen Überlegungen für die sozialwissenschaftlichen Projekte. Siehe Paris, UNESCO Archive: Notes on Social Sciences Projects. 1946 – 1947, Box 3287, X 07.55 SS Pt. I, Folder: X 07.55 SS Programme Budget & Organization Department of Social Sciences, Part I – up to 31/XII/47. 25 Mohamed Awad war ein aus Ägypten stammender Humangeograf, der bereits in der Preparatory Commission als sogenannter Senior Councellor im DSS (zu dem frühen Zeitpunkt noch: Social Sciences Section gennnat) mitwirkte. 1947 legte er den beiden Mitarbeitern des DSS Avid Brodersen und P. W. Martin seine Vorschläge zur Themenschwerpunktsetzung im Tensions-Projekt vor. Er war maßgeblich an der Themensetzung der Sub-Projekte des Tensions-Projekts beteiligt. 26 Paris, UNESCO Archive, S. 1 – 2: Awad, Mohamed, Provisorial Statement regarding the Social Sciences. In: Box 3287, X07.55 SS Pt.I, Folder: X07,55 Programme Budget & Organization Department of Social Sciences, Part I – upto 31/XII/47. 27 Ebd.: Awad, Mohamed, Notes on Social Science Projects. In: Box 3287, X07.55 SS Pt.I, Folder: X07.55 SS Programme Budget & Organization Department of Social Sciences, Part I – upto 31/XII/47.
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1945 bis 1962 in zwei Phasen eingeteilt.28 Die erste Phase war vor allem als Orientierungsphase der Nachkriegsjahre gekennzeichnet, durch „preoccupations arising from the need for post-war intellectual and professional reconstruction and out of the then still very imperfect recognition of both what the social science had to offer as well as the status which social scientists deserved in the world at large.“29 In dieser frühen Phase wurden die Sub-Projekte des TP verfeinert und sowohl transdisziplinär als auch trans- und international ausgehandelt, wobei das Projekt zur kulturellen Assimilation und Integration bereits bis 1949 entwickelt wurde. In der zweiten Phase, 1953 – 1962, kam es zu einer Dezentralisierung der Tensions-Studien und zu einer vermehrten Dekonstruktion im Rahmen einer Serie von Parallelprojekten.30 1962 wurde das TP dann vollständig vom Programm des DSS der UNESCO gestrichen. Bis dahin wurden Studien zu Themen der „kulturellen Assimilation“ und der „kulturellen Integration“ allerdings international gefördert beziehungsweise in Auftrag gegeben und über das UN-Organisationsnetzwerk verbreitet. Neben der UNESCO arbeiteten unter dem Dach der Vereinten Nationen eine Reihe internationaler, inter-gouvernementaler Organisationen mit Sozialwissenschaftlern respektive sozialwissenschaftlichen Experten zusammen. Dazu zählten in der frühen Phase im Speziellen die Food and Agricultural Organisation (FAO), die International Labour Organisation (ILO) und die World Health Organisation (WHO). Dies hatte vor allem zur Folge, dass sozialwissenschaftliche Forschungen und in sogenannten westlich geprägten Ländern sozialwissenschaftlich akzeptiertes Wissen rasch multipliziert und in unterschiedlichen nationalen und institutionellen Kontexten eingebettet wurde. Bereits Ende der 1940er Jahre konnte die UNESCO eine beachtliche Anzahl national und international anerkannter Sozialwissenschaftler zu ihrem Netzwerk zählen, wobei diese aktiv – als Autoren von Studien und Forschungsberichten, als Ansprechpartner für Empfehlungen von Schwerpunktsetzungen bei geplanten Studien, als Netzwerkakteure, deren Empfehlungen von anderen Akteuren explizit erfragt und akzeptiert wurden – eingebunden wurden. Von den Sozialwissenschaften und ihren Vertretern zu sprechen, meint in diesem Fall jene Disziplinen, die in den Jahren 1945 bis 1960 innerhalb des UNESCO-DSS-Netzwerks involviert waren. Dazu zählten die sogenannte „Human Geography“,31 Kulturanthropologie, die „Physical Anthropology“, Psychologie, Sozialpsychologie, Psychiatrie, Politikwissenschaften, Soziologie, Demografie, Ökonomie, Recht, Geschichte und Statistik. Mit Unterstützung die28
Die Phaseneinteilung wurde von der UNESCO selbst vorgenommen, und zwar von dem ehemaligen Mitarbeiter des DSS Peter Lengyel. Für nähere Details s. ebd.: Collective Consultation of Secretaries of National Commissions, Unesco House, Paris, 18 – 30 June 1973, Signature: RMO-73/Conf.601/6(c) SHC, Paris, 25 May 1973. 29 Ebd., Collective Consultation of Secretaries of National Commissions, S. 5. 30 Ebd., S. 8. 31 Einige Fächer werden hier in englischer Sprache wiedergegeben, da es für die Bezeichnungen kein deutsches Pendant gibt oder ihre englische Bezeichnung nicht sinngemäß ins Deutsche übersetzt werden kann.
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ser Fächer beziehungsweise mit Hilfe von Experten, die die oben genannten Fächer oder ein Teilwissen einer oder mehrerer Disziplinen vertraten, versuchte das DSS Lösungsvorschläge für soziale Problemstellungen, die nach 1945 als „most pressing32 gekennzeichnet wurden, zu erarbeiten. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass als Experten in themenrelevanten Feldern für das DSS (1) jene Personen galten, die zu den Themenfeldern (wie beispielsweise der Migrations-, Assimilations- und Integrationsforschung) arbeiteten und durch Empfehlung nationaler Institutionen oder Personen dem DSS empfohlen wurden, (2) Personen, die durch sozialwissenschaftliche Forschungsbeiträge im nationalen Rahmen hervorgetreten sind und deren theoretisch-qualitative Forschungsbeiträge an das DSS weitergereicht wurden, (3) Personen, die von Mitarbeitern des DSS, von anderen Departments des Sekretariats oder des Büros des UNESCO-Generaldirektors empfohlen wurden, (4) Personen, die in einem themenrelevanten Ministerium eines Mitgliedsstaats arbeiteten, beispielsweise in den Ministerien für Migration und Asyl oder in Wirtschaftsministerien. Zur letzten Gruppe zählten Beamte und politische Funktionäre der ministerialen Abteilungen für Immigration und deren Netzwerk zu anderen nationalen Ministerialstellen mit ähnlicher Schwerpunktsetzung. Auch sie wurden zum Teil als Experten eingestuft und direkt in die wissenschaftliche Forschungsarbeit, die durch das DSS koordiniert wurde, eingebunden. Um wissenschaftliches Personal für die Umsetzung der Forschungsprojekte zu rekrutieren, trat das DSS in direkten Kontakt mit Universitäten, Ministerien und einzelnen Sozialwissenschaftlern. Vor allem zu Beginn war man daher abhängig von Empfehlungen durch Personen, die bereits mit dem DSS kooperierten. Der Mitarbeiterstab des DSS bestand in den ersten Jahren seiner Arbeit aus international anerkannten Persönlichkeiten. Bis 1962 zählten zu den Mitarbeitern und externen Vertragsangestellten des UNESCO-DSS Claude Lévi-Strauss, Lucien Febvre, Louis Wirth, Anna Freud, Raymond Firth, Ruth Benedict, Alexander Carr-Saunders, George Mauco, David V. Glass, Morris Ginsberg, Margaret Mead, T. H. Marshall, Gordon Allport, Alva Myrdal, Nathan Leites, Hadley Cantril, Robert C. Angell, Avid Brodersen, P. W. Martin, Otto Klineberg, Pierre de Bie, Edward Shils, Alfred Sauvy und Wilfried David Borrie (siehe Anhang). Manche dieser Wissenschaftler wirkten bereits in Thinktanks im Rahmen des Völkerbunds und wurden nach 1945 Teil des globalen sozialwissenschaftlichen UNESCO-Netzwerks. Die angeführten Personen wirkten in ihrer Rolle als Experten unter anderem in Migrationsfragen. Das Department für Sozialwissenschaften der UNESCO wählte vier distinkte Wege, um den Aufbau eines globalen Netzwerkes voranzutreiben. Zuerst nutzte die Organisation die bereits involvierten Individuen und deren Netzwerke in den So32
Vgl. unter anderem und in Bezug auf Immigration und Assimilation: Results of the Havana Conference, Brazil Studies on assimilation of immigrants, 1. 1. 1957, in: Paris, UNESCO Archive, S. 1: Secretariat, Tensions Project, Box 706, Folder: 3 A 31, Manuals on Cultural Integration of Immigrants, UNESCO/SS Publication, Part I- up to 31 October 1957, Signature.
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zialwissenschaften. Zweitens gründete sie neue sozialwissenschaftliche internationale Assoziationen.33 Sie unterstützte drittens die Gründung sozialwissenschaftlicher Institute in jenen Ländern, in denen bis dahin kein solches Institut existierte. Viertens entsendete das Headquarter der UNESCO in Paris seine Mitarbeiter – formell und informell – an Universitäten und wissenschaftliche Institute und organisierte Konferenzen und Workshops in Paris, um Wissenschaftler zusammenzuführen. An diesen Zusammenkünften wurden die Themenfelder, mit denen sich das DSS der UNESCO auseinandersetzte, vorgestellt und neue Kontakte geknüpft. 1948 wurde das Personen- und Institutsnetzwerk auf Anfrage des Büros des Generaldirektors zusammengefasst. Hadley Cantril, der damalige Leiter des DSS, listete darin 124 Personen und Institutionen auf, die in Bezug auf das TP von Relevanz waren und seit 1948 als offizielle Kontakte fungierten.34 Alle daran beteiligten Personen wurden als Experten wahrgenommen und im Laufe der Jahre zur Forschungsmitarbeit eingeladen. Unter den Privatgelehrten befanden sich beispielsweise Ruth Benedict, Arne Naess, Gilberto Freyre, Anna Freud, Alfred M. Sauvy und Arthur Ramos (siehe Anhang). Zu den Public Opinion-Kontakten zählten unter anderen Jean Stoetzel und Alfred Max (siehe Anhang). Kooperierende internationale Organisationen waren im Bereich des TP neben anderen das Indian Council of World Affairs (New Delhi), das britische Institute of Experimental Psychology (Oxford, UK), das International Council of Christians & Jews (Centre International, Genf und London), das ungarische Institute of Research and Public Opinion, das Museum of Modern Art (New York City), die Pan African Union (Washington, D.C.), das Social Science Research Council (New York City) sowie das Tavistock Institute of Human Relations (UK). Zu den Universitätsdelegierten als Primärkontakte zählte Cantril 1948 unter anderem Gordon Allport, Fernando de Azevedo, Karl S. Bernhardt, Jerome S. Bruner, John Cohen, Richard Crutchfield, Pierre de Bie, Asfaque Husain, Clyde Kluckhohn, T. H. Marshall, B. Notcutt, O. A. Oeser, T. H. Pear, Lazlo Radvanyi und Alexander Szalai. Die Rolle der Experten wurde explizit festgelegt als „being called to advise us not to tell us what to do, they should be asked to make recommendations only and not to put forth resolutions.“35 Der persönliche Hintergrund spielte neben dem wissenschaftlichen bei der Rekrutierung ebenso eine Rolle wie die Frage der nationalen Herkunft. Ein Beispiel sei an dieser Stelle mit dem Bericht von Leites expliziert, der zu seiner Beurteilung über eine mögliche Zusammenarbeit mit Arne Naess anhand persönlicher Gespräche sowie durch Empfehlungen von Dritten kommt (siehe 33 In der ersten Dekade nach 1945 gründete die UNESCO folgende Assoziationen: International Economic Association, International Sociological Association, International Political Science Association, International Committee of Comparative Law. 34 s. Paris, UNESCO Archive: List of Individuals and Institutions cooperating with the „Tensions Project“ 9 August 1948. In: Secretariat, Tensions Project 1947 – 1949, Box 151 (327.4 – 327.5), Folder: Part IV from 1/VII/48 up to 31/XII/48. 35 Ebd., S. 1: Staff Meeting of the Social Sciences Department, 2. 12. 1949, Box 3288, X07.55 SS Part IV, Folder: X07.55 SS Programme Budget of Organisation Department of Social Sciences, Part II – from 1/I/48 upto 31/XII/50. Herv. i. Orig.
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Fußnote 43). Im Hinblick auf den nationalstaatlichen Hintergrund der Kandidaten wurde der Überhang einiger nationaler Gruppen von manchen Kooperationspartnern hervorgehoben. So deutete beispielsweise einer der zentralsten Figuren im Prozess der Expertenempfehlungen, David Glass, 1958 auf Probleme mit US-amerikanischen Soziologen hin. Nachdem er betonte, dass es bei der Wahl der Soziologen sehr wichtig sei, mit „very great care“ vorzugehen, und dass dies auf alle zutreffen würde, „whatever his country of origin“,36 verwies er weiter darauf, dass „there are particular difficulties associated with American sociologists – at least, this is the impression I have had from my own experience – in that they have something of a tendency of believe that the social system in the United States is the only one which has any general validity.“37 Er schloß daraus, „not all American sociologists are as free from chauvinism as Everett Hughes.“38 Das internationale und multidisziplinäre Netzwerk involvierte Forscher aus Europa (Westeuropa, Nord- Süd- und Osteuropa), Nord-, Mittel- und Südamerika, Neuseeland und Australien, China, Indien, und Südafrika. In Bezug auf die als relevant eingestuften Themenfelder wurde dadurch (1) bereits etabliertes sozialwissenschaftliches Wissen für die distributiven Zwecke des DSS genutzt, außerdem wurde (2) ein neues Netzwerk aufgebaut und bis dahin unabhängig voneinander arbeitende Wissenschaftler zusammengeführt. Für das Thema kulturelle „Assimilation und Integration“ bedeutete dies eine globale Vernetzung par excellence, was im letzten Teil dieses Artikels noch näher behandelt wird. Es hat sich aber auch gezeigt, dass die Auswahl der als Experten definierten Personen nicht immer und nicht bei allen Mitarbeitern des DDS auf Zustimmung stieß. Auf der Ebene des EXB und der GC beispielsweise wurde auf ein Ungleichgewicht der Wissensfoci hingewiesen. Beispielhaft hierfür sind die Einwände des Delegierten der indischen Regierung, Ashfaque Hussain. Er machte seinem Unmut Luft, als er die Problematisierung von Bevölkerungsfragen durch die mehrheitlich westeuropäischen und nordamerikanischen Wissenschaftler hinterfragte. Husain, Fakultätsangehöriger der University of Education in Neu Delhi, kritisierte vor allem die Definition der sozialen Problemstellungen, welche die Basis für die Festlegung von auf Jahre angesetzte Projekte darstellten. In seinem Bericht zu einer der ersten Expertensitzungen zum Thema Bevölkerungsprobleme schrieb Husain, die UNESCO sei „too much of a Western organization“ und die UNESCO-Mitarbeiter „quite unconsciously […] consider a problem it is against the Western background and when they speak they address themselves to the U.S.A., U.K., France and some other European countries.“39 Pessimistisch schloss er „for 36 Ebd.: UNESCO, 19. 11. 1958, Secretariat – Tensions Project, Box 325 Part I(B) – Part II (Box 819), Folder: 325 Migration – General Part I E from 1/IV/54 up to 31/XII/60, Signature: DVG/JW. 37 Ebd., S. 1. 38 Ebd. 39 Ebd.: Husain Ashfaque, Report, Royaumont Meeting, 11.10,1948. In: Secretariat, Tensions Project 1947 – 1949, Box 152 (327.5 A064(44) „49.04“, Folder: 327.5 A064 (44) „48.10“ Tensions affecting Int. Understanding Expert Meeting – October 1948.
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them [it is] difficult to remember that there are three other continents, containing most of the population of the world.“40 Sein Hinweis muss in Bezug zur Herkunft der meisten oben genannten Individuen und der Situierung der genannten Institute gesetzt werden. Was Husain kritisierte, hatte weitreichende Folgen. Die Auswahl der Themenfelder war – und ist – Teil eines Diskurses der auf bestimmten politischen und sozialen Kontexten beruht. Wie sich weiter unten zeigen wird, war die Debatte um eine kulturelle Integration und Assimilation von Immigranten ebenso stark an die politischen Kontexte gebunden wie an die sozialwissenschaftliche Ausarbeitung der bezugnehmenden Modelle und Theorien. Nicht überall auf der Welt und nicht in jedem Nationalstaat war ein Diskurs zu diesem Thema entstanden. Vielmehr wurde er aus Europa, Australien und Nordamerika in andere Weltregionen exportiert. Im Hinblick auf die oben exemplarisch genannten Personen und Institutionen waren 1948 von 124 nur 25 nicht-europäisch, nicht-australisch, und nicht-nordamerikanisch. 3. Assimilations- und Integrationsdiskurse und ihre internationale Verbreitung aus transdisziplinärer Perspektive Assimilations- und Integrationskonzepte wurden in den 1890er Jahren wissenschaftlich etabliert und in den 1920er Jahren durch die Arbeiten des US-amerikanischen Soziologen Robert E. Park vor allem in der Soziologie verankert. Seither, verstärkt seit 1945, wurden in unterschiedlichen sozialwissenschaftlichen Disziplinen quantitative und qualitative Forschungen zu diesem Thema durchgeführt. Diskurstheoretisch setzte sich die Linguistik mit den Konzepten auseinander, in der Soziologie war es die Migrationssoziologie, die das Thema bearbeitete. Ebenso befassten sich die Demografie, Statistik, Sozialanthropologie und Geschichte mit den Konzepten. Im Wesentlichen geht es bei den jüngsten Arbeiten zum Thema – außer in der diskursanalytischen Forschung – um die Weitertradierung oder Umstrukturierung der von Park und seinen Nachfolgern entwickelten Konzepte, was die jüngere Forschung unter dem Begriff „Re-Thinking“ subsummiert.41 In den ersten beiden Dekaden nach 1945 wurden die Konzepte ,Assimilation‘ und ,Integration‘ revitalisiert und auf einem Grundstock bereits etablierten theoretischen Wissens weiterentwickelt. Bis in die späten 1950er Jahre wurden die Konzepte global implementiert und seit den 1960ern an neue Migrationstheorien angeschlossen.42 Wie oben dargelegt, setzte sich das TP des DSS aus mehreren Sub-Projekten zusammen, die jeweils Lösungen sozialer Spannungen definierten. Dazu zählte das Projekt der kulturellen Assimilation und Integration von Migranten. In den ersten 40
Ebd. Z. B. Alba/Nee. 42 s. hier die Theorien und Modelle mit Bezug auf die Arbeitsmigration – abweichend von der Nachkriegsmigration – vor allem in Deutschland seit den 1960er Jahren und in Österreich seit den 1970er Jahren. 41
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beiden Dekaden nach 1945 wurden Monografien und Artikel zum Thema der kulturellen Assimilation und Integration von Immigranten unter der Federführung des UNESCO-Departments für Sozialwissenschaften publiziert. Maßgeblich beteiligt an der Durchführung der Studien waren W. D. Borrie, René Clemens, Manuel Diegues Jr., E. Willams, Alfred Sauvy, Roberto Bachi, Giorgio Mortara, Henri Bunle und David Glass. Die Forschungen konzentrierten sich auf die sogenannten „major immigration countries“. Im Speziellen wurden als solche nach 1945 südamerikanische Staaten wie Brasilien, Chile, Venezuela und Argentinien definiert sowie Australien, Kanada, die Vereinigten Staaten, das Vereinigte Königreich, Frankreich, Belgien und Israel.43 Zu den themenbezogenen Konferenzen wurden ausschließlich Vertreter von Immigrationsländern eingeladen, Studien und Forschungsbeiträge zu präsentieren, da nur sie als sprachberechtigt galten. Jene Mitgliedsländer, die als Emigrationsländer definiert wurden, waren als passive Beobachter zugelassen. Ebenso zur Teilnahme berechtigt waren andere internationale Organisationen, wie beispielsweise die International Labour Organisation, das Intergovernmental Committee for European Migration und der UN High Commissioner for Refugees sowie alle weiteren zur Kooperation eingeladenen und interessierten internationalen Organisationen und NGOs.44 Allerdings war es die UNESCO und deren DSS, die das Thema der kulturellen Assimilation und Integration zu einem Fokus der Forschungsarbeiten im Bereich der Migrationsforschung machten und in anderen internationalen Organisationen sowie in universitätsnahen und -fernen Instituten etablierten. Der transdisziplinäre Zugang zu den durch die Mitarbeiter und Berater des UNESCO-DSS definierten Problemfeldern, mit denen sich die Sozialwissenschaften in den ersten beiden Dekaden nach 1945 beschäftigen sollten, erzeugte ein Unvermögen, das Konzept ,Assimilation‘ zu definieren. Die Schwierigkeiten des DSS, die Konzepte in eine einheitliche Definition einzufassen, beruhten auf der Unterschiedlichkeit historischer Kontextualisierung und geografischer Situierung der Wissenschaftler. Das DSS suchte die Zusammenarbeit aller sozialwissenschaftlicher Disziplinen und ihrer Vertreter zu fördern. Das ergab eine Vielzahl an Fächern: Psychologie, Sozialpsychologie, Psychoanalyse, Soziologie, Kulturanthropologie, Ökonomie, Geschichte und Recht. Von ihren Vertretern wurde das Konzept der Assimilation und Integration mehrfach formuliert, diskutiert und wieder umformuliert. Bedenkt man die unterschiedlichen nationalstaatlichen innenpolitischen und außenpolitischen Interessen – manche als Immigrationsland, andere als Emigrationsland definiert –, versuchte man trotz zum Teil weit auseinandergehender Zugänge 43 Paris, UNESCO Archive, S. 1 – 2: Migrations since 1946 to Major Immigration Countries. Prepared by the International Labour Office, 3. 3. 1956, Secretariat – Tensions Project, Box: 325.1: 008 Part I/II, 325.1: 008 A06 (729.1) AMS, Parts I (Box 822), Folder: 325.1: 008 A 06 (729.1) ,56‘ 1956 Conference on Cultural Integration of Immigrants – CUBA Part III – from 1 to 14 March 1956, Signature: ESCO 1052 – 100. 44 The integration of migrants into the life of their countries of resettlement, 15. 3. 1955, in: Archive Group: Secretariat Documents, Signature: SS/Mig.Conf./5, UNESDOC, Annex 1 – 2.
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eine für alle gültige Definition von Assimilation zu finden. An einem Treffen mit dem Titel „meeting of experts on population problems“ im Juli 1950 einigte sich die SubDivision (Sub-Committee for the Study of Cultural Assimilation of Immigrants) auf folgendes Statement: „Assimilation may provisionally be defined as a psychological, socioeconomic and cultural process resulting in the progressive attenuation of differences between the behaviour of immigrants and nationals within the social life of a given country.“45 Das Statement deutet auf die Vielzahl sozialwissenschaftlicher Unterscheidungsmerkmale, die als solche nicht übergangen werden konnten. Es zeigt aber auch ein Merkmal, auf das sich die Partizipierenden trotz aller Differenzen einigten: Assimilation wurde als Prozess definiert, der ein Ende prognostizierte, das sich durch die Überwindung von Unterschieden innerhalb einer als homogen definierten nationalpolitisch abgegrenzten Gruppe verstand. Hervorzuheben ist an dieser Stelle, dass die UNESCO als internationale Organisation, die sich als friedensstiftend definierte, nationale Souveränität vor allem auch als kulturelle Einheit akzeptierte. Das mag als Erfolg zur Aufrechterhaltung politischer Machtkonstellationen verstanden werden. Es kann aber auch als Verlust der Idee einer Weltgemeinschaft (World Community), wie sie noch in der UNESCO Preparatory Commission bis 1946 Teil des Programms war, interpretiert werden. Schlussendlich zeigt dieser Definitionsversuch aber insgesamt ein relatives Unvermögen innerhalb der beiden Dekaden nach 1945, in der sozialwissenschaftlichen Forschung zum Thema allgemein und in den von der UNESCO geförderten sozialwissenschaftlichen Arbeiten, den Diskurs auf einen einheitlichen Nenner zu bringen. ,Assimilation‘ avancierte zu einem Paradigma, das in dieser Form bis 1945 im politischen und im sozialwissenschaftlichen Diskurs Bestand hatte. Aufgrund der nationalsozialistischen Konnotation verlor der Begriff vor allem im deutschsprachigen Raum an Bedeutung. Ebenso wurde er im englischen Sprachgebrauch weitgehend durch andere Begriffe ersetzt. Wie sich anhand der Primärquellen für die ersten beiden Dekaden nach 1945 zeigt, wurde der Begriff allerdings gerade in dieser Zeit erst wieder neu verhandelt. Zögerlich wurde der Terminus nach Kriegsende aus dem Wortschatz gestrichen und langsam durch andere Begriffe und Begriffskonstellationen ersetzt, wobei die Bedeutungsdimensionen und die diskursive Verwendung nicht immer voneinander zu unterscheiden waren. ,Assimilation‘ und die Diskursdimensionen, wie sie aus Begriffskombinationen entstanden, wurden im Laufe der ersten beiden Jahrzehnte nach 1945 durch ,Integration‘ und ,Absorption‘ ersetzt:46 Begriffskombinationen wie ,social assimilation‘, ,cultural assimilation‘, ,socio-cultural assimilation‘, ,linguistic assimilation‘, ,psychological assimilation‘, ,religious assimilation‘, ,political assimilation‘, ,matriomonial assimilation‘ und ,economic assimilation‘ wurden zu ,social integration‘, ,religious integration‘, ,civic integration‘, ,economic integration‘, ,linguistic integration‘, 45 Report of the Meeting of Experts on Population Problems, UNESCO 28. 07. 1950, in: Archive Group: Secretariat Documents, Signature: SS/TAIU/Conf.2/9, UNESDOC, S. 4 – 5. 46 Aus: Mösslinger, S. 146.
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,educational integration‘. In dem Zeitraum von 1945 bis 1960 wurde der Begriff ,Integration‘ vorwiegend von kanadischen Wissenschaftlern, aber auch teilweise in sozialwissenschaftlichen Arbeiten brasilianischer Wissenschaftler eingesetzt. Nicht im selben Ausmaß wie ,Integration‘ ersetzte der Begriff ,Absorption‘ den bis dahin prominenten Begriff ,Assimilation‘, allerdings wurde auch dieser in abwechselnder Weise und ohne klare inhaltliche Differenzierung zu ,Assimilation‘ und ,Integration‘ nach 1945 in den Forschungsarbeiten zum Thema verwendet. Den Begriff ,Absorption‘ adaptierten vorwiegend israelische Sozialwissenschaftler, wie die Arbeiten von Shmuel N. Eisenstadt, Judith T. Shuval und R. Bachi zeigen. Und auch dieser Begriff wurde an die jeweiligen Diskursdimensionen angepasst, darunter ,social absorption‘, ,cultural absorption‘, ,economic absorption‘, ,matrimonial absorption‘, ,linguistic absorption‘ und ,national absorption‘. Jene Begriffe die von den UNESCO-Beratern und Mitarbeitern verwendet wurden, waren ,cultural integration‘ und ,absorption‘. Das Konzept ,cultural absorption‘ unterschied sich aber diskurstheoretisch nicht von ,cultural assimilation‘ oder ,cultural integration‘. Hinzu kommt, dass die Termini ,assimilation‘ und ,integration‘ in sehr unklaren, sich ständig abwechselnder Weise verwendet wurden. Die Ko-Begriffe, wie in den Tabellen dargelegt, wurden dann hinzugefügt, wenn es sich um eine spezifische sozialwissenschaftliche Forschungsarbeit handelte. Zum Beispiel verwendete man im Zusammenhang mit wirtschaftlichen Theorien beim Thema Migration und Integration die ,economic assimilation‘ aber eben auch ,economic integration‘. Die Termini wurden je nach Autor und Vorliebe unterschiedlich verwendet. Es ist daher naheliegend zu interpretieren, dass man sich damit nur der negativen Konnotation von Assimilation zu entledigen versuchte. Das, was seit den 1920ern bis Ende 1945 als Assimilation bezeichnet wurde, wurde nach 1945 mit Hilfe der Sozialwissenschaften durch die Begriffe ,Integration‘ und, wenngleich in einem geringerem Ausmaß, durch ,Absorption‘ ersetzt. Das bedeutete freilich nicht, dass auch die Verwendung der Folge-Begriffe ,Integration‘ und ,Adaption‘ bedeutungssicher genutzt oder angewandt wurden. In jüngerer Vergangenheit weisen vor allem Alastair Ager und Alison Strang auf die weit ausgreifende Bedeutungsdimensionen hin, wenn von Integration in Großbritannien die Rede ist.47 Dabei untersuchen sie ebenso einen transdisziplinären Rahmen, in dem wissenschaftliche und politische Herangehensweisen und Sprachen verschwimmen.48 Zu einem Paradigma avancierte oder festigte sich der Assimilationsdiskurs aus dieser Sicht erst nach 1945, wenngleich gerade der Begriff ,Assimilation‘ in der Zeit nach 1945 verdrängt wurde. So bleibt die Kritik aufrecht, wie sie von L. Chevalier im Juli 1950 in seiner Studie zur Assimilation in Frankreich geäußert wurde, die besagte: „The notion of assimilation, obscure at the start, is obscure at
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Vgl. Ager/Strang. Zum Thema der Grenzauflösung zwischen Wissenschaft und nicht-wissenschaftlichen Feldern vgl. Gieryn, mit Bezug auf die Sozialwissenschaften Camic/Gross/Lamont. 48
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the finish, which is all the more dangerous as it then appears to have the backing of an entire process of scientific investigation.“49 Anhang: Biografische Erläuterungen Der belgische Anthropologe und Ethnologe Claude Lévi-Strauss war seit 1948 mehrfach als Experte für die UNESCO und vor allem für das sozialwissenschaftliche Department der UNESCO tätig. Die Projekte, in die er dabei eingebunden war, waren die „Community Studies“ und „Race Discrimination Studies“. Er wurde dabei als Consultant eingestuft. Im 1951 etablierten International Social Science Council wurde Lévi-Strauss zum Generalsekretär ernannt. Außerhalb des UNESCO-Netzwerks war Claude Lévi-Strauss maßgebend für die Weiterentwicklung der strukturellen Anthropologie verantwortlich. Der französische Historiker Lucien Febvre war Professor an der Sorbonne und seit der Gründung der UNESCO in ihre Arbeiten eingebunden. Er war bereits Mitglied der Preparatory Commission in London und war später für das Bildungsdepartment der UNESCO sowie im sozialwissenschaftlichen Department an Projekten beteiligt. Gemeinsam mit Psychologen und anderen SozialwissenschaftlerInnen war er eingebunden in ExpertInnen-Meetings zum Thema „Attitude Change und Community Studies“. Als Präsident der Arbeitsgruppe K (Sozialwissenschaften) war Febvre ebenso in einer repräsentativen Rolle bei der Generalkonferenz tätig, einmal 1946 als Vertreter des Repräsentanten für Frankreich, einmal 1947 als Repräsentant für Frankreich (2. Sitzung, Mexico 1947). Der US-amerikanische Soziologe und Mitglied der Chicago School of Sociology Louis Wirth war 1951 Präsident der International Sociology Association (ISA). In seiner Rolle als Professor an der University of Chicago war er administrativ für das gesamte sozialwissenschaftliche Forschungsspektrum zuständig. Dazu gehörten Soziologie, Psychologie, Ökonomie, Politische Geschichte und Humangeografie. Wirth war regionaler Direktor des nationalen Research Planning Board und Präsident des American Council of Race Relations. Er galt als sehr interessiert an „race differences“ und Minderheiten und fungierte als Präsident des American Council of Race Relations. In seiner frühen wissenschaftlichen Karriere war er Student des Soziologen Robert E. Park, der die Assimilationstheorie in der sozialwissenschaftlichen Forschung vorantrieb und wissenschaftlich etablierte. Zusammen mit Park publizierte Wirth 1928 den Artikel „The Ghetto“, ein wesentlicher Beitrag zur wissenschaftlichen Assimilationsforschung in den Vereinigten Staaten. Für die UNESCO repräsentierte Wirth die nationale UNESCO-Kommission der Vereinigten Staaten und nahm teil an der Konferenz zum Thema „Attitude Change conducive to International Understanding“ (Royaumont 1948). Wirth wurde ursprünglich von Edward Shils für das UNESCO-Department für Sozialwissenschaften empfohlen. Er sollte die Entwicklung der nächsten Schritte im Tensions-Projekt übernehmen. In mehreren Fällen wurde er als Experte für Projekte und Meetings des DSS rekrutiert und galt auch bei anderen Mitgliedern als herausragender Gelehrter. Die österreichische Psychoanalytikerin Anna Freud (Tochter von Sigmund Freud) war Vizepräsidentin und Generalsekretärin der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung und war Teil des Netzwerkes der DSS in Fragen der Psychoanalyse von Kindern und Gruppen im Rahmen des Tensions-Projekts. Vom DSS wird sie als herausragende Expertin gelistet und ihre 49 Chevalier, L., Study on the Assimilation of Aliens in France, 28. 07. 1950, in: Paris, UNESCO Archive: UNESDOC, Signature: UNESCO/SS/TAIU/Conf.2/9, Annex II.
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inhaltlichen Empfehlungen wurden ins Projekt eingearbeitet. Im Laufe der Zusammenarbeit erstellte Anna Freud Studien für das Department, wie beispielsweise die Untersuchung „Educational and psychological techniques for changing mental attitudes affecting international understanding“ von 1948. Raymond Firth war zur Zeit seiner Zusammenarbeit mit der UNESCO an der London School of Economics and Political Sciences und Mitglied der British Sociological Association (BSA), die 1951 von Alexander Carr-Saunders, David Glass, V. Gordon Childe, Firth und M. Fortes gegründet wurde. Neben David Glass wurde Raymond Firth von Cantril, dem im März 1948 amtierenden Direktor des DSS und des Tensions-Projekts, zu einem Treffen in London aufgefordert, um das Projekt zu besprechen (siehe UNESCO, Correspondence, 313.1948. In: Secretariat, Tensions Project 1947 – 1949, Box 151 (327.4 – 327.5), Folder: Part III from 1/ IV/48 up to 30/VI/48, Signature: SS/34411, Paris, Unesco Archive, S.1). In weiterer Folge nahm Firth an vorbereitenden Meetings im Januar 1949 teil, welche die Community Studies des DSS umreißen sollten. Firth wurde vom DSS und im Rahmen des Tensions-Projekts als anerkannter Experte in Community Studies betrachtet und veröffentlichte Forschungen zur „Cultural Assimilation in South Asia“, die durch die UNESCO veröffentlicht wurden (s. UNESDOC, Signatur: UNESCO/SS/TAIU/Conf.2/9, Annex IV, 28. Juli 1950). Ruth Benedict arbeitete beim Projekt „Little Book on the Races of Mankind“ während des Zweiten Weltkriegs (1943) eng mit Gene Weltfish zusammen. In seinem Papier zum TensionProjekt (Feb. 1947) zog Awad das Buch als Referenz heran. Als US-amerikanische Anthropologin und Historikerin arbeitete Benedict an der Columbia University bis 1953. In Bezug auf die UNESCO zählte Benedict zur „New York Group“ als Expertin für Themen wie „national group images“ und „national character“. Sie wurde für die weitere Zusammenarbeit von Leites in seinem „Proposal for next steps in Tensions Project“ im Juni 1948 angeführt. Zu der „New York Group“ zählte neben Benedict Margaret Mead, und die Gruppe stand der „Chicago Group“ (vertreten u. a. durch Bernard Berelson), der „California Group“ und der „Tavistock Group“ gegenüber. Alexander Carr-Saunders war Professor für Sozialwissenschaften an der University of Liverpool sowie Direktor der London School of Economics and Politcal Science. Neben diesen Funktionen fungierte er als Mitglied der British Sociological Association, die er 1951 mitbegründete. Bashford nennt ihn in ihrem Buch einen „British biologist-turned-social scientist“. Seine Historie in Bezug auf seine Zusammenarbeit mit internationalen Organisationen reicht zurück in den Völkerbund, wo er sich 1936 mit Überbevölkerung beschäftigte. Seine Arbeiten zu dem Thema werden von Wilhelm Winkler, Adolphe Landry, Charles A. Burky und Charles Edward Nahlik als gegensätzlich oder unterschiedlich gesehen. In der LoN-Publikationsreihe zum Thema „Peaceful Change“ äußern sich die vier genannten ähnlich, wenn es um „overpopulation“ geht. Carr-Saunders führt eine andere Ansicht ein, die von der UNESCO eher als Referenz herangezogen wird als jene der vier genannten. s. League of Nations (1938), S. 120 – 122. George Mauco war bereits in der Vorgeschichte der UNESCO an ExpertInnen-Treffen beteiligt, wo er sich mit rechtlichen Fragen von Migration beschäftigte. Zudem trat er als Experte in Assimilationsfragen in Erscheinung. Nach 1945 wurde er als freier Mitarbeiter für die UNESCO tätig und übernahm die Rolle des Generalsekretärs und des Schatzmeisters der International Union for the Scientific Study of Population sowie als Sekretär von Adolph Landry. Für mehr Information zu seiner Person und wissenschaftlichen Arbeit s. Weil/Mauco. David Glass, situiert an der London School of Economics, war Mitglied der British Sociological Association (BSA), die er 1951 mitbegründete. Im Hinblick auf die UNESCO war Glass Vorstandsmitglied des UNESCO Institute for Social Sciences in Köln mit dem auf vier Jahre
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begrenzten Mandat eines Mitgliedes. In der UNESCO beziehungsweise dem DSS war er als Berater auf Vertragsbasis angestellt. In dieser Rolle galt Glass als zuverlässiger Kontakt, wenn es um die Empfehlung außenstehender ExpertInnen ging. Darüber hinaus war seine Meinung zu bestimmten Themenfeldern oder Schwerpunktsetzungen des Tensions-Projekt gefragt. So zum Beispiel von Cantril und P.W. Martin 1948, als es um den Fokus von Sub-Projekten ging. Zudem war er maßgeblich an der Entscheidung von Myrdal beteiligt, Australien als das „beste“ Land für dessen Fallstudie zu empfehlen. Ebenso wurde Glass für die UNESCO als Beobachter zu Konferenzen anderer internationaler Organisationen entsendet (zur ILO Konferenz in Neapel 1951 beispielsweise). Im Hinblick auf Assimilationsforschungen war es Glass, der in einem Schreiben als jener Berater angeführt wird, der „suggested an important project not being considered by the U.N. Population Commission that would probably fit within the Tensions Project framework, could be that of analysing the tensions created from problems of assimilation due to various technological discrepancies and so forth. We are following this proposal through with M. Sauvy.“ (s. UNESCO, Correspondence from H. Cantril and P. W. Martin to the Director-General, 13. 04. 1948. In: Secretariat, Tensions Project 1947 – 1949, Box 151 (327.4 – 327.5), Folder: Part III from 1/IV/48 up to 30/VI/48, Paris, Unesco Archive. S. 1 – 2). Der Brite Morris Ginsberg war am Department of Sociology der London School of Economics tätig und besetzte die Rolle des Vizepräsidenten der International Sociological Association (ISA). Außerdem war er Mitglied des Population Investigation Committees, das an der London School of Economics situiert war. Ginsberg war neben seinen akademischen Verpflichtungen an Meetings des Britischen Ministeriums für Bildung beteiligt (beispielsweise am 23. Juli 1948) und engagierte sich in der Rolle als Mittlerfigur zwischen Politik und Wissenschaft im UNESCO Social Scientific National Cooperating Body des Vereinigten Königreichs. Seine fachlichen Schwerpunktsetzungen galten der „race question“ und der Antisemitismusforschung. Die US-amerikanische Kulturanthropologin und Ethnografin Margarete Mead (als Associate Curator of Ethnology, American Museum of Natural History, NYC) gehörte zur „New York Group“ des UNESCO-DSS-Netzwerks. Sie wurde dem DSS als Expertin zum Thema der „national group images“ und „national character“ 1947 von Leites empfohlen. Im selben Jahr wurde Mead vom UNESCO-Sekretariat eingeladen, das Tensions-Projekt mit weiteren ExpertInnen, wie z. B. Edward A. Shils, Henry V. Dicks, Ronald G. Hargreaves und A. T. M. Wilson zu diskutieren. In den darauffolgenden Jahren war Mead außerdem aktiv im Bereich „Mental Health“, war Mitglied des interimistisch eingesetzten Aufsichtsrats des Komitees für Mentale Hygiene 1947 und 1948 der International Preparatory Commission of the Congress on Mental Health. Ebenso tätig an der London School of Economics wird T. H. Marshall in den Unterlagen der UNESCO mit den Worten „formaly a conservative but changed his political views and became a socialist“ beschrieben. Aus diesem Bericht geht hervor, dass Marshall sich politisch engagierte (für die Labour Party), aber als Historiker an die Cambridge University zurückkehrte, wo er sich immer stärker für Soziologie zu interessieren begann. Als Berater für die UNESCO war er Mitglied des UK Cooperating Body for Social Sciences und involviert in das Tensions-Projekt seit 1948. In dieser Rolle nahm er an mehreren Konferenzen und Meetings teil, wie z. B. der „Conference on Methods of Attitude Change conducive to International Understanding“, die im Oktober 1948 in Abbé de Royaumont stattfand. Marshall war, neben anderen, an der Formulierung von der UNESCO Resolution 5.1.1.5. beteiligt, die sich mit Migration und Assimilation auseinandersetzt.
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Der Psychologe Gordon Allport, Professor an der Harvard University und dem Department of Social Relations in Cambridge, Mass., konzentrierte sich in der Zusammenarbeit mit der UNESCO auf „aggressive nationalism“. Allport war als Berater lange Zeit in die Arbeit des DSS involviert und gestaltete dieses entscheidend mit. Er verfasste als Co-Autor das „Statement of Tensions Affecting International Understanding“ und kommentierte das als Basispapier des Tensions-Projektes geltende Memorandum von Edward Shils. Darüber hinaus war Allport einer der acht Experten, die für die Abfassung des Statements „We, the undersigned …“ beauftragt wurden (s. mehr dazu im Fließtext). In Bezug auf die UNESCO ist die schwedische Soziologin Alva Myrdal vor allem in ihrer Rolle als Direktorin des Departments für Sozialwissenschaften, die sie von 1950 bis 1955 innehatte, bekannt. Davor war Myrdal geschäftsführende Direktorin des UN-Departments für Soziale Angelegenheiten (Lake Success, New York, Vereinigte Staaten). In dieser Tätigkeit für die UN stand Myrdal erstmals mit der UNESCO bezüglich der geplanten Migrationsstudien in Kontakt. Das DSS der UNESCO war sehr stark daran interessiert, das Thema der Assimilation in die Arbeit der UN und anderer UN-Agenturen zu integrieren, und es war Myrdal, die sich als Erste damit auseinandersetzte. Und obgleich Myrdal erst 1950 zur Generaldirektorin des DSS avancierte, wird sie bereits im Oktober 1947 von Nathan Leites bezüglich einer möglichen Zusammenarbeit „bewertet“. In einem seiner Berichte schreibt er „From a letter to us and the judgement of a number of my Stockholm informants seemed to show that she would be of very great value in the initiation, and probably also the execution, of our planning. Mr. Robins’ comments, however, hold that the political developments of the post-war years have created a degree of resentment against her in many quarters which would interfere with her usefulness.“ (s. UNESCO, Report by Nathan Leites on Contacts Made During His Mission to Sweden, Denmark and the Netherlands, 15th – 20th October 1947. In: Secretariat, Tensions Project 1947 – 1949, Box 151 (327.4 – 327.5), Folder: Part II from 1/VI/47 up to 30/X/47, Paris, Unesco Archive). Nathan Leites, Vereinigte Staaten, begann mit einem dreimonatigen Vertrag in den Sommermonaten 1947 in der UNESCO beziehungsweise im DSS als Assistent oder „principal research worker“ zu arbeiten. In dieser Zeit legte Leites die wesentlichen nächsten Schritte im TensionsProjekt fest. Nach den Sommermonaten von 1947 reiste er für die UNESCO durch Europa mit dem Ziel, Kontakte mit SozialwissenschaftlerInnen aufzunehmen. Er avancierte zu einem „Special Consultant“ im Department für Sozialwissenschaften und war eng in das Tensions-Projekt eingebunden. Als Programmspezialist formulierte er außerdem 1948 das erste Memorandum zum Thema „national group images“ und „national character“. Hadley Cantril, Professor für Psychologie an der Princeton University und Direktor des Office of Public Opinion Research an derselben Universität und Mitglied des Kollegiums der Society for Psychological Study of Social Issues, beschäftigte sich im Zusammenhang mit dem UNESCO-DSS mit Studien zu „race“ im Tensions-Projekt. Von März bis August 1948 war Cantril erster Direktor des Tensions-Projektes, in dessen Rolle er ein Statement zu „Human Sciences and World Peace“ verfasste. In erster Linie half Cantril dem Tensions-Projekt auf den Weg, danach ging er wieder zurück nach Princeton. In seiner Rolle als Direktor des TP – ihm folgte Otto Klineberg ins Amt – kommunizierte Cantril mit allen bis dahin ausgewählten ExpertInnen und bat viele davon um Berichte zu bestimmten Personen, die als Berater in Frage kamen, aber auch zu Beschreibungen themenrelevanter Arbeiten an bestimmten Universitäten und Instituten der jeweiligen Länder. Robert C. Angell war US-amerikanischer Soziologe und u. a. Mitglied der American Sociological Association (ASA, 1951 wurde er ihr 41. Präsident), der Sociological Research Association und der Michigan Sociological Association. Sein wissenschaftliches Interesse über die
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Soziologie hinaus galt der Psychologie und der Sozialpsychologie. Im September 1949, nach Arthur Ramos’ Tod, wurde er Direktor des UNESCO-DSS und des Tensions-Projektes. Von 1951 bis 1956 war er Mitglied der US-Nationalkommission der UNESCO. Der aus Norwegen stammende Politikwissenschaftler Avid Brodersen war mit P. W. Martin einer der ersten und in der Programmauswahl federführender Mitarbeiter des DSS. Zuerst Berater des DSS, wurde er 1947 zu dessen Direktor. Er war es auch, der der Psychologie in der Arbeit der UNESCO eine tragende Rolle zusprach, da, so seine Ansicht, die Soziologie und die Politikwissenschaften nicht weit genug fortgeschritten seien. Wie sich in den Forschungsbereichen zur Assimilation, Integration und Adaption von Immigranten, wie sie durch das DSS gefördert wurden, zeigte, nahmen Psychologie und Sozialpsychologie eine prominente Rolle ein. P. W. Martin spielte neben Avid Brodersen eine wichtige Rolle innerhalb des DSS im Hinblick auf die frühe und sehr intensive Vernetzungsarbeit des Departments. Als Ökonom wies der Brite lange Erfahrungen im International Labour Office (ILO) auf, wo er vor allem über Arbeitslosigkeit und Business-Netzwerke schrieb. Später richtete er sein Augenmerk verstärkt auf andere Fächer wie die Psychologie und speziell auf die tiefenanalytische Psychologie der Prägung Jung und Freud. 1946 war Martin Berater für das DSS der Preparatory Commission, im April 1947 wird er bereits als Programmspezialist im DSS für die Sektion „Tensions Affecting International Understanding“ geführt. Innerhalb dieses Projektes war er verantwortlich für den Bereich, den er als „ways of life“ bezeichnete und der zu einem eigenständigen Projektschwerpunkt werden sollte. Der kanadische Sozialpsychologe Otto Klineberg besetzte den Lehrstuhl für Sozialpsychologie an der Columbia University sowie der Universität von Paris ein. Seine frühen Arbeiten beschäftigten sich mit der Intelligenz von „schwarzen“ und „weißen“ Studenten in den Vereinigten Staaten. Im September 1948 folgte Klineberg Hadley Cantril als Direktor des TensionsProjektes, wo er sich weiterhin mit „racial questions“ und mit der Dynamik von Einstellungen/ Gesinnungen auseinandersetzte. Pierre de Bie verfasste für das DSS den Länderbericht für Belgien, wie sie vom DSS bis in die späten 1940er Jahre bei unterschiedlichen nationalen Institutionen und Universitäten angefragt wurden. 1948 richtete Cantril die Bitte an de Bie, sich ebenso um die Berichte zu Frankreich und den Niederlanden zu kümmern. Seit 1948 in die Arbeit des UNESCO-DSS involviert, wurde de Bie fester Mitarbeiter des DSS. Wenngleich er weniger durch eigene Publikationen in Erscheinung trat (akademischer Hintergrund war seine Arbeit für das belgischen Institute de Recherches Économiques et Sociales de l’Université Catholique de Louvain), so hat er doch auf Entscheidungsebene die Programmlinie des Departments wesentlich mitgeprägt. Er war Mitglied des Exekutivkomitees der ISA und nahm an Konferenzen der International Labour Organisation (ILO) sowie als Beobachter an Konferenzen der Population Commission der UN (Mai und Juni 1950) teil. 1947 von Waldemar Gurian als „one of the best younger American social scientists“ eingestuft, wird Edward Shils Autor des zweiten Memorandums zum Thema „Tensions“. Seit 1947 „Special Consultant“ der UNESCO, kam der US-Amerikaner aus den Disziplinen Soziologie und Politikwissenschaften, wobei er an der University of Chicago einen Lehrstuhl innehatte. Seine Arbeit an der London School of Economics und als Sekretär der General Commission on Atomic Research an der Universität von Chicago qualifizierten ihn für die Arbeit als Berater für das Tensions-Projekt des UNESCO-DSS. Der französische Demograf, Ethnologe und Historiker für Wirtschaftsgeschichte Alfred Sauvy prägte den Begriff der „Dritten Welt“. Für die UNESCO schrieb er Memoranden,
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unter anderem über Immigranten, „inter-group“, internationale Spannungen und „attitude change“ im Zusammenhang mit dem Konzept des internationalen Verständnisses. Er arbeitete dabei oftmals mit David Glass zusammen, der ebenso stark in die Forschungsarbeiten, die vom UNESCO-DSS gefördert wurden, eingebunden war. Noch bis in die 1960er Jahre war Sauvy in die Forschungen zu Population der UN-Organisationen involviert. Der Australier Wilfried David Borrie war Historiker. Er konzentrierte sich auf Bevölkerungsforschung mit Schwerpunkt Australien und Neuseeland. Als Senior Research Fellow in Demografie an der Australian National University in Canberra spezialisierte er sich auf Immigrationsfragen. Darüber hinaus war er beteiligt an den Sozialstudien an der Universität von Sydney sowie am Institute of Commonwealth Studies an der Universität von London. Über die akademische Einbindung hinaus war Borrie gut vernetzt im australischen Ministerium für „PostWar Reconstruction“. Aufgrund sowohl seines Forschungsschwerpunkts als auch aus strategischen Gründen, denn für die UNESCO war es „a matter of policy, to involve Australian social scientists more in the work of Unesco“, avancierte Borrie zu einem wichtigen Akteur, der Australien und Neuseeland repräsentieren sollte (s. UNESCO, Correspondence from H. M. Phillips, DSS, to Professor David Glass, LSE. In: Secretariat, Tensions Project, Box: 325.1 : 008 Part I/II, 325.1 : 008 A06 (729.1) AMS, Part I [Box Nr.: 822), Folder: 325.1 : 008 A 06 (729.1) „56“ 1956 Conference on Cultural Integration of Immigrants – CUBA Part I – up to 31 December 1955, Signature: SS/477.341, Paris, Unesco Archive). Borrie wurde zu einem wichtigen Vertreter der Assimilations- und Integrationsforschung in der Nachkriegszeit. Arne Naess war norwegischer Philosoph an der Universität zu Oslo. Im Hinblick auf die Zusammenarbeit mit der UNESCO nahm er an der „Wise Men’s Conference“ teil, die als eine der ersten sogenannten Experten-Meetings vom 28.6. bis 9. 7. 1948 in Paris stattfand. Während der Konferenz beschäftigte er sich mit dem Thema des „aggressive nationalism“, das ebenso Teil des Tensions-Projektes war. Noch vor der Konferenz 1948 verfasste er als Co-Autor das „Statement of Tensions Affecting International Understanding“. Im Oktober 1947 schrieb Leites in einem Brief an Brodersen, dass Naess „considerable intellectual capacities“ aufweisen würde, die helfen würden, jene Probleme in Angriff zu nehmen, die die UNESCO „of great relevance“ werden lassen kann. Naess dürfte – so die Aussagen von Leites – sein Interesse auf die Sozialwissenschaften gelenkt haben, da er einige seiner Kollegen aus Oslo in die USA schickte, um mit dem Geld der Rockefeller Foundation von Lasswell und anderen geschult zu werden. Naess war laut diesem Bericht überaus interessiert an der Formung einer Gruppe „Tensions Team“ unter seiner eigenen Leitung. Naess’ Vorschläge sowie die Beurteilungen durch andere, nicht näher genannte Personen ließen Leites aber zu folgendem Schluss kommen: „In my opinion the intrusion of unrealistic phantasies into Mr. Naess’ excellent intelligence is sufficiently severe to make him too unreliable as a major Norwegian participant to our plans. This judgement at which I arrive with some reluctance, has been corroborated by information which I obtained in indirect ways from what seemed to me reliable observers.“ (s. UNESCO, Memo from Leites to Brodersen, 8. 10. 1047. Subject: Partial report about my Oslo-visit. In: Secretariat, Tensions Project 1947 – 1949, Box 151 (327.4 – 327.5), Folder: Part II from 1/VI/47 up to 30/X/47, Paris, Unesco Archive). Gilberto Freyre war im besagten Zeitraum brasilianischer Professor für Soziologie an der Universität von Bahia sowie Professor am gleichnamigen Institut der Universität von Buenos Aires. Er beschäftigte sich als Berater für die UNESCO mit dem Thema „aggressive nationalism“ und war Mitverfasser des „Statement of Tensions Affecting International Understanding“ von 1947. Neben Max Horkheimer, Arne Naess, John Rickman und anderen war er Mitautor des Statements „We, the undersigned …“, das sich mit der Festlegung eines interdisziplinären Kon-
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sens in der Zusammenarbeit der sozialwissenschaftlichen Fächer, geleitet durch die UNESCO, befasste. Der Brasilianer Arthur Ramos war in seiner Expertenrolle als Anthropologe und als praktizierender Psychiater Direktor des DSS der UNESCO von 1949 bis zu seinem Tod im November 1950. Ramos war vorwiegend an Themen der sogenannten „race problems“ interessiert, wobei er 1949 Lévi-Strauss überzeugen konnte, aktiv als Berater für das DSS zu arbeiten. Jean Stoetzel arbeitete am French Instiute of Public Opinion, Neuilly, und war zudem Professor für Sozialwissenschaften an der Universität von Bordeaux. Alfred Max arbeitete ebenso am French Institute of Public Opinion in Neuilly.
Quellenhinweis Der Artikel basiert auf im UNESCO-Archiv und im Australian National Archive archivierten Primärquellen, die in dieser Form und zu diesem Thema erstmalig und im Zuge meiner Doktorarbeit „Assimilation and Integration Discourses in the Social Sciences (1945 – 1962)“ erschlossen wurden. Diese befinden sich im UNESCO-Archiv in Paris, Frankreich und im Australian National Archive, Sydney und Canberra. In manchen Fällen sind Dokumente im OnlineArchiv der UNESCO – UNESDOC – als PDF abrufbar. Ebenso stellt das Australian National Archive Dokumente als PDFs zur Verfügung. Der Großteil ist allerdings ausschließlich in Papierform vor Ort einsehbar. Es handelt sich dabei um unterschiedliche Texttypen, darunter Korrespondenzen, Sitzungsprotokolle, Reiseberichte und Publikationen unterschiedlicher Herausgeberschaft und Typs. Dazu zählen Aufzeichnungen in Form von Korrespondenzen, internen Memos, Aufzeichnungen von Meetings, Workshop-Sessions, Konferenzen und EXB-Sessions, Aufzeichnungen zu den Generalkonferenzen. Der Dokumenttyp entscheidet über die Sprachebene und darüber, wie formal über ein Thema gesprochen wurde. Die Selbstdarstellung der UNESCO und des DSS nach außen ist daher verständlicherweise in den offiziell publizierten Unterlagen formeller als dies in Korrespondenzen der Fall ist oder in den Aufzeichnungen mancher Meetings und Workshop-Sessions.
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Kooperation, Konkurrenz, Konflikt: Das Allensbacher Institut für Demoskopie und das Frankfurter Institut für Sozialforschung in den 1950er Jahren Von Norbert Grube und Fabian Link
I. Einleitung An der Etablierung und Formierung der empirischen Sozialforschung in Westdeutschland von den frühen 1950er Jahren bis etwa 19601 war eine ganze Reihe von Akteuren beteiligt. Remigranten wie René König, linksliberale Soziologen wie Otto Stammer, eher konservativ gesinnte Politikwissenschaftler wie Arnold Bergstraesser oder ehemals nationalsozialistisch verstrickte, sich nun als sozialdemokratisch gebende Soziologen wie Helmut Schelsky verband die Absicht, die empirische Sozialforschung in Westdeutschland zu professionalisieren und zu institutionalisieren.2 Dies führte zur Gründung von mehrheitlich empirisch ausgerichteten sozialwissenschaftlichen Instituten, die sich universitätsnah, im Bereich der Umfrageforschung vor allem aber auch außeruniversitär etablierten. Zwischen ihnen kam es zu vielfältigen Kooperationen, aber auch zu Konflikten und Kontroversen, denn die diversen Akteurinnen und Akteure zogen unterschiedliche Deutungen aus dem empirischen Material – nicht zuletzt wegen ihrer divergierenden politischen Einstellungen und Erfahrungen. Hinzu kam der zunehmende Wettbewerb um Aufträge von Seiten der Politik und Wirtschaft. Zwei wichtige Akteure in diesem Prozess waren das Institut für Sozialforschung (IfS) und das Institut für Demoskopie Allensbach (IfD). Der vorliegende Beitrag behandelt die verschiedenen Formen von Kooperationen und Konflikten dieser beiden Institute in den 1950er Jahren, die ihre je spezifische Positionierung innerhalb des westdeutschen Wissenschafts- und Intellektuellenfelds und ihr Verhältnis zur Politik mitgeprägt haben. In epistemischer Hinsicht waren Kooperationen zwischen IfS und IfD deshalb möglich, weil die empirische Sozialforschung ihren Erkenntniszielen und Methoden nach eine Ebene bildete, auf der sich Sozialwissenschaftlerinnen und Sozialwissenschaftler ganz unterschiedlicher wissenschaftlicher Herkunft und politischer Einstellung positionieren und verständigen konnten. Das von der empirischen Sozialforschung generierte Wissen war in der politischen Praxis multipel einsetzbar; es konnte 1 2
Weischer, S. 35 – 36. Vgl. Fischer, Philosophische Anthropologie, S. 337. Vgl. Kändler; Lepsius.
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in den Vereinigten Staaten Aufschlüsse über den Antisemitismus in der Bevölkerung oder über die Werteinstellungen der weißen Middle Class in den 1930er Jahren bringen.3 Es konnte aber genauso gut für die nationalsozialistische Volkstumspolitik und Raumforschung,4 für die Bestätigung des behaupteten Bevölkerungswachstums in der Sowjetunion5 oder in der westdeutschen Demokratie für die Eruierung der politischen Einstellung der westdeutschen Bevölkerung im Dienst der westlichen Besatzungsbehörden genutzt werden.6 Diese Bandbreite an Anwendungen, Legitimationen und politischen Erwartungen ermöglichte in den 1950er Jahren vielseitige und zugleich gemeinsame Zuschreibungen sowie einen transatlantischen Schulterschluss zwischen Remigranten, Besatzungsbehörden und westdeutschen Sozialwissenschaftlern, die im nationalsozialistischen Deutschland verblieben waren. Die transatlantischen Verbindungen trugen maßgebend zur Etablierung der von den Akteuren als modern und fortschrittsdienlich begriffenen empirischen Sozialforschung in Westdeutschland bei. Demokratisierung und Reeducation als politische Ziele waren nach 1945 zentrale Bezugsbereiche für die Generierung sozialempirischen Wissens und stellten daher normierende Diskursfelder dar, auf denen westdeutsche Sozialwissenschaftler ihre Tätigkeit im Hinblick auf Professionalisierung und Institutionalisierung legitimierten und ausrichteten.7 Diese Entwicklung bildete den Hintergrund für das Verhältnis zwischen dem Frankfurter IfS und dem IfD in den 1950er Jahren. Nach der Rückkehr Max Horkheimers, wenig später auch Friedrich Pollocks und Theodor W. Adornos, aus dem US-amerikanischen Exil nach Frankfurt wurde das IfS mit Geldern aus dem McCloy-Fonds, dem Hessischen Kultusministerium, von der Stadt Frankfurt und weiteren privaten Unterstützern 1951 wiedereröffnet.8 Unter der Leitung Horkheimers führte das Institut zunächst zahlreiche Projekte empirischer Sozialforschung in Frankfurt und Westdeutschland durch, bei denen in den frühen 1930er Jahren entwickelte und in den Vereinigten Staaten in Zusammenarbeit mit US-amerikanischen Sozialwissenschaftlern veränderte und verfeinerte Methoden angewandt wurden. Die auf diese Weise untersuchten Themen – wechselseitig von westdeutschen Politikern als solche erkannt, aber auch von den Mitgliedern des IfS so propagiert – nahmen aktuelle Problemlagen der westdeutschen Gesell3
Igo, S. 136. Klingemann, Soziologie und Politik, S. 417; Rammstedt, S. 68, 106, 134 – 135, 142 – 147, 152 – 158, 160 – 161. 5 Schlögel, S. 153 – 169; zu den Sozialwissenschaften in der Sowjetunion: Kazakévic. 6 Guilhot, S. 453. 7 Vgl. Gerhardt; Demirovic´, S. 384 – 386; Plé; Rupieper, S. 45 – 49. Zur Normierung von Wissensordnungen: Foucault, S. 21, 217 f. 8 Archiv des Instituts für Sozialforschung (Archiv IfS), Adorno-Korrespondenz, B (1950 – 1965), 2: Memorandum Theodor W. Adorno an Prof. Dr. Benecke vom 5. 10. 1953, Bl. 1 – 6, hier: Bl. 1 – 2. Vgl. Universitätsarchiv Frankfurt (UAF), Abt. 134, No. 234, Bl. 118: Der Hessische Minister für Erziehung und Volksbildung (gez. Metzger) an das Universitäts-Kuratorium, Wiesbaden, im März 1951. 4
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schaft in den Blick. Diese Untersuchungen wiesen sich als relevant für die Sozialforschung und zugleich für das weitere intellektuelle und bildungspolitische Feld Westdeutschlands aus, nahmen doch Horkheimer und Adorno, der zweite Direktor des IfS, für sich in Anspruch, mit ihrer Forschung und ihrer Erfahrung als Remigranten zur demokratischen Erziehung der Westdeutschen beizutragen.9 Auch Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler beziehungsweise Journalistinnen und Journalisten, die nach1933 in Deutschland geblieben waren, wandten sich nach 1945 den Sozialwissenschaften zu. Ein Beispiel hierfür ist Elisabeth NoelleNeumann, die 1947 das IfD gründete. Sie hatte 1940 in Berlin bei dem Zeitungswissenschaftler Emil Dovifat über die u. a. von George Gallup angewandte Methode der Repräsentativbefragungen in den Vereinigten Staaten promoviert. Bis heute gilt Noelle-Neumann als umstritten wegen ihrer in der Dissertation und in Zeitungsartikeln publizierten deutschnationalen und in Verbindung mit Amerika-, Massenmedien- und Kapitalismuskritik stehenden antisemitischen Passagen.10 Sie war bis 1943 Journalistin der NS-Wochenzeitung Das Reich, deren Gründungsmitglied ihr Lebensgefährte Erich Peter Neumann war, anschließend schrieb sie für die Frankfurter Zeitung. Dabei geriet Noelle in verschiedene politische Konflikte mit NS-Pressestellen, so wegen eines Artikels über dienstverpflichtete Arbeiterinnen.11 Den dabei angewandten Stil der Sozialreportage aus der Sicht der kleinen Leute hatte Erich Peter Neumann vor 1933 bereits in seinen Artikeln für die Weltbühne Carl von Ossietzkys und in der kommunistischen Zeitung Welt am Abend des KPD-Reichstagsabgeordneten und Verlegers Willy Münzenberg ausgeprägt. Diese wenigen Hinweise deuten an, dass die politische Verortung Noelles und Neumanns weitaus komplexer ist, als dies oft in der Forschungsliteratur dargestellt wird. Der vorliegende Beitrag fragt danach, ob und wie die beiden Institute vor diesem divergierenden Erfahrungshintergrund ihrer (Mitbe-)Gründer sowie angesichts der konfliktreichen Aneignung und modifizierenden Rezeption US-amerikanischer Ansätze der empirischen Sozialforschung12 gemeinsame oder unterschiedliche Idiome und inhaltlich-kulturelle Ausrichtungen entwickelten. Verwiesen solche Gemeinsamkeiten und Unterschiede auf ähnliche oder divergierende politische Gesellschaftsbilder und auf jeweilige methodische Präferenzen und Anwendungen? Gefragt wird weiter, welche Folgen die Selbstzuschreibung beider Institute für die jeweilige wissenschaftliche Ausrichtung und politische Verortung hatte, auch im Hinblick auf Überschneidungen und Konkurrenzsituationen bei der Auftragsforschung sowie für Forschungskonzeptionen und dafür verwendete Begrifflichkeiten. 9
Allgemein dazu Demirovic´. Noelle, Wer informiert; Noelle, Meinungs- und Massenforschung, S. 63, 67, 94. Zu zwei Lesarten der kontrovers diskutierten Biographie von Elisabeth Noelle vgl. Viswanath und Simpson. Vgl. zu ihrer Funktion als Zellenleiterin in der Arbeitsgemeinschaft nationalsozialistischer Studentinnen: Noelle-Neumann, Die Erinnerungen, S. 51 f. 11 Grube, Deutschlandkonzepte, S. 317 – 318; Martens, S. 49, 94 – 110. 12 Klingemann, Die Verweigerung, S. 495. 10
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Die Unterschiede wurden seit jeher stark betont. Differenzmarkierungen erfolgten etwa bei Definitionen von Öffentlichkeit als Forum vernunftgeleiteter Aufklärung auf der einen und von öffentlicher Meinung als soziale Kontrolle auf der anderen Seite,13 oder hinsichtlich einer eher theoretisch ausgerichteten versus einer empirisch-quantitativen Sozialforschung. Auch die Selbstverortungen beider Institute unterschieden sich: Das IfS sah sich in einem wissenschaftlichen und akademischen Intellektuellenaustausch verortet, während das IfD sich mehrheitlich auf die kontinuierliche Anwendung quantitativ ausgewerteter Repräsentativbefragungen verlegte. In diesem Beitrag werden komplementär dazu die bislang nur rudimentär berücksichtigten Gemeinsamkeiten14 beider Institute behandelt. Gemeinsamkeiten stellen die kulturkritische Bewertung der Massenmedien, denen Noelle wie Adorno Verführungs- und Manipulationspotential zuschrieben,15 und eine elitäre Selbstzuschreibung als öffentliche Intellektuelle, Gesellschaftsdeuter und Gesellschaftserzieher dar, was durch ihre ähnliche bürgerliche Sozialisation bedingt war.16 Nicht zuletzt betrieben beide Institute angewandte empirische Sozialforschung für diverse Auftraggeber aus Wirtschaft und Politik. Mit Bezug auf zwei analytische Zugriffe, dem Konzept des ,Idioms‘ nach Bernhard Waldenfels und einem organisationssoziologischen Ansatz,17 verfolgt dieser Beitrag die Forschungshypothese, dass die verschiedenen um 1950 in der westdeutschen Sozialforschung zirkulierenden Methoden, Anwendungsbereiche und Legitimationen die Grundlage eines Common Sense darstellten, der vielerlei Kooperationen und idiomatische Verflechtungen zwischen den Instituten ermöglichte. Gemeinsam war etwa das Ziel, Sozialforschung an den westdeutschen Universitäten zu institutionalisieren und in enger Verzahnung damit die privatwirtschaftliche Demoskopie wissenschaftlich auszubauen und zu professionalisieren. Die auf ähnlichen Feldern durchgeführten Gesellschaftsanalysen führten jedoch auch zu Konflikten und Konkurrenzen sowie idiomatischen Abgrenzungen zwischen den Instituten. Dienten die verschiedenen Kooperationsformen in den 1950er Jahren in der Regel zur Stärkung der eigenen Position, wurden Konflikte nach der ersten Phase der Etablierung der Sozialwissenschaften um 1960 mehr oder weniger offen ausgetragen.18 13
Noelle-Neumann, Die Schweigespirale. Vgl. Wendelin/Meyen. Hoeres, S. 78 – 80; Klingemann, Die Verweigerung, S. 489. 15 Noelle-Neumann, Kann das Fernsehen. Vgl. Adorno, S. 54 ff., 61 ff. 16 Noelle-Neumann, Die Erinnerungen, S. 7 – 23; Jäger, S. 233 – 237. Vgl. die biografischen Beiträge auf der Website http://noelle-neumann.de/biographie [Zugriff 2. 12. 2015]. 17 Vgl. Waldenfels. Vgl. Faber/Holste. 18 Dieser Beitrag basiert vornehmlich auf Strategiepapieren, Sitzungsprotokollen, Forschungs- und Umfrageberichten, auf edierter und nicht edierter Korrespondenz sowie auf Forschungsveröffentlichungen von den späten 1940er bis zu den frühen 1960er Jahren. Genutzt werden konnte dankenswerter Weise das Privatarchiv Elisabeth Noelles in Piazzogna/ Tessin (verwaltet von Dr. Ralph Erich Schmidt) – insbesondere der Nachlass Erich Peter Neumanns (NL EPN), Dokumente zur Frühgeschichte des IfD sowie zum kleinen Teil der Nachlass Elisabeth Noelles (NL EN). 14
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II. Konzeptioneller Ansatz: ,Idiom‘ und ,Organisation‘ im IfS und IfD Das Wissen der Sozialwissenschaftler manifestiert sich in sprachlichen Eigenarten, den Idiomen. Der Begriff ,Idiom‘ bezeichnet nach Waldenfels „gemeinhin eine dem Konzept der Muttersprache als Eigensprache entstammende sprachliche Eigenart, eine Mundart, die sich von anderen Mundarten abhebt.“ Idiome begrenzen sich nicht auf die linguistische Ebene, sondern bezeichnen „eine Singularität der Denkungsart“, die implizites Wissen miteinschließt.19 Das Idiom bezeichnet die sprachliche Konkretisierung und Manifestation spezifischen Wissens, bildet also sprachliche Horizonte des Sagbaren und des Unsagbaren ab. Bezogen auf die vorliegende Thematik ist zu untersuchen, inwieweit sich die empirischen Studien des IfS, die darin verwendeten sprachlichen Eigenarten und Begriffe, von denen des IfD unterschieden, welche semantischen Unterschiede und Gemeinsamkeiten also vorlagen. Die frühe Kooperation beider Institute ab 1950 deutet auf ein anfänglich geteiltes, zum Teil auch gemeinsam geprägtes Idiom hin. Beide Institute sind zudem organisatorisch erklär- und beschreibbar mit der Soziologie des Kreises, die eine spezifische Bindung und Vergemeinschaftungsform von Intellektuellengruppen charakterisiert. Diese kreishafte Organisationsform der beiden Institute kann idiomatische Überschneidungen implizieren, kann aber auch gegenseitige Abstoßungen und Ausschließungen erklären.20 Die Merkmale des Kreises sind charismatische Meisterin respektive charismatischer Meister, verschwiegene Loyalität, spezifische Leitbilder im Zusammenspiel mit Generierung und Darstellung von Wissen gegenüber Kontrahenten sowie informelle Verständigungsweisen. Intellektuelle oder wissenschaftliche Kreise können zudem durch die Ausprägung von zwar außerhalb des Kreises anknüpfbaren, jedoch nach innen mit je spezifischen Bedeutungs- und Begriffskonnotationen aufgeladenen Sprachen ausgestattet sein, was Konsequenzen für idiomatische An- und Abgrenzungen haben kann.21 Die Eigensprache weist im kreissoziologischen Beschreibungsmodell vor allem eine Integrations- und Inklusionsfunktion auf, die nach außen exkludierend wirken kann. Das IfS erhielt als „Frankfurter Schule“ spätestens in den 1960er Jahren ebenso den akademisierten Beinamen eines wissenschaftlichen Kreises, wie das als „Mainzer Schule“ bezeichnete, von Elisabeth Noelle-Neumann 1966 gegründete Institut für Publizistik an der Universität Mainz.22 Beide Kreise zeichneten sich durch Freundschaft und Solidarität zu den jeweiligen Meistern, so Ludwig von Friedeburg oder Jürgen Habermas zu Adorno, gemeinsame Begrifflichkeiten und Referenzpunk-
19 Waldenfels, S. 11, 303, 310, 318 – 319. Vgl. auch den Beitrag von Andreas Langenohl in diesem Band. Zum impliziten Wissen vgl. Polanyi. 20 Faber/Holste; Eßbach. Vgl. Martus, S. 166 – 172; Raulff. 21 Wobei hier nicht Sprachkreise gemeint sind wie bei Waldenfels, S. 315 – 318. 22 Wilke.
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te sowie informelle Netzwerke aus.23 Die epistemische und soziale Autorität im IfS war und blieb bis in die späten 1950er Jahre Max Horkheimer, der seinen Führungsstil 1931 als „Diktatur der planvollen Arbeit über das Nebeneinander von philosophischer Konstruktion und Empirie in der Gesellschaftslehre“ charakterisierte.24 In den als Gemeinschaft gedachten Bindungen verhält es sich in Allensbach nicht anders: langjährige leitende Mitarbeitende, wie der Statistiker und Medienforscher Friedrich Tennstädt, der Psychologe Erp Ring25 und der Organisationsleiter Herbert Werner, orientierten sich an der Gründerin Elisabeth Noelle. Beide Kreise versuchten, nicht nur inhaltlich und methodisch, sondern auch hochschul- und personalpolitisch, die bundesdeutsche Universitätslandschaft zu prägen und gerieten hierbei in Konflikt. Gleichzeitig etablierten sie jedoch auch gemeinsame Austausch- und Verständigungsprozesse über Methoden und Funktionen empirischer Sozialforschung, so etwa auf dem Weinheimer Kongress 1951.26 Der vorliegende Beitrag folgt der Annahme, dass die je spezifischen Idiome dieser beiden sozialwissenschaftlichen Kreise je nach Kooperations- und Konkurrenzzusammenhängen sich anglichen oder schärfer konturiert wurden.
III. Kooperation der Organisationen – gemeinsame Idiome? Bevor der Blick auf Kooperationen geworfen wird, sollen Parallelen und Unterschiede der Gründungsgeschichte, der Netzwerke und der Forschungspraxis des IfS und des IfD sowie Schnittmengen beider Forschungsinstitute bei personellem Austausch und gemeinsamen Projekten dargestellt werden. 1. Gründungsgeschichte, personelle Netzwerke und Forschungspraxis des IfS nach 1951 Der gesellschaftliche Status Horkheimers und Adornos – Pollock ist kaum in die intellektuelle und politische Öffentlichkeit getreten – als Remigranten mit jüdischem Hintergrund und mit Erfahrung in demokratischer Kultur und empirischer Sozialforschung in den Vereinigten Staaten stellte für die Rolle des IfS als Institution demokratischer Neuerziehung in Westdeutschland eine wichtige Ressource dar. Die Positionierung des IfS als ein Forschungsinstitut für demokratische Expertise war u. a. das Resultat des geschickten wissenschaftspolitischen Managements Horkheimers, der im Juli 1949 eine Professur für Soziologie und Philosophie an der Universität Frank23
Gespräch mit Ludwig von Friedeburg, S. 307 f. Horkheimer, Die gegenwärtige Lage, S. 12. Es handelt sich hierbei um die von Horkheimer abgewandelte Wendung einer von Carl Grünberg, des ersten Direktors des IfS, aufgestellten Formel von der „Diktatur des Direktors“. 25 Tennstädt; Petersen; Ring. 26 Neumann, Politische und soziale Meinungsforschung. Vgl. Adorno, Zur gegenwärtigen Stellung. 24
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furt erhielt, dort kurz danach zum Dekan der Philosophischen Fakultät und dann zum Rektor gewählt wurde.27 Horkheimer pries das IfS nicht nur als Forschungsinstitution an, in der die „highest developed empirical research methods of the modern American social sciences“ zur Anwendung kamen, sondern auch als politische Beratungsinstanz für erziehungs- und bildungspolitische Fragen in der Bundesrepublik.28 Bei diesem Prozess spielte Horkheimers weit verzweigtes Netzwerk zu Vertretern philanthropischer Stiftungen in den Vereinigten Staaten, zu US-amerikanischen Bildungs- und Erziehungspolitikern sowie Wissenschaftlern eine wichtige Rolle. Beispiele hierfür sind Shepard Stone von der Ford-Foundation und Emigranten, wie Fritz Bauer und Fritz Karsen, die als Berater des Office of Military Government of Germany (U.S.) (OMGUS) fungierten.29 Umgekehrt sahen diejenigen Frankfurter Professoren, die nach der Wiederöffnung der Goethe-Universität am 1. Februar 1946 ihre Stellen wieder bekleiden konnten, und hessische Bildungspolitiker das IfS als wichtige Institution für die wissenschaftlich-intellektuelle „Westanbindung“. Entsprechend etablierte die Frankfurter Universität als erste in Westdeutschland 1948 einen transatlantischen Austausch für Professoren mit der University of Chicago, wobei Horkheimer die treibende Kraft war.30 Parallel dazu vernetzte sich der Horkheimer-Kreis mit deutschen Wissenschaftlern, die z. T. für NS-Organisationen gearbeitet oder ihnen angehört hatten und deren Netzwerke ihrerseits nach 1945 bestehen blieben. Ein Beispiel hierfür ist der deutsch-ukrainische Biophysiker Boris Rajewsky, ehemaliger SA-Scharführer und Parteimitglied, der in der als Trägerin des IfS fungierenden Stiftung „Institut für Sozialforschung“ wesentlich mitwirkte und als Rektor der Universität Frankfurt 1949/50 und 1951/52 in engem Kontakt zu Horkheimer stand.31 Inwieweit Horkheimer über Rajewskys NS-Vergangenheit im Bilde war, bleibt allerdings dahingestellt. Im Zentrum dieses weitreichenden Netzwerks des IfS stand Hellmut Becker, Sohn des in der Weimarer Republik einflussreichen preußischen Kultus- und Erziehungsministers Carl Heinrich Becker, umtriebiger Anwalt, ehemaliges NSDAP-Mitglied, dem George-Kreis nahe stehend und späterer Gründer des Max-Planck-Insti27
Walter-Busch, S. 34 – 35. Wiggershaus, Die Frankfurter Schule, S. 480. 29 Rauner Library, Dartmouth College Special Collections, Folder: 35, Correspondence A – J, 1951, Box 12, Series 4: High Commission For Germany (HICOG), 1949 – 1953, Shepard Stone Papers, ML–99: Max Horkheimer an Shepard Stone vom 26. 11. 1951; ebd., Folder: 1, Correspondence A – F, 1952, 1951, Box 13, Series 4: High Commission For Germany (HICOG), 1949 – 1953, Shepard Stone Papers, ML–99: Max Horkheimer an Shepard Stone vom 18. 7. 1952; Archivzentrum – Universitätsbibliothek Frankfurt am Main (UBA Ffm), Na 1, 26, Bl. 292: Fritz Karsen an Max Horkheimer vom 4. 10. 1948. Zu Horkheimers seit 1937 bestehender Verbindung mit und zu Adornos Verhältnis zu Fritz Bauer, dem späteren Generalstaatsanwalt Hessens, vgl. Claussen, in: Rauschenberger. 30 Hesse, S. 148; Wheatland, S. 272 – 274. 31 Archiv IfS, A 20, P 14: Bundeswehr: Protokoll der 13. Sitzung des Vorstandes der Stiftung „Institut für Sozialforschung“ am 12. 2. 1955, 13 Uhr, im Gesellschaftshaus des Palmengartens, Frankfurt am Main. Vgl. Boll, S. 360. 28
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tuts für Bildungsforschung.32 Becker, der seinerseits über zahlreiche Kontakte zu wichtigen Politikern und Intellektuellen der Bundesrepublik verfügte, fungierte in den 1950er Jahren als loyaler Berater des IfS.33 Wie in den Vereinigten Staaten34 war der Horkheimer-Kreis in den 1950er Jahren darauf angewiesen, mit Forschungsassistentinnen sowie Feldforscherinnen und -forschern zusammenzuarbeiten, die in Statistik und sozialpsychologischen Methoden geschult waren oder zumindest eine hohe Lernbereitschaft zeigten, sich diese Methoden anzueignen. Die sozialwissenschaftlichen Empiriker kamen mehrheitlich von den statistischen Landesämtern und Stadtbehörden und der privatwirtschaftlich organisierten Meinungsforschung. Bereits bei seiner Wiedereröffnung 1951 rekrutierte das IfS Diedrich Osmer, der bereitwillig diese Forschungstechniken erlernte, und stellte 1956 den Amtsstatistiker Rudolf Gunzert als zweiten Direktor des Instituts ein. Gunzert blieb bis 1977 Direktor des IfS, zeitweise zusammen mit Ludwig von Friedeburg, der 1954 nach seinen ersten demoskopischen Ausbildungsjahren im Allensbacher Institut nach Frankfurt kam.35 Das erste große empirische Forschungsprojekt des IfS in Westdeutschland, das „Gruppenexperiment“ (1950/51), wurde samt den teils außerhalb Frankfurts stattgefundenen Vorarbeiten größtenteils vom U.S. High Commissioner of Germany (HICOG), dem US-amerikanischen Hohen Kommissariat, finanziert, das sich von dieser qualitativen Pilotstudie Daten über die politische und demokratische Zuverlässigkeit der Westdeutschen erhoffte.36 Zwei Donationen von Seiten des HICOG in der Höhe von DM 204.300 und DM 236.00037 garantierten eine relative Autonomie bei den Feldforschungen. Diese Summen fallen im Vergleich zum monatlich 3.000 DM betragenden gleichzeitig startenden Auftrag des IfD für das Bundespresseamt (BPA) beträchtlich aus.38 Zudem unterhielt Horkheimer in Kooperation mit anderen an der Universität Frankfurt tätigen Sozialwissenschaftlern wie Heinz Sauermann oder Ludwig Neundörfer enge Kontakte zum Hessischen Ministerium für Erziehung und Volksbildung, das sozialempirisches Wissen als wichtig für den Wiederaufbau Hessens, die Stadtplanung und die Unterbringung der aus den ehemaligen Ostgebieten vertriebenen Deutschen erachtete. Eine seit August 1946 projektierte Kommission aus Vertretern der hessischen Universitäten, der Planungsämter und un32
Schmoll. Vgl. Wiggershaus, Max Horkheimer, S. 190. Archiv IfS, Projekt A 10, Betriebsuntersuchung Mannesmann, Nr. 1.1, Mappe „O. Vorarbeiten“: Friedrich von Weizsäcker an Hellmut Becker vom 7. 10. 1955, Bl. 1 – 3. 34 Vgl. Fleck, S. 381 – 382; Ziege, S. 48 – 49. 35 UAF, Abt. 154, Nr. 100, Bl. 50 – 52: Dr. Rudolf Gunzert, Lebenslauf, Frankfurt am Main vom 22. 12. 1953, Bl. 50; ebd., Bl. 56 – 58: Spruchkammer Heidelberg, Aktenzeichen 59/1/ 5376 4266, vom 15. 4. 1947, Bl. 56: entlastet. 36 Vgl. Archiv IfS, Ordner: U.S.A, A-L, allgem.: Max Horkheimer an Charles Glock, Bureau of Applied Social Research, vom 21. 11. 1951. Vgl. Platz, S. 69 – 70. 37 Archiv IfS, Ordner: U.S.A, A-L, allgem.: Max Horkheimer an Charles Glock, Bureau of Applied Social Research, vom 21. 11. 1951, Bl. 2. 38 Grube, Die Politikberatung, S. 145. 33
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abhängiger Sozialforscher und Planer, in der auch Horkheimer, Neundörfer und Sauermann Mitglieder waren, brachte in der Folgezeit zahlreiche Projekte auf den Weg, welche die Kommissionsmitglieder in Kooperation mit den hessischen Stadt- und Landesbehörden ausführten.39 2. Gründungsgeschichte, personelle Vernetzung und Praxis des IfD nach 1947 Empirische Sozialforschung, sofern sie als Demokratisierungswissenschaft legitimiert war, und die anfängliche Kooperation vieler Institute untereinander wurden von den US-amerikanischen Besatzungsbehörden und Förderinstitutionen finanziell unterstützt. Von diesen Förderungen war das IfD allerdings bis Anfang der 1950er Jahre weitgehend ausgeschlossen, weil es bei Teilen des US-Geheimdiensts als nationalsozialistisch belastet galt.40 Im Gegensatz zum IfS etablierte sich das IfD ab 1947 nicht mit Unterstützung westalliierter Sozialforschungsexperten und Behörden, sondern in Emanzipation von ihnen. Ein Grund hierfür waren alliierte Skepsis, Gerüchte und auch Unkenntnis über die „passé politique aventureux“41 von Elisabeth Noelle und Erich Peter Neumann, den die französischen Besatzungsbehörden fehlerhaft als Redakteur des KPD-Organs Rote Fahne bis 1933 und später der Frankfurter Zeitung verorteten. Gleichwohl stellte Bernhard Lahy als Leiter der innerhalb der Organisationseinheit „Education Publique“ verankerten „Section d’Enquête Pédagogique“ 1946 Noelle, „la meilleure specialiste allemande des problèmes de sondages“, für die „collaboration scientifique“ an.42 Zuvor war Lahy, der sich an Konzepten des kommunistischen Kinderpsychologen und Neurologen Henry Wallon orientierte, an der Auswertung von Massentests bei mehreren tausend Schülerinnen und Schülern der französischen Besatzungszone, einer Mischung aus individualpsychologischer Leistungsdiagnostik und quantitativer Einstellungsforschung, gescheitert. Noelle übernahm die Spezialabteilung für standardisierte Jugendumfragen, mit denen ebenfalls Einstellungen zum Nationalsozialismus und zur westlichen Demokratie unter39 UAF, Abt. 1, Nr. 76, Bl. 254 – 255: Großhessisches Staatsministerium, Der Minister für Wiederaufbau und politische Befreiung, an die Herren Rektoren der Technischen Hochschule in Darmstadt, Universität Frankfurt am Main, Hochschule für Naturwissenschaften Giessen, Universität Marburg, Statistische Landesamt Wiesbaden, Landesamt für Bodenforschung, die Herren Regierungspräsidenten Darmstadt, Wiesbaden, Kassel, vom 26. 8. 1946; ebd., Bl. 257: Der Rektor der Goethe-Universität an Heinz Sauermann: Bitte um Wahrnehmung des Sitzungstermins am 20. 9. 1946; ebd., Bl. 264: Rundschreiben No. 1/47, Der Rektor der GoetheUniversität vom 27. 1. 1947. 40 Allensbacher Archiv: O. W. Riegel, Report on a Survey of Public Opinion Research and Training in West Germany, June-September 1950. October 30, 1950, S. 92. Vgl. Schaefer/ Miller; Weischer, S. 17 f.; Meyen. 41 Archives de l’Occupation Française en Allemagne et en Autriche (AdO) Colmar, Affaires Culturelles 76/2b: Bernhard Lahy an Raymond Schmittlein vom 5. 5. 1947. 42 Ebd.: Tätigkeitsbericht No. 4, 15. 4. 1946: Bernhard Lahy an Raymond Schmittlein vom 31. 3. 1947.
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sucht wurden, und avancierte bereits 1947 zur „Directrice de l’Institut für psychologische und soziometrische Forschungen“, wie das im selben Jahr alternierend auch bereits als IfD bezeichnete Allensbacher Institut zunächst hieß.43 Von den hochfliegenden Plänen Lahys, ab 1947 ein Netz europäischer Umfrageinstitute aufzubauen, distanzierte sich Noelle spätestens im Sommer 1948, indem sie schon knapp zwei Jahre vor Beginn der demoskopischen Beratung für die Bundesregierung Konrad Adenauers eigene Umfrageaufträge einholte. 1948 führte das IfD die erste zonenübergreifende Umfrage zur Resonanz der Währungsreform im Auftrag des Wirtschaftsdirektors des vereinigten Wirtschaftsgebiets, also Ludwig Erhards, durch.44 Ein Jahr später folgten vier Befragungen in der gesamten Westzone: für Reemtsma zur Markenwahl beim Rauchen, für die Tageszeitung Die Welt zur Erforschung der Leserschaft, für die Hauptlenkungsstelle Fischwirtschaft der deutschen Verwaltung für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten und für das NWDRNachtstudio um Ex-Reich-Redakteur Jürgen Schüddekopf zum Goethe-Jubiläumsjahr 1949.45 Auftraggeberforschung bedeutete für Noelle von Anfang an die Eröffnung von Spielräumen bei quantitativen Umfragen.46 Dabei profitierte sie bei der Erlangung von Aufträgen zur Zeitungsleserforschung und Marktforschung mitunter von den Verbindungen aus ihrer Zeit als Journalistin, während Erich Peter Neumann nicht nur mit ehemaligen Mitgliedern bei der Propagandakompanie der Wehrmacht, für die er gearbeitet hatte, bei der politischen Demoskopie- und Kommunikationsberatung kooperierte,47 sondern auch mit ehemaligen Kommunisten und Linken. Das IfD war gerade zu Beginn seiner Existenz kein vorrangig CDU-nahes Institut. Aufgrund ihrer Verbindungen zu Carlo Schmid in Tübingen, einem Spätmitglied im George-Kreis, fragten Noelle und Neumann zunächst SPD-Kreise an, ob demoskopische Untersuchungen politisch verwendet werden konnten.48 Zudem drängte Noelle von Anfang an auf eine wissenschaftliche Anschlussfähigkeit der Demoskopie, zunächst ab 1947 – im Zuge der Kooperation bei den Studentenbefragungen – an den psychologischen Instituten der Universitäten Tübingen und Freiburg (Prof. Robert
43 Allensbacher Archiv, IfD-Bericht 12: Jugend nach dem Krieg. Umfragen 1947 – 48. Eine erste Skizze zur Gründungsgeschichte des IfD bietet nach wie vor: Vaillant, NL EN, Institutsgeschichte früh, Bescheinigung von Bernard von Lahy, Chef des Services d’Enquetes Pédagogiques, 7. 10. 1947. 44 Allensbacher Archiv, IfD-Berichte 2 und 3: Sonderumfrage Währungsreform I 26. – 30. Juni 1948; II: 17. – 22. Juli 1948 im Auftrag Ludwig Erhards. 45 IfD-Bericht 22/I-III: Goethe 1949. Funkbearbeitung einer Massen-Umfrage in drei Teilen von Hans Georg Brenner, Erich Peter Neumann und Elisabeth Noelle; IfD-Bericht 36: Die Welt. Bericht über eine Leser-Umfrage, Oktober 1949; IfD-Bericht 27: Der Fischkonsum in Westdeutschland. II. Befragung der Großverbraucher. Grundergebnisse einer VerbraucherAnalyse, im Auftrag der Hauptlenkungsstelle Fischwirtschaft der Verwaltung für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten (VELF), Juli 1949. 46 Noelle, Die Erinnerungen, S. 156 – 163. 47 Weiß, S. 257 f., 261, 281. 48 Raulff, S. 376, 456 – 458; Noelle-Neumann, Die Erinnerungen, S. 138 – 140, 173.
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Heiß), später auch beim politikwissenschaftlichen Lehrstuhl Arnold Bergstraessers.49 Auch das Allensbacher Institut sah sich in der Funktion, Demokratieforschung zu betreiben und so „permanente Kontrolle über eventuell vorhandene Radikalisierungstendenzen auszuüben.“50 Dabei ging das IfD von einem erheblichen Wissensdefizit gegenüber dem demokratischen System in der Bundesrepublik aus und führte dies, darin dem Horkheimer-Kreis ähnlich, auf „Nachwirkung des Dritten Reiches“ und auf eine spezifisch deutsche Mentalität zurück.51 3. Kooperationen zwischen IfS und IfD Die in der Forschungsliteratur hervorgehobene „kooperative Atmosphäre“ in den frühen 1950er Jahren, wonach Remigranten und während des Nationalsozialismus tätige Sozialforscher zum Zweck eines demokratischen Neuanfangs in Westdeutschland zusammenarbeiteten,52 trifft auch auf das IfS und das IfD zu. Ein Beispiel hierfür ist die gemeinsame Beteiligung an einer von der Ford Foundation mit 93.000 Dollar unterstützten internationalen Umfrage zu Demokratie-Einstellungen von Lehrpersonen und zur internationalen (westlichen) Verständigung, das sogenannte „Oslo-Projekt“.53 An diesem vom Central Office at the Institute of Social Research in Oslo koordinierten Projekt waren Umfrageinstitute aus sieben westeuropäischen Ländern beteiligt, um westeuropäische Teilöffentlichkeiten sozialempirisch zu erfassen. Die langjährigen Beziehungen zwischen dem IfS und dem IfD zeigten sich in weiteren gemeinsamen Auftritten bei der 1952 gegründeten Bundeszentrale für Heimat49
Über die promovierte Psychologin Hildegard Hiltmann, seit 1961 außerordentliche Professorin der Abteilung „Angewandte Psychologie“ der Universität Freiburg, stand Noelle 1947/48 im wissenschaftlichen Austausch mit dem Freiburger Lehrstuhl-Inhaber für Psychologie und Philosophie, Professor Robert Heiss, dessen Schüler Ludwig von Friedeburg 1949 ins IfD kam. Vgl. NL EN, Institutsgeschichte, Elisabeth Noelle an Hildegard Hiltmann vom 14. 7. 1947; ebd., Hildegard Hiltmann an Elisabeth Noelle vom 16. 8. 1947. Zur geplanten Kooperation mit Bergstraesser vgl. Allensbacher Archiv, Vorschläge zur Errichtung einer Forschungsstelle für empirische Sozialwissenschaften an der Universität Freiburg, 15. 10. 1960. 50 Allensbacher Archiv, IfD-Bericht 69: Adenauer in der öffentlichen Meinung. Das Echo der Politik des Bundeskanzlers. Januar – Juli 1950, S. 2. 51 Ebd., IfD-Bericht 261: Monate der Entscheidung. Die Stimmung vor den Bundestagswahlen (I). Juli 1953, S. 3. 52 Weischer, S. 70. Nach Adamski, S. 145, endete diese „neutrale Phase der gegenseitigen Duldung“ 1955 mit der Wahl von Helmuth Plessner zum Vorsitzenden der Deutschen Gesellschaft für Soziologie. 53 Archiv IfS, S 1: „Memoranden, Aufsätze (1950 – 1953)“ (37): Institut für Sozialforschung an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt, Germany, Memorandum, undatiert, Bl. 1 – 13, hier: Bl. 6; Allensbacher Archiv, IfD-Bericht 241: Zur Situation der Lehrerschaft in Westdeutschland. Rohbearbeitung für Rundfunkzwecke. Dazu der IfD-Pressedienst „Studium der Sozialgruppen. Deutsche Beteiligung an internationalem Forschungsprojekt“, o.D.
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dienst zum Zweck der Bildung eines demokratischen Bewusstseins und einer präventiv angelegten Aufklärung über Antisemitismus. Wie dabei Erkenntnismöglichkeiten der empirischen Sozialforschung herangezogen werden könnten, sollten etwa Erich Peter Neumann und Horkheimer auf Arbeitstagungen der Bundeszentrale 1952 und 1953, an denen auch Otto John vom Bundesverfassungsschutz teilnahm, vorstellen.54 Beide Institute, IfS wie IfD, verstanden sich dezidiert als Agenturen für die Leitung von Bildungsprozessen innerhalb der westdeutschen Gesellschaft. So verwundert nicht, dass Neumann und Hellmut Becker gemeinsam mit hochrangigen Unternehmern, Bildungsexperten und Publizisten ab etwa 1957 Chancen für Bildungsreformen durch Einstellungsbefragungen der Bevölkerung für den sogenannten „Ettlinger Kreis“ erkundeten.55 Außerdem projektierten beide Institute 1953/54 gemeinsam für das Bundeskanzleramt Befragungen künftiger Offiziere im Zuge der Wiederbewaffnung und Gründung der Bundeswehr. Bei dieser sogenannten „Auswahlstudie“ ging es ebenfalls um die Nutzung sozialempirischer Daten zur Untersuchung von Bildungsprozessen und sozialpsychologischen Dispositionen von jungen, für die geplante neue westdeutsche Armee rekrutierungsfähigen Männern gegenüber bundesrepublikanischer Demokratie und Wehrbereitschaft. Wenngleich lediglich Vorarbeiten zu diesem Projekt entstanden, u. a. aufgrund der ungeklärten Finanzierung, so ist die Kooperation zwischen IfS und IfD auch bei politischen Auftraggebern, in diesem Fall für die prä-ministeriale „Dienststelle Blank“ zum Aufbau einer bundesrepublikanischen Armee, offenkundig.56 Empirisches Material aus Allensbach war in Frankfurt noch um 1960 Ausgangspunkt eigener Sozialforschungen, so in der Studie „Student und Politik“, als das Autorenkollektiv um Habermas und Friedeburg Allensbacher Fragen zu politischen Wissenszusammenhängen und Gesprächsthemen für ihre gesellschaftspolitische Typologisierung von Frankfurter Studenten verwandte.57 Defizite bei den politischen Wissenserkundungen wurden als schwache demokratische Verankerung in der Bevölkerung gedeutet. Zwar trugen diese Wissensfragen nach Habermas, Friedeburg und ihren Mitstreitern zur Fingierung eines Normalverhaltens bei, die zur politischen Beteiligung und über den politischen Habitus noch nicht viel aussagten, sodass sie 54
NL EPN, Schriftwechsel Bonn A – L, Korrespondenz Neumanns mit Paul Franken und Dr. Jacobsen von der Bundeszentrale für Heimatdienst, etwa vom November und vom 6. 12. 1952. Die Tagung fand am 4./5. Mai 1953 statt. Zur Gründung der Bundeszentrale vgl. Hentges, ohne dass die Kooperation mit IfS und IfD thematisiert wird. 55 NL EPN, Brieftagebuch, 1. 1. – 31. 5. 1958: Brief von Carl Wurster (BASF) an Direktor Hans Freudenberg, Professor Hans Heckel, Erich Peter Neumann (Allensbach) und Georg Picht (Birklehof) vom 30. 1. 1958, mit Teilnehmerliste des letzten Treffens und Vorschlägen zur Linderung von Notständen im Erziehungs- und Bildungswesen. Allensbacher Archiv, IfDBericht 645: Studien zur Schulfrage (I). Ergebnisse von Bevölkerungsumfragen im Frühjahr 1958 für den Ettlinger Kreis (Dr. Ing. e.h. Hans Freudenberg). Bergmann, S. 120. 56 Vgl. Hellmut Becker an Max Horkheimer vom 18. 5. 1953; Max Horkheimer an Theodor W. Adorno vom 19. 6. 1953; Theodor W. Adorno an Max Horkheimer vom 4. 1. 1954, in: Gödde/Lonitz, S. 209 – 211, 245 f., 867. 57 Habermas et al., vor allem S. 62 – 67.
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die empirisch-quantitative Ebene mit Aussagezitaten aus qualitativen Interviews mit Studierenden ergänzten. Dennoch zeigte sich eine Anknüpfung an die Allensbacher Konzeption der Vermessung politischer Einstellungen, die auch im Zentrum der politischen Beratung für das BPA stand.58 Höhepunkt und zugleich auch erster Wendepunkt der Kooperationen zwischen IfD und IfS ist Noelles Habilitationsvorhaben über Methoden und Anwendung von Repräsentativbefragungen an der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Frankfurt. Das besonders von Horkheimer seit Beginn der 1950er Jahre unterstützte, jedoch vermutlich von Adorno kritisierte Manuskript, nutzte Noelle als Ausgangspunkt für ihr 1963 bei Rowohlt erschienenes Methodenbuch Umfragen in der Massengesellschaft. Nach dem zurückgezogenen Habilitationsvorhaben, das Adorno gerne unter Berücksichtigung der Frankfurter Kritik fortgesetzt haben wollte, erfolgte 1954 der Austausch leitender wissenschaftlicher Mitarbeiter: der Allensbacher Demoskop Ludwig von Friedeburg wechselte nach Frankfurt und Gerhard Schmidtchen sowie Diedrich Osmer, ein Jugendfreund Noelles, traten den umgekehrten Weg nach Allensbach an.59 Diese Prozesse deuteten neben Nähen zugleich Friktionen im wissenschaftlichen und auch persönlichen Verhältnis zwischen Noelle und Adorno an. In Noelles Autobiografie von 2006 wertete sie die Bemühungen Adornos um eine Veränderung der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft im Sinne einer westlich-liberalen Demokratie zwar als „außerordentliche Leistung“, stellte jedoch zugleich seinen Charakter als „unmöglich“, eiskalt, somit egoistisch und unseriös dar.60 Diese auch emotional gefärbte Haltung Noelles gegenüber Adorno war vermutlich die Folge seiner Kritik an ihrer Habilitationsschrift.61 4. Idiomatische Überschneidungen trotz theoretischer Divergenzen: Präferenz für qualitative Methoden als gemeinsamer Ausgangspunkt Werden die skizzierten institutionellen Kooperationen auf die Ebene der Idiome verlagert, wird deutlich, dass die Repräsentanten beider Institute gemeinsame sprachliche und damit gedankliche Horizonte ausgebildet hatten. Sehr unterschied58
Allensbacher Archiv, IfD-Bericht 504: Die Meinung über Bonn. Information und Urteil der Öffentlichkeit über Bundesregierung, Parlament und Parteien 1951 – 1956. 59 Noelle-Neumann, Die Erinnerungen, S. 194 f., 204. 60 Ebd., S. 190 – 193. 61 Vgl. Archiv IfS, Adorno-Korrespondenzen L (1950 – 1960), 12: Tätigkeitsbericht des Instituts vom 28. 8. 1953: Laufende Projekte des IfS, Bl. 1 – 5: Gruppenstudie, Oslo-Studie, Praktikums-Untersuchung, „Auswahl-Studie“ (Amt Blank), hier: Bl. 4 – 5: Eingereichte Habilitationsschriften: Elisabeth Noelle-Neumann: „Der Begriff des Mehrzahlbereiches und seine Bedeutung für die demoskopische Methode“. Aus diesem Bericht geht hervor, dass sich die Habilitation verzögerte. Vermutlich werden die Einwände Adornos die Ursache dafür gewesen sein.
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liche Bedeutungen hatten für Noelle und Adorno allerdings Begriffe wie ,Durchschnitt‘, ,Querschnitt‘ und ,Meinung‘; ,Durchschnitt‘ war für Adorno kein Methodenbegriff und auch keine Analysekategorie, sondern ein negativ wertender Begriff. Ähnlich stand für ihn auch ,Meinung‘ für Vagheit, Unschlüssigkeit, Nicht-Fixierbarkeit, Opportunismus und Ungebildetheit.62 ,Repräsentativer Querschnitt‘ meinte in Allensbach dagegen die sozialstatistische Abbildbarkeit großer Bevölkerungsgruppen durch Quota-Auswahl bei der Stichprobenbildung, und ,Meinung‘ bedeutete für Noelle sowohl Nachahmung und Anknüpfung an ein sozio-kulturelles Meinungsklima als auch Ausdruck von Redebereitschaft, die wiederum Persönlichkeitsstärke signalisieren könne.63 Dennoch finden sich idiomatische Überschneidungen im Hinblick auf die Kritik an der mentalen Haltung der westdeutschen Bevölkerung. Formen der Meinungsnachahmung hielten nach Noelle die Gesellschaft zusammen, drückten sich etwa in geteilten Vorstellungen und Werteinstellungen aus, waren aber letztlich auch Ausdruck einer unsicheren Umweltbeobachtung der meisten Menschen, wenn sie sich mit ihren Ansichten sozio-kulturell isoliert fühlten.64 Hier findet ein sowohl von Adorno als auch von Noelle gepflegter kultur-elitärer Ansatz sprachlichen Ausdruck, der in dieser Zeit als ein gemeinsamer Nenner idiomatisch-habitueller Art zwischen IfS und IfD anzusehen ist. Diese gemeinsam verwendeten, jedoch mit unterschiedlichen Bedeutungen belegten Begriffe gingen in beiden Instituten in den 1950er Jahren mit ausgesprochen experimentellen, auch widerspruchsvollen methodischen Verfahrensweisen einher. Selbst wenn Adorno quantitative Repräsentativbefragungen fortwährend kritisierte, wandte er sie gleichwohl zur Deutung des Sozialen an – zum einen aufgrund der Abhängigkeit der am IfS durchgeführten sozialempirischen Untersuchungen von Auftraggebern aus Politik und Industrie, zum anderen aufgrund seiner in den 1940er und 1950er Jahren intendierten Zusammenführung von qualitativen und quantitativen Verfahren durch eine Umklammerung mit kritischer Theorie. Der empirischen Sozialforschung sei, so Adorno 1951, ein demokratisches Potential zuzuschreiben, das die Nationalsozialisten ausgenutzt und pervertiert hätten.65 In solchen Aussagen steckt einerseits ein gewisser, auf die mögliche Demokratisierung der Deutschen bezogener Optimismus, der sich mit Adornos an Thomas Mann gerichteter Aussage, „noch im Negativen zu differenzieren“, deckt.66 Andererseits lassen sich gewisse Widersprüche zu früheren heftigen Kritiken Adornos gegenüber der empirischen Sozialforschung nicht ignorieren, etwa als er für Paul Lazarsfeld im Radio-Princeton Projekt in New Jersey gearbeitet und einige Zeit später die „administrative research“ der empirischen Forschungstechniken als eine „fetischistische Apparatur“ abgetan
62
Adorno, Meinung. Noelle-Neumann, Der selbständige Mensch, Noelle, Umfragen, S. 132 – 146. 64 Noelle-Neumann, Schweigespirale. 65 Adorno, Zur gegenwärtigen Stellung, S. 478 – 480. 66 Zitiert in: Jäger, S. 229. 63
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hatte.67 Horkheimer und Adorno waren sich einig darin, dass letzten Endes nur durch eine kritische, auf die Gesellschaft als Ganzes bezogene Philosophie das demokratische und emanzipative Potential der empirischen Sozialforschung zu entfalten sei. Ihre Prämisse, was „gut und böse ist, lässt sich nur aus der Theorie ableiten“,68 sollte auch beim „Gruppenexperiment“ richtungsweisend sein. Diese Grundannahme einer kapitalismus- und herrschaftskritischen Gesellschaftstheorie, die Realität nicht nur abbilden, sondern von einem kritischen Standpunkt aus beschreiben und im sozialistischen Sinne zu einer gerechteren Gesellschaft führen soll, hatte Horkheimer in seinem bekannten Aufsatz über „Traditionelle und kritische Theorie“ von 1937 dargestellt.69 In dem 1950/51 durchgeführten „Gruppenexperiment“ sollten im Anschluss an die Studien über Antisemitismus in den Vereinigten Staaten die politisch-ideologischen Haltungen der Westdeutschen gegenüber Demokratie, den US-amerikanischen Besatzungsbehörden, Militarismus und Nationalsozialismus vermessen werden, um „die transsubjektiven Faktoren“ zu identifizieren, die sich in der politischen Meinung und den ethischen Einstellungen des westdeutschen Individuums manifestierten.70 Bei diesem Projekt mussten laut Horkheimer und Adorno spezifische methodische Umwandlungen vorgenommen werden, um der sozialen, politischen, mentalen und wirtschaftlichen Situation in Westdeutschland in den frühen 1950er Jahren gerecht zu werden. Aus diesem Grund nutzten Horkheimer, Adorno und Pollock das IfS als Ort für Gespräche mit deutschen Sozialwissenschaftlern über Methoden und Theorie.71 Es sollte, so Heinz Sauermann von der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät Frankfurt, eine bestimmte Diskussionsatmosphäre geschaffen werden, um die vermeintlich ehrliche Meinung aus der Bevölkerung heraus zu bekommen.72 Zu diesem Zweck entwickelten der Horkheimer-Kreis und seine deutschen Kooperationspartner um Sauermann, Neundörfer und Gerhard Wurzbacher die Idee, einen Grundreiz zum Einsatz zu bringen. Entsprechend wurde beim „Gruppenexperiment“ den interviewten Gruppen im Sinne eines Reiz-Reaktionsschemas ein fiktiver Bericht eines „Colburn“ genannten US-amerikanischen Offiziers auf einem Tonband abgespielt, um dadurch die Diskussionen anzufachen.73 Die von Horkheimer als „highest developed empirical research methods of the modern Ame67
Vgl. Fleck, S. 276 – 277, 284 – 296, 330. Theodor W. Adorno an Max Horkheimer vom 30. 12. 1944. Zitiert in: Ziege, S. 259. 68 Zitiert in: Jäger, S. 232. Vgl. Archiv IfS, S 1: Tagungen 1950 – 1961, Ordner 1: 1950 – 1952, Besprechung am 28. und 29. Juni (Protokoll von Fr. Bühler, 1950?), Bl. 1 – 19, hier: Bl. 9. 69 Horkheimer, Traditionelle und kritische Theorie. 70 Gruppenexperiment, S. 34. 71 Archiv IfS, S 1: Tagungen 1950 – 1961, Ordner 1: 1950 – 1952, Besprechung am 28. und 29.6. (Protokoll von Fr. Bühler, 1950?), Bl. 1 – 19, hier: Bl. 9. 72 Ebd., Bl. 7. 73 Ebd., Bl. 9. Vgl. Klingemann, Die Verweigerung, S. 491 – 492. Vgl. auch Noelle, Umfragen, S. 46. Noelle verstand das Interview als „Reaktions-Experiment“.
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rican social sciences“ angepriesenen empirisch-sozialwissenschaftlichen Verfahrensweisen waren Produkte von Verschmelzungsprozessen deutscher Ansätze und US-amerikanischer Methoden der empirischen Sozialforschung und Sozialpsychologie.74 Im Sinne der Zusammenführung von quantitativ erhobener empirischer Datenbasis und kritisch-qualitativer Auswertung75 sollten die Daten aus den empirischen Feldforschungen in einen Sinnzusammenhang gestellt werden, an welchem sich die „qualitativen Monographien“ orientierten. Hierbei zeigte sich die Diskrepanz zwischen Adornos philosophisch-phänomenologischer Typenbildung des „autoritären Charakters“ und den empirisch fassbaren Typen von Einstellungen. Die von Adorno veranlassten laufenden Umarbeitungen, Erweiterungen oder Änderungen der verschiedenen Skalen und der Kriterien für die quantitative Auswertung wirkten sich erschwerend auf die Forschungspraxis aus.76 Ausschlaggebend hierfür war Adornos Kritik an den quantitativen Auswertungsverfahren, die bei diesem Projekt zur Anwendung kamen, denn für ihn verzerrte die quantifizierende Methode soziokulturelle Einstellungen und verharmloste etwa den Komplex des Antisemitismus. Eine adäquate Beurteilung des quantitativen Materials sei eigentlich nur denjenigen möglich, so Adorno, die den Vorgang des Codierens, also der Zuordnung der Antworten der Befragten zu vorher festgelegten Kategorien, aus eigener Erfahrung kennen würden.77 Für Adorno stand fest, dass nur ein erfahrungsgeleiteter qualitativer Zugriff ein Verständnis des quantitativen Materials erlauben würde. Allerdings verfügte er nicht über das Wissen, eine wirklich interdisziplinäre Methodologie zu konzipieren, in der philosophisch-kritisches Denken den Forschungstechniken den Weg wies. Die Frage, „[w]ie soll man ,Ideologien‘ in research terms fassen?“, die sich die Mitarbeiter des „Gruppenexperiments“ stellten, blieb ohne befriedigende Antwort,78 so dass die nahtlose Zusammenführung von empirischen Methoden und gesellschaftstheoretischer Perspektive nach Ansicht von Adorno und einigen seiner Mitarbeitern als letztlich gescheitert anzusehen ist. Methodologisch gesehen, vor allem aus Sicht geschulter Empiriker, waren sowohl die F-Scale, die in den Vereinigten Staaten ent74
Archiv IfS, Projekte 2 (1), Gruppenexperiment/Gruppenstudie: Entwurf vom 2. 10. 1952, Staff Meeting Gruppenstudie, und Plessner, v. Schlauch: Bl. 1 – 4, hier: Bl. 1 – 2. Vgl. Fleck, S. 381 – 382; Ziege, S. 48 – 49. 75 Archiv IfS, S 1: Tagungen 1950 – 1961, Ordner 1: 1950 – 1952: Protokoll der Sitzung vom 1. März 1957: „Zum Verhältnis von Soziologie und empirischer Sozialforschung“. Anwesende: Prof. Adorno, Dr. Dahrendorf, Dr. v. Friedeburg, Prof. Gunzert, Dr. Habermas, Prof. Lieber, Dr. Noelle-Neumann, Dr. Popitz, Prof. Stammer, Bl. 1 – 29, hier: Bl. 24 – 25. 76 Vgl. stellvertretend ebd., Projekte 2 (6): Gruppenexperiment/Gruppenstudie: Interview Schema für Einzel-Interviews, 4. 1. 1950, Bl. 1 – 2. 77 Ebd., Projekte 2 (1), Gruppenexperiment/Gruppenstudie: Bericht über die Sitzung vom 8. 7. 1952, Bl. 1 – 2: Thema: Gruppenstudie, quantitativer Teil und Termine, anwesend: Adorno, Gretel Adorno, Osmer, Beier, Freedman, v. Hagen, Koehne, Dr. Maus, Sardemann, Schmidtchen, Dr. Sittenfeld, hier: Bl. 1. 78 Ebd.: Entwurf, 2. 10. 1952, Staff Meeting Gruppenstudie, und Plessner, v. Schlauch, Bl. 1 – 4, hier: Bl. 1 – 2.
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wickelte Skala zur Messung autoritärer Charakterzüge, als auch andere Instrumente nicht brauchbar, weil sie von der subjektiven Interpretation des jeweiligen Forschers nicht getrennt werden konnten.79 Die gemischte Anwendung qualitativer und quantitativer Verfahren war nicht nur für das IfS, sondern auch für das IfD kennzeichnend. Parallel zu Entwicklungen standardisierter Fragemodelle, die Elisabeth Noelle etwa ab 1970 sukzessive mit ihrer „Theorie der Schweigespirale“ zur Erkundung des sogenannten Meinungsklimas verfeinerte,80 hatte Allensbach lange eine Präferenz für offene Fragen. Antworten auf offene Fragen wurden nach Vercodungen zwar quantitativ ausgewertet, doch zugleich enthielten zahlreiche Umfrageberichte einen großen Umfang an Originalantwortzitaten, die von den Interviewten gegeben wurden. Man wollte „im groben Umriss […] erkunden, wie [Hervorhebung N.G.] gewisse Themen in politisch interessierten Bevölkerungsgruppen […] zur Zeit besprochen werden.“81 Während quantitativ erfasste Häufigkeiten von Fragebogenantworten lediglich aufzeichneten, was die Befragten im Interview zum Ausdruck brachten, sollte durch offene Fragen auch die Performanz der Meinungsäußerung erfasst werden. So sei zu ermitteln, wie festgefügt, emotionalisiert, desillusioniert oder überzeugungsfreudig auch Minderheitspositionen sein konnten. Duktus und Tonalität der Meinungskundgabe waren zwar keine vom IfD methodisch definierten Begrifflichkeiten. Doch implizit wurde die Relevanz offener Fragen und Antworten im Fragebogen auf diese Weise begründet, dass sie Hinweise für die zugrundeliegende Motivation der Meinungsbildung schlechthin boten. Durch Wiedergabe wörtlicher Antworten werde „das plastische Bild des Ur-Materials“ dokumentierend wiedergegeben.82 Idiomatische Begrifflichkeiten zur Beschreibung von sozialempirischen Methoden, wie die Quantifizierbarkeit eines repräsentativen Quer- oder Durchschnitts der Bevölkerung durch standardisierte Fragebögen, hatten in dieser Phase also noch nicht die ausschließliche Gültigkeit in Allensbach, die sie in den Folgejahren erhalten sollten. Demnach wurden zu Beginn der 1950er Jahre auch in Allensbach quantitative beziehungsweise standardisierte Auswertungsverfahren als nicht hinreichend für diese gleichsam als authentisch aufgefassten Nuancen und Facettenkombinationen der Meinungskundgaben eingestuft. Hinter diesen Vorbehalten stand eine etwa bei Erich Peter Neumann – darin Siegfried Kracauers Studie Die Angestellten von 1930 ähnlich – bereits 1932 in seinen Artikeln für Die Weltbühne erkennbare Vorstellung vom „kleinen Mann“ als Dokumentarist der Wirklichkeit, da diese Sozialfigur
79
So Hofstätter. Noelle-Neumann/Petersen, S. 14, 294 f., 528 f. 81 Ebd.; IfD-Bericht 394/I: Die Stimmung in Niedersachsen (1) Februar 1955. Auszüge aus einer Leitstudie im Auftrag des BPA, S. II. 82 Allensbacher Archiv, IfD-Bericht 32: Markt-Analyse der Reemtsma Cigarettenfabriken GmbH Hamburg-Wandsbek, 1949, S. 2. 80
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die Wirklichkeit wahrhaftig und naiv beobachte und zugleich davon geprägt sei.83 Diese in Neumanns journalistischen Sozialreportagen durch Wiedergabe von ausführlichen Zitaten zum Sprechen gebrachte Sozialfigur kehrte in Allensbacher Umfrageberichten der 1950er Jahre wieder. Mit dem Abdruck von Originalantworten der Befragten legitimierte sich Demoskopie als Demokratiewissenschaft und entkräftete den „Einwand, dass die Umfrage-Methode den Menschen zur statistischen Figur erniedrige […]; denn im Zusammenhang kommt der Mensch zu Wort, wo er sonst keine Stimme hat.“84 In den frühen 1950er Jahren waren Noelle und Neumann ähnlich wie Adorno durchaus skeptisch gegenüber der ausschließlichen Quantifizierbarkeit des Sozialen. Entsprechend enthielten frühe Umfrageberichte nicht nur statistische Auswertungen, sondern waren teilweise essayistisch und literarisch aufbereitet, etwa als Hörspiele für den Nordwestdeutschen Rundfunk (NWDR).85 Ähnlich der Gruppenstudie des IfS hatten diese Praktiken experimentellen Charakter. Schon in ihrer 1940 publizierten Dissertation notierte Noelle, dass Deutschland und Europa zu sehr durch Individualismus und Persönlichkeit und zugleich durch Gemeinschaft geprägt seien, so dass die Vielfalt der Meinungen, der „Stammeseigenschaften“ und Bildungsschattierungen selbst mit offenen Fragebogenfragen kaum einzufangen seien.86 Quantitativ auswertbare Repräsentativbefragungen seien, so Noelles 1940 geäußerte Skepsis, eher in der als kulturell nivelliert aufgefassten US-amerikanischen Massengesellschaft anwendbar. Entsprechend lehnten die Allensbacher ab, sich in der Nachfolge des Gallup-Instituts zu sehen: Das IfD sei „nicht […] entstanden, amerikanische Vorbilder zu kopieren.“87 In dieser „Germanisierung“ US-amerikanischer Umfrageansätze liegt wiederum eine idiomatische Homologie zum IfS vor, da auch Horkheimer, Pollock und Adorno keineswegs beabsichtigten, die US-amerikanischen Methoden einfach als solches auf Untersuchungsgegenstände in Westdeutschland zu projizieren, sondern die Methoden den historisch gewachsenen Forschungsgegenständen anzupassen. Offene Fragen blieben über die Jahrzehnte kennzeichnend für Allensbacher Fragebögen, obwohl sie zunehmend standardisiert ausfielen. Denn quantitative Ergebnisse
83
Neumann, Fünfundzwanzig, S. 559 f. Zu Neumanns großer Wertschätzung für Kracauers Studie „Die Angestellten“ vgl. Grube, Deutschlandkonzepte, S. 315 f. und zuletzt Später, S. 525 f. 84 Allensbacher Archiv, IfD-Bericht 29: Das Jahr I. Irrtum und Prophetie der öffentlichen Meinung. Juni 1949, S. II. 85 Ebd., IfD-Bericht 84: Gespräch über Träume. Ein Umfrage-Experiment, Februar/März 1950; ebd., IfD-Bericht 91: Erich Peter Neumann, Der Konsumroman. Hörfolge. Außerdem der o.g. IfD-Bericht 22/I-III: Goethe 1949. Funkbearbeitung einer Massen-Umfrage in drei Teilen. 86 Noelle, Meinungs- und Massenforschung, S. 22, 133, vgl. auch ebd., S. 73, 79 und 81. 87 Allensbacher Archiv, IfD-Bericht 69: Adenauer in der öffentlichen Meinung. Das Echo der Politik des Bundeskanzlers. Januar-Juli 1950, S. 2.
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waren durch ihre Visualisierungsoptionen88 im Tabellenformat und vor allem in Trendgraphiken für Verwertungen durch Medien und in der Politikberatung nutzbar.89 Gerade in der Markt- und Hörerforschung setzten sich standardisierte und leicht quantifizierbare Fragen durch: sie waren kostengünstiger und – zumal mit zunehmender Technisierung – schneller auszuwerten. Auch durch die in Allensbach so aufgefasste Konkurrenz von Seiten der qualitativ ausgerichteten sogenannten Motivforschung Ernest Dichters entwickelte das IfD quantifizierbare Frageinstrumente, die wiederum auf der Adaption individualpsychologischer Testverfahren beruhten, etwa des Rorschach-Tests, Satzergänzungstests oder Dialogfragen mittels Bildblattvorlagen.90 Solche Konkurrenz fasste das Allensbacher Institut eher als methodische Herausforderung auf, weniger als Anreiz zur genuin theoretischen Konzeptualisierung. Theoretische Verortungen, wie etwa zur „Schweigespirale“, nahmen in Allensbach vor allem in methodischen Reflexionen ihren Ausgangspunkt. Grundlegende Unterschiede in den Idiomen beider Institute lagen in den jeweiligen theoretischen Grundüberzeugungen selbst und in der vom Horkheimer-Kreis vertretenen absoluten Dominanz von Theorie über empirische Sozialforschung, die jener trotz Annäherung an ausgereifte empirische Methoden niemals aufgegeben hatte. Auch der Praxisbegriff des IfS war letzten Endes von dieser theoretischen und gesellschaftskritischen Perspektive bestimmt. Dieses philosophische Idiom war ausgesprochen esoterisch. Schon in seiner Antrittsvorlesung von 1931 richtete sich Horkheimer gegen fast alle zeitgenössischen philosophischen Strömungen. Er setzte sich gegen die als Bestätigung des Status quo apostrophierte Wissenssoziologien Karl Mannheims und – trotz geringer Kenntnis – Max Schelers ab, verwarf den seiner Ansicht nach ins Metaphysische gekehrten Logischen Empirismus und lehnte Lenins allzu simple Festlegung auf materialistische Wahrheit ab. Entwürfe einer neuen Metaphysik, wie sie Fundamentalontologen und Lebensphilosophen veranschlagten, trafen gleichermaßen auf Horkheimers scharfe Kritik.91 Das von Horkheimer etablierte philosophische Idiom des IfS konstituierte sich dagegen aus der Annahme, die bürgerliche Gesellschaft sei von in sich widersprüchlichen Prozessen gekennzeichnet, und aus dem marxistischen Axiom von der Ungleichheit der Herrschaftsverhältnisse. Beide Annahmen verknüpfte Horkheimer mit der Psychologie Freuds: ungleiche Herrschaftsverhältnisse ließen sich so als Ausformungen unterdrückter Triebhaushalte auffassen.92 Gesellschaftskritisch war man in Allensbach insofern, als dass Noelle und Neumann von einer Anfälligkeit der öffentlichen Meinung durch mediale Verführung ausgingen. Insbesondere Noelle und Schmidtchen sahen in der Methode der Reprä88
Tanner. NL EPN: Erich Peter Neumanns Bericht „Am 29. März 1963 bei Adenauer in Cadenabbia“, S. 5 f. 90 Noelle-Neumann, Motivforschung; Ring. 91 Abromeit, S. 143 – 156, 249 – 251. 92 Horkheimer, Die gegenwärtige Lage. 89
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sentativbefragung jedoch ein Instrument, das administrative und politische Instanzen über Entwicklungen, die nicht selten als fehlerhaft wahrgenommen worden sind, aufzuklären vermöge, so dass diese dann effizient und zielgruppenspezifisch intervenieren bzw. sogar präventiv agieren können, um eine prospektive Gesellschafts- und Bevölkerungspolitik zu betreiben.93 Gemäß dieser Anwendungsorientierung galten sozialempirische Wissenschaft, Bürokratie und Regierung als korrigierende und leitende Akteure für Gesellschaftsverbesserungen, auch wenn Noelle und Neumann diese Akteursgruppen nicht als einheitlichen Block betrachteten.
IV. Konkurrenz und Konflikte: Aufbrechen der Allianzen und idiomatische Abgrenzungen Gegen Ende der 1950er Jahre mündeten die Konfliktpotentiale zwischen den beiden Instituten und den daran beteiligten Personen in offen ausgetragenen Auseinandersetzungen – nicht nur wegen unterschiedlicher Bewertungen von empirischer Umfrageforschung, sondern auch aufgrund von divergierenden Auffassungen von angewandter Wissenschaft und den damit verbundenen politischen Positionierungen. Die ausgeprägte Konkurrenz der mehr oder minder privat finanzierten westdeutschen Meinungs- und Sozialforschungsinstitute verschärfte sich durch den Wettbewerb um wissenschaftspolitische Interessen und Geldgeber – zumal, wenn Konflikte durch persönliche oder vergangenheitspolitische Differenzen überformt wurden. Ein Beispiel hierfür ist das Verhältnis zwischen René König in Köln und dem IfS. König war als Remigrant zwar ein wichtiger Allianzpartner für den Horkheimer-Kreis. Bei der Entscheidung der UNESCO, in der sowohl König wie auch Horkheimer und Adorno Mitglied waren, ihr Institut für Sozialwissenschaften in Köln anzusiedeln, stand König jedoch mit seinem Institut in einem Konkurrenzverhältnis zum Frankfurter Institut und setzte sich schließlich gegen die Frankfurter durch.94 Dass im Rahmen des vielfältigen Buhlens um den Standort des UNESCO-Instituts wiederum dessen Forschungsleiter Erich Reigrotzki bei der Studie „Soziale Verflechtungen“ mit dem IfD und dem Deutschen Institut für Volksumfragen (DIVO) kooperierte, zeigt die kontrovers-wechselseitige Verflechtung der Sozialforschungsinstitute.95 1. Konkurrenz um Ressourcen und organisatorische Konsequenzen Eine verschärfte Konkurrenzsituation für das IfS trat ein, als sich HICOG um 1953 als Auftraggeber für empirische Sozialforschung zurückzog und deshalb neue Mittel eingetrieben werden mussten.96 Fortan sah sich das IfS gezwungen, entweder eng mit 93
Noelle-Neumann/Schmidtchen; Noelle, Umfragen, S. 30. Vgl. Albrecht et al., S. 154; Demirovic´, S. 313 – 320. 95 Reigrotzki. 96 Platz, S. 370. 94
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Behörden und staatlichen Stellen im Sinne des „administrative research“ zusammenzuarbeiten oder empirische Industriesoziologie für privatwirtschaftliche Auftraggeber zu betreiben. Das wohl bekannteste Beispiel ist die im Auftrag des Vorstands der Mannesmann-AG 1954/55 durchgeführte Betriebsklima-Studie.97 Methodisch sollte sowohl eine Repräsentativbefragung als auch die Gruppendiskussionstechnik angewandt werden, um die „tieferliegenden Motivationen und Tendenzen“ der Mannesmann-Mitarbeiter hinsichtlich ihrer Einstellung zum Unternehmen zu erfassen.98 Anders als die Frankfurter Betriebsklima-Studie eröffnete nach Ansicht eines zeitgenössischen Rezensenten die von Heinrich Popitz und Hans Paul Bahrdt durchgeführte und von der Rockefeller Foundation bezahlte Doppelstudie „Technik und Industriearbeit“ und „Das Gesellschaftsbild des Arbeiters“, die in der westdeutschen Sozialwissenschaft als bahnbrechende Leistung galt, weit tiefere Einblicke in „die gesellschaftliche Realität der heutigen Arbeiterexistenz“.99 Die grundsätzliche Differenz der beiden industriesoziologischen Untersuchungen bestand darin, dass Popitz und Bahrdt nach dem Muster der Phänomenologie die Meinungen und Ansichten der Arbeiter ernst nahmen, während sich die Frankfurter von klassentheoretisch geleiteten Prämissen leiten ließen.100 Hierin zeigt sich abermals der elitäre Zug im Habitus der IfS-Mitarbeiter, der schon Ende der 1930er Jahre im US-amerikanischen Exil einer von vielen Gründen für die Trennung Erich Fromms vom IfS war. Fromm hatte in einem Aufsatz von 1935 Freuds „patrizentrisch-autoritäre“ Einstellung Patienten gegenüber kritisiert und vorgeschlagen, den zu Behandelnden bejahende Haltung und Güte entgegenzubringen. Diesem Ansatz, Gefühlslagen und Ansichten des Patienten ernst zu nehmen, widersprach Adorno heftig.101 Die Feldforschung der Betriebsklima-Studie erfolgte durch dreißig Interviewer, die vom IfS und DIVO gestellt wurden und ein Sample von 1176 Einzelinterviews und 55 Gruppendiskussionen mit 539 Teilnehmern erhoben.102 Ergebnis der Befragungen war ein knapp 400 Seiten umfassender, nicht öffentlich zugänglicher Rohbericht, in dem die Auswertungen der Befragungen, der Gruppendiskussionen und der begleitenden Materialien vorgenommen wurde. Die Ergebnisse der Studie waren durchaus desillusionierend, ähnelten jedoch einer Allensbacher Umfrage zum Mitbestimmungsgesetz 1951: die Arbeiterschaft hatte offenbar kein großes Interesse an einer Mitbestimmung in der Unternehmensleitung, was Adorno nicht mit dem politischen Desinteresse der Arbeiter, sondern mit deren Arbeitssituation zu erklären versuchte.103 Diese Erklärung sollte im Rahmen des Abschlussberichts publi97
Ebd., S. 310. Zitate in: ebd., S. 317. Vgl. Betriebsklima. 99 Fischer, Philosophische Anthropologie. Eine Denkrichtung, S. 283, 289; Fischer, Philosophische Anthropologie, S. 332. 100 Fischer, Philosophische Anthropologie. Eine Denkrichtung, S. 289. 101 Fahrenberg/Steiner, S. 131. 102 Platz, S. 320, 323, 332. 103 Ebd., S. 333; Allensbacher Archiv, IfD-Bericht 114/II Mitbestimmung. Eine Umfrage unter Arbeitnehmern. Januar 1951, S. 7. 98
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ziert werden, was beim Mannesmann-Vorstand auf Probleme stieß, da sich aufgrund eines angekündigten Warnstreiks die Mannesmann-AG in einer heiklen Phase sah. Kritische Punkte waren deshalb für den Endbericht abzuändern. Horkheimer, Walter Dirks und Volker von Hagen mussten für die Publikation ihrer kritischeren Einschätzungen auf Wirtschafts- und Tageszeitungen ausweichen.104 Das Institut sah sich in eine Mittlerrolle zwischen der Mannesmann-Leitung als Auftraggeber, Gewerkschaftsvertretern und Arbeitnehmern versetzt und entzog sich einer politischen Positionierung im marxistischen Sinne, obwohl Adorno die bei den Arbeitgebern vorherrschende „manipulative Tendenz den Arbeitern gegenüber“ klar artikulierte.105 Die sozialempirische Normalforschung wurde im IfS im Laufe der 1950er Jahre als Mittel zur Akquisition konzipiert. Die Erfahrungen bei der Betriebsklima-Studie vertiefte für Adorno die sich bereits im US-amerikanischen Exil angekündigte Friktion einer ganzheitlichen Herangehensweise an sozialwissenschaftliche Forschungsgegenstände. Kritische Theorie, quantitative Datenerhebung und qualitative Auswertung dieser Daten konnten nicht zusammengebracht werden. Adorno versuchte deshalb schon kurz nach Abschluss des „Gruppenexperiments“ die Verantwortlichkeit für die empirische Forschung im IfS abzugeben; aus dem gescheiterten Versuch, empirische Sozialforschung mit gesellschaftskritischer Philosophie zusammenzubringen, zog er den Schluss, der Philosophie den Vorrang zu geben. In diesem Kontext stand die Entscheidung, Friedeburg 1954 aus Allensbach ans IfS zu holen und 1956 schließlich Gunzert als Leiter der Abteilung für empirische Sozialforschung am IfS einzustellen. Damit einher ging ein immer tiefer werdender Graben zwischen Adornos kritischer Gesellschaftsphilosophie und den Erkenntniszielen der empirischen Sozialforschung. Zwischen 1951/52 und 1957 hatte Adorno seine Meinung zur empirischen Sozial- und Meinungsforschung verändert. Hatte er in diesen Forschungsansätzen und deren methodischen Grundsätzen zunächst noch ein emanzipatives Potential gesehen, war für ihn nun ein solch kritisches Potential ausschließlich durch die Philosophie gewährleistet.106 Die Anwendungsorientierung von Umfragen und den Umgang mit widersprüchlichen Auftraggebern betrachtete Noelle im Unterschied zu Adorno und dem IfS nicht nur als Einschränkung, sondern stets auch als herausfordernde Gelegenheit, Umfragen methodisch und wissenschaftlich weiterzuentwickeln. So entwickelte sich am IfD im Laufe der 1950er Jahre eine von Auftraggebern finanzierte sozialempirische Wissenschaft, für die zunehmend standardisierte Umfragetechniken zur Anwendung kamen. Besonders der kontinuierliche Umfrageauftrag des BPA reglementierte nach Noelle und Neumann nicht Datenerhebung, -analyse und -veröffentlichung, sondern ermöglichte vielmehr eine Datensammlung für die Grundlagenfor104 Platz, S. 351 – 352, 367 – 370. Horkheimer publizierte „Menschen im Großbetrieb“ in der Deutschen Zeitung und Wirtschaftszeitung (19. 2. 1955), Dirks „Was will der Arbeiter“ in der Ruhr-Zeitung (5. 3. 1955) und von Hagen „Bergbau – gefährlicher Beruf in der Krise“ in der Welt (31. 3. 1955). s. ebd., S. 356, Fußnote 1397. 105 Ebd., S. 333 – 334. 106 Adorno, Soziologie, S. 216.
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schung zur westdeutschen Mentalität. Diesen Zusammenhang belege die Publikation des Allensbacher Jahrbuchs für öffentliche Meinung, „eine Art Naturgeschichte des deutschen Volkes dieser Jahre“.107 Diese Auffassung implizierte Demoskopie als eine Art Abbildung von Realität oder gar Freilegung einer vermeintlich authentischen, wenngleich mitunter verborgenen Bevölkerungsmentalität. Auch wenn in der Kritischen Theorie solche Auffassungen als affirmativ abgelehnt wurden, würdigte Adorno den 1954 erschienenen Vorläufer des Jahrbuchs, die Allensbacher Publikation Antworten – Politik im Kraftfeld der öffentlichen Meinung, anerkennend.108 Die Nutzung des sozialempirischen Instruments war mit wissenschaftlicher Prognosegenauigkeit konnotiert und versprach Effizienz für eine präventiv ausgelegte Sozial- und Bevölkerungspolitik im Kalten Krieg: mit empirischer Sozialforschung, die von Helmut Schelsky als Wissenschaft zur Verhütung von Krisen skizziert wurde, könne man „schöpferisch den Zustand von Morgen“ planen, hieß es in einem Allensbacher Umfragebericht.109 Diese prognostische Leitungsfähigkeit der empirischen Sozialforschung forderten einerseits die Auftraggeber ein110 und trugen damit zur Generierung von Auftragsprojekten bei. Andererseits boten missglückte Vorhersagen stets neue Anlässe für Zweifel gegenüber der Demoskopie, deren Vertreter die Allensbacher Mitarbeiter dennoch als Instrumente einer „Cold War Rationality“ – einer ausschließlich auf mathematischen Modellen beruhenden sozialwissenschaftlichen Epistemologie – bewerteten.111 Latente Skepsis gegenüber Repräsentativumfragen kursierte ebenfalls im BPA und im Kanzleramt, so dass trotz kontinuierlicher Auftragslage auch für das IfD die finanzielle Sicherung politischer Umfrageforschung unklar blieb.112 Der Rückzug von US-Subventionen hatte dagegen weniger starke und eher indirekte Konsequenzen für das IfD als für das IfS. Das IfD hing aufgrund seiner Gründungsgeschichte zwar kaum von US-Geldern ab, wohl aber von den bis 1953 von Neumann initiierten und zusammen mit Adenauers Staatssekretär Otto Lenz betriebenen politischen Werbeorganisationen, die für das Demokratiesystem der Bundesrepublik und für Inhalte der Adenauerschen Regierungspolitik eintraten.113 Diese Organisationen – etwa die ,Mobilwerbung‘, ,Gesellschaft Freies Europa‘, ,Deutsche Korrespondenz‘ und die ,Arbeitsgemeinschaft Demokratischer 107 Noelle/Neumann; NL EPN, Korrespondenz Bonn A – L: Erich Peter Neumann an Hans Globke vom 1. 6. 1956. 108 Neumann/Noelle; Akademie der Künste, Adorno Archiv, 1089/1: Theodor W. Adorno an Elisabeth Noelle vom 24. 1. 1955. 109 Schmidtchen, S. 91, 176, 200 f. Allensbacher Archiv, IfD-Bericht Das Gesellschaftsbild 1970. Über die Entstehung eines neuen Sozialbewußtseins in der Bundesrepublik, 1964. IfDBericht 645: Studien zur Schulfrage (I) 1958, S. II, dort das Zitat. Vgl. Schelsky, S. 115. 110 Erhard, S. 9. 111 Erickson et al. 112 NL EPN Korrespondenz M – Z 1951 – 1960, Werner Krüger, stellvertretender Bundespressechef, an Erich Peter Neumann, vom 8. 11. 1952; ebd., Neumanns Antwort vom 10. 11. 1952. Die Demoskopieskepsis entzündete sich u. a. an Vorhersagen eines Kopf-an-KopfRennens bei den US-Präsidentschaftswahlen 1952, die Eisenhower dann überlegen gewann. 113 Gotto et al., S. 75, 79, 624, 628 – 632.
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Kreise‘ – wurden bis 1953 ebenfalls von amerikanischen Stellen finanziert. Sie waren teilweise Auftraggeber des IfD,114 so dass deren finanzielle Einschränkungen durch die Einstellung der US-Unterstützung auch Folgen für das Allensbacher Institut hatten. Im Bereich der lukrativen Hörerforschung wirkte sich die Konkurrenz um Aufträge, in der das IfD mit den privatwirtschaftlich verfassten Instituten EMNID und dem Deutschen Institut für statistische Markt- und Meinungsforschung (DISMA) stand,115 dynamisierend, aber auch vereinheitlichend auf standardisierende Verfahren der Umfrageforschung aus. Der Auftragskontext stärkte nach konfliktreichen Aushandlungen die Etablierung von standardisierten Allensbacher Stichtagsbefragungen, während offene, qualitativ ausgerichtete Fragemodelle zurückgedrängt wurden. Die Adaption etablierter Hörerbefragungen der BBC aus den 1930er Jahren trug zur Modifikation neuer Fragemodelle, wie Listenfragen, bei. Doch herrschte im Spannungsfeld von Auftraggeberwünschen bei den Hörfunksendern beträchtliche Konkurrenz zwischen traditionellen Wissensgenerierungen über das Publikumsurteil durch Leserbriefe und Hörerstatistik und den sich dann durchsetzenden quantitativen Befragungsmethoden.116 Diese Entwicklungen der an den Interessen und Wissensbedürfnissen der Auftraggeber orientierten Umfragen verfestigte die bis heute bestehenden organisatorischen Einheiten des IfD, also die aus drei oder vier Mitgliedern bestehende Fragebogenkonferenz, das Interviewer-Ressort und die statistische Auswertungsabteilung.117 2. Theorie und Anwendung: Unterschiedliche Idiome und epistemische Konflikte Trotz der skizierten Unterschiede zwischen einer theoriegeleiteten und einer anwendungsbezogenen empirischen Sozialforschung wurde sozialempirische Reliabilität vom IfD und vom IfS durch ähnliche idiomatische Verweise auf etablierte Wissenschaftsdisziplinen der Medizin und Naturwissenschaften (Physik/Chemie) unter114
Vgl. etwa Allensbacher Archiv, IfD-Berichte 261 und 265: Monate der Entscheidung. Die Stimmung vor den Bundestagswahlen, (I) Juli 1953 und (II) August 1953; ebd., IfDBericht 135/I-III: Schumanplan-Werbung. Erfolgskontrolle: Prospekte in Tageszeitungen im Auftrag der Gesellschaft Freies Europa, Juli 1951. 115 Staatsarchiv Hamburg (StAHH), Bestand Norddeutscher Rundfunk, 621 – 1/144, 925: Aufsichtsrat von der Gablentz, Erforschung der Hörermeinung, 27. 4. 1951; Programmdirektion an Verwaltungsrat, vom 24. 3. 1951. 116 Noelle, Umfragen, S. 86 f. SWR, Historisches Archiv Baden-Baden 1000/126 (IfD), Erich Peter Neumann an Intendant Friedrich Bischoff, vom 23. 10. 1950 mit Einfügung von Listenfragen durch den Auftraggeber im Fragebogenentwurf; zur BBC-Hörerforschung: Elisabeth Noelle-Neumann an Friedrich Bischoff vom 30. 6. 1953; Staatsarchiv Hamburg (StAHH), Bestand Norddeutscher Rundfunk, 621 – 1/144, 563: Institut für Demoskopie Allensbach, Wahlvoraussagen und die Gallupmethode, o.D. 117 Noelle, Umfragen, S. 32, 72, 132 f.
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mauert.118 Diese metaphorische Anknüpfung zeigte sich insbesondere durch das häufig genutzte Begriffspaar ,Diagnose‘/,Therapie‘119 zur Deutung gesellschaftlicher (Fehl)Entwicklungen. Während am IfD neben Körper- auch Maschinen-Metaphern verwendet wurden, deutet der am IfS ebenfalls häufige Ausdruck ,Nervenpunkte‘, etwa im Rahmen des oben erwähnten Bundeswehr-Projekts,120 auf medizinisch-anthropologische Sprache hin. Es ist wohl nicht verfehlt, von Anknüpfungen der westdeutschen Sozialwissenschaften der 1950er Jahre an einen psychotherapeutisch-anthropologischen Diskurs zu sprechen, dessen Inhalt durch die anvisierte Heilung von der als pathologisch betrachteten Entwicklung der deutschen Gesellschaft zum Nationalsozialismus bestimmt wurde. Diese Anknüpfung legt eine diskursive Kontinuität zu in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts weit verbreiteten biologisch geprägten Gesellschaftsbeschreibungen offen und ist auch im Kontext der schon mehrfach betonten elitären Selbstverortung von IfS und IfD als Institutionen gesellschaftlicher Aufklärung zu sehen. Auf diese Weise kam es zu idiomatischen Übertragungen und Gemeinsamkeiten, zumal „jedes Idiom, das Eigenartiges von Fremdartigem absondert, […] sich […] auf Fremdidiome“ verwiesen sieht.121 IfS und IfD bewegten sich auf ähnlichen idiomatischen Feldern der Gesellschaftsbeschreibung und -deutung. Allerdings resultierten diese Überschneidungen auch aus der semantischen Janusköpfigkeit von Wörtern.122 Das Aufbrechen der idiomatischen Schnittmengen lässt sich gut an dem Begriff des ,Mehrzahlbereichs‘ zeigen, den Noelle im Zusammenhang mit der Legitimation und Reflexion quantitativer Sozialforschung seit Mitte der 1950er Jahre geprägt hat. Ähnlich wie im IfS standen auch im IfD nun nicht mehr die einzelnen Befragten, ihre Art der Meinungskundgabe, ihre ausführlichen Antworten im Zentrum der Umfragen, sondern die Erfassung der gesamten Bevölkerung in ihren sozialen Merkmalen. Dies geschah zunächst entlang traditioneller sozialer Klassifizierungskategorien von 118 Vgl. ebd., S. 31: „[…] wie die Naturwissenschaftler können auch die Sozialwissenschaftler mit statistischen Methoden ihre Theorien einer empirischen Prüfung unterziehen […] und in der Arbeit von Generationen ein gesichertes, im Auffinden der Zusammenhänge immer umfassenderes Wissen über Menschen zusammentragen.“ Vgl. hierzu Blondiaux, S. 8, 15. Vgl. Adamski, S. 35 f. 119 Medizinische Metaphorik findet sich auch bei Ring, S. 218, 223. Vgl. Allensbacher Archiv, IfD-Bericht 37: Ist Deutschland antisemitisch? Ein diagnostischer Beitrag zur Innenpolitik. Herbst 1949; Neumann, Politische Umfragen; Archiv IfS, Adorno-Korrespondenzen K (1950 – 1962), Bd. 1: 10: Hans Sittenfeld an R. Kaestlin, Gesellschaft für Marktforschung, vom 9. 10. 1953; ebd., Ordner Pollock: Frankfurter Institute, Auswärtige Institute, 1952 – 1953: Entwurf: Denkschrift: Die Aufgaben der Sozialwissenschaften an den deutschen Universitäten, Bl. 1 – 23, hier: Bl. 2. 120 Archiv IfS, Ordner S 1: Tagungen 1950 – 1961, Akte 1: 1950 – 1952: Konferenz im Institut für Sozialforschung Frankfurt am Main, 28. und 29. Juni 1950, Bl. 1 – 20, hier: Bl. 18; ebd., A 20: Projekt P 14: Bundeswehr. Vorarbeiten, Ordner 1.1: Wirmer, Bundeskanzleramt, Der Beauftragte des Bundeskanzlers für die mit der Vermehrung der Alliierten Truppen zusammenhängenden Fragen, Studien-Büro, 28. 5. 1954, Bl. 1 – 2, hier: Bl. 1. 121 Waldenfels, S. 303. 122 Ebd., S. 323.
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Alter, Geschlecht, sozialer und regionaler Herkunft und Einkommen.123 Erst nach und nach modellierte Allensbach aus den Datensätzen heraus neue Sozialgruppen, etwa die der Meinungsführer und Persönlichkeitsstarken.124 Der Mehrzahlbereich verhelfe, so Noelle, zu Einsichten in sozialpsychologische Verflechtungen, die weit über subjektive Erfahrungen und Beobachtungen Einzelner hinausgingen und zugleich Anwendbarkeit der Ergebnisse für Regierung, Wirtschaft und Verwaltung vorgaben. Die Verbindung von methodischer Darlegung und Anwendungsorientierung im Begriff des Mehrzahlbereichs war es wohl, welche die starke Opposition gerade des IfS hervorgerufen hatte. Während Adorno, Friedeburg und später vor allem Habermas in der politischen Nutzung von Umfragen eine Konstruktion von Öffentlichkeit und ein angebliches Manipulationspotential zugunsten politischer Herrschaft erkannten,125 begriffen Noelle, Schmidtchen und Neumann das Erkenntnispotential einer „befragten Nation“ als Chance für gesellschaftliche Selbstvergewisserung jenseits medialer Stereotypen und als Option für die Politik, zuvor unbekannte gesellschaftliche Bedürfnisse für sozialpolitische Regierungsentscheidungen zu berücksichtigen.126 Das zuletzt in der historischen Forschung häufig betonte responsive Potential von Umfragen,127 durch Datenveröffentlichungen öffentliche Diskussionen über politische Selbstverortungen auszulösen, wurde aus Frankfurter Sicht in Allensbach einseitig genutzt, indem die für das BPA ermittelten sozialempirischen Merkmale für die von Neumann mitbetriebene Regierungspropaganda disponibel gemacht wurden. Die Verbindung von Allensbacher Umfragen mit den oben genannten politischen Werbeorganisationen Neumanns war ein wichtiger Hintergrund für Konflikte zwischen dem IfS und dem IfD. Diese Auseinandersetzungen wurden dann in theoretische und methodische Felder überführt und lösten Konflikte und Diskussionen aus. Im Anwendungskontext des BPA ermittelten Allensbacher Fragen einen geringen Informationsgrad der Westdeutschen zu zentralen Politikfeldern und Verfassungsinstitutionen: die quantitativ gewonnenen Merkmale des Nicht-Wissens zu Begriffen wie ,Koalition‘, ,Mitbestimmung‘, ,soziale Marktwirtschaft‘ und zum Gesetzgebungsverfahren waren nach Allensbacher Ansätzen im Sinne einer Demokratiebildung zu verbessern.128 Insofern begriff man politische Propaganda wie Walter Lipp123
Noelle, Umfragen, S. 22 – 31. Noelle-Neumann, Persönlichkeitsstärke. 125 Habermas, S. 300 – 302, 319. Vgl. Adorno/Horkheimer, S. 272; von Friedeburg. 126 Neumann, Politische Umfragen; Noelle-Neumann/Schmidtchen; Schmidtchen. 127 Igo; Ziemann, S. 134, 163, 339. 128 Allensbacher Archiv, IfD-Bericht 71: Soziale Marktwirtschaft. Untersuchungen über die Verständlichkeit und populäre Auslegung politischer Begriffe, o. J. [1950], S. 3; ebd., IfDBericht 205/II: Die soziale Spannung. Bericht über eine Umfrage im Auftrag der Gesellschaft für Gemeinschaftswerbung, November 1952, S. 27 – 29; ebd., IfD-Bericht 504: Die Meinung über Bonn. Information und Urteil der Öffentlichkeit über Bundesregierung, Parlament und Parteien 1951 – 1956, S. 6, 9. 124
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mann oder Willi Münzenberg stets auch als Informationsmittel, um „Fehlentwicklungen“ zu korrigieren129 – vor allem in Bezug auf den Kalten Krieg, der auf sozialer Geschlossenheit, breiter Zustimmung, Verständnis und Nachvollzug von Regierungspolitik beruhe. Entsprechend dieses gerade von Neumann vertretenen Ansatzes überwogen in Allensbach rasch binäre Fragemodelle für das BPA, die letztlich Situationen des Kalten Kriegs prospektiv simulierten und Positionierungen von den Befragten einforderten, auf welcher Seite dieses Konflikts sie sich verorteten. Fragen, wie: „Wenn Sie sich entscheiden müßten: Was ist Ihnen zunächst wichtiger – Sicherheit vor den Russen oder die Einheit Deutschlands?“,130 verweisen auf eine „Cold War Culture“, die mit ihrer zumindest vordergründigen Bipolarität duale Fragen begünstigte.131 Die erwähnte latente Demoskopieskepsis, der das IfD auf politischem Terrain ausgesetzt war, führte zu dem Paradox, einerseits anwendbaren binären Fragemodellen Vorschub zu leisten, andererseits mit innovativen Fragemodellen und Methoden Aufmerksamkeit und Anschlussaufträge zu erlangen, um unbeachtete sozialpsychologische Entwicklungen in den Blick zu nehmen. Offene Fragemodelle, die das IfD in den Anfangsjahren noch als partizipatorische Ausdrucksermöglichung des „kleinen Mannes“ legitimierte, wurden zwar nicht aufgegeben, aber zusehends zurückgedrängt. Ein Aufeinanderprallen der differenten Idiome wurde im Rahmen einer von Adorno am 1. März 1957 initiierten Aussprache am IfS zum „Verhältnis von Soziologie und empirischer Sozialforschung“ sichtbar, die die Streitpositionen des 1961 ausgelösten „Positivismusstreits“ bereits anbahnte. Anwesend waren Adorno, Ralf Dahrendorf, Friedeburg, Gunzert, Habermas, Hans-Joachim Lieber, Heinrich Popitz, Otto Stammer und Noelle-Neumann.132 Adorno forderte den Einbau von kritisch-philosophischem Bewusstsein in die Praxis der empirischen Sozialforschung, und zwar ein Bewusstsein, dass sich auf die kritische Analyse der gesamten Gesellschaft bezog. Es ging ihm um die Plausibilisierung seiner Ansicht, dass eine Voraussetzung des „positivistischen“ Erkenntnismodells nach naturwissenschaftlichen Gesetzesprinzipien zu falschen Bewusstseinslagen der empirischen Sozialforscher führe.133 Ohne eine kritische Position mache die empirische Sozialforschung das Funktionieren der Verwaltung und der Wirtschaft zum Fetisch.134 Adorno betonte zwar, dass, „wie ich mir selber innerhalb meiner eigenen theoretischen Arbeit den Zusammenhang von Empirie und Theorie vorstelle“, dies keineswegs gegen quantitative Methoden gerichtet sei.135 Ein produktives Beispiel eines solchen Zusammengehens konnte er aber nicht vorbringen. Bestimmte theoretische Sätze seien eben nicht in „research terms“ über129
Bussemer, S. 28 f., 90; Neumann, Politische Umfragen. Allensbacher Archiv, IfD-Umfragen 052, 063, 077, 1016, 1030. 131 Bernhard/Nehring/Rohstock, S. 29. 132 Archiv IfS, S 1: Tagungen 1950 – 1961, Ordner 1: 1950 – 1952: Protokoll der Sitzung vom 1. 3. 1957 „Zum Verhältnis von Soziologie und empirischer Sozialforschung“, Bl. 1 – 29. 133 Ebd., Bl. 3. 134 Ebd., Bl. 12. 135 Ebd., Bl. 25. 130
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setzbar, etwa die Aussage: „wir leben in einer verdinglichten Gesellschaft, in der die Beziehungen zwischen den Menschen vermittelt sind durch die objektiven Verhältnisse, diese zugleich aber für die Menschen verdeckt sind.“ Dieser Satz spreche Wahrheit aus, weil „die zur Verfügung stehenden technischen Verfahren selbst allesamt nur Ausdruck jener Verdinglichung sind, die dabei erklärt werden soll, so daß man dabei mit Methoden das erkennen sollte, was den Methoden selbst immanent ist.“136 Empirische Sozialforschung war demnach in ihren Erkenntnismöglichkeiten in sozio-ökonomischen und kulturellen Machtkontexten gefangen. Noelle-Neumanns Gerüst sozialwissenschaftlicher Erkenntnisgenerierung war dagegen progressiv ausgerichtet. Sie vertrat die Position, dass Adornos theoretische Überlegungen sehr wohl durch die vorhandenen empirischen Methoden geprüft werden konnten, ja sogar mussten. Denn nur so könnten seine Überlegungen dahingehend kritisiert werden, dass sie womöglich zu sehr von der sozialen Wirklichkeit entfernt waren und zu self-fulfilling prophecies gerieten.137 Um eine solche Überprüfung vorzunehmen, seien Adornos gesamtgesellschaftlich-anthropologische Überlegungen auf einzelne Hypothesen umzuformulieren, um sie dann durch empirische Methoden jeweils zu testen. Während Noelle-Neumann in dieser Art einer sprachlich-inhaltlichen Übersetzung der Theorie in ausgiebige sozialempirische Frageserien keinen „Verlust der Theorie“ sah,138 erkannte Adorno hierin wiederum eine künstliche Begrenzung, da der „Voraussehbarkeit selber aus der Sache heraus bestimmte Grenzen gesetzt sind, die man nicht methodisch heraus eskamotieren kann.“139 Adorno immunisierte seine Theorie gegen methodisch-empirische Kritik und entzog sie dem Zwang einer empirischen Überprüfungsbedürftigkeit. Noelle-Neumann hielt dagegen – darin stimmte Dahrendorf ihr zu – eine solche Theorie letztlich für eine unbewiesene Weltanschauung.140 Sie warf Adorno vor, dass er die Methoden der Umfrageforschung nicht richtig verstanden hätte, wenn er in der Erfassung und Wiedergabe von Meinungen durch Statistiken und Zahlen die Menschen zu Objekten herabgewürdigt sah. Diese Sichtweise sei, so Noelle-Neumann, eine Konfusion dessen, was die Methoden der Umfrageforschung wirklich machten, nämlich nicht die Menschen selbst zu erfassen, sondern sie als Träger von Merkmalen aufzufassen.141 Noelle-Neumann verteidigte die Meinungsforschung dahingehend, dass
136
Ebd., Bl. 9. Ebd., Bl. 12 – 13. 138 Ebd., Bl. 4. Zur generellen Komplexität des sprachlichen Übersetzens als „ein endloses Dolmetschen von beiden Seiten“ – „zwischen Ausgangs- und Zielsprache“, vgl. Waldenfels, S. 320 f. 139 Archiv IfS, S. 1: Tagungen 1950 – 1961, Ordner 1: 1950 – 1952: Protokoll der Sitzung vom 1. 3. 1957 „Zum Verhältnis von Soziologie und empirischer Sozialforschung“, Bl. 1 – 29, hier: Bl. 6. 140 Ebd., Bl. 7. 141 Ebd., Bl. 26. 137
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sie eben keine „untergeordnete und uninteressante Sache“ sei, ihre Forschungsergebnisse vielmehr sehr reale Effekte auf Gesellschaft und Verwaltung hätten.142
V. Konklusion: Konfliktbehaftete Etablierung und idiomatische Überschneidungen der Sozialwissenschaften in Westdeutschland nach 1945 Der gemeinsame idiomatische Ausgangspunkt von IfS und IfD war der Anspruch, mit empirischer Sozialforschung zur Demokratiebildung beizutragen, und zwar durch Methoden der qualitativ und quantitativ auswertbaren Befragung. Gründe für Wandlungen und Differenzen von Idiomen bei Adorno und Noelle lagen in der Erfahrung mit der Forschungspraxis, in gewandelten gesellschaftlichen Situationen, in Veränderungen des sozialwissenschaftlichen Felds und in der fortschreitenden Politisierung und Anwendungsbandbreite der Sozialwissenschaften. Zugleich wirkte sich aber auch die unterschiedliche ökonomische Situation, in der sich die beiden Institute befanden, stark auf die Ausprägung von Differenzen aus; ein vorwiegend auf Auftragsforschung angewiesenes IfD und ein anfänglich auch von US-amerikanischen Geldern unterstütztes, dann aber zu einem großen Teil staatlich alimentiertes IfS. Die fortschreitende Standardisierung der Umfragemethoden im IfD war durch die Anwendungsorientierung und Auftraggeberfinanzierung von sozialempirischer Wissensgenerierung und in der eingängigen Visualisierbarkeit der Präsentation von Ergebnissen begründet. Sie führte unter dem Stichwort des ,Mehrzahlbereichs‘ zu einer Reformulierung des anfänglich mit dem IfS geteilten emanzipatorischen Anliegens, indem nun etwa Verwaltungen und die politische Exekutive neue Einsichten für effiziente bevölkerungspolitische Interventionen erhielten. Die Politisierung der Sozialwissenschaften erfuhr bis in die 1970er Jahre hinein eine neue Qualität, weil sie zunehmend medial debattiert wurde143 – und zwar nicht nur in fachwissenschaftlichen Periodika, so etwa die Auseinandersetzungen zwischen Friedeburg 1961 sowie Habermas und Noelle-Neumann/Schmidtchen 1963,144 sondern auch in Publikumszeitschriften und in überregionalen Tageszeitungen. Das hat auf die Idiome der beiden Institute Einfluss gehabt, denn offenbar setzten sich öffentlich und besonders in Auftraggeberkreisen artikulierbare Wissensbestände durch, die wiederum Legitimationen für die Sozialwissenschaften und damit ihre weitere Finanzierung versprachen. Beide Institute hatten sich hierbei politisch zu positionieren, zum einen innerhalb des vom soziokulturellen Rahmen des Kalten Kriegs vorgegebenen politischen Grundkonflikts, zum anderen in Bezug auf das 142
Ebd., Bl. 10. Vgl. etwa „Politik mit falschen Zahlen. SPIEGEL-Report über Meinungsforschung vor den Bundestagswahlen 1976“. s. Der Spiegel, S. 76 – 91. Zum ambivalent-positiven Verhältnis zu Rudolf Augstein Noelle-Neumann, Brüderchen. 144 Noelle-Neumann/Schmidtchen; von Friedeburg; Habermas. 143
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Nachkriegsbekenntnis zu NS-Vergangenheit und Demokratisierung. Dabei beförderten insbesondere Adornos Theorielastigkeit und das Ideal der herrschaftsfreien Öffentlichkeit Wahrnehmungen, nach denen das IfS die bipolare Konstellation des Kalten Kriegs auf den ersten Blick transzendierte – obwohl gerade das IfS von der Subventionierung durch US-amerikanische Stiftungen und Besatzungsbehörden profitierte und auf intellektueller Ebene letztlich erfolgreich die bolschewistischsowjetische Lufthoheit über Marx zu durchbrechen suchte. Letzteres ist nicht zuletzt durch die in den frühen 1940er Jahren geschlossenen intellektuellen und monetären Verbindungen einzelner Institutsmitglieder zu militärischen Stellen und zum Geheimdienst der Vereinigten Staaten eingeleitet worden.145 Indem das IfD den Anwendungskontext seiner Umfragen offensiver vertrat und auch die politische Auftraggeberkonstellationen als Möglichkeit verstand, Umfrageforschung methodisch und wissenschaftlich zu entwickeln, wurde es wesentlich stärker mit der bundesdeutschen Regierungspolitik im Kalten Krieg in Verbindung gesetzt. Trotz aller Vielgestaltigkeit von Fragebogenmethoden wurde das IfD mit einem dem Kalten Krieg gleichenden und quantifizierbaren binären Für und Wider identifiziert, wozu duale politische Bekenntnisfragen und demoskopische Anwendungen in politischer Kommunikation und Werbung beitrugen. Ende der 1950er Jahre standen die von IfS und IfD vertretenen zentralen Leitbegriffe einander weitgehend konträr gegenüber, obwohl Rezeptionen – etwa bei der Frankfurter Studie „Student und Politik“ – andauerten. Während in Allensbach ,öffentliche Meinung‘ als soziale Kontrolle und damit als gesellschaftlicher Ordnungsfaktor und zugleich auch, falls es sich um eine medial verführte öffentliche Meinung handelte, als Bedrohung verstanden wurde, galt das Augenmerk des IfS vor allem der Bedrohung der Öffentlichkeit. Öffentlichkeit wurde hier als rationaler, gebildeter Austausch verstanden, der durch politische Macht und Herrschaft bedrängt und eingeengt werden konnte und sich in Herrschaftsverhältnissen nur noch affirmativ zu artikulieren vermochte. Im Gegensatz zum IfD, das sich phasenweise zu einer Art Anwalt der Bevölkerung aufschwang, galt der ,kleine Mann‘ dem IfS nicht als Kronzeuge der Wirklichkeit, da er respektive sie (Lieschen Müller) die vermachtete Wirklichkeit nicht überblicken könnte. Im Verständnis dessen, was ,Theorie‘ war und was sie leisten sollte, zeigten sich weitere grundlegende Differenzen. Für das IfS konnte gesellschaftliche Wirklichkeit nur mit theoretischem Blick aufgedeckt und die Gesellschaft ideologiekritisch aufgeklärt werden – eine Theorie, die sich gleichsam der Wirklichkeit entzog und die gesellschaftlichen Machtzusammenhänge auf einer hoch angelegten Abstraktionsebene dechiffrierte. Das IfD maß der Theorie dagegen keinen so hohen epistemischen Stellenwert zu. Theorie konnte für die Allensbacher in verschiedene demoskopische Frageserien übersetzt werden, womit der Methode der Repräsentativbefragung ein größeres sozialwissenschaftliches Entdeckungspotential zukam als der Theorie, die mit dem geistesgeschichtlich fundierten Konzept der Schweigespirale 145
Vgl. Müller.
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zunächst auf dem Ertrag von Allensbacher Umfragen aus etwa vier Jahrzehnten beruhte. Somit bekam auch der Begriff des ,(statistischen) Durchschnitts‘ unterschiedliche Bedeutungszuweisungen: beim IfD galt er als methodische und analytische Kategorie und bezeichnet in der seit den 1970er Jahren von Noelle betriebenen Rekonzeptionalisierung von öffentlicher Meinung als soziale Kontrolle auch den Charakter eines sozialen Ordnungsfaktors. Beim IfS galt ,Durchschnitt‘ als Kennzeichen einer verführten Öffentlichkeit, die aus politischem Machtinteresse durch Propaganda und auch mittels Umfragen lediglich hergestellt worden war. Mit diesen unterschiedlichen Ansätzen war zum Teil auch trotz eines phasenweisen gemeinsamen elitären Selbstverständnisses ein unterschiedliches Demokratieverständnis verbunden. Das IfD setzte auf eine ,guided democracy’, in der die politische Exekutive und wissenschaftliche Experten eine leitende Rolle hatten. Das IfS dagegen vertrat eine zukunftsorientierte Überwindung ungleicher Herrschaftsverhältnisse und ein demokratisches Ideal herrschaftsfreier Kommunikation, dessen Umsetzung allerdings einen hohen Bildungsgrad und ausgeprägte intellektuelle Fähigkeiten verlangte. Ob Expertokratie oder Intellektuellenaristokratie, hierin zeigte sich trotz Differenzen eine geteilte idiomatische Grundannahme: die politischen Entscheide in der Bundesrepublik mussten von einer Elite fähiger Wissenschaftler und Intellektueller informiert und reflexiv begleitet werden. Mit diesen elitären Demokratievorstellungen gingen IfS und IfD kongruent mit Demokratieentwürfen deutscher Emigranten wie Carl J. Friedrich, Ernst Fraenkel, Waldemar Gurian, Karl Loewenstein oder Hans J. Morgenthau, die ihre politischen Ideen in der Weimarer Republik entwickelt hatten und diese dann beim Aufbau der westdeutschen Demokratie nach 1945 zum Einsatz brachten.146 In diesen Demokratievorstellungen zeigte sich einerseits ein Misstrauen gegen die „Massen“, ein langjähriger kulturkritischer Topos,147 der im frühen Kalten Krieg antitotalitär gewendet wurde. Andererseits manifestierte sich darin das elitäre Selbstverständnis in der kreishaften Organisationsform von IfS und IfD, in deren Zentrum jeweils die Institutsleiter und die -leiterin mit ihrem Anspruch charismatischer Wissensautorität standen. Adorno und Noelle nahmen für sich in Anspruch, die politischen Geschicke der Bundesrepublik im demokratischen Sinne sozialwissenschaftlich anzuleiten, und waren sich dabei sicher, dass sie dies besser konnten als der jeweils andere Kreis. Literatur Abromeit, John: Max Horkheimer and the Foundations of the Frankfurt School, Cambridge 2011. Adamski, Jens: Ärzte des sozialen Lebens: Die Sozialforschungsstelle Dortmund 1946 – 1969 (= Veröffentlichungen des Instituts für soziale Bewegung. Schriftenreihe A: Darstellungen, Bd. 41), Essen 2009. 146 147
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Die Blindheit der Auguren: Delphi, Political Gaming und das Phänomen der wechselseitigen Nichtbeachtung Von Christian Dayé
I. Einleitung Selbst wenn man zuweilen auf Publikationen trifft, die – aus identitäts- oder disziplinpolitischen Gründen – einen gegenteiligen Standpunkt vertreten, so hat sich in der Geschichtsschreibung (und der Theorie) der Sozialwissenschaften in den letzten Jahrzehnten die Position etabliert, diese seien in weiten Teilen nicht-kumulativ. Ein systematisches Aufbauen, ein kontinuierliches Anwachsen des Wissensbestandes sei in den Sozialwissenschaften nicht zu beobachten. Dies habe, so meinen die einen, vor allem damit zu tun, dass der Gegenstand dieser Wissenschaften selbst dynamisch sei und sich ständig wandle. Andere Erklärungen hingegen rücken Prozesse des Vergessens und der Wiederentdeckung in den Vordergrund. Wissenschaftliche Disziplinen, so wird argumentiert, seien letztlich kulturelle Gebilde, und wie in anderen kulturellen Gebilden könne man auch hier Phänomene des kulturellen Erinnerns und Vergessens feststellen. Die Theoriestränge reichen hier von der Diagnose einer durch mangelnde Belesenheit und individuelles Geltungsbedürfnis verursachten disziplinären Amnesie bis hin zu Erklärungen, die Erkenntnisfortschritt grundsätzlich für unmöglich zu erachten scheinen und einen repetitiven Konjunkturzyklus von Ideen aus ebenso repetitiven, selbstähnlichen sozialstrukturellen Differenzierungsprozessen entstehen sehen.1 Weniger Aufmerksamkeit entfiel hingegen bislang auf den Umstand, dass ein kumulatives Anwachsen von Wissensbeständen auch dadurch unterminiert werden kann, dass Wissensbestände parallel koexistieren und trotz deutlichen inhaltlichen Überschneidungen nicht systematisch miteinander in Beziehung gesetzt oder in den jeweils anderen Wissensbestand integriert werden. Neben den kulturellen Prozessen von Erinnern, Vergessen und Wiederentdecken finden sich in der Geschichte der Sozialwissenschaften auch etliche Episoden, die als wechselseitige Nichtbeachtung ähnlicher, aber potentiell divergierender Wissensbestände oder -zugänge beschrieben werden können. Der vorliegende Aufsatz widmet sich diesem Phänomen 1 Spezifisch zur soziologischen Amnesie siehe Sorokin; Gans; Law/Lybeck; allgemeiner Merton. Der umfassendste differenzierungstheoretische Ansatz stammt von Abbott.
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in explorativer Absicht. Ausgehend von einem Fallbeispiel aus der Zeit des Kalten Kriegs, skizziert er einen Katalog an Hypothesen zur Erklärung von Episoden wechselseitiger Nichtbeachtung und wendet diesen Katalog auf das Fallbeispiel an. Dieser Hypothesenkatalog kann, so der Anspruch, als Ausgangspunkt für weitere Forschungen zum Phänomen der wechselseitigen Nichtbeachtung herangezogen werden, allerdings mit einer Einschränkung: er nimmt die Ebene der Akteure in den Blick und lässt daher potentiell andere, strukturelle oder kulturelle Gründe außer Acht. Er ist in der gegenwärtigen Form mit Sicherheit ausreichend für Episoden, die ähnlich gelagert sind wie das spezifische Fallbeispiel. Wenn man von Nichtbeachtung spricht, so impliziert das, dass die Vertreter zweier Wissensbestände prinzipiell voneinander Notiz hätten nehmen können. Nichtbeachten ist in diesem Sinne aktiv; ich nehme wahr, dass es etwas anderes gibt, entscheide mich aber dazu, das nicht weiter zu beachten. Dies trifft in dem zugrundeliegenden Fallbeispiel in besonderem Maße zu. In den frühen 1950er Jahren wurden an der RAND Corporation, einem vorrangig aus Geldern der US-amerikanischen Luftwaffe finanzierten Thinktank mit Sitz in Santa Monica, Kalifornien, die ersten an sozialwissenschaftlichen Prinzipien ausgerichteten Methoden der Nutzung von Expertenwissen zum Zwecke der Vorhersage entwickelt.2 Es waren dies die Delphi-Befragung, ein mehrstufiges, fragebogenbasiertes Verfahren zur Erhebung von Zukunftseinschätzungen von Experten, und das Political Gaming, eine Form des Planspiels, in dem Gruppen von Experten verschiedene nationale Regierungen repräsentierten und den Verlauf eines Konflikts simulierten. Zwischen den beiden Methoden gab es viele Ähnlichkeiten. Abgesehen davon, dass beide an derselben Forschungseinrichtung ungefähr zur selben Zeit entwickelt wurden, sind die Ähnlichkeiten im methodologischen Ansatz frappant. Beide produzierten Zukunftsszenerien, waren also Prospektionstechniken, die von der wissenschaftlichen Politikberatung seit den 1940er Jahren kontinuierlich weiterentwickelt wurden.3 Überdies beruhten beide Techniken auf derselben Annahme, nämlich der, dass der Experte im Unterschied zum „normalen Menschen“ in der Lage sei, stabile Prognosen über künftige Entwicklungen in ihren Kompetenzfeldern abzugeben. Beide Prospektionstechniken versuchten, sich jenes Wissen zunutze zu machen, das Experten nicht verschriftlichten und das daher, als implizites Wissen, einer wissenschaftlichen Analyse schwer zugänglich war. Implizites Expertenwissen stelle, so argumentierten die Entwickler der genannten Prospektionstechniken, eine Wissensquelle dar, die in Situationen genutzt werden könne, in denen andere, etablierte Methoden der Prognose aufgrund von fehlenden Daten oder einer prinzipiellen Unmöglichkeit der statistischen Extra2 Der Beitrag verwendet das generische Maskulinum. Es sind immer alle Geschlechter gemeint. 3 Ich spreche gezielt von Szenerien und nicht von Szenarien, weil letztere üblicherweise eine kohärente und umfassende Darstellung des Schauplatzes und des Geschehens bieten, während erstere sich allein auf den Schauplatz konzentrieren. Insbesondere für die DelphiMethode ist daher der Begriff Szenerie angemessener. Den Terminus Prospektionstechniken übernehme ich von Mallard/Lakoff.
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polation nicht eingesetzt werden konnten. Wie die Auguren im alten Rom aus dem Flug der Vögel ablasen, ob ein Vorhaben gottgenehm war, so schickten sich die Auguren des Kalten Kriegs an, aus den Reaktionen von Experten Vorhersagen über die Sinnhaftigkeit bestimmter politischer und militärischer Entscheidungen abzuleiten. Eine Analyse der beiden Prospektionstechniken jedoch zeigt, dass sie ungeachtet der oben angesprochenen Ähnlichkeiten auf unterschiedlichen Konzeptionen des Experten beruhten. Wie der nachfolgende Abschnitt II erläutert, dominierte in der Delphi-Befragung eine deterministische Perspektive. Die Zukunft erschien hier als Resultat von Veränderungen und Innovationen, die in der jeweiligen Gegenwart bereits angelegt waren; die Zukunft war somit nicht nur absehbar, sondern eigentlich bereits fixiert. Die Aufgabe der Politik war dann darauf beschränkt, die Erschütterungen abzudämpfen, die die Gesellschaft durch die verschiedentlichen Neuerungen zu ertragen hatte. Political Gaming hingegen konzipierte die Zukunft als Ergebnis von Interaktionsprozessen, letztlich also von menschlichem Handeln, dessen Zielerreichung allerdings von den Handlungen aller anderen abhing und das sowohl intendierte wie auch unintendierte Konsequenzen haben konnte. Diesen unterschiedlichen Zukunftsbildern entsprachen unterschiedliche epistemische Rollen des Experten in den Prospektionstechniken. Sie fußten auf unterschiedlichen Erwartungen darüber, was und wie Experten wussten und wie sie das, was sie wussten, kommunizierten. Diese Unterschiedlichkeit in den Konzeptualisierungen des Experten wurde allerdings von den Beteiligten nicht thematisiert, und es stellt sich die Frage, weshalb dies unterblieb. Die handelnden Personen arbeiteten zumindest zeitweise im selben Gebäude, nahmen zuweilen an den Studien der jeweils anderen Gruppe teil und wiesen, sieht man sich ihre Arbeiten an, ein durchaus ausgeprägtes Gespür für methodologische und theoretische Feinheiten auf. Dennoch wurde die fundamentale Verschiedenheit der epistemischen Rollen, mit der die Figur des Experten in den beiden Techniken betraut wurde, nicht zum Thema schriftlicher Auseinandersetzungen. Dieser Umstand macht die Episode zu einem guten Fallbeispiel einer wechselseitigen Nichtbeachtung in der Geschichte der Sozialwissenschaften. Schickt man sich an, einen Katalog von Erklärungsansätzen für wechselseitige Nichtbeachtung zu formulieren, so kann man zunächst drei Arten von Ansätzen unterscheiden: solche, die sich auf eine bestimmte Prägung oder (intellektuelle) Prädisposition und insofern auf die biografische Vergangenheit der Akteure beziehen; solche, die auf die Gegenwart Bezug nehmen und die Nichtbeachtung aus der jeweils aktuellen Situation der Akteure heraus erklären wollen; und schließlich solche, die die erklärenden Faktoren aus der wie auch immer gearteten Zukunftsorientierung der Akteure ableiten. Zu den Ansätzen, die auf die Vergangenheit der Akteure Bezug nehmen, zählen: (i) Idiome des Denkens (Waldenfels) und (ii) das Konzept des akademischen Stammes und seines Territoriums (Becher/Trowler). Als Gründe, die auf die jeweils aktuelle Situation der Akteure Bezug nehmen, können genannt werden: (iii) Erfolgsstress; (iv) Idiome der Untersuchung (Oakeshott); (v) Komplexitätsreduktion. Als Erklärungsansatz, der die Zukunftsorientierung der Akteure in den
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Blick nimmt, haben (vi) epistemische Hoffnungen zu gelten (s. Tabelle 1). Wiederholt werden muss, dass die Liste der hier besprochenen Erklärungsansätze offensichtlich nicht erschöpfend ist, für den vorliegenden Fall aber ausreicht und daher mit einigem Recht als Ausgangspunkt für die weitere Erforschung des Phänomens wechselseitiger Nichtbeachtung dienen kann. Tabelle 1 Gründe für wechselseitige Nichtbeachtung Vergangenheit
Gegenwart
Zukunft
(i) Idiome des Denkens
(iii) Erfolgsstress
(vi) epistemische Hoffnungen
(ii) Akademischer Stamm
(iv) Untersuchungsidiom (v) Komplexitätsreduktion
Nach den im folgenden Abschnitt II vorgenommenen Erläuterungen zum Fallbeispiel, widmet sich dieser Beitrag einer Skizzierung der genannten sechs Erklärungsansätze. Abschnitt III konzentriert sich dann auf die vergangenheitsbezogenen, Abschnitt IV auf die gegenwartsbezogenen Ansätze. Abschnitt V thematisiert schließlich den einen zukunftsorientierten Ansatz, der hier Erwähnung findet, nämlich epistemische Hoffnungen. Wie dieser Abschnitt zeigt, ist dieser Ansatz auch jener, der das Fallbeispiel am überzeugendsten zu erklären imstande ist.
II. Delphi und Political Gaming Die beiden Prospektionstechniken, von denen hier die Rede ist, zogen bislang nur wenig historiografische Aufmerksamkeit auf sich. Insbesondere die Entwicklung der Delphi-Befragung wurde kaum kritisch aufgearbeitet. Die meisten Texte zu ihrer Geschichte erfassen sie als einen Teil der Entwicklung der Futurologie und unterlassen es, die Geschichte dieser Technik einer grundlegenderen, methodologisch informierten Analyse zu unterziehen.4 Die wissenschaftshistorische Literatur zur Entwicklung des Political Gaming ist vergleichsweise umfangreicher, aber dennoch überschaubar.5 Der systematische Vergleich der beiden Techniken, auf dem dieser Beitrag beruht, ist ein Ergebnis meiner Forschungsarbeiten der vergangenen Jahre.6 Diese Arbeiten zeigten, dass die Erfinder der beiden Prospektionstechniken in unterschiedlichen akademischen Stammesgruppen sozialisiert worden waren.7 Jene Forscher, die das Delphi-Verfahren entwickelten – Olaf Helmer, Norman C. Dalkey und Nicholas Rescher –, waren Philosophen und Logiker und hatten eng mit Vertretern der ersten Generation der sogenannten Berliner Schule des Logischen Empiris4
Vgl. Andersson; Tolon; Dyaé, Orade. Vgl. u. a. Ghamari-Tabrizi; Bessner, Weimar Social Science; ders., Complexity. 6 Vgl. Dayé, Systematic Use; ders., Territorien; ders., Fiction. 7 Dayé, Territorien. 5
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mus zusammengearbeitet, vor allem mit Hans Reichenbach und Carl G. Hempel.8 Political Gaming hingegen wurde von einer Gruppe von Soziologen entwickelt, die von der Wissenssoziologie Karl Mannheims beeinflusst waren.9 Als wichtigste Vertreter dieser Gruppe sind Hans Speier, Herbert Goldhamer und Paul Kecskemeti zu nennen. Speier war Mannheims erster Doktorand in Heidelberg gewesen und war nach seiner Emigration in die USA einer der ersten, die die Wissenssoziologie in Amerika verbreiteten.10 Herbert Goldhamer verbrachte in den 1940er Jahren ein Studienjahr an der London School of Economics and Political Science und besuchte dort aller Wahrscheinlichkeit nach Lehrveranstaltungen bei Mannheim. Paul Kecskemeti schließlich war Mannheim nicht nur fachlich, sondern auch familiär verbunden: ihre Ehefrauen – Elizabeth Láng Kecskemeti und Julie Mannheim-Láng – waren Schwestern, die beiden Männer demnach verschwägert, und Kecskemeti zeichnete nach Mannheims frühem Tod maßgeblich für die Herausgabe und Übersetzung etlicher Texte Mannheims ins Englische verantwortlich.11 Diese Gruppe von Wissenssoziologen nahm die Mannheim’sche Lehre zwar nicht unkritisch an, wie eine aus Speiers Feder stammende Rezension von Ideologie und Utopie im American Journal of Sociology dokumentiert, teilten aber dennoch zentrale Annahmen über das Wesen und die Erforschbarkeit politischer Prozesse.12 Die unterschiedlichen Sozialisationskontexte hinterließen ihre Spuren in den beiden Prospektionstechniken. Stärker als das Political Gaming orientierte sich die Delphi-Befragung an Vorstellungen einer positivistischen Wissenschaftstheorie.13 Die Delphi-Befragung ersuchte ausgewählte Expertinnen und Experten, ihre Einschätzungen zukünftiger Ereignisse in einem Fragebogen Preis zu geben. In einer beispielgebenden Delphi-Studie, die RAND Anfang der 1960er Jahre durchführte, wurden die rund achtzig teilnehmenden Experten etwa aufgefordert zu schätzen, ab wann die landwirtschaftliche Nutzung des Meeresbodens oder die Haltung von höher entwickelten Säugetieren zur Verrichtung einfacher Arbeiten erfolgen werde. Von den Teilnehmern wurden konkrete Jahreszahlen erwartet. Die aggregierten Ergebnisse dieser Umfrage wurde in einem zweiten Schritt den Teilnehmerinnen und Teilnehmern rückgemeldet, üblicherweise durch Angabe von Median und Quartilen. Daraufhin wurden sie gefragt, ob sie angesichts dieser Ergebnisse ihre Antworten aus der ersten Runde ändern wollten. Diese Vorgangsweise wurde über mehrere Runden wiederholt, in der Annahme, dass dies zu einer Konvergenz der Schätzwerte führen würde. Wiederhole man die Prozedur ausreichend oft, so würden die Schätzwerte 8
Rescher, Berlin School; ders., H2O. Vgl. Bessner, Weimar Social Science. 10 Vgl. Speier, Auswanderung, S. 356, sowie die in diesem Band enthaltene Bibliografie; Bessner, Democracy. 11 Mannheim, Sociology of Knowledge; ders., Social Psychology; ders., Sociology of Culture. 12 Speier, Review. Speier bezeichnete diese Rezension viele Jahre später in einem Interview als „intellektuellen Vatermord“; vgl. Jackall, S. 14. 13 Dayé, Fiction. 9
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schließlich ausreichend nah beieinander liegen, um sie als „Konsens“ bezeichnen zu können.14 Beim Political Gaming hingegen wurden die Experten in Gruppen eingeteilt und hatten nationale Regierungen zu repräsentieren. Es gab Team USA, Team Sowjetunion, üblicherweise auch Team Westeuropa und so weiter. Ausgehend von einem Szenario, das üblicherweise eine Krise oder einen drohenden Konflikt beschrieb, war den Teams weitgehend freigestellt zu entscheiden, was sie in der jeweiligen Situation für die plausibelsten Aktionen und Reaktionen hielten. Zudem gab es Spielleiter und ein Komitee, das zufällige Ereignisse wie Hungersnöte, Naturkatastrophen oder den Tod wichtiger Persönlichkeiten ins Spiel brachte. Das Ziel dieser sich über mehrere Tage erstreckenden Spiele, an denen hochrangige US-Militär- und Zivilfunktionäre teilnahmen, war das möglichst realitätsnahe Simulieren des Verlaufs einer politischen Krise.15 Abgesehen davon, dass sie zur selben Zeit am selben Ort entwickelt wurden, sind sich diese beiden Techniken auch in systematischer Hinsicht ähnlich. Erstens wurde in beiden Fällen penibel erörtert, inwieweit die Techniken bestimmten wissenschaftlichen Qualitätsstandards, etwa der Validität oder der Reliabilität, genügten. Zweitens zielten beide Techniken darauf ab, Aussagen über mögliche künftige Ereignisse zu treffen; es waren Techniken der Prospektion, der Vorausschau. Drittens schließlich sahen beide Techniken in der systematischen Nutzung von Expertenwissen einen Schlüssel zu guten prospektiven Ergebnissen. In beiden Verfahren wurden die Prognosen aus den in der Studie erhobenen Meinungen, Einschätzungen und Urteilen von Experten abgeleitet. Allerdings gibt es auch bedeutende Unterschiede zwischen den beiden Techniken. Das betrifft vor allem das ihnen zugrunde liegende Verständnis des Experten. Die Entwickler richteten, so zeigt eine systematische Analyse der beiden Methodologien, unterschiedliche Erwartungen an die teilnehmenden Expertinnen, oder anders gesagt: sie wiesen ihnen unterschiedliche epistemische Rollen zu. So zielte die Delphi-Befragung darauf ab, direkte Interaktion zwischen den teilnehmenden Experten zu verhindern, weil eine Verzerrung durch Effekte der sozialen Erwünschtheit oder ähnliche sozialpsychologische Beeinflussungen befürchtet wurde. Beim Political Gaming hingegen emergierte das jeweilige Ergebnis aus der Interaktion innerhalb von und zwischen Expertengruppen – sozialpsychologische Beeinflussungen waren Teil der Versuchsanordnung, weil sie, wie die Vertreter des Political Gaming betonten, eben auch Teil des politischen Geschehens seien, und wurden in abschließenden Reflexionsrunden auch gezielt angesprochen. Unterschiedlich war auch die Art der Ergebnisse. Während Delphistudien ihre Zukunftsvorstellungen unter Berücksichtigung der Bevölkerungsentwicklung vorrangig aus dem erwarteten Zeitpunkt technologischer Innovationen ableiteten, erbrachte 14 15
Gordon/Helmer; Helmer, 50 Jahre; ders., Social Technology. Vgl. u. a. Bloomfield; Davison; Goldhamer; Goldhamer/Speier.
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das Political Gaming ein Verständnis für die Dynamik eines relativ eingrenzbaren politischen Prozesses. Hier traten unterschiedliche Philosophien zu Tage. Auf der einen Seite dominierte bei Delphi eine recht unverblümte technologiedeterministische Sichtweise: das künftige Leben werde von technologischen Entwicklungen bestimmt und davon, wie diese im Alltag genutzt würden. Der technologische Fortschritt wurde als autonom, unvermeidlich und nicht steuerbar verstanden – entscheidend sei, ihn richtig einzuschätzen, denn dann werde man durch unweigerlich kommende Neuerungen nicht überrascht und könne frühzeitig tätig werden.16 Auf der anderen Seite lag beim Political Gaming eine interaktionistische Sichtweise vor: die Zukunft erschien vorrangig als Produkt des Entscheidens und Handelns von Eliten respektive davon, wie diese Eliten auf Ereignisse menschlichen und nichtmenschlichen Ursprungs reagierten. Kein einzelner Faktor und keine einzelne Entscheidung könne bestimmen, wie die Zukunft aussehen werde. Diese emergiere als komplexes Resultat der Interaktion vieler verschiedener Faktoren.17 Diese unterschiedlichen Philosophien bedingten des Weiteren auch unterschiedliche Erwartungen bezüglich dessen, was Experten wissen, wie sie wissen und wie dieses Wissen genutzt werden konnte. Delphi erwartete von den Experten, auf eine klar formulierte Frage eine möglichst richtige Antwort zu geben. Dahinter stand die Annahme, dass es eine (und nur eine) richtige Antwort gebe. Diese richtige Antwort war zum gegenwärtigen Zeitpunkt zwar nicht bekannt, aufgrund ihres expliziten und impliziten Wissens seien Experten jedoch in der Lage, sich der richtigen Antwort anzunähern. Diese Vorstellungen lassen sich gut aus der Verwendung des Medians herleiten. Den Median (oder das arithmetische Mittel) als wichtigsten Wert zur Beschreibung einer Verteilung von individuellen Schätzungen heranzuziehen, ist nur dann plausibel, wenn man annimmt, dass es auf eine Frage nur eine „richtige“ Antwort gebe (d. h. wenn es sich um eine Normalverteilung handelt). Es sind dann eben nicht bloße Meinungen, die vom Experten erwartet werden, sondern Wahrheitsannäherungen. Der Möglichkeit, dass sich zu einer Frage mehrere Meinungscluster herausbilden konnten, wurde im Delphiverfahren vor allem dadurch entgegengewirkt, dass in der Rückmeldung auf den Median und die Quartile als Maße der (einen) zentralen Tendenz zurückgegriffen wurde und dadurch etwa vorhandene Cluster gar nicht kommuniziert wurden. Die Hypothese, dass sich die Meinungen bei wiederholter Befragung annähern würden (Konvergenzhypothese), beruhte ebenso auf der Annahme einer Normalverteilung der Einschätzungen um einen vermeintlich „wahren“ Wert. Doch lassen sich aus dieser Konvergenzhypothese noch weitere Elemente der epistemischen Rolle des Delphi-Experten ableiten. Vor allem die Interpretation des Medians als wahrheitsnahen Konsenswert am Ende der Studien setzte ja voraus, dass die Experten ihre Einschätzungen aus objektiven Gründen modifizierten und nicht etwa aufgrund von Ef16 Es ist überraschend, wie nahe diese Position der positivistischen Auffassung Auguste Comtes ist; vgl. Comte. 17 Vgl. Kecskemeti.
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fekten sozialer Erwünschtheit. Diese wären, so die Annahme der Delphi-Entwickler, wegen der Anonymität der Teilnehmerinnen und der vollständigen Kontrolle der Interaktion durch die Studienleiter faktisch ausgeschlossen. Die Bildung unterschiedlicher Meinungscluster wäre als Folge sozialer Verzerrung interpretiert worden, nicht als Eigenschaft des Objekts. Demgegenüber lag der methodologische Einfall des Political Gaming gerade darin, eine Mehrzahl von kulturell spezifischen Wissensbeständen miteinander in Austausch zu bringen. Eine realitätsnahe Simulation erforderte aus Sicht der Entwickler des Political Gaming das Zusammenspiel unterschiedlichen Wissens und konnte überhaupt erst in der Interaktion vieler eben gerade nicht universeller Wissensbestände und -formen gelingen. Das Political Gaming berücksichtigte somit prinzipiell die Möglichkeit, dass Wissen kulturell geprägt ist. Was und wie die Experten wissen, ist, in einem Wort: seinsverbunden.18 Das Ergebnis, der Verlauf der simulierten Krise, war nicht ein Addieren von Einzelmeinungen, sondern trat in einer Weise aus den Entscheidungen (und dem Wissen) der Teams hervor, in der das Resultat der jeweiligen Teamentscheidung immer abhängig war von den Entscheidungen der anderen Teams. Unintendierte Konsequenzen absichtsvollen Handelns waren möglich und in das Spieldesign einprogrammiert. Dadurch erhielt das Political Game aus Sicht seiner Vertreter Realitätsnähe. Auch realiter seien gesellschaftliche Entwicklungen durch ein Ineinanderwirken einer Vielzahl von Kräften und Faktoren geprägt, deren Bedeutung sich von unterschiedlichen Perspektiven aus unterschiedlich darstellt. Diesem Umstand entsprach das Political Gaming, indem es Expertengruppen mit unterschiedlichen Wissensbeständen bildete und diese Wissensbestände in Interaktion miteinander brachte.19 Diese theoretischen Differenzen zwischen den beiden Methoden sind in vielerlei Hinsicht bemerkenswert. So schwächen sie beispielsweise die Erklärungskraft von Ansätzen, die Orte und Organisationen als Träger bestimmter Wissenskulturen verstehen und in Laborstudien nachvollziehen wollen.20 Nicht die Forschungseinrichtung, sondern vielmehr die akademischen Traditionen, in denen die Akteure studiert hatten, waren entscheidend – Logischer Empirismus auf der einen, Mannheim’sche Wissenssoziologie auf der anderen Seite.21 Die theoretischen Differenzen widerlegen auch klar jene Darstellungen, die von einer weitgreifenden Dominanz positivistischer Wissenschaftsphilosophie innerhalb der Sozialwissenschaften im Kalten Krieg sprechen.22 Was allerdings in diesem Beitrag in den Vordergrund gestellt werden soll, ist die Frage, weshalb diese letztlich fundamentalen Unterschiede zwischen den beiden Techniken von den involvierten Akteuren nicht thematisiert wurden. Wie
18
Mannheim, Ideologie. Vgl. Goldhamer/Speier; Bessner, Weimar Social Science. 20 Vgl. Knorr Cetina; Latour/Woolgar; Traweek. 21 Vgl. dazu ausführlicher Dayé, Territorien. 22 Vgl. Dayé, Fiction. 19
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lässt sich erklären, dass ungeachtet der großen Nähe der beiden Prospektionstechniken die grundlegenden Unterschiede nicht beachtet wurden?
III. Vergangenheit und akademische Sozialisation als Kausalemente wechselseitiger Nichtbeachtung „Die deutschen Wörter hängen wie Bleigewichte an der deutschen Sprache, sagte ich zu Gambetti, und drücken in jedem Fall den Geist auf eine diesem Geist schädliche Ebene. Das deutsche Denken wie das deutsche Sprechen erlahmen sehr schnell unter der menschenunwürdigen Last seiner Sprache, die alles gedachte, noch bevor es überhaupt ausgesprochen wird, unterdrückt […]. Um wie vieles höher also, sagte ich zu Gambetti, seien die Leistungen unserer Philosophen und Schriftsteller einzuschätzen. Jedes Wort, sagte ich, zieht unweigerlich ihr Denken herunter, jeder Satz drückt, gleich was sie sich zu gedenken getraut haben, zu Boden und drückt dadurch immer alles zu Boden.“ (Thomas Bernhard)23
Wie eingangs ausgeführt, können beim Versuch, das Phänomen der wechselseitigen Nichtbeachtung zu erklären, drei Arten von Ansätzen unterschieden werden. Dieser Abschnitt diskutiert Ansätze der ersten Art, also solche, die in der Vergangenheit, in der Biografie der Akteure, eine Art Handlungsdisposition oder eine intellektuell-kognitive Prägung suchen und diese als grundlegend für Phänomene der Nichtbeachtung erachten. Konkret werden hier zwei Erklärungsansätze skizziert: (i) Idiome des Denkens und (ii) das Konzept des akademischen Stammes. Im Anschluss an eine allgemeine Skizze wird geprüft, inwieweit sich diese Erklärungen in Hypothesen übersetzen lassen, die für den konkreten Fall der beiden Prospektionstechniken plausibel sind. Wenden wir uns zunächst den (i) Idiomen des Denkens zu. Der Begriff des Idioms beschreibt in seiner in den Sprachwissenschaften gebräuchlichen Bedeutung eine eigentümliche Sprechweise, die einer regional oder sozial abgegrenzten Gruppe zu eigen ist und von Außenseitern nur bedingt verstanden werden kann, selbst wenn sie dieselbe Sprache verwenden. Diese Bedeutung des Idiombegriffs wurde in den Geisteswissenschaften und hier insbesondere in der Philosophie durch zwei Zuspitzungen erweitert und fruchtbar gemacht. Zum einen hat Bernhard Waldenfels den Begriff des Idioms bei seinem Vergleich des deutschen und des französischen Denkstils eingesetzt und dabei, wenngleich nicht mit derselben Brachialität, so doch dem Grundgedanken nach jener These nachgespürt, die der nicht gerade für seine Differenzierungen berühmte Schriftsteller Thomas Bernhard den Ich-Erzähler seines Romans Auslöschung formulieren ließ. Die Sprache präformiert das Denken, und Unterschiede in dem, was gedacht werden kann, lassen sich auf Unterschiede in dem, was gesagt werden kann, zurückführen. Waldenfels untersucht „Idiome des Denkens“ entlang einer Vielzahl unterschiedlicher Schnittflächen; im Zentrum seiner Er-
23
Bernhard, S. 8 – 9.
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örterungen allerdings steht die Gegenüberstellung von Eigen- und Fremdsprache.24 Die Eigensprache(n), üblicherweise vermittelt durch Mutter und Vater, steht hier allen weiteren Sprachen, die der Einzelne in seinem Leben erlernen mag, voran. Sie „ist ebensowenig eine bloße Sprache unter anderen, wie mein Leib kein Körper unter anderen, mein Geburtsort keine beliebige Raumstelle und meine Mutter keine beliebige Frau ist.“25 Sie ist die Sprache, mit der wir überhaupt erst vermittelt bekommen, dass es eine Sprache gibt. Sie wirkt daher natürlicher als alle weiteren Sprachen, und wir betrachten alles immer vor dem des von ihr eröffneten Denkhorizonts. Kann die wechselseitige Nichtbeachtung im Fall der beiden Prospektionstechniken durch die Hypothese erklärt werden, unterschiedliche Idiome hätten den Blick auf die Unterschiede im Konzept des Experten verstellt? Eher nicht. Zwar taucht in unserer Geschichte der von Waldenfels thematisierte Unterschied zwischen Muttersprache und Fremdsprache und entsprechend phänomenologisch zwischen EigenSinn und fremdem Sinn auf. Einige der Akteure unserer Geschichte hatten Deutsch als Muttersprache und andere nicht. Interessanterweise weisen die zwei Gruppen, die die beiden Prospektionstechniken entwickelten, in Bezug auf ihre Muttersprachen eine fast identische Konstellation auf. In beiden Fällen waren die senior scientists gebürtige Berliner, die aufgrund der sogenannten Machtergreifung der Nationalsozialisten aus Deutschland auswanderten: Olaf Helmer (1910 – 2011) im Fall der Delphi-Befragung, Hans Speier (1905 – 1990) im Fall des Political Gaming. Beide lernten recht schnell Englisch und konnten sich im Exil respektive ihrer späteren Heimat, den Vereinigten Staaten, rasch in wissenschaftliche Zirkel integrieren. Beiden standen bei der RAND Corporation gebürtige Nordamerikaner zur Seite: der Kalifornier Norman C. Dalkey (1915 – 2003) an der Seite Helmers, der Kanadier Herbert Goldhamer (1907 – 1977) an der Seite Speiers. Die Dritten im Bunde waren wiederum emigrierte Mitteleuropäer: Nicholas Rescher (*1928), der bereits im Alter von zehn Jahren mit seinen Eltern aus Deutschland in die Vereinigten Staaten emigrierte, und der deutlich ältere Paul (Pàl) Kecskemeti (1901 – 1980), ein gebürtiger Ungar, der in den 1920er Jahren in Deutschland studierte und von dort nach Amerika floh. Wenn die deutsche Sprache den Geist dieser Personen auf eine für diesen Geist schädliche Ebene drückte, wie Thomas Bernhard schreibt, dann tat sie es zumindest ohne Unterschied für beide Gruppen. Ähnliches gilt für den zweiten vergangenheitsorientierten Erklärungsansatz, der auf den (ii) akademischen Stamm und dessen Territorium Bezug nimmt. Die These dieses Ansatzes ist, dass „the ways in which particular groups of academics organize their professional lives are related in important ways to the intellectual tasks on which they are engaged.“26 Tatsächlich finde man, so die Begründer dieses Ansatzes, entscheidende Homologien zwischen der Art, in der Wissenschaftler ihren Gegenstand strukturieren, dem Territorium, und dem kulturellen Leben in der jeweiligen Diszi24
Vgl. Waldenfels, S. 310 – 330. Ebd., S. 319. 26 Becher/Trowler, S. 23. 25
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plin, der Stammeskultur. So würden Wissenschaftsgebiete, die klare Regeln und kulturell-normative Erwartungen an all ihre Mitglieder richteten, aller Wahrscheinlichkeit nach einen ebenso klar umgrenzten Gegenstandsbereich bearbeiten, und vice versa.27 Entscheidend seien Prozesse der akademischen Sozialisation, im Zuge derer den Novizen nicht nur die Grundlagen des Fachs vermittelt würden, sondern auch, welche Formen des Verhaltens akzeptabel seien und welche nicht. Hier gebe es große Unterschiede zwischen, z. T. aber auch innerhalb von Disziplinen. Mit diesem Ansatz kann zunächst der Umstand, dass die beiden besprochenen Techniken sozialer Prospektion den teilnehmenden Experten derart unterschiedliche epistemische Rollen zuwiesen, als Ergebnis einer friedlichen Koexistenz zweier Gruppen von Mitgliedern verschiedener akademischer Stämme in einem für beide eher fremden Territorium interpretiert werden. Zudem lässt sich daraus die Hypothese ableiten, dass die wechselseitige Nichtbeachtung eine Folge der akademischen Sozialisation war, die die Forschergruppen in jeweils unterschiedlichen Stämmen durchliefen. Diese verunmöglichte es ihnen, den jeweils anderen Ansatz zur Gänze zu begreifen. Allerdings kam es auch nicht zum Konflikt über das von beiden Stämmen beanspruchte Territorium, sodass mit Fug und Recht von einer friedlichen Koexistenz zweier Stämme in einem Territorium gesprochen werden kann.28 Die Annahme, die beiden Forschergruppen wären nicht in der Lage gewesen, den jeweils anderen Ansatz in seiner Gänze zu begreifen, ist jedoch nur wenig plausibel. Die Auseinandersetzungen um den Logischen Empirismus respektive den Neo-Positivismus auf der einen Seite und die Wissenssoziologie auf der anderen waren letztlich nicht nur wichtig und prägend für alle Beteiligten, sondern stelltenauch eine Beziehung zwischen den beiden Ansätzen her. Die Konkurrenz der beiden Ansätze auf dem intellektuellen Gebiet schuf ein Argumentationsgeflecht, in dem, wie in fast jeder wissenschaftlichen Kontroverse, die Vertreter des einen wissenschaftlichen Programms nicht nur die Inhalte der eigenen Lehre, sondern auch die der Opponenten erfassen müssen. Die wechselseitige Nichtbeachtung kann daher in diesem Fall kaum damit erklärt werden, dass die beteiligten Akteure die jeweils fremde Stammeskultur nicht verstanden hätten. Gerade die Vertreter des Political Gaming waren ja umgeben von einer Übermacht von Vertretern solcher Wissenschaften, die der positivistischen Wissenschaftsphilosophie näher standen als manche Teile der Sozialwissenschaften; sie waren also ständig mit der Gegenseite konfrontiert, eine Situation, die für sie nicht immer einfach war. In seinen „Autobiographischen Notizen“ schreibt Speier: „Nur wenige Mathematiker, Physiker oder Ingenieure in [!] RAND hatten maßvolle Ansichten über den Beitrag, den Sozialwissenschafter [!] zur Arbeit an Fragen der nationalen Sicherheit leisten könnten. Entweder glaubten sie an die Allmacht der Sozialwissenschafter und erwarteten, dass sie Luftschlösser errichten könnten, wie man Brücken baut, oder sie waren der ebenso unangemessenen Ansicht, dass Sozialwissenschafter überhaupt keine Wissenschaft betrieben und daher die Lösung politischer Probleme genauso gut Astrologen, 27 28
Ebd., S. 59; s. auch Becher. Vgl. Dayé, Territorien.
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Scharlatanen oder Dichtern überlassen werden könnte. […] Diese und andere Vorurteile stellten gelegentlich hohe Anforderungen an mein begrenztes Geschick im Umgang mit Kollegen.“29
Zieht man des Weiteren in Betracht, wie wichtig Interdisziplinarität in der Führungsetage RANDs genommen wurde, kann man sagen, dass sich die Mitglieder der Social Science Division in einem organisatorischen Umfeld befanden, das ihnen eine ständige Auseinandersetzung mit positivistisch orientierten Disziplinen abverlangte.30 Auch wenn die akademische Sozialisation entscheidend dafür war, dass die Prospektionstechniken die besprochenen Unterschiede aufwiesen, so kann sie nicht dafür herangezogen werden zu erklären, weshalb diese Unterschiede nicht thematisiert wurden.
IV. Charakteristika der Gegenwart als Kausalemente wechselseitiger Nichtbeachtung Wenden wir uns also Erklärungen des zweiten Typs zu, die Faktoren in der jeweiligen Gegenwart als verantwortlich für eine wechselseitige Nichtbeachtung annehmen. Exemplarisch für diese Art sollen hier Ansätze skizziert werden, die (iii) den Erfolgsstress, (iv) das Untersuchungsidiom und (v) die Komplexitätsreduktion als kausal verantwortlich für Nichtbeachtung sehen. So kann zunächst einmal die Möglichkeit in Betracht gezogen werden, dass die Einführung einer neuen Idee eine große Nachfrage auslösen und ihre(n) Erfinder sich somit mit Verhaltenserwartungen konfrontiert sehen, deren schiere Quantität allein schon Disstress auslösen kann. Erfolg kann weitreichende Verhaltensänderungen erforderlich machen: „To cope with the consequences of success, an individual would be required to change his living habits, adjust his interpersonal relationships, and, most important, adjust his personal standards for the behaviors he will expect of himself.“31 Doch so weitreichend müssen die Folgen von Erfolgsstress gar nicht sein, um als Erklärungsansatz für (gegenseitige) Nichtbeachtung herangezogen werden zu können. Das große Interesse an der von ihnen proklamierten Idee kann Autoren schlicht dazu bringen, andere Arbeiten stehen zu lassen und sich ganz auf das Vermitteln der einen Idee zu konzentrieren. Den aus dem Erfolg der Idee resultierenden, neuen Erwartungen nachzukommen, wächst sich zu einem massiven Druck aus und zwingt die Autoren dazu, ihre beruflichen Aufgaben neu zu priorisieren. Diese als Erfolgsstress zu bezeichnende Situation kann im Hinblick auf die beiden Prospektionstechniken in folgender Hypothese gefasst werden: Nach ihrer Einführung stieg die Nachfrage nach Studien, die diese Techniken einsetzten, derart rasant, dass die Aufmerksamkeit der RAND-Forscher dadurch vollständig in Beschlag ge29
Speier, Auswanderung, S. 370. Zur Bedeutung von Interdisziplinarität für RAND vgl. Collins, Laboratory; Campbell. 31 Vgl. Berglas, S. 75 – 83; Herv. i. Orig.
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nommen war und ihnen keine Zeit dafür blieb, die Unterschiede in den Expertenkonzepten herauszuarbeiten. Tatsächlich aber blieb das Interesse an beiden Techniken moderat, und die Mitglieder der Forschergruppen widmeten sich neben der Organisation von Political Games und Delphi-Studien einer Vielzahl anderer Projekte. Ein zweiter gegenwartsbezogener Erklärungsansatz nimmt wieder Bezug auf den Idiombegriff, spitzt ihn allerdings in spezifischer Weise zu. Michael Oakeshott prägte das Konzept der „idioms of inquiry“, worunter er Arretierungen (arrests) versteht, ohne die Theoriebildung unmöglich ist. Arretierungen sind axiomatische Setzungen vermittels eines bestimmten Sprachgebrauchs; die Ebenen von Sprache und Erkenntnis fließen also ineinander. Bei Oakeshott ist ,Idiom‘ eigentlich ein nachgereichter Begriff, der die Untersuchungsordnung (order of inquiry) spezifizieren soll. Um Objekt eines Verständnisvorgangs zu werden, muss ein Vorgang zunächst insofern geordnet werden, als dass seine Grenzen und seine Form identifiziert werden; im Anschluss muss dann entschieden werden, welchem Sprachregister, also welchem Untersuchungsidiom der Vorgang zuzuordnen ist.32 Welche Arretierungen ein Forscher vornimmt, ist zwar zu einem gewissen Teil durch seine akademische Sozialisation präformiert, jedoch nicht determiniert. Im Gegenteil: die Setzungen laufen ständig Gefahr, in den Strudel der Reflexion hineinzugeraten, sind also prinzipiell fragil. Sie stellen keine Denkunmöglichkeiten dar, sondern richten sich gebotsartig oder dogmatisch an die Wissenschaftler. Erkenntnisfortschritt kann erzielt werden, aber nur, solange die Ordnung als Ordnung und die Idiome als Idiome funktionieren. Überträgt man diesen Denkansatz auf den hier behandelten Fall, ergibt sich folgende Erklärungshypothese: Die beiden Forschergruppen haben die Unterschiede zwischen ihren Konzeptualisierungen des Experten nicht beachtet, weil diese als Arretierungen notwendig für die Aufrechterhaltung der jeweiligen Untersuchungsordnungen waren. Hätten sie diese Unterschiede thematisiert, so wären sie in einen Reflexionsstrudel geraten, der ihre Energie davon abgelenkt hätte, was zu tun sie als ihre vorrangige Aufgabe erachteten, nämlich von der Produktion von entscheidungsrelevantem Zukunftswissen. Die beiden Gruppen waren sich dessen bewusst, dass sie im Zuge ihrer akademischen Sozialisationen verschiedene Erkenntnismuster angenommen hatten. Vielleicht ahnten sie die Inkompatibilität der ihren Techniken zu Grunde gelegten Expertenkonzepte. Möglicherweise war es aber auch nur eine diffuse Angst vor der Fragilität der eigenen Ansätze, die sie davon abhielt, diesen Unterschieden systematisch nachzugehen. Für diese Hypothese spricht einiges, vor allem der Umstand, dass die Nähe von RAND zu Entscheidungsträgern in Politik und Militär einerseits, die Krisensituation des Kalten Kriegs andererseits ein Organisationsklima schufen, in dem die unmittelbare Relevanz von Ergebnissen höher bewertet wurde als gedankliche, philosophische Tiefe. Nachzuweisen, dass ihr im vorliegenden Fall keine allzu große Erklärungskraft zukommt, ist hingegen etwas schwieriger. In den Berichten und Memoranden sind jedenfalls keine Spuren der Sorge zu finden, dass sich die Forscher in 32
Vgl. Oakeshott, S. 16.
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Reflexionsstrudeln verfangen könnten. Auf einer der beiden Seiten, nämlich von Seiten der Delphi-Befragung, wurde zudem der Versuch einer epistemologischen Fundierung der beiden Techniken (und anderer Ansätze) unternommen, was ebenso gegen eine vermeintliche Sorge vor Reflexionsstrudeln spricht.33 Auch lässt sich kein Beleg dafür finden, dass die beteiligten Wissenschaftler in der einen oder anderen Weise über die Sinnhaftigkeit ihrer Techniken besorgt gewesen wären oder Angst davor gehabt hätten, dass ihre Ansätze sich als methodologisch unhaltbar erweisen würden. Helmer entschied sich Ende der 1960er Jahre, RAND zu verlassen und mit weiteren ehemaligen RAND-Mitarbeitern einen Thinktank zu gründen – das Institute for the Future in Palo Alto –, dessen Geschäft im Einsatz der Delphi-Methode und anderer Prospektionstechniken für eine Vielzahl unterschiedlicher Interessenten bestand.34 Auf Seite der Political Gamer zogen Speier und Goldhamer nach vier groß angelegten Spielen den Schluss, dass sich weitere Spiele für RAND nicht auszahlen würden – nicht, weil die Technik nicht die gewünschten Ergebnisse lieferte, sondern weil sie zu kostspielig sei.35 Sie unterstützten allerdings tatkräftig das Center for International Studies des MIT in Cambridge, Massachusetts, das gegen Ende der 1950er Jahre begann, Political Gaming in Forschung und Lehre einzusetzen.36 Nichts deutet also darauf hin, dass die beiden Gruppen an der Solidität ihrer Prospektionstechniken zweifelten. Ein dritter Erklärungsansatz beruht auf einer metaphorischen Übertragung eines Konzepts aus der Informatik. Beim Bau großer Softwaresysteme verursachen Interdependenzen zwischen verschiedenen Elementen und Ebenen einerseits einen nicht geringen Rechenaufwand. Andererseits sind sie auch potentielle Fehlerquellen, deren Ursachen nur schwer identifiziert und noch schwerer beseitigt werden können. Daher wird in der Fachliteratur zuweilen das „Principle of Mutual Oblivion“ (PoMO) empfohlen.37 Bei diesem Prinzip der wechselseitigen Nichtbeachtung wird gezielt darauf geachtet, dass Softwareelemente nur jene Verbindungen aufweisen, die sie tatsächlich zum Erfüllen ihrer Aufgaben benötigen. Ziel ist also die Reduktion von Interdependenzen. Umgelegt auf das Phänomen der wechselseitigen Nichtbeachtung in der Geschichte der Sozialwissenschaften würde das heißen, dass Wissenschaftler gezielt gewisse Wissensinhalte außer Acht lassen, weil diese die Komplexität der zu bearbeitenden Aufgaben in einer Weise erhöhen würden, die deren Erfüllung erschweren oder sogar verunmöglichen könnte. Die dazugehörige Hypothese in unserem Fall würde also veranschlagen, dass die wechselseitige Nichtbeachtung der Unterschiede im Expertenkonzept daher rührte, dass eine Beachtung die Weiterentwicklung der beiden Prospektionstechniken gefährdet hätte. Im Unterschied zu dem Ansatz der Untersuchungsidiome ist hier 33
Vgl. Helmer/Rescher. Vgl. Tolon. 35 Vgl. Goldhamer/Speier. 36 Vgl. Bloomfield/Padelford; Bloomfield; Bloomfield/Whaley. 37 Vgl. Westphal; Erath. 34
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nicht die Angst vor dem Reflexionsstrudel und der Fragilität des eigenen Ansatzes bestimmend. Im Fokus steht vielmehr die Ansicht, dass die gestellte Aufgabe effektiver und effizienter erfüllt werden kann, wenn andere Wissensbestände unbeachtet bleiben. Für die beiden Prospektionsmethoden hingegen scheint allerdings das Gegenteil der Fall zu sein. Insbesondere die Delphi-Befragung wies, so ergab die obige Diskussion, einige sozialtheoretische Schwächen auf, die zu beheben eine systematische Konfrontation mit dem Political Gaming imstande gewesen wäre. Und auch das Political Gaming hätte von einer ernst gemeinten Auseinandersetzung mit den Ideen der Delphi-Erfinder profitieren können, und zwar hinsichtlich eines besseren Verständnisses der eigenen Annahmen einerseits und Erweiterungsmöglichkeiten des Spieldesigns andererseits.
V. Zukunftsvorstellungen als Kausalemente wechselseitiger Nichtbeachtung Der sechste und letzte der hier zu besprechenden Ansätze, das Konzept der „epistemischen Hoffnungen“, scheint den vorliegenden Fall am besten erklären zu können. Wenn auch nicht ganz trennscharf gegenüber den gegenwartsorientierten Erklärungsansätzen, so ist doch entscheidend, dass Zukunftsvorstellungen als bestimmend für das Handeln angesehen werden. Unter „epistemischen Hoffnungen“ verstehe ich die von den Entwicklern eines neuen kognitiven Elements – einer Theorie, einer Methode, einer Technik oder Ähnlichem – gehegten, (positiven) Erwartungen hinsichtlich der Verbesserungen in Wissenschaft und Gesellschaft, die mit der Einführung dieses kognitiven Elements einhergehen können. Diese Hoffnungen leiten bereits den Schaffensprozess des besagten kognitiven Elements an. Epistemische Hoffnungen müssen den Entwicklungsgang von Wissenschaften nicht internalistisch, d. h. aus den ideellen theoretischen Gehalten dieser Wissenschaften erklären, können es aber: die Entwickler können hoffen, Verbesserungen im wissenschaftlichen Erkennen zu erzielen. Epistemische Hoffnungen können sich auch, wie im vorliegenden Fall, auf weitere kulturelle, gesellschaftliche oder politische Diskurse und Situationen beziehen.38 Die unserem Fallbeispiel entsprechende Hypothese lautet, dass die Unterschiede zwischen den beiden Prospektionstechniken deshalb nicht in den Blick kamen, weil die Hoffnung – durch Einsatz der Techniken etwas zum Besseren bewegen zu können – stärker war als der Wunsch nach einer methodologisch-theoretisch sauberen Ausarbeitung. Die epistemischen Hoffnungen führten (vermutlich in Zusammenspiel mit der erwähnten praxisorientierten Grundhaltung bei RAND) dazu, dass ein möglichst rasches Testen und Einsetzen der Techniken den beteiligten Akteuren wichtiger erschien, als eine profunde philosophische Fundierung. Das Konzept der „epistemischen Hoffnungen“ wird hier in zweifacher Weise verwendet, und zwar so, dass 38
Vgl. Dayé, Systematic Use.
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die beiden Verwendungsweisen einander ergänzen. Zum einen dient es als analytische Kategorie in der Analyse der Texte, Interviewtranskripte und sonstigen Quellen. So erhält man etwa aus den folgenden Passagen einen ersten Überblick über die epistemischen Hoffnungen, die die Entwickler mit ihren Instrumenten verknüpften: „The decisions which professional decision makers – governmental administrators, company presidents, military commanders, etc. – are called upon to make inevitably turn on the question of future developments, since their directives as to present actions are invariably conceived with a view to future results. Thus a reliance upon predictive ability is nowhere more overt and more pronounced than in the area of policy formation, and decision making in general.“39
Und etwas später heißt es: „While the value of scientific prediction for sound decision making is beyond question, it can hardly be claimed that the inexact sciences have the situation regarding the use of predictive expertise well in hand. Quite to the contrary, it is our strong feeling that significant improvements are possible in the predictive instruments available to the decision maker. These improvements are contingent on the development of methods for the more effective predictive use of expert judgment.“40
Zunächst einmal sticht das wiederholte Vorkommen von Begriffen des Zwangs und der Notwendigkeit ins Auge. Gegenwärtige Entscheidungen in Politik, Wirtschaft und Militär, so ist zu lesen, bezögen sich „unweigerlich“ (inevitably) auf die Zukunft. Nicht nur der Bedarf an, sondern ganz prinzipiell die Angewiesenheit auf gesichertes Zukunftswissen sei „offenkundig“ (overt) und stehe „außer Frage“ (is beyond question). Da im Anschluss an diese dogmatisch gesetzten „Offensichtlichkeiten“ die Lösung präsentiert wird, nämlich Methoden für die effektivere Nutzung von Expertenurteilen für Vorhersagen wie eben Delphi und Political Gaming, kann diese Rhetorik als Indikator dafür gelten, wie groß die Hoffnungen waren, die mit den neuen Prospektionstechniken verknüpft waren. Kurz zusammengefasst, lautete das Argument wie folgt: Wichtige Entscheidungen würden ein gewisses Maß an Wissen über künftige Entwicklungen und daher gute Prognosemethoden benötigen, die in den relevanten Wissenschaften noch nicht zur Zufriedenheit entwickelt worden seien. Um aus diesem Argument konkret die epistemischen Hoffnungen abzuleiten, die die Entwickler der Prospektionstechniken antrieben, bedarf es ein paar Bemerkungen zum historischen Kontext, in dem dieses Argument formuliert wurde. Die Entwicklung der beiden Methoden fällt in das „Zeitalter des Experten“.41 Der Experte unterscheidet sich von früheren Formen des Wissenstransfers zwischen Wissenschaft und Entscheidungsmacht dadurch, dass er neben den ihn beauftragenden Gruppen oder Eliten auch systematisch eine Medienöffentlichkeit adressiert. Parallel 39
Helmer/Rescher, S. 41. Ebd., S. 42. 41 Z. B. bei Brint; Turner, Democracy; s. auch Ezrahi; Turner, Politics; Collins. 40
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zur Ausbreitung der Massenmedien und der Entwicklung einer massenmedialen Öffentlichkeit, erlangte diese Sozialfigur seit den 1940er Jahren wachsende Aufmerksamkeit. Während naturwissenschaftliche Experten uneingeschränkte Aufmerksamkeit genossen, lag es nun an den Sozialwissenschaften, der aus der Janusköpfigkeit technischen Fortschritts resultierenden globalen Gefährdung Schranken der Vernunft zu setzen und Strukturen und Informationen zu liefern, die Fehlentwicklungen und -entscheidungen nach Möglichkeit vermeiden konnten. Das zu erreichen, war die Hoffnung der RAND-Auguren. Und der Weg, den sie dazu einschlugen, war die systematische Nutzung von Expertenwissen. Ausdrücke wie „unweigerlich“ und „offenkundig“ verweisen immer auf einen vielleicht impliziten, aber jedenfalls kontingenten theoretischen Rahmen, auf einen, wie Ludwik Fleck sagen würde, ,Denkstil‘.42 Der Denkstil, der sich hier niederschlug, stellte außer Frage, dass Entscheidungen in Politik und Wirtschaft nach sorgfältiger Prüfung aller vorhandenen Informationen und aufgrund von sachlichen und nachvollziehbaren Überlegungen gefällt wurden und in diesem Sinne rational waren. Dieses Entscheidungsmodell prägte die zeitgenössische Debatte wie kaum ein anderes und bestimmte damit auch die Überlegungen über die Bedeutung der Sozialwissenschaften als politische (und kulturelle) Kraft. In einer Zeit, in der (instrumentelle) Rationalität sprachlich und theoretisch oft als Vernunft schlechthin verstanden wurde,43 hob der Denkstil der Auguren des Kalten Kriegs die Wissenschaft in den Rang der wichtigsten Lieferantin von politischer und kultureller Vernunft. Die beiden hier besprochenen Prospektionstechniken eint mit vielen anderen zu dieser Zeit für den militärisch-politischen Bereich entwickelten Techniken – etwa der Systemanalyse, dem Planning, Programming, and Budgeting System (PPBS), oder der Program Evaluation and Review Technique (PERT) –, dass sie methodenhafte, transparente und formalisierbare Schrittfolgen als Alternative für Prozesse entwarfen, in denen bislang Fachmenschen aufgrund ihrer Profession entschieden. Die Wissensansprüche von Fachmenschen (in unserem Fall also den Offizieren), die sich aus deren Profession und Erfahrung ableiteten, kollidierten mit den neuen Ideen der zivilen und wissenschaftlich ausgebildeten, zumeist aber als unerfahren geltenden Experten. Das Ziel dieser Bewegung aber war nicht vorrangig, die Fachmenschen – seien es nun hochrangige Offiziere, Beamte, Politiker oder Industrielle – durch Experten zu ersetzen. Vielmehr ging es darum, jene Wissensansprüche, die sich aus Profession und Erfahrung ableiteten und daher Entscheidungen oft in impliziter Weise beeinflussten, zu explizieren und sie methodisch in Interaktion mit anderen, expliziten Wissensbeständen zu bringen. Angestrebt wurde eine „Objektivierung politischer Entscheidungsprozesse“ und somit eine „Entpolitisierung der Politik“44 – explizit eine Umwälzung, für die Robert McNamara’s Whiz Kids die Aushängeschilder
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Vgl. Fleck. Vgl. Erickson et al. 44 Ich übernehme diese Ausdrücke von Amadae, S. 185. 43
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waren.45 Wenngleich das für andere Techniken in weit massiverem Ausmaß zutraf als für die hier besprochenen Prospektionstechniken,46 so existierte auch bei diesen ein Moment der Ermächtigung, der Machtpolitik durch die Politikanalysten. Mit der Entwicklung dieser Prospektionstechniken war also auch die Hoffnung verknüpft, Entscheidungen zukünftig auf einer Wissensbasis zu treffen, die Erfahrungswissen und wissenschaftliches Wissen systematisch verknüpfte – allerdings gemäß einer Logik, die wissenschaftliches Wissen priorisierte. Das Konzept der „epistemischen Hoffnungen“ kann aber in der historischen Rekonstruktion auch anders verwendet werden, nämlich als erklärendes Konzept. Meiner Ansicht nach ist die plausibelste Antwort auf die Frage, weshalb die Differenzen in der Konzeption des Experten nicht thematisiert werden, in eben diesen epistemischen Hoffnungen zu finden. Die Differenzen blieben kaschiert hinter einer rudimentär formulierten, aber weitgehend geteilten Sicht auf die normativen Grundlagen des eigenen Handelns als Forscher. Die Objektivierung politischer Entscheidungsprozesse war keine Kür und keine Option. Angesichts der drohenden globalen Nuklearkatastrophe erschien sie als existenzielle Notwendigkeit, der vieles untergeordnet werden musste – unter anderem auch die Frage, ob die eigenen Prospektionstechniken auf stabilen methodologischen Fundamenten beruhten. Die Hoffnung, dass die eigene Prognosetechnik zu einer guten Politik beitragen würde, verstellte – fast wie ein obstacle épistémologique – den reflektierenden Blick auf die eigenen Annahmen.47
VI. Schluss In der Geschichte der Sozialwissenschaften ist wechselseitige Nichtbeachtung ein vielschichtiges und häufig anzutreffendes Phänomen. Historisch gut dokumentiert ist es bei Max Weber und Émile Durkheim sowie bei Karl Mannheim und Ludwik Fleck, doch sind das nur die bekannteren Fälle.48 Nichtbeachten stellt eine Form des Nichtwissens dar, die sich von anderen Formen – wie etwa dem Vergessen, dem Ignorieren oder dem fehlenden Wissenszugang – unterscheidet. Wechselseitige Nichtbeachtung kann viele Gründe haben; allerdings fehlte in der Fachliteratur bis dato eine Systematisierung dieser Gründe. Der vorliegende Beitrag hat eine solche vorgeschlagen. Er unterscheidet drei Arten von Begründungen – vergangenheits-, gegenwarts- und zukunftsorientierte – und skizziert zu jeder dieser Arten Erklärungsansätze. Zudem bezieht er sich auf einen konkreten historischen Fall wechselseitiger Nichtbeachtung und erwägt für diesen Fall die Stärken der jeweiligen Erklärungen. Der erwähnte historische Fall ereignete sich in den 1950er Jahren bei der RAND Corporation, einem von der US Air Force gegründeten und vornehmlich von ihr fi45
Vgl. Kuklick, S. 97 – 98; Kaplan, S. 255 – 257. Vgl. Sapolsky; Light; Jardini. 47 Vgl. Bachelard. 48 Zu Weber und Durkheim vgl. Tiryakian; zu Mannheim und Fleck vgl. Pels; Graf/Mutter. 46
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nanzierten Thinktank. Hier wurden zwei Prospektionstechniken entwickelt, die Delphi-Befragung und das Political Gaming, die beide Zukunftsszenerien aus Expertenmeinungen ableiteten. Dabei allerdings beruhten sie auf zwei unterschiedlichen Konzeptionen des Experten. Trotz der Nähe wurden diese Unterschiede nicht thematisiert. Dieses Fallbeispiel wird genutzt, um einerseits die Besonderheiten der jeweiligen Erklärungsansätze herauszustellen. Andererseits wird auch herausgearbeitet, welcher dieser Ansätze für den konkreten Fall am plausibelsten erscheint. Insbesondere in einem Feld wie der Cold War Social Science, für die ein Streben nach Praxisrelevanz und breiter politischer oder kultureller Wirksamkeit charakteristisch ist, ist die breitere Ausrichtung der epistemischen Hoffnungen solchen Erklärungsansätzen vorzuziehen, die rein auf innerwissenschaftliche Faktoren rekurrieren. Die Stabilität der Cold War Social Science in den Vereinigten Staaten war weniger ein Ergebnis der vermeintlichen Dominanz eines wissenschaftstheoretischen Paradigmas, sondern vielmehr Produkt eines geteilten Verständnisses der politischen Dringlichkeit sozialwissenschaftlichen Wissens. Die Hoffnung auf eine bessere Zukunft prägte zum einen die Art, in der Sozialwissenschaftler ihre eigene Position in der Gesellschaft verstanden. Zum anderen machte sie aber auch blind für die Feinheiten und Schwächen der eigenen Ideen. Literatur Abbott, Andrew: Chaos of Disciplines, Chicago/London 2001. Amadae, S. M.: Rationalizing Capitalist Democracy. The Cold War Origins of Rational Choice Liberalism, Chicago 2003. Andersson, Jenny: The Great Future Debate and the Struggle for the World, in: American Historical Review, 117 (2012) 5, S. 1411 – 1430. Bachelard, Gaston: Der neue wissenschaftliche Geist, Frankfurt am Main 1988. Becher, Tony: Academic Tribes and Territories. Intellectual Enquiry and the Cultures of Disciplines, Milton Keynes 1989. Becher, Tony/Trowler, Paul: Academic Tribes and Territories. Intellectual Enquiry and the Culture of Disciplines, 2. Aufl., Buckingham/Philadelphia 2001. Bernhard, Thomas: Auslöschung. Ein Zerfall, Frankfurt am Main 1986. Bessner, Daniel: Organizing Complexity. The Hopeful Dreams and Harsh Realities of Interdisciplinary Collaboration at the Rand Corporation in the Early Cold War, in: Journal of the History of the Behavioral Sciences, 51 (2015) 1, S. 31 – 53. – Weimar Social Science in Cold War America. The Case of the Political Game, in: Jan Logemann/Mary Nolan (Hrsg.), More Atlantic Crossings? European Voices in the Postwar Atlantic Community, Bulletin of the German Historical Institute, Supplement 10, Washington (DC) 2014, S. 91 – 109. Bloomfield, Lincoln P.: Political Gaming, in: United States Naval Institute Proceedings, 86 (1960) 9, S. 57 – 64.
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Inszenierungen von ökonomischer Methodik, Interventionswissen und wissenschaftlichen Personae John K. Galbraith und Robert M. Solow zu Methode und Politik in der Industriegesellschaft (1967)* Von Verena Halsmayer und Eric Hounshell
I. Einleitung „It is a book for the dinner table not for the desk“ lautete Robert M. Solows Rezensionsurteil, das er 1967 in der Herbstausgabe des Magazins The Public Interest veröffentlichte. Das besprochene Buch, John K. Galbraiths The New Industrial State (1967), vermöge zwar ein Laienpublikum zu begeistern, erfülle jedoch kaum die Ansprüche einer professionellen Leserinnenschaft.1 Solow, Ökonom am Massachusetts Institute of Technology (MIT) und in den frühen 1960er Jahren Experte für John F. Kennedys Council of Economic Advisers, vertrat in seiner Rezension einen Ansatz ökonomischen Denkens, der auf mathematischen und statistischen Modellierungstechniken beruhte, die in der Ökonomik seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs immer dominanter geworden waren.2 Galbraith stellte in seinem Buch gerade diese Form der ökonomischen Wissensproduktion an den Pranger. Als Professor für Ökonomik an der Harvard University, persönlicher Berater Kennedys und prominente Figur im öffentlich-intellektuellen Leben präsentierte er The New Industrial State als letzten von drei Bänden zur kritischen Analyse der zeitgenössischen „Industriegesellschaft“.3 Stellten die neuen quantitativen und mathematischen Modellie* Die AutorInnen danken den Herausgebern für hilfreiche Kommentare und Anregungen und den TeilnehmerInnen der Tagung „Geschichte der Sozialwissenschaften im 19. und 20. Jahrhundert. Organisation – Idiome – Praktiken“ für die Diskussion. Insbesondere danken wir Christian Dayé, dessen Sektion „Contextualized Histories of Social Science Methods and Methodologies“ an der European Social Science History Conference 2014 uns zu einer ausführlicheren, englischen Fassung dieses Artikels motivierte. Das DK „Die Naturwissenschaften im historischen, philosophischen und kulturellen Kontext“ der Universität Wien ermöglichte den Beginn unserer Zusammenarbeit. Stefan Nagy gilt unser Dank für die sprachliche Unterstützung. 1 Dt.: Die moderne Industriegesellschaft (1968). 2 Solow sollte Jahre später den Alfred-Nobel-Gedächtnispreis der Schwedischen Reichsbank erhalten. 3 Positive Rezensionen von The New Industrial State wurden in anderen führenden Magazinen veröffentlicht. David Halberstam schrieb in Harper’s Magazine, Michael Harrington
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rungsmethoden für Solow jenes technische Wissen bereit, das staatliche Intervention überhaupt erst möglich machte, beschränkten sie für Galbraith kritisches ökonomisches Denken und leisteten den herrschenden Produktivitäts- und Wachstumsideologien Vorschub. Stärker noch als frühere Arbeiten Galbraiths präsentierte The New Industrial State das wissenschaftliche Prestige der ökonomischen Disziplin als ideologische Funktion, destruktive Tendenzen eines US-amerikanischen Kapitalismus zu verschleiern. In seiner Rezension wehrte sich Solow gegen Galbraiths Vorwürfe und verteidigte die methodische Vorgehensweise einer „technischen“ Ökonomik im untypischen Format einer Persiflage, die vor Polemik und Schlagkraft strotzte und dem kritischen Gestus und Kampfgeist seines Kontrahenten um nichts nachstand. Mit popkulturellen Anspielungen, Verweisen auf Literatur und Kunst, Anekdoten und CommonSense-Argumenten sprach Solow Galbraith nicht nur jegliche wissenschaftliche Ernsthaftigkeit ab, sondern auch die moralische Entrüstung, mit der dieser seine Kritik an der etablierten Disziplin vorbrachte. Der geschmähte Autor ließ die Rezension nicht auf sich sitzen und verfasste eine „review of a review“, welche wiederum weitere Beiträge Solows und den Mediationsversuch des Cambridger Ökonomen Robin Marris in der Folgeausgabe des Public Interest nach sich zog.4 Was als Diskussion über die Rechtmäßigkeit von Modellannahmen begann, entwickelte sich zu einer vielschichtigen Auseinandersetzung über die Legitimität und politische Bedeutung wirtschaftswissenschaftlichen Wissens in den 1950er und 1960er Jahren. Wie Methoden und die jeweils als relevant erachteten sozialen und politischen Kontexte zusammenpassten, war für die Akteure ein zentraler Streitpunkt, gerade weil sie sich überraschend einig über ihre gesellschaftlichen Ziele und politischen Vorstellungen schienen. Ihre scheiternden Bemühungen, eindeutige Deckungsverhältnisse und lineare Beziehungen zwischen Methode und Politik herzustellen, stehen im Zentrum der folgenden Ausführungen. Entgegen einer ideenhistorischen Abgrenzung großer Ökonomen, unterschiedlicher Schulen oder gar Paradigmen steht im Hintergrund unserer Analyse die Auffassung, dass, grob mit Ludwik Fleck gedacht, Solow und Galbraith jeweils Schnittstellen unterschiedlicher (innerin Commentary. Commentary, eng verbunden mit The Public Interest, organisierte bald nach Galbraiths Veröffentlichung Heftschwerpunkte zur Gesellschaft im Überfluss und der Werbeindustrie. Und Charles Reich ließ in seiner berühmten Ankündigung einer neuen countercultural Epoche, The Greening of America, der Bewunderung für Galbraith freien Lauf, s. Reich. 4 Marris war zwar weniger bekannt als Galbraith und Solow, aber immerhin eine bemerkenswerte Figur, wenn es um die Frage von Methode und Politik ging. Als fellow des King’s College und Mitarbeiter der Fabian Society stand er keynesianisch-marxistischen Ansätzen, wie jenem Joan V. Robinsons, nahe, rezipierte die Größen der amerikanischen Gesellschaftskritik – David Riesman, William H. Whyte, Vance Packard, C. Wright Mills und Charles Reich – und war einer der ersten Ökonomen, die mit Herbert Simons Konzept des „satisficing“ anstelle eines maximierenden rationale Akteurs arbeitete. Aus Platzgründen kann im Folgenden nicht gesondert auf Marris‘ Arbeit eingegangen werden. Für biografische Zusammenhänge s. Wood.
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wie außerwissenschaftlicher) Denkkollektive waren. Sie gehörten teilweise verschiedenen, teilweise denselben Kollektiven an. Diese Konstellationen ermöglichten einerseits ihre Auseinandersetzung, ließen andererseits ihre Diskussionsversuche aber auch scheitern.5 Wir betrachten Solows und Galbraiths epistemische, gesellschafts- und personenbezogene Äußerungen als Inszenierungen der jeweiligen Forschungsarbeit für ein Laienpublikum und als Versuche, diese mit Bedeutung zu versehen. In ihren Bemühungen, Passungen von Methode und Politik herzustellen, lesen wir drei ineinandergreifende Dimensionen der Auseinandersetzung: (1) Die kunstvolle Inszenierung des (richtigen) Forschungsvorgehens kommunizierte – vor dem Hintergrund unterschiedlicher Forschungs- und Schreibpraktiken – Idealvorstellungen von wirtschaftswissenschaftlicher Methodik. (2) Die Einschätzung der gesellschaftlichen Wirkmächtigkeit ökonomischen Interventionswissens brachte verschiedene Vorstellungen von gesellschaftlicher Steuerung und der (richtigen) Form von Politikberatung zur Geltung. (3) Die polemische Konstruktion der wissenschaftlichen Personae der Kontrahenten stellte das letzte und einzig effektive Mittel bereit, für klare Abgrenzungen zu sorgen. Weit mehr als nur Klatsch oder persönliche Missgunst, legten diese rhetorischen Übungen die von den beiden Ökonomen gepflegten epistemischen Tugenden, wissenschaftlichen Idiome und politischen Selbstverständnisse offen. Unsere Lektüre verwischt die von Galbraith und Solow gezogenen gegenseitigen Abgrenzungen und hinterfragt retrospektive Zugriffe, die deren allzu glatte Verknüpfung von Methode und Politik übernehmen. Besonders in einer Situation, in der das technische Idiom der Ökonomik als Modellierungswissenschaft gerade noch nicht absolute Vormachtstellung erlangt hatte, an den Bruchstellen und Überschneidungen von Denkstilen, so unsere Vermutung, wird die Komplexität und historische Offenheit von vordergründig so eindeutigen Methodendebatten ersichtlich.
5 „Denkstil“ meint hier mit Fleck bestimmte Stile der Generierung und Äußerung von Wissen. Fleck fasst den Begriff der Denkkollektive weit – wissenschaftlich und außerwissenschaftlich (etwa Parteien, Stände oder Länder, S. 61), „wenn zwei oder mehrere Menschen Gedanken austauschen“ (S. 135). Die Gesamtheit der Denkstile, an denen ein Individuum Teil hat, bestimmt den Wissensbestand, welcher wiederum gerichtetes Wahrnehmen hervorbringt. Die innere Struktur und Dynamik von wissenschaftlichen Denkstilen hängt nicht zuletzt an den Apparaten und Materialitäten des Forschens, die bestimmte Formen des Sehens bedingen und festlegen, was ein wissenschaftliches Problem, was die relevanten Gegenstände, eine legitime Beurteilung und eine angebrachte Vorgehensweise ist. Die Materialitäten ökonomischer Forschung wären etwa die Modelle und Tabellen, die grundlegend bestimmen, was „die Ökonomie“ ist und wie sie untersucht werden kann und soll. Zur Verwandtschaft von Denkstilen und ,Idiomen‘, die beide einem Sprechen über Theorie oder Methodik vorgelagert sind, s. Langenohl im vorliegenden Band.
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II. Provokation: The New Industrial State In The New Industrial State vertiefte Galbraith seine kritische Analyse der USamerikanischen Nachkriegsgesellschaft, wie er sie bereits in The Affluent Society (1958) präsentiert hatte.6 Seine Verbindung von massivem moralischen Unbehagen gegenüber der um sich greifenden Massenkonsumkultur und der geringer werdenden Bedeutung öffentlicher Güter mit einer umfassenden Kritik der ökonomischen Disziplin war eine Kampfansage – und wurde von Solow auch als solche gelesen. In einer Zeit, so Galbraith, in der wirtschaftliches Leben zunehmend durch die Macht von Großkonzernen geprägt werde, Staat und Industrie immer mehr zusammenwachsen würden und sich Firmen vom Marktleben abschirmten, würden Ökonomen mit ihren konventionellen neoklassischen Annahmen gesellschaftliche Realität radikal verkennen, wenn nicht gar mit voller Absicht verschleiern. Dies erfolge zum einen auf pragmatischer Ebene, indem Ökonomen die statistischen und mathematischen Instrumentarien bereitstellten, welche überhaupt erst das Bild einer aggregierten Nationalwirtschaft schufen, in der sich Effizienzstreben und Konsumsteigerung als primäres Ziel und ultimatives Mittel ökonomischer Steuerung vorstellen ließ. Zum anderen auf ideologischer Ebene, indem ihre Theorien „an elaborate and ingenious defense of the importance of production as such“ vermittelten.7 Galbraith sah seine Aufgabe darin, die hinter der von jenen Ökonomen vorgetragenen programmatischen Vorstellung einer präzisen und wertfreien Wissenschaft verborgenen Grundannahmen aufzudecken. Die konventionellen neoklassischen Annahmen rational entscheidender, souveräner Verbraucherinnen und profitmaximierender Unternehmerinnen erlangten in Galbraiths Gegenentwurf einer ökonomischen Realität destruktive Bedeutung. Nachdem der Einsatz moderner Produktionstechnologien hohen Kapitalaufwand erforderte, müssten Firmen auf langfristige Planung, eine zunehmend komplexe Organisationsstruktur und hoch spezialisiertes Personal setzen. Diese neuen Kapitalgesellschaften trachteten nun danach, ihr Risiko zu minimieren und sich gegenüber den Märkten abzuschirmen. Ihre Hauptstrategie sei dabei, private Nachfrage über die Weckung künstlicher Bedürfnisse zu steuern. Die erste von Galbraith kritisierte Annahme war demnach, dass sich Konsumentensouveränität in Anbetracht der grassierenden Werbeindustrie und ihrer manipulativen Praktiken ad absurdum führe und lediglich die „relentless propaganda on behalf of goods in general“8 befördere. Ein zweiter Kritikpunkt an den konventionellen Annahmen ökonomischer Lehre betraf die Veränderungen der Firmenstruktur im Übergang der Unternehmensleitung und -kontrolle von den Eigentümern, den Entrepreneurs, zu den neuen Managern und Technikern (der „technostructure“). Hatten Unternehmerinnen zum Ziel gehabt, Pro6 Dt.: Gesellschaft im Überfluss (1959). Zur Rezeption von The Affluent Society und Galbraiths Vorwegnahme antimaterialistischer Gegenkultur s. Horowitz, S. 106 – 108. 7 Galbraith, The Affluent Society, S. 114. 8 Galbraith, The New Industrial State, S. 209.
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fite zu maximieren, so trachtete die Technostruktur mit ihren Firmenfonds haltenden Managern lediglich danach, das Wachstum der Umsätze respektive Renditen zu maximieren. Indem Ökonominnen an der Annahme des profitmaximierenden Unternehmens festhielten verdeckten sie den zerstörerischen Wachstumstrieb des zeitgenössischen Kapitalismus.9 Galbraiths Kritik an seinen Kollegen beschränkte sich nicht auf ihre Annahmen, sondern adressierte sie als Teil eines Standes, des „educational and scientific estate“, dem er besondere Wirkmächtigkeit zusprach. Im Streben nach Produktivitätssteigerung und Wachstum war der Staat essentieller Partner des industriellen Sektors. Lohn-, Preis- und Einkommenspolitik unterstützte und versicherte die Agenden von Großkonzernen durch eine Teilübernahme der Produktionskosten, die Förderung von Forschung und Entwicklung und durch die staatliche Stützung der Gesamtnachfrage. Verknüpft mit der schwächelnden Rolle der Gewerkschaften in den 1960er Jahren drohte diese Allianz, so Galbraith, sich zu einem verschachtelten, undurchdringbaren Gebilde zu verwandeln, in dem nicht-souveräne Verbraucherinnen vollkommen machtlos wären. Dennoch böte die immanente Dynamik dieses Gebildes auch Hoffnung auf Wandel: Die technischen Anforderungen des neuen Industriesystems führten zur Ausbildung eines wachsenden Bildungs- und Forschungsstandes. Durch seine Verantwortung für Ausbildung und Innovation in der Reproduktion einer wissensbasierten Industriegesellschaft, würde dieser Stand an sozialem Gewicht, politischer und ökonomischer Macht gewinnen. „It is possible that the educational and scientific estate requires only a strongly creative political hand to become a decisive instrument of political power“.10 Hier setzte Galbraiths Kritik an der ökonomischen Profession an. Obwohl Ökonomen zum Bildungs- und Forschungsstand gezählt werden müssten, negierten sie die damit einhergehenden Möglichkeiten, ein gesellschaftliches Gegengewicht zu herrschenden kapitalistischen Kräften auszubilden und agierten stattdessen als Handlanger des Status quo.11 Der zunehmend technische Charakter des Mainstreams hindere immer mehr seiner Kollegen daran, die Besonderheiten des Industriesystems zu erkennen. „I venture to think that modern economic life is seen much more clearly when, as here, there is effort to see it whole“.12 Den neumodischen, prestigeträchtigen Techniken ökonomischer Wissensgenerierung stellte Galbraith seinen eigenen, nicht-mathematischen Ansatz gegenüber, das ökonomische „Ganze“ zu erfassen und zu gestalten. Sich in der Tradition institutioneller Theorie verortend und auf Thorstein Veblen berufend, warnte er davor, die methodische Strenge und die damit einhergehende sperrige Prosa mathematischer Ökonomik mit Erkenntnis zu verwechseln: 9
Ebd., S. 292. Ebd., S. 295. 11 Galbraith unterschied in dieser Kritik nicht zwischen marktfundamentalistischer libertärer Ökonomik („freshwater“) wie etwa jener eines Milton Friedman und keynesianischer interventionistischer Ökonomik („saltwater“) eines Paul Samuelson oder Solow. 12 Galbraith, The New Industrial State, S. 6. 10
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„There are few, if any, useful ideas in economics that cannot be expressed in clear English. Obscurity rarely if ever denotes complexity of subject matter; it never denotes superior scholarship. It usually signifies either inability to write clear English or – and more commonly – muddled or incomplete thought“.13
Galbraith selbst offerierte eine gänzlich andere Art ökonomischen Wissens – sowohl was die Präsentation als auch was die Herstellung dieses Wissens betraf. 1. Galbraiths Schreibstil und Forschungspraktiken Wie seine Vorgänger erfreute sich The New Industrial State einer breiten Leserschaft. Anders als in wirtschaftswissenschaftlichen Publikationen üblich war Galbraiths Text leichthändig mit Witz und Verve geschrieben, sparte nicht mit polemischen Angriffen und profitierte nicht zuletzt von der Prominenz seines Autors. Als The New Industrial State erschien, war Galbraith bereits eine schillernde öffentliche Figur. Sein agrarökonomisches Doktorat hatte er 1934 an der Universität von Kalifornien, Berkeley – bekannt für ihre linksliberalen Dozenten und für ihre kommunistische Studierendenschaft – abgeschlossen. Wichtig für Galbraiths späteren Bekanntheitsgrad war weniger das Thema oder die Methode seiner (selbst als „bescheiden“ bezeichneten) Dissertation, sondern der spezifische ökonomische Denkstil seiner Kollegen in Berkeley. Retrospektiv beschrieb er sie als „practitioners of what Thorstein Veblen called exoteric learning“, deren Arbeit von „negligible academic prestige“, aber „very useful“ gewesen wäre. Neben dem kritischen Institutionalisten Veblen als einflussreichsten Denker für seine eigene Arbeit betonte Galbraith das konkrete Wissen, das sich seine Kollegen über direkte Erfahrung im Feld anstatt durch theoretische Arbeit oder systematische Methoden angeeignet hatten.14 Nach mehreren angesehenen Posten, etwa als Kommissar des Preiskontrollamts während des Zweiten Weltkriegs, als Redakteur des Wirtschaftsmagazins Fortune, als persönlicher Berater Kennedys und als US-Botschafter in Indien, machte Galbraith Ende der 1960er Jahre als Vorsitzender der Anti-Vietnam-Organisation Americans for Democratic Action von sich reden. Anders als die technischen Ökonomen, die die Bedeutung professioneller Zusammenarbeit mit Akteuren aus dem politischen Feld und einer Werkstattatmosphäre für ihre Modellierungsarbeit betonten, verknüpfte Galbraith die Erfahrungen, die er über die Jahre in verschiedenen Positionen, in seinem Arbeitszimmer und auf Schreibklausuren (etwa im eleganten Alpenresort Gstaad in der Schweiz, das auch in der Debatte mit Solow zum Thema werden sollte) gesammelt hatte, mit Wissen aus der Forschungsliteratur. Verdichtete Narrative vermengten in The New Industrial State auf über vierhundert Seiten kausale Argumente mit Anekdoten, Witz und moralischen Mahnungen. Die Interdependenz verschiedener ökonomischer Akteure und Institutionen war in qualitativen Begriffen gefasst, nicht in präzisen Formulierungen, die 13 14
Ebd., S. 405. Galbraith, A Life in Our Times, S. 22 – 30.
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empirisch überprüft oder für Vorhersagen genutzt werden konnten. Selbst die sporadischen Tabellen mit Produktions- und Handelsstatistiken, so typisch für die institutionalistische und marxistische Literatur, fehlten, wie auch jegliche grafische Repräsentationen oder Diagramme. Galbraith schrieb über psychologische Faktoren und soziale Strukturen – ohne jedoch explizit auf die wachsende, immer technischer und methodisch ausgefeilter werdende sozialwissenschaftliche Literatur einzugehen. Das Buch war also nicht Teil einer neuen „interdisziplinären“ Sozialwissenschaft, auch wenn quasi „außer-ökonomische“ Sphären einbezogen wurden. Stattdessen griff Galbraith explizit auf Perspektiven klassischer politischer Ökonomie des 18. und 19. Jahrhunderts zurück, indem er gar nicht erst zwischen „dem Sozialen“ und „dem Ökonomischen“ unterschied.15 Galbraiths Schreibpraktiken entsprachen seiner informellen Art der Forschung und Analyse. Er wurde nicht müde zu betonen, dass sich seine Überlegungen auf konkrete Beobachtungen der Funktionsweise großer Konzerne statt auf abstrakte methodische Reflexion und nationalstaatliche Statistiken bezogen. Sein holistischer, antiszientistischer Ansatz unterschied sich sowohl vom modellierenden Mainstream als auch von zeitgenössischen Heterodoxien, die nicht weniger technisch oder leichter zugänglich waren.16 Anders als beispielsweise behavioristische Untersuchungen, die simple mathematische Annahmen durch empirisch gewonnene Gesetzmäßigkeiten zu ersetzen trachteten, interessierte sich Galbraith wenig für kleinteilige empirische Arbeit. Zwar erwähnte er manche Ergebnisse quantitativer Sozialforschung, unternahm jedoch keine systematische Zusammenschau oder Analyse der Literatur zu Verbraucherinnen- und Produzentinnenverhalten.17 Er betonte, dass seine Arbeit zwar ebenfalls „empirisch“ sei, vertraute, im Unterschied zu methodisch kontrollierten empirischen Forschungspraktiken, allerdings auf sein persönliches, erfahrungsbasiertes Urteilsvermögen, das er über lange Jahre hinweg kultiviert hatte. The New Industrial State dokumentierte etwa direkte Beobachtungen unvollständigen Wettbewerbs und daraus hervorgehende Konsequenzen aus seiner Zeit als Preiskommissar (z. B. wie oligopolistisch organisierte Sektoren Risiko durch Preiskontrollen einschränkten), Anekdoten und Steckbriefe großer Unternehmen, mit denen er als Mitherausgeber von Fortune vertraut war, Begegnungen und Recherchen, die er vor Ort auf Reisen nach Indien und in die Sowjetunion machen konnte, sowie Interviews, die 15
s. Geary, S. 300. Hier wären beispielsweise die Arbeiten der englischen Ökonomin Joan Robinson anzuführen, aus denen Galbraith einige Argumente gegen die mathematische Neoklassik aufgriff. Zur Geschichte heterodoxer Ökonomik s. Lee und Mata. Zur Situation sich heute als „heterodox“ verstehender Ökonomik s. Pahl. 17 Genannt sei nur ein Beispiel: George Katona etablierte ein Forschungsprojekt zu Konsumpsychologie an der University of Michigan. Als Verhaltensökonom im eigenen Feld marginalisiert (wenn auch durch die Cowles Commission finanziert), beabsichtigte er, die Annahme des rationalen ökonomischen Agenten durch empirisches Wissen über gesetzmäßiges ökonomisches Verhalten und durch psychologische Erkenntnisse zu ersetzen (Katona). Zur Marginalisierung des Behaviorismus durch die ökonomische Disziplin s. Pooley/Solovey und Edwards. 16
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er mit Angehörigen des höheren Managements (wie etwa Walter T. Murphy oder Robert McNamara von der Ford Motor Company) geführt hatte. Aus diesem Material gestaltete Galbraith Fallbeispiele, auf deren Grundlage er seine umfassende, allerdings partikulare Analyse entwickelte, ohne auf formale, explizit artikulierte Methoden zurückzugreifen.18
III. Die Debatte Galbraith wandte sich gegen die neuen Methoden einer sich als technisch verstehenden Ökonomik, die im Verbund mit anderen sozialwissenschaftlichen Disziplinen rationales Wissen für gesellschaftliche Steuerung versprach. Eines der Sprachrohre für die Vermittlung der Bedeutung und Sinnhaftigkeit dieser neuen Sozialwissenschaften an eine breitere Öffentlichkeit war The Public Interest, in dem zwei Jahre später die Debatte ausgetragen werden sollte. Bereits in der ersten, 1965 erschienenen Ausgabe positionierten die Herausgeber Daniel Bell und Irving Kristol ihr Magazin als Beitrag zur Diskussion sozialwissenschaftlicher Wertfreiheit.19 „For it is the nature of ideology to preconceive reality; and it is exactly such preconceptions that are the worst hindrances to knowing-what-one-is-talking-about“.20 The Public Interest richtete sich an eine gebildete Leserinnenschaft und diskutierte die Möglichkeiten einer objektiven, dezidiert nicht ideologischen oder utopischen Politik im Kontext eines expandierenden Wohlfahrtsstaats. Der Großteil der publizierten Artikel stammte aus der Feder von Sozialwissenschaftlern der neuen Forschungsuniversitäten, die – politisch meist moderat liberal – die notwendigen technischen Qualitäten aufwiesen, aber auch die Gabe besaßen, verständlich für ein Laienpublikum zu schreiben. Auch Solow erfüllte diese Kriterien, verfügte zudem über den notwendigen intellektuellen Hintergrund und hatte das Bedürfnis, seine Modellierungsarbeit zu diskutieren. Anders als sein Kontrahent (*1908), der sich in einer älteren institutionalistischen Schreib- und Forschungstradition verortete, war Solow (*1924) Teil einer Übergangsgeneration von Ökonomen, die zwar jene neuen mathematischen Werk18
Galbraith, A Life in Our Times, S. 364 – 371, ders., The New Industrial State, S. 11 – 12. Dieses Interesse war nicht sonderlich überraschend, hatte sich Bell bereits Jahre zuvor als Soziologe einen Namen mit der Essay-Sammlung The End of Ideology: On the Exhaustion of Political Ideas in the Fifties (1960) gemacht. Zusätzlich zu Bells historischer Untersuchung sollte das neue Magazin epistemologische Argumente für nicht-ideologische Untersuchungen bieten. s. Jacoby zur anti-utopischen Stimmung der Nachkriegszeit. 20 Bell/Kristol, S. 4. Herv. i. Orig. Während das Magazin in seinen ersten Jahren interventionistischer staatlicher Politik gegenüber aufgeschlossen war, änderte sich dies in den frühen 1970er Jahren, als beide Herausgeber zentrale Figuren des „neoconservative turn“ wurden. Lehnte die Erstausgabe des New Public Interest noch jegliche Ideologie ab – „liberal, conservative, or radical“ –, schienen bestimmte politische Strömungen bald weniger willkommen als andere. Kristol sollte schließlich im letzten erscheinenden Heft betonen, dass er und Bell besonders argwöhnisch gegenüber politischen Aktivismus „a.k.a. ,the class struggle‘“ und der Studierendenbewegung der 1960er Jahre waren. s. Kristol, S. 9. 19
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zeuge entwickelten, die Galbraith kritisierte, selbst aber noch eine breitere Ausbildung genossen hatten. So hatte Solow während seiner Studienzeit in Harvard die Veranstaltungen von bekannten nicht-technischen Ökonomen wie Joseph Schumpeter belegt und neben der Geschichte ökonomischen Denkens auch jene Zugänge zu Ökonomik, die heute als „heterodox“ gelten würden (etwa marxistische Ökonomik und institutionalistische Autoren), studiert, bevor er sich den neuen mathematischen und statistischen Methoden zuwandte. Nach einer Forschungsassistenz bei Wassily Leontief und der damit verbundenen Mitarbeit an dessen Input-Output Forschung (im Rahmen des Harvard Economic Research Project) sowie einem Studienjahr an der Columbia University mit den bekanntesten mathematischen Statistikern der Zeit wurde Solow 1951 Professor am MIT. Im Gegensatz zu Galbraith, der vorwiegend allein arbeitete und ein starkes Bewusstsein von Autorschaft zeigte, versammelte Paul Samuelson in der Werkstattatmosphäre einer engineering school eine kleine und eng zusammenarbeitende Gruppe von technischen Ökonomen um sich, die die Methoden und Forschungstechniken entwickelten, die die Disziplin bis in die 1970er Jahre prägen sollten.21 Dem Public Interest war Solow ein willkommener Autor, da Bell und Kristol die ökonomische Wissensproduktion, wie sie am MIT betrieben wurde, als besonders vielversprechend für das Erreichen von Objektivität in den Sozialwissenschaften erachteten. Bereits zwei Jahre zuvor hatte Solow eine Anfrage von Bell erhalten, ob er nicht eine Reihe von Artikeln zu „the new economics“ zusammenbringen wolle. Diese neue Ökonomik zeichne sich dadurch aus, dass sie „a sufficient stage of sophistication […] to run a [modern] economy“ erreicht habe. Bell betonte: „This is, if true, a breath-taking claim and one which has not been forcefully stated by economists though this is consistently implied“.22 Nach Wunsch der Herausgeber sollte Solow in einem Paper die Frage behandeln, ob diese neue Wirtschaftswissenschaft tatsächlich ideologie- und wertfreies Wissen bereitstellen könne: „Is the knowledge of economics a technical tool applicable under a variety of value assumptions or is it dependent upon some specific values rather than others? […] Even more broadly, would you assume that all this, socialist as well as capitalist economics can come within neo-classical models?“23 21 Zum Aufstieg des MIT zum intellektuellen Zentrum US-amerikanischer Ökonomik s. den Band Weintraub, MIT, insbesondere die Beiträge Cherrier; Backhouse und Maas. 22 Robert M. Solow Papers. Economists’ Papers Project, Rare Book, Manuscript, and Special Collections Library, Duke University, Box 52, File B: 4 of 7: Daniel Bell an Robert Solow vom 7. 6. 1966. Der Begriff der ,neuen Ökonomik‘ wurde zwar schon in den 1940er Jahren für statistische und mathematische Methoden verwendet, er erhielt jedoch in den 1960er Jahren neuen Aufschwung, als ihn Walter Heller, keynesianischer Vorsitzender des Council of Economic Advisers, verwendete, um sein Programm ökonomischer Steuerung einer breiteren Öffentlichkeit vertraut zu machen. s. Harris; Heller et al. Für Deutschland s. Nützenadel, Stunde der Ökonomen. 23 Robert M. Solow Papers. Economists’ Papers Project, Rare Book, Manuscript, and Special Collections Library, Duke University, Box 52, File B: 4 of 7: Daniel Bell an Robert Solow vom 7. 6. 1966.
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Solow hat den angefragten Artikel nie geschrieben, die angesprochenen Themen standen jedoch im Zentrum der Debatte mit Galbraith und Marris.24 Die drei Ökonomen verhandelten einerseits die Möglichkeit einer Wertfreiheit von Modellierungstechnik und Modellannahmen, andererseits die Wege und Ziele ökonomischer Steuerung. Wo die Verbindung zwischen diesen beiden Ebenen misslang, entwarfen die Akteure scharfe Polemiken, mit denen sie Deutungshoheit sowie wissenschaftliche und moralische Autorität behaupteten. 1. Methode: Annahmen, Modellwissen und Wertfreiheit „The issue concerns the future of economics in general and of highly prestigious work with which Professor Solow is associated in particular. That work is within a highly specific frame. […] What is the frame? It is that the best society is the one that best serves the economic needs of the individual. Wants are original with the individual; the more of these that are supplied the greater the general good. […] the wants to be supplied are effectively translated by the market to firms maximizing profits therein. […] they respond to the market and ultimately to the sovereign choices of the consumer.“25
Im Zentrum der Debatte stand die Frage, ob die hier von Galbraith kritisierten Annahmen und Techniken neoklassischer Nachkriegsökonomik möglichst neutrales wirtschaftswissenschaftliches Wissen ermöglichten oder eben gerade besonders ideologieverbrämt wären. Die Kontrahenten formulierten ihre Argumente für und wider eine wissenschaftliche Ökonomik vor dem Hintergrund unterschiedlicher Forschungspraktiken, was zu erheblichen Schwierigkeiten führte, eine gemeinsame Gesprächsebene zu finden. Während Galbraith ein hunderte Seiten langes Argument konstruierte, indem er Beobachtungen, Anekdoten und Überlegungen in Narrative goss, präsentierte Solow die Ökonomik als spezialisierte und professionalisierte Modellierungswissenschaft. „[C]ounting noses or assets and recounting anecdotes are not to the point. What is to the point is a ,model‘ – a simplified description – of that economy that will yield valid predictions about behavior.“26 Die Aufgabe des Ökonomen wäre dementsprechend die Verknüpfung einer empirisch gut beschriebenen Vergangenheit mit möglichen beziehungsweise vorhersehbaren Zukunftsszenarien auf der Basis von mathematischen Modellen, Schätzungen und Simulationen.27 24 Solow antwortete auf die Anfrage der Herausgeber, dass er versuchen würde „during the summer, to block out an article either on that subject or another“. s. Robert M. Solow Papers. Economists’ Papers Project, Rare Book, Manuscript, and Special Collections Library, Duke University, Box 52, File B: 4 of 7: Daniel Bell an Robert Solow vom 7. 6. 1966. Wenige Jahre nach der Debatte mit Galbraith und Marris schrieb Solow noch einmal zum Thema Ideologie und technische Ökonomik, als er, ebenfalls im Public Interest, auf eine Kritik des heterodoxen Ökonomen Robert Heilbroner antwortete (Ausgabe September 1970). 25 Galbraith, A Review of a Review, S. 117. 26 Solow, The New Industrial State, S. 103. 27 Zum sozialwissenschaftlichen Vorhersehbarmachen von Zukunft s. Dayé im vorliegenden Band. Zum Prognosewesen im 20. Jahrhundert s. Hartmann/Vogel, insbesondere zur Ökonomik Nützenadel, Die Vermessung der Zukunft.
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Das primäre Ziel von Solows Rezension bestand darin, Ausschlussargumente vorzubringen, um Galbraith, der in seinen Augen als „Moralist“ lediglich Standpunkte zu bieten habe, die wissenschaftliche Legitimität abzusprechen und die Mängel von The New Industrial State im Vergleich zu einer quantifizierenden und modellierenden sozialwissenschaftlichen Forschungstätigkeit hervorzukehren. Solow vertrat damit eine spezifische Praxis akademisch-ökonomischer Wissensproduktion, die sich im Gefolge der umfassenden Schaffung von Datensammlungen und der Entwicklung mathematischer Planungstechnologien entwickelte und die spätestens seit Ende der 1950er Jahre von ihren Protagonisten als „technische“ Arbeit verstanden wurde.28 Der Begriff ,technisch‘ stand in den 1940er Jahren noch im Zusammenhang mit Produktionsplanung und Kriegslogistik; nun verwies er zunehmend auf eine gewisse mathematische Virtuosität im Konstruieren und Manipulieren kleiner Modelle, die auf empirische Daten angewandt werden konnten. „Die Wirtschaft“ war durch Zahlen der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung und der Input-Output Analyse zu einer beobachtbaren und manipulierbaren Entität geworden.29 In Form von Wachstumsraten des Bruttonationalprodukts konnte das „Verhalten“ dieses neuen Gebildes über die Zeit gemessen werden und wurde unter dem Label „angewandte Ökonomik“ mithilfe von einfachen mathematischen Modellen ökonometrisch interpretiert. Angewandt auf Zeitreihendaten ergab das berühmte „Solow-Modell“ etwa eine Schätzung, dass über 80 % des BIP Wachstums zwischen 1909 und 1940 auf „technischen Fortschritt“ zurückzuführen war.30 Die Verwendung von Solows Modell im Rahmen des so genannten „growth accounting“ ist ein Paradebeispiel für diese neue, von Galbraiths Ansatz distanzierte Praxis des Beobachtens, in der „empirisches Arbeiten“ nicht länger im Zusammenhang mit direkter Erfahrung, Befragung und Zeugnis stand, sondern sich als mathematische Tätigkeit in erster Linie auf Hypothesentests und Parameterschätzung konzentrierte. Wie bereits geschildert, betrachtete Galbraith die Annahmen konventioneller Ökonomik als grundlegend falsche Auffassung dessen, was er unter ökonomischer Realität verstand. Solow argumentierte hingegen, dass Modelle und ihre Annahmen notwendigerweise falsch und selbstverständlich keine Abbildungen einer wie auch immer gearteten Wirtschaft seien. Weder verhielten sich Menschen wie der homo oeconomicus der ökonomischen Theorie, noch agierten Betriebe nach dem Vorbild 28 Die Literatur zur Entwicklung der „modernen“ Wirtschaftswissenschaften ist umfangreich; als Standardwerke seien empfohlen: Morgan/Rutherford; Backhouse, The Penguin History (Kapitel 9 – 14) für einen allgemeinen Überblick, zur Ökonomik als Ingenieurswissenschaft Morgan, Economics, zur Mathematisierung der Wirtschaftswissenschaften Weintraub, How Economics Became und Düppe/Weintraub, zur Ökonomik als Modellierungswissenschaft Morgan, The World in the Model, und Boumans. Zur Durchsetzung der modellierenden Ökonomik in Deutschland s. Hagemann und Hesse. 29 Zur Geschichte der Statistik und ihrer Bedeutung für neue Formen ökonomischer Steuerung s. unter anderen Mitchell; Speich Chassé; Porter, Locating the Domain; Stapleford; Desrosières. 30 Solow, Technical Change, S. 320.
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einer neoklassischen Modellfirma.31 Diese Annahmen schafften aber die Voraussetzungen dafür, einfache, stringente und manipulierbare Modellwelten zu kreieren, die wiederum präzise Messungen und „clear-cut reasoning“ ermöglichten. Kurz nach der Debatte mit Galbraith präsentierte Solow sein einfaches Wachstumsmodell als „reconnaissance exercise“, als eine Art Erkundungsübung einer noch nicht erforschten Welt, die zu neuen Erkenntnissen und zur Konstruktion weiterer, komplexerer Modelle führen würde.32 Das wichtigste Kriterium, über die Güte eines Modells zu entscheiden, sei seine Einfachheit respektive seine Nützlichkeit als Messinstrument und pragmatisches Denkwerkzeug. Ökonomische Gleichgewichtsannahmen etwa ermöglichten die Geschlossenheit und Lösbarkeit mathematischer Systeme und erschufen damit handhabbare Modellwelten, mit denen experimentiert werden könne und die eindeutige Antworten auf „what-would-happen-if“-Fragen bieten würden. Vor dem Hintergrund seiner Forschungspraxis, wie Solow in The Public Interest erklärte, sei es vollkommen einleuchtend, dass „much economic analysis, when it is not directly concerned with the behavior of the individual firm, proceeds as if the old model of the centralized profit-maximizing firm were a good enough approximation to the truth to serve as a description of behavior in the large.“33 Galbraith war nicht willens, das „as if“-Argument des technischen ökonomischen Idioms zu akzeptieren und verneinte den Unterschied zwischen substantieller und praktischer Bedeutung von Annahmen. Während Solow darauf pochte, dass Annahmen pragmatische Hilfsmittel in einem Modellbauunternehmen seien, unterwarfen Ökonominnen in Galbraiths Augen die gesellschaftliche Realität der Technik: „To accommodate assumptions not to reality but to the requirements of technique will be thought a rather dubious scientific procedure. It is one of the curiosities of economics that it is often employed by the men who most pride themselves on their scientific and technical virtuosity and who even volunteer on occasion to serve as censors of scientific morality“.34
Marris’ Intervention fügte der Debatte eine weitere Perspektive auf ökonomische Modellierung hinzu. Seine eigene Arbeit zeigte unter Einbeziehung neuerer behavioristischer soziologischer und psychologischer Forschung die Inadäquatheit neoklassischer Annahmen und sollte in der Folge alternative Ansätze bereitstellen. Sowohl 31
In seinem „Rejoinder“ auf Galbraiths Unterstellung, dass er an die Allmacht des Marktes und die originären Bedürfnisse eines souveränen Konsumenten glauben würde, meinte Solow: „[I]t is hardly a deep thought that nearly all consumer wants beyond the most elementary physiological ones are socially or culturally determined. Indeed, that is precisely why I fear the whole issue is rather tricky.“ Solow, A Rejoinder, S. 119. 32 Solow, Science and Ideology. Für ein tieferes Verständnis ökonomischer Modellierungspraktiken s. Morgan, The World in the Model, und Boumans. Zur Reflexion von Solows Modellierungsarbeit s. Halsmayer, From Exploratory Modeling, und zu seinem Selbstverständnis als Modelleur dies., Der Ökonom. 33 Solow, The New Industrial State, S. 103. 34 Galbraith, The New Industrial State, S. 121, Fußnote 14.
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Solow als auch Galbraith schätzten Marris’ Arbeit. Die Verschiedenheit ihrer Wertschätzung verwies auf weitere grundlegende Unterschiede ihrer Interpretation ökonomischer Modellierungsmethoden und der damit einhergehenden epistemischen Werte und Konventionen. Galbraith begrüßte Marris’ Analyse des Verhaltens von Firmen und betrachtete sie als Evidenz für seine eigene Kritik konventioneller ökonomischer Theoreme. Auch Solow betonte die Wichtigkeit von Marris’ Forschung, war aber der Meinung, dass ältere Annahmen ökonomischer Theorie erst dann geändert werden müssten, wenn gezeigt werden könne, dass sich Konsumenten im Aggregat anders verhalten. Solow betonte das ökonomische Ganze, das, ganz anders als bei Galbraith, den „behavior in the large“ umfasste. Würden behavioristische Arbeiten zeigen, dass Werbung zu einem Anstieg der aggregierten Konsumausgaben führte, dann wären Galbraiths Thesen belegt, aber: „No research that I know of has detected a wrinkle in aggregate consumer spending behavior that can be traced to the beginning of television. […] Pending some evidence, I am not inclined to take this popular doctrine so seriously“.35 Ebenso würden Galbraiths einzelne Beispiele von Großkonzernen, wie etwa General Motors, keinen statistischen Beweis erbringen, dass diese das Gros des US-amerikanischen Wirtschaftslebens ausmachten. Auch was die Annahme von der Maximierung von Profiten anging, habe Galbraith keine ausreichenden Evidenzen vorgebracht: Ob sich große Konzerne vom Markt isolierten, sei „not an easy question to answer, at least not if you insist on evidence. Professor Galbraith offers none […] I have not great confidence in my own casual observations either“.36 Die empirische Welt sei kompliziert und weder die Darstellung durchgängig kompetitiver Märkte noch das andere Extrem, das Galbraith präsentierte, würden ihr nahe kommen: „It is unlikely that the economic system can usefully be described either as General Motors writ larger or as the family farm writ everywhere. This offers at least a hint that it will behave like neither extreme“.37 Indem er Galbraith eine Extremposition anheftete, während jener lediglich Tendenzen festmachen und damit Modellannahmen problematisieren wollte, positionierte Solow seine Kriterien der Wissenschaftlichkeit als, wenn auch nicht als absolut objektive, doch als einzig vernünftige Richtlinien.38 Die Diskussion der Stärken und Schwächen wirtschaftswissenschaftlicher Methode illustrierte, wie schwer die Verständigung über unterschiedliche Forschungspraktiken und -sprachen funktionierte. Die Rhetorik von Evidenz und Wissenschaft35
Solow, The New Industrial State, S. 105. Ebd., S. 105. 37 Ebd., S. 103. 38 Solow gab freimütig zu, dass seine Ansichten nicht frei von Ideologie wären – tatsächlich könne kein Unterfangen frei von Ideologie sein. Es wäre aber dennoch wichtig, das Ideal der Wertfreiheit beizubehalten, wie er auch einige Jahre später in The Public Interest anmerken sollte: „Many people seem to have rushed from the claim that no social science can be perfectly value-free to the conclusion that therefore anything goes. It is as if we were to discover that it is impossible to render an operating-room perfectly sterile and conclude that therefore one might as well do surgery in a sewer“. s. Solow, Science and Ideology, S. 101. 36
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lichkeit, der sich Solow bediente, behauptete nicht nur intellektuelle Autorität, sondern verwies außerdem auf essentielle epistemische Werte seiner Forschungspraxis – eine Praxis des Hantierens mit mathematischen Modellen, in die Galbraith aufgrund ihrer Neuheit und ihres zunehmend technischen Charakters keinerlei Einblick hatte. Sinn erlangte diese Art des Forschens jedoch auch für Solow nicht per se; Modellieren, folgen wir seiner Argumentation, war schlicht der einzig richtige Weg, um vertrauenswürdiges Wissen für ökonomische Steuerung zu generieren. Die Unterstellung Galbraiths, er und seine Kollegen würden an die Allmacht des Marktes und die Souveränität der Verbraucherinnen glauben, stand diametral zu Solows Selbstbild als Ökonom, der staatliche Eingriffe für notwendig hielt und eröffnete eine weitere Dimension im Bemühen der Akteure, Modellierungsmethoden mit unterschiedlichen Bedeutungen zu belegen. 2. Die gesellschaftliche Funktion ökonomischen Wissens „[A]ny economic system can be made to work, if you go at it cleverly“.39
Der MIT Ökonom präsentierte mathematische und statistische Modellierungsarbeit als notwendige Grundlage staatlicher Intervention für das Erreichen bestimmter – wenn auch nicht näher spezifizierter – gesellschaftlicher Ziele. Mehr als einmal verteidigte er die Profession gegen Vorwürfe, sie würde an den Realismus ihrer Gleichgewichtsmodelle glauben und lediglich Laissez-faire-Ideologie und die „classical idealization of capitalism“ in neuem Gewand präsentieren.40 Nach Solows Ansicht ermöglichten kleine, kausale, mathematische wie empirische Modellwelten detaillierte und klare Analysen, wie sie für makroökonomische Maßnahmen benötigt wurden. Die Fertigkeiten, die Ökonomen als Modelleure durch die Konstruktion und Manipulation ihrer Modellwelten erlangten, verliehen ihnen technische Expertise. Solow und seine Kollegen verbanden diese mit liberalen keynesianischen Ansätzen. Er selbst war Anfang der 1960er Jahre Mitglied in Kennedys Council of Economic Advisers (CEA) unter Walter Heller, der unter dem Schlagwort von „growthmanship“ Wirtschaftswachstum, niedrige Inflation und Arbeitslosigkeit als prominente wirtschaftspolitische Ziele veranschlagte.41 Im Kontext des „third way“ der 1950er und 1960er Jahre wurde makroökonomische Planung von einer politischen Option zu einer organisatorischen Notwendigkeit der engen Kooperation von 39
Solow, The Truth Further, S. 52. Marris, Galbraith, Solow, S. 45. 41 s. Collins, S. 52 – 61; Bernstein, S. 151 – 152. Die Bedeutung des CEA ist umstritten. Während die genannten Historiker den Council als wesentliches Mittel des immer größer werdenden Einflusses von ökonomischen Experten präsentierten, argumentierte Timothy Mitchell kürzlich, dass mit der Schaffung des CEA Ökonomen gerade weniger Einfluss auf Politik ausüben konnten (Mitchell, S. 490 – 491). Anders als ihre Kolleginnen in höheren bürokratischen Positionen hatten Council-Mitglieder keinerlei Entscheidungsmacht, ihre Vorhersagen und Ratschläge konnten leicht ignoriert werden. Zum „growthmanship“ im Rahmen der OECD s. Schmelzer. 40
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Staat und privatem Sektor.42 Die so genannte „neoklassische Synthese“ präsentierte in diesem Zusammenhang kein übergreifendes, einheitliches mathematisches System, das kontextunabhängig Erklärungen lieferte, sondern bestand aus einem Werkzeugsatz verschiedener Modelle und empirischer Untersuchungen, die je nach vorliegendem Steuerungsproblem unterschiedlich erweitert, angepasst und zusammengefügt werden konnten.43 Technisches ökonomisches Wissen würde außerdem Mittel zur Verfügung stellen, gegen soziale Ungleichheit vorzugehen. In einer anderen Auseinandersetzung über Werte und Ideologie des neoklassischen Mainstreams betonte Solow gar das „radical potential“ technischer Ökonomik, „especially along equalitarian lines“.44 Auch Marris, selbst wenn er sich politisch auf Galbraiths Seite sah, widersprach dessen Vermengung von mathematischer Methode und Marktideologie: „[T]he desire for determinacy […] is not merely a product of the professional style“. Vielmehr ermögliche der Fokus auf wohldefinierte Gleichgewichtszustände brauchbares Wissen: „A determinate theory is […] particularly needed by those who wish to evaluate and prescribe“.45 Als „Fabian“ in den intellektuellen Kreisen innerhalb der britischen Labour Party aktiv, sprach Marris von einem „desire to prescribe for improvement“, dem in der Form von konkreten Rezepten für Politik nachgekommen werden sollte.46 Skizzenhafte, narrative Beschreibungen wie in Galbraiths The New Industrial State seien nicht ausreichend, um politische Entscheidungsträger zu beraten. In seiner Rezension von The New Industrial State warnte Marris vor Galbraiths Idiosynkrasien, logischen Fehlern und unzulässigen Vereinfachungen: „Galbraith is dealing in loose but not necessarily unreal concept, of whose descriptive value he seeks to convince by a 42
s. Balisciano; Goodwin; Mirowski. Zur Verwendung des neutraleren Begriff des ,programming‘ in Zusammenhang mit den neuen Technologien der linearen Optimierung zur Produktionsplanung s. Düppe/Weintraub. 43 Anders als die übliche Interpretation der neoklassischen Synthese als Zusammenführung der theoretischen Schulen des Keynesianismus und der Neoklassik folgen wir hier Backhouse, Paul A. Samuelson’s, der von einer politischen Synthese spricht. 44 Solow, Science and Ideology, S. 97. 45 Marris/Wood, S. xx. 46 s. beispielsweise Marris’ Schrift The Machinery of Economic Policy (1954), die in einer Forschungsreihe der Fabian Society publiziert wurde. Darin argumentierte er für kapitalistische Steuerung in der Form einer „mixed economy“, um gesellschaftlich wünschenswerte Ziele zu erreichen. Die parlamentarisch-reformistische Fabian Society wurde im Jahr 1884 gegründet und fungierte als Forschungsorganisation und Beratergremium für die sozialistische Bewegung Großbritanniens und die Labour Party. Die Gesellschaft förderte empirische Sozialforschung sowie Methoden und Strategien rationaler Verwaltung mit seinen Schriftenreihen wie auch der Gründung der praktisch orientierten London School of Economics (LSE) im Jahr 1894. Nach 1945 waren Fabianische Sozialisten federführend am Design der Labour Regierung unter Premierminister Clement Attlee und damit am Entwurf des britischen Wohlfahrtsstaats und seiner „mixed economy“ beteiligt. Fabians prägten die Labour Party nicht nur intellektuell, sondern auch zahlenmäßig: ihre Mitglieder machten die Mehrheit der Labour Parlamentarier und etwa die Hälfte des Kabinetts aus. s. Kloppenberg, S. 201 f.; Milburn; Lewis.
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mixture of literature and some logic, based on casual observation, induction, and selected evidence“.47 Die Debatte um die tiefere Bedeutung mathematischer Methoden war also nicht zuletzt eine Auseinandersetzung um öffentliches Prestige und politischen Einfluss. Auch wenn sich Galbraith in seinen Büchern und in der Debatte als Außenseiter stilisierte, war er weder in der Disziplin noch in der Welt der Politikberatung eine Randfigur.48 1972 wurde er etwa Präsident der American Economic Association (AEA) und seine Bücher wurden von der Carnegie Corporation finanziert – trotz ihres vielfach betonten Fokus auf behavioristische, „wissenschaftliche“, kollaborative Forschungsunternehmen.49 War Solow über seine Instrumentarien und sein technisches Wissen als Experte in institutionalisierte Politikberatung involviert, so hatte Galbraith als Insider der Demokratischen Partei direkten Zugang zu den Korridoren der Macht und belegte seit den 1930er Jahren mehrere Regierungsämter. Seine bedeutendste Position war wohl jene als persönlicher Berater Kennedys. „[T]hat friendship of Galbraith with the president and Jackie, after all, gave him access and meant that the president was fully exposed to Galbraith’s ideas all the way through“, wie Heller nicht ohne Argwohn anmerkte.50 Durch seinen persönlichen Einfluss und seine Popularität in der medialen Öffentlichkeit machte Galbraith institutionalisierten Beraterstäben die Expertise streitig. In einem Brief an seinen britischen Kollegen Dick Sargent erzählte Solow von einer solchen Begebenheit: Schwedische Ökonomen hätten gerade einen „long, hard battle“ um die Zinssatzpolitik der Schwedischen Nationalbank geführt. „Then Ken [Galbraith] breezed into Stockholm on his way from somewhere, had dinner with the big shots, casually told them [to change their policy…] Then he breezed out again, having undone years of careful education. Who wouldn’t grind his teeth?“51 Solow selbst fand sich in einer ähnlichen Situation wieder, als er als Mitglied von Kennedys CEA einen Steuerschnitt vertrat, den Galbraith rundum ablehnte. Statt an den offiziellen Beratungstreffen und Diskussionen
47
Marris, Review, S. 200. Ein Politikwissenschafter bezeichnete ihn als „a man who knows power and is drawn to it, while a lot of economists shy away from it, consider it almost vulgar, and are more interested in immutable rules and laws“. Zitiert in: Halberstam, S. 50. 49 Zu den Förderrichtlinien der Carnegie Corporation s. Whyte; Solovey; Heyck; Hauptmann. Die typische Charakterisierung der Nachkriegsmarginalisierung individueller, nichtquantitativer Forschungsarbeit (durch die Akteurinnen wie durch Historikerinnen) trifft auf Galbraith keinesfalls zu. Der kommerzielle Erfolg der beiden von Carnegie geförderten Bücher The New Industrial State und The Affluent Society (das auch von der Guggenheim Foundation unterstützt wurde) befreite ihn von finanzieller Sorge. 50 Heller et al., S. 80; Galbraith, Ambassador’s Journal, S. 5. Seine Nähe zu Kennedy wurde spätestens dann offensichtlich, als ein Fernsehsender die Inauguration des Präsidenten aus Galbraiths Perspektive dokumentierte. s. ebd., S. 13. 51 Robert M. Solow Papers. Economists’ Papers Project, Rare Book, Manuscript, and Special Collections Library, Duke University, Box 60, File S: 1 of 7: Robert M. Solow and Richard „Dick“ Sargent vom 5. 1. 1961. 48
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des CEA teilzunehmen, bevorzugte Letzterer das „Flüstern in Kennedys Ohr“, wie er stolz in seinen Memoiren ausführte: „That day […] I deliberately missed further meetings […] But I saw the President beforehand and weighed in heavily against the action […] I also stressed to the President the importance of realizing that in economics, the majority is always wrong. The tax cut was postponed until next year“.52
Auch wenn die Kontrahenten unterschiedliche Formen und Strategien der Politikberatung verfolgten, bewegten sie sich im selben politischen Spektrum. Beide fanden sich auf Seiten einer Anti-Laissez-Faire-Politik, die makroökonomische Interventionen für notwendig hielt. Während Galbraith vor der zunehmenden Integration von Staat und Industrie und der damit einhergehenden Verschiebung von sozialen zu wirtschaftlichen Interessen warnte, betonte Solow die Möglichkeiten, die sich durch Besteuerung und Anreizsysteme ergeben würden: „I do believe that market forces operate over a large part of the modern economy, sometimes loosely, sometimes tightly. That does not mean that whatever the market turns up is good, or immune from tinkering on the part of the political authority. It does suggest that it will often be efficient to accomplish the social good by using the market“.53
Trotz etlicher Divergenzen, die das Ausmaß, in dem Marktstrukturen für das Erreichen sozialer Ziele genutzt werden konnten, und die konkrete Ausformung politischer Mittel betrafen, teilten Solow und Galbraith liberal-keynesianische Vorstellungen. Gerade dass sie sich darüber einig waren, dass das „mixed-enterprise system“ über Umverteilung, staatliche Investitionen und kontrazyklisches Nachfragemanagement verwaltet werden müsse, nötigte ihnen besonderen Kraftaufwand ab, ihre konträren Interpretationen dessen, wie ,Methode‘ und ,Politik‘ am sinnvollsten verknüpft werden sollten, durchzusetzen. Wann immer ihnen dies nicht gelang, wichen sie auf Konstruktionen des eigenen wissenschaftlichen Selbst und jenes ihres Gegenübers aus. 3. Personae: Von intellektuellem Elitismus und technischer Arbeit für die Allgemeinheit „The world can be divided into big-thinkers and little-thinkers. […] Economists are determined little-thinkers. They want to know what will happen to the production of houses and automobiles in 1968 if Congress votes a 10 percent surcharge on personal and corporate tax bills, and what will happen if Congress does not.“54
52
Galbraith, Ambassador’s Journal, S. 338. Solow, A Rejoinder, S. 119. Herv. i. Orig. In der Diskussion über Werbung schlug Solow beispielsweise vor, diese nicht zu verbieten, sondern schlichtweg große Konzerne zu besteuern und sie damit anfälliger für den Markt zu machen. 54 Solow, The New Industrial State, S. 100. 53
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In direkter Konkurrenz um die Gunst der Leserinnenschaft des Public Interest griffen Solow und Galbraith auf polemische Inszenierungen wissenschaftlicher Personae zurück – die wohl effizienteste Weise, der eigenen Forschungspraxis Bedeutung zu verleihen. Wo überlegte Argumente und Erklärungen scheiterten, ,Methode‘ und ,Politik‘ zusammenzubringen, entwarfen sie überspitzte Bilder bestimmter Arten oder Typen von Sozialwissenschaftlern.55 Solow präsentierte sich als Vertreter einer etablierten Profession von technischen Experten, der sich mittels mathematischer Werkzeuge der Wahrheit zwischen den Extremerzählungen Galbraiths (manipulierte Konsumentinnen und souveräne Großkonzerne) auf der einen und libertärer Ideologie (souverän entscheidende Verbraucher und effiziente Märkte) auf der anderen Seite nähern konnte.56 Galbraith hingegen setzte sich als weltmännischer Gelehrter in Szene, der kraft seiner Erfahrung und Gewandtheit auf öffentlichem Parkett und hinter geschlossenen Türen ein Gespür für die soziale Wahrheit entwickelt hatte. Nicht weniger schlagkräftig war ihre Konstruktion des jeweils anderen. Von den beiden wissenschaftlichen Personae war Solows technischer Ökonom die neuere Figur, gleichwohl Galbraiths umfassend gebildeter und kritischer „public intellectual“ in den Vereinigten Staaten der Nachkriegszeit ebenso Prominenz erlangte.57 Die Kontrahenten schmückten diese Figuren mit verschiedenen kulturellen Symbolen, um ihre rhetorische Schlagkraft zu steigern. Personae verbanden Lebensweisen und Wissensformen und statteten letztere mit moralischer Bedeutung aus. Solow eröffnete seine Rezension mit einem spöttischen Porträt: „Galbraith is, after all, something special. His books are not only widely read, but actually enjoyed. He is a public figure with some significance; he [has] the power to shake stock prices by simply uttering nonsense. He is known and attended to all over the world. He min55 Zum Konzept der „scientific personae“ s. Daston/Sibum, die sie als „social species“ oder „types“ beschreiben, die in bestimmten historischen Kontexten entstehen und wieder verschwinden. Sie sind kulturelle Figuren, die durch Gewohnheiten, mentale Bedingungen und materielle Techniken geformt werden. Solche wissenschaftliche Personae halten Lebensweisen und Wissensformen zusammen. In ähnlicher Weise untersuchte Steven Shapin die Beziehung zwischen verschiedenen wissenschaftlichen Typen, ihrer institutionellen Verankerungen und Wissensarten – etwa des englischen Gentleman-Wissenschaftlers des 17. Jahrhunderts oder des big science-Managers des 20. Jahrhunderts. Er legt allerdings (wie auch wir es in unserer Untersuchung tun) einen stärkeren Fokus auf wissenschaftliche Autorität und Prestige, s. Shapin, The House; ders., ,A Scholar and a Gentleman‘; ders., The Scientific Life, und Thorpe/Shapin. Unabhängig davon, ob das Gestalten des Selbst und des Anderen in der Debatte einer bewussten Strategie zugeschrieben werden kann, deuten wir im Folgenden die Rhetorik der Akteure als Ausdruck spezifischer wissenschaftlicher Personae, die wiederum im Zusammenhang mit den oben erläuterten jeweiligen Forschungs- und Schreibpraktiken, intellektuellen Biografien und institutionellen Möglichkeitsbedingungen stehen. 56 Zu Repräsentationsstrategien technischer Expertise in den Sozialwissenschaften s. Porter, Speaking Precision. 57 Zum Aufstieg und Niedergang des „public intellectual“, s. Jacoby. Zum Ökonomen als öffentlichem Intellektuellen s. Mata/Medema. Die bedeutsame neue Rolle von Intellektuellen in der US-amerikanischen Medienöffentlichkeit wird bereits im Jahr 1953 in einem Sonderheft der Partisan Review vom Who’s who der Ivy League-Eliten diskutiert.
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gles with the Beautiful People […] It is no wonder that the pedestrian economist feels for him an uneasy mixture of envy and disdain“.58
Im Gegensatz zur schillernden Figur Galbraiths vertrat Solow das Selbstbild einer hoch professionalisierten, nach innen gekehrten Community, wie es Samuelson (ironischerweise selbst als Berater in Kennedys Präsidentschaftswahlkampf und als Kolumnist von Newsweek stark in der Öffentlichkeit präsent) 1961 in seiner AEA Presidential Address gefasst hatte: [n]ot for us is the limelight and the applause […] In the long run, the economic scholar works for the only coin worth having – our own applause“.59 Wo Galbraith Ökonomen als bewusste Propagandisten oder unwissende Handlanger der Machtbestrebungen großer Konzerne und als Feinde des Allgemeinwohls präsentierte, skizzierte Solow seinen Gegner als oberflächlichen, selbstgefälligen und elitären Intellektuellen, dessen Anerkennung nichts mit echter Qualifikation und Expertise zu tun habe, sondern lediglich seinem Jet-Set Prestige entstamme.60 Tatsächlich hatte Galbraith weitreichendes Ansehen erlangt und zwar nicht trotz, sondern gerade aufgrund seines Images als Akteur am „raffish fringe of the Establishment“.61 So fand er sich im Jahr vor der Kontroverse im Public Interest etwa auf der Einladungsliste der legendären, von Truman Capote organisierten, Eliteparty, die die New York Times Modekolumnistin Marylin Bender folgendermaßen kommentierte: „In the United States, the cradle of mass culture, the intellectual no longer scorns fashion“.62 Solow nutzte Galbraiths Verbindung mit Benders „Beautiful People“, um seinem Widersacher professionelle wie moralische Glaubwürdigkeit abzusprechen. So zitierte er eine einzelne Passage aus The New Industrial State, um sie ins Lächerliche zu ziehen: „,What is called a high standard of living consists, in considerable measure, in arrangements for avoiding muscular energy, increasing sensual pleasure and for enhancing caloric intake above any conceivable nutritional requirement …‘ One wonders if that paragraph were written in Gstaad where, we are told, Professor Galbraith occasionally entertains his muse“.63
Unfähig, während seiner Schreibklausuren in den Schweizer Alpen die soziale Realität von Armut und Elend zu erkennen, würde Galbraith in intellektueller Über58
Solow, The New Industrial State, S. 100. Samuelson, S. 18, zitiert nach: Fourcade, S. 110. Solows öffentliche Auftritte beschränkten sich auf wenige Artikel in The New Republic, The New York Times Book Review und The Public Interest. Einflussreich war er vor allem durch seine Mitgliedschaften in verschiedenen Beratungskommissionen und seine umfassenden Lehraktivitäten, die dazu führten, dass bis heute Ökonomen von einer „Bob Solow view of the way to work“ sprechen, s. beispielsweise Krugman. 60 Vgl. Hession, die erste Biografie von Galbraith, die schon zu seinen Lebenszeiten seine Zusammenführung von Jet-Set Gestalt mit der älteren Figur des weltfremden Professors feiert, S. 18. 61 Galbraith, Annals, S. 156. 62 Bender, S. 19; der Hinweis, dass auch Galbraith an der Party teilnahm, findet sich in Halberstam. 63 Solow, The New Industrial State, S. 107. 59
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legenheit seine eigenen Vorlieben auf die allzu spießigen Massen übertragen wollen: „It is a very fine line between analytical statements about the creation of wants by advertising and elaborate indications that one believes one’s own tastes to be superior to those of the middle classes“.64 Anstatt sich über den Konsumwahn der Massen zu empören, richtete Solow die Empörung an ein elitäres Gegenüber – nicht ohne sich zuvor als einfacher technischer Arbeiter zu präsentieren, der sich, wie im Austausch mit Heilbroner zwei Jahre später, gegen Oberschichtselitismus und eine zu einfache Interpretation falschen Bewusstseins positionierte: „It is said that ordinary people can not be entrusted with the judgment of their own welfare, not even with the choice of the things they buy. This is because they are ignorant of ,true’ satisfaction, or because they are manipulated by advertising, or because their tastes, such as they are, have been formed by a wicked society to preserve itself“.65
Mit einem Seitenhieb auf Herbert Marcuse – „The attack on consumer sovereignty performs the same function as the doctrine of ,repressive tolerance.‘ If people do not want what I see so clearly they should want, it can only be that they don’t know what they really want“66 – betonte Solow, dass die Präferenzen einfacher Konsumenten respektiert und deren Entscheidungen ernst genommen werden müssten. Technische Ökonomen würden nicht selbst soziale Ziele vorschlagen, sondern stellten jene Instrumente und Techniken bereit, die dem Staat ermöglichten, Ziele zu erreichen, die „die Gesellschaft“ wählte.67 Mühselige, kleinteilige technische Arbeit, besonnenes Abwägen von Argumenten und eine möglichst objektive Herangehensweise wären die Mittel, mit denen der ökonomische Experte als „little thinker“ für eine bessere Gesellschaft eintrete, während der elitäre, unmoralische „big thinker“ zwischen den Parties der High Society und den Abendessen mit den Mächtigen soziales Interesse lediglich vorgeben würde. In seiner „review of a review“ maßregelte Galbraith Solows Verwendung von „ad hominem“-Argumenten als Vergehen gegen den wissenschaftlichen Anstand, übersah dabei aber geflissentlich, dass er das Spiel der Konstruktion von Selbst und Anderem selber mit Bravour vollzog. Des Öfteren verwies er quasi-respektvoll auf die technische Finesse und das „scientific prestige“ von Solows Arbeit. „He is a calm and confident scholar with a rare mastery of the technical tools of economic and quantitative analysis“, schrieb Galbraith. „To the extent that economics qualifies as a science, it is men like Professor Solow who have earned it the reputation.“68 Er adressierte ihn durchgängig als „Professor Solow“, nannte ihn einen „deeply serious scholar“ und betonte dessen „superior mastery of his discipline“ – scheinbare Respekts64
Ebd., S. 119. „We are all, or most of us, in the position of the Indian brave who has been hooked on cheap fire water by the greedy fur trader; in what sense is he better off because he willingly trades muskrat for rotgut?“, Solow, Science and Ideology, S. 105. 66 Ebd., S. 105. Vgl. Marcuse, Repressive Tolerance. 67 Solow, Some Problems, S. 217. 68 Galbraith, A Review, S. 109. 65
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bezeugungen, die dazu dienten, den Gegner auf seinen Platz zu verweisen. Technische Virtuosität bedeutete nicht politische Reife oder seriöses Urteilsvermögen. Galbraith wies sein Gegenüber zurecht („Professor Solow’s desire to attribute error [which] has undermined his instinct to precision“)69 und äffte ihn geradezu nach („Here speaks the superior scholar. I must warn you against something that is not quite careful“70). Im Gegensatz zu Solows „small band of technical initiates […] somewhat like […] a fraternity, a lodge, or a chess club“, gab sich Galbraith einmal mehr als kritischer, moralischer Einzelgänger, der dennoch Teil der wichtigsten gesellschaftlichen Kreise war und eine ganze Profession eigenhändig aus den Angeln zu heben vermochte.71 Ob moralisierender Salonlöwe oder kampfeslustiger Techniker – erst die Konstruktion wissenschaftlicher Personae ermöglichte Galbraith und Solow, ,Methode‘ und ,Politik‘ zusammenzuführen und viel größere Gräben zwischen ihren Positionen zu inszenieren als es in der Diskussion von Modellierungsarbeit und Interventionswissen gelungen war.
IV. Resümee Sowohl Galbraith als auch Solow waren davon überzeugt, die Debatte für sich entschieden zu haben.72 Abgesehen von einem Forschungsprojekt Marris‘, in das beide Kontrahenten einbezogen waren, wurde der Austausch kaum rezipiert. Die wenigen Sammelbände und Sonderhefte, in denen er Niederschlag fand, trugen allerdings zu einer nachhaltigen Konturierung der Fronten bei, die bis heute ökonomische Methoden direkt mit klaren politischen Standpunkten verbinden möchte.73 Solow schien seinen Einsatz zu bedauern: „[E]very so often the devil makes me write something entertaining, and that is what everyone remembers and wants to Xerox […] [I]t exhibits the wisdom of Samuelson’s first rule for scholars: Never make a joke“.74 Entgegen dieser Akteurseinschätzung der Debatte als unbedeutende Witzelei verwendete der vorliegende Beitrag die Auseinandersetzung, um die Vielschichtigkeit des Ver69
Ebd., S. 114. Ebd., S. 112. 71 Ebd., S. 118. 72 Galbraith, A Life in Our Times, S. 521; Bluestone/Solow/Scherer, S. 378 – 380. 73 Die beiden resultierenden Publikationen des Projekts, The Corporate Economy (1971) und The Corporate Society (1974), präsentierten Beiträge, die aus unterschiedlichen sozialwissenschaftlichen Perspektiven die von Galbraith postulierte Industriegesellschaft untersuchten. Marris bedankte sich im ersten Band bei Solow, der es ihm durch Beratung und Unterstützung bei Projektdesign und Autorenauswahl ermöglicht hatte, aus den Problemen der Debatte ein eigenes Forschungsprogramm zu gestalten. Galbraith, der an einem solchen Programm vermutlich weder teilgenommen noch es selbst unternommen hätte, verfasste allerdings das respektvolle Vorwort der 1968 erschienenen US-Ausgabe von Marris, The Economic Theory. 74 Solow, Growth Theory, S. 378. Tatsächlich scheinen Galbraith und Solow befreundet und sich trotz gelegentlicher Spannungen wohlgesonnen gewesen zu sein, s. Samuelson, S. 95. 70
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hältnisses von Methode und Politik in den Wirtschaftswissenschaften der 1960er Jahre mit ihren institutionellen Verknüpfungen und idiomatischen Grundlagen in den Blick zu nehmen. Die analysierten drei Dimensionen der Debatte – epistemische, gesellschaftliche und personenbezogene – verdeutlichen den argumentativen Einsatz, den es erforderte, die Bedeutung der neuen Modellierungsmethoden zu verhandeln, und legen dar, wie unterschiedlich diese Sinnzuschreibungen bei Zeitgenossen ausfallen konnten, selbst wenn sie weite Teile ihrer Idiome und die grobe Einschätzung der gesellschaftlichen Rolle wirtschaftswissenschaftlichen Wissens teilten. Wie über ,Methode‘ und ,Politik‘ gesprochen wurde, war geprägt von den spezifischen inner- und außerwissenschaftlichen Denkstilen, denen Solow und Galbraith jeweils angehörten. Während sie in der Diskussion ökonomischer Annahmen nicht einmal von denselben Objekten sprachen, rückten die Widersacher in der Auseinandersetzung um konkrete politische Maßnahmen unweigerlich näher zusammen. Pochten beide darauf, Zugriff auf eine ökonomische Wahrheit bieten zu können, brachten sie das jeweilige Wissen auf unterschiedlichen Wegen in die Politikberatung ein. Angesichts der komplexen Unterschiede und Überschneidungen, die wir auf den letzten Seiten darlegten, war die vielversprechendste Strategie, um die jeweilige – affirmative wie kritische – Interpretation ökonomischer Modellierungsmethodik durchzusetzen und damit intellektuelle Autorität zu behaupten, die Mobilisierung starker wissenschaftlicher Personae. Auf der einen Seite stand nun der moralische Mahner Galbraith, der vor den Effekten modellbasierter Aussagen warnte, auf der anderen der mathematische Ingenieur Solow, der Modelle als neutralste Instrumente politökonomischer Intervention für gesteigerten Wohlstand und ausgewogenere Verteilung verstanden haben wollte. Beschrieb der eine das neue technische Idiom als Verschleierungsstrategie, die die Disziplin immer weiter abschottete, die Legitimation ihrer Basisannahmen als unhinterfragbar festsetzte und die Konsequenzen ihrer Arbeit einem kritischen Diskurs entzog, waren für den anderen mathematische Modellierungsmethoden und ökonometrische Messungen der Inbegriff von Evidenz und Klarheit. Nur als Modellierungswissenschaft würde die Ökonomik im Stande sein, ihre Annahmen explizit zu machen und sinnvolle Vorhersagen, Steuerung und Intervention zu ermöglichen. Im Jahr 1967 war die Schließung der Ökonomik als Modellierungswissenschaft gerade noch nicht vollzogen. Solows und Galbraiths Versuche, das Verhältnis von Methode und Politik zu klären und eindeutig als Kontrapunkt zu den Positionen des anderen darzustellen, zeugen von den Anstrengungen, die in einer Situation historischer Offenheit notwendig waren, ihrer je eigenen Forschungsarbeit Bedeutung zu geben, und spiegeln Unsicherheiten, mit denen die Frage nach der richtigen Methode und ihres politischen Gehalts beladen war. Auch wenn viele der Vorwürfe Galbraiths Solow nicht direkt trafen und der MIT-Ökonom einen wesentlich reflektierteren Umgang mit ökonomischen Modellen pflegte als es ihm Galbraith unterstellte, scheint letzterer (zumindest) in seiner Einschätzung der Entwicklung der ökonomischen Disziplin Recht behalten zu haben. Im Laufe der 1970er Jahre stabilisierte sich der sogenannte ökonomische Mainstream mit seinem mathematisch-technischen
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Idiom und den auf der Konstruktion, Manipulation und Operationalisierung von Gleichgewichtssystemen basierenden Forschungspraktiken. Als „proper economics“ galten von nun an lediglich Aussagen, die sich auf mathematische Modelle bezogen. Die im vorliegenden Aufsatz eingenommene Perspektive auf Denkstile und Idiome legt nahe, dass diese Schließung von anerkanntem Forschungsvorgehen mit einer Engführung dessen, was überhaupt als ,ökonomisches‘ Problem galt und wie ,das Ökonomische‘ beschaffen wäre, einherging. Konstatierten wir für die Debatte zwischen Galbraith, Solow und Marris eine gewisse Brüchigkeit der Inszenierung in den drei Dimensionen des Epistemischen, Gesellschaftlichen und Personenbezogenen, wäre für die nachfolgenden Jahrzehnte zu fragen, wie sich erstens die Wechselverhältnisse zwischen Forschungspraktiken respektive Idiomen und dem Sprechen über Methode und Politik ausgestalteten, zweitens, wie sich wissenschaftliche Personae in Zeiten von sich ausbreitenden Modellinfrastrukturen, der Diversifizierung von ökonomischer Expertise und ihrer institutionellen Rahmenbedingungen sowie der sogenannten ,Ökonomisierung‘ aller Lebensbereiche veränderten. Literatur Backhouse, Roger E.: The Penguin History of Economics, London 2002. – Paul A. Samuelson’s Move to MIT, in: E. Roy Weintraub (Hrsg.), MIT and the Transformation of American Economics, Annual Supplement to Volume 46, History of Political Economy (2014), S. 60 – 77. Balisciano, Márcia L.: Hope for America: American Notions of Economic Planning between Pluralism and Neoclassicism, 1930 – 1950 in: Mary S. Morgan/Malcolm Rutherford (Hrsg.), From Interwar Pluralism to Postwar Neoclassicism, Annual Supplement to Volume 30, History of Political Economy (1998), S. 153 – 178. Bell, Daniel: The End of Ideology: On the Exhaustion of Political Ideas in the Fifties, Glencoe 1960. Bell, Daniel/Kristol, Irving: What is the Public Interest?, in: The Public Interest, 1 (1965) 1, S. 3 – 5. Bender, Marilyn: The Beautiful People, New York 1967. Bernstein, Michael A.: A Perilous Progress: Economists and Public Purpose in Twentieth-Century America, Princeton 2001. Bluestone, Barry/Solow, Robert M./Scherer, F. M.: Time and the New Industrial State. Discussion, in: The American Economic Review, 78 (1988), S. 377 – 382. Boumans, Marcel: How Economists Model the World into Numbers, New York 2005. Cherrier, Beatrice: A History of Economics at MIT in: E. Roy Weintraub (Hrsg.), MIT and the Transformation of American Economics, Annual Supplement to Volume 46, History of Political Economy (2014), S. 15 – 44. Collins, Robert M.: More: The Politics of Economic Growth in Postwar America, Oxford 2000.
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VI. Schluss
Idiomatische, praxeologische und institutionelle Aspekte in der Geschichte der Sozialwissenschaften: Setzungs-, Umbesetzungs- und Absetzungsdynamiken Von Fabian Link Die Frage, ob eine idiomatische sozialwissenschaftliche Tiefengrammatik vom 19. bis ins 20. Jahrhundert existierte, ob die Sozialwissenschaften in diesem Sinne als „dritte Kultur“ zwischen den nomothetischen Naturwissenschaften und den idiografischen Geisteswissenschaften analytisch behandelt werden können, scheint negativ beantwortet werden zu müssen. Die Beiträge des vorliegenden Sammelbands haben gezeigt, dass in den Sozialwissenschaften diverse miteinander konkurrierende und teilweise einander auch ignorierende Idiome existierten. Für diese Idiome aber waren nationale Zirkulationsräume und muttersprachlich geprägte Arretierungen von entscheidender Bedeutung, auch wenn transnationale Transfers von Gesten, Begriffen, Konzepten und Praktiken sowie Impulse und Anschlusszwänge – etwa auf Tagungen, bei Gesellschaftsgründungen, in Rezensionen, Polemiken, Debatten – keine geringe Rolle spielten. Thomas S. Kuhn hielt die Durchsetzung eines einzigen Idioms respektive einer Theorieschule für ein Merkmal der Naturwissenschaften im Stadium ,Normalwissenschaft‘ und sprach im gleichen Zug den Geistes- und Sozialwissenschaften die Erlangung dieses Entwicklungszustands ab; er hielt diese Wissenschaften nicht für wissenschaftlich im eigentlichen Sinn, denn seiner Ansicht nach verblieben sie im vorparadigmatischen Stadium und konnten daher auch keinerlei durch einen Paradigmenwechsel angezeigten Fortschritt ausweisen.1 Die hier versammelten Aufsätze widerlegen diese Annahme Kuhns zumindest für die Sozialwissenschaften, denn die plurale Struktur der Sozialwissenschaften führte gerade nicht dazu, dass sie auf der Stelle traten, sondern machte ihre Eigenart aus und beförderte ihre Produktivität. Dies zeigt auf der einen Seite die enge Verwandtschaft der Sozialwissenschaften mit der komplexen heterogenen wie heterogonen Struktur der ,Moderne‘. Auf der anderen Seite macht diese Sachlage deutlich, dass wissenschaftshistorische Analysen der Sozial- und womöglich auch der Geisteswissenschaften nicht mit den an Untersuchungen der Naturwissenschaften entwickelten methodisch-analytischen Herangehensweisen betrieben werden sollten, vielmehr müssen für solche Analysen eigene Instrumente, Methoden und theoretische Perspektiven entwickelt werden.
1
Kuhn, Die Struktur, S. 30 – 32, 35 – 36; ders., Neue Überlegungen.
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Plurale Struktur und Diversität standen der Entwicklung und Festsetzung einer die einzelnen, lokal, regional oder national verankerten Idiome übergreifenden Struktur in den Sozialwissenschaften nicht entgegen. Die Beiträge dieses Sammelbands legen dar, dass Übereinkünfte epistemischer Art, wie z. B. in den verschiedenen sozialwissenschaftlichen Fachgemeinschaften akzeptierte methodische Standards, oder diskursiv festgelegte Haltungen gegenüber Politik und Industrie, die über die nationalsprachlichen Grenzen hinausgingen, so z. B. in Bezug auf Strategien des institutionellen Ausbaus der Soziologie, mit transnationalen und transdisziplinären Umformungs- und Neubildungsprozessen der gruppengebundenen idiomatischen Denkarten verbunden waren. Als Beispiel hierfür könnte die „Amerikanisierung“ oder „Westernisierung“ der westdeutschen Sozialwissenschaften nach 1945 dienen. Die unter „Westernisierung“ oder „Amerikanisierung“ verstandenen Elemente, etwa die Festlegung auf das Englische als transnationale Kommunikationssprache in den Sozialwissenschaften, die Dominanz sozialempirischer Forschung und damit die Durchsetzung quantitativer Methodologie sowie die Disziplinierung des epistemischen Ausdrucks auf ein Ins-richtige-Verhältnis-Setzen der Vektoren, könnten eine sprachlich-intelligible Verständigungsbasis zwischen den verschiedenen westdeutschen Sozialwissenschaftlergruppen ermöglicht oder erleichtert haben. Solche Prozesse sind nicht zu verwechseln mit einer Mittlerposition, die Bernhard Waldenfels mit einer „idiomfreien Sprache“ verbindet2 – auf die Sozialwissenschaften trifft dies allein aufgrund ihrer inneren Pluralität nicht zu. Vielmehr wäre zu vermuten, dass sich in der Verbindung von Elementen angloamerikanischer sozialwissenschaftlicher Idiome und westdeutschen idiomatischen Elementen nach 1945 ein neues sozialwissenschaftliches Idiom entwickelte und etablierte,3 das zur Textur von Diskursen des frühen Kalten Kriegs um Demokratisierung, Liberalisierung und eben „Westernisierung“ in der westlichen Hemisphäre einen spezifischen Beitrag leistete. Dies erscheint zunächst bloß als Hypothese, denn die entscheidenden Fragen, ob sich auf transnationaler oder globaler Ebene in den Sozialwissenschaften neue Idiome bildeten oder ob sprachlich differente, sich aber sehr nahestehende Forschungsidiome, wie etwa empirische oder qualitative Sozialforschung, die in unterschiedlichsten Sprachen ähnlich und im transnationalen Austausch praktiziert werden, beschrieben werden können, wie Übersetzung stattfand, können kaum abschließend beantwortet werden – das wäre ein konkretes Forschungsdesiderat und sicher ein lohnenswertes Vorhaben. In Bezug auf den analytischen Zugriff ,Institution‘ sind ebenfalls eindeutige Unterschiede in den von den einzelnen Akteuren verfolgten Strategien der Institutionalisierung auszumachen, die wiederum auch die soziologischen Idiome mitprägten. Dies wird an der Differenz zwischen dem Postulat der Werturteilsfreiheit und dem Aufruf zum sozialpolitischen Engagement in der Soziologie deutlich, denn beide Strategien konnten auch unterschiedlichen politischen Konstellationen geschuldet 2 3
Waldenfels, S. 313. Vgl. Galison, S. 14 – 15.
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sein. Überhaupt scheinen die Sozialwissenschaften fortwährend von einer Beeinflussung durch politische und ökonomische Elemente bestimmt gewesen zu sein, was womöglich am Anwendungscharakter vor allem des sozialempirischen Wissens für Politik und Industrie lag. Dies muss allerdings nicht als negativ besetzte Heteronomisierung im Bourdieuschen Sinne verstanden werden,4 vielmehr konnten Verlagerung und Übersetzung sozialwissenschaftlichen Wissens in nicht-wissenschaftliche Kontexte und Sphären auf die Entwicklung sozialwissenschaftlicher Forschungspraktiken und Themen bestimmenden Einfluss haben. Je nach Anwendungsorientierung und damit Adressierung sozialwissenschaftlichen Wissens konnte die relative Autonomie sozialwissenschaftlicher Institutionen in Frage gestellt oder aber gefestigt werden; die Existenz mancher Institute und sozialwissenschaftlicher Forschungsprogramme wurde ja überhaupt erst durch die Förderung von Seiten der Politik möglich. Solche Mechanismen werden am Beispiel einer sozialempirischen Untersuchung durch das Institut für Sozialforschung (IfS) in Frankfurt deutlich, der Betriebsklima-Studie. Im Auftrag der Mannesmann-Holding führte das IfS 1954/55 eine industriesoziologische Untersuchung in einigen Stahlwerken des Konzerns im Ruhrgebiet durch. Die Untersuchung sollte die Einstellung der Arbeiter und des Leitungspersonals gegenüber dem Betrieb unter Anwendung des Gruppendiskussionsverfahrens und einer Fragebogenerhebung eruieren.5 Die Studie erbrachte das Ergebnis, dass die Mehrzahl der Arbeiter kein Interesse an der Betriebs- und Gewerkschaftspolitik hatten, was Theodor W. Adorno und seine Mitstreiter auf eine zunehmende Entfremdung der Arbeiternehmer von ihrer Arbeitsumgebung zurückführten.6 Das IfS wollte diese Ergebnisse vollständig publizieren, stieß dabei jedoch auf den Widerstand der Mannesmann-Leitung, die verhindern wollte, dass solch negative Befunde an die Öffentlichkeit kamen, zudem verdächtigte Direktor Karl Harzig von der Mannesmann-Hüttenwerke AG das IfS, die Erhebungen „mit bestimmten sozialpolitischen Tendenzen“ vorgenommen zu haben.7 Am Ende veröffentlichte das Institut eine dünne Monografie von 120 Seiten mit der quantitativen Auswertung der Interviews, einigen oberflächlichen qualitativen Anmerkungen und dem für die Studie verwendeten Fragebogen als Anhang.8 Diese Beeinflussung der sozialempirischen Praxis durch die industriellen Auftraggeber hatte zur Folge, dass Adorno nun umso vehementer die sozialwissenschaftliche Autonomie verteidigte und sich aus der seiner Meinung nach fremdbestimmten empirischen Sozialforschung zurückzog.
4
Bourdieu, S. 28. Platz, Theodor W. Adornos Demokratieexpertise, S. 199; ders., Die Praxis, S. 310. s. Betriebsklima, S. 12. 6 Archiv IfS, A 10: Betriebsuntersuchung Mannesmann: O. Vorarbeiten. Ordner 1.1: Werner Mangold, Protokoll der Besprechung vom 1. 11. 1954, 1. 11. 1954, Bl. 1 – 3, hier: Bl. 2. 7 Ebd.: Hermann Winkhaus [Dipl.-Ing. bei Mannesmann A.G.] an Direktor Karl Harzig, Mannesmann Hüttenwerke AG, vom 4. 6. 1955, Bl. 1 – 6, hier: Bl. 1 – 3, 4. 8 Platz, Die Praxis, S. 333, 367 – 370; Wiggershaus, S. 543. 5
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Die Beiträge dieses Sammelbands haben allerdings auch gezeigt, dass in den von ihnen untersuchten sozialwissenschaftlichen Fächern ähnliche oder verwandte Prozesse und Mechanismen der Institutionalisierung zu beobachten sind. Mit dem Idiom-Ansatz könnte folgendes Stufenmodell der Institutionalisierung sozialwissenschaftlicher Disziplinen skizziert werden: Auf der ersten Stufe erfolgte eine semantische Variationsproduktion durch Theorien oder theoretische Ansätze. Die zweite Stufe umfasste Prozesse der transnationalen Verdichtung von Kommunikation durch Korrespondenzen und periodische und ritualisierte Kommunikationsformen wie etwa Zeitschriften, Tagungsbesuche oder Gesellschaftsgründungen. Es lassen sich auf dieser Stufe darüber hinaus experimentelle Umgangsweisen mit Satzungen, Personenkreislimitierung, Rollendifferenzierung und Normierung von Verhaltenserwartungen und -erwartungserwartungen beobachten. Auf der dritten Stufe, die nicht selten zeitgleich mit Stufe zwei auftrat, ereigneten sich Arretierungen von national und transnational konkurrierenden Idiomen durch Diskurse in diesen neu gegründeten Foren. Stufe vier beinhaltete die Diffusion des sozialwissenschaftlichen Wissens in die nationalen akademischen Betriebe in Form von Lehre, öffentlichen Vorträgen, Feuilletonartikeln, Aufrufen etc. Schließlich folgte die fünfte Stufe, auf der Politik und Industrie adressiert wurden, um Gelder zur Förderung des zumeist schon als Disziplin etikettierten Kommunikationszusammenhangs zu mobilisieren. Einmal auf der fünften und vorerst letzten Stufe angelangt, können sich auch Regressionsschritte ereignen, die im schlimmsten Fall dazu führen, dass der einmal disziplinierte und institutionell etablierte sozialwissenschaftliche Kommunikationszusammenhang wieder zerfällt. Dieses Stufenmodell gilt es in weiteren Forschungen zur Geschichte der Sozialwissenschaften auf den Prüfstand zu stellen, um dem für die Natur-, nicht aber für die Sozial- und Geisteswissenschaften plausiblen Paradigmenmodell Kuhns einen theoretisch sinnvollen Ansatz entgegenzustellen. Literatur Betriebsklima. Eine industriesoziologische Untersuchung aus dem Ruhrgebiet (= Frankfurter Beiträge zur Soziologie, Bd. 3), Frankfurt am Main 1955. Bourdieu, Pierre: Vom Gebrauch der Wissenschaft. Für eine klinische Soziologie des wissenschaftlichen Feldes (= éditions discours, Bd. 12), Konstanz 1998. Galison, Peter: Introduction: The Context of Disunity, in: Ders./David J. Strump (Hrsg.), The Disunity of Science: Boundaries, Contexts, and Power, Stanford 1996, S. 1 – 33. Kuhn, Thomas S.: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. Zweite revidierte und um das Postskriptum von 1969 ergänzte Aufl., Frankfurt am Main 1976 [1962]. – Neue Überlegungen zum Begriff des Paradigma, in: Ders., Die Entstehung des Neuen. Studien zur Struktur der Wissenschaftsgeschichte. Hrsg. von Lorenz Krüger. Übersetzt von Hermann Vetter, Frankfurt am Main 1977 [1974], S. 389 – 420. Platz, Johannes: Die Praxis der kritischen Theorie. Angewandte Sozialwissenschaft und Demoskopie in der frühen Bundesrepublik 1950 – 1960, Diss. Universität Trier, Trier 2012.
Idiomatische, praxeologische u. institutionelle Aspekte der Sozialwissenschaften 321 – Theodor W. Adornos Demokratieexpertise beim Aufbau der Bundeswehr: Authoritarian Personality, Charakterologie oder Psychotechnik? Die Konflikte um Einrichtung und Ausrichtung des Psychologischen Dienstes der Bundeswehr, in: Margrit Seckelmann/Ders. (Hrsg.), Remigration und Demokratie in der Bundesrepublik nach 1945. Ordnungsvorstellungen zu Staat und Verwaltung im transatlantischen Transfer (= Historie, Bd. 116), Bielefeld 2017, S. 189 – 217. Waldenfels, Bernhard: Idiome des Denkens. Deutsch-Französische Gedankengänge II, Frankfurt am Main 2005. Wiggershaus, Rolf: Die Frankfurter Schule. Geschichte. Theoretische Entwicklung. Politische Bedeutung, 7. Aufl., München 2008.
Autorenverzeichnis Bond, Niall, Dr. phil., promovierte an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg im Breisgau in Politologie und habilitierte sich mit einer ideenhistorischen Arbeit an der École d’Hautes Études en Sciences Sociales. Arbeitsschwerpunkte: Politische und soziologische Ideengeschichte, Wissenschaftsgeschichte der Neuzeit und der Frühen Neuzeit, Translationswissenschaft. Er arbeitet auch als Übersetzer und Konferenzdolmetscher zwischen Englisch, Deutsch und Französisch. Zu seinen Buchveröffentlichungen gehören: Bond, Niall: Understanding Ferdinand Tönnies’ Community and Society, Bd. 1: Political philosophy and sociological theory between enlightened liberal individualism and transfigured community, Berlin/New York 2013; Bond, Niall: Ferdinand Tönnies, Communauté et Société, Paris 2010; Bond, Niall: Gemeinschaft: Karriere eines Begriffs zwischen Mitgefühl, Tribalismus und Voluntarismus, München 2019. E-Mailadresse: [email protected] Dayé, Christian, Dr. phil., ist seit Herbst 2018 wissenschaftlicher Mitarbeiter der Arbeitsgruppe Wissenschaft, Technik und Gesellschaft der Technischen Universität Graz. Zuvor war er als Postdoc-Universitätsassistent am Institut für Soziologie der Universität Klagenfurt beschäftigt. Arbeitsschwerpunkte: Wissens- und Wissenschaftssoziologie, Geschichte der Sozialwissenschaften, Methoden und Methodologien der empirischen Sozialforschung. Aktuelle Veröffentlichungen: Dayé, Christian: How to Train Your Oracle: The Delphi Method and its Turbulent Youth in Operations Research and the Policy Sciences, in: Social Studies of Science, 48 (2018) 6, S. 846 – 868; Dayé, Christian: A Systematic View on the Use of History for Current Debates in Sociology, and on the Potential and Problems of a Historical Epistemology of Sociology, in: The American Sociologist, 49 (2018) 4, S. 520 – 547; Dayé, Christian: Soziologische Konzeptualisierungen von wissenschaftlichen Kollektiven und ihr Einsatz in der Soziologiegeschichte, in: Stephan Moebius/Andrea Ploder (Hrsg.), Handbuch Geschichte der deutschsprachigen Soziologie, 2 Bde., Wiesbaden 2017, S. 63 – 80; Dayé, Christian: ,A Fiction of Long Standing:‘ Techniques of Prospection and the Role of Positivism in US Cold War Social Science, 1950 – 1965, in: History of the Human Sciences, 29 (2016) 4 – 5, S. 35 – 58; Dayé, Christian/Moebius, Stephan (Hrsg.): Soziologiegeschichte. Wege und Ziele, Berlin 2015; Dayé, Christian: Visions of a Field: Recent Developments in Studies of Social Science and Humanities, in: Science, Technology & Human Values, 39 (2014) 6, S. 877 – 891. E-Mailadresse: [email protected] Dörk, Uwe, Dr. phil., ist Projektentwickler am Soziologischen Institut der Technischen Universität Dresden und Fellow des Kulturwissenschaftlichen Instituts Essen (KWI). Bis Ende 2017 leitete er am KWI das Projekt „Geschichte der Deutschen Gesellschaft für Soziologie“. Arbeitsschwerpunkte: Historische Epistemologie und Wissenschafts- und Wissensgeschichte der Neuzeit und der Frühen Neuzeit, Soziologiegeschichte, Digital Humanities. Aktuelle Veröffentlichungen: Dörk, Uwe: Totenkult und Geschichtsschreibung, Konstanz 2014; Dörk, Uwe, Die frühe Deutsche Gesellschaft für Soziologie: Zum organisatorischen, epistemischen und sozialen Profil einer Fachgesellschaft, in: Stephan Moebius/Andrea Ploder (Hrsg.), Handbuch Geschichte der deutschsprachigen Soziologie, 2 Bde., Wiesbaden
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Autorenverzeichnis
2017, S. 809 – 828; Dörk, Uwe: Die Deutsche Gesellschaft für Soziologie (DGS) in der Zwischenkriegszeit (1918 – 1933), in: Stephan Moebius/Andrea Ploder (Hrsg.), Handbuch Geschichte der deutschsprachigen Soziologie, 2 Bde., Wiesbaden 2017, S. 829 – 848; Dörk, Uwe/Wierzock, Alexander: Verhinderte Soziologie in Göttingen? Zur Fachgenese (1890 – 1951), in: Oliver Römer/Ina Alber-Armenat (Hrsg.), Erkundungen im Historischen: Soziologie in Göttingen. Geschichte – Entwicklungen – Perspektiven, Wiesbaden 2018, S. 25 – 60; Dörk, Uwe: Kommentar zu Joachim Fischers Versuch einer Skizze der Geschichte der Bundesrepublikanischen Soziologie von 1949 bis heute, in: Martin Endreß/Klaus Lichtblau/Stephan Moebius (Hrsg.), Zyklos 3. Jahrbuch fu¨ r Theorie und Geschichte der Soziologie, Wiesbaden 2017, S. 209 – 220. E-Mailadresse: [email protected] Grube, Norbert, Dr. phil., Prof. ZFH, forscht und lehrt am Zentrum für Schulgeschichte der Pädagogischen Hochschule Zürich. Seine Arbeitsschwerpunkte umfassen die Geschichte von Erziehung und Bildung in schulischen und außerschulischen Kontexten vom 18. bis ins 20. Jahrhundert, demoskopische Politikberatung im Kalten Krieg sowie praxeologische und wissenshistorische Ansätze in der Historischen Bildungsforschung. Aktuelle Veröffentlichungen: Grube, Norbert/Hoffmann-Ocon, Andreas/De Vincenti, Andrea (Hrsg.): Erster Weltkrieg, Schule und Volksbildung in der Deutschschweiz. Pädagogisierungsambitionen und -dynamiken zwischen Mobilisierung und gesellschaftlicher Balance (= Geschichte und Bildung, Bd. 5), Münster et al. 2018; De Vincenti, Andrea/Grube, Norbert/Hoffmann-Ocon, Andreas: Wissenschaftsaffines Seminar und kontinuierliche Erziehungsmuster in der akademischen Pädagogik. Debatten und Dynamisierungen in der Ausbildungsreform Deutschschweizer Lehrpersonen im frühen 20. Jahrhundert, in: Wilfried Göttlicher et al. (Hrsg.), Bildungsreform als Thema der Bildungsgeschichte, Bad Heilbrunn 2018, S. 117 – 130; Grube, Norbert: Bildungspolitische Beratung durch das Allensbacher Institut fu¨ r Demoskopie in der Bundesrepublik von 1950 bis zum Ende der 1980er Jahre, in: Sabine Reh et al. (Hrsg.), Wissensfelder und Wissenspraktiken – Ansätze einer Geschichte des Wissens über Erziehung und Bildung in Deutschland bis 1990 (= Zeitschrift für Pädagogik, Beiheft 63), Weinheim 2017, S. 70 – 86. E-Mailadresse: [email protected] Halsmayer, Verena, Dr. phil., ist Oberassistentin am Seminar für Kulturwissenschaften und Wissenschaftsforschung der Universität Luzern. Arbeitsschwerpunkte: Modelle und Modellieren in der Geschichte der Humanwissenschaften, die Geschichte ökonomischen Wissens, Planungstheorien und -praktiken im 19. und 20. Jahrhundert. Aktuelle Veröffentlichungen: Halsmayer, Verena: Material des Ökonomischen, ökonomisches Material. Das Vermessen von Input-Output-Systemen am Harvard Economic Research Project, 1947 – 1952, in: Christoph Hoffmann/Michael Hagner (Hrsg.), Materialgeschichten. Nach Feierabend 14 (= Zürcher Jahrbuch für Wissenschaftsgeschichte 2018), Zürich 2018, S. 111 – 138. Halsmayer, Verena: Following Artifacts, in: History of Political Economy, 50 (2018) 3, S. 629 – 634. Halsmayer, Verena: Rezension von Philip Mirowski & Edward Nik-Khah, The Knowledge We Have Lost in Information: The History of Information in Modern Economics, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte, 41 (2018) 4, S. 484 – 486. Halsmayer, Verena: „A Model to Make Decisions and Take Actions”: Leif Johansen’s Multi-Sector Growth Model, Computerized Macroeconomic Planning, and Resilient Infrastructures for Policy-Making, in: Roger E. Backhouse/Béatrice Cherrier (Hrsg.), Becoming Applied: The Transformation of Economics after 1970, Special Issue: History of Political Economy, 49, 2017, S. 158 – 186. E-Mailadresse: [email protected]
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Hounshell, Eric, Ph.D., arbeitet zur Geschichte der Sozialwissenschaften und zur Intellektuellen- und Wissensgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. In seiner Dissertation („A Feel for the Data“, UCLA 2017) befasste er sich mit der Karriere des österreichisch-amerikanischen Soziologen Paul F. Lazarsfeld und dem von ihm gegründeten Forschungsinstitut Columbia University Bureau of Applied Social Research (BASR). Zuletzt arbeitete Hounshell an einer Fallstudie zur Marktforschung des BASR zum Edsel Modell der Ford Motor Company (ca. 1957), zur Geschichte sozialer Typen und Typenbildung in Wien zwischen 1900 und den 1930er Jahren und an einem größeren Projekt zur Rolle von Verwandtschaftsforschung in politischen Interventionen in den Vereinigten Staaten, in Europa und in postkolonialen/ nicht-westlichen Gesellschaften des 20. Jahrhunderts. Längere Forschungsaufenthalte verbrachte er am IFK Wien (Fulbright), dem Graduiertenkolleg „Das Reale in der Kultur der Moderne“ an der Universität Konstanz und am Zentrum für interdisziplinäre Forschung (ZiF) in Bielefeld. Derzeit unterrichtet er Intellektuellen- und Wissensgeschichte, Wirtschaftsgeschichte und zentraleuropäische Geschichte an der UCLA. Aktuelle Veröffentlichung: Hounshell, Eric: Von Wiener Typen zu multivariablen Typen: Versuche sozialer Typisierung im Mitteleuropa der Zwischenkriegszeit, in: Augenblick: Konstanzer Hefte zur Medienwissenschaft, 69/70 (2018), S. 129 – 146. E-Mailadresse: [email protected] Langenohl, Andreas, Dr. rer. soc., ist seit 2010 Professor für Soziologie mit dem Schwerpunkt Allgemeiner Gesellschaftsvergleich an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Er bekleidet Vorstandsmitgliedschaften im International Graduate Centre for the Study of Culture (Gießen), im Sonderforschungsbereich/Transregio 138 „Dynamiken der Sicherheit“ (Gießen/ Marburg) sowie in der Sektion Wirtschaftssoziologie der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS). Neben Wirtschafts- und Finanzsoziologie liegen die Schwerpunkte seiner Arbeit auf Studien zu Transnationalisierung, auf Sozial- und Kulturtheorie und auf der Epistemologie der Sozial- und Wirtschaftswissenschaften. Aktuelle Veröffentlichungen: Bies, Michael/Giacovelli, Sebastian/Langenohl, Andreas (Hrsg.): Gabe und Tausch. Zeitlichkeit, Aisthetik, Ästhetik, Hannover 2018; Langenohl, Andreas: Die europäische Schuldenkrise als Schub systemischer Vergesellschaftung: Von Partizipationsversprechen zu Partizipationszwang, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 70 (2018) 1, S. 391 – 413; Langenohl, Andreas: Sources of financial synchronism: Arbitrage theory and the promise of risk-free profit, in: Christian Klöckner/Stefanie Müller (Hrsg.), Financial Times. Sonderheft der Zeitschrift Finance & Society, 4 (2018) 1, S. 26 – 40; Langenohl, Andreas: Financial markets as interpretive economies: An overview of the meaning of financialized money, in: Daniel Cuonz/Jörg Metelmann/Scott Loren (Hrsg.), Screening Economies: Money Matters and the Ethics of Representation, Bielefeld 2018, S. 125 – 140. E-Mailadresse: [email protected] Link, Fabian, Dr. phil., ist Gastwissenschaftler am Institut für Sozialforschung (IfS) in Frankfurt am Main. Von 2012 bis 2018 war er wissenschaftlicher Assistent bei der am Historischen Seminar der Goethe-Universität Frankfurt angesiedelten Arbeitsgruppe Wissenschaftsgeschichte unter der Leitung von Moritz Epple. Arbeitsschwerpunkte: Geschichte der Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften, Geschichte des Nationalsozialismus und des Kalten Kriegs sowie Theorien in der Geschichtswissenschaft. Aktuelle Veröffentlichungen: Link, Fabian: Burgen und Burgenforschung im Nationalsozialismus. Wissenschaft und Weltanschauung 1933 – 1945, Köln/Weimar/Wien 2014; Link, Fabian: Castle Studies and the Idea of Europe: Medievalism in German-Speaking Europe between Politics and Scientific Research, 1918 – 1945, in: German Studies Review, 38 (2015) 3, S. 555 – 572; Link, Fabian:
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Cooperation and Competition: Re-Establishing the Institute of Social Research and the Emergence of the ,Frankfurt School‘, in: NTM, 24 (2016) 2, S. 225 – 249; Link, Fabian: Theoretische Übersetzungsprobleme, transatlantische Methodenerweiterung. Epistemischer Wandel in der Wissenschaftskultur des Instituts für Sozialforschung von 1930 bis in die späten 1950er Jahre, in: Lavinia Heller (Hrsg.), Kultur und Übersetzung. Studien zu einem begrifflichen Verhältnis, Bielefeld 2017, S. 167 – 214. E-Mailadresse: [email protected] Mösslinger, Martina, Dr. phil., hat Ende 2016 in den Fächern Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftsforschung promoviert. Der Schwerpunkt ihrer Forschung liegt in der transdisziplinären Analyse sozialwissenschaftlicher und politischer Diskurse auf internationaler Ebene, insbesondere mit Bezug auf die Konzepte ,Assimilation‘ und ,Integration‘ von ImmigrantInnen. Sie ist momentan in der Geschäftsleitung eines privatwirtschaftlichen Unternehmens in Wien tätig. Aktuelle Veröffentlichungen: Mösslinger, Martina: Internationalizung (Im-)migration – UNESCO’s Networking in Social Sciences 1945 – 1960, in: UNESDOC (Paris 2014), UNESCO Library; Mösslinger, Martina: Assimilation and Integration Discourses in the Social Sciences (1945 – 1962), Dissertation Universität Wien, Wien 2016. E-Mailadresse: [email protected] Neef, Katharina, Dr. phil., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Religionswissenschaftlichen Institut der Universität Leipzig und am Zentrum für Lehrerbildung der Technischen Universität Chemnitz (Lehrstuhl Ethik/Philosophieren mit Kindern). Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Wissenschaftsgeschichte, Europäische Religionsgeschichte, Säkularismusforschung (u. a. im Schul- und Bildungskontext) und die Erforschung von Phänomenen religiösen Nonkonformismus‘. Aktuelle Veröffentlichungen: Neef, Katharina: Die Entstehung der Soziologie aus der Sozialreform. Eine Fachgeschichte, Frankfurt am Main 2012; Neef, Katharina: Rudolf Goldscheids Menschenökonomie. Biopolitik und soziale Revolution, in: Albert Dikovich/Alexander Wierzock (Hrsg.), Von der Revolution zum Neuen Menschen. Das politisch Imaginäre in Mitteleuropa 1918/19, Stuttgart 2018, S. 201 – 217; Neef, Katharina: Heterodoxie in der Religionsgeschichte, in: Michael Schetsche/Ina Schmied-Knittel (Hrsg.), Heterodoxie. Konzepte, Traditionen, Figuren der Abweichung, Köln 2018, S. 34 – 54; Neef, Katharina: The Madness of Eroticism: Perceptions of Nonconformist Sexuality Between Erroneous Individualism, Moral Malfunction and Sheer Madness, in: Lutz Greisiger/Sebastian Schüler/Alexander van der Haven (Hrsg.), Religion und Wahnsinn um 1900: Zwischen Pathologisierung und Selbstermächtigung, Würzburg 2018, S. 233 – 250; Neef, Katharina: Multiple Devianz. Zu Fassbarkeit und Struktur eines alternativkulturellen Phänomens, in: Christoph Kleine/Heinz Mürmel/Edith Franke (Hrsg.), Devianz und Dynamik. Festschrift für Hubert Seiwert zum 65. Geburtstag, Göttingen 2014, S. 185 – 203. E-Mailadresse: [email protected] Nietzel, Benno, Dr. phil., ist Akademischer Rat auf Zeit am Arbeitsbereich Historische Politikforschung der Fakultät für Geschichtswissenschaft an der Universität Bielefeld. Seine Arbeitsschwerpunkte umfassen die europäisch-transatlantische Geschichte des 20. Jahrhunderts, die Geschichte des Nationalsozialismus und des Kalten Krieges, die Wissenschaftsund Wissensgeschichte sowie die Medien- und Kommunikationsgeschichte. Aktuelle Veröffentlichungen: Nietzel, Benno: Propaganda, Psychological Warfare and Communication Research in the USA and the Soviet Union during the Cold War, in: History of the Human Sciences, 29 (2016) 4 – 5, S. 59 – 76; Nietzel, Benno: Kampf der Ideen. US-Auslandspropaganda im frühen Kalten Krieg, in: Osteuropa, 67 (2017), 1 – 2, S. 153 – 162. E-Mailadresse: [email protected]
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Reubi, Serge, Dr. phil., ist maître de conférences am Centre Alexandre Koyré (Paris). Von 2009 bis 2013 war er Oberassistent am Institut d’histoire der Universität Neuchâtel, von 2013 bis 2018 assoziierter Forscher am Centre Marc-Bloch (Berlin), am Max-Planck Institut für Wissenschaftgeschichte (Berlin), am Department of History and Philosophy of Science an der Universität Cambridge und an der Universität Basel. Seine Arbeitsschwerpunkte umfassen die Geschichte der Geistes- und Sozialwissenschaften im 20. Jahrhundert, Museumsgeschichte, Geschichte der Feldwissenschaften und Geschichte der kolonialen Welten. Aktuelle Veröffentlichungen: Reubi, Serge: Un outil de la paix? La photographie aérienne, la Grande Guerre et les sciences sociales (1915 – 1939), in: Revue d’histoire des sciences humaines (2018) 33, S. 187 – 210; Reubi, Serge: (Re)connaître l’homme primitif: savoir anthropologique, préconceptions et situations locales à Sulawesi, 1892 – 1906, in: Revue d’histoire des sciences humaines (2015) 27, S. 65 – 87 ; Reubi, Serge: Vers les collectes disciplinaires: ethnographie, zoologie et géologie dans les expéditions savantes suisses dans l’outre-mer (1890 – 1930), in: Julien Bondaz/Nélia Dias/Dominique Jarrassé (Hrsg.), Dossier Collections mixtes. Special Issue: Collecter et collectionner par-delà nature et culture (Gradhiva), in: Revue d’anthropologie et d’histoire des arts (2016) 23, S. 96 – 121; Reubi, Serge: Why is the dialogue so difficult between the historiography of the social sciences and the historiography of science?, in: Gisela Eberhardt/Fabian Link (Hrsg.), Historiographical Approaches to Past Archaeological Research (= Berlin Studies of the Ancient World, Bd. 32), Berlin 2015, S. 223 – 242. E-Mailadresse: [email protected] Sala, Roberto, Dr. phil., leitet die Geschäftsstelle Forschung und Entwicklung an der Pädagogischen Hochschule Zürich. Von 2012 bis 2018 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Departement Geschichte der Universität Basel, davor Postdoktorand am Max-Weber-Kolleg für kultur- und sozialwissenschaftliche Studien der Universität Erfurt. Seine Forschungsarbeiten behandeln die Geschichte der Sozialwissenschaften, die Migrationsgeschichte sowie die Diskursgeschichte. Zu seinen Veröffentlichungen zählen: Sala, Roberto: Theorie versus Praxis. Soziologie in Deutschland und den Vereinigten Staaten im frühen 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2019; Sala, Roberto: The Rise of Sociology: Paths of Institutionalization in Germany and the United States around 1900, in: Geschichte und Gesellschaft, 43 (2017) 4, S. 557 – 584; Sala, Roberto: Verwissenschaftlichung des Sozialen – Politisierung der Wissenschaft? Zum Verhältnis von Wissenschaft und Politik in der Geschichtsschreibung des 19. und 20. Jahrhunderts, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte, 40 (2017) 4, S. 333 – 349; Baumeister, Martin/Sala, Roberto (Hrsg.): Southern Europe? Italy, Spain, Portugal, and Greece from the 1950s until the Present Day, Frankfurt am Main 2015; Sala, Roberto, Fremde Worte. Medien für ,Gastarbeiter‘ in der Bundesrepublik im Spannungsfeld von Außen- und Sozialpolitik, Paderborn 2011. E-Mailadresse: [email protected]